Lily Braun
Memoiren einer Sozialistin

Lehrjahre

An meinen Sohn
Erstdruck: München (Albert Langen) 1909. Ein Großteil der Namen historischer Persönlichkeiten ist verschlüsselt. Eine vollständige Aufschlüsselung ist noch nicht erarbeitet worden. Lily Braun = »Alix von Kleve«, Hans von Kretschman (ihr Vater) = »Hans von Kleve«, Georg von Gizycki (ihr erster Ehemann) = »Georg von Glyzinski«, Heinrich Braun (ihr zweiter Ehemann) = »Heinrich Brandt«, Ottilie Baader = »Martha Bartels«, Helene Lange = »Helma Kurz«, Emma Ihrer = »Ida Wiemer«, Clara Zetkin = »Wanda Orbin«, »die kleine polnische Jüdin« = Rosa Luxemburg.
An meinen Sohn

Die Rosen blühen und die Linden duften. Über dunkle Wälder und saftgrüne Matten ragen die Berge meiner Heimat zum Himmel empor, an dem die Sterne funkeln und strahlen, ungetrübt von den Dünsten der Städte und den Nebeln der Niederung. Die grauen Felsriesen schimmern silbern im Mondlicht, und in ihren tausend Furchen und Spalten glänzt noch der Schnee.

Das ist die schönste Nacht des Jahres, die Nacht, in der's in Wald und Feld von alten Märchen raunt und flüstert, die Nacht, mein Sohn, die dich mir geschenkt: ein Sonnwendskind, ein Sonntagskind. Elf Jahre sind es heute. Ist es mir doch, als wäre es erst gestern gewesen, daß du an meiner Brust gelegen, daß du die ersten Worte lalltest, zum erstenmal die Füßchen setztest. Und nun bist du ein großer Junge! Die Kindheit bereitet sich aufs Abschiednehmen vor.

Fast am gleichen Tage war es, und mehr als drei Jahrzehnte sind es her, daß auch ich zu Füßen dieser Berge meinen elften Geburtstag feierte. Die Tafel bog sich damals unter der Fülle der Geschenke, – auf deinem Tisch, mein Sohn, lagen heute neben dem duften [3] den Kuchen unsrer alten Marie nur ein paar Bücher! –, und Eltern, Verwandte und Freunde umgaben mich, mit schäumendem Sekt und schmeichelnden Reden das Geburtstagskind feiernd, – wir dagegen waren heute allein und hatten nur tiroler Landwein in den Gläsern. Das Geburtstagskind von damals war ein blasses, langaufgeschossenes [3] Mädchen mit einem alten, hochmütig-sarkastischen Zug um den Mund, dessen Lächeln der Dankbarkeit nur die Frucht guter Erziehung war; du aber bist ein blühender Knabe, der im Überschwang seiner Freude seine Mutter und die alte Marie abwechselnd in tollem Tanz auf der Wiese umherwirbelte. Nur zweierlei ist sich gleich geblieben – damals und heute –: auf deinem Tisch wie auf dem meinen lag das erste, langersehnte Tagebuch, dessen weiße Blätter so verlockend sind für ein elfjähriges Herz wie der Eingang ins Zauberreich des Lebens selbst, und vor dir wie vor mir ragten dieselben Bergesriesen, und derselbe Wald umrauschte unsre Kinderträume.

Mich hat mein Tagebuch durchs ganze Leben begleitet, und der Gewohnheit, mir allabendlich vor ihm Rechenschaft abzulegen über des Tages Soll und Haben, bin ich immer treu geblieben. Am Schlusse jeden Jahres habe ich an seiner Hand den verflossenen Lebensabschnitt überlegt und sein Fazit gezogen. Seine lakonischen Bemerkungen – ein bloßes trockenes Tatsachenmaterial – bildeten den festen Rahmen, den die Erinnerung mit den bunten Bildern des Lebens füllte, und unverzerrt durch jene schlechtesten Porträtisten der Welt – Haß oder Bewunderung – blickte mein Ich mir daraus entgegen.

Als ich diesmal aus der Tretmühle und der Fabrikatmosphäre meines Berliner Arbeitslebens in unsre stille Bergeinsamkeit floh, nahm ich die zweiunddreißig Jahreshefte meines Tagebuches mit mir. Generalabrechnung muß ich halten.

Auf steilem Felsenpfad bin ich bis hierher gestiegen, meinem wegkundigen Blick, meiner Kraft vertrauend, weit entfernt von den Lebenssphären, die Tradition und Sitte mit Wegweisern versah, damit auch der Gedankenlose nicht irre gehe. Jetzt aber muß ich stille stehen, muß Atem schöpfen, denn die große Einsamkeit um mich her läßt mich schaudern. Wohin nun? Hinab zu Tal, zu den Wegweisern? Oder weiter auf selbstgewähltem Steige?

[4] Die Menschen zürnen mir, und alle nennen mich fahnenflüchtig, die irgendwann auf der Lebensreise ein Stück Weges mit mir gingen; mir aber erscheinen sie als die Ungetreuen. Wer hat recht von uns: sie oder ich? Um die Antwort zu finden, will ich den letzten Wurzeln meines Daseins nachspüren, wie seinen äußersten Verästelungen; und an dich, mein Sohn, will ich denken dabei, auf daß du, zum Manne gereift, deine Mutter verstehen mögest.

In der Sonnwendnacht, die dich mir geschenkt, in der Sonnwendnacht, in der ringsum auf den Höhen die Feuer glühen, in der Sonnwendnacht, wo aufersteht was ewigen Lebens würdig war, seien die Geister der Vergangenheit zuerst heraufbeschworen.


Obergrainau, den 24. Juni 1908.

[5]
1. Kapitel
Erstes Kapitel

Wo die kurische Nehrung beginnt ihre Dünen in die Ostsee hinauszustrecken, und das Meer auf der einen, das Haff auf der andern Seite das Land bespült, steht das Haus meiner Großeltern, in dem ich geboren bin. Vor Jahrhunderten haben deutsche Ordensritter es als festes Bollwerk gegen das heidnische Volk des Samlands erbaut; der breite, viereckige Turm, die dicken Mauern und der Graben ringsum erinnern noch an seinen Ursprung. Ein Ordensbruder soll es gewesen sein, der als einer der ersten im Samland zur Lehre Luthers übertrat, – nicht aus Gewissenszwang, denn das hätte dem blonden derben Junker aus dem thüringischen Geschlecht der Golzows wenig ähnlich gesehen, sondern aus Liebe zu einem schönen Fräulein, die ihn das Keuschheitsgelübde brechen hieß. Er wurde auf dem Schloß von Pirgallen der Stammvater des preußischen Zweigs der Familie und der Vorfahr meines Großvaters. Mit dem Besitz schien sich aber auch die lebenbestimmende Liebesleidenschaft des Ahnherrn von Generation zu Generation zu vererben. Nur selten fügte sich ein Golzow dem Rate der Familiensippe, wenn es galt, sich die Eheliebste zu wählen, und so wurden viele fremde Blumen in den nordischen Garten verpflanzt. Manch eine mag dabei im Frost er starrt, vom Meersturm zerzaust worden sein, andere aber blühten, trugen Frucht und streuten den Samen ihrer Heimaterde in das Land, wo er üppig aufging, so daß es zwischen den gelben Dünen, den weißen [6] Birkenstämmen und knorrigen Eichen gar seltsam anzuschauen war.

Auch meine Großmutter war solch eine fremde Blume gewesen: ein Kind der Liebe, dem heimlichen Bund eines Königs mit einem kleinen elsässischen Komteßschen entsprossen. Und sie war wohl nie recht heimisch geworden da oben. Sie fror immer, saß auch im Sommer gern am Kaminfeuer der Halle, und schwere schleppende Samtkleider, mit Pelz verbrämt, trug sie am liebsten. Sie blieb auch einsam trotz der großen Kinderschar, die sie umgab. Das Blut der Golzows war lebenskräftiger als das ihre, denn all die Buben und Mädel, die sie gebar, waren nicht eigentlich ihre Kinder: mit hellen blauen Augen aus rosigweißen Gesichtern blickten sie in die Welt, und Jagd und Tanz, Spiel und Liebe blieb ihnen Lebensinhalt.

An meine Mutter, ihr jüngstes Kind, die goldblonde Ilse, hatte sie sich mit aller Kraft ihrer Sehnsucht geklammert. Lange hoffte sie, sich selbst in ihr wiederzufinden, und verdeckte mit den bunten Gewändern ihrer Phantasie in zärtlicher Selbsttäuschung alles, was ihr fremd war an ihrer Tochter. Sie half ihr auch den Starrsinn des Vaters brechen, der sich ihrer Verbindung mit einem armen Infanterieleutnant widersetzte. Die Ehe mit dem ernsten, strebsamen Manne würde, so meinte sie, ihr eigentliches Wesen erst zur Entfaltung bringen – das Wesen, das sich schon deutlich genug dadurch auszudrücken schien, daß ihre Wahl unter allen ihren glänzenden Bewerbern grade auf diesen gefallen war. Sie wußte nicht, daß nur der Rausch Golzowscher Liebesleidenschaft – heiß und kurz, wie die Sommer Pirgallens – Ilse beherrschte. Ihr Gatte kannte die Tochter besser als sie, darum gab er die Hoffnung nicht auf, statt des »heimatlosen Landsknechts«, wie er ihren Erwählten, den Leutnant Hans von Kleve, spöttisch nannte, einen der Standesherrn des Landes als Schwiegersohn zu begrüßen.

Kleve besaß nichts als seinen guten Namen und seinen Ehrgeiz. [7] Nachdem sein Vater, ein leichtsinniger Gardeleutnant, mit dem spärlichen Rest seines rasch verjubelten Vermögens und einer lustigen kleinen Frau, deren bürgerliche Herkunft ihn den schönen bunten Rock auszuziehen zwang, ein Gütchen in der Nähe Berlins erworben hatte, um dort nichts zu tun, als zu sterben, war seiner Mutter kaum das notwendigste übrig geblieben, um ihn und seine vier Geschwister zu erziehen. Wie gut, daß sie an Arbeit gewöhnt gewesen war ihr Leben lang! Zu stolz, die reichen Verwandten ihres Mannes, die sie ihrer Herkunft wegen nie hatten anerkennen wollen, in Anspruch zu nehmen, zog sie sich in eine kleine märkische Stadt zurück, wo sie ihre Kinder mit eiserner Strenge und in spartanischer Einfachheit erzog. Hans war zwölf Jahre alt, als er in diese harte Schule genommen wurde. Er empfand die Beschränktheit des Lebens am tiefsten und litt ständig unter den Anforderungen, die seine Mutter an seine geistige und moralische Leistungskraft stellte. Sein Liebesbedürfnis fand wenig Verständnis bei ihr, die unter dem dauernden Druck quälender Sorgen die Zärtlichkeit glücklicher Mütter eingebüßt hatte. Eine Schwester, die ihm im Alter am nächsten stand, und der er sein ganzes Herz zuwandte, wurde ihm früh durch väterliche Verwandte, die sich plötzlich der armen Witwe und ihrer Kinder erinnert hatten, entrissen; so blieb er ganz auf sich allein angewiesen und konzentrierte all seine Energie auf das eine Ziel: sich selbst das Leben zu erobern.

Mit sechzehn Jahren machte er das Abiturientenexamen und trat in ein Königsberger Infanterieregiment ein. Kavallerist zu werden, was er sich gewünscht hatte, – denn die Reiterleidenschaft saß ihm tief im Blute –, erlaubten seine Mittel ihm nicht, und die Schwester, die von ihrem reichen Onkel wie ein eignes Kind gehalten wurde, hatte dem Bruder – um ihre persönliche Stellung besorgt – rundweg abgeschlagen, eine Zulage für ihn zu erbitten. Von selbst reichte des Onkels Generosität über das Geburtstags-und Weihnachtsgoldstück und gelegentliche Urlaubsreisen [8] nach dem Familiengut in Oberfranken nicht hinaus, und so bestand des jungen Mannes Dasein in unaufhörlichen Verzichtleistungen. Er lebte nur seinem Beruf; sein Empfindungsleben schien durch die Arbeit völlig erstickt zu sein.

Um diese Zeit lernte er Ilse Golzow kennen, und alles was an Liebessehnsucht in seiner Seele gelebt hatte von klein auf, brach ungestüm hervor. Das Weib war ihm unbekannt geblieben bis dahin; die Arbeit hatte ihn taub und blind gemacht, und eine angeborene Reinheit der Gesinnung hatte ihn das Gemeine stets als gemein empfinden lassen. So vereinte sich in der ersten Liebe des Achtundzwanzigjährigen die volle phantastische Schwärmerei des Jünglings mit der tiefen Neigung des reifen Mannes. Die Erfüllung alles dessen, was er in seinen stillsten Stunden für sich an Glück erträumt hatte, erwartete er von dem Besitz dieses holden blonden Mädchens. Daß ihm dies Glück nicht kampflos in den Schoß fiel, erhöhte nur seinen Wert für ihn.

Um ihretwillen vertauschte er seine Studierstube mit dem Ballsaal; er entwickelte gesellige Talente, die bisher niemand in ihm vermutet hatte, er wurde das belebende Element aller großen und kleinen Feste. Auf dem Wege zwischen Königsberg und Pirgallen ritt er sein Pferd fast zuschanden, das er sich endlich als Regimentsadjutant halten konnte, und auf den Schnitzeljagden stellte er durch seine Reiterkunst sämtliche Kürassierleutnants in den Schatten. Ein instinktives Verständnis für die weibliche Natur lehrte ihn, daß Mädchen, wie die schöne Ilse, durch die Bewunderung, die man ihnen abnötigt, am sichersten zu gewinnen sind. Von dem Vater der Geliebten aber mußte er sich eine zweimalige Ablehnung gefallen lassen; erst als er zum drittenmal wiederkam und die Tränen Ilsens sich mit seinen Bitten vereinigten, während ihre Mutter alle Gründe der Liebe und der Vernunft zu seinen Gunsten zur Geltung brachte, hieß er ihn – mit aller Reserviertheit des Bezwungenen, nicht des Überzeugten – als Schwiegersohn willkommen.

[9] An einem Maiensonntag des Jahres 1863 fand die Trauung des jungen Paares in der alten Pirgallener Dorfkirche statt. Als »Burg des Christengottes«, so erzählt die Sage, galt sie einst dem heidnischen Volk, und an eine Burg mehr als an eine Kirche erinnern noch heut die aus ungefügen Steinblöcken zusammengesetzten Mauern und der viereckige Turm mit den kleinen Fenstern, den dichter Efeu fast ganz überwuchert. Die dämmerige Halle verstärkte diesen Eindruck: vor dem Zeichen des Speeres, dem Wappenbilde der Golzows, verschwand fast das des Kreuzes, und statt der Bilder des Heilands und der Apostel reihte sich ein Grabstein neben dem andern an den Wänden, mit Ritterhelmen und Schwertern geschmückt, oder mit steinernen Bildnissen, die alle denselben Typus ostdeutschen Adels aufwiesen, ob ihr Antlitz mit den regelmäßigen, etwas leblosen Zügen und den hochmütig geschürzten Lippen nun unter dem Stechhelm oder der Allongeperücke hervorsah. Auf den Grabsteinen der Frauen erzählten die Doppelwappen, wie selten nur die ritterbürtige Ahnenreihe unterbrochen worden war. Und daß sie alle zu einem Geschlechte gehörten: diese stummen Zeugen der Hochzeit Ilsens und die vielen derer von Golzow, die sich in der alten Kirche zusammenfanden, – das bewiesen diese schlanken Menschen mit den schmalen Handgelenken und den langen spitzen Fingern, die an harte Arbeit nie gewöhnt gewesen waren. Nur daß die Kraft der Ahnen sich in lässige Grazie verwandelt und ihre rassige Vornehmheit einen leisen Schein müder Dekadenz angenommen hatte.

Auch des Bräutigams Verwandte waren vollzählig erschienen. Sie hatten sich die Teilnahme an dem Familienfest um so weniger entgehen lassen, als Hans Kleves Heirat die Mesallianz seines Vaters verschmerzen ließ. Von anderm Schlag waren sie als die Golzows: das Blut fahrender Landsknechte und alt-nürnberger Patrizier mischte sich in ihren Adern, und breit, groß und stämmig waren ihre Gestalten. Die Kniehosen und Wadenstrümpfe [10] ihres bayerischen Berglandes ließen ihnen besser, als Frack und Zylinder, und seltsam stach vor allem des Bräutigams üppige rotblonde Schwester Klothilde ab gegen die zarte Elfengestalt seiner Braut.

Als Menschen eigner Art jedoch, nicht als bloße Glieder einer Familie, traten zwei Erscheinungen aus dem großen Kreise hervor: die Mütter des jungen Paares waren es. Das Leben hatte sie beide auf seine Höhen geführt und in seine Abgründe hineingerissen, sie waren von ihm gezeichnet; die eine, – das Königskind, das Kind der Liebe –, um deren hohe Gestalt das Samtgewand wie ein Krönungsmantel niederfloß, deren schwermütig-dunkle Augen Geist und Güte strahlten, – die andere – ein Kind des Volkes und der Arbeit-, die sich nicht zu Hause fühlte in dem schwarzen Seidenkleid, deren harte Hände von zähem Fleiße, deren durchfurchte Züge von eiserner Willenskraft sprachen, und in deren braunen Augen doch der kecke Humor noch lachte, der über alles Ungemach hinweghilft.


Königsberg, die Garnison meines Vaters als er heiratete, war mit dem raschen Golzowschen Gespann von Pirgallen aus in drei Stunden zu erreichen. Es war daher für die Tochter kein Abschied von zu Hause, der den Schmerz langer Trennung in sich birgt. Ja, sie blieb im Grunde daheim, denn im alten Stadthaus ihrer Eltern wurde dem jungen Paare die Wohnung eingerichtet.

Während es auf der Hochzeitsreise war, schmückte die Großmutter das künftige Nest ihrer Kinder. All ihren Geschmack, allihre Träume und Gedanken über die Schönheit, Harmonie und Behaglichkeit einer Familienwohnung verwirklichte sie hier. Da war der grüne Salon mit den tiefen englischen Lehnstühlen, dem geräumigen Sofa am breiten Fensterpfeiler, mit dem runden, von einer Tuchdecke bedeckten großen Tische davor, dem [11] mächtigen roten Marmorkamin an der Längswand ihm gegenüber; daneben, nur durch Portieren getrennt, das helle Boudoir mit seinen kretonneüberzogenen Wänden und Möbeln, dem Schreibtisch voller Familienbilder, überragt von Thorwaldsens segnendem Christus; und auf der andern Seite des Vaters Zimmer mit seinen schweren geschnitzten Eichenmöbeln, in deren Arabesken das Wappentier der Kleves, die gekrönte Eule, sich vielfach wiederholte. Für das Speisezimmer hatte die Großmutter die alten Empiremöbel ihrer Mutter hergegeben: Mahagoni mit Bronzebeschlägen und gelbseidnen Sesselbezügen. Hier prangte auch eine Reihe alter Familienbilder an den Wänden: Frauen im Reifrock mit märchenhaft dünner Taille und gepuderten Haaren, Männer in goldstrotzender Uniform und mächtiger Lockenperücke, und mitten unter ihnen ein rosiges, lächelndes, goldlockiges Frauenköpfchen, das die Mutter in spätern Jahren immer in den dunkelsten Winkel zu hängen pflegte: Alix, die Urgroßmutter, das Königsliebchen.

Ein großes, helles Schlafzimmer, eine Fremdenstube und ein sorgfältig abgeschlossner, von der Großmutter streng behüteter Raum – als hätte Blaubart seine Frauen darin – vollendeten die Wohnung. In Ost und West, in Süd und Nord – wohin immer das Soldatenschicksal uns getrieben hat –, dieser Rahmen des Lebens ist sich stets gleich geblieben. Ein Gesellschaftszimmer, ein Tanzsaal kamen später wohl hinzu, sie haben mich aber immer wie etwas Fremdes angemutet. »Ihr habt keine Heimat,« pflegte die Großmutter zu sagen, »da müßt ihr sie als Ersatz, wie die Schnecke ihr Haus, mit euch tragen.«

Als die Eltern nach der Hochzeitsreise diese Räume, die geschaffen schienen, Liebe und Freude in sich zu schließen, betraten, war auf ihr Eheglück schon ein Reif gefallen. Ahnungslos, wie alle wohlgehüteten Mädchen ihrer Zeit und ihrer Lebenskreise, war Ilse in die Ehe getreten. Keusch wie sie war der Mann, dem sie sich vermählt hatte, aber um so gewaltiger war die Glut [12] seiner Liebe und seines Begehrens, während ihre Sinne noch schliefen und das große, tiefe Geheimnis des Geschlechts sich ihr wie eine gräßliche Untat offenbarte. Sie hat mir oft erzählt, daß sie in den ersten acht Tagen ihres Zusammenlebens mit ihrem Mann am liebsten davongelaufen wäre, wenn sie sich nicht vor ihren Eltern geschämt hätte. Erst ganz allmählich kam ihr die Erkenntnis, daß ihr Gatte kein Verbrecher, ihr Schicksal kein abnormes war. Zu den seelischen Leiden, mit denen sie ihn, der so liebevoll, so zartfühlend und weichherzig war, wohl noch mehr quälte als sich selbst, kamen körperliche Beschwerden hinzu, deren Ursachen sie ebenso verständnislos gegenüberstand. Sie suchte sie mit der ihr eignen Energie zu beherrschen, um so mehr, als sie sich unter den ihr fremden Kleveschen Verwandten befand; sie teilte auch ihrer Mutter nichts davon mit, um die Überängstliche nicht unnötig, wie sie meinte, aufzuregen. Tapfer beteiligte sie sich an allen Ausflügen, allen ländlichen Festen; tanzte und ritt, obwohl es ihr oft vor den Augen dunkelte und der Schwindel sie zu übermannen drohte. So kehrte die junge Frau bleich und müde zurück, die, ein Bild blühender Gesundheit, das Elternhaus verlassen hatte. Der Schatten dieser ersten Schmerzen und Enttäuschungen fiel über ihr ganzes Leben.

Der Großmutter blutete das Herz, als sie ihr Kind wiedersah. Bald aber war sie beruhigt und zärtlicher Freude voll in dem Gedanken an das junge Leben, das sich im Schoße der Tochter entwickelte. Nur allzu früh sollte die Hoffnung, die von Ilse selbst nur qualvoll empfunden wurde, zerstört werden; und statt einer Wöchnerin pflegte die Großmutter eine schwerkranke junge Frau. Erst die würzige Herbstluft von Pirgallen heilte sie, und der Königsberger Karneval sah sie als eine der schönsten der Schönen im fröhlichen Kreise der Jugend wieder. Sie tanzte gern, sie sah sich gern von Bewunderern umgeben, und ihr Mann war überglücklich, wenn er sie heiter wußte.

Im zweiten Jahre ihrer Ehe stellten sich wieder Hoffnungen [13] ein; mit hellem Jubel begrüßte sie Hans Kleve, mit tiefer Rührung die Großmutter; nur die, unter deren Herzen das neue Leben erwachte, spürte nichts von alledem. Die Fassung, mit der sie sich in ihr Schicksal ergab, das Vorgefühl ernster kommender Pflichten war das einzige, was sie ihm gegenüber aufbringen konnte.

Indessen richtete die Großmutter des Enkelkindes erstes Stübchen ein: Alles darin war weiß und rot, einfach und freundlich, nur das Sofa war mit braunem Rips bezogen und der Tisch davor mit braunem Wachstuch. Du gutes altes Sofa! Auf dir hab' ich die Glieder im ersten Lebensgefühl gestreckt, auf dir bin ich umhergeklettert, als ich die Beinchen regen konnte; in deinen Winkeln hab' ich mein Lieblingsspielzeug geheimnisvoll verwahrt, habe, tief in deine Polster geschmiegt, meine Märchenbücher verschlungen und meine ersten Träume auf dir geträumt!

Mitten in den Vorbereitungen zum Empfange des kleinen Erdenbürgers warf eine Lungenentzündung den alten Golzow aufs Krankenlager. Bei einer der häufig wiederkehrenden Überschwemmungen, die durch die wilden, alle Dämme durchreißenden Wogen des kurischen Haffs entstanden und die Wiesen stets auf Jahre hinaus wertlos machten, hatte er stundenlang, bis an die Knie im Wasser, mit den Knechten um die Wette die Löcher der Dämme zu verstopfen gesucht und sich dabei eine Erkältung zugezogen. Auf die Nachricht seiner Erkrankung siedelte Ilse, die ihrem Vater besonders nahe stand, nach Pirgallen über. Noch wochenlang sah sie dem wilden Kampf des starken Mannes gegen den Allüberwinder zu, der ihn schließlich sanft in seine Arme nahm.

Ein Maiensonntag war es abermals, als der Gutsherr mit all dem Pomp, der die Sprossen eines der ältesten Geschlechter des Landes von jeher zu Grabe leitete, in die Gruft seiner Vorfahren gesenkt wurde. Vollzählig war wieder die Familie versammelt, vollzählig war auch das Offizierkorps des Königsberger[14] Kürassierregiments zugegen, dem Walter, der älteste Sohn des Verstorbenen, angehörte, und seine Trompeter bliesen die Trauerchoräle. In langem Zuge folgten die Knechte und die Instleute dem Sarge, den der greise Förster, des Toten Lebensgefährte, mit seinen Jägern trug. Ehrliche Trauer blickte aus den Zügen aller der wettergebräunten Männer der Arbeit. Werner Golzow war ihnen ein guter Herr gewesen. Sie hatten nie seine Faust und nie seine Peitsche gespürt wie ihre Kollegen ringsum auf den Nachbargütern, und sie fürchteten sich vor dem Junker, seinem Erben. Sein junges hübsches Gesicht war hart und hochmütig, auf die unbeholfenen, teilnehmenden Worte der Diener seines Vaters antwortete er nur mit einem leichten Neigen des Kopfes, die Hand, die sie, der alten preußischen Sitte gemäß, küssen wollten, zog er ungeduldig zurück. Als die Gutsleute nach der Beisetzung in der großen Halle des Herrenhauses von der Großmutter empfangen wurden, spürten sie doppelt ihre Güte, die nichts Herablassendes hatte, die den Untergebenen niemals den Abstand zwischen Herrn und Diener fühlen ließ. Und einer nach dem andern richtete die angstvolle Frage an sie: Unsere Frau Baronin wird uns doch nicht verlassen? Sie schüttelte nur wehmütig lächelnd den Kopf dazu, und halb und halb beruhigt ging alles auseinander.

Sechs Wochen später wurde ich geboren. Es war ein glühheißer Junisonntag; in voller Pracht blühten die Rosen, und in der alten dunklen Gespensterallee, wo die »böse Frau von Pirgallen« nächtlicherweise mit dem Kopf unter dem Arme umging, dufteten berauschend die Linden. Das Geläut der Glocken begleitete gerade die heimkehrenden Kirchgänger, als ich zur Welt kam. Ich konnte das Leben nicht erwarten, denn den Weg hinein fand ich ohne Hilfe, – die weise Frau kam erst, als die Großmutter mich schon in den Armen hielt und dem Vater beim Anblick seines Kindes große Tränen der Rührung über die Wangen liefen.

[15] In der alten Kirche, über der Gruft der Golzows und unter ihren Speeren, wurde ich getauft. Die Gutskinder hatten den düstern Raum in eine Laube von Jasmin verwandelt, – darum hab' ich wohl mein Lebtag keinen Blumenduft so geliebt wie den dieser weißen Sterne. Selbst im geweihten Wasser des Taufsteins schwammen ihre Blätter, und als der greise Pfarrer es mir auf die Stirn träufelte, blieb eins davon auf meinem dunkeln Köpfchen haften. »Und wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, ich wäre ein tönend Erz und eine klingende Schelle« – lautete der Text der Taufpredigt und Alix der Name, der mir gegeben wurde. Beides hatte die Großmutter gewählt; den Namen hatte sie gegen den Widerstand der Tochter für ihr erstes Enkelkind durchgesetzt – den Namen ihrer Mutter, die sie um so inniger geliebt, je mehr die Welt sie verdammt hatte.

Ich blieb in Pirgallen. Vergebens hatte man versucht, mich an die Brust meiner Mutter zu legen. War es ihre innere Abneigung, die sie nur im Gefühl, eine Pflicht erfüllen zu müssen, überwinden wollte, war es mein früh erwachter Eigensinn – kurz, Mutter und Kind schienen nichts voneinander wissen zu wollen, und eine derbe Fischerfrau, die mich mit ihrem Söhnchen zusammen nährte, wurde meine Amme. Behütet von ihr und der Großmutter, der das schwarzhaarige, dunkeläugige Baby so ähnlich sah, verbrachte ich auch den Winter bei ihr; seufzend hatte es mein Vater zugegeben, da er sah, daß ich hier besser aufgehoben war als in Königsberg, wo die Freuden der Geselligkeit meiner Mutter ganze Zeit in Anspruch nahmen. Oft aber packte ihn die Sehnsucht so sehr, daß er Sturm und Wetter nicht scheute und, wie einst zu der Geliebten, zu der Braut, nun zu dem Töchterlein hinausritt, um es zu küssen, und in den Armen zu schaukeln. Die Großmutter hat immer dabei weinen müssen, erzählte mir die Amme später. Lange wußte ich nicht, warum.

[16] Dann kam der Krieg, der böse deutsche Bruderkrieg. Mein Vater wurde Kompagnieführer in einem jener Regimenter, die durch die mörderischen Kämpfe in Böhmen fast völlig aufgerieben wurden. In den Wäldern um Königgrätz warf ihn eine Kugel zu Boden. Wären nicht ein paar seiner treuen Grenadiere, die ihn wie einen Vater liebten, der eignen Erschöpfung nicht achtend, noch spät des Nachts ausgezogen, um, wie sie meinten, die Leiche ihres Hauptmanns zu suchen, er wäre elend verblutet. Puckchens, unseres Affenpinschers, klägliches Winseln führte sie auf die Spur des Verwundeten. Sobald er transportfähig war, brachte man ihn nach Königsberg. Die Mutter, sonst eine so starke Frau, brach zusammen beim Anblick des entkräfteten, vollkommen entstellten Mannes. Er war es, der sie lächelnd trösten mußte.

Viele, viele Wochen lag er auf dem Krankenlager, das ihm in seinem Wohnzimmer errichtet worden war. Je mehr seine Genesung vorschritt, desto eifriger beschäftigte er sich mit mir. Ich habe nie einen Mann gesehen, der wie er mit kleinen Kindern spielen konnte.

Meine erste traumhafte Erinnerung – ich bin immer ausgelacht worden, wenn ich von ihr erzählte, da ich doch damals noch nicht zwei Jahre alt war – führt mich in einen dunkel verhängten Raum vor ein großes braunes Bett, aus dem mir ein blasser Mann die Arme entgegenstreckte. Ich weiß, daß ich laut aufschrie, daß der Mann den Kopf müde zurücklegte und ich mich aufatmend in meinem hellen Stübchen wiederfand. Und später sah ich ihn im Rollstuhl wieder und mich auf seinem Schoß mit seiner großen, dicken Uhr spielend, die, weil sie mit so zärtlichem, feinem Stimmchen alle Viertelstunden schlug, für mich immer etwas Lebendiges gewesen ist. Wende ich ein andres Blatt der Erinnerung um, so sehe ich große rote Blumenkerzen in mein Fenster hereinleuchten. Das war in Potsdam, wohin mein Vater nach dem Feldzug versetzt wurde, und wo [17] wir in einem gartenumsäumten Haus, vor dem ein alter Kastanienbaum Wache hielt, das erste Stockwerk bezogen. Neben uns, nur durch den Gartenzaun getrennt, wohnte meiner Mutter zweiter Bruder Max, der bei den Gardehusaren Leutnant war und eine elsässische Cousine geheiratet hatte. Werner, ihr Sohn, war nur um wenige Monate jünger als ich. Unter uns aber, in die Parterrewohnung mit der großen Terrasse, auf deren Balustrade kleine Steinengelchen saßen, die in meinen Träumen immer lebendig wurden, zog, kaum ein Jahr nach unsrer Übersiedlung, die Großmutter ein.

Walter Golzow hatte nach dem Kriege den bunten Rock mit dem schönen himmelblauen Kragen ausgezogen und das Gut übernommen, dessen Geschäfte die Großmutter bis dahin mit Hilfe des erprobten Verwalters gewissenhaft und in der alten Weise geleitet hatte. Sie versuchte dann noch eine Zeitlang, neben dem Sohn zu wirken und zu arbeiten, wie sie es früher gewohnt gewesen war. Aber zu hart stießen die Gegensätze aneinander: in ihrer Milde sah Walter Schwäche, in ihrer Wohltätigkeit Verschwendung. Es kam auch tatsächlich zuweilen vor, daß ihre Güte mißbraucht wurde, daß man die allzeit Hilfsbereite, die an jedem Menschen etwas Gutes sah oder heraus zulocken verstand, hinterging und betrog. Das nahm ihr Sohn zum Vorwand, ihrem barmherzigen Wirken mehr und mehr Hindernisse in den Weg zu legen. Doch dies alles hätte sie nicht so schwer getroffen, da sie als Herrin ihres Vermögens damit machen konnte, was ihr gut schien; unerträglich wurde ihr die Existenz vielmehr erst durch die fast fieberhafte Neuerungssucht Walters: nichts in der Wirtschaft und im Hause schien ihm mehr gut genug, und Umwandlungen und Neuanschaffungen, die ein vorsichtiger, auf alle Möglichkeiten schlechter Jahre vorbereiteter Gutsherr auf einen langen Zeitraum verteilt, sollten jetzt in wenigen Monden vor sich gehen. Die Großmutter sorgte, warnte, bat, – sie predigte tauben Ohren. Die Ställe füllten [18] sich mit Luxuspferden, die Wirtschaftsräume mit neuen Maschinen aller Art, deren Handhabung selten einer verstand, das Herrenhaus mit modernen Möbeln, vor deren geschmacklosem Prunk der alte, solide Hausrat aus Urväter Tagen weichen mußte. Es kam zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Sohn, die ihren Höhepunkt erreichten, als sie sah, wie er auf die Wange eines ungeschickten Reitknechts die Peitsche niedersausen ließ, so daß der junge Mensch blutend zu Boden sank. Wenige Tage darauf entführte der alte breite Kutschwagen mit den wohlgenährten Braunen davor die Großmutter von der Stätte ihrer jahrzehntelangen Wirksamkeit, von dem erinnerungsreichen Boden ihrer zweiten Heimat. Sie sah sich nicht um, und sie weinte nicht; zu tief empfand sie das schwerste Geschick, das ein Weib treffen kann: fremde Kinder zu haben.

Ich war vier Jahre, als die Großmutter nach Potsdam kam. Ein Ölbild von Tochter und Enkelin, das damals für sie gemalt worden war, zeigt, daß auch ich meiner Mutter solch ein fremdes Kind gewesen bin: von ihrer lichten Erscheinung mit dem hellblonden Haar, der durchsichtigen Haut, den meerblauen Augen sticht das kleine Mädchen seltsam ab, um dessen schmales, gelbliches Antlitz dunkle schwere Locken sich ringeln, dessen schwarze Augen fragend und verträumt ins Weite sehen. Von klein an bewunderte ich neidvoll meiner Mutter nordische Schönheit, und wenn meine Freunde mir Tränen des Zorns entlocken wollten, brauchten sie mich nur »schwarze Alix« zu rufen; sie waren selbst alle blond, und schon bei den Unmündigen wirkt die Majorität überzeugend. Die Anführer bei solchen Späßen, die mir den Umgang mit meinesgleichen früh verleideten, waren meist mein Vetter Werner und Adda, das Töchterchen eines der Regimentskameraden meines Vaters. Mit jener Grausamkeit, die nur den kleinen Menschentieren eigen ist, rächten sie sich durch ihre Neckereien an meiner Besonderheit. Einig waren wir drei eigentlich nur, wenn es galt, unseren französischen [19] Bonnen einen Schabernack zu spielen. Wir konnten sie alle nicht leiden und empfanden sie nur als notwendiges Übel, unter dem wir gemeinsam zu leiden hatten.

An jedem schönen Morgen führten sie uns in den Park von Sanssouci; kein Wort Deutsch durften wir sprechen, und artig mußten wir nebeneinander gehen. Wenn die drei Fräuleins aber erst häkelnd auf einer der Bänke saßen und die Lebhaftigkeit ihres Gesprächs einen gewissen Höhepunkt erreicht hatte, benutzten wir schleunigst die Gelegenheit, aus ihrem Gesichtskreis zu verschwinden, und dann war ich die Anführerin. Wo die Büsche am dichtesten waren, versteckten wir uns und spielten im grünen Dämmerlicht phantastische Märchen. Meine blühende Phantasie steckte die beiden andern an: unter halbverwitterten steinernen Göttern gruben sie eifrig nach den Schätzen, von denen ich ganz genau zu erzählen wußte, oder sie umschlichen geduldig immer wieder des alten Fritzen Schloß oben auf den Blumenterrassen, die Ritter und die Feen mit Herzklopfen erwartend, die ich schon »soo« oft gesehen hatte. Wenn freilich durchaus nichts von dem Erwarteten sich zeigen wollte, mußte ich's bitter büßen, und wenn wir unsrer schmutzigen Hände und zerdrückten Kleider wegen von unsern drei Gestrengen gescholten wurden, war allemal ich die Hauptschuldige. Allmählich gewöhnte sich mein robuster und prosaischer kleiner Vetter daran, den lebhaften Ausbrüchen meiner Einbildungskraft mit einem verächtlichen »zu dumm« zu begegnen, was mich bis zu Tränen kränkte und mehr und mehr verstummen ließ. Spielte ich dann artig mit Ball und Reifen, ohne in die Büsche zu kriechen, dann lobte mich Mademoiselle: »Comme elle devient raisonnable!« sagte sie.

Noch stand ich nicht fest auf dieser Staffel der guten Erziehung, als mir ein schwerer Kummer widerfuhr. In unserm Garten, in dem wir nachmittags zu spielen pflegten, lagen auf den Wegen viele bunte Kieselsteine. In einem Winkel, unter [20] einem Jasminstrauch – zu den weißen Blüten trug ich immer meine tiefsten Geheimnisse – sammelte ich die schönsten, die ich finden konnte. Ich war fest überzeugt, daß sie in ihrem Innern goldne Wagen mit weißen Pferdchen davor, blitzende Königskronen und schimmernde Schlösser bargen, und versuchte, sie mit einem Hammer aufzuschlagen. Schließlich kamen Werner und Adda hinter mein Geheimnis; mein Vetter, den meine glühende Begeisterung für die zu erwartenden Herrlichkeiten anstecken mochte, bemühte sich auch seinerseits, die Kiesel zu öffnen, und es gelang. »Bist du dumm,« rief er ärgerlich, als er die grauen Splitter in der Hand hielt, »es sind ja nur ganz gewöhnliche Steine!«

Noch oft hab' ich später hinter dem Leblosen wundervolle Offenbarungen vermutet und im Schweiße meines Angesichts versucht, zu ihnen vorzudringen, aber die Enttäuschung hat mich kaum je so heftig geschmerzt und bis zu so wilder Verzweiflung getrieben, wie damals, wo ich, ein fünfjähriges Kind, weinend vor den zerschlagenen Kieseln saß.

Wenn die andern mich verhöhnten, wenn der Schmerz mich übermannte und sie nicht verstanden, warum, dann blieb mir ein Zufluchtsort und ein Mensch, der immer die rechten Worte des Trostes fand: Großmama. Wie oft flüchtete ich in ihr stilles Reich, wo sie zwischen blühenden Blumen und dunkeln Palmen lesend, schreibend oder still vor sich hinträumend in ihrem tiefen, grünen Lehnstuhl saß. Sie hatte immer Zeit für mich, sie lachte mich niemals aus und antwortete nie auf meine tausend Fragen mit jenem ein weiches Kindergemüt so verletzenden: »Das verstehst du nicht.« Und wenn sich mir Park und Garten, Wasser und Wald mit tausend Gestalten bevölkerten, wenn die allabendlich in buntem Reigen um mein Bettchen tanzten, so wußte ich: Großmama sah sie, wie ich; nur die andern hatten keine Augen dafür. War ich allein bei ihr, so erschienen mir ihre Zimmer wie ein einzig Märchenreich: zwischen den[21] Palmen lächelte der schöne weiße Jünglingskopf ihres Vaters mir entgegen – halb ein Cäsar, halb ein Antinous –; von den Wänden sahen Männer und Frauen mich an, mir vertraut seit meinem ersten Augenaufschlag, wenn auch fremd nach Art und Gewandung, und unter einem von ihnen, auf kleinem Postament, stand Winter und Sommer ein frischer Blumenstrauß. Das war der Dichter, zu dessen Füßen die Großmutter gesessen hatte, als sie ein Kind, ein junges Mädchen gewesen war, der die Geschichte vom Heideröslein gedichtet hatte, die erste, die ich wiedererzählen konnte, und bei deren Schluß mir immer die Stimme brach: ... »Doch es half kein Weh und Ach, mußt es eben leiden!«

Auf dem Fußbänkchen neben Großmama, den Kopf vergraben in den weichen Falten ihres Sammetkleids, die Augen auf die tanzenden und zuckenden Flammen des Kaminfeuers gerichtet, während ihre leise Stimme über mir klang, von Schneewittchen und Dornröschen erzählend oder von der kleinen Seejungfrau, die dem Prinzen zuliebe unter tausend Schmerzen zum Menschen wurde und dann doch wieder hinabsteigen mußte in die Fluten, – das waren die schönsten Stunden meiner frühen Kinderjahre. Und das alles waren Erlebnisse für mich, viel bedeutungsvollere, als die Ereignisse des öffentlichen Lebens, deren Kunde an mein Ohr schlug. So weiß ich vom deutschfranzösischen Kriege, obwohl ich ihn als fast Sechsjährige erlebte, nicht allzuviel. Ich sehe mich zwar Scharpie zupfend am Fenster sitzen oder mein Frühstücksbrötchen mitleidig für die armen Soldaten in die Kiste legen, die die Mutter allwöchentlich zu packen pflegte; ich erinnere mich, daß ich mit Hurra schrie bei jeder Siegesnachricht und die Illuminationskerzen nach dem Fall von Sedan mit in die sandgefüllten Gläser steckte. Ich weiß auch, daß mir das bunte Schauspiel des Einzugs der Sieger in Berlin, dem ich in einem neuen blauseidnen Kleidchen mit meiner Mutter von irgendeinem Lindenhotel aus beiwohnte,[22] sehr gefiel, und daß mein Lorbeerkranz statt auf die Lanze eines Kriegers auf den aufgespannten Schirm irgendeiner biedern Berliner Bürgerfrau niederfiel; aber von hochgeschwellter patriotischer Begeisterung weiß ich nichts. Vielleicht, daß die gedrückte Stimmung zu Haus mich beeinflußt hatte, denn hier kam eine reine Siegesfreude nicht auf. Nicht nur weil Söhne und Gatten allen Wechselfällen des Krieges ausgesetzt waren, sondern auch weil nahe, liebe Verwandte der Großmutter im französischen Heere dienten. Neffen von ihr kamen als Gefangene nach Potsdam; der alte Bruder ihrer Mutter, der sich als Jüngling unter Napoleon I. die Sporen verdient hatte, kämpfte jetzt mit derselben glühenden Vaterlandsliebe unter seinem Nachfolger. Von dem Franzosenhaß, der den deutschen Kindern späterer Zeit eingeprägt wurde, wußten wir infolgedessen nichts. Ich glaube, jener Hurrapatriotismus, der sich heute breit macht, gedeiht nur in Friedenszeiten. Wer dem Kriege Aug' in Auge sieht, dessen Vaterlandsliebe wird vielleicht nicht weniger tief, wohl aber ernster und stiller sein. Erst wenn die großen Kämpfe der Völker lange vorüber sind, werden sie zu Mitteln, die Begeisterung auch der Kinder anzufachen. So kam es wohl, daß meine Phantasie von dem, was vor sich ging, ebenso unberührt blieb wie mein Gemüt. Nur der Heimkehr meines Vaters sah ich voll jubelnder Freude entgegen.

Er brachte uns allen Geschenke aus Frankreich mit, die er mit Sorgfalt und in der freudigen Aussicht auf die glücklichen Gesichter der Empfänger ausgewählt und wofür er wohl auch viel Geld ausgegeben hatte. Über all das schöne Spielzeug, das ich erhielt, war mein Jubel ohne Grenzen, und ein zierliches goldnes Kettlein, das mich noch mehr entzückte, schlang ich mir grade vor dem Spiegel um den Kopf, so daß die Perle, die wie ein Tautropfen daran hing, just unter dem Scheitel auf die Stirne fiel, – meine schwarzen Locken erschienen mir plötzlich gar nicht mehr so häßlich –, als das Antlitz meiner Mutter hinter [23] mir auftauchte. Angstvoll erstaunt wandte ich mich um; Seiden- und Samtstoffe lagen vor ihr ausgebreitet, mit zärtlich-fragenden Augen sah der Vater sie an, und sie – sie freute sich nicht! Worte des Vorwurfs über die »unnützen Ausgaben« war das erste, was ich sie sagen hörte, und mit ungewohnt heftiger Gebärde nahm sie mir die Kette aus den Haaren, die nun – ich wußte das nur zu gut – in der unergründlichen Tiefe des Silberschranks verschwinden würde, wie so manche der schönsten Dinge, bis »Alix groß sein wird«. Dann dankte sie dem Vater mit einer kühlen Phrase, aus der ich das Erzwungene mit dem feinen Gefühl des Kinderherzens herausempfand. Über unsre Festtagsfreude hatte sich ein dunkler Schatten gelegt. Papa ging verstimmt hinaus, ich spielte verschüchtert in einem möglichst versteckten Winkel. Freude ist eine der sensitivsten Pflanzen, die es gibt, das hab' ich damals unbewußt zum erstenmal empfunden: wenn sie in vollster Blüte steht, genügt ein kalter Lufthauch, sie zu töten. Sie will gehütet sein und gepflegt, und nur ihr natürliches Welken ist schmerzlos.

Verschleiert blieb von da an die Stimmung; um Liebe werbend, dankbar für jeden wärmeren Blick, bemühte sich mein Vater um seine schöne kühle Frau. Wie oft nahm er mich auf den Schoß, legte mein Bäckchen an seine Wange und herzte und streichelte mich, während seine Augen ihr folgten, die im Zimmer umherging, jedem Staubfäserchen nach, das etwa von einem Möbelstück nicht entfernt worden war.

Bald hieß es, die Mutter sei krank und brauche längere Zeit der Erholung. Große Koffer wurden gepackt, und wir reisten – Großmama, Mama und ich, meine Mademoiselle und die Jungfer – nach der Schweiz. Wie schnell war da der arme, einsame Papa vergessen! Wundervolle Bilder von weißleuchtenden Gletschern, blauen Seen, brausenden Wasserstürzen und schauerlichen Abgründen zogen an mir vorüber. Nirgends war mir meine Bonne mit ihrem ewigen: Tiens-toi droite – ne [24] cours pas si vite – sois raisonnable! so widerwärtig vorgekommen wie hier. Ins Moos sich werfen mit ausgebreiteten Armen, laufen und springen, wie von Flügeln getragen, und über Stock und Stein aufwärts klettern, höher, immer höher, bis zu den silbernen Häuptern der Berge mitten in den Himmel hinein – ach, wer das könnte! Eines Tages hielt es mich nicht länger. Irgendwo am Vierwaldstätter See war's, wo ich davonlief, gedankenlos, ziellos, nur erfüllt von dem Wonnegefühl der ungebundenen Kraft. Erst als es anfing zu dunkeln, kam ich zum Bewußtsein meiner Verwegenheit. Da plötzlich geschah etwas so Wundersames, daß ich alles vergaß: die weißen Berge bekamen rotglühendes Leben. – Männergeschrei und ängstliches Rufen schreckten mich auf aus der Verzauberung; vom Hotel aus suchte man die Ausreißerin. Stumm kehrte ich heim, unempfindlich blieb ich für alle Vorwürfe, die mich sonst so bitter trafen; das Erlebte hatte jede andre Empfindung in mir ausgelöscht. Nur der Großmutter vertraute ich flüsternd das große Geheimnis an: wie die Bergriesen vor mir lebendig geworden waren.

Im Herbst desselben Jahres kehrte Großmama nach Potsdam zurück, Mama und ich aber reisten nach Augsburg zu meines Vaters Schwester Klothilde. Sie hatte sich mit Baron Artern, dem jüngeren Bruder ihrer Tante Kleve, bei der sie erzogen worden war, vermählt gehabt und war nach kurzem, strahlendem Glück Witwe geworden. Monatelang schien es, als ob ihr sehnsüchtiger Wunsch, dem Toten zu folgen, erfüllt werden würde, und es war mein Vater, der ihr in dieser Zeit mit der ganzen hingebungsvollen Liebe und zarten Rücksicht, deren er fähig war, zur Seite gestanden und sie dem Leben zurückgewonnen hatte. Er war es wohl auch gewesen, der ihr den Gedanken nahelegte, uns zu sich einzuladen. Es gibt kaum eine heilendere Kraft für alle Lebenswunden als die weichen Hände, die klaren Augen und das helle Lachen eines Kindes, – ihr war sie versagt geblieben; in mir, so hoffte mein Vater, sollte sie sie finden,

[25] An einem trüben Oktoberabend kamen wir in Augsburg an. In Trauerlivree empfing uns der Diener am Bahnhof, dunkel war die Equipage, dunkel waren die engen winkligen Straßen, und grau, wie leblos, starrten die alten Häuser mir entgegen. In einen hallenden Torweg, den nur eine unruhig flackernde Lampe spärlich erhellte, bog der Wagen, und vor einer breiten, teppichbelegten Treppe mit kunstvollem, schmiedeeisernem Geländer stiegen wir aus. Eine alte Dienerin mit großem Schlüsselbund über der schwarzseidenen Schürze begrüßte uns zuerst; oben, wie eine Fürstin, wartete des Hauses Herrin auf uns. Der Kreppschleier verhüllte sie fast ganz, nur das weiße Gesicht und die roten Haare leuchteten daraus hervor. Weinend umarmte sie ihre Gäste, und erschüttert von dem Eindruck der neuen Umgebung weinte ich mit ihr. »Du gutes Kind,« sagte sie und küßte mich zärtlich; ich hatte ihr Herz gewonnen.

Ein seltsames Leben begann für mich in dem grauen Hause mit seinen langen, düstern Gängen, an deren Wänden ein dunkles Bild neben dem andern hing, mit seinen mächtigen schwarzbraunen Schränken und den tiefen, tiefen Teppichen, über die der Fuß unhörbar hinglitt. Die Türen waren mit Fries eingefaßt, um jedes Geräusch zu vermeiden, und die Klingeln hatten einen dunkeln Ton. Meine Tante vertrug nicht den geringsten Lärm. Man hatte mir das streng eingeschärft, aber ich wäre hier auch ohnedies ganz still gewesen. Nur im Stübchen bei der alten Kathrin, der Wirtschafterin, die mich schnell in ihr Herz schloß, durfte ich lachen und toben, und draußen bei allen den vielen Verwandten und Freunden fühlte ich mich aus dem Traumreich in die Welt zurückversetzt. Die erste Mädcheneitelkeit ist damals von ihnen in mir großgezogen worden. Sie umgaben mich förmlich mit der wohligen weichen Treibhausluft der Bewunderung; und wenn meine Mutter auch, sobald wir allein waren, Worte wie Hagelschauer und Gewitterregen abkühlend herniederbrausen ließ, so sah ich darin doch nichts weiter, als [26] daß sie mir die Freude eben wieder einmal nicht gönnen wolle. Hatte ich mich früher, weil ich anders war, zurückgesetzt gefühlt, war ich mir im Vergleich zu meinen helläugigen Gespielen häßlich vorgekommen, so wurde ich allmählich meiner Besonderheit als eines Vorzugs bewußt.

In meinem Zimmer, das ich allein bewohnte – Mademoiselle war auf Urlaub bei ihren Eltern in der Schweiz geblieben –, stand ein verschlossener Schrank. Ich studierte durch die Glastüren die Titel auf den Rücken der Bücher, soweit das meine ziemlich unzureichende Kenntnis der deutschen Buchstaben zuließ; französisch war mir bisher allein geläufig geworden. Auf einer Reihe großer Quartbände wiederholten sich immer dieselben Worte: »Die Geschichten aus tausend und einer Nacht.« »Tausend und eine Nacht« – hieß nicht so das Buch mit den bunten Bildern, aus dem mir Großmama Aladins seltsame Abenteuer vorgelesen hatte? Niemand erzählte mir Märchen in Augsburg, die alte Kathrin wußte nur immer dieselben Gespenstergeschichten, – ach, wenn ich doch selber lesen könnte! Heimlich versuchte ich, mit allen Schlüsseln, die mir erreichbar waren, den Schrank zu öffnen, um zu den Schätzen zu gelangen, die er barg. Endlich, endlich sprang er auf. Wie gut, daß ich Halsweh hatte und Tante und Mama allein spazieren gefahren waren! Mit klopfendem Herzen nahm ich einen Band nach dem andern heraus – ich sehe noch ihr gebräuntes Leder vor mir und ihr gelbes, stockfleckiges Papier! – und betrachtete die vielen Bilder darin: Geister und Ungeheuer, Männer auf sich bäumenden Rossen mit krummen Säbeln und hohem Turban und wunder-, wunderschöne Frauen. Von nun an hatte ich häufig »Halsschmerzen« und ließ mir mit rührender Geduld Einreibungen und Umschläge gefallen, trug auch klaglos das rote Flanellläppchen, das ich sonst nicht rasch genug hatte abreißen können. Sobald ich allein war, vertiefte ich mich in die Bücher. Es waren unverkürzte Übersetzungen des herrlichen Märchenschatzes; ich [27] lernte lesen darin; der ganze Farbenreichtum, die ganze Glut des Orients umgaben mich wie mit einem Zaubermantel. Wie oft, wenn ich mit glühenden Wangen und heißen Augen den Heimkehrenden entgegentrat, wurde mir das Fieberthermometer besorgt unter den Arm gesteckt. Aber ich hatte kein Fieber, – ich hatte ja auch nur mit den Ausschneidepuppen gespielt, die in buntem Durcheinander auf meinem Tische lagen!

Warum ich mein Geheimnis verschwieg? Nicht nur, weil die Mutter ganz gewiß die Bücher verschlossen hätte, sondern weit mehr noch, weil alles, was mich am tiefsten ergriff, auch am tiefsten verhüllt bleiben mußte. Es erschien mir entweiht, seines Wertes beraubt, wenn andre es sahen, besprachen, betasteten. Großmama allein hätte ich davon erzählen können. Niemand merkte das Geheimnis, in dem ich lebte, niemand ahnte, daß ich in den dunkeln Gängen und tiefen Nischen alle Spukgestalten meiner Bücher leibhaftig vor mir sah, daß sie mir aus den Bildern an den Wänden entgegentraten, daß ich eine seltsam schwüle, schwere Luft durstig einatmete.

Seit meiner ersten Kinderzeit hatte ich die Gewohnheit, mir abends im Bett Geschichten zu erzählen; das waren meine köstlichsten Stunden! Da störte mich nie die rauhe Hand der Wirklichkeit, da lachte mich keiner aus. Von nun an wurden meine Phantasien wilder, so daß ich mich oft vor ihnen fürchtete und zitternd unter die Bettdecke kroch. Häufig genug wartete ich mit fieberhafter Erregung auf den Schritt der Mutter im Nebenzimmer, aber zu rufen wagte ich nicht, nachdem sie mich einmal meiner »dummen Aufregung« wegen arg gescholten hatte.

Inzwischen war mein Vater nach Karlsruhe versetzt worden. Er und die Großmutter besorgten den Umzug, suchten die Wohnung und richteten sie ein. Beide erwarteten uns, als wir nach einer beinahe halbjährigen Abwesenheit endlich heimwärts reisten. Mir war der Abschied von Augsburg sehr schwer geworden, [28] denn mochte ich mir noch so sehr den Kopf zerbrechen – meine lieben Bücher heimlich mitzunehmen, gelang mir nicht. Papa und Großmama erschraken, als sie mich wiedersahen. »So blaß ist mein Alixchen,« sagte sie. »So dunkle Ränder hat sie um die Augen«, fügte er hinzu. Als ich zuerst sein Zimmer betrat, einen langen Raum mit einem einzigen breiten Fenster, sah ich eine durchsichtige, weiße Gestalt mit gesenktem Haupt an mir vorüberschweben. Ich schrie auf und erzählte nach vielem Zureden, was mir begegnet war; schon wollte die Mutter auffahren, und der Vater murmelte etwas von »dem Unsinn, den man dem armen Kinde beigebracht hat«, als die Großmutter mich still beiseite nahm und lange und liebreich auf mich einsprach. Was sie sagte, weiß ich nicht mehr, aber es löste mir Herz und Zunge. »Ach, bleib doch bei mir, Großmama!« rief ich, während die Angst sich in Tränen löste. Andre jedoch bedurften ihrer noch mehr als ich; ihr jüngster Sohn, Max, zog sie an sein Krankenlager, und ich war wieder allein.

Es war tiefer Winter damals. Trübselig und neidvoll sah ich oft durch die geschlossenen Fenster auf den Platz, wo die Kinder tobten, Schneeball warfen und Schneemänner bauten. Ich durfte nur selten hinaus. Von klein an war ich Halsentzündungen ausgesetzt gewesen, und meine Mutter ließ mich, ebenso pflichttreu wie gedankenlos, bei kaltem Wetter nur ins Freie, wenn es völlig windstill war. Aber auch dann wurde ich dick verpackt und durfte nicht laufen wie die andern. Das ließ mich noch mehr vereinsamen. Mir ist, als hätte ich die Winter stets verschlafen, so wenig weiß ich von ihnen. Vom Frühling aber und vom Sommer weiß ich um so mehr. Wir hatten einen großen Garten hinter dem Hause mit alten Bäumen, blühenden Büschen und bunten Blumen. Hier war mein Reich. Hier durfte ich ungestört umherspringen, mir Höhlen bauen, die zu unterirdischen Schätzen führten, auf der Schaukel bis zu den Wolken fliegen, die im Grunde gar keine Wolken, sondern [29] Drachen und Zaubervögel waren. Hier konnte ich mit meinen Bällen, die alle Märchennamen trugen, geheimnisvolle Zwiesprach halten, so daß die Nachbarn oft meinten, ich hätte Scharen von Gespielen im Garten. Puck, unser alter Pinscher, dem zwei Feldzüge schon die Haare gebleicht hatten, mußte sich hier zu jugendlichen Sprüngen bequemen, war er doch das Flügelpferd, das mich ins Zauberland tragen sollte.

Ich war den größten Teil des Tages mir selbst überlassen. Mademoiselle war froh, wenn sie den Mund nicht aufzutun brauchte und mit ihrer unendlichen Häkelei friedfertig auf dem Sofa sitzen konnte. Papa war den ganzen Vormittag auf dem Bureau des Generalkommandos tätig, nachmittags ritt er mit Mama spazieren und arbeitete dann allein bis zum Abend. Mama hatte immer schrecklich viele Besuche zu machen und zu empfangen; und was beiden an freier Zeit etwa noch übrig blieb, das verschlang die große, zu jeder Jahreszeit äußerst lebendige Geselligkeit. Nur vormittags zwischen ein und zwei Uhr pflegte meine Mutter mich bei schönem Wetter zum Spaziergang mitzunehmen. Mit dem Reifen, meinem unzertrennlichen Gefährten, lief ich voraus durch eine jener menschenleeren, langen, graden Straßen, die in Fächerform sämtlich am Schloßplatz münden, und trieb mein Spiel durch die stillen Laubengänge des Parks, bis es Zeit war, Papa vom Bureau abzuholen. Pünktlich, wenn wir vor dem Hause standen, schloß der Kommandierende, General von Werder, der Sieger von Wörth, die Vormittagsarbeit und kam mit Papa hinaus, um uns heimzubegleiten, denn er mochte alle schönen Frauen gern, meine Mutter insbesondere. Ich sehe ihn noch, den kleinen Mann, mit den Händen auf dem Rücken und den blitzenden Augen in dem scharf geschnittenen Gesicht, wie er neben uns herging, immer zu einem derben Scherz bereit und stets einen Leckerbissen für mich in der Tasche.

Mein Reifen ruhte auf dem Heimweg, denn dann hatte der [30] Vater mich an der Hand, und des Fragens und Erzählens war kein Ende. Wenn er für meine Phantasien auch nur wenig Verständnis hatte und ich mich hütete, sie ihm anzuvertrauen, so wußte er doch wie kein anderer meine Wißbegierde zu stillen. Er hatte eine Art, mir die Dinge klarzumachen und selbst schwierige Probleme meinem kindlichen Verständnis nahezubringen, mir Naturerscheinungen, chemische oder physikalische Vorgänge zu erklären und mich das Leben der Pflanzen und Tiere beobachten zu lehren, die die kurzen Stunden des Zusammenseins mit ihm wertvoller für mich machten, als wenn ich den ganzen Vormittag in der Schule gesessen hätte. Kamen wir nach Haus, so gingen wir zusammen in den Stall, und ich brachte den Pferden meinen Frühstückszucker, den ich mir täglich vom Munde absparte, seitdem Mama mich wegen meiner Zuckerverschwendung gescholten hatte. August, unser Kutscher und Faktotum, der mir trotz seiner verdächtig roten Nase viel lieber war als alle Mademoiselles zusammengenommen, mußte den kleinen Braunen herausführen, und ich durfte auf Mamas Sattel im Hof umherreiten, während Puckchen steifbeinig nebenher trabte, die Augen ernsthaft auf mich gerichtet, als müßte er Sitz und Haltung ebenso beobachten und kritisieren wie Papa. Der war kein bequemer Lehrmeister, und ich fürchtete diese halbe Stunde vor Tisch mehr, als daß ich mich daran freute. Ja, reiten – das mußte herrlich sein! Frei, mit verhängtem Zügel über Felder und Wiesen – vor Wonne klopfte mein Herz, wenn ich daran dachte! Aber im engen Hof, immer im Schritt, bestenfalls im kurzen Trab in der Runde, jeden Moment gewärtig, vom Vater heftig angefahren zu werden, wenn ich krumm saß, die Zügel verkehrt hielt, die Ecken nicht ausritt oder die Peitsche verlor, – gräßlich war's! Laute, harte Worte zu hören, verwundete mich aufs tiefste, und die Liebesbeweise, mit denen mein Vater mich nach jedem Ausbruch seiner Heftigkeit in doppeltem Maße überschüttete, vermochten den Eindruck nicht auszulöschen. Ich bemühte [31] mich, sie nicht hervorzurufen – man nannte das lobend »artig sein« –, aber mein Herz krampfte sich dabei zusammen, und ich zog mich mehr und mehr in das Gehäuse meines verborgenen Lebens zurück, was meine Mutter als ein erfreuliches Resultat ihrer Erziehungsmethode betrachten mochte, die nur ein Prinzip kannte: Selbstbeherrschung. »Ein gut erzogenes Mädchen zeigt seine Gefühle nicht,« pflegte sie zu sagen, und so vergrub ich mich in die Kissen meines Bettes, wenn ich weinen mußte, und lief in den Garten hinaus, um mich hoch in die Lüfte zu schaukeln, wenn ich mich freute.

Eigentliche Freunde und Spielkameraden hatte ich nicht, wohl aber geselligen Verkehr, der mich Sonntags fast immer, schön geputzt, aus dem Hause führte. Im Schloß bei Großherzogs war ich ein häufiger Gast: Prinzessin Viktoria und Prinz Ludwig, zwei blühende Kinder damals, waren lustige Gefährten, und beim Baumplündern zu Weihnachten, beim Eiersuchen zu Ostern hallte das Schloß wider von unserm Lachen und Lärmen, an dem das freundliche Elternpaar stets die meiste Freude hatte. Nur das Kochen in Vickis großer Küche, die das Ideal aller andern kleinen Mädchen war, langweilte mich entsetzlich – die Fee, die dem Wickelkind die Hausfrauentugenden in die Wiege legt, war offenbar zu meinem Tauffest nicht geladen worden! Da war's bei Max und Marie doch schöner, den Kindern des Prinzen Wilhelm, deren kaiserlicher Großvater ihnen aus Rußland das kostbarste Spielzeug zu schicken pflegte: Eisenbahnen mit richtigen Schienen, Puppen, die laufen und reden konnten, – lauter Dinge, die zu jener Zeit für gewöhnliche Sterbliche unerreichbar waren. Am allerbesten aber gefiel es mir in einem Hause, dessen Herrin, eine Tochter Bettinens auch dem Geiste nach, es verstand, Märchen zu Wirklichkeiten zu machen. Mit ihren beiden reizenden Töchtern, die um ein paar Jahre älter waren als ich, fertigte sie aus buntem Seidenpapier die köstlichsten Gewänder an, mit denen geschmückt wir lebende Bilder [32] stellten, Scharaden aufführten und uns als Helden Grimmscher Märchen in unsre Rollen so einlebten, daß die Rückkehr in die prosaische Erdenwelt uns hart ankam. Unsre Feste wurden bald die große Attraktion der Gesellschaft; oft genug sah auch der Großherzog uns zu, und ich erinnere mich noch recht gut, wie ich einmal als kleiner Amor im rosa Hemdchen, mit goldenen Sandalen und blitzenden Flügeln aus einem Strauß lebendiger Blumen meinen Pfeil auf ihn zu richten hatte und auf seinen lachenden Zuruf: »Nun, schieß los!« das strenge Schweigegebot vergessend, antwortete: »Aber das tut weh!« Bald lernte ich besser, bei solchen Gelegenheiten die Fassung zu bewahren, denn lebende Bilder und Kostümfeste waren auch bei den »Großen« an der Tagesordnung, und fast überall wirkte ich mit. In Scheffels Dichtung vom Rockertweibchen, die unter seiner persönlichen Leitung dargestellt wurde, war ich ein kleines Schwarzwaldmädchen, das sich der besonderen Gunst des Dichters erfreute. Er hatte immer eine Tüte für mich in der Tasche, und das erste Glas Sekt, das mir warm und wohlig bis in die Fußspitzen niederrieselte, verdanke ich ihm. Auch ein Rokokodämchen war ich, mit hochaufgetürmtem, gepudertem Haar, und ein Elfenkind, und das Veilchen auf der Wiese, – was Wunder, daß ich immer unlustiger morgens vor meinem alten, pedantischen Lehrer saß, der mich Buchstaben malen, Gesangbuchverse und Bibelsprüche hersagen ließ. Im Strudel rauschender Freude untertauchen oder lesen und träumen für mich ganz allein, – was dazwischen lag: das Alltagsleben mit seinen Pflichten und Leiden, war wie eine staubige Straße, die ich am liebsten zu gehen vermied. »Pflichten« besonders waren mir verhaßt; ich definierte sie schon als sechsjähriges Kind auf eine Frage hin als das, »was immer unangenehm ist«. Alles, was Mama z.B. tat, wenn sie ein recht unzufriedenes Gesicht dazu machte, erklärte sie für Pflichterfüllung: die schmutzige Wäsche selber zählen, obwohl drei Dienstboten daneben standen, die Zutaten zum [33] Kochen herausgeben, obwohl wir eine vortreffliche französische Köchin hatten, nachmittags mit mir spazieren fahren, obwohl wir uns beide schrecklich dabei langweilten, – ja selbst die Dämmerstunden bei Papa, wo er zu Frau und Kind gern zärtlich war, schienen mir, nach ihrem Ausdruck zu schließen, in dieses Gebiet zu gehören. Ganz gewiß, ich würde nie meine Pflicht erfüllen, schwor ich mir heimlich und suchte meine Theorie nur zu oft in die Praxis umzusetzen, indem ich tat, was mir zu tun gefiel, und Befehlen, deren Ursache und Zweck ich nicht einsah, hartnäckigen Widerstand entgegensetzte. Der meiner freien Bewegung gezogene Umkreis konnte daher für meine Bedürfnisse nicht weit genug sein; darum war der Sommer so schön, wo ich den Garten fast für mich allein hatte, wo ich auf dem Lande bei Verwandten und Freunden der weitgehendsten Ungebundenheit mich erfreute.

Eingebettet zwischen weiß- und rotblühenden Obstbäumen, überragt von grünen Hügeln, zu denen schmale, nußbaumbeschattete Wege emporführten, noch nicht erobert von dem Feinde aller verträumten Poesie, der fauchenden, qualmenden Maschine, lag Weinheim damals zu Füßen der Bergstraße. Dem Grafen Währing, dem Bruder meiner Urgroßmutter, hatte das Schloß gehört, das mit seinen Gärten und Weinbergen das Städtchen beherrschte. Jetzt hauste seine Witwe, eine achtzigjährige Greisin dort oben, der niemand ihr Alter ansah, und bei der wir oft wochenlang zu Gaste waren. Wie eine Marquise aus dem achtzehnten Jahrhundert war sie anzuschauen: klein, zierlich, sprudelnd von Geist und Leben, mit winzigen weißen, von Juwelen bedeckten Händen, allerhand seltenes Tierzeug – weiße Angorakatzen, schlanke Windspiele, lockige Zwergpinscher – um sich herum. Sie pflegte sich stets nur mit Jugend zu umgeben – es sei genug, daß der Spiegel sie an ihr Alter erinnerte, meinte sie. Je toller es um sie her zuging, je mehr Liebesgeschichten sie sich entspinnen sah, desto fröhlicher war sie. Immer hatte sie Schränke voll Pariser Toiletten bereit, um ihre weiblichen[34] Gäste – die schönsten am häufigsten – damit zu beschenken, und Juwelen, Ringe und Armbänder aller Art, mit denen sie sie schmückte. Wer harmlos irgend etwas, was nicht niet- und nagelfest war, bei ihr bewunderte, dem wurde es als Geschenk aufgenötigt. Und was für merkwürdige Dinge gab es in ihren Salons mit den Louis XV. Möbeln, den hohen Spiegeln und vielen, vielen Bildern und Bilderchen: da waren Sessel, Fußbänke, Bücher, aus denen in tollem Durcheinander Mozartsche und Offenbachsche Melodien ertönten, sobald sie benutzt wurden; Gemälde, die plötzlich in der Wand verschwanden, um einem Schränkchen voll süßem Naschwerk Platz zu machen; Tischchen, die in den Boden sanken, wenn man sie anstieß, um mit Wein und Kuchen besetzt wieder zu erscheinen, kurz – ein Paradies für ein wundergieriges Kinderherz! Und dann der Garten mit seiner Fülle von Beeren und Blumen, mit seinen dichten Laubengängen und lustigen Wasserspielen – und die Freiheit vor allem, die ungebundene!

Wenn ich bei Tisch erschien, musterte die alte Tante mich zuvor sorgfältig, rückte da eine Falte zurecht, steckte mir dort eine Schleife an, wickelte meine Locken über ihre feinen Fingerchen, zog das Kleid noch tiefer von meinen magern Schultern und holte die Puderquaste aus ihrer kleinen goldnen Taschenbüchse, um den Rest Vormittagsübermut von meinen Wangen zu entfernen. »Est-elle gentille, la petite?!« sagte sie dann, mich vor dem Spiegel drehend. Mit Seide und Spitzen, mit Kettchen und Armbändern, mit Worten und Ratschlägen, die für die Seele einer Siebenjährigen nichts andres waren als süßes Gift, warb sie um mich und modelte an mir. Was sie sagte, weiß ich heute nicht mehr, aber ich weiß, daß ich von ihr erfuhr, des Weibes Aufgabe sei, zu gefallen und zu herrschen, und all die Spiegel und Büchschen und Fläschchen des Toilettentischs, all die Geheimnisse des Boudoirs seien nichts als Etappen auf dem Wege zu ihrer Erfüllung. Das Bewußtsein, hübsch zu sein, [35] machte mich stolz, und mit der Koketterie des kleinen Mädchens suchte ich zum erstenmal ein männliches Wesen mir gefügig zu machen. Die alte Tante hatte einen Heidenspaß daran, nur war leider der arme Rudi, ihr Enkel und mein Spielgefährte, ein gar zu ungeeignetes Objekt für meine Künste! Er stotterte und war infolgedessen scheu und ängstlich; und ich, die ich mit jener unbewußten Grausamkeit der Kinder mein Licht vor ihm leuchten ließ, verschüchterte ihn nur noch mehr. Armer Rudi! Das Stottern hat man ihm später abgewöhnt, aber in seinem Gemüt ist doch irgend etwas Angstvoll-Zitterndes zurückgeblieben: auf der Höhe des Lebens hat er sich eine Kugel in die Schläfe gejagt, und keiner wußte, warum.

Meine Erziehung durch die alte Tante war gewissermaßen nur eine theoretische; am Anschauungsunterricht sollte es auch nicht fehlen. Wir verbrachten die Herbstwochen häufig bei französischen Verwandten auf ihrem Schlosse im Elsaß, einer sagenumwobenen alten Ritterburg. Gefallene Größen des napoleonischen Hofes – männliche und weibliche – gaben sich dort zur Jagd und Weinlese ein Rendezvous. Ein Stück Pariser Leben spielte sich vor meinen erstaunten Augen ab: da war der Herr des Hauses, ein schwerreicher Emporkömmling, dessen kurze, dicke Hände, mit denen er meine Wangen streichelte, mir in fatalster Erinnerung sind, – neben ihm seine vornehme zarte Frau, immer in Spitzen gehüllt, an denen ihre durchsichtigen Hände nervös hin und her zerrten. Eine ihrer Töchter war Onkel Maxens Frau, die Mutter meines alten Spielgefährten Werner, den ich zu meiner hellen Freude hier wiedersah. Sie war die schönere von den beiden Schwestern, dabei still und phlegmatisch, eine Haremsfrauennatur, während die andere von Geist und Leben sprudelte und der Mittelpunkt eines Kreises ausgelassener junger Leute war. Mich beachteten sie wenig, sie taten sich keinerlei Zwang an vor mir; »la petite« hatte ihrer Meinung nach ebensowenig Augen und Ohren wie die Zofen[36] und Lakaien, ja sie galt zuweilen als der harmloseste Liebesbote. Aber ich war nur allzubald gar nicht mehr harmlos: mit zitternder Neugier beobachtete ich ihre Tändeleien, ihre Stelldicheins, ihr Flüstern, ihre Küsse, und Wellen heißen Lebens, die mir über den Rücken fluteten, ließen mich dabei erbeben.

Als wir das letztemal vom Elsaß nach Karlsruhe zurückkehrten – acht Jahre war ich damals –, kamen mir mein Garten und mein Spielzeug merkwürdig fremd vor. Ein Stück harmloser Kindheit war mir inzwischen verloren gegangen. Gierig stürzte ich mich über alle Bücher, deren ich habhaft werden konnte, und wenn jemand mich zu ertappen drohte, steckte ich sie rasch unter Puckchens Kissen, der fast immer auf dem alten braunen Sofa neben mir lag. Wenn ich mir jetzt des Abends im Bett Geschichten erzählte, so klopfte mein Herz nicht aus Angst vor den Geistern, die ich rief und nicht zu bannen vermochte, sondern in heißer Erregung über das abenteuerliche Schicksal, als dessen Heldin ich mich selber träumte. Liebe, wie ich sie um mich gesehen hatte, Liebe, deren Wonnen und Schmerzen im Mittelpunkt all der Lieder, all der Erzählungen standen, die ich las, wurde zum Inhalt meiner Phantasien, und je kühler ich die Luft empfand, die mich daheim umwehte, um so durstiger wurde mein kleines Herz. Hatte ich doch schon lange den Feuerbrand im Innern heimlich genährt und gehütet, weil ich niemanden besaß, vor dem ich ihn als Opferflamme hätte aufsteigen lassen können, – nun mußte ich mir selber den Gegenstand meiner Leidenschaft schaffen. Eines der erschütternsten Erlebnisse meiner Kindheit half mir dazu: das Theater. Wagners Lohengrin war das erste, was ich sah. Konnte es für mich etwas Herrlicheres geben als den Schwanenritter? Er erschien mir als die Verkörperung idealen Heldentums. Meinen Eindruck vermochte ich nicht in Worte zu fassen – undankbar und empfindungslos wurde ich deshalb gescholten –, aber meinem Herzen hatte er sich unauslöschlich eingeprägt. In demselben Winter sah ich die [37] Jungfrau von Orleans, und nun stand es fest für mich: nicht eine Elsa, die dem Geliebten die Treue brach, wollte ich sein, sondern eine Johanna, die seiner würdige Heldin welterlösender Taten.

Bald aber genügte mir der Lohengrin als Gegenstand meiner Liebe nicht mehr, – er lebte nicht, und der seine Silberrüstung trug, hatte die Rolle nur gespielt, mich aber verlangte nach einem lebendigen Menschen. Wenn das Herz auf die Suche geht und die Phantasie die Führung übernimmt, dann wird gar rasch gefunden! – Bei meinen Eltern gingen viele Gäste aus und ein. Ein junger, schlanker Dragonerleutnant mit einem schmalen, blassen Gesicht war unter ihnen, der sich oft mit mir unterhielt – nicht wie die andern nur mit mir scherzte und spielte. Und durch nichts konnte man mich leichter gewinnen, als indem man mich ernst nahm; – daß man es immer nur drollig und kindisch findet, erbittert jedes geistig reifere Kind. So flog denn mein sehnsüchtiges Herz ihm zu, und meine Phantasie umkleidete ihn mit aller Romantik des Lohengrinhelden meiner Träume. Er war nicht von Adel, also namenlos wie Elsas Ritter: gewiß würde er sich einmal als eines Königs verschollener Sohn entpuppen, und mir fiele die Aufgabe zu, ihm Reich und Krone zu erobern! Die schönsten Blumen aus meinem Garten legte ich heimlich auf seine Mütze im Flur, ehe er ging, und der ganze Tag war mir verklärt, wenn er morgens vorüberritt und mich grüßte.

Rohe Menschen mögen lachen über solche Kinderliebe und moralische sich darüber entrüsten. Mir ist, als wäre sie die reinste meines Lebens gewesen.

Im Frühling 1874 wurde mein Vater nach Berlin versetzt. Zum letztenmal versammelten sich des Hauses Freunde um unsern Teetisch. Noch weiß ich, wie mir's vor den Augen dunkelte, als ich meinem Helden die Hand zum Abschied reichte. Heiß lag sie in der seinen. Dann strich er mir noch einmal über den[38] Kopf. »Wenn wir uns wiedersehn, bist du ein großes Mädchen,« sagte er, »wer weiß, wir tanzen vielleicht noch einmal miteinander!« Wortlos lief ich hinaus in mein Zimmer und biß verzweifelt in mein Kopfkissen, um mein Schluchzen zu ersticken.

Kinderschmerz ist so gut echter Schmerz wie der der Erwachsenen, – nur daß wir ihn so leicht vergessen.

Am nächsten Morgen schrieb ich meine ersten Verse in ein altes Schreibheft:


Maiglöckchen zart und rein,
Läut'st schon den Frühling ein?
Nein, nein, er kommt noch nicht,
Du gehst zu früh ans Licht.
Werd ich dich welken sehn,
Dann werd auch ich vergehn,
Und in das kühle Grab
Senkt man uns beid hinab.

Bis ich erwachsen war, hat es niemand zu sehen bekommen, wie man eine getrocknete Blume – eine Zeugin holder Stunden – vor der Berührung bewahrt, die sie zerstören würde.

Mein Garten stand in vollem Frühlingsflor, als wir Abschied nahmen. Ich lief durch das Haus, wo die Packer hantierten, in den Stall, wo August die Wagen in Decken hüllte. »Puckchen, mein Puckchen,« rief ich. Noch nie war ich fortgefahren, und wäre es auch nur auf ein paar Tage gewesen, ohne ihm ein Stückchen Zucker zu geben. Aber diesmal kam Puckchen nicht. Ich frug den August nach ihm, er sah verlegen zur Seite und murmelte etwas Unverständliches. Da fiel mir ein, daß Mama vor kurzem von seinem Alter, der Möglichkeit seines Todes gesprochen hatte. Das Herz stand mir still. Noch einmal suchte und rief ich, die Stimmen von Mademoiselle und Mama absichtlich überhörend, die mich zur Eile mahnten. »Geh nur, geh, [39] Alixchen,« sagte August, der mir nachgekommen war, beruhigend, »Puckchen findest du nicht – –.«

»Er ist tot!« schrie ich außer mir und warf mich weinend in Augusts Arme. Alles lief zusammen, mich zu trösten, aber fassungslos blieb mein Schmerz. »Sieh, mein Kind,« sagte schließlich Mama, die mich auf den Schoß genommen hatte, »Puckchen war alt und krank, er hätte sich mit seinen blinden Augen in der fremden Stadt nicht mehr zurecht gefunden. Eine Wohltat war's für ihn, daß ich ihn vergiften ließ ...« – Ich zuckte zusammen wie unter einem Peitschenschlag. Meine Tränen waren versiegt. Von der Mutter Schoß glitt ich herunter und sah sie groß an: »Du – du – hast mein Puckchen vergiftet?!«

Dann ließ ich mich still zum Wagen führen. Irgend etwas war entzwei gegangen in mir. Ganz ruhig und empfindungslos sah ich vom Coupéfenster aus, wie die Stadt allmählich vor mir verschwand.

[40]
2. Kapitel
Zweites Kapitel

Wer sich von Partenkirchen westwärts wendet, wo lockend in geheimnisvoll düsterer Pracht die Zugspitze in die Wolken steigt, und, die staubige Chaussee verschmähend, auf schmalem Pfad durch bunte Wiesen wandert, dem zeigt sich plötzlich ein Bild voll stillen Friedens: in leisen Wellenlinien erhebt sich das Tal, Hügel an Hügel von alten Baumriesen gekrönt und blühenden Büschen; gradaus aber, wohin der Weg sich glänzend wie ein Silberstreifen durch die Gründe schlängelt, schmiegt sich vertrauensvoll, wie ein kleines Kind in den Schoß der Ahne, ein weißes Kirchlein an die grauen Wände des Waxensteins. So oft ich es sah, – mir war immer, als lächele es. Und ein lichter Schimmer von Lebensfreude lag auch auf den kleinen Häusern ringsum: ein heller Goldton überzog die Wände des einen, in einem satten Himmelblau strahlte das andere, und selbst die Heiligen und die Märtyrer, die irgendwo unter einem Baldachin oder in einer Nische standen, hatten so lustige bunte Kleider an, daß wohl keiner, der vorüberging, sich bei dem Anblick ihres gottseligen Leidenslebens erinnerte. Von der Zeit gebräunt waren First und Dach und Altanen, aber so leuchtend war der Nelkenflor, der von Fensterkasten und Geländern niederschaukelte, daß das Dunkel auch hier nur da zu sein schien, um den Glanz noch stärker hervorzuheben. Dazu plätscherte der kleine Bergbach lustig durchs Dorf, der ganz, ganz oben in den Furchen und Spalten dem Felsen entspringt und vom Schnee sich nährt und vom Eis, um erst unten im Tal, berauscht von den Blumen, die über ihm nicken, die helle Stimme zu verlieren.

[41] Vor den letzten Häusern beginnt der Wald. Als müßte er ein Kleinod schützen, so schlingt er sich dicht um den leuchtenden Smaragd des Badersees, der seine grüne Farbe auch unter der schönsten Himmelsbläue nicht verliert und trotz des bösesten Unwetters durchsichtig bleibt bis zum Grunde. Aber während eine breite Straße ihm den Strom der Menschen zuführt und den Wald gezwungen hat, Platz zu machen, liegt sein kleinerer Zwillingsbruder, der Rosensee, noch immer still und versteckt zwischen den Bäumen. Selten nur verirrt sich einer auf die engen Steige, die in seine Nähe führen, und das Riesenpaar über ihm – der Waxenstein und die Zugspitze – scheint sich darum besonders wohlgefällig in seinen stillen Wassern zu spiegeln. An seinem Ufer, das an dieser Seite von Rosen in allen Farben und Formen umkränzt ist, steht nur ein einziges kleines Haus; von wildem Wein und Efeu ist es so dicht umsponnen, daß es an dunkeln Tagen mit dem Wald, der es umgibt, in eins verschwimmt.

Vor vier Jahrzehnten kaufte Ulysses Artern den Rosensee und baute seinem jungen Eheglück das grüne Nest daran. Jedes Jahr, wenn die Maiglöckchen blühten und ihr Duft süß und schwer über Wasser und Wald sich legte, zog seine Witwe auch nach seinem Tode hierher und blieb, bis der Schnee über die Bergspitzen hinunter ins Tal sich streckte.

Seitdem wir in Augsburg bei ihr gewesen waren, hatte sie uns jedes Jahr zu sich eingeladen. Aber nur mein Vater hatte sie besucht; meiner Mutter war die Schwägerin nie sympathisch gewesen, und so hatte sie lange gezögert, zu ihr zu gehen. Mich freilich zog die Sehnsucht in die Berge, seitdem sie mir in der Schweiz Augen und Seele entzückt hatten; und wenn der Vater von Grainau erzählte und vom Rosensee, so wünschte ich nichts mehr, als dort zu sein. Und nun hatte sich mein Wunsch erfüllt!

Schon in Weilheim, der Endstation der Eisenbahn damals, wo das Tor des Loisachtals sich vor mir öffnete, und tief im [42] Hintergrunde die Umrisse der weißen Bergspitzen in den Wolken verschwanden, waren mir die Augen übergegangen – wie stets, wenn ein Eindruck mich überwältigte. Still und stumm ließ ich ihn auf der ganzen langen Wagenfahrt auf mich wirken, und als ich dann abends oben im Giebelstübchen des Rosenhauses stand, den Blick auf die vom dunkelblauen Nachthimmel grausilbern sich abhebenden Berge gerichtet, während die reine, kühle Luft mir um die Stirne wehte, da fiel all mein Kinderleid von mir ab, wie ein schwerer, drückender Mantel. Frei atmen konnte ich wieder.

Mit jedem Morgen, an dem ich erwachte, nach festem, traumlosem Schlaf, mit jedem Abend, an dem ich mich niederlegte, müde von dem Reichtum des Tages, steigerte sich diese Empfindung. Ein Vollgefühl des Lebens durchströmte mich, und wenn niemand mich sah, dann warf ich mich wohl vor lauter Seligkeit mit ausgebreiteten Armen in die blühende Wiese und lag so still und atmete so leise, daß die Schmetterlinge sich ruhig auf den blauen Glockenblumen, die über mir blühten, niederließen, oder ich legte den Kopf ins Waldmoos, wo die Maiglöckchen am dichtesten standen, und sah den tanzenden Sonnenstrahlen zu. Keine Mademoiselle legte meiner Freiheit Zügel an; meine Tante fand mich zwar »schlecht erzogen«, weil ich nicht ruhig mit meiner Handarbeit neben ihr saß, und ließ es meiner Mutter gegenüber an Anspielungen darauf nicht fehlen, aber da sie mit Kindern gar nichts anzufangen verstand, ließ sie mich laufen und beschränkte ihre Erziehungskünste auf strenge Toilettenvorschriften, wenn ich zu Tisch erschien oder mit ihr spazieren fuhr. Dann saß ich nach guter Karlsruher Gewohnheit steif und grade auf dem Rücksitz der Equipage wie Johann auf dem Bock; der Kutscher, der mit dem »gnädigen Fräulein« nur vertraut war, wenn es morgens in den Stall kam und – ohne väterliche Aufsicht! – auf dem großen Fuchs, von allen Bauernkindern bewundert, durch das Dorf ritt. Ich hatte bald [43] viele Freunde unter den Buben und Mädeln. Alle Waldwege und Bergsteige lernte ich durch sie kennen; die schönsten Erdbeerplätze zeigten sie mir und lehrten mich klettern, wenn es galt, zu den Alpenrosen zu gelangen, die rotleuchtend die grauen Felsen belebten.

Die Kinder des Landvolks im Norden Deutschlands tragen das Zeichen der Dienstbarkeit noch immer auf der Stirn: wie selbstverständlich ordnen sie sich im Spiel mit dem »Herrschaftskind« diesem unter und sehen es fast als Auszeichnung an, die Rolle der Untergebenen zu übernehmen. Wo die frische Luft der Berge weht, hat selbst die Sklavenmoral der katholischen Kirche Freiheitsgefühl und Selbstbewußtsein nicht zu unterdrücken vermocht. Der Sepp vom Bärenbauern, der am verwegensten kletterte und am schönsten jodeln konnte – mein Hauptspielgefährte – behandelte mich ganz auf gleich und gleich, ja er sah zuweilen mit unverhohlenem Stolz auf mich herab, und seiner urwüchsigen Kraft gegenüber kam selbst meine sonst so ausgeprägte Empfindlichkeit nicht auf: ich biß nur in stillem Ingrimm die Zähne zusammen, wenn er mich verspottete, weil ich ohne seine Hilfe den Fels nicht hinaufkam. Es gab viel zerrissene Kleider dabei; und wäre die alte Kathrin nicht gewesen, die sie heimlich flickte und immer dafür sorgte, daß ich in möglichst tadelloser Toilette bei den Mahlzeiten erschien – ich hätte mich nicht lange meiner Freiheit erfreuen dürfen.

An einem heißen Julinachmittag kam ich einmal, einen großen Buschen Alpenrosen im Arm, eilig vom Ochsenhügel heruntergelaufen, in heller Angst, zur Teestunde zu spät zu kommen. Ich suchte darum möglichst schnell an dem Wagen vorbeizuschlüpfen, der vor unserem Gartentor hielt, als eine Hand mir in die wehenden Locken griff und eine lachende Stimme rief: »Das ist doch die Alix, das Nichtchen!« Eine große blonde Frau, von einem kleinen Mädchen und einem halberwachsenen Knaben begleitet, stand vor mir, und nun mußte ich Rede und [44] Antwort stehen, während meine Augen ängstlich an meinem fleckigen Lodenrock und den schmutzigen Stiefeln hingen. Kurz vor dem Haus riß ich mich unter dem Vorwand, die Blumen ins Wasser stellen zu wollen, los und erschien, noch glühend vor Erregung, nach zehn Minuten im weißen Musselinkleid wieder, das mir die alte Kathrin mit einem »Kind, Kind, was wird die Tante sagen – das war ja die Prinzessin Friedrich!« hastig übergeworfen hatte. Aber es kam nicht einmal zu einem strafenden Blick, denn die Prinzessin nahm mich in die Arme und erzählte lachend, wie sie eben schon meine Bekanntschaft gemacht habe. Ihre Worte überstürzten sich wie ein Wasserfall und wurden von ebenso hastigen und burschikosen Gebärden begleitet. Eine komische »Prinzessin«, dachte ich mir im stillen und sah mit gesteigertem Erstaunen zu ihren Kindern herüber, die sich grade nach allen Regeln der Kunst zu prügeln begannen und des wohlgepflegten Rasens nicht achteten, auf den sich sonst nicht einmal mein Ball verirren durfte.

»Der Hellmut sagt, die Alix wär eine Zigeunerin,« schrie das kleine Mädchen plötzlich.

»Zigeunerinnen sind viel hübscher als semmelblonde Frauenzimmer, wie du eins bist,« entgegnete der Knabe, und es bedurfte des Dazwischentretens der Mutter, um mit einer Ohrfeige nach rechts und links dem Streit ein Ende zu machen.

Mein Schicksal hatte sich dabei entschieden: selbst der Kuchen, in den das Prinzeßchen mit Behagen hineinbiß, hinderte sie nicht, mir feindselige Blicke zuzuwerfen, während ihr Bruder mir die Aufmerksamkeiten eines vollendeten Kavaliers erwies. Er mochte sieben Jahre älter sein als ich, war schlank und hochaufgeschossen, mit lustigen grauen Augen und aufgeworfenen roten Lippen. Die kleine Friederike glich ihm wenig; sie war ein dürftiges Persönchen mit jenen neidisch heruntergezogenen Mundwinkeln, die die Gesichter solcher Kinder zu entstellen pflegen, die sich früh ihrer Reizlosigkeit bewußt werden. Als [45] Hellmut nach dem Tee zum Badersee hinüber wollte, um dort Kahn zu fahren, weigerte sie sich, mitzukommen, wohl in der Hoffnung, daß er dann allein gehen müsse und der Spaß ihm verdorben wäre. Ihre Mutter aber meinte: »Um so besser werden sich Hellmut und Alix amüsieren,« und so brachen wir auf, vom Diener begleitet, der uns rudern sollte.

Geheimnisvoll und spiegelklar, wie immer, lag der See vor uns. Vor dem kleinen Wirtshaus, das damals noch bescheiden an seinem Ufer lag, saßen nur wenige Touristen.

»Jetzt wollen wir uns erst gütlich tun und den schlabbrigen Tee herunterspülen,« sagte Hellmut und bestellte Tiroler Wein, mit dem wir lustig unsre neue Freundschaft leben ließen. Als der Diener im Hintergrund, vertieft in die »Fliegenden«, ruhig vor seinem Seidel saß, schlichen wir davon. Die Abneigung gegen irgendwelche Beaufsichtigung, die Hellmut dadurch bekundete, steigerte meine Sympathie für ihn. Er löste den Kahn selbst von der Kette, und wir ruderten, glückselig über unsre gelungene Kriegslist, in den See hinaus. Bald kamen wir in lebhafte Unterhaltung; Hellmut erzählte mir von Berlin, wo er wohnte, und wo ich nun bald hinkommen sollte, so viel des Schönen und Interessanten, daß meine Abneigung da gegen sich rasch in erwartungsvolle Neugierde verwandelte. Die uns zugestandene Stunde war längst verstrichen, als heftige Rufe vom Ufer her uns zur Rückkehr mahnten. Die ganze Familie war dort versammelt: unsere Mütter, die Tante, das schadenfroh lächelnde Prinzeßchen, – und wir wurden mit Vorwürfen überschüttet, kaum daß wir das Boot verlassen hatten.

»Mach dir nichts draus,« flüsterte Hellmut und wandte sich mit eleganter Verbeugung meiner Tante zu. »Alix ist unschuldig, Frau Baronin,« sagte er lächelnd, »sie wollte nicht ohne den Diener fahren und mahnte dann unausgesetzt zur Rückkehr.« Mit einem raschen dankbaren Blick lohnte ich Hellmuts Ritterlichkeit, und mit einem herzlichen »Aufwiedersehen« schieden wir.

[46] Auf dem Wege heimwärts konnte die Tante es nicht unterlassen, ihrer Befriedigung über den »passenden Verkehr«, den ich nun endlich gefunden hätte, und ihrer Hoffnung Ausdruck zu geben, daß er mich hindern würde, weiter »mit den Dorfbuben herumzuschlampen«. Das empörte mich, und ich nahm mir vor, ihre Hoffnungen auf das gründlichste zu täuschen. Schon am nächsten Tag lief ich in aller Frühe mit dem Sepp in die Wälder und ließ mich nur grade zu den Mahlzeiten sehen. Aber ganz so wie ehemals wurde es trotzdem nicht mehr. Wir fuhren oft nach Partenkirchen hinauf, wo die Prinzessin eine Villa besaß, und sie kam häufig ins Rosenhaus. Vergebens hatte ich versucht, meine alten Freundschaften mit meiner neuen in Einklang zu bringen; Hellmut kehrte dem Sepp und seinen Kameraden gegenüber zu sehr den Herrn heraus, so daß sie sich fernhielten, wenn er da war. Auch sonst war irgend etwas nicht mehr so recht in Ordnung; wie mir die Adern stets hoch auf zu schwellen pflegen, wenn ein Gewitter im Anzuge ist, so empfand ich auch seelischen Atmosphärendruck mit peinvoller Sicherheit.

Meine Tante und meine Mutter hatten sich nie gemocht. Sie waren beide gewöhnt, in der Gesellschaft eine Rolle zu spielen: die eine um ihrer Schönheit und Vornehmheit willen, die andere ihres Reichtums und der unangefochtenen Selbständigkeit ihrer Stellung wegen. Schmeichelei und Unterwürfigkeit begegneten der Baronin Artern auf Schritt und Tritt; jeder, der von ihr etwas erreichen wollte – und wer hätte das nicht gewollt! –, beugte sich ihrem Willen und ihren Ansichten. So kam es, daß sie allmählich Widerspruch überhaupt nicht mehr ertrug ... Um mit ihr auszukommen, mußte man Ja und Amen zu allem sagen, was sie behauptete, – oder schweigen. Meine Mutter schwieg, aber sie schwieg mit allen Zeichen inneren Widerspruchs: einem sarkastischen Lächeln, einem hochmütigen Achselzucken. Das reizte die Tante; was sie jedoch weit mehr reizte, war der Schwägerin unzweifelhafte Vornehmheit, die kein Reichtum [47] und keine Toilettenpracht ersetzen konnte. Daß ihre Mutter einer einfachen Bürgerfamilie entstammte, das war für sie ein dunkler Punkt ihres Lebens, und in ihr lebte etwas von jenem Pöbelhaß, der stets das eine Ziel verfolgt: Rache zu nehmen an den Vornehmen. Sie tat es in grober und feiner Weise: sie ließ in Gegenwart meiner Mutter das Licht ihres überlegenen Geistes am hellsten strahlen; sie zeigte ihre vollendete Meisterschaft am Klavier und ließ in ihrer dunkeln Altstimme alle Skalen der Leidenschaft vor dem entzückten Zuhörer tönen. Genügte ihr das nicht, um meine Mutter, die nichts Gleichwertiges zu bieten hatte, in den Schatten zu stellen, so griff sie sie an ihrer schwächsten Stelle an: ihrem preußischen Patriotismus. Wie oft ging meine Mutter mit hochrotem Kopf und zusammengepreßten Lippen hinaus, wenn die Schwägerin wieder einmal preußische Sitten, preußische Ansichten, preußische Politik geringschätzig kritisiert hatte. Daß sie es trotzdem bei ihr aushielt, war nur ein Ergebnis ihres Pflichtgefühls: von der reichen, kinderlosen Frau hing die Gestaltung meiner Zukunft ab, ihr galt es Opfer zu bringen.

Eines Tages kam es zur Explosion. Meine Mutter machte irgendeine wegwerfende Bemerkung über die zweifelhafte Herkunft einer Dame, die eben, eine Wolke von Parfüm hinterlassend, die Terrasse verlassen hatte; die Tante widersprach und redete sich so in den Zorn hinein, daß sie schließlich Mama vorwarf, ihren eignen Mann beleidigt zu haben, denn nach der von ihr ausgesprochenen Ansicht wäre auch seine Mutter »von zweifelhafter Herkunft«. Mama verteidigte sich; ein Wort gab das andere, Tante Klothilde spielte ihren letzten Trumpf aus, indem sie mit haßfunkelnden Augen hervorstieß: »Du am wenigsten hast ein Recht von zweifelhafter Herkunft zu sprechen. Weiß man doch, wer deine Großmutter war!«

Zwei Tage später verließen wir das Rosenhaus, nicht ohne daß vorher eine konventionelle Versöhnung stattgefunden hätte. [48] Unsre Zeit war sowieso beinahe abgelaufen, und das kalte, trübe Wetter, das meinem empfindlichen Halse schaden konnte, war Erklärung genug für unsre beschleunigte Abreise. Die Rosen am See waren längst entblättert; bis tief ins Tal hingen die Wolken, als das weiße Kirchlein mehr und mehr meinen Blicken entschwand. An einer Biegung des Wegs kam der Sepp gelaufen, einen Strauß von blauem Enzian in der Hand, aus dessen Mitte zwei große weiße Sterne leuchteten. »Von der Zugspitz,« stotterte er, auf die Edelweiß zeigend, dann brach ich in Tränen aus und weinte – weinte noch, als schon Garmisch weit hinter uns lag. Das Wetter hellte sich indessen allmählich auf, und wie ich von Weilheim aus rückwärts sah, lagen die Wolken, wie bezwungene Sklaven, tief im Tal, während die Berge, mit der glänzenden Silberkrone des Neuschnees auf ihren Häuptern, stolz und siegesbewußt gen Himmel ragten. Dies Bild nahm ich mit, und ich wußte: nie wird es mir entschwinden.

Papas Freude, als er uns in Berlin empfing, war grenzenlos. In unserm neuen Heim in der Hohenzollernstraße hatte er mir einen Aufbau von Geschenken vorbereitet, grade wie zu Weihnachten. Ich wagte zunächst gar nicht, mich zu freuen in Erwartung von Mamas bekannten, vorwurfsvollen: »Aber Hans!« Doch diesmal blieb es aus; stand doch mein guter Engel daneben: die Großmutter. Wie einst in Potsdam, so war sie jetzt mit uns in ein Haus gezogen; wir glaubten eines langen Aufenthalts in Berlin sicher zu sein.

»Ist mein Herzenskind aber groß geworden!« rief sie, mich gerührt in die Arme schließend. – Großmama, wie alt wurdest du! – hätte ich beinahe erwidert, wenn die Regeln der guten Erziehung mich nicht rasch genug daran gehindert hätten. Ihr glänzendes dunkles Haar war ganz grau, und tiefe Falten zogen sich von Nase und Mund herab. Sie schien mich auch ohne Worte zu verstehen, denn mit einem wehmütigen Lächeln sagte sie: »Ich bin jetzt eine alte Frau, mein Alixchen, – das Leben ist nur selten ein Jungbrunnen!«

[49] War meine Stimmung jetzt schon gedämpft, so wurde sie noch mehr herabgedrückt, als ich mich umsah bei uns: alles kam mir beschränkter vor als sonst, fremde Leute wohnten mit uns im gleichen Haus, und statt des großen Karlsruher Gartens fand sich nur ein Vorgärtchen an der Straße, dessen Rasen man nicht zertrampeln, dessen Blumen man nicht abpflücken durfte. Ich frug nach August und nach den Pferden. Der Stall lag jenseits der Straße, Papa führte mich hinüber; meine Enttäuschung über diese Entfernung war groß, sie steigerte sich, als ich eintrat: unsre Goldfüchse waren fort, nur drei Pferde standen darin, ein fremder Reitknecht trat mir entgegen. »Weißt du, in Berlin gibt es so schöne Droschken, da braucht man Kutscher und Wagen nicht,« sagte Papa lächelnd, aber ich sah recht gut, daß seine Schnurrbartenden verräterisch zuckten und seine Harmlosigkeit Lügen straften. Ich biß mir auf die Lippen und ging nachdenklich nach Hause, und mehr als einmal zuckte ich angstvoll zusammen, wenn Papa – ein Zeichen seiner tiefen inneren Erregung – ohne besondere Ursache heftig wurde.

Bald darauf kam ich in die Schule, ein Privatinstitut in der Königin Augustastraße, das erst seit kurzem bestand und nur wenig Zöglinge hatte. Meine Großmutter stellte mich der Vorsteherin vor, einer kleinen, dicken Dame mit fettglänzendem Gesicht und feuchten Händen, mit denen sie mir zu meinem Entsetzen die Backen tätschelte. Der erste Eindruck, den ich von den Stunden empfing, war der einer grenzenlosen Langenweile. Erst als man mich in eine höhere Klasse nahm, wo die Mädchen alle älter waren als ich, gewann die Sache mit dem Erwachen meines Ehrgeizes an Interesse. Der trockne Memorierstoff, auf den der ganze Unterricht hinauslief, vermochte mich freilich auch hier nicht zu fesseln, aber es den andern zuvortun, die Beste in der Klasse sein – das spornte mich an. Und ich brauchte mich nicht einmal anzustrengen, um mein Ziel zu erreichen, denn ich lernte leicht und bekam immer die besten Noten. Meine Kameradinnen [50] konnten mich deshalb alle nicht leiden, und ich hatte vor ihnen ein unbestimmtes Schuldbewußtsein, da ich überdies ihre Interessen nicht teilte, – spielte ich doch trotz meines großen Kochherds und meiner vielen Puppen nur selten mit dergleichen, und den Austausch bunter Oblaten, ein Hauptsport damals, fand ich albern, – so blieb ich ganz isoliert. Neben mir in der Klasse saß ein Mädchen, das mir zuerst auch nichts andres war, als eine Konkurrentin, durch die ich mich nicht überflügeln lassen durfte, und eine gefährliche dazu. Bald merkte ich, daß sie noch mehr gemieden wurde als ich, daß man sie mit Neckereien und Bosheiten verfolgte. »Judenmädel« stand einmal mit roter Tinte auf ihrem Pult, ein andermal mit weißer Kreide auf ihrem Mantel. Sie weinte stets, wenn sie es sah, wagte aber nicht, sich zu verteidigen.

Einmal, nach der Religionsstunde – wir hatten grade die Leidensgeschichte Christi durchgenommen – sah ich sie plötzlich inmitten der andern, die sie dicht umdrängten und auf ein gegebenes Zeichen gemeinsam losbrüllten: »Judenbalg hat Christus gekreuzigt – Judenbalg hat Christus gekreuzigt!« Dann tanzten sie im Kreise um sie herum, und auf ein »Eins, Zwei, Drei« der Anführerin spien sie alle vor ihr aus. Ich kochte vor Wut und stürzte mich besinnungslos zwischen sie. »Gemeine Bande,« schrie ich, während sie überrascht auseinanderprallten, »schämt ihr euch nicht: zehn gegen eine?« – »Sie ist aber doch eine Jüdin,« knurrte die mir Zunächststehende. »Und wenn sie es ist – wißt ihr denn nicht, daß Christus auch ein Jude war?« gab ich zur Antwort. Dann wandte ich mich der noch immer Weinenden zu: »So heule doch nicht, Edith,« flüsterte ich, »sonst lassen sie dich gar nicht in Ruh.«

Von da ab befreundeten wir uns mehr und mehr. Wir waren beides einzige Kinder, die durch ihr stetes Zusammensein mit Erwachsenen reifer zu sein pflegen als andre; Bücher waren unsre Leidenschaft, und ein eifriger Austausch zwischen uns begann, [51] gab auch stets neuen Stoff zur Unterhaltung. Wir wohnten überdies Haus an Haus, so daß wir unsern Schulweg zusammen machen konnten. Aber das sollte nicht die einzige Wirkung meines Eintretens für die Angegriffene sein. Eines Tages ließ mich die Schulvorsteherin zu sich rufen. »Du hast gesagt, Christus sei ein Jude,« fuhr sie mich mit zornigem Stirnrunzeln an, »wie kommst du dazu?« »Maria und Joseph,« stotterte ich in höchster Verlegenheit, »waren doch auch Juden, und – und David doch auch, von dessen Stamm er ist.« – »Christus ist Gottes Sohn, merke dir das,« schrie sie, wobei ihre Stimme sich überschlug, »und streue nicht Unfrieden in die gläubigen Seelen deiner Kolleginnen.« Ich schluckte krampfhaft an den aufsteigenden Tränen. »Ich sehe, du bereust deine Sünde,« sagte sie würdevoll, »so sei dir für diesmal vergeben,« und ihre feuchten Hände fuhren mir übers Gesicht. Am liebsten wär' ich davongelaufen, aber meine Empörung über die gemeine Art, wie die Mädchen sich an mir gerächt hatten, hielt mich fest, und ich erzählte den ganzen Zusammenhang der Geschichte. Die Wirkung war für mich verblüffend. »Das ist ja natürlich sehr, sehr unartig von ihnen gewesen,« erklärte sie mit hochgezognen Augenbrauen, »entschuldigt aber in keiner Weise deine weit größere Sünde.«

Verwirrt und erregt trat ich den Weg nach Hause an. Religiöse Zweifel hatten mich noch nie gequält. Ich glaubte an den lieben Herrn Jesus, von dem Großmama mir immer erzählte, der die Unglücklichen tröstet, den Armen Hilfe, den Kranken Heilung bringt und die Kinder lieb hat. Daß Christi Gotteskindschaft von so ungeheurer Bedeutung sein sollte, – das war mir noch nie in den Sinn gekommen. Geradenwegs zu Großmama ging ich und erzählte ihr alles.

»Das hat Fräulein Patze gewiß nicht so schlimm gemeint, wie du das auffaßt,« sagte sie, »wir sind alle Gottes Kinder; wer aber, wie Christus, den Willen des Vaters in höchster Vollkommenheit [52] erfüllt, der ist sein liebster Sohn.« Ich war zunächst beruhigt, merkte aber in den Religionsstunden mehr auf den Sinn der Worte als vorher und fühlte bald den Widerspruch zwischen dem, was dort gelehrt wurde, und dem, was Großmama sagte, heraus. Mein Herz und mein Verstand entschieden für sie, und für die Lehrerinnen blieb nichts als Geringschätzung übrig. Ich lernte zwar nach wie vor vortrefflich, aber für mein inneres Leben, für meine geistige Entwicklung blieb die Schule ebenso bedeutungslos, wie jede Art von Unterricht bisher.

Mein Schulerlebnis sollte auch nach andrer Richtung nicht ohne Folgen bleiben. Edith und ich waren natürlich noch mehr als früher aufeinander angewiesen, und oft genug hatte sie mich schon zu sich eingeladen, ohne daß es mir erlaubt worden wäre, der Einladung zu folgen. Erst nachdem sich Großmama ins Mittel gelegt und ich Papas Herz erweicht hatte, durfte ich zu ihr gehen. Es war alles sehr schön bei ihr, und ihre Eltern, die die Tochter nicht ohne Absicht in die vornehme Schule schicken mochten, wußten sich vor Freundlichkeit gar nicht zu lassen. Mein Besuch galt ihnen vielleicht als die erste Stufe zu dem Ziel, das ihnen für ihr einziges Kind vorschwebte, eine adlige Heirat, – denn er sollte den Verkehr mit aristokratischen Kreisen einleiten. Mir war es unbehaglich in der Nähe des Ehepaars: der Frau mit dem bei jeder Bewegung krachenden Korsett und den vielen Ringen auf den fleischigen Händen, des Mannes mit der dicken Uhrkette über dem Spitzbauch. Nach einem reichlichen Imbiß spielten wir ein Gesellschaftsspiel. Ich verlor, wie immer, – meine Ungeschicklichkeit in solchen Spielen war nicht leicht zu übertreffen, da meine Gedanken dabei stets spazieren gingen, – bekam aber trotzdem eine Menge der reizendsten Gewinne, unter denen ein kleiner Muschelwagen mit einem silbernen Ziegenbock davor das schönste war.

Daheim schüttete ich meine Schätze vor den Eltern aus, aber sie teilten meine Freude nicht; Papa räusperte sich heftig, und [53] Mama kniff die Lippen zusammen. Und dann kam's, das viel gefürchtete Ungewitter: sie warfen einander gegenseitig vor, daß sie mich zu der »protzigen Judensippschaft« gelassen hatten, die sich »erlaubte, dem Kinde solche Geschenke zu machen«. Schluchzend kroch ich in mein Bett. Ich durfte nie wieder hinüber. In der Schule ging ich Edith, die vergebens auf eine Gegeneinladung wartete und von den gekränkten Eltern nun wohl auch ihre bestimmten Instruktionen bekommen hatte, scheu aus dem Wege. Im sonntäglichen Familienkreis bei Großmama kam noch einmal die Rede auf die Geschichte. Tante Jettchen, ihre Schwägerin, der gefürchtete Kleinkinderschreck und Sittenwächter, geriet heftig aneinander mit ihr und erklärte schließlich kategorisch: »Juden sind kein Umgang für Mädchen, die eine Position in der Gesellschaft haben.« Manch einer lächelte verstohlen zu diesem Ausspruch, wußte man doch, daß sie um so empfindlicher war, was diesen Punkt betraf, als sie es nie verwinden konnte, daß Baron Wolkenstein ihr Schwiegersohn geworden war. Sein Ahnherr war Hofjude bei Friedrich dem Großen gewesen, und dieser hatte ihn mit der Bemerkung geadelt: »Machen wir den Kerl zum Baron, ein Edelmann wird doch nie draus.« Selbst in der vierten Generation hatte das Taufwasser die Erinnerung an den Familienstammbaum nicht zu verwischen vermocht.

Es war eine Ironie des Schicksals, daß mir als Ersatz für Edith Onkel Wolkensteins ältester Sohn Hermann als Spielkamerad zudiktiert wurde. Er war etwas älter als ich, in der Schule sehr zurückgeblieben, und ich sollte ihm zum Vorbild dienen. Wir kamen einander demnach nicht gerade mit liebevollen Gefühlen entgegen, vertrugen uns aber schließlich doch ganz leidlich. Auf der Erde in meinem Zimmer bauten wir Dörfer und Gutshöfe auf, die wir aus bunten Bilderbogen selbst ausschnitten. Hermanns Vater besaß ein Gut in Sachsen, so daß landwirtschaftliche Interessen ihm am nächsten lagen; die [54] Erinnerung an Grainau zauberte mir alle Wonnen des Landlebens vor Augen und belebte mein Spiel. Wenn aber Hermann anfing, sich aufs Kaufen und Verkaufen von Vieh, Korn und Heu beschränken zu wollen, wobei er stets in den höchsten Eifer geriet, und ich Ediths Muschelwagen als Feenfahrzeug durch die Lüfte fliegen ließ, um den Menschen in meinen Dörfern alle möglichen Herrlichkeiten zu bringen, dann war's mit dem Frieden vorbei. Hermann liebte nur die »wirklichen« Geschichten, und ich erklärte seinen Handel für »ekelhaft«. Schließlich verschloß ich gekränkt den silbernen Ziegenbock in meinem Schrank, gerade, wie ich lernte, meine Träume für mich zu behalten. Es war nun einmal nicht anders mit den Menschen, philosophierte ich, jeder war immer nur für eine Seite meines Wesens zu brauchen; es galt daher, die andre zu verstecken, bis auch für sie die rechten Gefährten sich finden würden.

Mit einer Schar kleiner Mädchen und Knaben bekam ich in demselben Winter die ersten Tanzstunden, die abwechselnd in ihren Familien stattzufinden pflegten. Da saßen dann all die Mamas und Großmamas und Tanten ernsthaft im Kreise herum und musterten die junge Generation und spannen Zukunftspläne und wetteiferten mit unserm Tanzmeister, der uns besonders interessant war, weil er in »Flick und Flock« den großen Krebs zu tanzen pflegte, in der Ausübung ihrer Erziehungskünste. Sie konnten stolz sein auf ihr Werk: So gut wir französisch parlierten, so zierlich tanzten wir Quadrille und Polka, – der Walzer war als »unschicklich« zu jener Zeit in der Hofgesellschaft verboten –, und so tadellos war unser Hofknix. »Eine Position in der Gesellschaft« war uns gesichert, ja wir besaßen sie, dank unsrer Familienbeziehungen, schon jetzt. Mir war sie etwas so Selbstverständliches, daß jener Hochmut, der nur entstehen kann, wenn man sie als etwas Besonderes ansieht, der daher am sichersten den Emporkömmling kennzeichnet, bei mir gar nicht aufkam. So war mir die Ehrfurcht und die Bewunderung, [55] mit der Edith mich über die Kindergesellschaften bei »Kronprinzens« auszufragen pflegte, immer komisch erschienen. Ich hätte wirklich nicht gewußt, was mich im kronprinzlichen Palais zum Bewundern und Verehren hätte bewegen können: die kleine unansehnliche Kronprinzessin, die mit der Miene einer Gouvernante unsre Spiele beaufsichtigte, der lustige Kronprinz, dessen derbe Späße die Märchenprinzenillusionen unsrer Kinderträume gar nicht aufkommen ließen, die einfachen, mit Spielzeug wenig verwöhnten Kinder, der Teetisch, auf dem ich bald aufgegeben hatte, etwas zu suchen, was Kindergaumen reizt, – es gab doch immer nur dieselben Albert-Kakes – das alles gab ein Gesamtbild, das der Glanz der Kaiserkrone nicht zu treffen schien. Ich ging nicht allzu gerne hin: Prinzessin Charlotte, die mir am besten gefiel, war viel älter als ich; Prinzessin Viktoria, mit der ich spielen sollte, hatte nur Spaß an Kommandieren, was ich mir nicht gefallen ließ, die jüngern Geschwister waren Babys in den Augen der bald Zehnjährigen. Kam Prinz Wilhelm dazu mit dem kurzen lahmen Arm und dem finstern Gesicht, so wurde mir's vollends unheimlich. Es war jedesmal ein Seufzer der Erleichterung, mit dem ich mich in die Kissen des Wagens lehnte, der mich heimwärts fuhr. Schön waren nur die großen Feste: das Baumplündern, die Kinderbälle, die Aufführungen. Wenn ich mit offnen Locken, im Spitzenkleid und Atlasschuhen die lichterstrahlenden Säle betrat und gnädig die ersten Huldigungen kleiner Kavaliere entgegennahm – dann ging mir eine Ahnung vom üppigen Freudenmahl des Lebens auf, die mir alle Fibern mit Sehnsucht füllte. Bei einem solchen Fest war es, als Hellmut mir entgegentrat und mir auf dem Wege zum Ballsaal den Arm reichte. »Wie eine Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht siehst du aus,« flüsterte er dicht an meinem Ohr. Tausend und eine Nacht! Heiß überflutete es mich! Und als wir uns dann im schimmernden Glanz der Kerzen, bei rauschender Musik im Tanze wiegten, war mir's, als hörte [56] ich verlockend die Worte zu seiner Melodie: schön sein – herrschen – genießen!

Eine Kugel, die ich mir einst im Schloß vom Weihnachtsbaum herunterholte, und in der sich noch heute alljährlich die Lichter unsres Tannenbaums spiegeln, ist das einzige, was mir zur Erinnerung an jene Feste übrig blieb. Ich hielt sie damals für eitel Silber. Aber sie ist auch nur aus Glas und hat schon lange einen Sprung! ...

Im Frühjahr wurde ich krank. Wiederholte Schwindelanfälle waren der Anlaß gewesen, mich schon Wochen vorher aus der Schule zu nehmen. Dann bekam ich die Masern und lag lange Zeit zu Bett. Als ich wieder aufstehen durfte, konnte ich mich durchaus nicht erholen. Eine Herzschwäche war zurückgeblieben. Ich sollte viel an der Luft sein und war daher vor- und nachmittags im Zoologischen Garten, wo ich mit Großmama auf einer sonnigen Bank zu sitzen pflegte, die recht schmal gewordenen Hände müßig im Schoß, den Kopf, der mir immer so schwer war, hinten übergelehnt. Sie las mir vor und hatte sich zu dem Zweck eine besondre Art von Lektüre ausgewählt: Schilderungen der Jugendzeit bedeutender Männer, die sie ihren Lebensbeschreibungen und Selbstbiographien entnahm. Zwei davon machten mir einen unauslöschlichen Eindruck: die Napoleons und die Goethes. Wie der große Kaiser ein armer Junge gewesen war und sich dem niederdrückenden Einfluß von Not und Verlassenheit nicht nur nicht unterwarf, sondern beide ihm zu Mitteln seiner Stärke wurden; und wie der Genius des großen Dichters sich schon an des Knaben Puppentheater, vor den staunend aufhorchenden Freunden offenbarte, denen er seine Märchen erzählte – wundervoll war es! »Das muß das Schönste sein im Leben, Großmama: zu sein wie ein Stern, der allen leuchtet« – sagte ich einmal nachdenklich. Und ihre Antwort tönt mir noch in den Ohren: »Den alle lieben, meinst du wohl, weil er alle wärmt!«

[57] Legte sie das Buch weg, so erzählte sie von ihrer eignen Jugendzeit, die sie in der Stadt des Dichters, fast ständig in seiner Nähe, verleben durfte. Wie arm kam mir, mit der ihren verglichen, meine Kindheit vor! Ich konnte überhaupt gar nicht mehr recht froh werden. Es lag irgend etwas Dumpfes, Schweres in der Luft, das die Mienen immer verstörter, das Lachen immer seltner werden ließ. Selbst meines Vaters Humor versiegte mehr und mehr, und häufiger als je flüchtete ich vor seiner tobenden Heftigkeit zu Großmama hinunter. Aber auch sie war zerstreut und sorgenvoll, so sehr sie sich auch vor mir zusammennahm. Jeden Morgen vertiefte sie sich in den Kurszettel, und die mir rätselhafte Bemerkung: »Die Lombarden fallen«, störte unsre sonst so gemütliche Frühstücksstunde. Eines Abends hatte Papa meine Mutter aus irgendeinem geringfügigen Anlaß heftig angefahren, was mich immer ganz besonders entsetzte, und ich lief, so rasch ich konnte, davon, um mich verängstigt im tiefen Sessel von Großmamas Boudoir zu vergraben. Da hörte ich nebenan das Geräusch von Stimmen: Onkel Walter war tags vorher aus Ostpreußen angekommen und betrat mit Großmama in starker Erregung, wie es schien, den Salon.

Sie setzten sich zusammen auf das weiche grüne Sofa, das mir so oft zum Schmollwinkel diente, und nun hörte ich jedes Wort ihrer Unterhaltung: Großmamas weiche, von aufsteigenden Tränen verschleierte Stimme, Onkel Walters hartes, durch die Aufregung immer rauher klingendes Organ.

»Du kennst unsre finanzielle Lage,« sagte sie. »Hans hat sein kleines Vermögen völlig verloren, und was Ilsens Mitgift betrifft, so fürchte ich das Schlimmste. Dazu haben sich meine Einkünfte bedeutend verringert, und ich muß mich jetzt schon sehr einschränken, um Ilse und Max, die beide Familie haben, nicht im Stich zu lassen. Du hast nicht Frau, nicht Kind, hast ein schönes Gut, – du solltest ohne weiteres auskommen.«

»Klothilde kann bei Hansens für dich eintreten,« entgegnete er.

[58] »Klothilde!« Großmama seufzte. »Jede Inanspruchnahme ihrer Hilfe heißt Alixchens ganze Zukunft gefährden.«

Onkel Walter stöhnte schwer.

»Hast du noch etwas, was du mir verschweigst? – Sprich dich doch aus, mein Junge!« schmeichelte Großmamas Stimme.

Und nun kam's wie ein Sturzbach wilder, leidenschaftlicher Worte, die schließlich Großmamas leises Weinen so wehevoll begleitete, daß sich mir das Herz schmerzhaft zusammenzog.

Ich verstand nicht alles, aber die Hauptsache prägte sich mir ein: irgendwo in der Schweiz oder in Italien bei einer der vielen Spielbanken, die damals wie Pilze aus der Erde schossen, hatte Onkel Walter sehr, sehr viel Geld verloren, und in Pirgallen standen die Dinge schlecht, da die Heuernte wieder einmal durch Überschwemmungen zerstört worden war, – »ich schieße mir eine Kugel durch den Kopf, wenn du nicht hilfst,« schloß er außer sich. Ich schrie entsetzt auf. Großmama erhob sich, ich hörte ihre Kleider rauschen, duckte mich schnell tief in die Kissen und hielt den Atem an.

»Also ein Verschwender und ein Feigling dazu!« sagte sie; ihr hatte seine Drohung zu meinem Erstaunen keinen Eindruck gemacht. »Schämst du dich nicht? Wie viele fristen ihr und ihrer Familie Leben mit wenigen Groschen am Tag, und du wirfst Tausende zum Fenster hinaus, noch dazu Tausende, die dir gar nicht gehören! Oder ist es etwas andres als Diebstahl, wenn du deine Lieferanten, deine Handwerker und ihr Geld dem schlimmsten aller Teufel, dem Spielteufel, in den Rachen wirfst?! Wenn du noch eine Spur von Ehrgefühl hast, so wirst du dir selber helfen und nicht verlangen, daß deine Schwester und dein Bruder sich dir opfern. Setz dich auf dein Gut und arbeite!«

Niemals hatte ich Großmama so reden hören, auch Onkel Walter mochte erstaunt sein, denn er schwieg lange Zeit. Dann brach's von neuem los, nicht heftig, wie vorher, sondern jammernd, [59] verzweifelnd. Und nun tröstete ihn Großmama, wie ein krankes Kind, ohne in der Sache nachzugeben. Sie wollte zu ihm ziehen, ihm ein neues Leben aufbauen helfen, in der Wirtschaft nach dem Rechten sehen, bis er eine gute Frau gefunden haben würde ...

»Ich habe eine Geliebte,« stieß er hervor.

»Auch das noch!« murmelte sie. »Kannst du sie heiraten?« fügte sie rasch hinzu.

»Damit wir beide am Hungertuch nagen?« höhnte er.

Auf Großmamas Bitten berichtete er von seinem Verhältnis zu dem Mädchen. Ich glaube, sie war anständiger armer Leute Kind; Onkel Walter hatte sie fürs Theater ausbilden lassen und an irgendeiner Bühne untergebracht: »Talent hat sie keins, aber sie ist hübsch, damit wird sie sich schon weiterhelfen! Für das Kind aber, dessen Vaterschaft mir einigermaßen sicher ist, muß gesorgt werden!«

»Und du – du bist mein Sohn!« hörte ich Großmama mit halberstickter Stimme sagen. Hätte ich ihr nur zu Füßen fallen und ihre Hände küssen können!

Nach langer, peinvoller Stille fing sie wieder zu sprechen an: mit ruhiger Geschäftsmäßigkeit, wie zu einem völlig Fremden, setzte sie Onkel Walter auseinander, welche Schritte zur Regelung seiner Angelegenheiten zu tun seien, und zu welchem Zeitpunkt sie ihre Übersiedlung nach Pirgallen vornehmen würde. »Für das unschuldige Würmchen und die arme Mutter sorge ich,« schloß sie, »und nun gute Nacht!«

Ohne ein Wort zu erwidern, verließ Onkel Walter das Zimmer.

Wieviel Schleier, unter denen bisher das Leben sich mir verborgen hatte, waren in dieser kurzen Stunde zerrissen! Wild klopfte mir das Herz. Da trat Großmama über die Schwelle. »Alixchen!« rief sie entsetzt. Ich sprang auf, und den heißen Kopf in die kühlen Sammetfalten ihres Kleides pressend, erzählte ich ihr, daß ich alles, alles gehört hätte.

[60]

»Ich, ich will dir helfen, Großmama,« rief ich, ohne eine Antwort von ihr abzuwarten, während die abenteuerlichsten Pläne sich in meinem Hirne kreuzten. »Ich komme mit nach Pirgallen, und dann pflege ich das kleine Kind, und du brauchst keine Kinderfrau.« Bittend sah ich auf zu ihr; mit wehmütigem Lächeln streichelte sie mir die glühenden Wangen, und durch ihre Liebkosung ermuntert, fuhr ich noch eifriger fort: »Weißt du, wenn ich das tue, sind doch auch die Eltern mich los und brauchen kein Geld für mich auszugeben« – – Großmama war noch immer still – – »vielleicht kann ich sogar selbst Geld verdienen. Du hast einmal gesagt, daß viele arme Kinder für Geld arbeiten müssen. Ich tanze doch so gut – Herr Ebel hat mich doch selbst unterrichtet – der nimmt mich gewiß zum Theater.«

»Du kleiner Hitzkopf du – was für törichte Gedanken du dir machst,« unterbrach mich Großmama. »Komm, laß uns ruhig miteinander reden,« damit ließ sie sich in dem tiefen Stuhl nieder, dessen Bezug noch Spuren meiner Tränen zeigte, und ich kauerte mich ihr zu Füßen, wie in jenen glücklichen Stunden, wo ich ihren Märchen lauschte. Lange und liebreich sprach sie auf mich ein: daß ich mir die Dinge nicht so schwarz ausmalen solle, daß wir zwar nicht mehr reich, aber auch nicht arm seien, daß ich viel helfen könne, wenn ich meiner Mutter das Leben erleichtere, wenn ich überflüssige Wünsche unterdrücke und tüchtig lerne, damit ich einmal, falls es nötig sein sollte, auf eignen Füßen zu stehen vermöchte. Meine heroische Opferwilligkeit wurde nicht wenig herabgestimmt. Gar kläglich kam mir vor, was Großmama mir als eine Aufgabe ans Herz legte. »Und – das kleine Kind?« wagte ich noch einmal schüchtern zu bemerken. Die feinen Adern auf Großmamas Schläfen schwollen. »Versprich mir, daß du niemandem sagst, was du von ihm gehört hast,« sagte sie, mir ernst und fest ins Auge blickend. »Ich verspreche es,« hauchte ich.

Großmama küßte mir beide Wangen. »So, nun komm! [61] Ich bring' dich in dein Bettchen, und morgen ist das alles nichts als ein Traum für dich.« Still und in mich gekehrt folgte ich ihr.

Als sie aber die Decke an den Bettpfosten befestigt hatte, – ich pflegte sie sonst im Traume von mir zu werfen –, und, die Hände gefaltet, neben mir stand, mein Abendgebet erwartend, richtete ich mich noch einmal auf: »Großmama, liebe Großmama,« kam es mit Anstrengung über meine Lippen, »sag' mir doch, ist eine Geliebte dasselbe wie eine Frau?« Und sie gab mir eine Antwort, wie ich sie noch auf keine Frage von ihr erhalten hatte: »Kind, das verstehst du nicht.«

Mein Abendgebet vergaßen wir danach alle beide.

Trotz des gemeinsamen Geheimnisses, um das meine Gedanken sich in der Stille unaufhörlich drehten, trat seitdem eine leise und noch lange nachwirkende Entfremdung zwischen uns ein. Ich aber achtete von nun an genau auf meine Umgebung, auf alles, was geschah und was gesprochen wurde. Ich merkte, daß Papa mir seltner etwas mitbrachte als früher, wo er fast immer eine Schachtel Bonbons oder ein Spielzeug für mich in der Tasche gehabt hatte. Und wenn er es jetzt noch tat, so war Mamas Empörung über die »Verschwendung« so groß, daß mir von vornherein jede Freude verging. Ich sah, wie im stillen überall gespart und geknausert wurde, ohne daß sich nach außen viel veränderte: unsre alte französische Köchin machte einer deutschen Platz, die keine Kuchen und Pasteten backen konnte, an Stelle der Jungfer trat ein Hausmädchen, unter deren Händen Mamas blonder Kopf nicht mehr zu einem Kunstwerk wurde wie früher. Nur der Wilhelm, der Diener, blieb, und seine stets gleichmäßig unbeweglichen Züge verrieten niemandem, wie anders es im Hause der Herrschaft geworden war; er schenkte den billigen Mosel bei Tisch mit derselben Würde ein, wie den teuren Rheinwein früher.

Aber noch mehr, als ich sah, hörte ich, und lernte rasch ein halbes Wort, ein vielsagendes Lächeln verstehen: da mußte der [62] eine den Abschied nehmen, weil er sein »Verhältnis« geheiratet hatte, und der andre ruinierte sich eines »Frauenzimmers« wegen; da wurde einer im Duell erschossen, weil seine Frau auf dem Zimmer eines Schauspielers gefunden worden war, und eine andre wurde in der Gesellschaft »unmöglich«, weil sie ihren Mann heimlich verlassen hatte. Bei alledem schwebte mir immer Onkel Walters Geliebte vor, die Mutter seines Kindes, der meine Phantasie die Gestalt der duldenden Madonna gegeben hatte, und ich nahm im Innern unentwegt Partei für ihre Leidensgefährtinnen.

Im Sommer gingen wir wieder nach Oberbayern. Mein schwaches Herz, das sich in Ohnmachtsanfällen allzu häufig bemerkbar machte, bedurfte der Stärkung durch die Bergluft. Aber meine Freude über das Reiseziel sollte eine erhebliche Einbuße erfahren: statt im Rosenhaus zu wohnen, bei Tante Klothilde, blieben wir in Garmisch im Hotel. Als wir das erstemal zu ihr kamen, war ich steif und still. Selbst als der Sepp mit einem Strauß von Orchideen, die ich ihrer märchenhaften Formen wegen immer besonders liebte, vor mir stand, ließ ich mich nicht bewegen, mit ihm zu spielen. »Das Fräulein ist wohl ganz preußisch geworden,« sagte Tante Klothilde spöttisch. Ich sah sie böse an. Sie hatte keine Spur von Verständnis für mich; sie wußte nicht, daß ich die Kosthäppchen des Lebens nie leiden konnte. Wer nicht das ganze köstliche Gericht haben kann, für den ist eine Probe davon nur eine grausame Mahnung an das, was er entbehrt.

Es blieb bei kurzen Besuchen am Rosensee; nur selten holte die Tante uns zum Spazierenfahren ab und unterließ es dabei nie, ihrem Ärger über die Nichte, die eine »gelbe Hopfenstange« geworden wäre, Luft zu machen. Ich war bisher so gewöhnt gewesen, bewundert zu werden, daß mich ihre Bemerkung einigermaßen in Erstaunen setzte. Der Spiegel sprach für ihre Richtigkeit. Diese Entdeckung steigerte nur meine morose Stimmung. [63] Ich hatte niemanden, der mich ihr hätte entreißen können; Mama hielt mich abwechselnd für unartig oder für launisch; sie befand sich überdies bald in einer ihr sehr angenehmen Gesellschaft und war daher ganz zufrieden, daß ich gar keine Ansprüche an sie stellte, sondern am liebsten allein mit meinem Buch im Hotelgarten saß. Die Bäume darin standen in Reih und Glied, wie Soldaten, und verbargen, trotz ihrer Dürftigkeit, den Kranz der fernen Berge; um aber jedes Gefühl für die Großartigkeit der Natur vollends zu verwischen, plätscherte ein dünner, kleiner Springbrunnen in der Mitte. Hier konnte ich zeitweise vergessen, daß ich dem alten grauen Freund, dem Waxenstein, so nahe und er mir doch so unerreichbar fern war.

Ich blieb nicht lange allein. Ein junger Mensch mit fuchsig rotem Haar und einem Gesicht voll gelber Sommersprossen, der mit seiner Mutter, einer Schriftstellerin, an der Table d'hote neben uns saß, gesellte sich immer häufiger zu mir und rümpfte immer deutlicher die Nase über meine Lektüre. Freilich: das ganze Elend der damaligen Jugendliteratur konnte nicht deutlicher zum Ausdruck kommen als hier. Gegen den gräßlichen Nieritz mit seiner Zuckerwassermoral hatte ich schon selbst protestiert, dafür herrschten jetzt Ottilie Wildermut und Elise Polko, die der gesitteten höhern Tochter in hundert Variationen stets dasselbe predigten: der Mann ist deines Lebens Ziel und Zweck. Hans Guntersberg, froh, eine so dankbare Zuhörerin für seine Primanerweisheit gefunden zu haben, erzählte mir von seinen Lieblingsbüchern, und von niemandem schwärmte er mehr als von Paul Heyse. Ein Buch nach dem andern brachte er mir, um mir daraus die seiner Meinung nach schönsten Stellen mit dem Pathos eines Vorstadttragöden vorzulesen. Sein ganzer Koffer steckte voller Bücher und sein Kopf voller Liebesgeschichten, wobei es kein Wunder war, daß es in dem einen an Platz für frische Kragen, in dem andern an Interesse für klassische Sprachen fehlte. Er war nämlich schon zwanzig Jahre alt. Seine körperliche [64] Nähe war mir widerwärtig, und meine Sehnsucht nach seinen Büchern stand immer in hartem Kampf mit meiner Antipathie gegen seine Persönlichkeit. Er mochte fühlen, was ihn allein für mich anziehend machte und gab daher seine Schätze nicht aus der Hand. Plötzlich kam er nicht mehr und antwortete mir ausweichend, als ich ihn abends nach der Ursache frug. Am nächsten Tag schlich ich ihm nach und fand ihn in der Laube des Nebenhauses mit einem Mädchen, das nicht nur erheblich älter, sondern auch viel hübscher war als ich. In seiner bekannten Schauspielerpose stand er vor ihr und deklamierte, während der Schweiß ihm in Perlen auf der sommersprossigen Stirn stand. Halb belustigt, halb verärgert wandte ich mich ab. Ich gönnte der Rivalin den Kurmacher, aber seine Bücher gönnte ich ihr nicht. Vielleicht gab er sie mir jetzt, da seine Person anderweitig untergebracht war. Er lachte mich aus, als ich ihn darum bat: »Für dumme Göhren wie dich ist das noch nichts.« Mir fiel ein Laden in Partenkirchen ein, der alle leiblichen und geistigen Bedürfnisse der Sommergäste zu befriedigen pflegte. Heyses Novellen hatte er gewiß. Das Schlimme war nur, daß ich kein Geld besaß. An meinem Geburtstag hatte ich in Erinnerung an Großmamas Ratschläge das Goldstück von Tante Klothilde unberührt gelassen. Mama sollte mir zum Winter ein Kleid davon kaufen, dieser Wunsch – ein erstes Zeichen praktischen Verständnisses – war durch einen der seltnen mütterlichen Küsse belohnt worden. Sie für diesen Zweck nun doch um das Geld zu bitten, wäre töricht gewesen; bestenfalls hätte sie meinen Lesehunger durch einen neuen Band Wildermut gestillt. Und doch hatte ich ein Recht darauf – es war mein Eigentum –, ich konnte tun damit, was ich wollte; Mama hatte es sogar selbst in mein Portemonnaie gesteckt, das in der Kommode unter den Taschentüchern lag. Tagelang kämpfte ich mit mir, – aber das Verlangen wurde um so stärker, als ich Stunden und Stunden nichts mit mir anzufangen wußte; endlich konnt ich nicht länger [65] widerstehen: unter dem Vorwand, ein Taschentuch haben zu müssen, verschaffte ich mir den Schlüssel und nahm mein Portemonnaie an mich. In fliegender Hast, als brenne der Boden unter mir, lief ich die Treppen hinunter durch die Straße nach Partenkirchen. Für meine Mutter, sagte ich verwirrt und stotternd im Laden, sollte ich Heyses Novellen kaufen. Verwundert sah man mich an, als ich ein ganzes Goldstück vorwies. Mit mehreren Bänden beladen lief ich zurück; die Eile, die Angst vor Entdeckung, das klopfende Gewissen ließen mein Herz immer stürmischer schlagen. Glühende Funken tanzten vor meinen Augen; zuweilen war's dann wieder, als hüllten schwarze Schleier sie ein. Ungesehen kam ich ins Hotel zurück und hatte noch gerade so viel Kraft, mein Paket in die leere Reisetasche zu stecken, als der Schwindel mich packte und ich zusammenbrach. Auf meinem Bett, umringt von der Mutter, dem Arzt, dem Stubenmädchen, das mich zuerst gefunden hatte, fand ich mich wieder. Die Hotelküche sei nichts für mich – es fehle mir an Bewegung – Garmisch sei zu heiß – die Baronin Artern müsse mich ins Rosenhaus nehmen, da würde das dumme Herzchen schon zur Räson kommen – hörte ich des alten Doktors freundliche Stimme sagen. Er fuhr selbst nach Grainau, um mit der Tante zu reden. Schon am nächsten Tag sollte ich hinüber. Der Gedanke an die versteckten Bücher ließ zunächst meine Freude nicht aufkommen. Ich benutzte den Augenblick, wo Mama zum Essen hinunterging, um mich hastig anzuziehen, nahm das verhängnisvolle Paket und trug es mit wankenden Knien in den Garten. Dort, unter einem Fliederbusch, vergrub ich ein Buch nach dem andern in der Erde; nur eins – das letzte, ein dünnes Bändchen, versenkte ich in meine Kleidertasche. Dann erst kam mir die bedenkliche Moralität des Ereignisses zum Bewußtsein: statt der Strafe für meine Sünden erwartete mich das Rosenhaus, meiner ständigen stillen Sehnsucht Ziel!

Ich verlebte stille, wundervolle Wochen dort. Da ich weder [66] Kraft noch Lust hatte, soviel umherzuklettern wie im vorigen Jahr und die alte Kathrin mich überdies mehr denn je in ihren Schutz nahm, fand die Tante nicht allzuviel Ursache zum Schelten. Und der Sepp erwies sich als der treuste, rücksichtsvollste Kamerad. Er strahlte über das ganze braune Gesicht vor Freude über meine Ankunft; er ließ sich willig mit Plaid und Mantel bepacken, wenn ich dafür nur wieder mit ihm gehen durfte; er hob mich, das lange Mädel, das ihn an Größe beträchtlich überragte, über jeden Bach, jede sumpfige Stelle. Und gleich am ersten Tage führte er mich mit geheimnisvoll verlegenem Lächeln durch den Wald bis zu dem Hügel, unter dem der Badersee grün aufleuchtete und Waxenstein und Zugspitze herübergrüßten, als wäre es nur ein Vogelflug bis zu ihnen. Dort unter der alten Buche hatte er mir eine Bank gezimmert und in ungefügen Buchstaben ein »Alix« in die Lehne geschnitten. Dort nahm ich zum erstenmal mein gerettetes Buch aus der Tasche: »L'Arrabiata« war es. Ich weiß heute nichts mehr von seinem Inhalt; ich weiß nur, daß das kleine Werk mich in einen Traum von Schönheit verstrickte, daß ein Gluthauch von Leidenschaft mir daraus entgegenströmte, die mich mir selbst entrissen. Wenn ich morgens erwachte, solange noch alles still im Hause war, zog ich immer häufiger mein Notizbuch unter dem Kopfkissen hervor und schrieb in Versen nieder, was mich bewegte, und was ich niemandem hätte sagen können.

Im Spätherbst kehrten wir heim. Es war mir eine Erleichterung, Großmama nicht mehr vorzufinden, – ich hätte ihr nicht in die Augen zu sehen vermocht. Wie wenig hatte ich mich ihres Vertrauens würdig gezeigt, wie schwach, wie schlecht war ich gewesen! Das sollte nun anders, ganz anders werden. Durch tägliche Opfer wollte ich gutmachen, was ich verbrochen hatte. Mit wahrer Leidenschaft stürzte ich mich in die selbstgewählte Aufgabe und nahm gleich das schwerste auf mich, was es für mich geben konnte: Handarbeiten. Der Eifer, mit dem eine [67] büßende Nonne sich geißelt, konnte nicht hingebungsvoller sein als der, mit dem ich Strümpfe stopfte! Rascher, als er erlahmte, machte meines Vaters Versetzung nach Posen ihm ein Ende. Ich sah dieses Verschlagenwerden nach einer Stadt, von der niemand etwas Gutes zu sagen wußte, als eine gerechte Strafe für meine Sünden an. Keine Lockungen der Eitelkeit und des Vergnügens würden mich dort dem Ernst des Lebens entreißen.

An einem der letzten Abende vor der Abreise saßen wir zwischen hochaufgetürmten Kisten um den Eßzimmertisch. Schwarz starrten die vorhanglosen Fenster zu mir herüber, vor denen ich stets ein Grauen empfand, wie vor offenen Gräbern. Mama trug ihren unscheinbarsten Morgenrock, ich – im Vollgefühl größter Selbstentsagung – eine Schürze. Nur der Wilhelm wahrte auch inmitten der Unordnung des Umzugs die Form: tadellos, wie stets, war sein Frack, blank geputzt, wie immer, der silberne Teller, auf dem er Mama einen Brief präsentierte. »Aus dem Kabinett Ihrer Majestät der Kaiserin,« sagte er mit der Miene ehrfurchtsvoller Devotion. Mamas Gesicht erhellte sich, während sie las. »Das ist wirklich ein Glücksfall«, – damit reichte sie den Brief meinem Vater. Ihm stieg das Blut zu Kopf bei der Lektüre; die Adern schwollen ihm auf der Stirn; er räusperte sich immer heftiger. »Das hast du ja mal wieder fein eingefädelt,« rief er schließlich mit dröhnender Stimme, warf den Brief auf den Tisch und sprang vom Stuhl auf. Ich erhob mich gleichfalls, um möglichst rasch zu verschwinden. »Du bleibst!« schrie Papa wütend, mein Handgelenk umklammernd. »Alix ist schließlich die Hauptperson, – mag sie entscheiden,« fügte er hinzu und reichte mir trotz Mamas entrüstetem »Aber Hans, wie unpädagogisch!« den gewichtigen, großen Bogen. Er enthielt die kurze Mitteilung, daß »Ihre Majestät gnädigst geruht habe, Fräulein Alix von Kleve eine Freistelle im Augustastift zu bewilligen,« und die Bemerkung von der Kaiserin eigener Hand, »sie freue sich, die Enkelin ihrer [68] lieben Jugendfreundin Jenny in die ihrem Herzen so nahe stehende Anstalt aufnehmen zu können.« Im Fluge erschienen all die Bilder des Stifts vor mir, die ich bei meinen Besuchen mit Großmama oft genug gesehen und meinem Vater oft genug geschildert hatte: Alles war Uniform dort, von der Kleidung bis zur Gesinnung, und von den weiten Schlafsälen bis zum Garten atmete alles denselben Geist: den der Hygiene, der Pünktlichkeit, der Ordnung. Da gab es kein stilles Plätzchen und keine Zeit zum Träumen. Das, was mir von klein auf das tiefste Bedürfnis gewesen war: allein sein zu können mit meinen Gedanken, wäre hier Tag und Nacht unbefriedigt geblieben. Aber war es nicht vielleicht die Hand Gottes, die mir grade diesen Weg der Buße wies? Würde ich nicht mit einem Schlage meine Eltern von drückenden Sorgen befreien, wenn ich ihn, ohne Rücksicht auf meine Wünsche, tapfer betrat? Erwartungsvoll fragend sah Papa mich an. Und leise, mit gesenkten Augen sagte ich: »Es wird wohl das beste für mich sein!«

»Ihr habt ja das Mädel gut kleingekriegt,« höhnte Papa, »aber ich geb' das nie und nimmer zu! So steht's noch nicht mit mir, daß ich meine Tochter das Gnadenbrot essen ließe! – Sie bleibt zu Hause, wo sie hingehört, sie wird nicht zum Hofschranzen erzogen – und damit basta!«

Mama blieb still. Ich wurde ins Bett geschickt, hörte aber noch lange des Vaters heftige Stimme: mein Schicksal, das fühlte ich, wurde dort drüben entschieden.

Am Tage darauf mußte ich mich auf des Vaters Knie setzen, und mit einer weichen Zärtlichkeit, die er selten zu zeigen pflegte, sprach er auf mich ein:

»Du bist mein einziges Kind, Alixchen, und meine ganze Lebensfreude. Wenn ich dich von mir gebe, so heißt das, dich verlieren, denn fremde Einflüsse werden auf dich wirken, die meinem Denken und Fühlen entgegengesetzt sind. Glaube mir: niemand meint es so gut mit dir wie ich, wenn ich auch oft grob [69] und heftig bin, – und niemand kann dich lieber haben.« Mit feuchten Augen sah er mich an: »Willst du deinen armen alten Vater wirklich verlassen, mein Kind?«

Schluchzend schlang ich die Arme um seinen Hals: »Ich bleibe bei dir, Papa.«

[70]
3. Kapitel
Drittes Kapitel

Wir saßen um den runden Mahagonitisch beim Nachmittagskaffee; von der Hängelampe mit dem grünen Schirm fiel ein warmes Licht auf den zierlich gedeckten Tisch mit seinen Kristalltellern und Sahnennäpfchen und seinen alten, weißen, wappengeschmückten Porzellantassen; die dickbauchige silberne Kaffeekanne blitzte, und der große Napfkuchen duftete sonntäglich. Mit lustigem Prasseln übertönten die brennenden Holzscheite im Kamin die grämliche Herbststimme des Novemberregens draußen.

»Doktor Hugo Meyer,« meldete der Diener und öffnete die Tür vor dem Erwarteten. Mein Vater stand auf. »Dein Erziehungsapparat,« flüsterte er mir lächelnd zu. Ich war wenig neugierig. Sie waren bisher einander alle ähnlich gewesen: grauhaarige Männer mit krummen Rücken und schmutzigen Fingernägeln, ältliche, bebrillte Fräuleins mit blutleeren Lippen – wirklich: nur gleichmäßig funktionierende »Erziehungsapparate«, aber keine Erzieher.

Pflichtschuldigst erhob ich mich, als Papa mich dem neuen Lehrer vorstellte, den er nach vielem Suchen für mich gefunden hatte. »Hier ist unsere Alix, Herr Doktor! Ein großes Mädel, nicht wahr? Sie werden sich tüchtig anstrengen müssen, damit der Geist sich streckt, wie der Körper.« Ich reichte ihm die Hand; sein warmer, kräftiger Händedruck ließ mich erstaunt zu ihm aufsehen, – meine früheren Lehrer hatten mir immer nur die Fingerspitzen berührt, was mich von vornherein hatte frösteln lassen.

[71] Ein großer, breitschultriger Mann stand vor mir; ein Paar gute Augen von einem so reinen Blau, wie es mir noch bei keinem Menschen begegnet war, sahen mich forschend an. Und doch konnte ich nur schwer ein Lächeln verbergen: wie schlecht paßte der Mann, dachte ich, in den langen korrekten schwarzen Rock. Eines Arminius Lederwams und Panzer hätte ihm besser gestanden, und unter einem Büffelhelm würde der breite Germanenkopf mit dem gelockten rötlichen Haar und dem dichten Bart nie den Gedanken an einen preußischen Gymnasiallehrer haben aufkommen lassen. Er errötete unter meinem Blick und setzte sich mit einer ungeschickt verlegenen Bewegung, den Zylinder immer noch in der Hand, auf den Rand des ihm angebotenen Stuhles. Es bedurfte der ganzen gesellschaftlichen Geschicklichkeit meiner Mutter und der jovialen Liebenswürdigkeit meines Vaters, um eine Unterhaltung in Fluß zu bringen. Erst als das Gespräch sich ausschließlich auf des Besuchers eigentlichstes Gebiet konzentrierte, wurde er lebendig, und je mehr er den schwarzen Rock und das Zeremoniell der Salonkonversation vergaß, desto stärker trat seine Natur hervor: die eines Menschen voll Jugendkraft und Enthusiasmus. Ich empfand sie, wie ich den schäumenden Gießbach und die dunkeln, schattenden Bäume in dem kühlen, grünen Grund der Maxklamm empfand, wenn ich von den sommerschwülen Wiesen Grainaus dorthin flüchtete. Ein tiefes Aufatmen ging durch meine Seele. Ich öffnete den Mund nicht während des ganzen Besuchs, und er richtete nie das Wort an mich. Daß ich seinen Händedruck beim Abschied herzhaft erwiderte, war das einzige Zeichen meines Willkommens.

Am Abend desselben Sonntags war es; die Stunde, in der mein Vater für Wünsche am zugänglichsten, für Widerspruch am wenigsten empfindlich war. Dann pflegte Mama mit gekreuzten Armen tief in der Sofaecke seines Zimmers zu sitzen, der Patience zuschauend, die er, als bestes Nervenberuhigungsmittel,[72] wie er meinte, allabendlich zu legen pflegte. Ich las währenddessen oder träumte vor mich hin.

»Wir hätten Alix doch in die Schule schicken sollen,« begann Mama.

»Damit sie mit fünfzig Cohns und Goldsteins in einer Klasse sitzt! Na, Gottlob, ist das Thema seit heute erledigt,« antwortete er.

»Und daß er ihr keine Religionsstunde geben will, ist doch auch bedenklich,« fuhr sie fort.

»Das ist's grade, was mir paßt,« sagte er mit etwas erhobener Stimme, »den Katechismus kann sie am Schnürchen, die Kirchenlieder auch, alles übrige läßt sich nicht lehren und nicht lernen, wenn man's nicht erfährt. Und zu dieser Religionserziehung sind die Herren Eltern da.«

»Ich freue mich auf die Stunden,« unterbrach ich das Gespräch, in der Angst, es könne sich zu einer Szene steigern.

»Jedenfalls muß ich immer dabei sein,« seufzte darauf Mama.

Ich erschrak. Vor niemandem vermochte ich so wenig aus mir herauszugehen wie vor ihr. Lähmend wirkte ihre Kühle auf mich. Wie eine stumme Geige war ich in ihrer Nähe: gehorsam geben die Saiten dem Spiel der Finger nach, aber mit keinem Ton antworten sie ihnen.

»Warum denn, Mama?« frug ich mit zuckenden Lippen, die Augen bittend auf sie gerichtet, »ich werde sicher gut aufpassen und immer fleißig sein.«

»Glaubst du vielleicht, ich tu's aus Vergnügen?!« Ihre Stimme wurde schärfer: »Es schickt sich einfach nicht, euch allein zu lassen!«

Eine unklare Empfindung, als habe mich etwas Unreinliches berührt, trieb mir die Schamröte in die Wangen.

Wir verstummten alle. Tiefer senkte ich den Kopf auf mein Buch, aber ich sah die Worte nicht; ich hörte auf den Regen, der eintönig gegen die Fensterscheiben schlug. Das Kaminfeuer nebenan war erloschen.

[73] Am nächsten Nachmittag begann der Unterricht. Mama saß richtig mit einer Handarbeit dabei. Ihre Gegenwart schien auch der Lehrer peinlich zu empfinden, er kam nicht in die Stimmung, die mich an ihm mit so viel Hoffnung erfüllt hatte, und wir waren schließlich sichtlich enttäuscht voneinander. Wochenlang blieb alles beim alten, und ich sagte mir mit altkluger Bitterkeit, daß ich mich eben wieder einmal umsonst gefreut hätte. Aber mit dem nahenden Winter nahm die Geselligkeit zu, und schließlich war sie dermaßen ausgedehnt, daß ich meine Eltern fast nur zu Tisch noch sah. Besuche, Diners, Bälle, Wohltätigkeitsvorstellungen folgten einander auf dem Fuß. Meine Mutter hatte nur noch Zeit, die pflichtgemäße Mittagspromenade mit mir zu machen und meinen Lehrer zu begrüßen, wenn er kam. Täglich wiederholte sich dabei dieselbe Szene: mit linkischer Verbeugung und verlegenem Hüsteln, das sein gewaltiger Brustkasten Lügen strafte, trat er ein. »Sind Sie zufrieden mit Alix?« frug Mama. »O sehr,« antwortete er. Ihm freundlich zunickend, mir rasch die Stirne küssend, verabschiedete sie sich, und mit einem Gefühl der Erleichterung nahmen wir einander gegenüber Platz. Der Diener brachte den Kaffee, der, wie Papa gemeint hatte, eine Unterhaltung und damit ein näheres Bekanntwerden von Lehrer und Schülerin herbeiführen sollte. Aber es kam nie dazu. Dr. Meyer schluckte hastig den gebotnen braunen Trank herunter und zerbröckelte schweigsam den Kuchen zwischen den Fingern, während er meine Hefte durchsah. Erst durch den Lehrstoff, den er vortrug, taute er auf, und je mehr die Zeit vorrückte, desto heller leuchteten seine Augen, desto reicher strömten ihm alle Mittel eindrucksvoller Rede zu. War mein ganzer bisheriger Unterricht nichts als eine Anhäufung von Regeln, Versen, Namen, Zahlen und Daten gewesen, so leblos und reizlos für mich, wie das Spielzeug, mit dem Onkels und Tanten meine Schubläden füllten, so strömte jetzt mit ihm das Leben selbst mir zu, dessen Fülle ich in atemloser Aufmerksamkeit, in herzklopfender[74] Erregung zu fassen und zu halten versuchte. Die toten Helden der Geschichte wurden lebendig vor mir; alle, die um der Freiheit und der Gerechtigkeit willen geblutet hatten – von Leonidas und Tiberius Gracchus bis zu den Amerikanern, den Griechen, den Polen der Neuzeit – zeigten mir ihre Narben und Wunden, und meine Begeisterung entflammte sich an ihren Taten und Leiden. Die Dichter sprachen zu mir, und die Lehrer und die Propheten der Menschheit brachten dem kleinen Mädchen die unvergänglichsten ihrer Schätze. Wenn sie auch ihren Wert noch nicht zu würdigen verstand, so erkannte sie doch mit inbrünstigem Schauern ihren Reichtum, und die Welt, bisher für sie nur erfüllt mit den Nebelgestalten ihrer eignen Schöpfung, sah sie nun aus tausend lebendigen Augen an.

Mündlich und schriftlich hatte ich Gelesenes und Gehörtes nicht nur automatisch wiederzugeben, sondern meine eignen Eindrücke und Gedanken daran zu knüpfen. Stets verteidigte ich leidenschaftlich meine Helden, und um ihre Widersacher zu malen, war mir das tiefste Schwarz nicht schwarz genug. Suchte der Lehrer meine Engel in Menschen zu verwandeln, so bäumte sich meine Empfindung feindselig gegen ihn auf; und geschah es, daß mein Verstand ihm recht geben mußte, so trauerte ich verzweifelt vor dem gestürzten Heros, als wäre mir ein Freund gestorben.

Ein hoher hölzerner Fußschemel war meine Rednertribüne. Ich konnte nicht zusammenhängend sprechen, wenn ich am Tische saß oder stand; ich bedurfte eines merkbaren räumlichen Abstands zwischen mir und dem Zuhörer und war daher instinktiv auf diesen Ausweg verfallen. Nur in Mamas Gegenwart half auch der Fußschemel nichts, seitdem sie einmal zugehört und über mein Pathos Tränen gelacht hatte. Mein Lehrer verstand mich; kam sie zufällig herein, während ich sprach, so wechselte er stillschweigend den Gegenstand des Unterrichts. Aber nicht nur der Stoff und die Form, auch der Tenor des Inhalts wurde ein andrer, wenn wir nicht allein blieben.

[75] Meine Mutter hatte einmal ausnahmsweise der Geschichtsstunde beigewohnt, als Dr. Meyer Friedrichs des Großen Polenpolitik einer abfälligen Kritik unterzog. Er war Hannoveraner und hatte sich als solcher trotz aller Begeisterung für das Deutsche Reich den Hohenzollern gegenüber einen scharfen kritischen Blick bewahrt. Seine Auseinandersetzung unterbrach meine Mutter plötzlich mit einer Leidenschaftlichkeit, die bei der sonst so vornehm kühlen Frau wie etwas völlig Neues erschien: »Herr Doktor,« rief sie, »vergessen Sie nicht, wen Sie vor sich haben. Wir sind Preußen!« – »Verzeihen Sie, gnädige Frau,« entgegnete er, während das Blut ihm in Wangen und Schläfen schoß, »die objektive Geschichtsforschung ...« – »Was geht mich die objektive Geschichtsforschung an,« warf sie heftig dazwischen, »wir haben unser angestammtes Fürstenhaus zu lieben und unsre Kinder im Respekt vor ihm zu erziehen. Lehren Sie Alix einfache Tatsachen, keine zersetzende Kritik. Sie ist sowieso schon superklug genug.« Ich erwartete eine energische Antwort. Doch der große, starke Mann schien in sich zusammen zu fallen, er senkte die Augen, und sein Gesicht färbte sich noch dunkler. Als wollte er einen bösen Gedanken vertreiben, fuhr er sich mit der Hand, deren Weiße zu ihrer breiten Derbheit einen seltsamen Kontrast bildete, ein paarmal über die Stirn, sah mechanisch nach der Uhr, atmete tief auf, da die abgelaufene Zeit seinen Aufbruch gestattete, und verabschiedete sich noch unbeholfener als gewöhnlich. Mir gab es einen Stich ins Herz: es war zwar nicht ein Heros, dessen Sturz mich verletzte, es war nur ein erster schüchterner Trieb beginnenden Vertrauens, der mir aus dem Herzen gerissen wurde. Ein Mann, der sich so herunterputzen ließ! Der seine Überzeugung nicht zu vertreten vermochte! Daß Mutter und Schwester daheim mit jedem Groschen rechnen mußten, den er verdiente, – das freilich wußte ich damals nicht.

Für mich, für die ein Erlebnis, das andre kaum empfanden, so oft zum erschütternden Ereignis wurde, blieb diese Stunde [76] bedeutungsvoll. Noch immer sah ich Tag für Tag meinem Lehrer voll Erwartung entgegen, aber er war doch nur der Türhüter am Museum der Menschheitsgeschichte, nicht der Führer, dessen Leitung sich der Laie anvertraut: er öffnete mir einen Saal nach dem andern, aber ich ging schließlich doch allein. Wenn es auch sein höchstes Verdienst war, daß ich allein gehen lernte – nicht auf den Stelzen fremder Anschauungen, die unbrauchbar werden, sobald es gilt, über Felsen zu klettern –, so ist doch die Seele des Kindes zu weich, zu schutz-und anlehnungsbedürftig, als daß sie auf einsamer Wanderung durch das fremde Leben nicht Wunden über Wunden davontragen müßte und ihr beim Sammeln von Blumen und Beeren nicht allzuviel giftige in die Hände fielen.

Ich war ein frommes Kind gewesen – mit jener Frömmigkeit, die an den lieben Gott und an die Engel und an den Herrn Jesus ebenso innig glaubt, wie an die sieben Zwerge, an die Knusperhexe und an die kleine Seejungfrau; mit jenem Glauben, der gar kein Glauben ist, weil noch kein Schatten eines Zweifels ihn erprobte.

Bei mir wie bei jedem Kinde wiederholte sich, was die Kindheit der Völker kennzeichnet: ihre Phantasie ist das Mittel, durch das sie sich mit dem ungeheuern Geheimnis des Lebens und des Schicksals auseinandersetzen. Sie überwinden die Furcht vor dem Unbegreiflichen durch den Glauben an die waltenden Wesen über ihnen. Schon als kleines Kind flüchtete ich, wenn irgendein Ereignis mich aus dem Gleichgewicht brachte, in die Stille, um inbrünstig den Vater im Himmel um Hilfe zu bitten. Auf meine religiösen Empfindungen blieben die Gebete, Sprüche und Gesangbuchverse, die ich in der Schule gelernt hatte, und der Luthersche Katechismus vor allem, der, wäre er chinesisch geschrieben, den Kindern nicht weniger verständlich sein würde, so einflußlos wie die nüchterne Öde der protestantischen Kirche. Die Heiligenbilder, das geweihte Wasser, die durch rotes Glas [77] mystisch schimmernde ewige Lampe unter dem geheimnisvollen Bilde der schwarzen Madonna von Czenstochau, die die Wände in der Kammer unsrer polnischen Köchin schmückten, zogen mich weit mehr an.

Das Licht des grellen Tages fiel nun in diese unberührte traumdunkle Märchenwelt meiner Religion.

In der Geschichtsstunde, zu der in späteren Jahren ein besondrer religionsgeschichtlicher Unterricht hinzukam, lernte ich, wie nicht nur innerhalb des Christentums eine Kirche, eine Sekte die andre auf das heftigste bekämpfte, wie jede im Besitz des alleinseligmachenden Glaubens zu sein behauptete, und für jede Märtyrer geblutet hatten, ich sah auch, daß Juden, Mohammedaner und Buddhisten nicht weniger fromm waren als die Nachfolger Christi und mit derselben Hingabe, wie sie, für ihren Glauben lebten und starben. Die Fabel von den drei Ringen kannte ich noch nicht, aber ich empfand schon die Schwere ihrer Fragestellung. Mein Lehrer, der dem Mißtrauen meiner Mutter, als er sich weigerte, mir Religionsstunden zu geben, dadurch begegnet war, daß er versprochen hatte, keinerlei Glaubenszweifel in mir zu erwecken, beschränkte sich im wesentlichen auf die Darstellung historischer Ereignisse und wich meinen bohrenden Fragen so lange aus, bis ich es aufgab, sie zu stellen. In meinem Innern aber wurden sie zu Quadersteinen eines babylonischen Turms, von dem auch ich über die Wolken zu sehen hoffte. Da ich noch zu schwach und ungeschickt war, sie ohne Hilfe fest und sicher aufeinander zu schichten, brach mein Bau frühzeitig zusammen. Nicht zu neuen Wundern hatte er mich emporgeführt, doch meinen Kinderglauben begrub er unter seinen Trümmern.

Im mystischen Dunkel der Tempel und Kirchen waltet die Phantasie ungestört, die große Bannerträgerin allen Glaubens, und flößt den Marmorsteinen der Götter und den Bildern der Heiligen rotes, warmes Leben ein. Dringt aber Licht und Lärm [78] durch zerrissene Vorhänge und zerbrochene Scheiben, so wandeln sie sich wieder zu toten Gebilden von Menschenhand. Die Phantasie aber baut in stillen Winkeln neue Tempel für die glaubensdurstigen Kinderseelen, die Denker und Dichter noch nicht sind, oder niemals werden können.

Einmal, nach der Rückkehr von einer längeren Sommerreise, führte mich mein Vater mit besondrer Feierlichkeit in unsre Wohnung. Hatte ich bisher ein Zimmer neben der Schlafstube der Eltern bewohnt, in dem sich tagsüber meist auch die Jungfer aufzuhalten pflegte, so öffnete er mir jetzt die Tür zu einem bis dahin unbenutzten Raum. »Das ist dein Reich, mein Kind,« sagte er. Ich konnte das Glück kaum fassen: ein eignes Zimmer! Dieser Traum jedes zu selbständigem Leben reifenden Menschenkindes sollte mir so wundersam in Erfüllung gehen! Keine rasselnde Nähmaschine durfte mich hier mehr stören, niemand konnte mir den Platz am eignen Schreibtisch streitig machen! Nur das alte braune Sofa erinnerte trotz seines neuen blauweißen Kleides noch an die Kinderstube. Die erste Nacht unter dem schneeigen Betthimmel und der roten Ampel fand ich keinen Schlaf: mein Zimmer, und doch – das allereigenste fehlte ihm noch, das geheimnisvolle, das niemand sehen durfte als ich allein. Ich richtete mich auf, zündete die Ampel an und schlüpfte aus dem Bett. Bunte Seidenreste und einen großen gelben Schal holte ich aus meinem Wäscheschränkchen und kauerte damit am Fenster nieder, wo zwischen dem Sofa und der Wand eine Ecke leer war. Mit Nadeln und Reißnägeln spannte ich den gelben Schal wie ein Zeltdach zwischen der hohen Seitenlehne des Sofas und der Fensterwand, fütterte die Wände innen mit rotem Atlas und breitete himmelblauen Sammet als Teppich auf dem Boden aus. Einen weißen, mit Blumen bemalten Kasten stellte ich wie einen Altar in die Mitte, bunte Kerzen von meinem Geburtstagskuchen befestigte ich ringsum, und eine kleine Schale von Malachit, mit Rosenblättern gefüllt, legte ich [79] als Opferstein davor. Nur der Gott fehlte noch, dem der Weihrauch duften sollte. Leise, mit angehaltnem Atem, schlich ich zum Eßzimmer hinüber, holte vom Ofensims die kleine Statuette des Apoll vom Belvedere und erhob ihn zum Heiligen meines farbenglühenden Tempels. Tief mußt' ich mich neigen, um hineinzusehen; aber daß ich fast die Erde mit den Lippen berührte, entsprach nur meiner feierlichen Andacht. »Baldur« nannte ich den Apollo, denn die Götterwelt der Germanen war mir vor allem vertraut geworden, und mit einer ersten instinktiven Auflehnung gegen die Schmerzensgestalt des Gekreuzigten betete ich den blühenden Gott des steigenden Lichtes an.

Kindisch mag's denen erscheinen, die nichts wissen von den Tiefen der Kindesseele, ich aber weiß, daß keines gläubigen Christen Frömmigkeit inniger sein konnte als die, die mich erfüllte, wenn ich vor dem selbstgeschaffnen Heiligtum in die Knie sank.

Meiner Mutter erzählte ich herzklopfend, daß ich den Apollo »zerbrochen« hätte, und bat sie, wie alle Hausbewohner, die mit einem dunkeln Tuch sorgfältig verhüllte Ecke meines Zimmers nicht zu untersuchen, der »Weihnachtsüberraschungen« wegen, die ich dort verwahrt hätte. Als aber Weihnachten vorüber war, machte ich keinerlei Anstalten, meinen geheimnisvollen Bau dem Besen und dem Scheuertuch zu opfern. Heimlich kaufte ich mir Blumen, um ihn stets frisch zu schmücken, und eine kleine ewige Lampe, an deren Brennen und Erlöschen sich allmählich allerlei abergläubische Vorstellungen knüpften, und Räucherkerzchen, die allabendlich den Gott auf dem Altar in bläuliche Wolken hüllten. Schon oft hatte Mama mich gemahnt, das »unnütze Zeug« fortzuräumen, schließlich, als ich eines Morgens von der Klavierstunde kam, trat sie mir mit hochrotem Gesicht entgegen. »Wirst du dir denn nie das Lügen abgewöhnen?!« rief sie und zog mich in mein Zimmer. Mein Tempel war verschwunden, in wirrem Durcheinander lagen Stoffe und Blumen, Lichter und [80] Räucherwerk auf dem Tisch, erloschen stand das Lämpchen neben Baldur-Apoll. »Weißt du, wie man das nennt, wenn man sich fremdes Eigentum aneignet?!« Vor diesen Worten wich die Erstarrung des ersten Entsetzens von mir. Aufschreiend warf ich mich vor meinem Bett in die Knie; meine Glieder flogen, und mein Herz klopfte, als wollte es mir die Brust zersprengen. Meine Mutter hielt diesen Ausbruch der Verzweiflung offenbar für Reue: »Na, beruhige dich, Alixchen,« sagte sie, mir die Hand auf den Kopf legend, eine Berührung, die mich zwang, ihn nur noch tiefer in die Kissen zu vergraben, »ich will die ganze Geschichte noch einmal als bloße Kinderei betrachten. Belügst du mich aber noch ein einziges Mal, so muß ich andre Saiten aufziehen.«

Ich baute von nun an keine Tempel mehr. Mein äußeres Leben war das einer korrekten Schülerin und wohlerzogenen Tochter. In der schwülen Treibhausluft meines Innern aber wucherten die Wunderblumen meiner Träume, und berauschend umwehte mich ihr Duft, wenn ich allein war und zu mir selber kam. Oft hielt ich mich krampfhaft wach, bis alle schliefen, um dann bei der trübe flackernden Kerze noch lange am Schreibtisch zu sitzen, wo ich mit glühendem Kopf und frostbebendem Körper Verse zu Papier brachte, die nach Freiheit schrien und nach Liebe.

Nur der Unterricht meines Lehrers wirkte noch beruhigend auf die Stürme meines Innern und lenkte mein Interesse in andere Bahnen. Die Literaturgeschichte besonders fesselte mich mehr und mehr. Sie bestand nicht nur aus den Namen der Dichter, den Titeln ihrer Werke und fix und fertigen Urteilen über sie, mit denen ausgerüstet unsere Jugend Bildung zu heucheln pflegt, sie vermittelte mir vielmehr, soweit es meiner geistigen Entwicklung entsprach, die Kenntnis der Werke selbst. In kleinen gelben Heftchen brachte sie mir mein Lehrer, der nicht die Mittel hatte, kostbarere Ausgaben anzuschaffen. Die nordische und die ältere deutsche Literatur, die griechischen und römischen Klassiker [81] lernte ich auf diese Weise kennen; mit der Lektüre wuchs mein Verlangen nach immer neuen Büchern, und statt des Weihrauchs und der Blumen für meinen Tempel kaufte ich mir ein Reclamheft nach dem andern. Nachdem ich erst den Katalog in Händen hatte, ließ es mir keine Ruhe mehr: ich mußte lesen, lesen – alles lesen. Was mir der Lehrer empfahl, genügte meinen von Neugierde und Wissensdurst aufgepeitschten Wünschen längst nicht mehr, noch weniger, was mir die Eltern gaben und erlaubten. In acht Tagen pflegte ich meine Weihnachts- und Geburtstagsbücher auszulesen, und wenn ich mich auch immer aufs neue in Grubes »Charakterbilder« – meine Fundgrube, wie Papa sagte – und in Gustav Freytags »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« vertiefte, so füllte das alles die freie Zeit doch nicht aus.

Andere Kinder meines Alters spielten; meine Puppen und mein Kochherd wurden nur dann der Vergessenheit entrissen, wenn ich Besuch hatte, was ich darum zumeist nur als unangenehme Störung empfand. Was hatte ich gemeinsames mit den »dummen Schulgöhren«? Ihren Schulklatsch verstand ich nicht, und ließ ich mich hinreißen, ihnen meine Interessen zu verraten, so lachten sie mich aus. Mama hielt es für ihre Pflicht, mir Verkehr mit Altersgenossen zu verschaffen, auch ich empfand ihn nur als eine Pflicht, die nach meiner Erfahrung stets das Gegenteil des Vergnügens war. Mit in die Höhe gezogenen Beinen in der Sofaecke kauern, vertieft in ein Buch, vor dessen Zauber die ganze Welt um mich versank, – diesem Genuß glich kein andrer! Nur die ständige Angst, entdeckt zu werden, beeinträchtigte ihn. Denn, was ich las – dessen war ich sicher –, gehörte nicht zu der erlaubten »Mädchenlektüre«, und doch fühlte ich instinktiv, daß es tausendmal wertvoller war als die zuckersüßen Backfischgeschichten von Clementine Helm, für die sich meine Freundinnen damals begeisterten.

In dem neuen Bezug meines alten Sofas hatte ich eine Naht [82] aufgetrennt; hörte ich Schritte draußen, so verschwand mein gelbes Heft in dies sichere Versteck, und ich beugte mich rasch andachtsvoll über Webers Weltgeschichte, die auf dem Tische bereit lag. Nach und nach wurde das gute verschwiegene Möbel meine Schatzkammer. Da lagen sie alle friedlich beisammen, deren Gestalten in meinem Hirn und Herzen in tollen Tänzen durcheinanderwirbelten: Die Arnim und Brentano, die Hauff und Zschokke, die Scott und Bulwer, die Gogol und Turgenjeff. Sie ließen mich nachts oft nicht zur Ruhe kommen, und wenn ich schlief, verfolgten sie mich bis in meine Träume.

Eines Winterabends war mir der Lesestoff ausgegangen. Meine Eltern waren nicht zu Hause; ich konnte unbemerkt zum nächsten Buchhändler laufen, um zu holen, wonach ich Verlangen trug. Von E. T. A. Hoffmann hatte ich in der Literaturgeschichte gelesen – »das ist noch nichts für dich« war mir geantwortet worden, als ich, in der Meinung, es handle sich um Kindermärchen, den Lehrer darum gebeten hatte. Und dies »das ist nichts für dich« war mir längst zum Empfehlungsbrief der Bücher geworden. Mit »Klein-Zaches« und dem »Goldnen Topf« in der Tasche kam ich zurück. Dann fing ich an zu lesen. Mein Abendbrot, das man mir brachte, blieb unberührt, die Mahnung der Jungfer, schlafen zu gehen, unbeachtet. – Saß ich nicht selbst unter dem Holunderbusch und sah die grüne Schlange, und hörte die klingenden Glöcklein? Grinste mir nicht von der Tür her das Bronzegesicht der zauberhaften Äpfelfrau entgegen? – Da öffnete sich die Tür. »Wie, du bist noch nicht im Bett?!« tönte mir die Stimme meines Vaters entgegen. »Ich muß wohl eingeschlafen sein,« stotterte ich und versteckte hastig mein Buch. »So zieh dich rasch aus – ich werde Mama nichts sagen – gute Nacht.« Damit schloß er die Türe wieder. Ich löschte die Lampe und kroch mit den Kleidern ins Bett; als Mama leise eintrat, glaubte sie mich schlafend. Und dann las ich weiter: von Klein-Zaches mit den drei goldnen Haaren, von der Nachtigall [83] und der Purpurrose, von der Lotosblume und dem Goldkäfer. Es ließ mich nicht los, bis ich zu Ende war, und ich lebte von da an in der Welt Hoffmanns, so daß mir jede Berührung der Wirklichkeit wehtat, wie ein Nadelstich. Schwerer als je wurde mir jetzt der Unterricht, der mir schon immer qualvoll gewesen war: die Musikstunde. Ich liebte die Musik; durch Hoffmann erschien sie mir wie ein Himmelszauber; – schon als kleines Kind konnte ich stundenlang still zuhören, wenn jemand sang oder spielte, – meine eigne Klimperei, bei der ich nie über den Kampf mit der Technik hinauskam und vor Noten und Vorsatzzeichen von der Musik nichts hörte, wurde mir immer unerträglicher. Vergebens bat ich Mama, mich meiner offenbaren Talentlosigkeit wegen davon zu befreien – Klavierspielen gehörte zur guten Erziehung, also blieb's dabei. Ich suchte mir selbst einen Ausweg: statt zur Lehrerin, ging ich spazieren, oder ich entschuldigte mich mit »Kopfweh«. Um niemanden von den Meinen zu begegnen, mußte ich dann freilich abgelegene Wege suchen.

In einem regenreichen Frühjahr des Jahres 1877 war der polnische Stadtteil Posens, wo die Ärmsten wohnten – die Walischei – durch die aus den Ufern tretende Warthe vollkommen unter Wasser gesetzt worden. Krankheit und Not nahmen überhand, so daß auch in den Gesellschaftskreisen meiner Eltern auf dem üblichen Wege der Wohltätigkeitsvorstellungen Hilfe geschaffen werden sollte. Ich wirkte nicht mit, wie früher in Karlsruhe, – mit dem langen, dünnen, blassen Mädchen war wohl kein Staat zu machen –, aber den Proben und Aufführungen wohnte ich bei, weil meine Mutter zu den Hauptdarstellern gehörte. Da erfuhr ich denn mancherlei von den Unglücklichen, denen der Ertrag dieser Eitelkeitsparaden zugute kommen sollte. Armut – was wußte ich von ihr? Sie hatte mich bis zu Tränen erschüttert, als sie mir in den hungernden Sklaven Roms zur Zeit Neros, in den um Brot schreienden [84] Weibern von Paris zu Beginn der großen Revolution, in den Jammergestalten der schlesischen Weber in den Elendsjahren Preußens entgegengetreten war. Aber jetzt, in der Herrlichkeit des Deutschen Reichs, unter dem Zepter des guten alten Kaisers – jetzt gab es doch keine Armut mehr! Daß uns gegenüber in der polnischen Kneipe Tag für Tag Betrunkene vor der Türe saßen, daß selbst Weiber im Rausch in den Rinnstein fielen, erregte nur meinen Ekel, nicht mein Mitleid. Ihr Laster war's ja und nicht ihr Elend, dem sie verfallen waren. Ich beschloß, die Armut, die ich nicht kannte, zu suchen; und die Angst, die mich angesichts des Abenteuers zittern ließ, erhöhte noch die Romantik meines Unternehmens. All die phantastischen Irrwege der Helden Hoffmannscher Erzählungen standen mir lockend vor Augen.

Es war ein naßkalter Märzmorgen, als ich, mit der Musikmappe am Arm, über den Wilhelmsplatz zum Markt hinunterging. Ein bekanntes Gesicht trieb mich in den dunkeln Dom, wo mir eine schwere Wolke von verbrauchter Winterluft, von Menschendunst und Weihrauch entgegenschlug. Die Tapfen vieler schmutziger Füße hatten den Boden mit einer schwarzen klebrigen Schicht überzogen. Von ein paar dicken Altarkerzen flackerte das Licht bläulich in den Raum, und die Züge des Priesters, der mit heiserem Krächzen in der Stimme die Messe zelebrierte, erschienen fahl, wie die eines Toten. Von unbestimmtem Grauen getrieben, lief ich der nächsten Türe zu; kurz vorher aber glitt ich aus und fiel auf die Fliesen. Der zähe Schmutz blieb an Händen und Knien kleben, mühsam nur, unter aufsteigender Übelkeit, rieb ich ihn ab. Ein böser Anfang! dachte ich, als ich durch immer engere und dunklere Straßen meinem Ziele zustrebte. Schon sah ich hie und da, wie das Wasser aus den Kellern gepumpt und mit Eimern heraufgetragen wurde; dann wurden die Häuser immer kleiner, so daß die Dächer fast mit den Händen zu fassen waren, und über immer breitere [85] Wasserrinnen vermittelten primitive Brücken den Übergang. In den tiefer gelegenen Gassen stand das Wasser so hoch, daß Flöße aus Brettern die Passanten hin und her führten. Auf den schwarzgelben Fluten schwammen Küchenabfälle, zerbrochene Töpfe, übelriechende Kehrichthaufen, in denen dürftig gekleidete Kinder, oft bis zu den Knien im Wasser watend, mit schmutzigen Fingern nach Spielzeug suchten. Mir war's, als stiege eine Kälte an mir empor, mich umwindend wie eine graue, feuchte Schlange. Der gellende Ton eines Glöckchens ließ mich zur Seite sehen: ein Chorknabe schwang es, dem der Geistliche folgte. Vor der Tür des grellgelben Häuschens, hinter der sie verschwanden, drängten sich Weiber und Kinder, barfüßig, schmutzig, zerlumpt; nur ein paar faltige rote Röcke und bunte Kopftücher zeugten von einstigen, besseren Zeiten. Ihr Schwatzen wurde allmählich zum Gekreisch, ihre Gebärden machten, je lebhafter sie wurden, den Eindruck konvulsivischer Zuckungen; aus allen Häusern der Straße strömten sie zusammen, – wie war es nur möglich, daß ihrer so viele darinnen wohnen konnten?! Angstvoll hatte ich mich in einen Torweg verkrochen, als sich neben mir eine Tür knarrend öffnete: rückwärts torkelnd, fluchend und schimpfend kam ein Mann heraus, eine Flasche als Waffe gegen seine Verfolger schwingend. Da klang der gellende Ton des Glöckchens wieder, und jeder andere verstummte vor ihm; die schwatzenden Weiber, die betrunkenen Männer und die johlenden Kinder sanken in die Knie, wo irgendein Stein oder eine Stufe aus dem Wasser hervorsah. An ihnen vorüber schritt der Gebete murmelnde Priester; schwarz und schwer breitete sich sein Talar hinter ihm auf den Fluten aus.

Ein Mann und ein Weib folgten ihm, hager und gebückt alle beide; in wirren Strähnen hingen strohgelbe Haare ihr in das von Weinen aufgedunsene Gesicht; ihre grauen knochigen Finger umklammerten den Griff des schmalen schwarzen Schreines, den sie gemeinsam trugen; ein Myrtenkränzlein aus Papier, mit[86] dem Bilde der schwarzen Madonna war sein einziger Schmuck. Stumm, wie die beiden, folgte ihnen die Menge – ein langer Zug des Elends, den der Betrunkene, die leere Flasche zwischen den gefalteten Händen, schwankend beschloß. Kein Laut war mehr hörbar, als das Plätschern des Wassers zwischen den vielen, vielen Füßen der langsam Schreitenden.

Wie aus bösem Traum erwachend, fuhr ich zusammen. An der weit offenen Tür des Hauses, aus dem der Sarg getragen worden war, mußt' ich vorüber. Es war ganz dunkel darin, und doch sah ich, daß etwas am Boden hockte und mich anstarrte mit großen, leeren Augen, – die Armut. – So rasch meine zitternden Beine mich tragen konnten, entfloh ich. Frostgeschüttelt warf ich mich zu Hause auf mein Bett. Am nächsten Morgen erkannte ich niemanden mehr.

Viele Wochen schwebte ich zwischen Tod und Leben. Noch Jahre danach konnte ich mich nicht ohne Entsetzen der wilden Fieberträume erinnern, die mich damals gepeinigt hatten. Den Dom sah ich, und der Priester am Altar war ein Gerippe, und in den unergründlich tiefen schwarzen Schlamm des Bodens zogen mich lauter schmutzige Knochenhände; – durch gelbe Fluten lief ich atemlos, hinter mir endlose Scharen von Männern und Weibern, denen Hunger, Betrunkenheit, Mordlust aus den rot unterlaufenen Augen glühte. Dazwischen tanzte Klein-Zaches auf der Bettdecke und bohrte mir seinen winzigen Degen ins Gehirn, und Serpentine mit den großen blauen Augen ringelte sich erstickend um meinen Hals.

»Wie kommt sie nur zu solchen Phantasien?« hörte ich dazwischen meine Mutter sagen, die in aufopfernder Pflichterfüllung nicht von meinem Lager wich.

»Wie ist's nur möglich, daß die Malaria sie packen konnte?« sagte wohl auch der Arzt, der dem mörderischen Sumpffieber nur unten bei den Überschwemmten begegnet war.

Ich schwieg, viel zu müde, viel zu apathisch zum Sprechen; [87] denn einer großen Schwäche machte das Fieber Platz. Ich glaubte fest an meinen baldigen Tod, wunschlos, widerstandslos. Auch durch meiner Mutter gleichmäßig-freundliches Lächeln, das so beruhigend auf einen Kranken wirken konnte, wollte ich mich nicht täuschen lassen. Die Angst, die sich in meines Vaters Zügen malte, wenn er an mein Bett trat, schien mir mehr der Wahrheit zu entsprechen.

Und doch erholte ich mich, und langsam, ganz langsam kam mit der wachsenden Kraft die Freude am Leben wieder. Als ob er mir Dank schuldig wäre, weil ich lebte, so überschüttete mich mein Vater nun mit Geschenken: erwartungsvoll sah ich schon nach der Tür, wenn ich mittags den Schritt des Heimkehrenden hörte; Bücher, Blumen, Obst, Bonbons, – irgend etwas brachte er mir täglich. Wie gut waren überhaupt die Menschen, sie kümmerten sich alle um mich: jeden Tag hatte mein Lehrer den Arzt vor dem Hause erwartet, um direkte Nachricht zu haben, und jetzt schickte er mir seine schönsten Bücher; kein Regiment in der Stadt gab es, dessen Musikkorps der Genesenden nicht ein Ständchen gebracht hätte, und der gute alte General Kirchbach kam selbst in mein Krankenzimmer, um mir eine – Puppe auf die Kissen zu legen.

»Mit der Puppe, Mama, soll mal mein Töchterchen spielen!« sagte ich lächelnd, als er weg war, – denn mit dem Spielen war es für mich endgültig vorbei.

Nach drei Monaten sollte ich aufstehen; als ich mich grade erheben wollte und, von heftigem Schwindel gepackt, nach dem Bettpfosten griff, sah ich Blut auf dem Laken. Ich erschrak, denn ich wollte gesund sein. Aber schon hatte der Arzt mich umfaßt und sanft in die Kissen zurückgedrückt. Er lachte: »Also so steht's mit dem kleinen Fräulein! Die Kinderschuhe hat es richtig ausgetreten.« Verständnislos sah ich die Mutter an, der das Blut in die Schläfen gestiegen war. »Alles Nötige werden Sie Ihrer Tochter erklären,« damit wandte er sich zum Gehen. »Sie ist [88] erst zwölf Jahre, Herr Doktor –« entgegnete sie zögernd. »Tut nichts – tut nichts – so schwere Krankheiten bedeuten immer eine große Umwälzung«; er drückte mir nochmals die Hand: »Nun stehen wir hübsch ein paar Tage später auf.«

»Du brauchst dich nicht zu ängstigen, Alixchen,« damit wandte Mama sich mir wieder zu, als er fort war, und erklärte mir mit wenig Worten meinen Zustand. Ein Gefühl des Stolzes erfüllte mich: nun war ich also wirklich kein Kind mehr, – und meine Träume suchten die Zukunft: so kam denn endlich das Leben, das lockende, zauberreiche!

Während meiner Krankheit hatte ich mich so sehr gestreckt, daß kein Kleid mir mehr paßte. In den Wochen, die ich noch zwischen Bett und Sofa verlebte, trug ich meiner Mutter schleppende Schlafröcke, was mir sehr gefiel. Mein Bild im Spiegel, das mir so lange gleichgültig gewesen war, suchte ich wieder; und so blaß und so schlank ich auch war, es gefiel mir nicht übel: die großen dunkeln Augen, die schwarzen Locken über der weißen Stirn, die schmalen Hände mit den rosigen Fingerspitzen, – wer weiß, ob nicht doch noch etwas aus mir werden konnte!

Als wir mit unsern Koffern zum Bahnhof fuhren, von wo der Zug uns wieder gen Süden tragen sollte, hatte ich kein einziges verbotenes Buch mit durchzuschmuggeln versucht; mich verlangte es nicht, zu lesen, denn leben – leben und genießen – wollte ich!

[89]
4. Kapitel
Viertes Kapitel

Nach monatelangem Aufenthalt in den Bergen kehrten wir heim. Der Wind, der um den weißen Schaum der Gießbäche und über das blauschimmernde Firneis fegt, bringt soviel frische Kühle zu Tal, daß krankhafte Fieberhitze ihm nimmer stand hält; und der friedliche Klang der Herdenglocken und das nächtliche Zirpen der Grillen im Gras zaubert den ruhigen Schlaf zurück, auch wenn er noch so lange untreu war. Ein überraschtes »Aber, Alixchen!« von einem strahlenden Lächeln begleitet, war alles, was mein Vater zu sagen vermochte, als er uns in Posen wieder in Empfang nahm. Am nächsten Tage besuchten uns Verwandte, die dorthin versetzt worden waren; meine Cousine, die so alt war wie ich, ein kleines unansehnliches Geschöpfchen im kurzen Kinderkleid, sah staunend zu mir empor und sagte: »Du bist ja ein Fräulein!« Bald darauf kam mein Lehrer. Wortlos blieb er einen Augenblick an der Türe stehen. »Wie – wie geht es – Ihnen?« kam es dann zögernd über seine Lippen. Noch nie hatte er mich bis dahin »Sie« genannt! Der Sepp von Grainau fiel mir ein, den ich in diesem Sommer nur mit Mühe dazu gebracht hatte, bei dem gewohnten »Du« zu bleiben, und der Hans Guntersberg, der wieder in Garmisch gewesen war, und dessen huldigende Gedichte mir nur darum keinen Eindruck machten, weil ich die unreine Haut und die Schweißhände ihres Verfassers nicht vergessen konnte.

Ich war wirklich kein Kind mehr! Stillschweigend packte ich all mein Spielzeug in einen großen Korb und ließ ihn auf den Boden schaffen.

[90] Die neugewonnene Lebenskraft war wie ein Motor, der das ganze Räderwerk der Maschine auf einmal in Bewegung setzt: mit Feuereifer stürzte ich mich über meine Studien; dabei galt mir jeder Tag für verloren, an dem ich nicht ein Gedicht gemacht oder an irgendeinem meiner Dramenentwürfe gearbeitet hätte, zugleich aber schmückte ich mich mit Vergnügen für die Tanzstunde und genoß die Erlaubnis, an der Geselligkeit im Hause der Eltern teilzunehmen, mit vollen Zügen ...

Da liegen sie vor mir mit vergilbtem Umschlag und verblaßter Schrift, die alten Aufsatzhefte jener Tage, in denen ich vom Lehrer gestellte oder selbstgewählte Themen behandelte: kindischer Unsinn und frühreife Weisheit in buntem Gemisch. Daß meine Ansichten denen des Lehrers oft widersprachen, beweisen seine kritischen Randbemerkungen; trotzdem findet sich meist ein »Gut« oder »Recht gut« darunter, – als ein Zeugnis für seine Objektivität mehr als für die Richtigkeit meiner Auffassungen. Meine Frondeurnatur, die mich dazu trieb, allem, was ich hörte, zunächst einmal meinen Widerspruch entgegenzusetzen, zeigt sich fast in jeder dieser Arbeiten. Während mein Lehrer z.B. Schiller über alles liebte, pries ich Goethe; so heißt es in einem Aufsatz über die Balladen der beiden Dichter: »Goethe ist ein Naturdichter, das heißt ein Dichter von Gottes Gnaden. Daß das Werk, welches er schafft, ein Kunstwerk sein wird, ist ihm die Hauptsache. Schiller dagegen ist von andrer Art, denn ihm ist das Werk nur ein Mittel zum Moralpredigen,« – hier steht ein »Oh!!« des Lehrers daneben – »das sieht man an allen seinen Balladen, denen alle möglichen Lehren zugrunde liegen: Der Gang nach dem Eisenhammer lehrt, daß Gott die Unschuld beschützt; der Kampf mit dem Drachen, daß der Sieg über sich selbst größer ist als der über das Ungeheuer; die Bürgschaft und Ritter Toggenburg zeigen den Wert der Treue, und die Glocke ist fast ganz ein Lehrgedicht. Vergleichen wir damit Goethes Erlkönig, der nicht einen reflektierenden Gedanken [91] enthält, aber den Hergang so plastisch malt, daß wir ihn miterleben, oder seine prachtvollste Ballade, die Braut von Korinth, woraus uns der vernichtende Gegensatz des Heidentums gegenüber dem Christentum deutlich entgegentritt,« hier steht ein Fragezeichen, »so sehen wir ein, daß Goethe mehr ein Dichter und Schiller mehr ein Prediger ist.« – An einer andren Stelle sage ich über den Meistersang, den mein Lehrer sehr schätzte: »Er war trocken und langweilig und zeigte deutlich den Gegensatz des braven, aber engherzigen Handwerkertums gegenüber der ritterlichen Bildung der Minnesänger«; und über Luther, für den mein Lehrer mich trotz aller Mühe nicht erwärmen konnte, heißt es: »Er hat das große Verdienst, die Macht des Papsttums gebrochen zu haben, aber seine Roheit, sein Unverständnis für die Kunst hat seiner Kirche den Charakter des Gewöhnlichen und Nüchtern-Häßlichen aufgeprägt«, – daneben steht: »Der Kölner Dom?« »Dürer?« »Bach?« – In den zahlreichen historischen Aufsätzen schwelgte ich förmlich im »Tyrannenhaß«. In einer Arbeit von nicht weniger als vierundsechzig Seiten, die die politischen Umwälzungen in Europa vom Dreißigjährigen Krieg bis zur französischen Revolution zum Gegenstand hatte, suchte ich nachzuweisen, »wohin ungerechte Regierung, Volksbedrückung, Verachtung alles Göttlichen führt ... Schlechte, nur auf ihr Vergnügen bedachte Fürsten, eine verdorbene Aristokratie, ein armes, durch übertriebene Aufklärungsschriften irregeleitetes Volk standen sich gegenüber. Alles bereitete eine Zeit vor, die schrecklich, aber notwendig war.« Unter den Fürsten der Neuzeit beehrte ich Friedrich Wilhelm III. mit meinem ganz besondern Zorn, den »die Taten seiner Untertanen berühmt gemacht haben, und der sich dadurch bei ihnen bedankte, daß er sein Versprechen brach ...« Stein feierte ich als den »Retter des Vaterlandes, der in Frieden erreichen wollte, was der Zweck der französischen Revolution gewesen war.«

Häufig pflegte mein Vater meine Aufsätze einer Kritik zu [92] unterwerfen, die fast immer dem Stil, sehr selten nur der Gesinnung galt. Nach rückwärts radikal zu sein, wie sein Töchterchen, sich für vergangene Völkerfreiheitskämpfe zu begeistern, sich über die Schandtaten der Fürsten, die lange schon moderten, zu entrüsten, widersprach im allgemeinen nicht den Ansichten der Offizierskreise, in denen wir lebten. Sie befanden sich damals, besonders in der Provinz, in einem scharfen Gegensatz zu den Ideen und Gewohnheiten, die an unsern Fürstenhöfen herrschten. Der Luxus galt als verächtlich, die Ehrbarkeit eines einfachen Familienlebens als größtes Gut. Das persönliche Verhältnis, in dem der unbemittelte Linienoffizier noch oft zum Soldaten stand, war die Brücke des Verständnisses für viele Wünsche und Bedürfnisse des Volks. Mit wieviel Heftigkeit hörte ich oft darüber reden, daß es »oben« an der nötigen Sorge für vorhandene Not fehle, daß das »Hofgeschmeiß« vor lauter Lustbarkeit die preußische Tradition der Pflichterfüllung immer mehr vergesse. Als mein Vater einmal von irgendeiner Meldung aus Berlin zurückkam, vermochte kein warnendes »Aber Hans!« meiner Mutter, keiner ihrer bedeutungsvollen Seitenblicke auf mich seine Empörung zu besänftigen, die sich in drastischen Erzählungen über das, was er gehört und gesehen hatte, Luft machte. Der zunehmende Einfluß der Finanzkreise, die Demoralisierung der Garde durch ihre Intimität mit »Theaterprinzessinnen« und ihre Verschwägerung mit »Börsenjobbern«, der unpreußische Prunk der Hoffeste, die Vetternwirtschaft, wo es sich um Avancements handelte, – das alles wurde immer wieder besprochen, und ein »Da wird noch was Gutes dabei herauskommen« blieb der Refrain. Aber Hand in Hand mit dieser abfälligen Kritik derer »oben«, ging eine schroffe Verurteilung jeder Auflehnungsversuche derer, die »unten« sind. Das patriarchalische Verhältnis war das Ideal, was dagegen verstieß, ein Verbrechen. So war mein Vater ein grimmiger Feind des großindustriellen Unternehmertums – Worte wie »Ausbeuter« [93] und »Blutsauger« hörte ich oft von ihm –, mit derselben Heftigkeit aber verurteilte er die Ausgebeuteten und Ausgesogenen, die sich selbst Recht verschaffen wollten. Beide standen nach seiner Auffassung auf demselben Standpunkt materiellen Lebensgenusses; nur daß die einen ihn besaßen, ihn bis zum letzten Tropfen auskosten wollten, die andern mit allen Mitteln um seinen Besitz kämpften. Inhalt und Ziel des Lebens war für beide gleich; – so schien es auch mir nach allem, was ich hörte und las, darum habe ich bei all meiner Begeisterung für die Freiheitshelden der Geschichte, die Sozialdemokraten nicht mit ihnen zu identifizieren vermocht, und meine Abneigung stieg zu fanatischem Abscheu, als Kaiser Wilhelm, der für uns alle das geweihte Symbol der Einheit und Größe Deutschlands war, von Hödel bedroht und von Nobiling verwundet wurde.

Oben auf dem Fort Winiary, wo ein großer schattiger Kasinogarten die Posener Offizierskreise im Sommer zu vereinigen pflegte und ich, die verwöhnte Tochter des allmächtigen Korpschefs, mit den Erwachsenen Krocket und Boccia spielte, saßen wir gerade fröhlich um den Kaffeetisch, als ein blutjunger Leutnant atemlos auf uns zugestürzt kam. »Herr Oberst, Herr Oberst –« mehr brachte er nicht heraus, die dicken Tränen liefen ihm über die Wangen. »Zum Donnerwetter, was gibt's denn?« herrschte mein Vater ihn an. »Seine Majestät unser allergnädigster Kaiser –« er versuchte stramm zu stehen wie zur Meldung, aber die Knie zitterten ihm – »ist – ist erschossen.« Mit einem wilden Aufschluchzen brach er ab. Mein Vater wurde aschfahl. »Das ist nicht wahr,« schrie er. Stumm reichte ihm der Unglücksbote ein halb zerknülltes Papier – das Extrablatt. Aus dem ganzen Garten waren inzwischen die Menschen zusammengelaufen, Soldaten und Offiziere, Männer und Frauen, jung und alt. Alle weinten. Mein Vater allein stand wie erstarrt zwischen ihnen, nur das stahlblaue Funkeln seiner Augen verriet, wie es in ihm aussah. Wortlos, von jener gemeinsamen [94] Empfindung getrieben, die uns angesichts erschütternder Ereignisse stets beherrscht: daß etwas geschehen müsse – irgend etwas, das die gräßliche Spannung löst –, eilten wir alle dem Ausgang zu. Als wir uns der Stadt näherten – aus den Fenstern der ersten Häuser wehten vereinzelt schon schwarze Tücher, vom Turm der Garnisonkirche läuteten die Glocken – und wir die weite Sandfläche des in der Sonne glühenden Kanonenplatzes betraten, kam uns ein Mann mit einem Stelzbein entgegen, auf dem abgetragenen Arbeitsrock ein sichtlich in aller Eile befestigtes eisernes Kreuz. »Der Kaiser lebt, der Kaiser lebt,« rief er, eine neue Depesche hochhaltend. Wir hatten das Neue, Überraschende noch kaum gefaßt, als er seinen schäbigen Hut zwischen die harten Fäuste preßte: »Lieber Vater im Himmel« – alle Mützen flogen von den Köpfen, alle Hände falteten sich – »schütze unsern guten Kaiser!«

Mein Vater war in jenen Tagen in unbeschreiblicher Aufregung; mitten im Gespräch oder bei der Lektüre konnte er auffahren und zähneknirschend murmeln: »Aufhängen soll man die Kerle – einen neben den andern!« Ich aber verkroch mich in mein Zimmer und versuchte die große Erschütterung dadurch zu bemeistern, daß ich sie in Worte faßte. In Versen und in Prosa brachte ich meine Empfindungen zu Papier, und eines Morgens legte ich meinem Vater das Niedergeschriebene auf den Schreibtisch. Seine Freude war so groß, daß er es kopieren ließ und Bekannten und Freunden zeigte; auch mein Lehrer, der entzückt schien, verbreitete es. Wenn auf einen Punkt konzentrierte, fieberhaft gesteigerte Empfindungen die Massen beherrschen, so wird von ihnen stets begrüßt, was diesen Gefühlen Ausdruck verleiht. So kommt's, daß oft künstlerisch Wertloses in aufgeregten Zeiten Bedeutung erlangt; so kam es wohl auch, daß meine Verse mich über den engern Kreis der Freunde hinaus bekannt machten. Begegnete man mir schon anders als sonst dreizehnjährigen Mädchen, weil ich erwachsen aussah und hübsch und [95] meines Vaters Tochter war, so umgab man mich jetzt mit einer Treibhausluft, in der Eitelkeit und Hochmut wie Tropenpflanzen wuchern konnten. In der Tanzstunde, die ich besuchte, nahm ich die Huldigungen der Gymnasiasten entgegen, die nicht nur meiner frischen Jugend galten, sondern auch den literarischen Leistungen, die, wie ich erfuhr, in Gestalt meiner Aufsätze durch meinen Lehrer in der Klasse bekannt wurden. In den häuslichen Gesellschaften und auf dem Fort Winiary suchten die jungen Offiziere die Unterhaltung des »interessanten« Backfischs, und meine einzige Freundin Mathilde – jenes blasse Cousinchen, das mich bei der Heimkehr begrüßt hatte, – war eine Bewunderung für mich. Meine Mutter war die einzige, die ernüchternd wirken wollte. Da sie aber meine Interessen in Bausch und Bogen als »dummes Zeug« bezeichnete und die Methode hatte, jede, auch die reinste Flamme meiner Begeisterung mit dem kalten Wasser ihrer sarkastischen Kritik zu begießen, so erreichte sie das Gegenteil von dem, was sie bezweckte, und entfremdete mich ihr dadurch vollkommen. So allein wurde es möglich, daß sie ahnungslos neben mir hergehen konnte, als die schwersten körperlichen und geistigen Kämpfe mich zu vernichten drohten.

Seit meiner Krankheit hatte ich allerlei Beschwerden, die sich von Jahr zu Jahr steigerten. Blutwallungen, die mir den Kopf zu sprengen drohten und den Herzschlag bis in die Kehle hinauf trieben, hatten mich schon in Grainau gequält. Instinktiv war ich dann auf die Berge gelaufen, oder war beim ersten Morgengrauen heimlich im eisigen Wasser des Rosensees untergetaucht. In Posen aber war ich fast immer zu Haus; die kleinen Spaziergänge, das in Rücksicht auf meinen stets empfindlichen Hals nur bei Sonnenschein und Windstille gestattete Schlittschuhlaufen halfen mir natürlich nichts; turnen durfte ich nicht, weil das – wie Mama sagte – die Hände breit macht; und die Tanzstunde mit der guten Bowle, an der es nie fehlte, steigerte nur das Quälende meines Zustandes. Etwas Heißes, Dunkles beherrschte [96] mich mehr und mehr; abends, wenn ich schlafen wollte, flogen Glutwellen über meinen Körper. Meine tobenden Freiheitsgesänge machten Liebesliedern Platz, die ich aus Scham und Furcht zu tiefst in meinem Schreibtisch versteckte. Ihr Gegenstand war zuerst ein Phantasiegebilde, ein erlösender Lohengrin, wie in meiner frühen Kindheit, bald aber wurden es Menschen von Fleisch und Blut. Nicht aus der Schar meiner Tanzstundenfreunde wählte ich sie, sondern aus dem Bekanntenkreise meiner Eltern. Die Schönheit gab dabei allein den Ausschlag, mit allem übrigen – dem Glanz der Geburt, dem überragenden Geist und der Güte des Herzens – schmückte sie meine Phantasie verschwenderisch. Ganze Romane erlebte ich in wachen Träumen; alle Stadien der Leidenschaft empfand ich: Abschied und Wiedersehen, Eifersucht und Untreue, Besitz und Verlust; und mit fieberheißen Händen füllte ich Bücher um Bücher mit meinem erträumten Glück und Leid.

Wie sie mich seltsam anmuten, die alten Poesiealbums mit ihren bunten geschmacklosen Einbänden: Asche, die von verpufftem Feuerwerk stammt. Der Schmerz bildet überall den Grundakkord, die Qual der Verlassenheit kommt immer wieder zum Ausdruck, und der Wunsch, zu sterben, steigert sich oft zu brennendem Verlangen nach dem Tod:


Einstmals blühtest du wunderbar,
Rose, du prächtige, süße,
Sandtest zum Himmel blau und klar
Duftend-berauschende Grüße.
Einstmals füllte der Liebe Macht
Mich mit Wonnen und Schmerzen,
Und es strahlte des Lenzes Pracht
Wider in meinem Herzen.
Jetzt ist die Rose verwelkt, verweht,
Herbstlich umbraust mich das Wetter;
Eines nur blieb, das den Sturm besteht:
Dornen und dürre Blätter.

[97] * * *


Im dunklen Buchengang
Zur schönen Frühlingszeit
Hast du mich heiß geküßt
Voll Liebesseligkeit.
Im dunklen Buchengang
Fielen die Blätter ab,
Als ich zum Abschied dir
Weinend die Hände gab.
Im dunklen Buchengang
Liegt unter Eis und Schnee,
Begraben all mein Glück –
Wach blieb mein Weh.

* * *


Ich möchte zu Roß durch die Wälder jagen,
Ich möchte, der Meersturm umbrauste mich,
Ich möchte jauchzen und schluchzend klagen,
Zu deinen Füßen, ach, stürbe ich!
Ich möchte entfliehen und dich vergessen,
Den Lippen fluchen, die ich dir bot.
Ich möchte noch einmal ans Herz dich pressen,
Und dann umarmen den Bräut'gam Tod.

In artigen Reimen mit wohlerzogenen Gefühlen stellte ich zu gleicher Zeit meine arme Muse zu allen Festtagen in den Dienst der Familie und nahm für mein »hübsches Talent« die allgemeine Anerkennung entgegen. Nur eine erfuhr zuweilen von den Geheimnissen meines Schreibtisches: Mathilde, das blasse Cousinchen, die allsonntäglich zu mir kam, und zu der ich lief, wenn das Herz mir gar zu voll war. Sie war, als ich sie kennen lernte, noch ein Kind ihrem Alter, ihrer geistigen und körperlichen Entwicklung nach, und ich hätte sie nicht beachtet, wenn sie mir nicht in einem Moment begegnet wäre, wo ich einen Menschen brauchte, wie der schmelzende Schnee auf den Bergen ein Bett, in das er sich ergießen kann. Ich hatte kein[98] andres Interesse für sie als das, daß sie mich aufnahm. Abends in der Dämmerstunde, oder in den Zeiten, wo ich zu Bett lag, halb verhüllt von den weißen Vorhängen, während das rote Licht der Ampel über mir strahlte, mußte sie bei mir sitzen. Dann erzählte ich von meiner Liebe, meiner Sehnsucht. Was ich im Traum erlebte, gestaltete sich vor ihr wie Wirklichkeit. Sie glaubte mir alles, sie weinte und seufzte mit mir; und je mehr sie es tat, desto mehr verwischte sich vor mir selbst Phantasie und Leben, desto mehr verirrte ich mich in den Irrgängen meiner Einbildungen.

Um jene Zeit war es, daß meine Mutter eine neue Kammerjungfer engagierte, die, im Gegensatz zu der entlassenen, auch mich anzuziehen und zu frisieren hatte. Sie war ein hübsches, blondes Ding mit einem unschuldigen Madonnengesichtchen, Tochter einer ehrbaren Beamtenwitwe, die durch Zimmervermieten ihre große Familie erhielt und ihre Kinder in strenger Zucht und Frömmigkeit erzog, weshalb sie meiner Mutter ganz besonders empfohlen worden war. Anna – so hieß unsre neue Hausgenossin – fand besonderes Gefallen an mir und wiederholte mir täglich, wie hübsch ich sei, wobei sie es nicht unterließ, jeden einzelnen meiner Vorzüge zu preisen und mir alle Mittel anzugeben, um sie ins rechte Licht zu setzen. Ich war eitel, aber es war mir von selbst nie eingefallen, auf gut sitzende Korsetts, enge Schuhe und feine Strümpfe irgendein Gewicht zu legen. Jetzt wurde ich Annas gelehrige Schülerin, und freudeheiß stieg mir das Blut ins Gesicht, wenn sie nicht müde wurde, mir zu versichern, daß der und jener mich bewundernd ansähe, daß ich die Herzen einmal im Sturm erobern werde. Allmählich nahm sie die Gewohnheit an, bei mir zu bleiben, wenn ich nicht schlafen konnte und die Eltern nicht zu Hause waren. Flink, wie ihre geschickten Hände die Nadel führten, um aus einem scheinbaren Nichts immer noch ein hübsches, kokettes Etwas zu machen, war ihre Zunge im Erzählen. Aber sie kannte nur ein Thema: [99] Liebesgeschichten, die sie gelesen oder erfahren hatte. Von der unnahbaren Höhe ihrer Tugend herab war ihre Entrüstung über das, was sie berichtete, eine ganz ehrliche, und doch schwelgte sie mit kaum versteckter Lüsternheit in ihren Schilderungen. Und so riß sie nach und nach einen Schleier nach dem andern von all den Dingen, die mir trotz meiner heimlichen Lektüre doch unbekannt geblieben waren. Schon als Kind hatte sie durchs Schlüsselloch die Zimmerherrn ihrer Mutter beobachtet, hatte Damen aller Art bei ihnen aus und ein gehen sehen. Sie selbst – das erzählte sie voll Stolz – war niemals den Verführungskünsten der Herren erlegen, wie die dummen, jungen Dinger, die sie mit aufs Zimmer nahmen. Aber all die guten Sachen, den Sekt und die Austern, hatte sie servieren helfen und neugierig beobachtet, wie die Mädels sich an Liebe und Alkohol berauschten. Freilich – nachher mußten sie ihre Dummheit büßen; denn sobald das Kind da war, ließen die Herren sie laufen. – Das Kind! – Noch fühle ich, wie etwas Schreckhaft-Geheimnisvolles mir die Glieder lähmte, als mir, der Dreizehnjährigen, dies Wort aus Annas Mund feuerrot entgegensprang. – Das Kind! – An den Storch glaubte ich längst nicht mehr, aber wie die Liebe in meinen Augen immer von überirdischem Strahlenglanz umgeben erschien, so schwebte um das Geheimnis des der Liebe entspringenden Lebens ein mystischer Heiligenschein.

Wie Anna mich auslachte, mit einem hellen quiekenden Lachen, als ich zögernd meine Unkenntnis gestand! Und wie das junge Ding mit den naiven blauen Frageaugen mich aufklärte! – – Sie war so vertieft in alle Details der Beschreibung, daß sie gar nicht bemerkte, wie das Entsetzen mich schüttelte und meine Brust vor verhaltenem Schluchzen flog; das fröhliche Kichern, mit dem sie ihre Rede begleitete, verriet ihre Freude an ihrem Gegenstand, so daß sie schließlich ratlos und kopfschüttelnd vor der Verzweiflung stand, die mich gepackt hatte. »Am Ende« – so mochte sie denken – »fürchtet sie jetzt schon den [100] Moment des Gebärens, dessen Qualen ich beschrieb?!« Und mit noch größrer Zungenfertigkeit erzählte sie von den Vorsichtigen und Klugen, die sich vor solchen Konsequenzen zu hüten verstehen, und von den Dirnen, die in die Gefahr gar nicht kommen und von den Männern darum am meisten begehrt werden.

Ich hörte zu weinen auf und horchte hoch auf. O, die Kleine war gut orientiert! War sie doch oft genug zu Botengängen benutzt worden und zur intimsten Kenntnis des Lebens und Treibens der Halbwelt gelangt! Feine Damen gab es darunter, die in Samt und Seide gingen und sich teuer bezahlen ließen. »Bezahlen?!« – ich kämpfte schon wieder mit den Tränen. »Liebe bezahlen?!« Anna kicherte: »Liebe! –« und sie verfiel wieder in Detailschilderungen. »Pfui! – Pfui!« schrie ich auf und preßte die Hände um den Kopf; mir war, als brächen dröhnend die Mauern über mir zusammen. Halb von Sinnen richtete ich mich auf im Bett und stieß mit der Faust gegen das Mädchen, so daß es aufheulend vom Stuhle fiel.

Mama erkundigte sich am nächsten Morgen teilnehmend um ihr geschwollenes Gesicht; sie sprach von »Zahnschmerzen«, ich schwieg. Nicht ein Wort von dem, was geschehen war, hätte ich zu sagen vermocht. Ich ging umher, und meine Scham war wie ein glühender Mantel, der meinen ganzen Körper dicht umschloß. Ich wurde die Bilder nicht los, während der Ekel mir die Kehle zukrampfte. Das – das war Liebe – Liebe, von der ich geträumt hatte, an der alle meine Gedanken sich entzündeten, die alle Dichter als das Schönste und Höchste priesen! – Ich wollte nicht mehr daran denken – ich wollte nicht. Aber dann stiegen neue Fragen auf, und Zweifel, und an leise Hoffnungen klammerten sich die alten Ideale. An wen hätte ich mich wenden sollen, als an Anna, vor der die Scham am leichtesten überwunden war? »Nur die ganz schlechten, ganz gemeinen Männer, nur die Verbrecher sind – so?« Welch eine Erlösung wäre ein Ja gewesen! Aber Anna unterstrich [101] und erläuterte das »Nein« doppelt und dreifach. Und nur in ganz hellen, frohen Stunden – sie waren selten genug – triumphierte mein Idealismus, und die alte Schöpferkraft meiner Phantasie schuf sich reine Lichtgestalten.

Wenn aber nachts mein Herz und mein Blut mir keine Ruhe ließen, so verfolgten mich unablässig die gräßlichsten Träume. Verzweifelt kämpfte ich dagegen an, – wie um meiner zu spotten, kamen sie mit doppelter Gewalt wieder. Am Tage war ich todmüde, dunkle Ringe umschatteten meine Augen, und die Überzeugung meiner abgrundtiefen Schlechtigkeit machte mich scheuer und verschlossener noch als vorher. Wenn meine Mutter abends an mein Bett trat und, dunkelrot im Gesicht, mit drohender Stimme sagte: »Hüte dich vor der geheimen Sünde!« so verstand ich sie zwar gar nicht, senkte aber doch schuldbewußt die Augen.

Mehr als je war ich damals mir selbst überlassen, aber nur ein Zufall ließ mich erfahren, warum. Das Flüstern um mich her, das vielsagende Lächeln, all die weißen Linnenhaufen, die genäht und sorgfältig vor mir versteckt wurden, hatten mich schon neugierig gemacht. Daß Mama vielfach leidend war, jeder Frage danach aber auswich und tief errötete, wenn sie dennoch antworten mußte, erschien mir auch seltsam genug. Ein Satz in einem Brief der Großmutter, den man mir achtlos zu lesen gegeben hatte, klärte mich auf: Mama war guter Hoffnung. »Guter Hoffnung«, – beinahe komisch kam mir der Ausdruck vor, wenn ich sie beobachtete: ihre zusammengezogenen Brauen, ihre aufeinandergepreßten Lippen, die sich kaum mehr zu einem Lächeln öffneten, ihr Klagen und Seufzen. Nein, die Hoffnung war für sie keine gute. Es schien fast, als schäme sie sich ihrer, da sie sie sorgfältig verbarg. Und in Gedanken an Annas Erzählungen errötete auch ich, wenn ich in Gegenwart der Eltern daran dachte. Sie sprachen niemals von dem, was sich vorbereitete; und erst als mein Schwesterchen geboren worden [102] war, wurde mir das Ereignis vom Vater angekündigt. Seine rührende Freude wirkte ansteckend auf mich, und es gab Stunden, wo der Gedanke an das hilflose kleine Wesen in der Wiege wie eine Erlösung über mich kam: hier war eine Aufgabe für mich, die mich mir selbst entreißen konnte. Und hielt ich es in den Armen, das süße weiße Körperchen, so gingen mir die Augen über vor zärtlicher Liebe, und heimlich schwor ich mir zu: dich will ich behüten vor all der Qual, die ich erlitt. Aber die polnische Amme, ein leidenschaftliches Geschöpf, das mit der angstvollen eifersüchtigen Liebe wilder Tiere an dem Säugling hing, als wäre er ihr eignes Kind, tat, was sie konnte, um mich fernzuhalten; auch meine Mutter schien mich in der Kinderstube ungern zu sehen, und so ging ich bald wieder meine einsamen äußeren und inneren Wege.

Eines Tages, als ich verspätet wie immer an den Frühstückstisch trat – ich pflegte erst gegen Morgen tief und ruhig zu schlafen –, belehrte mich ein Blick auf die Eltern, daß sie eine heftige Auseinandersetzung gehabt hatten. Das war mir zwar nichts Neues, denn Mama sah neuerdings häufig verweint aus, und Papa wurde beim kleinsten Anlaß heftiger denn je, – an der kurzen Begrüßung merkte ich aber, daß ich die Ursache ihres Streits gewesen sein mußte.

»Da lies!« sagte mein Vater und reichte mir ein längeres Schreiben mit der Unterschrift unseres Garnisonpfarrers. Es lautete:


Posen, den 6. Januar 1879


Hochverehrter Herr Oberst!


Sie werden es mir nicht verübeln können, wenn ich als Seelsorger unsrer Gemeinde, dem das ewige Heil aller ihrer Glieder am Herzen liegt, im Interesse Ihrer Tochter diese Zeilen an Sie richte.

Schon seit längerer Zeit habe ich beobachtet, und aus vielen mir zugegangenen Berichten wohlwollender Männer und Frauen schließen können, welch ernster Gefahr Alix entgegen geht. Das [103] vielleicht durch eine größere geistige Begabung irregeleitete Kind hat viel von jener echten jungfräulichen Demut und Bescheidenheit, die der Schmuck jeder christlichen Familie ist, verloren, und ihre junge Seele dem Teufel des Hochmuts zu überliefern schon begonnen. Ich hätte mich aber trotzdem in Ihre Entschlüsse und die Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin noch nicht einzumischen gewagt, wenn mir nicht kürzlich eine Mitteilung gemacht worden wäre, deren Richtigkeit ich nicht anzweifeln kann. Danach hat Ihre Tochter einem jungen, noch ganz unverdorbenem Mann gegenüber erklärt, daß der Opfertod unsers Herrn und Heilandes ihr nicht anbetungswürdig erscheine; jeder Mensch würde freudig zu sterben bereit sein, wenn er wüßte, daß er dadurch die Menschheit erlösen könne. Für einen Gottessohn, der seiner ewigen Seligkeit gewiß sei, wäre dies also keine bewundernswürdige Tat. Sie fügte noch hinzu, daß Unzählige aus weit geringeren Ursachen ruhig in den Tod gegangen wären.

Es ist mir, Gott sei Lob und Dank, mit des Herrn gnädiger Hilfe gelungen, den jungen in seiner christlichen Überzeugung durch Ihre Tochter erschütterten Mann auf den Weg des Glaubens zurückzuführen; nunmehr aber habe ich die Pflicht, Sie, hochverehrter Herr Oberst, inständig zu bitten, Ihr irregeleitetes Kind dem Einfluß eines Seelsorgers anzuvertrauen, der diese Menschenblume in das Licht des Gotteswortes rückt, und sie von all dem bösen Ungeziefer befreit, das an ihr nagt.

Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich in persönlicher Unterredung meinen Rat zu einer Tat werden lassen könnte.

Genehmigen Sie, hochverehrter Herr Oberst, den Ausdruck meiner ausgezeichneten Hochachtung,

mit der ich verbleibe
Ihr ganz ergebener

Eberhard Pfarrer.


[104] »Nun, was sagst du dazu?« fragte mein Vater, der immer ungeduldiger mit den Fingern auf dem Tisch trommelte, so daß Gläser und Tassen klirrten.

»Gemein!« war das einzige, was ich zunächst hervorbringen konnte.

»Genau dasselbe habe ich gesagt!« polterte Papa. »Ein netter unverdorbener Jüngling, der mit frommem Augenverdrehen hingeht und meine Tochter beim Herrn Oberbonzen verpetzt. Ich hätte Lust, dem Kerl die Hosen stramm zu ziehen und dem Eberhard die blauen Flecke als einzige Antwort zu zeigen!«

»Du solltest aber doch erst hören, lieber Hans, wie weit Alix schuldig ist,« warf Mama erregt ein.

»Ich habe gesagt, was er schreibt, und bin bereit, es ihm ins Gesicht zu sagen!« rief ich und warf trotzig den Kopf zurück.

Mama preßte die Lippen zusammen, was ihrem schönen Gesicht etwas Grausames gab. »Da hörst du es,« sagte sie; »das sind die Früchte der religionslosen Erziehung. Du hast es nicht anders gewollt, und ich habe um des lieben Friedens willen nachgegeben. Jetzt aber hab' ich genug, übergenug davon! Pfarrer Eberhard werde ich antworten.«

Damit ging sie hinaus. Mein Vater sprang wütend auf. Mich packte die Angst: nur keine neue Szene! Und all die Sünden fielen mir ein, deren ich mich tatsächlich schuldig fühlte. Ich trat Papa in den Weg. »Sei nicht böse, bitte, bitte nicht,« bat ich schmeichelnd, »es ist vielleicht wirklich das Beste, wenn ich Religionsstunden bekomme. Ich bin ja doch bald vierzehn Jahre alt. Und schaden werden sie mir gewiß nichts!« Mein Vater, der mit ein wenig Zärtlichkeit gelenkt werden konnte wie ein Kind, zog mich gerührt in die Arme, als ich, um meiner Bitte Nachdruck zu geben, meine Wange auf seine Hand preßte. »Und der Bengel, das schwatzhafte alte Weib?« brummte er noch. »Den strafe ich mit Verachtung,« lachte ich.

[105] Meine Mutter trat wieder ein. »Hier ist meine Antwort,« sagte sie: »Sehr geehrter Herr Pfarrer! Sie sind unsern Wünschen zuvorgekommen. Die rasche Entwicklung unsrer Tochter macht eine frühere Einsegnung nötig, als es sonst üblich ist. Wir haben sie daher auf das nächste Jahr festgesetzt und bitten Sie, uns mitzuteilen, wann der Vorbereitungsunterricht beginnt, zu dem wir Ihnen unsre Alix anvertrauen wollen. Auf die Klatscherei des jungen Mannes einzugehen, widerspricht unsern elterlichen Empfindungen ...«

»Ich habe damit nicht etwa dich, sondern unseren guten Ruf in Schutz genommen,« fügte sie rasch, zu mir gewendet, hinzu.

Bald darauf begann der Unterricht. Sehr befriedigt, von einer neuen frohen Hoffnung erfüllt, kam ich aus der ersten Stunde nach Hause. »Meine Türe und mein Herz stehen euch jederzeit offen,« hatte der Pfarrer gesagt, »ihr könnt mit allem, was euch bedrückt, mit euren Leiden und Zweifeln zu mir kommen. Ich werde mich immer bemühen, euch zu verstehen und euch zu helfen.« Die harmlosen Kindergesichter meiner Mitschülerinnen – Offizierstöchter wie ich, die natürlich von den übrigen Gemeindekindern gesondert unterrichtet wurden – legten mir unwillkürlich während unseres Zusammenseins bei ihm Schweigen auf. Um so häufiger wollte ich allein zu ihm gehen. Herzklopfend trat ich das erstemal bei ihm ein. In vagen Andeutungen, die gewiß nur ein guter und gütiger Physiologe hätte verstehen können, sprach ich ihm von den bösen Gedanken und häßlichen Phantasien, die ich vergebens zu vertreiben versuchte. Ein »hm, hm,« und »so, so,« und ein erstauntes Kopfschütteln war zunächst die einzige Antwort. In sichtlicher Verlegenheit, die Handflächen nervös aneinanderreibend ging er im Zimmer auf und ab, blieb abwechselnd vor dem Gummibaum am Fenster, dem Stahlstich des Gekreuzigten über seinem Schreibpult und der Sammlung von Familienphotographien auf dem Bücherbrett stehen, die er eingehend zu betrachten schien, [106] um sich endlich, wie unter dem Einfluß eines raschen erleuchtenden Gedankens, mir wieder zuzuwenden. Über den Tisch hinweg streckte er mir beide Hände entgegen, fleischige, weiche Hände, die sich anfühlten, als hätten sie weder Knochen noch Muskeln. Eine physische Abneigung ließ mich zögern, die meinen hineinzulegen. »Nun, mein Kind,« sagte er und hob sie auffordernd, »habe Vertrauen zu deinem Seelsorger! Wie ich jetzt deine Hände fasse« – seine runden Finger legten sich um die meinen, als wären es lauter nackte, klebrige Schnecken – »so wird Gott die flehend zu ihm erhobenen Hände deiner Seele ergreifen und dich aufrichten vom Staube! Das sind Versuchungen des Bösen, denen du ausgesetzt bist. Je mehr dein Glaube lebendig werden wird, je inniger du zu beten lernst, desto sicherer wirst du ihn überwinden.« – Ich zog leise meine Hände aus den seinen und rieb sie unter dem Tisch heimlich an meinem Kleide ab. Er fing an, mich zu examinieren, ob, wie oft und wann ich bete, ob ich zu unserm Herrn und Heiland in kindlich-vertrauendem Verhältnis stünde, ob ich fleißig die Bibel läse. Nach kurzem Kampfe gegen ein starkes inneres Widerstreben antwortete ich ihm, wie es der Wahrheit entsprach, war ich doch zu ihm gekommen, beseelt von dem aufrichtigen Wunsch, erlöst zu werden von meinen Qualen, getrieben von der Sehnsucht, mir einen neuen, dauernden Tempel bauen zu können, wo ich zu einem lebendigen Gott zu beten vermöchte! Er runzelte die Stirn, »das ist ja sehr, sehr traurig und unerhört für eine christliche Familie!« rief er aus. Ich beeilte mich, die Eltern zu verteidigen: »O wir beten immer bei Tisch, Mama liest jeden Morgen eine Andacht, und in die Kirche gehen wir auch jeden Sonntag!« – »Um so unbegreiflicher, daß ein so junges Kind, wie du, der Verführung des Bösen erliegen konnte.« Ein neuer Gedanke schien ihm durch den Kopf zu gehen, scharf sah er zu mir hinüber: »Was liest du denn?« frug er. Ich erschrak; sollte ich ihm das Geheimnis meiner schönsten Stunden verraten?![107] Ein tiefes, schmerzliches Aufatmen – es mußte sein – mußte sein, um meines Heiles willen! Zu jener Zeit hatte ich angefangen, mir aus Papas Bücherschrank Goethes Werke zu holen, – einen Band nach dem andern. Wenn ich mich darin vertiefte, so war ich am sichersten vor mir selbst: wie hatte ich mich für Iphigenie begeistert, um Gretchen geweint, und Werthers Leiden hatte ich mir gekauft, um sie immer in der Tasche tragen zu können. Ich pflegte sie herauszuziehen, wie der katholische Priester sein Brevier, wenn er sich vor Anfechtungen schützen will.

»Das ist ja unerhört, unerhört!« unterbrach der Pfarrer meine Beichte, und seine Stimme überschlug sich, wie in der Kirche, sobald er von der Fleischeslust sprach. »Da es dein ernster Wille zu sein scheint, dich zu bessern,« sagte er dann so laut, als hätte er die Rekruten der ganzen Garnison vor sich, »so wirst du tun, was ich von dir verlangen muß: du rührst diese verwerflichen Bücher während der Zeit des Konfirmandenunterrichts nicht mehr an. Du liest nur, was ich dir gebe. Du kommst jedesmal eine Viertelstunde früher zur Stunde zu mir als die andern Kinder, damit sie in ihrer Unschuld nicht gefährdet werden. Versprichst du mir das?« Ich senkte stumm den Kopf; noch einmal legten sich seine Finger um die meinen, dann war ich entlassen. Wie zerschlagen schlich ich nach Hause. Aber ich war fest entschlossen, zu tun, was er verlangt hatte.

Am nächsten Morgen gab es zu Haus eine böse Szene: Pfarrer Eberhard hatte meinen Eltern über meinen Besuch Bericht erstattet und sie aufgefordert, sein »schweres Rettungswerk« zu unterstützen. Ich sah wohl, daß meines Vaters Zorn sich mehr gegen den Pfarrer, als gegen mich richtete, aber wie immer, wenn Mama mit ihrer ganzen Energie auftrat, überließ er ihr das Feld, mir nur unter heftigem Händedruck ein »verdammte Pfaffen« zuflüsternd. Alle meine Schubfächer wurden untersucht, alle Bücher konfisziert, die in die Rubrik: Lehrbücher und Backfischliteratur nicht hineinpaßten; der Schlüssel [108] vom Bücherschrank wurde abgezogen, – nur die verborgenen Schätze im Sofa blieben unentdeckt. Ich befand mich in einer unbeschreiblichen Aufregung: Der erste Mensch, an den ich mich hilfesuchend gewandt, vor dem ich mein Inneres enthüllt hatte, wie vor keinem bisher, vertraute mir so wenig, daß er mich überwachen ließ wie einen Verbrecher! Auch mit meinem Lehrer hatte Mama an demselben Tage eine längere Unterredung, von der er sehr rot und verschüchtert zu mir kam. Er umging von da an noch vorsichtiger als sonst jede Berührung religiöser Fragen. Er wurde überhaupt immer scheuer vor mir und war seltsam zerstreut.

Eine unüberwindbare Bitterkeit ließ diese erste Erfahrung mit dem Pfarrer in mir zurück; das persönliche Vertrauen war ein für allemal vernichtet, aber ich hoffte trotzdem, daß das, was er lehrte, mir Befreiung bringen würde. Und ich klammerte mich an diese Hoffnung. Ich las in den Büchern, die er mir gab, und in der Bibel, ich klagte mich vor mir selber an, wenn ich eine rechte Andachtsstimmung nicht festhalten konnte und immer wieder an den Widersprüchen und Unwahrscheinlichkeiten, die mir aufstießen, Anstoß nahm.

War die Bibel von Gott inspiriert, so mußte die Schöpfungsgeschichte wahr sein; und war sie es, warum lehrte man uns dann die naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse der Gelehrten kennen? Bei allen Wundern, an die ich glauben sollte, stießen mir dieselben Bedenken auf; und ebensowenig kam ich über die Lehre hinweg, daß der Gott der Liebe, der Vater im Himmel mit dem grausamen, rachsüchtigen Jehova des Alten Testaments identisch sein sollte. Furchtbarer aber als alles bedrückte mich der Zweifel an der Erlösung der Menschheit durch Christi Leiden und Sterben. Weder die Sünden noch die Sorgen der Menschheit waren seit seinem Tode aus der Welt verschwunden, und jeder büßte – wie schmerzvoll empfand ich es selbst – nach wie vor seine eigene Schuld. Ich sprach meine Zweifel [109] und Bedenken offen aus – wir waren ja ausdrücklich dazu aufgefordert worden! – und erwartete sehnsüchtig, widerlegt, in unanfechtbarer Weise eines Besseren belehrt zu werden. Pfarrer Eberhard wurde immer nervöser, sobald ich den Mund auftat, und die andern starrten mich an, und stießen sich kichernd mit den Ellbogen, wenn ich eine Frage stellte. Schließlich wurde mir ein für allemal verboten, in ihrer Gegenwart meine Gedanken laut werden zu lassen; ich benutzte zunächst die Viertelstunde des Alleinseins dazu, für die der Pfarrer immer seltener Zeit zu haben vorgab, und besuchte ihn schließlich außerhalb der Stunde, wenn meine Zweifel mir gar keine Ruhe mehr ließen. Er wurde von einem Mal zum anderen ungeduldiger, und warf mir meinen »geistigen Hochmut«, der mich verführe, mit den unzulänglichen Mitteln menschlichen Verstandes an göttliche Geheimnisse zu rühren, in immer heftigerer Weise vor. Auf all mein Warum? war seine Antwort: darüber darf man nicht nachdenken, denn der Glaube allein versetzt Berge, der Glaube allein macht selig, und so wir nicht werden wie die Kinder, werden wir das Reich Gottes nicht schauen. – Danach muß geistiges Streben, Forschungstrieb, Wissenschaft ein Werk des Teufels sein, – folgerte ich. Unsere Unterhaltungen – das sah ich endlich ein – waren zwecklos. Ich gab sie auf. In dem Bedürfnis, mich auszusprechen, machte ich meine Cousine, die ich schon mit meinen Herzensgeschichten aus allem Gleichgewicht gebracht haben mochte, zur Vertrauten meiner religiösen Kämpfe. Es waren Monologe, die ich vor ihr führte, und ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt, daß ich gar nicht bemerkte, wie das arme Ding unter mir litt: wie eine Blume war sie, die in der Knospe welkt, wenn sie zu früh dem Schutz des Schattens und der Kühle entrissen wird.

Zuweilen frug mein Vater mich nach meinen Stunden; er, der menschlicher, feiner dachte, und der mich so lieb hatte wie niemand sonst, hätte mir vielleicht helfen können, wenn nicht [110] eine tiefe, innere Entfremdung zwischen uns eingetreten wäre. Hatte seine aufbrausende Heftigkeit, die zwar weniger im Verkehr mit mir, als der Dienerschaft und den Untergebenen gegenüber hervortrat, ein inniges Verhältnis zwischen uns schon nicht aufkommen lassen – jedes laute Wort ließ mich erzittern –, so machte meine allmähliche Erkenntnis unserer pekuniären Lage, als deren Ursache ich ihn allein ansah, mich hart und unnahbar. Ich sah, wie oft meine Mutter weinte, wenn unerwartete Rechnungen kamen; ich las in den Briefen meiner Großmutter an Mama, die mir zuweilen gegeben wurden, zwischen den Zeilen, wie die Geldsorgen auf der ganzen Familie lasteten. Ich fing an zu begreifen, warum Mama sich über Geschenke ihres Mannes nicht freute, was mir früher so herzlos erschienen war. Es kam vor, daß ich ihr darin schon nachahmte, und erst ein Blick auf Papas trauriges Gesicht, auf seine vor Enttäuschung zuckenden Lippen, löste meine natürliche Freude über hübsche Dinge aus. Mitleid aber ist kein Mittel des Vertrauens, besonders nicht bei einem Kinde und einem Weibe; Mitleid erhebt über den Bemitleideten; das Kind, wie das Weib, muß emporsehen können zu dem Menschen, dem sein ganzes Vertrauen gehören soll. So blieb ich allein, auch in diesem, dem schwersten Kampf meiner Kindheit. Niemand half mir, selbst Gott nicht, so oft und so verzweifelt ich ihn auch anrief.

Um diese Zeit war es, daß meine englische Lehrerin mir von Shelley erzählte, der mit sechzehn Jahren schon seiner antichristlichen Ansichten wegen von der Schule entfernt worden war, später aus denselben Gründen England verlassen mußte und, kaum dreißig Jahre alt, in den Wellen des Adriatischen Meeres seinen Tod fand. Sein Schicksal ergriff mich tief. Der Überzeugung Stellung, Wohlleben, Familie und Heimat opfern – das erschien mir stets als ruhmwürdigste Tat.

Mit der Versicherung, daß ich sie doch nicht verstehen würde, gab mir die lange, blonde Miß, die für mich bis dahin nur die [111] Verkörperung der Grammatik gewesen war, auf mein dringendes Bitten Shelleys Werke.

»Queen Mab« war das erste, was ich aufschlug. In einer Nacht las ich es zweimal. Mir war, als wäre ich selbst Janthe, der Geist, dem die Feenkönigin des Weltalls wundervolle Pracht, die Schauer der Vergangenheit, das Elend der Gegenwart und das verklärte Bild der Erdenzukunft zeigte: Ich sah die Reichen schwelgen, die Armen hungern; die Toten sah ich auf den Schlachtfeldern, hingemordet um der Ländergier der Könige willen, und sah, wie die Menschen einander zerfleischten wie wilde Tiere, im Namen ihrer Götter! Und dann verklangen in weiter Ferne all die Laute der Qual, das Weinen der Verlassenen, das Stöhnen der Hungernden, Verzweiflungsschreie und Todesröcheln. »Die Wirklichkeit des Himmels, die selige Erde« zeigte sich, die Welt der Zukunft, wo niemand vergebens mehr nach Brot verlangen, niemand nach Erkenntnis verdursten, wo die Menschheit sich selbst erlöst haben wird aus der Hölle irdischer Verdammnis. »Spirit, behold thy glorious destiny!«, – rief Mab, die Königin, es mir nicht zu? Galt nicht mir ihre Mahnung: Fürchte dich nicht! Führe den Krieg gegen Herrschsucht und Falschheit und Not, schlag' durch die Wildnis den Pfad hinüber in die Welt, die da kommen soll!

Ich empfand Shelleys Atheismus nicht, ich fühlte nur, daß er den Gott verleugnete, an den auch ich nicht zu glauben vermochte, und wie eine Offenbarung wirkte auf mich sein lebensstarker, hoffnungsreicher Idealismus, sein Vertrauen in der Menschen eigene Kraft, sein feuriger Appell an die Macht des Willens.

In langen Nächten voll innerer Kämpfe suchte ich mir klar zu werden über den Weg, den ich zu gehen hatte, und baute mir langsam, Stein um Stein mühselig zusammentragend, die Kirche meiner Religion auf. Ein heißes Glücksgefühl erfüllte mich, als ich mein Werk vollendet sah und der Entschluß in mir [112] feststand, mich zu keinem andern Glaubensbekenntnis als zu meinem eigenen zwingen zu lassen – koste es, was es wolle!

Um die Weihnachtszeit 1879 besuchte ich Pfarrer Eberhard und erklärte ihm, daß ich außerstande sei, das Apostolikum vor dem Altar zu beschwören, daß er mich daher von der Einsegnung dispensieren möge. Zugleich legte ich ihm eine schriftliche Zusammenfassung meiner religiösen Ansichten vor – ein persönliches Glaubensbekenntnis, das jeder der Konfirmanden niederzuschreiben verpflichtet war. Es lautet:


»›Ich glaube an Gott den Vater, allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden.‹


Ich glaube nicht an diesen Gott. Ich glaube nicht, daß er in sechs Tagen die Welt geschaffen hat, daß er ihm zum Bilde den Menschen schuf. Ich glaube der Wissenschaft mehr als den unbekannten Fabelerzählern des Alten Testaments.


›Ich glaube an Jesum Christum, Gottes eingeborenen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist von dem Heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontio Pilato, gekreuziget, gestorben und begraben, niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage auferstanden ist von den Toten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten.‹


Ich glaube nicht an diesen Christus, denn ich halte es für heidnisch, an eine Menschwerdung Gottes zu glauben. Ich glaube weder an seine wunderbare Geburt, noch an seine Höllen-, noch an seine Himmelfahrt, noch an seine Wunder.


›Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben.‹


Ich glaube nicht an diesen Heiligen Geist, ich glaube nicht an eine heilige, christliche Kirche, die mordet, brennt, verfolgt, steinigt, die Seelen martert, die Wahrheit leugnet. Ich glaube [113] nicht an Vergebung der Sünden, weil Sünde sich nur durch bessere Taten vergibt. Ich glaube nicht an Auferstehung des Fleisches, denn das ist wissenschaftlich unmöglich.

Ich glaube an eine höhere Gewalt, die wir Gott nennen, die der Ursprung des ersten Lebens ist, die die Kraft des Werdens in das erste Atom gelegt hat. Mein Geist ist ein Teil dieses Gottesgeistes.

Ich glaube an Jesus, als an einen edlen Menschen, der zuerst das Gebot der Menschenliebe predigte und danach lebte. Ich glaube, daß er in Niedrigkeit geboren wurde, damit wir daran erkennen sollen, daß die Geburt nicht den Menschen macht, sondern eigene Arbeit und eigenes Streben. Christi Gebot der Menschenliebe wird die nach ihm benannte Kirche richten.

Ich glaube an den Geist Gottes, der sich in allem Schönen und Großen offenbart, der nach dem Tode des Körpers in andern fortlebt, sei es auf oder über der Erde. Die Kirche und ihre Dogmen halte ich für menschliche Einrichtungen, denen ein freier Geist sich nicht zu beugen braucht.

Sollte dennoch die mir gelehrte christliche Religion die wahre sein, so hoffe ich das mit der Zeit zu erkennen. Wenn es ein Verbrechen ist, daß ich mich jetzt von ihr lossage, so scheint es mir ein noch größeres Verbrechen zu sein, mich zu ihr zu bekennen, wo mein Herz nichts davon weiß.«

Pfarrer Eberhard war zuerst keines Wortes mächtig. Dann aber entlud sich sein Zorn schrankenlos über mir. Jede Selbstbeherrschung vergessend, schlug er mit Anklagen, Vorwürfen, Drohungen auf mich ein – es war wie eine Bastonade! Aber ich ergab mich nicht. Durch Wochen und Monate setzte der Kampf zwischen uns sich fort, von dem niemand wußte als wir beide. War es Rücksicht, oder war es die Sorge, seine Niederlage einzugestehen – er weihte diesmal auch meine Eltern nicht ein. Zwischen jeder Zusammenkunft sammelte ich mein Rüstzeug aus meinem verborgenen Bücherschatz, der um vieles gewachsen[114] war, und grübelte zu gleicher Zeit über die Ausführung abenteuerlicher Pläne. Gab der Pfarrer nicht nach, so war ich entschlossen, zu fliehen. Um mir das nötige Geld zu verschaffen, schickte ich Gedichte und Aufsätze an die verschiedensten Zeitschriften – natürlich vergebens! – und verkaufte in obskuren Läden ein Schmuckstück nach dem andern. Als ich gerade im Begriffe stand, das Kostbarste – eine alte Brillantbrosche, die meine Großmutter mir einmal geschenkt hatte – fortzutragen, hörte ich im Vorübergehen einen heftigen Wortwechsel zwischen meinen Eltern. Aufhorchend blieb ich stehen: es handelte sich wieder einmal um eine unbezahlte Rechnung. Mama schluchzte; Papa rief aufgeregt: »Ich brauche mir deine Vorwürfe nicht gefallen zu lassen. Ich saufe nicht, ich rauche nicht, ich rühre keine Karte an, ich habe keine Weibergeschichten – was willst du eigentlich von mir?!« – »Du hast immer zwei Pferde zu viel im Stall« – antwortete Mama heftig, »und Alix' Privaterziehung, die Tausende verschlingt, war auch überflüssig« –. »Laß mir das Kind in Frieden!« brauste Papa auf, »die einzige Freude, die ich habe, laß ich mir nicht vergällen – –.«

Jedes Wort traf mich ins Herz; mir hatten sie so große Opfer gebracht – mir, die ich das Schwerste über sie heraufbeschwor; – ich war meines Vaters einzige Freude – ich, die ihm das Herz brechen wollte! – Ich lief davon, verkaufte mein Schmuckstück und kam hochrot und atemlos nach Hause zurück, nur von dem Gedanken getrieben, den armen Eltern eine Last abzunehmen. Sie saßen versöhnt nebeneinander und sahen mich verwundert an, als ich Mama hastig ein paar Goldstücke in die Hand drückte. »Was soll denn das?« frug sie, und »Woher hast du das Geld?« mein Vater. Ich erschrak; ich hatte in meinem Eifer an die Möglichkeit dieser Frage nicht gedacht. Sollte ich die Wahrheit sagen? Das hieße auch meine übrigen Verkaufe verraten und meine Flucht von vornherein unmöglich machen. Mein Blick fiel auf das »Daheim« mit dem Anfang einer neuen [115] Erzählung an der Spitze. »Es ist – es ist – das Honorar für – diese Geschichte,« kam es mühsam und stockend von meinen Lippen. Nun war ich im Netz meiner eigenen Lüge gefangen, und die Furcht vor den Folgen hinderte mich, es zu zerreißen. Die Eltern glaubten mir; mein Vater umarmte mich voll Rührung, und wenn er auch meine flehentliche Bitte, das Geheimnis meiner Autorschaft zu wahren, zu erfüllen versprach, so war er doch viel zu stolz auf den Erfolg seiner Tochter, als daß er nicht wenigstens den nächsten Freunden und Verwandten davon Mitteilung gemacht hätte. Die Aufklärung ließ nicht lange auf sich warten. Eine Cousine meines Vaters war mit der Verfasserin des Romans, den ich vorgab, geschrieben zu haben, befreundet und frug ihn brieflich nicht wenig erstaunt nach dem Zusammenhang dieser seltsamen Historie. Es kam zu einem furchtbaren Auftritt. Mein Vater kannte sich selbst nicht mehr. »Mein guter Name! Mein guter Name!« stöhnte er immer wieder und lief wie wahnsinnig im Zimmer hin und her. »Ich muß mich erschießen! Ich überlebe die Schande nicht!« schrie er dazwischen, während Mama still vor sich hin weinte. Stumm und regungslos stand ich mitten im Zimmer und rührte mich auch dann nicht, als Papa mit funkelnden, rot unterlaufenen Augen vor mir stehen blieb und die hoch erhobene Faust klatschend auf meine Wange niedersausen ließ.

Stumpfsinnig vor mich hinbrütend, lag ich ein paar Tage im Bett. Niemand kümmerte sich um mich als die Anna, die mir auch mitleidig in die Kleider half, als Pfarrer Eberhards Besuch mir gemeldet wurde. Mit gefalteten Händen und tief bekümmerter Miene trat er ein. Daß sie keinem echten Gefühle Ausdruck gab, sah ich an den Lichtern leisen Triumphs, die in seinen Augen glänzten: Endlich war der Sieg sein – endlich! Er hielt mir eine wohlvorbereitete Rede, die ich mit keiner Silbe unterbrach. Das furchtbare Ereignis habe hoffentlich, so sagte er, meinen Hochmut gebrochen und mich belehrt, daß Gott [116] seiner nicht spotten ließe. Noch sei es Zeit für mich, umzukehren vom Wege der Sünde, und demütig dem zu folgen, der allein Wahrheit, Licht und Leben wäre. »Nach all dem Kummer, den du deinen Eltern bereitet hast, wirst du ihnen die Schande nicht antun, vom Altar des Herrn fernbleiben zu wollen.« Ich schwieg auch jetzt, trotz der beziehungsreichen Pause, die er eintreten ließ. »Du wirst die Zeit bis dahin zur Einkehr, zur Buße, zum Gebet verwenden.« Wieder eine Pause. »Und wie Gott im Himmel seine Hand nicht von dir abziehen, und Jesu Christi Blut auch dich reinwaschen wird von deinen Sünden, so werden deine lieben Eltern dir verzeihen. Ich werde mit Gottes Hilfe die Schwergeprüften aufrichten und dich ihnen wieder zuführen.« Ich schwieg noch immer. »Wirst du tun, was ich, der Diener deines Herrn und Heilandes, von dir fordere?« Ein mechanisches »Ja« war meine Antwort.

Während der Wochen bis zu meiner Einsegnung lebte ich wie ein Automat; ich fühlte weder Reue noch Kummer, und die Gedanken waren wie ausgelöscht. Nur als ich zum erstenmal das lange weiße Konfirmandenkleid anprobierte, zuckte mir ein krampfhafter Schmerz durch den Körper. Den Mund kaum zu einem Lächeln verziehend, begrüßte ich die vielen Verwandten, die zu dem feierlichen Tage nach Posen kamen: Onkel Walter aus Pirgallen mit seiner jungen Frau, die eben auf der Hochzeitsreise waren, Onkel Kleve aus Bayern, Tante Klothilde aus Augsburg, die befriedigt die »würdige Stimmung« ihrer Nichte anerkannte. Als aber am Sonnabend vor Pfingsten, einem herrlichen lachenden Maientag, vor dem ich mich verschüchtert in mein dämmriges Zimmer verkrochen hatte, die Türe aufging und wie getragen von einem breiten Strom von Licht, meine Großmutter in ihrem Rahmen erschien, war mir plötzlich, als fiele ein schwerer, eiserner Panzer von mir ab, der mich eingezwängt und aufrecht erhalten hatte. »Großmama, liebe Großmama,« rief ich und brach aufschluchzend vor ihr zusammen. [117] Ach, warum war ich nicht zu ihr geflüchtet, warum kam sie erst jetzt, – jetzt, da es zu spät war?! Tief erschüttert schloß sie mich in ihre Arme, und ich weinte mich aus. Aber dann kam Mama, und der Abend im Kreise der Familie, und die Nacht ...

Widerstandslos ließ ich mich am nächsten Morgen schmücken, nahm den Strauß weißer Rosen in die Hand und stieg mit den Eltern in den Wagen. Die ganze Straße stand voll Menschen, – wie bei einem Begräbnis, dachte ich. Auch vor der Kirche sammelten sich die Neugierigen in ihren bunten fröhlichen Festtagskleidern. Durch die Fenster flutete die Sonne, so daß ich geblendet die vom Weinen heißen Augen schloß, als ich zwischen Vater und Mutter auf rotem Teppich durch die weite, weiße Säulenhalle schritt. Die Glocken läuteten, brausend setzte die Orgel ein, laut dröhnten über mir die kräftigen Stimmen des Soldatenchors. Jeder Ton schnitt mir messerscharf in die Seele. Es blitzte und funkelte ringsum von Uniformen und Orden und raschelte von seidenen Kleidern. Ich sah nicht auf. Da schlug ein ganz leiser, weher Laut, wie »Alix« an mein Ohr. Ich hob den Kopf. Es war mein Lehrer, der mich mit einem Blick ansah – einem Blick, der mir rätselhaft schien. Und dann standen wir vor dem Altar. Er war ringsum mit einem Wald von Palmen umgeben, ohne eine einzige Blume dazwischen. »Wie beim Begräbnis,« dachte ich noch einmal. Ich hörte nicht, was der Pfarrer sprach; mir war plötzlich, als stünde ich dicht vor dem Felsentor des Höllentals, und der brausende Bach drohte, mich zu verschlingen. Mein Strauß entfiel mir; der ihn aufhob, war mein Lehrer; ich begegnete seinen Augen dabei, – seltsam, wie er mich ansah! Verwirrt blickte ich um mich; meine Mitschülerinnen sprachen schon das Apostolikum, und ein strenger Blick des Pfarrers mahnte mich an meine Pflicht. Einem aufgezogenen Uhrwerk gleich, sagte ich, ohne zu stocken, die drei Artikel auf. Und währenddessen fühlte ich die vielen hundert [118] Augen auf mich gerichtet – gespannt, höhnend, triumphierend. Danach war es einen Atemzug lang totenstill, ehe der Pfarrer von jeder einzelnen das persönliche Bekenntnis zu den gesprochenen Worten abnahm und den Segen erteilte. Ich war die letzte. Er erhob die Stimme bedeutungsvoll, als er sich mir zuwandte. Sage nein – sage nein – klang es in mir. Angstvoll, hilfesuchend sah ich um mich: auf das gütige, verzeihende Lächeln meines Vaters fiel mein Blick, auf den leisen liebevollen Gruß meiner Mutter – – –

»Bekennst du dich von ganzem Herzen zu unserm allerheiligsten Glauben, so antworte: Ja.« – – –

Irgendwo fiel ein Schirm – ein Säbel rasselte – jemand schluchzte auf – und die vielen, vielen Augen durchstachen mich.

»Ja!« klang es laut und rauh durch die Kirche. War das wirklich meine Stimme gewesen?! Mechanisch kniete ich nieder, wie die anderen. Ob wohl die Schleppe richtig lag, dachte ich stumpfsinnig, und etwas wie Neugierde nach dem Spruch, den der Pfarrer mir geben würde, regte sich in mir.

»Darinnen freuet euch nicht, daß euch die Geister untertan sind, sondern daß eure Namen geschrieben sind im Himmel.«

Das fuhr wie ein Peitschenhieb auf mich nieder. Mein Name – und im Himmel geschrieben!! Hatte ich nicht eben vor Gottes Altar einen Meineid geschworen?! – –

Unter Tränen und Glückwünschen und Schmeichelworten umdrängte mich alles. Zu Hause empfing mich ein Aufbau von kostbaren Geschenken, von duftenden Blumen; Militärmusik spielte unter den Fenstern, und um die geschmückte Tafel versammelte sich eine glänzende Gesellschaft. Mir galten die Reden und Toaste, und immer aufs neue perlte der Sekt in meinem Glase. In halber Betäubung kam ich abends in mein Zimmer; die rote Ampel brannte über dem Bett; seltsam bedrückend war nach all den wirren Geräuschen des Tages die Stille. Mein Blick fiel auf ein kleines Paket, durch dessen Schnüre [119] ein paar gelbe Rosen gezogen waren. Verwundert öffnete ich das Geschenk, das nicht auf dem Tisch der allgemeinen Gaben gelegen hatte. Es enthielt ein schmales Buch in blauem Einband – »Deutsche Liebe« von Max Müller, und einen Brief:


»Gnädiges Fräulein!


Da ich gezwungen bin, schon morgen Posen zu verlassen, und vor Ihrer Abreise nicht zurück sein kann, gestatten Sie mir, Ihnen schriftlich Lebewohl zu sagen und beifolgendes Buch als Andenken zu überreichen. Seien Sie recht, recht glücklich!

In aufrichtiger Freundschaft

Ihr

Hugo Meyer.«


Ich strich mir über die Stirn, – träumte ich denn? Aber nein, das Buch, das ich las, bestätigte mir, was mich plötzlich seinen Blick in der Kirche hatte verstehen lassen. Und ich – ich war blind neben ihm hergegangen, hatte nicht nach seiner Hand gegriffen, die mir aus dem Abgrund herausgeholfen hätte, in den ich versank! Schwarz, unergründlich, unüberbrückbar sah ich ihn vor mir: Ich hatte heute einen Meineid geschworen, – und mein Freund, mein einziger Freund hatte mich verlassen!

[120]
5. Kapitel
Fünftes Kapitel

Wenn der Sommer im Samland Einzug hält, dann kommt er nicht als ein züchtig Werbender, der sich die Erde in zäher Treue allmählich erobert; er kommt vielmehr, ein stürmischer junger Held, der dem Freiwerber Frühling gar nicht Zeit läßt, ihm den Weg zu bereiten. Die Sonne, die eben noch umsonst mit den Winternebelwolken kämpfte, schießt, wenn er naht, plötzlich mit glühenden Pfeilen vom blauen Himmel herab, und auf einmal erwacht Wald und Feld und Wiese und gibt sich schrankenlos dem ungestümen Liebhaber hin. Die Blumen, die das Jahr, als ein karger Weiser, sonst über viele Monde verteilt, blühen hier zu gleicher Zeit in verschwenderischer Fülle; das Schneeglöckchen begrüßt noch das Veilchen und die gelbe Butterblume; üppig und grade im prangenden Schmuck ihrer leuchtenden Farben stehen Malven und Georginen im Garten, während weiße und gelbe und rote Rosen ihnen den Preis der Schönheit streitig machen. Mit dem herben Duft des Holunders eint sich der süße, zarte der Linden, der schmeichelnde der blauen Fliederdolden und der berauschende, liebeskranke des Jasmins.

Weit, weit hinab, bis zu den graublauen Fluten des Kurischen Haffs dehnen sich saftgrüne Wiesen und gelbe Kornfelder; wenn der Wind darüber streicht, ist es wie ein einziges wogendes Meer, aus dem nur hie und da die Strohdächer dürftiger Häuser hervorlugen. Aber auch ihr Elend hat der Sommer, als könnte er nichts Trauriges sehen, mit rasch wucherndem Schlingkraut [121] verschleiert, so daß ihre trüben Scheiben wie verschlafene Augen verwundert darunter hervorsehen. Es ist so ruhig hier wie im Dornröschenzauber; nur hie und da unterbricht das klägliche Weinen eines verlassenen Säuglings die tiefe Stille. Was Füße und Arme regen kann, ist hinaus mit Harke oder Sense, Spaten oder Beil, Ruder oder Fischnetz. Der heiße Sommer weckte jung und alt aus dem langen, dumpfen Winterschlaf, und von früh bis spät gilt es schaffen, um seiner Gaben Reichtum rasch, wie er sie brachte, zu bergen. Wie sie alle lebendig geworden sind, diese schwerblütigen Menschen: sie gehen nicht – sie springen –, sie lachen nicht – sie kreischen, und der Haffwind, des Samlandsommers treuer Knecht, peitscht ihre strohgelben Haare, daß sie rings von den breiten Schädeln abstehen, wie Blätter der Sonnenblume um den Kelch, und bläht die roten Röcke der Weiber, daß die nackten Beine bei jeder Bewegung darunter hervorleuchetn. Sie sind mit der Natur noch eins, diese Männer und Frauen: sie schlafen nur den Winterschlaf mit ihr; denn nach der langen Tagesarbeit klingt's und singt's noch durch die helle warme Sommernacht; es kichert und raschelt zwischen den Garben, es atmet heiß und schwer in den Geißblattlauben. Vom Dorfkrug aber lärmt und tobt es herüber: da sitzen sie hinter schwelender Lampe, vertrinken und verspielen ihre Habe, und wenn sie glühend vom Branntwein heimkehren, mischt sich wohl auch wilder Wehlaut aus Weiberkehlen in all die vielen wirren Töne der Nacht.

In solch eines Sommers heißes Leben kam das blasse Stadtkind mit den trüben Augen und dem matten Lächeln. Das Turmzimmer von Pirgallen nahm es wieder auf, wo es zuerst das von der alten Linde vor dem Fenster grün verschleierte Licht des Tages erblickt hatte. »Hier soll mein Alixchen wieder rund und rosig werden,« sagte die Großmama bei der Begrüßung, das Enkelkind bekümmert musternd. »Und all die Gelehrsamkeit soll sie vergessen,« fügte Onkel Walter lachend hinzu. »Und [122] trinken und tanzen soll sie, bis sie schwindlig wird,« rief Tante Emmy, seine Frau, während in ihren lustigen, braunen Augen alle Kobolde des Frohsinns ein Feuerwerk entzündeten. Seit sie vor kaum einem halben Jahr hier Einzug gehalten hatte, mochte das alte Schloß sich selbst kaum wiedererkennen: Die Gäste kamen und gingen, helle Kleider raschelten durch die sonst so einsamen Gänge, die Mauern hallten wider von Lachen und Scherzen.

Wenn morgens der Rasenteppich, der hinter dem Schloß bis zum Wasser herunterführt, unter Tauperlen und Sonnenstrahlen glänzte und glitzerte wie ein Riesensmaragd, dann gingen die Gäste von der breiten Terrasse die hohe Steintreppe hinab und verteilten sich in Park und Wald; die einen träumten still in der Hängematte, die andern lockte das Haff, dessen weiße Schaumköpfchen vom Horizont herüberglänzten, zum Bad und zur Segelfahrt; die Ruhigen liebten es, am Strande Muscheln zu suchen; die Waghalsigen wollten, mit Kutschern und Reitknechten um die Wette, junge Pferde hinter Zaum und Zügel zwingen. Freiheit der Bewegung war Gesetz für alle. Nur wenn laut der Gong durch Schloß und Hof und Garten gellte, fanden sie sich allmählich wieder zusammen.

Allabendlich füllte sich der dunkle Speisesaal, in dem so lange nur Mutter und Sohn einander schweigsam gegenübergesessen hatten, mit lebenslustiger Jugend, und die kulinarischen Genüsse, die der französische Koch zu bereiten verstand, steigerten mit dem perlenden Sekt, den der alte Haushofmeister unermüdlich in die Gläser schenkte, die lebendige Stimmung. Wenn dann hinter den Flügeltüren die zärtlich-lockende Weise des Donauwalzers klang, gab es ein heftiges Stühlerücken, und gleich darauf flogen die Paare durch den hohen weißen Saal. Viele schmale Spiegel, von Goldleisten eingefaßt und von musizierenden Amoretten bekrönt, warfen das Bild immer wilder tobender Tänzer zurück, während so manche durch das Alter blind gewordene Scheiben [123] heimlich die Erinnerung an graziös und feierlich im Menuett sich schlängelnde und wiegende Rokokopaare zu bewahren schienen. Mit leisem Klirren schlugen die Kristallprismen des Kronleuchters aneinander, und die Lichter flackerten im Takt, als hätte die Tanzweise auch ihnen Leben verliehen; sie bewegten sich noch lange hin und her, wenn die duftende Schwüle der Sommernacht die Tanzenden durch weit offene Türen in den dämmernden Park gelockt hatte. Da gab es verschnittene Laubengänge und weiße Bänke im Jasmingesträuch, und auf stillen Weihern kleine Kähne. Spät erst, wenn feuchte Nebel vom Haff herüber die nackten Schultern der Frauen unter den Spitzengeweben zittern ließen, gingen Pirgallens Bewohner zur Ruhe.

Unaufhaltsam riß mich das Leben in seinen Strudel. Geistig müde und stumpf, getrieben von dem Wunsch, nur nicht zu mir selbst kommen zu können, war es mir zuerst der Rausch, der Vergessen bringt. Aber dann siegte Jugend und Lebenslust, und der Genuß wurde zum Selbstzweck. Niemand dachte angesichts des großen reifen Mädchens an ihre vierzehn Jahre; ich galt allen als erwachsene junge Dame, als Tochter des Hauses überdies, und was an männlicher Jugend ins Schloß kam, das teilte seine Huldigungen zwischen der lustigen Hausfrau und ihrer Nichte. Zuweilen, das merkte ich wohl, war ich der Tante, die gewohnt war, der Mittelpunkt der Gesellschaft zu sein, ein Dorn im Auge. Dann begann jener stille Frauenkampf um den ersten Platz, der, mit allen Waffen der Koketterie geführt, nicht minder aufregend ist als der der Männer im Fechtsaal oder beim Hasard. Triumphierte meine Jugend über ihre Grazie und ihren Witz, so behandelte sie mich plötzlich als das Kind, das zur Strafe nicht mitgenommen wird, wenn die Großen sich amüsieren; doch »das Kind« durchkreuzte nur zu rasch ihre pädagogischen Einfälle. So wurde ich einmal von einer Segelpartie ausgeschlossen – aus Mangel an Platz, sagte sie –; im Augenblick [124] aber, als die Jacht den Hafen verließ, erschien ich hoch zu Roß in Begleitung des feschesten Kürassierleutnants, den meine Tante – ich wußte es genau! – von allen Gästen am meisten entbehrte. Und ein andermal, als ihre neuste Pariser Toilette mich ausstechen sollte, zog ich durch einen rasch zusammengestellten phantastischen Schmuck von Vogelbeeren auf meinem weißen Kleid und in meinen schwarzen Haaren alle Blicke zuerst auf mich. Es war gerade von der großen Dampferfahrt die Rede, die der konservative Verein des Kreises mit seinen Damen durch den Friedrichskanal zum Moorbruch unternehmen wollte. Wir freuten uns alle darauf, ein Stück altlitauer Landes und Lebens kennen zu lernen.

»Schade, daß Alix zu Hause bleiben muß,« hörte ich plötzlich die hohe scharfe Stimme der Tante sagen; »nur persönlich Geladene haben Zutritt.« Mir stiegen Tränen der Enttäuschung und des Zorns in die Augen. Onkel Walter, der den Zusammenhang nicht begriff, sah mich an und rief über den Tisch hinüber: »Beruhige dich, Alix, das ist eine bloße Formalität, die ich rasch erledigen werde.«

Tante Emmys gereizte Stimmung verriet mir am nächsten Morgen, daß es zwischen dem Ehepaar noch eine Szene gegeben hatte und der Sieg nicht auf ihrer Seite gewesen war. Die offizielle Einladung wurde mir mit einer gewissen Absichtlichkeit überreicht, und ich konnte das leise Lächeln nicht unterdrücken, mit dem ich die Tante dabei ansah.

Am frühen Morgen des großen Tages fuhren wir in zwei Vierspännern gen Labiau, die Kreisstadt. Als die Wagen über das holprige Pflaster rollten, flogen links und rechts die Fenster auf, und neugierige Gesichter starrten den berühmten Gespannen Pirgallens nach. Auf der Straße blieben die Leute stehen, zogen die Mützen oder knixten respektvoll; und am Anlegeplatz, wo der Dampfer schon fauchte und prustete, wartete die Menge der Geladenen auf den vornehmsten Mann, den größten Besitzer [125] und den eben zum Reichstagskandidaten des Kreises aufgestellten Freiherrn. Er und seine Frau wurden umringt, ich stand abseits und musterte mit heimlichem Naserümpfen die Gesellschaft: Die Frauen, fast alle groß und hager, in seidene Staatskleider gezwängt, über den kantigen Gesichtern und den glatten Scheiteln kleine Kapotthütchen, mit allen Zeichen jener nicht zu überwindenden Verlegenheit, die ungewohnte, mit Wetter und Tagesstunde unvereinbare Kleidung hervorruft; die Mädchen, hochrot vor Erregung, in steifgestärkten Kattunfähnchen, Zwirnhandschuhe über den Händen, klirrende Armbänder über den breiten Gelenken, in einem dichten Haufen ängstlich zusammengeschart, als gelte es, sich gegenseitig vor den Angriffen der Männer zu schützen. Die hatten sich schwarz und dicht gegenüber postiert, nur hier und da von einer Reserveleutnantsuniform irgendeines hundertsten Infanterieregiments unterbrochen. Sonst lauter Bratenröcke und Zylinder. Mich grauste es; ganz anders hatte ich mir die Sache gedacht, und beinahe wäre ich rasch wieder in unseren Wagen gesprungen, als Onkel Walter sich nach mir umdrehte: »Erlaube, daß ich dir einige der Herren vorstelle: Herr v. Trebbin, v. Wanselow, v. Warren-Laukischken.« So alte Namen und solche Bauern! dachte ich, während mein Blick auf ihren roten Händen sekundenlang haften blieb.

»Ah, da sind Sie ja auch, mein lieber Rapp,« hörte ich meinen Onkel lachend sagen, »trauen Sie sich wirklich einmal in Damengesellschaft?!« Ich wandte mich rasch nach dem Angeredeten um: das also war der Frauenfeind, von dem Tante Emmy im Wagen gesagt hatte, er sei der einzige, der sie interessiere. Sie hatte zweifellos vor, den wunderlichen Einsiedler zu bekehren und freund-nachbarliche Beziehungen anzuknüpfen. Ich dachte nicht mehr daran, davon zu fahren, sondern folgte dem Menschenstrom, der über den Schiffssteg zum Dampfer flutete. Die Labiauer Stadtkapelle konzertierte, als hätten alle verstimmten Flöten und Trompeten sich hier ein Stelldichein gegeben, und [126] zwischen den Eichenlaubgewinden knisterten die grellbunten Papierblumen. Das kleine Schiff schien die Geladenen kaum fassen zu können. Nur die Honoratioren, darunter auch meine Verwandten, wurden an einen gedeckten Tisch genötigt, auf dem ein kreisrunder Strauß in weißer Papiermanschette prangte. Alle anderen suchten sich eilig einen Platz; wie aufgescheuchte Vögel liefen die Mädchen umher, bis sie glücklich wieder eng gedrängt in einer Ecke beieinander saßen. Ich blieb ruhig stehen; Laufen und Hasten war mir immer antipathisch, und aufs Geradewohl mich irgendwo einklemmen, vollends. Das Schiff setzte sich schon in Bewegung, als ich Herrn von Rapp in meiner Nähe sah, sichtlich unschlüssig, in welchen Winkel er sich mit seiner Menschenfeindschaft flüchten sollte. »Wir sind Leidensgefährten,« sprach ich ihn an, »ich glaube, in der Kajüte sind Sessel, wollen Sie so gut sein, mir einen bringen?« Mit zweien kam er zurück, – ich wußte, als höflicher Mann konnte er mich nicht allein lassen. Wir unterhielten uns, zuerst gequält und konventionell, dann immer lebhafter. Der kleine Mann mit dem frühzeitig kahlen Schädel hatte seine Landeinsamkeit ausgenutzt: er war belesen, und – was in dieser Umgebung noch erstaunlicher schien – er hatte selbständig über Welt und Menschen nachgedacht. Was ich geplant hatte, um die Tante zu ärgern und mir die Zeit zu vertreiben, war rasch vergessen, – so sehr fesselte mich unser Gespräch. Inzwischen fuhren wir im leuchtenden Sonnenschein den Friedrichskanal entlang, durch das dunkelgrüne Moosbruch, an niedrigen Häuschen vorbei, um die verkrüppelte Obstbäumchen blühten, vorüber an Agilla und Juwendt, uralten litauer Ansiedlungen, wo die Strohdächer fast zur Erde reichten und die kleinen struppigen Pferdchen, denen des Litauers zärtlichste Sorgfalt gilt, lustig zwischen den Scharen schmutziger Blondköpfchen umhersprangen. Mein Nachbar kannte Land und Leute gut; er wußte von den hartnäckigen Kämpfen gegen die Ordensritter zu erzählen, die mit einer – was die [127] Religion betrifft, freilich nur scheinbaren – Unterwerfung der Litauer erst dann endeten, als die Zahl ihrer Männer auf das äußerste dezimiert war, und kannte all ihre seltsamen Gebräuche, die sich noch aus der Zeit des Heidentums erhalten hatten.

Ein heftiger Stoß, der unseren Dampfer erzittern ließ, unterbrach seine Schilderungen: wir saßen fest, vergebens arbeitete die Maschine, der Kapitän, der gestand, hier noch nie gefahren zu sein, war ratlos, und alles Geschrei vermochte niemanden ans Ufer zu locken als die Kinder.

»Setzen Sie ein Boot aus und fahren Sie hinüber,« damit wandte sich mein Onkel an den Kapitän. Unter dem Vorwand, sich mit den Litauern nicht verständigen zu können, lehnte er es ab. »Begleiten wir ihn!« sagte ich, entzückt von der Aussicht auf ein Abenteuer, leise zu Rapp, der mir eben klangvolle Strophen litauischer Dainos zitiert hatte. Rasch entschlossen verständigte er sich mit dem Kapitän, und ebenso rasch folgte ich den Männern in den Kahn, begleitet von dem erstaunt-unwilligen Gemurmel der Zurückbleibenden. Am Ufer angelangt, traten wir in eines der ersten Häuser und stießen die Türe auf, als uns auf unser Klopfen niemand antwortete.

Der Raum war fast dunkel, und beißender Rauch hinderte uns überdies, die Augen zu öffnen; ein paar Hühner flogen vor uns auf, Schweinegrunzen tönte uns aus dem äußersten Winkel entgegen, auf dem Herd, dessen Glutaugen uns ansahen, wurde hastig ein Topf beiseite gerückt, dann näherten sich uns schlurfende Schritte. Ein Weib, dem weiße lange Haare wirr und tief über die Schultern fielen, trat uns entgegen, kreuzte die Arme über das grobe Hemd, das mit einem dicken gelben Wollrock ihre einzige Bekleidung bildete, und küßte mit einer Gebärde demütiger Unterwürfigkeit den Saum meines Kleides. Rapp erklärte ihr rasch die Situation. War sie es, oder war es der Klang der eigenen Sprache, der ihr ein Lächeln in das Antlitz trieb? Ablehnend zuckte sie die Schultern und wies auf die Bank in der [128] Ecke, auf der ein Mann, in eine Pferdedecke gehüllt, schnarchend lag.

»Wenn der Litauer nicht trinkt, dann stiehlt er, und wenn er nicht stiehlt, dann schläft er,« sagt das Sprichwort. Rapp wurde ungeduldig und sprach lauter. Inzwischen hatten sich die Kinder aus der Türe hereingeschlichen und umringten die Mutter; in all den vielen Augen – graublau wie das Haff – spielten feindselige Lichter; und je heftiger Rapp wurde, desto straffer richtete sich das Weib aus ihrer gebeugten Stellung auf, bis ihre Stirn den niedrigen Balken der Hütte fast streifte. »Wie eine verwunschene Schicksalsgöttin,« dachte ich und wich scheu vor ihr zurück. Rapp aber war an ihr vorbei an den Herd getreten und hatte den Kessel ans Licht gerückt. »Rehbraten!« rief er. »Dacht' ich's mir doch! Also ein Wilddieb.« Schon lag die Frau ihm jammernd zu Füßen, und, sich die Augen reibend, war der Mann bei dem Lärm vom Lager gesprungen. Es bedurfte nur noch einer kurzen Unterhandlung, um sie gefügig zu machen. Kaum zum Dampfer zurückgekehrt, entwickelte sich ein merkwürdiges Schauspiel vor unsern Augen: lange schmale Kähne umringten ihn von allen Seiten, in jedem stand aufrecht, mit dem Ruder kräftig stoßend, ein Weib. Eine sah aus wie die andere: groß, schlank, helläugig, mit buntem Rock, einem Hemd, das oft reiche Stickerei aufwies, ein grelles Tuch um die weißblonden Haare geschlungen. Sie wußten so genau Bescheid in ihren heimatlichen Gewässern wie der beste Lotse, und bald waren wir wieder flott und fuhren in gutem Fahrwasser den voranrudernden Frauen nach. Allmählich wurde ihre Zahl immer kleiner, und nur die grauhaarige Schicksalsgöttin blieb übrig, um uns den Weg zu der Mittagsstation, wo das ersehnte Diner unsrer wartete, zu zeigen. Schließlich verschwand auch sie, nachdem der Weg, wie sie sagte, nicht mehr zu fehlen sei; irgendwo aus der Ferne hörten wir noch das Rufen und Lachen, mit dem die Heimkehrende von den Gefährtinnen empfangen wurde. [129] Aber zu unserm Mittagessen gelangten wir nicht – für die entdeckte Wilddieberei hatte die Alte sich gerächt! Unser Schiff enthielt Proviant; aber man hatte mehr an den Durst als an den Hunger der Passagiere gedacht; und da bei stundenlanger Fahrt auch so ergiebige Gesprächsstoffe wie Getreidepreise, Leutemangel, Erntesorgen und Viehzucht schließlich erschöpft waren, blieb den biederen Vereinsgenossen nichts übrig, als zu trinken und Skat zu spielen. Um dem Sehbereich ihrer teuren Ehehälften zu entgehen, zogen sie sich, soweit es der Raum erlaubte, in die Kajüten zurück. Zigarrendampf, knallende Pfropfen, ein immer brüllenderes Gelächter, hier und da aus der Tiefe auftauchende blaurote Köpfe kündigten an, wie es dort unten aussah. Die Frauen, bei denen die drei berühmten Gesprächsthemen – Klatsch, Küche und Kleider – zwar etwas länger vorhielten, waren bald übel daran. Vorsorgliche Hausfrauen zogen resigniert eine Häkelarbeit aus der Tasche, die jungen Mädchen, zu denen ein paar unternehmende Jünglinge sich gesellt hatten, spielten kindliche Spiele, wobei ihr Kichern den Grad ihres Amüsements bezeichnen sollte; viele schliefen mit Mäntelpolstern unter den Köpfen.

Indessen glitt unser Dampfer mit leisem Plätschern durch die traumhafte Stille endloser gleichmäßig grüner Einsamkeit.

Seltsam, wie wenig Menschen schweigend genießen können, wie der Begriff der Unterhaltung sich bei den meisten mit Schwatzen deckt und ein Unbeschäftigtsein der Zunge oder der Hände ihnen gleichbedeutend ist mit Langerweile. Ich saß stundenlang still und sah in die Ferne, wo das Grün der Wiesen mit dem Blau des Himmels zusammenstieß und sich in schimmerndem Silberglanz aufzulösen schien. Ich träumte von anderen Menschen als diesen hier: von Menschen, die die Kultur ihrer Zeit verkörpern, Menschen, denen Natur, Kunst und Wissenschaft unendlicher Gegenstand ihres Genießens, ihres Nachdenkens, ihrer Unterhaltung ist. Herrn von Rapps Stimme rief mich in [130] die Wirklichkeit zurück. Ich lächelte: der kleine Mann mit dem glatten Schädel war gewiß unter diesen der beste, aber er sah aus wie ein Bauer, und zu meinem Begriff der Menschenkultur gehörte das Aussehen eines Märchenprinzen.

Es fing an zu dämmern, als der Nemonien uns aufnahm, ein breiter Strom, dessen Wellen so weich und melodisch fließen wie sein Name. Wir erreichten das Haff, von einem Lotsen geführt. Groß und rot versank der Sonnenball langsam hinter dem schmalen gelben Streifen der Nehrung, eine lange goldene Straße auf dem Wasser malend. »Der Weg zum Himmel!« sagte Herr von Rapp, von dem wundervollen Anblick ergriffen wie ich. »Zwei Fischerkinder von Nemonien sind einmal des Abends auf dieser Straße davongerudert. Sie bekamen daheim nur Schläge und böse Worte und wollten zum lieben Gott. Sie kamen niemals wieder – ob sie ihn wohl gefunden haben?!« Wie er mich ins Herz traf mit dieser Zweifelfrage, wie er die alten Wunden aufriß! – »Ich glaube es nicht,« antwortete ich mit zuckenden Lippen. Dann schwiegen wir wieder. Die Nacht brach an, die Sterne glänzten vom hellen Himmel und die Mondsichel warf lauter Perlen auf das Haff. Mich fror. Auf eine so lange Fahrt waren wir nicht vorbereitet gewesen. Herr von Rapp hüllte mich sorglich in seinen Mantel und brachte mir Tee und Wein. Eigentlich ist es doch seltsam, dachte ich, daß die Menschen uns so rücksichtsvoll allein lassen. Ich hatte mich ja freilich auch nicht um sie gekümmert.

Um Mitternacht waren wir wieder im Hafen von Labiau. Ich war sehr müde und fühlte nur noch den Druck einer Hand, den ich herzhaft erwiderte. Schweigsam fuhren wir nach Hause.

Am nächsten Morgen neckte mich Onkel Walter mit meiner »Eroberung«, während Tante Emmy behauptete, ich hätte mich kompromittiert. Nachmittags fuhr ein Wagen durchs Tor, dem Herr von Rapp, mit einem Rosenstrauß bewaffnet, entstieg. Er war noch verlegener als ich, und sah in diesem Kreise, wie ich[131] fand, recht plebejisch aus. Während der ganzen folgenden Woche kam er täglich. Ich lief oft davon, aber auch auf einsamen Wegen, zu Pferd und zu Fuß, wußte er mich einzuholen, und schließlich ließ ich mir seine Nähe mit einer gewissen Herablassung gefallen. Als ich eines Morgens auf die Terrasse zum Frühstück kam, fand ich Onkel und Tante in ausgelassenster Heiterkeit: Herr von Rapp hatte um mich angehalten. Soll ich leugnen, daß meine erste Empfindung die geschmeichelter Eitelkeit gewesen ist?! Der erste Antrag – und kaum fünfzehn Jahre alt! Dann aber dachte ich an den schwerblütigen Mann, der sich aus seiner menschenscheuen Einsamkeit herausgerissen hatte, um eine so bittere Erfahrung zu machen. Die Vorwürfe meiner Mutter verschärften meinen Kummer: meine Koketterie, sagte sie, sei schuld an der ganzen Sache. Ich war sehr unglücklich und malte mir des armen Abgewiesenen Zustand in so düsteren Farben aus, daß ich mich verpflichtet fühlte, ihn zu »retten« – ich wollte ihn um Verzeihung bitten, mich ihm heimlich verloben, ihm ewige Treue schwören.

In aller Herrgottsfrühe ließ ich mir die »weiße Dame« satteln und ritt durch einen feuchtkalten Septembermorgen zu ihm hinüber. Vor der Stalltür sprang ich vom Pferde und warf dem ersten erstaunt herbeieilenden Knecht die Zügel zu. Mit wild klopfendem Herzen zog ich die Glocke an dem einstöckigen, einfachen Herrenhaus. Wie heldenhaft kam ich mir vor, wie ungeheuer das Opfer, das ich brachte! Eine dicke Wirtschafterin trat mir entgegen. Stotternd frug ich nach dem Herrn. Mit offnem Munde starrte sie mich an, um dann spornstreichs im Hintergrunde zu verschwinden. Gleich darauf stand Rapp vor mir. In äußerster Verlegenheit vermochte ich nur das eine Wort »Verzeihung« zu murmeln. »O gnädiges Fräulein hatten einen Ohnmachtsanfall!« rief er so laut, daß die Mamsell, die den Kopf neugierig durch die nächste Türe steckte, es hören konnte, »ich werde sofort für eine Erfrischung sorgen.« Er holte [132] ein Glas Wein und flüsterte mir, während ich trank, mit scharfer Stimme zu: »Ich kann Ihnen nur raten, schleunigst in die Kinderstube zurückzukehren. Spielen Sie vorläufig mit Puppen, statt mit Menschen!« Langsam und müde ritt ich nach Pirgallen zurück.

Mein heimlicher Spazierritt und sein Ziel blieben nicht unbekannt, sogar Papa erfuhr davon, als er auf Urlaub nach Pirgallen kam. »Hast du denn gar keine Scham im Leibe?« schrie er mich wütend an. Großmama suchte mich zu schützen, aber ihre dauernde stille Sorge um mich empfand ich so sehr als einen Vorwurf, fürchtete so sehr, daß sie, die fromme Christin, mich nach meinem Seelenzustand fragen und Schmerzen und Erinnerungen heraufbeschwören könnte, die ich so tief als möglich vergrub, daß ich jetzt auch jedem Alleinsein mit ihr aus dem Wege ging. Der traurige Blick, mit dem sie mir folgte, tat mir schon weh genug.

Ich atmete auf, als wir Pirgallen verließen und der alte Turm, um den die gelben Blätter im Herbstwind tanzten, meinen Blicken entschwand. Und ohne ein anderes Gefühl als das der Erleichterung schied ich kurze Zeit darauf auch von meinen Eltern. Papas Schwester in Augsburg erwartete mich; sie hatte schon längst mit den Eltern abgemacht, daß ich ihr zum letzten »Erziehungsschliff« anvertraut werden sollte. Mir war es ganz gleichgültig, wohin ich ging.

[133]
6. Kapitel
Sechstes Kapitel

Ein Oktoberabend war es wieder, wie vor neun Jahren, als ich in Augsburg ankam. Aber diesmal empfing mich die Tante selbst am Bahnhof. Silbergraue Seide schmiegte sich eng um ihre hohe, volle Gestalt; unter dem großen gleichfarbigen Federhut quollen die roten Locken üppig hervor, stahlblau glänzten ihre Augen in dem weißen Gesicht. Noch nie war ich mir der Schönheit dieser reifen Frau so bewußt geworden. Als unser Wagen den Königsplatz erreichte, den ich einst als öde Sandwüste gesehen hatte, spielten die letzten Goldstrahlen der Herbstsonne mit dem bunten Laub seiner Bäume und den fallenden Tropfen seiner Springbrunnen. Und nicht in die enge Gasse, zu dem alten düsteren Hause ging es, – vor einem Park, dessen Blumenpracht dem Herbst zu spotten schien, öffneten sich vielmehr die breiten Flügel des Torwegs, und zwischen den alten Linden lugten die hellen Mauern eines Gebäudes hervor, das in seiner lichten Vornehmheit an altitalienische Villen erinnerte. Ich hatte es noch nicht gesehen, aber genug davon gehört, denn mein Vater war gar nicht damit einverstanden gewesen, daß seine Schwester das alte Stadthaus verkauft und diesen Landsitz, der wie viele seiner Art vor den Stadttoren ein Sommeraufenthalt Augsburger Patrizier gewesen war, mit großen Kosten ausgebaut hatte. Mich umfing die Atmosphäre von Schönheit und Reichtum gleich beim ersten Eintritt wie ein weicher, wohliger Mantel. Das strahlend erleuchtete Treppenhaus glich mit seiner Fülle von erotischen Pflanzen einem Palmengarten, und der [134] süße Duft, der die vielen Räume durchzog, legte sich mir wie ein berauschender Traum auf die Stirne. Ich wurde in den zweiten Stock in meine Zimmer geführt: auch hier Blumen und viel Licht und fröhliche Farben. Viel weiter noch als von der Warthe bis zum Lech fühlte ich mich fern von all den Sorgen des Elternhauses und all den Herzens- und Gewissensschmerzen, die mich niedergedrückt hatten. Zufrieden und dankbar, in der Erwartung lauter schöner Dinge, schmiegte ich mich abends in die weichen Kissen meines Bettes.

Es dämmerte, als ich geweckt wurde. »Frau Baronin wünschen, daß das gnädige Fräulein früh aufsteht,« sagte die Jungfer. Nicht wenig erstaunt, erhob ich mich und fing an auszupacken. Der knurrende Magen trieb mich schließlich herunter; ich holte mir ein Brötchen aus der Küche, da ich noch eine Stunde bis zum Frühstück zu warten hatte. Endlich kam der Diener mit dem Teewasser, und das Klappern hoher Absätze und Rauschen seidener Röcke kündigte die Tante an. Statt eines Morgengrußes lachte sie mir hell ins Gesicht: »Ja wie schaust du denn aus?! So ein Fratz, und fagotiert sich wie eine junge Frau auf der Hochzeitsreise.« Tief gekränkt biß ich mir auf die Lippen; ich war so stolz auf den weichen schleppenden Morgenrock, den mir mein Vater geschenkt hatte! »Daß du mir diese Theatertoilette nicht mehr anziehst!« sagte die Tante stirnrunzelnd, während sie sich setzte und die Spitzenflut ihres Kleides sich um ihren Stuhl ausbreitete.

»Hast du deine Zimmer gemacht?« mit dieser verblüffenden Frage begann sie aufs neue ein Gespräch, in das ich noch mit keinem Wort eingegriffen hatte. »Meine Zimmer?!« Ich glaubte mich verhört zu haben. In diesem eleganten Haushalt, angesichts einer zahlreichen Dienerschaft männlichen und weiblichen Geschlechts sollte ich die Zimmer machen?! »Es ist doch selbstverständlich, daß ich für dich keine Kammerjungfer halten werde. Außer der groben Arbeit hast du selbst Ordnung zu [135] halten. Und zwar muß vor dem Frühstück alles fix und fertig sein.« Die Bissen blieben mir im Halse stecken, – so etwas hätte ich mir niemals träumen lassen! Aber es kam noch besser: aus Schränken und Schubladen wurden meine Sachen herausgezogen; kaum ein Hut oder ein Kleid fand Gnade vor den Augen der Tante; und meine Art, die Dinge einzuräumen, erklärte sie für skandalös. Dann forderte sie den Schlüssel zum Schreibtisch – »ein Kind hat nichts zu verschließen« – und geriet in helle Empörung über meine poetischen Manuskripte, die sie durchstöberte, und meine Lieblingsbücher, von denen ich mich nicht hatte trennen wollen.

»Eine nette Erziehung!« rief sie, »und ich kann meine Zeit und meine Kräfte opfern, um so ein von Grund aus verdorbenes Geschöpf wie dich zu einem anständigen Menschen zu machen!« Ich zitterte vor Aufregung, aber kein Wort kam über meine Lippen, – das einzige, was ich durch die Erziehung meiner Mutter bis zur Vollendung gelernt hatte, war die Selbstbeherrschung. Erst abends im Bett, nach einem Tag, an dem ich nicht einen Augenblick mir selbst gehört hatte, kam die Verzweiflung über mich und fassungslos schluchzte ich in die Kissen. Aber auch die Möglichkeit, mich auszuweinen, sollte mir genommen werden. Sah ich morgens verweint aus, oder zeigten sich dunkle Ränder um meine Augen, so erregte das den heftigsten Zorn der Tante, – »ein junges Ding hat frisch und rosig auszusehen«, erklärte sie; und da der bloße Befehl nichts helfen wollte, kam sie abends, wenn ich zu Bett war, wiederholt in mein Zimmer, um zu kontrollieren, ob ich schlief. So gewöhnte ich mich rasch an die große Kunst, nach innen zu weinen. Grund genug hatte ich dazu. Es verging kein Tag, ohne daß ich gescholten worden wäre: wenn an ihrem behandschuhten Finger, mit dem sie über jede Leiste in meinem Zimmer fuhr, Staub haften blieb; wenn meine Krawatte nicht richtig gebunden war, meine Handschuhe nicht sorgfältig ausgereckt in der Schublade lagen, wenn ihre scharfen [136] Augen einen Fleck auf dem Kleide entdeckten, oder wenn ich gar zu einer Zeit las oder schrieb, wo ich Strümpfe stopfen sollte! Briefe, die nicht die Handschrift der Eltern aufwiesen, wurden von ihr zuerst geöffnet und gelesen. Dadurch erfuhr sie, daß ich meiner Cousine Mathilde mein Leid geklagt hatte. »Es ist sehr traurig, daß Deine geistigen Bedürfnisse so wenig berücksichtigt werden und Deine Begabung keine Anerkennung findet,« hatte sie mir daraufhin geschrieben; höhnend las die Tante mir die Stelle vor und erklärte dann: »Ich verbiete dir jede Korrespondenz, außer der mit deinen Angehörigen. Das fehlte mir noch, daß dein dummer Hochmut heimlich unterstützt wird, statt daß du endlich einsiehst, wieviel dir noch fehlt, um nur den guten Durchschnitt zu erreichen.« Sie unterließ nichts, um mir zu dieser Erkenntnis zu verhelfen, und beleuchtete möglichst grell alle schwachen Seiten meiner Ausbildung: die musikalische, die fremdsprachliche, die praktische. Stundenlang quälte ich mich täglich am Klavier; englische und französische Konversationsstunden wechselten daneben mit Koch- und Nähunterricht ab. Ein paar Musterexemplare vollendeter junger Damen wurden mir des guten Beispiels wegen zum Verkehr zugewiesen. Sie konnten alles in der Perfektion, was ich nicht konnte, sie sangen und spielten, stickten und schneiderten, und immer war ihre Toilette tadellos. Natürlich fand ich sie gräßlich und träumte mich immer mehr in die tragische Rolle einer verwunschenen Prinzessin.

Ich war klug genug, um bald einzusehen, welches die Triebkraft der Handlungsweise meiner Tante mir gegenüber war: eine grenzenlose, von allen Menschen, die sich ihr näherten, sorgfältig genährte Eitelkeit. Wie ihr Haus und ihr Park die schönsten, ihre Equipage und ihre Toiletten die elegantesten Augsburgs waren, so sollte ihre Nichte – am Maßstab Augsburgs gemessen – die vollendetste junge Dame sein. Es gehörte eine intensive geistige und körperliche Umwandlung hierzu, um dieses Ziel zu erreichen.

[137] Wurde die gute Gesellschaft in Norddeutschland durch den alten ritterbürtigen Adel repräsentiert mit seiner Auffassung von Ebenbürtigkeit, mit seinen kirchlich-orthodoxen und politischkonservativen Gesinnungen, seiner damals noch ausgesprochenen Geringschätzung jeden Berufs, der außerhalb der Laufbahn des Gutsbesitzers, des Offiziers oder des höheren Staats- und Hofbeamten lag, so setzte sie sich hier, getreu den Traditionen, aus dem alten und dem neuen Patriziertum zusammen, das mit wenigen Ausnahmen nach wie vor bürgerlichen Berufssphären angehörte. Zur Zeit, da die Ahnherren der preußischen Junker wider Heiden und Türken kämpften, handelte der Stammvater der Fugger mit Leinwand, segelten die Kauffahrteischiffe der Welser nach Westindien, saßen die ersten Stettens in der Goldschmiedzunft. Ihre Nachkommen betrachteten die Fröhlich und Forster und Schätzler – Industriebarone des neunzehnten Jahrhunderts – als zu sich gehörig, während der Offizier als solcher ebensowenig eine gesellschaftliche Stellung besaß wie der Landsknecht des Mittelalters.

So groß wie der Gegensatz der Herkunft, war der der wirtschaftlichen Interessen, die in meinem bisherigen Lebenskreise wesentlich agrarische gewesen waren und hier ausschließlich großindustrielle. Die verschiedenartige politische Stellung folgte daraus: die gute Gesellschaft Augsburgs war nationalliberal, und lehnte mit der politischen auch die kirchliche Orthodoxie ab. Ein lebhafteres Interesse für Kunst und Wissenschaft ging damit Hand in Hand, und wurde von der Allgemeinen Zeitung und den Männern, die durch sie nach Augsburg kamen, stets rege erhalten. Unterhielt man sich in den Schlössern Ostpreußens von Literatur und Theater, so geschah es nur unter dem Gesichtswinkel des größeren oder geringeren Amüsements; in Augsburg gehörte es zum guten Ton, Neues zu kennen und vom künstlerischen Standpunkt aus darüber zu urteilen.

Die breite Mittelstraße, auf der sich von rechts und links [138] immer die Leute zusammenfinden, die den Mut nicht aufbringen, vom Wege ihrer alten Anschauung die entgegengesetzte Grenze zu überschreiten, und die zu ihrer eigenen Beruhigung jene Straße die »goldene« tauften, war das Symbol des ganzen geistigen Lebens. In Preußen vermied man es, über ernstere Fragen zu sprechen, weil dabei die Ansichten aufeinanderplatzen könnten und das nicht zum guten Ton gehört, hier war man so weit, alles zum Gegenstand bloßer Konversation zu machen.

Wurde es mir sehr schwer, bürgerliche Hausfrauentugenden zu lernen, und noch schwerer, jenen tief gewurzelten Hochmut niederzudrücken, der sich durchaus nicht dazu verstehen wollte, einen Fabrikanten oder einen Bankier als gleichgestellt anzusehen, so war die politische und religiöse Richtung der Umgebung im Einklang mit meiner Entwicklung. Und von dieser Seite aus eroberte mich Augsburg und machte mich schließlich zum gefügigen Zögling meiner Tante.

Kaum hatte sie mich äußerlich ausreichend umgemodelt – eine kunstvolle Frisur und ein Pariser Korsett waren ebenso das Attribut süddeutscher Vornehmheit, wie der glatte Scheitel und das deutsche Mieder das der norddeutschen waren –, als ich in den Kreis ihrer Verwandten und Freunde eingeführt wurde. Was mich zunächst in Erstaunen setzte, war, bei anerkanntem Reichtum, die große Einfachheit des äußeren Lebens. In dem alten hochgiebeligen Stettenhaus am Obstmarkt gab es noch gescheuerte Dielen und servierende Dienstmädchen. In der Zeit der Renaissancemöbel und verdunkelnden Gobelinvorhänge behauptete hier die weiße Mullgardine neben dem leichten Biedermeierstuhl ihren Platz. Im Hause der Schätzler, dessen herrlicher Rokokosaal jedem Königsschloß zur Ehre gereichen würde, buk die Hausfrau selbst den Weihnachtskuchen und machte das Obst ein. Ich verlernte allmählich, über dergleichen die Nase zu rümpfen; die Vereinigung von Fleiß, Einfachheit und Reichtum hatte etwas Imponierendes, und die Erkenntnis, daß es [139] außerhalb der Welt meiner bisherigen Umgebung noch Menschen gab, mit denen »man« verkehren konnte, war epochemachend für mich. Aber noch überraschender war der Eindruck, den das geistige Leben auf mich machte. Zu den Intimsten im Hause meiner Tante gehörte der Chefredakteur der Allgemeinen Zeitung, Dr. Otto Braun, der Oberbürgermeister von Augsburg, Ludwig Fischer, und der Pfarrer von St. Anna, Julius Haberland. Mit einem kleinen Kreis anderer Gäste – aus dem die männliche Jugend streng ausgeschlossen war – kamen sie regelmäßig einmal in der Woche bei uns zusammen. Der Musiksaal, der mit seinen Goldornamenten und rotseidenen Möbeln dem brutalen Prachtgeschmack des bayrischen Königs zu huldigen schien, war dem Wagner-Kultus geweiht. Im grünen Rokokoboudoir trafen sich die Plaudernden; in der ernsten dunklen Bibliothek unter der zimmerhohen Fächerpalme pflegte Otto Braun vorzulesen.

Er war ein außerordentlich lebhafter untersetzter, kleiner Mann, dessen Interessen wesentlich literarische waren, und dessen jugendliche Begeisterung für seine Lieblingsdichter ansteckend wirken mußte. Trotz des Gegengewichts der Tante, die meine Lektüre auf das notwendigste und kindlichste beschränken wollte, verstand er es, meine zerfahrenen Neigungen in feste Bahnen zu lenken, und erschloß mir Gebiete der Literatur, die mir, und damals wohl auch der Mehrzahl des lesenden Publikums, noch vollkommen fremd geblieben waren. Hatte ich bisher die Bücher der Modedichter, eines Heyse, Dahn oder Ebers, andächtig verschlungen, so wurden mir jetzt die von Gottfried Keller, von Conrad Ferdinand Meyer und Marie von Ebner-Eschenbach zu künstlerischen Offenbarungen. Daß Braun den Allerjüngsten verständnislos gegenüberstand, sich gegen radikale Ausländer, wie Zola, Ibsen und manche der großen Russen ablehnend verhielt, vermochte auf mich um so weniger nachteilig zu wirken, als der Eintritt in seine Interessensphäre schon einen großen Schritt vorwärts bedeutete.

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Für das Gebiet der Politik und der Religion galt dasselbe wie für das der Literatur. Wenn Ludwig Fischer, der als einflußreiches Mitglied der nationalliberalen Partei auf der Höhe seines parlamentarischen Ruhmes stand, seine Ansichten entwickelte, so erschienen sie mir, der die konservative Politik stets als die eines anständigen Menschen allein würdige dargestellt worden war, beinahe als revolutionär. Die Erinnerung an den revolutionären Liberalismus von 1848, der mich in der Geschichtsstunde einmal begeistert hatte, verstärkte diesen Eindruck; von Freihandel und Schutzzoll verstand ich nichts, hatte also von dem Umfall der Mehrzahl der Liberalen in jener Schutzzollperiode Bismarcks keinen Begriff, sondern empfand, was ich hörte, wie eine innere Befreiung: es gab Menschen, es gab eine große Partei, die die Ideale der Freiheit und der Menschenrechte hochhielten, ich konnte mich zu ihnen bekennen, ohne, wie sonst immer, bei den Meinigen auf heftigen Widerstand zu stoßen. »Konservativ kann ich nicht sein,« schrieb ich im Frühjahr 1881 an meine Cousine, mit der ich, seitdem die Tante befriedigt die guten Resultate ihrer Erziehung konstatierte, wieder korrespondieren durfte, »das wäre dasselbe, als wenn ich für die Prügelstrafe und die Unterdrückung jedes wissenschaftlichen Fortschritts eintreten wollte. Der Nationalliberalismus, der nicht eine Kaste und ihre veralteten Privilegien, sondern die Interessen des ganzen Volkes vertritt, der die wissenschaftliche Erkenntnis stets zu fördern bereit ist, und daher auch der religiösen Orthodoxie energisch gegenübersteht, entspricht meinen Ansichten.«

Der kirchliche Liberalismus, den kennen zu lernen mir noch interessanter war, und der in Augsburg allgemein vorherrschte, wurde im Kreise meiner Tante durch den Pfarrer ihrer Gemeinde auf das eindrucksvollste vertreten. Der sonntägliche Kirchgang – hier ebenso eine selbstverständliche Pflicht wie zu Hause – hatte darum nichts Abschreckendes mehr für mich. Wenn Julius Haberlands schöne Apostelgestalt auf der Kanzel erschien und seine [141] sonore Stimme die Kirche mit Wohlklang erfüllte, war ich vom ersten Augenblick an gefesselt: hier fehlte jede dogmatische Schroffheit; Verständnis und Milde fand ich hier für menschliche Fehler und Irrtümer, wo mir in Posen nichts als Verurteilung und Härte begegnet war.

Alle Wunden öffneten sich wieder, die die religiösen Kämpfe mir geschlagen hatten; sie waren nur mühselig überklebt, aber nicht geheilt worden, und ich sehnte mich mehr denn je nach der Heilung. Auf meinen dringenden Wunsch bat meine Tante den Pfarrer, mir privaten Religionsunterricht zu erteilen; er war bereit dazu, und so ging ich denn allwöchentlich ein paarmal in das stille Haus an der Fuggerstraße. In seiner sonnigen Studierstube saß ich dem gleichmäßig gütigen Mann mit den feinen, von blondem Vollbart umrahmten Zügen und den weißen, schmalen, gepflegten Händen viele Stunden gegenüber, und ganz, ganz langsam gelang es ihm, aus meinem ängstlich verschlossenen Inneren all meine Zweifel und Verzweiflungen herauszulocken. Sein Christentum, das den religiösen Glauben weit mehr im Sinne des Vertrauens, statt in dem des Für-wahr-haltens, auffaßte, wirkte zunächst auf mich, wie der Eintritt in die freie Natur auf einen Menschen wirkt, der zwischen den Mauern enger Gassen lange zu leben gewohnt war.

Mein Glaubensbekenntnis konnte zu Recht bestehen, und ich war doch ein Christ. Ich brauchte nicht an die göttliche Inspiration der Bibel, an die Wunder des Alten Testaments, an die Jungfräulichkeit der Mutter des Heilands zu glauben und war doch keine aus der Kirche Ausgestoßene. Als heiliges Symbol konnte aufgefaßt werden, was ich wörtlich für wahr zu halten verpflichtet worden war, – demnach hatte ich vor dem Altar keinen Meineid geschworen! Mein Verstand beruhigte sich dabei. Ich hatte auch hier die »goldene« Mittelstraße erreicht, auf der so viele, selbst alte Leute gehen, die keine Heuchler zu sein brauchen, die aber, beherrscht von jener gefährlichsten Eigenschaft unserer [142] Denkkraft – der Bequemlichkeit – da einen Punkt machen, wo die eigentliche Arbeit erst anfangen sollte.

Aber die Befriedigung des Verstandes konnte auf die Dauer über den Hunger des Gemüts nicht hinwegtäuschen. Es blieb leer in mir, viel leerer als zu der Zeit, wo der alte strenge Gott der orthodoxen Kirche sich noch nicht in einen so milden, hinter fernen Nebeln fast verschwindenden väterlichen Greis verwandelt hatte. In kalte Schauer des Entsetzens hüllte mich diese trostlose Öde, je länger ich in dem glänzenden Blumenhaus am Königsplatz wohnte, je mehr ich mich unter den rastlos formenden Händen der Tante der Idealgestalt, die ihr vorschwebte, näherte. Nie ließ sie mir Zeit für mich selbst; mein Tag war, was das Arbeitspensum und die Art der Erholung betrifft, so genau eingeteilt, daß für meine persönlichen Neigungen kein Platz übrig blieb. Wenn mich aber einmal in den langen Stunden, die ich bei irgendeiner Handarbeit saß, die Gestalten meiner Träume überwältigten und ich mich ihrer nicht anders zu erwehren vermochte, als daß ich heimlich nachts darauf zu Feder und Tinte griff, um mit klopfenden Pulsen in Worte und Reime zu fassen, was mich erfüllte, so konnte ich sicher sein, daß die Tante oder die Jungfer mein streng verbotenes Tun entdeckten. »Unnütze Phantasien« hatte ich zu beherrschen; mußte durchaus gedichtet werden, so boten Familienfeste Gelegenheit genug dazu.

Einmal, im Frühjahr war's, als die Tante zu einer ärztlichen Konsultation nach München hatte fahren müssen. Da benutzte ich die Erlaubnis eines Besuchs bei einer Freundin, um allein nach Herzenslust in der Stadt umherzustreifen. Einem tiefen inneren Bedürfnis folgend, das sich aus künstlerischen und religiösen Motiven merkwürdig zusammensetzte, war es mir schon zur Gewohnheit geworden, bei jedem Ausgang in irgendeine der alten Kirchen einzutreten, wo ich im weihrauchduftenden Dämmer wenigstens zu Augenblicken stiller Sammlung kam. Heute durfte ich mir ein paar Stunden gönnen, nach dem ich den Besuch möglichst abgekürzt hatte.

[143] Das Portal des Doms stand offen, als ich näher trat, und Scharen kleiner Kinder trugen lange Girlanden bunter Frühlingsblumen hinein, um die vielhundertjährigen Säulen und Altäre zu den Maiandachten der heiligen Jungfrau zu schmücken. Königlich und liebreich zugleich schien sie vom Pfeiler des großen Tores auf all die jungen Gläubigen herabzulächeln. Innen, in den weiten Hallen, die so wunderbar deutlich, und eindringlicher als irgendein gelehrtes Buch, von der Entwicklung deutscher Kunst erzählen, verklangen die vielen trippelnden Füßchen, und es war ganz still. Die helle Nachmittagssonne glänzte durch die alten gemalten Fenster, so daß Daniel und Jonas, Moses und David von neuem Leben durchglüht er schienen. Im Gegensatz zu diesem Licht waren die schwarzen Schatten des dunkeln Querschiffs um so tiefer, und wie hinter grauen Florschleiern schimmerten die Grabsteine in den Seitenschiffen. Dumpfkalte Winterluft schwebte noch um die Mauern. Dem hellen Chorgang schritt ich daher zu, aus dem die Kinder mir gerade entgegenströmten; sie hatten ihm schon sein frisches Festkleid angetan, und es trieb mich, zu sehen, wie sie der Mutter Gottes als heidnischer Frühlingsgöttin die Erstlinge des Lenzes geopfert hatten. Da stockte mein Fuß vor einem steinernen Grabmal: ein Totenschädel mit breitem Mund und leeren Augen grinste mich an, lang gestreckt dehnte sich der ausgedörrte Leib auf dem Sarkophag, von Kröten und Schlangen ringsum gräßlich benagt. Entsetzt floh ich hinaus; aber in der Erinnerung verstärkte sich nur noch der Eindruck: die steinerne Maria am Portal, die blumentragenden Kinder aus Fleisch und Blut, und der tote Peter von Schaumburg, der lebenslustige Kardinal, der sich selbst, da er noch im Golde wühlte und Augsburgs schönsten Töchtern die Beichte abnahm, dieses furchtbare Denkmal gesetzt hatte, gingen neben mir her, traten mir in den Weg, oder folgten mit leisen Sohlen meinen Schritten. Oben in meinem Zimmer angekommen, warf ich hastig Hut und Mantel von mir, setzte [144] mich an den Schreibtisch und schrieb – schrieb – schrieb, ohne die wiederholte Mahnung zum Abendessen zu berücksichtigen, eine phantastische Geschichte, in der der Kirchenfürst zu der holdseligsten Jungfrau der Stadt in sündiger Liebe entbrannte und die sittsame Maid auf ihr Gebet zum Steinbild auf dem Pfeiler verwandelt wurde, während er in ihrer Nähe sich bußfertig dieses dauernde memento mori schuf. Ich achtete nicht der Stunde, ich hörte nicht die Schritte der Tante hinter mir, erst als sie sich über mich beugte und ihr warmer Atem meine Stirne streifte, fuhr ich erschrocken aus meinem wachen Traum.

»Also nur den Rücken zu kehren brauche ich, und die alte Geschichte fängt von neuem an,« rief sie empört und nahm die beschriebenen Blätter vom Schreibtisch. »Statt deinen englischen Aufsatz zu machen, treibst du Narrenspossen.« Damit zerriß sie meine Kardinalsnovelle in tausend Stücke. Ich fühlte, wie alles Blut mir aus den Wangen wich; mit der Selbstbeherrschung war es vorbei. »Du willst mich umbringen – langsam zu Tode martern« – stieß ich hervor; »tue ich nicht alles, was du willst, lasse mich sogar einsperren und kontrollieren, wie einen Verbrecher? Gönne mir doch mein bißchen eigenes Leben – schenk mir ein paar Stunden am Tag –. Gefällt dir nicht, was ich schreibe, so laß es mir wenigstens. Ich werde ja niemanden damit quälen. –« »Das wäre auch noch schöner, wenn du mich mit dem eiteln Herumzeigen solchen Geschreibsels blamieren wolltest!« entgegnete sie. »Ich kann tintenklexende Frauenzimmer bei mir nicht dulden. Und du willst, ich soll dir noch extra Freistunden dafür ansetzen! Eine Frau hat überhaupt nicht für sich zu leben, sondern für andere.« Gequält lachte ich auf – ich dachte daran, wie die Tante »für andere« lebte! »Ich halte es aber nicht aus, ich muß los werden, was mich gepackt hat. Andere denken auch nicht wie du. Großmama ist immer dafür gewesen, daß ich dem inneren Zwang gehorche.«

»Deine Großmama!« – höhnisch schürzte die Tante die [145] vollen Lippen; »ich will ja gewiß der alten Dame nicht zu nahe treten, aber du solltest doch besseres tun, als sie zum Kronzeugen anzurufen!«

Empört fuhr ich auf: »Großmama ist die beste Frau, die ich kenne, der einzige Mensch, der mich lieb hat und mich versteht!«

»Mag sein, daß sie dich versteht!« rief die Tante. »Sie ist gerade so überspannt wie du. Kein Wunder – bei der problematischen Herkunft!« Ich ballte unwillkürlich die Fäuste, daß mir die Nägel ins Fleisch drangen und warf hochmütig den Kopf zurück: »Mit deinen Augsburgern Krämern kann sie sich freilich nicht messen!« Kochender Zorn verzerrte die Züge der Tante. »Wirst du sofort wegen dieser unerhörten Frechheit um Verzeihung bitten?!« schrie sie mich an. Mit einem kurzen »Nein« wandte ich mich ab und ging in mein Schlafzimmer.

Ich warf mich aufs Bett und biß die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien: krampfhafte Schmerzen in der Seite ließen mich die seelischen Leiden momentan vergessen. Andeutungen davon hatte ich schon in Pirgallen beim Reiten gespürt; jetzt, in Augsburg waren sie immer stärker geworden, und steigerten sich nach jeder großen Erregung zu einem heftigen Anfall. Schließlich hatte ich mich entschlossen gehabt, der Tante davon zu sprechen; sie hatte es zum Anlaß genommen, mir zu erklären, daß ein gut erzogenes junges Mädchen nicht krank zu sein hätte, und ihr Hausarzt hatte mir dann, nach einem kurzen Blick auf mein blasses Gesicht »Beefsteak und Rotwein« empfohlen. Daraufhin sagte ich nichts mehr, auch wenn ich mich vor Schmerzen krümmte. So wie diese Nacht war es freilich noch nie gewesen. Ich tat kein Auge zu.

Am nächsten Morgen wurde mir mitgeteilt, daß ich oben zu bleiben hätte. Auch vor den Dienstboten sollte ich gedemütigt und so zur Abbitte gezwungen werden. Als auch der zweite Tag verstrich, ohne daß ich dazu Miene machte, kam Pfarrer. Haberland zu mir. Er sprach mir viel von Tantens Liebe zu [146] mir, ihrer Sorge um mich, den Opfern an persönlichem Behagen, die sie mir ständig brächte, ihrem Alter und meiner zur Unterordnung verpflichteten Jugend. »Zeigen Sie, daß Sie jetzt wirklich eine Christin sind!« sagte er. »Demütigen Sie sich, auch wenn Ihnen wirklich Unrecht geschehen wäre! Bringen Sie freudig das Opfer Ihrer selbst – Sie werden reichen Lohn davon haben!« »Vielleicht hat er wirklich recht«, dachte ich; und in dem stolzen Bewußtsein, einen Sieg über mein böses Ich errungen zu haben, ging ich mit ihm herunter, und es gab eine rührende Versöhnungsszene mit viel Tränen, Küssen und Segenswünschen. Ich hatte mich wieder einmal unterworfen. Als eine Art Selbstkasteiung sah ich es an, wenn ich nunmehr mit Feuereifer alle mir unangenehmen Arbeiten übernahm: ich stickte »altdeutsche« Deckchen, als ob ich es bezahlt bekäme, kämpfte stundenlang am Klavier mit meiner Talentlosigkeit, strickte unentwegt Strümpfe für die Negerkinder, während die Tante nach dem Abendbrot spielte und sang. Aber die Leere im Innern blieb, und wenn abends die Nachtigallen vor meinen Fenstern flöteten und der Duft der weißen Akaziendolden hereinströmte, dann erfaßte mich eine Sehnsucht, eine tiefe, heiße – wonach, ach wonach?!

Im Sommer fuhren wir nach Grainau. Ich freute mich kindisch darauf, aber durch die strenge Abgeschlossenheit des Lebens wurde mir der Aufenthalt sehr verbittert. Ich durfte nicht einmal mit dem Sepp auf die Hochalm, und als Hellmut Besuch machte, der inzwischen ein flotter Gardeleutnant geworden war, und seinen Urlaub in Partenkirchen bei der Mutter verlebte, nahm ihn die Tante allein an; sie mußte ihm wohl bedeutet haben, daß sie den Verkehr mit »dem Kinde« nicht wünsche, denn er kam nicht wieder.

Wir fuhren täglich spazieren, – wie ich von meinem Wagen aus die Touristen beneidete, die mit dem Rucksack auf dem Buckel frisch und fröhlich in die Welt hineinmarschierten!

[147] Nach Augsburg zurückgekehrt – ich war inzwischen sechzehn Jahre alt geworden – eröffnete mir die Tante, daß ich mich nunmehr, nachdem sie einen Rückfall nicht wieder beobachtet habe, freier bewegen dürfe. Da ich aber weder einen Schreibtisch-, noch einen Stubenschlüssel bekam, beschränkte sich die »Freiheit« nur auf ein geringeres Maß von Kontrolle, auf den Besuch von Gesellschaften, die nicht ausschließlich aus Damen und alten Herren bestanden, und auf den des Theaters, wo zwei Logenplätze uns jeden Abend zur Verfügung standen. Die Konsequenz und Energie meiner Tante, ihre unablässigen, in den verschiedensten Formen sich wiederholenden, und neuerdings durchaus freundschaftlich gehaltenen Auseinandersetzungen über die Pflichten eines jungen Mädchens von vornehmer Geburt, hatten überdies allmählich auf mich gewirkt wie ein Opiat, das die Seele stumpf macht. Wachte irgend etwas wieder auf in mir, so hielt ich es selbst schon für ein Unrecht, und beeilte mich, es wieder einzuschläfern. An meine Cousine schrieb ich damals: »Du fragst, ob ich irgend etwas schreibe? Es lebt vieles in meinem Kopf und Herzen, aber ich finde keine Zeit dazu, es zu gestalten. Das ist ein wunder Punkt in meinem Leben. In mir kocht und glüht es, und ich glaube wohl, daß ich Talent habe, und daß es hinausstürmen will. Da muß ich denn doppelt hohe Barrieren bauen. Ich muß so viel Prosaisches tun, – und wenn ich erst zu Hause bin, wo ich Mama viel abnehmen muß, wird meine Zeit vollends ganz ausgefüllt sein. Es mag Menschen geben, die für die Prosa des Lebens geboren sind; ihnen werden die gewöhnlichen Pflichten nicht schwer; mir werden sie schrecklich schwer ... Mein armer Pegasus hat zuerst daran glauben und am Altar der Pflicht verbluten müssen! ... Es ist am Ende das beste so. Was soll ein armes Mädel mit ihm anfangen? Die Phantasie war das Unglück meines Lebens; sie aus mir herauszuschneiden war eine gräßlich schmerzhafte Operation. Nun, da sie gelungen ist, will ich das, was blieb, nur benutzen, [148] um Haus und Leben damit zu schmücken, meinen Eltern und einmal meinem Mann zu dienen.«

Ich war wirklich eine »junge Dame« geworden; ich fühlte nicht einmal mehr, daß die hoffnungsvollsten Triebe meines Lebensbodens niedergetrampelt waren. »Man beurteilt ein junges Mädchen nach seinem Aussehen, weniger nach seinem Wissen,« schrieb ich, mir die Ansichten der Tante zu eigen machend, »sie wird mit Recht für arrogant gehalten, wenn sie schon eine eigne Meinung haben will.« Mein Tagebuch, das ich seit dem Augsburger Aufenthalt nicht berührt hatte, weil ich es nicht durfte, blieb auch jetzt unausgefüllt, obwohl mich niemand mehr daran hinderte. Großmama frug einmal brieflich danach, und ich antwortete mit schnippischem Selbstbewußtsein: »Ich schreibe keins, weil ich finde, daß man sich in meinem Alter darin Dinge vorlügt, die man nicht denkt, und aus Ereignissen wichtige macht, die man besser vergißt. Mein Leben brauche ich nicht aufzuschreiben, denn die Nachwelt wird es nicht kümmern. Auch Verse mache ich nicht mehr, denn mein Streben ist darauf gerichtet, mein eignes Ich und die Welt um mich so poetisch wie möglich zu gestalten« – durch bemalte Teller und Schachteln, bestickte Deckchen und ein mißhandeltes Klavier! – »damit ich einmal meinem Mann eine hübsche Häuslichkeit schaffen kann.«

Mein Mann! – Die Tante sorgte dafür, daß meine Träume sich mehr und mehr um ihn drehten und meine Phantasie, die wir so tief eingesargt wähnten, nach dieser Richtung üppigste Blüten trieb. War nicht das Ziel all ihrer Erziehungskünste der Mann? War es nicht wie ein glattes Rechenexempel, wenn sie mir auseinandersetzte, warum und wann und wen ich heiraten sollte? »Da ich kinderlos bin, wird für dich reichlich gesorgt sein,« sagte sie, als wir einmal im Siebentischwald spazieren gingen und ihr Arm schwer und schmerzhaft wie stets auf dem meinen ruhte, »aber natürlich erst nach meinem Tode. Jetzt bist du arm und bei der schlechten Wirtschaft deiner Eltern kannst du kaum [149] auf eine Zulage rechnen. Mach also keine Dummheiten. Sorgen treiben gewöhnlich die Liebe zum Hause hinaus. Und wenn ich versucht habe, dich aus deinem Wolkenkuckucksheim in die nüchterne Alltäglichkeit zurückzuführen, so doch nur, damit du dich nicht mit irgendeiner konfusen Leidenschaft verplemperst. Du kannst jetzt die größten Ansprüche machen – verscherze dir das nicht!« Ich hörte ruhig zu, ich war so gut erzogen, daß mir das alles selbstverständlich klang.

Nur einmal war's, als zerrisse ein dunkler Vorhang vor meinen Augen, und ich sah plötzlich, wie eine Vision, die tiefe, dunkle, kalte Leere meines Herzens. Ich suchte spät abends im Park nach einem Tuch, das ich irgendwo liegen gelassen hatte, als ich vor mir, eng aneinandergeschmiegt, zwei Menschen gehen sah: unsre Lina, das Stubenmädchen, und Johann, den Kutscher. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen und küßten sich – endlos, verzehrend. »Maria und Josef,« schrie die Lina auf, als sie mich sah, »das gnä Fräuln!« Mit Wangen, die glühten, und Augen, die glänzten, mehr vor Glück als vor Scham, streckte sie die Hände nach mir aus: »Gnä Fräuln werden's nit der Frau Baronin sagen, gel ja?« bat sie schmeichelnd, »de Liab is ja koan Unrecht nöt. Wer's freili so noblich haben kann wie das gnä Fräuln, der ka ruhig aufn Prinzen warten, der glei mitn Trauring kimmt und gradaus in die Kirch eini führt. Aber mir –« sie lächelte den verlegen daneben stehenden Johann zärtlich an, »mir haben nix als das bissel Liab – und dös – dös müssen wir haben ... So red' doch auch was, Hannsl!« Sie stieß ihn aufmunternd in die Seite. »Recht hast!« stotterte er, »a Freud muß der Mensch haben, so a rechte herzklopfete Freud!« Es dunkelte mir vor den Augen, laut aufgeschluchzt hätte ich am liebsten. Wie arm, wie schrecklich arm war ich! Aber ich war ja so gut erzogen! So versicherte ich denn das Paar meiner Verschwiegenheit und kehrte in meine »nobliche« Gefangenschaft zurück.

[150] Während der folgenden Monate in Augsburg wurde meiner Erziehung durch die Einführung in die Wohltätigkeitsbestrebungen der guten Gesellschaft der letzte Schliff gegeben. Meine Tante war Vorstandsmitglied der verschiedensten Vereine und galt allgemein für äußerst hilfsbereit. Mir waren darüber schon oft Zweifel aufgestoßen, wenn arme Leute, deren Unglück sichtlich rasche Hilfe verlangte, von der Schwelle des glänzenden Hauses abgefertigt und ihre Angelegenheit dem Bureaukratismus irgendeines Vereins überwiesen wurde. Aber meine Tante wußte so viel von der Großartigkeit der Augsburger Armenfürsorge – sowohl der kommunalen, als der privaten – zu erzählen, daß ich meine Bedenken zurückhielt und mir von dem, was geleistet wurde, die glänzendsten Vorstellungen machte. Schon meine erste Teilnahme an der Sitzung eines Krippenvereins ließ mir die Dinge in anderem Licht erscheinen. Da saßen lauter reiche Frauen in seidenrauschenden Kleidern um den Tisch; keine einzige unter ihnen hatte keine Loge im Theater, keine Equipage vor der Türe, – und doch berieten sie stundenlang, auf welche Weise die zur Erweiterung der Anstalt notwendigen paar hundert Mark aufgebracht werden könnten. Ein Bazar wurde beschlossen. Schon auf der Heimfahrt jammerte meine Tante über all die damit verbundenen Mühen und Scherereien, über ein neues Kleid, das ich – als Verkäuferin – notwendig dafür haben müßte, über einen neuen Hut, den sie nur in München bekommen könnte, – kurz, ich konnte die Frage nicht unterdrücken, ob nicht die Kosten erheblich geringer sein würden, wenn jede der Damen durch Zahlung von fünfzig Mark die ganze Sache rasch und glatt erledigt hätte. Aber da kam ich schön an. »Du hast doch gar keinen Begriff von Geld und Geldeswert,« sagte sie, »wenn du meinst, wir könnten alle Augenblicke solche Summen einfach hergeben. Was wir für uns tun und unsere Toilette, ist unsere Sache, für die Bedürftigen aber muß die ganze Bevölkerung herangezogen werden.«

[151] Auch zu Recherchen wurde ich mitgenommen, oder durfte sie hie und da selbst machen. So kam ich einmal in die Wertach-Vorstadt zu einer armen Witwe, die mit Wäschenähen ihren und ihrer vier Kinder kärglichen Unterhalt erwarb, und um Unterstützung nachgesucht hatte. Durch einen engen, dunkeln Hof mußte ich gehen, in dessen dumpfer Kellerluft eine Schar blasser, kleiner Buben und Mädeln sich herumtrieb. Sie scharten sich alle mit offnen Mäulchen um mich, als ich nach Frau Hard frug. »Über drei Stiegen links wohnt Mutta,« sagte ein blasser Junge mit einem ernsthaften Altmännergesicht, und die Schwester, deren Züge auch vom Lachen so wenig zu wissen schienen wie dieser Hof vom Sonnenschein, führte mich hinauf.

Mit jenem angstvoll nervösen Ausdruck gehetzter Tiere, der sich den Gesichtern all der Menschen einprägt, die den Kampf ums tägliche Brot jeden Morgen in gleicher Schärfe aufs neue beginnen müssen, sah die arme Frau mir entgegen. Während sie Heftfäden aus all den vielen weißen Wäschestücken zog, die fast das ganze winzige Zimmer füllten, und dazwischen hie und da aufsprang, um nach dem brodelnden Topf in der dunkeln Küche nebenan zu sehen, von dem ein widerlicher Geruch nach schlechtem Fett sich allmählich überallhin ausbreitete, erzählte sie mir ihre Leidensgeschichte. Der Mann, ein Maler, war vor drei Jahren an der Schwindsucht gestorben, – »ka Wunder nöt bei dera Fabrik am Stadtbach draußen« –, die Direktion hatte ihr eine einmalige Unterstützung von hundert Mark zugewiesen. »Gott vergelt's ihna viel tausendmal,« fügte sie tief gerührt hinzu, als sie davon sprach; trotz allem Fleiß konnte sie aber doch nicht das Nötigste schaffen. Inzwischen kamen die Kinder herein und drängten sich halb neugierig, halb eingeschüchtert in einer Zimmerecke zusammen. »Mit die Kinder is halt a Kreuz,« sagte die Mutter seufzend, »eins – das ginge noch an, aber vier, da weiß man nicht aus noch ein vor Sorg und Kummer.« Der Kleinste stolperte in diesem Augenblick über seine eignen [152] dünnen rachitischen Beinchen und fiel auf einen der Leinwandhaufen. Die Mutter patschte ihm erregt auf die Händchen, zankte gleich alle viere, daß sie »so arg im Wege« stünden und stieß sie unsanft in die Küche, mit der Mahnung, dort ganz still zu sitzen. Mir krampfte sich das Herz zusammen vor Mitleid mit diesen armen Geschöpfen, die der eignen Mutter nur eine Last waren und es mit brutaler Deutlichkeit von ihr selbst erfahren mußten. Fast war ich schon fertig mit meinem Urteil über die Hartherzigkeit der armen Näherin, als sie mir weinend erzählte, wie sie des besseren Verdienstes wegen ein Jahr lang in die Fabrik gegangen wäre, da sei aber ihr Jüngstes aus dem Fenster gestürzt, während sie abwesend war, und seitdem könne sie die Kinder nicht allein lassen. Aus lauter Angst um sie nähme sie alle vier sogar mit, wenn sie liefern ginge. »Glei spräng i nach, wenn noch eins da nunter fiele!«

Ich verlor alle Selbstbeherrschung, – nie hatte ich auch nur im entferntesten von solch einem Elend gewußt –, die Tränen strömten mir aus den Augen. Ein schwaches Lächeln huschte über die verhärmten Züge der Frau; sie ließ die Arbeit sinken und streichelte mir tröstend die Hände: »So a guts Herzerl sans – das hat mir g'wiß der liebe Herrgott geschickt!« – mich durchstach das Wort mit Messerschärfe: Ja, war es denn möglich, daß Gott solchen Jammer mit ansehen konnte?! Was hatte die Mutter, was hatten die kleinen Kinder getan, daß sie so leiden mußten? Warum lebten sie denn eigentlich, da doch ihr Leben gar keins war? Und wie kam ich dazu, nicht zu sein wie sie? Dunkel errötend sah ich an meinem eleganten Kleide hinab und blickte scheu zu den vielfach geflickten dürftigen Röckchen der Kinder hinüber, die sich wieder der Türe genähert hatten, um mich anzustaunen. Und ich fühlte plötzlich die Spitzen meines Hemdes auf meinem Körper brennen, – hatten nicht am Ende ebenso arme durchstochene Finger sie genäht, wie die der Witwe vor mir? O, wie ich mich schämte! Wären die Kinder auf mich [153] zugestürzt und hätten mir das weiche Tuch meines Kleides vom Leibe gerissen, hätte die Mutter sich mit meinem Mantel bekleidet, – ich hätte es in diesem Augenblick ganz natürlich gefunden. Statt dessen ruhten die Augen der Kleinen mit keinem andern Ausdruck als dem der Bewunderung auf mir, und die Mutter pries überschwenglich mein »gutes Herz«.

Ich zog den gedruckten Bogen aus der Tasche, um das Notwendigste einzutragen. Mechanisch stellte ich meine Fragen. »Wie alt sind Sie?« – »Sechsundzwanzig.« – Erschrocken sah ich auf: dies gelbe, faltige Gesicht, der krumme Rücken, die dünnen Haare, der erloschene Blick, – und sechsundzwanzig Jahre! Ich sah plötzlich meine Tante vor mir, die vierzigjährige – und ein dumpfer Zorn bemächtigte sich meiner. »Wie lange arbeiten Sie am Tage?« – »I steh halt um fünfe auf und leg mich um zwölfen nieder!« – Und das alles nur, um das elende Leben am nächsten Tage weiter zu fristen.

»Was verdienen Sie in der Woche?« – »Sechs Mark, und wann's arg gut geht, achte. In der stillen Zeit gibt's oft keine drei und vier. Und fünf – sechs Wochen im Jahr is die Arbeit rar.« – Also hatte sie für sich und die Ihren weniger, als mein Taschengeld betrug, – und ich gebrauchte für bloßen Toilettentand mehr als sie mit den Kindern zum Leben hatte!

Ich ertrug es nicht länger. Das Weltbild verschob sich mir, und seine Farben flossen zusammen, so daß nichts als ein schmutziges Grau übrigblieb. Ich griff in die Tasche, und in der Empfindung, etwas zu tun, was für mich weit beschämender war, als für die arme Frau, schüttete ich ihr den Inhalt meiner Börse in den Schoß und lief, so rasch ich konnte, davon. Als ich, trotz aller Mühe, mich zu beherrschen, atemlos und erregt von dem Erlebten berichtete, erklärte die Tante mich für »überspannt«. »Wie kannst du die Dinge nur von unsern Empfindungen aus bewerten. Die Leute sind das nicht anders gewöhnt, und wenn für das Notwendigste gesorgt wird, sind sie zufrieden. Sie übermäßig zu bedauern, heißt, sie zu Sozialdemokraten machen.«

[154] Ein andermal kam ich zu einem alten Manne, dessen Tochter Fabrikarbeiterin war. Die Armenunterstützung, die er erhielt, reichte zu seiner Erhaltung nicht aus, und sie hatte erklärt, von ihrem Lohn nur wenig erübrigen zu können. Der Alte saß am Fenster eines reinlichen Zimmerchens, als ich eintrat; er hustete beinahe ununterbrochen, rauchte aber trotzdem die Pfeife, und fast undurchdringliche Wolken umgaben ihn. Meinem Wunsch, ein Fenster zu öffnen, widerstand er heftig. »I hob's auf der Brust und vertrag ka Zugluft nöt,« sagte er. Unter Räuspern und Husten begann ich mein Verhör. Er beklagte sich lebhaft über die Tochter, die »a schön's Stück Geld« verdiene, aber »alleweil mehr an Putz denkt als an den alten Vater,« und lieber auf »die Tanzböden umanand hupft« als bei ihm zu sein, der »dös ausgeschamte Ding doch nu amal in die Welt gesetzt hat.« Grade ging die Türe und »d' Resi« kam nach Haus, ein schmalbrüstiges junges Mädchen mit hektischem Rot auf den Wangen und fiebrig glänzenden Augen. Sie hustete. »Kannst nit a bissel 's Fenster auftun,« bat sie nach einer verlegnen Begrüßung, »wenn man eh' den ganzen Tag gar nix wie Staub schluckt.« Aber der Alte gab nicht nach, sondern eiferte bloß über die ungeratenen Kinder – »zu meiner Zeit gab's koanen eignen Willen nöt bei die Madl. Heut zu Täg is aus mit'n schuldigen Respekt.« Die Resi bat mich, ihr mit meinem Fragebogen in die Küche zu folgen. Dort riß sie das Fenster auf, und ein Hustenanfall erschütterte ihre Brust, so daß ihr vor Anstrengung die Schweißtropfen auf der Stirne standen. Seit vier Jahren arbeitete sie, die eben erst achtzehn geworden war, in der großen Spinnerei, zu deren Aktionären auch meine Tante gehörte, wie ich aus ihrem eifrigen Studium der betreffenden Kurszettel erfahren hatte. Sie verdiente sieben Mark in der Woche, wovon sie dem Vater die Hälfte abgab. »Für mehr langt's gewiß nit, Fräulein,« fügte sie mit tränenden Augen hinzu, »i brauch a bissel was für's Gewand, und dann, – schauen's, wie's mi [155] grab gepackt hat – dös kommt alle Tag' a paarmal – der Herr Doktor hat gesagt, i soll viel Milli trinken, da hol' i mi heimli an halben Liter am Tag« – aus dem Winkel des Schränkchens suchte sie ein Töpfchen hervor, dabei ängstlich nach der Türe schielend, ob auch der Vater nichts merken könne. »Recht a gute Luft, meint der Herr Doktor, wär' halt auch nötig« – ein bittres Lächeln huschte um ihre Lippen – »Sie merken's ja selber, wie's hier damit steht, und schlafen muß i a no bei ihm drinnen! Wie's aber in der Fabrik is, das wissen's gewiß nit, – da schluckt einer weiter nix wie Baumwolle.«

Zu Hause meinte ich, es wäre am besten, der Alte käme ins Spital. Die Tante war empört über meine Herzlosigkeit. »Ein Kind gehört zu seinen Eltern,« sagte sie, »und dann am sichersten, wenn sie alt und krank sind.« Nach einer neuen, »sachverständigeren« Untersuchung wurde festgestellt, daß die Resi am Sonnabend stets auf dem Tanzboden zu finden sei und für bunte Bänder immer Geld übrig zu haben scheine. Diese Entdeckung wurde mir mit allen Zeichen einer Entrüstung mitgeteilt, die ich beim besten Willen nicht zu teilen vermochte. »Wir gehen doch auch in Gesellschaften – noch dazu ohne die ganze Woche gearbeitet zu haben,« sagte ich naiv, »und die Resi ist jung wie wir, dazu arm und krank – laßt ihr doch das bißchen Lebensfreude.«

Von da an wurden mir die Armenbesuche verboten. Nur zu Weihnachten durfte ich an der allgemeinen Bescherung des Krippenvereins teilnehmen. In einem langen niedrigen Saal standen hölzerne Tafeln mit geschmacklosen bunten Wollsachen, Schuhen, derben Wäschestücken, ein paar Pfefferkuchen und verschrumpelten Äpfeln bedeckt; ein dürftig geschmückter Baum streckte seine großen Zweige wie lauter wehklagend erhobene Arme nach der Zimmerdecke. Lieblos und nüchtern – gar nicht nach Weihnachten – sah es aus, und ich mußte der Großmutter denken, die selbst den Ärmsten immer irgendeine »Überraschung« [156] bereitete, denn »les choses superflus sont des choses très nécessaires« pflegte sie mit ihrem gütigsten Lächeln zu sagen. Auf der einen Seite drängten sich die Frauen und Kinder eng zusammen, auf der anderen saßen die Damen des Vorstands, und unter dem Baum stand Pfarrer Haberland, der die Festpredigt hielt. Er war mir völlig fremd diesen Abend, als er so viel vom »Vater im Himmel« sprach, »der die Armen nicht verläßt,« von »den wahrhaft christlichen Seelen der gütigen Geberinnen,« von der gebotenen »Dankbarkeit und Zufriedenheit der Empfangenden.« Dann wurde gesungen und dann beschert, wobei die Mütter ihre Kinder immer wieder ermahnten, »vergelt's Gott« zu sagen, obwohl die kleine Gesellschaft offenbar nicht recht wußte, warum. – Über eine Gummipuppe und ein Holzpferdchen hätten sie sich tausendmal mehr gefreut, als über all die prosaischen Nützlichkeiten.

Trotzdem von der Riesentanne in unserm Musiksaal wenige Stunden später Hunderte von Kerzen ein warmes strahlendes Licht verbreiteten und alle Geschenke meiner Eitelkeit zu schmeicheln schienen, verlebte ich noch nie ein so trauriges Weihnachtsfest. Ich sei »schlechter Laune«, meinte die Tante ärgerlich, der mein Dank nicht stürmisch genug war. Nachts darauf hatte ich wieder einen heftigen Anfall von Seitenschmerzen und wußte bald nicht mehr, ob meine Tränen um das körperliche Leid oder um die Zerrissenheit meines Innern flossen.

Ich mochte die Sitzungen der Vereine nicht mehr besuchen, trotzdem mir dringend empfohlen wurde, mir die gute Gelegenheit, soviel zu lernen, nicht entgehen zu lassen. Nur nichts hören und sehen von dieser Hölle, in die die Armen mir rettungslos verdammt erschienen!

Ich ging aufs Eis und in Gesellschaften und ins Theater, und je mehr die natürliche Lebenslust befriedigt und die Eitelkeit genährt wurde, desto leichter wurde mir ums Herz. Fuhren wir spazieren, die Tante und ich, und unser blauer Wagen rollte [157] in der Vorstadt mitten durch den Zug der heimkehrenden Arbeiter, so schloß ich am liebsten die Augen, nachdem meine Bitte, diese Gegend zu meiden, als »sentimental« unerfüllt geblieben war. Aber grade wenn ich nicht hinsah und nur die müden Schritte hörte und das freudlose Gemurmel vieler Stimmen, war es mir, als ginge ich mitten unter ihnen und sähe meinen Doppelgänger bequem in die seidenen Kissen gelehnt an mir vorüberrollen. Und dann packte mich eine Wut – eine Wut, daß ich am liebsten den nächsten Stein genommen und ihn den vornehmen Faulenzern ins Gesicht geschleudert hätte!

Sah ich dann, wie aus wüstem Traum erwachend, um mich, so fiel mein Blick nur auf gleichgültige oder bewundernde Mienen – es gab sogar Männer, die die Mütze zogen vor uns. Ich wandte jedesmal den Kopf ab.

Im Mai kam mein Vater, um mich heimzuholen. Er war von überströmender Freude und Zärtlichkeit, die ich gerührt und dankbar empfand. Seine Schwester rühmte mich als das Produkt ihrer Erziehung, wobei sie ihrer Mühen und Opfer ausgiebig gedachte und es an Seitenhieben auf die Eltern nicht fehlen ließ, die mich in so »verwahrlostem« Zustand ihr übergeben hatten. Seltsam, wie mein sonst so heftiger Vater sich das alles gefallen ließ; zwar schwollen ihm oft die Adern auf der Stirn, aber er schwieg. Ich freute mich auf Zuhause, auf die Liebe, die mich umgeben, die Freiheit, die ich genießen sollte, auf die Pflichten, von deren Erfüllung ich mir Befriedigung versprach. Alles Böse wollte ich die Eltern vergessen machen, was sie durch mich erfahren hatten! Meine Gedanken und meine Empfindungen waren schon lange, lange vor mir daheim.

Als ich zum stillen Abschied am letzten Abend im dämmernden Park auf und nieder ging, kam es über mich, wie eine Vision. Ein großes, dunkles Tor sah ich und eine endlose schwarze Schlange langsam schleichender Menschen, die daraus hervorkroch: Mädchen, wie die Resi, und Frauen, wie die arme Witwe, [158] und viele, viele Kinder mit sonnenlosen Gesichtern. – Ich warf mich ins Gras und weinte bitterlich. Als ich dann ins helle Licht der Lampen trat, schlang die Tante, beim Anblick meiner tränenfeuchten Augen, gerührt über so tiefen Abschiedsschmerz, die Arme um mich.

»Bleibe mein gutes Kind,« sagte sie beim Abschied mit Betonung.

[159]
7. Kapitel
Siebentes Kapitel

Es war eine mondhelle Mainacht, als wir in Brandenburg ankamen, mein Vater und ich. Über das holprige Pflaster rasselte die große alte Mietkutsche durch die schlafende Stadt. Der steinerne Roland am Rathaus warf einen langen schwarzen Schatten auf die einsame Straße, und in dem grünen Dachlaubkrönchen auf seinem Haupte spielte leise der Wind. Über die weite Wasserfläche am Mühlendamm, der zur Dominsel hinüberführt, breitete der Nebel leichte duftige Schleier aus, die ein zitternder Streifen silbernen Mondlichts mitten durchgerissen hatte, so daß sie flatterten, wie grüßend von unsichtbaren Händen bewegt.

Durch einen schmalen Torweg polterte der Wagen auf den Domhof. Dunkel und wuchtig wie eine Burg ragte das uralte Gotteshaus zum Himmel empor, das den engen Platz und die einstöckigen Häuschen ringsum, aus deren tiefen roten Dächern erstaunte Fensteraugen verschlafen blickten, mit seinem Schatten zu erdrücken schien. Nur das größte der Gebäude, das breit und massig an der andren Seite den Hof abschloß, war wach: helles Licht strömte daraus hervor und verscheuchte den Schatten; um das weit offene Tor über der grauen Steintreppe schlang sich ein Kranz bunter Frühlingsblumen, und auf der obersten Stufe erschien, als habe die größte davon sich losgelöst, und sei vom Mondzauber getroffen zu nächtlichem Elfenleben erwacht, ein kleines, schneeweißes Geschöpfchen, Stirn und Wangen von goldenen Locken umwallt. Erst als ihre Ärmchen warm meinen[160] Nacken umschlangen, fühlte ich, daß es ein Menschlein war, das mich willkommen hieß: mein Schwesterchen. Mit ungewohnter Zärtlichkeit begrüßte mich die Mutter, mit einem: »Nun bist du endlich daheim,« aus dem die ganze vergangene Sehnsucht klang, küßte mir der Vater die Stirn, und die Freude hielt mich noch wach, als die Kissen meines Bettes mich schon lange weich und wohlig umfingen.

Mit dem dämmernden jungen Tage trieb die Erregung mich zum Tore hinaus. Still und verträumt lag der Hof im Morgenglanze, und die stummen Steine der Mauern erzählten von der Vergangenheit. An unseres Hauses Platz mochte Pribislavs, des letzten Wendenherzogs, Fürstensitz sich erhoben haben, als er Albrecht, dem askanischen Bären, Krone und Land überließ und Triglaff, den dreiköpfigen Götzen, dem Christengott zu Ehren verbrannte. Sieben Jahrhunderte hatten zusammengewirkt, um des Gekreuzigten Haus zu errichten, und viele wilde Kämpfe um Glauben und Macht, die seiner Friedensbotschaft und Liebespredigt spotteten, hatten auf dem Raum zu seinen Füßen getobt. Jetzt nisteten die Schwalben an Giebel und Dachfirst, und auf dem Hof, der vor Zeiten von klirrenden Kettenpanzern und Sporen widerhallte, pickten weiße Tauben die Körnlein auf, die sich in dem wuchernden Unkraut zwischen den Pflastersteinen verloren hatten.

In tausend und abertausend Lichtern tanzte die Morgensonne auf den blauen Wassern der Havel rings um die Dominsel und malte alle Farben des Regenbogens auf die Tautropfen der Wiesengräser. Der Garten hinter unserem Hause, wo die Obstbäume weiß und rosenrot blühten, reichte bis hinab an das Ufer. Ein Kahn lag im Schilf vor dem weißen Pförtchen, das die alte verwitterte Mauer hier unterbrach, und eine Bank lehnte sich außen an die efeuumsponnene Wand. Von den wuchernden Ranken fest umschlossen, lag ein kleiner, pausbäckiger Liebesgott aus grauem Sandstein daneben; wie lange schon mochte er vom [161] Sockel gestürzt sein und die schelmischen Blicke grad auf das Himmelsgewölbe richten! Mitleidig stellte ich ihn auf die runden Beinchen und steckte ihm statt des verlorenen Pfeils einen Holunderzweig in die winzige Faust. Mir war's, als lachte er – ein helles, zwitscherndes Lachen –, vielleicht waren's auch nur die lustigen Vogelstimmen im Gezweig. Ein feuchter Wind, der den Duft frischer, lebenschwangerer Erde mit sich trug, strich mir lind um die Stirne. Es war der Mai, der mich grüßte, der Mai, dem mein Herz stürmisch entgegenschlug!

Zu sieben feierlichen Schlägen holte die Uhr im Domturm langsam aus. Und mit einemmal ward es lebendig: die späten Nachfolger der Mönche im Stiftshaus gegenüber, das sich im Lauf der Jahrhunderte in eine Ritterakademie verwandelt hatte, stürmten über den Hof, – lauter kecke brandenburgische Junker, deren harte Schädel der Weisheit der Magister trotzten, wie die ihrer Vorfahren von je den friedsamen Bürgern Trotz geboten hatten. Sie stutzten, als sie mich sahen – die neue Nachbarin, – und musterten mich halb neugierig, halb bewundernd; einer, ein langer, blonder, streckte mir die Hand entgegen und warf mir mit der anderen lachend einen ganzen Strauß von Vergißmeinnicht zu, so daß die blauen Sternchen mir in Haar und Kleid hängen blieben. Noch ehe ich eine Antwort fand, flog mir mein Schwesterchen in die Arme, und im Torweg tauchten blitzende Helme auf: das Musikkorps von meines Vaters Regiment. Mich zu empfangen, kamen sie, und all die Lieder von Glück und Liebe, die sie spielten, schmeichelten sich in mein Herz, und die Walzermelodien waren wie ein starker Duft von Jasmin, der mich in einen Rausch seliger Träume hüllte. Es war der Mai, der Mai, der mich grüßte!

Hat sich die Natur seitdem so verändert, ist das Sonnenlicht trüber, sind die Farben der Blumen matter geworden, oder waren es meine siebzehn Jahre, die ihren Glanz der Sonne und den Blumen liehen?

[162] Morgens spielte ich mit dem Schwesterchen in Hof und Garten. Wie sie erstaunt und gläubig die blauen Augen aufriß, wenn ich ihr die schattigen Winkel zeigte, wo die Zwerglein hausen, und sie in jedem Blütenkelch nach den Elfen suchen ließ! Beladen mit allem, was strahlte und duftete im Garten und auf der Wiese, stiegen wir dann die weiße Treppe zur Diele hinauf, um dort alle Vasen und Gläser zu füllen, die die Zimmer schmücken sollten. Gegenüber, an den Fenstern der Ritterakademie, pflegten zu gleicher Zeit viele Knabenköpfe aufzutauchen, und es gab ein lustiges Lachen und Nicken hin und her. Bald kannte ich die, die zur Freistunde den Platz am Fenster dem Spiel im Schulgarten vorzogen. Unsere Sonntagsgäste waren die meisten von ihnen, und der lange blonde, der Fritz, der mir die Vergißmeinnicht zugeworfen hatte, war mein Vetter. Die Tertia ließ ihn noch immer nicht los, trotz seiner achtzehn Jahre; sein schmaler Schädel war offenbar nicht der Sitz seiner besten Kraft. Aber rudern und reiten, tanzen und Schlittschuh laufen konnt' er dafür wie kein anderer; und zum Fenster hinaus und hinein konnt' er klettern, wenn es galt, zu verbotener Abendstunde unseren Garten zu erreichen, oder mir vor Tau und Tage Blumen von den Wiesen zu holen. Seit ich da war, lebte er mit den Wissenschaften auf noch feindseligerem Fuß als vorher. Die Junker von drüben waren alle meine Ritter, aber er allein war es mit der ganzen Hingabe seines treuen Herzens. All meinen Übermut ließ er über sich ergehen, um so dankbarer, je mehr ich von ihm forderte. Geduldig hütete er mein Schwesterchen, wenn ich zum Lesen Ruhe haben wollte; waghalsig kletterte er über die Mauer, um Rosen aus dem Nachbargarten zu holen, die mir duftiger schienen als die unseren; weit lief er in die Felder, um Kornblumen zu pflücken, die er, von seidenem Band umwunden, frühmorgens, ehe ich erwachte, in mein offenes Fenster warf; mit den Havelschwänen bestand er so manchen Kampf, weil ich mir die gelben Mummeln so gern in die Haare [163] steckte. Den köstlichen Genuß heimlich gerauchter Zigaretten gab er auf, um mir statt dessen für sein Taschengeld allerlei Zuckerwerk zu kaufen, das ich liebte.

Am Sonntagmorgen pflegte mein Vater ihm eins seiner Pferde zur Verfügung zu stellen. Ehe ich noch die Treppe hinab kam, die lange Schleppe meines Reitkleides stolz hinter mir schleifend, stand er schon rot vor Erregung wartend im Hof, und seine Hände, die er mir unter den Fuß schob, um mir hilfreich in den Sattel zu helfen, zitterten jedesmal. Unterwegs strahlte er vor Freude, wenn er sich zum Blitzableiter irgendeiner Heftigkeit meines Vaters machen konnte. Vermied ich sonst angstvoll jede Ungeschicklichkeit, weil sie unweigerlich einen Sturm heraufbeschwor, so ließ ich, wenn der Fritz dabei war, die Peitsche oft absichtlich fallen, um zu sehen, wie seine schlanke Jünglingsgestalt sich geschmeidig aus dem Sattel schwang, um mir das Verlorene wiederzubringen. Vergrößerte sich unsere Kavalkade, so kam es wohl vor, daß seine Mundwinkel zuckten, wie die eines kleinen Kindes, das weinen will, und er wortlos kehrt machte, um in gestrecktem Galopp nach Hause zu reiten.

Das alte Städtchen war erfüllt von Jugend. Es gab gar keine alten Leute, glaube ich; vielleicht, daß sie sich wie die Maulwürfe vor dem lachenden Tag grämlich verkrochen. Auch nur wenig junge Mädchen gab es in unserem Kreise, dafür um so mehr junge Männer. In meines Vaters Regiment war ich die einzige meiner Art, und daß alle Leutnants dem Regimentstöchterlein huldigten, war eigentlich selbstverständlich. Sie waren zumeist Berliner Kaufmannssöhne, die bei den 35 ern eintraten, weil ihnen trotz reichlicher Zulage die Garde verschlossen blieb und sie sich doch nicht zu weit von der Vaterstadt entfernen wollten. Manch einer unter ihnen hielt sich eigene Pferde und suchte durch seinen Aufwand wie durch seinen Hochmut die feudalen Kameraden von der Kavallerie zu übertrumpfen. Das Offizierkorps der weiß-blauen Kürassiere dagegen setzte sich aus [164] dem alten Adel Brandenburgs und Pommerns zusammen, und zwischen ihnen und den Füsilieren bestanden vor unserer Zeit so gut wie keine gesellschaftlichen Beziehungen. Die einen verkehrten auf den Rittergütern der Umgegend, mit deren Besitzern Familienbeziehungen sie verbanden, die anderen zogen den gewohnten Gesellschaftskreis der Kaufleute und Fabrikanten vor. Das änderte sich bald, als meine Eltern nach Brandenburg kamen. War meines Vaters Adelsstolz durch das bürgerliche Regiment verletzt worden, so half ihm seine altpreußische Auffassung von der Vornehmheit des Offiziers als solchen darüber hinweg, und er setzte alles daran, diese Idee auch in den äußeren Fragen des Verkehrs zur Geltung zu bringen. Leicht war es nicht, denn Bürgerstolz ist oft so hartnäckig wie Adelsstolz, und manch einer der Besten mußte es als Kränkung empfinden, wenn gesellige Beziehungen als eines Offiziers unwürdig bezeichnet wurden, die doch seiner eigenen Herkunft entsprachen. Aber der daraus entstehende Widerstand gegen meines Vaters Wünsche wurde reichlich aufgewogen durch jene unausrottbare neidvolle Bewunderung des Bürgerlichen für den Aristokraten, die oft die Maske des Hochmuts trägt, meist aber kein andres Ziel kennt, als selbst unter demütigender Selbstverleugnung im Kreise der Bewunderten Aufnahme zu finden. Unsere eigenen vielfachen freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Verbindungen mit dem Landadel und seinen Söhnen im Kürassierregiment unterstützten überdies die Durchsetzung der Erziehungsprinzipien meines Vaters.

Das Unerhörte geschah: zu Pferd und zu Wagen, wenn es aufs Land hinausging zu den Rochows und Bredows und Itzenplitz, oder zu lustigem Picknick im Walde, tauchte der rote Kragen des Infanteristen immer häufiger neben dem hellen blauen des Kavalleristen auf, und nur der aufmerksame Beobachter bemerkte, daß sich hinter der tadellosen gesellschaftlichen Form eine tiefe innere Feindseligkeit verbarg. Grade die vollendete [165] Höflichkeit, mit der der Kürassier den kleinen Leutnant von den Füsilieren behandelte, richtete die Schranke auf, die den Eintritt in das intime Leben unbedingt verwehrte – dieselbe Höflichkeit, die so aufreizend wirken kann, weil ihre kühle Glätte keinerlei Angriffsfläche gewährt.

Mein Vater hatte mir zur Pflicht gemacht, seinen Offizieren ebenso freundlich entgegenzukommen, wie den andern: »Daß sie Müller und Schultze heißen, muß dich nicht stören; sie tragen alle denselben Rock, und heiraten brauchst du sie ja nicht!« Nein, gewiß nicht! Der bloße Gedanke kam mir komisch vor! Heiraten –! Der Vornehmste und Schönste war mir dafür in meinen Zukunftsträumen nur grade gut genug! Warum auch ans Heiraten denken, wo lachend und lockend ein ganzes freies Jugendleben vor mir lag! Glücklich und harmlos ließ ich mich von den schmeichelnden Wogen der Bewunderung tragen; bei manchem glühenden Blick und heißen Händedruck bebte mir wohlig das Herz. Ich sah den einen lieber als den andern, ich dachte nicht daran, meine Empfindungen zu verstecken, denn ich liebte dankbar strahlende Augen und zeichnete freudig den aus, der mir am meisten huldigte.

Entzückend war's, wenn die halbwüchsigen Knaben der Ritterakademie sich im Garten um den Platz neben mir rauften; hoch auf klopfte mein Herz, wenn der blonde Vetter mich beim Greifspiel stürmisch an sich riß; weiche süße Gefühle beschlichen mich, saßen wir, lauter lebensprühende Jugend, im Kahn eng beieinander, und streifte meine Hand im Wasser die des schwarzäugigen Leutnants, meines getreuesten Kavaliers. Triumphierende Siegesfreude trieb mir das Blut wild durch die Adern, wenn meine braune Stute mich früh im Morgennebel über den Exerzierplatz trug, wo rote Sonnenstrahlen auf den Stahlhelmen der Kürassiere blitzten und Blicke mir folgten und Degen sich vor mir senkten, deren Gruß mehr bedeutete als bloße Höflichkeit.

Und einmal kam ein Tag, heiß und gewitterschwül, der uns [166] alle, eine große lustige Gesellschaft, in blumengeschmückten und buntbewimpelten Wagen hinausführte in den Wald, wohin unsere jungen Offiziere uns geladen hatten. Unter grünen Bäumen in hellen Zelten waren Tische gedeckt, Schieß- und Würfelbuden mit allerlei beziehungsvollen Gewinnen standen im Hintergrund, auf kurzgeschorenem Rasenplan war durch bunte Fahnenmasten der Tanzplatz abgesteckt. Mit einem Tusch empfing uns die Musik, und Fredy, mein treuester Kavalier und meines Vaters jüngster Leutnant, begrüßte mich mit einem Strauß dunkler, duftender Rosen. Er wich nicht mehr von meiner Seite. Ich suchte mich zu befreien, aber – war's Absicht oder Zufall – man ließ uns immer wieder allein; niemand, so schien's, wollte dem jungen Mann den Platz neben mir streitig machen. Es wurde dämmernder Abend. Müde von Scherz und Spiel lagerten wir unter den Bäumen und schöpften aus großen Kupferkesseln kühle, duftende Erdbeerbowle, die den Durst nicht löschte und das Blut nicht kühlte, es vielmehr unruhig pochend gegen die Schläfen trieb. Eine halbwelke gelbe Rose löste sich mir vom Gürtel, – der Mann zu meinen Füßen griff danach, und ich sah seine Hände zittern, als er sie an die Lippen drückte.

Es wurde Nacht. Bunte Lichterketten zogen sich von Baum zu Baum, Raketen und Leuchtkugeln flogen zum Himmel empor, wie lebendig gewordene, zuckend heiße Empfindungen unserer Herzen. Immer weicher und sehnsüchtiger klang die Musik. Wir tanzten, eng aneinander geschmiegt; selig erschauernd fühlte ich das pochende Herz an dem meinen schlagen, den heißen Atem meine Stirne streifen. Tiefer in den Wald ließ ich mich in halbem Traume führen. Erst als es still, ganz still um mich wurde, sah ich auf – in zwei Augen, die sich verzehrend auf mich richteten. Stumm lehnte ich mich in den Arm, der sich um mich schlang, und mir war, als versänke ich in ein Meer von rotem Feuer, als zwei Lippen sich glühend auf die meinen preßten. Die Betäubung schwand nur halb, als Geschwätz und Gelächter, [167] Pferdestampfen und Peitschenknallen mir ans Ohr tönten und die Wagen durch die Nacht heimwärts fuhren. Es wetterleuchtete am Horizont.

Gewitterregen klatschte gegen die Fensterscheiben und weckte mich am anderen Morgen. Trübselige Alltagsstimmung lagerte über Haus und Garten, und mich fröstelte, wie immer, wenn mir ein Traum verloren ging. Mittags kam der Vater aus dem Bureau herauf; sein erregtes Räuspern, sein schwerer Tritt kündigten nichts Gutes an.

»Du bist ja eine nette Pflanze!« rief er, kaum daß er eingetreten war, »hinter dem Rücken deiner Eltern bändelst du mit meinen Leutnants an und setzt ihnen Flausen in den Kopf. Hast du denn gar keine Ehre im Leibe?!« Verständnislos starrte ich ihn an. »Tu doch nicht so naiv,« schrie er wütend. »Du weißt ganz gut, was los ist, und meinst wohl, ich würde meine Tochter jedem hergelaufenen Ladenschwengel in die Arme werfen!« Ich erschrak – war das möglich: der Fredy hatte um mich angehalten! »Aber ich will ja gar nicht!« stotterte ich. Ein halbes Lächeln huschte über das rote Gesicht meines Vaters: »Ja, zum Donnerwetter, was bildet sich denn dann der Kerl ein –, er versichert hoch und teuer, deiner Zustimmung gewiß zu sein!«

Es half nichts – nun mußt' ich beichten. Und als ich so im grauen Tageslicht den süßen, heißen Traum der Nacht mit kalten Worten wie mit Messern zerschneiden mußte, faßte mich ein tiefer Groll gegen den Mann, dessen rasches Vorgehen mich dazu zwang. Ein Kuß in der Julinacht, – und früh tritt er an mit Helm und Schärpe und begehrt mich zum Weibe für ein ganzes langes Leben!

»Man küßt doch nicht, wenn man nicht heiraten will!« sagte meine Mutter kopfschüttelnd, als der Sturm des väterlichen Zorns sich etwas gelegt hatte.

»Heiraten – so einen fremden Mann!« kam es darauf zögernd über meine Lippen. Die Wirkung meiner Worte war [168] verblüffend: mein Vater lachte – lachte, bis ihm die dicken Tränen über die Backen liefen. Und abends schenkte er mir einen goldgelben Sonnenschirm, den ich mir schon lange gewünscht hatte.

Um jede Klatscherei im Keime zu ersticken, verlangte Papa von dem abgewiesenen Freier, daß er sich benehmen müsse, als sei nichts geschehen. Fredy folgte, aber er folgte in einer Weise, die das Gegenteil von dem erreichte, was beabsichtigt war: sein finster-verkniffenes Gesicht, das er zur Schau trug, sobald er sich neben uns zeigte, die offenbare Verachtung, mit der er mich strafte, fielen weit mehr auf, als seine Abwesenheit aufgefallen wäre. »Du hast dem Fredy einen Korb gegeben!« rief mir Vetter Fritz eines Tages strahlend vor Freude zu, und bald pfiffen es die Spatzen von den Dächern. Mit jenem Solidaritätsgefühl, das den preußischen Offizier charakterisiert und sich selbst stärker erweist als die Subordination gegenüber dem Vorgesetzten, wurden Fredys Kameraden nun zu seiner Partei: sie sprachen nur das Notwendigste mit der Tochter ihres Kommandeurs; und tanzten sie mit ihr, so waren es nur Pflichttänze. Selbst wenn ich gewollt hätte, – diese geschlossene Phalanx würde allen Eroberungsversuchen getrotzt haben. Aber ich wollte gar nicht; zähneknirschende Empörung erfüllte mich, nicht weil die Kurmacher mir verloren gegangen waren, sondern weil ich zum erstenmal die Ungerechtigkeit empfand, mit der mein Geschlecht im Vergleich zum männlichen behandelt wurde.

Als ich einmal wieder »pflichtschuldigst« von einem der Offiziere des väterlichen Regiments bei einem Diner zu Tisch geführt worden war und mich tödlich gelangweilt hatte, trat ein alter Major, der mir sein besonderes Wohlwollen zugewendet hatte, lächelnd auf mich zu.

»Sie müssen sich darein finden, Kleine,« sagte er, »das Kokettieren ist nun mal eine böse Sache und straft sich immer.«

»Kokettieren?! Ich habe gar nicht kokettiert!« rief ich, in [169] dem Bedürfnis, einmal auszusprechen, wie ich empfand, »ich hab' ihn gern gehabt, sehr gern sogar, aber doch lange, lange nicht so, um seine Frau zu werden.«

»Ein junges Mädchen darf es nicht so weit kommen lassen –«

»Wenn sie nicht heiraten will!« unterbrach ich den braven Mann lachend, dessen spitze Schnurrbartenden zu zittern begannen. »O ich kenne die Weise, und weiß daher, daß die ganze Musik falsch ist, grundfalsch! Warum soll denn ein Mädchen sich gleich mit Leib und Seele verschreiben, wenn sie einen freundlicher anlächelt als den andern? Warum soll der ein Recht haben auf ihre Hand, dem sie an einem schönen Julitag einmal von Herzen gut war? Verlangen Sie etwa dasselbe von Ihren Leutnants, die manch armes Ding durch ganz andere Liebesbeweise an die Echtheit ihrer Gefühle glauben lassen?!«

»Aber – mein gnädigstes Fräulein –« unterbrach der Major mit einer verzweifelnden Gebärde meinen Redefluß und richtete sich steif und gerade auf, so daß sein Kahlkopf mir bis an die Nasenspitze reichte. Seine kleinen wasserhellen Augen drückten dabei ein so komisches Entsetzen aus, daß meine Empörung verflog und ich das Lachen nicht unterdrücken konnte. »Beruhigen Sie sich nur, Papa Schrott« – damit streckte ich ihm begütigend die Hand entgegen – »wenn ich mal so alt bin, wie Sie, werd' ich gewiß gerad' so moralisch sein!« Aber er nahm meine Hand nicht –

Was ging's mich an?! Mochten sie alle die Gekränkten spielen! Mein Vater irrte sich offenbar: der gleiche Rock macht nicht zu Gleichen! Die Kürassiere tanzten und ritten nicht nur viel besser, sie waren auch fröhlichere Partner bei jenem Spiel mit dem Feuer, – dem einzigen, das ich mit steigender Leidenschaft spielte, je mehr Gefahr es in sich schloß, und je höher der Einsatz war. Wie ein Raubvogel mit weit gestreckten schwarzen Schwingen schwebte die Phantasie über den grünen lachenden Blumenmatten meines Lebens. Stark genug wäre sie gewesen, [170] mich empor zu tragen in ihr Höhenreich, wo ich zu ihrem Herrn geworden wäre; aber zur Furcht vor dieser Fahrt mit ihr hatte man mich dressiert, nun lauerte sie hungrig und rachgierig auf tägliche Beute, und ich mußte mich ihr unterwerfen.

Das gleichmäßige Ticktack des Alltags vertrug ich nicht, beschleunigt mußte es werden bis zum Fiebertempo, oder übertönt von Fanfaren der Freude. Wenn ich den Pflichten des Hauses nachkam, so umwand ich ihre langweilige Dürre mit Blumen, wenn ich mit meinem Schwesterchen spielte, so spielte ich nicht mit ihr, mich ihrer Kindlichkeit unterwerfend, sondern führte vor ihr meine bunten Träume auf. Mir genügte nicht ein kurzes, harmlos improvisiertes Tänzchen, es mußte ein wogender, leidenschaftlicher Tanz bis zur Erschöpfung daraus werden. Und eine Stunde zu Pferde in der Morgenkühle stachelte nur mein Verlangen nach wilden Ritten über Stock und Stein.

Ich glaube, mein Vater war auf nichts so stolz als auf meine Reitkunst, die das Ergebnis seiner eigensten Erziehung war, und nie so geneigt, mir nachzugeben, als wenn meine Wünsche dieses Gebiet berührten. Schon früh am Morgen begleitete ich ihn, aber am Nachmittag durfte ich mir die Stute wieder satteln lassen, oder den großen Braunen mit der sternzackigen weißen Blässe auf der Stirn, dessen spielende Ohren sich auf jeden leisen Zuruf verständnisvoll spitzten, der schon dem sanftesten Druck nachgab und wie ein vom Bogen geschnellter Pfeil über Hecken und Gräben flog. Fast immer hatte ich Schmerzen, wenn ich ritt, jene alten Schmerzen in der rechten Seite, die sich in Augsburg so gesteigert hatten, aber der Genuß ließ mich die Zähne zusammenbeißen. Im Sattel fühlte ich mich frei; und wie meine Füße nicht den Staub der Straße berührten, so war meine Seele fern von allem, was grau und schmutzig unten liegt. Ich habe mich nie in der Mark heimisch zu fühlen vermocht, aber wenn ihr weicher Sand den Hufen meines Pferdes nachgab, so daß das Reiten war wie ein sanftes Wiegen, und ihre Wiesen [171] und Wälder sich schier endlos vor mir dehnten, eine wundervolle Bahn für einen langen Galopp, – dann liebte ich sie, dann ergriff ich Besitz von ihr und träumte mich als Herrin des Bodens, den mein Brauner trat.

Freiheits- und Herrschaftsgefühl, – das ist's, was nur der Reiter kennt, darum war Reiten von jeher Herrenrecht. Im Schweiße seines Angesichts, wie ein Sklave, schwer mit den Muskeln arbeitend, wie er, treibt der Radler sein Stahlroß vorwärts; nur auf gebahnten breiten Wegen vermag der Kraftwagen ratternd und pustend durch die Welt zu rasen, indes der Reiter sich leise durch tiefe Waldeinsamkeit tragen läßt und das edle Tier unter ihm den reinen ruhigen Genuß der Natur nicht stört. Lockt ihn die Ferne, begehrt er, seine Kräfte zu erproben, um seinem Mute vor sich selbst ein Zeugnis abzulegen, so genügt ein Druck der Sporen, und er spottet aller Hindernisse. Er ist der Künstler, der freie, starke – arme Arbeiter aber sind jene anderen, abhängig von ihrer Maschine, ihr untergeben. Wir ritten oft weit: bis nach Rathenow hinüber, wo der tolle Rosenberg seine Husaren zu lauter Meistern der Reitkunst erzog und trotz Sekt und Morphium von keinem der Schüler je übertroffen wurde, oder westwärts zu den blauen Potsdamer Havelseen, wo die Berliner Touristen uns freilich oft genug die Laune verdarben. Ein Mensch, der sich auf Schusters Rappen vorwärts bewegt, ist der geborene Feind dessen, der vier Pferdebeine unter sich hat, und der strengste Vater sieht ohne ein Scheltwort mit heimlicher Befriedigung seinem Sprößling zu, wenn er mit Steinchen nach den Reitern wirft oder durch lautes Indianergeheul die Pferde zum Scheuen bringt. Die einstige Identität von Reiter und Ritter ist unvergessen, und unter der Schwelle des Bewußtseins schlummert vielleicht irgendeine altmärkische Erinnerung an die Krachts und Quitzows, die den Haß steigern hilft.

Im Spätherbst war's, an einem jener lichtfunkelnden Oktobertage, [172] wo die Buchen im Schmuck ihres roten Goldlaubs glänzen und die dunkeln Silhouetten der Kiefern sich vom hellen Himmel phantastisch abheben. Ein paar Rathenower Husaren begleiteten uns, und die Eitelkeit reizte mich, vor ihnen zu zeigen, was ich konnte. Die Stoppelfelder boten freie Bahn, und kein Hindernis im Gelände war mir fremd. Bis zur alten Eiche im Plauer Wald, schlug ich vor, sollten wir reiten.

»Der Schleier an Ihrem Hut sei der Preis!« rief lachend einer der Herren. »Sie vergessen, daß ich siegen werde!« antwortete ich, den Kopf in den Nacken werfend, und klopfte meinem Braunen aufmunternd auf den schlanken Hals. »Für den Fall wünschen Sie sich ruhig die Krone vom Kaiser von China!« spottete ein anderer, und fort ging's in gestrecktem Galopp. Dicht nebeneinander nahmen wir den ersten Graben, – aber schon flog ich voraus, eine halbe Pferdelänge hinter mir der Fuchs meines Vaters, der unter Vetter Fritzens leichtem Gewicht gewaltig ausgriff. Über die Mauer setzte ich und wieder über eine, die das Gehöft eines armen Kätners umschloß. Ich war allein. Jauchzen wollte ich im Vollgefühl nahen Sieges – aber der Ton blieb mir in der Kehle stecken –, ein scharfer Schmerz zuckte durch meinen Körper. Unwillkürlich fuhren die Sporen meinem Gaul in die Flanke. Überrascht von der unverdient schlechten Behandlung, stieg er mit den Vorderbeinen hoch in die Luft, um im nächsten Moment in wahnsinniger Pace vorwärts zu jagen. Jeder Sprung steigerte meine Schmerzen, es dunkelte mir vor den Augen, – ich hing nur noch im Sattel. Mit dämmerndem Bewußtsein sah ich eine große blaue Wasserfläche dicht vor mir: den Plauer See. Wie eine Bitte stieg es auf in mir: trag' mich hinein, mein treues Roß, trag' mich hinein – daß die brennenden Schmerzen sich kühlen! Und mir war, als schlügen die Wellen über mir zusammen.

Im grünen Rasen lang ausgestreckt, kam ich zu mir und sah in des guten Vetters verängstigtes Gesicht, das sich dicht über [173] mich beugte. Tränen standen in seinen Augen, und unterdrücktes Schluchzen erschütterte seine Stimme, als er rief: »Du lebst! Gott Lob – du lebst!« Als mein Vater kam, stand ich schon auf den Füßen und machte krampfhafte Anstrengungen, ihm möglichst sorglos entgegenzulächeln.

Ein Wagen vom Plauer Schloß brachte mich nach Hause, und der rasch geholte Arzt machte mit der Morphiumspritze meinen Qualen ein Ende.

Zwischen Bett und Liegestuhl spielte sich von nun an mein Leben ab. Mein Lieblingsplatz war draußen vor der Mauer, wo der Holunderbusch geblüht hatte, als ich im Mai gekommen war. Der kleine Liebesgott stand immer noch grade auf den dicken Beinchen, aber die Vöglein zwitscherten nicht mehr im Weinlaub. Dunkelrot hatte der Herbst es gefärbt. Darunter lag ich und sah in den Himmel und hörte die Blätter fallen. Vetter Fritz war fast immer neben mir, meiner Wünsche gewärtig, – er hatte das Lernen nun wohl ganz aufgegeben.

Mit dem berauschenden Gift, nach dem ich immer heftigeres Verlangen trug, kam der Arzt zweimal des Tages, und süße, traumhafte Stunden waren es, wenn der Körper schwer und schwerer und der Geist immer leichter wurde. Zu überirdischer Größe fühlte ich ihn wachsen, und Kräfte durchströmten mich, stark genug, mit einer ganzen Welt den Kampf zu bestehen. Panzerumgürtet sah ich mich wieder, wie einst, wenn ich zur Jungfrau von Orleans mich träumte, und ich schämte mich des tatenlosen, bunten Spiels, das ich getrieben hatte. Aber auch andere Träume kamen, die mich streichelten oder mir heiß das Blut in die Wangen trieben; dann ließ ich's geschehen, daß der Knabe neben mir meine Hände küßte und von der Glut seiner Liebe unsinnige Dinge sprach.

»Erlaube nur, daß ich dich liebe und daß ich's dir sagen kann« – flehte er – »bald werde ich dich nicht mehr sehen dürfen wie jetzt, ferner und ferner wirst du mir sein – eine Balldame [174] und ich – ein Schuljunge!« Stöhnend vergrub er den Kopf in meine Kleiderfalten, um gleich darauf mit heißen Augen wieder zu mir aufzusehen: »Aber lieben – lieben werd' ich dich immer!«

»Immer?!« – Wird nicht ein einziger Herbststurm den kleinen Liebesgott wieder vom Sockel werfen? – Ich lächelte wehmütig. Kühl wehte der Abendwind vom Wasser, das die Nebel schon zu verhüllen begannen, und fröstelnd wickelte ich mich dichter in mein Tuch.

[175]
8. Kapitel
Achtes Kapitel

Nun wird sie schlafen – –« hörte ich in halbem Traum den Arzt zu meiner Mutter sagen, während sich leise die Türe hinter ihnen schloß. Seit vier Tagen hatte ich mich in Schmerzen gewunden, die selbst der Morphiumspritze stand hielten. Heute war ich chloroformiert worden. Durstig hatte ich unter der Gazemaske den süßen Duft wachsender Betäubung eingesogen. Jetzt lag ich schwer, wie in Ketten gebunden, auf dem Bett – schmerzlos, schlaflos. Ein mattes, rosig flackerndes Licht ging von dem Nachtlämpchen neben mir aus. Die gelben Blätter auf der Tapete zuckten hin und her – zuerst langsam, dann immer schneller, schneller –, mir wurde schwindlig dabei. Ich schloß die Augen. Gott, war ich müde! – Plötzlich sprang die Türe auf, und es schwebte herein, groß, weiß und kalt; Augen sahen mich an, ohne Farbe, wie Mondlichter, – und andere tauchten wie aus Nebelschleiern auf, blutunterlaufene – in schmerzverzerrten Gesichtern, – hungrige, die gierig nach Beute suchten, – lüsterne, in denen kleine, rote Flammen tanzten. Dabei rauschte es wie von vielen Gewändern, und tappte und klapperte, wie von zahllosen Tritten ... Die Wände rückten auseinander vor der schiebenden drängenden Masse gräßlicher Gespenster ... Nun stand sie vor mir, ganz, ganz dicht, die Weiße mit den Mondaugen, und eine Hand, wie von Eis und zentnerschwer, legte sich auf mein Herz. »Queen Mab« schrie ich auf – jetzt saß sie schon auf meinem Bett, und ihre Finger bohrten sich in meine Seite ... Ich aber lag in Ketten gebunden und konnte sie nicht von mir stoßen.

[176] Wir kämpften miteinander – Tage – Wochen. Meine Jugend besiegte sie. Es kamen ganz stille Zeiten, wo die Schneeflocken leise vor meinen Fenstern niederfielen und nur hie und da von weitem ein lauter Ton an mein Ohr schlug: das Stampfen der Pferde im Stall, der Schlag der Domuhr, das lustige Lachen Klein-Ilschens.

Nun wußten die Ärzte endlich, woran ich litt: die Nierenentzündung, die mich so überwältigt hatte, ließ keinen Zweifel mehr daran. Ich mußte bewegungslos, gerade gestreckt im Bette liegen, auch dann noch, als die Weiße mit den Mondaugen mich längst verlassen hatte. Statt ihrer spitzen Eisfinger in meinem Körper bohrten sich viele kalte Gedanken in mein Hirn.

Wo war ich? Hatte nicht der Morphiumrausch des Leichtsinns alles Gute, Starke in mir eingeschläfert? War ich nicht meinen großen Kinderhoffnungen untreu geworden? Oder: sie mir?! Tanzen, reiten, lachen, mit Herzen spielen, wie mit Federbällen – das Schwesterchen ein bißchen hätscheln, das Haus ein bißchen schmücken –, sollte das des Lebens einziger Inhalt sein? War ich mit sechs Jahren nicht reicher gewesen, wo ich mich als Jungfrau von Orleans träumte, als heute, nach einem Jahrzehnt? Und viel reicher damals, da ich mir den Baldurtempel baute? Ich grub – grub rastlos im verschütteten Schacht meines Innern. Halb verhungert im dunkelsten Winkel, saß sie in sich versunken und grau, meine arme Seele. Wie arm, wie elend war ich! Wo war ein Ziel für mich, des Ringens wert? Wo eine große Flamme, um des Lebens dunkle Asche wieder anzufachen?!

Ein schmales, blasses Antlitz, von schwarzen Spitzen umschlossen, beugte sich über mich. »Großmama,« flüsterte ich, und es war, als ob die Hoffnung eine Türe öffnete, die ins Helle führte. »Nur still, mein Liebling, ganz still« – sagte sie lächelnd, und eine Träne fiel mir auf die Stirn, eine Freudenträne.

Mit einer Pflichttreue, die keine Schwäche aufkommen ließ, [177] hatte meine Mutter mich Tag und Nacht gepflegt. Großmama war gekommen, sie abzulösen. Sie war es auch, die, wie immer, wenn es zum Wohle ihrer Kinder und Enkel notwendig war, die Mittel hergab, durch die ich gesund werden sollte. Als der Arzt mir eine Karlsbader Kur verordnete, wußte ich wohl, warum Mama die Lippen zusammenpreßte und Papa sich unruhig räusperte: was sie hatten, verschlang des Lebens notwendiger Aufwand.

So fuhr ich denn mit Großmama, sobald ich transportfähig war, nach Karlsbad, wo sie selbst so oft schon Heilung gefunden hatte. Ihr alter Arzt, zu dem sie mich brachte, schüttelte den Kopf über mich, einen dicken, kahlen Mönchskopf, der auf einem dünnbeinigen Zwergenkörper saß. »Nur Seelenaufruhr, wo es nicht das Alter ist, führt zu solchen Körperkatastrophen« – ein fragender Blick aus kleinen blitzenden Äuglein richtete sich auf mich. »Wie alt ist denn das Fräulein?«

»Siebzehn Jahr!«

»Siebzehn Jahr!« Er sprang auf vom Stuhl und durchmaß das Zimmer mit kleinen hastigen Schritten, wobei der runde Kopf sich immer von einer Schulter zur andern neigte.

»Liebesschmerzen?!« – Dabei bohrte sich sein Blick in den meinen. Ich lachte verneinend und schwieg. Hätte er andere Schmerzen verstanden, auch wenn ich sie ihm erklärt haben würde?

Mit jener taktvollen Zurückhaltung, die jeden Zwang auf das Vertrauen eines Menschen – auch des nächsten – sorgfältig vermeidet, forschte auch Großmama nicht weiter, und ich, so gar nicht gewöhnt, mich auszusprechen, fürchtete mich fast davor. Aber wenn wir im Morgensonnenschein unsre Spaziergänge machten, auf bequemen Wegen durch duftenden Tannenwald, der grade seine grünen Frühlingskerzchen aufgesteckt hatte, und die Gipfel der sanft geschwungenen Höhenzüge erreichten, die dem Kranken Kraftleistungen so freundlich vortäuschen, [178] dann durchströmte mich linde, lösende Lenzluft, und schüchtern tastend wagten sich Fragen hervor und Geständnisse.

»Ich kann nicht glauben, Großmama,« sagte ich einmal, als sie von dem inneren Frieden durch den Glauben gesprochen hatte. Wir saßen grade vor der großen, alten Fichte, mit dem verwitterten Muttergottesbild daran, die auf dem Wege zum Freundschaftstempel den ganzen Wald zu beherrschen scheint.

»So laß alle Fragen des Glaubens dahingestellt, und handle nur im Geiste Christi, erfülle deine Pflichten, diene den Menschen, unterdrücke die bösen Triebe in dir und pflege die guten, dann wird der Glaube von selbst kommen, und es wird stille werden ni dir.«

Ich schwieg, mechanisch zeichnete mein Schirm Kreise in den Sand. War der Baum vor mir nicht auf Kosten derer, die er besiegte, denen er die Sonne nahm, so gewaltig emporgewachsen? Ein lebendiger Protest erschien er gegen das Madonnenbild mit den Schwertern im Herzen, das sich in seine Rinde grub. Etwas in mir empörte sich gegen die gütige alte Frau neben mir. Meine Kraft täglich in kleinen Opfern verbluten lassen, hieß das nicht schließlich mich selber morden? Und ich begehrte ja gar nicht des Ziels, ich wollte nicht stille werden, ich wollte den Kampf und das laute, sprühende Leben. Aber der Mut fehlte mir, zu sagen, was ich dachte. Darum frug ich nur leise: »Und das Glück, Großmama?«

Sie lächelte, und eine ganz kleine, wehe Falte erschien zwischen ihren Brauen.

»Das Glück! – Wir sitzen, wenn wir jung sind, immer wie vor einem Vorhang und starren gebannt darauf hin und erwarten ein Zaubermärchen von dem Augenblick, wo er aufgeht. Indessen versäumen wir all die echten Gaben des Glücks, die es um uns ausstreut: die Liebe der Unseren, die Gaben des Geistes, die Frühlingsblumen und den Sommerhimmel. Mache nur die Augen auf und strecke die Hände aus, dann hast du sie.«

[179] »Ist das alles?!«

»Nein, mein Kind,« entgegnete die Großmutter, und ein feierlicher Ernst legte sich über ihre Züge. »Du wirst Weib werden und Mutter, und Liebe empfangen und tausendfältige Sorgen. Und dann wirst du wissen, daß sie auf sich nehmen und Liebe geben – mehr als dir gegeben wurde – das Glück ist.«

Wir gingen weiter; ich kämpfte mit den Tränen. Meine Mutter fiel mir ein: sie erfüllte bis zur Erschöpfung ihre Pflicht, aber ihre Lippen preßten sich immer enger aufeinander, als müßten sie krampfhaft die Qual zurückdrängen, die nach Ausdruck verlangte. Und an Onkel Walter dachte ich und an jenen unvergessenen Auftritt mit seiner Mutter in Berlin; und an all die leisen Zurücksetzungen und Kränkungen, die sie, die immer Gute, von ihren Kindern zu ertragen hatte. Ich wußte: auch sie hatte gelebt und geliebt und nach schwindelnden Höhen gestrebt, und dies war das Ende, das von ihr gepriesene, von all dem Sehnen, all den heißen Hoffnungen, die einzige Frucht, die aus dem blühenden Leben so vieler Talente, so vieler Kräfte hervorging? Mich überlief's, wenn ich mein Leben an diesem maß. Ich fühlte schmerzhaft die große Kluft zwischen ihrem abgeklärten Alter und meiner gärenden Jugend. Liebe und Verehrung kann bestehen zwischen beiden, auch wohlwollendes Verständnis, und starke Wirkungen können ausgehen von einem zum anderen, aber jene magnetischen Ströme fehlen, durch die das Feinste und Tiefste lebendig vom Menschen zum Menschen flutet. Auf dem Wege zu schwindelnden Bergeshöhen kann der Greis nicht mehr Schritt halten mit dem Jüngling, und grausam ist es, wenn er ihn an sich fesselt, aber noch viel grausamer gegen sich selbst, wenn Jugend, ihre Triebe hemmend, sich freiwillig dem Alter unterwirft. Trennung – auch wenn sie Wunden reißt – ist eine Bedingung des Lebens.

Sich beherrschen, sich unterwerfen war die Quintessenz meiner – und aller – Erziehung gewesen. Darum schämte ich [180] mich meines inneren Widerstandes, sprach nicht von ihm und versuchte, ihn unter der reifen Weisheit, die mir zufloß, zu ersticken. Großmama verlangte es freilich nicht von mir: sie gab nur, wie sie stets nichts als das eine Bedürfnis hatte, mit dem Besten, was sie besaß, andere zu überschütten. Aber ein junges Pflänzlein ertrinkt nur zu leicht unter der warmen Fülle des Frühlingsregens, die dem starken Baum zur Quelle üppigen Lebens wird.

Mit meiner fortschreitenden Genesung flohen wir die Nähe der Menschen allmählich immer weniger, und ein großer Kreis von Bekannten und Verwandten fand sich allmählich zusammen, aber nur wenige wurden zu unserm ständigen Verkehr und zu Begleitern unsrer langen Spaziergänge. Einen von ihnen hatte ich in Augsburg kennen gelernt: es war Baron Franz Stauffenberg, der gerade damals wegen seiner scharfen oppositionellen Stellung gegen die Wirtschaftspolitik Bismarcks eine in unsern Kreisen berüchtigte und gemiedene Persönlichkeit war. Daß er, der Großgrundbesitzer, Freihändler war und blieb, daß er, der Aristokrat, sich der Fortschrittspartei näherte, machte ihn »unmöglich«.

Großmama stand jenseits solcher Vorurteile. Geist und Bildung zog sie an, gleichgültig, wer ihr Träger auch sein mochte, und Stauffenberg gehörte zu jenen immer seltener werdenden Menschen, die sie an ihre Jugend in Weimar gemahnen konnten, wo der Beruf den Einzelnen noch nicht mit Haut und Haaren auffraß und die Vielseitigkeit lebendiger Interessen einen geselligen Verkehr höherer Art möglich machte. Stauffenberg vermied es sogar, über Politik zu sprechen, während er auf jedem andern Gebiet, das berührt wurde, zu Hause zu sein schien. Noch nie war ich mir so klein und unwissend vorgekommen wie im Verkehr mit ihm. In seiner Vorliebe für englische Literatur traf er sich mit Großmama; dabei schlugen Namen an mein Ohr, und von geistigen Strömungen war die Rede, von denen ich [181] noch nie gehört hatte: Robert Browning – Ruskin – William Morris.

Die bildende Kunst pflegte man in den achtziger Jahren außerhalb der Museen nicht zu suchen; die Beziehung zu ihr war für die meisten dieselbe, wie die zur Religion: sie hörte auf, sobald die Türen der Galerien und der Kirchen sich hinter ihnen schlossen. Daß Leben und Kunst eins sein können, fiel in unseren Kreisen niemandem ein. Eine gewisse Leichtigkeit der Existenz, ein durch Generationen sich fortpflanzender Wohlstand ermöglichen erst ihr Ineinanderfließen; Preußen hatte keine künstlerische Kultur. Was ich von Ruskin und besonders von Morris erfuhr, zauberte phantastische Bilder in mir hervor: ein perikleisches Zeitalter, ein Florenz der Mediceer. Die Wirklichkeit voll Not, voll Ungerechtigkeit und Häßlichkeit, die Großmama demgegenüber heraufbeschwor, weckte mich unsanft aus meinen Träumen. Es sei so viel, so schrecklich viel zu tun, um für die Masse der Menschen nur das nackte Leben möglich zu machen, sagte sie, daß es ihr vermessen erschiene, Bedürfnisse nach Schönheit zu wecken, wo die vorhandenen Bedürfnisse nach Nahrung und Obdach nicht im entferntesten gestillt wären. Und meine Phantasie zerflatterte vor den Empfindungen meines Herzens, die Großmama ohne weiteres recht gaben. Ich blieb auch dann auf ihrer Seite, wenn sie von diesem Standpunkt aus Bismarcks Sozialpolitik verteidigte, und ihre innere Erregung, Stauffenbergs Einwendungen gegenüber, sich in der leichten Röte kund gab, die das feine Elfenbeinweiß ihrer Wangen färbte. Warum, wie Stauffenberg sagte, die Schutzpolitik die möglichen Vorteile der Versicherungsgesetzgebung illusorisch machen würde, darüber grübelte ich um so vergeblicher nach, als national-ökonomische Terminologie für mich Hieroglyphen bedeutete. Zu fragen hatte ich nicht den Mut; es gehört echte Bildung dazu, Unwissenheit einzugestehen. Mein Bedürfnis nach Heldenverehrung war überdies zu groß, als daß ich Verlangen nach Mitteln getragen hätte, die Bismarck [182] hätten entgöttern können. Von Politik wurde von jener Unterhaltung ab kaum mehr gesprochen.

Irgendeine naturwissenschaftliche Broschüre, wie sie damals, wenige Monate nach Darwins Tod zahlreich erschienen, brachte die Rede auf den großen Forscher. Nichts hätte mich mehr verblüffen können, als daß ein ernster Mann wie Stauffenberg, dessen Wissen ich bewunderte, ihn nicht nur verteidigte, sondern die Ergebnisse seiner Untersuchungen ernst nahm. Bei Erwähnung seines Namens hatte man doch sonst immer nur spöttisch gelacht, und daß wir, nach ihm, vom Affen abstammen sollten, hatte zu nichts als zu zahllosen Witzen und Karikaturen den Anlaß gegeben. Für mich persönlich kam hinzu, daß meine naturwissenschaftliche Bildung gleich Null war, mir also zu selbständigem Nachdenken alles geistige Rüstzeug fehlte. Großmama ging es nicht viel besser: zu ihrer wie zu meiner Zeit war die Bildung der Frauen eine rein schöngeistige gewesen. Stauffenberg hielt uns daher förmliche kleine Vorträge zur Einführung in die Ideenwelt Darwins, – im Ton des geistvollen Plauderers, wie immer, und doch so klar und durchdacht in der Gedankenfolge, daß kein Buch aufklärender hätte wirken können. Großmama war auffallend still und nachdenklich nach solchen Gesprächen und warf nur immer wieder die Frage auf, mit welchen Gründen die Gegner Darwins seinen Anschauungen entgegenzutreten pflegten. Erst allmählich hellten sich ihre Züge wieder auf, und einmal sagte sie mit dem ihr eignen, das ganze Antlitz durchleuchtenden Lächeln:

»Sie haben mich alte Frau auf dem gewohnten Wege förmlich taumeln lassen, lieber Baron. Aber nun gehe ich dafür um so sichrer. Ich empfand in allem, was Sie sagten, das heraus, was Sie nicht sagten, und wohl auch gar nicht sagen wollten, was aber, meiner Ansicht nach, der Grundzug der Lehre Darwins ist: ihre Gegnerschaft zum Christentum. Daß Gott den Menschen schuf nach seinem Bilde, daß die Sünde die Ursache [183] alles menschlichen Elends ist und es keine Erlösung daraus gibt, als durch die göttliche Gnade, – daß es unsre höchste Aufgabe ist, zu leben wie Jesus, den Schwachen zu helfen, den Niedrigen und Verachteten beizustehen, und daß der rohe Kampf ums Dasein überwunden werden wird durch die Liebe – widerspricht das nicht bis ins kleinste den Lehren Darwins? Der Glaube an das christliche Evangelium aber, die Befolgung dessen, was es verlangt, hat mich nach den Kämpfen meiner Jugend zu innerem Frieden geführt, und die Überzeugung lebt unerschüttert in mir, daß die tragischsten Probleme der Welt, Armut und Unglück, gelöst wären, wenn nur alle Menschen echte Christen wären. Soll ich mir am Ende meines Lebens diesen Glauben nehmen lassen? Eine Anerkennung Darwinscher Theorien bedeutet doch für uns, die wir Laien sind, auch nichts anderes als Glauben an ihn. Und Sie sagen selbst, daß Koryphäen der Wissenschaft ihn mit wissenschaftlichen Gründen bekämpfen. Wäre es nicht heller Wahnsinn, wenn ich, wie ein ungeübter Schwimmer, mich vom sicheren Port erprobten Glaubens in die brandenden Wogen fremder Ideen stürzen wollte, nur weil vielleicht – vielleicht! – irgendwo in weiter Ferne ein neues festes Land zu finden ist?! Ich bin zu alt dazu – –«

Statt aller Antwort küßte Stauffenberg Großmama stumm die Hand. Meine Erregung war aber so stark, daß sie nach Ausdruck verlangte.

»Und wenn ich das neue feste Land nie erreichen sollte – ich würde lieber im Meere untergehen, als immer nur sehnsüchtig vom sicheren Port aus zusehen, wie es tobt und schäumt,« sagte ich, und meine Stimme zitterte dabei.

Ein Schatten flog über Großmamas Züge. Sie legte ihre schmale kühle Hand auf meine heißen Finger. »Das Leben wird schon dafür sorgen, daß es beim bloßen Wünschen nicht bleibt, mein Kind,« dann sich wieder zu Stauffenberg wendend, fügte sie hinzu: »Sie sehen, wie wenig unsere Lebenserfahrungen [184] unseren Enkeln nützen. Jeder fängt von vorn an, und wir können schließlich nur Tränen trocknen und Wunden verbinden.«

Bald darauf reiste Stauffenberg ab, und ein andrer trat mehr und mehr an seine Stelle. Es war Karl von Gersdorff, ein Neffe meiner Großmutter, der auch zu jenen aus der Art geschlagenen Sonderlingen gehörte, die aristokratische Familien sich gern von den Rockschößen abschütteln. Wie oft hatte ich in Pirgallen über ihn spotten hören, der »wie ein Schulmeister« aussah, ein »Fräulein so und so« geheiratet hatte, und mit »Krethi und Plethi« befreundet war, wie geringschätzig zuckten sie die Achseln, wenn Großmama ihn verteidigte. Er war ein begeisterter Freund Friedrich Nietzsches, hatte ihm sogar einmal, zum Entsetzen der Verwandtschaft, sein Gut zum Asyl angeboten. Durch Nietzsches Abkehr von Richard Wagner war eine leise Entfremdung zwischen beiden eingetreten, denn Gersdorff wurde ein um so leidenschaftlicherer Wagnerianer, je mehr sich der Meister zu den Ideen seines Parsifal entwickelte. Als wir in Karlsbad zusammentrafen, war Wagner kaum ein Jahr tot, und sein Wesen, seine Werke, seine Weltanschauung bildeten den Inhalt fast aller Gespräche. Hatte seine Musik mich in jenen Zustand höchster Ekstase versetzt, der das ganze Ich in Andacht und Entzücken auflöst, so erschienen mir seine Gedanken überraschend und doch vertraut. Sein Groll gegen die bestehende Zivilisation mit ihrem Inhalt an materieller und geistiger Not, sein Glaube an die Möglichkeit einer künftigen Regeneration, seine Kritik des gegenwärtigen Christentums, mit dem wahren Geiste des Evangeliums verglichen, und seine Erhebung der Kunst zur Höhe lebendig dargestellter Religion – hatte nicht irgendwo, tief verborgen, all das auch in mir geschlummert? Ich begrüßte es jetzt mit der freudigen Überraschung, wie wir längst vergessene alte Freunde, die plötzlich aus dem Gewühl der Gleichgültigen vor uns auftauchen, zu begrüßen pflegen. Im stillen verurteilte ich Nietzsche – dessen Namen ich übrigens zum [185] ersten Male hörte-der dem großen Freunde hatte untreu werden können, und begriff nicht Gersdorffs Anhänglichkeit an ihn.

Eines schönen Maienmorgens saßen wir in großer Gesellschaft eben eingetroffner Verwandter auf der »alten Wiese« vor dem »Elefanten«; Großmama war mit ihnen in die Besprechung alter und neuer Familiengeschichten vertieft, die mich immer sehr langweilten; Gersdorff las in einem der vielen Bücher, ohne die er das Haus nicht zu verlassen pflegte. Ich machte mich im stillen über die bademäßig herausgeputzte, mit rosa Brottüten bewaffnete, rührig, wie zum ernstesten Geschäft, ihrem Ziel, dem lockenden Frühstück, zustrebende Menge lustig, die an uns vorüberflutete. Mir war sehr wohl, sehr behaglich zumute, wie nur einem jungen Gesundgewordnen sein kann, der die gekräftigten Glieder in der warmen Frühlingssonne dehnt. Da fiel mein Blick auf die »Fröhliche Wissenschaft«, Nietzsches jüngstes Werk, das neben Gersdorffs Tasse lag. Er hatte Großmama zuweilen einzelne Abschnitte daraus vorgelesen, von denen mir die Empfindung des unheimlich Fremden zurückgeblieben war. Mechanisch fing ich an, darin zu blättern, bis ein Satz mir ins Auge sprang: »Das Leben sagt: Folge mir nicht nach; – sondern dir! sondern dir! Leidenschaft ist besser als Stoizismus und Heuchelei, Ehrlichsein, selbst im Bösen, besser, als sich an die Sittlichkeit des Herkommens verlieren ...«

Wenn ein eisiger Luftstrom durch plötzlich weit aufgerissene Fenster den im warmen Zimmer Sitzenden trifft, so schauert er zuerst frierend und angstvoll zusammen, um im nächsten Augenblick mit tiefen durstigen Zügen den reinen Quell einzusaugen, der ihm die dunstig-schwere Schwüle ringsum erst zum Bewußtsein bringt. Wie solch einem war mir zumute. Kämpfte ich nicht ständig, um mich dem Leben und dem Herkommen unterzuordnen? Versuchte ich nicht, mir einzureden, jeder Sieg über meine innersten Triebe sei ein Zeichen wachsender Tugend? Und hatte doch stets ein schlechtes Gewissen dabei!

[186] Lustige Stimmen schlugen an mein Ohr:

»Auf Wiedersehen beim Konzert nachmittag ...«

»Gehst du zur Reunion heut abend? ...«

»Wir gehen ins Theater ...«

Halb abwesend starrte ich von einem zum andern.

»Alix hat Tagesträume,« hörte ich Großmama sagen; verwirrt schlug ich das Buch zu. Abends vor dem Schlafengehen trug ich den Satz aus dem Gedächtnis in mein Notizbuch ein – zwischen lauter Adressen, Gedichten und Rezepten. Mit Großmama wechselte ich kein Wort darüber; ich fürchtete mich; wie ein Dieb kam ich mir vor, der ängstlich den gestohlenen Brillanten hütet, und instinktiv fühlte ich, daß es keinen größeren Gegensatz geben könne, als den zwischen diesen Worten und der Lehre von der Nachfolge Christi, zu der Großmama sich bekannte. Ein Schleier war zwischen uns niedergefallen, der nicht trennt, aber die Klarheit der Züge verwischt.

Ende Mai machten wir unserem Arzt die Abschiedsvisite.

»Na also!« sagte er zufrieden, »da wären die roten Backen wieder! Aber nun gilt's brav sein und gehorchen und das Herzchen festhalten! ...«

Nachdem er eine Reihe von Verordnungen gegeben hatte, hielt er zögernd inne. »Und nun das Schlimmste für so ein junges, hübsches Fräulein: für die nächsten sechs – acht Monate ist jede Art starker Bewegung verboten. Also kein Reiten – kein Tanzen –«

Er erwartete offenbar meinen heftigsten Widerspruch und sah mich auf mein freimütiges »Gewiß, Herr Doktor« mit unverhohlenem Erstaunen an.

»Du bist ein tapfres Kind!« sagte Großmama, als wir die Treppe hinuntergingen.

»Gar nicht, Großmama!« erwiderte ich. »Denn nur eins wünsch' ich mir: Ruhe zum Lernen, zum Lesen und Arbeiten.«

Ein Besuch in Weimar, den wir vorhatten, und der dem [187] langen Aufenthalt in Pirgallen vorausgehen sollte, erschien mir zunächst nur wie eine Störung. Aber je mehr wir uns der Stadt Goethes näherten, desto mehr freute ich mich darauf. Während Großmama versuchte, das Enkelkind mit dem, was ihrer an Menschen und Dingen dort wartete, vertraut zu machen, verlor sie sich in den Erinnerungen ihrer Jugend. Und ich sah sie vor mir, die Männer mit den feinen glatten Gesichtern über den hohen Vatermördern, die Frauen mit den kunstvoll frisierten Köpfchen und den schlichten Mullfähnchen, wie sie auf den Wiesen von Tiefurt Blindekuh spielten und zierlich-gravitätisch im Schloßsaal die Gavotte tanzten; ich hörte, wie sie mit Lamartine und mit Byron weinten und schwärmten, ich fühlte, wie ihre Gemüter sich tiefer Freundschaft erschlossen, wie ihre Herzen schlugen in Liebesglück und Leid. Zu Goethes Füßen sah ich die Großmutter sitzen, stumm, ehrfurchtsvoll – ein Lauschen, ein Empfangen. Zur ärmsten Zeit Deutschlands, – wie reich war sie gewesen! Und eine Heimat hatte sie gehabt, aus der die Wurzeln ihrer Seele noch heute Lebenskräfte sogen.

Ich saß am Kupeefenster im Abenddämmerlicht; Großmama schlummerte mir gegenüber, noch ein Lächeln der Erinnerung auf den Zügen. Wälder und Felder, Häuser und Gärten flogen an mir vorbei. So ist mein Leben, dachte ich. Alles entschwindet mir, kaum daß ich's betrachten konnte; nirgends wurzle ich. Dabei fielen mir Verse ein, die ich hastig in mein Notizbuch kritzelte:


Ein Vagabund bin ich genannt,
Will niemand von mir wissen;
Die Sohlen hab' ich durchgerannt,
Mein Wams ist längst zerschlissen.
Zur Arbeit ruft man mich umsunst,
Trag nicht danach Verlangen,
Steh bei der Lerche hoch in Gunst,
Die läßt sich auch nicht fangen;
[188]
Die singt ihr Lied auf freiem Feld
Mit freier, lust'ger Kehle,
Die schmettert hoch in alle Welt,
Und hört's auch keine Seele.
Doch eines ist, das wurmt mich schwer:
Sie hat ein Nest, ein kleines; –
Ich zog die Lande hin und her –
Wo aber, sagt, ist meines?!

In Weimar wohnten wir bei Großmamas Bruder an der Ackerwand, dicht neben dem Hause der Frau von Stein, wo die Lorbeerbäume in ihren großen Kübeln noch ebenso auf dem Vorplatz standen, wie zu der klassischen Zeit, da die »liebe Lotte« unter ihnen zum Nachmittagstee ihre Freunde empfing. Aus unsern Fenstern sah man weit hinein in den Park.

Am ersten Morgen, als die Sonnenstrahlen nur gerade die Wipfel der alten Bäume trafen, schlüpfte ich hinaus. Zauberhaft still und einsam war es; nur ein heimliches Vogelzwitschern, ein fernes Flüstern der Ilm verriet das Leben. Auf dem grünen Wiesenplan vor dem Hochmeisterhaus funkelten die Tautropfen an den Zittergräsern; die roten und weißen, die gelben und blauen Blüten an den Büschen strahlten im Glanze eben entfalteter Pracht. Weiter unten, wo im Felsen die steile Treppe abwärts führt zum Ilmtal, stieg feuchter würziger Erdgeruch zu mir empor. Die geschlossenen Fensteraugen der Einsiedelei sahen aus wie die eines Schlafenden, minutenlang stand ich davor, traumbefangen, und wartete auf den geheimnisvollen Bewohner, der sie öffnen sollte. Aber die Ilm plätscherte, als lachte sie mich aus.

Über der Brücke, hinter den dunkeln Büschen und Bäumen, lag die Erde noch eingehüllt in ein durchsichtig-weißes Nebeltuch, das kecke Sonnenstrahlen zu zerreißen sich bemühten. Und ein [189] helles Häuschen schimmerte lockend vom jenseitigen Hügel, das mir vertraut entgegensah, als wäre ich drüben daheim. War es nicht aus dem Rahmen getreten, der in Pirgallen in Großmamas Zimmer hing? Dort hatte ich es gesehen von klein auf, und wenn ich vom Zuckerhäuschen im Walde hatte erzählen hören, konnte ich mir's nie anders vorstellen. Ob ich mich wohl hinüberwagen könnte durch den Nebel? Erlkönigs Töchter tanzten hier, wie einst, da sie den hellsehenden Augen des Dichters erschienen.

Und nun war ich drüben. Aber die weiße Tür zwischen den grünen Hecken verschloß das stille Reich hinter ihr. Scheu sah ich mich um; niemand weit und breit! Der niedrige Holzzaun hinter der zweiten breiteren Pforte war kein unüberwindliches Hindernis – ein paar Risse im Rock, eine Schramme am Arm –, und in Goethes Garten stand ich. Der Ton knarrender Wagenräder trieb mich den langen, Unkraut bewachsenen Weg hinunter bis hinter das Haus. Grünes Dämmerlicht nahm mich auf, kein Blättchen rührte sich über mir; auf der Lehne der morschen Bank saß regungslos mit hochgestellten Flügeln ein großer blauschwarzer Schmetterling. Die Stille herrschte – eine Stille, als wäre die Erde versunken – und nur dieser Raum mit dem toten Hause davor schwebte in der ungeheueren Weite des Weltraums. Ich preßte meine Hände auf das wildklopfende Herz, und große Tränen tropften unaufhaltsam aus meinen Augen. Aber dann schämte ich mich: wie konnte ich – ich! mit meinem unnennbaren Weh diesen heiligen Ort entweihen! Leise auf den Zehenspitzen, das Kleid gerafft, damit sein Rascheln nicht störe, schlich ich davon.

Auf den mächtigen Würfel aus Granit mit der Kugel darauf lehnte ich mich und vergrub, bitterlich weinend, das Gesicht in den Händen. Da stimmte ein Vöglein über mir sein Morgenlied an, und aus dem nächsten Baum antwortete ihm ein anderes, bis es zwitschernd, tirilierend und flötend von allen Zweigen [190] klang – ein jubelnder Gruß an die siegende Sonne. Tief aufatmend streckte ich die Arme und dehnte die Brust, und plötzlich freute ich mich, daß ich gar nichts war als ein junges Menschenkind mit dem ganzen reichen großen Leben vor mir. In schwärmerischer Verzückung sank ich vor dem Altar des guten Glücks in die Knie und betete den Unsterblichen an, dessen Atem ich zu fühlen meinte.

Noch am selben Tage ging ich mit Großmama nach dem Frauenplan, um in Goethes Stadthaus den letzten seines Namens zu besuchen, der ihr Jugendfreund war. Still und zurückgezogen, sich ängstlich vor der Berührung mit der Welt hütend, lebte Walter Goethe oben in den Giebelzimmern seiner verstorbenen Mutter. Ein großes Bild des Dichters hing im Empfangsraum; es erdrückte die kleine Stube und noch mehr den kleinen, armen Nachkömmling darin. Ich konnt' es nicht fassen, daß dies ein Goethe war! Erst als die beiden Freunde miteinander sprachen, fühlte ich die andere Welt, aus der sie stammten. Wie warm und echt waren die Empfindungen, denen sie Worte liehen, wie lebendig die Interessen, an denen sie Anteil nahmen – so sprach man heute nicht mehr miteinander, wo Gefühl ein Spott und Blasiertheit Trumpf war.

Je länger wir in Weimar blieben, desto mehr empfand ich seinen Geist. Freilich, die Menschen, mit denen Großmama verkehrte, waren alle alt, alles ihre Zeitgenossen, und doch, weil sie treu ihrer Jugend waren, seelenjung. Da war der Onkel, bei dem wir wohnten, ein Mann von jener schlichten Vornehmheit, die allein das Zeichen echter Kultur ist; da war der Großherzog mit seiner leidenschaftlichen Liebe für Weimars Tradition, der er bescheiden sich selbst unterordnete, überall nach geistigen Werten Umschau haltend und sich der Funde freuend, wie ein Sammler an seinen Schätzen; da waren Frauen, die begeistert und begeisternd nicht Namen und Titel und bunte Uniformen zu Gaste luden, sondern führende Geister, werdende und gewordene. [191] Ich taute allmählich auf in dieser Umgebung und lernte, ohne Scheu vor dem Ausgelachtwerden oder dem erstaunten Verstummen der andern, von dem reden, was mich interessierte, und fragen nach dem, was ich zu wissen begehrte. Der Vorsatz befestigte sich in mir: ich wollte nicht mehr zurück in die Welt der Konvention und der kühlen Phrase, wo feste Schlösser vor Herz und Mund Bedingung guter Erziehung sind.

Großmama sprach von einem künftigen Hofdamenposten für mich. So ganz nach meinem Geschmack war das allerdings nicht; von all den Tanten und Cousinen, die ihn inne hatten, wußte ich, wieviel drückende Dienstbarkeit er mit sich brachte. Aber viel besser erschien es mir immerhin, in Weimar abhängig zu sein, als von einer Garnison zur andern stets in derselben Leutnantsatmosphäre leben. Meine heimlich gehegten Dichterträume würden hier vielleicht reifen können, und ganz im Verborgenen tauchte dazu eine romantische Hoffnung auf: ihn hier zu finden, den märchenhaften Schwanenritter, dem mein Herz gehören sollte!

Gegen Ende unseres Aufenthalts ging ich noch einmal mit Großmama zu Walter Goethe. Er war ungewöhnlich freundlich zu mir und erfüllte ohne weiteres meinen Wunsch, allein in Goethes Zimmer gehen zu dürfen. Ich schloß sie mir auf und öffnete die kleinen Läden und stand dann still und stumm mit gefalteten Händen vor dem Stuhl, in dem er gestorben war, an seinem Bett. Wie einem, der auszieht zum Kampf und Abschied nimmt, unsicher, ob er jemals wiederkehrt, war mir zumute. Goethes Gebet kam mir unwillkürlich auf die Lippen: Gib mir große Gedanken und ein reines Herz.

Ich mochte blaß und verweint genug aussehen, als wir abreisten; sorgenvoll sah mich Großmama an: »Bist du nicht wohl, mein Kind?«

Da kam mir zum Bewußtsein, was ich ihr alles verdankte: [192] Zu dem heißen Wunderquell hatte sie mich geführt, der meinen Körper heilte, und erschlossen hatte sie die Quellen, die meine Seele nährten. Mit beiden Händen griff ich nach ihrer Hand und preßte die Lippen darauf: »Ich bin ganz, ganz gesund, Großmama!«

[193]
9. Kapitel
Neuntes Kapitel

Auf dem Wege nach Pirgallen machten wir bei einer Reihe von Verwandten Station. Ich kam mir vor, als wäre ich von luftiger Bergeshöhe in schwüle Niederung geschleudert worden. »Wir haben eine Vetternreise hinter uns: in Sachsen in der Mark, in Pommern – überall derselbe Schlag Krautjunker, je nach der Größe der Geldbeutel echt oder unecht überfirnißt, bei allen dieselbe souveräne Verachtung geistiger Werte« – schrieb ich an meine Cousine Mathilde. »Meine Vettern in Ingershausen – übrigens ein pompöses Schloß, das August dem Starken, seinem Erbauer, alle Ehre macht –, die früher an beängstigender Wasserscheu litten, sind Gigerl par excellence geworden, gardereif. Ihre Schwester, eine Venus von Milo, hat schon mit siebzehn Jahren geheiratet, kriegt ein Kind nach dem andern und den fatalen Zug um den Mund, den ich noch bei jeder jungen Frau entdeckt habe: ich glaube, es ist der der Enttäuschung. Ein paar Kindheitsfreundinnen, die ich wiedersah, und die mir vor Jahr und Tag mit allen Zeichen des Triumphes – sie hatten mich ja im Rennen um den Mann um ein paar Pferdelängen geschlagen! – ihre Verlobung mitgeteilt hatten, traten mir jetzt als hochschwangere Frauen entgegen: blaß, mißmutig. Ich hätte nun gern meinerseits triumphiert, aber das Mitleid mit den armen Würmern, die sie mit solcher Giftlaune unter dem Herzen tragen, überwog. Ein Weib, das ein Kind erwartet, sollte sein wie eine Siegerin!«

Ich atmete auf, als wir endlich in Pirgallen waren, wo ich [194] hoffte, mich meinen Studien und Arbeiten ganz überlassen zu können. Dort hatte sich inzwischen mancherlei verändert. Mein Onkel hatte sich in den Reichstag wählen lassen, – auf vieles Zureden seiner Parteigenossen, denn in ihm selbst regte sich zu stark das alte Herrengefühl des ostdeutschen Junkers, als daß es ihm nicht widerstrebt hätte, die durch das allgemeine Wahlrecht nun einmal festgesetzte Gleichheit zwischen Herr und Knecht auch nur äußerlich anzuerkennen. Daß er, dessen Verkehr mit den Untergebenen nur im Befehlen, Tadeln und Strafen bestand, von ihrer Gunst abhängig war, ja sogar um sie werben mußte, erschien ihm als eine Entwürdigung. Er war dabei ein so ehrlich überzeugter Konservativer, so durchdrungen davon, daß jede Erweiterung der Freiheit und der Rechte der unteren Volksklassen zu ihrem eigenen Verderben ausschlagen würde, daß er sich vollkommen berechtigt glaubte, auch durch ungesetzliche Mittel den Einfluß liberaler oder gar sozialdemokratischer Strömungen zu bekämpfen. Seinen ehemaligen Viehhirten, einen notorischen Säufer, der sozialdemokratisch gestimmt hatte, weil »der Herr Baron dem Krugwirt verboten hatte, ihm mehr als zwei Glas Schnaps zu geben,« pflegte er seiner Mutter gegenüber immer wieder zu zitieren, wenn sie das »Recht auf die persönliche Überzeugung« verteidigte. »Gar nichts wußte der Kerl sonst von der Sozialdemokratie,« sagte er, »er konnte weder lesen noch schreiben. Jeder, der ihm Fusel gibt, dessen Überzeugung‹ hat er. Stellt euch vor, alle Viehhirten und Konsorten stimmten wie er und kämen zur Macht, – eine nette Wirtschaft würde das.« Und als Großmama einwarf: »So gebt dem Volk eine bessere Bildung,« antwortete er: »Damit jeder Instmannsjunge Professor werden und keiner mehr arbeiten will! Dann sollen wir wohl unsere Frauen vor den Melkeimer setzen und uns hinter den Pflug stellen?«

»Vielleicht entspräche solch ein Wechsel der göttlichen Gerechtigkeit,« meinte Großmama lächelnd, »seit Jahrhunderten [195] gingen sie hinter dem Pfluge – am Ende ist jetzt die Reihe an euch!« Mit hochgeschwollener Stirnader sprang der Onkel vom Stuhl und warf die Türe hinter sich zu. Er war reizbarer als sonst. Zu deutlich pochte die neue Zeit an das schwere Burgtor von Pirgallen, und er selbst hatte die Zugbrücke, die unliebsamen Gästen den Eingang wehrte, in eine feste, steinerne verwandelt. Er selbst hatte bei der Regierung all seinen Einfluß daran gesetzt, damit die Eisenbahn bei ihm vorbeigelegt, der Hafen am Kurischen Haff an seine Gutsgrenze gebaut werde. Nun konnten seine Steine zu fernen Bauten über die Ostsee entführt werden, und die Erträgnisse seines Gutes fanden in Berlin zahlungskräftige Käufer, – aber neue Gedanken waren mit den fremden Ingenieuren und Arbeitern eingeführt worden. Er selbst strebte danach, sein Besitztum, das seine Väter schlecht und recht ernährt hatte, in eine kapitalistische Unternehmung zu verwandeln, von der er Millionen erwartete. Aber mit den Maschinen, mit den Kanälen, den Wiesenmeliorationen, den neuen Bebauungsweisen, der ganzen intensiven Art der Bewirtschaftung kamen Scharen neuer Arbeitskräfte ins Land, von denen die Alteingesessenen Ansichten und Bedürfnisse rasch, Handfertigkeit und Verständnis aber um so langsamer lernten. Die Unzufriedenheit wucherte wie Unkraut, und am üppigsten in den kleinen strohgedeckten Katen, deren Bewohner seit Generationen im Dienste der Golzows standen.

In einer der ältesten hauste die alte Maruschka mit Kindern und Enkeln, ein verhutzeltes, zitteriges Weiblein. Wie braune Fichtenrinden waren ihre Wangen und ihre Stirn, die Augen eingesunken, weiß und gelb wie versteckte Harzlöcher. Nur wenn sie Großmama sah, verzog sie die dünnen Lippen zu einem Grinsen. Vor Jahren hatte ich sie, die seit ihrer frühesten Mädchenzeit in der Burg diente, noch in einem der dunkelsten Räume, dicht über dem Wassergraben, von morgens bis abends vor dem alten mächtigen Webstuhl sitzen sehen. Alle Mägde trugen die [196] Stoffe, die sie wob: feste harte, aus groben blauen und roten Fäden. Die »junge Frau Baronin« hatte sie aufs Altenteil gesetzt, – sie brauchte das Zimmer, und die hübschen Dienstmädchen trugen das altmodische Zeug nicht mehr. Nun haßte die Alte die neue Zeit und alles, was sie mit sich führte. An ihrem schwälenden Herdfeuer in der engen Stube mit dem grauen schmierigen Lehmboden, wo Hühner, Gänse, Ferkel und Kinder durcheinander gackerten, quiekten und schrien, war die Freistatt aller Murrenden. Sie hetzte die Schüchternen auf, die noch in blinder Unterwürfigkeit an der Herrschaft hingen, sie lobte die Unbotmäßigen und hatte trotz all ihrer Armseligkeit stets den Schnaps bereit für die, die im Krug mit den »Neuen«, den »Städtischen« nicht zusammen sitzen mochten.

Ihr Jüngster, der Franz, war Stallknecht, dem mein Onkel seiner Gewandtheit wegen häufig die wertvollsten Pferde überließ. Eines Abends sah er, daß die »Delilah«, die der Franz hatte bewegen sollen, schweißtriefend und ohne Decke in ihrer Box stand, während er auf seinem Bett daneben seinen Rausch ausschlief. Ehe ich, die dabei stand, es verhindern konnte, sauste meines Onkels Reitpeitsche ihm quer übers Gesicht. Taumelnd erhob er sich, sah meinen Onkel mit blöden Augen an und fiel ihm heulend zu Füßen. Ich wollte mich schon empört abwenden – empörter noch über den Feigling, der vor mir winselte, als über den Onkel –, als mich aus dem Augenwinkel des auf dem Boden Kauernden ein Blick traf, wie der eines wilden Tieres. Am nächsten Morgen lag eine der Zuchtstuten verendet im Paddock. Keiner von uns zweifelte, daß Franz der Täter war, ich, die ich hartnäckig schwieg, am wenigsten. All seine Arbeitskollegen jedoch standen auf seiner Seite und lenkten den Verdacht auf die Kanalarbeiter. Zu beweisen aber war nichts. Onkel Walter entließ den Knecht und verbot ihm mit allem Nachdruck, den Boden Pirgallens wieder zu betreten. Wir saßen gerade in der Halle beim Frühstück, als die alte Maruschken unangemeldet [197] auf der Freitreppe erschien, die verschrumpelten braunen Hände über ihrem Krückstock gefaltet, im selbstgewebten Sonntagsstaat, den eisgrauen Kopf von einem schwarzen Tuch umwunden, die kleinen Bernsteinaugen funkelnd auf uns gerichtet, wie die Waldhexe aus dem Märchen.

»Verzeihen die gnädige Herrschaft«, hob sie mit stockender Stimme an –

»Was willst du, Maruschken?« frug Großmama, ihr gütig die Hand entgegenstreckend, während Onkel sich ungeduldig räusperte.

»O mai allerkutestes gnädiges Frauchen,« – schluchzend stürzte die Alte vor ihrer einstigen Herrin nieder und zog demütig ihren Rock an die Lippen, »mai Jung hat das Perdchen, das liebe tute Perdchen, nich erstochen! Schickens ihn nich in die Fremde! Mai Vater, mai Großvater, mai Ahne – alle, alle haben der gnädigen Herrschaft gedient mit Leib und Leben – schickens uns nich fort!« Ihre Stimme wurde krächzend wie Rabenstimmen, wenn sie im Herbst auf den Stoppelfeldern sitzen.

»Mein Sohn schickt euch ja nicht fort, Maruschken,« antwortete Großmama. »Nur den einen von deinen Kindern, und – wenn er sich draußen gut führt –« bittend sah Großmama zu Onkel Walter herüber – »darf er gewiß wieder nach Hause kommen.«

Die Alte richtete sich auf. Stumm sah sie von einem zum anderen.

»Nimmt der gnädige Herr Baron den Befehl zurück?« kam es leise und zischend über ihre halbgeöffneten Lippen.

»Nein!« Ein Faustschlag auf den Tisch bekräftigte Onkel Walters heftige Antwort. »Und nun geht, Maruschken. Mein letztes Wort habt Ihr!«

Fest auf den Stock gestützt, reckte die Alte den krummen Rücken und hob den Kopf, daß die Sehnen an ihrem Halse wie braunrote Stricke hervortraten.

»Die alte Maruschken geht, mai kutestes Herrchen, – geht [198] weit – weit weg und nimmt mehr mit, viel mehr, als bloß ein Perdchen! – – Auf diesen alten Armchen trug ich den jungen Herrn – gab ihm die Brust, statt dem eignen Jungchen. Und gearbeitet hab' ich an die vierzig Jahr auf Pirgallen – und Söhne und Töchter hab' ich geboren und aufgezogen in Gehorsam vor der Herrschaft und Gottesfurcht, und sie arbeiten auch auf Pirgallen, für die gnädige Herrschaft« – –

Ungeduldig unterbrach der Onkel ihren Redefluß. »Ich bin der letzte, der deine treue Arbeit nicht anerkannt und redlich belohnt hat. Aber einen widerhaarigen Trunkenbold – und wenn er zehnmal dein Sohn ist – kann ich nicht brauchen. Meine Geduld ist erschöpft – hüte dich, Alte, mich noch zu reizen. Ich weiß recht gut, wo die Stänker und Hetzer zu Hause sind!«

»Gar nichts weiß der Herr Baron, gar nichts,« eiferte sie. »Im Krug, wo die Kanalarbeiter sitzen, beim neuen Inspektor, wo die fainen Herren aus der Stadt morgens und abends Wein trinken, in der Gesindestube, wo die vornehmen Diener mit die Stadtmächens schäkern, da sind die Stänker; – bei der alten Maruschken nich! Wir halten noch auf alte Art und Zucht, wir lieben das liebe Landchen, die Burg, und die Kirche und die Kate. Aber die anderen, das sind Ausländsche, die bloß aufs Geld sind und keinen Glauben nich haben. Warum holt sie der Herr Baron und unsere Jungens schickt er weg, daß sie auch so werden wie die Fremden? – – Zu Haus wollen wir bleiben –« ihre Stimme kreischte – »mit die Kindersch. Aber wo die rechte Liebe weg is, geht auch die Ehrfurcht und der Gehorsam ... Die Peitsche ins Gesicht, – das haben der alten Maruschken ihre Jungchen nicht verdient um die Herrschaft –«

Wütend erhob sich der Onkel: »Nun hab' ich die Komödie satt, scher dich zum Teufel.«

Mit aufgerissenen Augen starrte die Alte ihn an und beachtete Großmama gar nicht, die begütigend die Hand auf ihre Schulter legte.

[199] »Ich scher mich, ich scher mich, aber zum Teufel nich!« schrie sie, »der Teufel is zu Haus jetzt auf Pirgallen, – alle bösen Geister gehen um, – im Turm kracht's, wo die gnädige Herrschaft die faulen Insten in Ketten legte, und aus dem Haff steigen die toten Fischer auf – die alte Maruschken geht – das liebe Herrgottche suchen –«

Wie unter einem Zwang waren wir alle verstummt. Die Steintreppe humpelte sie hinab – sie wandte den Kopf nicht mehr – sie war jetzt ganz klein und zusammengesunken. Am folgenden Tage stand ihre Kate leer, – bei Nacht und Nebel war sie mit ihren Kindern und Enkeln davongegangen, ihren armseligen Hausrat auf zwei Karren mit sich schleppend. Die Leute flüsterten noch lange mit leisem Grauen davon, wie sie drohend den Krückstock erhoben habe, als sie an der Burg vorbeikam, und unaufhörlich vor sich hinmurmelnd dem Zuge der Ihren vorangeschritten sei, vor jeder Hütte am Wege innehaltend, um den aus dem Schlaf geschreckten Bewohnern zu erzählen, daß der Herr von Pirgallen sie von Haus und Hof vertrieb.

Auch für mich war der Eindruck ein unverwischbarer. Ich ging oft ins Dorf hinab und in die Ortschaften am Strande, und lernte die harten, einsilbigen Menschen kennen, die für unaufhörliche Arbeit ein spärliches freudloses Leben gewannen. Die meisten nahmen es noch hin wie etwas Selbstverständliches, aber schon zuckte in ihren Augen hie und da dieselbe Flamme auf, die in dem Blick der alten Maruschken gebrannt hatte. Die Zeit, da sie sich vor dem Herren fühlten wie stumme Sklaven oder wie willenlose Kinder, war vorüber. Es gingen wirklich böse Geister um, auch in der alten Ordensburg.

Mein Onkel war, so viel er sich auch zu bilden strebte, den Anforderungen moderner Landwirtschaft geistig nicht gewachsen. »Man müßte Chemiker, Ingenieur, Naturforscher sein, um nicht von jedem Hansnarren übersehen und betrogen zu werden; statt dessen hat unsereins nur Leutnant gelernt,« sagte er einmal [200] bitter. Er entschloß sich sogar zum Verkehr mit einem alten Gegner aus der Nachbarschaft, einem Freisinnigen, der der beste Landwirt im Lande war. Ich begleitete die Herren zu Pferde bei ihren Inspektionsritten und hörte oft, wie der alte Mann das Neue, das der junge schuf und plante, rückhaltlos guthieß. »Nur eins kann ich Ihnen nicht verhehlen, Herr Baron, mit der Angst würde ich's kriegen, wenn ich Sie nicht für einen bedachtsamen Mann hielte, der weiß, daß er Hunderttausende hier hineinstecken muß, ehe die Millionen herausspringen.« Ich sah, wie Onkel Walter um einen Schein blasser wurde, und erschrak mit ihm.

Er war sehr ernst geworden in den letzten Jahren. Sein fröhlicher Leichtsinn brach nur dann immer wieder hervor, wenn seine Frau ihn umschmeichelte – wegen neuer Toiletten, neuem Schmuck oder neuen Hunden – und sein Söhnchen, das sie ihm vor drei Jahren geschenkt hatte, auf seinen Knien ritt. Dieser Stammhalter war der Mittelpunkt des Lebens. Er besaß schon seinen eigenen kleinen Hofstaat, und zwei Miniaturpferdchen – Shetland-Ponys, die der Vater direkt hatte kommen lassen – spürten bereits, wenn er in seinem winzigen Wagen durch den Park fuhr, die Peitsche des kleinen Junkers. Alle tyrannisierte er; für mein Schwesterchen, das selbst gewöhnt war, daß die anderen sich ihr unterordneten, war er der gefürchtetste Quälgeist, und vor ihm flüchtend, klammerte sie sich leidenschaftlich an mich an. Mein liebebedürftiges Herz empfand das sehr wohltätig, und mein, eingedenk der eigenen Kinderqualen, leicht erregtes Mitleid kam ihren Wünschen rasch entgegen. Schon frühmorgens pflegte ich mit ihr in den verstecktesten Teil des Parks zu fliehen; ich erfand die phantastischsten Spiele und die buntesten Märchen, und der halbe Tag ging vorüber, ehe ich zu mir selbst kam. Dann geschah es wohl, daß mich heftiger Groll gegen die kleine Tyrannin erfaßte, die mich so in Anspruch nahm; aber ein bittender Blick ihrer großen Blauaugen, ein zärtlicher Druck [201] ihrer runden Ärmchen um meinen Hals machte mich wieder gefügig. Nein, sie sollte, sie durfte nicht erleben, was ich erlebt hatte! Allmählich lernte ich sogar, ihr dankbar sein: die anderen nannten mich einen »Blaustrumpf« – »überspannt« – »verdreht«, dem süßen sechsjährigen Blondkopf aber konnte ich gar nicht phantastisch genug sein. Sie wollte immer neue Märchen hören – »ganz neue, die noch kein Kind gehört hat« –, und unsere ganze Umgebung wurde zum Ausgangspunkt meiner Geschichten, in die ich Götter- und Heldensagen verflocht. Sie glaubte an mich – felsenfest: wenn wir auf dem Haff segelten, warf sie heimlich mitgebrachten Kuchen ins Wasser – für Neringa, die Hafffrau, die drunten hungert, – zwischen die Steine der Parkmauer schob sie Töpfchen mit Milch – für die Wichtelmännchen, die dort ihr Wesen treiben.

Ließ sie mich frei, so vergrub ich mich in die Bibliothek. Unter dem Vorwand, die Bücher ordnen zu wollen, hatte ich mir dieses Asyl, das nur selten jemand betrat, gesichert. Es war dunkel und roch nach moderndem Papier; aber was kümmerte das mich, die ich tief im Ledersessel kauerte und über dem Lesen alles vergaß! Eine kuriose Sammlung enthielten die Schränke: alte landwirtschaftliche Broschüren und Zeitschriften, Reichstagsprotokolle der jüngsten Zeit, Modeblätter, die sich seit Jahrzehnten angesammelt hatten, französische Romane verfänglichster Art – Zolas »Nana« und »Assommoir« mitten darunter –, deutsche moderne Familienromane, und schließlich in billigen, schlecht gebundenen Ausgaben die deutschen Klassiker. Mit der Hast einer Heißhungrigen verschlang ich alles: von den Memoiren der Cora Pearl bis zu Wieland und Herder. Ich muß aber wohl in jener Zeit weder für die Schlüpfrigkeit noch für den Realismus sehr empfänglich gewesen sein; was ich von dieser Art las, interessierte mich kaum, es rief höchstens ein Gefühl des Ekels in mir wach. Noch weniger fesselten mich die deutschen Romane. »Unsere Unterhaltungsliteratur ist flach, kraft- und saftlos,« schrieb ich [202] an meine Cousine, »sentimental und nüchtern, weil die Schriftsteller sich nach ihrem fast nur aus Frauen bestehenden Publikum richten. Männer lesen keine Romane mehr, weil sie zu weibisch geschrieben sind, und Frauen werden immer weibischer, weil sie sich mit dem faden Zeug ihren geistigen Magen verderben. Am schlimmsten ist's, wenn auch noch Frauen die Romane schreiben: mit der gestohlenen Gloriole der Poesie verklärte Klatschgeschichten. Ein neuer Grund für meine Antipathie gegen die Frauen. Ich frage mich nur: sind wir so klein, so leer, so unweiblich – oder hat man uns so gemacht?«

Mit um so heißeren Wangen und klopfenderem Herzen vertiefte ich mich in Goethe. Auch das, was ich schon längst kannte, war voll neuer Offenbarungen für mich. In ein kleines Heft, das ich ständig bei mir trug – sorgfältig in ein grünseidenes Tüchlein gewickelt –, schrieb ich ein, was mir am besten gefiel und schlug es in stillen Stunden auf, wie der Priester sein Brevier, um zu lesen und wieder zu lesen, bis ich Satz für Satz auswendig konnte. Zwei standen doppelt unterstrichen an der Spitze: »Er gehörte zu den vielen, denen das Leben keine Resultate gibt und die sich daher im einzelnen vor wie nach abmühen;« – – und: »Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden.« Der eine sollte sein wie ein drohend aufgerichtetes Zeichen, eine stete Warnung, das Leben nicht zu verzetteln, sondern ihm nach großen Zielen die feste Richtung zu geben, – der andere ein Tröster in Zeiten der Mutlosigkeit, wenn ich zu mir selbst das Vertrauen verlor oder andere mich dessen zu berauben versuchten.

Mit bewußter Auflehnung gegen die asketischen Erziehungsmaximen meiner Mutter schrieb ich mir vor allem solche Stellen ab, die das Recht auf Persönlichkeit und den Wert der Freude betonten: »Ein Kind, ein junger Mensch, die auf ihren eigenen Wegen irre gehen, sind mir lieber als manche, die auf fremden [203] Wegen recht wandeln;« – »Fröhlichkeit ist die Mutter aller Tugenden;« – »ein glücklicher Mensch, ein Wesen, das sich seines Daseins freut, ist das Endziel der Schöpfung.«

Erfüllt von dem, was ich innerlich erfuhr, konnte es nicht ausbleiben, daß ich zuweilen auch davon sprach. Meine Begeisterung konnte nicht immer stumm bleiben; ich sehnte mich nach Menschen, um mich ihnen mitzuteilen, nach jungen vor allen Dingen, bei denen weder Spott noch die Weisheit des Alters mich hätte zurückstoßen können. »Ich suche Menschen, wie Diogenes,« schrieb ich an meine Cousine, mit der ich aus demselben inneren Bedürfnis heraus lebhaft korrespondierte, »und sehe dabei immer deutlicher, daß unsere miserable Erziehung uns um das Beste im Leben betrogen hat. Das bißchen Kunst und Wissenschaft hat man uns nur gelehrt, damit wir darüber schwatzen können. Es ist kein Teil unserer selbst geworden; es bleibt in Museen und Büchern wie die Religion in der Kirche. Hätten wir den rechten Ernst, das tiefe Verständnis für sie – Geist und Herz würden so sehr davon erfüllt sein, daß sie am Gemeinen oder Oberflächlichen gar keine Freude empfänden.«

Kamen junge Leute nach Pirgallen, die, wie Onkel Walter spottend zu sagen pflegte, beim »Alix-Examen noch nicht durchgefallen waren,« so streckte ich vorsichtig die Fühlhörner meines Geistes aus. Meist begegnete ich einem verlegenen Lächeln, einem erstaunten Blick, und meine Mutter, die solch einem mißglückten Versuch zuweilen zuhörte, sagte mir einmal:

»Daß du das Nüsseknacken gar nicht aufgeben magst! Du siehst doch, daß sie alle taub sind.«

»Ich glaub's aber nicht – ich will es nicht glauben,« antwortete ich, »meine eigene Existenz bürgt mir dafür, daß es noch andere meiner Art geben muß!« Mama kräuselte spöttisch die Lippen: »Die Mehrzahl ist gemein – die Dummen sind noch die besten.« Aber je häufiger sie ihrer tiefen Menschenverachtung Ausdruck verlieh, desto empörter lehnte ich mich dagegen [204] auf, desto übertriebener wurde mein Triumphgefühl, wenn irgendeine Wesenssaite des Anderen, die ich berührte, leise zu klingen begann.

Da war besonders einer, ein junger Nachbar, der oft herübergeritten kam. Tiefere Bildung besaß er nicht, aber das einsame, durch keine Abwechselung unterbrochene Leben an den grauen Wassern des Haffs hatte ihn nachdenklich gemacht, so daß es uns nie an Gesprächsstoff fehlte. Unser Verkehr dauerte nicht lange. Onkel Walter nahm mich eines Tages beiseite und erklärte mir, daß der Brandenstein keine »Partie« für mich wäre.

»Ich denke ja auch gar nicht daran, ihn zu heiraten,« rief ich.

»So benimm dich nicht so dumm! Die ganze Gegend spricht schon davon, und er selbst muß sich Hoffnungen machen, wenn du dich stundenlang mit ihm allein abgibst,« entgegnete er. Ich war außer mir: ein junges Mädchen benimmt sich also unpassend, wenn es länger als fünf Minuten mit einem und demselben Herrn redet. – »Die lieben Nächsten drücken nur dann ein Auge zu, wenn sie dabei eine Verlobung wittern,« heißt es in einem Brief an Mathilde. »Fühlst du, wie ekelhaft das ist? Welch eine faustdicke Beleidigung unseres ganzen Geschlechts darin liegt? Die Hündin wertet man nicht anders als uns. Pfui Teufel!«

Ich zog mich nach jenem Erlebnis immer mehr zurück und unterdrückte meinen Menschenhunger, bis Onkel Walter seinem Unwillen über meine »Haberei« energischen Ausdruck gab. Ich kam grade dazu, als er mit Mama über mich sprach.

»Sie wird sich die besten Aussichten verscherzen und eine verdrehte alte Schraube werden,« sagte er. »Oder willst du am Ende nicht heiraten?« Damit wandte er sich an mich.

»Gewiß will ich – sehr gern sogar, wenn der Mann danach ist!« lachte ich.

Mama sah von ihrer Handarbeit auf: »Du weißt, daß ich dich nicht zwingen werde. Ein Mädchen, das, wie du, eine gesicherte Zukunft hat, ist viel glücklicher, wenn sie nicht heiratet.«

[205] »Mit eurer Zuversicht auf Alixens Zukunft!« warf Onkel Walter ärgerlich dazwischen. »Die berühmte Tante Klothilde kann noch zehnmal heiraten, oder hundert Jahre alt werden, oder ihr Geld den Hottentotten vermachen. Wir müssen sie unter die Haube bringen, solange sie hübsch ist, – das allein ist eine Gewähr für die Zukunft. Sie darf sich freilich nicht mit Flausen den Kopf verdrehen und die verzauberte Prinzessin spielen, sonst nimmt ein vernünftiger Kerl von vornherein Reißaus.«

Hochmütig warf ich den Kopf zurück und sagte spöttisch: »Beruhige dich, lieber Onkel, ich kriege noch zehn für einen. Ich werde dir den Kummer nicht antun, eine alte Jungfer zur Nichte zu haben.«

Und nun nahm ich wieder an der Geselligkeit teil – nicht allein weil ich ihm beweisen wollte, daß ich recht hatte, sondern auch weil die Tante mich ärgerte, die – wie ich herausfühlte – aus reinem Egoismus das Einsamkeitsbedürfnis ihrer Rivalin zu fördern suchte. »Laß sie doch, wenn es ihr kein Vergnügen macht – wir werden auch ohne sie fertig!« hatte sie erst kürzlich ihrem Mann zugerufen, als er noch vom Wagen aus mich zur Teilnahme an einem Ausflug nötigen wollte. Außerdem – wer weiß?! – konnte der Gralsritter, von dem ich doch immer wieder heimlich träumte, nicht auch hier, am grauen Gestade der Ostsee landen?!

Picknicks und ländliche Feste, wo schrecklich viel gegessen, noch mehr getrunken und wenig geredet wurde, Jagd- und Manöverdiners und häuslicher Trubel fingen an, mir sogar wieder Spaß zu machen. Wenn ein paar lustige Leutnants, um vom Manöver aus Pirgallen zu erreichen, meinetwegen ein paar Nächte um die Ohren schlugen; wenn abends am Strande von Kranz, dem nahen Seebad, wohin wir häufig fuhren, prasselndes Feuerwerk mir zu Ehren in die Luft stieg; wenn Blicke mir folgten, die mehr sagten als schmeichelnde Worte, – dann schlürfte ich mit wonnigem Wohlgefühl den berauschenden Trank der Bewunderung, [206] und die kleinen Teufel der Eitelkeit triumphierten über die guten Geister im Bücherschrank von Pirgallen. Aber »er« blieb unsichtbar, und so war meine Gesellschaftspassion immer nur ein Wechselfieber. »Die Gesellschaft ist's gar nicht, die mich amüsiert, sondern die Rolle, die ich in ihr spiele,« schrieb ich an Mathilde, »denn an sich ist sie tödlich langweilig und leer – leer – leer wie ein ausgeblasenes Ei. Damit es was taugt, muß ich es erst mit meinen Farben bemalen.«

Ein paar Wochen vor unserer Abreise kam ein Freund meines Onkels, Herr von Ollech, Rittmeister bei den Gardedragonern, nach Pirgallen. Schon auf den Königsberger Rennen hatte ich ihn kennen gelernt, und als wir abends zum Souper in großer Gesellschaft, die aus lauter Dohnas, Eulenburgs und Lehndorfs bestand, zusammensaßen, war er der Rettungsring gewesen, an den ich mich gehalten hatte, um nicht in dem unvermeidlichen Meer kindlicher Spiele unterzugehen. Er war eben in Bayreuth gewesen und hatte den Parsifal gehört. Das allein hätte genügt, um ihn mir interessant zu machen; sein ernstes musikalisches Verständnis war eine weitere starke Anziehungskraft. Ich freute mich, daß er mit uns heimwärts fuhr.

Abend für Abend saß er dann im Halbdunkel des großen leeren Saals und entlockte dem alten Klavier klagende und jauchzende, zärtliche und sehnsüchtige Töne. Die kleinen Amoretten über den Türen, auf deren runde Körperchen das Licht weniger Kerzen einen rosigen Schein warf, schienen zu atmen, und die Blätter der Linden draußen bebten im Takt. Ich saß vor der offnen Türe, den mondhellen Garten vor mir, und das Zaubernetz wogender Rhythmen umspann mir dichter, immer dichter Herz und Sinne. Dankbar hingerissen erwiderte ich den Druck der Hand des Spielers, wenn er schließlich zu mir heraustrat und mir Gute Nacht bot. Sah ich ihn morgens wieder, den überschlanken, großen Mann, mit den wässerigen Augen, der roten Nase und den ergrauenden Haaren, hörte ich seine rauhe [207] Stimme, sein Lachen, das wie tonlos war, so war er mir ein Fremder, – eine Seele voll Wohlklang, die sich auf der Suche nach Menschwerdung in den Körper eines Dekadenten verirrt hatte.

Angstvoll empfand ich, daß er mich liebte, und sah zugleich an der Selbstverständlichkeit, mit der man mich mit ihm allein ließ, was alle erwarteten. Ich fürchtete die Aussprache – aber nicht weniger die Trennung. Ich kürzte den Augenblick des Gutenachtsagens mehr und mehr ab; ich wußte, daß ich in seiner Macht war, wenn der Zauber seiner Musik mich gefangen genommen hatte.

Sein Urlaub ging zu Ende; ich fesselte mein Schwesterchen so sehr als möglich an mich, um ein Alleinsein zu verhindern. Aber eines schönen Morgens lief sie mir davon, als wir grade im Begriffe waren, in den Kahn zu steigen. Stumm ruderte er mich auf dem schmalen Kanal, der sich, von Bäumen und Büschen dicht umstanden, durch den Park zog. Schon tanzten gelbe Blätter auf seinen dunkelgrünen Spiegel nieder, während die Glut des Spätsommertages wie eingeschlossen unter dem Laubdach lag. Ich starrte ins Wasser und spielte mit der Hand darin. Ein »Fräulein von Kleve«, mit rauherer Stimme als sonst hervorgestoßen, ließ mich zusammenfahren. »Wollen Sie meine Frau werden?« – – Ich antwortete nicht. »Ich bin nicht jung, nicht schön,« fuhr er nach einer Pause leise fort. »Ich habe Ihnen nichts zu bieten, als –« er zögerte, und eine flüchtige Röte stieg ihm heiß in die Stirn – »meinen Namen, mein Vermögen und – meine Liebe.« Wieder eine lange Pause – ich brachte keinen Ton über die Lippen. Mein Gegenüber seufzte tief auf. »Ich will keine rasche Antwort, wenn Ihr Herz Sie nicht dazu zwingt. Nur eins sagen Sie mir, bitte: lieben Sie einen andern?«

»Nein!« entgegnete ich, ihm grade in die Augen sehend. Seine Züge leuchteten so hell auf, daß ich erschrak. Er griff nach meiner Hand. »Dann will ich warten, und – hoffen. Es [208] ist ja sowieso vermessen, daß ein alter Knabe wie ich so viel Jugend und Schönheit begehrt. Ich reise morgen früh – in vier Wochen kommen Sie durch Berlin. Ihre verehrte Frau Mutter soll mich Ihre Ankunft wissen lassen, wenn – wenn Sie für mich entschieden haben; – ist's recht so?«

»Ja,« war alles, was ich hervorbringen konnte. Wir landeten. Als er mir beim Aussteigen die Hand reichte, traf mich ein Blick – ein Blick so voll Liebe, so voll Leid, daß ich ihm aus lauter Mitgefühl fast in die Arme gesunken wäre. Abends saß er zum letztenmal am Klavier und ließ seinen Phantasien freien Lauf; ich konnte der aufsteigenden Tränen nicht Herr werden, lief fort und verschloß mich in mein Zimmer, um es erst zu verlassen, als ich am nächsten Tag den Wagen über den Burghof rollen hörte.

Es verletzte mich, daß jedermann um unsere Beziehungen zu wissen schien. Ich wurde rücksichtsvoll behandelt, wie eine Kranke, während widerstreitende Empfindungen mir alle Ruhe raubten. Mußte ich wirklich mit meinen achtzehn Jahren über solch eine Lebensfrage nachdenken wie über ein Rechenexempel? Wenn mein Verstand zehnmal ja gesagt hatte, so warf das Nein meiner Sinne all seine Weisheit über den Haufen. Meiner Sinne – nicht meines Herzens. Allzu häufig floß es von Mitleid über, das der Liebe so ähnlich sieht; wenn ich mir dann aber vorstellte: der Mann soll dich küssen, soll von dir Besitz ergreifen – körperlich! –, dann haßte ich ihn beinahe.

Wir waren noch in Pirgallen, als ein Telegramm meines Vaters eintraf. »Brigade in Schwerin« – nichts weiter stand darin. Die Freude war allgemein und bei mir am größten; meine Abneigung, nach Brandenburg zurückzukehren, beeinflußte im stillen meine Entscheidung Ollech gegenüber. Die neue Garnison, der kleine Hof, die fremde, Neugier und Hoffnung in gleicher Weise wachrufende Umgebung gaukelten mir lauter lichte Zukunftsbilder vor. Als wir auf dem Wege nach Berlin im Zuge saßen und meine Mutter die Schicksalsfrage stellte: [209] »Soll ich Ollech benachrichtigen?« bedurfte es keiner Überlegung mehr. Ordentlich komisch kam mir's vor, daß ich jemals zwischen »Ja« und »Nein« hatte schwanken können.

Während der Übersiedelung der Möbel blieben wir in Berlin. Meine Mutter kannte keine größere Freude, als ohne Haushaltungs- und Gesellschaftszwang in der Hauptstadt zu sein. Während sie unermüdlich von einem Museum, einem Theater zum andern ging, jede Ausstellung durchwanderte, die Läden von innen und außen betrachtete, verschwanden die scharfen Linien um ihren Mund und machten dem Ausdruck kindlichen Genießens Platz. Sie vergaß dabei sogar ihre Erziehungsgrundsätze und nahm mich in Possen und Operetten mit, die sich im Grunde gar nicht »schickten«.

Im Oktober kamen wir nach Schwerin. Der erste Eindruck war ein deprimierender: ein Bahnhof wie in einem abgelegenen Provinznest, dicht daneben eine riesige Holzbaracke – das Interims-Theater –, enge, holprige Straßen, kleine Häuser mit niedrigen Fenstern, Menschen, deren Aussehen einen um Jahre zurückversetzte. Aber schon unser neues Heim veränderte das Bild: eine kleine Villa, dicht am Park, die in fröhlichem Weiß zwischen Bäumen und Büschen einladend hervorlugte. Und ich hatte zwei Zimmer darin: das Schlafstübchen, weiß und blau wie einst, der kleine Salon in mattem Grün, – eine Überraschung meines Vaters. Glückselig war ich: zur Arbeit und zum Träumen ein stiller, abgeschlossener Winkel für mich! Nicht rasch genug konnte ich meine Bücher in die zierlichen Etageren räumen, meinen Schreibtisch mit Bildern schmücken. Viele verborgene Schätze kamen ans Licht, die teils aus Mangel an Platz, teils aus Angst vor Mama in Koffern und Kisten verborgen gewesen waren. Da waren Makarts Fünf Sinne in großen Photographien, Böcklins Insel der Seligen. Ich hatte mich berauscht an der glänzenden Schönheit Makartscher Frauengestalten, ich hatte die Wirklichkeit vergessen vor dem [210] dunkelblauen Wasser und der leuchtenden Ferne auf Böcklins vielgeschmähtem Bild. Mitten auf meinem Schreibtisch prangten sie nun. Eine bunte Gesellschaft, von denen jeder einzelne vom anderen weiter entfernt war als Böcklin von Makart, versammelte sich auf meinem Bücherregal: Goethe und Julius Wolff, dessen sentimentale Sinnlichkeit mich vorübergehend fesselte, Gottfried Keller und Felix Dahn, dessen germanische Götter-und Heldengeschichten meiner alten Neigung begegneten, Scherers Geschichte der Deutschen Literatur, die eben erschienen war, und die ich eifrig studierte, Webers Welt- und Lübkes Kunstgeschichte und daneben in wirrem Durcheinander griechische Klassiker, russische Novellisten, altdeutsche Heldenlieder in braunen Reclambänden, moderne Lyriker in goldüberladenem Prachtgewand.

Noch spät am Abend kramte ich in meinem Zimmer, überzeugt, daß niemand mich stören würde, da sich die Schlafstuben der Eltern ein Stockwerk höher befanden, als meine Mutter eintrat. »Noch nicht zu Bett?!« rief sie und musterte ärgerlich meine Umgebung. Dabei fiel ihr Blick auf Bilder und Bücher. »Du bildest dir doch nicht ein, daß ich dergleichen dulden werde: diese schamlosen nackten Frauenzimmer und dies Bild eines Verrückten?«

Mir stieg das Blut zu Kopf: »Das ist mein Zimmer, soviel ich weiß,« sprudelte ich hervor, meine Worte überstürzend, wie stets, wenn die Erregung mir den Mut zur Rede gegeben hatte, »und ich bin alt genug, meinem Geschmack zu folgen. Soll ich vielleicht Thumann aufbauen, der Germanen malt wie Salonhelden, und dessen Frauen aussehen wie lauter wohlerzogene und gut toilettierte Bazardamen? Solche Verlogenheit mag ich nicht, – sie ist schamloser, als nackte Schönheit. Es ist mir auch ganz gleichgültig, ob die Leute Böcklin für verrückt halten. Ich finde, es wäre zum Davonlaufen in der Welt, wenn nicht die paar Verrückten sie noch erträglich machten.«

[211]

»Das magst du halten, wie du willst,« antwortete Mama, und nur ihre heißen Wangen verrieten ihren Zorn. »Solange du im Elternhause bist, hast du dich mir zu fügen, und zwar lediglich in deinem Interesse. Was meinst du wohl, was man von dir sagen würde, wenn man solche Dinge auf deinem Schreibtisch sähe?!« Damit ging sie hinaus, und ich nahm tief verletzt meine Bilder, um sie im Schlafzimmer aufzustellen, – hier sollte sie mir niemand verekeln dürfen.

Früh am Morgen weckte mich Papa:

»Du, Alixchen – wie wär's mit einem Ritt? Die kleine Braune wartet!« Mit einem Sprung war ich aus dem Bett und in wenigen Minuten in den Kleidern. Vergessen hatte ich den Ärger, noch mehr die Vorschrift des Arztes. Ein herrlicher Herbsttag war es, mit jenem geheimnisvoll blauen Dunst zwischen den Bäumen und jenem leisen Rieseln und Tanzen goldener Blätter darin. Durch eine grade Allee ritten wir an beschnittenen Laubengängen und verwitterten Götterbildern vorbei, vorüber an einem kleinen Gartenhäuschen, das zwischen welkenden Rosen träumte, und hinein in den Dom gewaltiger grauer Buchenstämme, durch deren hohe gelbgrüne Wölbung nur hie und da ein Sonnenstrahl bis zur Erde drang. Wir ritten langsam und sprachen kein Wort, selbst der Hufschlag der Pferde klang gedämpft, als ob sie auf tiefen Teppichen gingen. Plötzlich, wo der Weg sich jäh zur Seite wandte, empfing uns ein blendender Strom flimmernden Lichts: Vergißmeinnichtblau dehnte sich der See bis zum nebelgrauen Horizont, und aus ihm empor stieg mit Türmen und Zinnen, Erkern und Balkonen, funkelnd und blitzend im hellsten Morgenglanz, ein Märchenschloß.

Uns heimwärts wendend, verfolgten wir die Uferstraße. Das Wasser, die feierlich breite Brücke darüber, der sandige Platz trennten die Stadt vom Palast des Herrschers. Demütig und zusammengeduckt, in nüchternem Werktagskleid, scheu und anbetend, aus kleinen Fenstern hinüberblinzelnd, lag sie zu seinen Füßen.

[212] »Das ist Mecklenburg!« sagte mein Vater.

Die ersten Wochen in Schwerin waren ausgefüllt mit offiziellen Besuchen und Gegenbesuchen, die für mich lauter Enttäuschungen waren. Die Menschen entsprachen der Stadt, ob es nun Hofmarschälle, Minister oder Kammerherren und Leutnants waren. Das Resultat »guter« Erziehung sprang in die Augen: vollkommene Gleichartigkeit des Wesens, der Ansichten, der Bildung; unerschütterlicher Gleichmut, selbstverständliche Kirchlichkeit – eine Vornehmheit, die, in ihrem Abscheu vor jeder Extravaganz, äußerlich und innerlich vollkommen farblos machte. Und die Frauen! Glatt gescheitelt, streng und kühl die Verheirateten; eine Schar alternder Mädchen – das Kennzeichen jeder kleinen Residenz – mit dem bitteren Zug enttäuschter Erwartungen um blutleere Lippen; wenige junge, und auch die sich zu vorschriftsmäßigem Gleichmaß zwingend. Der Hoftrauer wegen – im Frühjahr war der alte, sehr geliebte Großherzog gestorben, sein kränklicher Nachfolger war noch im Süden – gab es keine großen Gesellschaften, dagegen zahllose Nachmittagstees von gähnender Langeweile und steife Abendgesellschaften, die ihnen nichts nachgaben. Kleine Diners bei der alten Großherzogin-Mutter, der Schwester Kaiser Wilhelms, bildeten eine wohltätige Ausnahme. Die originelle alte Dame liebte die Jugend und war, bei allem strengen Urteil über Manieren, die ihr nicht vollkommen schienen, ihr gegenüber nachsichtig und freundlich, dabei voll sarkastischen Witzes. In ihrem kleinen »Palais«, einem baufälligen Häuschen, das sie zu verlassen sich standhaft weigerte, klang an einem Nachmittag oft mehr frohes Lachen, als an zehn geselligen Abenden bei den übrigen Würdenträgern der Stadt. Was den Verkehr noch besonders erschwerte, war die Abneigung der eingesessenen Mecklenburger Familien gegen die Preußen und die strenge Scheidung der Gesellschaft nach der Herkunft. Nur der Adel war hoffähig; mühsam hatte Preußen es durchgesetzt, daß [213] wenigstens der Offizier, auch wenn er unadlig war, empfangen wurde. Seine Frau jedoch empfing man nicht, die nicht adlig geborene Frau eines Adligen ebensowenig.

Die Rolle der duldenden Teilnehmerin in der Öde dieser Gesellschaft hielt ich nicht lange aus. Mich ganz zurückziehen, was ich am liebsten getan hätte, war bei der Stellung meines Vaters, mit der die Verpflichtung »ein Haus auszumachen« unweigerlich verbunden war, nur soweit möglich, als die Rücksicht auf meine Gesundheit es verlangte. Getanzt aber wurde nicht, also blieb mir kein Vorwand; nur hie und da, wenn ich in ein Buch besonders vertieft war, oder eine Phantasie unbedingt zu Papier bringen mußte, schützte ich Schmerzen vor, legte mich zu Bett, und stand, im köstlichen Besitz ungestörter Freiheit, wieder auf, sobald die Eltern das Haus verlassen hatten.

Dann kamen sie, die holden Gestalten meiner Träume, und viele blaue Hefte füllten sich allmählich mit Gedichten und Betrachtungen, Märchen und Geschichten.

Ging ich aus, so setzte ich alle Hebel in Bewegung, um der Langenweile Herr zu werden. Zum Kampf gegen sie zettelte ich unter meinen wenigen Altersgenossen eine förmliche Verschwörung an: wir »schnitten« die Alten und Grämlichen, wir protestierten durch die Tat gegen die Gewohnheit der Trennung der Geschlechter, sobald das Essen vorüber war, wir spielten Theater und stellten lebende Bilder, wozu ich die verbindenden Texte zu dichten pflegte. Und unsere Jugend siegte allmählich; meine geselligen Künste fanden Anerkennung, und ich mußte sie überall glänzen lassen. Aber solche Erfolge genügten mir nicht. Ich »suchte Menschen« – verlangender und sehnsüchtiger denn je –, und wenn ich mich scheinbar am besten amüsiert hatte, kam ich oft heim, um verzweifelt in mein Bett zu schluchzen.

»Du hast das beste Leben von der Welt. Warum bist du nicht zufrieden?« schrieb mir meine Cousine, die kurze Zeit bei uns gewesen war und meine Zerfahrenheit nicht begriff.

[214] Ich antwortete ihr:

»Du sagst, und zwar mit dem Ton moralischen Vorwurfs, daß ich nur darum die hiesige Gesellschaft so abfällig beurteile, weil ich noch niemanden fand, der mich persönlich interessiert. Das ist doch selbstverständlich! Oder gehst du der vielen Gleichgültigen wegen in Gesellschaft, die sich nach deinem Befinden erkundigen, obwohl es ihnen ganz einerlei ist, wie du dich befindest, die die kostbare Zeit mit Geschwätz totschlagen, von dem du absolut gar keine Anregung empfängst, die ein verbindliches ›Auf Wiedersehen‹ flöten und schon am nächsten Tag an deiner Leiche gleichgültig vorübergehen würden?! Aber du treibst deinen Vorwurf noch weiter und sagst entrüstet, ich wäre wieder einmal reif, mein Herz wegzuwerfen. Ich gebe das ohne weiteres zu: findet mein Geist kein Interesse, so muß das Herz daran glauben. Hier im heiligen Mecklenburg ist kein Mensch, den ich nicht schon ausgepreßt hätte wie eine Zitrone, und der nicht immer sauer geblieben wäre wie sie. Nun gilt's, ihm das Zuckerwasser der Verliebtheit beizumengen, um ihn überhaupt genießbar zu machen. Deine Moralpauke schließt mit den Worten: nicht wieder ›sträflich‹ mit dem Feuer zu spielen. Sei beruhigt: ich bin grade auf das intensivste mit dem Schüren der Flamme beschäftigt. Und wie sie brennt!! ›Er‹ ist hübsch, elegant, leichtsinnig, oberflächlich, – kurz, ganz was ich brauche! ›Er‹ ist Löwe, Herzensbrecher, – kurz, ein Holz, aus dem ich mit Vergnügen meine Ritter schnitze! Du hast natürlich wieder Mitleid mit ihm, wie mit Vetter Fritz, mit Fredy usw. Warum hat denn niemand Mitleid mit mir?! Oder ist es nicht vielleicht mitleidenswürdig, daß ich mein heißes Herzblut tropfenweise mit dem Allerweltsleitungswasser des Flirts verdünne?! Ich lechze nach Licht, flammendem Geisteslicht, selbst wenn ich bei seinem Anblick erblinden sollte, und nach einer Leidenschaft, an der ich mich verzehren kann.«

Es kamen Stunden, in denen mein pochendes Herzblut mich [215] in wild aufwallende Gefühle verstrickte. Dann flatterte es mir vor den Augen in tausend Flämmchen, heiße Schauer liefen mir über den Rücken, und feuriger begegnete mein Blick dem des Mannes, der grade neben mir über die spiegelnde Eisfläche glitt oder beim Diner klingend sein Sektglas an das meine stieß. Ich galt für kokett; die jungen Mädchen zogen sich von mir zurück; ich hatte immer eine Korona von Kavalieren um mich.

In grausamer Selbstzerfleischung schrieb ich in eines meiner blauen Hefte:

»Irgendein unheimliches, wildes Tier haust in meinem Innern. Es zerreißt die festesten Eisenketten. Es treibt mich seit meiner Kindheit von Leidenschaft zu Leidenschaft. Wie erbärmlich, sich erheben zu wollen über die Mädchen der Straße. Wären wir nicht so gut erzogen, und wohlgehütet, wie viele von uns gingen denselben Weg wie sie!« Und an anderer Stelle heißt es: »O über das trostreiche Verweisen auf häusliche Pflichten! Als ob ich sie nicht alle erfüllte, ohne die geringste Befriedigung zu spüren! Staub wischen, Hüte garnieren, Deckchen sticken, Strümpfe stopfen, – soll das das Herz beruhigen, den Geist ausfüllen?! Es ist nichts als eine tugendhafte Bemäntelung des Zeittotschlagens. Meine Lebenskräfte schreien nach Betätigung. Ich möchte etwas erleben, das keine Nervenfaser unberührt, kein Äderchen ohne Glut läßt, etwas leisten, das Wunden kostet ...«

Einmal – ich saß grade am Bett meines kranken Schwesterchens und baute ihr aus Goldpapier ein »Walhall« auf, dessen göttliche Bewohner aus Perlen und bunten Knöpfen bestanden – ließ mich Papa zu sich herunterrufen. Herr von Landsberg, der Hoftheater-Intendant, war bei ihm.

»Ich habe eine Bitte an Sie, mein gnädigstes Fräulein,« wandte er sich an mich. »Wir wollen nach beendeter Trauer den Geburtstag des Großherzogs durch eine Festvorstellung feiern. Uns fehlt ein einleitender Prolog. Dürfen wir dafür auf Ihre Mitarbeit rechnen?«

[216] Mir klopfte das Herz vor Freude: Ich sollte für die Bühne dichten! Sollte von einem großen Publikum gehört werden! Trotzdem kamen mir Bedenken:

»Ich kenne den Großherzog nicht. Und ihn anhimmeln, bloß weil er der Großherzog ist – das widerstrebt mir.«

»Niemand verlangt das von Ihnen. Das rein Menschliche, daß er krank, fern seinem Lande im Süden ist, daß seine Abwesenheit schwer auf Handel und Wandel, Leben und Geselligkeit drückt, daß wir ihm und uns seine Genesung wünschen, gibt, scheint mir, Anregung genug zu dichterischer Gestaltung!« Mir leuchtete ein, was er sagte; die Gelegenheit, zum erstenmal öffentlich hervorzutreten, war auch viel zu verlockend, als daß mein Widerstand sich hätte aufrecht erhalten lassen.

Ich schrieb in schwungvollen Versen irgend etwas, das von den Seen und Wäldern Mecklenburgs, von den guten heimischen Göttern und dem trügerischen Zauber des Südens mehr enthielt als von dem Landesfürsten, den es feiern sollte. Da man ihn seiner, wie man glaubte, unnötig langen Abwesenheit wegen nicht allzu hoch schätzte, so entsprach meine Dichtung den Intentionen der Auftraggeber. Bei Landsbergs, in kleinem Kreise, las ich sie vor und erntete von den anwesenden Schauspielern einen geräuschvollen Beifall, der um so größeren Eindruck auf mich machte, als ich noch nicht wußte, daß es bei ihnen ebenso üblich ist, den Gefühlen übertrieben lauten Ausdruck zu geben, wie es bei uns guter Ton ist, sie bis auf ein Mindestmaß zu unterdrücken.

Hier – das schien der eine Augenblick mir zu enthüllen – fand ich die Menschen, die mich verstanden, denen die Kunst Lebensinhalt war. Ich nahm an den Proben teil und wurde allmählich ein immer häufigerer Gast im Hause des Intendanten. Seine geistvolle, liebenswürdige Frau verhätschelte mich; er selber – wie selten war mir das begegnet! – nahm mich ernst und gab mir allerlei gute Ratschläge, um mein Talent[217] zu fördern. Die Hauptanziehungskraft aber war mir Lisbeth Karstens, die junge, reizende Schauspielerin, die meinen Prolog sprechen sollte. Aus Begeisterung für die Kunst hatte sie das warme Nest ihres Elternhauses verlassen und war allein und mittellos in die Fremde gegangen. Not, Gemeinheit und Verkennung hatten sich ihr in den Weg gestellt, – ihr Enthusiasmus war stärker gewesen als alles. Landsberg, der es wie wenige verstand, Begabungen zu entdecken und die häßliche Bretterbude am Bahnhof infolgedessen über viele kostbare Theater Deutschlands erhob, hatte sie erst kürzlich engagiert. Sie war ein ausgezeichnetes »Gretchen«, eine rührende »Ophelia«, ein hinreißendes »Käthchen von Heilbronn«, und selbst der blutleeren »Thekla« verhalf sie zu lieblichem Leben. Mein Prolog, von ihr gesprochen, erschien mir wirklich wie ein Kunstwerk. Aber, ach, wieviel Tränen vergoß ich seinetwegen!

Mit aufrichtigem Beifall hatte mein Vater ihn beurteilt; es schmeichelte seiner Eitelkeit, seine Tochter anerkannt zu sehen, aber seine hochmütige Mißachtung des Publikums war zu groß, als daß er ihm ein Urteil über mich hätte gestatten können. Mein Name durfte nicht genannt werden. Ich suchte vergebens, ihn umzustimmen.

»Damit unser guter Name durch die schmutzigen Mäuler aller Menschen gezogen wird?!« herrschte er mich an, »und jeder Federfuchser sich erlauben kann, dich herunterzureißen?!« Als der große Abend hereinbrach, flüsterte man sich meinen Namen nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu. Der Beifall aber, der das Theater durchbrauste, klang wie eine Fanfare bis ins Innerste meiner Seele, und alte Kinderträume wachten auf, und junger Ehrgeiz breitete seine Flügel aus, um mich weit in die Zukunft zu tragen – dahin, wo der Ruhm auf ehernen Stühlen thront und immergrüner Lorbeer im Glanze der nie untergehenden Sonne eichenstark gen Himmel wächst.

Seitdem hatte ich keine Ruhe mehr. Oft trieb mich's des [218] Nachts aus dem Bett an den Schreibtisch. Mit Lisbeth Karstens verband mich eine immer innigere Freundschaft. Sie war meine Vertraute, eine geduldige, leicht begeisterte, fast immer kritiklose Zuhörerin meiner Dichtungen. Im Theater, das ich fast täglich besuchte, denn in der Loge des Intendanten war Platz für mich, sobald meine Eltern mich nicht begleiteten, fand ich immer neue Anregung, der Künstlerkreis im Landsbergschen Haus, der für nichts Sinn hatte als für das Theater, fachte die Glut meines Innern zur Fieberhitze an. Noch waren es Nebelgestalten, die ich sah und nicht zu fassen vermochte. Sie nahmen festere Formen an, wenn der alte Wagnersänger Hill am Flügel stand und seine machtvolle Stimme den Raum erfüllte; wenn Alois Schmitt – einer der künstlerischsten Menschen, die ich kannte – am Dirigentenpult saß und sein geschultes Orchester die Fidelio-Ouvertüre intonierte; und sie wurden mir sichtbar, wie Geistererscheinungen, wenn ich einsam durch den Wald ritt und droben auf dem Götterhügel fern der Stadt, wo vor Jahrhunderten Walvaters Opferstein rauchte, die rauschenden Buchen miteinander flüsterten.

Es war Sigrun, König Högnis Tochter, die ich sah – Sigrun, die Schildjungfrau, die in heißem Freiheitsdrang und starker Liebe den Todfeind ihres Vaters, Helgi, den Hundingstöter, vor seinen Mördern schützte und sich ihm als Gattin verband, – Sigrun, die Treueste der Treuen, und die geliebteste, um deretwillen Helgi Walhalls Wonnen verschmähte. Zu einem Drama wollt' ich ihre Geschichte gestalten; der Konflikt zwischen kindlichem Gehorsam und Mannesliebe war sein Mittelpunkt, seine Lösung der freiwillige Tod der Heldin.

Meist schrieb ich des Nachts. Am Tage fürchtete ich zu sehr die Störung, die mich aus allen meinen Himmeln riß. Die Friseuse, die Schneiderin, die Wäsche, die Besuche, – nichts durft ich versäumen. »Wäre ich ein Mann, es würde dir nicht einfallen, mich von der Arbeit abzurufen!« rief ich bei solcher Gelegenheit einmal verzweifelt Mama entgegen.

[219] »Gewiß nicht!« antwortete sie mit herbem Lächeln, »da du aber ein Weib bist, mußt du frühzeitig lernen, daß wir nie uns selbst gehören.«

Tante Klothilde fiel mir ein, die mir vor Jahren etwas ähnliches gesagt hatte, und Groll gegen mein Schicksal erfüllte mich.

Mit dem Fortschritt der Arbeit wurde meine Stimmung immer trüber. Ich fühlte, daß ich meinem Werk den ganzen Gluthauch des Lebens, den ich dunkel empfand, nicht einzuflößen vermochte. Der guten Lisbeth Beifall machte mich stutzig, nachdem ich erfahren, wie wahllos sie für alles schwärmte; der laute Ton des Künstlervölkchens bei Landsbergs, der mir früher ersehnte Offenbarung natürlichen Fühlens gewesen war, tat mir weh, je mehr ich die falsche Note hörte. Das Tiefste versteckten schließlich alle: wir durch schweigende Zurückhaltung, sie durch lärmende Heiterkeit. Ich zeigte Landsberg einige Szenen meines Werks, die mir am besten gelungen schienen. »Bringen Sie's mir, wenn es vollendet ist, vielleicht läßt es sich aufführen,« sagte er nach der Lektüre – nichts weiter. Wäre es das Außerordentliche gewesen, das ich hatte schaffen wollen, er hätte sicherlich anders gesprochen!

Ich hielt mich streng an klassische Vorbilder und übertrug das ursprünglich in Prosa oder in freien Rhythmen Geschriebene in fünffüßige Jamben. Alle Wärme, alle Kraft ging dabei verloren. Je mehr ich umarbeitete, feilte, mit der Form und der Technik kämpfte, desto nüchterner und fremder sah mich meine eigne Arbeit an. Und schließlich kam ein Tag, an dem ich verzweifelt vor den vollgeschriebenen Blättern saß, und wußte, daß ich meiner Aufgabe nicht gewachsen war. Wie ein steuerloses Schiff auf brandendem Meere war ich wieder; eine Fata Morgana waren meine Hoffnungen gewesen; das Leben sah mich an: eine leere, dunkle, feuchtkalte Höhle, die von den Fackeln meiner Träume noch eben in magischem Zauber geleuchtet hatte.

»Ganz oder gar nicht,« – das war mir allmählich zum Wahlspruch [220] geworden. So verurteilte ich denn fast alles, was ich seit meiner Kindheit geschrieben hatte, zum Feuertode, verschnürte und versiegelte das Übriggebliebene – darunter auch mein verunglücktes jüngstes Werk – und warf den Schlüssel der kleinen Truhe, in der ich es verwahrte, zum Fenster hinaus.

Und nun überfiel mich ein Heimweh nach den Bergen, so stark, so unüberwindlich, als wäre ich dort zu Hause und überall sonst in der Fremde. Auf meine Bitte, zu ihr ins Rosenhaus kommen zu dürfen, antwortete Tante Klothilde umgehend, daß sie zwar noch nicht dort sei, die alte Kathrin aber alles zu ihrer Ankunft vorbereite und ich sie mit ihr dort erwarten möge. Ehe ich ging, zog ich meinem Schwesterchen noch zwei Puppen an – Helgi und Sigrun. Sie liebte sie zärtlich, und noch Jahre nachher lachten mir ihre starren Porzellangesichter entgegen, als höhnten sie meiner, die ich lebendige Menschen hatte schaffen wollen.

[221]
10. Kapitel
Zehntes Kapitel

Allein in Grainau! – Noch lag der Schnee bis zum Tal hinunter, und die Sonne stand noch nicht hoch genug am Himmel, um mehr als ein paar Stunden am Tage das Dörflein wieder zu grüßen, vor dem sie sich im Winter monatelang hinter den steilen Wänden des Waxensteins versteckte. Nur im Rosensee spiegelte sie schon länger ihr strahlendes Antlitz, als wollte sie sich überzeugen, ob sie würdig des kommenden Frühlings wäre. Der riß hie und da keck an der grauen Wolkendecke und guckte mit seinem hellen blauen Himmelsauge neugierig auf die arme, kahle Erde herunter. Seltsam, wie wohl mir war, kaum daß die Loisach, voll und gelb von Schneewasser, mich lärmend – wie ein übermütiger Bub – willkommen hieß. Mich störten der Regen nicht und der Sturm, die mir kühlend um Stirn und Wangen strichen; in den Lodenmantel gewickelt, ging ich all die vertrauten Wege, und niemand zankte mich, wenn ich zerzaust und beschmutzt nach Hause kam, oder gar die Mahlzeit versäumte. Die gute Kathrin schüttelte nur nachsichtig lächelnd den Kopf, streichelte mir mit einem zärtlichen: »Ach, die liebe Jugend« die heißen Wangen und ließ es sich nicht nehmen, mir die gewärmten Strümpfe und Schuhe selbst über die Füße zu ziehen.

War das eine Wonne, allein zu sein! Über mein Tun und Lassen selbständig zu entscheiden! Ein Schmetterling, der aus dem Puppenpanzer kriecht, konnte nicht froher sein als ich! Plötzlich – ich saß grade unter tropfenden Bäumen auf der [222] nassen Bank, die der Sepp mir gezimmert hatte – fielen mir meine achtzehn Jahre ein; – Himmel, war ich jung! Ganz überwältigt von dieser Erkenntnis, lief ich in großen Sprüngen den Berg hinab und konnte mich vor Lachen nicht fassen, als ich der Länge nach im Moose lag.

Tante Klothilde verschob ihre Ankunft von einer Woche zur andern. Wenn sie den Schnupfen hatte und das Wetter schlecht war, zitterte sie um ihre Stimme, und vor der Rücksicht auf deren Gefährdung mußte alles andere zurückstehen. Sie schickte mir ermahnende Briefe, in denen sie genau vorschrieb, wie weit ich allein gehen dürfe – eine Viertelstunde im Umkreis war's höchstens –, und schärfte der Kathrin ein, gut auf mich aufzupassen.

Indessen kam der Frühling, und die Bäume steckten ihm zu Ehren ihre ersten grünen Blätterfähnchen aus. Ich saß schon stundenlang auf der Veranda in Tantens Schaukelstuhl – ohne Handarbeit, ohne Buch – und sonnte mich. Außer mir und der Kathrin waren nur der alte Gärtner und sein uralter Pudel im Haus, der im Stoizismus seines Greisentums das Bellen sogar schon aufgegeben hatte. Es war daher mäuschenstill bei uns. Um so mehr erstaunte ich, als eine kräftige Männerstimme eines Morgens an mein Ohr schlug.

»Machen Sie mir doch nichts weiß,« rief sie, »ich hab' doch meine Augen im Kopf, – und wette zehn gegen eins: das Rosenhaus ist bewohnt.«

»Aber wahr und wahrhaftig, Durchlaucht, die Frau Baronin sind noch nicht hier!« greinte die Kathrin. Ein helles Gelächter war die Antwort.

»Da könnten Sie am Ende recht haben – aber in der ganzen Welt gibt es nur einen so schwarzen Lockenkopf, wie der Alix ihren, und den sah ich vom Ufer drüben. Gespenster sind nicht so hübsch.«

Hellmut war's! Ich lief hinaus und streckte ihm beide Hände entgegen. Die paar Jahre seit unserem letzten Zusammensein [223] waren wie ausgewischt, und erst als ich sah, daß ein hochgewachsener Mann mit gebräuntem Gesicht und keckem Schnurrbärtchen über den vollen Lippen vor mir stand, errötete ich unwillkürlich.

»Wollen – Sie nicht näher treten!« sagte ich zögernd.

»Aber Alix – ›Sie!‹ Wir sind doch alte Freunde,« damit faßte er meine Hand mit kräftigem Druck und ging mit mir an den eben verlassenen Frühstückstisch, während Kathrin uns ganz blaß und geistesabwesend nachstarrte.

Das Ungewöhnliche der Situation machte uns verlegen. Schweigend holte ich eine Tasse aus dem Schrank und goß ihm Tee ein, während ich fühlte, wie sein Blick auf mir ruhte.

»Wie schön bist du geworden!« – flüsterte er wie zu sich selbst. In dem Augenblick trat die Kathrin herein und rumorte mit eifriger Geschäftigkeit im Zimmer. Das zwang uns zur Konversation, die, zuerst steif und gezwungen, allmählich immer natürlicher wurde. Nach dem Wie und Warum unseres Hierseins frugen wir einander, und ich erfuhr, daß ihn auf dem Wege nach Oberitalien in München plötzlich die Lust gepackt habe, die Berge von Garmisch wieder zu sehen. »Unserem Verwalter in Partenkirchen kam ich nicht gerade gelegen,« lachte er, »der hatte Gesellschaft in Mamas Salon, als ich eintrat. Ich habe ihm unter der Bedingung gnädig verziehen, daß er über meine Anwesenheit gegen jeden den Mund halten soll.«

»Dann sind wir beide inkognito,« rief ich fröhlich, »die Tante findet nämlich im Grunde mein Alleinsein so kompromittierend, daß ich versprechen mußte, mich in Garmisch nicht sehen zu lassen.«

Bis gegen Mittag blieb er. Der guten Kathrin warnende Blicke, die ich zuweilen auffing, nahmen mir den Mut, ihn zu Tisch einzuladen. Am nächsten Morgen aber, vor seiner Weiterreise, versprach er, mir eine »feierliche Abschiedsvisite« zu machen.

»Wenn das die Frau Baronin wüßte!« sagte die Kathrin seufzend, als er weg war.

[224] Es regnete in Strömen, als ich am folgenden Tage erwachte. »Nun kommt er sicher nicht,« war mein erster Gedanke, und mißmutig zog ich die Decke wieder über die Schultern. Aber eine leise Hoffnung tauchte gleich danach auf und zwang mich, statt des alltäglichen Lodenrocks ein hübsches, helles Hauskleid aus dem Schrank zu holen. Kaum saß ich am summenden Teekessel, als ich draußen sein fröhliches »Grüß Gott, Fräulein Kathrin« hörte. »Naß bin ich wie 'ne Katze, aber pudelwohl, – Sie sehen, die Viecher vertragen sich auch im Menschen,« fügte er hinzu, und selbst die wohlerzogene Dienerin erlaubte sich, zu lachen. Sie ließ uns sogar allein – es war ja das letztemal, mochte sie sich zur eigenen Beruhigung sagen.

Wie war es behaglich im Zimmer, während draußen der Regen an den Fenstern niedertroff! Wir frühstückten und plauderten miteinander, ganz wie alte Vertraute, und setzten uns schließlich vor den kleinen Kamin, der eine wohlige Wärme ausstrahlte. »Wie wär's mit einer Zigarette?« frug er und hielt mir die gefüllte Dose hin.

»In diesen heiligen Hallen?« antwortete ich, halb erschrocken.

»Bis die Gestrenge kommt, ist der Duft verflogen. – – Ich muß dir was erzählen, Alix, und das geht nicht ohne den Glimmstengel. Der macht Mut, weißt du!« Wir rauchten eine Zeitlang schweigend.

»Du mußt mich nicht so ansehen,« fing er schließlich wieder an, »sonst kommt's mir gar zu komisch vor, daß ich dir Geständnisse mache, wie einem Kameraden.« Ich rückte lächelnd den Stuhl zur Seite und sah geradaus ins Feuer. »Ist's recht so?«

»Fein! – Wenn du nur nicht ein so verdammt hübsches Profil hättest! –« Er schwieg aufs neue. Nach ein paar Minuten aber begann er: »Ich habe – Dummheiten gemacht in Berlin. Es hat der armen Mama, die so nicht auf Rosen gebettet ist, einen tüchtigen Happen Geld gekostet, die Sache in Ordnung zu bringen« –. Ein bißchen erschrocken wandte ich den Kopf [225] nach ihm. – »Es war nichts Gemeines, Alix – Kind, gewiß nicht. Du kannst ja nicht wissen, wie's unsereinem geht. Wir sind nicht von Stein – die jungen Mädels der Gesellschaft sind steif und langweilig wie Holzpuppen, – und wenn sie's nicht sind, ist's ihr Unglück.« Ich fuhr zusammen. – »Kannst am Ende selbst ein Lied davon singen, was?! – Kurz und gut, siehst du, ich verliebte mich eines Tages in eine Ballettratte – einen süßen, kleinen Käfer, sag' ich dir –«, zu dumm, daß ich mich in diesem Augenblick bis zu Tränen ärgerte – »aber gräßlich ungebildet. Ich habe sie eigentlich nur zwei Tage gern gehabt, nachher war's Gewohnheit, Mitleid, – was weiß ich« – er war aufgestanden und ging unruhig im Zimmer hin und her, die Zigarette zwischen den Fingern zerdrückend. »Ich konnte schließlich nicht länger – ich mußte frei sein! Ihr Vater lief spornstreichs zu Mama und heulte ihr was von zerstörtem Leben, geraubter Ehre usw. vor. Mir gegenüber hatte er bis dahin den untertänigdankbarsten Diener gemimt. Das übrige kannst du dir am Ende vorstellen!«

Ich zitterte vor Erregung. Mich hatte ein Gedanke gepackt, der mich nicht minder losließ. »Hat sie – ein – Kind?« stieß ich mit aller Anstrengung hervor. Verblüfft blieb er vor mir stehen. »Du bist wirklich aus der Art geschlagen, Alix,« damit streckte er mir die Hand entgegen. »Meine Hand drauf: nein! Wäre das Unglück geschehen, ich hätte anders gesprochen! – Aber wir sind noch nicht zu Ende. Man hat mich auf Urlaub geschickt – nach Italien, wie du siehst! –, und wenn die Galgenfrist zu Ende ist, soll ich – heiraten!« Mit komischem Entsetzen rang er die Hände.

»Wen?« frug ich, während mir das Herz hörbar schlug.

»Wen?! Ein kleines Prinzeßchen natürlich, semmelblond – du weißt, wie ich sowas liebe! – bleichsüchtig, eine Figur wie ein wohlgehobeltes Brett.« Ich spürte mit heimlicher Freude den raschen Blick, der zu mir herüberflog. »Die Ebenbürtigen [226] mit dem nötigen Mammon laufen nicht zu Dutzenden in der Welt herum. Und eine Ebenbürtige muß es sein, Mama träumt doch ständig, daß ihrem Einzigen Vetter Georgs Krone eines schönen Tages auf den Dickkopf fällt! Eine Reiche natürlich auch, – du weißt ja, in wie schmerzlichem Widerspruch unser Portemonnaie zu dem Glanz unseres Namens steht!«

»Und du?«

»Ich wünsche ihm ein langes Leben, eine tüchtige Frau und ein Dutzend Jungens! Zum Regieren hab' ich kein Talent, und zum Heiraten am allerwenigsten. Das weiß ich eigentlich erst seit gestern. In der Stickluft Berlins, angesichts des versammelten Familienrats war ich ganz klein. Aber wie ich gestern von dir ging, bin ich noch bis in die Nacht hinein in den Bergen herumgeklettert und habe mir einen ordentlichen Gletscherwind um die Nase pfeifen lassen. Heute weiß ich: es geht nicht – mögen sie mich meinetwegen zu den Insterkosaken versetzen, ich kann die Ebenbürtige nicht heiraten.«

Er wandte mir den Rücken und sah in den Regen hinaus.

»Ich kann nicht« – wiederholte er leise, »ich muß eine haben, die ich liebe –.«

Es war ganz still zwischen uns. Nur die Uhr tickte laut und heftig.

»Ich möchte hier bleiben, Alix,« sagte er nach einer Weile mit ruhigem Ernst. »Ich brauche die Einsamkeit und – dich. Du mußt mir helfen überlegen, was aus mir werden soll!«

»So bleibe, Hellmut,« antwortete ich rasch, aber im selben Augenblick fiel mir die Kathrin ein, und die Tante, und das Gerede der Leute; und schon kam sie selbst, meine getreue Wächterin, und sagte, nachdem sie das Geschirr möglichst langsam abgeräumt hatte:

»Soll der Christoph für Durchlaucht einen Wagen bestellen? Er geht gerad ins Dorf hinunter.«

Hellmut stieg das Blut in den Kopf. Er verstand. »Nein,« [227] sagte er, »ich gehe zu Fuß. Es ist nicht nötig, daß noch mehr Leute von meinem Hiersein wissen.« Die Kathrin sah ihn zweifelnd an. »Fürchten Sie nichts für Ihr gnädiges Fräulein, Kathrin,« fuhr er fort, »ich bin ihr bester Freund und werde nicht dulden, daß ihr auch nur ein Härchen gekrümmt wird.« Als sie sich daraufhin stumm entfernt hatte, wandte er sich zu mir:

»O über die verdammten Rücksichten auf die Gemeinheit der anderen! Ist's nicht das natürlichste von der Welt, daß wir hier zusammen sitzen? Und nun –! Ich kann nicht wiederkommen, – deinetwegen nicht!«

Ich hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Zugleich kam mir's feige und erbärmlich vor, ihn so gehen zu lassen.

»Ich bin viel draußen,« sagte ich zögernd und verlegen, »wenn du mich brauchst, wie du sagst, dann – dann könnten wir uns irgendwo treffen.«

»Hab' Dank, herzlichen Dank, Alix. Aber das macht die Sache nicht besser. – Uns ein heimliches Rendezvous geben, wie – wie ... nein, das kann ich dir nicht antun. Machen wir's kurz: Lebwohl.« Er zog meine Hand an die Lippen und wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, rasch zur Türe.

In mir kochte es. Ah, wer diesen Götzen der Konvention zerschmettern könnte, auf dessen Altar unsere besten Gefühle und schönsten Stunden verbluteten, dem zu Ehren wir unsere freien Glieder in Fesseln schlugen. Gegen Abend, als ich aus der Gartentür trat, sprang mir ein kleiner Bub in den Weg und hielt mir einen Strauß Schneeglöckchen entgegen. Schon zog ich die Börse, um sie zu kaufen, da drückte der Überbringer ihn mir schelmisch lachend in die Hand und rannte davon. Jetzt entdeckte ich erst den Brief, der um die Stiele gewickelt war.

»Im Begriff, abzureisen,« schrieb Hellmut, »sende ich meiner lieben Freundin diese Blumen, die einzigen, die ich auftreiben konnte. Ich fahre direkt nach Berlin. So leid es mir Mamas wegen tut, – mein Entschluß steht fest: ich will frei bleiben. [228] Auch wenn ich den Adler auf dem Helm opfern muß. Ich werde mich zu den Ludwigsluster Dragonern versetzen lassen und scheide von Dir mit der Hoffnung auf ein frohes Wiedersehen in Schwerin und auf eine freundliche Fortsetzung unserer unterbrochenen Gespräche.

Dein alter Freund

Hellmut.«


Meine Freude war so groß, daß ich sie allein gar nicht tragen konnte. Die alte Kathrin mußte, so sehr sie sich auch zierte, beim Abendessen neben mir sitzen und den Wein mit mir trinken, den ich mir selbst aus dem Keller geholt hatte. Schließlich rief ich den Pudel herein und trieb ihn im Zimmer so lange im Kreise umher, bis vergessene Jugenderinnerungen in ihm aufdämmerten und er, fröhlich mit dem Schwanze wedelnd, in ein heiseres Bellen ausbrach.


Mitte Juni war ich wieder in Schwerin. In vier Wochen stand der Einzug des Großherzogs bevor, dem eine Reihe von Festlichkeiten aller Art folgen sollte. Unmöglich konnte ich meiner Mutter alle Toilettensorgen allein überlassen, und meine Tante, die kurz nach Hellmuts Abreise in Grainau eingetroffen war, schenkte mir aus lauter Rührung über meine Pflichttreue ein rosaseidenes Kleid, von weißem, goldgesticktem Tüll überrieselt. Nun saß ich zu Mamas hellem Erstaunen selbst in der Schneiderstube. »Das sind ja ganz neue Talente, die du entwickelst,« sagte sie, während ich unermüdlich anprobierte, steckte und heftete, nur die mechanische Vollendung der Arbeit der Näherin überlassend. Niemand sollt' es merken, daß unsere Kleider nicht bei Gerson gearbeitet worden waren. Es war mir beinahe störend, daß ein paar unentwegte Verehrer vom vorigen Winter zu meinem Geburtstag eine Landpartie arrangiert hatten, [229] die mich einen ganzen Tag Arbeitsunterbrechung kosten würde. Schließlich aber amüsierte ich mich dabei köstlich und ließ mir vergnügter denn je den Hof machen. Wir lagerten gerade unter den Buchen und ließen die Sektpfropfen knallen, als mein Vater erschien, der am Vormittag nicht hatte abkommen können, und eine himmelblaue Uniform neben ihm auftauchte.

»Ich bringe Se. Durchlaucht den Prinzen Hellmut gleich mit, der uns heute seinen Besuch hat machen wollen,« sagte Papa. Alle waren aufgesprungen und verstummt. Jeder Prinz, selbst der kleinste, ruft in jedem, selbst dem vornehmsten Kreis, eine Verlegenheitspause hervor. Hellmut verbeugte sich und trat dann rasch zu mir, die ich mich allein von meinem Rasenplatz nicht gerührt hatte. »Diesen Tag habe ich mir zu meiner Antrittsvisite ausgesucht, um Ihnen als alter Freund meine ergebensten Glückwünsche zu Füßen zu legen.« Bei der förmlichen Anrede sah ich erstaunt zu ihm auf.

»Ich danke Ihnen, Durchlaucht, daß Sie sich meiner erinnern,« antwortete ich mit kaum verhülltem Spott.

Als wir nachher ziemlich isoliert beieinander saßen – die anderen hielten sich trotz all ihrer Neugierde in respektvoller Entfernung – erklärte er mir sein Verhalten. Mein Vater hatte ihn gebeten, von dem »Du« unserer Kindheit Abstand zu nehmen, »Sie kennen die Klatschmäuler kleiner Residenzen zu gut, um meinen Wunsch mißzuverstehen,« hatte er hinzugefügt. Er war ein schlechter Psychologe, der gute Papa! Er hätte wissen müssen, daß dieses Verbot unseren Beziehungen die Harmlosigkeit nahm und ihnen den Stempel der Heimlichkeit aufdrückte. Wir kehrten ohne Verabredung zum Du zurück, sobald wir allein waren, und redeten uns vor anderen, belustigt über die Komödie, die wir den Dummen vorspielten, »Durchlaucht« und »gnädigstes Fräulein« an.

Strahlende Sommertage kamen. Die Jahreszeit, in der wir geboren wurden, hat eine geheimnisvolle Bedeutung für [230] unser Leben. Nie fühle ich das Dasein mit seinen Schrecken und Schmerzen, seinen Wonnen und Seligkeiten so stark und tief, als wenn dem Himmel und der Erde Glutwellen entströmen. Wie die Rosenknospe sich öffnet und sich bis zur Tiefe ihres goldenen Kelchs der leuchtenden Sonne preisgibt, so öffnet sich dann mein Herz.

An einem Julimorgen zogen unter klingendem Spiel und wehenden Fahnen Friedrich Franz II. und Anastasia, seine Gemahlin, durch die Straßen von Schwerin zum Schloß. Am Abend desselben Tages, während der Mond hoch am Himmel stand und das Märchenschloß in silberne Schleier hüllte, war der ganze See von großen und kleinen, mit tausenden bunter Lampen geschmückten Schiffen belebt. Bis hoch in die Masten schwangen sich die Lichterketten, und Blumengirlanden schleiften im schimmernden Wasser.

Nur wenige Würdenträger waren an diesem Abend ins Schloß geladen, um von den Terrassen des Burggartens aus dem Schauspiel unten zuzusehen. Wir gehörten dazu, und Hellmut auch, der der Suite des vornehmsten Gastes, des Königs von Griechenland, attachiert worden war.

Abseits stand ich unter den Taxushecken, als eine Stimme hinter mir flüsterte: »Komm mit.« Ich nahm den Arm, der sich mir bot, und fühlte bebend den Druck, mit der er den meinen an sich preßte.

Versteckt zwischen den Rotdornbüschen lag drunten ein Boot. Es trug keine Lichter, nur Kissen und Decken und zu Füßen der Sitze in hellen Körben eine Fülle von Rosen. Wir fuhren dicht am umbuschten Ufer entlang und hinaus, wo der See immer dunkler und einsamer wurde. Wie ein Heer von Glühwürmchen erschienen von hier aus die Lichter der Schiffe, während der Mond groß und majestätisch zu uns hernieder sah.

»Frierst du, Alix?« – Er zog die Ruder ein und hüllte mich kniend fester in die Decken. Seine Hand, die meinen bloßen [231] Arm berührte, war heiß und zitterte, und durch mein Herz zuckte ein schneidender Schmerz, der dabei doch so seltsam wohltat ... Wir sahen einander an – tief und fest.

Da tauchte ein anderes dunkles Boot neben uns auf.

»Durchlaucht verzeihen – die Herrschaften brechen auf –, darf ich meine Hilfe anbieten?« Graf Waldburg war's, ein Regimentskamerad des Prinzen, der rasch entschlossen in unser Boot sprang, mitten in die bunten Schiffe hineinruderte, wo wir – zu dritt! – von allen Seiten gesehen wurden und mit unseren Rosen in die Blumenschlacht eingriffen; zusammen erschienen wir im Burggarten in der Gesellschaft und erzählten so harmlos als möglich von unsrer lustigen gemeinsamen Fahrt.

»Ich danke Ihnen, Waldburg,« flüsterte Hellmut. Noch ein Zusammenschlagen der Sporen, ein höflich-kühles Kopfneigen als Antwort von mir, und ich schritt hinter den Eltern dem Wagen zu, der uns heimbrachte.

Wie lauter Träume folgten einander die Sommertage. Krachende, kurze Gewitter schienen die sonst so schwere Luft Mecklenburgs immer wieder zu zerstreuen; die Jugend wagte es plötzlich, jung zu sein, und die Alten lächelten nachsichtig darüber.

Der sonst so stille Park war voller Leben: wir tanzten auf glattem Rasen zwischen buntbewimpelten Masten; wir spielten alte traute Kinderspiele unter dem Schatten der Bäume; und, müde geworden, verloren wir uns in den geschnittenen Buchengängen, vorbei an springenden Wasserkünsten und verwitterten Götterbildern. Blind und taub für die Welt um uns her, und doch wie gefeit durch die Weihe der Hohenzeit des Jahres, bewegten wir uns unter den Menschen.

Oft ging es in bekränzten Wagen weiter hinaus in die Wälder, oder an einen der ferneren Seen, von denen jeder uns schöner dünkte als der andere: der eine, weil er sich schmal und lang zum Horizont erstreckte, von freundlichen Dörfern rings umgeben, [232] der andere, weil er einsam und dunkel zwischen bewaldeten Hügeln lag. Oder wir ritten am taufrischen Morgen mit verhängten Zügeln querfeldein, wo oft meilenweit kein Mensch uns begegnete, kein Haus zu sehen war, bis ein stattlicher Gutshof auftauchte, die ärmlichen Taglöhnerhäuser überragend, – ein verkleinertes Abbild von Schwerin. Wenn ich sie sah, pflegte ich schon von weitem kehrtzumachen.

»Sie fürchten sich wohl vor den Dorfkötern?« meinte bei solcher Gelegenheit eine schnippische Freundin. »Das traut mir wohl keiner zu,« antwortete ich, »aber ich schäme mich vor den armen Leuten.« Alles lachte; nur Hellmut wandte sich zu mir und sagte: »Das würden die armen Leute am wenigsten verstehen. Ich glaube, daß sie für uns nichts empfinden als Neugierde und Bewunderung.«

»Um so schlimmer! Ich verstehe sie nur, wenn sie mit Steinen nach uns werfen,« entgegnete ich laut und drückte meiner Stute die Peitsche in die Flanke, so daß sie gehorsam in langen Galopp verfiel. Hellmut aber blieb mir dicht zur Seite, griff mit der Rechten kräftig in meine Zügel und sagte, während seine hellen Augen mich übermütig anblitzten: »Wirst du mir nicht davongehen, du Süße, Wilde!« Mein Groll war verflogen, – daß ich mich ihm, dem Starken, unterwerfen durfte – welch tiefe Seligkeit war das!

Einmal waren wir nach Rabensteinfeld hinüber gerudert, dem stillen Witwensitz der alten Großherzogin. Mit dem Dampfschiff war uns eine große Gesellschaft vorausgefahren, lauter ältere und gesetzte Angehörige, die zuweilen die Verpflichtung fühlten, uns Jugend zu beschützen. Ich hielt das nie lange aus und war stets die erste, die Mittel und Wege fand, aus ihrem Gesichtskreis zu verschwinden. Hellmut benahm sich korrekter und wollte die Form nicht verletzen. Auch jetzt stand ich mit einem lachenden: »Wer kein Philister ist, folgt mir,« vom Teetisch auf und ging hinunter an das Seeufer. Ein paar junge [233] Herren kamen mir nach, und empört über Hellmuts Eigensinn, kokettierte ich mit ihnen in erzwungner Lustigkeit.

Als wir in der Abenddämmerung zu Fuß heimkehrten, gesellte er sich endlich wieder zu mir. Eine tiefe Falte grub sich zwischen seine Brauen, die seinem sonst so guten Gesicht einen bösen Ausdruck verlieh. »Das darfst du mir nicht wieder antun – hörst du,« zischte er mich an und eisern umklammerten seine Finger mein Handgelenk. »Verzeih mir« –, flüsterte ich, »aber warum hast du mich allein gelassen?« – »Weißt du nicht, daß ich alles nur um deinetwillen tue?« – Ganz weich war seine Stimme dabei, und schweigsam gingen wir nebeneinander, die Worte waren zu arm für die Fülle unseres Gefühls.

An einem anderen glühheißen Sommertag gab das Grenadier-Regiment ein Fest im Jagdschloß von Friedrichstal. Heiß und ermattet vom Tanz und vom Spiel, gingen wir alle zum Neumühler See herunter, wo die Buchen und Birken über dem Uferweg dichte Lauben bilden. Allmählich zerstreute sich die Menge hier- und dorthin; wir blieben nur zu fünfen beieinander – zwei Mädchen und drei Herren. An einer kleinen dichtumbuschten Bucht lagerten wir, und die Lust packte mich, die Füße im Wasser zu kühlen. Meine Gefährtin errötete dunkel bei meiner Aufforderung, es mir nachzutun. »Du, das ist unpassend,« flüsterte sie mir leise zu. »Unpassend?« wiederholte ich laut, »zeigst du vielleicht nicht deine Hände, deine Arme, deinen Hals, – warum nicht deine Füße?« – »Bravo, bravo,« applaudierte einer der Herren. Das stachelte mich auf, und keck von einem zum anderen blickend, fuhr ich fort: »Soll ich euch sagen, was wir alle wissen und ihr nur nicht zu sagen euch getraut? – Wir schämen uns nur unserer Häßlichkeit –« Damit hatte ich rasch Schuhe und Strümpfe abgestreift.

Eine beklemmende Stille trat ein; ich wagte nicht, mich umzusehen, mein Blick haftete auf meinen nackten Füßen, als sähe ich sie zum erstenmal, – sie waren so weiß, so schrecklich weiß![234] – mir stieg das Blut bis in die Stirne. Ich berührte scheu das Wasser mit den Zehen. »Es – es ist – zu kalt,« brachte ich mühsam hervor und zog die Füße rasch unter die Kleider. Ein Geräusch verriet mir, daß die Herren sich entfernten; die Kleine neben mir, noch röter und verlegener als ich, half mir rasch beim Anziehen und lief dann auch davon. Langsam erhob ich mich, – die Glieder waren mir schwer, – da stand Hellmut vor mir – ein paar Schweißtropfen auf der Stirn und doch ganz blaß.

»Nun baue ich Tag um Tag eine Mauer um dich, damit nichts und niemand dir zu nahe treten kann, und du – du gibst dich diesen – diesen Schurken preis,« kam es stockend über seine Lippen. Mir stürzten die Tränen aus den Augen, – doch schon hatten seine Arme mich umschlungen, und sein Mund preßte sich auf den meinen, und die heißen, lang zurückgedämmten Wogen der Leidenschaft schlugen über uns zusammen.

Wie wir uns trennten, wie ich nach Hause kam – ich weiß nichts mehr davon. Ich weiß nur, daß ich am weit geöffneten Fenster saß und die linde Nachtluft tief und langsam einsog, als hätte ich nie vorher die Wonne des Atmens gekannt. Dann stockte mein Herzschlag – ein fester Tritt, ein schleppender Säbel unterbrachen die Stille, ein lichtes Blau schimmerte durch die Büsche des Gartens. »Alix –« klang es sehnsüchtig. – Und ich nahm die Rose, die mir noch zerdrückt im Gürtel hing und warf sie in zwei geöffnete Hände.

Alles Denken war ausgelöscht in meinem Hirn, ich fühlte nur mit gesteigerter Intensität. Morgens am Kaffeetisch umarmte ich zärtlich den Vater – es fiel mir plötzlich schwer aufs Herz, daß ich seiner rührenden Liebe stets so kühl begegnet war –. »Du hast ja schon in aller Frühe illuminiert,« sagte er und streichelte mir halb erstaunt, halb beglückt die Wangen. Schüchtern und schuldbewußt küßte ich der Mutter die Hände – wie schlecht hatte ich bisher ihre Treue gelohnt! – ach, und wie ernst und verhärmt sah sie aus! Als aber das Schwesterchen hereinsprang, [235] hob ich sie auf den Schoß und flüsterte in ihr rosiges, von lauter Goldlöckchen umspieltes Ohr: »Du – ich weiß was ganz Heimliches: heut nacht tanzten die Nixen mit dem grauen Schloßzwerg, bis er vor lauter Atemnot auf den Rasen plumpste. Ich glaub' immer, da liegt er noch und schnarcht, und die Nixen haben vor Lachen den Heimweg ins Wasser vergessen. Komm schnell hinaus – am Ende sehn wir sie noch!« Sie jubelte hell auf vor Freude, und richtig – zehn Minuten später waren wir unten am See.

Klein-Ilschen suchte – ich aber war still und ernst geworden und sah hinüber zum fernen jenseitigen Ufer: sollte das Glück, das mir dort begegnet war, auch nur ein nächtlicher Spuk gewesen sein? – Wir fanden die Nixen nicht – Klein-Ilschen war böse. Wie wir langsam heimwärts gingen, kam ein Reiter uns entgegen, – ich wagte kaum aufzusehen. Doch schon war er neben mir und hielt den Fuchs am Zügel. »Willst du reiten, Kleine?« sagte er und hob das Schwesterchen, dessen Leidenschaft Pferde waren, in den Sattel. Still gingen wir weiter, unsere Augen aber versenkten sich ineinander, tief, immer tiefer, – bis sie Gewißheit hatten und auch im fernsten Winkel der Seele nichts Lebendiges fanden als nur das eigene Bild.

»Die Nixen waren weg,« sagte das Schwesterchen zu Hause zu Mama, »aber Prinz Hellmut ließ mich reiten!«

»Prinz Hellmut?!« Ein rascher mißtrauischer Blick streifte mich. Ich wandte mich zu den Fenstern und ordnete eifrig die vielen kleinen Lichter zur abendlichen Illumination.

Der Großherzogin Geburtstag war heute; mit dem prächtigsten und zugleich dem letzten Fest dieses Sommers sollte er gefeiert werden. Verwandte und Freunde des Hofes, Deputationen der Garde-Regimenter, der ganze Adel Mecklenburgs waren in Schwerin versammelt. Stundenlang rollten auch vor unserem Hause die Wagen, und die Besucher kamen und gingen; Staatsvisiten waren es zumeist, aber auch solche guter alter Bekannter. [236] Im weißen Spitzenkleid, ein paar gelbe Rosen im Gürtel, stand ich im Salon, neigte mich vorschriftsmäßig über die Hände der Damen und senkte den Kopf vor den Herren. Was mich sonst ermüdete, machte mich heute froh, denn mit geschärften Augen sah ich die Menge der bewundernden Blicke. Wie ich mich dann am späten Nachmittag vor der Abfahrt zum Schloß im Spiegel sah, umrauscht von rosa Seide, deren starker Farbenton gedämpft durch goldgestickten Tüll schimmerte, – Rosen auf der langen Schleppe verstreut und Rosen in den dunkeln Locken –, da war ich zufrieden.

Dicht gedrängt standen die Menschen auf der Schloßbrücke, wo die Wagen nur Schritt vor Schritt vorwärts kamen. »Alix von Kleve« – »Alix von Kleve« ging es flüsternd von Mund zu Mund. Dankbar lächelnd neigte ich mich rechts und links aus dem offenen Wagenfenster. Auf den schwarzen Marmorstufen der großen Treppe, in deren tiefem Dunkel das Gold des Geländers und der Säulen sich spiegelte, standen die Lakaien im roten Rock und die Läufer mit dem seltsamen gewaltigen Blumenstrauß über den Stirnen. Und droben in den Vorzimmern gleißte und glänzte es von goldgestickten Uniformen, hellen Schleppen und funkelnden Edelsteinen. Wir wurden zu unseren Plätzen gewiesen. In der Ahnengalerie stand die Jugend. Ich sah durch die Bogenfenster über den See hinaus und rührte mich nicht. Was gingen mich die andern Menschen an? Wozu war ich hier, als allein seinetwegen? Worauf wartete ich, als auf ihn? Die Musik im Thronsaal neben uns intonierte den »Einzug der Gäste« auf der Wartburg, drei schwere Schläge mit dem Hofmarschallstab kündigten das Nahen der Herrschaften an. Ich erwachte aus meinen Träumen. Ein Rauschen ab und auf: wir versanken in unseren Kleidern und tauchten wieder auf – wie eine lange hellschimmernde Woge. Mein Blick haftete sekundenlang auf dem Herrscherpaar, das langsam durch unsere Reihen schritt: der schlanke Mann mit dem Kennzeichen seines [237] Geschlechts, dem kahlen, glatten Schädel, darunter ein Antlitz von jener blaß-grauen Farbe, die das Morphium allmählich auf die Haut seiner Opfer malt, zwei fiebrig glänzende Augen darin und zwei Lippen, zu jenem wehmütig-freundlichen Lächeln verzogen, mit dem die früh vom Tode Gezeichneten die Jugend grüßen. Neben ihm das Weib: um den üppig-schlanken Leib schmiegte sich ihr Gewand schillernd wie Schlangenhaut, auf dem hoch erhobenen dunkeln Kopf trug sie stolz die Krone von Brillanten, dunkelrot wölbten sich die Lippen über den kleinen weißen Raubtierzähnen, und ein gieriges Leuchten wie von heißem Lebenshunger tauchte in ihren wunderschönen Augen auf. Über uns sah sie hinweg, sie brauchte uns nicht zu sehen – sie war mehr als die Jugend. In meinem Herzen aber wallte das Mitleid auf – mit dem Mann und mit der Frau.

Dann kam der König von Griechenland, – wie die meisten Könige: kein König. Und dann die Königin – weich und licht und holdselig, wie die guten Feen aus den Märchen, und hinter ihnen der Schwarm der anderen. – Aber ich sah keinen mehr, denn aus dem Zuge heraus war Hellmut zu mir getreten.

In einem runden Turmzimmer mit bunten Fenstern saßen wir zu vier um den rosengeschmückten Tisch: Hellmut und ich, Graf Waldburg und seine Braut, die kleine Komteß Lantheim. Wir aßen nicht viel, aber unsere Gläser klangen immer wieder aneinander, und prickelnd floß der eisige Sekt durch unsere Kehlen. Leise und schmeichelnd tönte von fern die Musik.

Im goldenen Saal, durch dessen Fenster die Glut des Abendhimmels hineinströmte, während viele hunderte flammender Kerzen alle Wände und Pfeiler aufleuchten ließen wie gelbes Feuer, wurde getanzt. Es war noch fast leer, als wir eintraten. In wiegendem, lockendem Rhythmus klang die süße Walzerweise der »Schönen blauen Donau« von der Estrade.

Ich lag in seinem Arm, und die Töne schienen uns zu tragen. »Alix – ich liebe dich,« hauchte mir im weichen Takt der Bewegung [238] eine Stimme ins Ohr – »verzehrend lieb ich dich – ich laß dich nicht los – nie – nimmermehr –« Sein heißer Atem berührte mich wie ein zärtlich kosender Kuß, und meine Haare wehten um seine Wangen.

»Durchlaucht – Galopp – wenn ich bitten darf!« hörten wir plötzlich neben uns sagen. Aufatmend standen wir still, – wir hatten wirklich das strenge höfische Walzerverbot vergessen! Im gleichen Augenblicke trat der Kammerherr der Großherzogin auf uns zu: »Ihre Königliche Hoheit befehlen –«

»Mich auch?« frug Hellmut. Er senkte bejahend den Kopf, während ein leises malitiöses Lächeln seine Lippen kräuselte. Sollte die schöne Fürstin so konventionell sein und unser Vergehen gar noch persönlich rügen wollen?

»Sie tanzen bezaubernd, – ich mache Ihnen mein Kompliment, Fräulein von Kleve!« sagte sie laut, als ich in tiefer Verbeugung ihre Hand an die Lippen zog. »Die mecklenburger Damen können sich ein Beispiel nehmen!« Die Umstehenden horchten hoch auf.

»Tanzen Sie noch einmal denselben Walzer, lieber Prinz, den man offenbar nur verbietet, weil man ihn zu tanzen nicht versteht.«

Wie auf Kommando bildete sich ein weiter Kreis um uns. Und wir tanzten. Aber ich fühlte die vielen musternden, neidischen, feindseligen Blicke, die mich betasteten, wie mit feuchtkalten Fingern, und durchbohrten, wie mit Nadelstichen. Ein Schwindel packte mich – fester, immer fester lehnte ich mich in Hellmuts Arm – er trug mich mehr, als daß ich tanzte.

»Führen Sie Ihre Tänzerin auf die Terrasse, – das wird ihr gut tun –« sagte die Großherzogin, als ich mich blaß und zitternd wieder verbeugte. Ein Ton war in ihrer Stimme, der mich auffahren ließ, – hatte sie unser Geheimnis erraten?

Wir gingen hinaus. Viele bunte Lampions erhellten die Terrasse und den Burggarten, plaudernde Gruppen standen [239] ringsumher. Wir aber suchten die Nacht und die Stille. Tief unten schmiegte sich ein von weißen Blüten übersäter Strauch an die dunkle Mauer, und ein schwerer süßer Duft breitete sich rings um ihn. Jasmin – meine Blume!

Weißt du noch, Hellmut, wie du übermütig in die Zweige griffst und ein Regen schneeiger Blätter mir auf Schultern und Haare fiel? und wie sie matt zu Boden taumelten vor dem heißen Hauch deines Mundes? Du preßtest mich wild an dein Herz, daß der Atem mir stockte, – du hättest mich morden können in jener Nacht – mit einem Liebesblick hätt' ich es dir vergolten. »Warum sagst du mir nicht, daß du mich liebst – warum bist du so still?« frugst du, und ich seufzte, den Arm fest um deinen Hals: »Ich kann dir's nicht sagen – ich kann nicht – ich liebe dich viel – viel zu sehr!«

Droben tanzten sie wieder – wir sahen die Paare hinter den hellen Fenstern vorüberschweben –, und eine Melodie verirrte sich zuweilen bis zu uns. Wie mit kosenden Stimmen antworteten ihr die Wellen, die plätschernd ans Ufer schlugen, und fern von den hohen Baumwipfeln des Parks klang hie und da ein verträumtes Vogelzwitschern. Immer verzehrender glühten unsere Augen ineinander, verlangender, sehnsüchtiger wurden unsere Küsse.

Da verstummte die ferne Musik, ein heftiger Schreck machte dich zittern. »Wir müssen hinauf« – sagtest du heiser und fuhrst dann hastig fort, während wir die Treppe zur Terrasse emporstiegen: »Wir müssen uns trennen – mein Dienst ist morgen zu Ende –«

»Und in der nächsten Woche reisen wir,« flüsterte ich mühsam, – es würgte mir am Halse.

»Im Herbst erst sehen wir uns wieder –«

»Das ertrag' ich nicht – –«

»Ich sterbe vor Sehnsucht –« Und noch einmal zogst du mich an dich, und aufschluchzend barg ich meinen Kopf an deiner Brust.

[240] »Weine nicht, Liebling, weine nicht, – für ein ganzes Leben voll Liebe, das uns bevorsteht, ist das Opfer dieser nächsten Wochen am Ende nicht zu groß,« versuchtest du uns beide zu trösten, dabei fielen heiße Tropfen aus deinen Augen mir auf die Stirn. –


Wir fuhren nach Karlsbad, – Mama, Klein-Ilschen und ich. Wir trafen mit einem großen Kreise alter und neuer Freunde zusammen. »Wir« sage ich, – aber im Grunde war ich gar nicht da, nur mein wandelndes Schattenbild. Automatisch geschah alles, was ich tat: mein Reden und noch mehr mein Lachen. Ich selbst saß still im dunkeln Chorgestühl eines hochragenden Doms, die Hände im Schoß gefaltet, die Augen emporgerichtet zu den in mystischen Farben glühenden Fenstern, unbeweglich horchend auf den Gesang süßer Engelsstimmen, die Stirn umweht von Wolken duftenden Weihrauchs ...

Wenn ich neben dem Rollstuhl Stauffenbergs ging, sprach ich wohl mit ihm von alledem, was mein Interesse sonst erregt hatte; aber eine ganz andere, eine fremde Alix war es. Ich selbst, ich lachte über sie und ihren komischen Eifer. Was ging mich die hohe Politik, was gingen mich Darwin, Wagner und Nietzsche an? Neben dem Reichtum lebendigen Lebens, das mir begegnet war, verblaßte alles zu blutleeren Schemen.


Am Abend unserer Rückkehr im Herbst saß ich im Dunkel der Intendantenloge im Theater. »Hoffmanns Erzählungen« – jenes geniale Werk Offenbachs, das er geschaffen haben muß, besessen vom Geiste des Zauberers, dem es galt – gelangte zum erstenmal, und ungekürzt, zur Aufführung. Meine Augen durchforschten noch die Logen und Ränge – ich war ja [241] nur gekommen, weil ich überzeugt war, ihn zu finden –, als die ersten Akkorde der Ouvertüre mich schon gefangen nahmen. Und dann die Oper selbst! Wie es ihr zukommt, war jede possenhafte Nuance vermieden worden; Spalanzani und Coppelius, der geheimnisvolle Brillenverkäufer im ersten Akt, wirkten gespensterhaft, und Olympia, die Puppe, war nicht nur ein Automat, der schließlich zur Erhöhung der Lachlust eines einfältigen Publikums zerbrochen auf die Bühne geschleift wird, – ein Stück Leben schien vielmehr in sie hineingezaubert, das mit einem wehen Laut erstarb. Selbst die Menuett-Tänzer und Tänzerinnen bewegten sich wie nichts vollkommen Irdisches.

Schon verdunkelte sich der Zuschauerraum am Ende der Pause, als der Logenvorhang sich teilte, – ein breiter Lichtstreifen fiel herein. Der erste Ton der Barcarole klang gedämpft aus dem Orchester – ein Stuhl wurde zur Seite gerückt – »Alix!« hörte ich Hellmuts Stimme hinter mir, und sein Mund brannte auf meinem Nacken.

»Schöne Nacht – o Liebesnacht – o stille mein Verlangen!« tönte es von der Bühne dicht vor uns; ausgestreckt auf Decken und Fellen lag die schöne Guiletta vor ihren Anbetern; ihre nackten Arme und ihre bloßen Schultern leuchteten im Glanz der roten Ampeln. Das Blut strömte mir zum Herzen, meine Hand suchte die des Geliebten. Von einer Melodie durchwogt, wie sie aufreizender, sinnbetörender nicht zum zweitenmal vorkommt, wurde die Luft immer schwüler um uns. Kaum daß wir uns im hellen Licht des Zwischenaktes genug zu ermannen vermochten, um konventionelle Phrasen mit dem Intendanten zu wechseln. Hellmuts Uniform verriet seine Anwesenheit auch im Halbdunkel der Loge, Lorgnetten und Operngläser richteten sich auf uns, und tuschelnd neigten sich die Köpfe zueinander.

Aber schon setzte das Orchester zum letzten Akte ein. »Sie entfloh – die Taube so minnig« sang der blassen Antonia weiche Stimme. Seltsam – kein Zweifel – sie sah mir ähnlich: der [242] gelbliche Ton der Haut, die dunkeln Locken. Mich fröstelte. O – und als dann der gespenstische Arzt erschien mit der hageren Gestalt, dem glatten Totenschädel und den klirrenden Flaschen in den Händen – – »Mir ist nicht ganz wohl!« flüsterte ich und stand leise auf. Hellmut begleitete mich. Er hielt meinen vorzeitigen Aufbruch nur für einen Vorwand. Während er mir den Mantel um die Schultern legte, flüsterte er mir zu: »Ich war bei Mama – ein bißchen Tränen hat's ihr gekostet –, aber schließlich fand sie sich ins Unabänderliche. Wir dürfen hoffen, Liebling! – Hier alles Nähere,« er drückte mir ein Papier in die Hand und führte mich bis zum Wagen; schon zogen die Pferde an, als der Schlag sich von der anderen Seite noch einmal öffnete, – mit einem raschen Sprung war er neben mir und ich in seinen Armen, – einen Augenblick nur, einen kurzen, glückseligen. An der nächsten Straßenbiegung verschwand er ebenso, wie er gekommen war. Erst zu Hause, im verschlossenen Schlafzimmer, öffnete ich seinen Brief.

»Mein süßer Liebling,« schrieb er, »die Wochen ohne Dich waren eine gräßliche Fastenzeit. Zum zweitenmal ertrage ich so etwas nicht. Das habe ich auch Mama gesagt, und da sie sowieso immer um mich zittert – begreifst Du solche Anhänglichkeit, Du Einzigste?! –, so hat sie meine Drohung todernst genommen. Sie wird in den nächsten Tagen Tante Brigitte Sonderburg, ihre verdrehte alte Schwester, besuchen und sehen, ob sie bei ihr das nötige Kleingeld zusammenscharren kann; bei Vetter Georg, dem Knauser, ist nichts zu holen, Mamas eigne Kasse ist völlig schwindsüchtig. Ich schäme mich, Dir so was schreiben zu müssen, meine holde, kleine Göttin Du, und doch mußt Du wissen, warum ich immer noch nicht in Helm und Schärpe antrete. Meine Zulage reicht kaum für mich, der ich das Unglück habe, ein Prinz zu sein, und diese Würde täglich mit barer Münze bezahlen muß. Aber trotz alledem muß es werden, und ich träume schon jede Nacht von dem weichen Nest, [243] das ich für mein Prinzeßchen – viel, viel mehr Prinzeßchen, als alle Ebenbürtigen zusammengenommen! – erobern werde!

Verlobte schicken einander immer briefliche Küsse. Das finde ich fad. Aber holen tu ich sie mir bei allernächster Gelegenheit für die langen sechs Wochen, die Du sie mir schuldig bliebst. Hüte Dich beizeiten, daß Du nicht daran erstickst ...«

Ich konnte nicht schlafen. Es lag wie ein eiserner Reifen um meine Stirn. »Der Weg zur Ehe geht durch die Kirche« pflegte Mama zu sagen, – aber stand nicht ein goldener Götze am Altar statt des Priesters?

Wir sahen uns oft, aber niemals allein. Eine zehrende Sehnsucht durchwühlte mich wie eine Krankheit. Jeder Händedruck schien mir die Haut zu versengen. Wir konnten den Karneval nicht erwarten, der zu heimlichen Begegnungen tausend Gelegenheiten bot. Ein Ball bei der Großherzogin-Mutter eröffnete ihn endlich. Sie hatte es allen Warnungen zum Trotz durchgesetzt, daß er in ihrem Palais stattfand, dessen Tanzsaal erst vor jedem Fest von der Baupolizei untersucht werden mußte. Diesmal, so erzählte man sich, habe sie schon recht bedenklich den Kopf geschüttelt. Als wir kamen, fiel mein erster Blick auf Hellmut, der mit zusammengezogenen Brauen, blaß und finster, allein in einer Fensternische stand. Ewig dauerte es, bis ich all die Verbeugungen und Begrüßungen und stereotypen Phrasen erledigt hatte und meine Hand in der seinen ruhte.

»Ich habe Nachricht von Mama,« preßte er mühsam hervor, »Tante Brigitte hat rundweg abgelehnt. Für dumme Streiche hätte sie kein Geld!«

Mir wankten die Knie. Da ging das alte frohe Leuchten über seine Züge, gepaart mit einem neuen Ausdruck starker Energie: »Sei nicht furchtsam, Liebling; du weißt: und wenn ich mich dafür dem Teufel verschreiben sollte – du wirst mein!«

Junge Liebe ist voller Zuversicht, sie glaubt noch an Wunder; und sie ist sich selbst genug und vergißt darüber die Welt. Es [244] war eine stürmische Saison damals – kaum ein Tag verging ohne ein Diner, einen Ball, eine Schlittenpartie. Hellmut fehlte niemals. Wenn es nicht anders ging, ritt er noch in der Nacht nach Ludwigslust zurück. Er verlor allmählich die gesunde Farbe, aber wenn ich ihn angstvoll um sein Er gehen frug, lachte er. Wir wurden immer kühner und immer erfinderischer, um uns allein sehen zu können, und die fremdesten Menschen halfen uns dabei; sie zogen sich zurück, wenn wir ins Zimmer traten, sie vertieften sich in ein Gespräch, wenn wir am gleichen Tische saßen, sie mäßigten das Tempo ihres Laufs, wenn sie auf der weiten Eisfläche des Schweriner Sees in unsere Nähe kamen. Daß die Mädchen mich mieden, war mir nur eine Wohltat. Hie und da freilich fing ich ein hämisches Lächeln auf, ein vieldeutiges Augenzwinkern, oder hörte mit halbem Ohr, wie es um mich her raunte und flüsterte. Aber ich dachte darüber nicht nach. Ich vegetierte überhaupt nur noch, und lebte allein, wenn er um mich war.

In diesem Winter wußte ich erst, was Tanzen ist: keine Bewegung, in der wir nach Vorschrift die Füße so oder so setzen, kein harmlos-kindliches Vergnügen aus reiner Freude am rhythmischen Regen der Glieder – Liebe ist es, Liebe in all ihren tausend Phasen, Liebe, die zwei Menschen zu Eins verschmilzt, die sie auseinanderzieht, um die Sehnsucht zu steigern und sie um so glühender wieder zu vereinen. Liebe, die lockt und kokettiert – sich demütig neigt und siegesbewußt aufrichtet – die mit den anderen lächelt, sich ihnen vorübergehend hingibt, nur um des einen, des Geliebten Glut zu loderndem Feuer zu entfachen.

»Die »Barcarole« beherrschte den Tanz in jenem Karneval. Ich hörte sie bis in meine Träume.

Zu einem Hofball wurde ein Menuett einstudiert – der Tanz, in dem sich die ganze graziöse Sündhaftigkeit und künstlerisch verklärte Erotik seiner Zeit widerspiegelt. Wir trugen [245] dazu keinen billigen Maskentand, sondern schwere Kleider von Damast, breit ausladend über den Hüften, zum Umspannen schmal in der Taille, mit langen höfischen Schleppen. Rosen und Lorbeer rankte sich auf dem meinen, die alten kostbaren Spitzen meiner Mutter garnierten den Rock, ihre Perlenschnüre schlangen sich mir um Hals und Nacken. Hoch gepudert die Haare, ein Schönpflästerchen am Mundwinkel und eins auf der Brust, – so traf ich im Vorzimmer am Abend des Festes Hellmut, meinen Herrn. Wir staunten einander an, – so hatte ich die ebenmäßige Schönheit seiner Gestalt noch nie empfunden wie jetzt, wo sie im Staatsgewand Ludwigs XV. vor mir stand. Aber sein Gesicht blieb ernst.

»Mir paßt der Narrentrödel nicht!« sagte er, während wir uns nach Mozarts unvergänglichem Don Juan-Menuett neigten und drehten. »Ist nicht die gleißende Pracht ein Hohn auf unsere Armut?«

»Ich fühle nur, daß wir reich sind, die Reichsten der Welt!« antwortete ich und lehnte den Kopf zurück, um über die Schulter hinweg ihn selig anzulächeln, wie die Figur des Tanzes es grade befahl.

»Aber ich verkomme vor Qual, solang du nicht mein bist!« gab er zurück und beugte das Knie in bittender Gebärde zu dem lang gezognen Sehnsuchtston der Musik.

Ein Walzer folgte dem Menuett. Hellmut lehnte mit verschränkten Armen an einem Pfeiler, und jedesmal, wenn ich vorüberkam, fühlte ich seinen Blick.

»Du darfst heute mit keinem anderen tanzen,« redete er mich an, als mein Tänzer mich verlassen hatte, – er vermochte seiner Erregung kaum Herr zu werden. Vergebens suchte ich ihm das Unmögliche seines Verlangens klarzumachen; »ich verlasse das Schloß, wenn du nicht tust, um was ich dich bitte, – ich halt's einfach nicht aus, daß jeder Schmutzfink dich im Arm hält und seine frechen Blicke sich an deiner Schönheit weiden.« Ich fügte [246] mich beglückt von der Stärke seiner Leidenschaft, und um keinen anderen Verdacht aufkommen zu lassen, bat ich meine Mutter, mir in der Garderobe eine aus Taschentüchern improvisierte Bandage um den »verstauchten« Fuß zu legen, der mich am Tanzen hindern sollte.

Hellmut und ich trennten uns an dem Abend nicht mehr. Im Ballsaal drängte sich die Jugend, in den Nebenzimmern saßen die Älteren an den Whisttischen. Wir gingen durch die langen Galerien mit ihrer bunten, phantastischen Dekoration, wo die Lampen immer spärlicher brannten. Wir standen eng aneinander geschmiegt vor Tristan und Isoldens Liebesmär, die hier im Schloß der sittenstrengen Obotriten in hellen Farben an den Wänden prangt, und wie Lebendige tauchten Hero und Leanders Marmorbilder im rosigen Schein gedämpften Lichtes vor uns auf; ihr Busen schien zu atmen, an den sein Haupt sich zärtlich lehnte.

Von ferne folgten uns die Tanzmelodien ... »Schöne Nacht – o Liebesnacht – o stille das Verlangen –« klang es leise – sehnsüchtig.

Und Hellmut schlang den Arm um mich, und dicht, immer dichter aneinander geschmiegt, flogen wir durch den halbdunklen Raum. Mir war, als hörte ich ein unterdrücktes Gelächter, – aber im nächsten Augenblick vergaß ich es wieder.

Wir tanzten, – waren wir nicht allein auf mondheller Wiese, von Palmen umrauscht und großen, weißen Blumen umgeben, aus deren Goldkelch betäubende Düfte strömten? Wir tanzten, – war's nicht ein Schaukeln auf kristallhellen Fluten, – sahen wir nicht bis zum Grund, wo die blendenden Leiber nackter Nixen zwischen Wasserrosen auf und nieder tauchten und Lieder, die noch kein Menschenohr gehört, ihren roten Lippen entströmten? – Mein Herzschlag stockte – auf den nächsten Stuhl sank ich schwindelnd zurück, zu meinen Füßen brach der Geliebte zusammen, den blonden Kopf vergraben in meinem Schoß ...


[247]
»Oh, la marquise Pompadour,
Elle connait l'amour
Et toutes ses tendresses,
La plus belle des maîtresses« –

sang plötzlich eine krähende Sopranstimme hinter uns. Hellmut sprang auf und griff instinktiv an den zierlichen Galanteriedegen, der ihm an der Seite hing.

»Verdammt –« knirschte er, – es war eine leere Scheide, die er in der Hand hielt. Wir hörten noch ein Rascheln und Raunen und das ferne Schlagen einer Tür, dann war's still.

»Morgen noch fahr' ich selbst zu Tante Brigitte und, wenn's nicht anders ist, zu Georg. Ich muß ein Ende machen – so oder so!« flüsterte er mir zu, ehe wir den Ballsaal wieder betraten. Ich suchte meine Eltern; – wir verabschiedeten uns. Am Ausgang, wo sich die meisten Menschen zusammendrängten, trat Hellmut an meinen Vater heran: »Darf ich mich gleich heute für die nächsten Wochen verabschieden, Herr General,« – sagte er sehr laut und förmlich – »mein Vetter, Herzog Georg, wünscht meine Anwesenheit bei den Hofbällen.« – »Reisen Sie glücklich,« antwortete mein Vater, und mir schien, als ob er erleichtert dabei aufatmete. »Amüsieren Sie sich gut« – brachte ich mühsam hervor und legte meine kalten Finger flüchtig in die seinen.

Nur die fieberhafte Erregung gab mir Kraft, mich in den nächsten Wochen aufrecht zu halten. Ich fehlte in keiner Gesellschaft, auf keinem Ball; keine tanzte so unermüdlich wie ich, an keinem andern Tisch wurde so viel Sekt getrunken wie an dem meinen.

Eines Tages traf ich Graf Waldburg im Theater. Er machte in den Pausen mit großem Eifer Propaganda für eine Schlittenpartie, die mit einem Diner im Hotel enden sollte. »Seine Durchlaucht Prinz Hellmut bittet Sie um die Ehre, Sie fahren zu dürfen,« wandte er sich an mich. Als ich fragend zu ihm aufsah, [248] zuckte er die Achseln und sagte, nur für mich hörbar: »Durchlaucht haben mir nichts weiter mitgeteilt, als daß ich rasch für eine Gelegenheit zu längerer Aussprache sorgen möchte.«

Zweimal vierundzwanzig Stunden noch! Die Erregung steigerte sich bis zum Unerträglichen. Inzwischen fing es an zu tauen. Ein schmutziges Grau bedeckte die Straßen der Stadt, und dichte Nebel hingen über den Seen. Mit hellem Schellengeläut erschien trotzdem am festgesetzten Tage Hellmuts Schlitten vor unserer Tür – eine winzige mit Pelzen dicht ausgefütterte Muschel, vor der ein russischer Traber unruhig den Boden stampfte. Mein Vater führte mich hinunter. Hellmuts erster Blick sagte mir alles – ich schwankte, als Papa mir in den Schlitten half. »Also um fünf Uhr pünktlich im Hotel!« rief er noch freundlich, dann flogen wir davon.

»Georg hat mich ausgelacht – Tante Brigitte war zynisch genug, mir zu versichern: für ein vernünftiges Verhältnis hätte sie Geld – für eine dumme Ehe nicht!« Mit rauher Stimme hatte er gesprochen. »Was meinst du, wenn wir statt zum Rendezvous auf dem Schloßplatz direkt auf den See führen, – der hält uns nicht lange!«

Ich packte ihn entsetzt am Arm. »Nein, Hellmut, nein,« flehte ich, »wir haben ja noch gar nicht gelebt!« Der Fanatismus des Daseins durchglühte mich – so sterben – so – nein! Und wie eine Erleuchtung kam es über mich: Tante Klothilde, – sie mußte und konnte helfen. Mit schmetternden Fanfaren begrüßte die Musik die Ankommenden, als wir beide, die Herzen von neuer Hoffnung geschwellt, auf den Schloßplatz einbogen und uns fröhlich an die Spitze des langen Zuges setzten. War das eine Fahrt durch den Wald, wo der tauende Schnee eine glatte Bahn geschaffen hatte! Wie wir den Nebel nicht spürten, obwohl er unsere Pelze mit Millionen winziger Wasserperlen besetzte, so empfanden wir keinen Zweifel mehr an der wieder erwachten Sonne unseres Glücks.

[249] Die anderen kamen durchfroren von der stundenlangen Fahrt ins Hotel, uns, die wir ihnen weit voran gewesen waren und doch als letzte zurückkehrten, war glühheiß. Noch lange saßen wir zusammen; die vielen Gänge des Mahls, bei dem die meisten Paare immer einsilbiger wurden, das lange Servieren, das jeden Nichtmecklenburger immer ungeduldiger machte, – wir merkten es nicht. Für uns war's viel zu früh, als es galt, Abschied zu nehmen. Vor dem halbdunkeln Torweg, im rieselnden Regen, umschloß eine kräftige Hand noch einmal die meine, und spitze Nägel gruben sich mir ins Fleisch.

Noch in der Nacht schrieb ich an Tante Klothilde. Mein ganzes Herz schüttete ich ihr aus; mit all meiner Hoffnung klammerte ich mich an sie; jede Seite ihres Wesens suchte ich zu rühren.

Wenige Tage später wurde ich zu ungewohnter Stunde zu meinem Vater gerufen. Hochrot im Gesicht, mit meinem Brief in der Hand, trat er mir entgegen. Mama saß vor Schrecken totenblaß im Lehnstuhl. Es gab eine unbeschreibliche Szene. Demselben Manne, der mir seine Zärtlichkeit nie genug zeigen konnte, war jetzt kein Wort zu verletzend, um mich zu beschimpfen. Ich stand vor ihm, wie versteinert. Erst als er Hellmut einen Ehrlosen nannte und die wahnsinnigsten Drohungen gegen ihn ausstieß, kam ich zu mir. »Das duld' ich nicht, daß du seine Ehre angreifst,« rief ich und trat ihm dicht unter die Augen, »schlag' doch mit Fäusten auf mich, wenn du willst, aber ihn – ihn darfst du nicht anrühren.« Papa sah mich groß an, wandte sich ab und stöhnte qualvoll. Das ertrug ich nicht mehr. Weinend warf ich mich ihm zu Füßen. »Papachen – hab' doch Mitleid mit mir – mein Unglück ist doch schon groß genug«, schluchzte ich. Und dieselbe Hand, die mich fast geschlagen hätte, hob mich empor. »Mein armes, armes Kind,« sagte er, und mit dem Ausdruck eines zu Tode Verwundeten sah er mich an.

Mama war still gewesen bis dahin. Jetzt hörte ich ihre ruhige kühle Stimme wie von weit, weit her. Sie las den Brief der [250] Tante vor, ich verstand ihn kaum, nur die Worte »Pflicht«, »Opfer«, »Ehrgefühl« wiederholten sich, wie es schien, häufig. »Alix wird«, so schloß er ungefähr, »durch diese Erfahrung klug werden und ihre zügellosen Leidenschaften bändigen lernen. Unser ganzes Leben ist Entsagung und Pflichterfüllung ...« Ich lachte gellend auf bei dieser schönen Tirade, um gleich nachher in einen wilden Weinkrampf auszubrechen. Papa trug mich in mein Bett. Meine Mutter verließ mich von da an keine Minute. Gegen Abend ließ sie mich aufstehen. Kaum auf den Füßen konnt' ich mich halten, und vor Schmerzen hätte ich am liebsten geschrien, aber meine Willenskraft war stärker als alles. Ich vermochte es sogar, meinen Vater dankbar anzulächeln, als er mir mitteilte, er habe »die schwere Aufgabe auf sich genommen, den Prinzen über den Ausgang der traurigen Angelegenheit in Kenntnis zu setzen.«

Als ich dann, wie immer, im Nebenzimmer den Tee bereitete, hörte ich, mit meinen fieberhaft geschärften Sinnen, Mama zu ihm sagen: »Ich kenne Alix genug, um keine ernstliche Sorge zu haben. Wo wir bisher gewesen sind – es gab immer irgendeine mehr oder weniger fatale Liebesgeschichte. In diesem Fall, wo ihre Eitelkeit mitspricht, sieht die Sache erheblicher aus.« »Aber du sahst sie doch! – Eine solche Verzweiflung läßt das Äußerste fürchten!« wandte mein Vater ein. »Vertraue mir, lieber Hans – du siehst sie immer wie in einem goldenen Spiegel! Ich habe, gottlob, meine sehr nüchternen und klaren Augen behalten,« antwortete Mama, »wir haben jetzt nichts zu tun, als zu verhüten, daß sie sich und uns durch tragische Posen kompromittiert – alles andre überlasse ruhig der Zeit und –,« fügte sie mit einem halben Lachen hinzu – »dem nächsten Mann!«

Was sie sagte, war mir nur willkommen, und ich benahm mich, ihren Worten entsprechend, während ich zu gleicher Zeit mit vollkommener Ruhe an die Ausführung eines Planes ging, der vom ersten Augenblick an, da ich von der Ablehnung der [251] Tante erfahren hatte, für mich fest stand. Ich ließ mir zur Gutenacht die Stirn küssen und legte mich ruhig nieder; daß Mama noch einmal kommen und nach mir sehen würde, wußte ich, und wartete, bis sie zurück in ihr Schlafzimmer ging und jeder Ton im Hause erstorben war. Dann stand ich auf, zog mich sorgfältig an, packte das Nötigste in eine bereitstehende Handtasche und schlich mit angehaltenem Atem die Treppe hinunter. Die Haustür knarrte nicht einmal, als ich sie aufschloß. Es regnete in Strömen, kein Mensch war zu hören, noch zu sehen. Ich wartete in meinen Mantel gewickelt, bis ein fester Schritt mir entgegen klang, ein schleppender Säbel auf das Pflaster taktmäßig aufschlug. So kam er jetzt jeden Abend, vom Fenster aus ein verabredetes Zeichen erwartend, in den dicht an unserem Hause liegenden Park. Er fuhr zurück, als er mich vor sich sah. Es bedurfte nicht vieler Worte zwischen uns. Aber was ich gleichgültig, mit einer ganz fremden ruhigen Stimme erzählte, das erschütterte ihn so, daß er sich schwer auf meine Schulter lehnen mußte. »Ich kann dich nicht lassen, Alix!« stöhnte er immer wieder. »Das sollst du auch nicht, Hellmut!« antwortete ich fest. »Da uns zum Ehebund der Goldsegen fehlt, schließen wir ihn unter dem Segen der Liebe.« Mit weit geöffneten Augen sah er mich an. »Du wolltest –?« klang es fragend, zögernd. »Deine Geliebte werden – ja. Selbstverständlich muß ich Schwerin sofort verlassen – – –«

»Alix, du fieberst – du weißt ja gar nicht, was du sagst, – das ist ja heller Wahnsinn!« rief er. Ich fühlte plötzlich, wie die feuchte Kälte der Nacht von den Fußsohlen an langsam an mir emporkroch. »Ich bin nicht wahnsinnig, Liebster –« sagte ich weich und drückte seine Hand zärtlich an meine Wange, »ganz im Gegenteil: ich will die wahnsinnige Weltordnung für mein Teil vernünftig machen! – Nun laß uns nicht länger hier stehen, Hellmut, wo jede Minute kostbar ist. Irgendeine kleine Station wird sich mit deinem Wagen doch noch erreichen lassen, wo ich [252] den ersten Morgenzug erwarten kann –.« Er trat einen Schritt zurück. – »Mach mich doch nicht zum Schurken – Alix« – er packte mich am Arm und schüttelte mich, als wolle er mich aus einem Traum erwecken. Und wirklich – während der Regen mir ins Antlitz peitschte – und die letzten Laternen erloschen, kam es mit grausamer Klarheit über mich. »Hellmut!« rief ich noch einmal, und breitete die Arme aus. Er stürzte auf mich zu, bedeckte mir Mund und Augen und Wangen und Hände mit wilden Küssen – und verschwand, wie von Furien gepeitscht, in der dunkeln Allee.

Minutenlang blieb ich wie angewurzelt stehen, dann strich ich mechanisch mit den Händen über den nassen Mantel. Ich mußte mich vergewissern, wer das eigentlich war, der hier draußen im Regen stand. Auch an die Stelle griff ich, wo mir das Herz noch eben wild geschlagen hatte. Es war wohl nicht mehr da – es war wohl tot – oder am Ende in den Schmutz gefallen. Ganz ängstlich sah ich in die schwarzen Pfützen zu meinen Füßen. Jetzt müßt' ich eigentlich schlafen gehn – fuhr es mir durch den Kopf. – Gott, war das Täschchen schwer und der nasse Mantel. – Ob ich mich lieber auf die Bank dort setzen sollte?! – Nach ein paar Schritten stockte mein Fuß: nein, das ging nicht, ringsumher standen schrecklich viele Menschen und starrten mich an. Und dann rissen sie alle den Mund weit auf, und von allen Ecken dröhnte und kreischte es –


Oh, la marquise Pompadour –
Elle connait l'amour –
Et toutes ses tendresses –
La plus belle des maîtresses – –

Ich floh die Stufen empor – riß die Türe auf und setzte mich erschöpft auf die Treppe. Aber sie krochen mir nach – auf Händen und Füßen – wie Würmer. Mit den letzten Kräften schlich ich in mein Zimmer. Und plötzlich kam mir zum Bewußtsein, daß ich – Alix Kleve – hier in triefenden Kleidern auf dem [253] Bette saß. Ein Grauen überfiel mich, als wäre ich mein eigenes Gespenst und schwebte im schwarzen grenzenlosen Weltraum. Die Sinne vergingen mir.

Acht Tage fast lag ich in völliger Apathie. Dann ging ich aus, und bald darauf ins Theater. Man gab »Hoffmanns Erzählungen« – selbst bei der Barcarole klopfte mein Herz nicht. Es war mir offenbar abhanden gekommen. Nach weiteren acht Tagen tanzte ich wieder. Mama triumphierte.

[254]
11. Kapitel
Elftes Kapitel

Wissen Sie das Neueste!« rief mir eine meiner Konkurrentinnen auf dem Kampfplatz weiblicher Eitelkeit zu, als wir gerade in der Quadrille einander gegenüberstanden; »Prinz Hellmut ist – krank und hat sich auf ein Jahr beurlauben lassen,« – dabei lächelte sie, halb triumphierend, halb schadenfroh, wie eben nur eine Frau lächeln kann.

»Ich weiß, er trug sich schon lange mit diesem Plan,« antwortete ich mit vollkommener Ruhe.

An dem Abend tanzte ich bis zur Erschöpfung und hatte für alle ein liebenswürdiges Wort, einen koketten Blick, so daß die Kotillonsträuße auf meinem Schoß sich häuften wie noch nie. Als ich aber zu Hause am offenen Fenster stand und die würzige Märzluft das schwüle Zimmer mit einer Ahnung neuen Frühlings füllte, warf ich mit einem Gefühl des Ekels das glitzernde Ballkleid, die künstlichen Rosen, die seidenen Schuhe von mir.

»Ich kann nicht mehr,« sagte ich zu mir selbst; alles erinnerte mich hier an die Vergangenheit, jeden Blick, jedes Lächeln empfand ich, als ob schmutzige Hände mich betasteten. Ich mußte fort, weit fort!

Es kostete mich nur geringe Mühe, meine Eltern zu bewegen, mich verreisen zu lassen. Die gesellschaftlichen Pflichten waren für diesen Winter erledigt, meine Gesundheit bot stets willkommenen Vorwand zu frühen Landaufenthalten; es bedurfte nur einer Ansage, und ich konnte schon in den nächsten Tagen in Pirgallen eintreffen. Unter dem Schutz einer Bekannten, deren [255] Anwesenheit mich zur Selbstbeherrschung zwang, fuhr ich nach Berlin, wo Onkel Walter, der zum Reichstag dort war, mich in Empfang nahm.

»Na, du machst ja nette Streiche,« war sein erstes Wort. Peinlich überrascht sah ich auf. »Wir hatten dich eigentlich ein paar Wochen hier behalten wollen,« fuhr er fort, »aber deine Affäre ist so sehr in aller Munde, daß es besser ist, wir lassen Gras darüber wachsen, ehe du dich zeigst.« Seine Frau benützte die Gelegenheit, um über meine »mißglückten Pläne«, meinen »bestraften Ehrgeiz« kleine bissige Bemerkungen zu machen, so daß ich erleichtert aufatmete, als ich im Zuge nach Königsberg saß.

Mit einer Zärtlichkeit, die mir noch inniger schien als früher, und die das einzige war, wodurch Großmama mir ihr Wissen verriet, schloß sie mich in die Arme. Es war so still, so friedlich in ihren grünen Zimmern hinter den dicken Mauern, als ob es in der ganzen Welt gar keine Stürme gäbe. Aber schon nach wenigen Tagen sollte ich an sie erinnert werden. Gleichzeitig kamen von meinen Eltern zwei Briefe an. Ich öffnete den von Mama zuerst – ich fürchtete mich instinktiv vor dem anderen.

»Dein Vater«, schrieb sie, »ist in einer solchen Aufregung, daß ich es für nötig halte, seinen Brief nicht ohne den meinen abgehen zu lassen. Die Versetzung nach Bromberg traf ihn wie der Blitz aus heiterm Himmel. Wenn sie auch gewiß keine direkte Zurücksetzung bedeutet, so hängt sie sicherlich mit Deiner traurigen Angelegenheit zusammen, die höhern Orts nicht unbemerkt und nicht ungerügt bleiben konnte. Möchtest Du daraus endlich die Lehre ziehen, daß Du Deine Launen und Leidenschaften im Zaum halten mußt, wenn Du nicht Dich und Deine Eltern zugrunde richten willst ...«

Mit zitternden Händen riß ich Papas Brief auf. Er lautete:

»Mein liebes Kind! In der Bibel steht, daß die Sünden der Väter an den Kindern heimgesucht werden, aber die andere bittere Wahrheit, die ich am eignen Leibe erfahren muß, steht [256] nicht darin: daß die Väter für die Sünden der Kinder büßen müssen. Ich bin zum Chef der Landwehr-Inspektion in Bromberg ernannt worden, – das ist nichts anderes als eine ehrenrührige Strafversetzung, die ich mit meinem Abschiedsgesuch beantworten würde, wenn ich nicht genötigt wäre, weiter zu dienen, um meine Familie zu erhalten ...«

Ich konnte der Tränen nicht Herr werden, als ich Großmama die Briefe zu lesen gab. Mit ihrer schmalen kühlen Hand strich sie mir über die heiße Stirn und sagte begütigend: »Dein Vater übertreibt in der Erregung gern ein bißchen, mein Alixchen; es ist gewiß nicht so schlimm, wie es ihm erscheint, und du wirst es ihm nun auch tapfer und liebevoll tragen helfen.« Aber ich ließ mich nicht so leicht beruhigen. Ich schwelgte förmlich im selbstquälerischen Bewußtsein einer Schuld, die mir doch nicht als bewußte Verschuldung erscheinen konnte.

»Es ist mein Schicksal, allen, die mich lieben, Unglück zu bringen –« so formulierte ich eines Tages Großmama gegenüber das Resultat meiner Grübeleien. »Das ist eine kindliche und – was schlimmer ist – alle Kräfte lähmende Auffassung,« antwortete sie; »tragische Heldinnen solcher Art gibt es nur in Schicksalstragödien, die auch als Kunstwerke nichts taugen.«

Mit einem unmerklichen Zwang, dessen Konsequenz mir erst viel später klar wurde, lenkte sie mich von der Beschäftigung mit mir selber ab.

Sie hatte einen Kinderhort ins Leben gerufen, wo die noch nicht schulpflichtigen Kleinen unter Aufsicht einer alten Frau aus dem Dorfe spielten und in die ersten Begriffe der Reinlichkeit eingeweiht wurden. Großmama brachte täglich ein paar Stunden unter ihnen zu und saß, wie eine Erscheinung aus anderer Welt, in ihrem schwarzen Samtkleid auf erhöhtem Sitz, mit den feinen Fingern Papierpuppen ausschneidend, während sie den Flachsköpfen, die sie dicht umdrängten, Märchen erzählte. Dazwischen flocht sie manchem Ruschelkopf die Zöpfe, oder putzte [257] ein triefendes Näslein, oder wusch ein paar gar zu schmutzige Pfötchen. Was sie mit freundlichem Gleichmut tat, das kostete mir viel Selbstüberwindung. Diese Kinder straften die beruhigend-sentimentale Auffassung von der blühenden ländlichen Jugend Lügen. Nur wenige waren rund und pausbäckig und körperlich fehlerlos. Die meisten wackelten mühsam auf krummen Beinchen daher, an Ausschlägen an Kopf und Körper, an triefenden Augen litten viele, selbst Krüppel fehlten nicht, und mit Schmutz und Ungeziefer waren fast alle behaftet. Manche unter ihnen stierten mit verblödeten Blicken ins Leere, oder saßen stundenlang auf demselben Fleck, wie lebensmüde Greise. Andere, laute und lärmende, führten Worte im Munde, deren Sinn, den ich erst allmählich erriet, mir die Schamröte in die Wangen trieb. Ob es ihnen wirklich irgend etwas nutzen konnte, daß sie hier während ein paar Kinderjahren vom inneren und äußeren Schmutz ein wenig gereinigt wurden?! dachte ich bei mir und wurde in meiner Vermutung bestärkt, wenn sich ihre eigenen Mütter immer wieder über die gesundheitsschädliche Anwendung zu vielen Wassers beklagen kamen.

»Und wenn wir nichts weiter erreichten, als ihnen ein paar fröhliche Stunden schaffen und für ihr ganzes späteres Leben die wohlige Erinnerung an etwas Sonnenschein – so ist das genug,« sagte Großmama.

Wir gingen auch ins Dorf und besuchten die Insten. Mit unheimlicher Regelmäßigkeit wiederholte sich dabei stets dasselbe: Frauen empfingen uns, oft kaum dreißigjährig und schon mit grauen Haaren, schlaffen Brüsten und runden Rücken, Greisinnen unter ihnen, zahnlose, mit tausend Falten in der Pergamenthaut, aber nur hie und da blühende junge Mädchen. Die gingen alle in die Stadt, in den Dienst oder in die Fabrik, und brachten, wenn sie heimkamen, vaterlose Würmchen mit, die die alten Eltern schlecht und recht aufziehen mußten. Immer waren's dieselben Klagen, die uns entgegenschollen: der Vater, der Gatte, [258] der Sohn vertrank die paar Groschen Verdienst und lohnte Weiber und Töchter obendrein mit Schlägen, wenn Schmalhans zu Hause Küchenmeister war.

Nicht weniger als drei Schankwirte machten sich in Pirgallen die Gäste streitig. Der scharfe Geruch von Fusel, schlechtem Tabak und Menschenschweiß, der in ihren Räumen klebte, ließ mir vor Ekel den Atem stocken, und doch war der Aufenthalt dort noch besser, als in der Stickluft der Häuser, zwischen lärmenden Kindern und keifenden Frauen. Mir grauste vor jedem Trunkenbold, – jetzt fing ich an, ihn zu verstehen. Vergebens hatte Großmama bei ihrem Sohne die Einrichtung von Leseabenden, die Einführung guter Bücher für Pirgallens Bewohner zu erreichen gesucht, damit sie den Weg ins Wirtshaus seltener fänden. »Das hieße Bedürfnisse wecken, die schließlich zur Landflucht treiben,« war die Antwort gewesen.

Nur weiter draußen, wo die Häuser der Fischer einsam am Haffstrand lagen und die grauen Wellen jetzt im März noch Eisschollen auf ihrem Rücken trugen, lebten die Familien nach uraltem Brauch friedlich zusammen. Die kurze Pfeife im Mund, flickte der Hausvater die Netze, und die Hausfrau saß am Webstuhl, schweigsam wie er. Kam der Feierabend, so las der Alte aus der vergriffenen Bibel mit schwerer, eintöniger Stimme, und ein Gebet schloß den Tageslauf. Und doch kam mir's hier unheimlicher vor als im Dorf. Hier herrschte noch mit eiserner Strenge das Gesetz der Unterordnung der Kinder unter den Willen der Väter. Jeder Wunsch in die Ferne wurde erstickt, zerprügelt, jede lebenswarme Freude starb, wenn sie hier in die Türe trat.

Wir kamen nie mit leeren Händen, der Dank war immer ein überschwenglicher, der nicht im Verhältnis zur Gabe stand. Mochte er nun von Herzen kommen oder verlogen sein, mir war er gleich unerträglich. Großmama meinte, daß ich durch sein Abwehren beleidigend wirkte.

[259] »Ich kann nicht anders, Großmama,« sagte ich, »wenn ich der armen Lene eine Suppe bringe, so schäme ich mich, daß ich mich am liebsten vor ihr verstecken möchte. Warum in aller Welt bin ich nicht die Lene?!«

»Daß du es besser hast, mußt du mit besser sein vergelten,« entgegnete sie ernst. Meine Empfindung aber steigerte sich nur. Das Rätsel des Elends in der Welt und seine Unlösbarkeit richtete sich riesengroß vor mir auf, ein Felsentor mit schwarzer Eisenpforte. Rostflecke bedeckten sie und Blut klebte an ihr – Zeichen der vielen, die an ihr rüttelnd vergebens Eingang verlangt hatten. Niemand besaß den Schlüssel, und der Glaube, der über sie hinwegträgt zu sonnigen Welten jenseitiger Vergeltung, war mir verloren gegangen.

Abends lasen wir miteinander, Großmama und ich. Die stenographischen Berichte der Reichstagsverhandlungen, die sie durch ihren Sohn regelmäßig erhielt, bildeten damals ihre Lieblingslektüre. Mich langweilten sie zunächst schrecklich, ich verstand ja nicht einmal das ABC der Sache. Daß Bismarck, den wir alle wie einen Halbgott verehrten, sich mit der ganzen Leidenschaft seiner Sprache, dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit für etwas, meiner Empfindung nach so Untergeordnetes, wie das Branntweinmonopol ins Zeug legte, kam mir komisch, ja fast verächtlich vor. Erst als Ende März die Frage der Verlängerung des Sozialistengesetzes auf der Tagesordnung stand, wuchs mein Interesse mit der dramatischen Bewegtheit der Verhandlungen.

Meine Großmutter war von jeher eine Gegnerin aller Ausnahmegesetze gewesen, mochten sie sich nun gegen Polen oder gegen Sozialdemokraten richten. »Sie schaffen nur Märtyrer, und Märtyrer werben Scharen von Proselyten,« pflegte sie zu sagen; aber sich mit Söhnen oder Schwiegersohn, denen keine Maßregel gegen die Umstürzler energisch genug war, darüber auseinanderzusetzen, hatte sie längst aufgegeben. Mir selbst ging es in bezug auf die Sozialdemokratie wie den meisten [260] Menschen in bezug auf die Religion: ich hatte noch nie über sie nachgedacht, ich vermochte es kaum, weil gewisse dogmatische Anschauungen sich mir von klein auf als etwas Selbstverständliches eingeprägt hatten, ohne daß mein Glaube daran ein irgendwie lebendiger gewesen wäre. Sozialdemokraten sind Verbrecher, auf deren ungeschriebenen Tafeln der Königsmord zum Gesetz erhoben wird; sie sind gemeine Lüstlinge, die ein Leben niedrigster Genüsse zum Ziel alles Strebens machen; sie sind Volksverführer und Betrüger, die, wo es ihren Vorteil gilt, die Ideale der Freiheit und Brüderlichkeit im Munde führen, – nie hatte ich etwas anderes gehört, noch nie war mir ein Zweifel an diesen traditionellen Auffassungen in den Sinn gekommen. Die kalte Atmosphäre der Ideallosigkeit, in der auch die Religion zu Eis erstarrte, und die die Lebensluft der Kreise war, in denen ich lebte, ließ mich immer stärker frösteln, je älter ich wurde, und steigerte meine Sehnsucht nach einem heißen Sonnenland des inneren Lebens, wo Hoffnungsblumen noch wachsen können. Die Sozialdemokratie, die auf unseren alten Kaiser die Mordwaffe gerichtet hatte, die das Vaterland ständig beschimpfte, die Familie zerstören, die Frauen zum Gemeingut machen wollte, erschien mir wie die letzte Entwicklungsphase der Vereisung. Es gab daher Augenblicke, wo ich meinem Vater und meinem Onkel mehr beipflichtete als meiner Großmutter, und deren Wunsch, »die infamen Kerls an den Laternenpfählen aufzuknüpfen«, mich nicht empörte.

Mit steigendem Staunen las ich jetzt die Debatten. Als der Minister von Puttkamer – der mir als kirchlicher Reaktionär schon unangenehm genug war – die gegen die Übermacht reicher Fabrikanten um ihr Brot kämpfenden belgischen Kohlenarbeiter, von denen damals die Presse voll war, als Beispiel jener »sozialrevolutionären Bewegung« hinstellte, der die deutsche Regierung »mit niederschmetterndem Widerstand begegnen« würde, frappierte mich diese Indentifizierung armer darbender Arbeiter mit [261] den deutschen Sozialdemokraten außerordentlich, und als Bebel antwortete, vergaß ich über alledem, was er sagte, die Person des Redners. Daß der Übermut der durch die Arbeit der Armen reich gewordenen belgischen Fabrikanten und die Unterstützung, die die Regierung ihnen angedeihen ließ, indem sie mit militärischer Gewalt wie gegen Vaterlandsfeinde gegen die Bergarbeiter vorging, die revolutionäre Bewegung hervorgerufen hatte – hervorrufen mußte, weil Menschen auf die Dauer keine stumpfsinnigen Sklaven sind, ebenso wie die Herrschaft der Knute in Rußland notwendig den Meuchelmord zeugte –, das alles wirkte auf mich mit der Selbstverständlichkeit eigenster Gedankengänge, und mich empörte die versteckte Absichtlichkeit, mit der dem Redner die Worte im Munde verdreht wurden und seine politischen Gegner ihm immer wieder unterstellten, er habe den Mord verherrlicht. Ich fiel erst wieder – und recht empfindlich – aus den Himmeln meiner Begeisterung, als Stöcker von den elenden Löhnen Berliner Mäntelnäherinnen sprach, und Singer, der Parteigänger Bebels, der sich mir eben als Vertreter aller Unterdrückten offenbart hatte, dem persönlichen Vorwurf, daß er selbst durch solche Löhne reich geworden sei, nur mit lahmen Ausreden begegnete.

»Es ist wie bei den Predigern des Christentums,« sagte ich, wie immer rasch verbittert durch eine Enttäuschung, zu Großmama, »richtet euch nach meinen Worten, aber nicht nach meinen Taten.« Und erheblich ernüchtert las ich weiter. Aber schon wenige Seiten später schlug meine Empfindung abermals um, – es war eben nur Empfindung, die sich wie Sommerfäden vom Winde hin und her treiben ließ, weil sie nicht zwischen die festen Pfeiler der Erkenntnis gesponnen war. Ein konservativer Redner verlas ein Zitat aus dem Kommunistischen Manifest, wonach die Weibergemeinschaft eines der Postulate der Sozialdemokratie wäre. Aus Liebknechts Erwiderung ergab sich, daß es sich auch diesmal um eine gegnerische Fälschung handelte. Seinem ganzen [262] Inhalt nach gab er das Manifest wieder. Ich faßte nur auf, was mich am tiefsten traf: die Forderung einer von ökonomischen Rücksichten vollkommen losgelösten Ehe. Wurde nicht hier die Standarte eines Ideals aufgerichtet, das die ganze christliche Zivilisation nicht nur nicht verwirklicht, sondern mehr und mehr in den Staub getreten hatte?!

Ich sprach mit Großmama darüber.

»Das ist das Verdienst der Sozialdemokratie,« sagte sie, »über das man manche ihrer Sünden vergessen könnte, daß sie alte wahrhaft christliche Ideale in ein neues Kleid gesteckt hat und die Menge glauben läßt, es handle sich auch um neue Körper. Aber eine Verwirklichung kann sie trotzdem nicht dekretieren. Jahrhunderte einer christlichen Erziehung und Gesetzgebung gehören dazu. Sieh dir doch hier einmal die Menschen an. Schon die Verwirklichung einer uns so geläufigen Forderung wie die des allgemeinen Stimmrechts, erscheint angesichts ihrer verfrüht. Oder meinst du, daß es zum Besten der Menschheit ist, wenn die Mehrheit, d.h. heute noch die Schlechten, die Dummen und Rohen, an ihrer Spitze stehen?« Ich verstummte vor diesem Argument: unsere betrunkenen Instleute – entscheidende Faktoren in Fragen der Kulturentwicklung, das war zweifellos absurd.

Von Disraelis »Sybil« und Zolas »Germinal« hatte Liebknecht in derselben Rede gesprochen. Wir lasen daraufhin beides: das schwächliche Werk des Engländers, das nur darum erstaunlich war, weil ein Premierminister sich so offen auf die Seite der »schwarzen Arbeiter« hatte stellen können, und den Roman des Franzosen, der mir täglich neue Schauer des Entsetzens über den Rücken jagte, dessen fürchterliche Bilder mich bis in meine Träume verfolgten. Ich sah die Maheude auf dem Schlachtplatz vor dem Schacht neben dem toten Mann im schwarzen Schlamme sitzen und Katherine und Etienne tief in der dunkeln Grube, wo gurgelnd das Wasser höher und höher an ihnen emporstieg, und der Hunger mit kalten Knochenfingern ihren Leib zusammenschnürte, [263] während der gedunsene Leichnam des gemordeten Rivalen wieder und wieder von den Wellen zu ihnen emporgetragen wurde; – aber fürchterlicher als all diese Bilder, haftete ein anderes unauslöschlich in meinem Gedächtnis: jener grauende Morgen, an dem sich vor dem wieder geöffneten Schacht scheu und gebückt, still und demütig all die zusammenfanden, die eben noch für ihre Freiheit Leib und Leben eingesetzt hatten. »Was willst du – ich hab' ein Weib!« sagten sie müde, »ich habe Kinder – eine Mutter – mich hungert;« und die Maheude, die Furie des Aufstands, zählte schon die Jahre ihrer Jüngsten, bis auch sie reif wären zur Einfahrt – »sie tragen alle ihre Haut zu Markte, die Reihe kommt auch an sie!« – Daß es Hunger und Not und Elend gab, – entsetzlicher noch, daß die Menschen es ertrugen.

Inzwischen war über Nacht mit all seiner Herrlichkeit der Mai ins Land gezogen, und vorbei war's mit der Stille in Großmamas grünem Zimmer. Ihr Sohn und die Seinen kehrten heim, und ein Taubenschlag war aufs neue das alte Schloß von Pirgallen. Ich war's zufrieden; ein Netz von Schwermut schnürte mir den Atem ein, leer, zweck- und ziellos erschien mir das Leben, und alle Mittel versagten, um mir selbst zu entfliehen.

»Ich habe in letzter Zeit wieder so unter den einsamen Grübelstunden gelitten und war so am Ende alles Denkens angelangt,« schrieb ich an meine Cousine, »daß der Trubel der Geselligkeit gerade zur rechten Zeit kam; ich muß in diesem betäubenden Meer des Vergessens wieder untertauchen, um nicht zu sterben vor Melancholie.« Und ein paar Wochen später: »Wenn man mit sich und der Welt so zerfallen ist wie ich, so ist es das Beste, nicht zur Besinnung zu kommen. Ich genieße das Leben, so lange ich jung bin und man mir huldigt, und betäube die warnenden Stimmen im Innern. Ich reite, ich rauche, ich bin kokett, ich mache extravagante Toiletten und erlaube mir Dinge, die [264] man zu verdammen pflegt, – aber ich würde mir auch nichts daraus machen, wenn ein Sturz vom Pferde, ein Umschlagen des Kahns dem dummen Spaß ein Ende machte.«

Mit einer gewissen kalten Neugier beobachtete ich meine steigende Anziehungskraft auf die Männer. Ihre Huldigungen wurden mir mehr und mehr zum Bedürfnis; von ihrer Glut sprangen warme Wellen zu mir hinüber, die mir zuweilen die Wohltat eigenen Feuers vortäuschten.

An meinem Geburtstagsabend, nach einem durchtanzten und durchspielten Tag, an dem ich mir aus lauter Angst, an die Vergangenheit denken zu müssen, keinen Augenblick Ruhe gegönnt hatte, schrieb ich an Mathilde, die sich gerade im Harz befand und mich dringend in die »Stille der Bergwelt« eingeladen hatte: »Die Stille mag gut sein für den, der sich gern erinnert, unsereins braucht die ewig knarrende Tretmühle des Amüsements. Aber grüß mir immerhin den Harz; seine Berge sind freilich Kinderspielzeug, seine Felsen eines nichtsnutzigen Engels schlechte Kopien von Gottvaters Wunderwerken, aber er hat einen Vorzug: die nahe Beziehung zur Hölle, nach der ich ein unbändiges Verlangen trage. Wenn der Teufel auf dem Brocken seinen Repräsentationsball gibt, sag' ihm, er soll mich nicht vergessen. Er wird dir dankbar sein für deine Kupplerdienste, – ich bin momentan geradezu eine Delikatesse für ihn.«

Wir siedelten bald darauf nach Kranz über, wo mein Onkel eine geräumige Villa dicht am Strand gemietet hatte. Das reizende Seebad war überschwemmt mit dem Adel Ostpreußens, und mit jener Selbstverständlichkeit aller Bevorrechteten, die sich unbewußt immer als Mittelpunkt des Weltganzen fühlen und die übrige Menschheit nicht anders ansehen als ihre Kammerdiener, vor denen man sich auch ungeniert gehen lassen kann, dominierte unser großer lustiger Kreis überall: wir nahmen die besten Plätze ein, die besten Schiffe beanspruchten wir, und wir dachten nicht im entferntesten an die Ruhebedürftigkeit anderer Badegäste, [265] wenn wir bis tief in die Nacht hinein im Kursaal tanzten und vom Strand aus prasselnde Feuerwerke gen Himmel steigen ließen. Unsere alten Herren saßen bei Regen und Sonnenschein beim Skat und kümmerten sich wenig um uns, so daß die Jugend sich doppelt des Lebens freute. Ein kleiner Graf, den wir, wegen seiner frappanten Ähnlichkeit mit den dünnen Spieläffchen aus Seide, den Chenille-Grafen getauft hatten, gab den Ton an. Er war häßlich, aber ungemein gewandt und graziös, seine Schlagfertigkeit, sein beißender Witz, der nicht frei von Zynismus war, seine chevalereske Art Damen gegenüber, die einen Stich von Impertinenz besaß, seine vielseitige künstlerische Begabung, die überall im leichtfertigen Dilettantismus stecken geblieben war, machten ihn in diesem Kreis zu einer nicht alltäglichen Erscheinung. Eine »Partie« war er nicht; er konnte sich daher onkelhafte Freiheiten gestatten, und für mich, die ich, wie er, nichts suchte als Amüsement, war er der gegebene Kavalier.

Eines Abends – wir saßen wie gewöhnlich im Sande und spielten Pfänderspiele – mischte sich ein neuer Gefährte in unseren Kreis: Graf Göhren. Er erschien mir sofort als des lustigen Chenille-Grafen direktes Widerspiel, gemessen in den Bewegungen, etwas ungeschickt sogar, ernsthaft, ein wenig verlegen. Wie ein guter, treuer Pinscher sah er aus, mit runden erstaunten Augen. Mich genierte seine Anwesenheit, ich wußte nicht recht, warum. Es fügte sich in den folgenden Tagen, daß wir uns näher kennen lernten, und als wir einmal auf einem Spaziergang in den Dünen vor einem Gewitter die Flucht ergriffen und, von der übrigen Gesellschaft getrennt, in einem verlassenen Pavillon Schutz suchten, legte er mit ungewöhnlich sorglicher Gebärde seinen Mantel um meine Schultern. Ich wurde bis ins Innerste warm dabei, – es tat so wohl, sich unter gutem Schutz zu wissen! Abends am Strande war ich nicht recht bei der Sache und horchte erst auf, als der Chenille-Graf mit einer Gitarre unter dem Arm auf mich zutrat. »Nun hab' ich [266] für Ihr Lied die Melodie gefunden, Gnädigste,« sagte er, »wenn wir das anstimmen, kriegen die Kranzer eine Gänsehaut vor Entsetzen.« Mein Lied?! Ach so! – vor ein paar Tagen hatte er mein Notizbuch gefunden, und keck, wie er war, zum Lohn ein Gedicht begehrt, das er darin entdeckt hatte. »Darf ich es sehen?« frug Graf Göhren. Seine Stirn runzelte sich, als er es las. »Sie werden es nicht singen lassen« – sagte er danach mit scharfer Betonung zu mir gewandt. »Erlauben Sie, lieber Graf,« warf der andere lächelnd ein: »Fräulein von Kleve hat sich des Rechts darüber schon begeben.« – »Es bleibt trotzdem ihr Eigentum, und ich versichere Sie, daß es niemand anders hören wird –«. Graf Göhrens Stimme nahm einen drohenden Klang an, die Situation wurde kritisch. Mir stieg das Blut zu Kopf, – mit welchem Recht verfügte dieser Mann über mich?! Da sah der Chenille-Graf mich mit seinem bezauberndsten Lächeln und einem kecken Blinzeln seiner kleinen stechenden Augen an: »Ich beuge mich selbstverständlich, wie immer, dem Willen der Dame«, – und herausfordernd griffen seine schmalen gebräunten Finger in die Saiten der Gitarre. »Sie brauchen wirklich nicht um mein Seelenheil besorgt zu sein, Graf Göhren,« spottete ich, »wenn mein Lied Sie chokiert, steht es Ihnen frei, nicht zuzuhören!« Mit kurzer Verbeugung reichte er mir das Papier. Es hatte zu dämmern angefangen, und unsere Gefährten strömten von allen Seiten zum gewohnten Platz. Eine Bowle, ein paar Torten, das Ergebnis einer verlorenen Wette, wurden von der Strandkonditorei heruntergetragen, – »und nun kommt das Beste!« rief der Chenille-Graf, »unser künftiges Bundeslied«:


»Stoßt an mit mir! Füllt wieder die Pokale,
Es schäumt der Wein, schäumt wie des Lebens Lust;
Ein heitrer Sinn ziemt diesem Göttermahle.
Im Fieber schlägt das Herz uns in der Brust,
Laßt uns, damit die Sorgen uns versinken,
Trinken!«
[267] Die Herren im Kreise wiederholten den Refrain, die Damen schwiegen.
»Lind ist die Nacht, es duften süß die Rosen,
Heiß ist der Mund, der sich auf deinen preßt;
Noch ist es Zeit, zu lieben und zu kosen,
Noch sei ein jeder Augenblick ein Fest.
Laßt uns, solang die Sommerblumen sprießen,
Genießen!«

Auf der Strandpromenade hinter uns sammelte sich das Publikum. Von einer flackernden Laterne matt erhellt, sah ich Göhrens Gesicht mitten darunter, und ihm zum Trotz stimmte ich als einzige unter den jungen Mädchen, deren Wangen sich vor Verlegenheit mehr und mehr röteten, in den Refrain ein:


»Es braust das Meer, das Schiff schwankt auf und nieder,
Helljubelnd grüßen wir den Wellenschaum,
Der Sturm singt uns das schönste aller Lieder
Und wiegt uns ein zu wild-bewegtem Traum –
Was ist das Ende, wenn die Wellen branden? –
Stranden!«

Mit einem Akkord fanatischer Lebensfreude, der mir in seiner grellen Dissonanz zu den Worten schmerzhaft ins Herz schnitt, schloß der Sänger. Man drängte sich um uns, die Gläser klirrten aneinander, ich hob das meine noch einmal hoch empor wie zum Gruß an den mißgünstigen Zuschauer, der unter der Menge verschwand.

»Du hast dir wieder mal eine der besten Partien verscherzt,« sagte Onkel Walter am Morgen ärgerlich zu mir; »Graf Göhren ist abgereist.« Ich zuckte gleichgültig die Achseln. »Du solltest zufrieden sein, wenn überhaupt noch irgendwer ernsthafte Absichten hat, nach dem Skandal mit –«

»Ich bitte dich, dies Thema ein für allemal unberührt zu lassen,« unterbrach ich ihn heftig, »im übrigen erkläre ich dir: lieber gehe ich betteln, als daß ich mich verkaufe.«

Onkel Walter wurde dunkelrot. »Mäßige dich, ja?« herrschte er mich an, dann zuckte ein bitteres Lächeln über seine sonst so [268] gemessen beherrschten Züge: »Glaubst du, daß irgendeiner von uns seinem Herzen hat folgen können?!« Überrascht sah ich auf – welch Licht fiel plötzlich auf das Glück von Pirgallen?!

Im Spätherbst besuchte ich Großmama noch ein paar Tage, um dann zu meinen Eltern nach Bromberg überzusiedeln. Die letzten Monate krampfhaften Lebens waren wie der Sturm gewesen, der dem noch immer vom Sommer sehnsüchtig träumenden Baum die letzten Blätter entreißt. Sonst, wenn mich's fröstelte vor dem nahenden Winter, gaukelte meine treue Gefährtin Phantasie mir immer neue lachende Frühlingsbilder vor, und meine junge, starke Hoffnung hielt sie gläubig fest. Jetzt sah ich mich vergebens um nach den beiden. In jener Nacht, da mein Herz gestorben war, hatten sie mich wohl verlassen. Sie bleiben nur Lebendigen treu.

»Ist es nicht merkwürdig, daß Ihr alle meinen Leichnam für mich selbst halten könnt?!« schrieb ich an meine Cousine, »oder meinst Du, ich lebte, nachdem ich mit vollen Segeln ins Leben hinausfuhr, um eine neue Welt zu entdecken, und nun mitten auf dem Ozean treibe und nichts gefunden habe als das ewige Einerlei der Wogen! – – – Nur um eine Einsicht bin ich inzwischen reicher geworden: daß das Glück, nach dem wir ein so unbändiges Verlangen tragen, nichts ist als Betäubung. Betäube durch Arbeit, Vergnügen, Liebe, durch Religion und Kunst Deine Überlegung, betäube den Gedanken an all das Elend in der Welt, geistiges und leibliches, betäube die Erinnerung an selbstverschuldete Schmerzen, an gescheiterte Hoffnungen mit einem dieser Narkotika, und Du wirst ›glücklich‹ sein. Je jünger man ist, desto leichter geht's; es ist aber leider wie mit dem Morphium: je mehr man seiner bedarf, desto weniger wirkt es ...«


Ich ging sehr ungern nach Bromberg. Ich fürchtete mich vor Papas übler Laune, vor der Öde der Kleinstadt. Nach [269] einer Richtung wurde ich angenehm enttäuscht: mein Vater war bei bestem Humor und erzählte mir schon in den ersten zehn Minuten des Zusammenseins, daß seine Stellung nicht nur eine sehr angenehme und selbständige, sondern infolge der aufsteigenden Kriegswolken an der russischen Grenze eine höchst interessante wäre. Aber in bezug auf die Kleinstadt wurden meine schlimmsten Erwartungen übertroffen. Es gibt welche, die erfüllt sind von Tradition; die Giebelhäuser, die Türme, die Kirchen, die Stadtmauern erzählen unablässig ihre alten Geschichten, und wir träumen und phantasieren schließlich so gern mit ihnen, daß wir die Welt draußen beinah vergessen; und andere gibt es, die liegen warm und wohlig an breiter schützender Bergbrust, ein Flüßlein rauscht und plätschert ihnen zu Füßen, und ringsum breitet Mutter Natur ihr wunderlieblichstes Spielzeug aus, – auch da ist gut sein für arme heimatlose Wanderer; aber wo Pest und polnische Wirtschaft die Häuser und Mauern zerfallen, die Wälder rasieren ließen und die moderne Industrie lieblos und gleichgültig an schnurgeraden Straßen Kasernen und Fabriken baute, da ist recht eigentlich die Fremde, die nie und nimmer zur Heimat wird. Daß der alte Fritz hier den Kanal gebaut hat, der die Weichsel mit der Oder verband, daß er die Schleusen mit vielen schönen Bäumen umpflanzen ließ, dankt ihm jeder, der nach Bromberg verschlagen wurde, – diese einzige Schönheit des Orts macht es allein möglich, hier und da frei aufzuatmen.

Wie die Tiere sich in Form und Färbung ihrer Umgebung anpassen, so nehmen die Menschen allmählich die Stimmung ihres Wohnorts an. Ein schweres Grau lagerte daher über der Bromberger Geselligkeit, selbst die Ballgeigen litten unter einer gewissen Apathie. Dabei tanzte man unermüdlich mit einem erwartungsvollen Eifer, als gelte es, das Vergnügen schließlich doch einzuholen. Aber es lief immer wieder davon. Der Flirt stand in schönster Blüte, und der Klatsch noch mehr, – womit [270] hätten sich die Leute auch sonst beschäftigen sollen?! Es wimmelte von Uniformen aller Art; aber selbst die schönste kavalleristische Farbenpracht vermochte nicht über den Talmiglanz des Lebens hinwegzutäuschen. Ich verkehrte viel mit jungen Frauen; zwischen mir und den jungen Mädchen bestand nun einmal ein gespanntes Verhältnis. »Ihr Leben allein widert mich an,« schrieb ich an Mathilde, »ein bißchen Musik, ein bißchen Malerei, ein bißchen Wohltätigkeit und unter dieser Maske der guten Gesellschaft entweder nichts, oder ein unklares Durcheinander von Romantik und unterdrückten kleinen Passionen. Nie ein starkes Gefühl, nie ein brennendes Interesse. O, daß ihr kalt oder warm wäret!« Die Frauen hatten doch einen Lebensinhalt: ihre Kinder, ihren Mann, ihre Häuslichkeit; freilich: Zeit, an ihre Bildung zu denken, hatten sie nicht. Wie viele, die abends in eleganter Toilette, Lebenslust heuchelnd, den Ballsaal betraten, standen vom frühen Morgen an am Kochherd, nur mit dem Burschen, dem gutmütigen »Mädchen für alles« als Hilfe, und wuschen abends heimlich bei verhängten Fenstern die Kinderwäsche selbst. Zu standesgemäßer Geselligkeit verpflichtet, gaben sie zwei langweilig-feierliche Soupers jährlich, fasteten vor- und nachher, um sie möglich zu machen, und bezahlten eine große Wohnung aus demselben Grunde. Wenn sie aber dann, schlank und vornehm im glatten Schneiderkleid an der Seite ihrer eleganten, säbelrasselnden Männer über die Straßen gingen, folgten ihnen neidische Blicke, denn das Volk hat die Naivität der Kinder, die sich den König nur in Purpur und Krone, den Bettler nur im durchlöcherten Kleide denken können.

Der aus diesem Neide geborene Groll gegen den Offizier – einem männlichen Gegenstück zu dem neidischen Haß, mit dem die meisten Frauen jede schön Gekleidete betrachten – war wohl noch nie so stark zutage getreten als damals, wo selbst der Kleinstädter, den sonst die Wellen geistiger Bewegungen kaum erreichten, [271] an den parlamentarischen Kämpfen um das Septennat lebhaften Anteil nahm.

Bromberg ist eine Industriestadt mit einer zum Teil polnischen Arbeiterbevölkerung. Was Uniform trug, vermied die Nähe der Fabriken. Als ich einmal mit meinem Vater spazieren ritt, flog über eine Mauer weg ein Hagel von kleinen Steinen unseren Pferden zwischen die Beine. Sie stiegen erschrocken und sausten dann in Karriere über die Landstraße, so daß mir Hut und Schleier davonflog und es ein Stück Arbeit kostete, sich im Sattel zu halten. Papa, der seinen Fuchs besser im Zügel hielt, war indessen vergebens den heimtückischen Angreifern auf der Spur gewesen; er konnte sich nicht fassen vor Wut, und ich hörte tagelang nichts anderes als sein maßloses Schimpfen auf diese »Satansbrut von Sozialdemokraten«. Niemand als sie waren die Attentäter gewesen, sie, die sich im Reichstag durch ihre Haltung gegenüber der Militärvorlage als Vaterlandsverräter dokumentiert hatten – sie, die nichts anders verdienten, als samt und sonders nach den Kolonien deportiert zu werden.

Die Kriegswolken ballten sich gewitterdrohend zusammen. Daß sie nur in der Phantasie Bismarcks lebten, als willkommenes Mittel, seine Forderungen durchzusetzen, – das glaubten wir hier, dicht an der russischen Grenze, nicht. Eine Tag um Tag steigende Erregung bemächtigte sich unser: die jungen Offiziere strahlten in der Erwartung, daß ihr Leben endlich zum Ereignis werden könnte; mein Vater, der die Schrecken des Krieges kannte, war bei allem Ernst, mit dem er die Situation betrachtete, doch in gehobener Stimmung. »Soldat sein und nur Krieg spielen und Rekruten drillen, ist dasselbe wie Künstler sein und nichts als Malstunden geben,« pflegte er zu sagen. In unserer nächsten Nähe an der Grenze standen die Kosaken, und Woche um Woche wurden die russischen Garnisonen verstärkt. Mein Vater reiste nach Berlin. Wenige Tage nach seiner Rückkehr wurden die Weisungen von dort unheildrohender. In aller Stille wurden [272] die Offiziere benachrichtigt, beizeiten für rasche Entfernung ihrer Familien zu sorgen; kam es zur Kriegserklärung, so konnten die russischen Reiter in wenigen Stunden mitten in Bromberg sein. Mein Vater, der im Kriegsfall zum Kommandanten der wichtigsten, weil der feindlichen Grenze am nächsten liegenden Festung Thorn bestimmt war, bereitete seine Equipierung bis in alle Einzelheiten vor, wir verpackten Silber und Schmuck, stellten die Koffer bereit; denn möglicherweise galt es, binnen wenigen Stunden die Stadt zu verlassen.

Da der Kriegslärm auch an der Westgrenze des Reichs immer lauter wurde, konnte darüber kein Zweifel sein: kam es zur Explosion dieses massenhaft angesammelten Zündstoffs, so war es ein Weltkrieg, an dessen Schwelle wir standen.

Bismarcks fulminante Rede, sein Appell an die Deutschen, die Gott fürchteten und sonst nichts in der Welt, – die Ablehnung des Septennats und die Auflösung des Reichstags steigerten die fieberhafte Erregung, in der wir alle lebten. Zum erstenmal verfolgte ich mit brennendem Interesse die Wahlkämpfe und begrüßte freudig den Sieg der Vaterlandsfreunde über die Sozialdemokraten, die uns wehrlos den Feinden hatten überliefern wollen.

Als aber dann der Kriegslärm so merkwürdig plötzlich verstummte und all das glühende Feuer patriotischer Begeisterung nur da zu sein schien, um die Gerichte gar zu kochen, die Bismarck dem Reichstag vorsetzte, war ich rasch ernüchtert.

»Droben auf der kurischen Nehrung gibt es unheimliche Berge von Sand. Sie wandern. Und immer wieder pflanzen die Menschen junge Bäumchen in den Boden, und so oft auch der gelbe Mörder über Nacht wieder kommt und das grünende Leben verschlingt, – sie hoffen stets aufs neue, daß die Wurzeln ihrer Pflänzlein die Erde umklammern und festigen werden. – Unser Zeitalter ist wie die Dünen auf der Nehrung: es duldet nichts [273] Grünes. Vernünftige Leute werden darum meine Dummheit verlachen, die mich zwingt, Hoffnungsbäume hineinzusetzen und sie noch dazu mit der Treibhausluft meiner Begeisterung zu umgeben ... Man will nivellieren, und es ist, als ob man nach dem Maßstab des kleinsten Baumes einen ganzen Wald zurechtstutzen wollte. Die alten Ideale hat man zerstört – schon das Wort ›ideal‹ entlockt den meisten ein mitleidiges Lächeln – und hüllt sich nur hinein, wie Schauspieler in die Toga der Gracchen, um dem Pöbel weis zu machen, man wäre ein echter Volkstribun.

Man jagt nach Bildung im Theater, in Ausstellungen, auf Reisen, in der Lektüre, nicht um Kopf, Herz und Seele zu weiten, sondern um seinen kritischen Witz vor den Leuten leuchten zu lassen. Man nahm uns Genußfähigkeit und gab uns Spottsucht dafür, wie man den Kindern aus ›Anstandsgefühl‹ Götterbilder verhüllt und ihnen die Trikotnacktheit des Balletts statt dessen zeigt. Und dabei verhungern wir im stillen nach dem, was die notwendigste Speise unseres inneren Menschen ist: nach geistigem Genuß, nach dem Glauben an ideale Güter. Noch schämen wir uns dieses Gefühls, noch haben wir nicht den Mut zu uns selbst, aber wenn ich auch in einem Käfig lebe, so spüre ich doch die Luft, die draußen weht, und mir ahnt in jenen lichtesten Momenten des Lebens, die die vernünftigen Leute phantastische Nachtstunden nennen, daß junge kräftige Bäume den Flugsand doch noch fesseln und ihre toten Brüder an ihm rächen werden.«

Dieser Brief trug mir eine lange Moralpredigt von der Empfängerin, meiner Cousine, ein; sie gehörte auch zu den ›vernünftigen‹ Leuten, und schon längst hatte unsere Korrespondenz den Charakter des Gedankenaustausches vollkommen eingebüßt. Daß ich jemanden hatte, dem gegenüber ich mich rückhaltlos aussprechen konnte, war aber für mich Grund genug, sie aufrecht zu erhalten. Auf meiner Reise nach Süddeutschland, die ich, der Einladung von Tante Klothilde folgend, schon im Mai des Jahres 1887 antrat, hielt ich mich in Magdeburg eine Woche [274] bei Mathilde auf. Ich wäre am liebsten schon nach dem ersten Tage abgereist: eine Häuslichkeit, wo die Armut in jedem Winkel zu hocken schien und einen stillen siegreichen Kampf mit der Vornehmheit kämpfte, die verschüchtert durch die Räume schlich; ein von des Lebens Not gezeichneter, in der muffigen Luft der Bureaus ständig mit seiner Sehnsucht nach der freien Natur ringender Vater, der mit verbissenem Haß alles verfolgte, was reich, was glücklich war; die Mutter, die trotz ihrer drei Kinder alle bösen Zeichen vergrämter Altjungfernschaft an sich trug; die Söhne, geistig verkümmert, durch die Schultyrannei um jeden Rest von Jugendfrohsinn gebracht; die Tochter, meine Freundin, blaß, müde, mit Mädchenfreundschaften, Gesangvereinen und Sonntagsschularbeit mühselig ihren Lebenshunger stillend, – daß es dergleichen gab, daß sich solch ein Dasein ertragen ließ!

In München traf ich meinen Vater. Wir reisten zusammen nach Augsburg, einem schweren Augenblick entgegen. Sein Bruder Arthur, mit dem er sich seit vielen Jahren, wegen seiner Heirat mit einer Tänzerin, überworfen hatte, war seit kurzem, nach dem Tode seiner Frau, zu seiner Schwester gezogen, und diese wünschte eine Versöhnung der Brüder. Mit jener Bereitwilligkeit, die mein sonst so starrköpfiger Vater seiner Schwester gegenüber stets an den Tag legte, hatte er sich ihrem Willen gefügt. Wie schwer es ihm wurde, merkte ich an seiner Aufregung. Es kam auch nur zu einer konventionellen Verkleisterung des Bruchs, einem höflichen Händedruck, einem taktvollen Nebeneinanderhergehen. Ich wäre über diesen von mir nicht erwarteten friedlichen Ausgang der Dinge sehr erfreut gewesen, wenn der Zorn über die Art, wie meine Tante meinen Vater behandelte, und wie er sich von ihr behandeln ließ, mich nicht immer wieder übermannt hätte. Wie an einem Schulbuben nörgelte sie den ganzen Tag an ihm herum, und schmeichelte in einem Atem dem anderen Bruder. Das Zivil meines Vaters mißfiel ihr – man sah ihm immer an, wie unbehaglich ihm [275] darin zumute war –, wie bewundernswert war dagegen Arthurs Eleganz! Sie spottete über seine zunehmende Körperfülle, – welch jugendliche Schlankheit hatte Arthur behalten! Sie verfügte rücksichtslos über seine Zeit, ordnete sich selbst dagegen immer den Wünschen Arthurs unter. Sie hatte ihr Haus seinetwegen auf den Kopf gestellt, ihre Möbel ausgeräumt, um den seinen Platz zu machen, und mit einem liebenswürdigen Egoismus, der ihren brutalen übertrumpfte, spielte er den Herrn im Hause. Hatte sich mein Vater den ganzen Tag ihren Launen gefügt, so hörte ich durch die Tür, wie er sich nachts stöhnend im Bett hin und her warf. Eines Morgens saß ich im Gartenpavillon, als er, anscheinend in heftigem Wortwechsel, mit der Tante draußen vorüberging. »Ich bin nicht dazu da, euren Aufwand zu bestreiten,« sagte sie, »es sollte dir wahrhaftig ausreichend sein, daß ich dich in deiner Tochter so bevorzuge.« – »Wenn ich mich nur darauf verlassen könnte,« stieß er hervor. »Ich breche mein Versprechen nicht – Gott soll mich vor der Sünde bewahren,« antwortete sie laut und fest. Sie gingen weiter. Nach geraumer Weile kehrten sie denselben Weg zurück. Die Tante hatte den Arm in den ihres Bruders gelegt. Sie sprachen friedlich, fast zärtlich miteinander. »So werd' ich einmal ruhig sterben können,« sagte mein Vater mit weicher Stimme, »bis übers Grab hinaus will ich dir dankbar sein, Klothilde!«

Milder und gefügiger als je war er in den folgenden letzten Tagen seines Augsburger Aufenthalts, er schien kaum zu merken, mit welch satanischer Freude sie die Situation ausnützte. Ich aber suchte ihm mit allen Mitteln der Liebe und Zärtlichkeit das Leben zu erleichtern, so daß er mich oft verwundert ansah und lächelnd sagte: »Ja, was ist denn das mit dir? So was hat dein alter Vater an seinem Töchterlein ja noch gar nicht erlebt?!« Meinem Onkel ging ich aus dem Wege, die Tante haßte ich fast.

Nach meines Vaters Heimkehr reiste ich mit ihnen nach [276] Tegernsee, wo die Tante auf Wunsch Onkel Arthurs, dem die Einsamkeit von Grainau unsympathisch war, eine Villa gemietet hatte. An meinem Geburtstag, der in die erste Woche unseres Aufenthalts fiel, nahm mich der Onkel beiseite und drückte mir heimlich ein Kuvert in die Hand. »Ich weiß, Hans braucht Geld,« sagte er beinahe schüchtern, »von mir nimmt er's nicht. Schick' ihm das – zur Verwahrung – als mein Geburtstagsgeschenk an dich.« Er wartete meinen Dank nicht ab; ich schickte noch in derselben Stunde die braunen Scheine nach Bromberg; das Eis zwischen mir und Onkel Arthur war gebrochen.

Wir wurden gute Kameraden. Die strenge Tante verwandelte sich unter seinem Einfluß zu einer mehr als nachsichtigen. Er erreichte alles, was mir Vergnügen machte, vorausgesetzt, daß es auch seinen Wünschen entsprach! Endlich durfte ich hoch in die Berge hinauf – zu dem jahrelangen Ziel meiner Sehnsucht! Er war ein ebenso leidenschaftlicher wie tollkühner Bergsteiger, der Führer und gebahnte Wege verschmähte. Auf dem Leonhardsstein, hinter Dorf Kreuth, der spitz und gerade wie ein Kirchturm gen Himmel steigt, mußte ich erst Probe klettern, ehe er mich überall hin mitnahm – auf die Berge der Gegend zuerst und dann weiter, immer weiter. Eine Sportausrüstung eigener Erfindung ließ er mir machen: kurze Hosen und Gamaschen – etwas Unerhörtes zu damaliger Zeit. Aber auch das ließ die Tante geschehen, sie sträubte sich nur im Namen des Anstands ein bißchen, als er den »Panzer« verbot. »Ich faß dich jedesmal um die Taille und laß dich unweigerlich sitzen, wenn du das Marterinstrument trägst,« sagte er, und ich fühlte mit Wonne die Freiheit starker Atemzüge.

Auf den Wallberg kletterten wir zuerst. Es gab damals nur einen Hirtensteg hinauf und droben nur eine kleine Hütte mit einfachem Heulager. Wir zündeten zum Zeichen unserer Ankunft auf der Spitze ein mächtiges Feuer an und sahen schweigsam zu, bis es verglühte und das Tal schwarz und dunkel unter [277] uns lag. Um so leuchtender strahlten jetzt die Sterne, und weiß und gespenstisch glänzten von fern im Mondlicht die Schneegipfel zu uns herüber. Mit einem tiefen, erlösenden Aufatmen breitete mein Begleiter die Arme aus. »Ich lebe!« flüsterte er. Wie weh mir der Jubel tat, der in seiner Stimme lag! – Ich vergaß seine Nähe, lehnte den Kopf an den Felsen und weinte – seit langer, langer Zeit zum erstenmal! Unten in der Hütte, in dem starken Heuduft fand ich keine Ruhe und saß die ganze Nacht auf der Altane, während die Geister der Vergangenheit aus der Tiefe zu mir aufstiegen, wie Nebel aus Fiebersümpfen. Die Felsengesichter schnitten mir höhnische Fratzen, und still und hoheitsvoll sahen weiße Riesenhäupter auf mich herab.

Mein Onkel war ein guter Reisekamerad, dessen Lebensfreudigkeit seine grauen Haare vergessen ließ, dabei voll rührender Sorgfalt um mich. Einmal saßen wir im Sonnenschein vor der Sennhütte zur schwarzen Tanne. Über dem offnen Feuer an einem primitiven Spieß briet er uns ein Hühnchen; »Frauenzimmer sind zu dumm dazu,« sagte er, und ich überließ ihm nur zu gern die Arbeit, um, an die braunen Balken der Hütte gelehnt, durch dunkelgrüne Tannenwipfel in die Sonne zu blinzeln. Nach dem Mahl, das die nie vergessene Flasche Moselwein würzte, streckte er sich mir zu Füßen ins Gras und pfiff eine Tanzweise träumerisch vor sich hin. »Komisch,« sagte ich halb zu mir selber, »du bist im Grunde ein Primaner oder bestenfalls ein Sekondeleutnant.« Er lachte. »Das bin ich auch; die Jahre, die zwischen damals und heute liegen, lebte ich nicht.«

»Aber ...« ich stockte.

»Sprich's ruhig aus: du hast mit dem Weib deiner Wahl gelebt! Niemand weiß bis heute, daß diese zwei Jahrzehnte die Hölle waren. Mein Stolz hieß mich schweigen. Ich wollte nicht, daß Mutter und Geschwister recht behielten. Endlich kam die Erlösung: sie starb – seit vielen Monden eine arme Irre, die nichts dafür konnte, daß sie mich quälte,« – ganz alt sah der[278] Onkel plötzlich aus, – dann sprang er auf, schüttelte sich wie ein nasser Jagdhund und fügte lächelnd hinzu: »die Liebe ist Humbug, weißt du, echt ist allein die Natur, die Kunst, die Wissenschaft. Ich freue mich auf das Leben wie ein Student!«

Unsere Ruhetage in Tegernsee waren beinahe anstrengender als unsere Wanderungen. Von früh bis spät wimmelte es von Gästen; wenn der Onkel irgendwo jemanden traf, der ihm interessant zu sein schien, so lud er ihn ein, ohne nach Nam' und Art viel zu fragen. Es war eine bunte Gesellschaft, die sich auf die Weise bei uns zusammenfand, denn Tegernsee selbst schien eine Art neutraler Boden zu sein, wo die heterogensten Elemente ihre Neugier nach einander befriedigen konnten. Da gab es Prinzen echter einheimischer und zweifelhafter exotischer Art; Finanzgrößen dunkelster Herkunft; alte Diplomaten, die bei irgendeinem Hofskandal Schiffbruch gelitten hatten; französische Marquisen, deren Emailleur alle vier Wochen aus Paris kam, um ihrem Antlitz die bezaubernde Frische zu verleihen, mit der sie so siegessicher auf Eroberungen ausgingen; deutsche Gräfinnen, deren graziöse Pirouetten noch vor kurzem die Balletthabitués der Großstädte entzückt hatten; und um die Galerie moderner Typen der ›guten‹ Gesellschaft voll zu machen, fehlte es nicht an österreichischen Erzherzogen, sogar nicht an einem König – wenn es auch nur einer a. D. war, der von Neapel – einem alten Roué, und seiner wunderschönen extravaganten Königin. Dazwischen bewegte sich das Künstlervolk – ein wenig geniert die einen, ängstlich bestrebt, es den Vornehmen möglichst gleich zu tun, die anderen, Menschen von genialer Ungebundenheit unter ihnen, und ein paar Auserwählte mit jener seltenen angeborenen Größe, die sich überall mit gleicher Selbstverständlichkeit zu bewegen vermag. Von mancher schönen österreichischen Komteß flüsterte man sich zu, daß sie an der Entstehung Makartscher Frauengestalten nicht unbeteiligt gewesen war, und noch heut ließ sie es gern geschehen, wenn die Maler sich an ihr begeisterten; [279] ein Hauch von Romantik, der die Dichter unweigerlich anzog, umschwebte den rotblonden Kopf einer graziösen Baronin, von deren Beziehungen zum Kronprinzen von Österreich Frau Fama vernehmlich flüsterte. All das flirtete und rauschte in knisternder Seide und weichem Spitzengeriesel am hellen Strand des blauen Tegernsees, wo vor Jahrhunderten in klösterlicher Einsamkeit der fromme Mönch Werinher der allerseligsten Jungfrau süße Weisen gesungen hatte, oder stieg in kokettem Jagdkostüm auf bequemen Wegen zu den Sennhütten hinauf, deren Gäste noch vor kurzem nur Dirndeln, Jäger und Wilddiebe gewesen waren. Am späten Nachmittag rollten die Equipagen ins Kreuther Tal, wo hoch oben, von Bergen eng umschlossen, auf grünem Plateau die Kurmusik des Bades so komisch quiekte und wimmerte. Man stieg dort aus, ließ seine Toiletten bewundern, trank seinen Kaffee mit österreichischer Betonung und von österreichischer Güte und ging an dem Springbrunnen vorbei hinunter zu den sieben Hütten, wo die Burschen in Kniehosen und Wadenstrümpfen, die Madeln im Silbergeschnür und weitbauschendem kurzem Gewand sich im Tanze drehten. Wenn die Dämmerung kam und lustige bunte Lampions sich wie leuchtende Girlanden von Hütte zu Hütte zogen, dann änderte sich das Bild: weiße Schleppen wirbelten zwischen den bunten Röcken, und Lackschuhe glitten zwischen den Nagelstiefeln. Droben auf der Hohensteinalp die blonde Sennerin und in der Langenau die schwarze Liese wußten zu sagen, warum manch vornehmer Herr den Weg nicht nach Hause fand – ach, und kleinwinzige Buberln gab's im Tal und Mäderln, vaterlose, mit feinen Fingern und schlanken Gliedern, gar wunderseltsam anzuschauen!

Wo sich im Kreuther Tal die Wege kreuzen, der eine zum Bad, der andere nach dem Achensee führt, lag in einem weiten schattigen Park ein Haus, nicht viel anders als das eines reichen Bauern, mit Galerien ringsum und buntbemalten Läden. Auf den grünen Rasenflächen davor, auf den Spielplätzen zu beiden[280] Seiten herrschte alltäglich ein frohes Leben und Treiben. Der Gastfreundschaft schienen keine Grenzen gesteckt, zu jeder Tageszeit ward man freudig begrüßt und reichlich bewirtet. Mich lockte dies Haus schon lange; die ersten Künstler, das wußte ich, gingen dort aus und ein. Aber meine Tante rümpfte die Nase, wenn ich seiner Erwähnung tat, und mit tadelndem Kopfschütteln wurden diejenigen aus unsern Kreisen betrachtet, die den Bann gebrochen hatten und sich's wohl sein ließen in Schwarzeck. Ein Baron Goldberger, ein Wiener Bankier, war der Besitzer, und sein Aussehen verriet seine Rasse noch mehr als sein Name, so daß sich ihm gegenüber jener ästhetische Antisemitismus geltend machte, den auch Vorurteilslose oft nicht abstreifen können. Der Magnet des Hauses waren seine vier Töchter, von denen eine immer hübscher war als die andere. Nachdem uns zu Ohren kam, daß selbst der Herzog Karl Theodor bei ihnen verkehrte, überwand Onkel Arthur den Widerstand der Tante, und eines Nachmittags fuhren wir hin, um unsere Antrittsvisite zu machen. Schon diese ersten Stunden inmitten eines Kreises von Münchner Künstlern und Schriftstellern öffneten mir Ausblicke in eine neue Welt: Fragen des Lebens und der Kunst wurden mit so rückhaltloser Offenheit besprochen, daß ich es zunächst fast peinlich empfand und, ungewohnt, mich unter Fremden auszusprechen, außerstande war, mich daran zu beteiligen. Um so aufmerksamer hörte ich zu: war dies ein Abglanz der Welt, die ich suchte, ein Teil jener Menschheit, die, von neuen Idealen erfüllt, auszog, um sie zu erobern?!

Ich wurde einer der häufigsten Gäste in Schwarzeck. Ich trotzte selbst dem Befehl der Tante, die mich glaubte zurückhalten zu können, wenn sie für mich nicht anspannen ließ, und fuhr mit der Post, oder ging zu Fuß.

Eines Nachmittags fand ich die Tee-Gesellschaft in heftigster Debatte begriffen. Irgendein Artikel aus M. G. Conrads »Gesellschaft« schien der Anlaß gewesen zu sein. Ich erinnerte [281] mich dunkel, von dieser »sittenlosen«, »die Sicherheit von Staat und Kirche untergrabenden« Zeitschrift in unserer konservativen, norddeutschen Presse – der einzigen, die ich zu Gesicht bekam – zuweilen gelesen zu haben.

»Und ich sage Ihnen, daß er recht hat – tausendmal recht,« rief ein junger blonder Dichter, das gelbe Heft wie eine Fahne schwingend, »Wahrheit, hüllenlose Wahrheit ist die Muse der kommenden Dichtung. Nur indem wir sie ohne Rücksicht auf hyperästhetische Altjungfernnerven, auch in ihrer Häßlichkeit, auch mit ihren Schwären und Wunden vor die Menschheit hinstellen, schaffen wir Kunstwerke, Kulturwerte.«

»Ernst ist das Leben, heiter sei die Kunst,« warf ein Maler Pilotyscher Richtung ein, »sie soll uns erheben, uns auf Momente wenigstens über das Elend des Daseins hinweghelfen –«

»Hinwegtäuschen, sagen Sie lieber,« mischte sich die junge Frau eines Münchener Redakteurs ins Gespräch, die, wie man munkelte, unter anderem Namen Geschichten schrieb, die junge Mädchen nicht lesen durften, »sie soll den großen Kindern Märchen erzählen, statt sie zu lehren, mit der brutalen Wahrheit des Lebens fertig zu werden.«

»Wenn das ihre Aufgabe sein soll,« entgegnete der Maler, »dann werden wir glücklich dahin gelangen, Operationssäle und Wochenstuben auf der Bühne zu sehen. Mit dem Irrenhaus hat ja Ibsen schon den Anfang gemacht.«

Der Name wirkte vollends wie Sprengstoff. Seit dem letzten Winter, wo der Herzog von Meiningen den unerhörten Schritt gewagt hatte, die »Gespenster« auf seine Bühne zu bringen, wo Berlin dem Beispiel gefolgt war und ein Kreis junger Heißsporne den Dichter auf den Schild erhob, las und hörte ich oft von ihm, als von einem halb Verrückten, einem, der mit Wollust im Schmutze wühle. Ihn kennen zu lernen, hatte ich gar kein Verlangen getragen, denn auf der Suche nach neuen Idealen konnte er unmöglich ein Wegweiser sein.

[282] »Ibsen ist größer als Zola,« übertönte eine rauhe Männer, stimme wie ein ferner Lawinensturz die Durcheinanderredenden- »Zola ist der Zustandsschilderer par excellence, Ibsen aber legt die kritische Sonde an die tiefsten Übel der Gesellschaft. Wenn Sie sich hier so aufregen, meine Herrschaften, so zeigt das nur, daß es auch bei Ihnen einen solchen Punkt gibt, bei dessen Berührung Sie schmerzhaft zusammenzucken. Daß wir vor lauter Moral, vor lauter Pflichten, kurz vor all den großen und kleinen Stricken und Ketten, die uns formen und einschnüren, unser Ich verloren haben und als Phantome toter Traditionen herumlaufen, statt als lebendige Menschen, – das ist es, was jeden trifft und was Ibsen zeigt. Neugierig bin ich nur, ob diese Erkenntnis uns schließlich zu Kettenbrechern machen wird, oder ob irgendwelche vorsorglichen Menschheitswärter nicht schon mit neuen Zwangsjacken bereitstehen –«

Das allgemeine Gespräch verlief sich allmählich in die Rinnsale der Einzelunterhaltung und versickerte schließlich im Sande der Alltagsfragen. Während die anderen sich im Park zerstreuten, sprach ich den mit der rauhen Stimme an, einen echten vierschrötigen Bajuvaren. »Können Sie mir die Werke Ibsens nennen, die bisher in deutscher Sprache erschienen sind?« Er musterte mich augenblinzelnd.

»Hm« – machte er – »ob's der gnädigen Frau Tante auch recht sein wird?!«

»Darauf dürfte es kaum ankommen, da ich sie lesen will,« entgegnete ich scharf, geärgert über die spöttische Art seiner Antwort. Er lachte dröhnend.

»Wir haben ja, scheint's, auch so'n Tropfen Rebellenblut in den Adern!« Mit großen, ungefügen Buchstaben schrieb er mir die Titel der Bücher auf eine Ecke Zeitungspapier, zerdrückte mir mit seiner Riesenfaust fast die Hand, die ich ihm dankbar gereicht hatte, und stapfte zum Parktor hinaus.

»Wer war das?« frug ich eine der Töchter.

[283] »Ach – der! Den hat der Doktor neulich mal mitgebracht. Wie er heißt, habe ich nicht verstanden. Ein ungehobelter Gesell, nicht wahr?«

Ich nickte zerstreut. Noch auf dem Rückweg gab ich eine Karte an eine Münchener Buchhandlung auf und sah von nun an jedem Postboten erwartungsvoll entgegen, heftige Kopfschmerzen als Vorwand meines ungewohnten häuslichen Lebens vorschützend.

Und endlich kamen die Bücher! Ich las sie nicht – ich trank sie, wie ein Durstender in der Wüste das frische Wasser. Nicht das Kunstwerk genoß ich in ihnen, und nichts sah ich von den handelnden Menschen; mir war vielmehr, als hätte ich lange im Dunkeln erwartungsvoll vor einem dichten Vorhang gestanden, den plötzlich ein Sturmwind auseinanderriß, um mir den blendenden, kristallhellen Spiegel dahinter zu enthüllen, der scharf und klar mein eigenes Bild zurückwarf, und das der Vielen um mich her.

Worte las ich, die mich trafen wie Offenbarungen: von den wenigen Menschen, die auf Vorposten stehen und für die Wahrheiten kämpfen, die noch zu neugeboren sind, als daß sie die Mehrheit für sich haben könnten. Und Tradition und Konvention sah ich ihrer bunten Gewänder entkleidet als nackte Lügen vor mir, und mit einem einzigen Blick erkannte ich des Weibes Puppendasein. Lebte ich nicht auch davon, daß ich den anderen Kunststücke vormachte?! »Ich habe Pflichten, die ebenso heilig sind – Pflichten gegen mich selbst –;« »ich muß nachdenken, ob das, was mir gelehrt wurde, richtig ist, oder vielmehr, ob es für mich richtig ist –« sagte Nora, und verließ das Puppenheim, um sich selbst zu finden. »Irgendwie und wann werde ich handeln müssen, wie Nora,« heißt es in meinem Tagebuch von Sommer 1887, »viele Fesseln – feine, die ich kaum fühlte, und grobe, die sich mir ins Fleisch schnitten – umschnüren mich von klein an. Aber ich erkenne jetzt, daß ich jedes Jahr einige davon abstreifte. Sollte ich nicht auch mit den letzten fertig [284] werden?« Und an meine Cousine, die mir über meine Ibsenbegeisterung erschrockene Vorhaltungen machte, schrieb ich: »Wer, wie Ibsen, den Mut hat, das Schwache, das Schlechte, das geistig Tote niederzureißen, der ist kein Pessimist, wie die Leute ihn schelten, die zu feige und zu bequem sind, um die Augen zu öffnen. Nur der lebensstarke Glaube an eine Zukunft, für deren helle Tempel Platz geschaffen werden muß, gibt die Riesenkraft zu solchem Werk der Zerstörung ... Du warnst mich vor ›unüberlegten Handlungen‹; daraus sehe ich, wie wenig du mich verstehst. Denn gerade damit hat es ein Ende. Das Spiel ist aus. Auch ich muß die Aufgabe lösen, mich selbst zu erziehen, ehe ich irgendwo Hand anlegen kann, wo es für mich etwas zu tun gibt.«

Der Schnee lag schon bis zum Tal hinunter, als ich mich zur Heimkehr rüstete. Beim Abschied hielt der Onkel meine Hand lange in der seinen. »Schade, daß du den Bergen untreu wurdest,« sagte er.

Langsam kroch der Zug von Gmund aus den Abhang in die Höhe. Tief unten lächelte der See mit seinem großen Vergißmeinnichtauge; freundliche rote Dächer und spitze Kirchtürme grüßten von seinen Ufern, und hinter ihm bauten sich Ketten um Ketten weißglänzender Firnen auf. Nein, ich war den Bergen nicht untreu geworden, und Höhenluft war's, die ich mit mir nahm.

[285]
12. Kapitel
Zwölftes Kapitel

Ein Aufenthalt in Berlin galt mir immer als ein Gipfel des Vergnügens, besonders wenn Onkel Walter der Führer war. Niemand wußte wie er, in welchen Theatern man am meisten lacht, in welchem Zirkus am schneidigsten geritten wird, und wo man am besten ißt und trinkt. Die acht Tage, die ich diesmal auf der Durchreise nach Bromberg bei ihm verbrachte, waren aber mehr eine Qual als ein Genuß für mich, obwohl wir vor lauter »Amüsement« gar nicht zu Atem kamen und meine lustige Tante sich über meine »blasierte Miene«, mit der ich wohl »die neueste Mode mitmachte«, nicht genug mokieren konnte. Wir waren bei Kroll im »Mikado«, in der Friedrich-Wilhelmstadt und bei Renz, wir saßen auf der Estrade im Wintergarten, soupierten bei Hiller und im Kaiserhof, immer in derselben Gesellschaft von Gardeleutnants und konservativen Parlamentariern, aber von dem modernen künstlerischen und literarischen Leben, dem mein ganzes Interesse galt, war nur insofern etwas zu spüren, als die einen es verhöhnten, die anderen nach dem Staatsanwalt schrien und der Rest heimlich und voll zynischer Lüsternheit mit ihm liebäugelte, wie ein alter Roué mit der Straßendirne. Familien-, Hof- und politischer Klatsch stand im übrigen im Mittelpunkt der Unterhaltung, und dem Ärger und der Verstimmung gab man, wie gewöhnlich, wenn man unter sich war, den kräftigsten Ausdruck. Des armen kranken Kronprinzen wurde kaum mit einem Wort des Mitleids gedacht, die Empörung über den Einfluß der Kronprinzessin, über die von [286] ihr eingefädelte Battenberg-Affäre, deren Schlußeffekt der Sturz Bismarcks hätte sein sollen, über die ganze allmählich zu Macht und Ansehen gelangende Kronprinzenpartei, die aus Juden und Judengenossen zusammengesetzt sei, war viel zu groß.

Die von Bismarck kopulierte unnatürliche Ehe zwischen dem Nationalliberalismus und den Konservativen wurde hier, wo man sich keinerlei Zwang aufzuerlegen brauchte, drastisch genug beleuchtet.

»Hab' ich's nicht immer gesagt,« rief bei einer solchen Unterhaltung eines der ältesten Mitglieder des Herrenhauses, der Typus eines echten Feudalherrn vom guten Schlag, »daß wir uns nicht stärker blamieren konnten, als durch diese Liierung mit den Industrierittern. Nichts, gar nichts Gemeinsames haben wir mit den Kerlen. Und 'ne Ehe gibt's, wie die der Bienenkönigin, die ihre werten Gatten töten läßt, wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben. Ist irgendeiner unter uns so dämlich, uns für – die Königin zu halten?!«

»Na, hören Sie mal, lieber Graf, Sie werden doch nicht behaupten wollen –« unterbrach ihn mein Onkel.

»Gewiß behaupte ich –,« polterte der alte Herr, »laßt mal erst das Gesindel hoffähig werden – ein ›von‹ und ein ›Baron‹ ist heut schon eine Spielerei für den, ders Geld hat –, dann wird's bei uns wie in England und in Frankreich: unsere Jungens reißen sich um ihre Mädels, und von dem ganzen guten preußischen Adel bleibt nichts übrig als der Name.«

»Nur daß die Voraussetzung für Ihre Folgerungen fehlen wird: der Kronprinz wird kaum zur Regierung kommen, und mit seinem Tod haben die Ambitionen der Herren Liberalen ihr Ende erreicht.«

Der Graf lachte und klopfte Onkel Walter freundschaftlich auf die Schulter: »Sie sind ein guter Kerl, Golzow, aber das Pulvererfinden ist Ihre Sache nicht! Oder glauben Sie vielleicht, unter dem jungen Herrn würde die Geschichte erheblich [287] anders werden?! Der ist heute konservativ – aus Opposition, natürlich! Er bleibt's vielleicht auch – dem Namen nach. Aber ist er erst mal am Ruder, wird er auch mit gegebenen Größen rechnen müssen. Ich werd's ja, Gott Lob, nicht erleben, aber Sie, meine Herren, werden in zwanzig Jahren mal dem alten Lehnsburg recht geben, wenn er Ihnen heute sagt: bis dahin sind wir amerikanisiert, und nicht die Ehre, nicht der reinliche Stammbaum bestimmen mehr den Wert des Mannes, sondern das gute Geschäft.«

»Es würde uns heute schon nichts schaden, wenn wir geschäftskundiger wären,« mischte sich Baron Minckwitz ins Gespräch der wegen seiner Teilnahme an allerlei industriellen Unternehmungen schon etwas anrüchig war, »man muß mit den Wölfen heulen, will man nicht zugrunde gehen.«

Graf Lehnsburg hieb mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten. »Ich gehe lieber zugrunde!« brüllte er. Ein peinliches Schweigen entstand. Mir gefiel die unverfälschte Echtheit des Alten. Er schien mir's an den Augen abzusehen, und reichte mir über den Tisch hinweg die Hand.

»Verzeihung, mein gnädigstes Fräulein,« sagte er lächelnd, »ich bin wirklich ein alter Mummelgreis, daß ich in Anwesenheit junger Damen so ein Zeug schwätze! Übrigens – ich will's gleich wieder gut machen – richten Sie Ihrem Herrn Vater mein Kompliment aus. Ich traf ihn vor vier Wochen in Stettin bei Ihrer Majestät, er lief mir aber davon, ehe ich ihm selber sagen konnte, wie glänzend seine Führung im Manöver war. In der Umgebung Seiner Majestät herrschte nur eine Stimme darüber.«

Ich hatte bis dahin vom pommerschen Kaisermanöver, bei dem mein Vater das Ostkorps, den »markierten Feind«, zu kommandieren gehabt hatte, nur wenig gehört. »Der Kaiser war außerordentlich gnädig,« hatte er mir geschrieben, »die Ernennung zum Divisionskommandeur kann jeden Tag erfolgen,« [288] hatte Mama hinzugefügt. Ich freute mich nun doppelt, Näheres zu erfahren. »Sie wünschen am Ende eine Kriegsberichterstattung mit allen Schikanen?« frug Graf Lehnsburg und baute aus Brotkrümeln und Papierschnitzeln ein ganzes Schlachtfeld auf, ohne erst meine Antwort abzuwarten.

»Sehen Sie, hier der Teller, das ist Stettin; die Papierschnitzel davor, das ist das Dorf Brunn, und hier die Semmeln, das sind die Höhen, die der General von Kleve bereits im ersten Morgengrauen des 14. September besetzt hielt. Er gehört noch zu der alten Sorte, wissen Sie, die von Anno 70 her weiß, daß der, der am frühsten aufsteht, dem Siege am nächsten ist. Dort drüben von der Ostsee her – der Rotweinklexs reicht gerade für den Tümpel – kommt das feindliche Korps auf Stettin zu marschiert, das es, nach dem Ratschluß der obersten Götter, erobern soll. Der Kleve war ja eigentlich nur dazu da, um totgeschossen zu werden und den Ruhm des Gegners zu erhöhen. Natürlich war dieser Gegner – wie das die Götter mit ihren Lieblingen so zu machen pflegen – noch mal so stark als er und hatte überdies in seiner Mitte so was wie einen Schutzheiligen, der, wenn alle Stricke reißen, immer noch seine Gläubigen heraushaut.« Er legte dabei ein dickes Stück Schwarzbrot in die Mitte der feindlichen Papierschnitzel. Die Anwesenden horchten auf, lachten und rückten näher zusammen. »Nun war aber ein Hundewetter an dem Tag, es regnete Bauernjungens, darum entdeckte das Westkorps den General, der schon eine ganze Weile mit allem nötigen Klimbim auf seinen sieben Hügeln thronte, erst nach einigem unruhigen Hin- und Herfackeln. Nachdem es die Situation glücklich erfaßt hatte, ging es marsch, marsch im Sturm voran. Prinz Wilhelm – der Schutzheilige, wissen Sie! – führte dabei das Pommersche Grenadierregiment, und ich glaube, jeder einzelne Kerl darin hatte schon nach dem Kopf gegriffen, der bekanntlich den Lorbeer zu tragen bestimmt ist, als er morgens in die Stiebeln kroch. Aber Ihr Herr Vater hält [289] offenbar nichts von Heiligen, – er ist ein ausgemachter Ketzer, für den schon irgendwo die Dienstbeflissenen den Scheiterhaufen zusammentragen, – er empfing den Feind mit einem mörderischen Feuer, und was von ihm nicht am Platze blieb, das hätte er, weiß Gott, noch gefangen genommen, wenn nicht ein weiser Hoherpriester ihm beizeiten davon abgeraten hätte. Der hat freilich zum Dank dafür ein paar faustdicke Grobheiten einstecken müssen! Es gab dann noch eine formidable Reiterattacke – ein théâtre paré für die Fremden! –, wobei ein paar tausend arme Gäule sich einbilden sollten, das Vaterland retten zu müssen; aber auch die Vierfüßler im Ostkorps zeigen sich als die stärkeren. Ein schauerliches Abschlachten wär's im Ernstfall gewesen. Sie sehen, Stettin konnte ruhig sein, – und der alte Herr hat in der Kritik den General von Kleve über den grünen Klee gelobt. Trotzdem war's eine hanebüchene Dummheit, wie sie den Tapfersten immer zustößt, daß er – hm! – daß er den – den Schutzheiligen nicht besser respektierte.«

Mein Onkel, der schon die ganze Zeit ungeduldig mit den Fingern auf der Stuhllehne getrommelt hatte, schien für den Humor der Sache keinen Sinn zu haben. »Schon Wochen vorher habe ich meinen Schwager gewarnt;« sagte er, »wer den Prinzen kennt, weiß, daß er alles kann, nur nicht vergessen.«

Angriffe auf meinen Vater konnte ich nie vertragen. Mir stieg auch jetzt das Blut zu Kopf, und meine Verteidigung fiel heftiger aus, als es nötig gewesen wäre.

»Ich finde, eine Rücksicht, wie du sie verlangtest, wäre eine Pflichtverletzung gewesen. Wenn der Prinz, der noch nie eine Kugel hat pfeifen hören, mit lauter servilen Leuten zu tun bekäme, so würde es Deutschland mal büßen müssen.«

»Bravo!« sagte Graf Lehnsburg. »Großspuriges Geschwätz!« brummte der Onkel.

Am frühen Morgen des nächsten Tages kam ein Telegramm: »Division in Münster.« Mit beiden Füßen zugleich sprang ich [290] aus dem Bett. Westfalen: Das nordische Rom – die Wiedertäufer – Annette Droste – der Westfälische Friede – die Hermannsschlacht, – es war eine verwirrende Vielheit bunter Bilder, die bei diesem Namen vor mir aufstiegen. Ich fuhr noch am Nachmittag nach Bromberg. Merkwürdig ernst empfing mich mein Vater. Kaum daß ich eine Frage an ihn zu richten wagte. Und auch zu Hause blieb er still, während mein Schwesterchen voll Freude über den Wechsel im Zimmer umhersprang und Mama die nächsten Pläne erwog. Erst spät am Abend, als er seine gewohnte Patience gelegt hatte und sich befriedigt, weil sie mit Mamas Hilfe richtig aufgegangen war, in den Stuhl zurücklehnte, fing er an, sich über die Zukunft auszusprechen. Wir orientierten uns mit Hilfe der Rangliste über die Verhältnisse seiner Division; bis nach Aachen und Paderborn dehnte sie sich aus; lauter Städte voll historischer Bedeutung gehörten zu ihren Garnisonen. In Münster erwartete uns eine geräumige Dienstwohnung, eine glänzende Geselligkeit; der Kommandierende war meinem Vater als liebenswürdiger Vorgesetzter bekannt.

»Und trotzdem –?« Ich stockte vor dem finsteren Blick, der mich traf. Gleich darauf lächelte er ein wenig gezwungen und strich sich halb nachdenklich, halb verlegen den Bart. »Ihr merkt eben nichts, gar nichts,« sagte er, »mit der Nase muß man euch darauf stoßen;« damit wies er mit dem Finger in die Rangliste: »Die 13. Division« stand dort, fett gedruckt. Die 13 aber war rot unterstrichen.

Mein Vater verließ die Gesellschaft, wenn dreizehn bei Tische waren, er drehte um, wenn eine Katze ihm über den Weg lief, und machte drei Kreuze, wenn ihm beim Morgenritt als Erste ein altes Weib begegnete. Ich lächelte leise und drückte schmeichelnd meine Wange an die seine. »Den Spuk werden wir bannen, Papachen – auf immer.«

»Glaubst du?!« meinte er zweifelnd und starrte mit großen Augen an mir vorbei ins Leere.

[291] Wir blieben nur noch wenige Tage. Der alte Packer aus Berlin, der jedes Stück unserer Einrichtung kannte und seine Kisten stets so wiederfand, wie er sie beim letzten Umzug verlassen hatte, pflegte uns, wenn er kam, ebenso entschieden wie freundlich hinaus zu komplimentieren. »For ne Exzellenz is der Dreck nu jar nischt,« sagte er diesmal, als er mit seinem Zeitungspaket unter dem Arme eintrat. In Berlin hielten wir uns noch auf der Durchreise auf. Während Papa sich meldete, machten wir Besorgungen. Die Größe der künftigen Wohnung hatte eine erhebliche Vermehrung unserer Einrichtung notwendig erscheinen lassen, und die alten Möbel waren schon lange eines neuen Gewandes bedürftig. Auch an Toiletten für den nächsten Karneval fehlte es uns. Unter dem Eindruck, nun nicht mehr mit jedem Groschen rechnen, nicht mehr an allen verlockenden Auslagen als bloße Zuschauerin vorbeigehen zu müssen, verjüngte sich meine Mutter förmlich; ich entdeckte zum erstenmal und nicht ohne Beschämung, daß sie mit ihren dreiundvierzig Jahren noch immer eine schöne Frau war, und eine Ahnung davon durchzuckte mich, daß sie im Grunde ein ärmliches Leben geführt hatte und noch Ansprüche daran zu stellen berechtigt war.


Es war ein Spätherbstabend, als wir uns Münster näherten; ein Wald von Türmen stand schwarz am dunkelvioletten Himmel. Durch dämmernde Straßen, über die nur hie und da graue Gestalten huschten, erreichten wir den Gasthof mit seiner gewölbten Eingangshalle und den von jahrhundertelangen Tritten ausgehöhlten Steinstufen der Treppe.

Früh am Morgen weckte mich ein tiefer Ton, wie fernes Donnerrollen; allmählich schwoll er stärker und stärker an, und ein Chor heller Stimmen mischte sich hinein: die Glocken Münsters, die zur Frühmesse riefen. Noch lange, nachdem sie verhallt waren, schien die ganze Luft in geheimnisvoll klingende Schwingung versetzt.

[292] Ich lugte neugierig zum schmalen Erkerfenster hinaus. Eine breite Straße sah ich, eingefaßt von hochgegiebelten Häusern mit reichen Zieraten, Erkern, Blätterwerk und Zinkenkronen; jedes in sich abgeschlossen, die Trennung vom Nachbarn durch die ragende Spitze betonend; unten aber verbanden gewölbte Arkaden, deren breite Bogen auf trutzig-kräftigen Pfeilern ruhten, alle Gebäude miteinander. Mir war, als sei mir durch einen Blick der tiefe Sinn alten deutschen Bürgertums aufgegangen: wie es auf breitem Boden der Gemeinsamkeit und des gegenseitigen Schutzes festbegründet ruhte und die Einheit und Selbständigkeit der Familie klar und scharf sich daraus emporhob. Wie reich war doch jenes viel gelästerte »finstere« Mittelalter gewesen, das für Inhalt und Bedeutung des Lebens so wundervoll-harmonische Ausdrucksformen fand!

Eine Kirche, über die der ganze glaubensselige Reichtum der Gotik ausgegossen schien, schloß mit schlankem Turm, durch dessen Maßwerk hoch oben des Himmels lichte Bläue strahlte, und kraftvoll aufwärts wachsenden Strebepfeilern die Straße gen Norden ab. Mußten sich nun nicht rings die Tore öffnen, um fromme Beter zur Frühmesse zu entlassen – Frauen in langen, reichen Gewändern, mit perlengestickten Gürteln, das Haupt züchtig umhüllt, das Gebetbuch mit kunstvoll-geschmiedeter Silberschließe in den Händen, – Männer mit bunten geschlitzten Wämsen und der nickenden Feder auf dem Barett? Ich wartete vergebens. Nur ein paar Weiber in jenen tonlosen Kleidern, die das Ende des neunzehnten Jahrhunderts, passend zum monotonen Stil seiner Kasernenstädte, erfunden hat, verschwanden hinter den Kirchentüren. Schon wollte ich mich, unmutig über den zerstörten Zauber, zurück ins Zimmer wenden, als mein Blick noch einmal gefesselt ward: aus der engen Gasse gegenüber wand sich lautlos ein Zug grauer Nonnen; die Zipfel ihrer Hauben wehten im Morgenwind, eng aneinander gedrückt, bewegten sie sich unhörbaren Schrittes vorwärts – eine Kette [293] verflogener Nachtvögel, die lichtscheu über den Boden strich, bis das dunkle Kirchentor jenseits sie verschlang. Und einsam wie vorher lag nun die Straße.

Unser erster Gang an demselben Morgen galt unserem künftigen Heim: dem ehemaligen Kloster der Augustinerinnen, das fast vierhundert Jahre lang dem strengen Orden der büßenden Nonnen gehört hatte, ehe es der pietätlosen, säbelrasselnden Preußenpolitik zum Opfer fiel. Vor dem langgestreckten grauen Haus mit seinen dicken Mauern und kleinen Fenstern stand hinter ein paar mächtigen Linden halb versteckt die uralte dunkle Servatiikirche, die hohen Gartenmauern des Erbdrostenhofes – eines jener zahlreichen prunkvollen Stadtschlösser westfälischer Adelsgeschlechter – umschlossen hinter ihr den engen Platz. Nur zögernd betrat ich den breiten, fliesengedeckten Flur unseres Hauses; die laute erklärende Stimme des Intendanturbeamten, der uns führte, machte mir denselben schmerzhaften Eindruck wie die Stimmen all jener Kirchen-, Galerie- und Schloßdiener, die eigens dazu berufen zu sein scheinen, den Besucher vor der Tiefe irgendeines Erlebens zu bewahren. Ich ließ ihn vorangehen und blieb allein. Es war ein heller Herbsttag draußen, die Sonne überflutete das große Treppenhaus, aber in die Zimmer hinein drang sie nicht; hier wehte jene schwere kühle Luft der Grüfte, die nie ein Sonnenstrahl berührt. Alle Wohnräume lagen nach Norden – kein warmer Gruß lockenden Lebens durfte die Nonnen berühren, deren Zellen hier gewesen waren. Eine davon mochte wohl den frömmsten zur Wohnung gedient haben: auf einen winzigen Hof sah sie hinaus; gerade gegenüber, zum Greifen nah, fiel der Blick auf das hohe gotische Fenster der Klosterkapelle, aus dessen zerbrochenem Glasgemälde die schmerzverzerrten Züge eines heiligen Märtyrers noch zu erkennen waren. »Hier ist der Zugang zur Kapelle vermauert,« hatte ich von ferne den Beamten sagen hören; »die Leute erzählen sich noch immer, daß die Nonnen nächtlicherweile hier [294] umgehen und klagend an den Wänden kratzen, weil ihnen der Weg versperrt wurde.«

Unten im Garten trafen wir uns wieder. Das Wahrzeichen Münsters – die Linde – schmückte auch ihn, aber jetzt, da sie kahl war, verstärkte sie nur den Ein druck lebloser Stille, den die Mauern ringsum hervorriefen: die der Kürassierkaserne auf der einen, die des Proviantmagazins, in das ein Flügel des Klosters umgewandelt worden war, auf der anderen Seite.

»Hier war der Kirchhof des Klosters,« sagte unser Führer. »Als vor ein paar Jahren Exzellenz Melchior durch das Tor dort hereinfuhr, senkte sich der Boden, und die Räder wühlten vermorschte Särge auf.« – »Eine gemütliche Dienstwohnung, – das muß ich sagen,« versuchte mein Vater zu scherzen. Ich fühlte, daß es auch ihm schwer wie ein Alb auf der Seele lag. »Mir gefällt sie ausnehmend,« sagte meine Mutter lächelnd, »die armen Toten schrecken mich nicht, und die Wohnung ist prachtvoll.«

Die Handwerker brachten von nun an Lärm und Leben hinein. Wir blieben noch ein paar Wochen im Hotel, und ich benutzte die Zeit, um in allen Gassen und Kirchen umherzustreichen. Nie hatte ich solch eine Stadt gesehen: in Augsburg, in Nürnberg hatte die neue Zeit unter der Führung der rücksichtslosen Eroberer Industrie und Technik die alte mehr und mehr zurückgedrängt, überflutet, vernichtet, – hier stand das Leben still, kein Fabrikschlot erhob sich mit all seiner barbarischen Protzenhaftigkeit neben den Kirchentürmen; hinter hohen Eisengittern, in vornehmer Zurückgezogenheit prangten die Renaissance-und Rokokoschlösser der Ketteler, der Heereman, der Droste-Vischering, der Romberg, der Zwickel, der Bevernförde, der Schmising, der Galen, der Fürstenberg; zwischen hundertjährigen Linden standen Kirchen und Kapellen, erfüllt von der Pracht und Schönheit romanischer und gotischer Kunst; in abgelegenen Winkeln tauchten alte Klöster auf, deren grasüberwucherte Höfe von Kreuzgängen wie von schützenden Armen umgeben waren; [295] manch alte Festungsmauer lugte draußen vor der Stadt zwischen dickem Efeu und dichtem Gebüsch hervor, und heimlich verträumte Plätzchen gab es neben plätschernden Brunnen, unter Weinlaub umsponnenen Bogen, wohin kein anderer Laut des Lebens drang.

Daß die blaue Blume der Romantik hier Wurzel gefaßt hatte, als draußen in der Welt die Aufklärung umging und sie mit Stumpf und Stiel auszurotten trachtete, daß Freiheitsschwärmer, wie die Brüder Stolberg, sich hier zu Füßen der Fürstin Galitzin in die Fesseln der katholischen Kirche schlagen ließen und Hamann, der Magus des Nordens, hier seinen frommen Phantasien lebte, – wer verstünde es nicht, dem Münster seinen Zauber enthüllte?

Mit der Fertigstellung unserer Wohnung hatte die genußvolle Zeit täglicher Entdeckungsreisen ein Ende. Die häuslichen und außerhäuslichen Pflichten nahmen mich wieder in Anspruch. »Wir feierten den gestrigen Einzug in unser Kloster mit dem ersten Besuch der Garnisonkirche und hörten in einem kahlen, kalten, nüchternen Raum eine ebensolche Predigt,« schrieb ich an meine Cousine. »Dann kamen Besuche über Besuche, – leider nur solche, bei denen es einem geht wie dem erwachsenen Menschen vor dem Marionettentheater: alles Interesse hört auf, sobald der Unternehmer die Puppen wieder in den Kasten legt. Am liebsten möchte ich jetzt still in der Fensternische meiner Zelle sitzen und lesen, lesen, lesen. Ich habe eine Bibliothek entdeckt – im Verein für Wissenschaft und Kunst –, die mir um so mehr zur Verfügung steht, als sie niemand sonst zu benutzen scheint. Ein junger Beamter mit einem strengen Asketengesicht, der mich zuerst sehr abweisend behandelte, ist jetzt mein bester Berater. Du hättest sehen sollen, wie seine sonst halb geschlossenen Augen aufleuchteten, als ich die Schönheit Münsters pries! ›Wenn Sie erst ganz Westfalen kennen würden!‹ meinte er, und dabei huschte ein heller Schein kindlicher Schwärmerei ihm über die Züge. Er gab mir Stöße von Büchern mit, aus denen ich Natur [296] und Kunst seiner geliebten roten Erde kennen lernen soll. Was mich aber noch weit mehr anzieht, sind die zahlreichen Werke allgemeinen kulturgeschichtlichen Inhalts, die der Katalog der Bibliothek aufweist. Mein Berater erklärte freilich mit aller Bestimmtheit, das wäre nichts für mich, es seien Bücher darunter, die die Ruhe der Seele gefährdeten; er wurde blaß und rot, als ich ihm versicherte, daß mir nichts wünschenswerter sei; und als ich von dem alten Bibliotheksdiener Leckys Geschichte der Aufklärung und Tylors Anfänge der Kultur verlangte, starrte er mich an wie eine Erscheinung und stotterte schließlich: »Aber – aber es sind nicht einmal Bilder drin!« Nächtlicherweile habe ich sie verschlungen, mein Verstand hat zu ihnen ja und zehnmal ja gesagt; – meine Sinne aber schwelgten im weihrauchgeschwängerten Dämmerdunkel des Doms. Unter diesem scheinbaren Widerspruch habe ich gelitten, bis mir klar wurde, daß es gar keiner ist: alle Seiten unserer Natur bedürfen der Nahrung, und die Kunst ist die Nahrung der Sinne. Religion aber ist im Grunde nichts als Kunst und gestaltende Phantasie. Mir war der Protestantismus nie sympathisch; daß er im Grunde nicht nur eine Vergewaltigung deutschen Geistes und Wesens, sondern ausgesprochen areligiös ist, wurde mir von diesem Standpunkt aus erst völlig klar.

Leider muß ich mir zum Denken und Lernen jede Stunde erkämpfen. Vor Räumen, Toilettenkrimskrams, Leute einarbeiten, Besuche machen und empfangen komme ich am Tage kaum zu mir selbst. Dabei haben sich wieder ein paar landläufige Weisheitssprüche als fadenscheiniger Plunder erwiesen: ›Nach getaner Arbeit ist gut ruhn‹, – ›Gut Gewissen, sanftes Ruhekissen‹, – ›Pflichterfüllung beglückt‹, – lauter faustdicke Lügen, die man uns wie Binden um die Augen legt, damit wir die Wahrheit nicht mehr sehen können, – die Wahrheit, die uns zeigt: Tue Deine Arbeit, dann erst findest Du Befriedigung, – erfülle Deine Bestimmung, dann erst wirst Du glücklich sein.«

[297] Mit steigender Virtuosität führte ich ein Doppelleben: ich vergrub mich stundenweise in meine Bücher, ich lebte mit meinen Gedanken in ihnen, während ich Hüte garnierte, schneiderte, oder mit den Vorbereitungen zu den immer zahlreicheren Gesellschaften, Diners und Bällen beschäftigt war. Aber mit dem Augenblick, wo ich im Festkleid in den Wagen stieg oder die ersten Gäste bei uns erschienen, zog ich den Schlüssel zu dem Geheimfach meines Innern ab, und nichts blieb von mir übrig als die Salondame.

Pünktlich mit dem Dreikönigstag öffneten sich die Adelshöfe Münsters. Der Karneval zog ein. Keiner von denen, die weise Maß halten und Hygiene und Moral zu Hofmarschällen ernennen, damit die braven Menschenkinder sich auch den Magen nicht verderben – sondern ein ungestümer, ein wilder, zügelloser, der jung und alt in seine Dienste zwingt, der uns überkommt wie ein Rausch und uns selig-müde zurückläßt.

Eine alte Legende, die im Volke Westfalens noch immer lebendig ist, erzählt, daß der Teufel einmal die Junker der ganzen Welt in seinen Sack gesteckt habe, um sie der Hölle zu überliefern. Als er just über Westfalen flog, zerriß der Sack, und es regnete Ritter. Darum gibt es noch heute auf der roten Erde eine so große Menge von ihnen, und kein Königshof könnte eine vornehmere Gesellschaft um sich versammeln als Münster zur Karnevalszeit. Was aber ihrem alten Adel, dessen Ursprung sich oft bis in die dunkeln Zeiten Wittekinds des Sachsenherzogs verliert, den Glanz verleiht, ist der gesicherte Reichtum vieler Generationen. Der preußische, der schlesische, der märkische Edelmann mit seinen großen Händen, seiner breiten Statur, seinem dicken Schädel verrät noch oft, daß sein Vorfahr wie ein Bauer arbeiten und leben mußte, und sein derber Witz, seine Verständnislosigkeit für die feineren künstlerischen Reize des Lebens lassen nicht vergessen, daß neben Axt und Pflug sein einziges Handwerkszeug das Schwert gewesen ist. Anders sein westfälischer [298] Standesgenosse: die rassige Schlankheit, seine der harten Arbeit seit Jahrhunderten entwöhnten Hände verdankt er der Freigebigkeit des üppigen Bodens, den Scharen der Hörigen, die ihn bebauen mußten; und die Grazie seiner gesellschaftlichen Formen, die Schönheit seiner Umgebung erinnert an die prunkvollen Höfe der Kirchenfürsten von Köln, von Paderborn, von Münster, wo seine Ahnen erzogen wurden, und an die künstlerische Kultur, die die katholische Kirche um sich verbreitete. Mit einem angeborenen Sinn für Stoffe und Farben kleiden sich seine schön gewachsenen, ein wenig steifen Frauen und Töchter mit den feinen, regelmäßigen, ein wenig leeren Gesichtern; Perlen und Edelsteine in herrlicher alter Fassung schmücken ihre vollen blonden Haare, ihre schneeweißen Nacken und Arme. Die Möbel, die Schaustücke, das reiche Silbergerät in ihren Häusern ist ererbter Familienbesitz aus den Glanzzeiten der Gotik, der Renaissance, des Rokoko; von den farbensatten Gobelins, die die Wände der Säle decken, sieht die ganze Vergangenheit herab auf das junge Geschlecht, das ihr auch geistig nicht untreu geworden ist.

Sie sind alle gläubige Katholiken; sie versäumen die Messe nicht, auch wenn sie die Nächte durchtanzen; barhäuptig, Gebetbuch und Rosenkranz in den Händen, schreiten die vornehmsten mit in der großen Prozession am Montag nach dem Reliquienfeste und am Tage Mariä Heimsuchung; die Kirche ist ihr eigentliches Vaterland; in den Jahren des Kulturkampfes behandelte der westfälische Adel die preußischen Beamten und Offiziere wie Feinde, und eine gewisse mißtrauische Zurückhaltung zeigte sich hier und da auch jetzt. Aber sie galt weniger dem preußischen Protestanten im allgemeinen, als dem einzelnen, der mit taktloser Großspurigkeit auftrat oder – dessen Adelsdiplom nicht ganz reinlich erschien. Hier herrschte noch vollkommenste Exklusivität – ein Bürgerlicher, ein Neugeadelter war nicht gesellschaftsfähig, und dies ungeschriebene Gesetz wurde den Einheimischen [299] gegenüber am strengsten gehandhabt. Eine Organisation westfälischer Damen, die angesichts des Gleichheitstaumels der französischen Revolutionsepoche gegründet worden war, konnte über Sein und Nichtsein entscheiden. Ihre Feste waren unter dem Namen der Bälle des Damenklubs weit und breit berühmt und – gefürchtet. Wer dazu nicht geladen wurde, war ein für allemal boykottiert; rückhaltlos gesellschaftlich anerkannt war nur, wer auch bei den intimen Veranstaltungen nicht fehlte. Der Klub hatte die Macht, Mitglieder des westfälischen Adels, die sich irgend etwas hatten zuschulden kommen lassen, durch geheime Abstimmung auf Monate oder Jahre von allem Verkehr mit seinen Standesgenossen auszuschließen.

Die Rücksicht auf diese tiefwurzelnden Auffassungen – spukte nicht hier sogar die Erinnerung an die Feme? – führte zu merkwürdigen Konsequenzen: man hatte zwar durchgesetzt, daß auch die nicht adeligen Offiziere nicht völlig von der Geselligkeit ausgeschlossen wurden, aber sie wurden nur zu großen Bällen gebeten und hätten es auch dort kaum wagen dürfen, eine westfälische Dame zum Tanz zu führen. Die vierten Kürassiere und die sogenannten Papst-Husa ren aus Paderborn – Regimenter, so vornehm wie nur irgendeins der Garde, in die nicht einmal ein unadliger Einjähriger Aufnahme fand – waren die allein ›hoffähigen‹. Und so war es denn auch nicht die Stellung meines Vaters, sondern sein Name und der Stammbaum meiner Mutter, die uns rasch alle Türen öffneten. Geistige Ansprüche an unsere Gesellschaft zu stellen, hatte ich aufgegeben; die Alix Kleve, die mit heißen Wangen und brennender Lebenslust zum Klang süßer Walzerweisen von einem Arm in den anderen flog, war nicht dieselbe, die daheim mit klopfendem Herzen und unstillbarem Geistesdurst über den Büchern saß.

Die Atmosphäre der Vornehmheit und des Reichtums, die Eleganz der Tänzer, die Schönheit der Menschen und der Räume befriedigte meine Sinne; es gab Tage und Stunden, wo die [300] prickelnde, fiebernde Lust des Karnevals mich ganz und gar gefangen nahm, wo eine Tanzmelodie mich wie ein elektrischer Schlag bis in die Fußspitzen durchzuckte und alle übrigen Lebenstöne erschlug. Wir tanzten täglich; in den Fastnachtstagen fielen sogar die Schranken zwischen den Gesellschaftsklassen, und unter Papierschlangengeschossen und Konfettiregen wagten wir uns unter die maskierte Menge der Straße. Alle Höfe und Häuser standen offen; überall konnten die Masken sich selbst zu Gaste laden, und doch artete die sprudelnde Lustigkeit nie in rohe Späße aus.

Am Fastnachtsdienstag gab es ein Frühstück im Kürassierkasino, wo die Sektpfropfen knatterten wie Salven, und darauf einen ausgelassenen Tanz im Sande der Reitbahn, wo die Herren um die Wette über Hürden und Gräben sprangen. Abends war der letzte Ball des Damenklubs; noch einmal wurde getanzt wie rasend, alte Graubärte machten den Jüngsten den Rang dabei streitig, und die Fülle der Blumen, die uns gespendet wurden, ließ sich kaum fassen. Mir stoben Funken vor den Augen, und ich fühlte nichts mehr als die wiegende, schleifende Bewegung und den heißen, keuchenden Atem meiner Tänzer. Plötzlich, mitten im wilden Abschiedsgalopp, stand alles still, wie von einem Zauber gebannt, die Musik brach ab, mit kurzem Gruß huschten die Damen hinaus, rasch warfen die Herren den Mantel über die Schultern – zwölf schlug die tiefe Glocke vom Domturm, Aschermittwoch klingelte das schrille Glöcklein von der Liebfrauenkirche.

Mit einem Schlag schien das Leben erloschen. Still, mit verhängten Fenstern lagen von nun an wieder die Adelshöfe. Nur drüben im Erbdrostenhof regte sich's noch: gestern hatte die schlanke Tochter des Hauses mit uns getanzt, heute nahm sie im Kloster der Ursulinerinnen den Schleier. Wie eine glückliche Braut ward sie von all den Ihren geleitet, und sie selbst lächelte wie eine solche. Mit einem Glanz verklärter Freude auf den [301] Zügen leisteten ihre Brüder – die übermütigsten Tänzer sonst – die Ministrantendienste bei der heiligen Handlung. Und doch wußten alle, daß es ein Abschied für immer war, denn in strenger Klausur verbringen die Ursulinerinnen ihr nur dem Gebet und der Buße geweihtes Leben.

Während der Fastenzeit kamen Kapuzinermönche nach Münster, die besten Kirchenredner ihres Ordens. Sie sprachen von vier Kanzeln dreimal des Tags, und Kopf an Kopf drängte sich jedesmal die Menge und hielt geduldig stundenlang stehend aus. Ich ging wiederholt in den Dom; die fanatische Beredsamkeit dieser blassen Männer in ihren braunen Kutten war überwältigend. Sie sprachen rücksichtslos und griffen mitten ins Leben, und eine Wirkung ging von ihnen aus, die nicht nur in dem wachsenden Andrang zu ihren Beichtstühlen zum Ausdruck kam, sondern auch in den Handlungen der Einwohner Münsters. Wir hörten häufig, daß gestohlenes Gut zurückgegeben wurde, Verleumder den Verleumdeten um Verzeihung baten, Treulose zu den verführten Mädchen zurückkehrten. »Es geht ein Zug nach Wahrheit und Befreiung durch die Welt, dem, ihrer selbst nicht bewußt, auch die asketischen Diener der Kirche folgen müssen. Zuweilen, wenn sie mit überwältigender Kraft das Elend armer Arbeiter schilderten, und den Reichen, die nicht sehen und hören wollen, mit den Schrecken auch der irdischen Sorgen drohten, schien es wirklich Christi lebendiger Atem zu sein, der sie beseelte. Mir träumte dabei von einer fernen Zukunft, wo in heiligen Hallen wie diese, Missionsprediger der Freiheit zu den Tausenden sprechen werden.« So schrieb ich an Mathilde. In Münster aber verstand man meine häufigen Kirchenbesuche anders. Zufall – Absicht? – führten mich mit katholischen Priestern zusammen, und ich merkte bald, welch lebhaftes Interesse sie an mir nahmen. Sie boten sich mir zu Führern in Kirchen und Kapellen an und verwickelten mich, wenn ich kam, in religiöse Gespräche. Aus meiner Stellung zum [302] Protestantismus machte ich kein Hehl, und als ich einmal freimütig erklärte, daß der Katholizismus mir weit anziehender sei, meinte mein Begleiter vorsichtig: »Sie sollten sich mit unserer Kirche näher vertraut machen, wenn sie Ihnen, wie es den Anschein hat, die Idee des Christentums deutlicher repräsentiert.« – »Die Idee des Christentums?!« erwiderte ich lächelnd. »Nein, Hochwürden, mit ihr hat die katholische Kirche nichts zu tun! Und gerade das ist es, was ich an ihr liebe und bewundere.« Sprachlos starrte der Priester mich an. »Ich begreife nicht –« brachte er schließlich hervor. »Darf ich es Ihnen erklären?« Er nickte zustimmend.

»Meiner Ansicht nach ist die ursprüngliche Lehre Christi mit ihrem Asketismus, ihrer Verachtung des Lebens, der Freude, der Schönheit, ihrer Menschenfeindschaft – bei aller Betonung der Menschenliebe – der Natur der abendländischen Völker so widersprechend, daß sie sich in ihrer Reinheit gar nicht durchsetzen konnte. Wir sind Heiden, sind Sonnenanbeter; mit den Geschöpfen unserer Träume beleben wir Feld und Wald, Berg und Tal. Karl der Große hat das rasch begriffen, und seine Missionare mit ihm. Sie hatten häufig genug selbst Sachsenblut in den Adern. Darum bauten sie an Stelle der Heiligtümer Wotans, Donars, Baldurs und Freyas die Tempel Ihrer vielen Heiligen; darum erhoben sie nicht den Gekreuzigten, sondern die Mutter Gottes, das Symbol schaffenden Lebens, auf den Thron des Himmels. Darum schmücken die Diener des Mannes, der nicht hatte, da er sein Haupt hätte hinlegen können, ihre Gewänder, ihre Altäre und ihre Kirchen mit Gold und Edelsteinen und zogen die Kunst in ihren Dienst. Vom Standpunkt Christi aus hatten Ihre Wiedertäufer recht, die die Bilder zerstörten, aber die lebensstarke Natur ihrer Volksgenossen hat sie ins Unrecht gesetzt. Und wissen Sie, was mich in meiner Auffassung vom heidnischen Charakter des Katholizismus und seiner Lebensfähigkeit infolgedessen bestärkte: der eben verflossene Karneval! [303] In keinem protestantischen Lande ist dergleichen möglich, auch wenn es auf denselben Breitengraden liegt wie Münster, wie Köln, wie Düsseldorf, wie München. Vor lauter Verständigkeit und Nüchternheit haben wir die Freude verlernt, die ein Bestandteil heidnischer Religiösität ist.«

Jetzt war die Reihe an meinem Begleiter, überlegen zu lächeln.

»Ob Sie, infolge irgendwelcher verwirrender Lehren sogenannter wissenschaftlicher Aufklärung, Heidentum nennen, was christlich-katholisch ist, das dürfte zunächst von geringem Belang sein, sofern Sie nur an die Lehren der Kirche glauben. Wir verlangen von den Novizen nicht die Gedanken- und Gefühlstiefe des erprobten Bekenners.«

»Aber ich glaube ja an Ihre Heiligen nicht, wenn ich ihre Existenz auch verstehe!« Der Priester schüttelte den grauen Kopf. »Wir werden einander nie näher kommen, Hochwürden. Wo Sie Religion sehen, sehe ich Kunst, und Ihr Gott und Ihre Heiligen sind für mich nicht überirdische Wesen, die ich anbeten muß, sondern Gebilde, die unsere Phantasie erschuf wie die Hand des Malers die heilige Jungfrau drüben. Daß Ihre Kirche diese Schöpferkraft nicht unterband, sondern schützte, nährte, anfeuerte, ist ein Verdienst, das sie mir ehrwürdig macht. Sie werden aber nun selbst einsehen, daß sich aus solchem Material keine Proselyten machen lassen.«

Man schien mich trotz alledem nicht aufzugeben. Ich wurde in der Gesellschaft Westfalens mit mehr Interesse und Aufmerksamkeit behandelt als sonst ein junges Mädchen und war viel zu eitel, um die Vorteile dieser Ausnahmestellung nicht angenehm zu empfinden. Daß ich mich im stillen immer weiter aus dem geistigen Bannkreis meiner Umgebung entfernte, bemerkte niemand. Mit wem hätte ich mich auch ehrlich aussprechen können? Mein Vater war in seinen kirchlich und politisch konservativen Anschauungen immer schroffer geworden, und je höher die Stellung[304] war, die er einnahm, je mehr er nichts anderes um sich hatte als Untergebene, desto selbstherrlicher wurde er, desto weniger duldete er Widerspruch. Meine Mutter wurde von steigender Antipathie gegen meine Studien beherrscht, jeden Büchertitel musterte sie mit größtem Mißtrauen, und ich konnte sicher sein, mit irgendeiner »wichtigen« häuslichen Aufgabe, wie Wäsche flicken, Staub wischen oder dergleichen, immer dann betraut zu werden, wenn ich am meisten gefesselt war. Unter unseren vielen Bekannten war niemand, den ich für würdig und fähig gehalten hätte, an meinen Interessen teilzunehmen. Es gab schon verblüffte Gesichter genug um mich her, wenn ich etwa über politische Tagesereignisse mitzureden den Mut faßte.

So wurde ich denn immer launischer, reizbarer und hochmütiger. Nichts als meine pessimistischen Ansichten über die Menschen hatte ich ausgesprochen, wenn ich auf einem Maskenfest des letzten Winters an die Rosen, die ich verteilte, statt der Dornen Verse wie diese geheftet hatte:


Die Menschen tragen im Leben
Eine Maske vor dem Gesicht;
Wünsch' nicht, sie zu demaskieren,
Denn, wisse, es lohnt sich nicht!

* * *

Und fürchtest du die Rose,
Weil stets ihr Dorn dich sticht, –
So pflücke dir Gänseblümchen,
Die, Teuerster, stechen nicht!
* * *

Du träumst vom Feuer der Liebe,
Das hoch ein jeder preist?
Wisse, in unserm Jahrhundert
Ist es ein Irrlicht meist.
[305] * * *

Traue keinem hier von allen,
Dann erst recht nicht, wenn die Maske fiel;
Niemals wird die zweite Maske fallen,
Und was Wahrheit scheint, ist Narrenspiel.
* * *

»In Münster ist's finster,«
Wer wüßte das nicht?
Doch sag mir, wo in der Welt
Ist es licht?

Licht war für mich nur die Welt der Bücher; Erkenntnisse, die ich gewann, erfüllten mich mit tiefer heißer Freude, und die Sehnsucht wuchs hinaus aus der Enge des Lebens; von der Phantasie nahm sie die leuchtendsten Farben, um Menschen zu malen, die von Idealen erfüllt, mit den reichsten Waffen des Geistes ausgestattet, eine dunkel geahnte andere Welt zu erobern ausgingen. Mein Tagebuch und die Briefe an Mathilde waren die Vertrauten meines eigentlichen, verborgenen Lebens.

»Ich bin in meinem Studium der Kulturgeschichte beim fünften großen Werke angelangt,« schrieb ich damals, »mein Interesse dafür ist immer im Wachsen, und immer wieder finde ich, was mich fast von Kindheit an – damals noch wie eine Ahnung – erfüllte: daß wir uns trotz allem, was den Blick momentan verdunkeln mag, unaufhaltsam vorwärts bewegen. Wehe denen, die hemmen wollen, sei es in der Kunst, der Wissenschaft, der Religion, oder der Politik! – Nur eins schmerzt mich oft bis zur Verzweiflung: daß ich nur Zuschauer bin und weder beim Niederreißen des Alten, noch beim Aufbauen des Neuen tatkräftig eingreifen kann.«

An anderer Stelle heißt es: »Auf dem Wege meiner stillen Studien bin ich zu der Erkenntnis gelangt, daß unsere Entwicklung wie auf einer Wendeltreppe vorwärts schreitet. Zuerst lernt man mechanisch, ohne zu verstehen, dann lernt man verstehen; aus beiden folgt das eigene Denken, und erst auf diesen [306] drei Stufen erhebt sich der persönliche Mensch und fängt nun scheinbar von vorn an: er lernt, er versteht, er denkt – oder er entzündet das trocken aufgehäufte Pulver des Verstandes mit dem elektrischen Funken seines eigenen Geistes und sprengt damit die starren Formelmauern, um nun selbst Licht und Wärme zu verbreiten. Auf jeder Stufe bleiben viele Menschen stehen; darum wird man mit dem Vorwärtsschreiten immer einsamer und läßt viele hinter sich zurück, die nicht gleichen Schritt mit uns hielten«.

Soweit meine Cousine sich auf Diskussionen einließ, trat sie mir entgegen. Sie verteidigte z.B. die Heroengeschichte gegenüber der Kulturgeschichte; sie suchte mir zu beweisen, daß die Könige, Staatsmänner und Feldherrn die Geschichte »machen«, während ich erklärte, »daß der einzige dauernde gesunde Fortschritt aus dem Volk herauswächst und die Großen der Erde oft nichts sind als Marionetten in der Hand der ungeheuern namenlosen Masse.« Ich hatte viel zu sehr das Bedürfnis, mich irgend jemande gegenüber auszusprechen, und ihr Urteil war mir überdies viel zu wenig maßgebend, als daß ich mich von ihren Gegengründen hätte abschrecken lassen. »Meine letzte Entdeckung muß ich Dir mitteilen, obwohl ich von vornherein weiß, daß Du über meine ›umstürzlerischen‹ Ansichten wieder empört sein wirst. Je mehr ich die Geschichte der Völker studiere, desto klarer wird mir, daß der große, viel zu wenig anerkannte Fortschritt unserer Zeit in der völlig veränderten Wertung der Arbeit besteht. Kein Volk der Vergangenheit hat die Arbeit an sich als etwas Ehrenvolles betrachtet. Im Gegenteil: nur der Sklave, der Kriegsgefangene, kurz, der Entrechtete, Ehrlose arbeitete. Die Arbeit war eines freien Mannes unwürdig. Das war die durchgängige Ansicht der antiken Völker, das war auch die der Germanen. Und zu jenen Ehrlosen, die zur Arbeit gewissermaßen verdammt waren, gehörten charakteristischerweise nicht nur die Unfreien unter den Frauen, sondern ihr ganzes Geschlecht. [307] Die Arbeit eine Ehre – das Nichtstun ein Laster – dahin fangen wir erst an, uns zu entwickeln, und zu ihrer vollen Bedeutung wird diese Erkenntnis erst in später Zukunft gelangen. – Für mich persönlich ist sie nicht eine bloße verstandsmäßige Einsicht, sondern ein Ereignis, das mich erschütterte. Wird der Wert des Menschen an seiner Leistung gemessen, – wie bestehe ich vor dieser Prüfung?! Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, gesund an Geist und Körper, leistungsfähiger vielleicht als viele, und ich arbeite nicht nur nichts, ich lebe nicht einmal, sondern werde gelebt!«

Wie sich der Heißhungrige über jeden Bissen stürzt, so warf ich mich über jede Möglichkeit des Erlebens und der Arbeit.

Zu jener Zeit starb der alte Kaiser, und im Märtyrerschicksal seines Nachfolgers begann der Tragödie letzter Akt. Mit jener steigenden Erregbarkeit meiner Nerven, die auch die Ereignisse außerhalb des eigenen Schicksals zum persönlichen Erlebnis werden ließ, verfolgte ich die Berichte der Presse, dachte des »neuen Herrn«, der nun kam, dessen verkümmerter Arm mich vor Jahrzehnten schreckte, und der, seit jenem Gespräch mit Graf Lehnsburg, seltsam drohend sich meinem Vater entgegenzustrecken schien. Die alte Welt versank – der Todeskampf Friedrichs III. war auch der ihre. Und mit wilder Zerstörungslust schienen die Elemente ihn zu begleiten. Unaufhörlich strömte der Regen, aus ihren Ufern traten die Flüsse, die Dämme brachen – Tausende stiller Heimstätten wurden vernichtet, Hunderttausenden armer Menschen drohte Hunger und Elend. Und ich saß hier im gesicherten Schutz unseres Hauses mit gebundenen Händen! – In fieberhaftem Eifer schrieb ich die Märchen nieder, die ich meinem Schwesterchen im Laufe der Jahre erzählt hatte. Ich schickte sie aufs Geratewohl einem Königsberger Verleger, mit der Bestimmung, den etwaigen Erlös den Überschwemmten zuzuführen. »Veröffentlichungen dieser Art liegen außerhalb unseres Gebiets,« schrieb er, und rasch [308] entmutigt warf ich sie ins Feuer. Kurz darauf wurde ein Dilettantenkonzert zum Besten der Notleidenden arrangiert, und ich, deren Karnevalsverse in Erinnerung geblieben waren, sollte einen Prolog dazu verfassen und vortragen. Es wurde mir nicht schwer, ich brauchte nur auszusprechen, was ich empfand, und als ich am Tage der Aufführung im schwarzen Trauerkleid auf hohem Podium stand, eine stumme dunkle Menge vor mir, und fühlte, wie meine Stimme den Saal erfüllte, – da war mir's, als sprengte mein eigenes klopfendes Herz die Eisenreifen, die es umschnürt hatten. Von der tiefen Glocke in meiner Brust sprach man mir, nachdem die einen mir stumm die Hand geschüttelt, die anderen, voll Enthusiasmus, mir gedankt hatten. Besaß ich die Macht, die Menschen zu erschüttern, sie zum Großen und Guten aus ihrer Stumpfheit aufzurütteln? Eröffnete sich hier irgendein Weg für mich, auf dem ich endlich, endlich dem nutzlosen Leben entfliehen konnte? »O daß ich die Kräfte, die ich besitze, in einer jener Pionierarbeiten einsetzen dürfte, die durch die Wüste der Welt neue Wege bahnen!« schrieb ich noch in der Nacht danach an meine Cousine.

Mein Prolog wurde gedruckt und in ein paar tausend Exemplaren verkauft. Aber dem Hochgefühl folgte bald die Ernüchterung. Ein Tropfen auf den heißen Stein war, was ich für die Überschwemmten erreicht hatte; in die Alltagsstimmung fielen die Begeisterten rasch zurück; in das Alltagsleben mußte ich aufs neue. Ich befand mich in einer förmlichen Krisis, die mich schüttelte wie ein Fieber, mir allen Schlaf und alle Selbstbeherrschung raubte. Als mein Vater mich daher eines Abends frug, warum ich so stumm und stocksteif dasäße, antwortete ich mit einer Leidenschaft, die sich nicht mehr zurückdämmen ließ: »Weil das Leben mir zum Ekel wurde – weil ich mich selbst nicht länger ertragen kann. –«

»Ja, um Himmels willen, was ist denn geschehen? Wieder so 'ne verdammte Liebesgeschichte?« Papa schwollen vor Schreck [309] die Adern auf der Stirn. Mama dagegen sah mich flüchtig forschend an und lächelte dann ihr feines malitiöses Lächeln.

»Das Gegenteil dürfte richtig sein, – ihr fehlt momentan die Liebesgeschichte,« sagte sie, und sekundenlang fuhr es mir blitzartig durchs Gehirn, ob sie am Ende recht haben könnte. Dann aber antwortete ich rasch, um den Gedanken in mir selbst zu erlöschen:

»Arbeiten möcht' ich – irgend etwas leisten, was mich ganz und gar in Anspruch nimmt. Ich beneide den Steinklopfer an der Straße, der abends wenigstens arbeitgesättigt todmüde auf seinen Strohsack sinkt.«

»Du hast doch genug zu tun, wie ich bemerke,« meinte Papa nach einem kleinen zögernden Nachdenken, »du liest, du malst, du schneiderst, du beschäftigst dich mit deiner Schwester, du bist der unersetzliche Arrangeur unserer Feste –«

Mama unterbrach ihn: »Das genügt natürlich Alix' Ehrgeiz nicht. Häusliche Pflichten sind ein überwundener Standpunkt. Aber du hast ja Auswahl genug, wenn du ihrer überdrüssig wurdest,« damit wandte sie sich an mich; ihr ganzes Gesicht war rot, und ihre schmalen Lippen bebten, »du kannst Gesellschafterin – Gouvernante – Hofdame werden. Sieh dann selber zu, wie das harte Brot der Fremde schmeckt!«

Mir stürzten die Tränen aus den Augen. Mir ahnte längst, daß mir kein Ausweg blieb, und doch erschütterte mich die trockne Aufzählung dieser einzigen Möglichkeiten, die für mich Unmöglichkeiten waren. Mein Vater konnte niemanden weinen sehen, am wenigsten seine Töchter. Er sprang auf und zog mich in die Arme, mir mit einem leisen: »Armes Kind, armes Kind!« die Wangen streichelnd. Es blieb dann eine Weile ganz still zwischen uns. Und dann sprach er mit derselben weichen Stimme auf mich ein, wie auf eine Kranke, – mit langen Pausen dazwischen, als wollte er mir zum Antworten Zeit lassen. »Sei still, mein Kind – bitte weine nicht mehr. – Wie ein Vorwurf [310] ist das für mich – daß ich nicht besser für dich sorgte! Wärst du ein Mann, so hätte ich dich schon auf Wege geführt, die einen Lebensinhalt gewährleisten, aber so – – du bist nur ein Mädchen – nur für einen einzigen Beruf bestimmt, – alle anderen wären doch nichts als traurige Lückenbüßer. Du sollst diesem einzigen nicht so krampfhaft – oder leichtsinnig – aus dem Wege gehen! Ich bin ein alter Mann und werde nicht ruhig sterben können, wenn ich dich nicht im Hafen weiß!«

»Papa – lieber Papa!« schluchzte ich auf; dann lief ich hinaus und schloß mein Schlafzimmer hinter mir zu und saß auf dem Bett stundenlang mit brennenden Augen und wundem Herzen. Nun hatte ich ein Buch nach dem anderen heißhungrig verschlungen, und dunkel und leer gähnte mein Inneres mich trotzdem an, – hatte Erkenntnisse gewonnen, die mich berauschten, und wenn ich zum nüchternen Tageslicht erwachte, war ich elender als zuvor. So ist das Glück geistigen Werdens und Wachsens denn auch nichts weiter als Betäubung? Ist wirklich das Schicksal des Weibes nur der Mann? Und hat es kein Recht auf eigenes Leben? – Der Mann! Ich dachte derer, die mir im letzten Winter gehuldigt hatten, – gute Tänzer, lustige Kurmacher, zu einem flüchtigen Flirt wie geschaffen – aber an sie gekettet, ihnen unterworfen sein – ein ganzes Leben lang – entsetzlich! Plötzlich aber fühlte ich mich wie eingehüllt von einem Feuerstrom, so daß im ersten Schreck das herz mir stockte: ein Kind! ein Kind! – das war des Lebens Zweck und Inhalt. Ein Kind wollt' ich haben, gleichgültig von wem, ein lebendiges Teil meiner Selbst, einen Sohn, – das Geschöpf meines Körpers und meines Geistes –, der meine Träume erfüllen, der werden sollte, was ich zu werden vergebens hoffte! Was galt mir der Mann: mochte er sein, was er wollte, – nur den Vater meines Sohnes brauchte ich!

Und als wir am nächsten Abend wieder um den runden Tisch zusammensaßen, sagte ich: »Du sollst dich nicht weiter [311] um mich grämen, Papachen, – paß auf, über kurz oder lang hast du einen Schwiegersohn und bist die böse Tochter los!« Worauf ich lachend einen zärtlichen Kuß bekam. Mama nahm keine Notiz von meiner Bemerkung; erst am folgenden Tag kam sie darauf zurück. »Ich habe dir niemals zur Ehe zugeredet,« sagte sie, »und hüte mich auch jetzt davor. Das Glück, das ein Mädchen von ihr erwartet, findet sie nie.« – »Ich will auch kein Glück – eine Lebensaufgabe will ich – ein Kind,« stieß ich widerwillig hervor, denn mich meiner Mutter anzuvertrauen, kostete mir die größte Überwindung. »Ein Kind?!« wiederholte sie, »um dich vollends mit Sorgen zu beladen?!«

Sie hatte mich offenbar nie so wenig verstanden wie heute.

Mein Vater dagegen war noch nie so liebevoll zu mir gewesen. Was er mir an den Augen absehen konnte, das tat er. Lange Morgenritte machten wir wieder zusammen, hinaus in die weite Heide, vorbei an all den stolz in sich abgeschlossenen einsamen Bauernhöfen und an manch uraltem Schloß mit festen Türmen und tiefen Gräben ringsum. Und wenn er weiter ins Land Inspektionsreisen machte – nach Minden, nach Soest, nach Paderborn –, nahm er mich mit; während er seinen Dienst erledigte, lernte ich all die Schätze alter Kunst, all die Wahrzeichen alter Geschichte kennen, an denen Westfalen so reich ist.

In der ersten Hälfte des Monats Juni fuhren wir nach Aachen, der Garnison des 53. Infanterieregiments, dessen Chef Kaiser Friedrich war. Das Wetter war so schön, die Stadt und ihre Umgebung so unerschöpflich, daß wir länger blieben, als es der Dienst meines Vaters erfordert hätte.

Um Mittag des 15. Juni 1888 – wir kehrten gerade von einem Spaziergang in unser Hotel zurück – kam ein junger Leutnant atemlos von der Kaserne und bat uns, ihm so rasch wie möglich dorthin zu folgen. Was er erzählte, war so seltsam, daß wir, wäre es nicht heller Tag gewesen, an seiner Nüchternheit hätten zweifeln dürfen. Ein Zug Soldaten habe, so berichtete er,[312] auf dem Kasernenhof exerziert; kaum sei er abgetreten, als einem der Offiziere von seinem Fenster aus große lateinische Schriftzeichen im Sande aufgefallen seine, die offenbar von den regelmäßig sich wiederholenden Fußtritten herrühren mußten. Man habe inzwischen rasch zu einem Photographen geschickt, um das merkwürdige Phänomen auf der Platte festzuhalten, und »Exzellenz müssen es unbedingt auch in Augenschein nehmen –« fügte er eifrig hinzu. »Zum Donnerwetter, was ist es denn?« sauste mein Vater ihn an. »Es heißt für jeden deutlich –«

»Extrablatt! Extrablatt!« unterbrachen den ängstlich stotternden Leutnant in diesem Augenblick viele Stimmen. »Heute Morgen elf Uhr ist Kaiser Friedrich gestorben!«

Der junge Offizier wurde leichenblaß. »Elf Uhr?!« wiederholte er langsam. »Um diese Stunde entstand die Schrift!«

Wir traten in den Kasernenhof. Das ganze Regiment schien versammelt und starrte wie gebannt auf den regenfeuchten Platz. Mitten darauf stand in riesigen Lettern:

W W II. [313]

13. Kapitel
Dreizehntes Kapitel

Münster, 29. Dez. 1888.


Liebe Mathilde!


Das Dreibrezeljahr, von dem ich mir so viel versprochen hatte, geht zu Ende. Es ist nicht süß, ja nicht einmal schmackhaft gewesen, und sein einziges greifbares Resultat ist, daß ich meine hochfliegenden Wünsche und Hoffnungen sauber verpackt zu anderem Urväterhausrat in die alte Truhe legte, wo ich sie vielleicht an Sonn- und Feiertagen des Lebens hie und da herausnehmen und mit wehmütiger Resignation betrachten werde wie die Großmütter die Liebesbriefe ihrer sechzehn Jahre. Du brauchst mir zum neuen Jahr kein Glück zu wünschen; ich weiß von vornherein, was es bringt: das landläufige Mädchenschicksal einer Vernunftheirat. Ich kenne den Glücklichen noch nicht, der sich an den Resten meines Ich entflammen wird – aber ich werde ihn finden, und trainiere mich jetzt schon zur Kühle und Ruhe, damit mir nicht am unrechten Ort das Herz durchgeht.

Heut nacht hab' ich beim müden Schimmer meiner rosa Ampel lange wach gesessen und geträumt, – gegrübelt wohl eher, denn träumen tut man kaum mehr, wenn das erste Vierteljahrhundert des Lebens sich seinem Ende zuneigt; und tut man's trotzdem, so sind es eben – schlechte Träume. Im Kamin prasselte das Feuer, und wenn ich aufsah, blickte mir aus dem Spiegel ein Gesicht entgegen, das das einer Toten hätte sein können, wenn nicht die Augen von verhaltenen Tränen geschimmert [314] und die Lippen wie eine klaffende Wunde blutrot geleuchtet hätten. Ein Kindergesicht war's nie, – bin ich denn überhaupt ein Kind gewesen? Ein glückliches Kind? Es muß sehr lange her sein, denn ich besinne mich nicht darauf. Ich mag auch nicht die Tafeln der Erinnerung aufdecken. Häßliche Bilder zeigen sie. Freilich meist golden umrahmt, auf Elfenbein gemalt in schillernden Farben, aber sieh dir den Höllenspuk nur genauer an: war nicht das Schicksal ein wahnwitziger Maler, daß es so kostbares Material an solchen Schund verwandte?

Was hat denn gehalten von alledem? Die Liebe etwa? Armes Menschenkind! Sie ging an dir vorüber und du sahst nur so viel von ihr, um die Sehnsucht danach, die fiebernde, heiße, ewig zu spüren! Und der Glanz? Wie schnell sah das allzu scharfe Auge, daß er nichts war als Flittergold – Raketen, die prasseln und strahlen; wenn sie verglimmt sind, ist es viel dunkler noch als zuvor! – –

Ich habe die Wissenschaft gepflegt, wie eine verbotene Liebschaft, – die bleibt mir. Ich habe die Kunst geliebt, schüchtern nur und von ferne, um die hehre nicht mit meiner Pfuscherei zu besudeln, – die bleibt mir. Das mag jenen Luxustieren unter den Menschen genügen, die vom Leben nichts wollen als Genuß – jenen, die so hohl sind, daß sie immer empfangen können. Ich aber wollte schaffen!! – Wozu lebe ich denn überhaupt? Würde mich jemand vermissen, würde eine Lücke bleiben, wenn ich nicht wäre? Meine Eltern, meine Schwester, meine Freunde würden trauern. Wie lange? Ich bin ihnen doch allen fremd geblieben! Wer wird denn nur wahrhaft vermißt? Ein guter Vater, – eine treue, sorgende Mutter! –

Pfui, du hast geweint, – schnell, lache, setze die Maske auf, – wer zeigt heutzutage sein Gesicht? Es wären der Falten, der Tränen zu viele!

Verzeih – ich schrieb in Gedanken ein Romankapitel. Im nächsten Briefe sollst Du hören, wie herrlich ich mich amüsiere!

[315] Prost Neujahr! – Übrigens eine prachtvolle Phrase, mit der man sich um das ›Glück‹ wünschen herumdrücken kann.

Deine Alix.


Münster, 30. 1. 89.


Liebe Mathilde!


Ein Karneval, der mich kaum zu Atem kommen läßt, ist die Ursache meines langen Schweigens. Ich will ihn durchtollen, bis zum bitteren Bodensatz genießen, weil es unweigerlich der letzte für mich ist. So oder so: ich verlasse den Schauplatz nicht, es sei denn auf der Höhe des Triumphs. Alle bösen Geister haben wieder von mir Besitz ergriffen und peitschen mich vorwärts auf der Rennbahn der Eitelkeit, angesichts heftiger Konkurrenz. Mit dem neuen Kommandierenden – dem einst allmächtigen und gefürchteten Chef des Militärkabinetts, der die Vorsehung seiner Vettern bis ins zwanzigste Glied gewesen ist – scheinen die Löwinnen des alten Berliner Hofs den Schauplatz ihrer Tätigkeit hierher verlegt zu haben. Eine komische Gesellschaft: vornehm, blasiert, elegant, hochnasig, mit einem starken Stich ins Burschikose, nicht ohne ›Vergangenheit‹. Diese beiden letztgenannten Eigenschaften sind die Ursache ihrer nicht ganz freiwilligen Entfernung aus Berlin, wo man im Zeichen der Tugend und Gottesfurcht steht. Nun ist Münster aber auch nicht der Ort, wo Leutnants den jungen Damen kameradschaftlich auf die Schultern klopfen und mit frischem Stallgeruch und schmutzigen Stiefeln zum Damenfrühstück erscheinen können. Kurz – wir werden die fremden Vögel schon ausräuchern, und ich tue dazu, was ich an Koketterie, an Geist und Toiletten aufbringen kann. Mit dem glänzendsten Kavalier dieses Karnevals, Herrn von Hessenstein, der kürzlich hier Schwadronschef geworden ist, schloß ich ein Schutz- und Trutzbündnis zu diesem Zweck. Du brauchst keine Kassandrarufe auszustoßen – wir gefallen einander – nichts weiter!

[316] Es gibt eine Anziehungskraft zwischen Mann und Weib, die mit Geist und Herz gar nichts zu tun hat; ich möchte sie körperlichen Magnetismus nennen. Man ist nicht gemein, wenn man sie empfindet, weil der Instinkt der Natur nicht gemein sein kann. Zum Unglück wird sie nur, weil das sentimentale Liebesgewinsel unserer Goldschnitt-Lyriker und unsere verlogene Erziehung uns dazu gebracht haben, sie vor uns selbst mit falschen Empfindungen zu umkleiden. Meine fiebernden Sinne werden oft von Menschen angezogen, von denen Geist und Herz sich abgestoßen fühlen. Und umgekehrt sind diese gefangen, wo jene beinahe Ekel empfinden. Würde ich mich des Instinktes schämen und ihn infolgedessen mit dem Feigenblatt verlogener Schwärmerei bedecken – in welch unselige Ehen hätte ich mich schon fesseln lassen! Vielleicht ist die wahre, dauernde Liebe erst möglich unter den Gatten, die sich ganz kennen, sich ganz besitzen, und die noch dazu ein gewisser äußerer Zwang zusammenhält. Alles übrige ist Flirt – Sport, oder sonst ein Fremdwort ... Wenn ich nur nicht die fatale Eigenschaft hätte, gegen alle Art bürgerlich ehrbarer, staatlich sanktionierter, zu lebenslänglichem Gebrauch auf Flaschen gezogener Gefühle einen unüberwindlichen Abscheu zu haben ...«

Gegen Ende des Karnevals gab Herr von Hagen, unser Oberpräsident – ein gescheiter, feiner, alter Herr, der einzige fast, mit dem ich eine ernstere Unterhaltung führen mochte – ein Diner, zu dem er mich, entgegen der sonstigen Gewohnheit, mit einlud. Junge Mädchen waren ja nur zum Tanzen da; man schloß sie daher überall von den Gelegenheiten aus, wo Ansprüche an den Geist, statt an die Füße gemacht werden konnten.

»Sie sollen heute diesen Böotier bekehren,« sagte mir unser Gastgeber lächelnd, indem er mir Herrn von Syburg, den neuen Hammer Landrat, vorstellte, »er hat Ansichten über die Frauen, – na, Sie werden ja sehen!«

Ein großer schmächtiger Mann machte mir eine steife Verbeugung, [317] und ein Paar helle, weit vorstehende Augen musterten mich ernsthaft. Der erste Eindruck, den ich empfing, war fast ein feindseliger. Als wir dann aber ins Gespräch kamen, gefiel er mir. Seine Ruhe, seine Kenntnisse, seine vielseitigen Interessen erhoben ihn über den Durchschnitt. Er war konservativ bis in die Fingerspitzen, und unsere Ansichten platzten ständig aufeinander. Aber hinter den seinen stand eine so gefestigte Überzeugung, so daß mir meine eigene Unklarheit peinlich zum Bewußtsein kam. Im Grunde war ich nur sicher in der Negation; diese Schwäche meines Standpunktes schien Herr von Syburg rasch zu entdecken, sie verlieh ihm ein Übergewicht, das mir in unserem ferneren Verkehr stets peinlich fühlbar blieb.

Er besuchte uns am nächsten Tage und fehlte dann in keiner Gesellschaft. Er machte mir auf seine Art den Hof, tanzte fast jeden Kotillon mit mir und war stets mein Tischherr.

»Nun hast du glücklich wieder eine neue ›Briefmarke‹,« meinte mein Vater; aber während er sonst an dieselbe Bemerkung ärgerliche Vorwürfe knüpfte, lächelte er diesmal dazu. Er neckte mich, weil ich fahnenflüchtig zum Zivil überginge, und erzählte wohl auch gelegentlich von dem großen Besitz der Syburgs in Schleswig oder von dem Ministerportefeuille, das der Landrat schon heimlich in der Tasche trüge. Seine Stimmung machte mich weich, – der Gedanke, daß es vielleicht in meiner Hand liegen sollte, ihn glücklich zu machen, lähmte meine Widerstandskraft. Dabei wurde ich Syburg gegenüber immer scheuer und büßte immer mehr von meiner Lustigkeit ein, weil ich mich ständig von ihm beobachtet wußte.

»Sie kommen mir vor wie ein Abiturient im Examen,« sagte Hessenstein eines Tages zu mir, der der einzige war, dem die Entwicklung der Dinge mißfiel, und der kein Hehl daraus machte. Im stillen gab ich ihm recht. Er unterwirft mich wirklich einer förmlichen Prüfung, dachte ich bitter. Häufig nahm er einen dozierenden Ton an, der mich wild machen konnte. Und doch [318] wuchs seine Macht über mich. Es imponierte mir, daß er nie den girrenden Seladon spielte, sich niemals meinen Wünschen fügte, ja, sich manchen leisen Tadel gestattete, dessen Berechtigung ich anerkennen mußte. Schon vor Jahr und Tag hatte ich meiner Cousine geschrieben: »Ich bedarf der Bewunderung, sagst du, – gewiß! Und doch sehne ich mich nach einem Menschen, den nicht ich unterwerfe, sondern der mich unterwirft, der mir nicht demütig die Hände küßt, sondern mich sanft und mitleidig an sein Herz zieht und spricht: Nun ruh' dich aus, du armes, müdes Kind!«

Nur die Halbgeschlechtlichen, die der Natur Entfremdeten konstruieren künstlich eine Weibesliebe, die den Gleichen begehrt. Den Höherstehenden will sie; denn blindes Vertrauen und kindliche Schutzbedürftigkeit ist ihres Wesens Inhalt. Mir half die Phantasie, meiner Sehnsucht Erfüllung vorzutäuschen, und wenn ich auch oft entsetzt gewahr wurde, daß der Instinkt der Natur mich nicht zu Syburg zwang, sondern es zwischen uns lag wie eiskaltes Gletscherwasser, so schlugen meine Wünsche immer wieder die Brücken hinüber. Nur des Nachts rächte sich die unterjochte Natur an mir. Stundenlang lag ich wach und kämpfte mit den warnenden Stimmen meines Innern; erst wenn der Tag dämmerte, fiel ich in unruhigen Schlaf. Von der Servatiikirche hörte ich die Stunden schlagen; die gleichmäßigen Schritte zählte ich, mit denen der Posten vor dem Hause unaufhörlich auf und nieder ging, und verkroch mich zitternd unter die Decke, wenn die Mäuse, die unvertilgbar schienen, piepsend über die Diele raschelten. Von Kindheit an brach mir der Angstschweiß aus, sobald eins der zierlichen grauen Geschöpfchen in meine Nähe geriet.

Ich wurde immer schmaler und blasser und müde – immer müder. Die weiche Frühlingsluft, die merkwürdig früh in diesem Jahr Blätter und Blüten hervorlockte, erschlaffte mich vollends.

Syburg schien meine krankhafte Mattigkeit für weibliche [319] Sanftmut zu halten; das verstärkte in seinen Augen meine Anziehungskraft. Ich ließ es geschehen, daß er mich fast schon wie sein Eigentum behandelte. Hessenstein versuchte vergeblich, meine Widerstandskraft wachzurufen. »Sie rennen sehenden Auges in Ihr Unglück,« sagte er einmal, »niemals passen Feuer und Wasser zusammen.« »Aber das Wasser löscht das Feuer aus,« antwortete ich mit trübem Lächeln, »und gerade das ist's, was ich brauche.«

Es war schon Ende März, als Prinz Sayn, der Kommandeur der Kürassiere und unermüdliche liebenswürdige Arrangeur aller Feste, zum Polterabend einer bevorstehenden Hochzeit eine Quadrille zu tanzen in Vorschlag brachte. Die Paare wurden bestimmt; Syburg war selbstverständlich mein Partner. Bei einer der vorbereitenden Zusammenkünfte wurde die Kostümfrage besprochen, und wir hatten uns beinahe schon geeinigt, der Aufführung den Charakter eines Schäferspiels zu geben, als meine Mutter das Hofkostüm der Rokokozeit für angemessener hielt. Der Prinz und seine Frau, die mittanzen wollten und an den jugendlichen Gewändern schon Anstoß genommen hatten, stimmten ihr zu; da niemand einen Einwand erhob, schien die Angelegenheit erledigt. Beim Nachhausewege erfuhr ich erst den Grund, der meine Mutter zu ihrer Anregung bestimmt hatte. »Dein Schweriner Pompadourkostüm hast du nur das eine Mal angehabt,« sagte sie, sichtlich befriedigt, »wir sparen nun, Gottlob, jede Neuanschaffung.«

»Mein Pompadourkostüm!« Ich erschrak und rief heftig: »Lieber verbrenn' ich's!«

»Du bist wohl nicht ganz bei Trost!« antwortete Mama ärgerlich. Meine Blässe erst machte sie aufmerksam. »Ach – darum!« sagte sie gedehnt, »solch eine Sentimentalität hätte ich dir nicht zugetraut.« Ich schwieg.

Bei der ersten Tanzprobe jedoch brachte ich im stillen mit Hessensteins Hilfe die Jugend auf meine Seite. Die Herren [320] erklärten, daß die Hofkostüme ihnen zu kostspielig seien, die jungen Mädchen, daß sie die langen Schleppen nicht leiden könnten. Es war eine förmliche Revolte. Syburg allein war auf Seite der älteren Mitwirkenden und der Mütter. »Ich kenne die Gründe Ihrer Frau Mutter,« sagte er mir leise, »und ich begreife nicht, wie eine so kluge junge Dame wie Sie an diesem kindischen Tumult teilnehmen kann.« Ich ärgerte mich über die Bevormundung und mehr noch über das gute Einvernehmen zwischen Syburg und meiner Mutter, aber die Heftigkeit meines Widerstandes war gebrochen; wir wurden überstimmt.

Und der Abend kam, wo das alte Kleid vor mir lag. Ein leiser Duft von Jasmin stieg aus den Falten, und seine Bänder und Schleifen, seine grünen Blätter und roten Rosen sahen mich an wie lauter lebendig gewordene Erinnerungen. In leisen Melodien raschelte die Seide: »O la marquise Pompadour – Elle connait l'amour –«. Durch das Mieder, das sich eng um meinen Körper schmiegte, spürte ich den Arm, der mich einst so zärtlich an sich gezogen hatte.

»Hellmut!« stöhnte ich leise und brach in Tränen aus. Der Felsen, den ich vor die Grabkammer meines Innern gewälzt hatte, war zersprengt; und wo ich nur Totes wähnte, stürzte wild wie ein Gießbach das Leben hervor.

»Du weinst?!« Mein Vater stand vor mir. »Es ist nichts – Papachen – nichts!« versuchte ich ihn zu beruhigen und trocknete hastig Augen und Wangen. Er lächelte liebevoll: »Sei nur ganz ruhig, mein Alixchen – alles – alles wird gut werden!« Und als ich, meiner selbst nicht mächtig, noch einmal krampfhaft aufschluchzte, zog er mir die Hände vom Gesicht und sagte leise: »Syburg war längst bei mir und hat – als ein ehrenwerter Mann durch und durch – zuerst deine Eltern gefragt, ob er um dich werben dürfe ...« Ich fuhr auf und starrte ihm entsetzt ins Gesicht. »Das darf dich nicht kränken, mein Kind, – du solltest selbstverständlich nichts davon wissen – die Freiheit der [321] Entschließung sollte dir allein vorbehalten bleiben – –« Er schloß mich gerührt in die Arme, – er war überzeugt, mich ganz getröstet zu haben – der gute Vater!

Er führte mich zum Wagen hinunter, – meine Schleppe raschelte über die breiten Stufen – draußen, rechts und links, standen die Menschen, um mich anzustaunen; – hatte ich diesen Augenblick nicht schon einmal erlebt? Damals – im weißen Kleide war's gewesen, als ich zur Kirche fuhr, um ein Gelübde abzulegen, von dem mein Herz nichts wußte!

Auf der Treppe des Hotels ergriff mich ein Schwindel. Hessenstein sprang zu und stützte mich. In demselben Augenblick war Syburg neben mir. »Ihre Dame erwartet Sie,« sagte er scharf und kühl zu meinem Begleiter, und gehorsam legte ich meine Hand in seinen dargebotenen Arm.

Und dann tanzten wir. War ich ein Automat, daß meine Füße sich im Takt bewegten, während meine Seele weit, weit fort war – oder war ich die kleine Seejungfrau, die ihre Menschwerdung bei jedem Schritt, den sie tat, mit schneidenden Schmerzen bezahlen mußte?! – Wie fest schlossen sich heute die Finger meines Tänzers um meine Hand – wie Teufelskrallen, die mich nicht mehr loslassen wollten –; und so sengend heiß wehte sein Atem mir in den Nacken! Ängstlich vermied ich es, ihn anzusehen, ich sah ihn niemals gern, wenn er tanzte, wie auf Draht gezogen bewegte er sich, – ach, und heute – heute tanzte spukhaft eine andere Gestalt neben mir –

Die Musik intonierte die letzte Tour. Ich mußte ihn ansehen, über die Schulter hinweg, fächerschlagend, mit einem koketten Lächeln. Und da traf mich sein Auge, und blieb auf dem tiefen Ausschnitt meines Kleides haften – mit schwüler, begehrlicher Lüsternheit –

Noch eine Verbeugung, und wiegenden Schrittes, sich an den Fingerspitzen haltend, verließen die Paare den Saal. Meine Kraft war zu Ende. Ich bat Syburg, meine Mutter zu rufen, [322] da ich mich leidend fühlte und nach Haus fahren müßte. Ohne Rücksicht auf all die erstaunten Blicke, die mich trafen, nahm ich den Mantel um und stand schon auf der Treppe, als meine Eltern mich einholten. Angekleidet, wie ich war, warf ich mich zu Hause aufs Bett. Mama fühlte mir den Puls und schickte nach dem Arzt. »Die übliche Frühlingskrankheit junger Damen,« sagte er, »schicken Sie Ihr Fräulein Tochter aufs Land.« Mit einem Gefühl der Befreiung ergriff ich den guten Rat und stellte mich kränker, als ich war, nur um ihm folgen zu dürfen.

Es war Ende April damals. Die kleine Fürstin Limburg fiel mir ein, die mich wiederholt nach Hohenlimburg eingeladen hatte. Sie war ein reizendes Frauchen, das jedoch seiner nicht ganz ebenbürtigen Herkunft wegen von der Gesellschaft Münsters schlecht behandelt worden war. Zuerst aus bloßem Widerspruchsgeist, dann aus Sympathie hatte ich mich ihrer eifrig angenommen und mir ihre Freundschaft erworben. »Kommen Sie sofort, freue mich riesig« war ihre telegraphische Antwort auf meine Anfrage, ob mein Besuch ihr recht wäre.


Der Frühling des Jahres 89 schien allen Dichterphantasien gerecht werden zu wollen. In reinem Blau spannte sich der Himmel Tag um Tag über die Erde, und es sproßte und blühte überall; keinen kahlen Winkel duldete der Lenz in seiner verschwenderischen Laune. Am ersten Mai fuhr ich über die Haar hinunter ins Lennetal; leuchtend wie flüssiges Silber, schlängelte sich der Fluß zwischen den Bergen, die ihn links und rechts, von grüngoldigem Glanz übergossen, in weichen Linien begrenzten. So weit das Auge blickte: Wald und Berg, und hoch oben die Burg mit Türmen und Zinnen, wie ein starker, trutzig gewappneter Schützer dieses stillen Friedens. Aber je näher ich kam, desto mehr verschob sich das Bild: breit und massig dehnte sich die Stadt unten am Ufer aus, als hätte sie sich mit Ellbogen [323] und Fäusten Platz geschaffen; und verletzt von der Roheit des Eindringlings, der mit seinen schwarzen Fabrikschloten zu ihr hinauf drohte, zog sich die Burg hinter ihre dunklen Bäume zurück.

Anna Limburg empfing mich am Bahnhof. Und ihr helles Lachen und Schwatzen begleitete unsere ganze Fahrt hinauf, so daß ich Muße hatte, die Augen wandern zu lassen. Die Stadt verschwand wieder in der Tiefe; je höher wir kamen, desto mehr wuchsen die Berge empor: dort der Kegel des Raffenberges, der Weißenstein mit seinen zackigen Spitzen, das Felsentor der Hünenpforte, und fern am Horizont die blauen Höhen der Ruhr. O, wer doch immer hoch oben bleiben könnte, wohin kein Lärm und kein Ruß zu dringen vermag!

Durch den langen gewölbten Torweg ratterte der Wagen in den Burghof, den hohe Mauern, Türme und Wehrgänge umschlossen. »Ist's nicht schön hier?« lächelte Anna. »Aber mit meinem Fritz würd' ich auch in einer Rumpelkammer glücklich sein,« fügte sie rasch hinzu und flog ihrem Mann um den Hals, der eben auf uns zutrat.

Stille Tage folgten. Von der Galerie der Schloßmauer träumte ich stundenlang ins Land hinaus; auf der Terrasse unter den hohen, knospenden Linden saß ich, wo vier alte Geschütze an die Zeit erinnerten, da die Grafen von Limburg noch selbständig Kriege führen und Münzen prägen konnten; und zu Fuß, zu Wagen und zu Pferde besuchten wir die Gegend ringsum. Noch gab es hier weltabgeschiedene Täler mit lindenumgrünten Bauernhöfen, und steile Höhen, mit Burgen gekrönt, von den Sprossen alter Geschlechter bewohnt; fast überall aber dröhnten die Eisenhämmer, kreischten die Sägen und klapperten die Mühlen; und wer die Geister der Vergangenheit suchen wollte, der mochte sie wohl nur noch tief in den Felsenhöhlen der Berge finden. Viele Stätten erinnerten durch Namen und Sage an die Götter der Alten, an Wodan und Donar, an die [324] Kämpfe der Römer gegen das mächtige Volk der Sachsen, an Wittekinds vergebliches Ringen mit dem gewaltigen Karl und seine Unterwerfung unter Kreuz und Krone, – aber schon lauerte das gefräßige Ungeheuer, die neue Zeit, um sie alle zu verschlingen. Sieghaft stieg der Fabrikschornstein empor, wo der Burgturm langsam zusammen stürzte. Ich floh seinen Anblick und wäre so gern auf den ausgebreiteten schillernden Flügeln der Phantasie vor mir selbst entflohen ins sonnendurchglühte Märchenreich, aber die Wirklichkeit fing mich immer wieder mit ihren grauen, dichten Spinnenfäden.

Mein Vater schrieb mir fast täglich, und selten nur blieb Syburgs Name unerwähnt in seinen Briefen. »Ich sah ihn auf dem letzten Rennen in Hamm,« hieß es zuletzt, »er frug voll aufrichtiger Teilnahme nach Deinem Befinden und freute sich Deines Wohlergehens. Er hofft Dich in Brake bei Bodenbergs zu sehen; Limburgs werden des alten Herrn siebenzigsten Geburtstag doch sicher mitfeiern helfen.«

Daß er sich so gewaltsam in mein Leben hineindrängte und die Erwägungen der Vernunft, die Gefühle der Kindespflicht, die Sehnsucht nach Inhalt und Zweck des Daseins seine Wünsche unterstützten! Jene geheimnisvolle Gewalt des Instinkts, die mich in Münster von seiner Seite gerissen hatte, schien mich auch jetzt unter ihren Willen zwingen zu wollen. »Geh ihm aus dem Wege –« flüsterte sie mir zu. Aber von jeher hielt ich sie für meinen bösen Engel, mit dem ich glaubte ringen zu müssen. Zu tief hatte sich mir der Mutter einziges Erziehungsprinzip eingeprägt, das Selbstbeherrschung mit Selbstentäußerung gleichsetzte.

So saß ich denn am nächsten Morgen zur Abfahrt gerüstet am Frühstückstisch – »ohne Mailaune«, wie Anna neckend bemerkte, – als der Diener die Post brachte: »Revolution im Kohlenrevier« stand in fetten Lettern an der Spitze des Kreisblatts, und mein Vater schrieb: »In Gelsenkirchen haben sich [325] ein paar dumme Bengels mausig gemacht, und die Kohlenfritzen flehen nun mit schlotternden Knien um militärischen Schutz. Obwohl etwas Angst und eine kleine Tracht Prügel den Protzen, die die armen Leute zum Besten ihres Geldsacks in die Gruben schicken, ganz gesund wäre, mußte ich heute schon eine Kompagnie Dreizehner nach Gelsenkirchen schicken, denen die Kürassiere morgen folgen werden. Ich finde solche Aktionen eines Soldaten unwürdig ...«

»Zu dumm!« rief Anna ärgerlich. »Nun ist's mit der ganzen Stimmung vorbei. Statt lustig zu sein, werden uns die Herren mit Politik anöden!«

»Am besten wär's, wir blieben zu Hause,« meinte ihr Mann. Davon aber wollte sie nichts wissen. Sie weinte fast vor Erregung.

»Angsthase, der du bist! Wenn's in Münster brennt, wirst du in Limburg noch nach der Feuerspritze laufen!« Der Fürst lachte und streichelte der kleinen Frau begütigend die Wangen.

»Sei ruhig, Kindchen – natürlich fahren wir! Brake ist, gottlob, weit vom Schuß, und im Dortmunder Kreis scheint alles ruhig zu sein.«

Aber je mehr wir uns auf der Fahrt aus den grünen Bergtälern entfernten und je zahlreicher die zum Himmel starrenden Essen wurden, desto stärker sprach ihr Anblick für ungewöhnliche Vorgänge: das Leben, das ihnen sonst in grauen Wölkchen, in schwarzen Schwaden, in tollem Funkensprühen vielgestaltig entquoll, war erloschen. Ungehindert strahlte die Maiensonne vom wolkenlosen Himmel; wie ein Feiertag war's.

Im grauen Herrenhaus zu Brake, das, von einem Wassergraben umgeben, mit seinen dicken Mauern und kleinen Fenstern düster ins weite ebene Land hinaussah, wurden wir freudig empfangen. Viele hatten im letzten Augenblick abtelegraphiert, vor allem fehlte es an jungen Herren für die tanzlustigen Mädchen, sie waren entweder mit ihrer Truppe im Streikgebiet um Gelsenkirchen oder mußten in ihren Garnisonen aller Befehle [326] gewärtig sein. Nur Syburg trat mir entgegen – mit einem so freudigen Aufleuchten in den sonst so unbeweglichen Zügen, daß es mir unwillkürlich warm ums Herz ward – und Hessenstein, der mit seiner Schwadron in Dortmund in Quartier lag und herübergeritten war. »Am liebsten hätte ich alle meine Kerls mitgenommen,« sagte er. »Man schämt sich förmlich seines Säbelrasselns inmitten völliger Kirchenruhe.«

»Wenn Sie nur nicht doch noch recht blutige Arbeit bekommen!« meinte Syburg. »Eine Rotte Betrunkener, – und das Unglück ist geschehen.«

Anna sollte recht behalten: trotz der blumengeschmückten Tafel, der feurigen Weine und der launigen Toaste auf den Hausherrn und das Geburtstagskind wollte die echte Feststimmung nicht aufkommen. Alles war voll von den Ereignissen, und jeder wußte andere Details zu erzählen. Der Ortspfarrer war eben von Castrop zurückgekehrt. Er hatte die Streikenden der Zechen Erin und Schwerin gesehen und gesprochen. »Ihr Verhalten ist ein so würdiges,« sagte er, »daß die Aufregung der Zechenbeamten demgegenüber einen peinlichen Eindruck macht.«

»Dasselbe habe ich eben vom Oberpräsidenten gehört, den ich in Witten traf,« meinte Graf Recke. »Er kam aus Gelsenkirchen, wo er mit den Arbeitern der Hibernia verhandelt hat. Ihre Forderungen halten sich zunächst in durchaus diskutabeln Grenzen, und wenn die Presse wegen der Achtstundenschicht Zetermordio schreit, so weiß sie eben nicht, was uns alten Westfalen von Jugend an bekannt ist: daß nach unseren Bergordnungen vom 17. Jahrhundert an die Schicht schlechthin achtstündig war und erst das gesegnete 19. Jahrhundert, wie mit so vielen guten alten Bestimmungen, auch damit aufräumte. Die Knappschaften verlangen nichts anderes als das Recht ihrer Väter.«

Baron Bodenberg bestätigte Reckes Behauptung.

»Und mit ihren übrigen Wünschen steht es im Grunde nicht anders,« fügte er hinzu, »in meiner Jugend hatten die Grubenbesitzer [327] den Knappen gegenüber keine freie Hand. Über Annahme und Entlassung der Arbeiter, Feststellung der Löhne, Regelung des Betriebs usw. usw. stand die Entscheidung damals ausschließlich der königlichen Bergbehörde zu. Jetzt, im Zeitalter der famosen freien Konkurrenz kann jeder Jude, der sich eine Grube kauft, aber nie in seinem Leben selbst die Nase hineinsteckt, machen, was er will. Opponieren ihm mal die alten Leute, so holt er sich polnisches Gesindel und ruiniert uns durch das hergelaufene Volk den guten Stamm und seine gute Gesinnung. Ich sprach erst gestern einen Häuer von der Zeche Schleswig, der hier vom Gutshof stammt, ein Spielkamerad meiner Söhne war und ein Knappe vom guten alten Schlage ist. ›Wir wollen gar nicht randalieren,‹ meinte der, ›und hauen unseren grünen Jungens selbst eine runter, wenn sie spektakeln. Auch um den Lohn ist's uns nicht so sehr zu tun, nur kürzere Schicht müssen wir haben und anständige Behandlung.‹ Und solche Leute werden wie Aufrührer mit Pulver und Blei bedroht!«

»Ich glaube, die Herren sehen die Dinge zu sehr durch die Brille der Tradition,« mischte sich Fürst Limburg ins Gespräch. »Alte Bestimmungen und altes Recht entsprechen doch kaum mehr der ganz veränderten Betriebsweise. Und das wissen die einsichtsvolleren unter den Knappen sicher ganz genau. Mir scheint daher, daß die eigentliche Triebkraft der ganzen Bewegung nicht in der Sehnsucht nach der ›guten alten Zeit‹ zu suchen ist.«

»Und worin sonst, wenn ich fragen darf?« warf der alte Bodenberg, der so sehr das Orakel der Gegend war, daß er Widerspruch selten erfuhr, gereizt ein.

»In demselben Gegensatz, der auch die Sozialdemokratie großzieht: dem zwischen den ungeheueren Reichtümern auf der Seite der Unternehmer und der Besitzlosigkeit, um nicht zu sagen der Armut, auf der Seite der Arbeiter –«

»Armut! Darin sieht man wieder Ihre jugendliche Neigung zu starken Worten!« polterte Bodenberg; »als ob unsere Bergleute [328] von Armut auch nur 'ne Ahnung hätten! Haben alle ihr Häuschen, ihren Gemüsegarten und mästen sich ein Schwein –«

»Und doch, Herr Baron, haben wir unten im Dorf manche Ehefrau, die schon mitverdienen muß, und die Kinder schicken sie gewiß auch nicht aus Vergnügen so früh als möglich – mit gefälschten Geburtsscheinen, wenn's nicht anders geht – in die Grube,« ließ sich der Pfarrer vernehmen.

»Von der verdammten Genußsucht kommt das, und von nichts anderem!« unterbrach ihn der alte Baron, »zu meiner Zeit gingen die Knappenfrauen noch in Kopftüchern und Schürzen in die Kirche – heute muß jede einen Federhut tragen und die Röcke auf dem Tanzboden schwenken –«

»Wenn die Leute sehen, daß die Herren Direktoren mit vierzig- und fünfzigtausend Mark Gehalt auf Gummirädern fahren und Sektgelage geben und die Aktionäre schmunzelnd enorme Dividenden schlucken, so ist's doch kein Wunder, daß sie's ihnen auf der einen Seite nachmachen möchten und auf der anderen vor Neid immer rabiater werden. Die ganze Bewegung ist dadurch entstanden – ich komme damit auf meinen Ausgangspunkt zurück –, daß die glänzende Konjunktur der letzten Jahre ausschließlich den Besitzern und Aktionären, nicht aber den Bergleuten zugute kam. Hier hakt notwendigerweise die sozialdemokratische Agitation ein.«

»Sie sehen, was das betrifft, sicher zu schwarz, lieber Limburg,« sagte Graf Recke, »jedenfalls, soweit unser Hörder Kreis in Frage kommt. Unsere frommen, königstreuen Bergleute – und Sozialdemokraten! Selbst ihre Versammlungen schließen sie mit einem Hoch auf den Kaiser!«

Hessenstein räusperte sich vernehmlich: »Und doch haben mir heute morgen ein paar Kameraden von den Dreizehnern erzählt, daß die Direktoren der Zeche Schleswig gleichfalls um militärischen Schutz gebeten haben. Man fürchte Ausschreitungen gegen Streikbrecher, hieß es.«

[329] Bodenberg lachte, daß ihm die Tränen in den weißen Bart liefen: »Das ist wirklich kostbar! – Die Furcht ist schon die ansteckendste Krankheit! – Viel eher möcht' ich glauben, daß unsere Dorfschönen sich auf diese ungewöhnliche Weise für den morgigen Feiertag die Tänzer bestellten, die ihnen wahrscheinlich ebenso fehlen wie uns!«

Schweigsam hatte Syburg bis dahin zugehört. Sein kühler, hochmütig-wissender Ausdruck – der typische des altpreußischen Beamten – reizte mich.

»Ihre landrätliche Würde verbietet Ihnen wohl, sich auszusprechen?« wandte ich mich spottend an ihn, und als er, unangenehm überrascht, aufsah, fügte ich rasch hinzu: »Oder sollten Sie ketzerische Gedanken zu verbergen haben?«

»Ketzerische Gedanken?!« – er warf mir einen tadelnden Blick zu – »vielleicht! Aber andere, als Sie anzunehmen scheinen! So milde wie die Herren hier vermag ich die Dinge nicht zu beurteilen. Nach meiner Ansicht hat eine gewissenlose sozialdemokratische Agitation die gut bezahlten Bergarbeiter zum Kontraktbruch verführt, und es ist unsere Pflicht, sie, wenn es sein muß, mit Gewalt auf den Weg des Rechts zurückzuführen. Wortbruch und Pflichtvergessenheit sind überall der Anfang vom Ende.«

»Ganz Ihrer Meinung, Herr von Syburg!« antwortete ich, während mir das Blut heiß in die Schläfen stieg. »Es kommt nur darauf an, auf welcher Seite Wortbruch und Pflichtvergessenheit zu finden ist! Wenn die Grubenbesitzer, die in der glücklichen Lage sind, eine Havanna rauchend vor dem Tischleindeck-dich zu sitzen, den Arbeitern nicht so viel geben, daß sie anständig leben können, so ist das Pflichtvergessenheit; und wenn sie, die zu allen Vergnügungen der Welt Zeit haben, ihnen das althergebrachte Recht auf eine geregelte Arbeitszeit vorenthalten, so ist das Wortbruch!«

Syburg preßte die Lippen zusammen, – er zwang sich offenbar zu einer ruhigen Antwort.

[330] »Sie sprechen aus der Gefühlsperspektive der Frau. Das ist verzeihlich. Sie kennen, Gott sei Dank, diese aufrührerische, mit sozialdemokratischen Phrasen vollgefütterte Bande nicht, die jetzt auf den Gruben und in den Fabriken das große Wort führt und an allem rüttelt, was uns heilig ist.«

Wie eine Vision sah ich plötzlich all die Gestalten des Elends wieder, die mir im Leben begegnet waren: aus den Vorstädten Posens und Augsburgs, aus den Dörfern des Samlands.

»Sie mögen recht haben,« sagte ich nachdenklich, »die kenn' ich nicht – aber andere kenn' ich. Und das Eine weiß ich gewiß –« meine Stimme zitterte vor Erregung – »wäre ich eine von denen, meine Geduld wäre erschöpft, und ich würde mich um Treue und Pflicht nicht kümmern.«

Syburgs blasses Gesicht hatte sich mit tiefer Röte überzogen; doch die Herrin des Hauses hob die Tafel auf, und er unterdrückte noch rasch eine scharfe Antwort, die ihm offenbar auf den Lippen schwebte. Während des ganzen warmen Frühlingsabends, der uns alle in den Park hinauslockte, mied er mich. Nur beim Abschied hielt er meine Hand fest in der seinen und flüsterte: »Ich möchte, daß wir uns versöhnen – ganz und auf immer –, darf ich darauf hoffen, wenn ich nach Hohenlimburg komme?« Ich nickte nur.

Wir blieben über Nacht in Brake, um den bequemen Frühzug benutzen zu können. Aber als wir am nächsten Morgen herunterkamen, trat uns der alte Bodenberg mit ernstem Gesicht entgegen. »In Witten und Annen hat das Militär scharf geschossen,« sagte er, »in Dortmund soll die Haltung der Arbeiter eine drohende sein – nach Hörde sind, wie mein Verwalter eben berichtet, die Kürassiere unterwegs. Wenn auch die Stimmung der Leute in unserer nächsten Nachbarschaft vollkommen friedlich ist, so möchte ich Sie doch bitten, diesen Tag noch abzuwarten – oder wenigstens Ihre Damen hier zu lassen –« So sehr wir uns sträubten – Anna, weil die Gesellschaft des alten [331] Ehepaars sie langweilte, ich, weil mir nichts erwünschter gewesen wäre, als den Aufstand der Arbeiter in der Nähe zu sehen, – wir mußten uns fügen.

Ich lief in den Park – vielleicht, daß sich von hier aus irgend etwas erspähen ließ. Das Abenteuerfieber der Jugend packte mich, dasselbe Fieber, durch das Schulbuben auf Auswandererschiffe getrieben und schwärmerische Byron-Seelen in phantastische Freiheitskämpfe gerissen werden, das Fieber, das überall ausbricht, wo ein Gluthauch plötzlich die Normaltemperatur des Alltags vertreibt. Hohe Mauern wehrten mir den Ausblick. Sollten sie mich immer wieder von der lebendigen Welt da draußen trennen?

Ich trat auf den Gutshof. Feiertägige Stille herrschte auch hier. Aber drüben, wo zwei mächtige Linden am Ausgang zur Straße Wache standen, sah ich einen Haufen lebhaft gestikulierender Menschen. Ein grauer Kopf mit der Bergmannsmütze auf den kurzgeschorenen Haaren ragte aus ihrer Mitte hervor. »Ich, ich bin dabei gewesen!« hörte ich ihn schreien, als ich näher hinzutrat, – »ein Wunder, daß ich mit heilen Gliedern davonkam! Sie haben geschossen, wie verrückt.«

»So erzählt doch, Mann, erzählt!« – »Wo – wo ist's denn gewesen?« bestürmten ihn die Umstehenden. »In Bochum – gestern abend. Ein blutjunger Leutnant kommandierte Feuer – grad, als die Menschen aus dem Bahnhof strömten. Wie die Hunde die Hammelherde, so umschlossen die Soldaten die Leute – lauter harmloses Volk – kaum einer von uns darunter, – und dann lag der Platz voller Toten –«

Irgend woher klang eine Kirchenglocke. Der Bergmann schwieg, riß die Mütze vom Kopf und schlug mit der harten rissigen Hand das Kreuz über Stirn und Brust. Erst jetzt sah ich ihn genauer. Der Kohlenstaub schien sich in die Falten unter den Augen eingebrannt zu haben, so daß sie aussahen wie die großen runden Augenhöhlen der Totenschädel. Farblos fahl [332] waren die Züge; eine breite, gelbe Narbe, die das Gesicht in zwei Hälften teilte, entstellte sie zur Fratze. Er wandte sich zum Gehen, und die Menge drängte ihm nach. Die gerade schwarze Straße mit den kahlen Pappeln zu jeder Seite und dem schweren Grau trübdunstigen Frühlingshimmels ringsum verschlang sie rasch. Drohend wie ein Galgen ragten in der Ferne die Glockenstühle in die Luft, und die Sonnenstrahlen scheuten sich vor der Berührung dieser Öde ...

Langsam, schweren Herzens, wandte ich mich wieder dem Schlosse zu. Die Hausbewohner waren zur Sonntagsandacht in der Halle versammelt. Auf hohem Stuhl saß der Hausherr und las aus der alten Bibel: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid ...«

Und die Vertreter christlicher Ordnung schossen auf die Mühseligen und Beladenen! dachte ich bitter.

»Es läßt mir keine Ruhe,« sagte der alte Bodenberg, nachdem der letzte Ton auf dem Harmonium verklungen war und die Dienerschaft sich entfernt hatte. »Kommen Sie, Limburg, wir gehen ein Stück Weges zur Zeche hinunter –«

Entsetzt schrie Anna auf: »Das darfst du mir nicht antun, Fritz!« Aber begütigend legte die alte Baronin ihre feine Greisenhand auf den Arm der Erregten: »Fürchten Sie nichts, kleine Frau – die Leute hier krümmen unseren Männern kein Härchen.« Wir blieben trotzdem in kaum zu bemeisternder Unruhe zurück. Wir horchten auf jeden Ton, während einer den anderen durch eine möglichst harmlos-heitere Unterhaltung über die Erregung hinwegzutäuschen suchte, und sprangen gleichzeitig erleichtert auf, als nach einer Stunde Bodenbergs kräftige Stimme vom Hof herauf durch das Fenster klang.

»Hab' ich's euch nicht gesagt?« lachte er uns entgegen. »Sie freuen sich drunten ihres Feiertags wie nur je. Die Kinder spielen auf den Straßen, die Frauen stehen im Sonntagsputz vor den Türen und schwatzen mit den Nachbarn.«

[333] »Und doch heißt es, daß Soldaten kommen,« unterbrach ihn Limburg mit einem Ausdruck schwerer Besorgnis in den Zügen.

»Mögen sie doch! Gegen die Kinder, die jetzt schon in der Vorfreude hurraschreiend ihre Fähnchen schwingen, werden sie kaum zu Felde ziehen. Sahen Sie nicht den krummbeinigen Schlingel, dem seine Gefährtin, ein süßes Mädelchen mit Haaren wie rote Flammen, den Platz an der Spitze der kleinen Gesellschaft streitig machte? Gefährliche Aufrührer sind das, nicht wahr?!«

»Gewiß sah ich sie – aber ich sah auch die Gesichter der Männer hinter den Fenstern der Kneipe ...«

Ein Geräusch – wie ein fernes Prasseln von Hagelkörnern auf Glasscheiben – unterbrach das Gespräch. Bodenberg wurde aschfahl – »Gewehrsalven« – murmelte Limburg. Wir standen wie an den Boden gebannt, – in atemloser Erwartung. Unten auf dem Hof liefen die Leute zusammen. »Sie schießen,« schrie einer. Wir stürzten hinunter bis ans Tor, keiner sprach mehr ein Wort, aber von einer Angst erfüllt starrten wir alle die lange, öde, schwarze Straße hinab. Die Zeit schien still zu stehen, Ewigkeiten dünkten uns die Minuten. Endlich erhob sich in der Ferne eine Wolke Staubs vom Boden: Menschen, die liefen, als wäre der Teufel ihnen auf den Fersen. Näher und näher kamen sie: Weiber mit wehenden Haaren und verzerrten Zügen – schreiende Kinder mit rot verquollenen Augen – ihre Sonntagskleider bedeckt mit dem schwarzen Ruß der Straße. »Sie morden uns –« stöhnte eine weißhaarige Alte, warf die hageren Arme verzweifelt um den Kopf und brach vor uns zusammen ...

Tröstend und helfend gingen Brakes Bewohner von einem zum anderen, und endlich gelang es, aus dem wirren Durcheinander des allgemeinen Erzählens ein Bild dessen zu gewinnen, was geschehen war.

Der Ton der Pfeifen und Trommeln hatte alles auf die Dorfstraße gelockt. Den Großen voran waren die Kinder jubelnd [334] den einziehenden Soldaten entgegengelaufen, als ein barsches »Platz da« ihres Führers, eines jungen Leutnants, die Freude in Furcht verwandelt hatte. Die Kinder hatten sich hinter den Großen verkrochen, die Männer eine drohende Haltung angenommen.

»Nur das rothaarige Lieserl stellte sich keck mitten auf die Straße,« sagte die Alte, die noch auf dem Boden hockte.

»Und den Franz sah ich, wie er einen Stecken aus unserem Zaun riß und damit wild herumfuchtelte,« berichtete zungenfertig eine andere. »›Platz da‹ – rief der Leutnant dann noch einmal, und die Soldaten trieben uns alle gegen die Häuser. Da drängte sich die Mutter vom Franz mit dem Kleinsten an der Brust durch die Reihen – der Junge ist ihr Ältester, ihren Mann brachten sie ihr voriges Jahr tot aus der Grube –; sie hatte ihn grade erwischt, als der Herr Offizier nochmal losschrie-«

»›Immer die Augen auf den Feind halten,‹ sagte er. Ich hab' es ganz genau gehört,« ergänzte ein blasses Ding mit fanatisch funkelnden Augen die Worte der Erzählerin.

»Den Feind – damit meinte er uns!« riefen sie alle durcheinander, und selbst auf den Wangen der Müdesten und Stillsten erschienen rote Flecken.

»Da war's aus mit der Ruhe bei den Knappen – sie drohten mit den Fäusten, sie schimpften, auch ein paar Steine flogen ...« Die Erzählerin schluchzte auf.

»Dann schossen sie auf uns –« sagte mit tonloser Stimme die Alte. Und nun schwiegen sie alle – nur verhaltenes Weinen unterbrach die Stille.

Ich griff mir an den Kopf, – es war doch wohl nur ein böser Traum, der mich narrte?! Es brauste mir in den Ohren, das Entsetzen schnürte mir die Kehle zusammen.

»Dem Franz seine Mutter war die erste, die fiel –« wie aus weiter Ferne schlugen die Worte wieder an mein Ohr. »Ich sah sie dicht vor mir – die Haare ganz voll Blut – das [335] Jüngste an die Brust gepreßt – und den Stock noch in der Hand, den sie dem Franz entrissen hatte ...«

War ich es, die qualvoll aufstöhnte – oder war es ein Ton, der sich uns allen entriß?!

»... Ja, und die rote Liese lag auch mitten auf der Straße – sie guckte grade in den Himmel mit den toten Augen ...«

»Das süße Mädelchen mit den Flammenhaaren ...« flüsterte der alte Bodenberg mit erstickter Stimme.


Wir fuhren noch an demselben Tage auf einem großen Umweg zurück. Dicht hinter Unna wies der Fürst aus dem Fenster. »Wir passieren hier den historischen Boden der Zukunft,« sagte er, »dort drüben auf der Heide stand noch zu meines Vaters Lebzeiten jener uralte, sagenumwobene Birkenbaum, und jenseits, von den Schlückinger Höhen, sahen die Bauern, wie die blutige Schlacht um ihn tobte.«

»Vielleicht ist sie heute schon keine Sage mehr,« antwortete ich.

Mit steigender Erregung verfolgte ich in den nächsten Tagen die Ereignisse. Noch mehr als durch die Zeitungen erfuhren wir durch Briefe und durch die Erzählungen der Augenzeugen.

Kaum eine Stimme war, die für die Zechendirektoren Partei ergriffen hätte, und die Empörung war allgemein, je häufiger sie den Bergleuten, die im Vertrauen auf ihre Versprechungen die Arbeit wieder aufgenommen hatten, ihr Wort brachen.

»Habt ihr endlich Hunger genug?!« Damit empfingen die Zechenbeamten von Gelsenkirchen die wieder einfahrenden Knappen, und in Hörde trieben sie kranke Weiber und Kinder aus den Zechenhäusern, wenn die Männer im Ausstand beharrten.

»Ich glaube, daß wir vor einer großen Umwälzung stehen,« schrieb ich an meine Cousine, »die Macht des Kapitals muß gebrochen werden. Vor hundert Jahren hat die Revolution den [336] Absolutismus und den Feudalismus gestürzt – sie waren dessen wert! –, eine künftige Revolution wird den Kapitalismus vernichten, und wir werden das wunderbare Schauspiel erleben, daß der Adel und die Arbeiter zusammengehen.«

Die Deputation der Bergleute zum Kaiser schien mir der Auftakt des großen Schauspiels, das ich erwartete. Und die ersten Nachrichten von ihrem Empfang, von der Anerkennung ihrer Wünsche durch den Monarchen bestätigten meine Hoffnungen. Dann aber sickerten allerlei andere Gerüchte durch: die drei Deputierten waren keineswegs befriedigt zurückgekommen; kaum zehn Minuten hatte er Zeit gehabt, sie anzuhören, mit einer Drohung gegen alle, die sich den Anordnungen der Behörden widersetzen würden, hatte er seine Antwort geschlossen. Und was folgte, schien die Wahrheit der Gerüchte zu bestätigen: das ganze Streikkomitee wurde verhaftet, der Oberpräsident, der stets zu vermitteln gesucht hatte, mußte einem Nachfolger weichen, dem der Ruf eines Scharfmachers voranging. »Studt ist ein glatter Höfling,« schrieb mir mein Vater, »der mir neulich mit dem verbindlichsten Lächeln erklärte, daß meine offenbare Verkennung so trefflicher Leute wie der Grubenmagnaten höheren Orts unliebsam empfunden würde. Mich soll's nicht wundern, wenn wir in Preußen noch mal so weit kommen, vor jedem Geldsack auf dem Bauche zu rutschen.«

Unter den Enttäuschungen litt ich, als beträfen sie mich selbst. Mit der Märtyrergloriole hatte ich das Haupt der erschossenen Bergmannsfrau und das rote Köpfchen des Proletarierkindes umwoben und den gräßlichen Eindruck in der eigenen Erinnerung verklärt; nun waren sie umsonst gestorben, und nichts als der schwarze Straßenruß umgab sie.

Ich war in wehmütig weicher Stimmung, als Syburg kam. Am Morgen desselben Tages hatte mir Anna mit einem seligverschämten Lächeln von ihrer Mutterhoffnung erzählt, hatte mich in das weiße Zimmer geführt, das den jungen Erdenbürger [337] erwartete, und all die weichen, duftigen Dinge aus Spitzen und Battist waren mir durch die Finger geglitten. Meine Hände waren heiß geworden dabei, und die Tränen waren mir in die Augen gestiegen. Und die kleine Anna hatte sich emporgereckt, um mich mit einem altklug wissenden Ausdruck auf den Mund zu küssen.

Nun ließ sie all die Kupplerkünste spielen, in denen junge, glückliche Frauen Meisterinnen sind. Sie pries neckend meine Schönheit und meine Tugenden, erzählte allerlei Abenteuerliches von meinen vielen Verehrern und ließ uns schließlich, Müdigkeit vorschützend, im Park allein. Syburg schien nur darauf gewartet zu haben.

»Ich möchte Klarheit haben zwischen uns, volle Klarheit, Fräulein Alix,« begann er, zum erstenmal vertraulich meinen Namen nennend. Ich fuhr unwillkürlich erschrocken zusammen. Aber die Frage, die er stellte, war die nicht erwartete – gefürchtete. »Man hat mir erzählt, Sie hätten sich neulich nach dem Aufstand auf der Zeche Schleswig mit größter Schärfe für die Streikenden ausgesprochen.«

Ich bezwang meinen Zorn über diese Art, mich auf Herz und Nieren zu prüfen.

»Und wenn ich es getan hätte,« sagte ich rasch und abwehrend, »ist es nicht eine der ersten Forderungen Ihres Christentums, den Unschuldigen beizustehen? – Gebietet es nicht Ihre Religion, sich opfermütig zwischen die Kinder und ihre Mörder zu werfen?«

»Mein Christentum?! Meine Religion?!« Er sah mich groß an. »Sie haben sich falsch ausgedrückt, wie ich hoffe! Unser Glaube ist der gleiche – nicht wahr, Fräulein Alix?«

»Sie spielen ein männliches Gretchen, Herr von Syburg!« fuhr ich auf, »mit welchem Recht behandeln Sie mich wie Ihr Beichtkind?!«

[338] »Mit dem Recht des Mannes, der das Jawort Ihrer Eltern erhielt!« Er griff nach meiner Hand, die ich ihm heftig entriß.

»So erfahren Sie denn, daß ich dieses Recht nicht anerkenne! Niemand hat über mich zu verfügen – niemand – als ich, ich ganz allein. Und ich – ich werfe Ihnen ihr Jawort vor die Füße!«

Ich wandte ihm den Rücken, schritt ruhig durch die Lindenallee, über den Burghof, die Treppen hinauf in mein Zimmer – warf die Tür ins Schloß, riegelte zu – reckte die Arme weit aus: nun war ich frei!

Anna ließ ich vergebens klopfen – fragen – bitten. Ich wäre außerstande gewesen, irgend jemandem Rede und Antwort zu stehen. Ich mußte allein sein.

Noch stand ich mit einem Gefühl des Schreckens vor dem Abgrund, der zwischen mir und meiner Welt auseinanderklaffte. Unter den Speerwürfen blendenden Sonnenlichts war der Nebel zerrissen, den ich, mich selbst belügend, so lange für eine Brücke gehalten hatte. Ich stand auf fremdem Boden, – zurechtfinden mußt' ich mich, meine Gedanken sammeln, über meine Zukunft entscheiden.

Am nächsten Morgen, in aller Frühe schrieb ich an meine Eltern und trug den Brief selbst zur Stadt hinunter. Schneidend pfiff der Wind über die Höhen, als ich abwärts schritt. In grauen Wolken verschwanden die Türme der Burg, und aus der Tiefe grüßten mich sieghaft die schwarzen Schlote.

[339]
14. Kapitel
Vierzehntes Kapitel

Und nun kamen stille Wochen auf Hohenlimburg. Die Mutterhoffnung hatte Anna völlig verändert. Sie lernte die Einsamkeit lieben und überließ mich stundenlang mir selbst. In den ersten Tagen fürchtete ich mich vor jedem Postwagen, der ankam. Die Briefe, die er brachte, waren fast noch schlimmer, als die Ankunft des Vaters gewesen wäre, die ich erwartet hatte. Die Gründe, die mich bewogen hatten, Syburgs Werbung abzulehnen, hatte dieser natürlich in einer Weise dargestellt, die mich kompromittieren sollte. Über meine Sympathie mit den Bergarbeitern wurden, wie es schien, nicht ohne Syburgs Hilfe, wahre Räubergeschichten verbreitet, denen mein Vater zunächst Glauben schenkte. Und derselbe Mann, der eben erst gegen die Unternehmer gewettert hatte, gefiel sich jetzt in wilden Übertreibungen und beschuldigte mich, sein Unglück zu sein. »Daß ich, ein königstreuer Edelmann und Offizier, es erleben mußte, daß meine Tochter mit diesen wortbrüchigen Halunken sympathisiert!« schrieb er. Aber die Anschuldigungen, mit denen er mich in der ersten Aufregung überhäufte, trafen mich weit weniger als der tiefe Schmerz über mein Schicksal, der in seinen späteren, ruhigeren Briefen zum Ausdruck kam. »Wie hatte ich mich gefreut, Dich versorgt zu sehen, ehe ich sterbe –« dies Wort tat mir bitter weh. Meiner Mutter Briefe dagegen mit ihrem: »ich habe es vorausgesehen« – »ich wußte, daß Du Dich nie in geregelten Bahnen bewegen würdest« – »Deine Romane sind nur um ein Kapitel reicher geworden«, empörten mich.

[340] Auch meine Tante schrieb mir. »Deine Ablehnung einer, wie mir Hans mitteilte, so ungewöhnlich guten Partie ist ein Schaden, den Du Dir selbst zugefügt hast und dessen Folgen Du ebenso zu tragen haben wirst wie die sonstigen Folgen Deines Eigensinns ...«

Schweigend ließ ich alle Vorwürfe über mich ergehen. Ich machte weite Spaziergänge, auf denen mir der schwarze Cäsar, der treue Hofhund, nicht von der Seite wich. Dem Zusammenhang meines Lebens suchte ich nachzuspüren: Was war es gewesen – was wollte es von mir? Und wenn es Abend wurde, schrieb ich nieder, was mir durch den Kopf gegangen war, und meine Feder brachte Ordnung in das Chaos meiner Gedanken.

»Der Bildhauer bildet sein Werk aus einem rohen Marmorblock, er behaut es, er glättet es, er sucht die weichen Formen einer Venus aus dem harten Material herauszuarbeiten. Es dauert lange, ehe er sich selbst genügt; nicht das lebende Modell will er kopieren, er will ein Schönheitsideal, das ihm beständig vorschwebt, verwirklichen. Anders der Handwerker, der rasch ein effektvolles Dekorationsstück schaffen will: er fertigt ein Holzgerüst, drapiert es mit Sackleinwand, wirft Gips darüber und setzt eine fertig gekaufte Allerweltsgipsbüste darauf. Aus einiger Entfernung wirkt seine Arbeit nicht übel, dem Rohen täuscht sie dauernd ein Kunstwerk vor, – nur in der Nähe schau sie nicht an und hüte sie wohl vor Regen und Sturm, das Holzgerüst möchte sonst allzu schnell zum Vorschein kommen! – Hat ein Künstler oder ein Handwerker mich geschaffen? Habe ich die Nähe zu fürchten und das Wetter? Oder stürzt mich kein Sturm? Bin ich, oder scheine ich nur?« – –

Bald ließ es mir keine Ruhe mehr – kaum daß ich den nötigsten Schlaf mir gönnte –, ich schrieb und nannte das kleine schwarze Buch, über dessen Seiten meine Feder fiebernd flog: Wider die Lüge. Seine ersten Seiten lauteten:

»Die Lüge ist der Anfang alles Verderbens, ist das Verderben [341] selbst. Alle Schäden, an denen unsere Zeit, an denen wir selber kranken, entspringen aus diesem Grundübel. Wir sprechen in volltönenden Phrasen von Wahrheit, und doch trennen uns von ihr tote Jahrhunderte. Denn die Wahrheit der Vergangenheit wird zur Lüge der Gegenwart. Wie ein Verbrechen verstecken wir, was in die alten Formen und Formeln nicht passen will, und sehen nicht, daß es viel mehr Verbrechen ist, diese Formen und Formeln aufrecht zu erhalten. Wir beugen uns unter Gesetze, gegen die wir uns innerlich empören, und triumphieren, wenn wir schließlich selbst das Gefühl der Empörung unterdrückt haben. Und die Diener der Kirche und des Staates lehren uns, daß wir damit den Himmel erwerben.

Was ist Wahrheit? – Zweifelnd und verzweifelnd, schüchtern und wild flog diese Frage durch die Jahrtausende. Oft glich die Antwort einem Achselzucken, noch öfter dem Befehl eines Tyrannen, der jeden Widerspruch mit dem Beil des Henkers lohnt. Der Muhammedaner schwört auf den Koran, der Jude auf den Talmud, der Christ auf die Bibel. Und jeder, der ein neues Gedankengebäude gen Himmel türmt, sagt: das ist Wahrheit.

Gibt es eine Wahrheit? Eine unumstößliche, an der kein Steinchen sich lockert? Eine unbedingt gültige für alle Zeiten, alle Kreaturen, alle Welten?

Wie ein fernes Licht hinter einem dunkeln Vorhang leuchtet sie, und langsam, Schritt für Schritt, dringt die Erkenntnis erobernd vor und raubt dem Glauben einen Fußbreit Boden nach dem anderen. Der Weg wird heller, aber fern bleibt das Licht. Das Ende aller Dinge fällt zusammen mit seiner Enthüllung. Wir aber leben, und darum haben wir die reine Wahrheit nicht.

Wir müssen wählen zwischen fremder Wahrheit und unserer Wahrheit. Wir werden zu Lügnern, wenn wir bequem und gedankenlos nach den fertigen Wahrheiten der anderen greifen.

[342] Wer wahr sein will, muß frei sein. Frei von den Ketten, in die Erziehung, Bildung, Tradition uns geschmiedet haben, frei von den Zauberbrillen, mit denen die Priester unser Augenlicht verdunkelten, frei von der Tracht der Lakaien, in die die Machthaber der Erde die Abhängigen zwingen. Was du nicht selbst erwarbst, nicht selber bist, das ist Lüge und Sklaverei.

Die Erziehung ist wie eine eiserne Form, in die die weichen Kinderseelen hineingepreßt werden. Und sollte doch nur ein Stab sein zum Halt für das junge wachsende Bäumchen! Im Leben des Kindes bedeutet das ›Warum?‹ die Geburt des Menschen. Die Erziehung schlägt es tot, kaum daß es die Glieder regt. Das Schulzuchthaus spannt in dasselbe Joch den Begabten und den Unbegabten, den Phantasiereichen und den Nüchternen. Es stopft die Gehirne voll mit Namen, Zahlen und Regeln, und der beste Schüler ist, der rasch aufnimmt, der schlechteste, der sich grübelnd das Gehörte zu eigen machen will. Darüber stirbt das ›Warum‹, das Gehirn trocknet ein, das Herz verschrumpft, und an Stelle selbständigen Denkens, lebendiger Begeisterung für das Gute, Wahre und Schöne treten Geschichtstabellen, Bibelsprüche, Urteile über Welt und Menschen.

Wehe, wer dem Lehrenden widerspricht: Denken führt auf Abwege, Zweifeln schafft Ketzer und Aufrührer.

Verschling ihn getrost, den weichen süßen Brei, den man dir mundgerecht vorsetzt, du Päppelkind, du verlernst dabei selbst den Gebrauch deiner Zähne!

Nicht als mythendurchwebte Geschichte der Juden werden dem Kinde uralte Urkunden der Menschheit vorgetragen, als Wahrheit vielmehr, daran zu zweifeln Sünde ist. Rauben und Morden, Verfolgen und Betrügen – das Volk Gottes tat es auf Jehovas Befehl, unter seinem Schutz: und demselben Kinde, das diesen Gott anbeten, seine Auserwählten verehren soll, wird die Religion der Liebe gepredigt.

Nimm auch das hin, du arme kleine Menschenmaschine: [343] Rüttelst du nur mit einem eigenen Gedanken daran, so fällt das ganze Haus in Trümmer. Bringe deinen Verstand hübsch zum Schweigen, werde wie alle, die es in der Welt zu Geld und Ansehen bringen: eine lebendige Lüge.

Ein gebildeter Mensch ist das Ziel der Erziehung. Herrlich! Wenn es wahr wäre. Bilden heißt den gegebenen Stoff zur höchsten Vollkommenheit entwickeln – nicht aus Gips Marmorsäulen, aus Holz Eisenkonstruktionen, aus Glas Diamanten machen. Aber an Stelle des Seins die Täuschung setzen, ist das Zeichen unserer Bildung. Wer über alles mitredet, stets mit einem fertigen Urteil bei der Hand ist, selten bewundert, gilt als gebildet. Urteilsfähigkeit ist Kriterium der Bildung, aber doch nur dann, wenn das Urteil ein eigenes ist. Zu dieser Bildung aber ist der Weg lang und steil, und mißtrauisch sollte stets fertiges Urteil machen.

Der Gebildete unserer Tage scheint, was er nicht ist; er belügt andere, oft auch sich selbst; er begeht geistigen Diebstahl, indem er fremde Weisheit als eigene ausgibt; er beraubt sich der wundervollsten Lebensfreude, indem er zwar lernte, sich durch stete Verneinung hochmütig über alle zu erheben, nicht aber offnen Sinnes zu genießen, was Natur und Kunst geschaffen haben. Vergiftet ward uns der frische sprudelnde Quell der Bildung, ertötend rinnt er nun durch die Adern des Volks und trübt seinen Blick, so daß es den Vieles-Wissenden an Stelle des Selbst-Seienden zum Götzen erhebt.

Wer wider die Lüge streiten will, muß die neue Wahrheit verkünden. Welches ist sie?

Die Wahrheit von den Kindern zunächst:

Das Ziel der Erziehung sei kein Lexikon, sondern ein freier Mensch. Wissen sei nicht Selbstzweck, sondern Mittel zu dem Zweck, das Leben reich, den Menschen stark zu machen. Töte kein ›Warum‹, locke es vielmehr hervor, wie der Gärtner durch sorgsame Pflege die jungen Triebe hervorlockt. Leite, – meistere [344] nicht. Wisse, daß deine Wahrheit nicht die des Kindes ist, daß du es lügen lehrst, wenn du sie ihm aufzwingst. Märchenglaube ist Kindeswahrheit. Laß sie ihm. Erzähle ihm darum die Mythen der Völker wie Märchen: von Isis und Osiris zu Odin und Baldur, von Jehova zu Jupiter bis zum himmlischen Vater der Christen. Zeig ihm, wie die Menschen unter tausend Namen und Formen vor dem heiligen Geheimnis schaffenden Lebens anbetend knieten. Lehre es ihn schauen und bewundern in jeder duftenden Blume, jeder Wolke, jedem Stern, jedem Gesetz der Natur.

Und dann führe es ein in die Geschichte der Menschen. Schaffe keine Engel und Teufel aus deiner Machtvollkommenheit – aber störe das Kind nicht, wenn es sich eigene Helden bildet. Tritt bescheiden zurück mit deinem eigenen Ich hinter dem werdenden Ich des anderen. Was er nicht selbst beurteilen kann, lehre ihn, es nicht beurteilen. Es ist Sentimentalität, durch unsere Erfahrungen dem Kinde die eigenen ersparen zu wollen. Denn eigene Erfahrung ist die allein sichere Stufenleiter der Entwicklung. Führt sie das Kind fort von dir, so jammere nicht, denn nicht dein Eigentum ist es, sondern sein eigenes und das der Menschheit. Präge ihm nicht Lebensregeln ein, weise ihm vielmehr den Weg, um seines Lebens eigene Regeln zu finden.

Und seines Herzens eigene Religion.

Welches ist die Wahrheit von ihr? Der Entwickelungsgang der Menschheit ist vom ersten Ursprung an ein stetig fortschreitender. Kindlicher Märchenglaube ist der vom verlorenen Paradiese; der Mann glaubt an das zu erobernde.

In der Natur gibt es keinen Stillstand: der Fluß strebt dem Meere zu, der Baum wächst empor, zum Menschen wird das Kind. Dies ›Vorwärts‹ ist ein Gesetz, das sich nie verleugnet; so oft seine Kraft zu schwinden drohte, so oft brach es auch machtvoll durch alle Schranken, die menschliche Torheit mühsam aufrichtete. Die Überzeugung von der Unumstößlichkeit dieses Gesetzes [345] weitet unser Herz und unseren Geist. Wir werden es aus allen Verdunkelungen, aus allen Leiden, von denen die Geschichte der Völker und der Menschen erzählt, heraus erkennen, wenn es unser eigenes Lebensprinzip geworden ist. Wir werden es auch dann bejahen, wenn es tötet, weil wir wissen, daß welke Blätter fallen müssen, um jungen Trieben Platz zu machen, daß die Blüte sterben muß, wenn die Frucht reifen soll.

Der Pessimismus sagt: Es gibt kein Glück; der Pietismus versichert: Die Erde ist ein Jammertal. Aber die neue Wahrheit lehrt: Es gibt ein Glück, das über alles Leid hinweghilft; jede Blume auf dem Felde, jede Eichel am Baum, jeder Säugling am Mutterherzen zeugt davon. Sein Gesetz ist: Wachse! Werde! Soll es allein für die Religion nicht gelten?

Was ist Religion? Der Zug nach oben, die Ehrfurcht vor dem Unerkannten, Nichtzuerkennenden. Sollte sie unwandelbar feststehen, weil sie sonst kein Halt, keine Stütze wäre für so viele? Was ist denn das Feststehende an ihr? Etwa der Glaube, daß Gott Eins und doch Drei oder daß Christus einer Jungfrau Sohn ist? Oder der Glaube an die Speisung der Tausende, an die feurigen Zünglein des heiligen Geistes? Selbst der strengste Christ wird darin nicht den Urquell seiner Herzensreligion finden. Was ihn zu dem macht, was er ist, ihm die Kraft gibt zum Handeln und zum Ertragen, das ist nichts anderes als die Überzeugung von der Unendlichkeit des Werdens, – theologisch ausgedrückt: der Unsterblichkeitsglaube. Für ihn mag er in der Form des persönlichen Fortlebens, der Auferstehung des Fleisches, Wahrheit sein. Uns ward er zur Wahrheit im Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Wie ein Stoß fortwirkt ohne Aufhören, wirkt die Tat fort und der Gedanke ohne Ende.

Staat und Kirche lehren die Religion Christi wie vor achtzehnhundert Jahren. Was die Apostel, einfache Männer des Volks, in orientalischer Phantasie und kindlichem Glauben von ihres Herrn und Meisters Geburt und Leben erzählten, soll uns [346] noch Wahrheit sein. Was aber bleibt für uns, wenn wir hinter den Mythen die Wahrheit suchen? Die göttliche Geburt Christi? Des Menschen Geist ist göttlichen Ursprungs, und wer seiner Bestimmung folgt bis zum Tode, – der ist Gottes Sohn. Wir aber, die wir uns nennen nach dem Namen des Nazareners, der, wie wenige vor und nach ihm, der alten Lüge die neue Wahrheit entgegensetzte und sich ans Kreuz schlagen ließ von den Frommen seiner Zeit – wir verleugnen das größte, was uns ward: den Geist. Wir stempeln seine göttliche Kraft zur Sünde und lehren im Namen des Gekreuzigten, daß wir nicht zweifeln, das heißt: nicht denken dürfen. Aber die neue Wahrheit von der Religion predigt die Pflicht des Zweifelns, weil der Zweifel die neue Wahrheit gebiert und die Wurzeln des Werdens in ihm ruhen.

Denke bis zu den letzten Konsequenzen, reiße nieder, was deinem Denken im Wege steht; selbst das Heiligste, das Unantastbare ist unheilig und ein Frevel, wenn es dem Gedanken zur Schranke ward. Denke – und du wirst reich, denke – und du wirst stark und froh. Wer, und ob er gleich hundert Jahre lebte, wird solchen Werdens ein Ende finden? Darum, statt Christi wundersame Geburt zu verkünden, verkündet die Heiligkeit unseres Lebens! – Und sein Opfertod? Wer an ewige Höllenstrafen glaubt, den lehrt die Angst, daß die eigene Schuld von einem anderen gesühnt werden könnte. Jesus aber starb nicht für andere, sondern für seine Überzeugung – er lehrte die Tat, nicht die Reue. Und seine Auferstehung? Wer vermöchte an ihr zu zweifeln? Lebt nicht sein Geist – und wird er nicht ewig leben, auch wenn seine Lehre nicht die Wahrheit an sich ist, sondern nur eine Stufe zu ihr? – –

Nun aber bleibt mir noch die Rätselfrage nach der neuen Wahrheit vom Leben! Warum all die Qual und Not, all das Elend und die Verzweiflung? Im Kampf ums Dasein sind Milliarden Lebewesen untergegangen, um höheren Formen, reiferen Gehirnen Platz zu machen.

[347] Über Tote geht alle Entwicklung.

Die rohe Kraft wich den feineren Kräften des Geistes, und die Kräfte des Geistes warten ihrer Ergänzung durch die der Seele. Ohne Qualen gäbe es keine Kraft, die an ihnen wächst und sich bewährt.

Wer am Leiden zugrunde geht, ist des Lebens nicht wert gewesen.

Wächst nicht selbst aus dem Hunger der Massen der Riese, der ihn überwinden wird? Schafft die Not nicht die Einigkeit und den Kampf, grünt nicht heimlich unter Blutlachen und Tränen die junge Saat der kommenden Menschen?

Nur Eins ist not: daß wir in dem ungeheuern Triebrade der Entwicklung kein Staubkorn sind, das hindert, bis es zermalmt wird, kein Rostfleck, der den Mechanismus anfrißt, bis er zerrieben ist. Wenn wir kein Teil der motorischen Kraft sein können, seien wir wenigstens ein Tröpflein Öls, ein winziges Zähnchen.

Das ist die neue Wahrheit vom Leben.«


Mir war, als hätte ich mir ein Rüstzeug geschmiedet, das mich unüberwindlich machte. Glückselig sah ich jedem jungen Tage entgegen und wanderte mit frischen Kräften tief in den Wald, die Lenzluft einatmend, die starke, würzige – den echten Jugendborn für Geist und Körper.

Es war hoher Sommer, als ich mich entschloß, meines Vaters Wunsch Folge zu leisten und zum Kaisermanöver nach Münster zurückzukehren.

Am Tage meiner Ankunft prangte die Stadt schon in vollem Schmuck: Fahnen und Wimpel in bunter Farbenpracht flatterten im Winde, aus den Fenstern hingen Teppiche, über die Straßen zogen sich grüne Girlanden, mit roten und blauen Sommerblumen besteckt. Eine bunte Volksmenge füllte die Straßen. Alte Trachten tauchten auf: Frauen mit schweren,[348] goldgestickten Hauben, Männer mit weißen Strümpfen und roten Westen, auf denen dicke Silberknöpfe glänzten. Als am nächsten Morgen in glühendem Sommersonnenschein das Kaiserpaar einzog, schien die ganze Luft erfüllt von dem gewaltigen Konzert der Glocken, und der Donner der Geschütze klang nur wie der tiefe Akkord der Begleitung. Alle Pracht und allen Reichtum hatte der Adel Westfalens aufgeboten; in altertümlichen Kaleschen, gemalt und goldverziert, gepuderte Kutscher und Lakaien in roten, blauen, gelben und weißen Röcken auf Bock und Trittbrett, fuhren seine Vertreter mittags zum Empfang ins Schloß.

Kein Prunkzelt der Mediceer konnte üppiger sein als das auf dem Ludgeriplatz, wo die Mitglieder des Landtags den Landesherrn zum Mittagsmahl empfingen. Und kein florentinischer Palast konnte größeren Glanz entfalten als das Haus des Damenklubs, das am Abend die kaiserlichen Gäste erwartete. Auf den Treppenstufen standen die Jäger der Herzöge von Croy, von Ratibor, von Rheina-Wolbeck, der Fürsten Bentheim und Salm; mit kostbaren Gobelins, alten Venezianer Spiegeln, Waffen aller Länder und Zeiten, goldenen und silbernen Schaugefäßen waren die Säle geschmückt, aber die Fülle der Edelsteine auf den Köpfen, den Schultern und den Armen all der schönen, rassigen Frauen überstrahlte alles. Mit schimmernden Seidenkleidern und bunten Uniformen füllten sich die Räume; eine Fanfare – und unter dem Bogen der Türe erschien das Kaiserpaar: in Husarenuniform, den Dolman über dem kurzen, linken Arm der Kaiser, in weißem Brokat die Kaiserin. Zum erstenmal sah ich ihn wieder seit meiner Kinderzeit: das gebräunte Gesicht war noch finsterer geworden, der emporgewirbelte Bart konnte über die herabgezogenen Mundwinkel nicht täuschen, und das gleichmäßig verbindliche Lächeln der blonden Frau neben ihm war zu konventionell, ihr helles Antlitz zu ausdruckslos, als daß es den Blick von ihm hätte ablenken, die Empfindung von Eiseskälte, die uns alle überkam, hätte vertreiben können.

[349] Der Ball begann. Ich fühlte, wie die jungen Damen mehr als sonst von mir abrückten, wie man, trotz der Erregung des Augenblicks, Zeit fand, über mich zu tuscheln und zu raunen. Hessenstein stand wie ein riesiger Wächter neben mir. Er war es auch, der mir zuflüsterte, noch ehe eine »gute Freundin« mich schadenfroh davon unterrichten konnte, daß Syburg sich verlobt habe. Und an seinem Arm flog ich durch den Saal, als der erste Walzer seine Schmeichelweise ertönen ließ. Unten, dicht vor der Estrade, wo die Kaiserin Cercle hielt, stand der Kaiser. Im Rausch des Tanzes bemerkte ich ihn erst, als die Schleppe meines Kleides ihn streifte. Einen Augenblick lang sah er mir nach und lächelte, während mir mit einem Gefühl des Triumphes durch den Sinn schoß, daß kein Tänzer im Saal so schön war wie der meine und keine Dame so gut tanzte wie ich. So sollte es sein: nicht allmählich wie die alternden Mauerblümchen, wollte ich mich losreißen vom Jugendleben – auf der Höhe vielmehr wollte ich Abschied feiern! In den Pausen drängten sich die jungen Mädchen in die Nähe der Kaiserin und kehrten mit verklärten Gesichtern zurück, wenn es ihnen gelungen war, vorgestellt zu werden. »Wollen Sie nicht auch –?« meinte Hessenstein bedenklich. »Wozu?« antwortete ich lachend, »um eines Handkusses und einer Phrase willen meine Spitzen in Gefahr bringen!«

Im Speisesaal war auf erhöhtem Platz die Kaisertafel gedeckt; aus Gold waren Bestecke, Schüsseln und Schalen, phantastische Orchideen nickten aus hohen Kristallkelchen, Kränze von gelben Rosen hoben sich leuchtend von der mattvioletten Seide der Wände. Tisch an Tisch reihte sich in dem weiten Raum darunter, und den Dreihundert, die sich hier zusammenfanden, wurde von silbernen Schüsseln auf silbernen Tellern serviert. Ich saß in einem fröhlichen kleinen Kreis abseits unter dem Schatten großblätteriger Palmen; zwischen ihren Stämmen hindurch konnte ich hinauf zur Kaisertafel blicken. Das Profil Wilhelms II. stand scharf gegen den hellen Hintergrund. Ich [350] sah, wie er das Sektglas wieder und wieder zum Munde hob und wie er lachte – der kleine dicke Herzog von Croy, der ihm gegenübersaß, liebte derbe Späße –, aber es war das Lachen eines Ausgelassenen, das mit Heiterkeit nichts zu tun hat. Die starke rechte Hand gestikulierte lebhaft und benutzte nur hie und da das Doppelbesteck, um ein paar Bissen zu schneiden und zum Munde zu führen. Kraftlos, bewegungslos wie ein fremdes Glied hing die behandschuhte Linke an dem kurzen Kinderarm.

Sommerschwüle brütete in den Straßen, als wir heimwärts fuhren, und ein Sommernachtsmärchentraum hielt die alte Stadt umfangen. Exotische Glühwürmchen schienen um die Pfeiler der Laubengänge zu tanzen, sich, allen Linien des Maßwerks folgend, bis hoch in die Spitzen der Kirchtürme zu schwingen. Die grauen Steine verschwanden; aus Licht und Farben waren die spitzen Giebel, die schlanken Säulen, die hohen Fensterbogen gebaut. Hinter dem dunkeln Laubdach der alten Linden schimmerte der Dom wie ein gewaltiger Tempel des Lichtgottes.

Wir fuhren langsam in unseren hellen Kleidern, Ballblumen im Haar, und die Menge jubelte uns zu, wo wir vorüberkamen. Aus den offenen Fenstern und den Gärten tönte Gesang und Musik.

Lebensfreudiges Heidentum lachte und leuchtete um uns, jenes Heidentum, das die katholische Kirche klug zu erhalten verstand. Wo der Protestantismus mit seiner kunstfeindlichen Nüchternheit einzog, entfloh es; wo der Bischof im goldgestickten Ornat dem Prediger im schwarzen Trauerkleid Platz machen mußte, wo die lustigen rotröckigen Chorknaben verschwanden, und in das mystische, weihrauchgeschwängerte Dunkel der Kirchen grelles Tageslicht eindrang und duftloser Alltag, da verlor das Volk allmählich den Kindersinn, der sich in phantastischem Prunk und bunten Spielen äußert.

Zu Füßen der Porta Westfalica waren vierzehn Tage später die Kaisermanöver. Mit einer Parade vor den Toren von Minden [351] wurden sie eröffnet. Es war dasselbe Bild wie immer bei solchen Gelegenheiten: schwarze Menschenmassen, graue Staubwolken, geschmacklos dekorierte Tribünen, von Fremden und Einheimischen dicht besetzt; auf dem Felde davor, wohin das Auge reichte, blitzende Uniformen, wehende Helmbüsche, stampfende Pferde. In der Ferne die blauen Höhenzüge des Wesergebirges – ein ruhig-ernster Abschluß des lebendigen Bildes.

Wenn ein altes Roß, das schon lang vor dem Lastwagen keucht, die Trompete hört, so spitzt es die Ohren, hebt den müden Kopf und versucht mit den lahmen Beinen graziös zu tänzeln; und wenn der Mensch, der die Soldatenspielerei der Völker schon längst für frevelhaft hält, die alten Kriegsmärsche hört, so muß er an sich halten, um nicht mit zu marschieren; tauchen aber die Truppen selbst vor seinen Augen auf – all die Tausende junger, lebensstarker Menschen zu Fuß und zu Pferde, im silber- und goldverschnürten Rock, im glänzenden Küraß und die Sonne spiegelnden Stahlhelm, mit schwarz-weißen wehenden Fähnchen, den rasselnden Säbel zur Seite, oder mit dem dröhnenden Gleichmaß des Tritts zahlloser Bataillone, – so pocht das Herz ihm höher, so fest er's auch halten möchte.

Ich stand in der Mittelloge der Tribüne. Dicht vor mir die Suite des Kaisers, die fremdländischen Fürsten, er selbst, und an ihnen vorüber ein glänzender Strom von Soldaten, den die Tonwellen schmetternder Fanfaren zu tragen und zu treiben schienen. Ich wollte nicht staunen, nicht bewundern, aber die Worte des Spottes erstarben mir auf den Lippen. Wecken jene Klänge verlorene Erinnerungen aus barbarischer Vorzeit? Peitscht der Anblick kriegerischer Wehr jenen Tropfen Blutes auf, der von unseren Vorfahren, denen Kampf Lust und Leben war, noch in unseren Adern rollt? Oder ist es nicht bloß die Suggestion der Masse, der Musik, der Farben, die unsere Sinne berauscht? Würde es uns nicht in dieselbe Erregung versetzen, wenn diese Soldaten Männer der Arbeit wären, ihre Waffen [352] blanke Werkzeuge, ihre Uniformen Festgewänder, das ganze strahlend-bunte Bild eine gewaltige Revue der Arbeit?

Ich grübelte noch darüber nach, als ein brausendes »Hurra« mich aufsehen ließ. Der Kaiser hatte sich an die Spitze der 53er gesetzt und führte das Regiment seines Vaters an den Tribünen vorüber. Als spontane Gefühlsäußerung wurde jubelnd begrüßt, was nur eine Ausübung höfisch-militärischer Sitte war.

»Wird ihm diesmal schwer geworden sein,« meinte Fürst Limburg leise, der neben mir stand. »Warum?« frug ich verwundert. »Der Spuk im Aachener Kasernenhof soll ihn nicht wenig erregt haben!«

Am nächsten Morgen ritt ich mit Limburgs unter Führung eines Korps-Gendarmen ins Manövergelände. Mit trüben Gedanken, die der regnerische Tag nicht heller machte, war ich zu Pferde gestiegen. Meinen Vater hatte ich seit meiner Rückkehr so wortkarg und finster gefunden wie nie vorher; in diesen Tagen aber war er von haltloser Heftigkeit, so daß alles vor ihm zitterte. Ob er wohl auch an das pommersche Kaisermanöver vom Jahre 87 dachte?! – In einem Gehöft fanden wir Verdy, den Kriegsminister, dessen sarkastischer Witz mich immer ebenso anzog, wie sein vernachlässigtes Äußere mich abstieß. »Sauwetter!« brummte er, mir die Hand schüttelnd. »Sie hätten sich auch was Besseres aussuchen können, als diesem Manöver beizuwohnen.«

»Was bedeutet die seltsame Betonung, Exzellenz?« frug ich unruhig.

»Na, Sie sehen doch – es regnet,« wich er aus, »und dann – all das Hofgeschmeiß, über das man stolpert! Wissen Sie übrigens – Majestät hat Herrn von Wittich in letzter Stunde die Führung desmar kierten Feindes übertragen.« Ich erschrak: Wittich, der Generaladjutant und Günstling des Kaisers, ein Mann, dessen militärische Leistungen mein Vater zu verhöhnen pflegte, stand ihm heute als Gegner gegenüber!

Wir ritten weiter. Unterwegs begegnete uns ein Ordonnanzoffizier vom Stabe meines Vaters. Er strahlte.

[353] »Das war ein Bravourstück,« rief er mir schon von weitem entgegen. »Die dreizehnte Division hat einen Marsch hinter sich, der alles in Erstaunen setzte. Natürlich kam die feindliche Kavallerie zu spät und wurde glänzend abgewiesen.«

Ich atmete auf. Von der Mühle Habichtshorst wehte die Kaiserstandarte. Wir ritten so nah heran wie möglich.

Im nächsten Augenblick brauste und dröhnte es dicht vor uns: unter Tausenden von Pferdehufen bebte die Erde, die ganze Kavallerie-Division stürmte zum Angriff, – ein Anblick, der den Herzschlag stocken ließ und jenes Fieber gespannter Erregung auslöste, das den Hazardspieler packt, wenn er die Elfenbeinkugel rollen sieht. Ich vergaß meine Unruhe – den Vater – den peitschenden Regen –, meine Hand, die den Feldstecher vor die Augen hielt, zitterte. Einen Moment trat das Antlitz des Kaisers in mein Gesichtsfeld: seine Augen glühten, und seine Lippen zuckten. Ich begriff plötzlich seine Leidenschaft für solch ein Schauspiel.

Gleich darauf hörte ich Trommeln und Pfeifen: im Sturmschritt rückte die Infanterie von der anderen Seite vor, – sie kam in unzählbaren Massen, wie aus der Erde gestampft, mit Hurra und knatterndem Gewehrfeuer. Ich sah den Fuchs meines Vaters, – da plötzlich ein Signal: Das Ganze Halt!, und still stand der Kampf.

Merkwürdig scheu wichen mir auf dem Heimweg unsere Offiziere aus. Kurz vor Minden traf ich Hessenstein, den ich anrief. »Was ist geschehen?« frug ich verängstigt.

»Es soll einen bösen Auftritt gegeben haben,« antwortete er. »Auf die Mitteilung, daß er geschlagen sei, ist Ihr Herr Vater in helle Wut geraten. ›Sie sind wohl des Teufels‹, soll er geschrien haben, ›Ihre ganze Kavallerie ist ja vernichtet‹. Alle, die ich sprach, geben ihm übrigens recht. Der Sturm auf Nordhemmern und Holzhausen hätte zweifellos seinen Sieg gesichert, wenn er nicht abgebrochen worden wäre.«

[354] Wir reisten noch an demselben Tage nach Münster zurück und erwarteten dort meinen Vater. Er war ruhiger, als ich gefürchtet hatte, und erwog mit solcher Sicherheit die Aussichten auf ein Armeekorps, daß wir selbst kaum mehr daran zu zweifeln vermochten.

Als der nahende Karneval uns grade wieder an die geselligen »Pflichten« zu erinnern begann, starb die alte Kaiserin Augusta, und es war für diesen Winter mit Spiel und Tanz vorbei. Nichts hätte mich mehr befriedigen können. Nun konnte ich mich ungestört der Aufgabe widmen, deren Erfüllung ein neues Leben einleiten sollte.

Das kleine Buch, das ich in Hohenlimburg zu schreiben begonnen hatte, enthielt die Skizzen, aus denen ich ein Gemälde schaffen wollte, so stark an Farben, so lebendig an Gestalten, daß in Zukunft niemand daran würde vorübergehen können. Aber so rasch jener erste Entwurf entstanden war, so langsam ging's mit der neuen Arbeit. Ich entdeckte Lücken in meiner Bildung, die durch die mir zu Gebote stehenden Mittel unausfüllbar blieben. Meine Unwissenheit auf den Gebieten der Philosophie und der Naturwissenschaften stürzte mich oft in die tiefste Verzweiflung. Mein ganzes bisheriges Leben erschien mir dann wertlos, die Zukunft, wie ich sie erträumte, auf immer gefährdet. Oft saß ich bis in die Nacht hinein grübelnd am Schreibtisch, und erst wenn das letzte Scheit Holz im Kamin erlosch und die Finger in der Winterkälte erstarrten, huschte ich fröstelnd in mein Schlafzimmer.

Ich war in dieser Zeit so mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, daß ich mich automatenhaft in meiner Umgebung bewegte, bis mir eines Tages meines Vaters klanglose Stimme auffiel. »Bist du krank, Papachen?« frug ich besorgt. Er lachte gequält: »Ich sollte es sein!« Als ich am nächsten Morgen zum Frühstück in sein Zimmer trat, lag er im Lehnstuhl, leichenblaß, mit weit aufgerissenen Augen. Ich stürzte neben ihm in die [355] Knie und griff nach seiner schlaff herabhängenden Hand. In dem Augenblick kam er zur Besinnung; ein Ton, der nichts Menschliches an sich hatte, drang aus seiner Kehle, – er sprang auf, schlug wild aufschluchzend die Hände vors Gesicht, um in der nächsten Minute wieder zurückzusinken. Da fiel mein Blick auf einen weißen Bogen, aus einem blauen Umschlag halb herausgerissen, – ich griff danach und las mit verdunkeltem Blick nur die drei Worte: »... der Abschied bewilligt ...«

»Die dreizehnte Division!« murmelte mein Vater.


Nicht rasch genug konnten wir unseren Haushalt auflösen. Mein Vater vertauschte noch an demselben Tage die geliebte Uniform mit dem schwarzen Rock. Aber er wagte sich damit bei Tage nicht auf die Straße; sein Gesicht färbte sich dunkelrot bei jedem Soldaten, der ohne Gruß an ihm vorüberging. Ich folgte ihm wie sein Schatten; er sah aus wie einer, dem der Tod nachschleicht. Ohne Anteilnahme hörte er zu, wenn meine Mutter Zukunftspläne schmiedete; wenn sie aber in der Aussicht auf ein ruhiges Leben förmlich froh zu werden vermochte, erhob er sich schwerfällig und ging hinaus. Er kümmerte sich um nichts, äußerte keinen Wunsch, ließ alles geschehen.

Meine Mutter verkaufte ein gut Teil der Möbel – er merkte es nicht; sein Adjutant verhandelte mit Hilfe des Reitknechts mit den Pferdehändlern, – er betrat den Stall nicht mehr. Als dann aber der Morgen kam, wo die Pferde fortgeführt werden sollten und wir alle versuchten, ihn in seinem Zimmer festzuhalten, lief er plötzlich auf den Flur hinaus, – hell hatte der Fuchs, sein Lieblingspferd, gewiehert, auf dem Hofe unten stand er, sein goldiges Seidenhaar glänzte im Sonnenlicht, und lustig bellend, wie sonst vor dem Morgenritt, sprang ihm Percy, der weiße Terrier, an die Nase. Gegen die Scheibe preßte mein Vater die Stirn, ein Beben erschütterte seinen starken Körper, [356] und schwere Tränen rollten ihm über die Wangen. Der Fuchs verschwand im Torweg; nur der Hund blieb noch unschlüssig stehen, kniff den Schwanz, sah fragend zu uns hinauf und trottete dann erst nach – langsam, ganz langsam.

[357]
15. Kapitel
Fünfzehntes Kapitel

Märzsturm im Harz. Er schüttelte auf den Höhen die schweren Schneemassen von den Bäumen und peitschte durch die Täler feuchtkalten, rieselnden Regen. Hochauf geschwellt wie ein Gießbach rauschte die sonst so bescheiden flüsternde Radau durch das Städtchen. Unter den kahlen, schwarzbraunen Eichen stand in grauschillernden Lachen das Wasser; es hing in hellen Tropfen in den Spinngeweben zwischen den Balken des Musikpavillons und im dürren Weinlaubgerank um die muffig riechenden Wandelhallen. Mit geschlossenen Fensterläden schliefen Häuser und Gasthöfe noch den Winterschlaf, und auf den Wegen in die Wälder hatten Regen und Schnee all die vielen Fußspuren des vergangenen Sommers verwischt.

Jeden Morgen, wenn die blecherne Uhr von Juliushall – das einzig Lebendige zu dieser Stunde – sieben schlug, trat aus dem kleinen Häuschen gegenüber ein Mann heraus: mit zwei müden, blauen Augen unter finster gefalteter Stirn sah er kühl und gleichgültig zum ewig grauen Himmel auf; die vollen Lippen, die ein dichter blonder Bart beschattete, preßten sich fest aufeinander, und die eine Faust auf dem Rücken, die andere um den Krückstock gespannt, ging er rasch die Chaussee hinauf. Er lief immer mehr, je weiter er kam; tauchte irgendwo ein Mensch auf, so bog er seitwärts in die Wälder. Zuweilen folgte ihm vorsichtig spähend ein junges blasses Mädchen, dem die schwarzen Locken im Wind wild um die Stirne tanzten. Aber sie kam nicht weit, – sie hätte schließlich laufen müssen, um ihn im Auge [358] zu behalten, und das Herz klopfte ihr zu stark. So ging sie denn aufseufzend, mit einem sorgenvollen Zug um den Mund, die schmale Treppe wieder hinauf, in die Puppenwohnung mit den verschossenen Puppenmöbeln, den bunten Öldrucken an der großblumigen Tapete, dem unbehaglich dürftigen Pensionsfrühstück auf dem runden Tisch. Sie schluckte den dünnen Kaffee, aß widerwillig ein winziges Brötchen und sprang mit nervöser Hast auf, als nebenan Stimmen laut wurden. »Schwester!« rief die eine halb verschlafen – »Alix!« klang eine andere, scharfe, spitze durch die zweite Tür. Vor dem kleinen Mädchen kniend, das sich die goldenen Löckchen wohlgefällig über die rosigen Fingerchen wickelte, zog sie ihm Strümpfe und Schuhe an, um gleich danach zur Mutter zu gehen, die vor dem Spiegel der geschickten Hände ihrer Ältesten wartete.

»Papa war heute wieder sehr böse über den schlechten Kaffee,« sagte sie, während sie mit dem Kamm durch die noch immer vollen blonden Haare ihrer Mutter fuhr, »und der Ofen will auch nicht brennen, – wir sollten doch lieber umziehen!«

»Du weißt, daß alle anderen Pensionen erheblich teurer sind,« antwortete die Mutter gereizt, »Hans muß sich eben an Einschränkung gewöhnen.«

Kam der Vater gegen Mittag zurück, mißmutig und müde, so saß seine Älteste schon seit ein paar Stunden neben dem Schwesterchen und spielte Lehrerin. Des Nachmittags gingen sie zu viert spazieren; aber angesichts der gramvollen Verschlossenheit des Vaters, der unnahbaren Kühle der Mutter und einer Natur, die von der weißglänzenden Winterpracht und der grünschimmernden Frühlingshoffnung gleich weit entfernt war, verstummte selbst Klein-Ilschens Lachen und leichtsinniges Geplauder. Im stillen atmete jeder auf, wenn der Familienausflug ein Ende nahm, und doch versicherte einer dem anderen, daß er »herrlich« gewesen wäre.

Große Schmerzen bedürfen der Einsamkeit. Schwül und [359] schwer lasten sie wie Gewitterluft, wenn sie sich nicht entladen können; und die Qualen des anderen mit ansehen, heißt die eigenen verdoppeln. Aber Tradition und Sitte predigen in verlogener Sentimentalität, daß sie gemeinsam getragen werden müssen; und ihnen beugten sich die drei Menschen, so sehr sie auch auseinander verlangten.

Wenn alle schliefen, brannte bei der Schwarzen, Blassen noch lange die Lampe. Aus den Schulbüchern der Schwester bereitete sie sich auf das Pensum des nächsten Tages vor, – sie hatte ja nie gelernt, zu lehren, und mühsam war's, das Notwendige nachzuholen. Dabei war auch noch stets der Arbeitskorb voll, geflickt mußte werden und genäht, – niemand durfte merken, daß die Verhältnisse der Familie ihrem Rang nicht mehr entsprachen. Sehnsüchtig schweiften die dunkeln Augen der Arbeitenden oft genug zu den Büchern, die erwartungsvoll mit blanken Goldlettern auf dem Rücken von dem kleinen Regal zu ihr herübersahen. Stahlen sich dann aber gar Tränen zwischen den Wimpern hervor, so zog sie einen zerknitterten Brief aus der Tasche, mit feinen Schriftzügen dicht bedeckt, und las ihn, den sie schon fast auswendig wußte, wieder und wieder. Er lautete:


»Pirgallen, 10. März 1890.


»Mein geliebtes Enkelkind!


Deine Mutter schreibt mir, mit welch ruhigem Ernst Du Dich in die neue Lage gefunden hast, und wie treulich Du all die Pflichten, die sie Dir auferlegt, erfüllst, so daß ich Dich nun ganz besonders meiner zärtlichen Liebe und freudigen Anerkennung versichern möchte. Ich habe oft gefürchtet, die kleinen Teufel der Eitelkeit möchten von meiner Alix reinem Herzen schließlich Besitz ergreifen; vielleicht hat die Führung Gottes, die uns kurzsichtigen Menschen oft grausam erscheint, auch für Dich den rechten Weg gefunden, auf dem Dein besseres Selbst [360] sich voll entfalten kann. Ich habe, wie Du weißt, von Anfang an den Abschied Deines Vaters nicht so tragisch genommen wie alle anderen, wie vor allem er selbst. Je älter wir werden, desto gleichgültiger erscheinen uns solch äußerliche Begebenheiten. Daß es freilich eine harte Schule gerade für Hans ist, der an seiner empfindlichsten Stelle – seinem Selbstbewußtsein, seinem Ehrgeiz – getroffen wurde, weiß ich nur zu wohl. Aber er ist stark und gut genug, um sie schließlich bestehen zu können, wenn Ihr alle, Du besonders, mein Kind, an der er mit all seiner Zärtlichkeit hängt, ihm in geduldiger Liebe beizustehen nie unterlassen werdet und er für seine ungebrochene Kraft eine Tätigkeit findet, die ihr entspricht.

Aber noch eine andere, und für Dich vielleicht schwerer zu erfüllende Aufgabe muß ich Dir, meine Alix, übertragen. Ich hoffe, Du wirst daran den Grad meines Vertrauens zu Dir ermessen können und es nicht als Grausamkeit empfinden, wenn ich gerade Deinen jungen Schultern diese Last auferlege. Ich bin 78 Jahre alt und kann jeden Tag abberufen werden. Es ist mir möglich gewesen, meine einzige Tochter, Deine Mutter, durch regelmäßige pekuniäre Zuwendungen, durch Geschenke, Badereisen und dergleichen, vor quälenden Sorgen zu bewahren. Nichts konnte mich mehr freuen, als daß ich dazu imstande war, denn seine Lieben mit dem zu unterstützen, was man entbehren kann, ist niemals ein Opfer. Deine Mutter hat es um so selbstverständlicher angenommen, als sie stets zu dem Glauben berechtigt war, daß ihr künftiges Erbteil noch unangetastet in meinem Besitz sich befinde. Um den Frieden ihrer Ehe nicht zu stören, habe ich ihr die Wahrheit verschwiegen. Sterbe ich, so wird sie erfahren, daß Hans auf Grund dieser Erbschaft von meinem Sohn Walter im Laufe der Jahre Darlehen empfing, die sie sogar um ein beträchtliches übersteigen. Das wird für Deine Mutter nicht nur eine große Enttäuschung sein, es wird auch Einschränkungen aller Art nach sich ziehen, und auch an [361] bitteren Empfindungen zwischen Deinen Eltern wird es nicht helfen. Dir, meine Alix, teile ich das schon heute mit, damit Du bereits jetzt Deinen Einfluß dahin geltend machst, daß Euer neues Leben sich möglichst einfach gestalte, und Du fortfährst, ein fleißiges Hausmütterchen zu sein. Deine Eltern glauben Deiner Jugend, Deiner Zukunft, einer möglichen Heirat alle Rücksicht schuldig zu sein, sie werden sich gewiß einen Aufenthaltsort aussuchen, wo Du die gewohnte Geselligkeit finden und eine gesellschaftliche Rolle spielen kannst. Ich denke zu hoch von meiner Enkelin, als daß ich nicht wüßte, daß Du höhere Werte zu schätzen und höheren Zielen zu folgen weißt. Eine Ehe ist nur selten ein Glück, am wenigsten eine solche, die im Ballsaal geschlossen wird, und Dich hat Gott mit so vielen guten Gaben bedacht, daß Du auch außerhalb der natürlichen weiblichen Lebenssphäre einen Dich und andere befriedigenden Lebensinhalt finden wirst. Suche Dir diesen Inhalt, nicht nur um Deiner selbst willen, sondern auch um Deinen Eltern die Sorge um Dich von der Seele zu nehmen. Dein Vater freilich, immer ein Optimist in diesen Dingen, rechnet für seine Töchter mit den Millionen der Augsburger Tante. Deine alte Großmutter, mein Kind, die stets in dem Rufe stand, schwarz zu sehen, weiß aber aus Erfahrung, daß es mehr als töricht ist, auf den wankelmütigen Sinn reicher Frauen Zukunftsburgen zu bauen. Klothilde ist ebenso egoistisch wie launisch, und ihrer Eitelkeit zu schmeicheln hast Du, Gottlob! noch nicht verstanden. Darum ist der Rat, der letzte vielleicht, den ich Dir geben kann, der: stelle Dich auf Deine eigenen Füße. Über das »Wie« zu entscheiden, wird freilich Deine Sache sein. Nur an ein paar Beispiele möchte ich Dich erinnern: an Frau v. W., die ein schönes, gefeiertes Mädchen, eine verwöhnte Frau gewesen ist. Ihr Mann verjubelte, was sie besaß, und mußte, als unheilbar Gelähmter, den Abschied nehmen, so daß ihr allein die Erhaltung der ganzen Familie zufiel. Sie setzte sich an den Schreibtisch, schrieb Romane und [362] erwarb, was nötig war, um zu leben und ihre Kinder zu erziehen. Oder denke an die kleine Gräfin B., deren Eltern starben, als ihre fünf Geschwister noch unmündige Kinder waren. Mit den Künsten, durch die sie bisher nur die Verwandten erfreut hatte, erhielt sie von da an die Ihren. Ihre gemalten Teller, ihre gebrannten Wappen und gepunzten Ledereinbände findest Du jetzt in den Auslagen großer Berliner Geschäfte.

Und nun leb' wohl, mein Herzensenkelkind; ich fühle, daß Du mich recht verstehst, und weiß zuversichtlich, daß ich im Vertrauen auf Dich ruhig meine Augen werde schließen können. Ich drücke Dich an mein Herz, als

Deine treue, sehr alte

Großmama.«


Viele schlaflose Nächte hatte mich dieser Brief gekostet, und noch war keine Stunde am Tage vergangen, die mich nicht an ihn erinnert hätte. Im ersten Überschwang des Gefühls hatte ich Großmama alles versprochen, was sie von mir erwartete, und freudigen Herzens hatte ich mich in meine Aufgabe gestürzt. Aber der Eifer erlahmte bald, und es blieb nichts übrig, als nüchterne, eiskalte Pflichterfüllung. Ich mußte Großmamas Wünschen folgen, weil die Verhältnisse mir unweigerlich ihre Erfüllung aufzwangen, und ich konnte es, soweit die häuslichen Pflichten in Betracht kamen. Aber wie sollte ich es fertig bringen, mich »auf eigene Füße zu stellen«?! Nach Selbständigkeit hatte ich mich gesehnt mein Leben lang – nach Selbständigkeit und nach Freiheit –, aber das war's ja gar nicht, was Großmama unter ihren eigenen Worten verstand, und was ich zu erreichen genötigt werden würde. Nicht meiner Überzeugung leben, mein geistiges Ich befreien sollte ich, sondern im Dienst der Familie meine Begabungen in blanke Münze umsetzen.

Aus bunten Lappen, Blumen und Bildern hatte ich mir einst im Zimmerwinkel einen heimlichen Tempel erbaut, der wertlos [363] für mich wurde und entweiht durch den ersten fremden Blick, der hineinfiel, – und nun sollte ich meine Gedanken, den ganzen Inhalt meines Seelenheiligtums preisgeben, sollte für den Verkauf denken und träumen, wie man Spitzen klöppelt, um sie nach dem Meter an den Mann zu bringen?! Ich hatte gehofft, mit jenem kleinen schwarzen Büchlein einmal öffentlich wider die Lüge zu kämpfen – aber nur um des Kampfes willen! In den Schmutz ziehen hieß es die ganze große Sache, wenn auch nur ein Gedanke an »Verdienen« sich mit ihr verband. Nein – tief in den Koffer und noch tiefer in den Hintergrund meines Herzens mußte ich das schwarze Büchlein bannen, solange ich an »Verdienen« denken mußte. Ob ich wohl auch, wie Frau v. W., Romane schreiben könnte? – Eine tiefe Ehrfurcht vor dem Schaffen der Dichter erfüllte mich von je her. Als höhere Wesen erschienen sie mir, Gott ähnlich, da sie Menschen schufen wie er. Sie wurden geboren durch ein höheres Naturgesetz und nur durch ein solches zum Schaffen gezwungen. Ein Frevler am Heiligtum, wer sich zu ihnen erhob, um mit Phantasien und Versen zu schachern, – lieber Hemden nähen, oder Strümpfe stricken!

Flüchtig fiel mir meine Geschicklichkeit ein, Kleider zu machen und Hüte zu garnieren, – doch: ein Fräulein von Kleve eine Schneiderin, eine Putzmacherin – unmöglich! Aber wie viel Tischkarten hatte ich nicht schon gemalt, wie viel Stühle und Tische und Kasten und Rahmen gebrannt, – hier war vielleicht ein Weg, der sich betreten ließ. Von nun an benutzte ich jede freie Stunde, um mit dem Pinsel oder dem Brennstift Seide und Sammet, Papier, Holz und Leder zu bearbeiten.

»Komisch,« meinte Papa eines Abends, »daß du plötzlich mit solchem Eifer Dilettantenkünste treibst. Es ist doch noch lange Zeit bis Weihnachten.« – »An Alix' Geistessprünge solltest du eigentlich schon gewohnt sein,« spottete Mama. Heiß stieg mir das Blut in die Schläfen; eine heftige Antwort schwebte [364] mir schon auf der Zunge, als ein für Harzburgs Stille ungewohnter Lärm auf der Straße uns alle ans Fenster trieb.

»Extrablatt – Extrablatt!« Mein Schwesterchen stürmte die Treppe hinab – endlich ein Ereignis in diesem einförmigen Leben! – und mein Vater ihr nach, der immer irgend etwas Ungeheures erwartete und sich seit seinem Abschied mehr denn je in Prophezeiungen gefiel.

»Bismarck ist entlassen –« atemlos rief er es uns von der Straße herauf zu und stieg mit jugendlicher Elastizität die hohen Stufen wieder hinauf. Hochrot war er im Gesicht, die Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn, und ein triumphierendes Leuchten war in seinen Augen. Erstaunt sah ich zu ihm auf.

»Er auch!« sagte er wie zu sich selbst und lächelte. Nun verstand ich ihn: ein Größerer war gefallen, von demselben Schützen getroffen, – nicht mehr als der Gedemütigte stand er da, sondern als der Gefährte dessen, der das Reich gegründet hatte und von des Reiches drittem Kaiser aus dem Wege geräumt worden war. Von dem Tage an lebte er auf, wurde gesprächig wie früher, verfolgte mit steigendem Interesse die politischen Ereignisse, und seine oppositionelle Stellung zum »neuen Kurs« wurde eine immer schroffere.

»Wir werden nach Berlin übersiedeln,« sagte er mit einer Bestimmtheit, die jeden Widerspruch ausschloß. »Dort eröffnen sich mir alle Möglichkeiten zu literarischer und politischer Tätigkeit.« Er begann für die konservative Presse schärfster Observanz zu schreiben, die damals der Ära Caprivi all ihren Widerstand entgegensetzte.

Die Aussicht auf Berlin elektrisierte selbst die Mutter: auf Theater, Konzerte, Ausstellungen freute sie sich wie ein Kind. Ein unterdrückter, ungestillter Hunger schien plötzlich bei ihr zum Ausbruch zu kommen. Auch ich war mit der Wahl von Berlin zufrieden; dort würde es mir leichter werden als anderswo, meine Arbeiten anzubringen, und die trübe Nebelstimmung [365] meines von der Pflicht und dem Erwerb ausgefüllten Daseins würde doch vielleicht hier und da von einem Sonnenstrahl aus der Welt geistigen Lebens – der für mich unerreichbar fernen! – durchbrochen werden. Daß meine Freude eine so gedämpfte war, begriffen die Eltern nicht. Mein Vater bemühte sich immer wieder, der Ursache nachzuspüren.

»Du wirst mit Mama die Hofbälle besuchen – auch wenn ich nicht mittun kann,« sagte er eines Tages mit gütigem Lächeln. »Nein, Papachen!« antwortete ich, ihm dankbar die Wange küssend. »Ich bin lange genug ausgegangen – ich mache mir nicht das mindeste daraus.«

Er schüttelte bekümmert den Kopf, – nun war er vollends ratlos. Wie gut, dachte ich, daß seine Jüngste, Ilschen mit dem Goldhaar, die allzeit Fröhliche, ihm immer wieder die Sorgenfalten von der Stirne lachte und schmeichelte. Oft schickte ich sie hinein, wenn ich ihn in trüben Gedanken wußte. Sie verstand es, wie Sonnenschein alle Regentropfen glitzern zu machen. Und jeden Abend trieb sie die bösen Geister, die sich am Tage heimlich eingeschlichen hatten, mit ihren Wirbeltänzen zu Türen und Fenstern hinaus. Sie hatte Musik in den Gliedern; jede Melodie wurde ihr zur rhythmischen Bewegung. Unermüdlich pfiff der Vater, und auf und nieder, hin und her flog sie, ein flatternder Irrwisch – mit Feuerfunken in den Augen und glühenden Rosen auf den Wangen. Ganz verängstigt flackerte die kleine Petroleumlampe – aufgestört aus ihrer würdevollen Ruhe, mit der sie sonst nur fleißige Hände und stille Menschen zu bescheinen gewohnt war. Ich saß indessen am Tisch und beugte den Kopf immer tiefer auf die Arbeit; oft schlich ich still hinaus – ich wußte nur zu gut, daß mich niemand vermissen würde.

Ich wurde blaß und schmal, und blaue Ringe umschatteten meine Augen.

Da kam eines Tages ein Telegramm aus Pirgallen: »Mama [366] im Sterben. Walter.« Mir lähmte der Schreck die Glieder; stumpfsinnig sah ich zu, wie meine Mutter in Tränen ausbrach. Ich kannte den Tod ja nur vom Hörensagen; noch war mir niemand von denen gestorben, die mir die liebsten waren. Erst als ich sah, wie meine Mutter hastig den Koffer packte, kam ich zu mir.

»Ich komme mit,« sagte ich rasch und riß ein paar Sachen aus dem Schrank und aus der Kommode. »Du?!« Mama sah erstaunt von ihrer Arbeit auf. »Davon kann selbstverständlich keine Rede sein. Entweder wir reisen alle – und das ist zu kostspielig –, oder du mußt bei Hans und Ilse bleiben. Die Kleine kann nicht allein sein.« Ich zitterte vor Aufregung: Plötzlich ward mir klar, daß der einzige Mensch, der mich verstand, der mich liebte – mich selbst, so wie ich wirklich war –, mit dem Tode rang; daß ich ihn verlieren sollte, ohne daß ich ihn je ganz besaß, ohne in das kostbare offene Gefäß seines großen Herzens all mein Leid, all meine Zweifel ausgegossen zu haben und Kraft und Klarheit und Verständnis von ihm zu empfangen.

»Ilse ist groß genug – und Papa sorgt für sie – besser als ich. Ich bitte dich – laß mich mit!-« rief ich verzweifelt.

»Du weißt, daß es unmöglich ist –« Mamas Stimme wurde scharf, »oder hast du vielleicht das Geld für die Reise?«

Tränen des Zorns, der Empörung, der Scham stürzten mir aus den Augen: Großmama starb – und von Geld konnte gesprochen werden! –

Meine Mutter fuhr allein, aber auch sie kam zu spät: in der Nacht vor ihrer Ankunft hatte die Greisin ausgeatmet.

Jetzt erst dachte ich all dessen, was bevorstand, und der Schmerz wich mehr und mehr der Angst. Ich beobachtete Papa: er vermochte seiner Aufregung kaum Herr zu werden. Wenige Tage nach der Beerdigung kam ein Brief von Mama. Er öffnete ihn nicht, sondern ging damit aus dem Zimmer und schloß sich in seiner Schlafstube ein. Ich horchte an der dünnen Wand: ein [367] Stuhl fiel zu Boden – ein unterdrücktes Stöhnen – ein bittergrelles Auflachen klang an mein Ohr. Mein ganzes Herz trieb mich zu ihm, aber ich hatte den Mut nicht, meinem Gefühl zu folgen. Als Papa nach ein paar Stunden zu Tisch erschien, sah er so müde, so zerfallen und verzweifelt aus wie damals, als ihm der Abschied ins Haus geschickt worden war.

Eine Woche später kehrte Mama zurück. Ihre Schläfen waren grau geworden, und noch fester als sonst preßten sich die schmalen Lippen aufeinander. Mit einem kühlen Blick streifte sie den Vater und mich, reichte uns flüchtig die Hand und hatte nur für Ilschen einen zärtlichen Kuß. Zu Hause übergab sie mir ein großes Paket. »Ihren schriftlichen Nachlaß hat Mamachen dir hinterlassen,« sagte sie, »du kannst damit machen, was du willst.« Mir traten die Tränen in die Augen. Die liebe, gute Großmama! Nun würde sie doch für mich eine Lebendige bleiben! So rasch wie möglich zog ich mich mit meinem Schatz in mein Zimmer zurück. Aber ich hatte kaum die Siegel gelöst, die vielen Bänder geöffnet, als ein heftiger Wortwechsel zu mir herübertönte.

»Hinter meinem Rücken hast du mein Erbteil verbraucht,« sagte Mama, »und daß auch meine Mutter mir verschwieg, was mich doch wohl am nächsten anging, – das verbittert mir noch die Erinnerung an die Tote ...«

»Habe ich's etwa für mich gebraucht?!« brauste Papa auf, »oder nicht vielmehr für dich, deinen Haushalt, deine Toiletten, und für die Kinder –«

»Und für deine Pferde, und die überflüssigen Geschenke, und dein ganzes großspuriges Auftreten!« setzte sie heftig hinzu. »Warum hast du mich behandelt wie ein unmündiges Kind, und mir nicht gesagt, daß wir von deinem Gehalt nicht auskommen?! Ich hätte mich, weiß Gott, auch an größere Einschränkung gewöhnt – wie an so vieles andere!«

»Weil ich dich schonen, dir ein angenehmes Leben schaffen wollte! – Aber beruhige dich, liebe Ilse – beruhige dich. Ich [368] hatte zwar gerade gehofft, daß wir nun endlich ein gemeinsames, ein menschliches Leben miteinander führen würden, – aber du erinnerst mich beizeiten daran, daß ich auch jetzt nichts weiter bin, als dein Portemonnaie ...«

»Mit solchen Phrasen verschone mich bitte, – sie täuschen mich über die Tatsache nicht hinweg, daß es doch nur mein Geldbeutel war, den du – angeblich in meinem Interesse! – geleert hast.

Ich erwartete zitternd eine wütende Antwort, – statt dessen hörte ich, wie des Vaters Stimme umschlug und weich und flehend wurde.

»Ilschen – sei doch nicht so grausam – siehst du denn nicht, wie mich die Selbstvorwürfe schon gemartert haben? – Im Grunde hast du ja recht – ganz recht – aber es war doch nur meine große Liebe zu dir – die stete Angst, die deine zu verlieren, die mich dir all das verschweigen ließ, die immer wieder – in jeder Form – um deine Gunst werben mußte, – ich würde auch Millionen für dich ausgegeben haben, wenn ich sie gehabt hätte ...«

Das konnt' ich nicht mehr mit anhören, – wie gejagt lief ich in den Garten hinunter.

Und böse war die Zeit, die folgte: der Vater in der gedrücktesten Stimmung, jeder Blick, den er auf seine Frau warf, ein Betteln um Liebe, während sie kaum die notwendigsten Worte mit ihm wechselte und mit peinigender Betonung bei jeder Gelegenheit Sparsamkeit predigte, – das Schwesterchen dazwischen, das sich um so leidenschaftlicher an mich anklammerte, je unheimlicher es ihm bei den Eltern zumute wurde, – und schließlich ich selbst, müde und herzenswund und dabei krampfhaft bemüht, der Kleinen Lehrerin und Spielkamerad zugleich zu sein und dem Vater Frohsinn vorzutäuschen, um ihn zu erheitern.

Draußen glühte und glänzte der Sommer. Ein einziger [369] grüner Dom war der Wald, die grauen Stämme der Buchen seine gewaltigen Säulen, der Duft der Tannen, sein würziger Weihrauch. Und doch floh ich vergebens hinaus, um hier zu finden, was ich einst im Hochgebirge gefunden hatte: Kraft und Weihe. Menschenmassen überfluteten jetzt Berge und Täler; ihre niedrigen Eitelkeiten, ihre verstaubten Interessen trieben den Frieden und die Andacht aus den Wäldern. Und die Natur hatte sich ihnen allmählich angepaßt: mit ihren geebneten Parkwegen, ihren umzäunten Rasenflächen und gepflegten Blumenbeeten war sie nichts als ein Salon im Freien.

Alte Freunde aus Münster, die zur Reitschule nach Hannover kommandiert worden waren, besuchten uns um diese Zeit, und ihr Entsetzen über mein Aussehen machte meine Eltern erst darauf aufmerksam.

»Was fehlt dir bloß?« rief mein Vater besorgt.

»Ein bißchen Leben, Exzellenz,« schnitt Rittmeister von Behr mir die Antwort ab. »Bäume, Berge und Wasserfälle sind keine rechte Gesellschaft für Ihr Fräulein Tochter. Geben Sie sie uns mit nach Hannover; hat sie mit uns erst ein paar Pullen Sekt geleert und ein paar Gäule kaput geritten, dann wird das Blut ihr schon wieder in die Wangen schießen.«

Ich lehnte die Einladung ab: »Wir sind in tiefer Trauer, Herr von Behr, und mein schwarzes Kleid paßt kaum in Ihre Gesellschaft.« Als wir allein waren, sagte meine Mutter mit einem kaum merklichen Zögern: »Wenn das schwarze Kleid allein dich zurückhält, so kannst du es ruhig mit einem weißen vertauschen. Hier ist Mamachens letzter Brief an mich, worin sie den Wunsch ausspricht, daß ihre Enkel keine Trauer anlegen sollen.« – »Und das sagst du mir jetzt erst?!« entfuhr es mir, – hatte ich es doch die ganze Zeit über wie eine Beleidigung der Toten empfunden, die Trauer um sie den neugierig-mitleidigen Blicken aller Welt preiszugeben. Meine Mutter verstand mich falsch.

[370] »Ich hätte nicht geglaubt, daß du so wenig Herz hast,« meinte sie gekränkt, »dann wirf nur den Krepp beiseite und geh' deinem Vergnügen nach.«

In der nächsten Viertelstunde war ich bereits umgezogen, aber bei meiner Weigerung Herrn von Behrs Einladung gegenüber blieb ich. Erst Papas Bitten, seinen Vorwürfen und seinen sorgenvollen Blicken, die ich stets auf mir ruhen fühlte, gab ich schließlich nach.

Der schneidigste Kavallerist der Armee war zu jener Zeit Leiter der Reitschule, und der Kursus der Stabsoffiziere hatte gerade eine große Zahl der besten Reiter nach Hannover geführt. Kraft und Kühnheit, Lebenslust und Leichtsinn gaben sich ein Stelldichein; der Tretmühle des Kasernenhofdienstes entronnen, von der Familie entfernt, die mehr als alles andere an die schmerzvolle Würde des Alterns erinnerte, feierten all diese reifen Männer ein stürmisches Wiedersehen mit der Jugend. Sie tranken und spielten die Nächte durch und saßen beim Morgengrauen wieder im Sattel; sie fanden sich strahlend und heiter, ihrer eigenen grauen Haare spottend, zur üppigen Mittagstafel ein und tanzten abends ausdauernder als die jüngsten Leutnants. Ich war das einzige junge Mädchen in diesem Kreis, und der Verkehr inmitten dieser bunten Gesellschaft, die die Kavallerie ganz Deutschlands vertrat, war um so ungezwungener, als der Gedanke, der sich sonst störend und trennend zwischen die männliche und die weibliche Jugend schiebt, – »Kann er mich heiraten?« – »Ist sie eine Partie?« – hier nicht aufkam, wo jeder Mann – wenigstens solange er in unserer Gesellschaft war – den Trauring am Finger trug.

Ah, wie gut tat es doch, wieder fröhlich zu sein! Zu vergessen – im Lebensrausch der Stunde!

Einmal war ein kleiner sächsischer Husar mein Tischnachbar – »Herr von Egidy« hatte man ihn mir vorgestellt, – und ich hatte die gedrungene Gestalt mit dem runden Schädel kaum im Gedächtnis [371] behalten. Jetzt fielen mir plötzlich ein Paar große blaue Augen auf, die mich mit einem so reinen Ausdruck anstrahlten, wie er mir bei einem Manne selten begegnet war. Wir kamen in ein Gespräch, das mich, je überraschender sein Inhalt wurde, desto mehr fesselte. Dieser Husarenmajor hatte andere Gedanken hinter seiner breiten Stirn als die über Schwadronsexerzieren und Jagdreiten. Man hatte sich gerade über die jüngsten Verordnungen des Kaisers gegen den Luxus unterhalten, und bei aller Wahrung der Form war doch der Ausdruck des Unmuts ein allgemeiner.

»Mich haben die Worte Sr. Majestät geradezu beglückt,« sagte Egidy. »Wir nennen uns Christen, und verleugnen die Lehre Christi fast täglich.«

Erstaunt sah ich auf. Noch nie hatte jemand zwischen Austern und Mockturtle-Suppe über die Lehre Christi mit mir gesprochen. War das ein schlechter Witz? Ich begegnete einem ernsten Blick, der meine Vermutung Lügen strafte.

»Wir sollen doch Christen sein, nicht heißen!« fuhr er fort, »und der Heiland saß mit den Zöllnern bei Tisch. – Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein – ich vergaß – das ist kaum ein Dinergespräch mit einer jungen Dame – aber meine Gedanken kreisen immer mehr um denselben Punkt –«

»Sie deuten meine Verwunderung falsch, Herr von Egidy,« antwortete ich, »Sie warfen meine ganze gesellschaftliche Erfahrung über den Haufen, – und das verblüffte mich. Wir alle pflegen doch sonst unsere Gedanken, besonders wenn sie so ketzerischer Natur sind, für uns zu behalten. Ich wenigstens –«

»So haben Sie welche und verschweigen sie nur?!« Er lächelte – sein ganzes Gesicht leuchtete auf dabei. »Meinen Sie denn nicht auch, daß nur einer öffentlich auszusprechen braucht, was alle an – wie Sie sagen – ketzerischen Gedanken in sich tragen, um jedem die Zunge zu lösen?! Wie ein großes befreiendes Aufatmen würde es durch die Menschheit gehen –«

[372] In diesem Augenblick schlug einer ans Glas: »Das höchste Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde, und am Herzen des Weibes – –« Es gab ein allgemeines Stühlerücken – Anstoßen – Gelächter. Alles umringte mich und forderte von mir eine Antwort. Ohne viel Überlegung brachte ich auf die lustigen Majore, die am Jungbrunnen von Hannover wieder zu Leutnants geworden wären, einen Trinkspruch aus. Und wieder klangen die gefüllten Gläser aneinander, und alle Rosen, die die Tafel geschmückt hatten, häuften sich vor mir. Aber ich lächelte nur mechanisch über die Huldigung. »Wie ein großes befreiendes Aufatmen wird es durch die Menschheit gehen, wenn nur einer auszusprechen wagt, was alle an ketzerischen Gedanken in sich tragen,« – das ließ mich nicht los. In meinem Koffer zu Haus lag ein schwarzes Buch, – war es wirklich meine höhere Pflicht, das Schwesterchen zu unterrichten, der Mutter die Haare zu kämmen und mit schlechter Dilettantenarbeit ein paar Taler zu verdienen – statt das erlösende Wort in die Welt zu rufen? Denn felsenfest glaubte ich daran, daß es ein erlösendes Wort sein würde.

Am nächsten Vormittag besuchte mich Egidy. Er hatte ein Manuskript bei sich, mit den klaren, großen Schriftzügen des Soldaten bedeckt, wie ich sie bei meinem Vater gewohnt war. »Ernste Gedanken« nannte er es. Wir waren ungestört, und er begann mir daraus vorzulesen, – eine Kritik der Kirchenlehren war es, ein Bekenntnis zu einem Christentum Christi ohne Dogmen, ohne Wunder, in einfachen lapidaren Sätzen geschrieben, durchglüht von einem kindlich-naiven Glauben an die eigene Sache, an ihren sicheren Sieg, an die Menschheit. Mir war das alles vertraut, und ich konnte mich einer leisen Enttäuschung, daß es nicht mehr war, nicht erwehren. Er schien meine Gedanken zu erraten.

»Ihnen ist das nichts Neues,« sagte er, »das freut mich. Neu daran ist doch nur, daß es jemand ausspricht.«

[373] »Aber das haben schon viele vor Ihnen getan,« wandte ich ein, »Strauß, Renan, die Protestantenvereinler –«

»Ich kenne die Leute nicht,« antwortete er brüsk, »und das beweist, daß sie nichts taugten, – sonst hätten ihre Schriften wirken müssen –«

»Sie denken an eine Veröffentlichung?!«

»An was sonst? Jedes Wort wendet sich doch an die Masse! Ich muß handeln, weil kein anderer es getan hat!« Seine blauen Augen funkelten dabei.

»Und – die Folgen?! Bangt Ihnen davor nicht?« Mit aufrichtiger Bewunderung sah ich zu dem Mann in dem bunten Husarenrock auf, der jetzt erregt, straff aufgerichtet, vor mir hin und her ging. Er lächelte wieder sein vertrauendes Kinderlächeln.

»Ich kann mich doch nur freuen! Ein paar Unverständige werden räsonnieren, die wenigen, wirklich noch vorhandenen Altgläubigen werden Zeter-Mordio schreien, aber die Masse des Volkes – wir alle sind ›Volk‹, wissen Sie – wird in Bewegung gesetzt werden. Und der Kaiser –«

»Der Kaiser?!« rief ich, auf das äußerste überrascht.

»Ja, der Kaiser!« wiederholte er mit fester Stimme. »Ihm vertraue ich vor allem. All sein Tun ist von wahrhaft christlichem Geiste erfüllt: seine Erlasse, seine Arbeiterpolitik – denken Sie nur an die Arbeiterschutz-Konferenz!«

»Ich bin ganz und gar anderer Meinung, Herr von Egidy, und Ihr Vertrauen ist mir viel zu wertvoll, als daß ich Ihnen nicht die Wahrheit schuldig wäre,« antwortete ich in tiefer Bewegung. »Sie sollen Ihre Schrift erscheinen lassen – gewiß –, aber die Bewegung, die Sie erwarten, wird ausbleiben. Denn was heute not tut, ist nicht eine Erneuerung, sondern eine Überwindung des Christentums, dazu werden Sie beitragen, weil auch Ihr Werk Steine abbröckelt vom Bau der Kirche. – Sie lächeln?! Nun – ich gebe zu, daß in meinem Mund vermessen [374] klingen mag, was ich sage, – vielleicht irre ich mich, vielleicht haben Sie recht, aber eins weiß ich ganz gewiß: der Kaiser wird Sie nicht unterstützen – doch den schönen bunten Rock ausziehen, – das wird er Ihnen!«

Ungläubig erstaunt sah mich Egidy an: »So jung und so pessimistisch! Dieser Rock und dies Buch sind einander doch nicht unwürdig. Und wenn ich als Soldat und als Christ meine Pflicht erfülle – wie könnte mein Kaiser mich dieses Rocks entkleiden?!«

Ich schwieg. Wie eine Entweihung wäre mir's vorgekommen, dieses Mannes rührenden Kinderglauben noch einmal anzutasten.

Der nächste Tag war der letzte meines Aufenthalts in Hannover, und mit einer Schleppjagd sollte an demselben Morgen der Kursus der Stabsoffiziere abgeschlossen werden. Schon früh um fünf Uhr fuhren wir, Frau von Behr und ich, im leichten Jagdwagen hinaus zum Rendezvous. Taufrisch lag die weite Heide vor uns, von Gräben und Hecken und von dem im Sonnenlicht glitzernden blauen Band der kleinen Witze durchschnitten. Zwischen Weidenstämmen und gelbem Ginster hatte sich eine große Gesellschaft zusammengefunden: junge Offiziere der Reitschule, Mädchen und Frauen der Gesellschaft in hellen Sommerkleidern, Burschen und Ordonnanzen mit Decken und Mänteln und der Koch des Kasinos mit seinem weißbeschürzten Stab vor dem mit Kisten und Fässern hochgetürmten Krümperwagen. Mit Feldstechern und Opernguckern bewaffnet, warteten wir alle der Reiter. Und plötzlich brauste es heran, wie ein farbensprühendes Märchen aus Tausendundeiner Nacht: blau, grün, gelb, rot, weiß, – hatte ein Regenbogen sich dicht über die Erde gespannt?! Näher kam es und näher – das Schnauben der Rosse, das Sausen der Gerten, der vielstimmig-aufmunternde Zuruf der Reiter vereinten sich zu einem einzigen fiebrigwirbelnden, wild aufreizenden Ton. Da flog ein Brauner, den schlanken Leib lang gestreckt, dicht vor mir über das Flüßchen, [375] hinter ihm ein Fuchs – ein Schimmel mit wehendem Schweif kaum eine Nasenlänge weiter, und nun – zehn, zwanzig, hundert rassige Tiere, Schaum vor dem Maul, mit bebenden Nüstern, – mir klopfte das Herz, und noch minutenlang nachher fühlte ich nichts als die wundervoll-leidenschaftliche Erregung dieses Augenblicks. Dann lagerten wir auf dem grünen Rasen, duftige Erdbeerbowle kredenzten die Ordonnanzen, und mitten in der Schar dieser durch die eigene Leistung froh bewegten Männer kam ich mir einmal wieder wie zu Hause vor. Da fiel mein Blick auf einen, der mit verschränkten Armen und gefurchter Stirne abseits stand: Egidy, – und ich erwachte aus der Betäubung. Nein – hier war meinesgleichen nicht mehr, – ich erhob mich hastig aus dem lustigen Kreise und trat auf ihn zu.

»Ihre Worte kommen mir nicht aus dem Sinn« – sagte er, »ich ging nach Hannover in der Meinung, noch einmal fröhlich sein zu können, und überzeugte mich für immer, daß der Frohsinn gebannt ist und – bleiben die ernsten Gedanken in meinem Schreibtisch – nimmer wiederkehren würde. Und nun empfind' ich, daß die Veröffentlichung dem Frohsinn erst recht den Weg sperren wird.« Seine Stimme sank. Mit einer raschen Bewegung legte er die Hand vor die Augen: »Und es ist doch so schön gewesen!«

Ein Blick voll tiefem Abschiedsweh flog über die Heide, den schimmernden Fluß, die lachenden Kameraden. Mir wurden die Augen feucht. Ich griff nach seiner Hand. »Gehen wir,« sagte ich leise, »losreißen müssen wir uns doch – ehe die anderen uns verleugnen.« Und stumm, schweren Herzens, zögernd, als schleppten wir eine unsichtbare Kette nach, schritten wir durch den Wald zur nächsten Station.

Abends war ich wieder in Harzburg. Noch in der Nacht nahm ich mein schwarzes Büchlein aus dem Koffer, schrieb ein paar Zeilen dazu und sandte es frühmorgens an Egidy. Eine unbestimmte Hoffnung, daß er doch vielleicht der Befreier – auch [376] mein Befreier – werden könnte, ließ mir das Herz dabei höher schlagen. Wenige Tage später bekam ich seine Antwort. »Wir sind Bundesgenossen,« schrieb er, »denn nicht darauf kommt es an, was wir glauben, sondern was wir sind; nicht darauf, wie wir uns nennen, sondern ob wir wollen, daß etwas werde. Ich rechne auf Sie. Zu wirken gilt es, solange es Tag ist, mein ganzes Dasein gehört diesem Wirken.

In wahrster respektvoller Ergebenheit

M. von Egidy.«


Nun verflossen meine Tage wieder in alter Einförmigkeit; aber ihr trübes Grau war wie Frühlingsnebel, der die Sonne ahnen läßt, und meine träge gewordene Phantasie griff wieder nach der Palette, um Zukunftsbilder zu malen. Ich konnte unsere Abreise kaum mehr erwarten. In Berlin würde der große Strom des Weltgeschehens die Rinnsale des Eigenlebens aufnehmen, das enge Beieinandersein innerlich entzweiter Menschen würde aufhören, und »das Wunderbare« würde vielleicht doch noch erlösend in mein Dasein treten.

Meine Mutter war, um Wohnung zu suchen, schon vorausgereist, als ich von Professor Fiedler, dem Herausgeber der Goethe-Zeitschrift, einen Brief erhielt. Er hatte sich nach Großmamas Tod zuerst an Onkel Walter gewandt, um zu erfahren, welche Erinnerungen ihr Nachlaß an den großen Freund ihrer Jugend enthielte, und dieser hatte ihn an mich verwiesen. Ob ich für seine Zeitschrift einen Artikel schreiben wolle, frug er, – ich staunte: wie kam es nur, daß ich bisher so blind gewesen war?! Die Lebende hatte mich ernst und eindringlich auf den Weg des Erwerbs gewiesen, und die Tote gab mir die Mittel an die Hand, durch die es mir möglich sein sollte, ihn zu betreten!

Gewiß, mit Freuden würd' ich den Aufsatz schreiben, antwortete ich; viele wertvolle Erinnerungsblätter von der Hand der Verstorbenen seien in meinem Besitz, die ich zu veröffentlichen die Absicht hätte, und überaus dankbar würde ich ihm [377] sein, wenn ich dabei auf seine Hilfe rechnen könne. Umgehend erhielt ich noch einen Brief, worin mir der Gelehrte seinen Beistand zusicherte. Ich strahlte: das war ein Anfang, – der erste Schritt zur Unabhängigkeit, und vielleicht – zum Ruhm!

An einem jener leuchtenden Herbstabende, wie sie nur im Norden Deutschlands vorkommen, näherten wir uns Berlin. In hellem Violett, das hie und da ins Rosenrote überging, lag der Dunst der Großstadt über den Häusern, verwischte ihre Häßlichkeit und verlieh ihnen einen Schimmer phantastischen Lebens. Feuchtglänzende Schienenstränge liefen vor uns her und dehnten sich nach allen Seiten, – zahllose Polypenarme, die das gewaltige Ungeheuer der Stadt, das mit roten, grünen und weißen grellglotzenden Augen gierig Ausschau hielt nach neuer Beute, verlangend uns entgegenstreckte. Ein schwarzer Rachen, öffnete sich die Halle des Bahnhofs. Mit Gezisch und Geratter brauste der Zug hinein – Rauchschwaden stiegen auf – ein letztes Ausatmen seiner Maschine – ein kurzer, harter Stoß noch – und Berlin hatte ihn verschlungen. Aufgeregt, rücksichtslos, erwartungsvoll schoben und drängten sich die Menschen. Mir aber war, als müßten meine Füße den grau-schwarzen Asphalt sanft und schmeichelnd berühren: Neuland war es, das ich betreten hatte.

[378]
16. Kapitel
Sechzehntes Kapitel

»Berlin, 28. 12. 90.


Liebe Mathilde!


Du beklagst Dich über mein monatelanges Schweigen, und solltest doch froh sein, daß ich Dich während einer Zeit innerer und äußerer Zerrissenheit mit Briefen verschonte. Womit ich nicht behaupten will, daß ich Dir jetzt das Bild abgeklärter Weisheit geben könnte. Aber ich habe zum mindesten den Taumel überwunden und sehe das Verwirrende, Vielgestaltige des neuen Lebens. – Doch Du willst zunächst seinen Rahmen kennen lernen. Er ist – um ihn mit zwei Worten zu kennzeichnen – bronzierter Gips, den der Fremde für vergoldete Holzschnitzerei zu halten verpflichtet ist. Wir wohnen – natürlich! – im ›vornehmen‹ Westen, aber an jener Grenzscheide, wo die neuesten Mietskasernen mit ihren dunkeln Höfen und protzigen Fassaden sich mit den Kartoffelfeldern begegnen. Unsere Wohnung hat einen Aufgang ›nur für Herrschaften‹ und ist selbstverständlich ›hochherrschaftlich‹: über den Türen tanzen Stuckamoretten mit verrenkten Armen und Beinen, die Öfen sind Prachtgebäude aus den buntesten Kacheln, das Eßzimmer – ein wahrer Tanzsaal – hat Holzpaneele und eine Holzdecke aus Papier, der Salon weist gar eine imitierte Seidentapete auf, die der Wirt uns als ganz besonders ›vornehm‹ anpries, und das Herrenzimmer prunkt im papiernen Leder! Dazu hat der Tapezier die Gardinen von acht Zimmern an die Fenster [379] und Türen dieser drei Räume gehängt, so daß die Üppigkeit eine geradezu überwältigende ist und unsere verschossenen Möbel und zertretenen Teppiche in einem vorteilhaften Zwielicht Glanz und Reichtum vortäuschen. Die nüchterne Wahrheit beginnt erst mit dem langen dunkeln Korridor, an den sich drei Kammern – Schlafzimmer genannt – anlehnen. Eine davon bewohne ich. Es ist mir gelungen, sie mittelst Kretonnevorhängen in zwei Räume zu verwandeln, die sich freilich beide mit einem Fenster begnügen müssen und von der Existenz des Himmels keine Ahnung haben, geschweige denn von der Sonne.

Und doch muß zwischen meiner Seele und der Sonne irgendein geheimnisvoller Zusammenhang bestehen: mein Denken und Fühlen friert ein ohne sie. Wenn ich arbeiten will, muß ich darum immer zuerst über Felder und Sturzäcker laufen, wo kein Haus und kein Baum Schatten werfen. Trotzdem will meine Arbeit nicht so recht hell und warm werden ...

Bald nach unserer Ankunft besuchte uns Professor Fiedler. Mein Artikel über Großmamas Goethe-Erinnerungen gefiel ihm – unter uns gesagt: mir gar nicht! –, und für alles, was ich sonst noch von ihr habe, war er aufs höchste interessiert. Er empfahl mich an Rodenberg, an Lindau, an Westermanns Monatshefte, und ich habe auf Monate, vielleicht auf Jahre hinaus zu tun, ohne daß der Eintritt in die Literatur mir irgendwelche Schwierigkeiten gekostet hätte. Auch sonst bin ich vom ›Glück‹ begünstigt: Meine Brennarbeiten hat der Offizierverein zum Verkauf angenommen, und meine Erfindung – die Vereinigung von Brennen und Malen auf Sammet und Tuch – hat eine Frauenzeitung geschildert und mich dabei als Verfertigerin empfohlen. Ich habe meinen Eltern infolgedessen das Taschengeld schon ›kündigen‹ können, und dieser erste Schritt zur Selbständigkeit ersetzt mir etwas den Mangel an seelischer und geistiger Befriedigung. Da ich den Eltern überdies durch Schneidern, Putzmachen und Gouvernantenspielen bei Ilse ein [380] Mädchen für alles und ein Fräulein erspare, so kann ich mir einbilden, mich bereits selbst zu erhalten. Nur daß dies bloße Erhalten des Lebens vom Leben selbst weit entfernt ist.

Ich sehe Dich heimlich lächeln. ›Ihr fehlt einmal wieder der Mann,‹ sagst Du. Du irrst: ich komme mir mit meinen 25 Jahren so alt vor, daß ich bereits großmütterlich-mitleidig lächle, wenn andere von Liebe reden. Besinnst Du Dich auf Vetter Fritz in Brandenburg? Du warst damals sittlich entrüstet, daß ich dem guten Jungen den Kopf verdrehte. Nachdem er in den letzten acht Jahren meinen Geburtstag nicht einmal vergessen hatte, stellte er sich hier wieder bei uns ein – noch immer derselbe kindliche Mensch, trotz seiner Gardeulanenuniform. Mit Blumen und Blicken wirbt er um mich, und seine Treue rührt mich oft so, daß ich mich frage, ob es nicht das Beste wäre, seine Frau zu werden. Dann hätte die liebe Seele Ruhe, und allen Ambitionen und Befreiungsgelüsten wäre ein für allemal ein Riegel vorgeschoben. Die gesamte Familie – die durch Onkel Walters und Maxens, durch Tante Jettchen und ihre Kinder und Enkel erschreckende Dimensionen angenommen hat – unterstützt natürlich im stillen die Sache, und das reizt mich zum Widerspruch.

Na, überhaupt die Familie! Die Familiensonntage vor allem, wo man sich mittags und abends genießt, meist fünfzehn bis zwanzig Mann hoch! Nur eins ist für mich dabei wohltuend: daß ich mich wieder einmal so recht intensiv als das einzige schwarze Schaf empfinde.

Seit Stöckers Abschied ist der Antisemitismus geradezu epidemisch geworden, gerade so, wie der Kultus Bismarcks – wenigstens in den Kreisen meiner lieben Verwandtschaft – erst nach seinem Sturz ins Kraut schoß. Und ein Staatsanwalt würde Karriere machen, wenn er das Geschimpfe auf S. M. mit anhören könnte, – vorausgesetzt, daß die Delinquenten nicht preußische Edelleute, sondern internationale Sozis wären! Der [381] adlige Klub am Pariser Platz, wo nur die Alleredelsten der Nation aufgenommen werden und Papa und die Onkels täglich verkehren, ist der Mittelpunkt der Fronde; Ströme von Skandalosa fließen aus seinen Türen in die Welt, und ich könnte aus lauter Widerspruchsgeist – der zuweilen zur Objektivität erzieht – fast zur Verteidigerin des ›neuen Herrn‹ werden, wenn er nicht selbst der sich kaum schüchtern entwickelnden Anerkennung immer wieder einen Fußtritt gäbe, so daß sie zusammenknickt wie ein Veilchen unter dem Nagelschuh. Du kannst Dir denken, wie es mich z.B. begeisterte, als er in der Schulreform die Initiative ergriff, und welche Hoffnungen ich an die Konferenz knüpfte. Und dann stellte ihr S. M. keine andere Aufgabe, als die Schule in ein Kampfmittel gegen die Sozialdemokraten zu verwandeln und blindwütigen Hurrapatriotismus noch mehr als bisher zu verbreiten. Natürlich bestand die Antwort der zusammengerufenen ›Führer der Jugend‹ in devotester Verbeugung vor dem allerhöchsten Willen, und befriedigt von dem ›Erfolg‹ des ›offenen‹ Gedankenaustausches schloß S. M. die Versammlung mit einer Verbeugung seinerseits vor der Kirche.

Für Egidy war dies Ereignis, seit er den Abschied bekam, wohl der größte Schmerz. Ich stehe mit ihm in Briefwechsel, und so sehr ich mich im Gegensatz zu vielen seiner Grundanschauungen befinde, genieße ich diese lebens- und glaubensstarke Individualität wie ein Durstiger frisches Quellwasser. ›So schwer auch die Gegenwart mich belastet,‹ schrieb er mir kürzlich, ›so kraftvoll ich auch ringen muß, um die Erinnerung niederzukämpfen, die gerade in diesen Tagen furchtbar an mir zehrt, da das Regiment, das acht Wochen nach dem Erscheinen der Ernsten Gedanken das meine werden sollte, sein Jubiläum feiert, – so beseelt mich doch die Hoffnung, daß ich dem Vaterlande, der Welt noch dienen kann, und daß das, was ich tat, nicht fruchtlos war. Auch auf den Kaiser ist meine Hoffnung unzerstörbar, – es gilt nur sein Ohr zu erreichen ...‹

[382] Doch ich sehe, daß mein Brief sich zu einem Buch auszuwachsen beginnt, – hoffentlich ein Beweis für die künftige Regsamkeit unseres Briefwechsels.

Was soll ich Dir nun ohne Phrase und ohne Komödie zum neuen Jahre wünschen? Glück? Wer glaubt daran? Befriedigung? Wer findet sie, solange das Blut noch heiß durch die Adern rollt! Soll ich auf ewige Seligkeit vertrösten? Ein schwacher Trost für den, der die irdische noch nicht durchkostet hat. Lerne Dich bescheiden, werde so rasch wie möglich alt und kühl, – ist das nicht am Ende der beste Wunsch?!

In treuer Freundschaft

Deine Alix.«


»Berlin, 20. 2. 91.


Liebe Mathilde!


Seit meinem letzten Brief und Deiner Antwort – die meiner Erwartung vollkommen entsprach, alldieweil Du meine Arbeitswut nur als Intermezzo zwischen zwei Romankapiteln betrachtest – sind wieder einige inhaltreiche Wochen vergangen. Ich fange allmählich an, den Pulsschlag des Weltlebens zu empfinden und den meinen auf denselben Takt einzustellen, wobei ich allerdings immer deutlicher den Gegensatz zwischen mir und der lieben Verwandtschaft empfinde, deren Blut so träge fließt, daß es eigentlich Anno 70 noch kaum überwunden hat. Der jüngste Familienzuwachs ist nach der Richtung besonders charakteristisch. Du entsinnst Dich, daß Papa einen jüngeren Bruder hatte, der Geistlicher war und im Irrenhaus starb. Er hinterließ eine Witwe mit fünf Kindern in bedrängtester Lage, und Tante Klothilde mußte sich wohl oder übel entschließen, das Ihre zur Erhaltung der Familie beizutragen, was sie natürlich von vornherein gegen sie einnahm. Die mütterlichen Verwandten taten desgleichen; Papa verschaffte den Söhnen ein Unterkommen [383] im Kadettenkorps, Mama erreichte, daß eine der Töchter die mir zugedachte Freistelle im Augustastift bekam, so daß Tante Marie schließlich nur für ein Kind zu sorgen hatte. Jetzt will's das Unglück, daß die Mädchen erwachsen sind und die Söhne in die Armee eintreten und was das Malheur voll macht: die ganze Gesellschaft ist aus der Art der Kleves geschlagen. Tante Klothilde entrüstet sich darüber, und Papa schimpft wie ein Rohrspatz, daß die mütterliche Verwandtschaft das Blut verdorben hat und er nun genötigt ist, die Jungens weiter zu bringen. Er war ja von je der hilfreiche Geist, wenn irgendein Vetter durch das Einjährige bugsiert werden oder in ein anständiges Regiment Aufnahme finden sollte. So hat er denn für Erich, den ältesten dieser mißratenen Kleves, sein altes Regiment gefügig gemacht und ihm – in der goldenen Zeit der eigenen Korpshoffnungen! – die nötige Zulage versprochen. Das Einlösen dieses Versprechens wird ihm jetzt gewaltig sauer, und es macht mir eine Riesenfreude, daß ich bald imstande sein werde, einen Teil davon auf mich zu nehmen.

Tante Marie lebt mit ihren Töchtern in Potsdam, die Söhne sind in Lichterfelde und Frankfurt, und diese Nähe verschafft uns das Glück ihrer Sonntagsbesuche. Ich sitze dabei immer wie auf Nadeln in Erwartung von Papas sarkastischen Bemerkungen und überbiete mich in Liebenswürdigkeit, wenn mir auch gar nicht danach zumute ist. Alle miteinander sind kaiserlich bis in die Knochen, ist doch Tante Marie mit der neuen Hofclique verschwägert, mit den Eulenburgs vor allem, die nahe daran sind, das Hausmeiertum an sich zu reißen. Infolgedessen sind sie natürlich auch kirchlich-orthodox; – danach kannst Du Dir die Harmonie unserer Beziehungen ungefähr vorstellen! Mama, mit ihrem oft ganz fanatischen Gerechtigkeitsgefühl ist die einzige, die sie aus Überzeugung verteidigt und es sogar unternahm, Tante Klothilde, die jede persönliche Zusammenkunft mit ihren Neffen und Nichten bisher vermieden hat, freundlicher zu stimmen. [384] Sie wirft mir Herzlosigkeit vor, weil ich sie darin nicht unterstützen mag, und zankt sogar mit ihrem Lieblingsbruder, der sie warnte, sich ›kein Kuckucksei ins Nest zu legen‹. Die Gefahr ist, scheint mir, sehr gering, denn um bei Tante Klothilde etwas zu erreichen, müßte Mama ungefähr das Gegenteil von dem verlangen, was sie erreichen will. Außerdem würde ich den armen Würmern einen tüchtigen Anteil an Tante Klothildes Reichtümern von Herzen gönnen.

In schroffem Gegensatz zu diesem Zwangsverkehr steht ein anderer, den ich mir erkämpft habe, – obwohl Du mich bereits vorher vor meinen ›jüdischen Beziehungen‹ warntest: der im Hause Fiedlers und Rodenbergs. Papa war zuerst entrüstet, als ich ihn um die Erlaubnis bat, den freundlichen Einladungen der beiden, meine literarische Tätigkeit so lebhaft unterstützenden, folgen zu dürfen. Nach einigem Brummen, Räuspern und Toben – wobei ich verängstigt wie immer aus dem Zimmer floh, während Ilschen lachte und den Papa zu meinen Gunsten umschmeichelte – entschloß er sich freiwillig zu offiziellen Familienvisiten und gestattete mir dann, die Gesellschaften allein zu besuchen. Nun genieße ich den geistig anregenden Verkehr ungeheuer und fange an, meine Schüchternheit angesichts dieser mir doch sehr neuen Menschen und fremden Verkehrsformen zu überwinden. Ich bin seit langem daran gewöhnt, meine Ansichten nur im höchsten Affekt auszusprechen, so daß ich erst eine gewisse Schwerfälligkeit niederkämpfen, ja sogar mit dem Ausdruck ringen muß. Das steigert sich, wenn Namen genannt und Ereignisse lebhaft erörtert werden, von denen ich keine Ahnung habe.

Im Mittelpunkt des Interesses steht auf der einen Seite die neue literarische Bewegung, die sich in der Freien Bühne ein eigenes Theater schuf, und deren Vertreter stark realistische und sozialistische Tendenzen haben, und auf der anderen der neu aufsteigende Stern am Dichterhimmel – Sudermann –, dessen [385] Dramen, wie Du sicher aus den Zeitungen weißt, wahre Stürme für und wider hervorrufen. Ich kenne von alledem noch nichts. Onkel Walter erklärt, daß ›ein junges Mädchen‹ Sudermanns Werke unmöglich sehen könne, – aber ins Residenztheater und in den Wintergarten werde ich ohne Bedenken mitgenommen! –, und im Kreise meiner literarischen Bekannten steht man den Jungen von Friedrichshagen – einem Vorort von Berlin, wo sie, wie man munkelt, ein gemeinsames Leben führen, das das kommunistische Prinzip sogar auf – die Frauen ausdehnt! – skeptisch gegenüber. Ich bin zwar sehr geneigt, mich, wenn auch nicht der Autorität Onkel Walters, so doch dem reifen Urteil meiner neuen Freunde von vornherein anzuschließen, um so mehr, als Dr. Friedrich, der hervorragendste Kritiker Berlins und ein tiefer Goethe-Kenner, an ihrer Spitze steht, aber mich interessiert jede moderne Erscheinung viel zu sehr, als daß ich sie nicht aus eigner Anschauung kennen lernen wollte.

Wegen Vetter Fritz sei ganz ruhig. Ich habe besseres zu tun, als zu kokettieren. Meine Haltung ihm gegenüber ist eine ganz passive: ich empfinde mit wohligem Behagen die Atmosphäre seiner Zuneigung, und vielleicht ist solch ein sich lieben lassen für mich ein Lebensbedürfnis, ebenso wie das sich bescheinen lassen von der Sonne.

Von Herzen

Deine Alix.«


Meine Mutter pflegte sich Onkel Walters Ansichten fast immer zu unterwerfen, weil es im Grunde stets die ihren waren. Aber in bezug auf meine Theaterbesuche geriet sie in einen Zwiespalt mit ihrer eigenen Neigung und mit ihrem Pflichtgefühl. Das Theater wurde mehr und mehr ihre Leidenschaft – es war, als suche diese kühle, harte Frau das Leben, weil sie selbst nicht gelebt hatte –, aber für sich allein und ihr[386] persönliches Vergnügen Geld auszugeben, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Also nahm sie mich mit, beruhigte ihr Gewissen damit, daß »uns doch niemand sehen wird«, und schärfte mir ein, nicht darüber zu sprechen. So sahen wir »Die Ehre« und »Sodoms Ende«, dessen ursprüngliches Verbot auf des Kaisers direkten Eingriff zurückgeführt wurde und den Erfolg des Werks von vornherein gesichert hatte. Der tiefe Eindruck, den wir empfingen, setzte sich aus Verblüffung, Entsetzen und Ergriffenheit zusammen. Aber während er bei meiner Mutter den befreienden Gedanken auslöste, daß hier der verdorbenen Bourgeoisie und den verhaßten Parvenüs ein gräßliches Spiegelbild vorgehalten werde, das sie im Grunde nichts anging, wirkte er in mir schmerzhaft nach. Ich sah in meinen Träumen Alma, das verdorbene Mädchen aus dem Hinterhaus, und Frau Adah, die arme Reiche, die nach Glück und Liebe lechzte, während ihr Mann sich mit Straßendirnen umhertrieb. Sie waren nichts als Typen der modernen Gesellschaft, und ihre Wahrhaftigkeit erschütterte mich.

Und dann las ich mit demselben Feuereifer, mit dem ich einst in Posen meine heimlich erworbenen Reclambändchen verschlang, die Werke der »Jungen«. Jedes Buch riß mir einen neuen Schleier von den Augen. Kretzers »Meister Timpe«, Holz-Schlafs »Familie Selicke«, Gerhart Hauptmanns »Vor Sonnenaufgang« – mit welcher Grausamkeit enthüllten sie ungeahnte Tiefen des Elends! Dazwischen fielen mir in bunter Reihe Bücher in die Hände – von Strindberg, von Garborg, von Przybyszewski –, die mit demselben brutalen Wahrheitsfanatismus blutende Herzen und zuckende Sinne bloßlegten. Und in diesem grellen Licht, das nur tiefe Schatten und blendende Helle schuf und milde, zart verschwimmende Dämmerung nicht duldete, enthüllte sich nun auch die Welt in mir. Hatte ich die zehrende Glut meines Innern, all die Qualen meiner jungen Sinne doch nur vergebens mit den Feuerlöscheimern des Verstandes und der Pflichterfüllung zu ersticken gesucht.

[387] Das Leben hatte in tausend und abertausend bunten Farbenflecken unruhig, blendend, vor meinen Augen geflirrt; jetzt erst entdeckte ich, daß sie alle notwendig zueinander gehörten und zu einem einzigen, riesigen Gemälde zusammenschossen. Es galt nur, die Blicke fest und mutig darauf zu richten, nicht zu schaudern vor der Wahrheit, die im zerschlissenen, blutbefleckten Gewande der Not der schier endlosen Schar der Hungernden und Blinden, der Lahmen und Verkrüppelten, der Irren und der Kettenträger voranschritt. Wer sehend war, erkannte unter ihrem Bettlermantel das Königskleid, und ihm wandelte sich die Geißel, die sie trug, zur Fahne des Sieges.

Das Grauen verschwand, ein Gefühl unbezwinglicher Kraft überkam mich. O, ich war stark genug, um, Seite an Seite mit den anderen, Ruinen einzureißen und Felsen aufeinander zu türmen!

War ich es wirklich?! Beugte ich mich nicht ängstlich jenem pedantischen Schulmeister, dem Alltag, der mich jeden Morgen aus meinen Träumen weckte, mich zwang, zwanzig alte, muffig riechende Bücher zu durchstöbern, um über irgendeinen vergessenen Zeitgenossen Goethes einen kleinen Artikel zu schreiben, oder meinem Schwesterchen beim Rechnen beizustehen, oder Mamas Winterhut neu zu garnieren, oder für ein Dutzend überraschender Abendgäste den Tisch zu decken?!

In der Goethe-Zeitschrift waren inzwischen meine Aufsätze erschienen, und von den Weimarer Freunden und Verwandten meiner Großmutter wurde mir eitel Anerkennung zuteil. Auch der Großherzog ließ mir sagen, wie sehr ihn interessiere, was ich schreibe, und legte mir nahe, nach Weimar zu kommen, wo ich zu neuen Studien und Arbeiten alle Türen offen und alle Menschen hilfsbereit finden würde. Mein Vater strahlte über diesen Erfolg und begriff nicht, wie ich auch nur einen Moment zögern könne, der Anregung Folge zu leisten.

»Du bist doch nun einmal dem Tintenteufel verfallen,« [388] meinte er, »nun kannst du es wenigstens auf eine standesgemäße Weise sein.«

Ich schwieg. Sollte ich ihm den Schmerz bereiten und ihm sagen, daß die Fesseln des »Standesgemäßen« mir schon jetzt schmerzhaft genug ins Fleisch schnitten?

Auch im Kreise der Goethe-Zeitschrift verstand man mich nicht.

»Der Großherzog selbst fordert Sie auf und bietet Ihnen seine Hilfe an, und Sie haben noch Bedenken, nach Weimar zu gehen?!« sagte Professor Fiedler, als ich einmal wieder zu einer größeren Abendgesellschaft bei ihm war. »Nur Ihre schriftstellerische Jugend bietet mir eine Erklärung dafür! Was viele Gelehrte vergebens wünschten – Zugang zu den verschlossenen Schätzen Weimars –, wird Ihnen hier entgegen getragen, und Sie greifen nicht mit beiden Händen zu! Das bedeutet doch nichts anderes, als eine Sicherstellung Ihrer literarischen Zukunft, als den Beginn einer großen Karriere.« Ich hatte ihm und seiner Unterstützung schon zu viel zu verdanken, als daß sein Zureden ohne Eindruck hätte bleiben können.

»Sie haben persönliche Beziehungen zum Großherzog von Sachsen-Weimar?« mischte sich ein anderer Gast ins Gespräch, der mich bisher von der Höhe seiner Berühmtheit und seiner vielbewunderten Ähnlichkeit mit Goethe kaum eines flüchtigen Grußes gewürdigt hatte. Ich erzählte von Großmamas Freundschaft mit Karl Alexander. Der Kreis um mich vergrößerte sich. Man erging sich in Lobeserhebungen des Fürsten, über den ich in meinen Kreisen immer nur hatte lachen und spotten hören.

»Wenn Sie sich seiner Gunst weiter erfreuen – welche Dienste können Sie dann der Wissenschaft leisten!« sagte der Mann mit dem Goethe-Kopf. Seltsam, wie er plötzlich von meiner Leistungskraft überzeugt schien, obwohl er alle Zusendungen meiner Artikel mit Stillschweigen übergangen hatte! Er führte mich zu Tisch, und ich, die ich bis jetzt eine bescheiden abseits Stehende gewesen war, sah mich auf einmal im Mittelpunkt [389] der Gesellschaft. Das verletzte mich aufs tiefste: waren das die freien, geistig hochstehenden Menschen, zu denen ich bewundernd aufgesehen hatte, deren Verkehr mich in den Strom geistigen Fortschritts reißen sollte?

Auf das angenehmste überrascht wandte ich mich daher meinem Nachbarn zur Rechten zu, der meinen Aufsatz in der Goethe-Zeitschrift gelesen zu haben schien und ein paar kritische Bemerkungen darüber machte. Er war ein bekannter österreichischer Dichter, dessen tapfere Bücher, aus denen das ganze Leid des jahrhundertelang verfolgten und unterdrückten Judentums herausschrie, mich ihn schon lange bewundern ließen.

»Wie stolz müssen Sie sein, so wertvolle Andenken an Goethe Ihr eigen zu nennen, wie die Gedichte an Ihre Frau Großmutter, wie den Ring aus der Hand des Olympiers,« meinte er.

Ich zog den schmalen Goldreif vom Finger. Er machte die Runde um den Tisch. Alles schien entzückt, dankbar, voll Bewunderung.

»Muß man das dem Fräulein glauben?!« rief plötzlich eine helle Stimme von der anderen Seite der Tafel. Halb verletzt, hald erstaunt, suchte ich mit den Augen die Sprecherin, – sie hatte offenbar nicht den mindesten Respekt vor meinen fürstlichen Beziehungen.

»Juliane Déry« – flüsterte mir mein Tischherr zu, »ein überspanntes, hypermodernes Frauenzimmer. Sie kennen doch ihre Novellen?«

Ich kannte nicht einmal ihren Namen. Aber ihre Unart gefiel mir. Nach dem Souper sprach ich sie an.

Sie saß hingekauert zu Füßen des österreichischen Dichters und maß mich mit einem feindseligen Blick, während sie ungeduldig den tief herabgesunkenen Ärmel ihres ausgeschnittenen nilgrünen Kleides auf die Schulter zurückschob.

»Ich habe kein Interesse für Goethe und nicht das mindeste für die Goethe-Philologie,« sagte sie gereizt.

[390] »Fräulein von Kleve sieht mir aber auch nicht aus, als ob sie mit Haut und Haaren der Philologie verfallen wäre,« lachte der Dichter, ein wenig verlegen ob der Ungezogenheit seiner Gefährtin.

»Ich danke Ihnen für die gute Meinung,« antwortete ich und setzte mich auf einen geraden Holzstuhl, der mit ein paar anderen seinesgleichen, einigen von Zeitschriften beladenen Tischen und schlichten Bücherregalen die Einrichtung des Raumes bildete. Es schien, als sei diese Einfachheit wohlerwogene Absicht, denn um so gewaltiger und beherrschender traten die Goethe-Bilder hervor, die die Wände schmückten. »Tatsächlich habe ich gar keine Neigung zur Philologie, – sehen Sie nur, wie all der aufgehäufte papierne Wissenskram schon vor dem bloßen Abbild des lebendigen Goethe zusammenschrumpft! Es widerstrebt mir geradezu, ihn zu vermehren.«

»Warum tun Sie's denn?!« rief die junge Schriftstellerin, spöttisch lachend. Ich schwieg. Ich hatte die Empfindung, schon vielzuviel von mir selbst verraten zu haben. Der Dichter, bemüht, zwischen mir und dem Mädchen zu seinen Füßen eine Brücke zu bauen, lenkte ein: »Seien Sie ihr nicht böse. Sie ist viel besser, als sie sich gibt, und mit der borstigen Außenseite will sie nur das allzu Weiche ihres Inneren verstecken.«

»Sie will?!« Juliane Déry sprang auf und wühlte mit nervösen schmalen Fingern, die merkwürdig wenig zu der kurzen breiten Hand und dem vulgären Handgelenk paßten, in ihrem wirren Haarschopf. »Sie will gar nicht. Aber zuweilen muß sie. Und das Müssen widert sie an. Nicht verbergen, bloßlegen, was ihr im Innern lebt – ganz nackt und bloß –, daß ihr guten anständigen Leute eine Gänsehaut kriegt, das will sie, – das wollen wir alle, die wir jung sind, und dem Leben dienen, – und keinem toten Götzen.« Mir stieg das Blut in die Schläfen. Das Zimmer hatte sich gefüllt. Wie konnte man vor all diesen fremden Menschen die Pforten seiner Seele aufreißen, dachte ich, und doch beneidete ich sie, weil sie es konnte.

[391] Sie hatte einen Funken ins Pulverfaß geschleudert. Eine allgemeine Unterhaltung über das Wollen und Können der Jungen entspann sich, bei der die scheinbar ruhigsten Menschen in leidenschaftliche Erregung gerieten, – jene Erregung, die immer verrät, daß der Kampf aufhört, objektiv geführt zu werden. Ich hörte mit steigendem Erstaunen zu. Verteidigten sie nicht im Grunde ihre persönliche Ruhe, wenn sie mit Keulen auf alle diejenigen losschlugen, die die Wahrheit vom Leben verkündigten?

»Der Pöbelruhm Zolas und Ibsens ist den Leuten zu Kopfe gestiegen,« eiferte Dr. Friedrich, der von vielen als zweiter Lessing gepriesen wurde, und sein schmales bartloses Gesicht rötete sich. »Man spekuliert auf die ganz gemeine Freude am Schmutz, und hat damit natürlich die Masse auf seiner Seite. Was würde der Große hier sagen« – er wies mit einer theatralischen Gebärde auf die Bilder an den Wänden – »wenn er diese Entartung der deutschen Literatur hätte erleben müssen!«

Eine Pause trat ein. Juliane Déry stampfte mit dem Fuß und biß sich die vollen Lippen wund, aber auch sie schwieg. Die Autorität des gefürchteten Mannes wirkte lähmend auf alle. Ich allein war noch viel zu naiv, um von seiner Macht eine Ahnung zu haben.

»Ich glaube, niemand würde die Jungen besser verstehen und würdigen als er,« begann ich leise und stockend, während ängstliche, warnende und spöttische Blicke sich auf mich richteten. »Sein Werther, sein Meister, sein Faust und sein Gretchen vor allem mögen die meisten seiner Zeitgenossen durch ihre Wahrhaftigkeit nicht minder verletzt haben, als die Enthüllungen des äußeren und inneren Elends der Gegenwart Sie heute verletzen. Mir scheint, Dichter und Künstler müssen uns die Wahrheit zeigen, wie sie ist, weil wir selber nicht den Mut haben, sie aus eigener Kraft zu sehen.«

Man unterbrach mich; Rufe der Entrüstung wurden laut, [392] ich wollte schon verschüchtert schweigen, als ein kühler, herausfordernder Blick Dr. Friedrichs mich traf, der jetzt dicht vor mir stand.

»Reden Sie nur weiter, gnädiges Fräulein, reden Sie! Es ist psychologisch interessant, einmal zu sehen, wie die Dinge auf Menschen wirken, die, wie Sie, dem Leben so fern stehen.«

»Ich stehe ihm näher, viel näher, als Sie glauben –« nun flossen mir die Worte rasch und klar von den Lippen – »und ich weiß, daß wir nicht weiter kommen – der Einzelne nicht und die Gesamtheit nicht –, solange wir uns scheuen, das Böse und Widerwärtige, das Häßliche und Schmerzhafte zu sehen, wie es ist. Erst daran erprobt sich die Lebenskraft. Kein größeres Zeichen der Dekadenz gibt es, als die Furcht vor dem Schmerz. Sie ist unsere Krankheit, und an ihr geht unsere Welt zugrunde, wenn sie sich von den Ibsen und Zola und Nietzsche und denen, die ihresgleichen sind, nicht heilen läßt.« Ich atmete tief auf. Jetzt erst sah ich wieder, wer um mich war: man lächelte, halb verlegen, halb mitleidig, man zuckte die Achseln.

»Wenn nichts anderes, so haben Sie doch eins bewiesen, meine Gnädigste,« spöttelte Dr. Friedrich, »Sie haben Ihren Beruf verfehlt: eine Rednerin ist an Ihnen verloren gegangen.«

Ich fühlte mich gedrückt und verlegen und mochte den Mund nicht mehr auftun.

Auf dem Nachhausewege schloß sich mir plötzlich Juliane Déry an und schob ihren Arm in den meinen.

»Sie sind eine tapfere kleine Person,« sagte sie, »aber furchtbar dumm sind Sie auch! – Das vergißt Ihnen der Friedrich nie!«

»Wenn meine ganze Dummheit darin besteht, – die Folgen will ich auf mich nehmen!«

»Na – allerhand Achtung vor Ihrer Courage! – Aber – da wir zwei die Wahrheit zu vertragen scheinen, so sag' ich's frei heraus: Ihre Dummheit ist noch nicht erschöpft. Sie haben Ihr Gewissen sogar mit einem Verbrechen beladen. Sie haben [393] der Kunst ethische Motive angedichtet. Die Kunst ist Kunst, – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie hat eine neue Schönheit entdeckt, die der Wahrheit – der Häßlichkeit meinetwegen –, die muß sie darstellen. Im Wort, im Bild, im Ton. Aber nützen und bessern will sie nicht, soll sie nicht.«

»Mag sein, daß das nicht ihre Absicht ist. Auch die Blume blüht und duftet und ist schön und vollendet, selbst wenn sie nicht zur Frucht werden wollte. Aber die Frucht kommt ohne ihre Absicht.«

Es zuckte ironisch um die Mundwinkel meiner Begleiterin. »Ihr Vergleich hinkt. Die Blume muß sterben, soll die Frucht ihre Folge sein. Die Kunst aber blüht und ist immer Frucht und Blume zugleich.«

Wir waren über kaum angelegte Straßen, an Kartoffelfeldern vorbei bis zu der alten Linde gelangt, die mitten in der Straßenkreuzung des Kurfürstendamms und der Tauenzienstraße stand, ein letzter Zeuge jener Vergangenheit, wo die lauernde Schlange der Großstadt die Natur noch nicht bis zum letzten Rest in ihrer Umarmung erdrosselt hatte.

Wir trennten uns mit einem Händedruck und doch eben so fremd wie vorher. Nicht zu jenen gehörte ich, deren Gast ich eben gewesen war, und nicht zu ihr. Wohin denn? ...


Am nächsten Morgen schrieb ich an meine Verwandten nach Weimar und kündigte meinen Besuch an. In die Arbeit wolle ich mich stürzen, das würde wieder das Beste sein.

Vor meiner Abreise kam die Familie noch einmal vollzählig bei uns zusammen: Onkel Walter mit seiner Frau, die Potsdamer Kleves, Vetter Fritz und Vetter Hermann Wolkenstein, der als Offizier auf keine Karriere zu rechnen hatte und daher zur Diplomatie übergegangen war. Auch Tante Jettchen, das Familienorakel, war gekommen, sehr alt, sehr gebrechlich, aber [394] mit ihren scharfen klugen Augen doch noch alles sehend, alles beobachtend, und in ihrem Urteil härter denn je. Ihr Kopf schien nichts als ein Lexikon der Familie zu sein. Sie kannte die Schicksale der entferntesten Verwandten. Mich mochte sie nicht: daß ich als Kind auch nur wochenlang eine jüdische Schulfreundin gehabt hatte, war ein unauslöschlicher Makel in meiner Erziehung. Heute jedoch ließ sie sich meinen Handkuß auf das gnädigste gefallen.

»Es freut mich, freut mich sehr, daß du nach Weimar gehst,« sagte sie, »für verschrobene Köpfe wie deinen ist das gut – sehr gut. Literarisch angehauchte Frauenzimmer haben dort Aussicht auf Hofkarriere.« Ich lächelte unwillkürlich: Professor Fiedler hatte auch von der »Karriere« gesprochen.

Die Unterhaltung drehte sich zunächst um Familienereignisse. Von den Vettern, die um die Ecke gegangen waren, und die, statt wie früher nach Amerika, jetzt nach den Kolonien abgeschoben wurden, um als Kulturträger aufzutreten; von den sitzengebliebenen Cousinen, die Krankenpflegerinnen wurden, weil andere Berufe sich doch nicht schickten, war die Rede. »Besser sich die Finger mit Blut als mit Tinte beschmutzen,« krähte die hohe Greisenstimme Tante Jettchens. Und dann wurde das unerhörte Ereignis kräftig glossiert, daß ein Golzow die Tochter eines Großindustriellen geheiratet hatte. Die erste Unadelige in der Familie, und noch dazu der Sprößling eines »Kohlenfritzen!«

»Und der Kerl, der Ernst, hat noch die Frechheit gehabt, mir seine Verlobungsanzeige zu schicken.« Auf Tante Jettchens runzligen Wangen brannten rote Flecke. »Aber freilich, wenn von oben das Beispiel gegeben wird! – Wenn Se. Majestät selbst mit dem Kanonen-Krupp und den Hamburger Kaffeesäcken fraternisiert! – Und amerikanische Milliardärstöchter, deren Väter noch mit dem Bündel auf dem Rücken durchs Land zogen, hoffähig werden!« – Ihre Stimme überschlug sich, [395] der stockende Atem zwang sie zum Schweigen. Und nun erst griff die rechte Stimmung Platz, ohne die eine Gesellschaft unserer Kreise kaum noch möglich schien: Jeder wußte einen neuen Hofklatsch, eine neue Variation einer der vielen Kaiserreden, oder flüsterte dem Zunächstsitzenden – aus Rücksicht auf die anwesenden jungen Mädchen – einen neuen derben Spaß zu, durch den irgendein Eulenburg oder Kessel die Lachlust Sr. Majestät gereizt und sich eine neue Gunstbezeugung errungen hatte.

»Für das Modell des Doms, mit seiner überladenen Pracht, hat er selbst die Zeichnungen entworfen,« sagte der eine, »dem Darsteller des Großen Kurfürsten in Wildenbruchs neuem Spektakelstück, dem ›neuen Herrn‹ – das übrigens ein unglaublich taktloser Angriff auf Bismarck ist – hat er persönlich gezeigt, wie ein Hohenzoller sich bewegen und benehmen muß,« – fügte ein anderer hinzu, »kurz, der liebe Gott kann alles, aber der Kaiser kann alles besser,« lachte Onkel Walter. Und die alte Tante schüttelte sich vor Vergnügen: »Als roi soleil hat er sich ja auch schon malen lassen!«

Nur die Kleves waren verlegen und still, und Papa hatte sich mit bezeichnenden Blicken auf die jungen Offiziere schon oft vernehmbar geräuspert.

»Nun aber genug des grausamen Spiels,« unterbrach er schließlich den allgemeinen Redefluß. »Ich komme gewiß nicht in den Verdacht, ein Sachwalter des neuen Kurses zu sein, wenn ich daran erinnere, daß wir doch auch Ursache haben, dem jungen Herrn zuzustimmen. Schien er im Überschwang jugendlicher Gefühle den Herren Sozialdemokraten Konzessionen zu machen und den Arbeitern die Backen zu streicheln, so hat er doch beizeiten gestoppt und andere Saiten aufgezogen – –«

Doch die Verteidigung steigerte nur die Heftigkeit des Angriffs. Merkwürdig, welche Reizbarkeit alle Menschen befallen hatte, wie es fast unmöglich schien, eine ruhige Unterhaltung zu führen.

[396] »Du siehst die Dinge wirklich nur von außen, lieber Hans,« rief Onkel Walter, der sich als Reichstagsmitglied fühlte und sich gern das Ansehen gab, als wäre er in alle politischen Kulissengeheimnisse eingeweiht; »tatsächlich steuert man direkt in den Sozialismus hinein, und das um so rascher, je mehr man uns, die einzigen Stützen der Monarchie, vor den Kopf stößt. Ist es erhört, daß von einem preußischen Könige Ausdrücke wie der von der Rebellion der Junker kolportiert werden können, daß Reden gehalten wer den wie auf dem brandenburgischen Provinziallandtag, die nichts anderes sind, als ein Kriegsruf gegen uns?!«

Meine Mutter stimmte eifrig zu. »Der Geist der Unzufriedenheit, von dem der Kaiser sprach, und der die Seelen vergiftet, ist wahrhaftig anderswo zu suchen!« sagte sie und lenkte die Unterhaltung auf die moderne Literatur. Seitdem sie »Die Ehre« und »Sodoms Ende« gesehen hatte, schien sie von dem Eindruck ganz beherrscht zu sein und schwankte zwischen der Empörung, die die traditionelle Auffassung von dem, was sich schickt, ihr auspreßte, und zwischen der Anerkennung, zu der ihr Gerechtigkeitsgefühl sie zwang. Sie wünschte sichtlich ihre Empörung zu stärken, aber unsere Gäste hielten dies Thema nicht für der Mühe wert, um sich deswegen zu erhitzen. »Wie kannst du dergleichen ernsthaft nehmen,« meinte Onkel Walter achselzuckend; »eine neue Form amüsanter Schweinereien – nichts weiter.« Nur Tante Jettchen ereiferte sich: »Anständige Leute gehen in solche Stücke nicht.« Und erleichtert über die Wendung des Gesprächs, sekundierte ihr die fromme Tante aus Potsdam.

Am Tisch der Jugend, wo man indessen Schreibspiele gespielt hatte, saß ich in steigender Erregung. Plötzlich trafen mich die scharfen Augen des Familienorakels. »Ich glaube gar, das Kücken möchte mit reden, wo sie nicht einmal hinhören sollte.« Ich wurde rot. Auf der faltigen Stirn der alten Frau erschienen hundert neue Runzeln. »Du erlaubst dir am Ende, eine andere [397] Meinung zu haben?!« forderte sie mich heraus. Verlegenheit vor all den Blicken, die sich auf mich richteten, Angst vor dem Skandal, den ich erregen würde, ließen mich schweigen. Aber als wir Jugend beim Abendessen, getrennt von den anderen, zusammensaßen und Hermann Wolkenstein eine wegwerfende Bemerkung machte, die mir in seinem Munde doppelt lächerlich vorkam, verteidigte ich die moderne Richtung in Kunst und Literatur, und zwar um so schärfer, je mehr mich die Beschränktheit und der dumme Hochmut der anderen empörte.

»Weiß Tante Klothilde um deine Ansichten?« frug unvermittelt eine der Potsdamer Kleves und streifte mich mit einem schiefen, lauernden Blick.

»Ich würde vor ihr am wenigsten Anstoß nehmen, sie zu entwickeln,« antwortete ich und warf den Kopf zurück.

»Von dir wundert mich schon gar nichts mehr,« meinte Hermann naserümpfend. »Wer sich mit jüdischen Literaten intimiert ...«

»Beleidige doch deine Vorfahren nicht noch im Grabe –« spottete ich.

Er warf mir einen bösen Blick zu. Die anderen, ihrer tadellosen Ahnenreihe bewußt, lächelten leise. Das reizte ihn noch mehr. Er hieb mit der riesigen, weißen, gepflegten Hand auf den Tisch, daß sein Kettenarmband klirrend unter der Manschette hervorsprang.

»Und du spiel' dich nicht auf,« zischte er zwischen den Zähnen hervor; »mit deiner Vergangenheit hast du am wenigsten Grund dazu.« Ein unartikulierter Laut ließ mich den Kopf rasch zur anderen Seite wenden, Fritz hatte ihn ausgestoßen. Er saß da, kreideweiß im Gesicht, mit zuckenden Lippen.

»Sie werden meine Cousine um Verzeihung bitten, Baron Wolkenstein,« herrschte er Hermann an. »Habe gar keine Ursache, Herr von Langenscheid,« antwortete dieser, lehnte sich breit in den Stuhl zurück und steckte die Hände in die Hosentaschen. [398] Ich umklammerte hastig die heißen Finger meines Verteidigers. »Mach doch keine Geschichten, Fritz –, Hermann ist taktlos wie immer – bitte, mir zuliebe, beruhige dich! – das ist ja gräßlich – hier, im Hause meiner Eltern!«

In diesem Augenblick fingen die Verwandten im Nebenzimmer an, sich zu verabschieden. Fritz zog mich beiseite. Er zitterte vor Erregung.

»Und du verteidigst dich nicht einmal gegen solche Gemeinheit,« flüsterte er mit erstickter Stimme.

»Verteidigen?! Vor solch einem Menschen?!! Soll ich ihm vielleicht eingestehen, daß ich einmal im Leben liebte – mit ganzer Seele und mit vollem Herzen?! Soll vor den Leuten, die gar keiner starken Empfindung fähig sind, mein Inneres entblößen, was ich vor mir selbst zu tun kaum den Mut habe?«

»Alix!« von weit her schien jemand meinen Namen zu rufen, mit einem Ausdruck, der mir in die Seele schnitt.

Im nächsten Moment beugte ich mich zum Abschied über die welke Hand Tante Jettchens, hörte mit halbem Ohr ein allgemeines Stimmengewirr und fühlte schließlich noch Papas Lippen auf meiner Stirn.

»Gottlob,« murmelte er, »den Abend hätten wir hinter uns!«


Verträumt und erstaunt sah ich um mich, als ich acht Tage später in Weimar ankam. Stand die Zeit hier seit zehn Jahren still?! Derselbe helle Maienabend wie damals empfing mich. Und in dasselbe alte Haus an der Ackerwand führte mich die Hofequipage, wie einst, als die Großmutter ihr Enkelkind zum erstenmal hergeleitete. Sie freilich war nicht mehr da, und doch war mir's, als ob ihr Kleid neben mir die Treppe hinaufrauschte. Auch ihr Bruder war lange tot, und doch schien's, als wäre der schöne, tief brünette Mann mit den schmalen Händen und dem leicht gebeugten Nacken, der mich empfing, kein anderer als er.

[399] Im Rokokosalon mit den vielen Miniaturen über dem graziösen Sofa und den verblaßten Pastellbildern an der mattblauen Seidentapete erhob sich aus dem goldgeschnitzten Lehnstuhl am Fenster ein schlankes Frauenbild und streckte mir mit einem süß-zärtlichen Lächeln ein weißes Händchen entgegen. War das wirklich die Gräfin Wendland – meine Tante –, oder war es nicht Frau von Stein, deren Schatten sich aus dem Nebenhaus hierher verirrt hatte?! Dann kamen die Kinder und begrüßten mich, – lauter kleine Elfen mit allzu schweren Haaren auf den feinen Köpfchen und allzu großen Blauaugen über den schmalen Wangen.

Draußen vor meinem Zimmer plätscherte der Brunnen wie vor uralten Zeiten, und die Bäume rauschten feierlich, als träfe ihre Kronen niemals ein Wirbelsturm.

Am nächsten Morgen besuchte mich der Großherzog. Er kam zu Fuß und unangemeldet, mit den raschen elastischen Schritten eines jungen Mannes; ich hatte kaum Zeit, ihm bis zum Treppenaufgang entgegenzugehen. Und dann saß er mir im Rokokosalon gegenüber, und je länger er sprach – mit heller Stimme und in dem eleganten Französisch des ancien régime –, desto tiefer versank die Gegenwart, und in mystischem Halbdunkel stieg die Vergangenheit empor. Von der Großmutter erzählte er mir zuerst, wie schön und wie gut und wie klug sie gewesen wäre, wie sie Weimars Geist in sich verkörpert habe, wie er nie habe verstehen können, daß sie anderswo als in ihrer Seelenheimat zu leben imstande gewesen war. Zuweilen legte er die Hand über die Augen, eine gelbliche, blutleere, muskellose Hand, die gewiß niemals fest zuzupacken vermocht hatte, und lehnte sich, als käme plötzlich die Erinnerung an das eigene Alter über ihn, tief in den Stuhl zurück. Aber gleich darauf reckte sich sein schmaler Oberkörper krampfhaft auf, die Hände umschlossen die Seitenlehnen, die Augen weiteten sich, und mit dem stereotypen angelernten Fürstenlächeln, das über jede Empfindung hinwegtäuschen [400] soll, begann er wieder zu reden. Nun war ich nicht mehr das Enkelkind der Freundin seiner Jugend, sondern die Schriftstellerin, von der er die Erfüllung eines langgehegten Wunsches erwartete. Die Geschichte der Gesellschaft Weimars sollte ich schreiben, jener Gesellschaft, die seit Goethes Ankunft in der Residenz Karl Augusts »getreu ihrer Tradition, Künstler und Dichter als Gleichberechtigte aufgenommen und ihnen den Weg zum Ruhm gebahnt hat«. Und von den Vielen erzählte er, denen Weimar ein Sprungbrett ins Leben gewesen war, die hier zuerst die Anerkennung fanden, die die Welt draußen ihnen versagte. Er begeisterte sich an seinem eigenen Gedankengang, sein farbloses Gesicht überzog sich mit einer ganz feinen bläulichen Röte, und in seinen verschleierten Augen entzündete sich ein stilles Licht.

»Sie sind prädestiniert, dies Werk zu schaffen: getränkt mit Weimars Erinnerungen, erzogen in Weimars Geist, geleitet von dem unfehlbaren Takt der Aristokratin,« sagte er, indem er sich erhob und mir die Hand reichte. »Von Ihnen brauche ich keine jener widerwärtigen Enthüllungen zu fürchten, die die Kunst beschmutzen, das Leben vergiften. Meine Archive stehen Ihnen offen; dasselbe glaube ich auch im Namen der Großherzogin versprechen zu dürfen. Ich hoffe, Sie oft zu sehen – –«

Zu einer Antwort ließ er mir keine Zeit mehr, – daß ich nicht nein sagen könnte und dürfte, war ihm selbstverständlich. Ich hatte mich nur noch tief und dankbar zu verneigen.

Und immer enger spann sich Weimars Zaubernetz mir um Geist und Sinne. Mit offenen Armen, wie eine Heimkehrende, ward ich überall aufgenommen. Während langer Audienzen besprach die Großherzogin meine Arbeit im Goethe-Archiv mit mir. Sie blieb stets in jedem Wort und jeder Bewegung die unnahbare Fürstin, und doch lag ein mütterlicher Ausdruck auf ihren Zügen, wenn ich eintrat. Der kleine, derbe Erbgroßherzog, in allen Stücken das Gegenteil seines Vaters, glich ihm mir [401] gegenüber in der Freundlichkeit, die durch seinen breiten Weimarer Dialekt und seine mit einer gewissen Absichtlichkeit übertriebene Verachtung aller Form noch um einen Schein herzlicher war, und seine gute, dicke Frau, die gewiß eine prächtige Landpastorin abgegeben hätte, unterstützte ihn darin. Mit der halben Hofgesellschaft verbanden mich verwandtschaftliche Beziehungen; Vettern und Cousinen sechsten und achten Grades behandelten einander hier in dem festgeschlossenen Kreise wie nahe Blutsverwandte. Wir waren in großer Gesellschaft, wenn einer unter uns nicht »Du« zu den anderen sagte.

Wie ein süßer Duft verlöschter Wachskerzen schwebte die Erinnerung an das achtzehnte Jahrhundert über all diesen Menschen und ihrer Umgebung. Alles war verblaßt, was damals in Farben und Gefühlen gejauchzt und geschwelgt hatte: die Rosenteppiche – die gemalten Wangen – die Liebe. Und die raschelnden bauschenden Gewänder, die Schönpflästerchen, die bunten Westen, die weißen Perücken und Galanteriedegen hatten die Damen und Herren abgelegt. Sie sahen darum oft recht dürftig und ungeschickt aus. Nur wenn im Schloß die Lüster brannten und das blanke Parkett und die hohen Spiegel ihr Licht tausendfältig wiedergaben, schienen sie sich des alten Lebens bewußt zu werden. Sie tanzten und lachten und neigten sich und nippten vom süßen Weine, und ich selbst mitten darin kam mir vor wie ihresgleichen: ein Schatten der Vergangenheit.

Auch in die Bürgerhäuser kam ich, wo Erinnerungen alter Zeiten in vergilbten Briefen, zärtlich-himmelblauen Stammbüchern, Ringen aus den Haaren der Liebsten, Prunktassen mit den Bildern der Unsterblichen verwahrt wurden. Der freundliche, ein wenig sentimentale, ein wenig enge Geist der dreißiger Jahre herrschte hier. Keine moderne Renaissance hatte die gradlinigen Biedermeiermöbel und die hellen Mullgardinen verdrängt, und trotzdem der Rausch der Farben und der Töne eines Böcklin, eines Liszt und Wagner ihr Auge und ihr Ohr getroffen [402] hatte, standen sie inmitten der weichen Märchenträume Schwindscher Wälder, und in ihrem Inneren klangen die Volksweisen Felix Mendelssohns.

Ich arbeitete jeden Vormittag in den Räumen des Goethe-Archivs, hoch oben im linken Schloßflügel, durch dessen Fenster der Blick weit über den Park hinweg schweifen konnte und das Ohr nichts vernahm als das leise Geschwätz zwischen der plätschernden Ilm und den grünen Baumblättern über ihr. Die gelehrten Herren, die mit mir arbeiteten, behandelten mich mit jener ausgesuchten Höflichkeit, die Mauern aufrichtet zwischen den Menschen. Sie beantworteten meine Fragen, sie brachten mir, was ich brauchte, sie verbeugten sich tiefer vor mir, als es nötig gewesen wäre, aber ich fühlte trotzdem die Geringschätzung des deutschen Gelehrten vor dem Weibe, das in seine Kreise dringt. Doch je länger ich in Weimar war, desto dichter umhüllte mich eine Atmosphäre des Weihrauchs, die mich nicht nur unempfindlich, sondern auch unnahbar hochmütig machte. Nur einer, der Direktor, ein geistvoller Sonderling, begegnete mir wie ein Mensch dem Menschen. Zuweilen aber kam es vor, daß ich seine väterlichen Ermahnungen, seine klugen Ratschläge, seine sarkastischen Kritiken nicht mehr vertrug. Nicht nur die Eitelkeit, die in der Treibhausluft der Salons so üppig gedieh, auch die Ungeduld, die mich oft mitten in der Arbeit packte, trug daran die Schuld.

»Man degradiert sich zum Lumpensammler bei dieser ewigen Papierkorbarbeit,« rief ich einmal empört, als ich eine Notiz, die mir fehlte, durchaus nicht finden konnte.

Der Direktor, der mir während der letzten Stunden geholfen hatte, sah mich stirnrunzelnd an.

»Sie sind sehr jung und sehr voreilig, gnädiges Fräulein,« sagte er scharf. »Wer zur Vollendung eines Mosaikbildes ein einziges Steinchen braucht und Kisten und Kasten, selbst Bergwerke danach durchforscht, der leistet eine wertvollere Arbeit [403] als mancher, der ein ganzes Gemälde in zwei Stunden hinpatzt. ›Beschränkung ist überall unser Los,‹ sagt unser Meister, und mit vollem Bewußtsein einseitig werden, ist der Ausgangspunkt tüchtiger Leistung.«

»Beschränkung ist überall unser Los,« – das bohrte sich in mein Gehirn – ich suchte von da an meine Steinchen und unterdrückte mein Murren.

An einem Lenztag, der so reich war, als hätten alle Lieder der Sänger Weimars sich in Duft und Glanz und Farben verwandelt, fuhren wir hinauf nach Belvedere. Der Großherzog hatte uns zum Frühlingsfest in sein Schlößchen geladen. In eine Laube von Maiglöckchen und Rosen war der runde Gartensaal verwandelt; durch die weit geöffneten Türbogen lachte der blaue Himmel, auf dem blinkenden Silber und den geschliffenen Kristallen der Tafel glänzte die Sonne, die Zahl der Tischgäste überstieg nicht die der Musen, und ein heiteres Gespräch, das wie der Wiesenbach alle Ecken und Kanten meidet und selbst die Steine streichelt, die ihm im Wege liegen, flutete hin und her. Warum nur meine Gedanken zuweilen den Faden verloren, und der Märchenwald am grünen Badersee mir wie eine Fata Morgana erschien und kühler Bergwind mir die Stirn umstrich? – der Duft der Maiglöckchen war es wohl, der den Zauber hervorrief.

In den Park geleitete uns unser Gastgeber nach dem Diner. Er zeigte mir das Labyrinth und die Naturbühne und wies mit liebevoller Bewunderung auf die sanften waldigen Hügelketten, die sich weit bis in die Ferne dehnten. »Das ist Schönheit,« sagte er, »ruhig-vornehme Schönheit, ein reiner Rahmen für echte Kunst, wie wir sie in Weimar gepflegt haben und pflegen werden. Ich freue mich, daß Sie uns helfen wollen. – Sie werden in Weimar bleiben, nicht wahr?« Ich antwortete ausweichend. Er verstand mich falsch: »Eine Stellung zu finden, die Ihnen entspricht, dürfen Sie mir überlassen,« und mit einem [404] freundlichen Händedruck wandte er sich anderen zu. Auf dem Heimweg gratulierten mir meine Verwandten. Graf Wendland, der hinter den Allüren eines tadellosen Hofmannes einen klugen, merkwürdig freien Menschen verbarg, meinte mit einem feinen Lächeln: »Der weiße Falke wird der Hofhistoriographin nicht fehlen. Ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, nicht wahr?!«

An demselben Abend war ich bei einer meiner vielen Tanten zum Souper. Aber es war eine, die nicht wie die vielen war – ein Original, über das die Familie die Achseln zuckte und die Köpfe schüttelte. Sie hatte sich schon in ihrer frühen Mädchenzeit Weimar zum Trotz ihr eigenes Leben geschaffen. Sie suchte sich ihre Hausfreunde unter den Künstlern und Dichtern, die sonst in Goethes Stadt doch nur zu wirksamen Dekorationsstücken der Hofgesellschaft verwendet wurden. So war sie allmählich zur mütterlichen Freundin all der jungen Menschen geworden, die hier auf der steilen Leiter zum Ruhm die ersten Schritte taten oder künstlerische Offenbarungen suchten. Und wem der Zwang des Hofes lästig wurde, wer frischere Luft brauchte, wem ein freies Wort auf der Zunge brannte, der kam zu ihr.

Heute waren sie alle um ihren Teetisch versammelt, die Alten und Jungen: Lassens jovialer Künstlerkopf tauchte neben dem schönen Schillerprofil Alexander von Gleichens auf; ein paar auswärtige Freunde, Schriftsteller und Theaterdirektoren, die zum bevorstehenden Goethe-Gesellschaftstag schon angekommen waren, fanden sich ein; Richard Strauß stand schüchtern in einer Ecke, der blasse junge Kapellmeister, den die meisten verlachten, und der hier bei der gütigen Frau, die ihn eben in schwerer Krankheit gepflegt hatte, wie ein Kind im Hause war. Und schmal und blaß wie er, in altmodischem Sammetkleid und glattgescheiteltem Haar tauchte ein Mädchen – nicht jung, nicht alt – in der Türe auf, das mir die Tante schon oft als großes dichterisches Talent gepriesen hatte: Gabriele Reuter. [405] Und eine junge Sängerin kam, eine bayerische Oberstentochter, die trotz ihrer schönen Stimme auf der Bühne nicht heimisch werden konnte und ängstlich, wie ein verirrter Vogel, nach Menschen suchte, die sich ihrer annahmen. Die Hausfrau dirigierte wie ein Feldherr die bunte Gesellschaft und das Gespräch, – und warf ein geistvolles Wort hinein, wenn es auf die Landstraße allgemeinen Klatsches zu geraten drohte. Schließlich stritt man sich hitzig über Weimars Bedeutung für das geistige Leben der Gegenwart.

»Künstler bedürfen der Ruhe,« sagte Gleichen, »aber sie verkommen und versauern, wenn sie nicht immer wieder mit einer Ladung von Ideen aus der Welt draußen hierher zurückkehren.«

Lebhaft widersprach Werner von Eberstein, ein junger Historiker, der im großherzoglichen Hausarchiv tätig war. »Für den Mann der Wissenschaft gibt es nichts Besseres, als in diesen sicheren Port einzulaufen, wo nichts ihn von seinen Studien ablenkt.«

Die Tante ergriff lebhaft Gleichens Partei. »Alten Leuten mag das entsprechen. Euch Jungen aber muß der Sturm erst tüchtig um die Nase blasen,« sagte sie. »Ausgegangen sind viele von hier, mit Schaffenskraft gesättigt, aber etwas geworden sind sie erst außerhalb unserer milden Luft. So gern ich euch habe, Kinder, – hinaustreiben möcht' ich euch alle miteinander,« und damit nickte sie dem schmalbrüstigen Musiker und der schüchternen kleinen Schriftstellerin zu, um sich gleich darauf an mich und an Eberstein zu wenden, der neben mir saß und ihr Neffe war:

»Ihr seid beide schon in Vorschußlorbeeren eingewickelt, aber trotzdem gebe ich euch noch nicht auf. Habt die Kraft, sie abzureißen! Hofluft erstickt Talente, genau so wie die der Hinterhausstuben.«

»Sie sind ganz blaß und still geworden, liebes Fräulein,« sagte Gleichen, als er mich spät in der Nacht nach Hause begleitete. »Glauben Sie, ich hätte meine verrückten Krautgärten [406] malen können, wenn ich die Blumen und die Sonne nicht anderswo gesehen hätte als hier?!«

Er kam mir vor wie ein alter Freund, obwohl ich ihm zum erstenmal begegnet war.

»Aber vielleicht bedeutet Weimar für mich, was für Sie die übrige Welt bedeutet: Leben – Befreiung?!« antwortete ich.

»Nein,« sagte er energisch und drückte mir die Hand. »Nein – Sie brauchen größeren Spielraum für Ihre Freiheit.«

Ich wurde müder von Tag zu Tag. War es die tägliche stundenlange Morgenarbeit in den Archiven, war es die ununterbrochene Geselligkeit am Mittag und am Abend, die mich allmählich erschlafften? Ich wurde mir nicht klar darüber. Aber ich sehnte mich in die Stille der Berge, wo ich mit Hilfe der aufgehäuften Materialien mein Buch zu beginnen die Absicht hatte. Nur die Goethe-Tage wollte ich noch abwarten. Sie fielen in diesem Jahre mit dem Jubiläum des alten Theaters zusammen und zogen Berühmtheiten aus aller Herren Länder nach Weimar. Auch meine Berliner Freunde fehlten nicht.

»Habe ich Ihnen nicht gut geraten?« meinte Professor Fiedler mit ehrlicher Freude, als er mich im Mittelpunkt der Gesellschaft, von Anerkennung und Schmeichelei umgeben, wiedersah.

»Welch eine Ehre für mich, mein gnädiges Fräulein,« sagte der Mann mit dem Goethekopf, als er bei einem Diner neben mir saß.

Und ich sah mit wachsendem Mißvergnügen, wie tief all die Männer der Kunst und Wissenschaft die grauen Köpfe vor den Fürsten neigten, wie sie erwartungsvoll, stumm und aufgeregt in Reih und Glied standen und ein Ausdruck von Beglückung das Gesicht jedes Einzelnen belebte, wenn der Großherzog ein paar nichtssagende Worte an ihn richtete. Ich wurde mißtrauisch gegen jeden, der mich zuvorkommend behandelte. Selbst die Freude an den Versen, die der greise Bodenstedt an mich [407] richtete, verbitterte mir der Gedanke, daß nur der Glanz der Krone, in deren hellem Umkreis ich stand, mich dem Dichter als das erscheinen ließ, was er besang.

Mit mir selbst zerfallen, saß ich am Vorabend meiner Abreise im dunklen Hintergrund der kleinen Hofloge des Theaters und sah den Faust. Wie seltsam geschah mir: Acht Wochen hatte ich in Goethes Stadt gelebt, hatte täglich die Luft geatmet, die droben im Archiv sein Lebenswerk in seinen Schriften umgab, und nun plötzlich sprach er selbst, und – ich kannte ihn nicht! Als hätte ich sie niemals gelesen, niemals auswendig gewußt, trafen seine Worte mein Ohr: lauter grelle Blitze, die das Dunkel erhellten, lauter Donnerschläge, die mich erbeben ließen.

Das war des Menschen Schicksal, das an mir vorüberrollte; mein eigen kleines Leben sah ich darin verflochten mit seinen Kämpfen und Niederlagen. Und vor einer Niederlage stand ich wieder. »Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß«, dröhnte es mir in den Ohren.

Am Ausgang des Theaters traf ich Gleichen. Ich drückte ihm die Hand. »Leben Sie wohl,« sagte ich. »Sie reisen?« Er sah mich forschend an. »Ja, – und ich werde nicht wiederkommen.«

Auf dem Frühstückstisch fand ich am nächsten Morgen zwei Briefe: vom Großherzog, der mich aufforderte, den Hof nach Wilhelmsthal zu begleiten, von Tante Klothilde, die mir mitteilte, daß sie mich in diesem Sommer in Grainau nicht erwarten könne, weil sie, dem Rate meiner Mutter folgend, eine der Potsdamer Nichten zu sich gebeten habe. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als habe mir jemand hinterrücks einen Schlag ins Genick versetzt.

»Also werd' ich nach Pirgallen gehen,« sagte ich laut, wie zu mir selbst.

»Nach Pirgallen?!« frug die kleine Rokokogräfin erstaunt. »Man rechnet doch auf dich für Wilhelmsthal!« »Ich werde ablehnen [408] müssen, – mein Buch soll zum Herbst fertig werden, – ich brauche den Sommer zur Arbeit,« antwortete ich ein wenig zögernd. Es war ein paar Augenblicke still in dem weißen, von der Morgensonne hell durchfluteten Speisesaal. Nur der Teekessel sang, und draußen über das holprige Pflaster rasselte eine Hofequipage.

»Überlege es dir reiflich,« begann Graf Wendland langsam und sah mit gerunzelter Stirn auf seine blanken Fingernägel. »Es ist vielleicht eine Lebensentscheidung, die du triffst,« – ein langer prüfender Blick traf mich, – »du weißt wohl noch nicht – Prinz Hellmut hat am Mariental das Schloß seiner eben verstorbenen Tante übernommen ...«

Wieder war es still. Ich hörte das Summen einer Biene am Fenster und sah, wie schwarz und schwer das alte eichene Büfett sich von der weißen Wand abhob. Mein Herzschlag setzte aus, um im nächsten Moment atemlos zu toben, wie eine rasende Maschine. Hellmut – –! Er hatte mich gehen heißen, als ich mich ihm geben wollte – –! Aber hatte er nicht, wie ich, unter dem Zwang großer, selbstverleugnender Liebe gehandelt – –? Doch warum kam er nicht wieder – jetzt, da er ein freier Mann war? – Ich strich mir mit eiskalten, zitternden Fingern die Locken aus der Stirn:

»Mein Entschluß steht fest – ich gehe nach Pirgallen!«


Und nun saß ich in Großmamas stillem, grünem Zim mer unter dem weißen Marmorbild ihres Vaters, und aus dem Garten grüßten die Jasminsträucher mit großen, süß duftenden Blüten. Niemand störte mich in dieser Einsamkeit. Onkel Walter fürchtete die Räume der Toten, als ginge ihr Geist darin um. Mama glaubte mich bei der Arbeit, der Vater ritt mit dem Schwesterchen durch die Wälder, wie einst mit mir. Ich hatte arbeiten wollen. Bücher und Notizen lagen in großen[409] Stößen auf dem Tisch der Altane. Aber sobald ich sie aufschlug, schrumpften mir alle Gedanken ein. Tot und leer waren all die vielen Papiere, – wie sollte je etwas Lebendiges aus ihnen hervorgehen. Und was gingen mich im Grunde die fremden Dinge und Menschen an? Was würde die Welt davon haben, wenn ich des langen und breiten von denen erzählte, die im Dunkel geblieben wären, wenn nicht ein ganz Großer sie in seine Nähe gezogen hätte?

In Großmamas Bücherschrank standen Goethes Werke in langer Reihe mit grünen Einbänden und weißen runden Schildern auf dem Rücken. Ich begann zu lesen – stundenlang, tagelang, wochenlang –. Und je mehr ich las, desto mehr zog ich mich in die Räume zurück, die eine stille Insel waren mitten im Weltgetriebe. Täglich schmückte ich sie mit frischen Blumen, wie Großmama es getan hatte, und zog des Nachts die dunkeln Sammetportieren vor Türen und Fenster und steckte die Ampel an mit der großen Flamme unter dem sonnengoldnen Seidenschirm. Wenn ich dann halb die Augen schloß, sah ich das Zimmer erfüllt wie von einem flimmernden Nebel, aus dem die Statue Goethes immer größer und lebendiger hervorwuchs.

»Rede zu mir, Meister!« flehte meine Seele. Und er redete.

»Dein Leben sieht einer Vorbereitung, nicht einem Werke gleich,« zürnte er.

»Ach, welche ein Werk bleibt mir zu tun?!« schrie meine Seele.

»Bleibe nicht am Boden haften – frisch gewagt und frisch hinaus,« hörte ich die Stimme des Mahners, »dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm, – tätig zu sein, ist seine Bestimmung!«

»So zeige meiner Kraft eine Tat –«, und sehnsüchtig streckte meine Seele die gefalteten Hände empor zu ihm.

»Ein edler Held ist's, der fürs Vaterland, ein edlerer, der für des Landes Wohl, der edelste, der für die Menschheit kämpft ...«

Zu einem Tempel weitete sich das Zimmer, und von den [410] Marmorwänden klangen dröhnend die Worte seines Hohenpriesters wider.

Der Boden leuchtete wie ein einziger Rubin, – tränkte ihn der Menschheit ganzes, blutrotes Leiden?

Hingestreckt lag meine Seele vor dem Altar.

»Nenne mir Ziel und Maßstab meines Strebens!« flüsterte sie.

»... Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn – auf freiem Grund mit freiem Volke stehn ...«

Nicht mehr der eine war es, der also sprach, es war ein Chor von Millionen Stimmen, und alle Hoffnung der Verlassenen, alle Sehnsucht deren, die zu leben begehren, tönte darin.


Ein Brief von Egidy, erfüllt von den Ereignissen der Gegenwart und seinen Plänen für die Zukunft, gab mich der Wirklichkeit zurück, und in unsicheren Umrissen sah auch ich ein Feld der Betätigung vor mir. »Ihre Übersiedelung nach Berlin freut mich außerordentlich,« antwortete ich ihm, »und wenn ich Ihnen heute auch noch mit keinem Ja auf die Frage, ob ich Ihre Mitkämpferin werden kann, zu antworten vermag, so steht das Eine für mich fest: ich werde meine Kraft nicht im Durchstöbern alter Folianten verzehren und die Luft nicht durch Aufwirbeln ruhenden Staubes verdunkeln. Ich weiß, daß dem Christentum des Wortes das der Gesinnung und der Tat folgen muß, – nur zweifle ich noch, ob wir dann auf den Namen Christentum noch ein Recht haben.

Mein Entschluß, Weimar endgültig aufzugeben, hat in meiner Familie viel Entrüstung hervorgerufen. Meine Mutter sieht darin einen neuen Beweis für meine Charakterschwäche. ›Alix ist noch niemals konsequent bei der Sache geblieben, – sie wechselt ihre Neigungen für Menschen und Dinge wie alte Handschuhe,‹ meinte sie. Ich selbst aber fange an zu glauben, daß in dieser Inkonsequenz die einzige Konsequenz meines Lebens liegt. [411] Alles und Alle sind Stufen, und ich bin noch keine rückwärts gegangen. Papa war traurig –, was mir immer am meisten weh tut. Mein Onkel dagegen hat mir eine Rede gehalten, deren Quintessenz war, daß ich lieber heiraten solle, statt modernen Schwarmgeistern zu verfallen.

Wir reisen nächste Woche nach Haus.

Ich gehe noch einmal alle alten Wege, und oft steigen mir plötzlich die Tränen in die Augen, wenn ich den breiten efeuumsponnenen Turm von Pirgallen vor mir sehe. Er war etwas Lebendiges für mich; ein treuer, starker Freund, ein Wahrzeichen vieler Kinderjahre, die zu seinen Füßen wuchsen und in seinem Schutz. Nun hat er die Seele verloren, seit Großmama ihn verließ. Es ist auch für mich Zeit, zu gehen. Aber soviel Stärke auch die Erkenntnis verleiht und der Entschluß, – der Abschied von den Toten tut weh. Und mir ist, als sähe ich sie nie wieder ...«

[412]
17. Kapitel
Siebzehntes Kapitel

Septembersonne! In mattem Blaugrün spannt sich der Himmel über Berlin; alles Licht ist gedämpft, und die Schatten haben einen silbernen Ton. Auf den Anlagen der großen Plätze und in den Vorgärten der Häuser, die die Kultur mühsam dem spröden Sandboden abgerungen hat, feiert sie jetzt ihre größten Triumphe: vom hellen Gelb der Linden bis zum dunkeln Rot der Blutbuchen leuchten alle Farben des Herbstes; aus dem grünen Rasenteppich glänzen Astern in sanftem Violett und müdem Blau, während sich in wehmütigem Sterben blasse Rosen an die weißen Steinstufen der Estraden schmiegen. Goldene Blätter tanzen in lind bewegter Luft, und unter den Bäumen sitzen auf weißen Bänken jene modernen Frauen der Großstadt, die starke Farben scheuen wie starke Gefühle und Kleider tragen, die aussehen, als wären sie in der Sommersonne verblichen.

Täglich, am frühen Nachmittag, gingen wir vier in den nahen Zoologischen Garten, wo sich die Bewohner des Westens am Neptunteich unter den Musikkapellen ein Stelldichein gaben. Hier traf sich der behäbige Spießbürger mit Freunden und Verwandten, im stillen beglückt, nach der vorschriftsmäßigen Sommerreise wieder ruhig am rotgedeckten Tisch zu sitzen, statt schwitzend und prustend Ausflüge abzuklappern. Hier erschien in schäbiger Eleganz die Offiziers- und Beamtenwitwe, um ihre schon stark angejahrten, interessant verschleierten Töchter vor Männeraugen spazieren zu führen. Hier ließen sich mit der Stickerei und dem [413] mitgebrachten Kuchen zu stundenlangem Klatsch all die Überflüssigen nieder, an denen das weibliche Geschlecht so reich ist. Droben aber vor dem Restaurant, wo die weißen Tischtücher weithin sichtbar die Klassen schieden, tauchten elegante Toiletten und bunte Gardeuniformen auf, und Rücken an Rücken mit der vornehmen Frau der Hofgesellschaft saß im Glanz ihrer Brillanten und schwarzen Augen die schöne Otero und ihresgleichen. Jenseits jedoch, auf dem Hügel hinter dem Neptun, fanden die Stillen sich ein, die Musik- und die Naturschwärmer, die Nebenabsichtslosen mit ihren Büchern und ihren Zeitungen. Sie alle sahen unten auf der Lästerallee den bunten Strom kokettierender Jugend an sich vorüberfluten: bartlose Knaben mit erzwungener Blasiertheit, kurzröckige Mädchen mit heißen Augen; greisenhafte Jünglinge, lüstern nach Beute um sich schauend; korrekte junge Damen, glatt gescheitelt, mit kühlen, bleichen Wangen.

Nachdem die erste Neugierde gestillt war, ging ich nicht gern hierher; es kam mir wie Zeitverschwendung vor, und überdies sah ich mit leiser Angst mein reizendes Schwesterchen im Kreise flirtender Backfische und Gymnasiasten. Aber mein Vater liebte den Verkehr mit alten Freunden, die hier immer zu finden waren, und meine Mutter amüsierte der großstädtische Trubel. Bald hatten auch wir unseren Stammtisch unter der großen Kastanie bei der Musikkapelle, und Menschen verschiedenster Art gesellten sich zu uns, die nur ein gemeinsames Gefühl aneinander zu fesseln schien: die Unzufriedenheit. Das Leben hatte ihnen allen nicht gehalten, was sie sich von ihm versprochen hatten, und sie gaben nicht sich die Schuld, und nicht den Verhältnissen – wodurch Unzufriedenheit zum Hebel der Tatkraft werden kann, – sondern den heimlichen Feinden im Militär- und Zivilkabinett und den Intriganten am neuen Kaiserhof.

Es waren Männer darunter, die, um die magere Pension zu erhöhen und ihren Frauen und Töchtern standesgemäße Toiletten, ihren Söhnen die Leutnantszulage zu sichern, halbe [414] Tage als Agenten der verschiedensten Versicherungsgesellschaften Trepp auf, Trepp ab liefen, und nachmittags im Zoologischen den Junker spielten, der von seinen Renten lebt. Andere, die für ihre ungebrochene Kraft eine Beschäftigung, für ihre leere Zeit eine Ausfüllung brauchten, griffen zu den seltsamsten Hilfsmitteln. Der eine vergrub sich in heraldische Studien, ein zweiter sammelte Briefmarken, ein dritter widmete jede Stunde und jeden Gedanken dem Studium Dantes, ein vierter ging im Spiritismus auf und hatte täglich andere Geistererscheinungen. Aus Langerweile ließ ich mich mit diesem seltsamen Kauz, einem Obersten von Glyzcinski, dessen robuste Erscheinung mit dem breiten roten Gesicht wenig an einen Geisterseher erinnerte, oftmals in Gespräche ein und amüsierte mich im stillen darüber, auf welch vertrautem Fuß er mit dem lieben Gott stand und wie glühend er zu gleicher Zeit die Kirche und ihre Diener haßte. Dankbar für mein vermeintliches Interesse brachte er mir täglich andere Bücher und Broschüren und lief geduldig die Lästerallee mit mir auf und ab, wenn ich es in der von Ärger und Mißgunst geschwängerten Atmosphäre unserer Tafelrunde gar nicht mehr aushalten konnte.

So gingen wir gerade einmal wieder von einer Musikkapelle zur anderen, als der Oberst plötzlich stehen blieb.

»Wie geht's dir, Vetter?« hörte ich ihn sagen; mein Blick fiel durch den Schwarm Vorübergehender hindurch auf ein schmales Gesicht, von dichtem, braunem Bart umrahmt, aus dem zwei tiefe, strahlende Kinderaugen herausleuchteten, wie von großer innerer Freude erhellt. »Gut – sehr gut,« antwortete eine Stimme, die wie ein voller Geigenton klang. Welch glücklicher Mensch muß das sein, dachte ich mit stillem Neid. In dem Augenblick schoben sich die Men schen zwischen uns auseinander, – ich sah einen Rollstuhl, – eine dunkle Pelzdecke, – zwei ganz schmale, weiße Hände, deren blaues Geäder wie mit einem feinen Pinsel gezogen war, – einen schmächtigen Oberkörper[415] – – unmöglich! – das konnte doch der Mann nicht sein mit den strahlenden Kinderaugen! Aber schon richteten sie sich auf mich – verwirrt sah ich zu Boden. »Entschuldigen Sie ...« sagte mein Begleiter im Weitergehen. »Wer war das?« frug ich hastig, noch im Bann tiefen Erstaunens.

»Professor von Glyzcinski – mein Vetter,« lautete die lakonische Antwort.

»Können Sie mich mit ihm bekannt machen?« Mein rasch entstandener Wunsch formte sich ebenso rasch zur Bitte. Der Oberst runzelte die Brauen.

»Er ist Atheist und Sozialist,« kam es mit harter Betonung über seine Lippen.

Ich zuckte zusammen und konnte dem Schauder nicht wehren, der mir zitternd über den Rücken lief. Aber mein Wunsch wurde nur noch stärker.

»Stellen Sie mich vor,« bat ich dringend. Er sah mich von der Seite an: »Aber die Verantwortung tragen Sie allein!«

Wir drehten um. Ein kurzes Zeremoniell: »Fräulein von Kleve möchte dich kennen lernen, Georg, – sie ist Schriftstellerin.«

Des Professors Gesicht schien sich noch mehr zu erhellen. »Dann freue ich mich doppelt Ihrer Bekanntschaft,« sagte er, und seine Hand umfaßte die meine mit einer kräftigen Herzlichkeit, die ich ihr nicht zugetraut hätte. »Jede arbeitende Frau ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft.«

»Auch ein Gewinn für die Kunst und die Wissenschaft?« meinte ich zweifelnd.

»Gewiß! Sobald alle Universitäten und Akademien ihnen offen stehen wie den Männern!« Ich sah ihn verwundert an. Nur aus Witzblättern hatte ich bisher vom Frauenstudium erfahren, und hie und da war mir eine russische Studentin mit ausgetretenen Stiefeln, zerfranstem Rock und kurz geschorenen Haaren begegnet, die meine tiefe Abneigung gegen die Verleugnung [416] der Weiblichkeit nur steigerte. Zögernd äußerte ich meine Ansicht. Der Professor lächelte. Die Witwe mit den angejahrten Töchtern ging gerade vorüber.

»Sind diese armen alten Mädchen, die nun schon seit Jahren hier auf den Heiratsmarkt geführt werden, vielleicht würdigere Vertreter der Weiblichkeit?« sagte er, »die russische Studentin ziehe ich ihnen jedenfalls vor; und so arm sie sein mag, – sie selbst würde keinenfalls mit ihnen tauschen mögen. Denn sie hat ihre Freiheit, ihre Arbeit und ist tausendmal reicher als jene.« Er schwieg, aber da ich nicht antwortete – das, was er sagte, war mir in seiner einfachen Selbstverständlichkeit doppelt überraschend –, fuhr er nach einer Pause fort: »Stellen Sie sich eine Frau in meiner Lage vor, – wie unglücklich müßte sie sich fühlen, weil sie nicht nur von vielen Freuden des Lebens ausgeschlossen, sondern vor allem, weil sie nutzlos, weil sie überflüssig ist. Ich aber bin vollkommen glücklich!«

Der Professor lehnte sich tief in den Rollstuhl zurück, legte die Hände übereinander auf die schwarze Pelzdecke und sah mit einem Ausdruck der Verklärung über die Menschen hinweg in die gelben tanzenden Blätter, in die rosigen Abendwolken hinein. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Ich war keines Wortes mächtig und dankbar, daß die Eltern, die mich suchten, mich jeder Antwort überhoben.

Von nun an war ich es, die die Nachmittage nicht erwarten konnte, die, als es immer herbstlicher wurde, und kälter und trüber, oft allein den gewohnten Weg ging, um in dem stiller und stiller werdenden Garten den Mann zu suchen, dessen durchsichtige Krankenhand mich auf steile Höhen mit endlosen Fernsichten und in dunkle Tiefen voll überquellender Schätze führte. Ohne daß er eine Frage stellte, lockte der warme Strahl seiner Augen meine verborgensten Gedanken ans Tageslicht, und wo sie wirr auseinanderfielen wie vom Sturm zerrissene Telegraphendrähte, knüpfte er sie wieder vorsichtig zusammen. Er [417] brachte mir Bücher, Zeitungen und Zeitschriften mit und wenn ich damit beladen nach Hause kam, wurde es mir schwer, mich von ihnen zu trennen und zu meiner Arbeit zurückzukehren. Ich hatte mancherlei Versprochenes und Begonnenes zu vollenden und tat es widerwillig, nur von dem Gedanken erfüllt, mich auf eigene Füße zu stellen.

Aber der Professor verstand es, mir selbst diese Arbeit wieder wertvoll zu machen. »Wie viele große, gute und gefährlich umstürzlerische Ideen können Sie einschmuggeln, wenn Sie nur Ihren Goethe tüchtig ausnutzen,« meinte er, »und die vielen kleinen Flämmchen, die Sie entzünden, schlagen schließlich zu einer großen Flamme zusammen.«

Daß diese Arbeit nicht die meine bleiben dürfe, davon war er freilich auch überzeugt, doch er lachte mich aus – mit einem hellen frohen Gelächter, das von Spott nichts weiß –, als ich sagte, für mich gebe es nichts zu tun. »Die Fülle der Aufgaben müßte Sie vielmehr erdrücken, wenn Sie nicht so stark wären, alle auf sich zu nehmen,« versicherte er mir.

Ich vertiefte mich auf seinen Rat in die Literatur der amerikanischen und englischen Frauenbewegung. Ihre Ideen erschienen mir nur als die notwendige Konsequenz meiner eigenen. Unter der Unfreiheit hatte ich gelitten, die Unmöglichkeit, meine geistigen Fähigkeiten auszubilden und zu betätigen, hatte mich fast erdrückt. Ich las Condorcet und John Stuart Mill und lernte die Heldenkämpfe der Amerikanerinnen um die Befreiung der Sklaven kennen. »Sie alle haben ein Recht, sich den Männern gleich zu stellen,« sagte ich zum Professor, »denn wie sie opferten diese Frauen Gut und Blut für die Freiheit. Aber wir?!«

»Die Verleihung politischer Rechte ist doch auch beim Mann nicht die Konsequenz heroischer Taten!« antwortete er. »Und wenn sie überhaupt an irgendeine Bedingung geknüpft wäre, so würde mir nur eine gerecht erscheinen: das Maß des Leidens. [418] Wer am meisten leidet, sollte die weitestgehenden Rechte haben, um die Ursachen seiner Leiden zu beseitigen. Meinen Sie nicht, daß die Frauen in diesem Fall in erster Linie stünden?!«

Ich dachte an die Arbeiterinnen Augsburgs und konnte ihm nur zustimmen. Am nächsten Tage brachte er mir ein Paket Zeitungen mit. Rote und blaue Striche an den Rändern zeugten von der sorgfältigen Lektüre. Aber als ich sie auseinanderfaltete, erschrak ich: »Die Volkstribüne, Sozialistische Wochenschrift« stand als Titel groß darüber. Jetzt zuckte es doch wie ein ganz leiser Spott um die Lippen des Professors:

»Also auch Sie fürchten sich vor den Sozis!« meinte er lächelnd. »Lesen Sie nur dies Blatt, – ich habe mehr daraus gelernt als aus manch dickleibigem Buch gelehrter Kollegen!«

Und ich nahm mir die Blätter mit und las sie und war so vertieft, daß ich erst merkte, wie spät es war, als mein Vater draußen die Entreetür aufschloß. Er kam aus Brandenburg zurück, wo er an dem Jubiläumsfest seines alten Regiments teilgenommen hatte.

»Wie, du bist noch auf?« rief er. »Da kann ich dir ja noch Egidys Grüße bestellen!« Damit trat er ein. »Ich wußte gar nicht, daß er Fünfunddreißiger gewesen ist, ehe er zur Kavallerie ging. Übrigens ein famoser Kerl, tapfer und ehrlich. Und, – stell dir vor! – die Rasselbande hat ihn geschnitten! Kannst dir denken, daß ich ihm um so deutlicher meine Anerkennung für seine Überzeugungstreue aussprach. Er wäre mir beinahe um den Hals gefallen vor Dankbarkeit.«

In diesem Augenblick entdeckte mein Vater die »Volkstribüne«, die offen vor mir lag. Die Ader schwoll ihm auf der Stirn, und blaurot färbten sich seine Züge. »Was für ein Schuft hat dir diese Zeitung in die Hände geschmuggelt?« schrie er, »vor meine Pistole mit dem infamen Patron!«

»Ich habe sie mir gekauft,« log ich, »man muß auch seine Gegner aus ihren eigenen Schriften kennen lernen.«

[419] Mein Vater nahm wütend die Blätter vom Tisch und zerriß sie. »Bring mir solche Schweinereien nicht wieder ins Haus!« drohte er mit erhobener Faust. »Von Leuten, die das Vaterland verraten, den Mein eid predigen und den Fürstenmord, darf meine Tochter nicht einmal einen Fetzen Papier in Händen haben!« Und wütend warf er die Tür ins Schloß.

Am nächsten Vormittag besuchte uns Egidy. Den Zylinder in der Hand, in militärisch strammer Haltung wie zu einer dienstlichen Meldung stand er vor meinem Vater.

»Die Wohltat, die Eure Exzellenz mir in Brandenburg erwiesen, rechne ich zu den höchsten Empfindungen inneren Glücks, die mich bisher in meinem Leben beseelten. Euer Exzellenz Worte sind – ich sage nichts, als was ich fühle, – die größten, die an mich heranklangen, seit ich tat, was mir Pflicht schien.« Scharf und bestimmt sprach er, und dann erst wandte er sich zu meiner Mutter und mir.

»Darf ich Ihnen meine Töchter bringen?« frug er mich. »Es sind brave Kinder, die alles tapfer mit mir getragen haben und doch wehmütig empfinden, wie sie aus ihrer Bahn gerissen wurden.« Ich reichte ihm die Hand.

»Selbstverständlich, Herr von Egidy! Was ich den Ihren sein kann, will ich mit Freuden sein,« antwortete ich.

»Und darf ich nicht nur auf Ihre Freundschaft, sondern auch auf Ihre Mitarbeit rechnen?« Er streckte mir noch einmal die Hand entgegen.

Ich legte die meine zögernd hinein: »Auf meine Freundschaft, ja! Meine Mitarbeit aber kann ich Ihnen noch nicht versprechen!«

Sein Blick verfinsterte sich. »Ihr Herr Vater ehrt die Überzeugungstreue ...« sagte er mit Betonung.

»Und ich werde meiner Überzeugung zu folgen wissen!« entgegnete ich gereizt.

Am Nachmittag erzählte ich dem Professor von Egidy und [420] meinen Beziehungen zu ihm. Ich war noch verärgert, und mein Urteil über die Halbheit, die ihn zwang, an dem Namen »Christentum« festzuhalten, mochte nicht gerade milde klingen. Der Professor schüttelte den Kopf, – ein deutliches Zeichen seines Mißfallens. »Sie verlangen wirklich ein bißchen viel, gnädiges Fräulein! Ist es nicht schon einzig und unerhört und höchst erfreulich, daß ein Mann wie er in dieser Weise den Kampf gegen das traditionelle Christentum aufnimmt? – Zahllose Menschen, die für die Worte ausgesprochener Freidenker nur taube Ohren haben, werden ihn hören, und ihr erster Schritt auf der schiefen Ebene wird dann nicht ihr letzter sein!«

Ich dachte meiner eigenen Erfahrungen und gab ihm recht. Hatte unser Gespräch sich bisher wesentlich um die Frauenfrage gedreht, so kamen wir heute zum erstenmal auf religiöse Fragen zu sprechen. Ich erzählte ihm von meiner Entwicklung. Er hörte mit sichtlichem Interesse zu und sprach mir dann von der seinen.

»Religiöse Gewissenskämpfe sind mir fremd geblieben,« begann er. »Bis ich in die Schule kam, wußte ich nichts von Religion. Als meine Mutter mich zu meinem Klassenlehrer brachte und er mich frug, was ich vom lieben Heiland wüßte, gab ich erstaunt zur Antwort, daß ich von dem Land noch nie etwas gehört hätte. Der Schulreligionsunterricht bestand dann eigentlich nur im mechanischen Auswendiglernen, was ich ebenso gedankenlos absolvierte, wie irgendwelche Tabellen oder grammatische Regeln. Was dem Gemüt vieler Kinder die Religion bieten mag, das bot mir die Natur; und da ich von klein an schwächlich war und meinen Altersgenossen und ihren Spielen infolgedessen ziemlich fern blieb, unterstützten meine Eltern meine Passionen. Mein Zimmer war immer ein wahres Aquarium, und das Leben der Tiere und der Pflanzen mit all seinen Wundern lernte ich mit steigendem Entzücken zuerst aus eigenen Beobachtungen kennen. Jetzt habe ich nur noch ein paar Vögel [421] und ein Blumenfenster,« – er lächelte wehmütig, »seit meine Mutter im vorigen Jahre starb und ich bewegungslos bin, würde doch keiner für meinen Privat-Zoo sorgen können!« Mit der ihm charakteristischen Gebärde reckte er den Oberkörper, als wollte er eine peinliche Erinnerung energisch abstoßen – »und allmählich sind mir denn doch die Menschen interessanter geworden als die Tiere. Ich studierte Philosophie, weil es das einzige ist, was ein Mann wie ich zu seinem Lebensberuf machen kann. Aber meine unglückliche Liebe zu den Naturwissenschaften ist doch gleich in meiner Doktordissertation zum Ausdruck gekommen, in der ich die philosophischen Konsequenzen der Darwinschen Evolutionstheorie behandelte. – Sie müssen's mal lesen, gnädiges Fräulein, – ich habe noch heute meine Freude dran, obwohl der liebe Gott noch bedenklich zwischen den Zeilen spukt! Dann hab' ich mich hier habilitiert. – Ich wohnte bei meiner guten Mutter, einer blitzgescheiten Frau – schade, daß Sie sie nicht mehr kannten! –, die mit dem lieben Gott auf besonders gespanntem Fuße stand, weil er ihren Jungen zum Krüppel hatte werden lassen. Und ein bißchen mag das auch bei mir dazu beigetragen haben, an seiner Existenz allmählich zu zweifeln. Bei näherem Nachdenken konnte ich die geistigen Kapriolen der frommen Leute nicht mitmachen, die nötig sind, wenn man das unverschuldete Elend in der Welt, wenn man Unrecht und Verbrechen mit dem allgütigen und allmächtigen Himmelsvater in Einklang bringen will. Wäre er, so müßte er entweder ein herzloses Scheusal oder das unglückseligste aller Wesen sein, das gezwungen ist, untätig zuzusehen, wie seine Geschöpfe sich zerfleischen!« Die Stimme des Professors hatte sich gehoben, seine Augen funkelten, sein ganzer zarter Körper schien von starker Energie gespannt.

»Und doch sind Sie ein glücklicher Mensch geworden!« sagte ich mehr zu mir selbst als zu ihm.

»Das habe ich wieder den Naturwissenschaften und meinen vielen lieben Freunden zu verdanken.«

[422] »Ihren Freunden?!«

»Denen, die immer um mich sind und nur reden, wenn ich sie brauche: den Büchern. Darwins Entwicklungsgesetz war es, das mich zuerst mit einem unbeschreiblichen, unzerstörbaren Glücksgefühl erfüllte, denn es festigte meinen Glauben an die unendliche sittliche und intellektuelle Vervollkommnungsfähigkeit der Menschennatur, und er trat an die Stelle des Glaubens an einen unbeweisbaren Gott.«

Das Herz klopfte mir vor Freude; ich umfaßte unwillkürlich mit meiner heißen Hand seine kühlen Finger: »Ich danke Ihnen – danke Ihnen tausendmal,« kam es vor Erregung bebend über meine Lippen, »so bin ich doch nicht mehr allein mit dem, was ich dachte und fühlte, und was mir fast schon zu entschwinden drohte. Einmal, in einer glücklichen Stunde, schrieb ich's auf, – darf ich es Ihnen bringen?«

»Ich bitte Sie darum!« Ein warmer Blick traf mich, – er schien mich ganz und gar zu umfassen. »Sollte ich doch am Ende wieder an den lieben Gott glauben müssen – der mir eine Frau wie Sie in den Weg geschickt hat?!«

Die Eltern kamen und holten mich ab. Mein Vater war merkwürdig kurz angebunden. »Du wirst deinen Verkehr mit dem Professor beschränken müssen,« sagte er auf dem Nachhausewege, »Walter sagte mir, daß er im Rufe steht, einer der gefährlichsten Kathedersozialisten zu sein.« – »Daß er Gott verleugnet, hat er neulich mit zynischer Frivolität selbst zugestanden,« fügte Mama mit hochrotem Gesicht hinzu.

»Wenn er es tat, so ist es weder zynisch noch frivol, sondern ein Beweis derselben tapferen Überzeugungstreue, die ihr an Egidy zu rühmen pflegt,« antwortete ich.

»Ein Atheist ist ein Verbrecher,« stieß Mama aufgeregt hervor; dann schwiegen wir alle, in dem gemeinsamen Gefühl, auf der Straße keine Szene provozieren zu wollen.

Als am nächsten Tage der Herbst mit Sturm und Regen [423] durch die Straßen fegte und die Bäume arm und kahl zurückließ, die eben noch im Glanz ihres bunten Kleides geprangt hatten, atmete Mama förmlich erleichtert auf: »Nun haben die Zoo-Nachmittage ein Ende!«

Ich aber nahm mein altes Glaubensbekenntnis und mein kleines schwarzes Buch und verließ das Haus zur gewöhnlichen Stunde.

Über den öden Wittenbergplatz führte mein Weg an einer Reihe von Neubauten vorbei, aus denen ein feuchter Kellergeruch mir entgegenströmte, der mich frösteln machte. Die Kleiststraße ging ich entlang, deren neue Häuser, wie lauter Parvenüs, sich durch überladenen Schmuck gegenseitig zu überbieten suchten, und bog dann in die stille dunkle Nettelbeckstraße ein. Schüchterne Sonnenstrahlen, die gerade die Wolken durchbrachen, trafen nur noch die Dächer der Häuser. In eins davon trat ich.

»Professor von Glyzcinski?« Die Portierfrau musterte mich von oben bis unten. »Gartenhaus – parterre!« Der Hof war noch enger und lichtloser als bei uns, und die Treppe war vollkommen finster. Auf mein Klingeln öffnete der Diener. Im Flur konnte ich die Hand nicht vor Augen sehen. Im nächsten Moment aber schloß ich sie geblendet. Aus der Tür, durch die ich ins Zimmer trat, strömte ein Meer von rotgoldenem Licht.

»Willkommen, mein liebes, gnädiges Fräulein!« hörte ich des Professors weiche Stimme sagen.

Und nun erst sah ich ihn: am Fenster saß er, das dicht von wildem Wein umsponnen, den Blick in lauter Gärten schweifen ließ. Auf die Bücher und Papiere, die den Schreibtisch vor ihm bedeckten, malte die Sonne lauter runde blinkende Silberflecken und streichelte an der Wand gegenüber die vielen, schön aneinander gereihten Bücher. Zwei Vögel mit buntschillernden Flügeln flatterten, durch meinen Eintritt aufgescheucht, durch den Raum und ließen langgezogene Flötentöne hören.

[424] Auf den breiten Lehnstuhl neben dem Schreibtisch deutete einladend die weiße Hand Glyzcinskis, der mir mit seinen Kinderaugen und dem wesenlosen, unter Decken verborgenen Körper wie ein Zauberer inmitten seines Märchenreichs erschien. Flüchtig tauchte mein dunkles Zimmer vor meinem inneren Auge auf, – hatte meine Sehnsucht nicht dieses Märchenreich längst gesucht?

»Wissen Sie, daß ich Sie mit Bestimmtheit erwartet habe?!« sagte er, »darum gibt es auch heute Kuchen zum Kaffee, wie an einem Festtag!« Er versuchte von dem Tischchen aus, das der Diener hereingetragen hatte, mich zu bedienen. »Das ist Frauensache!« lachte ich und nahm ihm die Kaffeekanne ab. Wie alte Freunde saßen wir beieinander.

Und dann las ich ihm »Wider die Lüge« vor.

»Daß Sie mir nichts Gewöhnliches bringen würden, wußte ich,« bemerkte er langsam nach einer kurzen Pause, die mich schon ganz ängstlich gemacht hatte. »Von keinem meiner Studenten dürfte ich so viel Geist und Kraft und Selbständigkeit erwarten ... Ich habe lange über Sie nachgedacht, aber das Resultat dieses Nachdenkens hätte ich noch für mich behalten, wenn Sie mir nicht diesen Einblick in Ihr Geistesleben gewährt hätten. Nun möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen, dessen selbstsüchtige Beweggründe mein Gewissen freilich arg belasten: Sie haben keinen Bruder, ich keine Schwester, – lassen Sie mich Ihren Bruder sein, und gestatten Sie mir dann als solchem, mich Ihrer anzunehmen. All die guten Freunde drüben« – er zeigte auf den Bücherschrank – »will ich Ihnen vorstellen; Sie werden rasch nachholen, was Ihnen an philosophischen Kenntnissen fehlt, – und dann – –,« er stockte.

»Dann?!« frug ich gespannt.

»Dann werden Sie tun, was mir versagt ist: unsere Ideen unter die Massen tragen.«

»Werde ich es können – – dürfen?! Meine Eltern sind schon jetzt ...«

[425] Er unterbrach mich. Ein harter Zug grub sich um seine Mundwinkel. »Wer den Pflug anfaßt und siehet zurück, der ist unserer Sache nicht wert ...«

»So lehren Sie mich Ihre Sache kennen, – ich glaube freilich schon von vornherein, daß es auch die meine sein wird!«

»Sie sollen nichts glauben, woran Sie zu glauben noch gar kein Recht haben! Das ist die Lehre der neuen Tugend, der intellektuellen Redlichkeit! – Nehmen Sie die Bücher dort mit dem dunkelblauen Rücken, – lesen Sie sie in aller Ruhe, und dann sagen Sie mir, was Sie darüber und was Sie über meinen Vorschlag denken.«

Ich erhob mich. Es wurde mir sehr schwer, diesen stillen Raum zu verlassen, der von dem hellen Geist starker Freudigkeit erfüllt schien, wie von der glänzenden Oktobersonne.

»Haben Sie Dank, vielen Dank,« sagte ich noch und wandte mich zum Gehen. Ich stand schon an der Tür, als ich noch einmal seine Stimme hörte:

»Nicht wahr – Sie kommen bald, recht bald – – morgen schon?« Ich nickte. Und dann verschlang mich der dunkle Flur, der finstere Hof, die kühle Straße.

»Woher kommst du?« Mit dieser von einem mißtrauischen Blick begleiteten Frage, empfing mich zu Hause mein Vater. Sie saßen alle drei beim Abendessen. Ich hatte schon irgendeine billige Ausrede auf der Zunge – aber plötzlich wurde mir klar, daß jede verlogene Heimlichkeit mein Erlebnis beschmutzen würde.

»Von Herrn Professor von Glyzcinski ...« Mein Vater hieb mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten.

»Unerhört!« rief er, »und das wagst du mir ins Gesicht zu sagen, nachdem du meine Meinung über diesen Verkehr erst gestern deutlich genug gehört hast?! – Und rennst wie ein Frauenzimmer einem unverheirateten Mann in die Wohnung?! – Willst du mich denn durchaus ins Grab bringen, mit all der[426] Schande, die du mir machst?« Er lief aufgeregt im Zimmer umher, während helle Schweißtropfen auf seiner Stirne standen.

Ich zwang mich zur Ruhe: »Du weißt wohl nicht, was du sagst, Papa! Herr von Glyzcinski ist ein Schwerkranker, meinen Besuch kann niemand mißdeuten!«

Aber die Wut, in die er sich hineingeredet hatte, steigerte sich nur noch mehr. Ich versuchte das Zimmer zu verlassen, während Mama und Klein-Ilschen, vor Schrecken stumm, sich nicht zu rühren wagten.

»Du bleibst!« schrie mein Vater und packte mein Handgelenk. »Versprich mir, daß dieser Besuch der erste und der letzte war, und ich will ihn vergessen!« Und gleich darauf ruhten seine Blicke mit einem Ausdruck liebevoll besorgter Bitte auf mir. Mein Herz krampfte sich zusammen: Sinnlosem Zorn konnte ich die Stirne bieten, – aber der Liebe?! Ich schloß eine Sekunde lang die Augen: Wer den Pflug anfaßt ...!

»Ich kann dir diesen Wunsch nicht erfüllen, Papa!« Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an. Dann brach der Sturm von neuem los. Auch meine Mutter mischte sich hinein, – von den teuflischen Verführungskünsten des Gottesleugners hörte ich sie etwas sagen, auch von Weimar sprach sie und versuchte, mich zu bestimmen, meinen für das nächste Frühjahr beabsichtigten Besuch auf die allernächsten Tage festzusetzen. An meinen Ehrgeiz, an meine Eitelkeit appellierte sie, während meines Vaters Stimmung, wie stets nach einem solchen Ausbruch der Leidenschaft, immer weicher wurde. »Wir sind an allem schuld, wir allein,« sagte er, »wir haben dir keinen Verkehr verschafft, wie du ihn zu fordern ein Recht hast. Aber das soll anders – ganz anders werden. Wir werden an den Hof gehen, wo wir hingehören. Und du wirst nun auch mein gutes Kind sein und gehorchen!«

»Nein, Papa! – Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt. Wäre ich euer Sohn, statt eure Tochter, ihr würdet es selbstverständlich finden, wenn ich meine eigenen Wege ginge. Ich kann nicht [427] denken wie ihr, und ich bin außerstande, nichts als eine Haustochter zu sein. Paßt euch der Verkehr nicht, der mir notwendig ist, wollt ihr euch nicht mit mir identifizieren, – so laßt mich in Frieden meiner Wege gehen, – gebt mir freiwillig die Freiheit!«

Meine Worte wirkten verblüffend. Die Eltern waren plötzlich ganz ruhig geworden. Sie schienen auf das tiefste verletzt. »Daß wir über solchen Wahnwitz mit dir verhandeln, wirst du selbst nicht erwarten können,« sagte Papa kalt. »Geh in dein Zimmer. Bis morgen früh dürftest du wohl zur Vernunft gekommen sein.«

Aber der Morgen kam und fand mich entschlossen, eher das Haus zu verlassen, als auf meine Besuche bei Herrn von Glyzcinski zu verzichten. Und die Eltern, die zwischen dem Skandal einer davonlaufenden Tochter und dem Eingehen auf ihre Wünsche zu wählen hatten, gaben mir nach. Eine drückende Stimmung, wie geladen von Mißtrauen und Feindseligkeit, blieb zurück. Nur Papa gab sich alle Mühe, meine Interessen auf andere Wege zu leiten. Meine Teilnahme an den Bestrebungen Egidys schien ihm sogar erwünscht, um die Einflüsse von der anderen Seite zu paralysieren. Er selbst hielt sich davon zurück. »Es widerstrebt mir, mich als preußischer General in irgendeine öffentliche Bewegung zu mischen. Ich bin Soldat – nichts weiter,« sagte er zu Egidy bei unserem Gegenbesuch, der der erste und letzte war, den er bei ihm machte. Um so häufiger geleitete mich meine Mutter in die Spenerstraße, zuerst mit mißmutig aufeinander gepreßten Lippen, nur aus Pflichtgefühl, – den Standesgenossen gegenüber mußte doch die Form gewahrt werden, die einem jungen Mädchen nicht gestattete, allein in Gesellschaft zu gehen! – Dann mit steigender persönlicher Neigung. Diese bunte Welt, die sich jeden Dienstag abend in dem gastfreien Hause zusammenfand, war eine völlig neue für sie, und mit einer fast kindlichen Neugierde beschäftigte sie sich mit jedem Besucher, während bei mir das Interesse an dem bloß Neuen und Fremdartigen [428] um so mehr erlahmte, je leidenschaftlicher ich nach Gesinnungsgenossen suchte.

Eigenbrödler aller Art füllten die Salons der Familie Egidy, bis zu solchen herab, deren armer enger Geist durch die unablässige Beschäftigung mit einem einzigen Gedanken mehr und mehr in Verwirrung geraten war. Da gab es Menschen, die von der Rückkehr zur Natur das Heil der Welt erwarteten, barfuß gingen im Gewande des Nazareners, von Körnern lebten, die sie in der Tasche trugen; andere mit fahlen, asketischen Zügen, die mit der ganzen mühselig zurückgedämmten Leidenschaftlichkeit ihres Inneren die Selbstvernichtung der Menschheit predigten, und, als ihr Gegensatz, fanatische Anarchisten, die die Freiheit ihrer eigenen kleinen Gelüste mit dem Schlagwort vom schrankenlosen Ausleben der Persönlichkeit zu rechtfertigen suchten. Studenten und Studentinnen aller Nationen fanden sich ein, deren jugendlicher Überschwang in Egidy einen neuen Heiland verehrte, und eine Menge ältliche Damen, die aus dem stillen Winkel ihres leeren Lebens hervorgekrochen schienen wie Maulwürfe, die die Sonne suchen, und mit dem Rest ihrer unterdrückten Gefühle verschwärmt zu Egidys Füßen saßen; verschämte Arme, die hier nichts wollten als den reich gedeckten Tisch, an dem sie einmal in der Woche satt werden konnten; mitten darin Abenteurer aller Art, die den reichen, nur allzu vertrauensseligen Mann für ihre Zwecke zu gewinnen suchten, und dazwischen – vereinzelt – ernste aufrichtige Anhänger, junge Literaten und Theologen zumeist, die sich vergebens bemühten, Egidy vor sich selbst zu schützen. Er hatte für Alle Zeit, für jeden Herzenskummer, der ihm anvertraut wurde, ein freundliches Interesse; und warnte man ihn vor diesem und jenem seiner Gäste, der ein notorischer Hochstapler war, so sagte er mit fester Überzeugung: »Wer zu mir kommt, der beweist dadurch, daß er gewillt ist, ein Anderer zu werden. Und ich sollte ihm mein Haus verschließen?«

[429] Aber auch ernste, reife Menschen erschienen, Männer und Frauen mit berühmten Namen, die auf irgendeinem reformbedürftigen Gebiet des öffentlichen Lebens tätig waren und alle versuchten, Egidy auf ihre Seite zu ziehen: Abstinenzler, Friedensfreunde und Bodenreformer, moderne Pädagogen und Frauenrechtlerinnen. Warteten sie nicht alle, die ihre Kräfte in dramatischen Gesten oder in der Kleinarbeit winziger Reförmchen erschöpften, ihrer selbst unbewußt, auf irgendein Zauberwort, das ihre eigenen Fesseln sprengen und sie zu gemeinsamer großer Leistung vereinigen würde? War Egidy der Mann, der es aussprechen sollte?

Ich hatte inzwischen die Bücher Glyzcinskis gelesen: seine eigene Moralphilosophie und die Schriften der Gründer und Leiter der Ethischen Gesellschaften Amerikas und Englands. Sie vertraten die Einheit der Moral gegenüber der Vielheit der Religionen, sie waren überzeugt, daß alle Menschen, die ernstlich das Gute wollen, sich, unabhängig von ihren verschiedenartigen transzendenten Anschauungen, auf dem Boden allgemein gültiger Ethik zu dem großen Werk sittlicher und sozialer Reform vereinigen könnten. Über Gott und den Göttern stand für sie das Absolute, die Moral; denn nicht darum ist das Gute gut, sagten sie, weil Gott es seinen Gläubigen zu tun befiehlt, er befiehlt es vielmehr, weil es gut ist, also muß auch für die Gottgläubigen das Gute das Allumfassende sein. Sie selbst stellten für das sittliche Handeln keine Einzelvorschriften auf, sie erkannten vielmehr als dessen Richtschnur und Prüfstein das größtmögliche Glück der größten Mehrzahl.

Auf mich wirkten diese Werke wie eine Offenbarung: hier war das erlösende Wort, das nicht nur all die auf Seitenwegen Umherirrenden zusammenrufen und dem gemeinsamen Ziel entgegenführen würde, hier war der Zauberstab, der aus den Felsenherzen der Menschen lebendige Brunnen tatkräftigen Wirkens hervorlocken könnte; hier breitete sich vor meinen [430] inneren Augen jungfräulicher Boden aus, den ich mit zu roden und zu bebauen bestimmt schien. Eine Ethische Gesellschaft in Deutschland zu gründen, die das öffentliche Gewissen der Nation werden sollte, – darauf richteten sich alle meine Gedanken.

Ich ging täglich zum Professor. Schon lange hegte er denselben Wunsch wie ich, ohne, seiner eigenen Gebrechlichkeit wegen, an die Möglichkeit naher Erfüllung zu glauben.

»Hatte ich nicht recht,« sagte er einmal, »wenn ich meinte, ich müsse eigentlich dem lieben Gott dankbar sein für die merkwürdige Begegnung mit Ihnen? Durch Sie wird der Lieblingstraum meines Lebens in Erfüllung gehen!«

Wir arbeiteten unseren Plan in allen Einzelheiten aus: Mitglieder der verschiedensten religiösen und politischen Richtungen sollten den ersten Aufruf zur Gründung der Ethischen Gesellschaft unterzeichnen. Ihr Zweck sollte sein, einen neutralen Boden zu schaffen, auf dem alle Menschen ihre Gedanken freimütig über alle brennenden Fragen der Gegenwart auszutauschen vermöchten, von dem aus gemeinsam geschaffene Gesetzesvorschläge den Regierungen unterbreitet und zu den Ereignissen des öffentlichen Lebens Stellung genommen werden sollte. Niemand dürfe um seines Glaubens oder seiner politischen Anschauungen wegen bekämpft oder ausgeschlossen werden, es sei denn, daß er dadurch gegen das Grundprinzip der Gesellschaft verstoße: das größte Glück der größten Anzahl zu fördern.

Mein Gedankengang geriet bei diesem Punkt ins Stocken. »Wenn ich's mir recht überlege,« sagte ich nachdenklich, »kann ein echter Christ sich unserem Bunde nicht anschließen. Toleranz gegen Andersgläubige kann bei denjenigen kaum erwartet werden, die überzeugt sind, daß ihr Glaube der allein selig machende sei; und das größte Glück als Ziel unseres Strebens aufstellen, ist vollends ganz und gar unchristlich.«

Glyzcinski lachte: »Sie haben einen hellen Kopf, liebe [431] Freundin, darum lassen Sie mich Ihnen noch eins verraten: Niemand, der von Herzen an einen lebendigen Gott glaubt, kann auf unsere Seite treten; oder dürfte er zugeben, daß Gott selbst sich der Moral unterordnet?! Die Religion als vager metaphysischer Glaube, als flüchtig berauschendes Genußmittel schwacher Seelen kann innerhalb unserer Reihen Anhänger haben, nicht aber die Religion als Grundlage der Sittlichkeit, – und damit wird ihr Halt und Inhalt zugleich entzogen. Der Kaiser und die Junker haben von ihrem Standpunkt aus vollkommen recht, wenn sie dem Volke die Religion erhalten und die Schule der Kirche mit Haut und Haar ausliefern möchten: nichts hindert die Verbreitung wahrer ethischer Kultur mehr als die Religion. Die Dankbarkeit für alles, was wir haben und sind, körperlich und geistig, wird in sentimentalen Gefühlen auf Gott gelenkt, statt daß sie sich in Taten auslöst für die Menschheit, der wir in Wirklichkeit alles verdanken. Aller Widerstand gegen das Böse, alle Kampfeslust gegen das Unglück wird dadurch gelähmt, daß man den Menschen lehrt, sich demütig vor Gottes Willen zu neigen, und ihnen den Glauben an die ewige Seligkeit einflößt. Und alle Tapferkeit, alle Menschenliebe, alle Kraft zur Selbstbefreiung und zur Befreiung der Menschheit aus Elend und Knechtschaft wird im Keime erstickt, wenn die Verantwortlichkeit für das Leiden auf die Gottheit abgewälzt werden kann.«

»Ich verstehe Sie nicht, – Sie scheinen gegen den eigenen Plan zu sprechen, – nach Ihnen müßte keine ethische, sondern eine atheistische Gemeinschaft gegründet werden,« wandte ich ein.

»Sie irren, – atheistische Pfaffen, die wir in diesem Fall züchten würden, schaden unserer Sache mindestens ebenso viel wie kirchliche. Ethik wollen wir verbreiten, und in dieser Ethik ruht die Kraft der Wahrhaftigkeit, die allmählich alle alten Gespenster austreiben wird. Für mich – wir beide sprechen offen miteinander! – ist die Hauptaufgabe der Ethischen Gesellschaft [432] nicht die, für Gerade und Krumme ein gleichmäßig passendes moralisches Mäntelchen zuzuschneiden, sondern im Dienst der sittlichen und sozialen Entwicklung dem Antichristentum und dem Sozialismus die Wege zu bereiten!«

Ich schwieg; ein tiefer Schrecken vor unbekannten Gefahren hatte mich erfaßt. Der Sozialismus! – Männer mit niedrigen Stirnen und schwieligen Fäusten sah ich, schwindsüchtige Frauen und Kinder mit Greisengesichtern, ein Zug von Gestalten, haßerfüllt die Züge, die Fäuste drohend erhoben wider alles, was unser Leben schön und reich machte, eingehüllt in einen Geruch von Schweiß und Blut. Helfen wollte ich ihnen – einen Weg wollte ich hauen durch die Wildnis ihres Elends, ich fürchtete nicht die Dornen, die mir die Hände zerreißen, die fallenden Äste, die mich verwunden würden, – aber mich ihrem Zuge einreihen, – mich schauderte!

»Wie sind Sie blaß und still geworden!« hörte ich Glyzcinskis warme Stimme. »Verzeihen Sie mir – ich habe mich schon so daran gewöhnt, vor Ihnen laut zu denken, daß mir nicht einfiel, wie sehr ich Sie dadurch erschrecken könnte!«

»Sie haben nur, wie immer, zu gut von mir gedacht, und ich bedarf Ihrer Verzeihung – nicht umgekehrt,« antwortete ich. »Sie müssen Geduld mit mir haben, – ich muß mich erst an die Neuheit des Gedankens gewöhnen. Ich weiß ja auch im Grunde gar nichts vom Wesen des Sozialismus. Vieles, was ich hörte, stimmte wohl mit meinen eigenen Ansichten überein, vieles aber hat mich immer abgestoßen.«

»Ich werde wieder meine stummen Freunde für mich sprechen lassen!« Und Glyzcinski bezeichnete mir die Bücher und Broschüren, die ich aus seinem Bücherschrank nehmen sollte. »Nur eins möchte ich Ihnen gleich heute sagen: Auf dem Wege wissenschaftlichen Studiums bin ich zu meinen ethischen Überzeugungen gelangt, auf demselben Wege habe ich erkannt, daß die Entwicklung zum Sozialismus eine gesetzmäßige, unabänderliche [433] ist, gleichgültig, ob unser Gefühl sich dagegen sträubt oder nicht. Nachdem ich das aber einmal erkannt habe, kann es für mich von meinem ethischen Standpunkt aus keine andere Wahl geben, als die, mich in den Dienst der Entwicklung zu stellen und mit allen Kräften dahin zu wirken, daß sie eine möglichst friedliche, das Glück der Menschen möglichst wenig gefährdende sei. Andere denselben Weg der Erkenntnis zu führen, den ich gegangen bin – das ist daher meine Aufgabe – das ist die Aufgabe, die die Ethischen Gesellschaften haben sollten.«

»Und Sie glauben, daß die Menschen sich dahin führen lassen werden?!«

Des Professors Gesicht nahm jenen kindlich-strahlenden Ausdruck an, der mich immer an gotische Heiligenbilder erinnerte.

»Ich glaube daran! Sonst müßte ich mich selbst für eine Ausnahme von aller Regel halten!«

Auch Egidy, dachte ich auf dem Heimweg, ist solch ein Gläubiger; bei ihm soll das Einige Christentum vollenden, was der Professor von der Ethischen Kultur erwartet.

Und wieder las ich manche Nacht hindurch. Bei jedem Umschlagen einer Seite erwartete ich das Gräßliche zu finden, das so vielen Menschen das Recht gab, den Sozialismus zu verabscheuen und mit allen Mitteln zu bekämpfen. Aber ich fand es nicht. Nichts entsetzte mich, und wenn ich überrascht war, so nur über die Selbstverständlichkeit jeder Kritik am Bestehenden und jeder Forderung an die Zukunft. Oft lachte ich im stillen vor Freude, wenn ich eigene, längst vertraute Ideen wiederfand; und wo meine Gedanken nicht Schritt halten konnten, sagte mein Gefühl ja und tausendmal ja. Gleiche Rechte für alle, Männer und Frauen; Freiheit der Überzeugung; Sicherung der Existenz; Frieden der Völker; Kunst, Wissenschaft, Natur ein Gemeingut Aller; Arbeit eine Pflicht für Alle; freie Entwicklung der Persönlichkeit, ungehemmt durch Fesseln der Kaste, der Rasse, des Geschlechts, des Vermögens –: wie konnte irgend jemand, der [434] auch nur über seine nächsten vier Wände hinausdachte, sich der Richtigkeit und Notwendigkeit dieser Forderungen verschließen?!

Eugen Richters famose Broschüre, die ich im Sommer gelesen hatte, und die Onkel Walter in Pirgallen gratis unter die Arbeiter verteilte, fiel mir ein. Sollte der Verfasser wissentlich gelogen haben? Und war es Lüge, nichts als Lüge, was die Gegner vom Sozialismus verbreiteten? Daß der Professor mir irgend etwas vorenthalten haben konnte, war doch unmöglich!

Ich besprach alles mit ihm: meine freudige Zustimmung und meine Zweifel und Bedenken. Der Erfurter Parteitag war eben geschlossen worden, das neue Programm lag vor, und Glyzcinski erklärte es mir in allen seinen Einzelheiten. Ich sah, daß die vielverlästerte und mir immer lächerlich erschienene Forderung nach der Verteilung allen Besitzes in Wirklichkeit nicht vorhanden war, daß nur der Grund und Boden, der seine privaten Besitzer reich machte, ohne daß sie arbeiteten, und die Produktionsmittel der Industrie, durch die ihre Eigentümer zu Millionären wurden und ihre Arbeiter zu abhängigen Sklaven, in den Besitz der Allgemeinheit übergehen sollten. Dabei konnten wir alle nur gewinnen – wir vielen, die wir doch auch nichts als Besitzlose waren! – Warum sträubten wir uns dann?

»Sie sehen selbst: Unwissenheit und Selbstsucht sind die Gegner der Sozialdemokratie, die Lüge ihre Waffe,« sagte der Professor, »und wir sollten sie zu besiegen nicht imstande sein?!«

Die Zeit war geladen mit Elektrizität. Überall schien die alte Erde von unterirdischen Donnern erschüttert, und hie und da klaffte ein dunkelgähnender Abgrund, wo noch eben grüne Wiesen gelacht hatten. Schmutzige Geldgeschichten in preußischen Ministerhotels, Betrugsanklagen gegen Vertreter der deutschen Regierung im Ausland; Unterschlagungen von Kirchengeldern und wohltätigen Stiftungen durch christliche, vom Hof protegierte Bankhäuser erschütterten das noch vorhandene Vertrauen in die Unantastbarkeit preußischen Beamtentums und christlicher Tugenden. [435] Und wer, wie ich, von den Tiefen menschlichen Elends und menschlicher Verworfenheit noch wenig wußte, dem riß der Prozeß Heintze die letzten Schleier von den Augen. Diese gewaltsame Enthüllung der Wahrheit, die selbst die, die nicht sehen wollten, zum Sehen zwang, wirkte wie Wetterleuchten, das großen Umwälzungen vorhergeht.

Im Egidyschen Kreise, den ich jetzt um so seltener fern blieb, als ich gerade hier die erfolgreichste Propaganda für die Ideen der Ethischen Kultur glaubte machen zu können, trat die durch die öffentlichen Ereignisse hervorgerufene Erregung deutlich zutage. Egidy pflegte kurze Vorträge zu halten, in denen Tagesfragen stets berührt wurden; selten nur begegnete ihm ein Widerspruch, fast immer konnte er der jubelnden Zustimmung seiner Gäste sicher sein, wenn er in seiner halb kindlichen, halb herrischen Weise alle Fragen spielend löste. »Wir brauchen nur Christen zu sein, ganz und gar Christen, und wir haben keine Rasse-, keine Geschlechts- und keine sozialen Probleme mehr,« erklärte er, und mit unerschütterlichem Optimismus hoffte er auf den Kaiser: »Nach einem Führer unserer Bewegung, die das ganze Volk ohne Ausnahme umfassen wird, braucht ein Land nicht zu suchen, dem Fürsten geboren werden.« Ich war fast die einzige, die nicht nur skeptisch blieb, sondern alles daran setzte, die große Persönlichkeit dieses Mannes, die mir wie geschaffen zu sein schien, Hunderttausende mit sich zu reißen, den Ideen der Ethischen Bewegung zu gewinnen. Wir debattierten oft stundenlang und setzten dann noch brieflich unsere Diskussionen fort.

»Wir wollen beide dasselbe,« sagte er einmal, »und auf diesen ernsten Willen kommt es an.«

»Ist unser Wille der gleiche, und sind unsere Gedanken dieselben, so haben Sie so wenig das Recht wie ich, sich für neuen Wein alter Schläuche zu bedienen!« antwortete ich.

»Das Christentum – mein Christentum Jesu ist aber nicht [436] der alte Schlauch, den die Kirche gemacht hat, mit der ich ganz und gar nichts zu tun habe,« beharrte er.

»Ich will überhaupt nur, daß etwas wird,« schrieb er bald darauf: »Wir wollen die Religion leben; setzen Sie für das Wort: Religion – Ethik, so ist's mir recht, aber für das Wort: leben sollen Sie mir kein anderes setzen. – Wir müssen das Christentum ernst nehmen; setzen Sie für Christentum – Ethik, so ist's mir recht, das Ernstnehmen aber lasse ich mir nicht fortstreichen. Wir haben lange genug entwickelt, – ich will nun Entfaltung sehen. Wieder bloß reden, bloß predigen, bloß erziehen, derweilen die Menschen weiter hungern und die Welt aus Laune einzelner in Waffen starrt, – nein! Mein Streben geht darauf hin, Zustände zu schaffen, die verwirklichen, was Sie predigen. Der Staat soll eine große ethische Gesellschaft sein, jede Schule eine in Ihrem Sinne ethische, in meinem Sinne religiöse Gemeinschaft erziehen. Glauben Sie mir: ich marschiere ganz auf realem Boden. Daß auch Fräulein von Kleve – traurig oder lächelnd? – den Kopf schüttelt, tut mir furchtbar weh. Entmutigen aber darf es mich nicht. Sie waren ja vor mir auf dem Schlachtfelde, – ich weiß das recht gut. Die Frage wird schließlich einfach die sein: wer der Menschheit zumeist genützt haben wird, – Ethische Gesellschaft oder Angewandtes Christentum. Sie beantwortet sich allenfalls heute schon daraus: womit begründet jemand seine Ansprüche an die Gemeinsamkeit wirksamer: indem er auf Grund ethischer Prinzipien – ›neuer Werte‹ – fordert, oder indem er auf Grund des ›gerade von euch, ihr Herren‹ gepredigten Christentums, im Namen des Jesus von Nazareth verlangt? ...«

»Auch ich will, daß etwas wird,« antwortete ich ihm, »aber ich sehe nicht, daß wir, die wir jede gewaltsame Durchsetzung neuer Zustände ablehnen, dieses Werden anders fördern können, als durch ›reden‹, ›erziehen‹, ›predigen‹, das heißt durch Verbreitung neuer Ideen. Sie tun doch auch nichts anderes! Und [437] Sie werden mir gewiß zugeben, daß Reden – ›bloß reden‹(!) – eine mutigere und an Folgen reichere Tat sein kann, als Schlachten schlagen. Auf diese Folgen kommt es an, sagen Sie, und wieder finden Sie mich auf Ihrer Seite. Wenn ich aber wirklich zuweilen traurig – niemals lächelnd! – den Kopf schüttele, so nur deshalb, weil ich überzeugt bin, daß die Folgen der von Ihnen ins Leben gerufenen Bewegung größere sein würden, wenn Sie sich anderer Mittel bedienten. Die ursprüngliche Lehre Jesu mag mit Ihren Ansichten übereinstimmen – das zu entscheiden wäre Sache gelehrter theologischer Forschung –, aber das, was heute die ganze Welt unter Christentum versteht, ist etwas im Laufe der Jahrhunderte historisch Gewordenes, das umzustoßen viel mehr Zeit, viel mehr Kraft erfordern würde, – falls es überhaupt möglich ist! –, als neue Werte unter neuem Namen in die Köpfe und Herzen zu pflanzen ...«

Aber all unsere Auseinandersetzungen, in denen wir im Grunde mit größerer Leidenschaft um einander, als um Ideen kämpften, blieben fruchtlos. »Also – ich reite allein!« schrieb mir Egidy in einem Augenblick, wo wir, wie erschöpft vom Kampf, mit gesenktem Degen stumm voneinander gingen, »aber – den Glauben dürfen, richtiger: können Sie mir nicht rauben, daß Sie und ich im kleinsten Finger dasselbe meinen; ich habe Sie erfaßt, nur Sie mich nicht! Warum? ich werde es Ihnen einmal sagen, – nicht schreiben; ich habe ein ganz klares Bewußtsein davon ...«

Glyzcinski gegenüber gab ich meinem Unmut über das Vergebliche meines Bemühens lebhaften Ausdruck. Er selbst hatte ursprünglich auf Egidy, als einen unserer künftigen Mitkämpfer, außerordentlichen Wert gelegt. Allmählich grub sich eine kleine Falte zwischen seine Brauen, wenn ich von ihm erzählte. »Sie sollten Ihre Kräfte nicht länger an eine verlorene Sache verschwenden,« meinte er dann. Aber ich konnte mich um so weniger beruhigen, als mir ein Zusammenstoß zwischen den beiden [438] Bewegungen unvermeidlich schien, je mehr sie an Bedeutung gewannen.

Einer der Leiter der Ethischen Gesellschaften Amerikas war auf Glyzcinskis Veranlassung nach Berlin gekommen, seine Vorträge hatten große Aufmerksamkeit erregt und im Kreise der Intellektuellen lebhafte Debatten hervorgerufen. Ich sah, wie schmerzlich Egidy und seine Anhänger das Auftreten des Ethikers empfanden. An den folgenden Dienstagabenden drängten sich die Menschen mehr als sonst in den Salons der Spenerstraße; die hektisch geröteten Wangen vieler Besucher verrieten ihre krankhaft gesteigerte Aufregung; und welcher Gruppe ich mich auch näherte: die Plaudernden verstummten oder stoben scheu auseinander.

»Man hat Sie als Spitzel der Ethischen Bewegung verdächtigt,« sagte lachend Wilhelm von Polenz, ein treuer Freund und ständiger Gast des Egidyschen Hauses, den ich um Aufklärung bat. »Bande!« – stieß ich zwischen den Zähnen hervor. »Sie haben mit Ihrer Bezeichnung, fürcht' ich, mehr recht, als Sie ahnen,« – des jungen Dichters Züge waren ernst, fast traurig geworden – »es ist ein Jammer, daß unser Freund diese Umgebung hat und duldet. Aber es muß anders werden!« fügte er nach einer Pause hinzu. »Ich denke an solche, die fähig und würdig sind, Träger seiner Ideen zu sein, und die – vielleicht unbewußt – nach Vertiefung und Bereicherung ihres Innenlebens lechzen: an unsere jungen Künstler und Literaten.« Egidy begann zu reden und unterbrach unser Gespräch. Meine Gedanken waren aber noch dabei; Polenz hatte recht, ganz recht: die Dichter der »Ehre«, der »Familie Selicke«, des »Vor Sonnenaufgang« waren unsere geborenen Mitkämpfer. Unsere?! – die der Ethischen Bewegung natürlich!

»... Jetzt haben die Ethiker den Triumph, daß Orthodoxe und Liberale ihnen Beifall rauschen,« hörte ich Egidys klare, scharfe Kommandostimme, »weil sie erklären, die allgemein [439] menschliche Moral zu vertreten und den religiösen Glauben des einzelnen nicht anzutasten. Ich aber muß es über mich ergehen lassen, daß man sich schaudernd von mir wendet, weil ich dem dogmatischen Christentum zu Leibe gehe. Ich sage Ihnen, daß ich jedem Dogma zu Leibe gehe, – aber mit offenem Visiere, nicht so, daß man erst gar nichts Böses hinter mir ahnt und ich mich dann erst als Erzketzer entpuppe, sondern: erst Ketzer – dann ganzer und wahrer und Nur-Mensch, – – so sind noch nicht viele in die Schranken des öffentlichen Lebens eingeritten ...« Ein langer Blick traf mich, und irgend etwas Unbestimmtes – war's Ärger, war's Beschämung? – ließ mich erröten ... »Doch im Namen wahrer Religion tue ich es. Die Ethiker haben keinen Namen, der so alles in sich schließt wie Religion. Hat man den Namen bisher mißbraucht, so soll man ihn jetzt zu Ehren bringen: Religion nicht mehr neben unserem Leben, unser Leben selbst Religion! Und diese Religion bezeichne ich mit dem Worte Christentum. Mögen die Ethiker es doch versuchen, mit einem anderen Wort etwas zu erreichen! Aufs Erreichen kommt es an, nicht auf den Widerwillen, den man gegen Begriffe und Worte hat, die achtzehnhundert Jahre lang der Deckmantel schnödester Frevel waren. Jetzt aber soll es anders werden. Wille wird! aber nicht, indem man das Banner fortwirft und es der Menge überläßt, kopfscheu auseinander zu rennen, sondern indem man es höher denn je erhebt und mutig ausruft: Alle hierher! Eben entdecken wir erst, daß es noch nie richtig entrollt war – in den Falten, die man unseren Blicken entzog, steht ja ganz was anderes –, die ganze Menschheit soll dies Banner stützen und nicht die Kirche!«

Es war sekundenlang still. Egidy hatte sich ein für allemal jede Beifallsäußerung streng verboten. Die Zunächststehenden sahen mich erwartungsvoll an. Das Herz klopfte mir bis zum Halse herauf – mir wurde heiß und kalt –, ich fühlte, ich mußte sprechen. Es dunkelte mir vor den Augen, die Angst schnürte mir [440] fast die Kehle zu, – wie sollt' ich die Worte finden, wie reden, wenn all die vielen feindseligen Blicke mir entgegenblitzten?! Und doch: durft' ich zum erstenmal, wo die Gelegenheit sich bot, die große Sache zu verteidigen, – meine Sache! –, durfte ich feige schweigen?!

»Herr von Egidy stellte die Lage so dar, als ob es hieße: Hie Christentum – hie Ethik,« begann ich, die zitternden Hände krampfhaft auf die Stuhllehne vor mir stützend, »während wir alle, deren gleiches Ziel die Wohlfahrt der Menschheit ist, nicht die Verschiedenheiten unserer Anschauungsweisen hervorsuchen sondern die Einheit unserer Aufgaben betonen sollten ...«

»Die Zerstörung der Kirche ist unsere Aufgabe!« rief eine krächzende Stimme dazwischen. Ich suchte einen Augenblick verwirrt nach dem zerrissenen Faden meiner Rede und fuhr dann fort: »Wir Vertreter der Ethischen Bewegung legen auf das gemeinsame Handeln den größten Wert und meinen, daß es weit richtiger ist, gegen Hunger und Not zu kämpfen, als gegen die Kirche ...«

Eine lebhaft gestikulierende Dame, der das Haar in stumpfblonden Strähnen über die Stirne hing, reckte die dürren Hände plötzlich hoch empor und schrie gellend: »Sie verleumdet Egidy, – duldet das nicht, duldet das nicht!« Egidy machte eine kurze, beruhigende Bewegung und stand dann wieder mit verschränkten Armen, die Blicke starr auf mich gerichtet, unter dem Türrahmen. Ich weiß, daß ich in diesem Moment, wo die Aufregung um mich stieg, wie um Hilfe flehend zu ihm hinübersah.

»Wir sind der Überzeugung, daß das Gemeinsame der Menschen –« fast mechanisch sprach ich jetzt und ausdruckslos – »nicht die Religion, die im Gegenteil die Welt in feindselige Lager teilt, wohl aber eine allgemeine Moral sein kann, auf Grund deren wir handeln.« Mir wurde, angesichts der größeren Ruhe um mich her, freier ums Herz. »Das größte Glück der größten Anzahl – diese sittliche Richtschnur kann von allen anerkannt [441] werden, ohne daß der Glaube des einzelnen verletzt zu werden braucht.«

»Dazu sind Sie ja viel zu feige!« – wie ein gut gezielter Pfeilschoß flogen mir die Worte zu.

Ich sah auf Egidy – noch rührte er sich nicht – das Herz tat mir weh, und zugleich kam mir blitzartig die Erkenntnis, daß er im Grunde in seiner Rede dasselbe gemeint hatte. Ich zwang mich zur Ruhe und würdigte den Zwischenrufer keiner Antwort. »Herr von Egidy rühmte sich mit Recht, daß er mit offenem Visier kämpfe, – und wir und meine Freunde sind die letzten, die seinen Mut bezweifeln. Wir ehren jede Überzeugung, indem wir sie nicht antasten und über ihre Schranken hinweg den anderen die Hände reichen ...«

Ein spöttisches Gelächter neben mir reizte meinen kaum unterdrückten Zorn, und alle Selbstbeherrschung verlierend, stürzten mir die Worte über die Lippen: »Sie sind feige, die Sie mich hinterrücks angreifen, – nicht ich! Viel rücksichtsloser als bei irgendeinem unter Ihnen ist meine Gegnerschaft zur Kirche, zu den Dogmen, ja, zum Christentum selbst, dessen Inhalt, dessen Tendenz volks- und kulturfeindlich ist.«

»Alix!« – meiner Mutter Stimme war's, – in ein fassungsloses Schluchzen brach sie aus. Meine harte Mutter, die Empfindungen kaum zu kennen schien, sie zum mindesten immer in eisernen Fesseln hielt, – meine Mutter weinte! Wir führten sie hinaus, Egidy und ich. Er sprach ihr beruhigend zu, und ihre Augen wurden trocken, ihre Lippen bewegten sich zu mühsamem Lächeln. An der Tür streckte er mir die Hand entgegen, – ich übersah sie. Wir fuhren wortlos nach Haus. Erst als ich vor meinem Schlafzimmer ein leises »Gute Nacht« flüsterte, schien sie sich des Geschehenen wieder zu erinnern.

»Du – du wagst es, mir eine gute Nacht zu wünschen?!« kam es stoßweise über ihre Lippen. »Hast du mir nicht schon genug Kummer gemacht, und nun muß ich noch das Fürchterliche [442] erleben, daß du in aller Öffentlichkeit unseren Herrn und Heiland verleugnest?! ... Dazu also hast du die Freiheit benutzt, die wir törichte, mehr als rücksichtsvolle Eltern dir gewährten, hast dir von dem Professor, der uns gegenüber die Maske des duldsamen Ethikers trägt, den Kopf verdrehen lassen! Ein schöner Dank für all unsere Liebe – – Aber das schwör' ich dir zu: keinen Fuß setzt du mehr über die Schwelle dieses Elenden!« Ich wollte heftig erwidern, aber schon war sie fort und schob geräuschvoll den Riegel vor ihre Türe.

Noch in der Nacht schrieb ich zwei Briefe, den einen an Egidy, worin ich mich bitter beklagte, daß er mich in seinem eigenen Hause den Angriffen seiner Anhänger schutzlos preisgegeben habe, und daß ich dafür nur eine Antwort hätte: ihm von nun an fern zu bleiben, und einen anderen an meine Cousine Mathilde, durch den ich sie bat, mich so rasch wie möglich zu sich einzuladen, da ich Berlin auf einige Zeit verlassen müsse. In aller Frühe steckte ich beide in den Kasten und ging zu Glyzcinski. Als ich bei ihm eintrat, in dies stille, vertraute Zimmer voll Licht und Frieden und Vogelgezwitscher, überfiel mich ein Schwindel, – sekundenlang lehnte ich mit fest auf das Herz gepreßten Händen an der Türe. Er hatte sich krampfhaft aufgerichtet und starrte mich an, die Augen angstvoll aufgerissen, die Züge leichenfahl. Und dann hielt er meine Hand in der seinen und ließ sie nicht los, so lange ich erzählte.

»Mein liebes, armes Schwesterchen!« sagte er immer wieder. »Aber es mußte einmal so kommen, – Sie werden sich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, daß schließlich ein Bruch zwischen Ihnen und den Ihren unvermeidlich ist.« Ich ließ mutlos den Kopf sinken. »Dann erst werden Sie leisten können, was Sie zu leisten berufen sind.«

Ich sprach von meiner Absicht, abzureisen. Es legte sich wie ein Schleier über seine Augen, und ein fast unmerkliches Zucken ging durch seinen Körper. »Aber ich bleibe ohne Besinnen, [443] wenn es Ihnen lieber ist,« fügte ich rasch hinzu. Er lächelte gezwungen: »Mir scheint es freilich fast unmöglich, Sie zu missen, – aber gehen Sie – gehen Sie nur! Wie könnt' ich verlangen, daß Sie mir ein Opfer bringen?!« ...

Ein Opfer?! schoß es mir durch den Kopf, – ist nicht der Gedanke für mich selbst beinahe unerträglich, ihn zu verlassen?! –

Noch am Nachmittag kam ein Brief von Egidy. »Der Vorwurf, den Sie mir machen, bekümmert mich sehr,« hieß es darin. »Ich habe nicht den Eindruck gehabt, daß mein Schutz Ihnen nötig war. Ich fand, daß Sie sich selbst am besten verteidigen konnten. Am tiefsten aber betrübt es mich, daß Sie jetzt von einem Wegbleiben reden. Der Gedanke, Sie missen zu müssen, ist mir schmerzlich. Ich habe Herz und Kopf noch so voll für Sie, – ich habe Sie richtig lieb. Am schmerzlichsten aber ist der Stachel, den Ihre Worte mir ins Herz gesenkt: daß Ihnen dies Wegbleiben gar etwa so schwer nicht würde! Ich meine: andernfalls dürften Ihnen Vorkommnisse solcher Art einen solchen Gedanken nicht eingeben, vielmehr müßten Sie eine Befriedigung im Überwinden derartiger Dinge finden; dies um so mehr, als Sie meiner ritterlichen Verteidigung wohl überzeugt sein dürfen, sofern ich sehe, daß Sie derselben irgend benötigen. So wenigstens denke ich von der Aufrechterhaltung eines Bandes, das zu keinem anderen Zwecke besteht als zu dem: den Menschen zu dienen; – – ganz abgesehen von einem Gefühl wohltuender Freundschaft: ›oh reiß den Faden nicht der Freundschaft kurz entzwei – wird sie auch wieder fest – ein Knoten bleibt dabei –‹ Wir werden uns aussprechen, – ich bin in wenigen Stunden bei Ihnen ...«

Und er kam. Ich wollte ihn nicht sehen, meine Mutter empfing ihn; er blieb lange bei ihr, und als er gegangen war, trat sie mir mit ganz verändertem Ausdruck entgegen. »Egidy läßt dich grüßen,« sagte sie, »danke es diesem prachtvollen Menschen, [444] daß ich dir noch einmal verzeihe und deine Freiheit nicht antasten will.«

Noch am Abend brachte der Diener Glyzcinskis mir ein paar Zeilen von ihm: »Eben verläßt mich Egidy. Sein Besuch war mir eine doppelte Freude: Ich erfuhr, daß er Ihre Mutter beruhigen konnte, und lernte einen Mann kennen, wie es – trotz all seiner Schrullen und Eigenheiten – wenige geben mag. Nicht wahr, nun darf ich auch hoffen, daß Sie bleiben werden und bei mir wieder jeden Nachmittag Sonntag ist?!«

Egidy selbst schrieb mir nur vier Worte: »Hab ich's recht gemacht?!«


Ein politisches Ereignis von weittragender Bedeutung sollte dem Einigen Christentum Egidys und der Ethischen Bewegung, die bisher beide einen verhältnismäßig kleinen Kreis Getreuer umfaßten, gewaltigen Vorschub leisten: der Zedlitzsche Volksschulgesetzentwurf. Wer die Wissenschaft vertrat, oder einen auch nur gemäßigten Fortschritt, fühlte sich in seinen Idealen persönlich verletzt und suchte nach Gleichgesinnten, um den Mut zu gemeinsamen Protesten zu finden, den er für sich allein nicht aufbrachte. Die sich Christen nannten, strömten Egidy zu, die Juden und die Freidenker zeigten ein täglich wachsendes Interesse an der Ethischen Bewegung. Egidy selbst war zuerst so gedrückt durch die Täuschung, die sein Vertrauen auf den Kaiser gefunden hatte, – denn daß der Entwurf dessen persönlichstes Werk war, daran zweifelte kaum einer –, daß die neue Anhängerschaft ihn dafür nicht zu entschädigen vermochte. Vor der Menge zeigte er sich stark und hoffnungsfroh; sprach ich ihn allein, so schien mir's, als sänke dieser stramm aufgerichtete Soldat zum erstenmal müde zusammen. Kam ich dagegen zu Glyzcinski, so fand ich den Gelähmten in einer Stimmung, die strahlend aus seinem Antlitz sprach und täglich zuversichtlicher [445] wurde. »Denen, die das Gute wollen, müssen alle Dinge zum Besten dienen,« rief er mir zu, kaum daß ich eintrat. »Sehen Sie hier: –« und er schwenkte ein paar Briefbogen wie eine Fahne, »nichts als Beitritts- und Zustimmungserklärungen. Mein alter Traum geht wirklich in Erfüllung: wir werden in Deutschland eine Ethische Gesellschaft haben!«

Ich erzählte es Egidy, – seit jenem bösen Dienstag abend war die Ethische Bewegung zwischen uns nicht mehr erwähnt worden – er schüttelte langsam den Kopf: »Wenn es doch bei der bloßen Bewegung geblieben wäre!« sagte er, »wie ganz anders flössen unsere Bestrebungen nicht nur neben- sondern ineinander, wenn Sie die Ihrigen nicht durch Satzungen zu einem künstlich gemauerten Kanal formen würden. Gedanken verbreiten, – das ist das einzig Not tuende! – Sie werden vor lauter Statutenberatungen und Vorstandssitzungen für diese Hauptsache gar keine Kraft und Zeit mehr übrig haben. Ein Verein – nun ja, – das ist ja ganz nett, aber – und nun glauben Sie mir einmal! – über kurz oder lang arten sie alle in Sport aus. Der Starke ist am mächtigsten allein!«

»Das sagen Sie!« antwortete ich, ein wenig ärgerlich, »und doch tun Sie nichts anderes als Anhänger werden, die sich zwar nicht auf Statuten, wohl aber auf Ihren Namen verpflichten müssen. Sogar an Bebel hat sich Ihr Freund, der asketische Kandidat der Theologie, neulich gewandt – –«

»Gewiß – und mit meiner Zustimmung,« unterbrach mich Egidy, »das Christentum schließt, wie alles andere Entwicklungsfähige, so auch den Sozialismus in seinen lebensfähigen und würdigen Forderungen in sich. Und einem Führer, wie Bebel, hätte ich eine richtigere Einsicht zugetraut. Wollen Sie seine Antwort lesen?«

Ich bejahte lebhaft und las den Brief nicht nur, sondern schrieb ihn auch ab, um ihn Glyzcinski zeigen zu können. Es hieß darin: »... Das Bürgertum sieht die Religion heute als [446] eins der wirksamsten Kampfmittel gegen die Sozialdemokratie an. Daher die Macht, die seit zwölf bis fünfzehn Jahren das Pfaffentum erlangte, und die Erscheinungen, die Herrn von Egidy zu seinem Kampfe gegen die herrschende Strömung aufreizten. Die Bürgerklasse, obwohl meist freigeistig, wird sich daher in ihrer Masse den Bestrebungen des Herrn von Egidy fernhalten, andererseits kann sich auch die Sozialdemokratie nicht für diesen Kampf begeistern, weil seine Ziele ihrer Natur nach nur eine Halbheit sein können und an dem sozialen und politischen Zustande, der hauptsächlich auf den Massen lastet und dessen Beseitigung ihre Hauptaufgabe ist, nichts ändert. Sich für die Bestrebungen des Herrn von Egidy unsererseits zu engagieren, hieße unsere Kräfte zersplittern, aber auch zugleich seine Bestrebungen als sozialdemokratische stigmatisieren und ihm die Mehrzahl seiner Anhänger vertreiben ... Voller Sympathie also für die Sache an sich, insofern uns jeder Kampf gegen bestehende Übel willkommen ist und den bestehenden Bau erschüttern hilft, können wir doch nicht gemeinsam wirken, weil unser Ziel weit über das von Herrn von Egidy gesteckte hinausführt ... Da also der Berg nicht zu Mohammed kom men kann, muß Mohammed eben zum Berge kommen! ...«

Hier war kein Satz, dem ich hätte widersprechen können: gewiß, seine Partei konnte sicher und ruhig ihren Zielen entgegengehen; sie bedurfte unser nicht. Aber eines, so schien mir, vergaß Bebel: daß es neben dem Proletariat Millionen Menschen gibt, die nicht nur der endlichen Erlösung ebenso würdig und bedürftig sind, die sich vielmehr auch im Augenblick, wo die Arbeiterklasse schon die Fahne des Sieges aufzupflanzen imstande wäre, ihr wie eine Barriere in den Weg stellen würden. Mich und meinen Glauben an unsere Sache entmutigte weder Egidy noch Bebel. Und der Professor – dessen war ich gewiß – würde nicht anders denken als ich.

Mit Bebels Brief in der Hand, überschritt ich wieder einmal [447] den engen Hof, die dunkle Treppe, den lichtlosen Flur, und stand schon vor seiner Türe, als eine Stimme von innen meinen Fuß stocken ließ. Sie klang tief und warm und hatte jenen österreichischen Akzent, der uns Norddeutsche, wie alles, was vom Süden kommt, so seltsam anheimelt.

»Alle Ströme fließen ins Meer ...« sagte sie.

»Ich bin ganz Ihrer Meinung und wünschte, daß Ihre Partei uns ebenso einschätzt: als einen Nebenfluß, der ihr reiche Schätze zuzutragen vermag,« antwortete der Professor. Noch ein Stühlerücken, ein paar Höflichkeitsphrasen, ein fester Tritt, – ich öffnete rasch die Türe, um nicht als Horcherin ertappt zu werden. Ein großer, blonder Mann stand mir gegenüber, wir sahen einander einen Augenblick lang ins Gesicht, und mit einer stummen Verbeugung ging er an mir vorbei zum Zimmer hinaus.

»Wer war das?« frug ich erstaunt und strich mir mechanisch mit der Hand über die Stirne, – ich mußte diesen Menschen schon irgendwo gesehen haben.

»Dr. Brandt, – der bekannte sozialdemokratische Schriftsteller,« sagte Glyzcinksi, er strahlte noch vor Freude über den Besuch. »Was meinen Sie, sollen seine Worte der geheime Wahlspruch werden, den wir beide an die Spitze unserer Satzungen stellen?«

»Alle Ströme fließen ins Meer,« wiederholte ich und drückte fest die Hand, die er mir entgegenstreckte – »hier haben Sie mich zum Bundesgenossen!«

[448]
18. Kapitel
Achtzehntes Kapitel

»Kranz, 15. 6. 92.


Verehrter Herr Professor!


Wir sind wohlbehalten hier angekommen und ich benutze den herrlichen Morgen, um Ihnen gleich die erste Nachricht zu geben. Seit gestern abend, wo Onkel Walter, kaum daß ich den Reisestaub abgeschüttelt hatte, mich bereits ganz gegen seine Gewohnheit in ein politisches Gespräch verwickelte, zweifle ich nicht mehr daran, daß nicht meiner Schwester Bleichsucht, sondern mein ›gefährlicher‹ Geisteszustand die Eltern veranlaßte, uns beide so unerwartet rasch auf Reisen zu schicken. Der Onkel erzählte mir, daß die Regierung, d.h. heute kaum etwas anderes als S. M., Egidy, diesem ›kompletten Narren‹, nur aus Rücksicht auf seine Familienbeziehungen noch ›keinen Maulkorb‹ vorgebunden habe, man werde dafür beizeiten seinen Parteigängern an den Kragen gehen, die im Polizeipräsidium als Anarchisten wohl bekannt seien. ›Aber Dein Professor ist viel gefährlicher‹, fügte er dann hinzu, ›und er wäre längst beseitigt, wenn er nicht ein kranker Mann wäre.‹ Da mir die schlechte Gewohnheit des Schweigens inzwischen glücklich abhanden gekommen ist, gab es eine erregte Aussprache. ›Das kommt davon, wenn Frauen sich in Dinge mischen, die sie nichts angehen,‹ sagte der Onkel, als ich Ihre Stellung zum seligen [449] Volksschulgesetzentwurf und zur Arbeitslosenbewegung verteidigt und als die meinige bezeichnet hatte. Wir seien nichts anderes als Helfershelfer der Sozialdemokratie, erklärte er mit der Hellsichtigkeit des Hasses. Und nun war es mir nicht nur höchst interessant, ihn seinen eigenen Standpunkt auseinandersetzen zu hören, sondern – lachen Sie mich bitte nicht aus! – zum erstenmal, seit ich ihn kenne, fing ich an, ihn ernst zu nehmen und zu begreifen. Wer, auch ohne den Dogmenglauben zu besitzen, gesättigt von dem ganzen Pessimismus des Christentums, alle Menschen für Sünder und die Welt für ein Jammertal, bestenfalls für eine fegefeuerähnliche Durchgangsstation hält, daneben aber sich der ungeheuern Vorteile alter Kultur und angestammter Herrenrechte voll bewußt ist, der kann den Sozialismus und alle seine Begleiterscheinungen nur für das Ende aller Dinge halten, gegen das er sich naturgemäß wehren muß. Offen gestanden, sind mir solch ehrliche Junker hundertmal lieber als die Richter und Konsorten, die wir ja eben zur Genüge kennen gelernt haben. Übrigens nahm ich die Gelegenheit wahr, um Onkel auf seinen Monarchismus hin festzunageln, ›der mir angesichts der Haltung seiner Partei gegenüber den Handelsverträgen einigermaßen fadenscheinig vorkäme.‹ – ›Unser Monarchismus besteht nicht in hündischer Treue gegenüber dem einzelnen Monarchen,‹ antwortete er, ›sondern in der Hochhaltung und Verteidigung alles dessen, was die Monarchie stützt und kräftigt, – auch gegen den Monarchen, wenn es sein muß!‹ Mich würde diese geistreiche Definition in seinem Munde verblüfft haben, wenn mir nicht rechtzeitig eingefallen wäre, daß in letzter Zeit seine ganze geistige Nahrung in den Apostata-Artikeln der ›Gegenwart‹ bestanden hat.

Hoffentlich höre ich bald von Ihnen, von Ihrem persönlichen Ergehen, von der Entwicklung der Beratungen. Soll ich Ihnen gestehen, daß ich ohne Bedenken auf die Teilnahme an ihnen verzichtet hätte, wenn meine Eltern mir dafür erlaubt [450] hätten, jeden Nachmittag bei Ihnen allein meine Tasse Kaffee zu trinken?!

Mit herzlichen Grüßen

Ihre dankbar ergebene

Alix von Kleve.«


»Berlin, 18. 6. 92.


Gnädigstes Fräulein!


So rasch eine Nachricht von Ihnen zu bekommen, war eine aufrichtige Freude, und Ihre Schilderung Ihres Gesprächs mit Ihrem Herrn Onkel interessierte mich natürlich lebhaft. Daß man die Ethische Bewegung ›oben‹ nicht ohne Besorgnis betrachtet, weiß ich. Geheimrat Althoff ließ sich dieser Tage von mir alles auf sie bezügliche Material kommen, und in der Universität, wo der Gestrenge mich, wenn wir uns begegneten, höchst liebenswürdig zu begrüßen pflegte, ging er heute stirnrunzelnd an mir vorüber.

Ihr Urteil über die Junker teile ich nicht. Nur der krasseste Egoismus ist es, der sie, die Jahrhunderte lang alle Vorzüge des Besitzes und der Kultur genossen haben, den Forderungen der neuen Zeit verschließt. Mit vollem Recht kann von ihnen verlangt werden, daß sie auf dem Wege wissenschaftlicher – das heißt in diesem Fall ethischer und sozialer – Einsicht zu denselben Überzeugungen kommen, die sich die Armen und Entrechteten nur durch die Erkenntnis ihrer ökonomischen Lage zu erwerben vermögen. Adel verpflichtet! Und sind wir nicht auch ›Junker‹?!

Die letzte Sitzung unserer Kommission verlief ziemlich stürmisch, und mir kamen wieder arge Bedenken über deren Zusammensetzung. Die einen forderten in erregtester Weise, daß die Religion innerhalb der Ethischen Gesellschaft überhaupt nicht berührt werden dürfte, die anderen, Professor Seefried an der [451] Spitze, erklärten das Hineinziehen der sozialen Frage für außerordentlich bedenklich, worauf ich mich zu der Erklärung gezwungen sah, daß eine Ethische Gesellschaft, die ihr aus dem Wege ginge, nicht wert sei, zu existieren. Die milde, versöhnliche Art unseres Vorsitzenden goß Öl auf die Wogen unserer Erregung, aber was er zu berichten hatte, wirkte wieder wie ein Sturm. Eine hiesige Zeitung wollte aus ›bester Quelle‹ erfahren haben, die Haupttendenz unserer Gesellschaft sei eine antisozialistische; im Anschluß daran hielt Geheimrat Frommann eine höchst charakteristische kleine Rede, deren Hauptpunkte ich Ihnen nicht vorenthalten will. ›Ich kann nur insoweit mit der Sozialdemokratie mitgehen, als ich die Verstaatlichung des Grund und Bodens für notwendig und durchführbar halte, sagte er, wobei ich ihn mit dem Zitat ›du wirst dich weiter noch entschließen müssen,‹ unterbrach. Die ›irdische Zukunftspoesie‹ der Sozialdemokratie erklärte er für utopischer als den Himmel der Frommen, und den Glauben an die Verwirklichung solcher Träume für eine gefährliche Ablenkung von ernster Arbeit. Ich ließ es bei meiner Erwiderung natürlich wieder an dem nötigen ethischen Maß fehlen. Was ich sagte, war etwa dies: daß ich das Emporkommen der Arbeiterklasse und einen sozialistischen Staat im Gegensatz zu dem so vielfach herrschenden anarchischen Individualismus für das erstrebenswerteste Ziel ansähe, das sich auch ohne Zweifel verwirklichen werde, – in vernünftiger Weise, wenn die leitenden Kreise vernünftig, in unvernünftiger, wenn sie einsichtslos bleiben; und ich habe hinzugefügt, daß ich mich sofort von einer Bewegung lossagen würde, welche dem Sozialismus direkt oder indirekt entgegenwirken wolle. Damit war der Anstoß zu einer erregten Sozialistendebatte gegeben, und Helma Kurz, deren Wirken in der Frauenbewegung sie mir so ungemein sympathisch machte, enttäuschte mich bitter, indem sie all ihre Waffen gegen die Sozis aus Eugen Richters Rüstkammer holte: ›Auflösung der Familie‹, – als ob es nicht der Kapitalismus wäre, der [452] Väter, Mütter und Kinder in die Fabriken hetzt! – ›Weibergemeinschaft‹, – als ob nicht die heutige Gesellschaftsordnung die armen Frauen zur käuflichen Ware machte!

Da ich mich etwas beschämt als den eigentlichen Ruhestörer empfand, bin ich nachher still gewesen, und das endliche praktische Resultat unserer Sitzung waren der beifolgende Aufruf und Statutenentwurf. Sie werden selbst empfinden, wie wenig mir deren Farblosigkeit gefallen kann. Daß unsere Aufgabe sein soll, ›der Feindseligkeit und dem Unmaß in der Menschenwelt Schranken zu ziehen und eine entsprechende Gestaltung der Erziehung und der Lebensführung zu fördern‹, heißt, fürchte ich, Egidys Versöhnung noch übertrumpfen, und daß aus dem § 2 der Statuten die Worte ›Besitzlose‹ und ›Schutz vor Ausbeutung‹ gestrichen wurden, gab mir ordentlich einen Stich ins Herz. Für die Zukunft brauche ich dringend Ihre Unterstützung, wenn anders unsere Idee sich nicht allmählich in ihr Gegenteil verwandeln soll. Ich habe Sie darum als Kommissions-Mitglied vorgeschlagen und bin beauftragt, Sie um Annahme der erfolgten Wahl zu bitten. Ich hoffe bestimmt, daß Sie sich nicht auch jetzt noch durch falsche Bescheidenheit und ebenso falsche Rücksicht auf Ihre Eltern abhalten lassen, in den Dienst unserer Sache zu treten.

Übrigens hatte ich gestern die Ehre des Besuchs Ihrer Frau Mutter. Sie suchte mich zu bestimmen, meinen ›großen Einfluß‹ auf Sie geltend zu machen, um Sie wieder in den Schoß Weimars und unter den Schutz des weißen Falkens zurückzuführen. Ich lehnte entschieden ab und betonte, daß Sie zu Größerem berufen seien, und daß es Pflicht der Eltern wäre, Ihnen vollkommen freie Bahn zu lassen. Daraufhin empfahl sich Ihre Exzellenz recht kühl und, wie es schien, verletzt.

Auch Egidy war vor ein paar Tagen bei mir. Ich fürchte, daß er mehr und mehr alle Distanz zu sich selbst und der Welt verliert. So sieht er uns – ernstlich! – als ein Konkurrenzunternehmen [453] an und vermag in seiner ungeheuern Selbstüberschätzung nicht einzusehen, daß er doch nur wie wir einer der vielen Arbeiter ist, die von den Ruinen der Vergangenheit Stein um Stein abtragen, um dem Bau der Zukunft Platz zu machen.

Ich habe meine einsamen Zoo-Fahrten wieder aufgenommen. Auch zu Pfingsten war ich dort und ließ die Menschen an mir vorüberfluten. Diese Physiognomien könnten selbst mich beinahe glauben machen, daß wir vom Zukunftsstaat noch grenzenlos weit entfernt sind! – Alle alten Bekannten fanden sich um den Stammtisch ein, – wie schrecklich gleichgültig und langweilig sie mir doch inzwischen geworden sind! Wie gern ich auf sie und den ganzen Zoo verzichtete, wenn Sie auch nur einen einzigen Nachmittag wieder neben mir säßen!

Sie herzlichst grüßend, verbleibe ich

Ihr treuergebenster

Georg von Glyzcinski.

Allerlei Lektüre, auch der ›Vorwärts‹, folgt anbei!«

»Kranz, 29. 6. 92.


Verehrter Herr Professor!


Haben Sie vielen Dank für Ihren Brief, den ich erst heute beantworte, weil wir inzwischen von einem sogenannten Vergnügen zum anderen hetzten und Ilschen den Rest meiner Zeit mit ihrer Kur in Anspruch nahm. Die Gesellschaft, in der ich mich ständig befunden habe und die doch eigentlich die meine ist, wird mir bis zur Verständnislosigkeit fremd. Ihre Atmosphäre legt sich mir beklemmend aufs Herz wie die eines überfüllten Saales; und wenn ich versuche ein Fenster zu öffnen, so schreit alles, aus Angst vor Erkältung.

Nach Ihrem letzten Bericht über die Kommissionsverhandlungen und nach dem Empfang des Programms und der Statuten ist das glühende Feuer meiner Hoffnung freilich durch einen [454] recht abkühlenden Wasserstrahl getroffen worden. Ich finde – verzeihen Sie mir meine Ehrlichkeit! –, daß beide stark nach Phrase schmecken. Der Ausdruck ›Unmaß in der Menschenwelt‹ stört mich besonders. Zu sehr Maß halten, zu ängstlich darauf sehen, es mit keinem zu verderben, mag an sich ethisch sein, kann aber zu sehr unethischen Konsequenzen führen. Und zu der Stellung von Professor Seefried und Helma Kurz kann ich nur sagen: wer nicht für uns ist, der ist wider uns.

Nach alledem ist es für mich selbstverständlich, daß ich die Wahl in die Kommission annehmen muß. Wenn ich nur nicht auch zu einer Enttäuschung für Sie werde! Es muß wohl doch nicht allein ein Ergebnis meiner Erziehung, sondern ein Teil meines Wesens sein, daß es mir so schrecklich schwer wird, vor Fremden meine innersten Gedanken zu entwickeln, – als ob ich mich vor allem Volk nackt zeigen müßte! Da ich aber einsehe, daß die geistige Nacktheit das große Opfer ist, das die Menschheit von denen ver langt, die sich in ihre Dienste stellen, so will ich versuchen, mich dazu zu erziehen.

Bei den Ausflügen, die wir in die Umgegend gemacht haben, bin ich durch das, was ich sah, in meinem Vorsatz bestärkt worden: wie viel Jammer und Elend auf dem Hintergrund des blauen Himmelsgewölbes und des unendlichen brandenden Meeres! Fast möchte man, wie die Menschen bisher, verzweifelt darüber die Hände untätig in den Schoß legen, oder, wie die Anarchisten, Vernichtung predigen, weil anders eine Rettung nicht möglich erscheint. Je mehr ich offenen Auges um mich sehe, desto mehr entwickelt sich bei mir ein Zug zum Fanatismus, und ich muß mir immerfort das Gebot der Toleranz und die Pflicht, leidenschaftslos zu urteilen, vorhalten. Von dem Augenblick an, daß man sich klar wird, – es mag vielleicht paradox klingen, aber die meisten werden sich wirklich niemals klar darüber! –, daß jenes in Schmutz, Hunger und Stumpfheit aufgewachsene Fischerkind auch ein Mensch ist, genau wie man selber, kein fremdartiges [455] Geschöpf, – von dem Augenblick an beginnt man überhaupt erst zu sehen. Und wenn mir jetzt vorgehalten wird: die Leute empfinden ihr Elend nicht, – so kann ich mich nicht mehr dabei beruhigen. Ich fühle vielmehr, – und fühl's mit allen Schmerzen peinigenden Selbstvorwurfs, – daß gerade dies, was ein Trost sein soll, das größte Unglück ist und jeder einzelne von uns die Verantwortung dafür trägt.

Das Erwecken der Menschen zu dem Bewußtsein ihres Elends ist sicher der erste Schritt zu ihrer Erhebung, und wenn ich jetzt den ›Vorwärts‹, dank Ihrer Güte, regelmäßig lese, so scheint mir das Hauptverdienst der Sozialdemokratie darin zu bestehen, daß sie überall die Sturmglocke läutet. Womit ich mich aber nicht befreunden kann, – das ist die unterschiedslose Verdammung aller Bestrebungen, die nicht von vornherein rot abgestempelt sind. Warum entdeckt der ›Vorwärts‹ nicht, wie Dr. Brandt, die ›Ströme, die ins Meer fließen‹? So ist sein Angriff auf die Ethische Bewegung ebenso töricht wie ungerecht. Er müßte uns wahrhaftig von Bildungsanstalten Richterscher und Stöckerscher Art unterscheiden können. Und warum Haß und hämischen Neid gegen die einzelnen Mitglieder anderer Klassen groß ziehen, – der nichts zur Folge hat, als lähmende Bitterkeit, – statt nur den Haß gegen die Zustände, der Mut und Kampflust auslöst? Gerade der Sozialismus lehrt doch, daß die Menschen Ergebnisse der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind; man setzt sich also in Widerspruch zu den eigenen Grundprinzipien, wenn man den Haß gegen Personen verbreitet, die doch so werden mußten, wie sie wurden.

Damit komme ich noch mit einem Wort auf unseren alten Streitpunkt, die Junker betreffend, zurück. Sie erinnerten mich daran und werden es vielleicht jetzt wieder tun, daß wir beide doch auch Junker wären und uns trotzdem, lediglich auf Grund unserer ethischen Einsicht, zum Sozialismus bekennen. Nun denn – lachen Sie mich nur ruhig aus, ich höre Sie so gerne [456] lachen! –, ich bestreite Ihre Behauptung! Sind wir nicht von Jugend auf Abhängige gewesen – wir und unsere Eltern – von unserem Brotgeber, dem Staat? Hätten meine Eltern sich frei bewegen können, ohne sich den Kopf an der Mauer einzurennen, die der Staat um sie gezogen hat? Können Sie es? Und diese Abhängigkeit – macht sie nicht den Proletarier? Ich aber, die ich ein Weib bin, gehöre von Rechts wegen noch tausendmal mehr als Sie zu der großen, dunklen, darbenden Masse der Enterbten!

Mich hat diese Erkenntnis mit neuer Freudigkeit erfüllt und mit neuer Hoffnung; gilt doch dann dasselbe für unseresgleichen wie für das arme Fischerkind: es bedarf nur der Erweckung, und Tausende neuer Kämpfer gesellen sich brüderlich zu denen, die vorangingen! Wie viele gibt es, deren ganzes Wesen nach Befreiung und Betätigung verlangt, deren geistige Kräfte, ihnen selbst vielleicht oft kaum bewußt, schon im Dienst der großen Menschheitssache stehen, – denken Sie nur an all unsere jungen Künstler und Schriftsteller!

Wenn der Kaiser jetzt gegen die moderne Kunst redet, Burgen mit Schießscharten baut und Wildenbruch und Lauff zu Hofpoeten macht, so spricht das nicht nur für seinen Scharfsinn, der die Revolution wittert, wo andere nur die blaue Blume neuer Dichtung sehen, sondern er zeigt sich abermals als unser bester Agitator, der nun auch die geistigen Arbeiter in die Schranken ruft. Wir sollten jetzt zur Stelle sein und das Eisen ihrer Entrüstung schmieden, so lange es warm ist.

Vielleicht, daß ich demnächst nach dieser Richtung einen ersten Versuch machen kann. Eine alte Freundin von mir, einstiges Mitglied des Schweriner Hoftheaters, die mit einem Königsberger Professor verheiratet ist, lud mich ein. Zuerst zögerte ich, hinzugehen: sie konnte, solange sie Schauspielerin war, das gutbürgerliche Milieu, aus dem sie stammte, nicht vergessen; und nun, da sie dorthin zurückkehrte, klebt ihrem Wesen die Erinnerung [457] an die Bühne an. Aber die Aussicht, Sindermann, einen jungen Schriftsteller, bei ihr kennen zu lernen, war entscheidend, und ich warte nur noch auf die Bestimmung des Tages, um hinzufahren. Ein Mann, der durch seine Werke der bürgerlichen Welt das Verdammungsurteil ins Gesicht schleudern konnte, gehört von vornherein zu uns und müßte der Bannerträger des Emanzipationskampfs der geistigen Arbeiter werden.

Verzeihen Sie den langen Brief. Ich habe hier niemanden, mit dem ich mich auszusprechen vermöchte, und Sie haben mich so sehr verwöhnt!

Meine Eltern sind seit gestern hier; vergebens bat ich sie, nach Berlin zurückkehren zu dürfen. Allein in unserer Wohnung zu sein, halten sie für unpassend, und zu Egidys zu gehen, die mich in freundlichster Weise einluden, ist ihnen auch bedenklich! Bin ich notwendig, so komme ich ohne ihre Erlaubnis.

Mit herzlichsten Grüßen

Ihre dankbar ergebene

Alix von Kleve.«


»Berlin, den 1. Juli 1892.


Mein liebes gnädiges Fräulein!


Wundern Sie sich nicht über meine rasche Antwort: jeden Tag häuft sich so viel an, was ich Ihnen sagen möchte, und Ihr Brief weckt überdies solch eine Menge Empfindungen und Gedanken, daß ich nicht anders kann, als schreiben, sobald ich Ihre Schrift vor mir sehe. Entschuldigen Sie nur meine häßlichen zitternden Krakelfüße, – ich bin nicht ganz auf dem Posten und muß ausgestreckt liegen.

Für die Annahme Ihrer Wahl danke ich Ihnen ganz persönlich: Sie werden unserer Sache von größtem Nutzen sein und – was mich besonders befriedigt! – das weibliche Geschlecht allein zu vertreten haben. Helma Kurz und Frau Schaper haben – infolge ›starker Arbeitslast‹! – ihre Ämter niedergelegt. Ich habe nun die Wahl von zwei Sozialdemokraten vorgeschlagen, [458] so daß wir uns möglicherweise sehr verbessern werden. Sie werden dann auch Gelegenheit haben, sich mit diesen über Ihre Erweiterung des Begriffs Proletarier auseinanderzusetzen, der, wie ich glaube, durchaus im Rahmen marxistischer Entwicklungslehre liegt: der Arbeiter, der ›mit dem Hirne pflügt‹, wird als Gleichberechtigter und Gleichentrechteter neben den Handarbeiter gestellt.

Mit Ihrer Kritik des ›Vorwärts‹ freilich würden Sie sich weniger in Übereinstimmung mit den ›Genossen‹ befinden, – auch mit Ihrem getreuen ›Genossen‹ Glyzcinski nicht! Ich kann seine Haltung uns gegenüber nicht verurteilen: ohne Zweifel werden in der Ethischen Gesellschaft alsbald viele sein, welche von dessen Urteil getroffen werden und nichts als ›Harmonieduselei‹ treiben wollen. Wer aber bürgt dafür, daß sie nicht schließlich herrschen und ›gefährliche‹ Elemente hinausdrängen?!

Suchen Sie Sindermann für uns zu gewinnen. Mein Vetter Paul, den Sie einmal bei mir sahen, und der dem Friedrichshagener Kreis angehört, hält zwar nichts von ihm und meint, Eitelkeit und Ehrgeiz würden ihn eher immer weiter von uns entfernen, als ihn uns näher bringen. Er rühmte mir dagegen den jungen Dichter des Dramas ›Vor Sonnenaufgang‹, den er für den ›Kommenden‹ hält; aber bei der Manier dieser Art junger Leute, aus jedem bunten Kälbchen einen Götzen zu machen, vor dem sie anbetend auf dem Bauche liegen, bin ich vorläufig noch sehr skeptisch.

Unsere Kommissionssitzungen sind einstweilen eingestellt worden. Alles denkt ans Reisen, und es wird im Zoo immer stiller. Wie schön und ungestört ließe sich's jetzt dort plaudern! Nicht wahr, Sie gönnen mir die Vorfreude und teilen mir zeitig mit, wann ich Sie erwarten darf?

Mit herzlichsten Grüßen

Ihr treuergebenster

Georg von Glyzcinski.«


[459] Ich vermochte den Brief kaum zu Ende zu lesen, nichts als leere Worte tanzten mir vor den Augen; denn nur ein Satz hatte sich mir schreckhaft eingeprägt: »ich bin nicht auf dem Posten – muß ausgestreckt liegen.« Und ich sah ihn deutlich vor mir, den kranken Mann mit dem Apostelkopf und dem wesenlosen Körper, wie er allein, von einem ungeschickten Diener kaum bedient, geschweige denn gepflegt, in seinem stillen Zimmer lag, die weißen schmalen Hände auf der schwarzen Pelzdecke, die Kinderaugen sehnsüchtig ins Weite gerichtet. Mein Herz klopfte zum Zerspringen, und ich wußte auf einmal, wohin ich gehörte.

Mechanisch faltete ich einen zweiten Brief auseinander: von Lisbeth; – noch heute sollte ich zu ihr kommen, Sindermann habe sich zum Abend angesagt, schrieb sie. Ich ging in mein Zimmer, raffte das Notwendigste eilig zusammen und hinterließ meiner Mutter, die mit allen anderen auf ein Nachbargut gefahren war, zwei Zeilen: »Frau Professor Landmann lädt mich soeben ein, noch heute nach Königsberg zu kommen. Da ich Eurer Erlaubnis sicher zu sein glaube, fahre ich mit dem nächsten Zug.«

Unterwegs erst wurde ich Herr einer Erregung, die mich den fernen Freund schon mit geschlossenen Augen und erblaßten Lippen auf dem Totenbette sehen ließ. Ich hatte beschlossen, den Nachtzug nach Berlin zu benutzen, – aber konnte – durfte ich den Kranken durch meine überraschende Ankunft erschrecken? Sah das nicht doch vielleicht nach einem unwürdigen Sichaufdrängen aus? Ich errötete unwillkürlich. Auf dem Bahnhof bat ich ihn telegraphisch um Nachricht über sein Befinden und kündigte meine Rückkehr an. Dann erst fuhr ich hinauf in die stille Tragheimer Kirchenstraße mit ihrem ausgefahrenen Pflaster und ihren altersgrauen Häusern. Welch eine strenge, ernste Stadt ist doch dies Königsberg, dachte ich; eine Stadt, die in jedem Winkel an den Ernst des Lebens erinnert und ihre Bürger [460] zwingt, still in sich selbst Einkehr zu halten. Wäre ich hier aufgewachsen, vielleicht hätte meine Sehnsucht nie über ihre Wälle und Gräben hinaus verlangt!

Im phantastischen Kostüm einer Zarewna, Augen und Wangen glühend vor Eifer, empfing mich Lisbeth. So – gerade so hatte ich sie einmal in Schwerin auf der Bühne gesehen. Was sie spielte, vergaß ich oder wußte es nie. »Wie schön sie ist!« hatte ich damals bewundernd geflüstert. »Du – du bist viel tausendmal schöner –« war mir aus dem Dunkel der Loge heiß ins Ohr geklungen ...

Ein Wortschwall zärtlicher Begrüßung entriß mich dem Taumel der Erinnerung. Still – ein bißchen verlegen, die Augen in offenbarer Bewunderung auf seine Frau gerichtet, stand ihr Mann daneben, der typische deutsche Professor, mit kurzsichtig zwinkernden Äuglein und linkischen Bewegungen. Ich wurde hineingezogen. In eine Laube von blühenden Sommerblumen war das Wohnzimmer verwandelt, grüne Girlanden hingen von der Decke herab, bunte Lampions schaukelten dazwischen. Und plötzlich trat hinter dem Efeugerank am Fenster ein weißes, goldhaariges Geschöpfchen lächelnd auf mich zu. Lisbeths sprudelndes Plaudern brach ab, ihr erhitztes Gesicht nahm einen Ausdruck still-seliger Verklärung an; – »mein Kind!« sagte sie leise und legte die Hand auf das schimmernde Haar des Kleinen. Mir stiegen Tränen, brennendheiße, in die Augen: Ihr Kind! – Wie reich mußte sie sein!

Wir brachten ihn gemeinsam zu Bett, den herzigen Buben; seine rosigen Füßchen, seine runden Ärmchen, die Grübchen in den Händen und in den Knien mußte ich bewundern. Dann trat ich still beiseite: Mutter und Kind, die einander Gute Nacht sagen, sind wie inbrünstig-fromme Beter, die selbst der Ungläubigste nicht zu stören wagt. In diesem Augenblick lag es um mich wie ungeheuere Einsamkeit.

Noch war ich zerstreut und bedrückt, als Sindermann kam.

[461] Wir ertragen angesichts eines tiefen inneren Erlebens nur die Allernächsten, und seine Erscheinung wirkte völlig fremd. Ein »bel homme« – es gibt keinen deutschen Ausdruck, der denselben Sinn hätte – mit liebevoll gepflegtem schwarzen Vollbart, erzwungen aristokratischen Allüren, großen breiten Händen und runden fleischigen Fingern daran.

Es herrschte jene spezifisch norddeutsche Stimmung reservierter Verschlossenheit, die zu der phantastischen Umgebung und dem romantischen Kostüm der Hausfrau in demselben peinlich-komischen Gegensatz stand wie die Nüchternheit aller Ostelbier zum Karnevalstrubel. Nur einem Gegner pflegt sie allmählich zu weichen: dem Wein. Als in Lisbeths, von dem gedämpften Kerzenlicht bunter Lampions erhellten künstlichen Garten die Erdbeerbowle auf dem Tische stand und die Ketten und die Rheinkiesel auf Kopf und Hals und Armen der falschen Zarewna leuchteten und glänzten wie Perlen und Brillanten, verschwand nach und nach jener erste Eindruck der Fremdheit.

Wir sprachen von allem, was die Zeit bewegte: von der Kunst der Moderne, von der Frauenfrage, von der Sozialdemokratie. »Ich bin Sozialist,« sagte Sindermann, »weil ein denkender Mensch heute nichts andres sein kann,« – schon klopfte mir das Herz höher vor Freude – »aber ich glaube nicht, daß die Ideen des Sozialismus sich in absehbarer Zeit erfüllen werden.« Und nun entwickelte ich die Prinzipien und die Zukunftshoffnungen der Ethischen Bewegung und führte all meine Gründe ins Feuer, um ihn zu einem der Unseren zu machen. Er lächelte; in dem rötlichen Dämmer des Raums vermochte ich nicht zu unterscheiden, ob es das Lächeln des Spötters oder das tragisch-resignierte des Pessimisten war. »Wir Deutschen sind vorläufig unfähig, uns zu würdigeren inneren und äußeren Zuständen aufzuschwingen,« meinte er dann, »und so sehr ich alle Ihre Ideen anerkenne, so wenig glaube ich, daß Sie unter den Künstlern Proselyten machen werden. Nicht viele fassen [462] ihre Aufgabe auf wie ich –« er schwieg und betrachtete nachdenklich seine Fingerspitzen. Dann warf er einen kurzen, erwartungsvollen Blick auf mich.

»Und Ihre Auffassung wäre?!« frug ich gespannt.

»Der Dichter muß das Leben wiedergeben, wie es sich ihm darstellt; das vermag er nur dann, wenn sein Herz weit genug ist, um das ganze Leid der Gegenwart mit zu fühlen. Während die Dichter der Vergangenheit Tugend und Laster auf die Bühne brachten und den Zuschauer dadurch befriedigten, daß eine vergeltende Gerechtigkeit den Schluß herbeiführte, zeichnet der moderne Dichter das wahre Bild des Lebens und ruft den Zuschauern zu: so ist es, geht hin und helft! Ich will mein Publikum nicht amüsieren, ich will ihm nicht die Zeit totschlagen helfen, ich will es aufrütteln, will es zur Erkenntnis von Wahrheiten führen, denen es im Leben aus dem Wege geht. Heißt das nicht auch ethisch handeln?«

Ich war entzückt. So hatte ich mir das Wirken des Künstlers vorgestellt! Er wurde wärmer und lebhafter.

»Glauben Sie mir,« sagte er mit einer großen Geste, »wenn ich könnte, würde ich nur vor Arbeitern meine Stücke aufführen lassen, – die verstehen, die würdigen mich!« Und dann erzählte er von der Berliner Gesellschaft der Kunstkenner, Ästheten und Mäcene, die wahl- und kritiklos jeder neu auftauchenden Größe nachliefen. »Bewundert haben mich alle als den berühmten Mann,« und wieder zeigte sich jenes unbestimmte tragisch-resignierte Lächeln, – ich erinnerte mich flüchtig eines Schauspielers, dem meine Altersgenossinnen in Posen um solch eines Lächelns willen zu Füßen lagen – »aber die meisten wußten nicht, ob dieses notwendige Salonrequisit ein Bildhauer oder sonst was wäre.«

Es mochte Mitternacht geworden sein, als auf sein neuestes Werk die Rede kam, das im nächsten Winter das Licht der Rampen erblicken sollte. Ich horchte um so gespannter auf, je mehr [463] ich von seinem Inhalt erfuhr. Ein Weib sollte die Heldin sein, deren Künstlernatur sie aus dem engen Zuhause einer Offiziersfamilie hinaustrieb in die Welt.

Und meine Phantasie arbeitete noch rascher, als der Dichter zu erzählen vermochte: Ich selbst war dies Weib, das sich endlich losriß, um die Heimat seines Wesens zu finden, – war nicht am Ende auch der alte Oberst, der in der Verzweiflung zur Pistole griff, – mein Vater?! Die Heimat, – das ist das Schicksal: es vernichtet uns, wenn wir die Schwächeren sind, und es ist wie die antike Tragödie, die immer Tote auf der Wahlstatt läßt.

Ich war ganz still geworden, versunken in die Gedanken, die des Gastes Werk in mir ausgelöst hatte.

Draußen dämmerte der Tag. Die Blumen im Zimmer hingen erschlafft die Köpfchen; ein feiner Zigarettenrauch zog seine Kreise um die verglimmenden Kerzen. Und plötzlich übermannte uns bleierne Müdigkeit. Sindermann erhob sich. Verwirrt sah ich auf: da war er ja wieder, vom ersten Frühlicht beleuchtet, der »bel homme«, der Mann mit dem liebevoll gepflegten Bart, den großen Händen und den runden fleischigen Fingern daran. Seltsam, wie fremd, wie störend er wirkte. War er es wirklich gewesen, der mir eben mein Schicksal gedeutet hatte?

Zwei Stunden schlief ich den unruhigen Schlaf der Erschöpfung. Das rasche Klingeln des Telegraphenboten weckte mich: »Befinden wechselnd. Freue mich unbeschreiblich auf Ihre Rückkehr. Glyzcinski.« Ich hatte noch gerade Zeit, die Eltern schriftlich meines raschen Entschlusses wegen um Entschuldigung zu bitten. »Der Professor ist krank; Ihr wißt, sein Leben hängt nur an einem Faden; ich würde es mir nie verzeihen, wenn er einsam und ohne Pflege leiden und sterben müßte,« schrieb ich.

Am Abend war ich bei ihm. Er saß vor dem Schreibtisch am Fenster wie immer, und schon wollt' ich freudig überrascht auf [464] ihn zueilen, als seine Augen mir entgegensahen: flackernde Fieberlichter brannten darin; auf seinen schmalen Wangen glühten rote Flecken, und die Hand bebte, die er mir bot. »Sie haben sich meinetwegen aus dem Bett gewagt!« rief ich erschrocken.

»Darf ich denn dies glückliche Ereignis nicht auf meine Art feiern?!« – sein ganzes Antlitz strahlte – »es geht mir ja besser, viel besser – und ich glaubte schon« – seine Stimme senkte sich – »ich glaubte, ich würde Sie niemals wiedersehen!«

Minutenlang blieb es still zwischen uns. Er lehnte den Kopf zurück, mit halb geschlossenen Augen, ich sah nichts als sein Gesicht, das ein Ausdruck seligen Friedens verklärte. Und dann hatten wir einander so viel zu sagen, daß selbst die schlagende Uhr uns an die vorrückende Stunde nicht zu erinnern vermochte.

Der Diener trat ein. »Es ist zehn Uhr, Herr Professor,« sagte er und sah mich halb verwundert, halb mißbilligend an. Erschrocken sprang ich auf: »Wie komm' ich nun ins Haus – und wie in die Wohnung!« Ich hatte vergessen, mich dem Mädchen anzukündigen.

»So bleiben Sie eben hier,« entschied Glyzcinski, »nebenan auf dem Sofa hat mein Bruder oft geschlafen, – Friedrich braucht Ihnen nur die Betten aus dem Schrank zu geben.«

War das eine stille Nacht! Nur aus der Ferne drang das Geräusch der Großstadt durch die offenen Fenster. Wie geborgen kam ich mir vor! Am nächsten Morgen beeilte ich mich, auf dem grünumbuschten Balkon den Frühstückstisch zu decken und achtete wenig auf das mürrische Gebaren des Dieners. Erst als er seinen Herrn im Rollstuhl hinausfuhr, traf mich aus zwinkerndem Augenwinkel ein hämisch-vielsagender Blick, vor dem mir fast der Morgengruß im Munde erstickte. Gottlob – Glyzcinski bemerkte nichts. Seine Augen hatten den alten, klaren Schein, seine Wangen die gleichmäßige Färbung.

»So gut habe ich es in meinem Leben nicht gehabt!« sagte er und behielt meine Hand in der seinen.

[465] Zu Hause fand ich ein Telegramm von der Mutter: »Papa über deine Abreise äußerst empört, verlangt sofortige Rückkehr oder Übersiedlung zu Egidys.« Noch am gleichen Tage zog ich auf Glyzcinskis Rat in die Spenerstraße. Egidy selbst war verreist, und so konnte ich, ohne zu verletzen, den Tag über abwesend sein. Fast immer war ich bei Glyzcinski. Wenn er es auch niemals zuließ, daß ich ihn pflegte, so konnte ich doch überwachen, ob die Vorschriften des Arztes befolgt, die verschiedenen Umschläge und Kompressen zur rechten Zeit gewechselt wurden. Meiner alten Kochkünste erinnerte ich mich wieder und freute mich wie ein Kind, wenn ich zusah, mit welch wachsendem Behagen der liebe Kranke meine Suppen aß. Einmal gelang es mir, den Arzt allein zu sprechen: »Nur der Geist hält diesen Körper aufrecht,« sagte er ernst. »Leidet er?« frug ich und lehnte mich, um meine Angst zu verbergen, tief in den dunkelsten Schatten der Treppe.

»Ein gewöhnlicher Mensch würde dies Dasein kaum ertragen, aber er, – wir Gesunden könnten ihn fast um das Glücksgefühl beneiden, das ihm unveränderlich aus den Augen strahlt.«

»Wird er genesen und – leben?« brachte ich mühsam hervor.

Mit einem prüfenden, langen Blick sah mir der Arzt ins Auge und reichte mir die Hand zum Abschied:

»Genesen, – niemals! Leben?! Glück und Liebe sind Elixiere, die schon Sterbende ins Dasein zurückriefen. Verordnen können wir sie leider nicht!«

Glyzcinski wurde von Tag zu Tag frischer und froher. Morgens, wenn ich kam, begrüßte er mich, als wäre ich Jahre fort gewesen, und des Abends, wenn ich ging, zuckten seine Lippen wie die kleiner Kinder, die weinen wollen. Unsere Tage verliefen in ruhigem Gleichmaß. Der Philosophie war der Vormittag gewidmet – »in einem Jahr müssen Sie Ihr Doktorexamen machen können,« hatte Glyzcinski mir versichert, und es war ein förmlicher systematischer Unterricht, den er mir erteilte. [466] Er wollte dabei niemals zugeben, was ich immer deutlicher empfand: daß mir für große Gebiete des Wissens die sprachlichen und – noch mehr – die mathematischen und naturwissenschaftlichen Vorkenntnisse fehlten. Oft wünschte ich, mich noch auf irgendeine gymnasiale Schulbank setzen zu können, aber dann lachte er mich aus: »Sie kennen das Leben – das ist mehr wert, als aller Wissenskram; und Sie sollen handeln – das ist besser, als mathematische Aufgaben lösen und den Plato im Urtext verstehen können.«

Während der Nachmittagstunden beschäftigten wir uns mit der Tagespolitik und der modernen Literatur. Die Militärvorlage warf damals ihre Schatten voraus; die sozialdemokratische Presse entfaltete eine lebhafte Agitation dagegen und kritisierte auf das schärfste das Verhalten der Regierung, die, statt alte feierliche Versprechungen auf dem Gebiet der Sozialpolitik einzulösen, die Lebenshaltung des Volkes nur durch neue, ungeheure Lasten herabdrücke. Ich lernte durch dürre Zahlen belegte Tatsachen über Löhne, Lebensmittelpreise, Arbeits- und Existenzbedingungen kennen, durch die die graue Nebelwelt des Elends, wie ich sie hie und da vor mir hatte aufsteigen sehen, eine immer deutlichere, fester umrissene Gestalt annahm. Meine philosophischen Interessen traten mehr und mehr zurück: hier war ein Gebiet, das empfand ich instinktiv, das zu erschöpfen die ganze Kraft erforderte. Und die Zeit, die mich trug, kam mir auch darin entgegen: von allen Seiten strömten mir in Form von Büchern, Broschüren und Zeitungsartikeln Aufklärungen aller Art zu. Wir vertieften uns mit brennendem Eifer in den ersten Band von Marx' »Kapital« und in die Schriften von Friedrich Engels, wir lasen Paul Göhres »Drei Monate Fabrikarbeiter,« dessen ungewollte agitatorische Kraft uns mit sich fortriß; und als Dr. Brandt dem Professor eines Tages die Probenummer einer von ihm ins Leben gerufenen Zeitschrift zuschickte, die ausschließlich Fragen der Sozialpolitik behandeln[467] sollte, las ich sie mit brennendem Eifer und sah von da an jeder Nummer mit einer Spannung entgegen wie der Backfisch einer Romanfortsetzung. Auch Egidy, der inzwischen heimgekehrt war, erblickte nicht mehr in der Überwindung der Dogmen den Ausgangspunkt allen Heils, sondern im Kampf gegen Not und Unterdrückung.

»Es ist eine Lust, zu leben, wo alles sich rührt, und alles wächst – dem gleichen Himmel zu, ob auch die Wurzeln im verschiedensten Erdboden stehen,« pflegte Glyzcinski zu sagen. Und wenn ich ungeduldig seufzte: »Könnten wir nur den Anfang der künftigen Ordnung der Dinge noch erleben,« so antwortete er: »Aber wir sind ja schon mitten darin!«

Tatsächlich schien diese eine Bewegung mit einer ungeheuern magnetischen Kraft alles an sich zu ziehen. Die Wissenschaft trat in ihre Dienste, die Kunst schmiedete Waffen für sie. Was waren Hauptmanns »Weber« andres als ihr dröhnender Schlachtgesang?! Jener Fanatismus, der nichts sieht als sein Ziel, der ihm entgegenstürmt mit blutenden Füßen und keuchendem Atem, die stillen Stege nicht kennt, die abseits von seinem Wege auf duftende Blumenwiesen, in dämmernde Wälder und hoch auf die Berge der weiten Ausblicke führen, den kein Ausruhen lockt im Schatten der Dorflinde und der Kirchenpforten – derselbe Fanatismus, der die ersten Christen zwang, die weißen Marmorleiber heidnischer Götter in die pontinischen Sümpfe zu werfen, hatte von mir Besitz ergriffen.

Und meine Seele schloß leise, daß keiner es merkte, die Pforte der Kammer zu, hinter der lebte, was zu tiefst mein Eigen war.

Fast wie eine Störung empfand ich's, als Sindermann mich zur Vorlesung seines nunmehr vollendeten Dramas einlud. Aber war er nicht auch einer, der mit uns kämpfte?

Wir fuhren miteinander hinaus nach Chorin, einem jener stillen melancholischen Waldwinkel der Mark, wo schwarze Kiefern sich in kleinen tiefen Seen spiegeln und in zerbröckelnde Klosterruinen [468] der mattblaue Himmel hineinscheint. Freunde des Dichters erwarteten ihn hier, und ein fremder »Kollege«, wie er sich mit einem seltsam feinen Lächeln nannte, war dabei: Detlev von Liliencron.

Niemand ist in seiner Wahrhaftigkeit so unbarmherzig wie die Natur. Sie scheidet grausam Echtes vom Unechten, ihr Licht, das durch keine Schleier und keine Papierlaternen gedämpft wird, beleuchtet grell, was am Menschen ihr entspricht, und was ihn von ihr trennt. Frauen mit kunstvollen Lockengebäuden auf zarten Köpfchen, in modischen Kleidern und zierlichen Hackenschuhen, die in der Stadt schön sind und im Salon blenden, wirken, wo die Natur herrscht, plötzlich halb lächerlich, halb gespensterhaft. Und moderne Männer mit lüstern-blasiertem Lächeln und der »interessanten« Blässe endloser Kaffeehausnächte auf den Zügen, richtet sie ohne Nachsicht als das, was sie sind. Werfen sich diese Damen und Herren in dem instinktiven, unbehaglichen Gefühl, zu sein, wo sie nicht hin gehören, aber gar in Dirndlkostüme und Lodenjoppen und setzen naiv grüne Hütchen auf ihre gebrannten Haare und müden Glatzen, so tritt ihre gräßliche Disharmonie zur Natur in tragischer Deutlichkeit hervor, und von den geistreichen Helden und Heldinnen großstädtischen Lebens bleibt nichts übrig als die armselige Maske kleiner Vorstadtkomödianten.

Aber auch große Menschen vermögen der Natur nicht immer standzuhalten. Wer zu sehen gelernt hat, dem enthüllt sie ihre Blößen, daß es einem beinahe wehe tut.

Wir gingen von Bahnhof durch den Wald bis zu dem kleinen Wirtshaus am See. Warum hatte nur unser Dichter solch glänzend-schwarzen Bart und so geistreiche Augen – so fleischige Finger und eine so starke Männerhand? Auch hier war eine Disharmonie, die schmerzte. Wie ein Stück dieser märkischen Natur selbst schritt dagegen der andere, mir noch völlig fremde, neben uns, ein Mann aus einem Guß, bei dem alles zueinander paßte.

[469] Ein Gewitter stand drohend am Himmel, als Sindermann zu lesen begann, und Blitz und Donner begleiteten die sich entwickelnde Katastrophe. Rasch war ich wieder im Bann des Werkes. Das war ja alles mein eigenes Erleben: wie dieser Maria die Heimat zur Fremde wurde, in der die Menschen eine unverständliche Sprache sprechen, wie sie sich selbst retten muß vor den Schlingen, die die Heimat wieder nach ihrer Freiheit auswirft. Und ich war es selbst, die sprach: »Es muß klar werden zwischen der Heimat und mir!«

Der Beifall in dem kleinen Kreis der Zuhörer war groß. Daß man jede Szene stundenlang unter dem Gesichtspunkt der Bühnenwirksamkeit besprach, verletzte mich freilich. Erst auf dem Rückweg zur Bahn fing man an, die Tendenz des Stückes zu erörtern.

»Daß das individualistische Prinzip darin zu so starkem Ausdruck kommt, befriedigt mich ganz besonders,« sagte einer.

»Diese Maria ist die Personifizierung der Idee Nietzsches!« fügte enthusiastisch ein anderer hinzu, »sie hat die Umwertung aller Werte für sich vollzogen, sie steht jenseits von Gut und Böse, sie ist der Übermensch, obwohl sie ein Weib ist!«

Der Übermensch, – diese Maria, die sich von einem Elenden hatte verführen lassen?! dachte ich. Und die Umwertung aller Werte sollte sie vollzogen haben, weil sie die Heimat überwand?! Wäre es möglich, daß ich meinen Nietzsche so gar nicht verstanden hatte? – Die Unterhaltung wurde lebhafter. Man sprach über die Notwendigkeit, den Sozialismus durch den Individualismus zu überwinden, die Sklavenmoral durch die Herrenmoral.

»Wir Künstler haben inmitten der gefährlichen Nivellierungsbestrebungen unserer Zeit die Aufgabe, das Recht der Adelsmenschen zu vertreten,« rief ein kleiner Mann mit einem Spitzbauch, während ihm die hellen Schweißtropfen über das runde Gesicht liefen.

»Und worin besteht dieses Recht?« frug ich neugierig, das Lachen mühsam verbeißend.

[470] Verblüfft sah er mich an. »In dem Recht, sich zu behaupten, seine Persönlichkeit auszuleben,« sagte er schließlich und hieb sich mit der flachen Hand auf den breiten Sportgürtel, daß die dicke Goldkette klirrte, die weithin leuchtend darüber hing.

»Sofern man eine hat,« meinte Liliencron lakonisch, der bisher fast immer geschwiegen hatte.

»Gewiß – gewiß,« echote der erhitzte Individualist, sichtlich froh, daß der einfahrende Zug ihn einer weiteren Erörterung überhob.

Am nächsten Tag fiel mein philosophischer Unterricht aus: wir stritten uns über Nietzsche, und zum erstenmal seit unserer Bekanntschaft verteidigte Glyzcinski seine Ansichten mit offenbarer Heftigkeit. »Wie im Anarchismus die große Gefahr für die Verbreitung des Sozialismus in der Arbeiterklasse zu suchen ist,« sagte er, »so kann die Ausbreitung der Ideen Nietzsches die Wirksamkeit der Ethischen Bewegung in den oberen Klassen völlig untergraben. Die Ausbildung der Persönlichkeit als Selbstzweck steht zu unserem Ziel – dem größten Glück der größten Mehrheit – in direktem Gegensatz.«

»Verzeihen Sie mir, wenn ich das bestreite,« antwortete ich schüchtern, aber doch im Augenblick meiner gegenteiligen Ansicht sehr sicher. »Mir scheint nämlich, als ob gerade sie unser Ziel wäre. Höchstes Glück der Erdenkinder ist nur die Persönlichkeit, – so ähnlich heißt es schon bei Goethe. Und der Sozialismus soll eben die Möglichkeit für alle schaffen, ein Glück sich zu erringen, das heute nur wenige genießen können.«

»Wenn der arme Nietzsche geistig nicht tot wäre,« lachte Glyzcinski, »so würde ihn diese Ihre Auslegung daran mahnen, zum Weibe nicht ohne Peitsche zu kommen! – Sehen Sie doch um sich: sind seine lautesten Anhänger nicht unsere ärgsten Feinde?«

»Weil sie es sind, die ihn mißverstehen, nicht ich! Sich ausleben, bedeutet doch nichts anderes, als alle Fesseln zerreißen [471] und zersprengen, die uns hindern können, die Glieder im Dienst der Menschheit zu regen!«

»Das, mein liebes Schwesterchen, ist aber kein Originalgedanke Nietzsches, sondern eine Forderung, die schon Fichte und Kant und viele andere mehr ausgesprochen haben,« antwortete der Professor. »Ich fürchtete schon, wir beide könnten uneins werden, und nun sehe ich, daß selbst Ihre Verteidigung Nietzsches nur ein neuer Beweis unserer Einigkeit ist.«

Ein unbestimmter Widerspruch, über dessen Inhalt ich mir nicht klar zu werden vermochte, regte sich zwar noch in mir, aber ich war viel zu glücklich über die Brücke des Verständnisses, die wir betreten hatten, als daß ich weiter darüber hätte nachdenken mögen.


Die Eltern kehrten zurück. Die Stimmung des Vaters mir gegenüber wechselte täglich: er konnte zärtlich sein und voller Interesse für mich, meine Studien, meinen Verkehr; und in der nächsten Stunde schon wandelte sich seine Liebe in rauhen Zorn, seine Teilnahme in ungerechte Verdammungsurteile, wenn irgendein politisches Ereignis, eine sozialdemokratische Demonstration, eine Darstellung der Ethischen Bewegung in der konservativen Presse, den Aristokraten, den General, den Monarchisten in ihm über den Vater siegen ließen. Die Mutter dagegen blieb fast immer kühl, zurückhaltend, beobachtend. Klein-Ilschen ging mir scheu aus dem Wege. Und als ich sie nach der Ursache frug, gestand sie, daß der Konfirmandenunterricht ihr eine nähere Beziehung zu mir unmöglich mache.

Bisher hatte ich es stumm ertragen, die Rolle der ungern Geduldeten zu spielen, – an dem Tage aber, wo dies blonde Kind sich von mir wandte, weinte ich.

Die konstituierende Versammlung der Ethischen Gesellschaft stand vor der Tür. Aus allen Teilen Deutschlands strömten uns [472] Begrüßungsschreiben, Beitrittserklärungen, Zustimmungskundgebungen zu – es schien wirklich, als hätten sich viele im stillen nach einer geistigen Vereinigung auf dieser Basis gesehnt. Selten nur traf ich Glyzcinski nachmittags allein: Gelehrte und Ungelehrte, Leute mit berühmten Namen und mit Würden beladen erschienen neben armen Handwerkern, und Frauen aus allen Kreisen fanden sich ein. Es war ein anderes Publikum, als das bei Egidy gewesen war: entschiedener in seiner antireligiösen Gesinnung, von sozialem Pflichtbewußtsein stärker durchdrungen. Und die nahende Vollendung des lange vorbereiteten Werks gestaltete auch die letzten Kommissionssitzungen harmonischer. Wir waren alle voll Zuversicht und voll guten Willens, uns auf dem Boden »allgemein menschlicher Ethik« zusammenzufinden.

Von jener Begeisterung getragen, die die Geburtsstunde jeder neuen humanitären Schöpfung begleitet und die Teilnehmer glauben läßt, der Beginn sei schon die Vollendung, verliefen die offiziellen Gründungstage unserer Gesellschaft. Es tat förmlich weh, zu der Nüchternheit der Alltagsaufgaben zurückzukehren, und die meisten Menschen, die uns eben noch zugejubelt hatten, ergriffen vor ihnen die Flucht. Mir, die ich von der Welterlösung geträumt hatte, wurde es besonders schwer, an all den internen Beratungen und Zusammenkünften teilzunehmen, wo über Fragen, wie die der Versammlungslokale, der Einkassierung der Beiträge, und dergleichen mehr oft stundenlang verhandelt wurde. Ich ging regelmäßig hin, um Glyzcinski darüber zu berichten, der nur ausnahmsweise an den Sitzungen teilnehmen konnte, und daher auch oft den Grad meiner Ernüchterung nicht verstand. In Rücksicht auf ihn, dessen Freundschaft mit mir kein Geheimnis war, mehr als in Anerkennung meiner sehr geringen Verdienste um die Gesellschaft, wurde mir, statt seiner – der jede Wahl von vornherein abgelehnt hatte – der Schriftführerposten im Hauptvorstand angeboten. Ich zögerte keinen Augenblick, [473] ihn anzunehmen, da ich mir wohl bewußt war, gerade durch ihn den größten Einfluß gewinnen zu können. Zu Hause erzählte ich nicht ohne Stolz von der mir widerfahrenen Ehre. Der Vater kam gerade aus seinem Klub, und ich hatte in meiner Freude auf seine Mienen nicht geachtet und Mamas heimliche Zeichen nicht bemerkt.

»Wie,« – fuhr er los, »ein Mensch, der meinen ehrlichen Namen trägt, offizieller Vertreter dieser Gesellschaft internationaler Schwindler?!« Ich wollte ihn unterbrechen, aber er ließ mich nicht zu Worte kommen. »Habt ihr vielleicht nicht soeben, wie ich natürlich von Fremden erfahren mußte, für die wahnwitzige Utopie ewigen Friedens demonstriert, was nichts anderes bedeutet, als diesen Schuften, den Sozialdemokraten, Wasser auf ihre Mühle treiben!« Seine Stimme schwoll an, als stünde er auf dem Kasernenhof, »und die Religion wollt ihr schon den Kindern durch euren sogenannten Moralunterricht austreiben. Eine nette Moral das – wahrhaftig!« Er trat auf mich zu: »Ich verbiete dir ein für allemal, mit diesen Gottesleugnern und Vaterlandsverrätern gemeinsame Sache zu machen – sonst –«

»Du erlaubst, daß ich mich entferne –« unterbrach ich den Tobenden und ging hinaus.

Am nächsten Morgen kam er mir entgegen: ganz blaß, mit überwachten, müden Augen. »Höre auf deinen alten Vater, mein Kind, der es gut mit dir meint, – du bist auf falschem Wege, – schneide dir nicht die Rückkehr ab, indem du dich öffentlich engagierst!«

»Laß mir Zeit zum Überlegen, lieber Vater,« bat ich stockend, innerlich fast schon überwunden; nur bei Glyzcinski wollte ich mir noch Rats erholen.

»Geben Sie nach, – für diesmal noch!« sagte er, »das geringste Maß von Schmerz sollen wir anderen zufügen. Und am schönsten ist's, wenn der Gegner sich uns aus Überzeugung schließlich selbst ergibt.«

[474] Meinen Vater überwältigte fast die Rührung, als ich ihm sagte, daß ich mich seinem Wunsche fügen wolle. Er ging selbst zum Professor und unterhielt sich ruhig und eingehend mit ihm, »wie ein vollendeter Ethiker«. Dann mußt ich mit ihm in die Stadt, um mir ein Kleid auszusuchen: »Ich will nicht, daß du durch die ewige Näherei in der Arbeit gestört wirst, die dir am Herzen liegt!«

Es dauerte jedoch nicht lange, und ich fühlte, daß es nur eines geringfügigen Anlasses bedurfte, um einen neuen Sturm heraufzubeschwören.

Ich schwebte in ständiger Angst. Schon der Tritt meines Vaters auf der Treppe machte mich zittern, und möglichst leise verließ ich nachmittags das Haus, um erst dann erleichtert aufzuatmen, wenn die Tür von Glyzcinskis Studierstube sich hinter mir schloß.

»Jetzt müßt' ich Sie pflegen können wie Sie mich,« sagte er dann wohl, und sein warmer Blick voll Liebe und Mitleid ruhte auf mir.

Eines Novemberabends – ich hatte infolge eines heftigen Erkältungsfiebers ein paar Tage das Bett hüten müssen – kam ein Brief vom Professor:


»Mein gnädigstes Fräulein!


Wir haben schon oft miteinander besprochen, daß die Schaffung eines Ethischen Journals sich angesichts der Entwicklung der Gesellschaft als eine immer stärkere Notwendigkeit erweist. Dieser Tage habe ich innerhalb unserer literarischen Gruppe die Frage erörtert, und der Verleger unserer Flugblätter hat sich bereit erklärt, eine Zeitschrift, wie wir sie brauchen, in Gemeinschaft mit mir ins Leben zu rufen; da ich jedoch außerstande bin, sie allein zu leiten, – der Redakteur eines solchen Blattes muß persönlich bei wichtigen Vorkommnissen zugegen sein können –, liegt die letzte Entscheidung der Sache in Ihrer Hand. Die [475] Stellung als mein Mitredakteur wird Ihre Arbeitskraft stark in Anspruch nehmen, und im Anfang ist der Verlag leider außerstande, Ihnen ein höheres Honorar, als etwa fünfzehnhundert bis zweitausend Mark jährlich zu bieten. Aber ich hoffe und glaube, daß Ihre Liebe zur Sache groß genug ist, um über diese Schwierigkeiten hinwegzusehen.

Mit verbindlichen Empfehlungen den Exzellenzen und herzlichen Grüßen an Sie

Ihr treuergebenster

Georg von Glyzcinski.«


Das ist die Befreiung! jubelte ich – und zitterte doch vor Angst, als ich den Brief meinen Eltern gab. Die Szene, die folgte, war schlimmer als je vorher. »Solange du meinen Namen trägst, niemals – niemals!« Dabei blieb der Vater. Ich lief in die Nettelbeckstraße und brach, aufschluchzend, neben dem Stuhl des Freundes zusammen. Minutenlang vermochte ich nicht zu sprechen und fühlte nur, wie der schmalen Hand, die mir leise über die Stirne strich, wohltätige Ruhe entströmte. Und dann erzählte ich –

»›Solange du meinen Namen trägst‹ – das sagte Ihr Vater?« Glyzcinski wandte den Kopf und sah zum Fenster hinaus, wo die roten und gelben Blätter im Herbststurm tanzten. Es dunkelte schon, – eine Mahnung zum Aufbruch.

»Ich fürchte mich so –« murmelte ich mit neu hervorstürzenden Tränen. Und aus dem Zwielicht und der Stille hörte ich seine leise Stimme sagen: »Möchtest du bei mir bleiben, mein Schwesterchen?« – »Immer – immer –« stöhnte ich und preßte meine Lippen, ehe er's hindern konnte, auf die Hand, die weiß und unirdisch im Dämmer leuchtete.

Am frühen Morgen des nächsten Tages erhielt ich diesen Brief:


»Mein liebes, gnädiges Fräulein!


Schon vor Monaten habe ich mir oft gedacht: wenn Sie eine [476] Anzahl Jahre älter geworden wären, ohne das Glück gefunden zu haben, das Sie in so reichem Maße verdienen, – wenn Sie sich mit dem Gedanken, auf Liebe und Glück verzichten zu müssen, vertraut gemacht hätten, dann wollte ich fragen: Liebe Freundin, wollen wir zueinander ziehen, Mann und Frau werden, dabei aber – wie es mir beschieden wäre – als Bruder und Schwester weiterleben?!

Der Umstand nun, daß sich jetzt ein Arbeitsplan für uns meldet, dessen Verwirklichung, nach dem Standpunkt, den Ihr Herr Vater einnimmt, zu schließen, durch jene Lebensvereinigung sehr erleichtert werden würde, ist der Grund, daß ich schon heut mit dieser Frage an Sie herantrete.

Wir würden keine Liebes-, sondern eine Freundschafts- und Arbeitsehe führen; sie würde für Sie alles andere eher als eine ›Versorgung‹ sein; wir würden wie die Zukunftsmenschen leben, wo auch die Frau sich durch eigene Arbeit erhält. Ich bin ohne Vermögen und habe nur ein geringes Einkommen. Im übrigen wissen Sie, daß mein Leben jeden Tag zu Ende sein kann.

Und nun dürfen Sie rasch ›nein‹ sagen. Meine Freundschaft zu Ihnen würde auch dann immer dieselbe bleiben. Das ›ja‹ würde jedenfalls eine lange Überlegung notwendig machen. Handelt es sich doch um etwas Ähnliches, als wenn ein Mädchen den Nonnenschleier nimmt. Sollten Sie trotz alledem einmal ›ja‹ sagen, so könnte es doch eine in ihrer Art schöne Ehe werden.

Ewig

Ihr treuer Freund

Georg von Glyzcinski.«


Ich hatte kaum zu Ende gelesen – mit klopfendem Herzen und tiefen Atemzügen –, als ich schon am Schreibtisch saß und meine Feder über das Papier flog:


»Mein lieber Freund!


Es bedarf für mich keiner Überlegung, um meine Hand mit [477] einem freudig-dankbaren Ja in die Ihre zu legen. Und es geschieht nicht im Gefühl, auf Glück und Liebe verzichten zu müssen: für mich gibt es nur ein Glück, und das ist bei Ihnen; und alles, was an Liebe in mir ist, gehört Ihnen. Auch ich habe, wie die Kinder, einmal von einem Paradies geträumt, das dem Himmel der Frommen ähnlich sah. Jetzt könnte es mir fast wie die Hölle erscheinen, – während Sie mir bieten, was die Erfüllung meiner heißesten Wünsche in sich schließt.

Ich sehe einen Urwald, bewohnt von allerhand Raubzeug, oft undurchdringlich dicht, daß die Sonne nicht bis auf den Boden dringen kann. Und mitten darin wir beide, eng verbunden, mit den Beilen bewaffnet, die Du uns schmiedetest. Und aus der Nähe und aus der Ferne tönen die Axtschläge vieler anderer Arbeiter zu uns herüber. Das ist Musik für unser Ohr. Freilich fehlt es nicht an niederfallenden Ästen, die uns verwunden, an giftigen Schlangen, die uns umdrohen. Aber solange wir uns selber haben, solange uns das Werkzeug nicht entfällt, solange wir offnen Auges das Licht immer mächtiger in die Tiefen des Waldes fluten sehen, – solange ist er uns das Paradies unseres Lebens ...«


Ich schickte meine Antwort voran und folgte ihr auf dem Fuße. Leise trat ich ins Zimmer – Georg bemerkte mich nicht. Auf dem Schreibtisch vor ihm lag mein Brief, die Hände hatte er darüber gefaltet und die Stirn wie versunken darauf gepreßt.

»Georg –«

»Alix –«, er fuhr zusammen, ein Antlitz wandte sich mir zu, überströmt von Tränen. Und er nahm meine Hände und küßte sie und zog meinen Kopf zu sich hernieder, und ich fühlte, wie sein Mund sanft meine Augen berührte.

Mit ruhiger Fassung sah ich den Ereignissen entgegen, die nun folgen mußten, – daß meine Eltern gegen meine Heirat wesentliche Einwände erheben würden, nahm ich nicht an: Georg war von gutem, alten Adel – und im übrigen konnte es [478] von ihnen nur als Erleichterung empfunden werden, mich endlich aus dem Hause zu haben. Ich war wie versteinert vor Schreck, als Georgs offizieller Brief an meinen Vater gekommen war und ich in seinem Zimmer vor ihm stand. Schwer atmend, mit dunkel gefärbtem Gesicht, die Augen rot unterlaufen, saß er auf seinem Stuhl, den Rock geöffnet, mit den Fingern ungeduldig an seinem Kragen zerrend, als fürchte er, zu ersticken. Heiser, ruckweise, mit einer Stimme, die die seine nicht war, begann er zu reden, während die Mutter, im Sofa zusammengekauert, leise vor sich hin weinte.

»Das mir – das mir! – – hat Gott mich nicht schon genug gestraft?! – Dich – dich – auf die ich so stolz gewesen bin! – Die du mein – mein Kind warst vor allem! – Dich, um die ein König noch hätte betteln müssen! – Dich will dieser – dieser – den Gott selbst als einen Ausgestoßenen brandmarkte – –«

»Papa –!« schrie ich und taumelte bis an die Tür zurück.

Er sprang auf, um sich im nächsten Augenblick, wie von einem Schwindel erfaßt, mit beiden Fäusten schwer auf den Tisch zu stützen. Den Kopf weit vorgestreckt, die Augen stier auf mich gerichtet, fuhr er mich an:

»Du läufst mir nicht wieder davon, – und wenn ich dich mit Gewalt festhalten müßte! Und deinen sauberen Galan –« er lachte grell auf – »ein Kerl, der nicht einmal ein Mann ist, – niederschießen tu ich ihn, wie einen tollen Hund – –.« Mit einem unartikulierten Laut fiel er in den Stuhl zurück. Ich lief nach Wasser, – benetzte ihm die Lippen, – rieb ihm die Stirn, – es war ja ein Kranker, den ich vor mir hatte! Aber kaum war er zu sich gekommen, stieß er mich auch schon von sich.

Mama, Ilse und der Diener brachten ihn zu Bett. Fast die ganze Nacht saß ich horchend vor seiner Schlafzimmertür. Wie eine Mörderin kam ich mir vor. Als der Morgen graute, schrieb ich ein paar Zeilen an Glyzcinski, und kaum daß der graue Novembertag mit schwerfällig-langsamen Schritten durch die [479] Straßen geschlichen kam, hörte ich den Vater schon wieder in seinem Zimmer auf und nieder gehen. Er rief nach mir, – die Angst schnürte mir die Kehle zu, aber ich folgte. Wie entsetzlich sah er aus! In einer einzigen Nacht – wie furchtbar gealtert!

»Fürchte dich nicht – ich tue dir nichts –« sagte er und verzog den Mund mit den gesprungenen Lippen zu einer Grimasse, die ein Lächeln sein sollte. »Ich will nur mit dir reden, will dir klar machen, – was du nicht weißt – nicht wissen kannst, und was der Professor –« es war ihm offenbar unmöglich, den verhaßten Namen zu nennen – »vielleicht auch nicht weiß. Die einzige Entschuldigung, die ich ihm zubilligen kann!« Ich mußte mich neben ihn setzen wie in früheren Jahren, und er behielt, während er sprach, meine Hand in der seinen.

»Ich sagte dir schon, – du bist mein Kind! Du hast meine Leidenschaften, mein heißes Herz, mein wildes Blut. Bist du die – die Frau dieses Mannes, so wird – ich weiß es genau, ganz genau! – eine Zeit kommen, früher oder später, wo dein Herz sich vor Qualen zusammenkrampft, wo dein Blut nach Liebe schreit – schreit!! – hörst du? – Nach einer Liebe, die dieser Mann dir nie wird geben können! – Dann wirst du unglücklich werden, todunglücklich – oder –,« er brachte nur mit äußerster Anstrengung die letzten Worte hervor – »eine Ehrlose, – eine – eine Dirne!«

»Papa, lieber Papa!« ich streichelte ihm die Hände, »du könntest so nicht sprechen, wenn du mich besser kennen würdest! – Ich bin kein Kind mehr – ich habe viel erlebt – sehr, sehr viel gelitten, mein Blut hat endgültig ausgetobt, mein Herz weiß von keiner anderen Liebe als von der, die Georg mir bietet!«

»Du irrst, – und dieser Irrtum wird dein Unglück werden. Ich kenne dich besser, als du dich in diesem Augenblick kennst –.« Seine überwachten Augen sahen ins Weite, er schien immer mehr zu vergessen, daß ich neben ihm saß. »Auch ich liebte – und verzehrte mich nach Liebe! Und warb ein Vierteljahrhundert lang [480] um sie, die mein Weib war. Ich wollte nicht begreifen, daß all meine Leidenschaft sie nicht erwärmen konnte –! Bis ich ein alter Mann geworden bin, bis ich einsehen lernte, daß nichts – nichts im Leben mir Wort hielt, – auch meine Liebeshoffnung nicht! – –« Er schwieg, überwältigt von der Erinnerung.

»Verstehst du nun, daß ich den Gedanken nicht ertragen kann, dich ebenso – nein – noch viel unglücklicher werden zu sehen als mich? – Du wirst ja nicht einmal Kinder haben!«

Ich zuckte zusammen, – aber rasch und gewaltsam hatte ich die Empfindung auch schon niedergekämpft, die ihm Recht hätte geben können.

»Alle armen, alle verlassenen Kinder in der Welt werden meine Kinder sein –« antwortete ich, »für sie werde ich denken und arbeiten!«

Papa stand auf: »So habe ich dir nichts mehr zu sagen. Du bist majorenn, du bedarfst meiner Erlaubnis nicht. Nur um eins bitte ich dich, und deine Mutter wird dieselbe Bitte dem – dem Professor vortragen – ich selbst fühle mich nicht stark genug, ihn zu sehen –: Warte nur noch ein halbes Jahr, – prüfe dich währenddessen. Du kannst, ungehindert durch mich, deinen Verkehr in derselben Weise fortsetzen wie bisher, – bist du dann noch entschlossen, – so strecke ich die Waffen.«

Ich wollte danken, – war doch dies Zugeständnis weit mehr, als ich nach dem gestrigen Auftritt noch glaubte erwarten zu dürfen, – aber er entzog mir seine Hand und verließ hastig das Zimmer.

Noch am Abend schrieb mir Georg, den meine Mutter inzwischen aufgesucht hatte:

»... Wir hatten eine lange ernste Unterredung miteinander, die mir um so größeren Eindruck machte, als kurz vorher der Oberst Glyzcinski hier gewesen war, dem ich mich in meiner Aufregung verriet, und der mir aus meinem Vorgehen die heftigsten Vorwürfe machte. ›Geschieht, was du in deiner Unkenntnis der Welt [481] und der Menschen als dein Glück ansiehst, so geht Ihr zugrunde,‹ sagte er. Meine geliebte Alix – sind wir nicht in einer Hinsicht wirklich unwissende Kinder? Es sollte doch keiner von uns zugrunde gehen! Wir haben doch beide eine Mission! Es gibt so gar wenige, die unseren Enthusiasmus für unsere Sache haben! Sollten wir uns beide nicht dieser Sache erhalten? Vielleicht ist es ein Verhängnis, das der schönen Tochter der Exzellenz den alten Professor zur Seite schob und in ein stilles, beschauliches, von allen irdischen Freuden abgeschlossenes Gelehrtenleben plötzlich eine Fee hineinversetzte. Sollten wir dies Verhängnis nicht in ein segensreiches Schicksal verwandeln können, wenn wir, wenn vor allem ich mich selbst bezwinge? ...

Drei Stunden täglich Liebe und Sonnenschein? Ist das nicht viel? Die armen Millionen, denen sie nimmer scheint, die liebe Sonne! Ich freilich dürste nach mehr, aber dann geht einer von uns zugrunde!! – Und lieber lebe ich dauernd in tiefster Nacht, als daß ich über das Haupt des liebsten Menschen solch Schicksal heraufbeschwöre!

Machen wir also den ernsten Versuch, geliebte Freundin, uns mit ein wenig Glück – für mich ist das schon überschwenglich viel! – und viel Arbeit zu begnügen, und bitte Deine Eltern, daß sie es Dir leicht machen sollen ...«

Aber seine Blicke straften die scheinbare Ruhe dieser Verzichtleistung Lügen. Das strahlende Licht war aus seinen Augen verschwunden, wie das sonnige Lächeln um seine Lippen. Und verließ ich ihn des Abends, so hielt er mich oft mit einem Ausdruck fest, als litte er alle Qualen eines Abschieds auf immer. Wir sahen uns täglich. Bald aber merkte ich, wie mein Vater durch Einladungen und Verabredungen aller Art meine Besuche bei Georg zu hindern suchte. Erinnerte ich ihn an sein Versprechen, so wurde er heftig, setzte ich seinen Wünschen Widerstand entgegen, so konnte ich sicher sein, bei der Heimkehr die Mutter verweint, die Schwester verschüchtert, den Vater stumm [482] und finster wiederzufinden. Blieb ich des Abends fort – Versammlungen und Kommissionssitzungen, über die ich in unserer Zeitschrift berichten mußte, machten es häufig genug notwendig –, so schlich ich mich in zitternder Furcht nach Hause, weil der Vater mich schon oft mit den ungerechtesten Vorwürfen empfangen hatte. Jeder Artikel, den ich in unserem Blatt unter meinem Namen schrieb – die Anonymität war mir als eine Feigheit verhaßt –, gab Anlaß zu den peinlichsten Auseinandersetzungen, und die politischen Ereignisse der Zeit benutzte er, um das, was mir heilig war, maßlos zu verunglimpfen. Ich wurde schließlich von einem so dauernden Angstgefühl gefoltert, daß ich oft meinte, vom Verfolgungswahn gepackt zu sein. Der täglich wiederholte Versuch, vor Georg heiter zu sein, mißlang immer vollständiger, und eines Tages gestanden wir einander das Unerträgliche unseres Zustandes.

»So willst du wirklich – wirklich diesen Krüppel heiraten, den man im Mittelalter der Zauberei angeklagt, und ganz gewiß verbrannt haben würde?« sagte er mit ungläubigem Lächeln.

»Ich will!« antwortete ich fest, »und wenn es sein muß, ohne den Segen der Eltern.« Da ich wußte, daß meines Vaters Heftigkeit mich nicht würde zu Worte kommen lassen, so schrieb ich ihm einen langen, liebevollen Brief, in dem ich ihm klar zu machen versuchte, daß ich alt genug sei, um nach eigener Überzeugung mein Leben zu gestalten, daß es im höheren Sinne gewissenlos und pflichtwidrig wäre, statt der eigenen Einsicht und dem eigenen Gefühl sklavisch dem Machtgebot anderer zu gehorchen, daß es schlimmer sei als töten, wenn ein Mensch den anderen zeitlebens zur Unmündigkeit und Unfreiheit verdamme.

Einen ganzen Vormittag lang schien mein Vater meinen Brief zu ignorieren, erst als ich das Haus verlassen wollte, trat er mir im Flur entgegen.

»Du bleibst!« rief er und umklammerte mein Handgelenk. »Die sechs Monate Frist, die ich dir gestellt habe, sind noch nicht [483] um – aber du zwingst mich, meine Bedingungen zu ändern. Du wirst von heute ab deine Besuche einstellen. Dieser sittenstrenge Ethiker soll mir nicht ganz und gar deine Seele vergiften.«

»Du brichst dein Versprechen, Papa« – stieß ich hervor und riß mich gewaltsam los. In demselben Augenblick griff er nach der alten Reiterpistole auf seinem Schreibtisch. –

»Einen Schritt noch, und ich schieße.« – Aber schon lief ich die Treppe hinunter – über die Straße – über den Platz, – Menschen und Wagen und Häuser sah ich wie Schatten an mir vorüberfliegen.

Wie ich zu Georg kam, – ich weiß es nicht, der gelle Aufschrei, den er ausstieß, als ich mitten in seinem Zimmer niederfiel, brachte mich zur Besinnung. Noch an demselben Abend fuhr ich zu Freunden von ihm, die mir auf alle Fälle ihr Haus schon zur Verfügung gestellt hatten. Ohne Angabe meiner Adresse teilte ich den Eltern mit, daß ich nicht mehr zu ihnen zurückkehren werde. Aber noch ehe mein Brief sie erreicht haben konnte, benachrichtigte mich Georg, daß Onkel Walter mich zu sprechen wünsche. Er erwarte mich im Reichstag. Ich ging hin. Und während im Plenarsaal die Redeschlacht um die Militärvorlage tobte, gingen wir ruhig und gemessen in der Wandelhalle auf und ab, und niemand konnte ahnen, daß sich hier ein Schicksal entschied.

»Hans war bei mir – gleich nach jener Szene. Er sprach, dramatisch wie immer, von Verstoßen, Verfluchen und dergleichen,« begann Onkel Walter in geschäftsmäßigem Ton. »Ich habe ihm erklärt, daß es unser aller Pflicht sei, einen Familienskandal zu vermeiden, und daß ich – wenn er auf seinem Standpunkt beharren wolle – meine Nichte, die Tochter meiner Schwester, in mein Haus nehmen, und daß sie dort unter meinem Schutz heiraten würde. Ilse ist, gottlob, ganz meiner Meinung. Ein Zustand, wie der bisherige, ist für alle Teile auf die Dauer unhaltbar. Von mir aus ist Hans bei Geheimrat Frommann gewesen, [484] der ihm zugeredet hat, nachzugeben, und dich und deinen Verlobten in den höchsten Tönen pries. Infolgedessen hat dein Vater sich wesentlich beruhigt. Er wird morgen meine Frau nach Pirgallen begleiten und erlaubte deiner Mutter, alle Vorbereitungen zu deiner Hochzeit zu treffen, an der er natürlich selbst nicht teilnehmen wird.«

Mir traten die Tränen in die Augen, – die Erschütterung dieses neuen plötzlichen Umschwungs war zu groß für mich!

»Du hast keine Ursache, mir zu danken,« schnitt Onkel Walter schroff jede Antwort ab, »ich tat nur meine Pflicht im Interesse der Ehre unserer Familie. Im übrigen ist es hohe Zeit, daß wir Ruhe vor dir haben.« Damit war ich entlassen.

Ich kehrte nach Hause zurück, nachdem mein Vater abgereist war.

Mit ihrem kühlsten Gesichtsausdruck empfing mich die Mutter. »Deiner Heirat steht nichts mehr im Wege,« sagte sie, »außer einer Kleinigkeit, die du natürlich vergessen hast: der Ausstattung. Wir sind, wie du weißt, nicht in der Lage, sie dir zu beschaffen, du wirst dich also mit der kleinen Summe aus der Kleveschen Familienstiftung begnügen müssen. Und was die Wohnung betrifft, so – –«

Ich mußte wider Willen lachen: »Das sind aber doch wirklich nichts als Kleinigkeiten, Mama!« unterbrach ich sie. »Wir haben, was wir brauchen, – und Georgs Wohnung ist viel zu hübsch, als daß ich sie aufgeben möchte!«

»Eine Hofwohnung – und nur drei Zimmer!« Mama kräuselte verächtlich die Lippen.

»Übergenug für uns! – du siehst: wenn das Aufgebot morgen erfolgt, können wir in vierzehn Tagen getraut werden – –«

»Selbstverständlich! – Ich werde heute noch mit euren Papieren auf das Standesamt und womöglich auch gleich zum Geistlichen gehen.«

»Zum – Geistlichen?!« Ich starrte sie verständnislos an. [485] Wir »dezidierten Nichtchristen« sollten uns geistlich trauen lassen?!

»Georg ist Atheist –«

»Schlimm genug!« rief die Mutter, »aber du heiratest unter dem Schutz deiner gläubigen Eltern und wirst es nach unserem Glauben tun – oder gar nicht.«

All meine Erklärungen und Bitten prallten an ihrem unbeugsamen Willen ab. Ich sah aufs neue die schwer erkämpfte Zukunft gefährdet. Aber als ich Georg mit vor Aufregung zitternder Stimme von der mütterlichen Entscheidung erzählte, zog nur ein leichter Schatten über seine Züge.

»Wenn deiner Mutter Herz an dieser Zeremonie hängt, so lassen wir ihr die Freude,« meinte er nach kurzem Überlegen. »Dürfen wir unser Leben und seine Aufgabe von einer bloßen Formel abhängig machen?!« Ich senkte stumm den Kopf, so recht aufrichtig hätte ich seiner Ansicht doch nicht zustimmen können.

Den nächsten Verwandten war meine bevorstehende Heirat mitgeteilt worden. Mit einer gewissen Genugtuung zeigte mir die Mutter, um deren Mundwinkel sich die Falten der Bitterkeit täglich tiefer gruben, ihre teils entsetzten, teils mitleidigen Briefe. An Tante Klothilde hatte ich selbst geschrieben; ein paar Tage vor der Hochzeit antwortete sie mir: »Was Du tust, ist Wahnsinn, ja, schlimmer noch: ein widernatürliches Verbrechen. Auf welch traurigen Abwegen Du Dich befindest, habe ich schon durch Deine Potsdamer Cousinen erfahren. Daß es aber soweit mit Dir kommen würde, hätte ich nimmer gedacht. Wolle Gott, daß meine schlimmsten Befürchtungen für die Zukunft nicht in Erfüllung gehen! Das ist der einzige Wunsch, mit dem ich Deine Heirat begleite ...«

Aber je näher ich meinem Ziele war, desto gleichgültiger ließen mich all die Nadelstiche des täglichen Lebens.

Als ich jedoch am Abend vor der Trauung zum letztenmal in die elterliche Wohnung zurückkehrte, stockte mir schon vor der [486] Türe der Atem, und in den dunkeln Räumen legte sich mir die Luft zentnerschwer auf das Herz. In dem verlassenen Zimmer des Vaters war es totenstill, selbst die Uhr tickte nicht mehr; – hatte ich – ich, die Tochter, die er am meisten liebte, ihn nicht hinausgetrieben?! Stumm und in sich gekehrt saßen Mutter und Schwester und ich um den gedeckten Tisch und zerbröckelten das Brot zwischen den Fingern. Die Lampe wollte heute nicht leuchten, und der Teekessel summte schwermütig, – groß und vorwurfsvoll sah mir zuweilen das blaue Augenpaar der Schwester entgegen, – die Mutter vermied meinen Blick; und was sie sagte, kam ihr rauh und hart aus der Kehle. In mein Zimmer trieb es mich früher als sonst. Ich legte mechanisch meine letzten zurückgebliebenen Sachen in den Koffer. Da klopfte es leise – und in den unruhigen Schein der Kerze trat Klein-Ilse mit heißgeweinten Wangen, einen Kranz von Orangenblüten in der Hand und einen weißen Schleier. Sie wollte sprechen, – sie konnte es nicht, – unaufhaltsam flossen ihr die Tränen aus den Augen; – mit einer Bewegung, die Schmerz, Haß und Liebe zugleich zu diktieren schienen, warf sie ihre Gabe auf den Tisch und war im nächsten Augenblick wieder verschwunden. Ich lächelte müde, – einen anderen Kranz hatte ich mir wohl vor langen Jahren erträumt; – fort mit allem blassen Erinnern, – draußen stand die Arbeit, stand das Leben und begehrte meiner!

Noch einmal klopfte es: ein Brief von Georg:

»Mein Liebling! Zum letztenmal sag' ich Dir aus der Ferne Gute Nacht. Von morgen ab wirst Du bei mir sein und bleiben. Eine heilige Lebensaufgabe liegt vor uns, die wir zum Wohle der Menschheit er füllen wollen, und eine, die unsere bräutliche Ehe uns persönlich auferlegt.

Nach meinem Tode kannst Du – aber ganz aufrichtig, meine tapfere Alix! – der Welt erzählen, wie ihre Lösung gelang, – anderen zur Warnung oder zur Nachahmung. Nur ein Versprechen verlange ich heute von Dir: sollte jene Liebe Dich jemals [487] gefangen nehmen, vor der die Menschen uns warnen, und die sich auf mich, Deinen Gatten, nicht richten kann – so denke, ich sei Dein Vater, und schenke mir Dein Vertrauen. Ich werde mich seiner würdig erweisen, und nie soll ein Stück Papier für Dich eine Fessel werden. In keiner Lebenslage würdest Du mich verlieren.

Dein in Zeit und Ewigkeit!

Georg.«


Und die Schatten der Vergangenheit zerstoben; ruhig und glücklich schlief ich dem Morgen entgegen.

Meine Cousine Mathilde war gekommen – auch sie mit einem Gesicht, als sollte sie an einer Beerdigung und nicht an einer Hochzeit teilnehmen. Zu Fuß gingen wir vier in die Nettelbeckstraße. Wir gingen rascher – immer rascher, als wollte einer dem anderen entlaufen. Kein Wort der Liebe war meiner Mutter bisher über die Lippen gekommen. Vor der Haustür blieb sie aufatmend stehen. »Nun hast du deinen Willen durchgesetzt,« stieß sie zwischen den Zähnen her vor.

In meinem künftigen Schlafzimmer, einem großen Raum, dessen einziges Fenster auf den dunklen Hof hinaussah, zog ich mein Brautkleid an. Kranz und Schleier lagen bereit; niemand kam, mir zu helfen. Sie waren alle vorn und schmückten den Altar! Da hört' ich eine zaghafte Stimme an der Tür: »Darf ich?«, und eine kleine Frau schlüpfte herein, verlegen und lächelnd an der großen weißen Schürze zupfend, in den roten Händen einen bunten Nelkenstrauß. Ich kannte sie flüchtig: die Frau vom Tischler nebenan war's, dem Georg aus dem Elend geholfen hatte, und der jetzt täglich kam, um sich den »Vorwärts« zu holen. »Ich konnt' doch heut nicht fehlen,« stotterte sie, »ich mußt' doch dem gnädigen Fräulein zeigen, wie mächtig wir uns freuen, meine Karl und ich! So schön ist's, daß der gute Herr Professor nu nich mehr so alleinich is, – so heilig schön, daß Sie [488] seine Frau werden!« Dabei faltete sie die Hände und sah mich aus ihren hellen runden Augen an, wie der gute Katholik ein wundertätiges Heiligenbild. Und dann nahm sie vorsichtig den Schleier und steckte ihn mir auf die Locken und legte mit ihren groben Arbeitshänden ganz leicht und zart den Kranz darauf: »Der liebe Gott segne Sie! –«

War es, weil ich aus dem Dunkel kam, oder weil helle Freudentränen mir in den Augen standen, – ich sah, als ich in Georgs Zimmer trat, nichts als Wogen goldschimmernden Glanzes. Wie Schattenbilder, die uns nichts angingen, bewegten sich die Menschen darin. Ich hörte Worte, mit denen sich mir kein Sinn verband, und leises Schluchzen, das von weit her kam. Um den Tisch hinter der schwarzen Gestalt des Pfarrers schwebte eine Woge weichen Blumendufts zu mir herüber, ein weißes Kreuz leuchtete auf grünem Grund – es hatte einst auf Großmamas Schreibtisch gestanden – und die schwarze Schrift darauf war die Traupredigt, die ich allein vernahm: »Die Liebe höret nimmer auf.« Ein paar Händedrücke fühlt' ich noch, ein paar zeremonielle Küsse auf der Stirn – Kleiderrauschen – halblautes Schwatzen – Türen schlagen – und noch einmal den grellen Ton der Glocke: Ein Telegramm. »In zärtlichster Liehe bin ich bei dir und Georg. Dein Vater.«

Dann ward es still, ganz still bei uns. Wir waren allein.

[489]
19. Kapitel
Neunzehntes Kapitel

In einem Tal des Friedens lebte ich. Sanfte Höhenzüge hüteten es vor der Welt, wie freundliche Wächter. Meine Wege kannten keine jähen Abhänge mehr, an denen der Fuß ängstlich strauchelt, nirgends drohte ein Fels, kein Habicht lauerte auf meine singenden Vögel. Die Bäche dämpften ihr Geschwätz, der Wind streichelte leise Blätter und Blumen, der Sonne Licht war wie ein mütterliches Lächeln.

Wie kam es nur, daß die Tage vorüberflossen ohne Angst – ohne Streit, daß die Stunden nicht mehr erfüllt waren von der lastenden Luft heimlichen Zornes? Und daß ich sagen durfte, was ich dachte?! Wie war es möglich, daß ich kein Kettenklirren hörte, wenn mein Fuß neue Pfade betrat, daß ich nicht allein war und mich doch niemand scheltend zurückriß, wenn ich vom Berge weit – weit in die Ferne sah? Einer war neben mir und hütete jeden meiner Schritte und ging mir zugleich voran, ein Pfadfinder.

Der Pöbel strömte herzu mit seiner Neugierde und seiner Niedrigkeit, aber unsichtbare Kräfte verschlossen ihm unser Tal des Friedens. Wir allein gingen ungehindert ein und aus. Aber ob wir gleich in der Welt weilten und unsere Schwerter kreuzten mit Krämern und Philistern, so war doch unsere Seele immer in ihm. Und seine Quellen heilten alle unsere Wunden ...

Fieberhaft rasch klopfte damals das Herz der Zeit. Sie war, wie ein geniales Kind, das über dem Reichtum seines Innern unruhig von einem der goldenen Schätze zum anderen springt.

[490] Der Kaiser hatte den Reichstag aufgelöst. Wieder einmal war der Monarch, der unter dem nivellierenden Rock des Europäers stets den mystisch-schimmernden Herrschermantel des Gottesgnadentums trug, mit dem Volk aufeinandergestoßen. Daß er es nicht begriff, nicht begreifen konnte, war weniger seine Schuld, als die des unlösbar-tragischen Widerspruchs zwischen der uralten Tradition der Könige und der zum Bewußtsein ihrer selbst erwachten Menschheit. Väter pflegen selten zu begreifen, daß ihre Kinder Menschen werden. Für ihn blieb das Volk – »mein« Volk! – das Kind, das willenlose, und immer nur waren es »Hetzer« und »Unberufene«, die sich als seine Wortführer aufspielten. Darum galt ihm das Heer – ein durch die Macht der Disziplin in das Stadium der Kindheit zurückgedrängtes Volk –, stets als »die einzige Säule, auf der unser Reich besteht,« und ein Volksverräter war, wer seine Entwicklung hemmte. Im festen Glauben an die ihm von Gott selbst gegebene Macht – »suprema lex regis voluntas« hatte er ein Jahr vorher in das goldene Buch Münchens geschrieben – verkündete er seinen Willen allen hörbar, und nahm die stummen Verbeugungen derer, die um ihn standen, als Zeichen für die allgemeine Ergebenheit.

Um die Militärvorlage tobte der Wahlkampf, der alte Parteien auseinanderriß und wie Scheidewasser die Geister voneinander trennte. In atemloser Spannung sah ich zu. Auch Egidy, der tapfere Träumer, der »Edel-Anarchist«, der keine Partei anerkannte und doch, getrieben von der unbestechlichen Wahrhaftigkeit seines Wesens, die Wahlparole der Sozialdemokratie nur in seine Sprache übersetzte, stand auf der Wahlstatt.

»Was sagen Sie dazu, daß unser gemeinsamer Freund sich zum Reichstag aufgestellt hat?« schrieb mir Wilhelm von Polenz. »Überrascht er nicht immer wieder durch seinen Mut und die Konsequenz seiner Entwicklung? Ich komme dieser Tage nach Berlin und möchte Sie gern in eine seiner Wahlversammlungen begleiten.«

[491] Wenigen Ereignissen stand ich erwartungsvoller gegenüber, als diesem ersten Besuch einer Volksversammlung!

Es war ein halbdunkler Raum, niedrig und verräuchert, in den wir eintraten. Er füllte sich nur langsam. Zuerst kam der Kreis der engeren Gemeinde Egidys, die seit seinem entschiedenen Eintritt in das praktisch-politische Leben sehr zusammengeschmolzen war; dann erschienen die vielen, die überall dabei sein müssen: sensationslüsterne Weiber, kühl-neugierige Skribenten; ganz nach vorn drängten sich die russischen Studenten und Studentinnen, die stets mit sicherem Instinkt die Luft geistiger Revolutionen wittern, und schließlich strömte es herein von Männern und Frauen, von denen ich nicht recht wußte, wohin sie gehörten. »Arbeiter!« sagte Polenz. Arbeiter?! Diese ernsten, ruhigen Menschen, deren bürgerliche Kleidung in nichts an den Kittel und das Schurzfell erinnerte?! Sie waren die stillsten, als Egidy sprach. Nur zuweilen warf einer eine ironische Bemerkung, einen derben Witz dazwischen, und die feinen Damen vorn entrüsteten sich und klatschten barbarischen Beifall, den der Redner vergebens zu beschwichtigen suchte.

»Courage hat er!« flüsterte ein blasses Mädchen mit wund gestichelten Fingern am Tisch neben mir. »Wat ick mir dafor koofe!« brummte ihr Begleiter. »Jetzt red' er uns zum Mund, weil er in 'n Reichstag will – un nachher is er doch man bloß ein Junker mehr!«

»Bahn frei! Den neuen Männern und den neuen Zeiten!« – tönte es von der Rednertribüne, »aus dem Wege räumen, was eine kulturentsprechende, Gott gewollte Entwicklung hemmt« – irgendwo pfiff einer durch die Finger –, »wir Deutschen wollen das Christentum verwirklichen« – »Quatsch!« schrie jemand – »Sst – sst!« antwortete einmütig die Menge, – »ein Reich des Friedens gründen, wo jeder – Männer und Frauen – ein Recht an das Leben hat, wo niemand hungernd daneben steht, wenn die andern schwelgen.« – Die Studenten schrien, [492] und ihre Gefährtinnen winkten mit Hüten und Taschentüchern. – »Wir sind ein mündiges Volk und werden uns aus eigener Kraft andere Zustände schaffen. Die nächsten Wochen sollen uns einen tüchtigen Schritt vorwärts bringen. Das Alte stürzt, und neues Leben blüht aus den Ruinen, – damit an die Arbeit!« Ein kurzer Beifall, wie ein plötzlich ausbrechendes Gewitter, dann Stille, – die Damen rückten an den Stühlen, die kleine Gemeinde bildete erwartungsvoll an der Türe Spalier. Da plötzlich stand das blasse Mädchen mit den zerstochenen Fingern auf der Tribüne; sie war sehr klein, ein echtes Proletarierkind, dem die Not von jeher die schwere Hand auf den Kopf gedrückt hatte, so daß es nicht wachsen konnte, und die Züge formte, so daß sie zeitlos blieben. Sie wechselte ein paar Worte mit Egidy, strich sich über den glatten, stumpfblonden Scheitel und begann mit einer Stimme zu reden, deren Ton etwas Rauhes, Knarrendes an sich hatte.

»Der Herr Referent sagte mir, daß es in seinen Versammlungen nicht üblich ist, sich zur Diskussion zu melden. Er hat mir aber erlaubt, ihm eine Frage zu stellen, die mir und manchen meiner Parteigenossen« – ein paar Journalisten riefen höhnend »Aha«, reckten die Köpfe, und klemmten sich den Zwicker auf die Nase, um die Rednerin genauer ins Auge fassen zu können – »während seiner Ausführungen auf den Lippen schwebte. Was er sagte, ist für uns nichts Neues gewesen. Es gehört seit Jahrzehnten zum eisernen Bestand der Sozialdemokratie, die dafür von seiten der herrschenden Klassen unterdrückt, verfolgt und mißachtet wird,« – ein paar Damen steckten tuschelnd die Köpfe zusammen – »die Gleichheit vor dem Gesetz, die allgemeine Einheitsschule, die Abschaffung der stehenden Heere – das alles sind Forderungen des Erfurter Programms. Und für die Befreiung des weiblichen Geschlechts aus politischer und sozialer Versklavung kämpft eine Partei von anderthalb Millionen deutschen Arbeitern, während die bürgerlichen Damen in ihren [493] Wohltätigkeitskränzchen so was nicht einmal unter vier Augen zu flüstern wagen.« – »Aber – aber!« rief eine Frauenrechtlerin kopfschüttelnd und hob die schweren Lider wie eine gut geschulte Tragödin. Ich jedoch zuckte zusammen, als müßt' ich mich persönlich getroffen fühlen. – »Und wenn der Herr Referent mit so viel dankenswertem Eifer für den gesetzlichen Arbeiterschutz eintritt, so hätte er – zur Aufklärung für all die Herrschaften, die in unsere Versammlungen doch nicht kommen – wohl ein Wörtchen darüber sagen können, daß wir es waren und sind, deren rastloser Arbeit, nach Fürst Bismarcks eigenem Ausspruch, das bißchen Arbeiterschutz zu verdanken ist, das wir haben. Den Herren da oben ist das schon zu viel, sie schreien nach Flinten und Kanonen gegen den inneren Feind und winseln nach Liebesgaben für ihre Taschen ...« Sie brach ab, ihre Stimme war kreischend geworden. Egidy stand ruhig mit verschränkten Armen und einer tiefen Falte auf der Stirn neben ihr.

»Und Ihre Frage, mein Fräulein?« frug er.

»Ach so – meine Frage« – ein verlegenes Lächeln ließ sie plötzlich ganz jung erscheinen, dann reckte sie sich, stemmte die Arme fest auf das Pult vor ihr, sah Egidy gerade ins Gesicht und sagte: »Wenn Sie dasselbe wollen, wie wir, – warum sind Sie nicht Sozialdemokrat?«

Ein spannender Moment: tausend Augenpaare bohrten sich in das blasse, erregte Gesicht Egidys. »Das hab' ich gefürchtet« – flüsterte Polenz neben mir.

»Ich habe den Soldatenrock ausgezogen um meiner Überzeugung willen – danach gibt es für mich kein Opfer mehr, das ich ihr nicht leichten Herzens bringen könnte. Ich bin nicht Sozialdemokrat, weil Ihre Partei das tiefste Bedürfnis der Menschenseele, das religiöse, niederhöhnt und niedertrampelt – –«

»Das ist gelogen!« schrie eine Stimme ihm entge gen; er wurde noch um einen Schein blasser.

»Ich lüge nie,« dröhnte es in den Saal. »Und ich bin nicht [494] Sozialdemokrat, weil Ihre Partei für eine gute Sache mit schlechten Waffen kämpft –«

Ein allgemeiner Tumult verschlang, was er noch sagte. »Bravo« – »sehr richtig« klang's von der einen Seite – »Pfui« dröhnte es langgedehnt aus dem Hintergrunde. Der Polizeileutnant griff nach dem Helm, Egidy stand regungslos wie eine Mauer und starrte auf die sich erschrocken hinausdrängende Menge, die kleine Näherin suchte sich vergebens Gehör zu schaffen.

Ein Mann, auf eine Krücke gestützt, wirre schwarze Haarsträhnen um gelbe, eingefallene Züge, brach sich in diesem Augenblick Bahn bis zur Tribüne. »Genosse Reinhard, – Gottlob«, die kleine Näherin streckte ihm von oben die Hand entgegen, ein paar andere sprangen helfend herzu, und neben ihr stand er.

»Genossen –« wie unter einem Zauberschlag schwieg alles, – der Polizeileutnant legte den Helm auf den Tisch, die sich ins Freie Schiebenden wandten sich um und blieben stehen, in Egidys steinerne Ruhe kehrte das Leben zurück; – »es ist unser unwürdig, eine Versammlung durch Lärm zu stören, in der wir nichts als Gäste sind. Noch weniger haben wir einen Grund, uns darüber aufzuregen, daß Herr von Egidy die Frage der Genossin Bartels ehrlich beantwortet hat. Mir war seine Antwort vielmehr höchst interessant. Alle jene bürgerlichen Ideologen, von den Ethikern an, die die Welt durch die Moral erobern wollen, bis zu den Christlich-Sozialen um Naumann würden uns eine ähnliche haben geben können. Und weil Sie so ehrlich sind, Herr von Egidy,« – er wandte sich mit einer kleinen Kopfneigung zu dem neben ihm Stehenden, »darum lassen Sie sich auch unsere ehrliche Antwort gefallen: rechnen Sie nicht auf unsere Stimmen. Sie sind ein braver Mann – Sie mögen allerlei brave Leute hinter sich haben, – aber unsere Sache bedarf solcher Kerle, wie wir sind – die den Dreschflegel und den Hammer – ›die schlechten Waffen!‹ – zu führen gelernt haben, denen die Maschine die Glieder zerriß,« – er hob die Krücke wie [495] eine Trophäe – »an deren Leibern die Tuberkelbazillen fressen« – er reckte den mageren Arm in die Höhe. »Neunzehnhundert Jahre haben wir gewartet, daß Eure christlichen Liebes- und Barmherzigkeitspredigten uns helfen möchten, – jetzt ist unsere Geduld erschöpft. Und wenn Euch unsere Waffen nicht ritterlich genug sind: Ihr selbst seid daran schuld, daß wir sie brauchen müssen!« –

Die Augen des Redners weiteten sich, sie sahen ekstatisch in die Ferne, hinweg über die Menschen unter ihm, die Krücke fiel krachend zu Boden, und die Arme streckten sich aus. Still war's sekundenlang, man hörte nur die eigenen Atemzüge, – dann brach es los: »Hoch Genosse Reinhard« – »Hoch die Sozialdemokratie« – »Nieder der Militarismus«, – und plötzlich vereinigten sich die durcheinanderschreienden Stimmen zu einem einzigen vollen Gesang: der Schritt heranrückender Massen, die überwältigende Einheit eines beherrschenden Gefühls, die rücksichtslose Kraft der Jugend lag darin.

»Kommen Sie« – sagte Polenz leise. Wie aus einem Traume sah ich auf. Der Saal war schon halb leer. Nur droben auf der Tribüne stand Egidy noch mit der kleinen Näherin.

»Lassen Sie mich« – antwortete ich hastig und trat rasch auf die beiden zu. »Darf ich einmal zu Ihnen kommen?« – ganz zaghaft nur sprach ich dem jungen Mädchen meine Bitte aus. Sie sah mich an, noch mit dem Glanz strahlender Freude auf den Zügen: »Sicherlich!« – Und ich notierte ihre Adresse.

Nicht schnell genug konnte ich zu Hause sein und ließ mir nicht Zeit, Hut und Mantel abzulegen, um Georg zu erzählen, was ich erlebt hatte. Er hörte mich lächelnd an. »Was ist mein Liebling für ein feuriger Redner,« sagte er, als ich endlich schwieg.

»Ich wollte, ich wäre es! Auf alle Tribünen der Welt würde ich steigen und die steinernen Herzen warm machen und die Schlafenden aufrütteln ...« Mit einem tiefen Seufzer warf ich mich in den Stuhl.

[496] »So versuch es doch einmal ...«

Ich sprang auf: »Meinst du?!«

Schon am nächsten Morgen ging ich zu Martha Bartels. Weit draußen im Osten wohnte sie. Durch zwei schmutzige Fabrikhöfe mußte ich hindurch bis zu dem niedrigen Häuschen mit der wackligen Holztreppe, die an einem Stall vorbei hinauf in ihre Wohnung führte. Das Rattern der Nähmaschine wies mir den Weg; eine laute gleichmäßig lesende Männerstimme begleitete es. »... die Befreiung der Arbeiterklasse kann also nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein,« hörte ich durch die Türe. Ein graubärtiger Alter öffnete mir. »Laß die Dame nur herein, Vater,« rief Martha Bartels aus dem Zimmer, »das ist sicher die Frau Professor« – Mit ausgestreckter Hand kam sie mir entgegen.

Ein freundlicher Raum war's, in den ich eintrat: auf den beiden Betten lagen rotgewürfelt und glattgestrichen die Kissen, vor dem alten braunen Sofa mit dem sorgfältig geflickten Bezug stand auf drei geschwungenen Beinen ein runder Tisch, auf dem nicht ein Stäubchen sich zeigte. Nur um die Maschine am Fenster bauschte sich weiße Leinwand, sonst herrschte peinlichste Ordnung überall. Als einziger Schmuck prangten die Bilder von Marx und Lassalle an den Wänden.

Mit Fragen begann ich das Gespräch; Vater und Tochter ergänzten einander im Erzählen: wie er einst, als kleiner Schuhmachermeister, lange und hartnäckig den Kampf gegen die übermächtige Fabrik geführt habe, wie sie – früh mutterlos – schon als Schulkind mit verdienen mußte und der kleine Haushalt überdies auf sie allein angewiesen war.

»Damals haderte ich mit dem Geschick,« sagte der Alte, »an den lieben Gott zu glauben hatte ich längst aufgehört, und oft wußt' ich nicht, sollt' ich den Fabrikanten erschlagen oder lieber mit dem Kinde zusammen dem elenden Leben ein Ende machen.«

»In der Werkstatt, wo ich mit immer müden Augen und [497] einem Stumpfsinn, der mir bald alles gleichgültig machte, Knopflöcher nähte, – Tag aus, Tag ein, vom grauen Morgen bis tief in die Nacht immer bloß Knopflöcher! –« fuhr die Tochter fort, »lernte ich einen Bügler kennen, der nahm mich zuerst in Versammlungen mit und steckte mir heimlich Zeitungen und Flugblätter zu. Wie mir da die Augen aufgingen!«

Der Alte streichelte mit der runzligen Hand die Wange der Tochter. »Sehen Sie, und damit hat mir die Kleine das Leben gerettet! Wir waren auf einmal nicht mehr allein, und der Mühe wert war's auch für uns arme Leute zu leben! Hier in diesem Zimmer sind wir während des Sozialistengesetzes oft genug mit den Genossen zusammen gekommen, und draußen in der Fabrik, wo ich arbeitete – der Meisterhochmut war mir glücklich vergangen! –, und in der Werkstatt, wohin die Martha ging, haben wir ganz im stillen immer neue Freunde geworben.«

Die Tochter lachte: »Jetzt geht's dem Vater eigentlich viel zu friedlich zu! Sie hätten ihn sehen sollen, wie er mit seinem ehrlichen Gesicht den Spitzeln eine Nase drehte und unsere Zeitungen überall einzuschmuggeln verstand! – Na, lange dauert's nicht mehr, und er wird sich seiner alten Künste erinnern müssen!«

Und dann erfuhr ich von ihrer jetzigen Tätigkeit: wie sie für ihre Gewerkschaft auf Agitationsreisen ging, wie sie in täglicher Kleinarbeit für die Partei die Kollegen und Kolleginnen zu gewinnen suchte, wie sie im Arbeiterinnenverein die Proletarierfrauen durch Vorlesen aus Büchern und Zeitschriften zu geistigen Interessen erzog.

»Wo aber nehmen Sie bloß die Zeit und die Kenntnisse her?« frug ich mit steigendem Erstaunen. »Sie müssen doch wohl verdienen, wie ich sehe!«

»Gewiß muß sie das und für zwei sogar!« antwortete der Vater, »mich will sie durchaus nicht mehr in die Fabrik gehen lassen.«

[498] »Er ist mir zu nötig!« unterbrach sie ihn. »Er liest mir vor, wenn ich nähe, und wenn wir Feierabend ma chen, brauch' ich ihn wieder. Er hat eine bessere Schulbildung als ich und erklärt mir, was ich in unseren Büchern nicht verstehe.« Sie sah nach der Uhr: »Seien Sie nicht böse – aber jetzt muß ich fort, – wir tragen heut in unserem Bezirk Wahlflugblätter aus –«

Wir gingen zusammen. Unterwegs erzählte sie mir von ihrem Frauenverein, von den polizeilichen Verfolgungen, denen er ausgesetzt wäre. »Sie sollten mal hinkommen, Frau Professor!«

»Mit Freuden, wenn ich darf! Aber – bitte – nennen Sie mich nicht ›Frau Professor‹, Frauentitel sind mir zuwider, wenn sie nicht selbst erworben sind.«

Sie blinzelte mich von der Seite an: »Ja – wie soll ich Sie sonst anreden – ich verschnappe mich am Ende noch mal und sage: Genossin!«

Sie hatte ihr Ziel erreicht. Vor einer kleinen Kneipe strömten die Menschen zusammen, Frauen und Männer, junge und alte Leute. Sie grüßten einander, wie lauter Freunde. Still trat ich beiseite. Wie sie alle fröhlich waren und siegesbewußt! Ein paar mißtrauische Blicke streiften mich, mit spöttischem Augenzwinkern gingen Arm in Arm ein paar Mädchen an mir vorüber. Und mit jähem Schmerzgefühl empfand ich: daß ich hier eine Fremde war.

Acht Tage später begleitete ich Georg zum Wahllokal. Während er im Rollstuhl vor der Tür stand, streckten sich ihm von allen Seiten die Hände mit den Wahlzetteln entgegen. »Wir wählen den Sozi,« sagte er laut und lustig, »meine Frau und ich!«

Aber der Rollstuhl ging nicht über die Stufen. Der Diener, der ihn schob, mußte den Gelähmten hineintragen. Ein Auflauf Neugieriger entstand. Ich deckte rasch die schwarze Pelzdecke über den armen, schmalen Körper – »Frauen raus!« sauste mich eine rauhe Stimme an, kaum daß ich den Fuß auf die Schwelle[499] setzte. Ich ballte unwillkürlich die Fäuste und schritt mit zurückgeworfenem Kopf an dem Schreier vorbei in den Saal, wo ich vor dem Tisch des Bureaus stehen blieb, bis Georg seinen Zettel in die Urne geworfen hatte.

Daß wir uns innerlich mit wachsender Sicherheit zum Sozialismus bekannten, spiegelte sich in jeder Nummer unserer Zeitschrift wieder. Wir hatten des alten Bartels Selbstbiographie veröffentlicht und, dadurch angeregt, durch die sozialdemokratische Presse Aufforderungen zur Einsendung solcher Lebensbilder verbreiten lassen. Von allen Seiten kamen sie uns zu, und wir erwarteten Wunder von den Folgen der in ihrer Einfachheit doppelt erschütternden Bekenntnisse. Aber statt dessen liefen aus den Mitgliederkreisen der Ethischen Gesellschaft Klagen um Klagen ein über den »aufreizenden, unethischen Ton«, den wir anschlügen, und Professor Seefried, Georgs alter Gegner, erschien in Berlin, um durch einen öffentlichen Vortrag die politische Neutralität der Gesellschaft aufs neue scharf zu betonen und sich in ihrem Namen gegen die »einer höheren ethischen Welt- und Lebensauffassung widerstreitenden Ideen des Kollektivismus« zu erklären. Eine heftige Debatte in unserer Zeitschrift schloß sich daran; und in den Sitzungen und Versammlungen der Gesellschaft traten die tiefen geistigen Gegensätze zwischen Sozialisten und Antisozialisten trotz aller Aufrechterhaltung ethischer Formen immer deutlicher hervor. Ich beteiligte mich bald genug nur aus Rücksicht auf Georgs Wünsche an den Vereinsversammlungen.

»Wir müssen uns vor dem zweisamen Egoismus hüten, Kindchen,« mahnte er oft; »das hieße den Frieden und die geistige Eintracht unseres persönlichen Lebens höher stellen als unsere Sache.«

Und so mußt' ich denn so manchen Abend opfern und kam doch fast immer mit einem Gefühl peinlicher Leere nach Hause. Gearbeitet wurde, – zweifellos. Da war eine kluge, warmherzige [500] Frau, die eine Auskunftsstelle für Bedürftige und Verlassene gegründet hatte und der Sorge für die vielen Fragenden all ihre Zeit opferte; da war eine andere, die voll tiefen Erbarmens tagaus, tagein denen nachging, die eigene Leidenschaft und männliche Lüsternheit in des Lebens tiefste Abgründe riß; eine Gruppe gab es, die zu einer künftigen Volksbibliothek die Bücher Stück für Stück mühselig zusammentrug. Und Reden wurden gehalten, zu Tagesfragen Stellung genommen, und manch ein Schwankender sicherlich auf neue Wege geführt.

Aber was galt das alles mir? Entsprach dieser Verein mit seinen paar hundert Mitgliedern jener großen Bewegung, wie ich sie erwartet hatte? Vergebens erinnerte mich Georg daran, daß wir im ersten Anfang unserer Entwickelung stünden. Mir kam es vor, als ob die mit vielem Eifer ergriffene praktische Arbeit innerhalb der Gesellschaft den großen starken Strom der Idee in hundert klägliche Wasserleitungen teile, deren jede grade nur ausreichte, ein paar dünne Süppchen zu kochen.

Oder fehlte es unserer Sache nur an den richtigen Menschen? Unsere Zeitschrift und unser Haus wurden allmählich der Mittelpunkt, um den sich scharte, was unseres Geistes war. »Eine gefährliche Nebenregierung!« hatte Dr. Jacob mir einmal mit sauersüßem Lächeln gesagt, – derselbe Dr. Jacob, der, wie mir dienstfertige Freunde berichteten, jedem anvertraute, daß Fräulein von Kleve den Professor von Glyzcinski nur geheiratet hätte, um eine Rolle zu spielen.

Selten nur waren wir nachmittags an unserem Teetisch allein. Georgs Beziehungen zu den Gelehrten des Auslands zogen uns Gäste aus aller Herren Länder zu; Amerikaner und Engländer fehlten nie; aber auch Russen, Rumänen und Japaner fanden sich ein: Studenten und Studentinnen, die heißhungrig in wenigen Monden Deutschlands ganze Kultur in sich aufzunehmen verlangten, Professoren, die dem alten Witzblattypus [501] in nichts mehr glichen, für die das Leben Wissenschaft und die Wissenschaft Leben war.

Ein geistvoller Kopf, mit den Spuren mancher Säbelmensur auf den Zügen, tauchte häufig zwischen ihnen auf: der des Sozialdemokraten Schönlank. Niemand verstand wie er, die Ideen der Partei darzustellen und zu verteidigen, und stets umgab ihn eine aufmerksame Zuhörerschaft. Auch Egidy kam und Martha Bartels und ihr Vater. Eines Tages brachte sie sogar den lahmen Reinhard mit, den Professor Tondern, unser sozialpolitisch am meisten links stehendes Vorstandsmitglied, sofort mit Beschlag belegte, um mit der Gewerkschaftsbewegung Fühlung zu gewinnen. Auch der Leiter der Neuen Freien Volksbühne war ein häufiger Gast, und manch ein junger Theologe, voll ehrlicher Begeisterung für die neuen Aufgaben, die der christlich-soziale Kongreß den Vertretern der Kirche stellte, fand den Weg zu uns. Bertha von Suttner erschien, sobald sie in Berlin war, beseelt von jenem strahlenden Glauben an die Sache, der das Kennzeichen geborener Reformatoren ist, und über den nur engherzige Alltagsleute lächeln. Denselben heiteren Optimismus, der die ganze Atmosphäre in starke Schwingungen zu versetzen scheint, brachte Frances Willard in unseren Kreis, die tapfere Amerikanerin, die auf dem Feldzug gegen Laster und Not entdeckt hatte, daß ihrem Geschlecht zu seiner Durchführung die Waffen fehlten, und die nun mit einer Energie ohnegleichen den Gedanken des Frauenstimmrechts von einem Ende der Welt zum anderen trug.

So verschiedenartig die Menschen waren, die über den dunkeln Hof und die finstere Treppe den Weg in unsere hellen Zimmer fanden, – zweierlei war ihnen allen gemeinsam: die Überzeugung, daß unsere Welt sich das Lebensrecht verscherzt habe, und die Kraft, die Welt der Zukunft mit der Hingabe des ganzen Lebens aufzubauen.

»Ist das nicht recht eigentlich unsere Ethische Gesellschaft?« [502] sagte Georg eines Tages, als unsere Gäste all ihre Reformpläne und Umsturzideen miteinander ausgetauscht hatten und im Rausch der eigenen Begeisterung bis zum späten Abend bei uns geblieben waren. »Von allen Seiten bohren sie schon den Felsen an, der unser Nordland vom Zukunftssüden trennt!« Er strahlte wieder wie ein Kind.

»Ich möchte auch bohren, Georg!« meinte ich – eine tiefe Unzufriedenheit mit mir selbst hatte mich innerhalb dieses Kreises selbständig schaffender Menschen ergriffen –, »nicht immer bloß nachschleichen, wo die anderen schon den ersten Schritt getan haben.« Schon längst beschäftigte mich der Gedanke, daß die Frauen vor allem berufen seien, Trägerinnen der sozialen Bewegung zu werden, die notwendig zum Sozialismus führen müsse.

»Unsere politische Rechtlosigkeit, unsere wirtschaftliche Abhängigkeit, unsere soziale Unterdrückung stellt uns auch ohne unser Wissen und Wollen auf die Seite aller Entrechteten. Unsere mütterlichen Empfindungen machen uns überdies hellsichtiger für Not und Elend. Hätten wir die Frauen – wir hätten die Welt!« Ich lief aufgeregt im Zimmer umher – »das ist eine Aufgabe, die sich der Mühe lohnt – –«

»Und die meine Alix erfüllen kann,« unterbrach mich Georg, mir beide Hände entgegenstreckend.

Gleich am nächsten Tage ließ ich mich in die Vortragsliste der Ethischen Gesellschaft einzeichnen. Da es immer an Rednern fehlte, wurde meine Anmeldung mit Freuden begrüßt. Und nun ging ich an die Vorbereitung. Durch amerikanische und englische Frauenzeitschriften war ich über den Stand der Bewegung im Ausland vollkommen orientiert; der »Vorwärts«, die Arbeiterinnenzeitung, die Versammlungen des Arbeiterinnenvereins, die ich mit Martha Bartels besuchte, hatten mir ein Bild von der Lage der Proletarierinnen, ihren Wünschen und ihren Bestrebungen gegeben; nur von der deutschen Frauenbewegung wußte ich noch nicht viel.

[503]

Seit einem halben Jahrhundert kämpfte sie um die Eröffnung bürgerlicher Berufe, um höhere Bildung. Sie kämpfte?! Ach nein; sie hatte in Vereinen und Vereinchen Resolutionen und Petitionen verfaßt, – aber die Welt außerhalb ihrer Kreise wußte nichts von ihr. Ich las die Broschüren von Helma Kurz; ich besuchte Frau Vanselow, die ich bei Egidy kennen gelernt hatte, und deren Ruf, von allen Frauenrechtlerinnen die radikalste zu sein, sie mir sympathisch machte. Aber die Tendenzen ihres Vereins und seines kleinen Organs waren keine anderen als die der Kurz.

»Ich begreife nicht, wie Sie bei solchen Forderungen stehen bleiben können!« rief ich, als Frau Vanselow mir ihre Prinzipien auseinandersetzte. »Und wenn wir schon Pastoren, Professoren und Advokaten werden können, was haben wir dann besonderes als einige Berufsphilister und Bildungsproleten mehr! Damit ist die Frauenfrage ebensowenig gelöst, wie sie etwa bei den Arbeiterinnen gelöst ist, die längst das Recht haben, zu schuften wie die Männer.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung – ganz und gar« – nickte Frau Vanselow eifrig und hob die schweren Lider von den berühmt schönen Augen – »aber wir müssen vorsichtig – sehr vorsichtig sein, um zunächst nur einzelne Konzessionen zu erringen. Sie sind jung, – kämpfen Sie erst so lange Jahre wie ich, meine liebe Freundin, und Sie werden einsehen, daß wir Frauen nur Schritt für Schritt vorgehen dürfen. Ich besonders habe schwer zu ringen – niemand versteht mich – meine Vereinsdamen sind die Ängstlichkeit selbst –«, sie griff nach meiner Hand und behielt sie in der ihren – »wie froh wäre ich, in Ihnen eine frische Hilfskraft gewinnen zu können!« Ich errötete erfreut; hier bot sich mir eine neue Gelegenheit, um zu wirken. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen,« antwortete ich, »aber ehe ich mich Ihnen verpflichte, sollten Sie erst abwarten, was ich leisten kann.«

[504] Mit steigendem Eifer arbeitete ich an meinem Vortrag. Ich lernte ihn Satz für Satz auswendig. Am Abend vor der Versammlung war »Generalprobe« vor Georg als meinem einzigen Zuhörer. »Wenn ich mich schon vor dir so fürchte, wie soll das bloß morgen werden!« sagte ich, und das Papier zitterte in meinen Händen. Da klingelte es, – ich hörte eine Stimme, die mir in diesem Augenblick gespannter Erregung die Tränen in die Augen trieb: mein Vater! Ich hatte seine Rückkehr noch nicht erwartet, und nun stand er vor mir – sehr gealtert, ganz blaß, die Hände schwer auf den Stock stützend, – wie an den Boden gewurzelt.

»Papa!«

»Mein liebes Herzenskind!« Ich lag in seinen Armen. Und dann nahm er meinen Kopf zwischen seine Hände und sah mich an. »Wie rosig du aussiehst – und wie – wie glücklich!« Mit einer raschen Bewegung näherte er sich Georg und reichte ihm die Hand. »Verzeiht mir, Kinder, verzeiht! – Und du, hab' Dank, tausend Dank, daß ich meine Alix so wiederfinde!« Er konnte sich nicht trennen; jedes Bild an der Wand, jeder Zimmerwinkel mußte einmal und noch einmal besichtigt werden. »Wie hübsch und friedlich es bei euch ist!« Er legte mit einem Seufzer die Hand über die Augen. »Da werdet ihr mich so leicht nicht mehr los werden!«

Von allem erzählte er, was ihn in den Monaten seit unserer Trennung beschäftigt hatte, und vergaß in der Lebhaftigkeit rasch, wen er vor sich sah: »Diese Rasselbande, die die Militärvorlage ablehnte, – und dann diese infamen Wahlen – –.«

Wir schwiegen, aber ein harter Zug trat auf Georgs Gesicht. Er räusperte sich vernehmbar. Der Vater stockte. »Ach soo –« sagte er gedehnt, biß sich heftig auf die Lippen und stand auf. Ich begleitete ihn hinaus. An der Türe hielt er meine Hand noch einmal fest: »Auf allen Litfaßsäulen steht dein Name – mich hat das nicht wenig entsetzt – du wirst kaum auf mich [505] rechnen in der Versammlung – Mama wird mir berichten. – Gute Nacht, mein Kind.«


Am Abend darauf trat ich in den hellen, dicht gefüllten Saal des Langenbeck-Hauses. Einen Augenblick lang schien die Erde zu schwanken, die Lichtertanz ten einen wahnsinnigen Ringelreihen, und mir war, als müßten die vielen Menschen auf den amphitheatralisch hoch aufsteigenden Bänken wie eine Lawine auf mich niederstürzen. Da fiel mein Blick auf Georg: seine strahlenden Augen ruhten fest auf mir, und ein Gefühl sicherer Ruhe überkam mich. Ich sprach zuerst nur für ihn. Allmählich aber strömte etwas mir entgegen wie ein lebendig gewordenes Verstehen, – ich fühlte die Menschen, die unter meinen Worten ein Mensch geworden waren – mit einem klopfenden Herzen, einem horchenden Verstand.

»Jedes Stück unserer Kleidung, von der Leinwand an bis zu dem Seidenkleid, von den Nägeln unserer Stiefel bis zu dem feinen Leder unserer Handschuhe könnte von hohläugigen, müden Frauen, von blassen, um ihre Jugend betrogenen Mädchen qualvolle Leidensgeschichten erzählen. Der hohe Spiegel, der das Bild der schönen, glücklichen Frau widerstrahlt, hat vielleicht ein keimendes Leben vernichtet ... Und der Damast, der unsere Tafeln deckt, – Leopold Jakoby singt von ihm: ›Daraus hervor grauenhaft – das Gespenst des Hungers grinst mich an – über den Tisch ...«

Ein Aufseufzen ging durch den Saal wie eine schwere Woge, die mich trug – mich emporhob – hoch – immer höher, so daß meine Stimme über alle hinweg in die Ferne drang.

»... die Prostitution ist das einzige Privilegium der Frau ... Ein Mädchen darf, solange es minorenn ist, ohne die Einwilligung ihres Vaters nicht heiraten, aber es darf sich preisgeben, ohne daß sein Vater es daran hindern kann. Die Frau darf – bei [506] uns in Deutschland! – nicht Medizin studieren, weil man für ihre Weiblichkeit so zärtlich besorgt ist und ihre Sittlichkeit hüten will, aber sie darf sich einen Gewerbeschein verschaffen, der sie berechtigt, sich und andere physisch und moralisch zugrunde zu richten. Sie darf – bei uns in Deutschland! – an keiner öffentlichen Wahl sich beteiligen, aber sie darf von ihrem durch den Verkauf ihres Körpers schmählich erworbenen Geld dem Staate Abgaben zahlen ...«

Jetzt war es der Sturm, der von drüben mir entgegenschlug, – der Sturm der Empörung, und mein war die Macht, ihn zu lenken, wo es Ruinen einzureißen, dürre Bäume zu stürzen galt!

»... Was tun? fragen wir mit dem großen russischen Dichter, dessen Werk nur ein Ausdruck des Gefühls von Hunderttausenden ist. Wir werden nicht mehr petitionieren, sondern fordern, uns nicht mehr hinter den verschlossenen Türen unserer Vereine über unsere frommen Wünsche unterhalten, sondern auf den offenen Markt hinaustreten und für ihre Erfüllung kämpfen, gleichgültig, ob man mit Steinen nach uns wirft ...«

Brausender Beifall unterbrach mich, – ich sah nur Georg, der weit vorgebeugt in seinem Rollstuhl saß und die Augen nicht von mir ließ.

»... Aber was wir auch fordern mögen zugunsten unseres Geschlechts, das die wirtschaftliche Entwicklung aus dem Frieden des Hauses hinaus in den Kampf ums Dasein trieb, – man wird uns mit Phrasen und kläglichen Pflastern für unsere Wunden abspeisen, solange die politische Macht uns fehlt ...«

Erneuter, dröhnender Beifall, – aber von irgendwoher mischte sich ein giftiger, zischender Laut hinein.

»... Von der geistigen Inferiorität der Frau höre ich große und kleine Leute sprechen, die, darauf gestützt, unsere Forderung der politischen Gleichberechtigung glauben ablehnen zu dürfen. Aber erst wenn die Frauen ebenso viele Jahrhunderte lang wie die Männer die Hilfe der Wissenschaften, die Schulung des [507] Lebens und den Sporn des Ruhmes genossen haben werden, wird es an der Zeit sein, zu fragen, wie es mit ihrem Verstande steht. Das weibliche Geschlecht – so wirft man weiter ein – habe noch kein Genie hervorgebracht. Hat man bei den Negern Amerikas auf das Genie gewartet, ehe man ihnen politische Rechte gab? Hat man ihre Gewährung beim Mann von einer Prüfung seiner Geisteskräfte abhängig gemacht? ... Sie können der Wehrpflicht nicht genügen, darum kommt den Frauen das Stimmrecht nicht zu, lautet das letzte Argument der in die Enge getriebenen Gegner. Ich aber frage: der Mann, der sein Leben vor dem Feinde in die Schanze schlägt, und die Frau, die mit Gefahr ihres Lebens dem Staate die Bürger gebiert – haben sie nicht die gleiche Berechtigung über das Wohl und Wehe des Vaterlands zu entscheiden? Jede dreißigste Frau stirbt an diesem ihrem natürlichen Beruf, und sie wird trotz aller Fortschritte der Wissenschaft auch dann noch in Lebensgefahr schweben, wenn der Völkermord längst der Erinnerung angehören wird ...«

Ich hatte geendet – mir war, als versänke ich in einem vom Orkan gepeitschten Ozean. Es dunkelte mir vor den Augen – ich fühlte Händedrücke – sah in hundert unbekannte Gesichter, – – vor all diesen fremden Menschen hatte ich eben gesprochen?! Wie war das nur möglich gewesen?! – Meine Mutter stand auf einmal vor mir, mit heißem, erregtem Gesicht – meine Schwester umarmte mich stürmisch. – An der Tür drängte sich Martha Bartels durch die Menge – ich fühlte nur, wie sich ihre heißen Finger schmerzhaft fest um die meinen preßten. Endlich – endlich sah ich Georg! Was galten mir die anderen alle – von ihm allein erwartete ich die Wahrheit: seine Augen waren feucht – er beugte den Kopf über meine Hand und küßte sie.

Die Menschen hatten sich verlaufen. Fast unbemerkt traten wir in die stille, dunkle Ziegelstraße, und leise rollten die Räder des Fahrstuhls über das Pflaster. An einer Straßenecke legte [508] sich mir eine Hand auf die Schulter. Erschrocken wandte ich den Kopf: Mein Vater stand vor uns. »Ich hab's zu Hause nicht ausgehalten, – und nun ließ ich all deine Zuhörer Revue passieren. Wie stolz bin ich auf deinen Erfolg!« Und er ging den ganzen langen Weg durch die Karlstraße und den nachtdunkeln Tiergarten mit uns.

Diese Nacht schlief ich nicht: die alten wachen Kinderträume umgaukelten mich. Strahlte nicht auf meiner Fahne, wie auf der Johannas von Orleans, das Bild der Mutter des Menschen? Heute hatte ich sie entfaltet – im Sturme würde ich sie zum Siege führen!

Als mir Professor Tondern am nächsten Tage spöttisch von der »Premieren-Publikums-Begeisterung« sprach, »an deren Feuer sich kaum ein Nachtlicht anzünden läßt«, empfand ich seine Bemerkung nur als Ausfluß seiner pessimistischen Weltanschauung. Georg bestärkte mich darin.

»Ihr Unglauben an die Menschennatur lähmt Ihre Tatkraft,« sagte er ihm.

»Und Ihr weltfremder Idealismus wird zwar nicht Sie, wohl aber Ihre Frau in einem Meer von Enttäuschung untergehen lassen,« antwortete er ärgerlich und fuhr sich nervös mit allen zehn Fingern durch die langen, roten Haare.

»Warum halten Sie mich allein für gefeit?« frug Georg lächelnd.

»Weil Sie vom Frieden Ihres Zimmers aus die Welt betrachten – und Ihre Frau mit beiden Füßen zugleich mitten in den Strudel springt –«, Professor Tondern ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. »Weil Ihnen gegenüber alle bösen Triebe der lieben Nächsten sich in den dunkelsten Winkel verkriechen – Verleumdungssucht, Ehrgeiz, Neid – und sie Ihrer Frau um so zähnefletschender an die Gurgel springen ...«

Ich sah ihm fest in die Augen: »Sie würden so nicht sprechen, wenn Sie nicht gewichtige Gründe hätten. – Trotzdem: ich will[509] – ich darf nicht Ihrer Ansicht sein! Auf meinem Glauben an die Menschen beruht meine Kraft.«

Er nagte nervös an der Unterlippe. »Glauben Sie an die Sache, – das wäre besser für Sie und uns!«

Frau Vanselows Besuch unterbrach unser Gespräch. Sie hatte nicht Worte genug, um die Größe meines Erfolgs zu schildern. »Und nun dürfen Sie sich uns nicht mehr entziehen,« sie richtete ihre feucht gewordenen Augen mit einem Ausdruck zärtlichen Flehens auf mich, »sie müssen ihren Vortrag in unserem Verein wiederholen!«

»Nein, verehrte Frau!« Meine Energie ließ mich fast erschrecken. »Ich wiederhole weder diesen Vortrag, noch spreche ich vor Vereinsmitgliedern. Veranstalten Sie eine Volksversammlung! Wir müssen die gewinnen, die noch nicht die Unseren sind, – wir müssen vor der breitesten Öffentlichkeit die Forderung des Frauenstimmrechts erheben!«

Sie starrte mich entgeistert an: »Eine Volksversammlung?! Aber das ist ja – das ist ja – sozialdemokratisch!« Es bedurfte jedoch nur eines kurzen Zuredens, an dem Georg sich lebhaft beteiligte, um sie zu gewinnen.

»Sie haben ganz und gar meine Ansicht ausgesprochen, mein teuerster Herr Professor, und der Verein Frauenrecht wird es sich nicht entgehen lassen, auch in diesem Fall an der Spitze zu schreiten! – Aber nicht wahr – meine liebe junge Freundin –, Sie werden Ihre Wünsche vor unserem Vorstand selbst vertreten?«

Ich versprach ihr, was sie wollte, und wandte mich, als sie fort war, mit einem triumphierenden »Nun?!« an Tondern. Er fuhr, wie erschrocken, aus seiner Schweigsamkeit auf: »Erlassen Sie mir die Antwort! Sonst entdecken Sie am Ende noch Ihre Seelenverwandtschaft mit S. M., und verlangen von dem Nörgler, daß er den Staub von seinen Pantoffeln schüttele!« Und mit überstürzter Hast empfahl er sich.

[510] Frau Vanselow führte mich im Vorstand des Vereins Frauenrecht ein: »Sie werden sich mit mir freuen, meine Damen, daß es mir gelungen ist, diese junge vielversprechende Kraft gerade unserem Vereinge wonnen zu haben.« Die Damen begrüßten mich mit neugierig-kühler Reserviertheit. Ich war doch wieder in recht beklommener Stimmung. All diese Frauen, die seit Jahrzehnten in der Bewegung standen, die an Wissen, an Erfahrungen, an Verdiensten reich waren, sollte ich – ein Neuling auf allen Gebieten – meinem Willen gefügig machen!

Aber je öfter ich mit ihnen zusammenkam – und es bedurfte zahlreicher Sitzungen, um nur um kleine Schritte vorwärts zu kommen –, desto mehr erstaunte ich. Es war, als ob der Verein um ihr Denken und Streben eine Mauer gezogen hätte. Von dem, was jenseits lag, wußten sie nichts, und nur widerstrebend ließen sie sich von mir an einen Ausguck ziehen, von wo aus sie den Feminismus im Ausland, seine großen Kämpfe und Siege und den Stand der Stimmrechtsbewegung überschauen konnten.

»Das ist alles ganz schön und gut, aber nichts für uns deutsche Frauen,« meinte kopfschüttelnd ein rundliches, bebrilltes Persönchen, dessen Doktortitel sie mir äußerst interessant erscheinen ließ; »wir würden das Wichtigste gefährden: die endliche Zulassung der deutschen Frauen zum Medizinstudium, wenn wir so bedenkliche Fragen wie die politischer Rechte berühren wollten!«

»Und unser Verein, der sowieso schwer genug kämpfen muß, würde zweifellos seine einflußreichsten und opferwilligsten Mitglieder verlieren,« jammerte eine dürre alte Jungfer.

»An das Gefährlichste denken Sie natürlich zuletzt, meine Damen,« fügte eine Dritte hinzu und setzte eine geheimnisvollwissende Miene auf. »Angesichts der jetzigen Strömung innerhalb der Regierungskreise würde es unseren Verein politisch anrüchig machen und der Gefahr der Auflösung aussetzen, wenn wir öffentlich eine sozialdemokratische Forderung aufstellen würden.«

[511] »So lassen Sie doch den Verein zugrunde gehen; sein Märtyrertum wird nur der großen Sache nützen!« rief ich ungeduldig. Mitleidiges Lächeln, mißbilligendes Kopfschütteln waren die Antwort. Es blieb bei der Ablehnung, das letzte Argument war ausschlaggebend gewesen.

»So werde ich versuchen, Helma Kurz und ihren Verein zu gewinnen.« Ohne jeden Nebengedanken hatte ich ausgesprochen, was mir eben durch den Kopf gegangen war.

Frau Vanselow, die mir bisher nur vielsagend-melancholische Blicke zugeworfen hatte, war aufgesprungen. »Helma Kurz?! – Niemals!« rief sie. »Das, meine Damen, werden Sie nicht zugeben!« Eine erregte, von allen zugleich geführte Debatte entspann sich. Ihr Resultat war, daß der Verein als solcher sich statutengemäß für die Stimmrechtsfrage nicht engagieren könne, daß er jedoch unter der Hand das Arrangement und die Kosten einer öffentlichen Versammlung und seine Vorsitzende ihre Leitung übernehmen wolle.

Ich mußte mich nur noch verpflichten, meinen Vortrag vorher in extenso der Zensur des Vorstandes zu unterwerfen.

Nicht wie eine Siegerin kam ich nach Hause. Vergebens suchte Georg mich zu trösten: »Das Wichtigste ist doch, daß du die Sache durchgesetzt hast!«

»Meinst du? – Wenn aber der Sache die Träger, die Menschen, fehlen?!«

»Bist du nicht da? – Und bin ich nicht bei dir?« Er streichelte mir leise den herabhängenden Arm, eine Bewegung, bei der mich immer ein Gefühl tiefer Ruhe überkam.

Dankbar küßte ich seine Stirn, – unter meinen Lippen stieg es auf wie eine Flamme.

»Sag', Georg – lieber Georg – sag' es mir ganz ehrlich –« flüsterte ich und trat beschämt von ihm zurück, »hast du's nicht gern, wenn ich dich küsse?«

Mit einem langen, tiefen Blick aus dunkel erweiterten Pupillen [512] sah er zu mir auf. Und ich sank vor ihm in die Knie, preßte das erglühende Gesicht in die schwarze Pelzdecke und fühlte, wie seine zitternden Finger mir zärtlich die Locken von den Schläfen strichen ...


Meinen neuen Vortrag schrieb ich wie im Fluge, kaum daß die Feder den einstürmenden Gedanken zu folgen vermochte. Und die Stimme zitterte mir vor Erregung, als ich ihn das erstemal vorlas. Meine gestrengen Zuhörerinnen aber blieben merkwürdig kühl. Nur Frau Vanselow nahm meine beiden Hände mit einem verständnisinnigen Druck zwischen die ihren.

»Ich habe mir die Punkte notiert, die Sie ändern, respektive fortlassen müssen,« sagte das rundliche Fräulein Doktor und rückte die Brille fester auf ihr viel zu kurz geratenes Näschen. »Zunächst dürfen Sie nicht sagen, daß die Existenz von Wohltätigkeitsvereinen ein Armutszeugnis für den Staat sei und die Gebenden sich ihrer Wohltätigkeitsakte ebenso schämen müßten wie die Empfangenden. Sie schlagen damit die Besten vor den Kopf –.«

Ich verteidigte meine Anschauung, aber die Abstimmung entschied gegen mich.

»Auch Ihre Elendsschilderungen sind viel zu übertrieben und wirken in höchstem Maße aufreizend,« meinte die Hagere.

»So sollen sie wirken!« entgegnete ich, »und überdies stammen all meine Angaben aus amtlichen Quellen.« Nach einer kurzen, scharfen Auseinandersetzung gab meine Kritikerin seufzend nach.

»Unbedingt notwendig aber ist es, daß Sie den Satz über die Sozialdemokratie streichen,« erklärte eine andere Vorstandsdame, deren verwandtschaftliche Beziehung zu einem freisinnigen Abgeordneten ihr eine Art Respektstellung geschaffen hatte.

[513] »Das ist im Rahmen meines Vortrags einfach unmöglich;« widersprach ich. »Die Sozialdemokratie ist die einzige Partei, die für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts eintritt.«

»Schlimm genug! Wir werden darum immer verdächtig erscheinen, wenn wir ihre Wünsche zu den unseren machen, – das habe ich ja schon oft betont, ohne Gehör zu finden.«

Ich hielt hartnäckig an dem beanstandeten Satze fest und war nahe daran, den ganzen Vortrag zurückzuziehen. Aber mußte ich nicht Konzessionen machen, um nur überhaupt etwas durchzusetzen?! Ich wurde wieder überstimmt, – Frau Vanselow allein enthielt sich mit einem bedauernden Achselzucken der Abstimmung.

In dem großen Saal des Konzerthauses in der Leipzigerstraße fand an einem Sonntagvormittag die Versammlung statt. Bis in die Galerien hinauf drängten sich die Menschen. An langen Tischen unter der Rednertribüne saßen mit blasierten Gesichtern und gespitzten Bleistiften die Journalisten. Mit triumphierendem Lächeln, den Kopf von einem Spitzenschleier malerisch bedeckt, die ebenmäßige Gestalt eng von schwarzer Seide umschlossen, stand Frau Vanselow neben mir. »Helma Kurz, – sehen Sie nur! Ganz grün ist sie vor Ärger –« hatte sie mir noch hastig zugezischelt. Ein Polizeileutnant saß an meiner anderen Seite, ein weißes Papier breit vor sich auf dem Tisch, an dessen Kopf zunächst nichts weiter als mein Name stand.

Und dann sprach ich, und wieder trug mich die Woge, und ich empfand die dunkle Menge vor mir wie Ton, der sich nach meinem Willen formte. Achtlos zerknitterte ich mein Manuskript zwischen den Händen. Ich bedurfte seiner nicht. Vor dem Rednerpult fielen mir kräftigere Worte und stärkere Beweisführungen ein als am Schreibtisch. Gestern erst hatte Martha Bartels mir von der polizeilichen Auflösung eines Arbeiterinnenvereins berichtet. Gab es ein besseres Beispiel als dies, um die Rechtlosigkeit der Frauen zu beleuchten? »Die Rücksicht auf die [514] Weiblichkeit gebietet solch ein Vorgehen, sagen die Männer,« rief ich aus, »aber die Rücksicht auf dieselbe Weiblichkeit hat noch keinen Mann verhindert, Frauen in die Steinbrüche und Bergwerke zu schicken, und werdende Mütter in die Giftluft der Fabrik!« Frenetischer Beifall von den Galerien herunter ließ mich minutenlang nicht zu Worte kommen. Der Polizeileutnant stenographierte, – entgeistert sah Frau Vanselow mich an: »Das ist gegen die Abmachung!« flüsterte sie erregt. Ich lächelte.

»Und nun frage ich euch, meine Schwestern, habt ihr wirklich nichts zu tun für euer Geschlecht? – Denkt an die jüngste Vergangenheit, wo der Vertreter Sr. Majestät des Kaisers der Kanzler Leist, Frauen schändete, aber dessen ungeachtet für einen ›tüchtigen und pflichttreuen Beamten‹ erklärt wurde, – und dann wagt es noch, zu sagen: wir haben keine Bürgerpflicht! ... Von Ort zu Ort will ich wandern und jene heilsame Unzufriedenheit, die die Mutter aller Reformen ist, in die Herzen der Frauen pflanzen! ...« Der Polizeileutnant wurde rot vor Eifer, ich hörte das Kritzeln seines Stifts durch alles Klatschen hindurch. Und ich vergaß mein Versprechen und sprach von der Sozialdemokratie, von »den Rittern der Arbeit, die heute die einzigen Ritter der Frauen sind.«

Jetzt brauste der Beifall wie der Frühlingssturm, der die dürren Blätter jauchzend niederschüttelt, um den jungen Knospen Licht und Luft zu schaffen ...

Die folgenden Tage waren ein einziger Ikarussturz – nur daß die Arme der Liebe mich auffingen, ehe ich den harten Boden berührte. Im Verein Frauenrecht kam es fast zu einem Staatsstreich, um den Vorstand aus dem Sattel zu heben; mit Vorwürfen wurde ich überschüttet. Die Zeitungen berichteten halb höhnisch, halb wegwerfend über die »verkappte Genossin«, konservative Blätter unterließen nicht, den »unerhörten Seitensprung der Frau eines preußischen Universitätsprofessors« an [515] die große Glocke zu hängen und Georg kam eines Morgens ernst und versonnen aus seiner Vorlesung zurück: »Althoff hat mir einen wohlmeinenden Wink gegeben!« sagte er. Auch mein Vater erschien und machte mir eine Szene, als wäre ich noch zu Haus.

»... Mit Fingern weisen die Leute auf mich ... Im Reichstag – im Klub kann ich mich nicht mehr sehen lassen ...« schrie er. Georg hatte sich auf beide Hände gestützt, hoch aufgerichtet.

»Exzellenz vergessen,« sagte er kalt und scharf, »daß Sie sich bei mir befinden!« Einen Moment lang maßen sich die beiden Männer mit einem Blick angriffsbereiter Feindschaft, dann verließ mein Vater wortlos das Zimmer, und erschöpft sank Georg in den Stuhl zurück.

Von Mama erhielt ich einen langen Brief: »Ich bin viel zu erregt, um Dich sehen zu können. Wie könnt Ihr Ethiker es vor Eurem Gewissen verantworten, dem eigenen Vater die Türe zu weisen! In welche Abgründe die Gottlosigkeit Euch treibt, das hast Du freilich durch Deinen Vortrag schon bewiesen: Was ist es anders als eine teuflische Eingebung, in einer Zeit, wo dem Volke nichts so nottut als christliche Ergebenheit und Demut, die Unzufriedenheit zu predigen! ...«

So schwer es mir wurde, Georg allein zu lassen, dessen fahle Blässe mich jetzt oft entsetzte, so empfand ich's persönlich doch wie eine Erleichterung, daß meine Delegation zur Generalversammlung der Ethischen Gesellschaft mich für einige Tage von Berlin fortführte. Wir fuhren zusammen: Geheimrat Frommann, Frau Schwabach, die Leiterin der Auskunftsstelle, Professor Tondern und ich. Schon unsere Eisenbahnunterhaltungen gaben einen Vorgeschmack der kommenden Diskussionen. Mit einer Schärfe, die von der milden, versöhnlichen Form kaum abgeschwächt wurde, gab unser Vorsitzender mir zu verstehen, wie wenig unsere Zeitschrift der Aufgabe, allgemein menschliche Ethik zu verbreiten, entspräche, und Frau Schwabach hielt mir [516] ernstlich vor, wie unethisch meine Angriffe auf die bürgerliche Gesellschaft in meiner letzten Rede und in jedem meiner Artikel wären.

»Sie würden unendlich viel stärker wirken, wenn Sie alle Negation beiseite ließen –« sagte sie.

»Und die guten Leute streichelten, damit sie im besten Fall schnurren wie die Katzen,« fügte Tondern höhnisch hinzu. »Wer keine Kritik verträgt und dem Spiegel nicht dankbar ist, der alle Flecken und Falten wiedergibt, – der soll sich nur gleich begraben lassen!«

Noch am Abend in Leipzig zeigte er mir den Antrag, den er stellen wollte: »Die Ethische Gesellschaft nimmt mit Genugtuung davon Kenntnis, daß der Kongreß für Hygiene sich für den Achtstundentag ausgesprochen hat, und erklärt, von ethischen Gesichtspunkten ausgehend, sich dieser Forderung anzuschließen.«

»Das wird uns vorwärts bringen!« sagte ich und gab ihm freudig meine Unterschrift.

Er verzog die Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln: »Vorwärts bringen?! Gewiß, die reinliche Scheidung der Geister ist allemal ein Fortschritt!«

Zwei Tage später saßen wir einander an demselben Tisch gegenüber: seine Augenwinkel zuckten nervös, unruhig trommelten seine Finger auf der Tischplatte, während ich, todmüde von den langen Verhandlungen, gedankenlos in einer Zeitung blätterte.

»Was sagen Sie nun?!« unterbrach er unser langes Schweigen. »Ich – ich bin noch ein Optimist gewesen! Eine Ethische Gesellschaft, die geschlossen gegen uns beide den Achtstundentag ablehnt! – Weil er ein ›Schlagwort‹ ist! – Weil seine Annahme den Verein sprengen würde! – Weil es ›unethisch‹ ist, andere zu ›verletzen‹! – Was meinen Sie: ist es vom Standpunkt unserer Privatethik aus zu rechtfertigen, wenn wir immer noch nichts als heimliche Sozis sind?!«

Ich senkte den Kopf tiefer. Ich dachte an Georg, an seine [517] strahlenden, hoffnungsvollen Kinderaugen, an seine zarten, schmalen Hände, seinen armen gelähmten Körper. »Nur eine Aufgabe kann ich erfüllen,« hatte er einmal gesagt, »von meinem Katheder aus die Jugend ›vergiften‹!« Und dann fiel mein Blick auf den breiten Trauring an der Hand meines Gefährten, – er hatte ein Weib daheim und vier kleine Kinder.

»Sind wir so frei, um tun zu können, was wir wollen?« kam es mir leise, wie im Selbstgespräch über die Lippen.

»Sie haben recht – wir müssen uns abfinden – so oder so!« ...

Früher, als Georg mich erwartet hatte, kam ich nach Haus. Ganz leise schloß ich die Wohnungstür auf, – um die Zeit war er immer in seine Studien vertieft, dann hörte und sah er nichts. Aber kaum hatte ich den Fuß über die Schwelle gesetzt, klang mir schon seine Stimme entgegen –

»Alix!!« – Ein einziger Laut, – und der Jubel, die Sehnsucht, die Liebe eines ganzen Herzens darin! Ach, und wie seine Lippen bebten und brannten, – zum erstenmal hatte er mich auf den Mund geküßt.

»Das Leben ist kurz, Alix, viel – viel zu kurz! Du mußt mich nie mehr verlassen!«

»Nie mehr, Georg – nie mehr!« – Angstvoll forschte ich in seinen Zügen. – »Hast du gelitten, – mehr als sonst?«

»Sprechen wir nicht davon, – jetzt ist es ja gut – alles gut!« Und er lächelte mit seinem strahlendsten Lächeln.

[518]
20. Kapitel
Zwanzigstes Kapitel

An einem schönen Sommersonntag besuchten uns die Eltern wieder. Sie berührten das Vergangene nicht mehr. Und von da an kamen sie oft, aber meist jeder allein. »Bei euch ist's so schön ruhig!« pflegte Mama zu sagen, wenn sie sich tief in den Lehnstuhl gleiten ließ. »So viel Sonne habt ihr!« bemerkte der Vater und stellte sich mit dem Rücken ans Fenster in die hellsten Strahlen, als fröstle ihn. Auch das Schwesterchen lief oft herüber. Sie war ein bildhübscher Backfisch geworden, mit einem suchenden Glanz in den Augen. »Papa brummt immer, – wir gehen ihm so viel als möglich aus dem Wege!« erzählte sie.

Sonntags mußte ich zu Tisch zu den Eltern kommen oder zu Onkel Walters. Es war jedesmal eine Quälerei, denn um zwecklosen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen, blieb mir nichts übrig, als zu schweigen, während mir das Blut oft vor Zorn in den Schläfen klopfte. Man vermied zwar von der Ethischen Bewegung zu sprechen, schimpfte aber um so mehr auf Juden, Kathedersozialisten und Egidyaner, als den »Hilfstruppen« der Sozialdemokratie, und die Tante besonders fand ein Vergnügen darin, mich durch ihre schwärmerische Kaiser-Verehrung zu reizen.

Einmal nahm mich der Onkel beiseite, und ich erwartete schon eine wohlgemeinte politische Belehrung, als er von Egidy zu sprechen begann. »Er ist ein Phantast, aber trotz alledem ein Edelmann und dein Freund,« sagte er, »da gehört sich's, daß du ihn vor Schaden bewahrst. Er hat sich droben bei uns mit[519] einem meiner Nachbarn, einem notorischen Schwindler – Wohlfahrt heißt der Kerl zum Überfluß! – wie ich höre, des Näheren eingelassen. Warne ihn, ehe es zu spät ist.« Ich ließ mir die nötigen Details geben und bat Egidy um seinen Besuch.

Wir hatten einander ein paar Monate lang nicht gesehen. Er aber sah um Jahre gealtert aus. Kaum hatte ich den Mut, diesem müden Gesicht gegenüber zu sagen, was ich wußte. Er starrte mich an, die Finger ineinander gekrampft, die Augen weit aufgerissen. Und plötzlich sank sein Kopf auf die gefalteten Hände, und seine breiten Schultern bebten, von lautlosem Schluchzen erschüttert. Fassungslos stand ich vor ihm: er, der dem Spott und Haß einer ganzen Welt getrotzt hatte, dessen sieghafter Glaube an die Menschen ihn unüberwindlich zu machen schien, – er saß hier vor mir, zusammengebrochen, als wäre ein Fels ihm auf den starken Nacken gestürzt, – und weinte!

»Meine Kinder – meine armen Kinder!« stieß er abgebrochen hervor – »alles habe ich diesem Men schen geopfert, – mein Letztes!«

Georg kam nach Hause. Egidy raffte sich auf, um ihn zu begrüßen, aber die Knie wankten ihm. Und dann war's, als müßte er sein Herz ausschütten, aussprechen, was er vielleicht vor sich selbst noch verhehlt hatte: Wie seine Hoffnungen ihn betrogen, die Scharen seiner Gefolgschaft ihn verlassen hatten, sein Haus leer geworden war, seitdem er nicht mehr Wein und Braten aufzutischen vermochte.

»Jetzt erst, wo die Menschen Sie nicht mehr als einen Märtyrer bewundern, werden Sie zeigen können, daß Sie ein Mann sind!« sagte Georg, als er schwieg.

Mit einer raschen Bewegung, als wolle er jeden Rest von Schwäche verscheuchen, strich sich Egidy über die Stirn und reichte Georg die Hand: »Weiß Gott, – ich werde es beweisen!« Und sich zu mir wendend, fuhr er fort: »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen in Hannover sagte: ›Im schlimmsten Fall reite [520] ich allein – langsamen Schritt vorwärts – nach Zählen – im Kugelregen.‹ – Leben Sie wohl.«

Mich ließ er schweren Herzens zurück. »Allein – im Kugelregen!« wiederholte ich leise und kreuzte fröstelnd die Arme.

»Meine Alix fürchtet sich?! – Vergiß niemals, was der große Sklavenbefreier William Lloyd Garrison sagte: Einer mit der Wahrheit im Bunde ist mächtiger als alle. In diesem Glauben siegte er!« Georgs blasse Haut leuchtete im Abenddämmer.

War ich so schwach, daß ich immer Menschen suchte – Gleichgesinnte? – und mich freute wie ein Kind, das hinter den Felsen hundert Gespielen wähnt, wenn irgendwo ein Echo meiner Stimme mir entgegenklang? ...


Der Verein Frauenrecht hatte mich trotz meiner Sünden in seinen Vorstand gewählt: Ich war ein »Name«, – damit hatte Frau Vanselow die Mitglieder für ihren Plan gewonnen. Und ich hatte trotz meiner inneren Abneigung die Wahl angenommen: der Verein war am Ende doch ein wirksames Mittel zum Zweck. Vor allem galt es eins durchzusetzen: die deutsche Frauenbewegung aus ihrem Veilchen-Dasein zu befreien. Fünfundzwanzig Jahre hatte ich selbst gelebt, ehe ich von ihrer Existenz etwas erfuhr. Die deutsche Presse nahm noch jetzt kaum je irgendwelche Notiz von ihr.

Es gelang mir zunächst – nachdem ich von vornherein die Arbeit dafür auf mich genommen hatte –, eine Zeitungs-Korrespondenz durchzusetzen, und ich hatte die Genugtuung, daß meine Notizen in zahlreichen Blättern Aufnahme fanden. Nun mußte ein Organ geschaffen werden – eine weithin sichtbare Fahne für unsere Sache. Ich gewann den Verleger der Ethischen Blätter für die Idee und kam strahlend über diesen Erfolg in die Vorstandssitzung des Vereins. Aber statt allgemeiner [521] Freude begegnete ich allgemeinem Widerstand. Über die Verantwortung, die wir damit auf uns nehmen müßten, jammerte die eine, über die »seit Jahren liebgewordenen« Vereinsmitteilungen, an deren Stelle die Zeitschrift treten sollte, die andere.

»Und die Frage der Redaktion ist doch vor allem eine schwer zu entscheidende,« meinte mit bedenklich hochgezogenen Augenbrauen Frau Vanselow und sah mich prüfend an. Ich begriff.

»Selbstverständlich wird sie unserer verehrten Vorsitzenden anvertraut werden,« sagte ich rasch. »Und meine liebe Frau von Glyzcinski wird mir hilfreich wie immer zur Seite stehen,« ergänzte Frau Vanselow und streckte mir über den Tisch hinweg die Hand entgegen.

»Ich halte dies Vorgehen für unethisch,« tönte Frau Schwabachs scharfe Stimme dazwischen. Erstaunt sah ich auf: »Das begreife, wer kann!«

»Unser liebes, heute leider fehlendes Fräulein Georgi hat die Mitteilungen bisher als Schriftführerin zu unser aller Zufriedenheit und – unentgeltlich –« ein vielsagender Blick traf mich – »in selbstloser Hingabe an die Sache geleitet. Ich gebe meine Zustimmung nicht, wenn man sie beiseite schiebt!«

Empört fuhr ich auf: »Es handelt sich hier um die Sache und nicht um die Personen, um ein öffentliches Unternehmen und nicht um ein Vereinsblättchen! Jeder Fortschritt verletzt irgendwen, – und wenn Ihre Ethik im Gegensatz zum Fortschritt steht, so gebe ich sie preis und wähle diesen!«

Ich erhob mich rasch und überließ den Vorstand sich selber.

Vier Wochen später erschien die erste Nummer der »Frauenfrage« unter Frau Vanselows und meiner Redaktion. Georg eröffnete sie mit einem Artikel für das Frauenstimmrecht. Etwa zu gleicher Zeit versandte Helma Kurz ein Zirkular an die deutschen Frauenvereine, durch das sie zur Gründung eines nationalen Frauenbundes aufforderte, der sich dem bereits bestehenden in [522] Amerika ins Leben gerufenen internationalen Verbande anschließen sollte.

Mit einem harten »Niemals« begegnete Frau Vanselow meiner Begeisterung für diesen Zusammenschluß. »Aufspielen will sich die Kurz, von sich reden machen, nachdem ihr angesichts unserer Erfolge längst schon die Galle überläuft ...« Nur schwer gelang es mir, sie zu beruhigen und zur Teilnahme an den vorbereitenden Sitzungen zu bewegen. Ein Heer von Frauen, in der ganzen Welt zu einer Organisation zusammengeschlossen, – war das nicht die welterobernde Macht der Zukunft?! Hier würde die Arbeiterin neben der Bourgeoisdame, die Sozialdemokratin neben der Frau des Ostelbiers zu Worte kommen; im friedlichen Austausch der Ideen würde schließlich die lebenskräftigste siegen, – durch die Mütter der kommenden Generation würde leise und natürlich die Quelle in die Menschheit gelenkt werden, die bestimmt war, als Strom die Schiffe der Zukunft zu tragen!

»Also eine Ethische Gesellschaft der Frauen – nach unserem Plan!« meinte Georg. Ich benutzte den nächsten freien Augenblick, um mit Martha Bartels die Sache zu besprechen. Seltsam: sie wußte von nichts, das Zirkular war ihr nicht zugegangen. »Und wenn ich es schon erhalten hätte,« sagte sie, »es ist mir zweifelhaft, ob meine Genossinnen eine Beteiligung für nützlich gehalten haben würden.«

»Aber bedenken Sie doch, welch ein Agitationsgebiet sich Ihnen eröffnen würde« – eiferte ich, auf das schmerzlichste überrascht durch ihre ablehnende Haltung, – denn daß die Aufforderung sie nur durch irgendeinen Zufall nicht erreicht hatte, davon war ich überzeugt, – es war ja im Zirkular die Rede von »allen Frauen«.

»Unser Agitationsgebiet ist das gesamte Proletariat – groß genug für die gewaltigsten Arbeitskräfte! Eine Vereinigung mit der bürgerlichen Frauenbewegung würde zersplitternd und verwirrend [523] wirken. Die große Masse unserer Arbeiterinnen ist noch nicht so selbstbewußt, um sich den Damen gegenüber als Gleichberechtigte zu fühlen.«

Mir schien, als ob aus ihren Worten mehr Gekränktheit über die Zurücksetzung als Überzeugung sprach.

»Wir reden noch darüber,« sagte ich, innerlich ordentlich froh über die Aufgabe, die sich mir eröffnete: Ich sah sie schon erfüllt, sah in Gedanken Martha Bartels auf der Tribüne stehen und durch ihre schlichte Wahrhaftigkeit die Frauen gewinnen. Ich schrieb an Helma Kurz, um sie auf das Versäumte aufmerksam zu machen, – ich erhielt keine Antwort. Bei dem Begrüßungsabend der deutschen Delegierten erwartete ich mit Ungeduld das Ende des Diners, um sie persönlich zu sprechen. Ich fand es zum mindesten geschmacklos, solch ein Werk bei Wein und Rehbraten in großer Toilette zu beginnen und einander durch Toaste anzuhimmeln, noch ehe irgend etwas geschehen war. Endlich erreichte ich Helma Kurz; sie wurde dunkelrot, als sie mich sah. »Hier ist nicht der Ort, prinzipielle Fragen zu erörtern,« sagte sie heftig und drehte mir den breiten Rücken zu.

Am nächsten Morgen in der Sitzung meldete ich mich als eine der ersten zur Debatte. Es wurden endlose Reden gehalten: über die Einigkeit aller Frauen, über die gemeinsamen großen Ziele, – vergebens wartete ich Stunde um Stunde, daß mir das Wort erteilt werden würde. Ich meldete mich noch einmal. »Sie müssen Ihren Antrag schriftlich formulieren!« schrie Helma Kurz mich bitterböse an. Ich tat es. Ein erregtes Tuscheln um den Vorstandstisch – »Ihr Antrag steht außerhalb der Tagesordnung« – verkündete die Vorsitzende. Ich versuchte, mir gewaltsam Gehör zu verschaffen. Um mich kreischten erregte Stimmen: »Schweigen Sie!« – »Hinaus!« – »Wie unethisch!«

Majestätisch richtete sich die schwere Gestalt der Kurz hinter dem Vorstandstisch auf: »An dieser Störung unserer schönen Harmonie sehen Sie, meine Damen, wes Geistes Kind diejenige [524] sein muß, die sie hervorrief!« erklärte sie mit feierlicher Würde, jedes Wort betonend. »Ich werde trotzdem, nicht aus Rücksicht auf die Delegierte des Vereins Frauenrecht« – sie lächelte spöttisch – »sondern auf unsere hier anwesenden bewährten Mitkämpferinnen die Erklärung abgeben, die in einer Weise gefordert wird, wie sie bis dato nur in sozialdemokratischen Radauversammlungen üblich war. Sämtliche deutsche Frauenvereine sind zu dieser Zusammenkunft aufgefordert worden, mit Ausnahme derjenigen natürlich, die nicht auf dem Boden unserer Staats- und Gesellschaftsordnung stehen.« – Ein langanhaltendes Bravo-Rufen unterbrach sie – »Ihre Teilnahme würde die Auflösung des Verbandes zur notwendigen Folge gehabt haben ...« Ich sprang auf und warf noch einmal meine Karte auf den Vorstandstisch. »Im Interesse der ruhigen Fortführung unserer Verhandlungen haben wir beschlossen, Frau von Glyzcinski das Wort zu verweigern.« Erneuter allgemeiner Beifall – –

Ich hatte rasch einen Protest gegen den Ausschluß der Arbeiterinnenvereine zu Papier gebracht und benutzte die Pause zum Sammeln von Unterschriften. Aber wem ich auch in die Nähe trat – schon vor meiner Person zog man sich scheu zurück. Entrüstet blitzte mich Frau Schwabach mit ihren klugen dunkeln Augen an: »Und Sie sind eine Ethikerin, die das allen Gemeinsame pflegen und betonen will!« Ich fand in der großen Versammlung nur zwei Stimmen, die sich mir anschlossen, unter ihnen die Frau Vanselows. »Sie schicken das an die Presse? – Famos! Ein empfindlicher Schlag für Helma Kurz!« sagte sie.

»Rom ist nicht an einem Tage gebaut worden,« tröstete mich Georg, als ich verstimmt und enttäuscht nach Hause kam. Es dauerte lange, ehe der heilende Trank seines Menschenglaubens mir die tiefe Verbitterung aus dem Herzen trieb. Aber den letzten Keim der Krankheit tötete er nicht. Was ich in unserer Zeitschrift und in der »Frauenfrage« veröffentlichte, wurde immer schärfer im [525] Ton. Die Menschen, denen ich begegnete, die Bücher, die ich las, die dramatischen Werke, die ich sah – ich beurteilte sie alle nur von dem einen Gesichtspunkt aus: ihrer Stellung zur sozialen Frage, zum Sozialismus.


Aus der Dichtung und aus der bildenden Kunst verschwand damals allmählich die Elendsschilderung, die in Hauptmanns Webern noch die Peitsche gewesen war, die rücksichtslos blutige Striemen zog, während in seinem »Hannele« das Bettlerkind schon in Märchenkleidern zeigte. Künstlerische Begeisterung entzündet sich an jungen Ideen, solange sie flackernde Flammen sind und die Gefahr des Erlöschens ihnen phantastisch-spannenden Reiz verleiht. Mit ihrer Reife erstarren sie zu Schwertern, die der Kämpferarme bedürfen, während das Seherauge des Künstlers schon sehnsüchtig nach neu auftauchenden Lichtern im fernen Dunkel Ausschau hält. Aber was Notwendigkeit ist, erschien mir wie Treulosigkeit und Schwäche, und der Ich-Kultus, der an Stelle des Kultus der Menschheit trat, wie ein frevelhafter Rückschritt.

Gegen eine Welt von Widersachern hatten die Ibsen und Nietzsche die Freiheit der Persönlichkeit verkündet, in jahrelangem, schmerzvollem Ringen hatten wir sie erobert; ein Heiligtum war sie uns, dessen ewige Lampe sich von unserem Herzblut tränkte. Und nun kamen die vielen lärmenden Leute und griffen nach ihr ohne Ehrfurcht, und nichts als ein neues Spielzeug war sie ihnen. Dem gebildeten Pöbel galt jeder als ein Freier, der schrankenlos seinen Begierden folgte. Die entgötterte Menschheit suchte nach Götzen, und jeder fand eine anbetende Gemeinde, der alte Werte mit Füßen trat.

»Die sexuelle Freiheit ist doch nicht die Freiheit an sich!« sagte ich einmal voller Empörung zu Polenz, der mir Hartlebens »Hanna Jagert« gebracht hatte. »Gewiß gibt es Frauen [526] mit denselben sinnlichen Leidenschaften, wie Männer sie haben, aber in ihnen den ›großen freien Weibtypus der Zukunft‹ zu suchen, ist ebenso frevelhaft, als wenn man den modernen Lebemann für das Ideal der Männlichkeit erklären würde.«

»Sie kennen eben unsere jungen Dichter nicht, die zumeist aus dem engsten Kleinbürgertum stammen und von da aus direkt der Großstadtboheme in die Arme laufen. Eine andere Welt ist ihnen fast allen fremd und bleibt ihnen fast immer verschlossen. Gerade Sie sollten es wagen, in die Höhle der Löwen zu kommen,« antwortete Polenz.

Ich zögerte noch, aber Georg, dem jedes Mittel willkommen war, das ihm geeignet schien, mich heiterer zu stimmen, redete zu, und so folgte ich eines Abends Polenz' Einladung. Er hatte eine heterogene Gesellschaft zusammengebeten: alte Regimentskameraden und anarchistelnde Schriftsteller, sächsische Gesandtschaftsattachés und die Blüte der Berliner Kaffehaus-Literaten. Eine unbehagliche Stimmung herrschte; die Herren von der Feder fühlten sich sichtlich nicht wohl in ihren Fräcken, und die Damen, die sich von ihnen etwas ungeheuer Interessantes erwartet hatten, vermochten trotz aller Mühe die genierte Steifheit der fremden Gäste nicht zu überwinden. Erst bei Tisch und beim Wein wurde es ein wenig lebendiger. Einer der modernsten und beliebtesten Schriftsteller, der mit einer gewissen Grazie die gewagtesten Dinge zu schildern pflegte, saß neben mir, ein anderer, der die Hoffnung der Moderne war, mit dunkler Brille über den lebhaften Augen, mir gegenüber. Ich ließ alle meine oft erprobten, geselligen Künste spielen, schlug alle Saiten an, von denen ich einen Ton erwarten konnte, – vergebens. Wie Backfische, die zuerst in Gesellschaft kommen, antworteten sie mit einem Ja, einem Nein und einem verlegenen Lächeln, wenn ich glaubte, gerade ihre Interessen berührt zu haben. Ich sah forschend die lange Tafel herauf und herunter: überall dasselbe Bild, – und langsam legte sich eine bleierne Langeweile über [527] die zu krampfhaftem Höflichkeitsgrinsen verzerrten Züge. Man atmete schließlich erleichtert auf, als das Essen zu Ende war; und so rasch sie konnten, verschwanden die Herren im Nebenzimmer, von wo bei Kognak und Zigarren bald dröhnendes Lachen herüberscholl.

Als ich, die Elektrische erwartend, auf der Straße stand, trat eine kleine Frau mit blitzenden Saphiraugen, ein Spitzentuch lässig über den dicken, blonden Schopf geworfen, auf mich zu. »Er ist wohl noch immer da drin, der Franzl,« sagte sie und wies mit dem Daumen zu der erleuchteten Etage herauf, die ich eben verlassen hatte. Überrascht sah ich sie an – »Juliane Déry! Was machen Sie denn hier?« – »Ich warte! – mit dem letzten Bissen im Munde wollte er diesem Menschenragout entlaufen. Aber es muß doch pikanter ausgefallen sein, als ich prophezeite ...« Ich lachte hellauf und gab ihr eine Schilderung der letzten drei Stunden. »Und Sie dachten wirklich, an gedeckten Tischen, zwischen Grafen und Baroninnen, unsere jungen Genies kennen zu lernen?!« Sie konnte sich vor Vergnügen nicht fassen, amüsiert blieben die Vorübergehenden bereits neben uns stehen. »Kommen Sie!« mahnte ich leise und schob meinen Arm in den ihren.

»Richtig! – Wir haben ja schon einmal eine nächtliche Promenade gemacht! Seitdem sind Sie ethisch geworden und haben –« sie stockte ein wenig – »geheiratet!«

»Und Sie?« Ich frug ohne Interesse, im Grunde nur, um irgend etwas zu sagen.

»Ich? – Gott – Sie sehen: ich lebe! Was sollte unsereins auch sonst noch tun!« Ein düsterer Schatten verdunkelte einen Augenblick lang ihre Augen, dann lächelte sie wieder: »Wissen Sie was? Kommen Sie heute mit mir – ich bin ein besserer Cicerone der Boheme als Ihre Gastgeber eben! Überdies –« sie musterte mich unter der nächsten Laterne von oben bis unten – »werde ich mit Ihnen Furore machen.«

[528] Bis zu unserem Ziel, einer kleinen Weinstube in der Friedrichstadt, erzählte sie mir mit der ihr eigenen sprühenden Lebhaftigkeit von all den freien Geistern, die ich finden würde. »Der große ...«, »der geniale ...«, »der einzige ...«, – mit diesen Adjektiven begleitete sie Namen, die mir kaum bekannt waren.

Als wir eintraten, schlug eine Wolke dicken Rauches uns entgegen; ein paar Lampen, ein paar Lichtpünktchen brennender Zigaretten leuchteten hindurch. Ein Chor schwatzender Stimmen machte jedes Wort unverständlich. Erst als wir im Lichtkreis der Gasflammen standen, verstummte die Gesellschaft. Die Herren erhoben sich und umringten uns. Sie rochen nach Kognak, – unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Man hörte meinen Namen. »Bist wohl verrückt geworden, Juliane!« brummte eine Männerstimme, und ein Arm legte sich um ihre Taille. Ich setzte mich abseits in eine Ecke. Nach einer Weile schien ich vergessen und fühlte mich wie eine Zuschauerin vor der Bühne. Es war zweifellos ein interessantes Spektakelstück, das ich sah, und Menschen eigener Art, die darin spielten.

Zu Füßen eines großen, tiefbrünetten Mannes, um den sich allmählich die leeren Flaschen häuften, saß eine blasse Frau mit blonder Haarkrone auf dem vornehmen Köpfchen. Das mußte die dänische Gräfin sein, die der »satanische« Dichter, wie die Déry ihn nannte, entführt hatte. Wenn er redete, sah sie andächtig zu ihm auf, und die Nächststehenden schwiegen.

»Ja – was ich sagen wollte – –« er sprach mit einem scharfen slawischen Akzent – – »was – was war es doch?« Er goß sich roten Wein in das Glas, – ein paar Tropfen spritzten der Frau zu seinen Füßen auf die weiße Stirn, – er vergaß zu trinken und starrte sie an: »wie schön das ist: die Dornen deines unsichtbaren Kranzes haben dich verwundet, – wie ein Rubin leuchtet dein königliches Blut ...«

»Zum Donnerwetter, was schweigt ihr,« brüllte er im nächsten [529] Augenblick und stürzte den Wein hinunter, »was geht das euch Kanaillen an?!« Die anderen lachten.

»Du hast uns deinen Helden schildern wollen!« sagte jemand.

»Meinen Helden!« begann er wieder, »das wird ein Kerl sein! Kein waschlappiger Schmachtfetzen, der die Weiber anhimmelt, sondern einer, der zupackt, wie ich!« – seine Riesenfaust umklammeret den Arm der blonden Frau, die schmerzhaft zusammenfuhr, – »keiner, der den Lahmen Krücken schenkt und den Blinden Brillen, sondern einer, der beiseite stößt, was ihm im Wege steht. Oder meint ihr, das Gesindel um uns sei was besseres wert?! Glaubt mir, wenn wir nicht empor kommen, die Starken, die Hartherzigen, dann wird das Gewürm, das Junge wirft wie die Kaninchen, uns auffressen. Den Schwachen helfen, winselt ihr mit dem verwässerten Christenblut in den Adern? Nein, sage ich: den Schwachen den Gnadenstoß geben, damit die Starken Platz haben!«

Ich hielt mich nicht länger. »Es muß sich aber erst erweisen, wer die Starken sind,« rief ich.

»Erweisen? Nein, schönste Frau, – wenn wir's nur von uns selber wissen,« antwortete er, stand auf und trat auf mich zu, – er schwankte ein wenig – »Sie sind ja so Eine, die sich opfert – der Menschheit – der Ethik – pfui Teufel! Mit so einem Gesicht und solcher Gestalt –« seine große Hand streckte sich, ich wich ihr erschrocken aus – »sich behaupten sollten Sie, – Glück schenken und Liebe, – das ist mehr als Traktätchen – und – und – Kinder kriegen –«

Er fiel wie ein gefällter Baum der Länge nach zu Boden. Ich strebte hastig der Türe zu. Juliane Déry kam mir nach und drängte ihr glühendes Gesicht dicht an das meine.

»So bleiben Sie doch – Schönste – Beste,« schmeichelte sie – ich fühlte ihre Hand auf meiner Hüfte. »Ist er nicht groß? – herrlich? Und jetzt wird es erst schön – komm! komm! – laß uns Freundinnen sein –« Sie versuchte mich zu küssen. Ich schüttelte sie ab. »Hochmütige Närrin –« knirschte sie.

[530] »Sie – sie hat kein Herz – kein Herz – wie all die – die Tribünenweiber!« lallte der Betrunkene, der sich halb aufgerichtet hatte.

Ich lief hinaus wie gejagt und sprang in den nächsten Wagen. Warum nur brach ich schluchzend in den Kissen zusammen, – warum?!

Leise schlich ich in die Wohnung, in mein Zimmer. Zum erstenmal verschwieg ich Georg, was ich erlebt hatte; nur von dem Abend bei Polenz erzählte ich und von den Menschen dort, die »auch nicht die Unseren sind«.

Er hörte kaum zu, seine Gedanken waren bei dem Brief, den er zwischen den Fingern rollte und mir lächelnd reichte.

»Hier werden wir die Unseren finden!« sagte er.

Es war eine Einladung zu einem Festkommers »unserem verehrten Genossen Friedrich Engels zu Ehren«, von den Mitgliedern des Parteivorstands unterschrieben. »Du willst hingehen?« frug ich erstaunt, »als preußischer Universitätsprofessor?«

»Die Freude will ich mir nicht entgehen lassen, einmal im Leben dazu zu gehören! – und den Kragen wird es nicht kosten!« ...


Ein großer Saal. Grüne Girlanden, mit roten Blumen besteckt, schwebten in runden Bogen um die Galerien, von einer Säule zur anderen. »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« leuchtete es in riesigen Goldbuchstaben auf rotem Grund von der Tribünenwand herab den Eintretenden entgegen. Unter Lorbeerbüschen glänzten die weißen Büsten von Marx und Lassalle. Als wir kamen, war der Riesenraum schon dicht gefüllt: Männer im Festtagsrock, Frauen und Mädchen in bunten Blusen und hellen Kleidern, die Gesichter verklärt wie die der Kinder von Weihnachtsvorfreude. Ein Glanz der Jugend strahlte aus allen Augen und verwischte die Furchen, die Leidenszüge, die Kummerfalten, und gab den früh gebleichten Wangen die Röte der Kinder des Glücks.

[531] Neugierig richteten sich alle Blicke auf uns: den bleichen Mann und die junge Frau ihm zur Seite. Der alte Bartels führte uns bis nach vorn, wo an gedeckten Tischen die Plätze für die Gäste reserviert waren.

»Daß ich das noch erlebe – Herr Professor – das noch erlebe,« wiederholte er immer wieder mit dicken Freudentränen in den kleinen, zwinkernden Äuglein.

Brausende Hochrufe erschütterten die Luft. – Alles erhob sich – schwenkte die Hüte und wehte mit den Taschentüchern – auf die Tische und auf die Schultern wurden die Kinder gehoben, so daß ihre Köpfchen wie Blumen aus dichtem Wiesengrund über die Massen emporragten. Und durch den breiten Mittelgang, an dem sich rechts und links, eine undurchdringliche Mauer, die Menge staute, kamen sie alle, die alten Kämpfer, deren Namen ein blutiger Schrecken für die einen, ein Symbol künftiger Glückseligkeit für die anderen war.

Mein Blick blieb nur auf den vier Voranschreitenden haften, die ich um mich herum immer wieder flüsternd nennen hörte: Liebknecht – Bebel – Auer – Engels. Groß war der eine, mit grauem Vollbart, hoher Stirn, geistvoll sprühenden Augen, einen feinen Zug von Sarkasmus um den Mund, klein der andere, mit widerspenstiger voller Haarsträhne, die ihm immer wieder nach vorne fiel, so daß sein Blick sich noch mehr verschleierte, – jener merkwürdige Blick, wie ihn nur Dichter und Träumer haben. Einen breiten, hellen Germanenkopf trug der dritte stolz auf den starken Schultern, ein Paar Augen, die gewiß kampflustig zu blitzen verstanden, wie die alter Häuptlinge, sahen über die Menge hinweg. Vorne aber ging der alte gefeierte Gast mit einem Lächeln so voll gerührter Güte und freudiger Menschenliebe, als wären das alles seine Kinder, die ihm entgegenjauchzten.

Gesang, Musik, Begrüßungsreden wechselten miteinander ab, wie bei einem großen Familienfest. Nichts Pathetisches, aber auch nichts, das an Aufruhr und revolutionäre Schrecken erinnerte, [532] störte die Stimmung. Das Rot der vielen Schleifen und Fahnen im Saal schien heute nur die Farbe der Freude zu sein, nicht die des Bluts. Auch die ›Freiheit‹, die auftrat, mit der phrygischen Mütze auf dem schwarzen Krauskopf, ihre Verse skandierend wie ein Schulkind, glich mehr einem Boten des Frühlings als der Revolution.

Drunten im Saal, wie oben auf der Tribüne herrschte eitel Fröhlichkeit.

Von einem Tisch zum anderen begrüßten sich die Bekannten, und er, der Held des Tages, drängte sich mit den Freunden immer wieder durch die Reihen und schüttelte die Hände alter Kampfgenossen aus den schweren Zeiten der Verfolgung. Sie kamen auch zu uns und setzten sich um Georgs Rollstuhl, und seine Lippen zuckten, und seine Augen wurden feucht vor Bewegung. Mit einer altväterisch-chevaleresken Verbeugung schenkte mir Engels ein paar Blumen aus der Fülle, die ihm gegeben worden war. »Ein gefährliches Zeichen,« lachte Liebknecht und wies auf die rote Nelke darunter. »Eins des Sieges, wie ich hoffe,« antwortete ich.

Wir gingen still nach Haus. Eine große Freudigkeit erfüllte uns.


An einem grauen, naßkalten Dezembertag war es. Das Reichshaus sollte eingeweiht werden. Am Brandenburger Tor stand ich, Eindrücke zu sammeln für das, was ich schreiben wollte. Man lachte – schwatzte – höhnte rings um mich her: vom »Gipfel der Geschmacklosigkeit« sprach der eine, – so hatte S. M. jüngst in Italien den Bau Wallots bezeichnet –, von der leeren Tafel über den Toren erzählte der andere, die auf die Inschrift »Dem deutschen Volke« vermutlich vergebens warten würde; – »den Junkern und Pfaffen – wird's statt dessen heißen,« fügte bissig ein Dritter hinzu. »Wenn man die Umsturzvorlage det janze Dings nich umstürzen wird,« zischelte es dicht[533] neben mir. Der stramme Polizeileutnant, der hier Wache hielt, wandte stirnrunzelnd den Kopf. In offenem Wagen fuhren die Abgeordneten vorüber: Zivilisten mit glänzenden Zylindern auf dem Kopf und bunten Bändchen im Knopfloch, auf den Zügen den Ausdruck ernsthafter Wichtigkeit, Geistliche in der schwarzen Soutane mit runden glänzenden Gesichtern; Reserveoffiziere, denen der enge Kragen das Blut blaurot in die Stirne trieb, und deren bunter Rock sich in Falten über Brust und Leib spannte. »Drum müssen sie ooch alle stramm stehen vor dem obersten Kriegsherrn, – die M. d. R.s –« zischelte dieselbe Stimme wie vorhin.

Aufgeregt sprengten die Polizisten noch einmal hin und her, – ihre Pferde drängten die angstvoll aufkreischenden Zuschauer zur Seite.

Vom Schloß die Linden hinunter trabte eine Schwadron Gardedukorps in glänzender Uniform mit wehenden Fähnlein. Da plötzlich ein klirrender Stoß – ein Schrei, – und zwei Reiter wälzten sich unter ihren Pferden.

Im gleichen Augenblick nahte ein Wagen: der Kaiser! Schweigend – erwartungsvoll – kaum, daß ein paar Hüte von den Köpfen flogen – harrte die Menge, – schwankend, mit todblassem Gesicht richtete der eine der gefallenen Soldaten sich auf die Knie, – dicht vor ihm schlugen die Hufe des Viergespanns schon auf das Pflaster.

Das Bronzegesicht des Monarchen tauchte sekundenlang auf – ein einziger kalter Blick streifte den Gardedukorps – die feindselig-stumme Menge hinter ihm, – und vorüber raste der Wagen.

Erregt, mit verbissenem Grimm stoben die Menschen auseinander. Das war, so schien mir, der rechte Auftakt für das kommende Schauspiel: den Kampf um die Umsturzvorlage, die als erster Gesetzentwurf den Volksvertretern im neuen Hause zur Entscheidung vorlag.

[534] Unter kriegerischem Gepränge war es heute geweiht worden, – Kriegszeiten standen bevor.

Auf dem Wege durch den feuchtdunstigen Tiergarten war mein Plan gefaßt, und noch ehe Georg aus der Universität zurückkam, lag meine »Erklärung« schon auf dem Schreibtisch. »Im Namen des weiblichen Geschlechts protestieren wir unterzeichneten Frauen gegen die Umsturzvorlage,« begann sie, und weiter, hieß es darin: »Beschimpfende Äußerungen gegen Ehe und Familie' gefährden das sittliche Leben des Volkes nicht so sehr, wie die gesetzliche Sanktionierung der Unsittlichkeit; und nicht durch ›Kundgebungen‹ werden ›weite Bevölkerungskreise‹ zu dem Glauben verführt, daß die Grundlagen unseres Lebens auf ›Unwahrheit und Ungerechtigkeit‹ beruhen, sondern durch eine Gesetzgebung, die die Hälfte des Menschengeschlechts, die Mütter der Staatsbürger mit Unmündigen, Wahnsinnigen und Verbrechern auf eine Stufe stellt, und durch wirtschaftliche Zustände, die Millionen von Frauen in den Kampf ums Dasein treiben, das Familienleben zerstören, die Ehe erschüttern..«

Ich versandte noch an demselben Abend meine Erklärung mit der Bitte um Unterschriften an die Presse. Kaum war sie veröffentlicht, als Onkel Walter mich mit seinem Besuch überraschte. »Ich komme, dich zu warnen,« sagte er, »man hat ein Auge auf dich, man kennt im Polizeipräsidium deine geheimen Beziehungen zur sozialdemokratischen Partei, und heute im Reichstag hat der Minister des Innern mir im Vertrauen gesagt, daß, wenn die Umsturzvorlage oder ein dem Sinne nach ihr ähnliches Gesetz in Kraft treten sollte, du zu den ersten gehören wirst, die davon getroffen werden; – vorausgesetzt natürlich –,« er sprach langsam und betonte jeder Silbe – »daß du nicht klug genug bist, vorher andere Wege einzuschlagen.«

»Ich danke dir für deine Freundschaft, lieber Onkel, – aber daß ich deinem Rat folgen werde, wirst du von mir kaum erwarten.«

[535] »So sind wir geschiedene Leute!« rief er, und krachend fiel hinter ihm die Tür ins Schloß.

Seltsam, – er hatte mir niemals nahe gestanden, und doch: in diesem Augenblick krampfte sich mir das Herz zusammen, – ein Stück der Kindheitsheimat nahm er mit sich fort. Was wird der Vater sagen, dachte ich furchtsam. Aber er kam nicht, er schrieb mir nur zwei Zeilen ohne Anrede und Unterschrift: »Nach Deinem letzten Benehmen wirst Du Dich nicht wundern, wenn wir Dir eine Zeitlang fern bleiben. Wir hoffen zu Gott, daß er Dich wieder auf den rechten Weg leiten möge! ...«


Eisig fegte der Ostwind durch die Straßen, feine, schimmernde Eiskristalle tanzten in der Luft, und der Rauhreif wandelte den Tiergarten in ein Wintermärchen. Jeden Morgen begleitete ich jetzt Georg in die Universität. Seine Vorlesungen über soziale Ethik füllten das Auditorium bis in den fernsten Winkel, und leidenschaftlich erregte Menschen – alte und junge – Männer und Frauen – begrüßten ihn mit heftigem Beifallsgetrampel. Hinter dem Pult war nichts von ihm zu sehen als der bleiche, dunkel umrahmte Kopf mit den strahlenden Kinderaugen. Er sprach, wie er noch nie gesprochen hatte, er geißelte die Sünden des Kapitalismus mit einer Schärfe, wie sie in diesen Räumen noch nie gehört worden war, und verteidigte die Rechte der Frauen und die der Arbeiter mit einer Begeisterung, die alles mit sich fortriß.

»Der Glaube, daß wir jetzt vor tief gehenden Wandlungen, vor einer Weltwende stehen, wie die Menschheit noch keine erlebt hat, ist eine Überzeugung, die immer weitere Kreise ergreift ... Jetzt ist keine Zeit mehr zu beschaulichem Träumen ...« – Seine Stimme hob sich in ungewohnter Kraft und bekam einen Klang wie eine tiefe Glocke. »... Wir müssen uns klar werden über die Lage der Dinge und wach sein für die Nöte des Tages ... Wir müssen uns bewußt werden, wohin wir gehören ...«

[536] »Er spricht sein Todesurteil ...« hörte ich leise flüstern. Kirchenstill war es. Er wurde vom Katheder heruntergehoben, sein Rollstuhl setzte sich in Bewegung, mit scheuer Ehrfurcht grüßten ihn die Studenten.

Fauchend schlug ihm der Wind in das heiße Gesicht, als wir ins Freie traten, und fröstelnd zog er sich den Pelzkragen höher. Vergebens bat ich ihn, sich aus seinem offenen Rollstuhl in einen geschlossenen Wagen heben zu lassen. Den ganzen langen Weg über die Linden, durch den Tiergarten, über den Lützowplatz kämpften wir mühsam wider den Schneesturm.

Vor unserem Hause ging ein Herr auf und ab: groß und schlank, den feingeschnittenen Kopf zurückgeworfen, den Bart keck in die Höhe gewirbelt, – »Hessenstein!« rief ich überrascht.

»Kein anderer, gnädige Frau!« sagte er und küßte mir die Hand – »ich warte auf Sie – ich konnte Europa nicht verlassen, ohne von Ihnen Abschied zu nehmen –«

Wir begaben uns zusammen in unsere Wohnung. Seltsam fragend betrachtete Georg den Gast, den ich so freudig willkommen hieß.

»Sie verlassen Europa?« frug ich, »und warum?«

»Seit meinen kriegerischen Erfahrungen im Bergwerksbezirk war mir nicht mehr wohl im bunten Rock –« antwortete er, während sein Blick sekundenlang peinlich überrascht zwischen Georg und mir hin und her flog – »und die neu eröffnete Aussicht, gelegentlich einmal auf Eltern und Geschwister schießen lassen zu müssen, hat meinen militärischen Ehrgeiz auch nicht wesentlich steigern können. – – Ich habe einen Bruder in Java, – dorthin will ich. Eigentlich auch kein erstrebenswertes Ziel! Aber – was soll man tun –, wenn man den Mut nicht aufbringt, unter die Roten zu gehen!«

»Dann ist Ihre Wahl sicherlich die beste,« sagte Georg mit feindseliger Schärfe. Rote Flecken brannten ihm über den Backenknochen.

[537] Sichtlich verletzt, erhob sich Hessenstein. In dem Wunsch, gut machen zu wollen, was Georg verfehlt hatte, war ich doppelt herzlich.

»Vielleicht treffen sich unsere Wege doch einmal wieder! Möchten Sie recht, recht glücklich werden« – damit reichte ich ihm beide Hände. Er senkte tief den Kopf darauf. »Ich danke Ihnen!« flüsterte er bewegt.

Kaum war er fort, als Georg mich zu sich rief. Sein Kopf glühte – seine Hände waren heiß.

»Du fieberst!« rief ich erschrocken.

»Mir war schon diese Nacht nicht recht wohl, – ich wollte nur heute die Universität nicht versäumen –« ein harter Husten ließ ihn verstummen. »Aber es ist nichts, Kindchen, nichts, – ein Katarrh vielleicht!« Wieder eine Pause. – »Komm einmal her zu mir, Liebling, – ganz nah –« ich kniete neben ihm – sein rascher, heißer Atem berührte mein Gesicht – »du – du liebtest wohl jenen Hessenstein?«

»Georg!!« Mir stieg das Blut in die Schläfen. »Wie kommst du darauf?«

»Ihr – ihr saht euch an – wie – wie Menschen, die zusammengehören!«

Lächelnd drückte ich meine Wange an seine schmalen Hände. »Nie – Georg, – nie – gehörten wir zusammen!« meine Augen richteten sich klar auf ihn. »Und wenn es gewesen wäre, – bin ich heute nicht dein – nur dein?!«

»O du – du!« stöhnte er; seine Arme preßten sich um meine Schultern, – in meinen Haaren vergrub er sein Gesicht, – gegen meine Brust pochte sein Herz in wilden Schlägen.

Er hatte keine Ruhe mehr vor dem Schreibtisch, ich mußte ihn auf und ab fahren; der Husten nahm zu, und jedesmal, wenn er den armen Körper schüttelte, verzogen sich schmerzhaft die Züge. Ich schickte zum Arzt. Er untersuchte ihn und lächelte beruhigend, als Georgs Blick in angstvoller Frage den seinen suchte.

[538] »Eine Erkältung. Halten Sie sich hübsch ruhig, – dann ist's bald vorbei.«

In der Nacht stieg das Fieber. Er ließ meine Hand nicht los. Von Zeit zu Zeit sah er mich flehend an, und flüsterte kaum hörbar: »Küsse mich!«

Ich wich nicht von seiner Seite, drei Tage und drei Nächte lang.

»Sie müssen Hilfe haben,« – sagte schließlich der Arzt. Ich schüttelte nur den Kopf. Am Nachmittag des vierten Tages schien das Fieber zu sinken. Die Augen wurden wieder klar.

»Ich habe mit dir zu sprechen, meine Alix,« begann der Kranke mit ruhiger, fester Stimme. »Es geht zu Ende mit mir, – weine nicht, Kindchen, – bitte, weine nicht! – Ich habe, glaube ich, meine Schuldigkeit getan –; was ich ungetan ließ, – du, du wirst es vollenden! – – Du wirst mir treu sein, – im höchsten Sinne treu –« fassungslos brach ich neben ihm zusammen – seine Hände lagen auf meinem Kopf – »über alles in der Welt habe ich dich geliebt –.« Nur wie ein Hauch kamen die Worte über seine Lippen – »zum Paradiese hast du mir das Leben gemacht, – hab Dank, – Dank –.« Ich verlor die Besinnung –

Auf meinem Bett fand ich mich wieder; es war tief in der Nacht, nur ein Licht brannte im Zimmer, die Mutter war neben mir, – so sanft und gut und leise, wie immer, wenn sie Kranke pflegte.

»Alix –« klang es tonlos aus dem Nebenzimmer. Ich stürzte hinein. Aufrecht auf seinem Stuhl saß Georg. Ich schlang den Arm um seine Schulter.

»Warum – warum läßt du mich sterben!« flüsterte es vor meinem Ohr. Sein Kopf sank an meine Schläfe. Tiefe, röchelnde Atemzüge kamen aus seiner Brust.

Wie lange ich regungslos saß, – ich weiß es nicht. – Fahl dämmerte der Tag durch die Scheiben. Der Arzt trat ein und umfaßte die wachsbleiche Hand –

»Es ist vorüber –«

[539]
21. Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel

Ein heißer Sommertag. Auf den Wiesen Grainaus brannte die Sonne. In üppiger Farbenpracht glänzten die bunten Blumen, ein sprühender Perlenregen war der Bach. Die Zugspitze spiegelte ihre leuchtenden Schneefelder im Rosensee. Schwül duftete um das Haus der Jasmin.

Ich lag in Decken gehüllt auf der Altane, – ich sah das alles, und doch sah ich's nicht. Tante Klothilde ging ab und zu. Sie war in Berlin eines Tages in mein Zimmer getreten, hatte mich tränenüberströmt in die Arme geschlossen und immer wieder die zwei Worte wiederholt: verzeih mir! Ich hatte ihr versprechen müssen, im Sommer zu ihr zu kommen.

Und nun war ich hier, – zu einer letzten, stillen Rast. Ich wußte, was ich zu tun hatte, wenn ich ihm, der unter grünem Efeu und roten Rosen lag, treu sein wollte. Mein Entschluß war gefaßt. In meinem Schreibtisch lag mein Abschiedswort an die Leser der Zeitschrift, die wir miteinander geleitet hatten, – und der Brief an meine Eltern, von dem ich wußte, daß er sie schmerzen würde wie nichts vorher. »Sie werden es überwinden« – dachte ich in meinen schlaflosen Nächten – »ich werde ihnen von da an eine Gestorbene sein!«

All das war mir nicht einmal schwer geworden, solange ich zu Hause in meinen einsamen Räumen war. Losgelöst fühlte ich mich schon von aller Vergangenheit: Zu den Eltern zurückkehren sollte ich, hatten Vater und Mutter in sorgender Liebe gemeint, – so wenig wußten sie von mir! Großmamas Heim [540] im Schloß von Pirgallen hatte mir Onkel Walter als Ruhesitz angeboten, – so wenig ahnten sie, daß ich nicht ruhen durfte!

Nur Martha Bartels hatte mich verstehen gelernt, während sie mir in den schwersten Tagen der ersten Einsamkeit viele Arbeitsstunden opferte.

»Sie werden uns eine liebe Genossin sein –« hatte sie gesagt.

Eine Genossin! – Keines Menschen Geliebte, keines Kindes Mutter, – eine Gefährtin nur der Elenden und der Verfolgten. Es war fast ein Gefühl von Freude gewesen, mit dem ich Abschied genommen hatte.

Und nun wurde es mir auf einmal so bitter schwer!

O du Sommertag über den Bergen, wie wunderschön bist du!

Es liegt in der Luft wie eine große Sehnsucht, – und jubelnde Erfüllung zwitschern die Vögel und duften die Blumen. In den Sonnenstrahlen glüht jedes Blatt wie Gold, blutrot färben sich zur Abendstunde die grauen Felsen. Und ein ganzer, großer Korb blühender Alpenrosen steht vor mir. – Ich will die Augen schließen, will das prangende Leben nicht sehen, – aber dann schleicht auf unhörbar linden Sohlen die Erinnerung in meine Träume ... Hier begegnete mir vor Zeiten das Glück ...

In der Morgenfrühe gleitet mein Kahn über den Badersee. Tief, tief bis zum Grund kann ich sehen, wo um smaragdne Moose glitzernd die Forellen streichen und versteinerte Baumriesen schlafen. Langsam schlepp ich meine müden Füße heimwärts durch den Wald, wo die Orchideen blühen.

Drüben beim Bärenbauern herrscht jetzt der Sepp als Hausherr. Sein junges blondes Weib trägt den ersten Buben an der Brust. Verlegen, die Mütze zwischen den Händen drehend, hatte er die alte Spielgefährtin begrüßt. Sie wußten im Dorf von mir: daß ich die »heilige Kirche« bekämpfte und es mit den Freidenkern hielt! Warum schmerzt mich das alles so sehr? Was konnten die Wenigen mir sein, da ich den Vielen gehörte?


[541] »Übermorgen muß ich fort,« sagte ich entschlossen zu meiner Tante – »du weißt, die Arbeit wartet nicht, und ich bedarf ihrer –«

»Bleib noch, mein Kind, bleib noch, – du bist noch so schwach,« bat sie.
»Ich werde dir morgen beweisen, daß ich stark bin« – lächelte ich ...

Es läutete gerade zur Frühmesse, als ich aus dem Gartentor trat. Einen Atemzug lang stand ich still, die Hände auf dem pochenden Herzen. Mir war, als hätte ich drüben, zwischen den Bäumen einen Menschen gesehen – eine Erscheinung aus ferner, ferner Vergangenheit.

Dann ging ich festen Schrittes weiter und warf ohne Besinnen meine Briefe in den blauen Kasten an der Post. Hörte ich nicht einen Schritt? – Es war wohl nur das Klopfen und Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren.

Auf den Stock gestützt, schritt ich langsam bergauf. Wie doch die Bäume gewachsen waren auf der Schonung! Früher reiften hier in der Sonne die süßesten roten Beeren. Und weiter droben war ein neuer Schlag – kleinwinzige Tannenpflänzchen guckten schon neugierig zwischen Grasbüscheln und alten Wurzeln hervor.

Über die Steinhalde lief ich sonst, – heute wurde mir das Atmen recht schwer!

Nun ging's durch den Wald über Sturzbäche, höher und höher, bis der Weg nur als schmales Band an der schroffen Felsenwand des Waxensteins entlang führt. Tief unten braust und schäumt der Höllentalbach.

O, ich kenne noch keinen Schwindel – findet meine Sohle nur einen Fuß breit Erde, so stehe ich sicher!

Wie frei weht die Luft hier oben – wie leicht läßt es sich [542] atmen! Über himmelhohem Abgrund schwingt sich die eiserne Brücke von Berg zu Berg, und jenseits führen Leitern wieder empor. Auf weichem Moos unter einer Tanne, die ihre Wurzeln keck um einen Felsvorsprung klammert, halte ich Rast. Im Halbkreis schieben sich hier die Berge aneinander, ein Zirkus, von Riesen gebaut, bestimmt für die Spiele unsterblicher Götter.

Da hör' ich Schritte – Nagelschuhe auf Felsstufen, – ein Wilddieb vielleicht, oder ein Bergführer, der über die Knappenhäuser zur Hochalm will. Ich stehe auf – die Hand fest um den Stock –, hier gibt es kein Ausweichen. Und schon sehe ich ihn vor mir, den einsamen Wanderer, die Spielhahnfeder am grünen Hut, ein gebräuntes Antlitz darunter, mit Augen – –! Ein Zittern durchläuft meinen Körper –

»Warum erschrickst du vor mir, Alix, – ich bin ja nur ein Gespenst unserer Jugend –«

Ich raffe mich zusammen und seh' ihm gerad' ins Gesicht. Wie hart sind die weichen Züge geworden, denke ich. Das Blut strömt mir wieder zum Herzen.

»Laß mich vorüber, – ich glaube nicht an Gespenster,« sag' ich, den Ton meiner Stimme zur Kälte zwingend.

»Du gingst denselben Weg wie ich: hinauf!« gibt er leise zurück und rührt sich nicht von der Stelle.

»Denselben Weg?! Nein, – unsere Wege sind längst auseinandergegangen, – und daß der deine emporführt – daran erlaubst du mir wohl, zu zweifeln!« antworte ich höhnisch, – meine eigenen Worte stechen mich wie lauter Nadeln.

»Ich suchte dich, Alix, – seit Wochen, – kein Zufall ist's, daß ich hier bin –;« aus seinen Augen dringt ein blaues Blitzen –

»Du – mich?!« Ich lache, daß es vom Felsen wiederklingt, – aber in meinem Herzen weint es.

»Ich liebe dich,« flüstert er – »ich habe geglaubt, ich könnte dich vergessen, – aber meine Sehnsucht bliebst du, – mein ganzes Leben war ein einziges Warten auf dich. Endlich hab' [543] ich dich gefunden! Alix, mein Lieb, – verlaß mich nicht wieder!« Und flehend, wie ein Hungernder, streckt er die geöffneten Hände mir entgegen.

»An eine Nacht denke ich, Hellmut, in der ich vor dir stand und dir schenken wollte, was du heut' begehrst; – jetzt hab' ich nichts mehr, bin bettelarm! – Ich liebe nur noch die Erinnerung, – nicht dich; – du bist ein fremder Mann für mich, – an dem ich vorüber muß –«

In meinem Herzen zuckt es, wie ein verborgenes Leben, das mit dem Tode ringt –

»Ich will um dich werben, Alix, – demütig – geduldig, – an meiner Liebe wirst du Kalte wieder warm werden –«

Ich schüttle den Kopf. »Nein!« sagt eine harte Stimme. War das die meine?!

Er richtet sich auf, sein Blick erstarrt, – er tritt zurück, und ohne aufzusehen schreite ich an ihm vorbei, – sehr langsam, schwer atmend, auf den Stock gestützt.

Hoch oben, wo auf grüner Halde um die Ruinen der Knappenhäuser in dichten Büschen dunkelblaue Vergißmeinnicht blühen, sehe ich noch einmal hinab: auf dem Wege zu Tal steht eine graue Gestalt, vom Dunst der Tiefe halb verwischt: meine Jugend.

Und der steile Steg, den ich gehen will, wohin führt er?

[544]

Kampfjahre

1. Kapitel
Erstdruck: München (Albert Langen) 1911.
Erstes Kapitel

Eine gewitterschwüle Juninacht. In der Kabine unten hatte ich es nicht ausgehalten. Die eingeschlossene Luft legte sich zentnerschwer auf Kopf und Brust, und das melancholisch eintönige Anschlagen der Wellen an die Fenster preßte mir das Herz zusammen, als ob das Unglück selbst es in seinen harten Händen hielte.

»Ich bin seefest,« hatte ich der warnenden Stewardeß zugerufen, als ich die schwankende Treppe hinaufgestiegen war. Zwei-, dreimal atmete ich auf, tief und schwer, wie nach überstandener Anstrengung, ehe ich mich in den Korbstuhl fallen ließ. Am Himmel jagte, vom Wind gepeitscht, ein schwarzes Wolkenheer. Dunkel und drohend rollten die Wellen dem Schiff entgegen. Kein Mondstrahl spiegelte sich in ihnen, kein Stern erleuchtete das finstere Firmament. Langsam verschwanden am Horizont die Küste von Holland und mit ihr die letzten freundlichen Lichter.

Ich war allein – ganz allein. Ich sammelte meine Gedanken, die das Fieber der letzten Tage durcheinandergewirbelt hatte wie der Sturm die Schaumperlen auf dem Wasser. War das Gebäude meines neuen Lebens, das ich mir droben auf den Bergen mit eigenen [3] Händen stolz und selbstsicher errichtet hatte, nichts als ein Kartenhaus gewesen, das ein Stoß mit der Hand umzuwerfen vermochte? Ich griff suchend in die Tasche meines Mantels, es war kein Traum, sondern grausame Wirklichkeit: meiner Mutter Brief knisterte noch darin. Ich konnte ihn auswendig. Schon auf der Fahrt von Grainau nach Berlin hatte ich ihn gewiß zehnmal gelesen.

[3] »Es ist mir, Gott sei Dank, möglich gewesen, Deinen Brief ohne Wissen Deines Vaters in die Hand zu bekommen,« hieß es darin, »und ich schreibe Dir in größter Hast, Gott anflehend, daß es meinen Worten gelingen möchte, das Schrecklichste von uns allen abzuwenden. Was ich immer schon fürchtete, als ich mit anhören mußte, wie Dein verstorbener Mann und Du unseren Herrn und Heiland verleugnetet, und in Euren ›Ethischen Blättern‹ las, wie Ihr immer wieder für die Umsturzpartei eintratet, das ist jetzt geschehen. Der Samen, den Georg in Deine Seele streute, ist aufgegangen: kühl und geschäftsmäßig, als handle es sich um den Plan eines Spazierganges, teilst Du uns mit, daß Du Deine Redaktionsstellungen aufgegeben hast, um Dich ganz und gar der Sozialdemokratie in die Arme zu werfen. Deine große Verirrung, Dein Unglaube haben Dich, wie es scheint, für alles, was Pflicht, Gehorsam, Liebe und Rücksicht heißt, blind und taub gemacht, sonst müßtest Du wissen, daß Du mit einem solchen Schritt Deinem ganzen bisherigen Verhalten Deinen Eltern, Deiner Familie gegenüber die Krone aufsetzest. Dieser Partei, die alles besudelt und mit Füßen tritt, was uns heilig ist: Gott und Christentum, Familie, Ehe, Monarchie und Militär, sollen wir unser Kind überlassen? Es wäre in dem Augenblick für uns gestorben! Aber freilich, das ist Dir einerlei, Du wirfst leichten Herzens alles über Bord, was Deinem Eigensinn, Deinem Ehrgeiz, Deiner Eitelkeit hindernd in den Weg tritt. Wenn Du aber damit Deinen armen Vater mordest – von mir will ich gar nicht reden, eine Mutter scheint dazu da zu sein, daß die Kinder sie mit Füßen treten, – wirst Du auch dann noch Deiner Selbstherrlichkeit froh werden können?! Du weißt, daß es ihm in letzter Zeit gar nicht gut geht. Vor ein paar Tagen fiel er vom Pferd; er sagt, er sei gestürzt, Bruder Walter aber, der dabei war, ist überzeugt, daß es ein leichter Schlaganfall gewesen ist. Die kleine Braune, deren Ruhe du kennst, machte keinerlei Bewegung, er glitt eben einfach aus dem [4] Sattel. Seitdem leidet er an Schwindel und Kopfschmerz und ist schwerer zu behandeln denn je. Jede Aufregung kann einen neuen Anfall hervorrufen, der ihn tötet. Ich wollte nur, ich könnte dann mit ihm sterben, ehe ich so etwas mit Dir erleben müßte ...!«

Als ich diesen Brief erhalten hatte, waren meine Austrittserklärungen aus den Redaktionen der »Ethischen Blätter« und der »Frauenfrage« schon versandt worden. Kaum in Berlin angekommen, fand ich die Mitteilung davon in der Presse und die nötigen Kommentare dazu: »Frau von Glyzcinski hat den längst erwarteten Schritt getan, und die Sozialdemokratie kann sich ob dieser ebenso interessanten wie pikanten Aquisition ins Fäustchen lachen« ... so und ähnlich lauteten sie.

Am nächsten Morgen in aller Frühe war meine Schwester blaß und verängstigt zu mir gelaufen:

»Wir sind mit dem Arzt im Komplott,« hatte sie mit stockender Stimme gesagt, während die Tränen ihr unaufhaltsam über die Wangen liefen, »er verbietet Papa, auszugehen. So liest er wenigstens im Kasino die Zeitungen nicht. Und die Post wird dem Briefboten an der Hintertreppe abgenommen ... Ach, Alix, – du weißt nicht, wie gräßlich es zu Hause ist ... Ich muß Papa immer was vormachen, damit er nichts merkt und Mama nicht zu sehr quält ... Am liebsten liefe ich selber davon ...«

Zu Tisch war ich dann mit ihr zu den Eltern gegangen.

Meines Vaters Anblick hatte mich erschüttert.

»Kommst du wirklich noch zu einer halben Leiche?!« hatte er bitter lachend gesagt. »Ihr könnt's ja wohl gar nicht erwarten, daß eine ganze draus wird. Herr Gott, – wie hübsch könntet ihr dann eurem Vergnügen leben!«

Mama begleitete mich nach Hause: »Habe den Mut, ihm deinen Entschluß ins Gesicht zu sagen! – So einen Brief schreiben und alle Folgen auf Mutter und Schwester abwälzen, – das ist freilich eine Heldentat, die dir ähnlich sieht!«

[5] Abends war Frau Vanselow noch gekommen, – tief bekümmert. »Ich verstehe Ihren Entschluß, – wenn ich so jung wäre wie Sie, ich täte dasselbe –, aber das hindert mich nicht, ihn schmerzlich zu bedauern. Unsere ›Frauenfrage‹ ist nichts ohne Sie. Und darum bitte ich Sie recht herzlich, wenn ich schon die Mitredakteurin verlieren soll, so doch wenigstens nicht die Mitarbeiterin. Mehr als je können Sie jetzt für die Einheit der ganzen Frauenbewegung wirken.« Und dann hatte sie mir die Einladung zum Internationalen Frauenkongreß nach London vorgelesen, die auf unser beider Namen lautete. »Wieviel könnten gerade Sie, meine liebe, junge Freundin, dort lernen und leisten – England, das klassische Land der Frauenemanzipation ...!«

In der Nacht kämpfte ich einen schweren Kampf. Meine Überzeugungen, meine Zukunftsträume, meine Hoffnungen standen alle bis an die Zähne gewappnet auf wider mich.

Sehr langsam, sehr müde schlich ich am Tage darauf zu den Eltern. Noch nie war mir der Flur, in dem auch heute, an einem strahlenden Frühsommertage, das kleine Lämpchen brannte, so eng, so dunkel vorgekommen und die Zimmer mit ihren schweren Vorhängen so kalt.

Rasch, wie ein Schulmädchen, das den eingelernten Vers herunterhaspelt, um nur nicht stecken zu bleiben, erzählte ich von der Einladung nach England.

»Wenn ihr nichts dagegen habt, möchte ich mit Frau Vanselow hinüberreisen. Ich kann dabei viel gewinnen. Die englische Frauenbewegung ist uns weit voraus, die ganze soziale Hilfstätigkeit ist glänzend organisiert, – ich werde mir für meine eigene Arbeit ein Muster nehmen können. In schlechte Gesellschaft komme ich auch nicht,« hatte ich mit erzwungenem Lächeln hinzugefügt, »denn Gräfinnen und Herzoginnen sind unsere Gastgeber ...«

Mama verstand. Sie strahlte. Klein-Ilschen, die sich bei [6] meiner Ankunft verschüchtert in eine Ecke geflüchtet hatte, sprang auf und wirbelte lustig im Zimmer umher, der Vater schien förmlich elektrisiert von all den Aussichten, die sich mir boten. Er studierte das Kursbuch, das Konversationslexikon und schickte die Minna zum nächsten Buchhändler, um den neuesten Baedeker von London zu holen.

Immer wieder griff er verstohlen nach meinen Händen und streichelte sie so sanft, so leise, daß ich den Kampf der Nacht vergaß und nichts fühlte als seine Liebe.

Die Reisevorbereitungen, der Abschied, – der Vater hatte sich's nicht nehmen lassen, mich frühmorgens zur Bahn zu bringen und mir, wie ein feuriger Liebhaber, einen Strauß blühender Rosen in die Hand zu drücken, – die Eisenbahnfahrt in Begleitung von Frau Vanselow und Frau Schwabach, die unaufhörlich von ihrer Vereinsarbeit sprachen, hatten mich bis zu diesem Augenblick nicht zu Atem kommen lassen.

Ach, und warum schlief ich nicht jetzt, statt heraufzubeschwören, was vergangen war, und in schmerzhafter Sehnsucht an den zu denken, den ich nicht erwecken konnte? Ich sah die Nacht um mich her und die große Einsamkeit – war Georg nicht erst jetzt für mich gestorben? Mich fröstelte; feucht und kalt klebten mir die Kleider am Leibe.

»Ich will schlafen gehen,« murmelte ich ... und die Augen fielen mir zu ...


Im Morgengrauen lag die Küste Englands vor mir, unfreundlich und nüchtern. Mit jener unwirschen Rücksichtslosigkeit aller Unausgeschlafenen hasteten und stießen sich die Schiffspassagiere. Ich ließ mich schieben, – es war ja alles so schrecklich gleichgültig.

»Frau von Glyzcinski?!« – Überrascht sah ich auf.

»Mister Stratford?« – Der rotblonde Hüne, der mich eben [7] begrüßt hatte, nickte erfreut. Wie einen Gruß von Georg, so empfand ich seinen Händedruck; er war sein bester Freund gewesen, seine Schriften, seine Briefe hatten ihn mir wie ein Echo Georgs erscheinen lassen. Und mit leisem Lächeln mußte ich der Stunde gedenken, in der mir der Verstorbene gestanden hatte, daß er zwischen uns den Heiratsvermittler habe spielen wollen, ehe er daran zu denken wagte, ich könne ihn – den armen Gelähmten – jedem anderen vorziehen.

Stratford war überzeugter Sozialist wie Georg, nur daß er noch mit aller Energie an dem Standpunkt der Ethischen Gesellschaft festhielt: sich offiziell keiner Partei anzuschließen. Wir gerieten während der Eisenbahnfahrt nach London in eine eifrige Debatte.

»Grade Menschen wie wir können für die Verbreitung der Ideen des Sozialismus außerhalb der politischen Organisation weit mehr und nachhaltiger wirken, als wenn wir ihre eingeschriebenen Mitglieder wären,« sagte er. »Wir verzetteln und verzehren unsere Kräfte nicht im Kleinkram des Parteilebens, wir finden Gehör, wo wir sonst von vornherein auf Mißtrauen stoßen würden.«

»Und Sie als Ethiker können es verteidigen, daß wir mit geschlossenem Visier kämpfen und unsere Überzeugungen durch Hintertüren in die Häuser tragen?« rief ich. »Ich komme mir dabei vor wie ein Feigling und ein Betrüger!«

Er lenkte ein: »Sie mögen in Deutschland, wo der ganze Sozialismus sich in der Partei konzentriert, zu dieser Empfindung ein Recht haben, bei uns gibt es nichts, das der deutschen Sozialdemokratie auch nur annähernd ähnlich wäre. Wir sind viel zu individualistisch, um uns herdenweise zusammenscharen zu lassen; Sie werden daher unseren Sozialismus und seine Ausbreitung nicht nach dem Dutzend kleiner Vereine beurteilen müssen, sondern nach den Scharen freier Sozialisten, die in allen Gesellschaftsschichten zu finden sind.«

[8] Meine Unwissenheit in bezug auf englische Verhältnisse fiel mir plötzlich schwer aufs Gewissen. Ich ließ meinen Begleiter erzählen, der sich, wie es schien, gern reden hörte, und warf nur hie und da eine Frage dazwischen, um seinen Redefluß auf die von mir gewünschten Bahnen zu lenken. Ein Kaleidoskop bunter Bilder reihte sich vor mir auf: von der Ethischen Gesellschaft an, deren Sprecher er war, bis zu den politischen Kämpfen zwischen der konservativ-unionistischen Koalition gegen das liberale Ministerium Rosebery-Harcourt. Ich war ganz benommen, als wir uns London näherten.

Einzelne Häuser tauchten auf, grau, nüchtern, mit trüben Fensterscheiben und dünnen schwarzen Schornsteinen; sie schoben sich rechts und links zusammen, enger und enger, sie verdrängten schließlich das letzte Streifchen grünen Rasens; schmal, feuchtglänzend wie Riesenwürmer, wanden sich unten die Straßen zwischen den Mauern. Ein schmutzig-grauer Nebel umhüllte alles, nicht wie ein Schleier, der phantastische Vorstellungen von dahinter verborgener Schönheit zu wecken vermag, – wie ein nasses Tuch vielmehr, das die Häßlichkeit der Formen betont und jede Farbe verwischt, die sie mildern könnte. In der Bahnhofshalle brannten die Bogenlampen, sie wirkten wie flackernde Öllämpchen im Dunkel eines Kohlenbergwerks. Wir fuhren durch die Stadt: leichte Wagen und schwerfällige Omnibusse, Reiter und Radler schoben und drängten sich hin und her, kein Fußbreit Weges blieb frei zwischen ihnen. Auf den Bürgersteigen daneben hasteten die Fußgänger; gleichgültig, nur auf das eigene Vorwärtskommen bedacht, ohne einen Blick nach rechts und links. Selbst die Kinder liefen ernsthaft, gradausschauend weiter. Da war keiner, der Zeit hatte –, unsichtbar schienen in der Menge die Fronvögte der grausamen Herrin Arbeit ihre Geißeln zu schwingen.

Hier sollte ich Frieden finden und eine sichere Richtschnur für das kommende Leben?!

[9] »Westminster! – das Parlament,« hörte ich meinen Begleiter sagen. Ich blickte auf. An einem Palast mit gotischen Türmen und Fenstern fuhr der Wagen langsam vorbei. In vornehmer Abgeschlossenheit, hinter hohen Gittern lag er gestreckt am breit dahinflutenden Strom. Schüchterne Sonnenstrahlen brachen durch den Nebel, leuchteten durch das feine gotische Maßwerk, blitzten auf den Turmknäufen, sprangen hinüber zu der altehrwürdigen Kirche und ließen ihre bunten Fenster aufglühen, als stünde sie im Feuer.

Ein schmaler Weg am Ufer der Themse, hinter dem Parlament, einfach und still wie eine Dorfstraße, nahm uns auf. Wir waren am Ziel.

Meine Wirte, zwei alte Leute, hatten fast ihr ganzes Haus den Besuchern des Frauenkongresses zur Verfügung gestellt. Sie empfingen mich so herzlich, als wären wir alte Freunde. Man versammelte sich gerade zum Frühstück. Warum waren die Leute nur alle so feierlich? Selbst Stratford legte das Gesicht in würdevolle Falten, – fünf himmelblau gekleidete Dienstmädchen traten ein, – ein Harmonium ertönte, – helle Stimmen sangen einen Choral. Dann las der Hausherr mit dem Tonfall katholischer Priester einen Bibelabschnitt, – ein Gebet folgte. Alles kniete nieder, den Kopf in den Händen vergraben, – auch Stratford, Georgs Freund, der Atheist. Ich fühlte, wie ich rot wurde vor innerem Zorn; ich allein blieb stehen.

»Wie können Sie nur?!« frug ich ihn empört, als er sich verabschiedete.

»Es ist ja nur eine Form!«

»Durch all unsere Rücksicht auf die Form helfen wir die Sache erhalten!«


[10] Am Abend wurde der Kongreß durch einen feierlichen Empfang der ausländischen Delegierten eröffnet. Eine Schar weißgekleideter Mädchen, mit breiten Schärpen in den Landesfarben über der Brust, bildete Spalier auf der Treppe von Queenshall; in ein Meer von Licht war der Riesenraum getaucht, und alle Blumen des Sommers leuchteten und dufteten rings umher. In großer Toilette erschienen die Delegierten, bei jeder Eintretenden ging ihr Name flüsternd von Mund zu Mund. Und wie sie bekannt waren, so kannten sie sich untereinander und begrüßten sich wie alte Kriegskameraden. Ich kam allein in meinem schwarzen Trauerkleid, über das der Witwenschleier schwer herunterfiel. Es war ein leerer Raum um mich, als ob meine dunkle Erscheinung alles Bunte, Helle von sich stieße. Mich kannte niemand. Ein scheu-verwundertes »Wer ist das?« schlug an mein Ohr.

Auf der Estrade versammelten sich die Delegierten, und jede von ihnen begrüßte im Namen ihres Heimatlandes die wogende Menschenmasse unter uns. Da waren sie alle, die alten Vorkämpferinnen, die Frauen Amerikas und Australiens, die ihrem Geschlecht die Hörsäle der Universitäten und die Pforten zum Parlament eröffnet hatten. Ein neuer Weibestypus: statt der weichen Madonnengesichter, die die Stille und Enge häuslichen Lebens formt, schmale, scharfgeschnittene Züge, wie sie die Welt ihren Bürgern meißelt; statt des treuen, warmen Blicks, der über Kinderstube und Küchengarten nicht hinauszuschauen braucht, die wissenden, ernsten, leidenschaftdurch funkelten Augen jener, denen des Lebens dunkle Abgründe sich offenbaren. Neben ihnen, den Siegerinnen, standen die noch immer Besiegten: die dunkeläugige Türkin im schimmernden Märchengewande der Scheherezade, die Abgesandte Indiens, den schlanken braunen Leib in weiche Schleier gehüllt. Stolz erzählten die einen von ihren Triumphen, klagend die anderen von ihren Leiden, – Triumphen auf dem Gebiete des wissenschaftlichen, [11] des sozialen, des politischen Lebens, – Leiden, hervorgerufen durch sexuelle, soziale und rechtliche Unterdrückung, als ob Befreiung und Not ihres Geschlechtes damit erschöpft wären. Immer heftiger schlug mir das Herz: ich sah wie im Traum vor den Türen dieses glänzenden Saales Scharen blasser Frauen im farblosen Kleide der Arbeit, wie Werkstätten und Fabriken sie allabendlich zu Tausenden in ihr elendes Heim entlassen. Und als mein Name gerufen wurde, und die weiße brillantengeschmückte Hand der Präsidentin sich mit einer leise bevormundenden Bewegung auf meine Schultern legte, während sie von Deutschlands rechtlosen Frauen, von meinem ersten Auftreten für ihre politische Gleichstellung sprach, da wußte ich, was ich zu sagen hatte.

»Die Millionen Frauen, die unsere Hemden weben und unsere Kleider nähen, haben mich nicht delegiert, aber ich fühle mich als ihre Abgesandte und nur als die ihre.«

Sekundenlanger Beifall unterbrach mich, – galt er nicht mehr meinem gebrochenen Englisch und meiner Trauerkleidung als meinen Worten? Mit einem Blick voll Geringschätzung streifte ich die elegante Zuhörerschaft. Ich werde euch schon verstummen machen –, dachte ich.

»Ihre Vorsitzende rühmte mich als die erste deutsche Frau, die in öffentlicher Versammlung das Stimmrecht für ihr Geschlecht gefordert habe. Ich muß dieses Lob ablehnen. Seit Jahren tragen deutsche Arbeiterinnen von Ort zu Ort die Fahne der politischen Gleichberechtigung, und an der Spitze der Arbeiterpartei, der Sozialdemokratie, steht ein Mann, dem die Frauen der ganzen Welt zu Dank verpflichtet sind: August Bebel.«

Ich hielt unwillkürlich inne, ich erwartete einen Tumult, statt dessen erhoben sich alle Hände zu einmütigem Applaus, und selbst die Damen des Präsidiums, unter denen sich die vornehmsten Frauen Englands befanden, lächelten mir freundlich zu.

Am Ausgang des Saals trat mir eine starkknochige ältere [12] Frau entgegen. In dem Druck ihrer harten, unbehandschuhten Hand erkannte ich die Arbeiterin. »Ich bin Sozialdemokratin,« sagte sie, »und möchte Sie als Genossin begrüßen.« Auf dem Heimweg begleitete sie mich, und ich gab meiner Verwunderung und meiner Freude Ausdruck über das Erlebte. Sie lachte geringschätzig. »Was wollen Sie?! Wir sind in England! Wenn ein Prinz Anarchist und eine Aristokratin Sozialistin ist, so gilt das als ganz besonders interessant. Passen Sie auf: man wird sich um Sie reißen. Für unsere Sache aber hat das gar keine Bedeutung.« Sie nannte mir ihren Namen – Amie Hicks – und ihre Wohnung, fern im äußersten Norden Londons. »Besuchen Sie mich einmal; ich werde Sie in Arbeiterkreise führen.«

Im Trubel der nächsten Zeit war daran nicht zu denken. Der Kongreß und seine Veranstaltungen nahmen mich ganz in Anspruch. Ich fehlte zwar oft; nicht nur, um den Morgen- und Abendandachten aus dem Wege zu gehen, mit denen die Sitzungen regelmäßig eingeleitet und geschlossen wurden, sondern auch, um Zeit zum Schreiben zu gewinnen.

In Gedanken an meine zusammenschmelzende Barschaft stieg mir das Blut oft siedeheiß in die Schläfen. Das sogenannte Gnadenquartal war mir als Witwe eines Universitätsprofessors freilich bewilligt worden, aber schon vom nächsten Monat ab hatte ich nichts Sicheres zu erwarten als meine kleine Pension von hundert Mark monatlich. Ich hatte kaum an den pekuniären Ausfall gedacht, als ich meine Redaktionsstellungen aufgab. Nun hieß es: arbeiten, zusammenschreiben, was ich zum Leben nötig hatte. Ich wußte nicht einmal, wieviel das war. Ich hatte nie mit dem Pfennig gerechnet. Wie gut, daß mein Trauerkleid mir wenigstens ersparte, den Luxus der anderen mitzumachen.

Mit Einladungen wurden wir überschüttet: vom Lord-Mayor an, der uns mit dem ganzen Pomp seiner unnachahmlich würdevollen Stellung empfing, wetteiferte alles in schier grenzenloser Gastfreundschaft. Hinaus aufs Land führten uns [13] Extrazüge, – jenes Land voll rührender, weicher Schönheit, mit seinen grünen, sanft geschwungenen Hügeln, seinen dunklen Buchengruppen und stillen rosenumsponnenen Häusern. Fast unmerklich für Auge und Sinn geht die freie Natur in den Blumengarten, in den Schloßpark über, nicht wie bei uns, wo die ihr mit allen Mitteln mühsam aufgezwungene Kultur oft so verletzend wirkt wie protziger Reichtum neben dürrer Armut. Und in die Häuser Londons waren wir geladen, die, wie Menschen von alter Kultur, nach außen die gleichförmige, oft langweilig wirkende Maske guter Erziehung tragen und erst dem Gast, dem sich die Pforten öffnen, den ganzen inneren Reichtum individuellen Lebens zeigen. Berlin und die Berliner fielen mir dabei ein, wo Fassaden und Kleider, um Originalität vorzutäuschen, einander an Buntheit zu übertreffen suchen, während im Inneren Tapeziergeschmack und Konvention uneingeschränkt herrschen.

In Wohltätigkeits- und Bildungsanstalten aller Art wurden wir eingeführt, und wie in der Frauenbewegung, so imponierte mir hier die Einheitlichkeit ihrer Organisation, deren gewaltige Räderwerke so selbstverständlich ineinander griffen wie die jener Dampfturbinen, bei deren Anblick wir nicht wissen, ob wir die praktische Kunst ihrer Schöpfer oder die fremdartig-neue Schönheit ihres Baus mehr bewundern sollen.

Der Kongreß selbst war eine Parade, wie fast alle Kongresse. Die Reden, die gehalten, die Berichte, die gegeben wurden, waren den Eingeweihten ihrem Inhalt nach aus Büchern und Broschüren bekannt. Der Austausch von Meinungen, der das wichtigste gewesen wäre, wurde an zweite Stelle gerückt, er hätte die Ordnung und den Glanz der Heerschau am Ende trüben können. So wäre als Gewinn allein die Anknüpfung persönlicher Beziehungen übriggeblieben, aber auch er war bei näherem Zusehen für mich nur gering: diese Frauen hatten mir nichts Neues zu sagen. Ihr A und O, das Frauenstimmrecht, war für [14] mich in dem Augenblick erledigt gewesen, als ich die Selbstverständlichkeit seiner Forderung erkannt hatte.

Bei einer internen Sitzung der Delegationen wurde ich zur Präsidentin für Frauenstimmrecht in Deutschland gewählt. Meine ablehnende Haltung wurde unter allgemeinem Erstaunen als eine Aufgabe des Prinzips betrachtet.

»Sie alle haben ihre ganze Kraft auf die Lösung dieser einen Frage konzentriert,« sagte ich in dem Versuch, mich verständlich zu machen, »ich bewundere Sie, aber ich kann Ihnen nicht folgen. Das Frauenstimmrecht ist heute für mich nicht mehr das Ziel, für das ich mein Leben einsetze, es ist nur ein Ziel, nur eine Etappe ...«

Man verstand mich nicht, von irgendeiner Seite fiel sogar das scharfe Wort: »... unbrauchbar für praktische Arbeit.«

Gleich nach der Schlußsitzung des Kongresses wechselte ich mein Domizil. Freunde von Stratford – ein liberaler Parlamentarier und seine schöne elegante Frau – hatten mich in ihr Haus am Hydepark eingeladen. Alles trug dort den Anstrich ausgesuchtester Vornehmheit: vom Zeremoniell der Lebensweise, dem deutschen Hauslehrer und der französischen Gouvernante bis zu dem würdevollen, glattrasierten Bedienten und dem niedlichen Kammermädchen. Hausherr und Hausfrau verstießen mit keiner Miene und keiner Bewegung gegen die Regeln der guten Gesellschaft, und doch wurde ich den Eindruck nicht los, der uns gegenüber guten Kopien großer Meisterwerke oft befällt: wir erstaunen über die Technik und vermissen um so schmerzhafter den Geist. Daß Stratford sich hier heimisch fühlte, mit allen Fibern die parfümierte Luft dieser von tausend Nichtigkeiten überladenen Salons einatmete, machte ihn mir noch fremder. Und als ich ihn in der Ethischen Gesellschaft reden hörte inmitten einer Korona von lauter typischen Vertretern der Geldaristokratie, denen seine Sittenpredigten dieselbe angenehme Emotion boten wie die Moral der biblischen Geschichten [15] den Frommen in der Kirche, da mußte ich mir seine Briefe, seine Schriften ins Gedächtnis rufen, um noch Georgs Freund in ihm zu erkennen.

Er ging den Weg, den ich nach dem Wunsche meiner Familie gehen sollte, – wie würde ich jemals imstande dazu sein?!

»Sie sind sehr ungerecht,« sagte er eines Tages, als ich ihm in meiner heftigen Art, die der Unruhe meines eigenen Innern entsprang, über seine Tätigkeit als »Modeprediger« Vorwürfe machte. »Sie kennen mich nur von der einen Seite.« Noch am selben Abend sollte ich die andere kennen lernen.

An der Ecke von zwei engen Straßen, beim Scheine einer trübe flackernden Laterne sprach er über die Ethik des Sozialismus. Zuerst blieben nur ein paar neugierige Bummler stehen, aber je stärker seine Stimme von den Mauern widerhallte, desto mehr Menschen sammelten sich um ihn. Müde, zerlumpte Gestalten krochen wie Nachtgespenster aus den Kellern hervor, Hoftüren öffneten sich, und umwogt von einer Wolke ekler Gerüche erschienen Frauen mit zerwühlten Zügen, halbwüchsige Mädchen, deren freches Grinsen allmählich zuckendem Schluchzen wich. Mit wüstem Geschrei stießen sich trunkene Burschen aus der nächsten Kneipe heraus, und nach und nach entzündeten sich Lichter des Verstehens in ihren eben noch blöd glotzenden Augen. Die Straße wurde schwarz vor Menschen. Stratford sprach mit steigender Begeisterung. Um seinen roten Bart tanzten die Lichter der Laternen, seine Augen strahlten vom eigenen Feuer. Ich hörte kaum, was er sagte, ich sah nur die Wirkung seiner Worte. Aus den vertiertesten Gesichtern brach ein Schein von Menschentum hervor, ein froher Zug von Hoffnung verwischte tiefe Kummerfalten.

Wir gingen schweigsam durch die Nacht nach Hause. Vor der Türe reichte ich ihm die Hand.

»Ich würde Sie nach dem, was ich eben erlebte, um Verzeihung bitten, meiner Vorwürfe wegen, wenn ich nicht gerade [16] dadurch wüßte, daß Sie doppelt schuldig sind. Ein Mann wie Sie gehört der Sache des Sozialismus, und keiner anderen ...«

»Vielleicht haben Sie recht,« antwortete er leise, »wären nur nicht der Fesseln so viele, die uns an das andere Leben schmiedeten – –«

»Wir werden sie beide zerbrechen müssen –«


Im Hause meiner Gastfreunde drehte sich das Interesse fast ausschließlich um Fragen der Politik. Was für andere Frauen der Gesellschaft der Flirt, die Kunst, die Toilette, das Theater war: Reizmittel für ihr Nervensystem, – das war die Politik für Mrs. Dew. Fast täglich war ich mit ihr im Parlament; sei es, daß wir den Kommissionsberatungen des neuen Fabrikgesetzes beiwohnten – das Publikum hatte ohne weiteres Zutritt – oder in den Wandelgängen und auf der Themseterrasse zwischen Tee und Eis mit den Abgeordneten debattierten. Seltsam: man nahm uns ernst; vergebens erwartete ich auf den Zügen der Männer jenes gönnerhaft mitleidige Lächeln, mit dem meine Landsleute die politisierende Frau zu betrachten pflegten. Eine gewisse Zurückhaltung mir gegenüber entsprang weniger der Tatsache, daß ich ein Weib, als daß ich eine Deutsche war, die offenbar nur im Bilde der »guten Hausfrau« im Bewußtsein der Engländer lebte.

Schon war es gewitterschwül in den feierlich-hohen Hallen des Parlaments, bei jeder Gelegenheit drohte ein Wetterstrahl die Regierung zu stürzen, und die von Elektrizität geladene Luft drang bis hinter die engen Gitterstäbe der Damengalerie. Unruhiger als sonst raschelten die seidenen Kleider, unterdrückte Erregung durchzitterte die Flüstergespräche. Man achtete kaum der Redner im Saal, man erwartete nur die Katastrophe. Da plötzlich klang eine Stimme von unten empor, rollend wie ferner Donner, – dann wieder tief und schwer wie der Ton riesiger [17] alter Kirchenglocken, – die Damen verstummten, – drängten sich enger an das Gitter, – und aus ihrer bequemen Stellung auf den weichen Polstersitzen reckten sich die Abgeordneten auf. Ich hörte nur die Stimme, den Redner sah ich nicht, aber ich empfand ihn als einen, der zum Herrschen bestimmt war. »Wer ist das?« »John Burns!« – John Burns – der Verräter?! So war er in der deutschen sozialistischen Presse von dem Augenblick an bezeichnet worden, in dem er sich grollend von der englischen Partei losgesagt hatte. Noch am selben Abend stellte Mr. Dew ihn mir vor. Ich war zuerst enttäuscht: Alles überragend hatte ich den Träger dieser Stimme mir gedacht, nun trug er auf dem untersetzten kräftigen Körper nur den Kopf eines Riesen. Dunkle Haare erhoben sich widerspenstig über der breiten, scharf durchfurchten Stirn; hinter buschigen Brauen glänzte ein Augenpaar, das in seiner nächtigen Färbung und fieberhaften Lebendigkeit der Herkunft aus diesem helläugigen Volke Hohn sprach.

Er schüttelte mir kräftig die Hand. Die seinige war breit und schwer, sie zeugte von dem Hammer, den sie geführt hatte; – wie war es möglich gewesen, daß ihr die rote Fahne entglitt, die sie einst an der Spitze des Heers der Arbeitslosen durch das entsetzte London getragen hatte? War dieser Mann nicht der geborene Schöpfer und Führer einer großen, einigen sozialistischen Partei Englands? Ich unterdrückte keine der Fragen, die sich mir aufdrängten.

»Ich weiß, daß die Sozialdemokraten, besonders die deutschen, mich für einen Verräter halten,« sagte er, »aber sie verstehen die Situation nicht. In Deutschland würde ich nicht anders handeln als Bebel und Liebknecht, aber hier ...« mit einer raschen Bewegung schob er die Teetasse beiseite und zeichnete auf die weiße Marmorplatte des Tischs einen Punkt mit einem großen Kreis rings herum. »Sehen Sie,« fuhr er fort, »dieser Punkt ist der Sozialismus, um den Kreis herum steht die deutsche [18] Regierung, Ihr Militär, Ihre Polizei, und diese treiben naturgemäß alle freidenkenden Elemente dem Mittelpunkt zu, mit dem sie sich, infolge des äußeren Druckes, fest vereinigen. Bei uns besteht der Mittelpunkt, aber der Kreis fehlt, und so strömen die Strahlen dieser sozialistischen Sonne ungehindert nach allen Richtungen aus.« Ich lächelte ein wenig ungläubig. »Ich werde Ihnen beweisen, was ich sage,« fügte er rasch hinzu. »Sie kommen morgen mit mir –,« er ließ mir gar keine Zeit zu Einwendungen, sondern bestimmte Ort und Stunde für unsere Zusammenkunft.

Von da an trafen wir uns oft, im Parlament wie im Londoner Grafschaftsrat. Ich sah erstaunt, mit welchem Respekt Mitglieder aller Parteien diesem Manne begegneten, der noch vor wenigen Jahren im unterirdischen London Gasleitungen gelegt hatte; aber noch mehr erstaunte ich über den freudigen Stolz, mit dem er mir städtische Einrichtungen als »Strahlen der sozialistischen Sonne« erklärte, in denen ich nichts anderes sehen konnte als bürgerlich-soziale Reformen.

»Der deutsche Marxismus hat Sie blind und taub gemacht,« sagte er eines Tages ungeduldig, als ich mich für die Kommunalisierung der Verkehrsmittel durchaus nicht begeistern konnte. »Lassen Sie sich von den Fabiern in die Schule nehmen.«

»Den Fabiern?!«

»Eine Gesellschaft von ›Salonsozialisten‹, würde man bei Ihnen in Deutschland sagen. Tüchtige Leute darunter ...«

Mit einem ihrer Begründer und Leiter, Sydney Webb, machte er mich im Teezimmer des Grafschaftsrats bekannt. Ich wußte von seiner Frau, die als junges Ding ihr reiches Elternhaus verlassen hatte, um der Sache der Arbeiter zu dienen, und nun, gemeinsam mit ihrem Mann, durch Wort und Schrift für Genossenschaften und Gewerkschaften tätig war. Ich wußte auch, daß sie der Frauenbewegung fern, ja ihren Forderungen sogar vielfach feindlich gegenüberstand. Gelesen hatte ich keines [19] ihrer Bücher, nur mit einer gewissen Scheu ging ich darum zu ihr. Eine blühend schöne Frau fand ich, mit dem ganzen Reiz starken geistigen Lebens in den Zügen und einer Güte und Anmut des Wesens, der meine Steifheit nicht lange standhielt. Durch sie erfuhr ich von der Macht und Größe der englischen Gewerkschaftsbewegung und fand den Weg in die Häuser jener Arbeiter, die sich durch die Kraft ihrer Organisation aus physischer und geistiger Versklavung befreit hatten. Wie ein Stück verwirklichter Zukunftsstaat kam es mir vor, wenn ich sie draußen, vor Londons Toren, in ihren Gärten traf oder vor dem Kamin ihres Wohnzimmers oder am gut besetzten Tisch. Wahrhaftig: hier hatten die Strahlen der sozialistischen Sonne aus ödem Land neues Leben hervorgerufen.

In den Versammlungen der Fabier, die ich von da an regelmäßig besuchte, wurden theoretische und praktische Fragen des Sozialismus von allen Seiten beleuchtet und erörtert. Jene Scheu, zu sagen, was man denkt, die die Menschen überall schwach und klein macht, wo religiöser, sittlicher oder politischer Fanatismus die Wahrheit an sich zu besitzen vorgibt, schien hier verschwunden, und mir war, als fiele Licht auf den Weg, den ich zu gehen hatte.

»Es ist nicht wahr, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann, – es ist nicht wahr, daß der Klassenkampf das Grundelement der sozialistischen Bewegung ist, – es ist nicht wahr, daß die Entwicklung des Sozialismus mit der Sicherheit eines Naturgesetzes notwendig zur Expropriation der Expropriateure führen wird ...« Eine überschlanke Gestalt stand auf der Rednertribüne, mit schmalem, gelblich blassem Gesicht, in das weiche blonde Haare wirr hineinfielen. »Es waren und sind die revoltierenden Söhne der Bourgeoisie selbst – Lassalle, Marx, Liebknecht, Morris, Hyndman, Bax – alle, wie ich, Bourgeois mit Mischung von Kavaliersblut, die die rote Fahne entfalteten. Der[20] Hunger der Armen treibt zur Revolte, der Geist allein zur Revolution ...«

Wie Hochverrat an den grundlegenden Dogmen des Sozialismus klang mir, was dieser Mann hart und scharf in den Saal hinausschleuderte. Aber ein Ton blieb mir hartnäckig im Ohr und weckte etwas in mir, das stark und stolz war. In selbstentsagender Aszese hatte ich mich, ein schlichter Soldat, als mein Lebensglück zusammenbrach, in den Dienst der Partei stellen wollen. Kraft und Jugend kehrten mir wieder: sollte ich nicht fähig sein und berufen, dem Sozialismus den Urwald erobern zu helfen, den alle Giftpflanzen des Vorurteils und des Stumpfsinns noch üppig durchwucherten?

Ich suchte des Redners Bekanntschaft. Es war Bernard Shaw, der Theaterkritiker der Saturday Review, der Entdecker Ibsens und Richard Wagners nicht nur für England, sondern für den Sozialismus, der bissige Spötter, von dessen Witzen die englische Gesellschaft nie recht wußte, ob sie über sie lachen, oder sich vor ihnen fürchten sollte. Mich verlangte nach einer Erklärung dessen, was er in lapidaren Sätzen eben vor mich hingestellt hatte.

»Sie waren draußen in Letshfield?« frug er mich statt aller Antwort. »Und haben die Bewohner in ihren Heimen gesehen? ... Natürlich auch bewundert?!« Ich nickte. »Und nicht bemerkt, wie drastisch solch eine Miniatur-Zufriedenheitsexistenz lehrt, daß der Arbeiter in seiner Masse nichts mehr verlangt, als ein Bourgeois zu werden!«

»Ist es nicht auch das wünschenswerteste Ziel, ihn zunächst wenigstens satt zu machen?« warf ich ein.

»Sicherlich, denn Armut ist ein Laster –, wenn nur die Sattgewordenen nicht am raschesten derer vergessen würden, die noch immer hungern. Im Grunde sind die Arbeiter das konservativste Element im Staat, und wir Freigelassenen der Bourgeoisie sind dazu da, sie aufzurütteln.«

[21] Der Kreis der Fabier war von nun an derjenige, der mich am meisten anzog, aber die politischen Ereignisse auf der einen, und jenes Gefühl der Unfreiheit auf der anderen Seite, das mit der Annahme auch der weitherzigsten Gastfreundschaft untrennbar verbunden ist, rissen mich wieder nach anderen Richtungen fort. Die Abstimmung über eine an sich unbedeutende Militärfrage führte zu einer Niederlage der Regierung und damit zum Rücktritt des Ministeriums. Eine Erregung, die sich vom Parlament aus mit Windeseile auf alle Straßen fortpflanzte, die Gesichter der überall in Gruppen Zusammenstehenden höher färbte und alle Augen blitzen ließ, bemächtigte sich der Londoner. Sie steigerte sich zur Fieberhitze an jenem Abend in Albert-Hall, wo sich die Menschenmassen vom Parterre dieses Riesenzirkus bis hoch unter die Kuppel zusammendrängten und die gestürzten Minister Rosebery und Harcourt in die vom Atem Tausender und der zitternden Glut des Julitages lebendigen Luft gegen die neue Regierung leidenschaftliche Anklagen erhoben. Selbst die Nachmittagstees des Londoner Westens gestalteten sich zu Agitationsversammlungen. Die Leidenschaft des Hasardspielers schien alle ergriffen zu haben, und gespannt, als gelte es dem Einsatz der ganzen Existenz, hingen die Blicke an der rollenden Roulettekugel des Wahlkampfes.

Eines Morgens atmete ich wie erlöst aus einem Banne auf, als ich nicht mehr in dem eleganten Zimmer von Princes Gardens erwachte, wo dichte gelbseidene Vorhänge mir stets die Sonne vorgetäuscht hatten und das blitzende Messinggestell meines Betts mich oft selbst unter der Daunendecke frösteln machte. Hinter weißen Mullgardinen sah ich jetzt grüne Zweige schaukeln, und in einem Bett aus warm getöntem hellem Holz hatte ich traumlos geschlafen. Es waren Deutsche von Geburt, Engländer aus freier Wahl, die mich für die letzte Zeit meines Londoner Aufenthaltes zu sich in ihr Künstlerheim geladen hatten. Jedes Möbelstück, jeder Teppich und jede Vase standen [22] in den schönen lichten Räumen des Hauses in feiner Harmonie zueinander, nur die Gemälde an den Wänden schienen sie mißtönig zu zerstören, und in dem großen Atelier schrien sie förmlich. Bilder des Elends waren es, des Hungers und der Verzweiflung, Bilder des Krieges, auf denen von Wunden grauenvoll Zerrissene die Hände krampfhaft gespreizt oder wütend geballt gen Himmel streckten. Der Hausherr malte sie und nichts als sie, – ein milder, gütiger Mann mit grauem Patriarchenbart und den Augen eines Jünglings. Wo immer das Leid der Kreatur zum Ausdruck kam, war sein Herz und sein Interesse, von der Friedensbewegung an bis zur Tierschutzbewegung. Er gehörte zu den Menschen, die überall im einzelnen helfen und wirken wollen, wie der ungelernte Gärtner, der da und dort einem armen Pflänzlein durch künstliche Nahrung oder durch den stützenden Stab aufhelfen will, aber bei all seinem aufreibenden Eifer nicht sieht, daß der ganze Boden schlecht ist. Sein weißblondes zartes Frauchen lächelte oft ganz heimlich, wie eine Mutter zu den Spielen ihres Kindes, die sie mit der Weisheit der Erwachsenen nicht stören will

Ihr Haus übte eine magnetische Anziehungskraft auf alles aus, was abseits der großen Heerstraße ging. Shaw traf ich hier wieder als häufigen Gast; Peter Krapotkin gehörte zu den Intimen des Hauses, – der große Revolutionär, der doch ein Kind war: gut und vertrauensselig und voll phantastischer Träume wie ein solches. William Stead, dessen rücksichtsloser Kampf gegen die sittliche Fäulnis der Londoner Gesellschaft ihm einen europäischen Ruf verschafft hatte, begegnete mir hier zum erstenmal und zog mich in den Bannkreis seiner starken Persönlichkeit. Seine Augen, deren opalisierende Lichter wie durch geheimnisvoll darüber gebreitete Schleier schienen, übten eine faszinierende Wirkung aus, und wenn er von seinem Verkehr mit den Geistern Abgeschiedener erzählte, wenn er von den Kräften der Seele sprach, die unerweckt auch in mir schlummern [23] müßten, so bedurfte ich der ganzen Nüchternheit meines Verstandes, der ganzen Stärke meiner fanatisch materialistischen Weltanschauung, um mich seinem Einfluß zu entziehen.

»Ich will mich nicht mit Problemen beschäftigen, die mich von dem Problem ablenken könnten, dessen Lösung meine einzige Aufgabe ist: dem des Elends in der Welt ...« antwortete ich ihm eines Tages, als er mich mit Annie Besant bekannt machen wollte, die sich eben vom Sozialismus abgewandt hatte und zur begeisterten Verkünderin theosophischer Ideen geworden war. »Mögen andere heute, wo die Zeit drängt, es vor sich selbst verantworten, wenn sie ihren Träumen nachhängen ...«

»Sie werden nie mehr träumen?!« Mit einem Blick und einem Lächeln begleitete Stead seine Frage, die mir das Blut in die Wangen trieb. Er nahm meine beiden Hände zwischen die seinen – Hände, die in ihrer Kraft und ihrer Weiche zum Schützen wie zum Streicheln gleich geschaffen waren –, und seine Augen bohrten sich in meine Züge.

»Ich liebe Ihre Tapferkeit und Ihre Klugheit, aber was mich Ihre Freundschaft suchen ließ, das ist Ihr unbewußtes Ich, das sind Ihre Träume, die Sie vergessen, wenn Sie wachen, von denen mir aber noch Ihre Augen erzählen, – das ist die tiefe Sehnsucht, die Ihr Wesen über sich selbst hinauszieht.«

Ich fuhr an jenem Tage mit ihm hinaus nach Wimbledon, wo sich zwischen hohen Hecken und alten Bäumen sein kleines, stilles Haus versteckte. Und im verwilderten Garten unter dem schattenden Laubdach duftender Linden lag ich in der Hängematte und ließ mir von ihm die Kissen unter den Kopf schieben.

»Sie sind müde?«

»Sehr!«

»Ihr Leben ist Seelen-Selbstmord.«

Seine Hand glitt sanft über meine Stirn. Viele bunte Schmetterlinge gaukelten über ein Meer gelber Blumen, und zwei Libellen tanzten über dem kleinen stillen Teich zärtlich [24] miteinander. Vom Herzen aus zuckte ein schneidendes Weh mir durch den Körper, die Augen füllten sich mit Tränen. Was war es nur, das mich überwältigte?!

»Wie Ihre Jugend um ihr Leben weint!« sagte leise der Mann neben mir. Meine Jugend?! Kaum wußte ich noch, ob ich alt war oder jung. Ich stand wohl schon lange jenseits jeden Alters!

Schweigsam fuhren wir beide nach London zurück. Ich fühlte die Hand meines Begleiters auf der meinen – streichelnd, schützend. Nachts schluchzte ich verzweifelt in die Kissen, und morgens, als ich mich zur gewohnten Arbeit am Fenster niedersetzte, schweiften meine Gedanken weit hinaus über die Baumwipfel – in den glühenden Sommertag – in das Leben. Ich ging umher, mir selbst fremd geworden, mit anderen Augen. Ich entdeckte im Spiegel mein Gesicht wie das einer Fremden. Mechanisch löste ich die Witwenhaube aus den Haaren. »Georg – Georg –« schrie es in mir, »nie bin ich deine Frau gewesen – wie kann ich deine Witwe sein?!«

Die Menschen um mich kamen mir verändert vor: ich fühlte Männerblicke, die das Weib in mir suchten und nicht die Gesinnungsgenossin, und Händedrücke, die andere Empfindungen verrieten als die bloßer Freundschaft. Und wenn ich auf den grünen Wiesen im Hydepark blonde rosige Kinder sah, kam ich mir vor wie eine Ausgestoßene. Drangen aber gar durch die Nacht aus den Gärten rings umher sehnsüchtig-süße Lieder an mein Ohr, so war mir, als hätte ich jetzt schon Georgs Vermächtnis die Treue gebrochen.


Eines Nachmittags – mein Aufenthalt neigte sich seinem Ende zu – trat eine einfache, starkknochige Frau, die weißen Haare straff aus der Stirn gezogen, an unseren Teetisch und streckte mir eine harte, unbehandschuhte Hand entgegen: [25] »Sie kennen mich wohl nicht mehr?« Ich sprang auf, fast hätte ich sie in die Arme gezogen: »Amie Hicks?! Sie haben mir Londons Elend zeigen wollen! Wollen Sie es noch tun, – gleich jetzt?« Sie lachte verwundert über meinen plötzlichen Eifer, aber ich ließ sie nicht los, und wir verabredeten zunächst einen gemeinsamen Besuch im Bureau des Zentralkomitees für Frauenarbeit.

Was ich dort kennen lernte, erregte mein höchstes Interesse: Man hatte sich zur Aufgabe gestellt, die Lage der erwerbstätigen Frauen zu untersuchen und die Resultate zu veröffentlichen, gewerkschaftliche Organisationen zu schaffen und zu unterstützen, die Arbeiterinnenschutz-Gesetzgebung zu studieren und ihre Weiterentwicklung durch mündliche und schriftliche Propaganda zu fördern. »Wir sind gewissermaßen ein Arsenal und liefern der Arbeiterbewegung die Waffen,« sagte mir eine der Leiterinnen; »und wir schaffen zugleich die Möglichkeit, daß die Frau der begüterten Kreise die Lage der Arbeiterinnen kennen lernt, und die Arbeiterin andererseits sich der Kenntnisse der bürgerlichen Frau bedienen kann,« fügte eine andere hinzu. Der Plan, etwas Ähnliches in Berlin zu gründen, reifte in mir: der Arbeiterbewegung Waffen liefern, war mindestens so nützlich, als selbst die Waffen tragen. Es war praktisch im Grunde dasselbe, was die Fabier theoretisch leisteten, es würde wertvolle Kräfte in den Dienst des Sozialismus zwingen, – ihrer selbst fast unbewußt. Es ermöglichte mir, außerhalb der Partei für die Partei zu wirken. Mit krampfhafter Anstrengung zuerst und dann mit wachsender Anteilnahme vertiefte ich mich in das Studium meiner Aufgabe. Ich flüchtete aus den blühenden Gärten in die engen Straßen zwischen die geschwärzten Mauern, wo kein Baum und kein Vogel den Sommer verrät und seine Glut, die draußen vor den Toren die Knospen wachküßt, nichts hervorruft, als ekle Dünste und giftige Miasmen. Je mehr ich ihm entfloh, desto grauer und stiller wurde es auch wieder in [26] mir. Eilig, wie die andern, ohne rechts oder links zu sehen, lief ich durch die Stadt, über klebrige Höfe, steile Treppen hinauf in die Bureaus der Fabrikinspektionen und der Gewerkschaften, zu Besuchen, Sitzungen und Versammlungen. Zahlen, nichts als Zahlen hörte ich – neben den Lohntabellen, die Arbeitsstunden und die Wochen der Arbeitslosigkeit –, sie verfolgten mich bis in meine Träume, verschwammen ineinander und schoben sich vor meinen Augen dichter und dichter zusammen, bis sie nichts waren als ein einziges schwarzes Trauergewand, das Himmel und Erde verhüllte.

»Nun bleibt mir nur noch übrig, die Illustration zu Ihren Tabellen zu sehen,« sagte ich eines Abends zu Amie Hicks, die die Arbeiterinnen der Zündholzfabrikation – ihre Kolleginnen – organisiert hatte. Sie wandte sich an eine junge Soldatin der Heilsarmee, die bescheiden im Hintergrund stand. »Wollen Sie unsere deutsche Freundin heute nacht nach Whitechapel mitnehmen?«

Das Mädchen sah mich zweifelnd an: »Wenn die Dame sich nicht fürchtet – und sich entschließt, unsere Kleidung anzuziehen.« Ich war natürlich zu allem bereit. Ehe wir uns am späten Nachmittag auf den Weg machten, steckte ich mir die Taschen voll kleiner Kupfermünzen. »Das hat keinen Zweck,« lächelte meine Begleiterin, »es sind ihrer viel zu viele!« Unterwegs erzählte sie mir von ihrer Arbeit: einem unaufhörlichen Kampf mit Laster und Not, einer stündlichen Aufopferung der eigenen Person, und ihr schmales Gesichtchen strahlte dabei wie das ihrer Altersgenossinnen, wenn sie von Karnevalstriumphen zu berichten haben. »Was führte Sie zu Ihrem Beruf?« frug ich. »Jesus rief mich!« antwortete sie einfach.

Es fing an zu dämmern. Die Straßen schrumpften zusammen, während die Menschenmassen unheimlich anschwollen. In ihrer Kleidung schienen die Farben mehr und mehr zu erlöschen, und die Unterschiede zwischen Alter und Jugend verwischte [27] ein gleichmäßiger Ausdruck, zwischen Leid, Stumpfsinn und Gemeinheit schwankend. Kinder keuchten mit Säcken beladen über die Gassen – »Heimarbeiter«, bemerkte meine Begleiterin lakonisch –, an den Rinnsteinen hockten andere in langen Reihen und wühlten mit schmutzstarrenden, mageren Fingerchen im Straßenkehricht. Ein kleiner Bub mit krummen Beinen wollte sich eben heimlich mit dem gefundenen Rest einer Banane aus dem Kreis der Gefährten davon schleichen. Ein triumphierendes Grinsen verzerrte sein Gesichtchen. Aber schon fielen die anderen wutheulend über ihn her und rissen ihm die fadenscheinigen Lumpen von dem rhachitischen Körper. Er weinte nicht, er duckte sich nur ein wenig und versuchte die zertretene Banane vom Pflaster abzukratzen, aus seinen verschwollenen Augen traf mich dabei ein Blick voll grenzenloser Verzweiflung.

Wir bogen in eine langgestreckte schmale Sackgasse ein. »Nehmen Sie sich in acht,« warnte meine Begleiterin, als wir in eines der offenen Häuser traten, »die Treppen haben keine Geländer.« Ich tastete mich hinter ihr vorwärts, während ein pestilenzialischer Geruch mir den Atem benahm. Wir stießen eine Türe auf, die weder Griff noch Schlüssel hatte. Ein schwerer grauer Dunst von Staub und Schweiß schlug uns entgegen gespensterhaft bewegten sich die Gestalten der Bewohner dahinter, während das Rattern und Quietschen schlecht geölter Nähmaschinen jeden anderen Ton verschlang. Dicht aneinandergedrängt saßen Männer und Frauen um den Tisch, auf dem ein kleines Lämpchen vergebens versuchte, spärliches Licht zu verbreiten; an dem einzigen Fenster standen die Maschinen, von zwei Kindern in Bewegung gesetzt. Keines der dunkeln Köpfe hob sich bei unserem Eintritt. Nur als mein Kleid eine der Frauen streifte, sahen ein Paar schwarze Augensterne mich prüfend an. »Russische Juden,« sagte meine Begleiterin und wandte sich dem finstersten Winkel des Zimmers zu. Eine durch [28] sichtig weiße Hand streckte sich ihr entgegen. »Er ist schwindsüchtig,« flüsterte sie. Zögernd trat ich näher. In einem armseligen Bett, mit Haufen bunter Stoffreste statt mit Kissen gefüllt, lag ein Mann, das blasse durchgeistigte Antlitz von schwarzen, langen Haaren umrahmt; strahlend richteten sich seine fieberglänzenden Augen auf das junge Mädchen, aber die Milch, die sie aus ihrem Körbchen nahm, enttäuschte ihn; erst als sie ein kleines Buch in seine schlanken Finger legte, lächelte er sie dankbar an. »Ich habe auch wieder ein Gedicht geschrieben –,« sagte er und zog einen Fetzen Zeitungspapier aus den Lumpen hervor, der am Rande dicht bekritzelt war.

»Nicht einmal Knöpfe kann er mehr annähen,« tönte eine rohe Stimme neben uns. »Wenn es doch bald zu Ende wäre, – gestern spuckte er Blut auf ein fertiges Hemd –«

Ich mußte mich einen Augenblick schwindelnd an den Pfosten des Torweges lehnen, als wir hinunterkamen. Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Unter der nächsten Türe stand ein Mädchen mit entblößter Brust und sprühenden Augen. »Marianne!« – Vorwurfsvoll tönte die Stimme meiner Begleiterin. Ein rauhes Lachen antwortete ihr. »Ich will leben!« stieß das Mädchen zwischen den Zähnen hervor. – »Leben!« – wiederholte sie noch einmal mit einem langgezogenen Nachtigallenton. Wir gingen an ihr vorbei in die niedrige Stube; eine verrostete Eisenbettstelle, ein paar Kisten bildeten die ganze Einrichtung. Am Herd in der Ecke stand ein altes Weib mit den gedunsenen Zügen der Trinkerin, auf dem feuchtglänzenden Lehmboden kroch eine Schar kleiner Kinder. Meine Begleiterin hatte gerade begonnen, einem der kleinsten die wunden Füßchen zu verbinden, da sprang unter wüstem Gekreisch die Türe auf: – das Mädchen von draußen stolperte, von ein paar braunen Fäusten gestoßen, ins Zimmer, zwei Schwerbetrunkene hinter ihr. Sie warf sich aufs Bett, – ich floh, von Entsetzen gepackt, aus dem Hause.

[29] In den Straßen brütete gewitterschwangere Julinacht. Junge und alte Weiber, von Elend, Laster und Krankheit gräßlich gezeichnet, Männer, deren Kleidung einen Fuselgeruch ausströmte, Kinder, die eine Kindheit nie gekannt hatten, strichen an uns vorbei. »Gibt es in der Welt noch einmal solche Hölle,« stöhnte ich und wischte mir die Schweißtropfen von der Stirn. »O, – in Glasgow, in Liverpool, in Manchester ist es ebenso –,« sagte meine Begleiterin ruhig.

An der nächsten Straßenecke ballten sich die Menschen zu einem schwarzen Knäuel. Qualvolle Schmerzensrufe drangen daraus hervor. Wir liefen vorwärts, – alles machte uns Platz, – die Uniform der Heilsarmee war wie ein Freibrief, den selbst die Rohesten respektierten. Auf dem Pflaster lag ein Weib und wand sich in Mutterschmerzen. »Er hat sie hinausgeprügelt,« schrie ein Mädchen, das neben ihr kniete und ballte wütend die Fäuste. Meine Begleiterin war im Augenblick bei ihr. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. In die Menschen um uns her kam ein seltsames Leben, sie liefen in die nächsten Häuser, atemlos, – sie kehrten zurück, – auch der Elendeste mit vollen Händen. Tücher, Kissen, Decken breiteten sich um die Kreißende aus; ein weißhaariges Mütterchen mit gekrümmtem Rücken schleppte stöhnend Eimer voll Wasser herbei, ein alter Mann humpelte hastig auf seiner Krücke näher und legte mit zitternden Händen seine zerschlissene Jacke über die Jammernde. Eine Sekunde lang war es ganz still, – das Leben schien den Atem anzuhalten, da – ein gellender Schrei, der die Nacht zerriß, das Kind war geboren, das unselige Kind der Straße. Zurückgelehnt in dem Schoß der Nächsten lag das Weib. Laternenlicht fiel grell auf ihre eingesunkenen Wangen, die weitaufgerissenen Augen drehten sich in den Höhlen, suchend griffen die Finger in die leere Luft, dann noch ein Zucken, ein rauhes Röcheln, es war vorüber. Und um die tote Mutter knieten ringsum im Schmutz der Straße die Genossen ihres Jammers ...


[30] Der Sonnenzauber hatte keine Macht mehr über mich.

Ich hatte nur noch ein Achselzucken, wenn ich die Macht der Gewerkschaften preisen hörte – »die Sattgewordenen vergaßen zuerst der Hungernden« –, und ein verächtliches Lächeln für die Größe und Einheitlichkeit sozialer Hilfsarbeit, die sich von Rechts wegen bankerott erklären müßte. Hier galt es nicht mehr, Einzelne vor dem Ertrinken zu retten und Wunden zu verbinden, hier galt nur eins: die alte Welt, die ihre eigenen Kinder mordete, zu zerstören, um der neuen Platz zu schaffen.

[31]
2. Kapitel
Zweites Kapitel

»Sie wollen wirklich alle Bücher verkaufen?!«

Der junge Student, der vor mir stand, blickte mich vorwurfsvoll an. Er war gekommen, mir beim Ordnen der philosophischen Bibliothek meines verstorbenen Mannes behilflich zu sein.

»Mit wenigen Ausnahmen, – ja!« antwortete ich mit erzwungener Ruhe. »Sie sehen selbst: in der neuen Wohnung fehlt es an Platz für sie, – und außerdem werde ich sie kaum je benutzen. Ich werde mit Überlegung einseitig!« Dabei wies ich lächelnd auf die dickleibigen Fabrikinspektorenberichte, die vor mir lagen. Er begab sich stumm, gesenkten Kopfes an die Arbeit. Wie herzlos, daß ich Georgs geliebte Bücher verkaufte, dachte er jetzt gewiß. Durfte ich ihm sagen, daß ich sie verkaufen mußte? Daß ich gestern mit dem letzten, was ich besaß, Georgs Grabdenkmal bezahlt hatte, – einen schönen hohen Marmorblock, auf dem in großen goldenen Lettern sein Wahlspruch stand, der nun auch der meine war: »Wir leben durch die Menschen, laßt uns für die Menschen leben.«

Mama hatte mir eben aus Pirgallen entrüstet über meine Verschwendung geschrieben: »Ein schlichter Stein mit Georgs Namen wäre ausreichend gewesen.« Ich lächelte unwillkürlich. Arm sind doch nur die Menschen, die niemals verschwenden können! Ich war ja sonst so schrecklich vernünftig. Treppauf, treppab war ich seit meiner Rückkehr aus England gelaufen, um eine Wohnung zu finden, die meinen Mitteln entsprach. In einem Hof der Kleiststraße, drei Treppen hoch, hatte ich sie endlich gefunden: zwei Zimmer mit dem Blick auf eine Mauer, [32] die eine riesige gemalte Schweizer Landschaft schmückte. Zu allerhand öder journalistischer Tagesarbeit hatte ich mich verpflichtet, um in der übrigbleibenden Zeit meiner Aufgabe leben zu können. In vier Wochen zog ich um, bis dahin mußte auch sie festere Gestalt gewinnen.

Ich hatte mich zunächst schriftlich an eine Anzahl hervorragender Politiker und Sozialpolitiker gewandt, bei denen ich ein Interesse für die Sache voraussetzen konnte, und ihnen meinen Plan eines Zentralausschusses für Frauenarbeit auseinandergesetzt. Sehr höflich, sehr zuvorkommend hatten sie mir geantwortet. »Ihr Plan hat meine volle Sympathie,« schrieb mir eben Theodor Barth. »Ich habe nur Bedenken, ob er sich in seinem vollen Umfang in absehbarer Zeit durchführen läßt. Nach meinen Erfahrungen scheitern sehr viele an sich vortreffliche Reformbestrebungen gerade daran, daß das Ziel von vornherein zu weit gesteckt ist. Meines Erachtens sollte man zunächst einmal an eine Sammlung und Sichtung von Material, die Bedingungen der Frauenarbeit betreffend, herangehen, wie das sub 1 Ihres Programms ja auch in Aussicht genommen ist. Unternehmer und Arbeiter müßten allerdings zusammenwirken und Vorurteile – speziell auch gegen die Sozialdemokratie – dürften keine Rolle spielen ... Leider ist meine Arbeitskraft schon anderweitig so stark in Anspruch genommen, daß ich wohl mitraten, aber nicht mittaten kann ...«

Diesen Satz enthielt noch jeder Brief, den ich erhalten hatte. Warnungen vor der Gefahr sozialpolitischer Dilettantenarbeit, Besorgnisse, Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie zu treiben, bedenkliche Fragen nach der finanziellen Fundierung des Unternehmens wiederholten sich oft. »Auf alle Fälle ist der Zeitpunkt schlecht gewählt,« hieß es in einem Schreiben, das Dr. Jacob, mein alter Gegner aus der Ethischen Gesellschaft, an mich richtete, »jetzt, im Jubiläumsjahr, wo das unverantwortliche, antipatriotische Verhalten der Sozialdemokratie selbst [33] solche Kreise erbittern muß, die vielen ihrer Forderungen sympathisch gegenüberstanden, ist nicht der Augenblick, um zu gemeinsamer Arbeit aufzurufen. Ich bezweifle auch, daß Sie Kapitalisten finden, die Ihnen zu solchem Zweck die immerhin recht erheblichen Mittel zur Verfügung stellen werden.« Und Frau Schwabach, die einzige unter den Frauenrechtlerinnen, der ich ein ernsteres Verständnis der Sache zutraute, war gleich falls voller Bedenken gewesen. »Wir müssen zuerst die Persönlichkeiten ausbilden, die zu solcher Arbeit fähig sein sollen,« hatte sie gesagt. Das alte Lied, das die Gewissen einlullt, das Selbstvertrauen betäubt und die Schuld trägt, wenn vor lauter Vorbereitung zur Tat die Tat selbst von einem Tage zum andern verschoben wird.

Heute nun erwartete ich Martha Bartels mit zwei ihrer Freundinnen – Arbeiterinnen wie sie –, um ihr Urteil zu hören und ihren Rat, der mir der weitaus wichtigste erschien, zu erbitten.

»Sie müssen für heute aufhören, mein lieber Schmidt,« wandte ich mich an den Studenten, der vor den letzten Regalen des Bücherschranks hoch oben auf der Leiter stand, »es ist unverantwortlich von mir, daß ich Ihre Kraft und Zeit schon so lange in Anspruch nehme.«

Er fuhr, wie aus einem Traum erwachend, zusammen und strich sich die dichten schwarzen Haare aus der heißen Stirn.

»Muß ich wirklich schon fort?« Hastig wandte er sich um und rieb die roten, knochigen Hände wie fröstelnd aneinander. Ich nickte, denn schon hörte ich draußen die Klingel. Langsam stieg er die Leiter hinab.

»Ach, – wenn ich doch wirklich etwas für Sie tun könnte –,« damit senkte er den Kopf tief auf meine Hand.

In dem Augenblick öffnete sich die Türe, und die drei Frauen traten ein. Sie sahen uns, wechselten sekundenlang einen vielsagenden Blick, ein leises spöttisches Lächeln kräuselte die Lippen [34] der einen, der großen, hageren; – ein Gefühl, als hätte mich jemand mit Schmutz beworfen, beschlich mich. Flüchtig erinnerte ich mich, daß meine Mutter die Anwesenheit eines jungen Herrn bei mir, der Witwe, für unpassend erklärt hatte, – aber waren nicht diese Frauen Vorkämpferinnen einer freien Weltanschauung?! Ich richtete mich gerade auf, zog meine Hand aus der sie noch immer umklammernden; mit einer ungeschickt eckigen Verbeugung drückte sich der junge Student an den neuen Gästen vorbei zur Türe hinaus.

Bei Kaffee und Kuchen überwanden meine Besucherinnen die erste Verlegenheit. Sie hatten sich in den besten Sonntagsstaat geworfen und saßen kerzengerade auf den weichen Lehnstühlen; bei jeder Bewegung krachten die engen Taillen ihrer schwarzen Kleider, und die vielen bunten Blumen auf ihren Hüten schwankten hin und her. Nur Martha Bartels, die nicht zum ersten Male hier war, gab sich ungezwungener.

Irgend etwas in dem Gesicht der kleinen Näherin hatte sich seit unserem letzten Zusammensein verändert.

»Nun, Genossin Glyzcinski, was haben Sie uns Gutes mitzuteilen?« sagte sie mit einem leisen gönnerischen Ton in der Stimme, den sie damals noch nicht gehabt hatte, als sie mich »Frau von Glyzcinski« nannte. Freilich, sie hatte ja im Grunde ein Recht dazu, ich war ja jetzt nur eine Novize in ihren Reihen –, dachte ich und bezwang die gereizte Stimmung, die sich meiner zu bemächtigen drohte.

Mit steigendem Eifer, an der eigenen Sache mich erwärmend, setzte ich ihnen meine Pläne auseinander. »Ich brauche dabei Ihre Mitarbeit,« schloß ich; »wir können für die Arbeiterinnen nichts tun, was nicht mit ihnen geschieht – –«

Tiefe Stille. Die drei löffelten in ihren Kaffeetassen, stießen einander unter dem Tische an und wollten nicht mit der Sprache heraus. »Ja –,« meinte Martha Bartels schließlich gedehnt, »das ist ja alles ganz schön und gut, aber was uns das eigentlich [35] angeht –! Wir wissen doch längst, wie's bei uns aussieht, und um die Neugierde der Bourgeoisdamen und -herren zu befriedigen, oder sie gar in unseren Organisationen herumstänkern zu lassen, – dazu sind wir doch nicht da.«

Frau Resch, die Hagere, nickte eifrig und warf mir einen giftigen Blick zu. Frau Wiemer, ein rundliches Frauchen mit gutmütigen braunen Augen, drehte sich hastig auf dem Stuhle um, so daß die Sprungfedern knackten. »Da bin ich nun ganz und gar anderer Meinung,« rief sie, »wir wären schön dumm, wenn wir so eine Unterstützung von der Hand weisen wollten. Wir haben, weiß Gott, keinen Überfluß an Kräften, und wenn wir sie noch dazu nach unserem Gutdünken benutzen können – –«

Martha Bartels trommelte mit den zerstochenen Fingern auf dem Tisch. »In meinem Kreis, Genossin Wiemer, kann ich dafür keine Stimmung machen,« sagte sie scharf.

»Na, was das schon ist: Ihr Kreis. Ein halb Dutzend Frauen haben Sie neulich in der Versammlung zur Vertrauensperson gewählt, – das macht den Kohl nicht fett!« spöttelte die Angeredete. »Die Männer haben, gottlob, auch noch ein Wörtchen mitzureden!«

Frau Resch kicherte: »Sie freilich meinen immer, Sie haben die Männer am Bändel – –!«

Stumm, in wachsender Verblüffung hörte ich der Debatte zu, die sich mehr und mehr ins Persönliche verlor.

»Im übrigen: was ereifern wir uns,« sagte Martha Bartels endlich, während sie sich mit hochrotem Gesicht in den Stuhl zurücklehnte. »Zu allererst werden wir doch Genossin Orbins Urteil hören müssen.«

Die Frauen verstummten. Wanda Orbin: das war die anerkannte Führerin der Arbeiterinnen-Bewegung, eine Frau, die ich aus der Ferne schon längst zu bewundern gelernt hatte. Mit der aufreizenden Leidenschaftlichkeit ihrer Rednergabe vermochte sie alles mit sich fortzureißen.

[36] Meine Gäste verabschiedeten sich, kühl und verlegen. Nur Frau Wiemer schüttelte mir kräftig die Hand und zögerte beim Hinausgehen. »Wir reden nochmal miteinander – unter vier Augen!« flüsterte sie.

Enttäuscht – mutlos blieb ich zurück. Tiefes Verständnis, freudige Zustimmung, warme Kameradschaftlichkeit hatte ich erwartet – –!

Am nächsten Morgen kam ein Brief von Martha Bartels: »Seit gestern weiß ich nicht, ob Sie wirklich unsere Genossin sind. Was Sie da vorschlagen, das kann jede Frauenrechtlerin auch. Es zeigt, daß Sie mit der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht gebrochen haben, und deshalb können wir kein rechtes Vertrauen gewinnen. Ich sehe nun, daß man immer unrecht tut, wenn man den schönen Gefühlen der Bourgeoisdamen Glauben schenkt.« Hatte sie zu ihrer Enttäuschung nicht ein größeres Recht als ich zu der meinen? War mein ganzes Verhalten nicht wirklich ein Rückzug? Versuchte ich nicht, nach links und rechts Konzessionen zu machen, damit ich nur selbst fein säuberlich auf dem normalen Mittelweg mich erhalten konnte?

In meinen Hoffnungen und Wünschen sehr herabgestimmt, machte ich mich in den nächsten Tagen auf den Weg, um die Führer der sozialdemokratischen Partei aufzusuchen, bei denen ich mich schon angekündigt hatte.

Ich ging zuerst zu Liebknecht. Er wohnte draußen in der Kantstraße, wo inzwischen das neue Berlin aus der Erde schoß wie eine wildwuchernde Urwaldpflanze. In der Tauentzienstraße, die vor fünf Jahren nicht viel mehr als ein breiter Feldweg gewesen war, reihte sich ein Neubau an den andern, – hohe vier- und fünfstöckige Häuser, mit lauter Wohnungen zu neun bis zwölf Zimmern. Wo kam der Reichtum nur her, der so üppig zu wohnen vermochte? dachte ich. Und weiter nach dem Westen zogen sich Straßen um Straßen hinaus, – lange Spinnenarme, die über die Felder griffen bis fernhin, wo der [37] Grunewald, eine schwarze schmale Linie, am Horizont auftauchte. Ratternd und fauchend bewegte sich die Dampfstraßenbahn den Kurfürstendamm hinauf ihm entgegen. Wieviel kleine gemütliche einstöckige Häuschen zwischen Birkenwäldchen und Kartoffelfeldern waren der Spitzhacke hier zum Opfer gefallen! Und der Riesenbaum, der an der Straßenkreuzung ein Wahrzeichen der Gegend gewesen war, hatte einer Kirche weichen müssen. Gut, daß er fiel, dachte ich; wie hätten die Mauern den alten Recken beengt, wie hätte seine trotzige, rauhe Schönheit ihre Fassadenpracht Lügen gestraft. Die Kirche hatte sich noch immer ihrer Umgebung angepaßt, auch hier hatte sie sich zu ihr nicht in Widerspruch gesetzt.

In die Kantstraße bog ich ein. Dicht an der Stadtbahnbrücke, im dritten Stock, wohnte Liebknecht. Er empfing mich vor einem alten Schreibpult in seinem winzigen Arbeitszimmer, das vollgestopft mit Papieren und Zeitungen war, so daß dazwischen kaum ein freier Raum zum Treten übrigblieb. Sein hartgeschnittenes Gesicht mit den tiefen Furchen, dem Blick, der unter buschigen Brauen wie abwesend über einen hinwegsah, den wirren dunkeln Haaren über der hohen geraden Stirn, dem grauen ungepflegten Bart um das breite Kinn und den seltsam schiefstehenden großen Mund, dazu der Rock, der an den Ellbogen und auf dem Rücken speckig glänzte, das Hemd darunter mit dem weichen halboffenen Umlegekragen, die ausgetretenen Pantoffeln an den graubestrumpften Füßen, – das alles wirkte zunächst wenig anziehend. Dann gab er mir flüchtig die Hand, die weich und zart war, – ich mußte ihn wirklich noch einmal betrachten, um zu glauben, daß sie diesem Manne gehörte. Sie gab mir Mut zu reden, ich wäre ohne sie am liebsten wieder umgedreht. Ich erzählte ihm auch von meinen Erfahrungen mit den Frauen. Er lächelte mit einem gutmütigen Spott in den Augen. »Soll ich Ihnen einen wirklich freundschaftlichen Rat geben?« sagte er. »Kümmern Sie sich nicht um sie, wenn Sie [38] was erreichen wollen. Die sind noch rückständiger als die Männer, können gar nicht anders sein. Wo sollen sie auch die Erkenntnis hernehmen, die armen Weiber?! Schon alles mögliche, wenn sie rein aus ihrem proletarischen Instinkt heraus gute Parteigenossinnen sind.«

Vergebens suchte ich ihn bei meinem Thema festzuhalten, es interessierte ihn offenbar nicht; dagegen rief der Name England eine Flut von Gedankenverbindungen in ihm wach. Er glaubte meinen rettungslos bourgeoisen Standpunkt daran zu erkennen, daß ich zwar mit Burns und den Fabiern, nicht aber mit Hyndman und der sozialdemokratischen Föderation, die allein den Marxismus in England repräsentierten, verkehrt habe. Mit den sprunghaften Übergängen eines glänzenden Geistes, der weder die Fähigkeit hat, auf die Interessen des anderen einzugehen, noch die Zähigkeit, sich in eine Frage zu vertiefen, kam er von da auf unsere auswärtige Politik zu sprechen, auf das berechtigte Mißtrauen Englands den offenbaren Weltmachtgelüsten unseres Kaisers gegenüber, auf Rußland, an das wir um so näher uns anschließen würden, je weiter wir von England abrückten, auf den künstlich aufgepeitschten Hurrapatriotismus der Kriegserinnerungsfeiern der Gegenwart, der letzten Endes nur dazu da sei, gegen die Sozialdemokratie mobil zu machen und die gescheiterte Umsturzvorlage in anderer Form wieder aufleben zu lassen.

Mir war diese Gesprächswendung unbehaglich. Gut, daß ich, ohne aufzufallen, schweigen konnte. Hafteten die Eierschalen der Vergangenheit noch so fest an mir, daß die Artikel des »Vorwärts« über die Gedenkfeiern an den »brudermörderischen Krieg« mir das Blut in Wallung brachten? Sie vertraten doch zweifellos Menschlichkeit und Gerechtigkeit in weit höherem Maße, als all die mit Orden und Bändern behängten Kriegervereinler, die sich wie die Wilden an der blutigen Unterdrückung eines Nachbarvolkes noch in der Erinnerung berauschten. Liebknecht [39] war in seiner Gegnerschaft gegen jede Art von Chauvinismus ein Fanatiker. »National gesinnt ist meines Erachtens nur, wer das Recht und das Wohl anderer Nationen ebenso zu achten weiß, wie das der eigenen,« sagte er. Und mir wurde bewußt: er fühlte international, während ich nur die Idee der Internationalität kühl verstandesmäßig anerkannte. Ich sprach das aus, und er nickte eifrig: »Natürlich, – das ist der Unterschied, – und der kommt zum großen Teil daher, daß das Jahr 48 und das Sozialistengesetz mir das Vaterland nahmen und die Welt zur Heimat machten. Auch der Proletarier, der nichts besitzt, und der Arbeit über alle Grenzen hinweg nachrennen muß, ist von Herzen international, und die Hammerstein und Konsorten,« – er lachte boshaft –, »die sich vom Vaterland den Schmerbauch mästen lassen, predigen uns Verruchten Patriotismus!« Er unterbrach sich und stand auf. Ich wollte gehen. »Daraus wird nichts, – nun müssen Sie noch bei meiner Frau Kaffee trinken.«

Ich wurde ins Wohnzimmer geführt. Bei Frau Major X. in Bromberg und bei Frau Hauptmann Z. in Brandenburg war es nicht viel anders gewesen –, nur daß hier statt der Familienbilder die von Marx, Engels und Lassalle an den Wänden prangten, statt des Stichs der Sixtina Walter Cranes Maifestzug, und ich damals noch nicht in die rechte Sofaecke genötigt wurde. Frau Liebknecht war die typische Gouvernante aus vornehmen Häusern, der Bildung und Lebensform nicht die Haut war, sondern das Kleid. Ihm war ich irgendwer gewesen, ihr: »Frau von Glyzcinski.«

Es dämmerte schon, als ich mit ihm das Haus verließ. Er ging in seine Redaktion, ich in die Ansbacherstraße, wo ich die Eltern aus Pirgallen zurückerwarten sollte. »Und für meinen Plan kann ich auf Ihre Unterstützung nicht rechnen?« fragte ich nun doch noch einmal. Er blieb stehen: »Meine Unterstützung?! Das würde keinem von uns nützen. Überlegen Sie sich's selbst nochmal, ob er Ihrer eigenen Unterstützung wert ist!«


[40] Die Stimmung war keine rosige, in der ich Eltern und Schwester empfing, und auch sie schienen erregt und niedergeschlagen: Mama hatte die Lippen fest zusammengekniffen, so daß sie nur noch wie ein schmaler, blasser Strich erschienen, der Vater war feuerrot im Gesicht und räusperte sich ununterbrochen, Ilschen hatte verweinte Augen. »Alles ging so gut,« flüsterte sie mir hastig zu, als die Eltern ins Zimmer getreten waren, und hielt mich im Flur zurück, »da kam es gestern abend wegen der dummen Hammerstein-Geschichte zu einer Auseinandersetzung zwischen Onkel Walter und Papa. Das Vertuschungssystem sei unanständig, sagte er, während Onkel es für notwendig erklärte im Interesse der Partei. Schließlich schimpfte Papa – du kannst dir denken, wie –, und Onkel sagte, Papa habe sich wohl bei seiner Tochter, der ›Genossin‹, angesteckt, – ein Wort gab das andere, Onkel zeigte Papa schließlich die Kreuz-Zeitung mit der Notiz über dich – –«

»So, – nun haben wir miteinander zu reden –,« unterbrach meines Vaters vor Erregung rauhe Stimme die Schwester. Es war ein förmliches Verhör ...

»Mitglied der sozialdemokratischen Partei bin ich noch nicht –,« sagte ich. Er lehnte sich tief aufatmend mit geschlossenen Augen in den Stuhl zurück. Ich wollte fortfahren. Er wehrte mit beiden Händen ab: »Genug – genug! Mehr will ich nicht hören – mehr nicht!« Dann erhob er sich schwerfällig, ging zum Schreibtisch und setzte das Telegramm auf: »Baron Walter von Golzow, Pirgallen. Ich habe Alix' Wort. Verlange nunmehr von dir Ehrenerklärung. Hans.« Ich wollte widersprechen, – des Vaters rotunterlaufene Augen blitzten mich herrisch an, Ilse faltete hinter ihm mit bittender Gebärde die Hände –, ich schwieg. War es Feigheit? War es Rücksicht? Oder nichts als schlaffe Ermüdung?

Beim Abendessen wurde mir mitgeteilt, daß die Gartenwohnung auf derselben Etage frei geworden sei. »Wir hätten [41] andernfalls umziehen müssen, nun ersparen wir das, und du ziehst einfach hierher,« sagte der Vater; »dann haben wir Alten wieder unsere beiden Töchter,« fügte er mit einem Anflug liebevoller Heiterkeit hinzu und streckte mir über den Tisch die Hand entgegen. Nur zögernd legte ich die meine hinein.

»Sehr gütig, Papa, daß du an mich dachtest, aber ich habe schon eine Wohnung.« Er brauste wütend auf. Schweigend ließ ich den Wortschwall über mich ergehen.

»Ich habe euch meine Überzeugung geopfert,« sagte ich dann fest, »meine Freiheit opfere ich euch nicht ...«

Durch die sternenlose Augustnacht ging ich nach Hause. Über die menschenleere Straße schwankten ein paar Betrunkene. Wie fürchtete ich mich sonst vor ihnen, – gleichgültig schritt ich heute vorbei, – meinetwegen hätten sie mit mir tun können, was sie wollten. Ich war ja gar nicht ich, nur ein Schatten dessen, was einst lebendig war. In meiner einsamen dunkeln Wohnung warf ich mich angekleidet aufs Bett und grübelte stumpfsinnig dem einen Gedanken nach: Warum ich eigentlich den Morgen erwarten müßte – und den Tag – und wieder einen Tag, und so in endloser Reihe die ganze Leere des Lebens?!


In meinen stillen Zimmern lastete die Luft auf mir. Die Sonne strahlte durch die grünumsponnenen Fenster, über die lachenden Gärten, – wäre ich nur erst in meinem neuen Heim, wo ich nichts sah, als eine gemalte Landschaft! Von innerer Unruhe getrieben, lief ich in der Stadt umher, blieb vor den Schaufenstern stehen und ertappte mich auf einem halb unbewußten Verlangen nach hellen Kleidern. Ich saß allein vor dem alten verräucherten Café Josty und sah über den Potsdamer Platz hinweg den Menschen nach, die schwatzten und lachten und kokettierten, und unter die ich mich nicht mischen durfte. Ein Gefühl von wohliger Wärme überkam mich, wenn [42] bewundernde Blicke mich trafen, – ach, und Sehnsucht packte mich, unbändige Sehnsucht nach Lebensfreude.

Damals begegnete mir Graf Oer, einer meiner alten Tänzer; er hatte den schlechtesten Ruf und war doch einer der verwöhntesten Männer der Berliner Gesellschaft. Eine aufreizende, schwüle Atmosphäre verfeinerter Sinnenlust umgab ihn; schon sein forschender Blick aus halbgeschlossenen Augen, sein weicher, langsamer Händedruck ließ die Frauen erröten, denen er sich näherte. Mir gegenüber war er ganz teilnehmender Freund. »Ihre Blässe erhöht zwar nur Ihren Reiz, schönste Frau,« sagte er, »aber im Verein mit Ihrer sylphidenhaften Gestalt« – seine Blicke wanderten förmlich über meinen Körper – »finde ich sie beängstigend. Sie brauchen Sonnenweide wie ein Rassepferd. Was meinen Sie, wenn ich Ihnen täglich ein paar Stunden lang meinen Wagen schicke und Sie in den Grunewald fahre oder nach Wannsee?« Trotz meiner Ablehnung, die nicht sehr energisch gewesen sein mochte, hielt sein elegantes Juckergespann am nächsten Morgen vor meiner Türe. War das wonnig, so in den jungen Tag hineinzurollen, mit geschlossenen Augen vorbei an den öden Feldern des Kurfürstendamms, in den Grunewald hinein, dessen vereinzelte Villen sich rasch verloren, bis zu dem kleinen Försterhaus am stillen See, in dem die Sonne sich, ihrer Schönheit froh, eitel bespiegelte.

»Wie Sie genießen können!« sagte Graf Oer, als wir beim Frühstück im Gärtchen saßen. »Und Sie wollen lebendigen Leibes ins Kloster gehen! Die Welt ist so schön und wartet nur darauf, Sie zu empfangen, – lassen Sie mich Ihr Führer sein –« Ich fühlte seine feuchten, kühlen Lippen auf meiner Hand, sein Knie dicht an dem meinen, – ein unbezwinglicher Ekel schnürte mir die Kehle zusammen. Ich sprang auf, raffte mein Kleid und verließ ohne ein Wort, ohne einen Blick den Garten. Waren Genuß und Gemeinheit Zwillingsgeschwister, so wollt' ich wahrlich ins Kloster gehen!


[43] Zu Hause erinnerte mich ein Brief an den letzten und wichtigsten Besuch, den ich im Interesse des Zentralausschusses machen wollte: bei Bebel. Er lud mich zum Mittagessen ein, »dabei läßt sich am besten besprechen, was Ihnen am Herzen liegt und mich lebhaft interessiert.«

In der Großgörschenstraße wohnte er, einer jener neuen Straßen, die jede Fassadenpracht verschmähte und deren üppiger Blumenschmuck verriet, daß die vielen kleinen Balkons die Sommerfrische ihrer Bewohner waren.

Ein lächelndes Dienstmädchen in blendend weißer Schürze öffnete mir auf mein Läuten an der blank geputzten Klingel. Ein leichter Geruch nach frischer Seife drang mir entgegen, und in dem hellen Zimmer, das ich betrat, blinkte die Politur der Möbel, daß sich die Bilder an den Wänden darin spiegelten. Die vollkommenste Einfachheit herrschte hier, jede Spur künstlerischer Kultur fehlte, aber es fehlte auch jeder Versuch, Nichtvorhandenes vortäuschen zu wollen. Die kleine, runde Frau, die mich herzlich willkommen hieß, mit der schwarzen Schürze über dem schlichten Kleid, den von Güte strahlenden Zügen unter den glatten Scheiteln, war wie ein Teil dieses Raumes. Sie nötigte mich in den Lehnstuhl neben dem Nähtischchen am Fenster, meine Hand fest in der ihren haltend.

»So eine arme, junge Frau,« sagte sie mitleidig; »ich mußte oft an Sie denken und an Ihre Einsamkeit, – ich wäre längst bei Ihnen gewesen, wenn ich nicht gefürchtet hätte, zudringlich zu erscheinen.« Mir wurden die Augen feucht, – meiner Einsamkeit hatten sich auch die Nächsten nicht erinnert. Mit jener Kunst verständnisvollen Zuhörens, die selbst die beste Erziehung nicht zu geben vermag, wenn die Teilnahme des Herzens fehlt, ließ sie sich von meinen kleinen Wohnungs- und Wirtschaftskümmernissen erzählen. »Was, im Wirtshaus essen Sie –?!« Sie schlug die Hände erstaunt zusammen. – »Kein Wunder, daß Sie so blaß und schmal werden; ordentlich herausfuttern müßte man Sie.«

[44] Bebel trat ein, mit einem raschen, elastischen Schritt, die glänzenden Augen gerade auf mich gerichtet, während ein Büschel Haare ihm keck, wie bei einem Knaben, in die Stirne fiel. Von einer breiten Hand – zu schwer fast für den schmächtigen Körper – fühlte ich meine Finger umschlossen. »Ich freue mich Ihres Besuchs –,« seine Stimme klang im Zimmer viel weicher und voller als auf der Rednertribüne, »– nicht mehr allein, weil Sie Glyzcinskis Witwe sind. Nach dem Schriftstück hier –,« er hielt das Programm des Zentralausschusses in der Hand, »– haben wir von Ihnen viel Gutes zu erwarten.«

Er nötigte mich in sein Arbeitszimmer, einen kleinen Raum mit wenigen gestrichenen Holzmöbeln, blank gescheuerter Diele und musterhafter Ordnung. Wir erörterten alle Einzelheiten meines Plans.

»Sie können mit Ihrer Arbeit da einspringen, wo die Regierung nicht eine, sondern hundert Lücken gelassen hat. Unsere Beteiligung freilich wird sich wohl nur auf Ratschläge beschränken.«

»Damit ist mir nicht gedient!« rief ich. »Wie können wir in die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiter Einblick gewinnen, wenn Sie uns nicht die verschlossenen Türen öffnen.«

»Ja, glauben Sie, ich wäre der liebe Gott?!« lachte er. »Ich könnte etwa den Gewerkschaften befehlen, Ihren Bestrebungen Vertrauen entgegenzubringen, oder gar unseren Frauen!!«

Wir wurden zu Tisch gerufen. Kein Diner hatte mir je so gut gemundet, wie dieses einfache Mittagsmahl. Die besten Stücke wurden mir auf den Teller gehäuft.

»Sehen Sie, wie's schmeckt, wenn man nicht trübselig allein an einer schmuddeligen Wirtstafel sitzt!« sagte Frau Bebel, befriedigt über meinen Appetit. Sie schwieg sonst meist. Nur wenn der lebhafte Gatte gar zu heftig irgendeinen Gegner angriff, warf sie ein paar besänftigende oder entschuldigende Worte ein, und als er gegen die Junker wetterte, sah sie zuerst ihn, dann mich vielsagend an.

[45] »Ach soo –,« er unterbrach sich ein wenig verlegen, »– Sie gehören ja am Ende auch zu ihnen! – Aber mein Schimpfen ist wahrscheinlich ein sanftes Flötenspiel gegen die Töne, die angesichts der Kreuz-Zeitungsaffäre in Ihren eigenen Kreisen angeschlagen werden. Der Fall Hammerstein, diese Dekuvrierung eines der Edelsten und Besten, kommt den privilegierten Beschützern von Religion und Sittlichkeit gerade jetzt gewaltig in die Quere. Und die Sache ist noch lange nicht zu Ende, – die ganze Kreuz-Zeitungspartei, die den jungen Kaiser vor ein paar Jahren als Zugpferd vor ihren eignen Wagen spannen wollte, wird daran glauben müssen.« Er verbreitete sich, immer lebendiger werdend, über die politische Lage und die nächsten Zukunftsaussichten. Er sah überall Symptome für den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft und auf der anderen Seite Etappen zum Siege des Sozialismus. »Die Weltmachtpolitik, die, einmal begonnen, nicht mehr aufzuhalten sein wird, ist der Anfang vom Ende. Sie appelliert zwar an die stärksten, an die brutalen Instinkte, aber sie führt schließlich mit Notwendigkeit zur Auspowerung der Massen und treibt sie uns damit in die Arme, – gewisser als alle Agitation von unserer Seite es vermöchte. Selbst ein möglicher Weltkrieg zwischen den Kolonialmächten wäre nur der Auftakt der Revolution.«

Ich dachte an Shaw und seine unbedingte Gegnerschaft zu dieser ans Fatalistische streifenden Auffassung von der Entwicklung zum Sozialismus und warf in diesem Sinne eine bescheidene Frage in die Unterhaltung: »Stehen wir nicht in Gefahr, als bloße Zuschauer die Hände in den Schoß zu legen, wenn uns die Naturgesetzlichkeit des Sozialismus so zweifellos feststeht?«

»Ein Einwurf, der nach dem Katheder schmeckt! Müssen wir nicht die Menschen für diese Entwicklung vorbereiten?«

»Also ist alle Gegenwartspolitik der Partei nie Selbstzweck –?«

[46] »Sondern nur Mittel zum Ziel,« rief er lebhaft, »und ihr Wert ist nur von diesem Gesichtspunkt aus zu bemessen!«

»Wie habe ich danach Ihr Interesse für meinen Plan einzuschätzen?« frug ich lächelnd. »Als bloße Höflichkeit etwa?!«

»Treiben wir Sozialpolitik aus Höflichkeit?! Doch nur, weil eine gesunde, kräftige Arbeiterschaft, die Zeit hat zum Denken und zum Wirken, die Armee ist, die wir haben müssen.«

Ich streifte mechanisch die Handschuhe über die Finger. Mein Herz schlug in dem raschen Takt der Melodie, die dieser Mann angeschlagen hatte. Der Glaube an die Sache –, das war das Unüberwindliche in ihr. An der Tür hielt mich Bebel noch einmal auf: »Ich rate Ihnen, wenn Sie irgend etwas im Kreise unserer Genossinnen erreichen wollen, – setzen Sie sich mit Wanda Orbin in Verbindung. Am besten, fahren Sie zu ihr. Ist sie gegen Ihren Plan, so haben Sie alle miteinander gegen sich!«

Noch am selben Abend schrieb ich an Frau Orbin, um ihr meinen Besuch anzukündigen; zugleich bat ich sie, in ihrer Zeitschrift, der »Freiheit«, meine Idee zur Diskussion stellen zu dürfen. Sie antwortete umgehend, aber was sie schrieb, klang wenig ermutigend: Wenn mein Weg mich über Stuttgart führe, so würde ihr mein Besuch willkommen sein; zu einer Reise, eigens ihretwegen, könne sie mir jedoch nicht raten, da sie zwecklos sein würde; von einer Veröffentlichung meines Plans in ihrer Zeitschrift könne auch keine Rede sein: »... die ›Freiheit‹ ist ein rein sozialdemokratisches Blatt, an dem ich grundsätzlich nur solche Mitarbeiter zulasse, die auf dem Boden des Klassenkampfes stehen.« Trotzdem beschloß ich, zu ihr zu fahren, und wäre es nur, um die Bekanntschaft dieser Frau zu machen, deren Leben und deren Persönlichkeit ein wahrhaft vorbildliches zu sein schien. Bebel, den ich in dieser Zeit öfter sah, erzählte mir viel von ihr: wie sie sich mit Peter Orbin, einem russischen Sozialisten, in freier Ehe verbunden habe, ihm nach Paris in Elend und Verbannung gefolgt sei und das schwere Siechtum, [47] das über ihn hereinbrach, jahrelang vor ihren Freunden zu verstecken verstand, indem sie in seinem Namen korrespondierte, in seinem Namen Artikel schrieb und, mit zwei kleinen Kindern und dem kranken, ständiger Pflege bedürftigen Mann, nicht nur das tägliche Brot für alle schaffte, sondern auch imstande war, für die Partei unermüdlich zu agitieren. Mir schwindelte vor dieser Leistungskraft; meine Schmerzen, meine Kämpfe schrumpften davor kläglich zusammen.

»Ihre Nerven hat sie dabei freilich ruiniert,« fügte Bebel schließlich hinzu.

An einem Abend hatte ich Liebknechts und Bebels zu mir geladen. Längst erloschene Gesellschaftsvorfreuden empfand ich wieder in der Erwartung dieser Gäste. Zum erstenmal vermißte ich schmerzlich all die vielen graziösen Geräte, mit denen ich als Haustochter die Festtafel zu schmücken verstand, – ich hatte nicht einmal genug Messer und Gabeln! Schweren Herzens entschloß ich mich, bei den Eltern zu borgen was am notwendigsten fehlte.

»Du gibst Gesellschaften?« frug Mama erstaunt. »Kaum ein halbes Jahr nach dem Tode deines Mannes?!«

»Nur ein paar Interessenten meines Zentralausschusses –,« antwortete ich ausweichend, während die Scham über diese verlogene Geheimniskrämerei mich erröten machte. War es Zufall oder Absicht, daß mein Vater, kurz ehe ich meine Gäste erwartete, zu mir kam und Anstalten machte zu bleiben? In quälender Angst saß ich vor ihm, alle erdenklichen Gründe ersinnend, um ihn, ohne ihn zu verletzen, zum Gehen zu nötigen. Endlich stand er auf. »Meine eigene Tochter wirft mich hinaus,« sagte er mit einem müden, wehen Ton in der Stimme. »Lieber – lieber Papa! –« ich schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn. In diesem Augenblick kam ich mir vor wie ein Verräter. Der Abend, auf den ich mich so gefreut hatte, war für mich eine Qual.


[48] Am nächsten Morgen fuhr ich nach Stuttgart. Ein unbestimmtes Hoffen, das wie durchleuchtet war von froher Ahnung, erfüllte mich: irgend etwas ganz Ungewöhnliches würde geschehen. Auf dem Bahnhof empfing mich Frau Orbin. Ihre Erscheinung war nicht die imponierende, die ich mir vorgestellt hatte. Ich sah zunächst nichts als eine breite untersetzte Gestalt und einen großen Hut mit zerzausten Federn, der windschief auf ihrem Kopfe saß und ihre Züge beschattete. Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt, als sie ihn abgenommen hatte und sich im Speisezimmer des Hotels zu mir setzte. Rotblonde Haare bauschten sich wellig um Stirn und Schläfen, helle Augen, in allen Lichtern des Regenbogens spielend, sahen mir gerade ins Gesicht, auf der Stirn, um Nase und Mund gruben sich kleine senkrechte Falten, die zu der noch jugendlich-weichen Rundung der Wangen in peinlichem Mißverhältnis standen. Ohne alle Höflichkeitspräliminarien begann sie sofort meinen Plan rücksichtslos zu zerzausen. Sie sprach mit nervöser Überstürzung, die Worte jagten einander, als wollte eins das andere verschlucken. »An eine Zusammenarbeit von uns und Ihnen ist natürlich gar nicht zu denken. Sollte von anderer Seite etwas der Art für möglich erklärt worden sein –,« ein mißtrauisch-fragender Blick traf mich, – »so würde ich jede solche Absicht auf das Schärfste bekämpfen. Der politische Kampf ist für uns das A und O. Darum ist jede Harmonieduselei mit bürgerlichen Elementen vom Übel und kann nur verwirrend wirken, den Klassenkampfcharakter unserer Bewegung verwischen. Nicht die Gegensätze überbrücken, wie bürgerliche Idealisten und Ethiker wünschen, sondern sie auf das Schärfste betonen, ist für uns die Hauptsache. Reinliche Scheidung, – ohne Konzessionen.«

Ich seufzte tief auf. Sie verstand mich falsch und ein feines ironisches Lächeln kräuselte flüchtig ihre Lippen. »Das ist freilich nicht immer ganz bequem, aber für Menschen wie Parteien die einzig mögliche Grundlage ihrer Existenz.«

[49] Sie lud mich für den folgenden Tag zu sich ein. Hätte mich die Frau nicht gereizt, der Sache wegen schien der Besuch keinen Zweck mehr zu haben.

In einer Wohnung von puritanischer Schlichtheit empfing sie mich, aber ein unbestimmtes Etwas, sei es die Wahl der Bilder, der Fall der Vorhänge oder nur die ganze Farbenstimmung des Raumes, verriet das künstlerische Empfinden der Bewohnerin. Und als ihre beiden frischen Buben hereinstürmten, rotwangig und glänzenden Auges, sah ich hinter der Rüstung der Kämpferin den Menschen, die Mutter. Wie reich war sie! – Wir gingen nachmittags hinaus vor die Stadt, die bewaldeten Hügel hinan, die sie so zärtlich umschließen. Die Kinder und die Natur schienen Wanda Orbin zu verwandeln. Sie war viel milder heute. Sie sprach über Kunst und Literatur mit dem Verständnis eines selbständigen Geistes und der Wehmut unglücklich Liebender. »Das ist alles eingeschlafen, hat einschlafen müssen gegenüber der großen, umfassenden Aufgabe,« sagte sie schließlich, und ihre Augen bekamen wieder den fiebrigen Glanz des Fanatismus.

Kaum waren wir in ihrer Wohnung, als ein Mann zu ihr hereinstürzte, atemlos eine Depesche hin- und herschwenkend, während ihm hinter den Augengläsern die dicken Tränen über die bärtigen Wangen liefen. »Engels – Engels ist tot –,« stieß er mühsam hervor. Mit einer abwehrenden Bewegung der Hände – breiter kurzfingriger Hände, die aussahen, als hätte der Bildhauer Natur sie nur in rohen Umrissen skizziert und vergessen, sie auszuführen – starrte Wanda Orbin dem Unglücksboten sekundenlang ins Gesicht. Dann warf sie die Arme empor und brach in ein konvulsivisches Schluchzen aus, unter dem ihr Körper immer heftiger zu zittern begann. Ihre Füße würden die Schwankende nicht mehr tragen, dachte ich, und schob ihr vorsichtig einen Sessel zu, in dem sie haltlos versank. Inzwischen hatte sich das Zimmer gefüllt: die Eintretenden tauschten [50] miteinander warme Händedrücke. Alles sammelte sich um die weinende Frau, leise Flüstergespräche, als läge der Tote mitten unter ihnen, flogen nach langer beängstigender Stille hin und her. Eine Familie war dies, die Stärkeres zusammengeschweißt hatte, als das Blut: aus gemeinsamen Empfindungen, Gedanken und Idealen entsprang die Tiefe gemeinsamer Trauer um den, der ihr Führer gewesen war. Auf Zehenspitzen schlich ich hinaus und fühlte doch mit überwältigender Gewißheit, daß ich dazu gehörte.

Spät am Abend kam Wanda Orbin noch einmal zu mir, – sehr weich, sehr liebevoll. »Sie hätten bleiben dürfen, Sie sind uns doch keine Fremde,« sagte sie. Da gewann ich Vertrauen und erzählte ihr von den Zweifeln und Kämpfen der letzten Wochen. Ich sah, wie sie lächelte, – nachsichtig wie eine Mutter über Kinderleiden, aber es verletzte mich nicht. »Im Zwiespalt der Empfindungen kann niemand dem anderen helfen,« meinte sie dann. »Ich weiß nur eins gewiß: ist Ihre Überzeugung erst vollkommen klar und unerschütterlich, so verschwindet vor ihr das bloße Gefühl wie Sommerschwüle vor dem Gewitter. Zu dieser Überzeugung zu gelangen, das ist freilich das schwerste. Die Logik der Tatsachen, die Lebensverhältnisse pauken dem Proletariat eine Auffassungsweise ein, die sich der bürgerliche Idealist mit großer Mühe aneignen muß, wenn es ihm überhaupt trotz aller Ehrlichkeit gelingt, den alten Adam der bürgerlichen Ideen abzulegen. Es ist so furchtbar schwer, aus seiner Haut zu fahren, sich von dem zu befreien, was Vererbung und Milieu aus uns gemacht haben.« Ihre Augen schauten wie nach innen.

Wir sprachen noch lange miteinander. Sie riet mir jetzt zur Ausführung meines Planes; ich würde durch ihn vielleicht am besten zur Klarheit kommen, und an Rat und – inoffizieller – Hilfe von ihr sollte es nicht fehlen. »Setzen Sie sich in Berlin mit den Gewerkschaften in Verbindung, und zwar speziell mit [51] den Konfektionsarbeitern, die infolge der Bewegung, in der sie augenblicklich stehen, Ihre Sache als eine Unterstützung betrachten dürften. Und dann, vor allen Dingen, suchen Sie unseren Genossen Dr. Heinrich Brandt für sich zu interessieren. Gewinnen Sie ihn, so ist Ihnen geholfen: er setzt alles durch, was er will.«

Dr. Brandt! – Ich schloß unwillkürlich die Lider, verloren in Erinnerung. »Alle Ströme fließen ins Meer,« hörte ich eine dunkle klingende Stimme sagen, und flüchtig – ein Traumbild – tauchte ein Mann vor mir auf, blond und schlank, und tiefe graue Augen versanken sekundenlang in den meinen.


Nach meiner Rückkehr schrieb ich sofort an Johannes Reinhard, den Führer der Konfektionsarbeiter-Bewegung, und an Heinrich Brandt. Reinhard kündigte mir umgehend seinen Besuch an; kurz danach bestimmte Brandt dafür dieselbe Stunde. Im ersten Gefühl starker Freude, über deren Ursache ich mir nicht so recht klar war, wollte ich Reinhard abschreiben, um den anderen bald und zuerst zu sehen. Über mich selbst errötend, zerriß ich die Karte wieder, die ich zu schreiben begonnen hatte, und bat statt dessen Brandt, seinen Besuch zu verschieben. »Schade,« antwortete er mir, »ich wäre gern gleich gekommen. Vorgestern las ich in der Wiener ›Zeit‹ einen Artikel von Ihnen, der mich so entzückte, daß der Wunsch, die Verfasserin kennen zu lernen, in mir rege wurde. Diesem Wunsch begegnete noch am selben Morgen Ihr Brief.«

Und nun stand Reinhard vor mir, unter der linken Schulter die Krücke, das Gesicht noch gelber, als da ich ihn zum letztenmal in der Egidyversammlung gesehen hatte, die schwarzen, dünnen Haarsträhnen wie festgeklebt um den breiten Schädel und die tief eingefallenen Schläfen.

»Hielte ich Ihren Plan nicht für gut, für notwendig sogar in [52] diesem Augenblick, wo der Reichskanzler den Stillstand der Sozialreform nicht nur zugab, sondern verteidigte, ich würde nicht so rasch hier sein,« begann er die Unterhaltung, indem er sich mühsam, das linke Bein gerade ausgestreckt, auf dem Stuhl niederließ. »Wir stehen in der Konfektion seit Beginn des Jahres in einer Bewegung, die mir Tag und Nacht keine Ruhe läßt – –«

»Ich weiß: um die Durchsetzung von Betriebswerkstätten handelt es sich,« unterbrach ich ihn. »Der Zentralausschuß könnte nichts Besseres beginnen, als Sie darin unterstützen.«

Er sah erfreut auf. »Ich sehe, Sie sind orientiert, und so brauche ich nur hinzuzufügen, daß Ihr Zentralausschuß auch nirgends reicheres Material zur Frage der Frauenarbeit finden könnte als bei uns. Ihren Londoner Eindrücken, von denen ich in den Zeitungen gelesen habe, würden die Berliner nicht nachstehen.«

Ich zweifelte an der Möglichkeit ähnlichen Elends bei uns. Nicht einmal in der Nacht, wenn ich aus Versammlungen gekommen war, hatte ich so bittere Not gesehen, wie sie mir in London bei hellem Tage begegnet war.

»Unsere Ärmsten schämen sich, – das ist vielleicht der letzte Rest Menschlichkeit in ihnen,« meinte er; »seit Wochen mache ich fast nichts anderes als Besuche bei den Heimarbeitern. Eben erst war ich bei einem alten gelähmten Weibe, das hier im Westen, fünf Treppen hoch, ein einfenstriges Zimmer und eine fensterlose, winzige Küche mit ihrer Tochter und deren vier kleinen Kindern bewohnt. Von früh fünf bis nachts um elf trampelt die Tochter die Nähmaschine, um bestenfalls neun Mark in der Woche zu verdienen. Vor wenigen Tagen war ich in einem engen Kellerloch, wo eine Witwe mit zwei Kindern wohnt; auf den schimmeligen Möbeln, auf dem einzigen wackeligen Bett, liegen elegante Damenblusen, für die sie ganze fünf Mark wöchentlich einnimmt.« Reinhard erhob sich, rote Flecken brannten auf seinen Backenknochen, und während er weitersprach, humpelte er im [53] Zimmer aufgeregt hin und her. »In einem anderen Keller, wo die Dielen faulen und die Fenster tief unter der Erde liegen, arbeiten zwei Schwestern, – junge, bleichsüchtige Dinger, – für die, die oben in Luft und Sonne lachend vorübergehen. Ist die Ehre, die ihr bewahrt habt, das elende Leben wert, – hätte ich ihnen am liebsten zugerufen. Dicht unter dem Dach, in zwei kleinen Löchern, sah ich ein Ehepaar mit fünf Kindern und einem Schlafmädchen; den Mann zerfrißt auf dem Lager voll Lumpen der Kehlkopfkrebs, die Frau näht Knopflöcher für ganze vier Mark in der Woche,« – klipp-klapp-klipp-klapp, – rascher und rascher schlug Reinhards Krücke den Takt zu der grausen Melodie –; »eine arme Mutter fand ich in einem sonnenlosen Winkel im Norden, sie nähte Hemden, halbfertig lagen sie auf dem Bett, wo zwei diphtheritiskranke Kinder mit dem Tode rangen. Und, denken Sie nur,« – er blieb stehen und lachte grell auf, »– einen schneeweißen Mantel, bestimmt für nackte Schultern schöner Frauen, sah ich einmal in den Händen einer Syphilitischen –«

»Um Gottes willen – hören Sie auf!« Auch ich erhob mich. »Warum schreien Sie diese Tatsachen nicht auf öffentlichem Markte aus? Warum kleben Sie Ihre Berichte nicht an alle Straßenecken? – Kein Reichskanzler würde mehr wagen, den Stillstand der Sozialreform zu verteidigen.«

»Wir sind dabei, es zu tun,« antwortete er, und seine Sprechweise nahm wieder den Ton der alten sachlichen Ruhe an. »Eine Broschüre, an der ich arbeite, wird allen maßgebenden Persönlichkeiten zugeschickt und unserem diesjährigen Parteitag vorgelegt werden; wir haben außerdem, wie Sie wissen, die Unternehmer vor die Alternative gestellt, Betriebswerkstätten einzurichten, oder einer allgemeinen Arbeitseinstellung gewärtig zu sein. Kommt es dazu, so wird die Öffentlichkeit sich mit uns beschäftigen müssen. Übrigens: –,« er dachte einen Augenblick nach, »wie wär's, wenn Sie die Tätigkeit Ihres Zentralausschusses [54] auf eigene Faust beginnen und mich bei meinen Recherchen zuweilen begleiten würden?«

Dankbar nahm ich sein Anerbieten an. In der nächsten Zeit brachte ich fast täglich ein paar Stunden mit ihm zu. Wir kamen in Stadtteile, die ich noch nie gesehen hatte, lange, nüchterne Straßenzeilen, die Häuser regelmäßig aufgereiht, gleichmäßig grau getüncht; die Öde des Anblickes nur noch erhöht durch die äußere Ordnung und Reinlichkeit. Wir schritten durch enge Höfe in dunkle Hinterhäuser, die das Licht der Straße nicht mehr fürchteten und ohne Scham die Blößen ihrer Not enthüllten. Nach Osten, nach Süden führte uns der Weg, wo mitten im kahlen, der Stadt schon preisgegebenen Boden hohe Mietskasernen an zerwühlten, werdenden Straßen standen. Hier, zwischen den feuchten Wänden, hauste das Elend und starrte uns an mit den glanzlosen Blicken erloschenen Lebens, die grausamer in die Seele schneiden als die wildesten Schreie der Verzweiflung.

Oft, wenn wir aus dem Dunkel sparsam verteilter Laternen kamen und das Licht der Friedrichstadt uns blendend empfing, haftete mein Auge staunend an den glänzenden Spiegelscheiben der Läden und der Restaurants. Prahlend breiteten sich hinter den einen all die Herrlichkeiten aus, die den Gaumen laben, den Körper schmücken, das Leben bereichern; lachend, scherzend, mit vollen Taschen und glänzenden Augen saßen hinter den anderen die reizenden Frauen, deren einziger Daseinszweck ihre Schönheit zu sein schien, und die Männer, die ihnen huldigen. Wie war es nur möglich, daß die von draußen, aus den grauen Häuserzeilen und den werdenden Straßen, nicht dicht gedrängt, auf leisen Sohlen, wie Nachtgespenster, hierher sich schoben, um all die Pracht zu zertrümmern, das Lachen erstarren zu machen?!

Und in meinem Herzen nistete der Haß sich ein für alle die, die nicht mehr hassen konnten.


[55] Am frühen Morgen des 18. August war es. Eine arme Frau hatte ich besucht, die ich auf einem unserer Wege gefunden hatte. Sie war sterbenskrank, – ach, und wie gern wollte sie sterben, wenn nur die Kinder nicht gewesen wären, die sie fester als alle Arzeneien der Welt ans Leben ketteten. Die durchsichtigen Finger durften sich nicht zum Schlafen friedlich ineinanderfalten, sie hielten krampfhaft die weiße Leinwand fest, um zierliche Namenszüge, stolze Freiherrn- und Grafenkronen hineinzusticken. Ein wenig Hoffnung hatte ich ihr gebracht, – Hoffnung, daß sie bald ruhig werde sterben dürfen. Nun ging ich nach Hause, den Kopf gesenkt; die Sonne tat mir weh. An der Königsstraße geriet ich in einen Menschenschwarm, der mich mit sich riß: geputzte Frauen mit jenem aus Neugierde, Aufregung und Nervenspannung gemischten Ausdruck in den Zügen, der gewöhnliche Menschen bei allen großen Ereignissen, – seien es Feuersbrünste oder Hochzeitsfeiern, – charakterisiert, Männer im Sonntagsstaat, irgendeine Medaille oder ein Kreuz auf der Brust, das in diesen Tagen der Freibrief für alles war: Betrunkenheit – man nannte sie Begeisterung –, Roheit gegen Nichtdekorierte, – man nannte sie Vaterlandsliebe. Ich sah um mich: Fahnen flatterten von den Häusern, Straßenverkäufer boten mit krähender Stimme Kaisermedaillen aus, von ferne klang Trommelwirbel, Pferdegetrappel. Richtig: die Grundsteinlegung des Nationaldenkmals war heute.

Mit liebevoller Wehmut, wie die Greisin vergilbte Liebesbriefe, hatte der Vater gestern die Generalsuniform aus ihren Seidenpapierhüllen herausgeholt, hatte die Stickerei, die Knöpfe und die vielen Orden selbst mit einem Lederläppchen abgestaubt, und war gewiß heute früh, voll Erregung, zum Schloß gefahren.

Jetzt waren wir selbst bis dicht hinter die Schutzmannsketten vorgedrungen. Ein Vorwärts gab's nicht mehr, ein Zurück noch weniger. Es galt, auszuhalten. Die Galawagen der deutschen Fürsten rollten vorüber in ihrer altertümlich schwerfälligen [56] Pracht, dröhnenden Schrittes rückte die Garde auf den Schloßplatz, hinter ihr mit wehenden Fahnen Ulanen, Dragoner und im blitzenden Küraß die Gardedukorps.

Von hinten hauchte mir ein heißer Atem in den Nacken, der nach klebrigem Biere roch; aus dem Halsausschnitt der dicken, kleinen Frau neben mir stieg ein süßlicher Schweißgeruch. Mich ekelte vor der Erregung der Menge; eindruckslos rauschte sogar die mich sonst elektrisierende Musik an meinem Ohre vorüber; wie ein schlechtes Ausstattungsstück empfand ich das bunte Schauspiel vor mir. Unwillkürlich fiel mir das Modell des Nationaldenkmals ein: wie gut paßte es hierher mit seinen unruhigen Tier- und Menschengestalten, seinen Fahnen, Kanonen Gewehren und Säbeln und dem theatralisch daherschreitenden Engel, der des alten Kaisers vierschrötiges Schlachtroß führt. Von seinem künftigen Standort, dem Winkel vor dem Schloß, den man noch dazu dem Wasser hatte abringen müssen, tönten Hammerschläge, Kanonendonner fiel ein, die Luft erschütternd, von tiefen Glockenklängen untermischt.

Glocken und Kanonen, – die führenden Instrumente im Orchester der bürgerlichen Gesellschaft, mit denen sie das Weinen und Klagen der Millionen zu übertönen glaubt! Ich aber hörte es, und ich wußte: der Tag wird kommen, wo die Glocken vor ihm schweigen und die Kanonen vor ihm verstummen werden.


Vor dem Spiegel stand ich in meinem Schlafzimmer. Wie lange war es her, daß ich nichts als flüchtige Blicke hineingeworfen hatte, die nur der Ordnung meiner Haare, meiner Kleidung galten. Heute sah ich mich wieder: schärfer waren meine Züge geworden und schmaler mein Gesicht, meine Gestalt aber war noch immer die eines jungen Mädchens. Ich lächelte: ›Frau‹ von Glyzcinski – und ein Mädchen, ein altes Mädchen sogar von dreißig Jahren! Aber ich wollte nicht alt [57] sein, – heute nicht. Ich fühlte wieder, wie ich rot wurde. Daß das Weib in mir sich nicht töten ließ! Wo doch so vieles schon gestorben war!

Es klingelte. Kurz und scharf. Die Aufwärterin hatte ich früh schon nach Hause geschickt, sie war so alt und so häßlich. Dem Besuch, den ich erwartete, wollte ich selber öffnen.

»Gnädige Frau?!« – Eine überraschte, fragende Stimme. Ich unterschied im Dämmerlicht der Treppe und des Flurs die Silhouette eines Mannes, mit dem weiten Mantel über den Schultern, dem breiten Schlapphut auf dem Kopf. Ich selbst in meinem schwarzen Kleid mußte ihm nur wie ein Schatten erscheinen. Ich ging ihm voran ins Zimmer, das flutendes Sonnenlicht durchstrahlte, wie einst, da ich zum erstenmal über die Schwelle trat. Ich wendete mich um, – meine Hand blieb vergessen in der Heinrich Brandts. »Wir sind uns – keine Fremden –,« stotterte ich verlegen. »Nein, – nein –,« antwortete er und sah mich noch immer an. Die Uhr auf dem Schreibtisch holte zum Schlagen aus. Ich zuckte zusammen, setzte mich hastig, und steif und förmlich lud ich auch ihn zum Sitzen ein.

»Nein,« wiederholte er, und seine Augen ließen mich noch immer nicht los, während sein Gesicht heller zu werden schien, »– Sie sind mir keine Fremde. Kennen Sie das?« Er zog das graue Heft der Wiener »Zeit« aus seiner Rocktasche. »Im Grunde ein ganz dummer, kleiner Artikel, den Sie da geschrieben haben, und doch so wundervoll! Ein ganzer Mensch steckt dahinter!«

Mir wurde warm ums Herz. Seine Worte streichelten mir die Wangen, seine Stimme erfüllte die Luft um mich mit einem einzigen Wohllaut.

»Und Ihr Plan interessiert mich sehr. Ich habe auch gar nicht abgewartet, bis Sie endlich die Gnade hatten, mich herzubefehlen«, – er lächelte ein wenig malitiös. »Sie haben, wie [58] ich höre, Freund Reinhard den Vortritt gelassen, – ich habe indessen, ohne zu fragen, den Schritt getan, von dessen Erfolg Ihre ganze Sache abhängt.« Ich sah fast erschrocken auf. »Oder sollten Sie wirklich nicht daran gedacht haben, daß Geld, viel Geld dazu gehört?« Ich nickte lächelnd. »Ich schrieb an einen unserer ernsthaftesten und reichsten Sozialreformer und schickte ihm Ihr Programm. Ich zweifle nicht, daß er die Sache in angemessener Weise finanzieren wird.«

Ich versuchte, ihm zu danken; es kam vor tiefer innerer Erregung ungeschickt und hölzern heraus.

»Lassen Sie doch diese Formalitäten!« sagte er. »Wenn jemand Dank verdient, so sind Sie es, die den Gedanken hatten. Ich bin bestenfalls nichts als sein untergeordnetes Werkzeug.«

Wir sprachen noch lange miteinander. Ich erzählte von allem, was mir seit den letzten Wochen das Herz bewegte, und Leidenschaft und Haß und Liebe brachen durch die Dämme, die Einsamkeit und Zurückhaltung um sie aufgeschichtet hatten.

»Sie sind wie eine Flamme, die lodernd gen Himmel strebt,« flüsterte er wie zu sich selbst.

Als er gegangen war, blieb ich regungslos, die Hände fest ineinandergekrampft, mitten im Zimmer stehen. War das ein Traum gewesen, oder hatte er wirklich hier vor mir gestanden?! In diesem selben Zimmer, wo ich Georg, meinen einzigen Freund, gefunden und verloren hatte?!

Am nächsten Tag gegen Abend kam er wieder.

»Ich bin zudringlich, nicht wahr?« lachte er mir entgegen. »Aber Sie kommen mir vor wie ein verflogenes Vögelchen, das sich an Scheiben und Wänden den Kopf stößt und einer Hand bedarf, die es fängt und ins Freie läßt.«

»Sie mögen recht haben. Ich bilde mir wohl nur ein, daß ich in Freiheit flöge, und die anderen Leute waren bisher kurzsichtig genug, mich darin zu bestärken, wohl gar zu bewundern – –«

[59] Es dämmerte. »Entschuldigen Sie einen Augenblick,« sagte ich und ging hinaus, um die Lampe zu holen. Als ich wiederkam, fand ich ihn über das Manuskript eines Artikels gebeugt, den ich eben vollendet hatte. Ärgerlich wollte ich ihn vom Schreibtisch weg an mich reißen. »Verzeihen Sie –«, fest drückte er die Hand darauf, – »das gehört zu meinem Vogelfang. Wie kommen Sie dazu, dergleichen zu schreiben?!« Ich erschrak vor dem finsteren Gesicht, das er mir plötzlich zuwandte. »›Londoner Geselligkeit‹! Haben Sie nichts Besseres zu tun?!« Sein Blick blieb an der Lampe haften, die ich zitternd auf den Tisch stellte. Seine Stirn glättete sich, forschend sahen die großen grauen Augen mir ins Gesicht.

»Sie müssen sich selbst bedienen? – Sie öffnen mir immer selbst?! –«

Ich senkte einen Augenblick lang den Kopf.

»Wie Sie sehen: ja!« Meine Stimme, die zuerst ein wenig verschleiert klang, wurde klar und fest. »Ich kann mir ein Dienstmädchen nicht halten, und ich muß solche Artikel schreiben, weil ich von meiner Pension nicht leben kann.«

»Verzeihen Sie, – aber wie konnte ich ahnen –« Er sah mir tief in die Augen.

Wir waren von da an täglich zusammen, sei es, daß er mich zu einem Spaziergang abholte, sei es, daß wir uns in der Stadt trafen. Mit tiefer Beglückung empfand ich die zarte Sorgfalt, mit der er mich umgab. Wenn ich jetzt zu den Eltern kam und der Vater in heller Aufregung über die Sozialdemokraten schimpfte, – »lauter Hochverräter, die man hängen sollte«, – so hörte ich nur mit halbem Ohre hin, es verletzte mich nicht; um mich lag es wie ein warmer, kugelfester Mantel, den die Freundschaft um mich geschlungen hatte.

Die Freundschaft! – Ich glaubte an sie, – ich wollte an sie glauben, auch wenn die heißen Wellen meines Herzens mich zu überfluten drohten. »Sie müssen bald einmal mit mir hinauskommen [60] zu meiner Frau und meinen Buben. Sie ist anders als Sie, – ganz anders, aber klug und gut, – Sie werden einander verstehen,« hatte er mir einmal gesagt. Es kam aber noch immer nicht dazu, und ich drängte nicht danach.

Eines Nachmittags saßen wir zusammen auf dem schmalen Balkon des Café Klose. In weichem, silbernen Sonnenlicht fluteten unter uns auf der Leipziger Straße die Menschen auf und nieder. Ein früher Herbstnebel, zart und duftig wie Feenschleier, spielte um die endlosen Häuserreihen, und es schien, als dämpfte er selbst das Rasseln der Wagen.

»Sehen Sie nur, was ich heute bekam,« damit hielt ich ihm einen Brief entgegen. »Die Wiener Fabier fordern mich zu einem Vortrag auf«. – Er nickte erfreut, ich sah ihn von der Seite an. »Ich habe keine Beziehungen in Wien,« fuhr ich nachdenklich fort, »– sollten Sie auch hier meine Vorsehung gewesen sein?!«

»Und wenn dem so wäre?!«

Ich reichte ihm still die Hand. Ganz sanft, als ob sie sehr zerbrechlich wäre, nahm er sie in die seine, – eine zarte Hand mit dichtem Geäder und nervösen Fingern.

»Glauben Sie,« fragte er langsam, nach einem Schweigen, das die Nähe zweier Menschen zueinander verrät, »glauben Sie, daß ein Tag kommen könnte, an dem unsere Freundschaft uns zwingt, einander ›Du‹ zu sagen?«

Ein Zittern durchlief meinen Körper. Ich antwortete nicht. Stumm standen wir auf, stumm fuhren wir zu mir nach Hause. Drinnen im Zimmer sahen wir uns an, das Herz schlug mir zum Zerspringen, die Finger erstarrten mir zu Eis.

»Alix –,« wie ein Hauch kam mein Name über seine Lippen.

»Du –,« mehr vermochte ich nicht zu sagen. Es dunkelte mir vor den Augen. Einen Herzschlag lang fühlte ich seinen Mund auf dem meinen, – dann schlug die Türe, – ich war allein.

[61] Und die Wände schienen um mich zu kreisen, und der Glanz der Abendsonne wurde zu glühenden Flammen. Wie Gesang lag es in der Luft von lauter Harfen, – meines Herzens Jubel hatte sie zum Klingen gebracht. In allen Weisen der Welt, im Ton süßer Wiegenlieder und stolzer Siegeshymnen sang und jauchzte es: ich liebe.


Wir verkehrten wie früher miteinander. Nur die Augen wagten es hier und da, eine andere Sprache zu sprechen als der Mund.

Ich war mitten im Packen; schon starrten die lieben Räume mich fremd und öde an, als sein Weib kam, mich zu besuchen. Entgeistert sah ich sie an, als sie vor mir stand: sie war hochschwanger.

Rasch warf ich die Kleider vom Sofa und nötigte sie hinein, ihr vorsichtig die Kissen in den Rücken legend. Seine Frau! Sein Kind!! – Der Gedanke bohrte sich mir ins Gehirn, daß es mir den Kopf zu sprengen drohte. Nie, – nie hatte er mir von Liebe gesprochen, dachte ich, während ich gleichgültig freundliche Phrasen mit ihr wechselte, nur immer von Freundschaft. Und dieser Frau vor mir mit den großen, breiten Händen und den stechenden dunklen Augen hatte ich nichts genommen – nichts, was ich nicht nehmen durfte. Denn daß ich ihn liebte, was schadete das ihr?! Und war nicht mein eigenes, großes, wundervolles Gefühl und seine Freundschaft Glückes genug für mich, die ich gelernt hatte, auf alles Glück zu verzichten?

»Wir ziehen im Winter auch in die Stadt,« sagte sie ruhig, »sonst bekomme ich meinen Mann nicht mehr zu sehen –.« War das eine Anspielung? Ihr Gesicht blieb unbewegt. »Übrigens sah ich eben im Hause, wo Sie mieteten, eine Wohnung, die gut für uns passen würde. Das wäre für alle Teile das beste, – und ich hätte doch auch etwas von Ihnen. Könnte auch von [62] Ihnen lernen, was mir leider noch an Verständnis für die Interessen meines Mannes fehlt.« Ich begriff sie nicht; war das echt, was sie sagte, oder lauerte Bosheit dahinter und Mißtrauen? Feuchtkalt lag ihre Hand beim Abschied in der meinen. Die Schleppe ihres seidenen Kleides raschelte hinter ihr her wie eine Schlange. Ich mußte mich ans Fenster in die Sonne stellen, um wieder warm zu werden, nachdem sie mich verlassen hatte.


»Gute Botschaft bringe ich!« Am frühen Morgen, ich saß noch beim Frühstück, trat Heinrich Brandt in mein Zimmer, freudestrahlend. »Die Sache ist entschieden.« Ich griff hastig nach dem Brief, den er brachte und las: »Nach reiflicher Überlegung habe ich mich dahin entschieden, das mir vorgelegte Projekt eines Zentralausschusses für Frauenarbeit insoweit zu unterstützen, als ich zunächst eine Summe von achttausend Mark jährlich dafür aussetze, die, wenn der Umfang der Arbeiten es später notwendig macht, entsprechend gesteigert werden kann. Ich hoffe, Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor, der Sie ja ausdrücklich erklärten, nur die Rolle eines unbeteiligten Vermittlers zu spielen, nicht zu nahe zu treten, wenn ich Sie bitte, Frau von Glyzcinski mitzuteilen, daß die Voraussetzung meiner Unterstützung, von der ich unter keinen Umständen abweiche, die ist, daß die Leitung der Sache nicht in den Händen von Sozialdemokraten ruht. Diese meine Forderung entspringt keinerlei persönlicher Animosität, sondern nur der Erkenntnis, der sich gegenwärtig kaum jemand verschließen kann, daß die Sozialdemokratie zu ruhiger Reformarbeit unfähig ist und die maßgebenden Kreise einer von ihr ausgehenden Bewegung mit Recht ablehnend gegenüberstehen würden.«

Ich hatte zuerst laut und freudig, dann immer langsamer und leiser gelesen. »Das nennen Sie eine gute Botschaft?« [63] frug ich kopfschüttelnd. »Gerade heute sah ich in der Presse, wie alles von rechts und links nach einer neuen Auflage der Umsturzvorlage schreit. Und gestern erzählte mein Vater, daß man im Kasino schon die Maßregeln erörtert, durch die die Sozialdemokraten mundtot gemacht werden sollen –«

Brandt unterbrach mich: »Nun – und? Wird Ihre Aufgabe dadurch etwa überflüssig?«

»Gewiß nicht. Aber für mein Gewissen kann es eine größere Aufgabe geben: mich in dem Augenblick der Verfolgung an die Seite derer zu stellen, die verfolgt werden. Die eigene Überzeugung in die Tasche zu stecken, läßt sich nur so lange entschuldigen, als es keine Feigheit ist.«

»Sie haben recht – wie immer, wenn Ihre erste Empfindung spricht,« er drückte mir die Hand, fest und kameradschaftlich, »und doch möchte ich Sie bitten: überlegen Sie ruhig, ehe Sie antworten. Die Ausnahmegesetze sind bisher nichts als Wünsche und Drohungen, und das klägliche Ende der Umsturzvorlage dürfte kaum zu einer Wiederholung reizen.« – –

»... Hängt am Tage von St. Sedan Trauerfahnen aus, erhebt feierlichen Protest gegen den Massenmord und ehrt diejenigen, die zum Kriege hetzen, wie es ihnen gebührt: steckt sie als Verbrecher ins Zuchthaus.« Mein Vater hatte mir einen Zeitungsausschnitt geschickt, der diesen Satz aus der sozialdemokratischen Breslauer »Volkswacht« zitierte. Roh und häßlich, unwürdig vor allem war er. Die geistigen Waffen, die wir führen, sollten blanker und damit auch schärfer sein, dachte ich.

Wenige Tage später veröffentlichten die bürgerlichen Zeitungen in Riesenlettern den Trinkspruch, den der Kaiser am Sedantag ausgebracht hatte:

»... In die große hohe Festesfreude schlägt ein Ton hinein, der wahrlich nicht dazu gehört; eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen, wagt es, das deutsche Volk zu schmähen; wagt es, die uns geheiligte Person des allverehrten [64] verewigten Kaisers in den Staub zu ziehen. Möge das gesamte Volk in sich die Kraft finden, diese unerhörten Angriffe zurückzuweisen! Geschieht es nicht, nun, dann rufe ich Sie, um der hochverräterischen Schar zu wehren, um einen Kampf zu führen, der uns von solchen Elementen befreit.«

Wortlos reichte ich Brandt das Blatt, als er kam. »Was haben Sie beschlossen?«

»Die Rotte von Menschen sind meine Brüder und Schwestern. – Ich lehne ab.«

[65]
3. Kapitel
Drittes Kapitel

Ich stand in Wien auf der Rednertribüne des Ronachersaals und verneigte mich noch einmal vor dem applaudierenden Publikum. Ich wußte: ich hatte nicht gesprochen wie sonst. Schon als der Vorsitzende mich an den dichtgedrängten Reihen vorbeigeführt hatte, an den eleganten, graziösen Frauen, deren Toiletten nicht wie die der Berlinerin dazu da zu sein schienen, die Trägerin unter der Last des Glanzes vergessen zu machen, sondern ihre Individualität betonten, ihre Reize unterstrichen, an den jungen und alten Herren im Frack und Smoking mit den geschmeidigen Gestalten und dem süffisanten Lächeln des Weltmanns, war mir der Kontrast zwischen dem kühlen Ernst meines Vortrags und dieser Umgebung zum Bewußtsein gekommen. Dann war ein Wogen von bunten Hüten, ein Knistern von seidenen Kleidern, ein Funkeln von Brillanten unter mir gewesen. Operngläser aus Silber und Perlmutter hatten sich auf mich gerichtet, und um das mattschimmernde Rokokoornament an den Decken und Wänden des reizenden Konzertsaales hatte ein feiner, zarter Nebel geschwebt, gewoben aus Zigarettenrauch und Parfüm.

Ich stieg die Stufen hinab. Man klatschte noch immer. Ich mußte wohl so etwas wie eine neue Sensation gewesen sein, wie sie in Gestalt von Sängern, Taschenspielern und Diseusen auf dieser Tribüne gewöhnlich zu erscheinen pflegte.

»Ich gratuliere Ihnen –,« sagte eine dunkle Stimme neben mir. Nur ein Mann in der Welt hatte solche Stimme! Es war Brandt. Und als meine Hand in der seinen lag, war mir, als [66] stünde ich allein mit ihm hoch auf einer Felseninsel und in der Ferne nur brandete das Meer der Welt.

»Sie in Wien, – meinem geliebten Wien, und ich nicht neben Ihnen, – es kam mir absurd vor,« hörte ich ihn leise sagen. Aber schon sah ich den Kreis, der sich um uns gebildet hatte: Menschen, die warteten, mich begrüßen zu können, mir vorgestellt zu werden, der Vorstand der Fabier, der mich zum Essen geladen hatte. Ich gewann meine Fassung wieder, und während mein Herz hoch aufschlug vor Freude, hatte ich das Bedürfnis, gegen alle, die sich mir näherten, doppelt und dreifach freundlich zu sein.

In einem halbdunkeln verräucherten Café spät am Abend trafen wir uns wieder. Brandt erwartete mich mit Dr. Geier, seinem Schwager, dem Führer der österreichischen Sozialdemokratie, und einem Kreis von Parteigenossen, die mitten in einer Debatte jäh verstummten, als ich eintrat. Sie hatten sich offenbar gezankt, was ich mit der ganzen Empfindlichkeit der Frohgelaunten sofort empfand. Man stand auf, man begrüßte mich, aber meine Anwesenheit wirkte sichtlich störend. Eine kleine brünette Frau mit glänzenden braunen Augen fühlte das Peinliche der Situation und zog mich auf einen Stuhl neben sich.

»Ich bin Adelheid Popp,« sagte sie einfach, »ich habe mich so an Ihrem Vortrag gefreut und wünschte nur, unsere Arbeiterinnen hätten ihn hören können.« »Das hätte ich auch gewünscht, – er wäre dann besser gewesen,« antwortete ich. Ihre Augen lachten mich an. »Wissen Sie was?!« rief sie lebhaft. »Wiederholen Sie ihn in einer Volksversammlung!« Mit freudiger Zustimmung schlug ich in die dargebotene kleine, warme Hand. »Aber garantieren kann ich nicht, daß es derselbe Vortrag wird!« Wir vertieften uns in ein Gespräch, und ich erfuhr, daß diese zierliche Frau eine arme Arbeiterin gewesen war, von dem Augenblick an aber, wo sie der Sozialismus gewonnen hatte, zu einer begeisterten Vorkämpferin der Arbeiterbewegung [67] sich entwickelt habe. Ganz anders war sie als unsere deutschen Frauen: heiter und gutmütig, ohne eine Spur jener steifen Zurückhaltung, die daheim all meinem Entgegenkommen zu spotten schien. »Sie sollen mal schauen, was in Wien eine Volksversammlung heißt!«

Das Gespräch der anderen hatte indessen da wieder angeknüpft, wo ich den Faden zerrissen hatte. Ich hörte zu.

»Ist es nicht unerhört für einen praktischen Politiker, sich auf Seite der Breslauer Hundertachtundfünfzig zu stellen und einen blutleeren Theoretiker wie Kautsky zu verteidigen?!« rief Brandt, während die dunkeln Brauen sich ihm eng zusammenzogen und die Augen dem Gegner zornig entgegenblitzten.

»Bist du vielleicht in deiner gegenteiligen Stellung zur Agrarfrage weniger Theoretiker als er?!« spöttelte Geier. »Die Güter, auf denen du dir die Sporen des Praktikus verdient hast, liegen doch auf dem Monde!« Mit einer entschuldigenden Gebärde wandte er sich mir zu. »Verzeihen Sie, wenn wir uns auch in Ihrer Gegenwart noch mit so uninteressanten Dingen beschäftigen –«

»Sie brauchen sich vor mir nicht zu entschuldigen,« antwortete ich, »mich haben die Verhandlungen des Breslauer Parteitags lebhaft interessiert, und da ich leider bis heute noch nicht weiß, auf welcher Seite ich stehe, so höre ich Debatten wie den Ihren besonders gerne zu.«

Und nun wogte der Streit wieder hin und her. Brandt verteidigte die von der Mehrheit des Breslauer Parteitags abgelehnten Vorschläge der Agrarkommission, als »notwendige Forderungen der Gegenwartspolitik«, als ein erfreuliches Zeichen für die wachsende Erkenntnis, daß eine Partei von der Größe der deutschen Sozialdemokratie die Interessen weiterer Volkskreise vertreten müsse als nur die der Industriearbeiter. »Übrigens, was zanken wir uns, lieber Viktor?« meinte er schließlich und warf mit einer hochmütigen Geste den Kopf zurück. »Du [68] wärst der erste, die Vorschläge nicht nur zu akzeptieren, sondern selbst zu machen und gegen alle Welt zu verteidigen, oder – wie Schönlank treffend sagte – eine Revision der Vorstellungsweise in der Partei herbeizuführen, wenn du in die Lage versetzt würdest, Landagitation treiben zu müssen.«

Geier hieb wütend auf den Tisch, daß die Tassen klirrten und der Kellner, der verschlafen an einer Säule lehnte, erschrocken die Augen aufriß und dienstfertig die Serviette schwenkte. »Da liegt doch gerade der Hase im Pfeffer: ich bin eben nicht in der Lage und Ihr, trotz Eurer anderthalb Millionen Stimmen auch nicht! Konzentriert doch Eure Werbekraft auf die Millionen Lohnarbeiter, die Euch noch fehlen, und laßt Eure Enkel sich über die höhere Bauernfängerei den Kopf zerbrechen! Was du praktisch nennst, ist eben unpraktisch im höchsten Grade. Das Aufrollen dieser schwierigen und gänzlich unaufgeklärten Fragen, – ob die Konzentration des Kapitals in der Landwirtschaft sich nach denselben Gesetzen vollzieht wie in Industrie und Handel oder nicht, ob wir daher mit der Proletarisierung der Bauern oder mit der Vermehrung der ländlichen Kleinbetriebe zu rechnen haben werden, – all das noch dazu auf einem seiner ganzen Zusammensetzung nach inkompetenten Parteitag ist nur geeignet, die Parteigenossen zu verwirren. Über theoretischem Gezänk, das Ihr Reichsdeutsche so liebt, wird ein gut Teil praktischer Arbeit zum Teufel gehen –«

»Und glaubst du etwa, die Annahme der lendenlahmen Resolution Kautsky, die die Agrarfrage doch nicht aus der Welt schafft, sondern ihre Lösung nur auf die lange Bank schiebt, wird dies Gezänk verhindern? Im Gegenteil! Die Bebel und Schönlank und David werden sich nicht mundtot machen lassen,« entgegnete Brandt.

Geier schüttelte ärgerlich den großen Kopf mit den wirren blonden Haaren. »Bebel wird sich dem Beschluß des Parteitages fügen; – die anderen freilich, geborene Krakehler, getrieben [69] durch den eigentlichen geheimen Generalstabschef des ganzen Feldzuges, Vollmar, werden die Parteidisziplin ihrer Rechthaberei opfern.«

Die Diskussion der leidenschaftlichen Männer fing an, mich zu beunruhigen, – nicht ihrem Inhalt, wohl aber ihrer Form nach. Ich hatte Brandt noch nie so erregt gesehen, und etwas wie Furcht befiel mich. Kurz entschlossen erhob ich mich.

»Verzeihen Sie, wenn mein Weggehen Sie stört wie mein Kommen, aber ich bin sehr müde.« Alles brach auf, sichtlich erleichtert. Kalter Regen, mit kleinen spitzen Schneeflocken gemischt, schlug uns ins Gesicht, als wir heraustraten. Menschenleer war's in den engen Gassen. Ist das wirklich Wien, die Kaiserstadt? dachte ich fröstelnd. Geier und Brandt begleiteten mich; wir verabredeten allerhand für den nächsten Tag. Ich erzählte von den verschiedenen Einladungen, die ich bekommen hatte.

»Zu den Protzen werden Sie doch nicht gehen, die nur Staat mit Ihnen machen wollen?!« Brandts Stimme klang grollend wie ferner Donner, und sein Blick ruhte beinahe drohend auf mir. Und doch erschrak ich nicht; es lag im Ton etwas, das mir das Blut in Wallung brachte, etwas, das klang, wie ein Besitzergreifen. »Bist du Frau von Glyzcinskis Vormund?« brummte Geier.

»Verzeihen Sie mir meine Heftigkeit –,« flüsterte Brandt, und im raschen Wechsel seines Mienenspiels hatte seine Stirn sich wieder geglättet, war sein Auge wieder klar geworden. Ich senkte stumm den Kopf.

Zögernd, als fesselten sie magnetische Kräfte glitten unsere Hände auseinander. Er betrat mit mir das Hotel. »Du – wohnst auch hier?!« sagte Geier überrascht.

Ich schlief nicht in dieser Nacht. Es lag schwer und dumpf auf mir, und ich wollte – wollte nicht denken.

[70] Wir fuhren am nächsten Morgen zusammen nach Schönbrunn.

Alle Einladungen hatte ich abgelehnt.

Graue Spätherbststimmung beherrschte die Natur. Die letzten Blätter rieselten von den Bäumen, ohne daß ein Windhauch sich regte.

Im freien Walde sind selbst die dunkeln Tage schön: des Laubes beraubt, reckt sich nackt und kraftvoll das starke schwarze Geäst gen Himmel, ein wundervoller Teppich vom hellsten Geld bis zum tiefsten Rot in halb verblichenen weichen Farben spielend, breitet sich unter ihm aus. Aber die Gärten, die des Menschen Kunst gestaltet, starren uns an wie der Tod. Sie leben nur, wenn im Rasenteppich die bunten Beete blühen, wenn das Laub der geschnittenen Hecken und der Kugelbäume die armen krummen, um ihr natürliches Wachstum betrogenen Ästchen dicht umkleidet, wenn von den Terrassen herunter, aus den Tritonenbecken empor das Wasser rauscht und springt, und die Sonne sich lachend in den Scheiben der Schloßfenster spiegelt. Dann spielen, wie große Schmetterlinge, Kinder in hellen Kleidern auf den breiten gelben Kieswegen, so daß der Garten voll Freude, sogar der schönen Damen in Reifrock und Puderperücke vergißt, die einst mit dem graziösen Geschwätz ihrer roten Lippen und dem lustigen Klappern ihrer Stöckelschuhe seine Gänge belebten.

Heute waren wir allein, zwei graue Gestalten, zwischen blätterlosen Laubengängen und schlafenden Fontänen.

»Sie sind so blaß,« sagte Brandt, »der Heimweg gestern im Schnee hat Ihnen geschadet –.« Ich schüttelte den Kopf. »Meine Roheit hat Sie verletzt?« Ich sah zu ihm auf, aber das Lächeln, das ich ihm zeigen wollte, erstarb mir auf den Lippen. So müde, so traurig war sein Blick. In dem meinen blieb er hangen. Es war wie ein Abschiednehmen.

[71] »Ich habe es mir überlegt, stunden-, nächtelang,« kam es tonlos über seine Lippen, »ich muß fort von Berlin – mit meiner Fr ... –,« er stockte, »mit Rosalie –,« verbesserte er sich hastig, »bis – bis die Entbindung vorüber ist. Es ist besser, – besser für uns alle.«

»Ja,« sagte ich, die Kehle schnürte sich mir zusammen.

Dann gingen wir. Wo waren wir doch nur noch an diesem Tage? Ich entsinne mich nicht. Meine Augen nahmen Bilder auf, von denen meine Seele nichts wußte.

Später trafen wir wieder irgendwo in einem Café mit Geier zusammen. Es kamen noch allerlei Menschen, die ich an meinem Vortragsabend gesehen hatte, sie gingen mit kühlem Gruß und vieldeutigem Lächeln an uns vorüber.

»Du siehst,« hörte ich Geier leise sagen, während er mich in die Zeitung vertieft glaubte, »zum mindesten hättest du nicht im selben Hotel mit ihr wohnen dürfen.« Brandt fuhr auf. Flehend sah ich zu ihm hinüber. Er schwieg. Die Kellner brachten die Abendblätter. »Na, da haben wir's ja,« rief Geier, nachdem er sie rasch überflogen hatte, und stürzte mit einem kurzen Gruß davon in seine Redaktion.

Ich las: »Aus Berlin wird uns soeben mitgeteilt: Nachdem seit einiger Zeit die politische Polizei eine fieberhafte Tätigkeit entwickelte und Haussuchungen umfassender Art bei fast allen bekannten Mitgliedern der sozialdemokratischen Partei stattfanden, bringt der Reichs- und Staatsanzeiger heute folgende Bekanntmachung: ›Es wird hiermit zur öffentlichen Kenntnis gebracht, daß nachstehende Vereine: die sechs sozialdemokratischen Wahlvereine, die Preßkommission, die Agitationskommission, die Lokalkommission, der Verein öffentlicher Vertrauensmänner, der Parteivorstand der sozialdemokratischen Partei Deutschlands auf Grund des § 8 des Versammlungs- und Vereinsrechts vorläufig geschlossen sind.‹«


[72] Kurz vor der Volksversammlung, in der ich sprechen sollte, besuchte ich Geier in seiner Redaktion, engen, halbdunklen Räumen im Souterrain eines alten Hauses. Von fast undurchdringlichem Tabaksqualm war sein Zimmer gefüllt, das den merkwürdigen Mann, der grundhäßlich war und hinreißend schön sein konnte, der stotterte und doch der glänzendste Redner war, phantastisch umwogte. »Ich habe nur eine kurze Frage an Sie,« sagte ich, – nichts war ihm widerwärtiger als überflüssiges Weibergeschwätz, – »ich möchte in die Partei eintreten, – was halten Sie davon?«

Er sah mich prüfend an, von oben bis unten, strich sich mit der feinen Hand den wirren rotblonden Schnurrbart und zuckte die Achseln. »Bleiben Sie draußen,« antwortete er schroff, »eine Krokodilshaut gehört dazu, – ich zweifle, daß Sie die haben –«

»Und wenn ich sie hätte?!«

»Dann, – ja dann tragen Sie wie wir Ihre Knochen auf den Markt der Partei –.« Er reichte mir mit kurzem Kopfnicken die Hand, – ich war entlassen.


Und wieder stand ich auf der Rednertribüne, vor mir ein großer Saal, nüchtern wie eine Scheune, von flackernden Gasflammen erhellt. Von rechts und links strömten die Menschen herein: junge und alte Frauen in Kopftüchern und Schürzen, die verfrorenen roten Hände andächtig gefaltet, Männer in Arbeitsblusen, tiefen Ernst auf den durchfurchten Gesichtern. Sie richteten alle die Augen auf mich, staunend, fragend, erwartungsvoll. Kopf an Kopf drängten sie sich um die schmale, niedrige Stufe, die mich über sie empor hob. Sie kauer en zu meinen Füßen, eng aneinandergeschmiegt: ein kleines Fabrikmädchen mit zerzaustem Blondhaar, ein junger Mann mit den klassischen Römerzügen des Südtirolers, ein altes Mütterchen, die welke Hand horchend hinter das Ohr gelegt. Und mir war, [73] als wölbe sich der niedrige Saal zum Dom; als träten die Abgesandten der Menschheit durch seine hohen weitgeöffneten Pforten. Tiefe, demütige Andacht erfüllte mich. Die Welt, die draußen war, versank. Denen, die mich umringten, gehörte von dieser Minute an meine Kraft und meine Hoffnung. Daß ich mich ihnen gab: meinen Arm den Schwachen, meine Beredsamkeit den Stummen, meinen an Gipfelwanderungen gewohnten Fuß den Lahmen, und den Blinden mein Auge, das die Befreiung sah, – das war dieser Stunde stilles Gelöbnis.

»Genossen und Genossinnen –« Hell und scharf, wie ein Schlachtruf, klang meine eigene Stimme mir ins Ohr. Der Jubel der Menge umbrauste mich, während ich weiter sprach. Das blasse Gesicht des kleinen Fabrikmädchens vor mir fing an zu glühen, dem alten Mütterchen rollten die Tränen über die welke Wange, und die klassischen Römerzüge des Tirolers strafften sich in eiserner Energie.

Als ich geendet hatte, war es sekundenlang still, – dann eine Beifallssalve, zahllose Händedrücke von schwieligen Fäusten, und lauter und lauter anschwellend der Kriegsgesang der Arbeitermarseillaise. In ihrem Takt schob sich die Menge hinaus, auf der Straße klang sie fort, zog mit den Wandernden rechts und links in die nachtstillen Gassen, und auf dem ganzen Heimweg verfolgte mich ihre Melodie: aufreizend, siegesbewußt.


Einen Tag später als Brandt kam ich nach Berlin zurück. Er empfing mich am Bahnhof, bleicher, übernächtiger als je. Wir fuhren zusammen nach der Kleiststraße, wo wir nun schon zwei Monate wohnten, er mit seiner Familie im Vorderhaus, ich im Gartenhaus, in den zwei kleinen Stübchen. Wir konnten einander an der Mauer mit der Schweizer Landschaft vorbei in die Fenster sehen. Oft, wenn er bei mir gewesen war, tauchte hinter den weißen Vorhängen drüben ein Schatten auf, der mit [74] gespenstischer Schnelle sein Gesicht zu verdunkeln schien. Dann erhob er sich, sah mich kaum an und verließ das Zimmer.

»Rosalie will nicht reisen, mit mir nicht,« erzählte er während der Fahrt. »Sie behauptet, meine Nähe steigere nur ihr Übelbefinden, deshalb habe sie sich entschlossen, allein zu gehen und zwar – nach England.«

»Nach England?« fragte ich erstaunt. »In dieser Jahreszeit?! Hat sie Freunde dort?«

»Niemanden! – Die fixe Idee einer Schwangeren, sagt der Arzt.«

Ich schwieg, auf das tiefste betroffen. Mir, dem Weibe, schien sonnenklar, was ihre Beweggründe waren. Das Recht der Abwesenden wollte sie zur Geltung bringen, und ein instinktives Gefühl trieb sie nach England –, woher ich gekommen war, wo ich, wie sie meinte, mir an Kenntnissen und Interessen erworben hatte, was ihren Mann an mich fesselte.

Der Wagen hielt. »Ich komme gegen Abend hinüber,« sagte ich und verabschiedete mich hastig vor der Haustür. Ich mußte allein sein. Meine Zimmer fand ich mit Blumen geschmückt, wie zu einem Fest. »Der Herr Doktor –,« sagte die Aufwärterin mit süßlichem Lächeln und einem vertraulichen Blick.

»Schon gut –,« unterbrach ich sie hastig und warf die Türe hinter mir ins Schloß.

Was nun?! Sie durfte nicht fort. Wirklich nicht?! Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. War es Furcht? Oder nicht vielmehr Freude – Freude, die wie ein orkangepeitschtes Meer alle Dämme überflutete, alles Denken begrub?! Allein – allein mit ihm – tage-, wochen-, monatelang! Ein ganzes Leben der Entsagung war kein zu teurer Preis dafür! Wenn sie wiederkam würde ich gehen, – aus seinem Gesichtskreis still verschwinden, – und zu ihr würde er zurückkehren – zu ihr – und dem Kinde ...

[75] Es klopfte. »Frau Dr. Brandt läßt gnädige Frau zum Abendbrot bitten –« »Ich komme –«

Wir saßen um den gedeckten Tisch: Brandt schweigsam, mit gerunzelten Brauen, die beiden kleinen Knaben – seine Söhne aus seiner ersten Ehe – verschüchtert und ängstlich von einem zum anderen blickend, ich, eine Unterhaltung mühsam aufrecht erhaltend; sie allein schien lustig, fast übermütig, ihre Augen flimmerten, ihre großen weißen Hände, die mir immer vorkamen, als hätten sie ein eigenes Leben, als wären sie junge Raubtiere, – bewegten sich ruhelos, streichend, klopfend, sich dehnend, um sich gleich wieder zur Faust zu ballen, auf dem Tisch. Das Mädchen kam und brachte einen Eiskübel mit einer Flasche Champagner. Brandt sah mißbilligend auf seine Frau. »Wie kannst du, Rosalie, – in deinem Zustand!«

Sie lachte.

»Nur heute, – wo wir ein Fest miteinander feiern und ihr dasitzt wie Ölgötzen und nicht lustig seid, – lustig wie ich! – Trinkt, Kinder, trinkt, so ein Abend kommt nicht so leicht wieder!« Sie stürzte das erste Glas in einem Zug hinunter. Und dann sprach sie unaufhörlich, fieberhaft. Von der Reise, die sie machen werde, von den Herrlichkeiten, die sie dafür schon eingekauft habe – »drei seidene Kleider und Hüte dazu, und einen Rohrplattenkoffer für zweihundert Mark, – mach' keine entsetzten Augen, Heinrich; ich weiß ja, du bezahlst es gern, – so gern!« –, von ihren Träumen. »Ich sehe immer denselben Mann, der mir winkt, zu dem ich hin muß,« – ihre Stimme sank und ihre Augen weiteten sich, daß das Weiße unheimlich groß um die dunklen Pupillen stand – »und der mir helfen wird.«

»Trinken Sie nicht mehr –,« bat ich erschüttert und legte meine Hand auf die ihre, die eiskalt war. Sie schüttelte sie ab wie eine lästige Fliege.

»Sie glauben, ich spräche im Rausch?!« sagte sie. »Sie irren. Ich bin nüchtern, ganz nüchtern, – ich weiß nur [76] mehr als Sie, viel mehr, und – und ich glaube an Träume!«

»Bist du denn nicht eifersüchtig auf deinen Rivalen, zu dem ich reise?« Damit wandte sie sich mit einem lauernden Blick aus halbgeschlossenen Augen an ihren Mann.

»Rosalie!« stöhnte er gequält. Rasch stand ich auf. Ich konnte die Blicke der Kinder nicht mehr ertragen.

»Es ist schon zu spät für euch,« redete ich sie an und griff nach ihren Händen, »kommt, – ich bring' euch zu Bett.« Sie lachten dankbar.

»Ach, Tante, bring' uns doch immer zu Bett!« flüsterte der Älteste, als er in den Kissen lag, und seine melancholischen Zigeuneraugen sahen mich flehend an. »Und morgen, bitte, bitte, erzähl' uns eine Geschichte,« fügte der Jüngste hinzu und richtete sich im Bett noch einmal auf.

Indessen war es im Wohnzimmer zu einer heftigen Szene gekommen. Rosalie lag schluchzend auf dem Diwan. »Er will mich nicht reisen lassen, er will mich umbringen, – mich und das Kind,« schrie sie. »So mäßige dich doch, um Gottes willen!« beschwor sie Brandt mit einem Blick auf die Glastür, hinter der sich der Schatten des Mädchens hin und her bewegte. Sie achtete nicht auf ihn, ihre Stimme wurde nur noch lauter und heftiger. »Ich halte es nicht mehr aus, – ich mag deine Bevormundung nicht und deine schlechte Laune. Ich laufe davon –« Und ihr Schluchzen wurde zum Weinkrampf.

Der Arzt wurde geholt. »Sie müssen ihrem Willen nachgeben, wenn Sie nicht das Schlimmste riskieren wollen,« entschied er schließlich. »Natürlich darf sie nicht ohne Pflegerin reisen, – ich kann Ihnen eine empfehlen, auch eine gute deutsche Pension in London.«

Schon am nächsten Morgen kam Rosalie zu mir, um Abschied zu nehmen. Sie war völlig verwandelt, weich, freundlich, ruhig. Es war fast ein strahlendes Lächeln, mit dem sie mir im Weggehen [77] sagte: »Nun weiß ich gewiß: Alles – Alles wird gut werden.«

Wie unter dem Zwang einer stillschweigenden Verabredung sahen Brandt und ich uns in der nächsten Zeit selten und nie allein. Ich aß drüben bei ihm mit den Kindern, nahm sie mit bei meinen Ausgängen und sorgte für sie, soviel mir an Zeit dafür übrig blieb. Mit wehmütiger Freude sah ich, wie sie täglich mehr an mir hingen und mit all ihren kleinen Wünschen und Kümmernissen zu mir kamen. Weihnachten stand vor der Tür. »Einen richtigen Weihnachtsbaum machst du uns, Tante, nicht wahr?« bettelte Wölfchen, der Jüngste. »Im vorigen Jahr war er man soo klein.« »Ich möchte am liebsten zur Mutter fahren, – wie ganz früher,« meinte Hans, der Älteste, und seine Augen schimmerten feucht. »Zur Mutter –?!« staunte ich.

»Nun ja, du weißt doch, unsere richtige Mutter wohnt weit, weit weg in Wien,« plauderte Wolf; »sie ist immer krank. Aber im Sommer, da dürfen wir sie besuchen, wenn sie in Schruns ist oder in Klobenstein –« »Die Rosalie ist gar nicht mit uns verwandt, aber auch gar nicht,« unterbrach ihn Hans eifrig, und mit einem fragenden Blick auf mich fuhr er zögernd fort: »Unsere Marie sagt, sie kommt nicht wieder und – und du bleibst bei uns?!«

Ich blieb ihm die Antwort schuldig. Jäher Schreck lähmte mir die Zunge. Ich hatte Brandt nach seiner ersten Frau nie gefragt, hatte geglaubt, sie sei früh gestorben. Welche Schicksale lasteten auf dem Mann, den ich liebte – täglich verzehrender, sehnsüchtiger –, und rissen die jungen Seelen dieser Kinder in ihren Wirbeltanz?!

Zärtlich zog ich die Knaben in meine Arme: »Seid brav, recht brav, daß der Vater sich an euch freut, dann sollt ihr einen Weihnachtsbaum haben wie noch nie!«

Mit glühendem Eifer, der mich alles andere vergessen ließ, bereitete ich das schönste Fest des Jahres vor. Freude wollte [78] ich um mich verbreiten, lauter überschwengliche Freude. Mit dem Geld, das ich mir von Brandt für seine Kinder erbat, und das er mir verwundert gab – er hatte an Weihnachten gar nicht gedacht –, und den Goldstücken, die mir ein paar Artikel eben eingetragen hatten, kaufte ich einen ganzen Jahrmarkt voll Spielzeug; und Pfefferkuchen und Marzipan und Schokolade, dazu Schürzen, Bänder, und ein himmelblaues Kleid für das Dienstmädchen, das mich mit ihren kleinen blanken Augen immer so lustig anlachte. Am Morgen des Weihnachtstages schloß ich mich im Eßzimmer ein und putzte die große duftende Edeltanne mit lauter blitzendem Kram, mit roten Rosen und bunten Lichtern. Leuchten sollte sie wie das lebendig gewordene Glück. Vielleicht wird sie ihm ein einziges frohes Lächeln entlocken! dachte ich.

Nachmittags mußte ich zuerst zu den Eltern. Es wurde früh beschert, weil alle Familienmitglieder bei Onkel Walters geladen waren. Im Salon stand wie immer der Baum: farblos, schneeweiß, sehr kühl, sehr vornehm. Und davor unsere Tische, beladen mit Geschenken. Der Vater hatte sich einmal wieder nicht genug tun können. Er war in letzter Zeit für mich von einer Güte, die mir wehe tat, weil ich wußte, daß sie nur einer Täuschung ihr Dasein verdankte. Meine Wiener Volksversammlungsrede hatte die deutsche Presse ignoriert, auch sonst mußte es ihm scheinen, als zöge ich mich mehr und mehr zurück. Was ich für die Tagespresse schrieb, – ich fing damals an, auch am »Vorwärts« gelegentlich mitzuarbeiten –, erschien ohne meine Unterschrift; die wesentlich literarisch-kritischen Artikel in den Wochenblättern hatten meist seinen Beifall. »Ich wollte dir handgreiflich zeigen, wie zufrieden ich mit dir bin«, – damit entschuldigte er gleichsam die Fülle der Gaben. Daß ich das weiße Kleid und den Spitzenschal und die seidenen Strümpfe und zierlichen Schuhe mit solcher Freude empfing, weil ich allein dessen gedachte, für den sie mich schmücken sollten, – er ahnte [79] es nicht! Nur die Mutter hatte schon hie und da mißtrauisch nach Brandts Gattin gefragt, wenn sie ihn allein bei mir traf, und zuweilen war uns die Schwester begegnet und hatte uns mit vielsagendem Lächeln begrüßt.

Der Vater wollte mich durchaus nicht heimgehen lassen, wollte bei Onkel Walters absagen: »Wenn sie meine Tochter nicht haben wollen, so mögen sie auch auf mich verzichten.« Es kostete Mühe, ihn umzustimmen. »Ich bin ja nicht allein,« sagte ich schließlich – sehnsüchtig dachte ich an die erwartungsvollen Knabengesichter, an den stillen Abend mit ihm –, »ich muß noch zur Bescherung im Kinderheim,« dabei wandte ich den Kopf dunkel erglühend zur Seite.

Endlich konnt' ich gehen. Und mein bunter, lustiger Weihnachtsbaum funkelte und sprühte, ein Fanal der Freude, ein Sonnwendfeuer, ein Gruß an das steigende Licht. Der Jubel der Kinder klang durch die Räume. »Du – du Zauberin,« flüsterte eine tiefe Stimme mir ins Ohr.

Still und feierlich, in ihr weiches glitzerndes Schneekleid gehüllt, erwachte die Erde am nächsten Morgen. Der Arbeitslärm des Alltags war verstummt, und Räderrollen und Menschenschritte klangen gedämpft auf dem Winterteppich. Es war Feiertag.

Und im Festgewand stand ich und wartete dessen, der kommen mußte.

Mein Herzblut, das ich bereit war, restlos für ihn zu vergießen, hatte es mit roten Rubinen bestickt, Schnüre, an denen die Tränen meiner Sehnsucht schimmernd gereiht waren, schmückten mir den Nacken, mit Smaragden der Hoffnung waren die seidenen Schuhe besetzt an meinen Füßen, die ihm entgegengingen, und auf meinen Armen, die ihn umfassen wollten, funkelten, alle Farben und allen Glanz der Welt in sich vereinend, die Diamanten meiner Leidenschaft. Und er kam, er sah mich, – und die armen kleinen Liebesworte schämten sich ihrer millionenfachen Entweihung und verstummten.

[80] Nicht wie die Tage, die wie Kugeln am Zählbrett gleichgültig rechnend weitergeschoben werden, waren die jenes sonnendurchleuchteten Winters. Die Nacht gebar einen jeden als Wesen göttlicher Art, ewigen Lebens voll. Hoch über die Erde trugen sie uns auf starken Flügeln, und mochte drunten riesenhaft die schwarze Gestalt der Schuld die Arme drohend gegen uns recken, – wir sahen sie nicht. – Bis einer kam, der häßlich war und neidisch, und mit Faustschlägen an der Türe uns weckte aus unserem erdenfernen Liebestraum.

Wir kehrten vom Wannsee zurück, wo wir unter blauem Himmel auf spiegelglattem Eis gemeinsam unsere Kreise gezogen hatten. Mit ängstlichem Gesicht hielt die gute Marie uns einen Brief entgegen. »Rohrpost – und Rosaliens Schrift –« Heinrichs Gesicht entfärbte sich. »Ich bin in Berlin und ersuche dich, mich vom Hotel aus abzuholen. Unser Kind soll im Vaterhause geboren werden,« schrieb sie. Noch am Abend traf sie ein. Ich sah ihren dunklen Schatten hinter den Vorhängen. Ich wußte, was er mir bedeutete: kein Verzichten nach kurzem gestohlenem Glück, wie ich es einst geglaubt hatte, sondern Kampf um den Einsatz des ganzen Lebens. Mit dem Recht der Liebe gehörte Heinrich mir. Alles andere »Recht« ist nur verschleiertes Unrecht.

Sie verlangte meinen Besuch. Ich fand sie im Bett liegend, vollkommen ruhig, während die Pflegerin damit beschäftigt war, das Zimmer umzuräumen. »In vierzehn Tagen etwa erwarte ich,« sagte sie nach gemessener Begrüßung, »Heinrich ist natürlich sehr unglücklich, daß ich ihn jetzt schon ausquartiere,« mit spöttischem Lächeln sah sie zwischen uns hin und her. Ich verabschiedete mich so rasch als möglich und nahm mir vor, diese Komödie freundschaftlicher Besuche nicht weiter zu spielen.

Daß es jetzt für mich an der Zeit gewesen wäre, zu gehen, fern von Berlin in aller Stille die Entwicklung der Dinge abzuwarten, – das fühlte ich instinktiv. Aber die Leidenschaft, die mich beherrschte, machte mich taub für die leisen Stimmen [81] meines Inneren. Ich konnte ja gar nicht fort, beruhigte ich mein Gewissen, ich hatte kaum die Mittel, um zu leben, wieviel weniger, um zu reisen, – ich war gerade jetzt unentbehrlich in Berlin, wo der Konfektionsarbeiterstreik täglich ausbrechen konnte.

Es kamen auch viele einsame Stunden, wo meine Phantasie böse Träume spann: Ich sah ein winziges Kinderhändchen von unheimlicher Kraft, das mir den Geliebten entreißen wollte. Nein: ich konnte nicht fort!

Er besuchte mich seit Rosaliens Rückkehr nur selten. Sie hatte ihr Bett und ihren Stuhl am Fenster so gestellt, daß sie zu mir herübersehen konnte. Auch einen kleinen Spiegel hatte sie anbringen lassen, durch den ihr niemand entging, der den Hof betrat. Oft, wenn ich das Haus verließ, um ihn zu treffen, war mir, als verfolge mich dies glänzende runde Ding mit dem bohrenden Auge darin durch alle Straßen. Zuweilen bemerkte ich auch, wie die Pflegerin, eine Johanniterschwester mit einem ausgemergelten fanatischen Aszetengesicht mir von ferne nachschlich. Im Traum sah ich sie dann auf meinem Bette sitzen und mit hungrigen Augen die Schrift glutheißer Liebe lesen, die mir im Herzen geschrieben stand.

Wir wählten immer andere Orte für unsere Zusammenkunft: kleine Weinstuben, stille Konditoreien, wo es nach saurem Wein und altem Kuchen roch und die Kellner die Wissenden spielten. Es war so widerwärtig, daß wir es schließlich vorzogen, in Wind und Wetter draußen im Wald zu sein, wo reine Luft unsere Stirnen kühlte. Einmal führte uns der Weg durch den Wald nach Paulsborn. Dicht lag der Nebel über dem See, ein feiner Regen stäubte vom Himmel. Er hatte mit seinem Arm seinen Mantel auch um mich geschlungen.

»Vergiß mich, Alix, wenn du kannst,« sagte er, »laß den armen Kerl laufen, der allen Unglück bringt, die ihm zu nahe kommen.«

Ängstlich forschte ich in seinen verschlossenen Zügen. »Willst du, daß ich gehe?« frug ich mit Betonung.

[82] Er zog mich fester an sich. »Ich müßte es wollen, um deinetwillen. Und doch, wenn ich mir vorstelle, du tätest es – lieber brächt' ich dich um!«

Zärtlich drückte ich meine Wange an seine Schulter. »Wenn das der Tod ist, den ich allein zu fürchten habe, so werd' ich ewig leben.«

»Weißt du denn auch, was dir bevorsteht –?« »Ja,« lächelte ich, »dein Weib werde ich sein, dein glückseliges Weib!«

»Glaubst du so sicher, daß sie in die Scheidung willigt, daß sie nicht vielmehr alles tun wird, um dich, um uns zu verderben?«

Ich dachte schaudernd ihrer lauernden Blicke und ihrer Raubtierhände. Aber ich verscheuchte das Angstgefühl, das mich zu unterjochen drohte.

»Nur die Trennung von dir wäre mein Verderben, und die erzwingt sie nicht. Dir werd' ich gehören, auch wenn ich's vor der Welt nicht darf!«

»Sie werden alle mit Steinen nach dir werfen –«

»Hast du mich lieb, bin ich unverwundbar –«

Stärker strömte der Regen, dicht über den schwarzen Kiefern schienen die Wolken zu liegen. Am warmen Ofen im Wirtshaus trockneten unsere Mäntel. An Heimkehr war zunächst nicht zu denken. O, daß eine Sintflut uns umschlösse wie eine Insel und kein Schiff den Weg zurückfände in die Welt!

»Kaum ein Jahr ist es her, daß ich Rosalie heiratete,« begann er nachdenklich, »wie heller Wahnsinn erscheint mir heute, was ich tat. In zarter Rücksicht hast du, Gute, nie gefragt und hast doch ein Recht, mehr von mir zu wissen, als daß ich dich liebe. Nach sechsjähriger Ehe, – Jahren steigender Qualen, in denen wir uns immer weiter voneinander entwickelten, – verließ mich meine erste Frau. Ich hätte es ihr längst verziehen – sie litt ja wie ich! –, aber daß sie die beiden kleinen Kinder im Stiche ließ, das begriff ich nicht, werde es nie begreifen. Im Scheidungsprozeß wurden sie mir zugesprochen. Und nun begann[83] ein Leben dauernder Aufregung. Wohl zehnmal am Tage, wenn ich im Redaktionsbureau saß, packte mich die Angst um die Kleinen. Ich sah sie von den unzuverlässigen Wärterinnen unbeaufsichtigt gelassen, von der Mutter heimlich entführt, und fuhr gehetzt zwischen der Wohnung und dem Bureau hin und her. Ständig war ich auf der Suche nach jemandem, dem ich die Kinder anvertrauen konnte. Ich klagte meine Not einem Freunde. ›Ich wüßte eine Dame, mit der Sie das große Los ziehen würden,‹ sagte der, ›aber sie wird eine Stellung kaum annehmen wollen. Sie ist reicher Leute einziges Kind, ist aus Liebe zur leidenden Menschheit Krankenpflegerin geworden, und dabei die schönste Frau der Welt.‹ Ich war wie elektrisiert. Er mußte mir Namen und Adresse nennen, und in der nächsten Stunde schon war ich bei ihr. Wie ein Geschenk des Himmels schien es mir, daß sie ohne viel Überlegung ja sagte. Sie war gut zu meinen Kindern. Ich konnte ruhig arbeiten. Ich fand ein behagliches Zuhause, wenn ich heimkam. Daß sie weder die schönste Frau der Welt, noch reicher Leute Kind war, sondern irgendwo im Osten in einer Tagelöhnerkate das Licht der Welt erblickt hatte, war mir eher willkommen, als daß es mich enttäuscht hätte. Ihre Vorliebe für seidene Kleider, auf die sie all ihren Verdienst verwandte, mochte das Märchen um sie gesponnen haben. Ich ließ es geschehen, daß – daß sie mich liebte. Ich hatte Jahre und Jahre jede Liebe entbehrt und hielt nun meine Dankbarkeit für Liebe. Nur daran, mich zu fesseln, dachte ich nicht. Zu schwer lastete die Erinnerung an die Ehe auf mir. Da warf mich ein heftiges Nervenfieber aufs Krankenlager. Und während ich noch matt und elend zu Bette lag, erklärte mir Rosalie, mich noch am selben Tage verlassen zu wollen, wenn ich ihr nicht die Heirat verspräche. Ich war empört, aber viel zu schwach zu energischem Widerstand. Ich dachte an meine Kinder. Sie ging schon am nächsten Tage mit unseren Papieren aufs Standesamt, um das Aufgebot anzumelden. So wurden [84] wir Mann und Frau –.« Er schwieg. »Und trotz alledem wirst du mich lieb behalten?« fragte er dann leise.

»Wenn du mich lieb behältst nach meiner Beichte,« antwortete ich und erzählte ihm von meiner Jugendliebe. »Weißt du –« sagte ich zum Schluß träumerisch, während seine Hand leise die meine streichelte, »mein Herz ist wie die Erde: ohne den Frühling wäre der Sommer mit seiner glühenden Sonne und seinen voll erblühten Rosen nicht gekommen. Und darum werde ich noch im Winter an ihn denken müssen.«

Spät kamen wir nach Hause. Vor dem Tore stand die Johanniterschwester. Wie Fledermäuse flatterten ihre schwarzen Haubentücher im Wind.

An meiner Tür empfing mich die Aufwärterin mit grinsender Untertänigkeit. »Herr Reinhard ist da,« sagte sie, »ich wußte nicht, daß gnädige Frau so lange fortbleiben würden – bei dem Wetter.« Ich hörte seine Krücke hart und heftig aufschlagen.

»Fast wäre ich wieder gegangen,« grollte er, »ich –« er legte starken Nachdruck auf dies ›ich‹ – »ich habe keine Zeit, um Ausflüge zu machen.«

»Verzeihen Sie, daß Sie warten mußten. Hätten Sie mir Ihren Besuch mit einem Worte angekündigt –«

Er lachte besänftigt. »Schon gut – schon gut! Wir wollen uns bei Präliminarien nicht aufhalten. Die Entscheidung steht vor der Tür –, an eine friedliche denke ich, nach der allgemeinen Stimmung zu urteilen, nicht mehr. Werden wir auf Sie rechnen können?«

»Selbstverständlich. Aber daß Sie gerade jetzt, wo die öffentliche Meinung sich mehr und mehr auf Seite der Arbeiter stellt, wo einflußreiche Kreise der Bourgeoisie öffentlich für sie eintreten, an einer befriedigenden Lösung verzweifeln, begreife ich nicht.«

»Welch ein Neuling Sie doch sind!« Er schüttelte verwundert den breiten Kopf. »Weil einigen bürgerlichen Idealisten all das [85] aufgedeckte Elend an die Tränendrüsen geht, darum, meinen Sie, werden die Unternehmer nachgeben?! Wo der eigene Geldbeutel in Frage kommt, hört die Sentimentalität auf. Immerhin: wir werden bis zum äußersten warten, und –« seine Lippen kräuselten sich höhnisch – »hoffen. Bei der miserablen Organisation, trotz der Hundearbeit der ganzen letzten Monate, ist es kein Kinderspiel, die Verantwortung für den Streik auf sich zu nehmen.«

Er erzählte mir noch von den intimen Verhandlungen mit den Meistern der Damenmäntelkonfektion, von der mühseligen Ausarbeitung eines detaillierten Lohntarifs, von den Plänen für die nächste Zukunft, und empfahl sich, nachdem ich ihm nochmals versprochen hatte, als Rednerin überall zur Stelle zu sein, wo er mich würde brauchen können. Mein Gewissen schlug. Über dem eigenen Schicksal war ich nahe daran gewesen, das Geschick der Hunderttausende zu vergessen. Schon waren Schriften aller Art erschienen, die das Leben der Konfektionsarbeiter malten, wie ich es oft genug gesehen hatte. Warum war keine von mir? Und in den Versammlungen der bürgerlichen Frauenvereine wurde plötzlich entdeckt, daß die Not der Arbeiterin größer war als die höherer Töchter, in der Ethischen Gesellschaft wurden die Mittel zu ihrer Abhilfe lebhaft debattiert. Und ich allein schwieg!

Von nun an fehlte ich nirgends mehr. Und ich fühlte: je weiter ich mich von mir selbst entfernte, desto stärker wurde ich. In einer Reihe großer Versammlungen wurden die Forderungen der Konfektionsarbeiter noch einmal klargelegt, ihre Lage beleuchtet, der sie Abhilfe schaffen sollten. Ich war in den Feensaal gegangen, wo Martha Bartels sprach. Kaum, daß ich noch Einlaß fand, denn auf der Straße schon stauten sich die Menschen. So viel Armut war wohl noch nie aus ihren dunkeln Höhlen hervorgekrochen. Und noch nie hatten sich so viel elegante Frauen in ihrer nächsten Nähe befunden.

[86] In dem tief eingewurzelten Gefühl, das noch immer hinter dem schönsten Kleid die größte Respektsperson vermutet, drängten sich die Armen schüchtern an den Wänden entlang. Alte Frauen mit müden, rot geränderten Augen standen auf, um seidenrauschenden Damen Platz zu machen. Keinen Blick des Neides sah ich, keinen des Hasses. Als Martha Bartels sprach, schlicht, fast nüchtern, da weinten viele. Aber es waren nicht die fruchtbaren Tränen der Erkenntnis, unter deren heißer Flut die Kraft des Widerstandes gedeiht, es waren die Tränen der Verzweiflung, die armseligen Tropfen, die in den Kirchen fließen, wenn der Pfarrer von der Kanzel die Ergebenheit in Gottes Willen predigt. Zorn und Leid stritten in mir: Zorn, – daß Armut und Religion die Menschheit so um ihre Würde hatten betrügen können, Leid, – daß von dieser Menschen Kampfeslust und Ausdauer Sieg oder Niederlage abhängen würde.

Beim Ausgang traf ich meine Mutter. Mit einer Anzahl bekannter Damen hatte sie der Versammlung beigewohnt. Sie waren alle erfüllt von dem Gehörten. Die Ruhe der Rednerin und der Zuhörer hatte den Eindruck nur verstärkt.

In weitesten Kreisen, von den Nationalsozialisten bis in die Reihen der Konservativen hinein, schien das Interesse für die Heimarbeiter rege zu sein. Meine Mutter war voll Eifer; ich hatte sie um einer solchen Sache willen nie so erregt, so lebhaft gesehen. Sie zwang mich förmlich, an einer Zusammenkunft teilzunehmen, die am nächsten Tage bei einem bekannten Berliner Geistlichen stattfinden sollte.

Ich holte sie ab, um mit ihr hinzugehen, und fand selbst meinen Vater voller Teilnahme. »Da ist dein Platz, da kannst du was leisten,« sagte er, mir die Hand schüttelnd, »da findest du uns alle an deiner Seite, wenn es gilt, den jüdischen Konfektionären, diesen Menschenschindern und Ausbeutern, das Handwerk zu legen.« Eine ähnliche Stimmung beherrschte die [87] Sitzung, wenn auch der Wunsch nach einer friedlichen Lösung des Konflikts und die bestimmte Hoffnung auf seine Erfüllung von dem Einberufer sehr betont wurde.

Er berichtete von dem Komitee, das sich kürzlich auf Anregung der Ethischen Gesellschaft gebildet hatte, um zwischen den Arbeitern und den Unternehmern eine Verständigung anzubahnen. Männer und Frauen der verschiedensten Parteirichtungen, deren Namen in der Öffentlichkeit einen guten Klang hatten, gehörten ihm an. Man beschloß, sich ihm gleichfalls anzuschließen. »Kommt es trotz alledem zum Streik, so schaffen wir eine Hilfskasse,« rief eine lebhaft kleine Dame, deren Energie beim Durchsetzen ihrer Pläne sie bekannt gemacht hatte. Man stimmte ihr ohne weiteres zu. »Wir müssen alle Geschäfte boykottieren, die die Forderungen der Arbeiter nicht bewilligen,« erklärte eine andere, und man überbot sich in steigender Erhitzung in Vorschlägen zugunsten der Sache. Ich erinnerte mich im stillen des Streiks der westfälischen Bergarbeiter. Auch damals sprach sich die öffentliche Meinung, soweit sie mir zu Ohren kam, zugunsten der Kämpfenden aus, aber sie tatkräftig zu unterstützen, daran wagte noch niemand zu denken. Also doch ein Fortschritt?! Mein Optimismus regte sich wieder.

Ich berichtete Reinhard von dem Erlebten. »Halten Sie die Leute vor allen Dingen bei ihrem Unterstützungsversprechen fest. Alles andere ist Mumpitz,« sagte er. Und ich lief von einem zum anderen, und ließ mir, wo es irgend anging, schriftliche Zusicherungen geben. Inzwischen arbeiteten im stillen auch die Vermittler, und zu gleicher Zeit sah ich Martha Bartels und ihre Gefährtinnen, wie sie unermüdlich nach ihrer eigenen Arbeit treppauf, treppab stiegen, um die Begeisterung für den Kampf anzufachen, der ihnen nicht nur unausbleiblich, sondern erwünscht war. Sie schimpften laut und leise über das Zögern und Warten der Fünferkommission: »Wir pfeifen auf alle Versöhnungsduselei, bei der wir doch nur den kürzeren ziehen. Wir wollen [88] eine ehrliche Entscheidung auf dem Schlachtfeld.« Die Ereignisse schienen ihnen recht zu geben.

Am Abend des Kaisergeburtstages kam ich durch die menschenwimmelnde Friedrichsstadt. Nüchtern wie immer glänzten die Tausende elektrischer Birnen an den Geschäftshäusern, verschlangen sich zur Kaiserkrone, zum W II, und nirgends zeigten sich Spuren einer von Liebe befruchteten Phantasie, die neue persönlichere Huldigungen hätte schaffen können. Irrte ich mich, oder waren die Fassaden der großen Konfektionshäuser sogar um einen Schein dunkler als sonst? Das Kaisertelegramm an den Burenpräsidenten Krüger schien, so hieß es, den Absatz deutscher Waren nach England lahmzulegen. Und während Alldeutsche und Antisemiten jubelten, ballten die Unternehmer die Fäuste im Sack.

Die Versammlung, in die ich kam, bot ein anderes Bild als die letzte: es war vor allem eine der Männer. Und die Arbeiterinnen, die erschienen waren, gehörten zu den besser Bezahlten, zu den Aufgeklärteren, den Selbstbewußten. Etwas wie Siegeszuversicht schien sie zu beherrschen. Sie wiesen mit Fingern auf die Herren im Gehrock und Zylinder, sie tuschelten einander die Namen der Chefs und Zwischenmeister zu, die der Einladung der Arbeiterkommission heute gefolgt waren, sie warfen hochmütig den Kopf zurück, wenn einer von ihnen eine vertrauliche Begrüßung zu wagen versuchte. Reinhard sprach. Er erläuterte die Forderungen der Arbeiter. Seinem Temperament tat er sichtlich Gewalt an. Eisige Ruhe begleitete während der ersten Viertelstunde seine Rede. Dann unterbrach ihn eine gröhlende Stimme: »Bezahlter Agitator –,« das war das Signal für die anderen. Kein Satz blieb ohne Zwischenruf. Je dunkler die Flecken auf Reinhards Backenknochen sich röteten, je mehr die straffen Haarsträhnen ihm an den feuchten Schläfen klebten, und je heftiger die knochigen Hände ihm zitterten, desto lauter, roher, unflätiger wurde das Gebrüll der Zuhörer. Er [89] sprach ruhig weiter – von den elenden Löhnen der Frauen, von ihrer sittlichen Gefährdung. »Sei man stille, Quasselkopp,« schrie dicht neben mir ein dicker Kerl, mit Brillantringen auf den roten Wurstfingern, »die Mächens wissen schon, wofür wir jut zahlen.« Alles lachte. »Frag mal, von wo die Kleene da ihren süßen, roten Lockenkopp hat,« rief ein anderer. »Von de sittliche Jefährdung,« brüllte aus dem Hintergrund eine ölige Stimme. Es war kein Halten mehr. Man überbot sich in zynischen Witzen. Und die Frauen, die vorhin so kampfbereit, so unnahbar schienen? Sie kicherten in ihre Taschentücher, einige lachten kokett die ärgsten Zotenreißer an. Reinhard schwieg erschöpft. Die Diskussion war von der allgemeinen Ulkstimmung beherrscht. Nur zuletzt, als es zur Abstimmung gehen sollte, erhob sich einer der Meister, um eine Programmrede zu halten. Er sprach vom Mittelstand, »dem sittlich gesunden Kern des Volkes, der wahre Religion und echtes deutsches Familienleben pflegt und hochhält,« und den »die Sozialdemokraten in ihrer Respektlosigkeit angesichts der heiligsten Güter der Nation« vernichten wolle. »Auch dieser uns angedrohte Kampf ist nichts anderes als ein Vorstoß der Umsturzpartei gegen die Staatsordnung, und zum Kanonenfutter lassen die Dummen unter den Arbeitern sich gebrauchen. Wir aber stehen wie ein Fels im Meer;« – unter dem Bravogeschrei der Zuhörer warf er sich stolz in die Brust und bewegte pathetisch die Arme. »Wir sagen nein und abermals nein und wissen, daß wir trotz dem Geschrei der Gegner, trotz Streikdrohung immer noch so viel Arbeiter kriegen, als wir brauchen – und wenn wir sie von den Hottentotten nehmen sollten.«

Am Ausgang erwartete ich Reinhard. Ich sah, wie Martha Bartels, von einer Schar lebhaft gestikulierender Frauen umgeben, erregt auf ihn einsprach. »Es ist kein Halten mehr,« sagte er im Nähertreten. »Nun ist's aber auch höchste Zeit,« rief ich, noch heiß vor Entrüstung. »Wir müssen das Eisen [90] schmieden, solange es warm ist, – in allen Kreisen findet der Streik Unterstützung.« »Sachte, sachte, liebe Genossin,« wehrte er ab. »Im Augenblick sind uns stärkere Knüppel zwischen die Beine geworfen worden, als Ihre hilfsbereiten Damen aufheben können. Wenn England die deutsche Konfektion boykottiert, können wir einpacken.«

Der Termin für die Antwort der Unternehmer wurde abermals hinausgeschoben. In den Arbeiterkreisen begann es bedenklich zu gären; es gab Leute, die schon von Intrigen, Schmiergeldern und offenem Verrat munkelten. In Hamburg, in Erfurt, in Stettin, in Breslau brach der Streik aus, – in Berlin zögerte man noch immer, scheinbar um dem Vermittelungskomitee Zeit für seine Verhandlungen zu gewähren, in Wirklichkeit aber, um die Entwicklung der Dinge in England abzuwarten. Man glaubte an einen Krieg, zum mindesten an einen wirtschaftlichen. Endlich liefen, so zahlreich wie sonst, bei den großen Konfektionären die Bestellungen ein; und in einer Versammlung der Ethischen Gesellschaft wurde, zugleich mit einer rückhaltlosen Sympathieerklärung an die kämpfende Arbeiterschaft, das völlige Scheitern der Einigungsversuche mitgeteilt.

Im Bureau der Schneider-Gewerkschaft trat die Arbeiterkommission zusammen. Es war wie im Hauptquartier eines Krieges. Wir empfingen die Streikerklärung als unsere Parole und unseren Marschbefehl. In riesigen Plakaten wurde die Bevölkerung am nächsten Morgen zu den Versammlungen eingeladen, mein Name stand unter denen der vierzehn Referenten.

Ich saß mit meiner Rede beschäftigt am Schreibtisch, als es draußen zweimal heftig klingelte. Der Vater! – »Dein Name steht auf den Litfaßsäulen unter lauter Sozialdemokraten,« brauste er mich an.

»Du bist auf der Seite der Streikenden, wie ich weiß, du selbst hast mich ermuntert.« Er ließ mich nicht ausreden. »Nicht um ein ungesetzliches Vorgehen zu unterstützen – du mußt [91] deinen Namen augenblicklich zurückziehen –.« Er stierte mich an mit dem wilden Blick, den ich so fürchtete. Ich lehnte mich zitternd an den Schreibtisch. »Fahnenflüchtig?! Nein! Wär' ich's, du würdest dich bei ruhiger Überlegung meiner schämen müssen.« Er umklammerte mein Handgelenk. »Soll ich mein Kind verlieren?« stieß er hervor, sein Atem keuchte, die Augen traten aus den Höhlen.

»Ich kann mein Wort nicht brechen, – auch mir selbst gegenüber nicht,« flüsterte ich. Ein Ruck ging durch seinen Körper, meine Hand stieß er von sich, faßte sich ein paarmal mit den Fingern an den Kragen, als würde er ihm zu eng, und schritt festen Schrittes, wortlos, der Türe zu. Ich hörte sie zufallen, – eine zweite knarrend sich öffnen, – heftig ins Schloß zurückschlagen; ich lief ans Fenster: ein alter Mann ging über den Hof, sehr langsam, tief gebückt, schwer auf den Stock sich stützend. O, daß er nur ein einziges Mal den Kopf noch wenden möchte, – aber der starre Nacken bewegte sich nicht. Schluchzend brach ich zusammen.

»Alix!« Heinrichs entsetzter Ruf brachte mich wieder zu mir. Er hatte den Vater fortgehen sehen und war, alle Vorsicht vergessend, zu mir geeilt. »Wirst du heut abend sprechen können?!« »Gewiß, – nun bin ich ja ganz – ganz frei!« Die Tränen waren versiegt, mir war, als läge mein Herz zu Eis erstarrt in meiner Brust. Selbst der Geliebte kam mir plötzlich fern und fremd vor.


Für die Kriegserklärung, die ich heute abzugeben hatte, war es die rechte Vorbereitung: kein weiches Gefühl konnte mich überwältigen, eiserne Entschlossenheit beherrschte mich. Zu einer Riesenkraft wollte ich die schwarze Menschenmasse vor mir zusammenschweißen, von einem unbeugsamen Willen beseelt. Und ich richtete die Paläste der Unternehmer vor ihren [92] Augen auf, die ihre Arbeit gebaut hatte, und wies auf ihre üppigen Tafeln, die ihr Hunger deckte. Ich zeigte ihnen die seidenen Kleider ihrer Frauen und ihrer Mätressen, an denen der Schweiß der Arbeiterinnen klebte, und ihre Edelsteine, in denen das Augenlicht derer gefangen war, die es in nächtlicher Arbeit verloren hatten. Ich fühlte: schon war die Luft erfüllt von unsichtbarem Sprengstoff. Und nun sprach ich von der kommenden Schlacht, die nichts sei als ein Teil des großen Krieges zwischen unverschuldeter Armut und schuldbeladenem Reichtum; sprach von alle dem, was der Preis ihres Mutes, ihrer Ausdauer sein würde, und doch nur darum von unschätzbarem Werte sei, weil es sie geistig und körperlich fähig mache, den Menschheitsfeldzug bis zu Ende zu führen. »Eure Sache ist die Sache der ganzen Arbeiterschaft. Jede Schwäche von euch ist ein Verrat an ihr ...«

»Eine demagogische Hetzrede,« sagte jemand, als ich die Tribüne verließ. »Prachtvoll« – versicherte mir ein sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter händeschüttelnd. Ich sah fragend um mich: erstaunte, bewundernde, auch tränenfeuchte Blicke begegneten den meinen, aber vom Fieberfanatismus der Kriegslust bemerkte ich nichts. Verständnislose Verlegenheit lag zum Teil auf den abgehärmten Zügen der Frauen. »Was hat sie gemeint?« hörte ich flüstern. »Was sollen wir tun?« »Und wie gerade die Damenmäntel dann bezahlt werden, sagte sie nicht« – »ob wir gleich in die Betriebswerkstätten kommen?« – Mir sank der Mut. Heinrichs Lob – er hatte sich's nicht nehmen lassen, mich zu begleiten – schien mir von Mitleid diktiert.

Zu Hause fiel ich sofort in den Schlaf der Erschöpfung. Mitten in der Nacht fuhr ich entsetzt aus dem Traum; irgendein langgezogener Ton weckte mich. Ich sprang aus dem Bett. Aus den Fenstern drüben drang helles Licht. Die Schatten vieler Menschen bewegten sich hastig hin und her. Gellende Schreie klangen über den Hof.

Jetzt – jetzt wand sich das unglückselige Weib, das ich betrogen [93] hatte, in gräßlichen Schmerzen, – und das Kind – meines Geliebten Kind! – kam zur Welt. Kalter Schweiß trat auf meine Stirne. Das flackernde Licht von drüben malte gespenstische Gestalten in mein Zimmer. Ein großes Ungeheures beugte sich über mich, die zusammengekauert, frostgeschüttelt am Fenster hockte. Es griff mir in den Nacken mit spitzen Krallen, es wuchs – wuchs, erfüllte den ganzen Raum – die Wohnung – das Haus – die Welt. »Ich bin die Schuld – deine Schuld!« gellte es in meinen Ohren mit dem letzten Schrei des Weibes drüben ...


»Es steht gut – Mutter und Kind sind wohl –« Heinrich stand vor mir, leichenblaß; »aber du –« er sah mich erschrocken an, wie eine schwere Krankheit lag die Nacht hinter mir, – »wenn du jetzt schon zusammenbrichst, wo das Schwerste bevorsteht!«

»Nachdem ich das überstanden, gibt es nichts Schwereres –«


Ich war in der nächsten Zeit fast nie zu Hause. Wenn ich früh erwachte, müde, als hätte ich kein Auge zugetan, so schien mir's, als stünde jenes große Ungeheure hinter mir, vor dem ich unaufhörlich die Flucht ergreifen mußte. Nur wenn ich draußen war, fern dem Bannkreis dieses Hauses, wenn die Not der anderen, die der Streik aufdeckte und gebar, sich zwischen mich schob und meine Schuld, atmete ich freier.


Ich saß auf der Reichstagstribüne, als die nationalliberale Interpellation, die Lage der Konfektionsarbeiterinnen betreffend, zur Verhandlung kam und alle bürgerlichen Parteien ihr arbeiterfreundliches Herz entdeckt zu haben schienen. Was [94] noch kein preußischer Minister zu denken gewagt hatte – daß eine Arbeitseinstellung berechtigt sein kann –, das erklärte Herr von Berlepsch vor der deutschen Volksvertretung angesichts dieses Streiks. Kein Zweifel: der Riesenkampf, den die Ärmsten der Armen kämpften, wird kein vergeblicher sein, eine neue Ära sozialer Reformen bricht an. Und dem Verdikt des Reichstags werden die Unternehmer sich beugen müssen. Ich verstand nicht, warum der Redner der sozialdemokratischen Fraktion sich angesichts dieser Kundgebungen so skeptisch äußern konnte.

Im ganzen Reich wurde für die Streikenden gesammelt. Neben den Bureaus der Streikkommission, in denen Streikkarten ausgestellt und Unterstützungsgelder gezahlt wurden, richteten bürgerliche Vereine Hilfsstellen ein, wo Nahrungsmittel und Kleidungsstücke zur Verteilung kamen.

Stolz, oft übermütig in ihrer Hoffnungsfreudigkeit stellten sich in den ersten Tagen die Streikenden ein. Von Unterstützung wollten sie nichts wissen, nur ihre Karten ließen sie sich geben.

»Wir halten aus,« sagte ein junges, bleichsüchtiges Mädel, und ihre Augen blitzten dabei. »Die Unternehmer haben uns für sich hungern lassen, nun hungern wir mal für uns selber –« und, ein Liedchen trällernd, war sie wieder draußen. Selbst auf den Gesichtern alter müder Frauen lag ein stilles Leuchten. Ein halbwüchsiger Bengel, der in Begleitung seiner Mutter kam, verkündete triumphierend: »Wir arbeeten jetzt for drei, damit Muttern feiern kann,« und lächelnd streichelten ihre zerstochenen Finger seine Wange: »Nu kommen ooch janz andere Zeiten!«

Oft standen die engen Bureauräume gedrängt voll Wartender. Dann flogen Witze hin und her; vom »Meester« erzählten sie einander, der mit der »Ollen« händeringend in der leeren Bude stand. »Noch janz anders soll die Gesellschaft winseln! Laßt man erst acht Tage ins Land jehen, denn werden sie zu uns bitten kommen,« rief ein krummbeiniges Schneiderlein.[95] »Wir werden ihr Mores lehren, der Rasselbande!« fügte zähneknirschend ein anderer hinzu.

Allmählich änderte sich das Bild: Blasse Frauen, die unsicher und ängstlich blickten, mit Kindern auf den Armen und an der Schürze, drängten sich um die Zahlstellen; das morgens angehäufte Geld, das mir unerschöpflich schien, war jeden Abend wieder ausgegeben. Auch Männer kamen, Familienväter, mit zusammengepreßten Lippen. Die Witze verstummten. Finstere Entschlossenheit lag in dem Schweigen der Wartenden. Aber immer noch traten welche an den Tisch, die nichts verlangten, als die Ausfüllung ihrer Streikkarten. Auch Frauen waren unter ihnen. Eingesunkene Wangen, trockene Lippen, fiebrige Augen sprachen vom Heldenmut der Hungernden. Verlegen schob sich wohl auch ein junges Mädel durch die Türe und streckte die Hand nach dem Gelde aus. »Schämst du dir nicht!« schrie einer einmal eine hübsche Brünette an, mit Rosen auf dem kecken Filzhut, und riß sie unsanft zurück, »hat noch so'n Deckel auf'n Kopp und Glacénene an die Finger und will den ollen Weibern das Brot nehmen?!« Kam aber gar ein kräftiger Mann, so hagelte es empörte Schimpfworte: ein Verräter, wer in seinem Opfermut nicht bis zum Äußersten ging.

Und dann kamen die Tage, wo sie in dichtgedrängten Scharen bis auf die Straße hinunterstanden, und keiner mehr war, den der Hunger nicht bezwungen hätte. Viele schämten sich, daß sie unterlegen waren; sie wagten kaum den Kopf zu heben, wenn sie vor den Zahltisch traten. Zusammengesunken erschienen andere vor Mutlosigkeit. »Erreichen wir's?« flüsterte fragend der eine, »geben sie endlich nach?!« der andere. Tränenumflorte Augen richteten die Frauen auf uns, scheue Blicke voll Zweifel und Mißtrauen die Männer. Und nichts als Schweigen, als Achselzucken konnte die Antwort sein. Die Kassen füllten sich langsamer; der aus rührseliger Sentimentalität entstandene Enthusiasmus bürgerlicher Kreise verpuffte wie ein Feuerwerk. [96] Die Unternehmer hielten aus; sie hatten noch immer genug zu essen. Und die Opferwilligkeit der deutschen Arbeiterschaft für die kämpfenden Brüder hatte ihre äußerste Grenze erreicht.

Ich sah Reinhard nur flüchtig. Die hektische Röte wich nicht mehr von seinen Backenknochen. Er hatte keine ruhige Minute.

»Wir sind am Ende,« sagte er mir mit rauher Stimme, als wir uns in einem der Streikbureaus wieder begegneten. Es traf mich wie ein Peitschenschlag. Was hatte ich damals denen, die ich zum Streik aufrief, als sicheren Lohn ihres Ausharrens in Aussicht gestellt! Würden sie mir jemals wieder vertrauen können?! »Die Forderung der Betriebswerkstätten werden wir fallen lassen müssen –.« »Gerade das?! Die Hauptsache!« rief ich. »Das einzige Mittel vielleicht, um dem Elend der Heimarbeit, um der Ausbeutung der Zwischenmeister ein Ende zu machen!« – »Gerade das. Wir wollen froh sein, wenn sich der Lohntarif durchsetzen läßt und der Reichstag sein Versprechen einer durchgreifenden Gesetzgebung einlöst.«

Schweren Herzens kam ich an jenem Tag in das Bureau. Es war überfüllt, und lautes Stimmengewirr drang mir entgegen. »Die Führer verraten uns!« rief einer. »Wir können hungern, und sie stopfen sich die Taschen –,« brüllte ein anderer. Ein paar keifende Weiber hieben mit Fäusten auf den Zahltisch: »Betrüger seid Ihr, – Ausbeuter, – schlimmer als die Meister,« schrien sie den Dahinterstehenden ins Gesicht, die das Geld abzählten. »Wir haben nichts mehr –,« flüsterte einer der Gewerkschaftsbeamten mir hastig zu, »– es war ein Ansturm ohnegleichen.« Ich lief die Treppe wieder hinab, sprang in die nächste vorüberfahrende Droschke und fuhr zur Zentralstelle der Ethischen Gesellschaft. Heute, so hatte man mir mitgeteilt, sei eine beträchtliche Summe eingelaufen. Ich ließ mir geben, was zur Verfügung stand, – es war auch nur ein Tautropfen, der im Augenblick in der durstenden Erde verschwinden [97] würde, – und fuhr zurück, so rasch der arme Schimmel laufen konnte. Vor dem Bureau stauten sich die Menschen. Ein paar Polizisten hielten mühsam die Straße frei. Ich sprang aus dem Wagen und versuchte, mich vorzudrängen. »Wat, so eene biste, daß de erster Jüte fährst?« schrie mich eine rohe Stimme an, und eine Faust stieß mich in den Rücken. Ein paar Burschen, die nach Fusel rochen und mit den Konfektionsarbeitern sichtlich nicht das Geringste zu tun hatten, überschütteten mich mit unflätigen Redensarten. Ich versuchte, mir mit ein paar Ellbogenstößen freie Bahn zu schaffen, während meine Hände die Geldtasche angstvoll umklammerten. »So loof doch, loof – wir werden dir Beene machen,« gröhlten sie, und ich fühlte ihre Fäuste wieder auf meinem Rücken. Ich schrie laut auf. Im Augenblick war ich von bekannten Gesichtern umgeben, ich hörte noch ein paar Ohrfeigen rechts und links und war halb getragen, halb geschoben im Zimmer.

Am Abend war auch das letzte Geld verteilt.

In diesem Augenblick der Not kam es zu einer überraschenden Wendung: ein Teil der Zwischenmeister, empört darüber, daß die Unternehmer ihnen alle Schuld an den schlechten Löhnen zuzuschieben suchten, machten gemeinsame Sache mit den Arbeitern, und die Fabrikanten, die nunmehr ernstlich in Gefahr standen, die Einnahmen der Saison zu verlieren, die aber andererseits auch genug von der Lage der Dinge unterrichtet waren, um zu wissen, daß die Streikenden das Ende ihrer Widerstandskraft erreicht hatten, riefen offiziell die Vermittlung des Gewerbegerichts an. Die Fünferkommission der Arbeiter, davon in Kenntnis gesetzt, zögerte nicht, auch ihrerseits mit dem Einigungsamt in Verbindung zu treten. Im Bürgersaal des Berliner Rathauses, vor einem vielhundertköpfigen Publikum, kam es zur Verhandlung und zur endlichen Unterzeichnung eines Vertrages, dessen wichtigste Bedingungen die Erhöhung der Löhne und die Gegenseitigkeitsverpflichtungen in bezug auf die [98] Durchführung der Lohntarife waren. Von den Betriebswerkstätten war gar keine Rede mehr.

Die Streikleitung berief die Referenten zu einer neuen Sitzung. In öffentlichen Versammlungen sollten wir das Ende des Streiks verkünden. Ich versuchte, mich freizumachen. »Wir haben Ihr Wort, Genossin Glyzcinski,« sagte einer der Führer mit scharfer Betonung. »Wie kann ich diesen Ausgang als einen Sieg verteidigen,« wandte ich ein. »Darüber mögen Sie denken, was Sie wollen,« entgegnete Martha Bartels heftig, »hier haben Sie einfach Ihre Pflicht zu tun wie wir alle.« Flüchtig fuhr mir durch den Kopf, daß ich aus meiner Welt dem Zwang der Pflicht entflohen war, um meiner Überzeugung zu folgen, aber ich fühlte mich viel zu müde, um jetzt darüber nachzudenken. Ich fügte mich stillschweigend. Als eine Wohltat sah ich es an, daß ich wenigstens nicht in demselben Saal, vor denselben Menschen sprechen mußte. Weit in den Osten, in die Andreasstraße, schickte man mich. »Sie werden keinen leichten Stand haben,« sagte Reinhard beim Weggehen, »es ist das Hauptquartier der Anarchisten.«

Heinrich Brandt begleitete mich auf dem Wege zur Versammlung. Wir hatten uns in der Zwischenzeit nur immer auf Minuten gesehen. Erst jetzt, wo Rosalie schon seit einigen Tagen aufgestanden war, schwand unsere Angst um sie. Das Wochenbett war normal verlaufen; sie nährte den Kleinen und schien seelenruhig. Trotzdem war Heinrich heute wortkarg, und sein ausdrucksvolles Gesicht, das jede Stimmung verriet, erschreckte mich. Aber soviel ich auch in ihn drang, er meinte, es sei nichts, gar nichts geschehen, ich solle lieber an meinen Vortrag denken, als über die Ursache seiner schlechten Laune nachgrübeln.

Der kleine Saal war schon voll, als ich kam. In allen Händen sah ich weiße Zettel, mein Auge fiel auf lauter erregte gerötete Gesichter. Bei der Wahl des Bureaus siegte der Führer der [99] Anarchisten mit riesiger Mehrheit über unseren Kandidaten. Ich empfand es fast wie eine Erleichterung –, »nun werden sie mich gar nicht reden lassen,« flüsterte ich Heinrich zu. Aber schon stand der junge blonde Mann mit den zarten Mädchenzügen auf der Tribüne: »Ich erteile der Referentin Frau von Glyzcinski das Wort«, und mit einer höflichen Handbewegung machte er mir neben sich Platz.

Ich sprach schlecht. Keinen Augenblick konnte ich meiner eigenen Empfindung, meinen innersten Gedanken folgen. Ich war nur ein Sprachrohr. Trotz der musterhaften Leitung des jungen Anarchisten, der die Ruhe immer wieder herzustellen suchte, unterbrachen mich Zurufe aller Art: sarkastische, gemeine, wütende. Dazu Heinrichs Gesicht, auf dem meine Blicke immer wieder haften blieben –, ich verlor den Faden, verwirrte mich, wurde ängstlich. Man rief höhnisch »Bravo«, als ich geendet hatte. Und dann sprach der Vorsitzende. Seine ganze Rede war ein feuriger Appell an das Proletariat, eine glühende Anklage der Streikleitung. Im Moment, wo aus England Millionen an Unterstützung zu erwarten seien, habe sie sich feige den Kapitalisten unterworfen und die Sache des Volks verraten. An ihm sei es nun, zu zeigen, daß es sich von keiner Seite knebeln lasse, daß es den Kampf nicht nur fortsetze, sondern ausdehne, bis ein Generalstreik dem Volk die Macht verleihe, dem Unternehmertum seine Gesetze zu diktieren. In jedem Wort, das er aussprach, brannte das Feuer seiner Überzeugung, und alles jauchzte ihm zu. Meine Resolution wurde abgelehnt, die seine, die die Fortsetzung des Streiks erklärte, angenommen. Durch einen Nebeneingang ließ man mich hinaus. Man hätte mich sonst vor den Insulten der fanatisierten Menge nicht schützen können.

Der Streik war trotzdem zu Ende. Die englischen Millionen waren nichts als ein Märchen. Ein paar Tollkühne hungerten noch eine Woche länger –, das war alles.


[100] Wir gingen durch den Tiergarten heimwärts, Heinrich und ich. Die Kälte tat mir wohl. »Am liebsten zöge ich selbst solch Schneekleid an, um ganz, ganz kalt zu werden,« murmelte ich. Eine große Hoffnungslosigkeit hatte sich meiner bemächtigt.

»Nun sollst du auch wissen, was mir fehlt,« sagte Heinrich, auf dessen Arm ich mich müde stützte. »Ich hatte heute eine böse Szene mit Rosalie. Sie will in den Süden – auf Monate – mit mir. Um unsere Ehe wieder herzustellen, wie sie sagt. Ich weigerte mich, brauchte lahme Ausreden, die sie durchschaute. Sie bekam einen Weinkrampf, dann warf sie mir vor, daß ich das Kind töten wolle, indem ich sie, die nährende Mutter, nicht schone.«

Er blieb aufatmend stehen.

»Und du?!«

»Ich versprach ihr jede Rücksicht, – nur mit ihr reisen könne ich nicht. Jetzt fordert sie eine Auseinandersetzung, auch mit dir. Zwei Tage hat sie mir Zeit gegeben.«

»Sie hat recht,« sagte ich, »auch sie zieht ein Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vor.«

Ich zwang mich zur Ruhe, – seinetwegen.

Die beiden Tage schleppten sich hin wie ebenso viele Jahre, jede Stunde beladen mit Qualen, mit Selbstvorwürfen, mit Zweifelfragen. Hatte ich nicht das Leben dieser Menschen zerstört, hatte den, der mir auf der Welt der liebste war, in einen Kampf gerissen, der für ihn vielleicht des Einsatzes nicht wert sein würde, hatte dem Kinde schon im Mutterleibe den Vater gestohlen!

Und dann kam der Tag und die Stunde. Ich wartete von mittags bis abends. Jeder Schritt auf dem Hof ließ mich auffahren, vor jedem Laut, der von drüben klang, zitterte ich. Minuten gab es, in denen ich die Hände faltete wie ein kleines Kind, wenn sinnlose Angst es den schützenden Vater im Himmel [101] suchen ließ. Aber durfte ich beten – ich! –, selbst wenn ich noch glauben könnte?! Die Bilder auf meinem Schreibtisch starrten mich an und sahen mir nach, wohin ich auch im ruhelosen Auf- und Abwandern mich wandte: der Vater, der einst einen braven Offizier seines Regiments für unwürdig erklärt hatte, weiter des Königs Rock zu tragen, weil er das Weib eines andern liebte; die Mutter, deren ganzes Leben unter dem einen Gesetz der Pflichterfüllung stand; – aber lugte nicht neben ihr aus dem Rahmen ein stilles, edles Antlitz hervor mit gütigen dunkeln Augen? »Großmama,« schluchzte ich leise. O, daß ich den Kopf in ihrem Schoß vergraben, ihr beichten und aus ihrem Munde mein absolvo te hören dürfte!

War das nicht sein Schritt? Ich riß das Fenster auf. Klang nicht ein Ruf zärtlich aus dem Dunkel? Mit angehaltenem Atem horchte ich. Klopfte es nicht an der Pforte? Oder war es mein eigenes Herz, das ich hörte? Ich blieb auf dem engen, kleinen Flur, an die Mauer gelehnt, mit krampfhaft aufgerissenen Augen und pochenden Schläfen. Die Treppe draußen knarrte, ich griff an die Klinke, die Türe sprang auf –

»Alix!« Welch ein Ton war in seiner Stimme! Halb bewußtlos sank ich in seine weitgeöffneten Arme.

»Sie willigt in die Scheidung.«

[102]
4. Kapitel
Viertes Kapitel

An einem jener norddeutschen Apriltage, wo Frühling und Winter einander wie Feinde vor dem Ausbruch des Kampfes lauernd umschleichen, die Sonne auf hellen Plätzen Sommergrüße vom Himmel sendet und daneben der feuchtkalte Wind triumphierend durch schattige Straßen fegt, ging ich zum Abschiednehmen zu den Eltern.

Seit jenem Tage, wo mein Vater mich im Zorn verlassen hatte, war ich nicht mehr bei ihnen gewesen. Selbst die notwendigen geschäftlichen Auseinandersetzungen, die sich an den Tod einer Verwandten und der mir und meiner Schwester zugefallenen kleinen Erbschaft knüpften, hatte mein Vater schriftlich erledigt. Jetzt aber hatte er mich vor meiner Abreise noch einmal sehen wollen.

Er empfing mich ernst und gemessen. »Du siehst schlecht aus,« sagte er dann, und ein liebevoll besorgter Blick strafte seine äußere Strenge Lügen. Ich wußte es: die letzten Monate hatten meine Nervenkraft erschöpft; ich bedurfte der Erholung, aber mehr noch des Fernseins von Berlin während des bevorstehenden Scheidungsprozesses. »Die Erbschaft kommt dir wirklich zustatten,« fuhr er fort. Er ahnte nicht, in welchem Umfang er recht hatte!

Eine konventionelle Unterhaltung entspann sich. Und doch war mir das Herz so voll: ich allein wußte von uns allen, wie weit ich mich mit diesem Abschied von ihnen entfernte, – vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Ein Wort der Dankbarkeit, der Liebe hätte ich gern gesagt; – in der Temperatur, die zwischen uns herrschte, erfror es, noch ehe es über die Lippen kam.

[103] »Es ist mir nicht recht, daß du allein in die Welt hineinreist,« sagte mein Vater, als ich schon an der Türe stand, »Ihr Jungen denkt anders darüber, – Einfluß habe ich keinen mehr, – ich kann nur hoffen, daß du dich stets erinnerst, was du deinem Namen schuldig bist.« Seine Augen ruhten forschend auf mir. Ich reichte ihm stumm die Hand: »Lebewohl, Papa –«. Ich zwang meine Stimme, nicht zu zittern. »Lebwohl,« antwortete er mit einem Seufzer. Einen Kuß gab er mir nicht mehr.

Die Mutter begleitete mich auf den Flur.

»Hast du etwas besonderes zu schreiben,« sagte sie mit Betonung, »so lege stets einen besonderen Zettel dem Brief an mich bei, damit ich ihn Hans ohne Schaden zeigen kann.« Ich hatte die Empfindung, daß mein Weggehen sie erleichtere. Ilse kam noch bis auf die Straße mit mir.

»Du, Schwester, ist es wahr, daß Dr. Brandt sich deinetwegen scheiden läßt?!« flüsterte sie hastig mit glänzenden Augen. Aufs peinlichste überrascht starrte ich sie an. Sie preßte mir stürmisch die Hand: »Du, – das ist furchtbar interessant! Freilich –« und nachdenklich kaute sie an der Unterlippe – »mit Papa werden wir wieder aushalten müssen!«

Ein Regenschauer trieb sie ins Haus zurück. Fröstelnd zog ich den Mantel fester, der Wind zerrte daran und warf mir eiskalte Tropfen ins Gesicht.

Am Abend fuhr ich nach München, wo Heinrich den Zug bestieg. Er hatte seine Söhne in Pension, Rosalie und den Kleinen mit der Pflegerin aufs Land gebracht.

»Es gab wieder eine Szene,« erzählte er, »ihre innere Stimme, an die sie nun einmal glaubt, hat ihr gesagt, daß du mich unglücklich machen würdest. Aus Mitleid wollte sie darum alles verzeihen und mich in Gnaden wieder aufnehmen. Als ich darauf verzichtete, prophezeite sie mir mit dem Pathos einer Kassandra, ich würde noch einmal kniefällig um ihre Liebe betteln. Und als auch das ohne Eindruck blieb, machte sie allerlei [104] dunkle Andeutungen über Zeugenaussagen im Prozeß, und die Pflegerin lachte mich dabei so impertinent an, daß ich grob wurde.«

»Nicht umsonst habe ich mich immer vor ihr gefürchtet,« sagte ich trübsinnig.

»Mein armer, kleiner Angsthase!« lächelte er, halb ungeduldig, halb belustigt. Im Lexikon seiner Gefühle hatte das Wort »Furcht« keinen Platz gefunden. »Du bist so tapfer und kannst so feige sein! Haben wir nicht bisher schon über alles Erwarten Glück gehabt, und du willst verzagen – gerade jetzt, wo wir dem Frühling entgegenfahren?«

Voll tiefen Vertrauens lehnte ich mich in den Arm zurück, der mich umschlang, und sah still den weißen Flocken zu, die vor den Fenstern tanzten, und den in dunkeln Schleiern schwer herabhängenden Wolken, die der Zug durchschnitt. Es tat so gut, sich in der Obhut des Geliebten zu wissen, seinen starken Schultern aufzubürden, was ich allein nicht hätte tragen können.

Auf dem Brenner glänzte die Sonne über frisch gefallenem Schnee, aber von den Bergen stürzten schon frühlingsfroh die entfesselten Wasser. In Gossensaß, wo die Bergwände sich noch einmal finster zusammenschoben, braute wieder der Nebel um dunkle Fichten und winterstarres Gebüsch, hinter Franzensfeste jedoch stand das breite Tal in blühendem Lenzkleid und öffnete die Arme weit, um all die frierenden Wanderer an seine warme Brust zu ziehen. Frohlockend wiesen von allen Höhen weiße Kirchlein mit spitzen Fingern hinauf zur Sonne, die behaglich lachend am blauen Himmel stand. Auf den knorrigen Ästen alter Obstbäume saßen junge lustige rote und weiße Blüten. Ohne Ehrfurcht vor dem grauen Alter der Ruinen, der nüchternen Heiligkeit der Klöster, fluteten in blauen Kaskaden die süßsehnsüchtigen Blumendolden der Glyzinien über die Mauern, vom Liebesspiel buntschillernder Käfer umtanzt.

Im Brixener Gasthof zum Elefanten machten wir Rast. [105] Nur das riesige Bild des Rüsseltiers, dem er seinen Namen verdankt, erinnerte noch an die Zeit, wo Kaiser und Könige auf der Romfahrt hier Einkehr hielten. Jetzt saßen nur wenige unscheinbare Leute in dem niedrigen, dunkel getäfelten Gastzimmer. Sicher: hier kannte uns niemand. Aber kaum saßen wir vor der Schüssel, die verheißungsvoll nach gut österreichischer Mahlzeit duftete, als ein Herr an unseren Tisch trat, Heinrich freudig begrüßend. Umsonst, daß dieser die abweisendste Miene machte, den Fremden weder nötigte, Platz zu nehmen, noch ihn mir vorstellte. In seiner Freude, einen Bekannten zu treffen, besorgte er das ohne weiteres selbst; er hielt mich für Heinrichs Frau und kündigte uns mit vielem Geräusch die Bekanntschaft seiner Familie an. »Wir werden nicht bleiben können,« sagte Heinrich langsam, als er sich endlich empfahl, »es sind Berliner.« Ich zuckte die Achseln. »Diesmal bin ich die Mutigere von uns beiden. Mir ist nichts so gleichgültig wie der Klatsch.«

»Aber ich dulde nicht, daß man dich verdächtigt,« brauste er auf.

In aller Frühe am nächsten Morgen fuhren wir weiter bis nach Trient. »Hierher kommt keiner unserer Landsleute,« hatte Heinrich gesagt. Und in der Tat: in den großen Palasträumen des Hotel Trento sprachen selbst die Kellner nur ein gebrochenes Deutsch. Ob wir uns hier ein paar Wochen würden ausruhen können? Wir hatten sehr das Bedürfnis danach.

Vor dem Balkon meines Zimmers lag der weite Platz mit dem ehernen Denkmale Dantes. Mächtig zeichnete sich seine schwarze Silhouette gegen den blauen Himmel ab, zu beiden Seiten von den starren Felskulissen der Berge eingerahmt. Aber der Platz zu seinen Füßen mit ein wenig Rasen und ein paar kleinen immergrünen Büschen sah im gelben Licht der Sonne öde aus.

Wir gingen durch die Straßen: lauter graue Häuser mit [106] verwaschenen Farben und trüben Fenstern, Paläste dazwischen mit verblichenen Fresken, Höfe mit alten ausgetrockneten Brunnen und Säulengängen, unter denen zerlumpte Wäsche hing, stolze wappengekrönte Tore mit Firmenschildern aus Blech und Anzeigen aus Papier benagelt und beklebt; ein Dom, geschmückt mit den zierlichsten romanischen Galerien, die hohen Portale von säulentragenden Löwen bewacht, und darin auf dem ausgetretenen Estrich, zwischen den Grabmälern edler Geschlechter, ein paar alte Weiber, die kniend den Rosenkranz durch schmutzige Finger zogen und mit zahnlosem Munde Gebete plärrten. Und über der Stadt, sie beherrschend, der prächtige Renaissancebau des alten fürstbischöflichen Schlosses, ein unvergleichlicher Rahmen üppiger Hofhaltungen, – eine Kaserne heute. In der dämmernden Loggia auf dem Brunnenhof, wo die Würdenträger des fürstbischöflichen Stuhls in roten und violetten Gewändern beim Gesang des leise plätschernden Wasserstrahls die kunstvollen Lettern pergamentgebundener Bücher zu lesen pflegten, saßen Soldaten und putzten Gewehre; in den hohen Sälen, von deren gemalten Decken die Götter des Olymps auf die tafelnden Priester des Gekreuzigten einst lächelnd herniedersahen, standen Eisenbetten mit rauher Leinwand gedeckt, an den Wänden, hinter deren kalkweißer Tünche prächtige Bilder schlummern, hingen in Reih und Glied Käppis und Tornister.

Wir gingen schweigsam zurück. In den Gassen lärmten ein paar Kinder: Mädchen mit seidenen Schleifen im Haar und zerschlissenen Röckchen über den bloßen Beinen, Knaben, die gierig um ein paar Kreuzer rauften. Vor den Wirtshäusern auf dem schmalen Trottoir saßen in schäbiger Eleganz junge Leute, die lange Virginiazigarre zwischen den schwarzen Zähnen. Die Sonne schien, aber ihre Strahlen trafen auf keinen Lebenssamen, den sie hätten wecken können; die kahlen Mauern, die baumlosen Straßen warfen nur sengende Glut zurück. Fürsten erbauten diese Stadt, und Bettler haben sie daraus vertrieben.

[107] Wir aber suchten den Frühling. Ein Postwagen mit vier Pferden davor entführte uns aus Trient. Je weiter wir uns von der Stadt entfernten, die wie ein steinerner Sarkophag in der Tiefe schlief, desto lachender wurde die Natur. Auf den Wiesen blühten Lilien und Glockenblumen, um die elendesten Hütten leuchteten in rosiger Pracht die Mandelbäume. In Caldonazzo, einem stillen Nest am Ende des Sees, der den klaren Himmel auf die Erde zu zaubern schien, blieben wir. Unter der Laube im Obstgarten der Trattoria, die von gelben Rosen überwuchert war, wurde uns gedeckt. Vino santo funkelte goldfarbig in den Gläsern, ein kleines Mädchen mit großen runden Augen, wie geschliffene Kohlen, setzte noch eine blaue Vase mit weißen Lilien mitten auf den Tisch. Dann war es ganz, ganz still um uns, ein heiliges Abendschweigen, das wir mit keinem lauten Wort zu stören wagten. Unsere Hände schlangen sich ineinander, fester zog mich sein Arm an seine Brust, und sehnsüchtiger wurden unsere Küsse.

Schlüsselklirrend ging der Wirt durch den Garten. Wir standen auf. Vor der Tür meines Zimmers blieben wir stehen, stumm, mit herabhängenden Armen, unsere Augen versanken ineinander, und die ganze verzehrende Qual unserer Liebe lag in unserem Blick. »Gute Nacht!« – er berührte mit den heißen Lippen nur meine Fingerspitzen.

Ich schlief nicht. Durch das offene Fenster strich die laue Luft und trug die süßen Gerüche der Wiesen auf ihren Flügeln. Ich preßte die Zähne zusammen, um nicht den zu rufen, nach dem mein Herz verbrannte, ich drückte die spitzen Nägel meiner Finger mir ins Fleisch, um mit dem Schmerz die Qual zu betäuben, die mein Blut durch die Adern peitschte.

Draußen im Garten knirschte der Kies, – das Weinlaub am Fenster bewegte sich, – schlich nicht ein Schatten leise vorüber? – O, warum kommst du nicht, – sind meine Arme nicht weich, lockt nicht mein Busen wie Perlmutter glänzend in der Stille [108] der hellen Mondnacht? Was geht mich die Welt an?! Die sanften Höhen dieses blühenden Tales umschließen die meine! Und die Menschen? Da doch niemand ist als ich und du! Und die Vergangenheit? Sie gehört uns nicht mehr! Und die Zukunft? Nichts ist unser als dieser Frühlingsnacht zauberische Gegenwart! – –

Aus kurzem, schwerem Morgenschlaf erwachte ich müde und einsam. Wir trafen uns in der Rosenlaube, und die Spuren nächtlicher Kämpfe lagen auch auf seinen Zügen.

Der Telegraphenbote riß uns aus der Versunkenheit unserer trüben Stimmung. Eine Depesche von Heinrichs Rechtsanwalt: »Frau Brandt verlangt Schlüssel Ihrer Wohnung, kehrt nach Berlin zurück. Stimmung nach Mitteilung ihres Anwalts wesentlich verändert.« Das Telegramm war uns von Bozen nachgesandt worden und trug das Datum von vorgestern. »Ich muß nach Berlin – sofort –. Sie kann alles zerstören,« knirschte Heinrich, »und du – du Arme?!« »Zunächst begleite ich dich, – alles weitere besprechen wir unterwegs.«

In sausender Fahrt ging es bergab. Die Peitsche des Kutschers pfiff über die schweißtriefenden Pferde. Wir mußten den Schnellzug erreichen. Unterwegs bekam ich einen Herzkrampf. Als ich wieder zu mir kam, ratterte der Wagen über das Pflaster Trients, und Heinrichs angstentstelltes Gesicht beugte sich über mich. »Wirst du weiter können?« Ich nickte. Man hob mich in den Zug. Ich erholte mich soweit, um ruhig denken zu können. Dicht bei Brixen lag unter großen Nußbäumen ein kleines Dorf, Vahrn genannt; dort wollte ich bleiben, bis –. »Bis alles gut ist, mein armer Liebling,« flüsterte er; »wenn ich nur sicher wäre, daß du deiner Angst, deiner Aufregung Herr wirst, – für mich ist der Kampf ein Kinderspiel –« Der Triumph des Sieges blitzte schon aus seinen Augen. In Brixen blieben uns noch ein paar Stunden bis zum Abschied. Auf der Post fand sich ein Brief an mich von der Mutter mit einer Beilage [109] in verstellter Schrift: »Diesen anonymen Wisch bekam ich soeben. Ich habe ihn, gottlob, vor Hans verstecken können. Da aber Wiederholungen, womöglich direkt an ihn gerichtete, wahrscheinlich sind, und ich von Deinem Anstandsgefühl doch noch so viel erwarte, daß der Inhalt dieses Schriftstückes eine Verleumdung ist und Dr. Brandt nicht mit Dir reist, so ersuche ich Dich, zu veranlassen, daß er uns seine Anwesenheit in Berlin auf irgendeine Weise dokumentiert ...«

»Bereits morgen wird das geschehen,« sagte Heinrich, »du siehst, wie notwendig es ist, daß wir das Opfer dieser Trennung bringen. Es wird die letzte sein!«

Mit einem leisen Vorwurf sah ich ihn an: »Fast scheint's, als freutest du dich, daß du fort mußt!«

»Ich freue mich der Hindernisse, die sich uns in den Weg legen. Mir wäre bange geworden vor der Größe meines Glückes, wenn sein Besitz keine Opfer kosten würde.« Ich schämte mich meiner Trauer, und wir nahmen Abschied voneinander, fast als wäre es ein Willkommen.


Im Turmzimmer des Gasthofes zu Vahrn zog ich am selben Abend noch ein. Von meinem Fenster sah ich ins Schalderer Tal mit seinen dunkeln Fichten am klaren Bach. Stundenlang saß ich hier in wachen Träumen. Zuweilen folgte ich dem stillen Waldweg bis hinauf nach Schalders. Aber es mußte ein heller Tag sein, sonst fürchtete ich mich und sah, wie einst als Kind, hinter jedem Baum Gespenster lauern. Abends stieg ich nach Salern hinauf und saß zwischen dem alten Gemäuer der Ruine, bis breite Bergschatten das Tal von Brixen verhüllten und die Spitzen der Dolomiten fern am Horizont aufglühten wie verlöschende Fackeln.

Des Nachts aber kamen die finsteren Gedanken. Dann las ich wieder und wieder seine Briefe und suchte zwischen den [110] Zeilen, was er aus Schonung verschweigen mochte: »Rosalie macht Besuche bei allen Bekannten, und ich sehe an den Mienen der Leute, was sie erzählt –«, sie suchte Zeugen gegen mich; der Preis der Scheidung würde die Verhinderung unserer Heirat sein! »Sie hat neuerdings Freunde im Egidyschen Kreis« –, sie suchte eine Verbindung mit den Eltern, sie wird zum Vater gehen, ihm erzählen, – und er ertrüge es nicht, so nicht, – er würde Heinrich vor die Pistole fordern!

Noch geschah nichts dergleichen. Meines Vaters Briefe waren erregt, aber nur über die Ereignisse des Tages: die Verurteilung Hammersteins wegen Urkundenfälschung zum Zuchthaus, »ein Menetekel für den Adel, dessen junger Nachwuchs das goldene Kalb umtanzt und dabei unabweisbar dem Schwindel verfällt,« den Austritt Stöckers aus der konservativen Partei, »dieses tüchtigen Mannes, den die Sozialdemokraten mit ihrer verdammten Manier der Veröffentlichung von gestohlenen Privatbriefen auf dem Gewissen haben«, über die in seinen Jubiläumsreden stets deutlicher zutage tretenden Weltmachtgelüste des Kaisers, »die uns vom erprobten geraden Wege altpreußischer Sparsamkeit und dem bewußten Sichbescheiden auf den angestammten Boden und seine Bearbeitung in die Politik abenteuernder Seefahrer hineinreißt.« Ich mußte mein Erinnerungsvermögen immer erst mühsam auf die Welt außer mir einstellen, wenn seine Briefe Antwort erheischten.

Eines Morgens kam ein Expreßbrief von Heinrich, den ich in Erwartung erfüllter böser Träume zitternd öffnete. »Deine Liebe soll noch eine harte Probe bestehen,« schrieb er. »Rosalie will sich nur unter der Bedingung scheiden lassen, daß ich ihr mein ganzes Vermögen gebe. Es ist an sich nur klein, wie Du weißt, aber es ist alles. Wirst Du stark genug sein, einen Mann zu heiraten, der nichts besitzt? Der Dir nur seine Liebe in die Ehe mitbringt und seinen festen Willen, Dir trotz alledem ein glückliches Leben zu erkämpfen? ... Antworte mir nach reiflicher [111] Überlegung. Aus Deiner Hand würde ich jedes Geschick ohne Murren empfangen. Fürchte nichts von mir, wenn Du nein sagen mußt. Das Glück, das Deine Liebe mir schenkte, war schon so groß, daß ich Dir auch dann noch dankbar bleibe ...« Ich lächelte, von einem Alpdruck befreit; so viele Worte um solch eine Kleinigkeit! Nicht einen Augenblick des Besinnens gab es für mich. »Gib, was sie fordert,« telegraphierte ich. Aber noch immer schien sie nicht genug zu haben. Ein paar Tage später verlangte sie eine Summe, die Heinrichs Vermögen übertraf. Und als der Anwalt ihr vorhielt, daß Heinrich Wucherschulden machen müsse, wenn er ihren Wunsch erfüllen solle, sagte sie ruhig: »Mag sein, – aber sonst lasse ich die Scheidung nicht zu.« Sie war unersättlich. In meinen nächtlichen Träumen sah ich sie: groß, dunkel, mit der Schleppe, die wie eine Schlange hinter ihr her raschelte, und den weißen Raubtierhänden.


Der Tag der Entscheidung nahte. Am Vorabend fuhr ich nach München.

Die Stunden schlichen, die Zeiger an der Uhr wollten nicht von der Stelle rücken. Ich hörte, wie das Leben draußen verstummte, die letzten Pferde müde zum Stalle trotteten, das letzte Läuten der Straßenbahn verklang. Und ich hörte wieder, wie es erwachte, wie die ersten Marktwagen im Dämmerlicht grauenden Morgens über das Pflaster ratterten und die Tritte der Bäckerjungen straßenweit zu verfolgen waren; wie das Räderrollen allmählich anschwoll zu einem brausenden Ton, und kein einzelner Schritt unter den vielen mehr zu unterscheiden war. Dann kamen die Stunden, die über mein Schicksal entschieden. Sie waren wie lebendige Wesen, die mit meinem Herzen Fangball spielten.


[112] »Frei!« – Ich hatte das Telegramm dem Boten aus der Hand gerissen, – ich starrte das Wort an, bis mir die Augen übergingen. Im Zimmer ertrug ich's nicht mehr. Zu groß war mein Glück. Und selbst, als der Himmel sich über mich spannte, war mir's, als müßte es sein blaues Gewölbe zersprengen.

Zwei Tage mußte ich des Geliebten warten. »Nachdem Dein heimlicher Wunsch, Du emanzipationslüsterne Frau, eine freie Ehe zu schließen, an meinem reaktionären Eigensinn endgültig zuschanden wurde,« schrieb er neckend, »muß ich unserer altmodisch ordentlichen Verbindung auch eine bürgerliche Grundlage schaffen.«

Ich lief indessen in der Stadt umher und suchte, meinem übervollen Herzen Luft zu machen. Ein Bettler stand an der Ecke mit einem Plakat vor der Brust: »Ein armer Taubstummer bittet um eine milde Gabe«, ich drückte ihm ein Goldstück in die Hand, was ihn so verblüffte, daß er seiner Stummheit vergaß und einmal über das andere ein »Vergelt's Gott« stammelte. Vor allen Schaufenstern blieb ich stehen, in denen die Maisonne zärtlich über Spitzen und Schleier strich. Und das Schönste, was ich sah, war nur gerade schön genug, um mich für ihn zu schmücken.

Meines Lebens hohe Zeit stand vor der Türe; königlich sollte sie empfangen werden. Niemand durfte ihr begegnen, der Trauergewänder trug. Keines Menschen Träne durfte den Willkommtrunk verbittern, mit dem ich sie begrüßen wollte. Und im geschliffenen Kristall des Pokals sollte sich nur die Sonne spiegeln.

Der Gedanke an die Eltern krampfte mir das Herz zusammen. Ich sah sie in der dunkeln Wohnung hinter den schweren Vorhängen, die immer an den Winter glauben ließen. Würde mein Glück hell genug sein, um hindurchzudringen? Ich fühlte, wie dumpf die Luft bei ihnen war. Würde mein Glück stark genug sein, sie zu zerstreuen?

[113] An einem hellen Morgen, über den der Himmel leuchtete wie ein geheimnisvoll gleißender Opal, trug ich ein weißes Kleid und Rosen im Gürtel, die lauter Sonnenlicht getrunken hatten und die Blütenköpfe senkten, schwer von Schönheit. Ich wartete des Geliebten. Durch die vielen Scheiben der Bahnhofshalle funkelte und sprühte das Morgenlicht und malte tanzend helle Flecke auf den Asphalt. Wie blasse Mondscheiben, wenn der Tag noch herrscht, standen die großen, runden Bogenlampen über dem hastenden Leben. Hin und her strömten bunte Menschenschwärme. Reisefieber, das in blaue Fernen treibt, sorgender Ernst, der der Tagesarbeit entgegenstrebt, bange Angst, die vor der Fremde zittert, malten sich in den vielen Gesichtern. Die Züge brachten und empfingen sie in unaufhörlichem Wechsel. Ich allein stand in der Flut ganz still, die Augen auf das helle riesige Bogenrund gerichtet, in das die großen schwarzen Schlangen fauchend untertauchten, und aus dem sie, die welterobernden Ungeheuer, brausend hervorquollen. Endlich! Ein schriller Pfiff aus einer Lokomotive, die ihre mächtigen, blanken Glieder majestätisch hereinwälzte, zwei zischende Garben weißer Wasserdämpfe –, sie stand. Lauter Schatten liefen und drängten an mir vorüber, ich sah nur ihn, – und er zog mich in die Arme, ganz fest –, alle Rosen fielen mir aus dem Gürtel und streuten ihre Blätter um uns, glutrote ...


»Und unsere Hochzeit, mein Lieb, wo soll sie sein?« »Irgendwo zwischen hohen Bergen, im Walde, wo der Dompfaff uns traut –«

»Und wann, – wann?« heiß flüsterte seine Stimme an meinem Ohr.
»Still muß es um uns sein, ganz still, dann wird die Stunde kommen, der wir gehorchen müssen ...«

[114] Wir fuhren nach Augsburg zu Tante Klothilde, meines Vaters Schwester. Vielleicht, daß sie sich für uns gewinnen ließ, daß ihr Einfluß den Vater beruhigen könnte. Am Bahnhof trennten wir uns, er ging ins Hotel, mich führte ihr Wagen durch das alte schmiedeeiserne Tor vor das schöne Haus mitten im blühenden Garten. Mit ungewohnter Zärtlichkeit empfing sie mich: »Du hast mir etwas zu sagen, Kind? Fürchte dich nicht –, du weißt, ich habe viel an dir gut zu machen.« Ich fürchtete mich doch, – aber nicht vor ihr. Wenn sie mich verdammte, so wußte ich: das Herz würde ihr darum nicht bluten. Um den Vater nur bangte mir, wenn sie die Verständigung nicht würde herbeiführen wollen. Ich erzählte, daß ich verlobt sei. Ich verschwieg nicht, daß er sich hatte scheiden lassen, – um meinetwillen. Aber von der ersten Ehe erzählte ich nichts, und nichts von dem Kinde, das vor wenigen Monden erst geboren worden war. Ich bekannte ehrlich, daß er, wie ich, Sozialdemokrat von Gesinnung sei, aber ich betonte, daß seine Tätigkeit allein auf neutralem wissenschaftlichem Gebiete liege. Und als sie die Frage stellte, die, wie ich wußte, für sie von ausschlaggebender Bedeutung war: »In welcher Lage ist er?« – da log ich: »In der besten –«. Was ging das alles die anderen an?! Mein Leben war es, für das ich allein die Verantwortung trug. Nur dem Vater wollt' ich es leicht machen, und die Mutter sollte sich nicht grämen, und mein blondes Schwesterchen sollte nicht weinen!

Heinrich wurde zum Essen geladen. Seine ruhige, fast hochmütige Zurückhaltung der »Frau Baronin« gegenüber imponierte ihr. Sie schrieb noch am Abend einen langen Brief an den Vater. Und am nächsten Mittag kam seine telegraphische Antwort: »Tief gerührt über die Liebe, mit der du Alix in deinen Schutz nimmst, versage ich ihr nicht den Segen ihrer schmerzbewegten Eltern.«

Heinrich reiste nach München zurück, – es wäre ja nicht [115] passend gewesen, ein Brautpaar beieinander zu lassen! – ich blieb noch, um in ein paar Tagen mit Freunden, – wie ich vorgab, – nach Tirol zu gehen. Inzwischen kamen die Briefe der Eltern. Von der Mutter zuerst. Sehr liebevoll, aber doch voller Sorge. »Ich danke Gott und der lieben Klothilde,« schrieb sie, »daß Dein Vater die große unerwartete Sache so aufnahm und ruhig ist, trotzdem ihm alles furchtbar schwer wird und er noch nicht imstande ist, an Dich zu schreiben. Wenn nur seine Gesundheit aushält, um die ich oft sehr besorgt bin, besonders bei so großen Erschütterungen ... Ilschen hat sich reizend benommen; ihre kindliche, zärtliche Art, ihrem Papa alles recht gut und schön darzustellen, ihre Bitten und Tränen haben ihn tief gerührt ... Um Deines Vaters willen bitte ich Dich, Deine Verlobung wenigstens so lange geheimzuhalten, bis er bei Klothilde in Grainau ist, die ihn so freundlich einlud und ihn am leichtesten wird beruhigen können. Auf diese Weise entgeht er am besten dem Zeitungsklatsch, an dem es wohl leider nicht fehlen wird ... Mir ist das Herz so übervoll, daß ich keine Worte finde. Gott führe alles zum Besten ...« Und dann kam der erste Brief des Vaters, aus dem ich erfuhr, daß er wußte, was ich ihm schonend verschwiegen hatte. »Wenn Du älter geworden sein wirst,« hieß es darin, »so wirst Du verstehen, daß ich nicht Dein Glück stören will, sondern nur mit der Erfahrung eines Mannes, der am Ende seines Lebens steht, da kein Glück sehe, wo Du seinen Gipfel glaubst erstiegen zu haben ... Dr. Brandt mußte bei mir und Mama zuerst um die Erlaubnis zur Verbindung mit Dir nachsuchen, es mußten mir ganz klar die äußeren Verhältnisse dargetan werden, die zur Scheidung führten, und die Lebenslage, die Dr. Brandt Dir bietet. Von alledem ist nichts geschehen, und ich bin und bleibe der vor Gott und den Menschen für Dich verantwortliche Vater; auf mir, Mama, Ilse bleibt jeder öffentliche Skandal sitzen. Sage selber, wie soll ich Vertrauen zu einem Manne haben, der zweimal geschieden [116] ist? Ich kenne die Gründe nicht, kann also nur bei meinem theoretischen Urteile bleiben, daß es ihm zweimal nicht gelungen ist, seine ihm ›bis der Tod uns trennt‹ angetraute Frau an sich zu fesseln. Es kommt hinzu, daß selbst roheste Naturen Pietät dafür haben, wenn dem Manne eben von seiner Frau ein Kind geschenkt worden ist. Diesen Augenblick zur Scheidung zu wählen, ist gewiß nicht feinfühlig. Meine Tochter ist mir zu schade, als daß ich ruhig zusehen könnte, wenn sie in solche Verhältnisse verwickelt wird ...«

Es entspann sich eine erregte Korrespondenz. Ich war viel zu empfindlich, besonders gegenüber Angriffen auf den Geliebten, als daß ich mich wenigstens äußerlich hätte beherrschen können. Mein strahlendes Glück hatte mich blind gemacht für die Welt, in der meine Eltern lebten und dachten. Ich empfand als bittere Kränkungen, was von ihrem Standpunkt aus sorgende Liebe war. »Ich begreife nicht, daß Du scheinbar gar nicht ahnst, wie schwer uns Deine Heirat werden muß,« schrieb Mama in Beantwortung eines meiner Briefe, »willst Du denn durchaus nicht die Wirklichkeit sehen? Muß ich ganz deutlich werden und Dir sagen, wie selbst Dir wohlwollende Menschen über Dich den Kopf schütteln? Du ahnst wohl gar nicht, was und wie man über Euch spricht! Und jetzt erwähnst Du wie etwas Selbstverständliches, daß Ihr Euch hier in Berlin wollt trauen lassen. Ich finde den Gedanken unglaublich. Denke doch nur an das Aufsehen, und was das für ein Licht auf uns alle werfen würde! Wir wollen der Welt gegenüber betonen, daß Du mit unserem Segen heiratest –, hier würde nicht einmal unser Pfarrer, der so streng über Scheidungen denkt, Euch trauen wollen ... Heiratet in irgendeinem stillen Ort Süddeutschlands, wohin ich und Ilse zur Trauung kommen werden, und überlegt vor allem, ob es nicht besser wäre, wenn Ihr Euch dann fern von Berlin niederlaßt? Für alle Teile würde es besser sein, solange der gemeine Klatsch über Euch nicht verstummt ist. Ich habe auch [117] an Deinen armen Vater zu denken, den Du ganz zu vergessen scheinst, und dem jede neue Aufregung erspart werden muß ...«

Ich erwähnte in meiner Antwort der Schwierigkeiten, die eine Heirat an anderem Orte bereiten würde. Wir hatten längst beschlossen, uns ohne alles Aufsehen trauen zu lassen und gehofft, daß die Eltern angesichts der vollzogenen Tatsache sich um ihr Was und Wie nicht kümmern würden. Im nächsten Brief meiner Mutter schrieb sie: »Du erwähnst nur der standesamtlichen Schwierigkeiten, also wollt Ihr wohl die Kirche umgehen, – wenn Du mir das noch antust, dann wäre es besser, wir sehen uns nie wieder, denn das kann ich nicht überwinden, das würde ich nie verzeihen, und Vater, Schwester und Tante auch nicht! Bedenket wohl, was Ihr damit tut: Ihr gebt unseren Beziehungen den Todesstoß ...«

Ich war schon wieder abgereist, als mir in Innsbruck Berliner Zeitungen in die Hände fielen. Sie brachten mit mehr oder weniger hämischen Randbemerkungen die Mitteilung von Heinrichs Scheidung und meiner Verlobung. Und gleich darauf kam ein Brief des Vaters: »Was zu erwarten war, ist geschehen: alle Zeitungen beschäftigen sich mit Dir und ziehen meinen guten Namen in die Skandalgeschichte meiner Tochter. Sie sagen, daß Du Dich nun ganz der Sozialdemokratie in die Arme geworfen hast ... Du nahmst die Gewohnheit an, bei Deinen Handlungen nie an Deine Eltern, nie an Deine Schwester zu denken. Trotzdem bleibst Du unser Kind, und wir tragen an Dir mit, gleichgültig welches die Bürde ist, die Du uns auferlegst. Wenn eine Tochter frank und frei erklärt, sie gehöre zur Sozialdemokratie, so bleibt an den Eltern etwas hängen. Ich bin alt und gebrechlich, meine Tage sind gezählt, aber ich bin notwendig für Deine Mutter und Deine Schwester. Unehre jedoch ertrage ich nicht; wenn man mich ehrengerichtlich belangt, wegen Deiner Beziehungen zu einer staatsvernichtenden Partei, so mag man mich begraben. Daß die Sozialdemokratie es jetzt [118] freudig ausbeutet, wenn die adlige Tochter eines allgemein bekannten Generals sich zu ihr bekennt, das begreife ich, es ist ihr Vorteil. Wer ein einziges Mal diese gemein aussehenden Leute im Reichstage gesehen hat und sich vergegenwärtigt, daß diese Rotte unheimlicher Kreaturen von den Pfennigen der Arbeiter sich mästet, die um so reichlicher fließen, je mehr alles in den Schmutz getreten wird, was uns heilig ist, der muß am Rande der Verzweiflung stehen, wenn er die eigene Tochter unter ihnen weiß ...« Ich antwortete nicht. Wie viel besser wäre der offene Bruch gewesen, als daß ich, vom Verstande unkontrollierten Gefühlen hingegeben, eine Brücke über Unüberbrückbares zu schlagen versucht hatte. Ich hatte nicht wehe tun wollen –, litten die Eltern jetzt nicht mehr, wo sie mich von schleichender Vergiftung befallen glaubten, als wenn ich ihnen ganz gestorben wäre?

Am Morgen meines Geburtstages erwartete ich den Geliebten. Stille Wehmut dämpfte die Freude, mit der ich Heinrich empfing. Vor lauter Glück bemerkte er meine Stimmung nicht. »Ich bringe dir ein schönes Geburtstagsgeschenk,« rief er, mich zärtlich umarmend. »Herr Charles Hall, der Deutschamerikaner, von dessen sozialpolitischen Interessen ich dir oft erzählte, hat sich bereit erklärt, meine Zeitschrift zu unterstützen. Siehst du, nun hab' ich auch das durchgesetzt: die bürgerliche Grundlage unserer gut bürgerlichen Ehe! – Dürfen wir nun nicht Hochzeit feiern?!« fügte er leiser hinzu. Ich schüttelte den Kopf und hing mich fest an seinen Arm: »Laß mich erst wieder froh werden, mein Heinz!«


An einem regenfeuchten Julitag kamen wir nach St. Jodok, einem kleinen Bergnest, das die Brennerbahn fauchend umkreist. »Morgen fruh scheint d' Sunn,« versicherte der Führer, mit dem wir über unsere Pläne verhandelten, und so beschlossen wir, noch am Nachmittag zur Geraerhütte zu gehen. Es war [119] ein einförmig düsterer Weg durch die Wiesen des Valser Tales mit ihren zahllosen braunen Heuschobern, auf die der Nebel tief hinunterhing, und dann die Anhöhe hinan auf steinigem Pfad, von schwarzgrauen Bergen umgeben, deren Gipfel sich in den Wolken verloren. Und in der Nacht tobte der Wind um die Holzhütte, und der Regen klatschte an die kleinen Fenster, daß ich mich fröstelnd in die Decken hüllte und eine undurchdringliche Finsternis noch vor mir zu haben meinte, als der Führer morgens an die Türe pochte. »Schön wird's,« sagte er mit unerschütterlicher Sicherheit. Wir traten hinaus, dicht vermummt, wie zu einer Winterreise. Fast wäre ich schwindelnd zurückgewichen vor dem Bilde, das die flackernde Laterne unsicher beleuchtete: wie auf einer Insel im Wolkenmeer standen wir. Unten im Tal lagen die Nebel dicht geballt, nur hie und da streckte es sich aus ihnen hervor wie lange schwarze Arme, die, kaum daß sie unsere Höhe erreichten, verschwanden wie Gespenster beim Glockenschlag. Wir stiegen aufwärts, Schritt vor Schritt, lange Serpentinen bis zum Alpeiner Ferner. Frischgefallener Schnee deckte ihn wie ein Leichentuch, nur hie und da glänzte das Eis hervor in tiefen, dunkelgrünen Spalten, – geheimnisvoll lockende Gräber. Kein Leben ringsum; selbst der Sturm war verstummt, unhörbar versanken unsere Füße im Schnee. Mir grauste. War es nicht das Reich des Todes, das wir betreten hatten?

Da begann der Himmel über uns sich rosig zu färben; noch einmal sah ich hinab in das Nebelmeer der Tiefe, dann stieg ich, so rasch meine Füße mich tragen konnten, um die Höhe zu erreichen, wenn die Sonne kam.

Und sie war da. Glühend in junger Liebe, als küsse sie die Erde zum erstenmal. In der heißen Umarmung ihrer Strahlen ward die keusche Braut zum Weibe, das sich dem Geliebten schrankenlos hingibt. Sie warf die dunkeln Schleier von sich, in die sie sich eben noch scheu gehüllt hatte, und auch die letzten [120] weißen duftigen Hüllen zerriß sie. In ihrer prangenden Schöne stand sie vor ihm, die schimmernde weiße Stirn stolz gen Himmel gehoben, den schneeigen Busen rosig überhaucht von dem Gruß dessen, der sie erlöste.

Wir standen ganz still und schauten uns an und lasen einander die Gedanken von den stummen Lippen. Auf dem Weg durch die Nacht und empor bis hierher, hatten wir die Vergangenheit noch einmal durchlebt, zusammengedrängt in wenige Stunden. Nun aber war es vorüber. Der Gipfel war unser. Und über das Schneefeld hinab, der Sonne zu, lag eingebettet in grüne Matten ein kleines, helles Haus. Mit dem Bergstock, dessen Spitzen rote Alpenrosen schmückten und weiße Edelweißsterne, wies ich hinab: »Dort will ich Hochzeit halten,« flüsterte ich. Da hob mich der Liebste jubelnd hoch empor, und miteinander sausten wir über den Schnee in die Tiefe.

»Arg verliabt san's,« brummte der Führer gutmütig, als wir aufatmend unten standen.

Zitherspiel und Gesang empfing uns in der Dominikushütte. Ein paar junge Männer, Studenten mit blondem Kraushaar und blitzenden Augen, saßen um den Tisch, und ihre Stimmen füllten den Raum mit lauter Frohsinn. Seil, Steigeisen und Eispickel lagen neben ihnen; die verstaubten Stiefel und die braunen Gesichter bewiesen: sie waren echte Höheneroberer. Solche Söhne will ich haben –, zog es mir durch den Sinn, als spräche es aus unbekannter Tiefe meines Wesens.

Feierlich, mit Millionen goldenen Sternen am Himmel senkte sich die Nacht in das Tal. Von Wiesen und Wäldern ein starker Duft füllte unsre braune Kammer. Und leise Winde, die von den Gipfeln kamen und noch keinen Staub getragen hatten, flüsterten in den Fichten vor dem Fenster. Da bin ich sein Weib geworden ...

[121]
5. Kapitel
Fünftes Kapitel

Warme Augustsonne flutete durch alle Zimmer und brütete unten in gewitterschwangerer Hitze auf den jungen Anlagen des Lützowplatzes. Unruhig wanderte ich von einem Raum in den anderen, rückte auf dem mächtigen Doppelschreibtisch, den wir uns zu gemeinsamer Arbeit hatten machen lassen, die Bilder der beiden Buben, die nun meine Stiefsöhne waren, noch ein wenig in den Vordergrund, ging in ihr Zimmer mit dem blumengeschmückten Balkon, von dem aus der Blick geradeaus weit über die dichtbelaubten Bäume am Kanal schweifen konnte und rechts die Straße hinauf bis in die grüne Tiefe des Tiergartens, strich mechanisch die Bettdecken glatt und steckte den Kanarienvögeln, mit denen ich die Kinder überraschen wollte, ein paar Kuchenkrümel zu, die ich nebenan vom reichbesetzten Vespertisch geholt hatte. Immer wieder zog ich die Uhr: gleich mußten sie kommen, schon eine Stunde fast war Heinrich fort, um sie am Anhalter Bahnhof in Empfang zu nehmen. Ich lief durch unser Schlafzimmer mit seinen hellen Möbeln und meergrünen Vorhängen auf die breite Loggia hinaus: von hier würde ich sie zuerst entdecken, wenn sie vom Lützowufer auf den Platz einbiegen würden. Ich musterte erwartungsvoll alle Men schen. Von der luftigen Höhe meines vierten Stockes glichen sie aufgezogenen Puppen, wie sie die Händler um Weihnachten auf dem Asphalt laufen lassen. Und der Herkules auf der Kanalbrücke sah wie ein Knabe aus, der mit seinem Pudel spielt.

Wehte dort nicht jemand grüßend mit einem weißen Tuch? Richtig: es war der kleine, schwarze Hans, der dem Vater und [122] dem Bruder voranlief. Ich hatte doch rechtes Herzklopfen. »Du wirst sie lieb haben, meine Kinder,« hatte Heinrich gesagt, ehe er ging. Und mein »Ja« war aus vollem Herzen gekommen. Nun aber war mir bang. Sie waren bei ihrer Mutter gewesen –, würden sie der jungen Frau ihres Vaters nun nicht wie einer Feindin begegnen? Würde all meine Liebe, die ich ihnen entgegenbrachte, weil sie Heinrichs Söhne waren, ihr Mißtrauen besiegen können?

Sie stürmten die Treppe hinauf. »Fein, daß du jetzt die Mama bist!« rief Wölfchen. Hans sah mich nur groß an und kramte in seinem Rucksack nach einem halbverwelkten Alpenrosensträußchen, das er mir mitgebracht hatte. »Ihr müßt recht brav sein, damit ihr so eine gute Mama verdient,« sagte Heinrich. Ich warf ihm einen flehenden Blick zu. Er sollte mich nicht loben, – jetzt, da sie von der eigenen Mutter kamen. Aber ich hatte ihnen wohl tiefere Empfindungen angedichtet, als sie besaßen. Sie waren vergnügt, selbst Hans wurde gesprächig; und als ich sie zu Bett brachte, waren sie ganz von selbst zärtlich zu mir geworden.

»Ich danke dir, Alix,« sagte Heinrich mit warmer Betonung. »Noch hast du zum Dank keine Ursache,« antwortete ich. Mir war seltsam beklommen zumute.

Als wir schlafen gingen, öffnete ich gedankenlos die Tür zum Zimmer der Kinder, – es hatte mir in den acht Tagen seit unserem Einzug als Ankleideraum gedient –, erschrocken fuhr ich zurück: »Bist du's, Mutter?« rief eine schlaftrunkene Stimme. Ganz leise zog ich die Türe wieder ins Schloß; auf Zehenspitzen schlich ich ins Bett. »Liebste – Einzigste!« flüsterte Heinrich und zog mich in seine Arme. Noch waren wir in den Flitterwochen unserer jungen Ehe, und uns war, als ob jeder Tag und jede Nacht uns einander aufs neue schenkte. Heute aber wehrte ich dem Geliebten mit einem ängstlichen Blick auf die Tür, – kaum daß ich seinen Kuß zu erwidern wagte. [123] Wir waren nicht mehr allein. Zehnjährige Knaben sind hellhörig.

Am nächsten Morgen ging ich mit ihnen in die Stadt. Ich hatte mich überzeugt, daß sie ganz neu eingekleidet werden mußten, auch die Schulbücher galt es anzuschaffen. In recht gedrückter Stimmung kam ich nach Hause; die Einkäufe hatten ein großes Loch in mein Portemonnaie gerissen. Siebenzig Mark, – das war der ganze Rest meiner Erbschaft; auf unsere Reisen, auf die Wohnungseinrichtung war sie draufgegangen; Heinrich hatte schließlich auch noch den ganzen Haushalt der geschiedenen Frau mitgegeben, und es war nun nötig geworden, alles Fehlende zu ersetzen. Gewiß: ich hätte weniger ausgeben können –; ich hatte an nichts anderes gedacht, als unserer Liebe ein Heim zu schaffen, das ihrer würdig war. Glückselig hatten wir in den Tag hineingelebt; nun erst schien das Alltagsleben anzufangen, ganz nüchtern, ganz prosaisch, mit seinen täglichen kleinen Forderungen und seinen persönlichen Sorgen, in deren Schwüle der Altruismus so leicht verdorrt und der Egoismus üppig emporwuchert. Mir sank der Mut: wie würde Heinrich, der, wie es schien, an die Unerschöpflichkeit meiner Kasse ebenso fest geglaubt hatte wie ich, die unerwartete Nachricht aufnehmen? Ich war bei Tisch, – dem ersten Mittag zu Hause, wir hatten bis dahin wie lustige Studenten stets irgendwo draußen gegessen, – nicht gerade redselig. Gut, daß die Buben so viel zu erzählen wußten!

Als wir uns am Schreibtisch allein gegenübersaßen, Korrekturen und Manuskripte vor uns, bekannte ich Heinrich meine Entdeckung. Er sah mich ganz entgeistert an. »Aber das ist doch nicht möglich!« sagte er schließlich und strich sich mit der Hand über die heiße Stirn. »Du hast dich bestehlen und betrügen lassen –«, fuhr er dann los mit einem Ausdruck und einer Stimme, die ihn mir vollkommen fremd erscheinen ließen. Entsetzt starrte ich ihn an: so hatte mein Vater ausgesehen, wenn [124] ich vor dem Ausbruch seines Zorns verängstigt aus dem Zimmer entfloh. Mir stürzten die Tränen aus den Augen. »Und nun weinst du auch noch, – als ob damit geholfen wäre –« rief Heinrich aufgeregt. Ich drückte mein Taschentuch vor die Augen, stand auf und riegelte geräuschvoll die Schlafzimmertür hinter mir zu. Ich hörte, wie er die Entreetür krachend ins Schloß warf. Es war die erste, ernste Differenz in unserer Ehe. Aber schon als ich ihn mit langen Schritten unten über den Lützowplatz gehen sah, war mein Kummer verflogen. Ich hätte ihn, ohne Rücksicht auf die Verwunderung der Menschen, zurückgerufen, wenn meine Stimme ihn erreicht haben würde. Nun stand ich weit hinausgelehnt auf der Loggia und winkte mit dem Tuch, das noch feucht von meinen Tränen war. Mitten auf dem Platz stand eine alte Frau mit einem Korb voll Rosen. Seine Schritte verlangsamten sich, als er in ihre Nähe kam. Zögernd ging er an ihr vorüber. Dann aber drehte er um, ganz rasch, als habe er etwas sehr Wichtiges vergessen; ich sah, wie er der alten Frau alle Rosen aus dem Korbe nahm, und den Weg hastig zurückging, den er gekommen war. In diesem Augenblick hob er den Kopf und sah mich. Er winkte mit der Hand voll Blumen. Ich lief die Treppe hinab, ihm entgegen. Wir sanken einander in die Arme. »Verzeih mir, Geliebte, verzeih!« flüsterte er. »Was sollte ich dir zu verzeihen haben ...!«

Noch am Abend fuhr er nach Frankfurt, um Hall um einen Vorschuß zu bitten; vierundzwanzig Stunden später depeschierte er: »Anstandslos bewilligt. Sei ohne Sorgen.«


»Nun müssen wir doch wohl ein paar Besuche machen,« meinte Heinrich seufzend, ein paar Tage später, »bei meinem Bruder, bei August, bei dem Alten –«

Wir gingen zuerst zum »Vorwärts« in die Beuthstraße, in dessen Redaktion mein Schwager tätig war. Dunkle, schmierige [125] Steintreppen führten hinauf. Nur spärlich drang das Tageslicht in die Redaktionsräume, vor deren Fenstern ein großes Fabrikgebäude mit dem Rattern seiner Maschinen und den grauen Gestalten, die sich eilig hin- und herbewegten, als ständiges Menetekel für die Vertreter der Arbeiterschaft drüben aufgerichtet schien. Zwischen Haufen von Büchern und Zeitungen saß mein Schwager, blaß und abgespannt.

Er war immer überarbeitet, denn zu seiner redaktionellen Tätigkeit lastete er sich stets noch tausend andere Dinge auf.

»Du interessierst dich ja für die Konfektionsarbeiter,« wandte er sich an mich, »Reinhard und ich bereiten eine Enquete vor. Man muß die Öffentlichkeit immer wieder mit der Nase auf die Dinge stoßen. Berlepsch ist abgesägt, die Konfektionäre haben ihr Wort gebrochen, ohne daß ein Hahn danach krähte, jetzt gilt's, wieder Spektakel machen, sonst ist's ganz und gar aus mit der Sozialreform.« Ich sicherte ihm freudig meine Hilfe zu. Und mit jener nervösen Unruhe, die stets das Zeichen geistiger Überreiztheit ist, schnitt er in der nächsten halben Stunde ein Dutzend anderer Gesprächsthemen an, um schließlich von seinem Bruder bei der Frage des Vorwärtskonflikts festgehalten zu werden, der gerade die Gemüter in der Partei erhitzte und die Gegner sehr beschäftigte, die überall hoffnungsvoll Unfrieden witterten.

»Ihr habt unrecht von Anfang bis zu Ende,« erklärte Heinrich kategorisch. »Zuerst in der Ironisierung der Quarckschen Vorschläge und dann in der unwürdigen Behandlung des alten Liebknecht.« »Was verstehst du davon?« brummte Adolf.

»Erlaube: von Sozialpolitik verstehe ich ebenso viel wie du. Und Quarcks Vorschläge liefen darauf hinaus, den Gewerkschaften eine intensivere Beschäftigung mit sozialpolitischen Fragen ans Herz zu legen. Darin hat er recht. Sie sind wichtiger als leichtsinnig begonnene Streiks.«

»Die Regierung würde auf unsere schönsten sozialpolitischen [126] Kongresse pfeifen, und die Folge wäre nur eine Verwischung des Klassenkampfcharakters der Bewegung« – Adolf redete sich in steigende Erregung hinein; jede Unterhaltung schien sich in der Familie Brandt zum Streit auszuwachsen; – »selbst einen verlorenen Streik, der sie trotz alledem stärkt, weil er die Erbitterung steigert, ziehe ich einem Liebäugeln mit bürgerlicher Sozialreformerei vor. Und was den Alten betrifft, – ich möchte sehen, was du tätest, wenn du mit ihm in der Redaktion säßest!« – »Mich zanken – höchst wahrscheinlich! Aber nicht vor der Öffentlichkeit!« Ich hielt den Augenblick für kritisch und stand auf. »Übrigens habe ich noch was für dich, Schwägerin,« sagte Adolf und begann seine sämtlichen mit Papieren vollgestopften Taschen vor uns auszuleeren. Endlich fand sich der Zeitungsausschnitt, den er suchte.

Ich las: »Zur Palastrevolution im ›Vorwärts‹ –cherchez la femme! Wir erhalten von authentischer Seite folgende interessante Aufklärung über die tieferen Beweggründe der Empörung der Vorwärtsredaktion gegen ihren Chef, Wilhelm Liebknecht. Frau von Glyzcinski, alias Fräulein Alix von Kleve, heiratete kürzlich Dr. Brandt, einen der Vorwärtsredakteure. Ihr brennender Ehrgeiz, der das Ziel verfolgt, das Zentralorgan der Partei in die Hand zu bekommen, ist es, der die Intrige anzettelte. Eine Dynastie Brandt dürfte die Dynastie Liebknecht nunmehr ablösen.« »Verlogenes Pack!« knirschte Heinrich. Adolf lachte. »Beruhige dich,« sagte er zu ihm, »wir bringen heute schon eine Berichtigung –« »Und wir gehen sofort zu Liebknechts, um der Geschichte die Spitze abzubrechen.«

Adolf hielt uns noch einmal zurück: »Ich rate euch dringend, den Besuch zu unterlassen. Der Alte kümmert sich freilich um keinerlei Geklatsch, aber Frau Natalie erzählt in allen Parteikaffeekränzchen Räubergeschichten über euch, die sie von deiner geschiedenen Frau gehört haben will. Sie ist euch noch feindseliger gesinnt als Leo.« »Leo?!« wiederholte Heinrich überrascht. [127] So hieß jener Freund, auf dessen enthusiastische Schilderung hin er die Bekanntschaft Rosaliens gesucht hatte. »Das weißt du nicht?!« staunte Adolf. »Jedem, der es hören oder nicht hören will, zählt er haarklein deine Sünden auf: daß du Rosalie gezwungen habest, nach England zu gehen, um hier – na, sagen wir: ungestört zu sein, daß du sie selbst im Wochenbett nicht geschont, sondern ihr die Einwilligung zur Scheidung durch unaufhörliche Quälerei erpreßt hättest und sie, kaum daß sie aufstehen konnte, mit dem Säugling aus dem Hause getrieben hast.« Heinrich war außer sich. Einer seiner besten Freunde war Leo gewesen, und er verurteilte ihn, ohne ihn gehört zu haben!

Wir gingen schweigsam nach Hause. Auf dem Lützowplatz sah ich Frau Vanselow uns entgegenkommen. Sie bemerkte uns, stutzte und bog hastig in einen Nebenweg ein. Heinrich sah mich forschend an und zog, wie zum Schutz, meinen Arm durch den seinen. »Mach dir nichts draus, Schatz. Es ist alles Gesindel! Du stehst zu hoch, als daß es dich verletzen könnte.« – »Und dich?!« fragte ich und zwang mich zum Lächeln. Er biß sich die Lippen und schwieg.

Fast immer, wenn ich ausging, hatte ich ähnliche Begegnungen: Kein Zweifel, meine alten Gefährtinnen aus der bürgerlichen Frauenbewegung wollten mich nicht mehr kennen. Frau Schwabach ging mit hoch erhobenem Kopf vorüber, wenn sie mich sah, und ich erfuhr aus den Zeitungen von den Vorbereitungen zum internationalen Frauenkongreß, den einzuberufen ich im Frühjahr noch mit beschlossen hatte. Man lud mich zu keiner Sitzung mehr ein, es fehlte nur noch, daß man mir das Referat über die Arbeiterinnenfrage fortgenommen hätte, das mir seit Monaten übertragen worden war. Ich schrieb an Frau Morgenstern, um sie daran zu erinnern. Sie antwortete in sichtlicher Verlegenheit: »Wir glaubten nicht, daß Sie noch Wert darauf legten, geschieht es dennoch, so können wir Sie natürlich nicht hindern.«

[128] Nach all diesen Erfahrungen sah ich dem Besuch bei Bebels nicht ohne Herzklopfen entgegen, obwohl wir zu unserer Hochzeit ein Glückwunschschreiben erhalten hatten. Vielleicht war das nichts als eine Höflichkeit gewesen; ich fing an, mißtrauisch zu werden, und etwas wie Verbitterung bemächtigte sich meiner. Um so freudiger war ich überrascht, als die gute Frau Julie uns herzlich willkommen hieß. Vor Rührung und Dankbarkeit wäre ich ihr fast um den Hals gefallen. Und wenn ich in Bebel bisher den Vorkämpfer des Sozialismus bewundert hatte, – von dem Augenblick an, wo er mir mit einem freundlichen: »Nun sind Sie ganz die Unsere« kräftig die Hand schüttelte, verehrte ich ihn um seiner Menschlichkeit willen.

Ich beklagte mich über die Behandlung durch die vielen anderen, – selbst durch Parteigenossen. »Sie wundern sich noch, daß Ihre Geschichte so viel Staub aufgewirbelt hat?!« sagte Bebel. »Da kennen Sie unsere männlichen und weiblichen Philister schlecht! In der Theorie läßt man sich allerlei bieten, aber in der Praxis – nein, das geht doch nicht! Wo bliebe da die Moral!! Meine Frau und ich haben schon schwer für Sie kämpfen müssen –«

»So laß doch, August, – das erzählt man doch nicht!« wehrte Frau Julie errötend ab, während ich ihr dankbar die mütterlich-weiche Hand drückte.

»Warum denn nicht?« meinte er. »Es ist besser, Brandts sind orientiert, als daß sie täglich aufs neue unangenehm überrascht werden.«

»Ich hörte, daß Leo sich sehr feindselig benimmt?« fragte Heinrich.

»Und ob! Aber auch mit Singer habe ich mich schon herumgestritten, so daß er mich schließlich fragte, ob ich ihn für einen Philister hielte, was ich bejahte. Daß Frau Liebknecht gegen Sie beide Partei ergreift, war bei ihren Anschauungen gar nicht anders zu erwarten. Bei den Frauen müssen Sie sowieso [129] darauf gefaßt sein, daß sie von einem wahren horror ergriffen sind. Im Mittelalter hätten sie Sie als Hexe verbrannt, heute werden Sie von hundert Mäulern begeifert und auf hundert Federn gespießt.«

»Und da läßt sich gar nichts machen?« Meinem Mann schwollen die Adern an den Schläfen. »Warten Sie's ab, das ist der einzige Rat, den ich geben kann. In vier Wochen stürzen sich die Raubtiere auf irgendeinen anderen armen Piepmatz, der so vermessen ist, fliegen zu wollen.«

Frau Julie fragte nach meinen Eltern. Ich erzählte freimütig, was wir durchgemacht hatten. »Arme, junge Frau – arme, junge Frau,« wiederholte sie immer wieder und streichelte mir die Wange.

»Mach unsere Genossin nicht noch weicher, als sie ist,« sagte er – »Sie müßten statt dessen in Drachenblut baden! Aber eins wird Sie trösten: die Arbeit in der Partei. Damit werden Sie schließlich auch die bösesten Zungen zum Schweigen bringen.«

Wir schieden wie Freunde. Ich fühlte mich neu gekräftigt und voll Hoffnung. Als wir ein paar Tage später zu Bebels geladen wurden, sah ich diesem Ereignis mit erwartungsvoller Freude entgegen. Eine Gesellschaft freier Geister, die die höchsten Ideale der Menschheit vertreten – meine Sehnsucht, seit ich denken konnte, – würde sich bei ihnen zusammenfinden: unsere Gefährten auf dem Weg in die Zukunft.

Lautes Stimmengewirr schlug uns entgegen, als wir an jenem Abend über die gastliche Schwelle traten. Es verstummte jählings, sobald die Türe vor uns aufging. Sie haben eben von uns gesprochen, dachte ich unwillkürlich. Ich wurde vorgestellt und aufs Sofa gezogen. Auf dem Tisch davor stand eine blendende Petroleumlampe. Neben mir saß eine große, dicke Dame, die sich nicht anlehnen konnte, weil sie zu eng geschnürt war. Sie war selbstbewußt wie anerkannte Schönheiten, warf ihre braunen Augen siegessicher umher und behandelte mich sehr [130] gnädig. Ein Herr mit einem schwarzen Vollbart, der wie gut gewichste Stiefel glänzte, rückte ihr mit seinem Stuhl immer näher und schlug sich bei jedem Witz, den er erzählte, schallend auf die Schenkel. Er versuchte auch, mich ins Gespräch zu ziehen. »Sie sind ja, gottlob, auch eine vorurteilslose Frau,« sagte er und zwinkerte vertraulich mit den Augen. Ich wandte mich ostentativ zur anderen Seite den Damen zu, die Frau Bebel an den Tisch führte. Aber die Unterhaltung blieb an den oberflächlichsten Phrasen kleben. Dazwischen hörte ich mit halbem Ohr das Gespräch der beiden neben mir. Seine Witze wurden immer eindeutiger, in irgendeiner Friedrichstraßen-Bar mochte er sie nicht anders erzählen. Endlich ging's zu Tisch; ich hatte den Ehrenplatz neben Bebel. Man sprach über die lieben Mitmenschen genau wie bei den »sauren Möpsen« schrecklichen Angedenkens, die ich in den verschiedensten Garnisonen meines Vaters hatte mitmachen müssen, und an Stelle von Regiments- und Manövergeschichten über interne Parteiaffären. Da ich nichts von ihnen verstand, konnte ich die Gesellschaft um so mehr beobachten; die Damen waren sehr erhitzt, und wenn der Nachbar eine Bemerkung machte, kicherten sie unaufhörlich. Die Hausfrau ging von einem zum anderen, um zum Essen zu nötigen. Ich fing an, mich zu amüsieren, – nicht mit den Gästen, sondern über sie, – und schämte mich doch wieder, daß meine Beobachtung so kleinlich an lauter Äußerlichkeiten kleben blieb. Ich wußte doch von vornherein: hier waren keine Montmorencys. Aber so etwas wie eine Gesellschaft bei Madame Roland vor 89 hatte ich mir doch wohl vorgestellt.

Zwischen Fisch und Braten benutzte ich die Gelegenheit, um meines Nachbarn Ansicht über den bevorstehenden Frauenkongreß einzuholen. Eine Notiz in Wanda Orbins Zeitschrift hatte mir zu denken gegeben. »Die Genossinnen haben beschlossen, die Einladung zum Kongreß abzulehnen,« hieß es darin.

[131] »Ich kann Ihnen nur raten, sie ruhig anzunehmen, ohne Rücksicht darauf, wie Frau Wanda sich stellt,« sagte Bebel und warf mit einer lebhaften Bewegung die widerspenstigen Haare aus der Stirn. »Ich befinde mich mit ihr stets in kleinen Konflikten wegen der ungeschickten Taktik und der oft recht gehässigen Art, mit der sie die bürgerliche Frauenbewegung bekämpft. Sie käme mit einer sachlichen, ruhigen Darstellung viel weiter. Haben Sie zum Beispiel gelesen, was sie über die Resolutionen schrieb, die hier in vier großen Versammlungen zwischen der zweiten und dritten Lesung des Bürgerlichen Gesetzbuchs zur Annahme gelangten?«

Ich nickte: »Mich hat überhaupt gewundert, daß von seiten der sozialdemokratischen Frauen so wenig geschah. Das Bürgerliche Gesetzbuch hätte zu einer großen Protestbewegung Anlaß genug gegeben!«

»Sicherlich!« bekräftigte er, »und statt den gegebenen Anlaß zu benutzen, lehnte Frau Wanda den Anschluß an den Protest der bürgerlichen Damen ab –, nicht etwa wegen dessen, was darin steht, sondern wegen dessen, was nicht darin steht! Mich amüsiert der Vorgang besonders deshalb, weil ich selbst den Resolutionen, die Frau Vanselow mir schickte, ihre letzte Form gegeben habe.«

»Sie scheinen mir mehr von der bürgerlichen Frauenbewegung zu halten als ich, die ich aus ihr hervorging,« meinte ich lächelnd.

»Die Distanz verändert immer das Urteil,« antwortete er. »Ich mache mir aber keinerlei Illusionen, finde nur, daß es taktisch richtiger gewesen wäre, die Empörung der bürgerlichen Damen über die Haltung des Reichstags für uns auszunutzen, als sie so plump, wie Frau Wanda es tat, vor den Kopf zu stoßen. Die Frauen haben tatsächliche Fortschritte gemacht und sind mit ihren männlichen Parteigenossen, den Liberalen, nicht in einen Topf zu werfen.«

Ich erinnerte ihn an das erwachende Interesse, das sie seit dem Konfektionsarbeiterstreik für die Arbeiterinnenfrage an den [132] Tag legten. »Auch auf dem Kongreß wird sie im Verhältnis zu früheren Zeiten einen breiten Raum einnehmen.«

»Ein Verdienst Glyzcinskis und Ihrer Zeitschrift –, das werden Sie sich hoffentlich nicht verhehlen,« warf er ein. »Im übrigen ist das natürlich die schwächste Seite der Damen und wird es bleiben. Sie können ihnen ja darüber tüchtig die Leviten lesen. Mit Ausnahme der christlich-sozialen Frauen jüngerer Richtung verstehen sie nicht einen Deut von ihr.«

Christlich-sozial, – das war das Stichwort zur Verallgemeinerung des Gesprächs. Göhre hatte eben sein Pfarramt niedergelegt, Naumann plante eine Tageszeitung; die offene Trennung der Gruppe, die sich um ihn gebildet hatte, von der Stöckerpartei, war eine schon fast vollendete Tatsache. Man stritt mit steigender Lebhaftigkeit über ihre Aussichten, über die Bedeutung, die sie für die Sozialdemokratie haben könne.

»Nichts als ein Unterschlupf für die Möchtegern-und Kanndochnicht-Politiker; Offiziere ohne Armee, die mit den Jahren nach rechts abschwenken,« sagte der mit dem schwarzen Bart und zog ihn schmeichelnd durch kranke, blutleere Finger. »Es wird unsere Sache sein, ihnen die Entwicklung zu uns zu ermöglichen,« hörte ich Heinrichs Stimme. »Sie sind immer ein Ideologe gewesen, lieber Brandt,« antwortete ihm eine andere, »sollten wir uns um eine Handvoll Intellektueller die Beine ablaufen, wo Millionen Arbeiter noch nicht die unseren sind?!« »Gerade, um die Millionen zu gewinnen, brauchen wir eine solche Handvoll –,« entgegnete Heinrich.

»Dafür lassen Sie nur ruhig die Verhältnisse sorgen,« sagte Bebel lebhaft, »sie werden uns schneller, als ihr alle glaubt, die Massen zutreiben. Noch ein paar Jahre Flottenrummel, einige Reden von S. M ....«

»Und wir werden glücklich ein Dutzend Mandate mehr haben –, oder meinst du wirklich, wir sprängen dann schon mit beiden Beinen in den Zukunftsstaat?!« Der mit gutmütigem [133] Spott gesprochen und bisher fast immer geschwiegen hatte, war Ignaz Auer. Auf meine rasch entzündliche Begeisterung, die Bebels Worte ganz anders ergänzte, wirkten die seinen wie ein kalter Wasserstrahl. Anderen schien es ähnlich zu gehen, das Gespräch verlor seinen allgemeinen Charakter; man stand auf. Nach ein paar Höflichkeitsphrasen wurde der weibliche Teil der Gesellschaft in das Wohnzimmer genötigt; die Herren rückten mit ihren Zigarren um den Eßtisch zusammen, und durch die Tür klang ihre laute Unterhaltung. Bei uns drinnen sprach man von Fleischpreisen und Kochrezepten; keine der anwesenden Frauen schien in der Parteibewegung irgendeine aktive Rolle zu spielen. Fragen von allgemeinerem Interesse wurden nicht berührt. Nur die große, dicke Frau, deren Schönheit und Geist mir inzwischen irgendwer gepriesen hatte, stellte sich wie ein Inquisitor kerzengerade vor mich hin und fragte: »Wie denken Sie über Ibsen?« Die anderen richteten selten ein Wort an mich; im Hintergrund schienen sie über mich zu tuscheln, und ich fühlte ihre Blicke, die musternd auf mir ruhten.

Auf dem Heimweg konnte ich mir endlich Luft machen. »Das sind ja alles Philister –,« brach ich los, »vom Herrn Amtsrichter in Neu-Ruppin hätte ich nichts anderes erwartet.« Heinrich lachte.

»Glaubst du, die politischen Ideale könnten aus ihren Vertretern gewandte Salonhelden machen?«

»Das nicht. Aber freiere Menschen.«

»Darüber dürften Generationen vergehen. Die Gewohnheit ist wie eine Haut und läßt sich nicht auf einmal abziehen. Du mußt unsere Genossen bei der Arbeit kennen lernen, nicht beim Souper.«


Die erste Gelegenheit dazu bot sich bald. Adolf lud uns ein, der Sitzung der Gewerkschaftskommission beizuwohnen, in der die Vorschläge Dr. Quarcks erörtert werden sollten. In einem Lokal der Kommandantenstraße fand sie statt. Durch [134] die enge Kneipe, wo es nach schlechtem Fett und süßlichem Schnaps roch, und den regenfeuchten dunkeln Garten, wo ein paar verkümmerte Kastanien zwischen haushohen Mauern einen endlosen Todeskampf führten, ging es in die große, hölzerne Veranda, deren spärliche Gasflammen die dichtgedrängte Menge unruhig beleuchteten. Gegen hundert verschiedene Berufe waren durch ihre Delegierten vertreten, fast lauter ernste, ältere Männer im Sonntagsrock, die Zigarre zwischen den Lippen, den Bierkrug vor sich; nur zwei Frauen unter ihnen: Martha Bartels und Ida Wiemer. Sie sahen uns kommen. Aber während Martha Bartels den leeren Stuhl neben sich hastig aus der Reihe schob und meinen Gruß frostig und fremd erwiderte, kam uns Ida Wiemer freundlich entgegen und zog uns an ihren Tisch. »Haben Sie die Bartels gesehen?« flüsterte sie mir zu. »Sie hat den Moralkoller wie alle alten Jungfern.« Mühsam drängte sich Reinhard mit seinem steifen Bein durch die Reihen, um uns die Hand zu schütteln. »So kann ich Ihnen noch persönlich gratulieren,« sagte er herzlich, »und uns dazu, weil Sie nun ganz Genossin sind.«

Er war der Referent des Abends. Mit einer Schärfe, die mir die Wichtigkeit der Sache zu überschätzen schien, wandte er sich gegen die Vorschläge Quarcks. Erst allmählich hörte ich das Leitmotiv aus seiner Rede heraus: den Gewerkschaften die Beratung und Beschlußfassung sozialpolitischer Fragen überlassen, hieße den Frieden zwischen Gewerkschaft und Partei gefährden, hieße den Parteitagen, die sich bisher allein damit beschäftigt haben – »den Bedürfnissen und Interessen der deutschen Arbeiterklasse vollständig entsprechend« –, Sonderorganisationen gegenüberstellen, in die der Einfluß bürgerlicher Sozialreformer einzudringen imstande sein würde. Die folgende Diskussion verschärfte noch den Eindruck, den ich gewonnen hatte.

Es fielen harte Worte, vor denen ich erschrak, weil sie mir eine Vorahnung dessen gaben, was mir bevor stehen mochte. [135] »Ein Mensch, der in seiner bürgerlichen Existenz Fiasko gemacht hat, will uns, – lauter alte erprobte Gewerkschafter, – auf neue Wege führen,« sagte der eine unter dem Applaus der Anwesenden. »Erst soll er, wie jeder Arbeiter auch, in die Schule gehen, ehe er das Maul aufreißt.« – »Eine Sozialpolitik, wie Quarck sie empfiehlt, ohne Parteipolitik, ist nichts als jene Politik bürgerlicher Reformer, zu denen er im Grunde noch gehört,« rief ein anderer. »Wenn er mit seiner bescheidenen Parteistellung nicht zufrieden ist, dann hätte er lieber gleich sagen sollen: für einen so großen Mann wie mich muß eine Extrawurst gebraten werden, statt seine Wünsche hinter die Forderung eines Zentral-Gewerkschaftsbureaus zu verstecken,« meinte ein dritter Redner, dem die verbissene Wut aus dem roten Gesicht leuchtete. Erhob sich die Debatte über persönliche Gehässigkeiten hinaus, so stand auf der einen Seite die geschlossene Phalanx derer, die mit leidenschaftlichem Eifer den Nachdruck auf die Gewinnung der politischen Macht durch die Gesamtheit der Partei gelegt wissen wollten und den Gewerkschaften den internen Kampf um bessere Lohn- und Arbeitsverhältnisse als alleinige Aufgabe zuwiesen, auf der anderen Seite die sehr Wenigen, aus deren Worten die Unzufriedenheit mit der praktischen Gegenwartspolitik der Partei leise herausklang, und die vom Einfluß der Gewerkschaften auf die soziale Gesetzgebung ein Wiederaufleben der Sozialreform erhofften. Ganz nebenbei erwähnte auch jemand, daß unsere Vereinsgesetzgebung den Gewerkschaften aus der Beschäftigung mit Sozialpolitik einen Strick drehen und die Organisierung der Frauen unmöglich machen könnte. Keiner ging weiter auf diese Bemerkung ein, auch die Frauen schwiegen, ich war zu schüchtern, um in diesem Kreis für mein Geschlecht eine Lanze zu brechen. Mir schien dieser Grund ausschlaggebend, um die Vorschläge unausführbar zu finden.

Ich fühlte mehr, als daß ich verstand: unter diesen Männern, die so eifrig debattierten, die alle so selbstverständlich nur ein Ziel [136] im Auge hatten, das Wohl ihrer Klasse, schlummerten Gegensätze, die irgendwann und -wo an die Oberfläche würden treten müssen.

Wir gingen noch zusammen ins Café: Reinhard, der Schwager, die beiden Frauen und wir. Martha Bartels hatte sich erst durch Reinhards langes Zureden dazu bewegen lassen. »Wir müssen doch unsere Enquete besprechen,« hörte ich ihn noch sagen, als sie sich uns näherte. Ida Wiemer stieß mich mit dem Ellbogen an und schob dann vertraulich ihren Arm in den meinen: »Sie wissen doch: Genossin Bartels verbreitet, daß Sie nur, um einen Mann zu finden, in die Partei kamen.«

Das gab meinem Herzen einen Stich: Martha Bartels war fast die einzige, die die Motive meines Schrittes hätte richtig beurteilen müssen. Sie blieb steif und zurückhaltend und taute erst auf, als Adolf vorschlug, ein paar Frauenrechtlerinnen, die sich während des Streiks bewährt hatten, zur Arbeit heranzuziehen. »Niemals!« rief sie leidenschaftlich. »Wir werden ihnen doch nicht die Beziehungen zur Arbeiterschaft vermitteln, die sie nur für ihre Zwecke ausnutzen würden. Die Christlich-Sozialen vor allem gehen nur auf den Gimpelfang aus!« Es war, als ob ich Wanda Orbin sprechen hörte. Aber ich konnte nicht anders, als ihr recht geben. Halb mißbilligend, halb verwundert sah Frau Wiemer, die andrer Ansicht war, mich an, und beim Weggehen sagte sie mit einem gereizten Ton in der Stimme: »Sie stellen sich auf ihre Seite – nach allem, was ich Ihnen von ihr erzählt habe?!« Die Reihe, zu staunen, war jetzt an mir: »Hier handelt es sich um die Sache, – nicht um die Person!«

Auf der Heimfahrt fühlte ich mich plötzlich sehr unwohl. War es der Tabaksqualm, den ich nicht vertragen konnte, war es die feuchte Nachtluft, – ich kam nur schwer die steilen vier Treppen hinauf und warf mich angekleidet aufs Bett. Heinrich zündete das Nachtlämpchen an. Es glühte auf dem Tisch wie ein verirrter Stern, – und die meergrünen Wände waren wie ein [137] milder Sommerabendhimmel, auf den das rote Glas der Lampe rosige Wölkchen malte. Heinrich nahm mir die Schildpattkämme aus den Haaren –, mein Kopf wurde freier; er zog mir Schuhe und Strümpfe aus und rieb meine eiskalten Füße zwischen seinen Händen, von denen wohlige Wärme mir durch den ganzen Körper strömte. »Ist dir besser jetzt, mein Schatz?« fragte er besorgt mit dem weichsten Ton seiner Stimme. Ich sah ihn dankbar an –, dabei blieb mein Blick über seine Schulter hinweg an einem Bilde haften; ich hatte es selbst dorthin gehängt, ich wollte es immer vor Augen haben, ich hatte verlegen gelächelt, als Heinrich wissen wollte, warum. Und jetzt – in glückseligem Erschrecken preßte ich beide Hände aufs Herz –: glänzte nicht in den tiefen Dichteraugen des lockigen Ganymed von Watts ein Funken lebendigen Lebens? Ich sank in die Kissen zurück, Tränen strömten mir aus den Augen, – war's möglich, daß ich vor der Erfüllung meiner tiefsten Sehnsucht stand?!

Am nächsten Morgen kam die Ärztin. Sie lachte über die Erregung, mit der ich sofort und ganz sichere Auskunft von ihr haben wollte, und sagte nichts anderes als: »Vielleicht!« Ich klammerte mich an dies Vielleicht, ich drehte es jeden Tag hundertmal hin und her, ob es sich nicht doch in ein Gewiß verwandeln könnte. Allerhand gespenstische Vorstellungen quälten mich: als hätte die Frau, die mir hatte Platz machen müssen, eine geheimnisvolle Macht über meinen Schoß, als könnten ihre Raubtierhände das Fünkchen Leben zerdrücken. Mein Mann wurde heftig und schalt meine Torheit, wenn ich von meinen Ängsten sprach. So war ich denn ganz allein mit ihnen. Hätte ich nur eine Freundin, – oder eine Mutter –, dachte ich oft.

Um die Zeit kamen Mutter und Schwester aus Pirgallen zurück. »Ich muß Euch, ehe Hans wieder in Berlin ist, allein sprechen,« schrieb sie und kündigte ihren Besuch für denselben Tag an. Ich war nicht ganz ohne Furcht: sie hatte es doch wohl übel genommen, daß wir ihr Anerbieten, bei unserer Hochzeit [138] zugegen zu sein, immer wieder abgelehnt hatten. Zuerst würde sie darum ein bißchen steif sein, aber dann –, sie würde doch fühlen müssen, wie es um mich stand! Mit ausgestreckten Händen ging ich ihr entgegen, – ich sehnte mich nach einer Mutter! sie übersah sie, – vielleicht weil der Flur dunkel war. Und sie atmete rasch und war sehr rot, – vielleicht weil die Treppe sie überanstrengt hatte. Sie sah sich gar nicht um in unserem Zimmer, – und ich hatte es ihr zum Empfang mit lauter leuchtenden Herbstblumen geschmückt.

»Willst du nicht ablegen?« fragte ich zaghaft.

»Nein,« antwortete sie schroff und setzte sich auf den äußersten Rand des großen Lehnstuhls, der sonst selbst den Fremdesten zwang, sich behaglich in seine Polster zu lehnen. »Ich komme nur, um eins zu erfahren, das über unsere künftigen Beziehungen entscheidet –« die ruhige kühle Frau sprach so rasch, wie ich sie nie hatte sprechen hören. »Meinen brieflichen Fragen seid ihr ausgewichen, mir ins Gesicht hinein könnt ihr nicht lügen: seid ihr kirchlich getraut?« Noch härter als das ihre klang jetzt mein »Nein«. Aus der Tiefe meines verletzten Gefühles kam es. Die Mutter hatte ich erwartet!! Sie sprang vom Stuhl, blaurot im Gesicht, mit zitternden Händen ihren Schirm umklammernd. »So ist eure Ehe ein Konkubinat, und du bist seine Mätresse,« schrie sie mit gellender Stimme. Ich fühlte, wie das Zimmer sich um mich zu drehen begann und ein krampfhafter Schmerz meinen Leib zusammenzog.

»So nehmen Sie doch Rücksicht auf Alix' Zustand –, schonen Sie Ihr Kind!« rief Heinrich, mich fest umschlingend, da er sah, wie ich schwankte. Sie schien einen Augenblick Atem zu schöpfen, dann lachte sie schneidend: »Schonen?! Hat sie etwa ihre Eltern je geschont?!«

Ich verlor die Besinnung. Als ich wieder zu mir kam, lag ich zu Bett. »Ist sie fort?!« flüsterte ich und sah angstvoll fragend auf den Geliebten. Er nickte.

[139] »Für diesmal ist es nichts!« sagte die Ärztin ein paar Stunden später. In meinem Blick muß meine ganze Verzweiflung gelegen haben, denn sie streichelte mir die Wange wie einem kleinen Kinde und sagte tröstend: »Um so sicherer wird es das nächste Mal sein!«


Ich erholte mich rasch. Mit der Arbeit versuchte ich gegen den Schmerz zu kämpfen. Es schien fast, als sollte die Waffe, die so oft unüberwindlich zu machen vermag, an seiner Riesenkraft zuschanden werden. Nicht einen Augenblick durfte ich sie aus den Händen lassen, er hätte mich sonst wieder in seine Gewalt bekommen. Ich bereitete meine Kongreßrede vor und studierte alles, was über die Lage der Arbeiterinnen irgend erreichbar war; ich arbeitete mit den Kindern und frischte heimlich längst vergessene Schulkenntnisse auf, um ihnen helfen zu können, ich versuchte, der Köchin die alten Kochkünste beizubringen, die ich einst zu Hause gelernt hatte.

Wanda Orbin überraschte mich eines Morgens dabei. »Was, Sie können kochen?!« lachte sie. »Ich kann, – ja,« antwortete ich, »aber ich sehe, daß die Ausführung meiner Kenntnisse teuer ist; ich werde meiner Köchin das Feld wieder räumen müssen –.« »Das wird für beide Teile das Beste sein. Ich hab's zwar auch jahrelang tun müssen, bin aber dafür nicht als Generalstochter aufgewachsen.« Ein leiser Spott lag in ihren Worten. »Sie werden überhaupt noch viel lernen müssen, Genossin Brandt!«

»Ich bin davon überzeugt und immer bereit dazu,« antwortete ich kühl.

»Dann wollen wir gleich damit anfangen. Ich fand Ihren Namen auf dem Kongreßprogramm –, Sie müssen ihn zurückziehen!«

Überrascht sah ich auf. Sie hatte mit dem Ton einer Vorgesetzten gesprochen. »Warum?! Bebel hatte gegen meine Teilnahme nichts einzuwenden!«

[140] »Bebel! Er sieht die Dinge aus der Vogelperspektive, vor allem die Frauenbewegung. Die Genossinnen haben beschlossen, die Aufforderung zu offizieller Beteiligung abzulehnen.«

»Ich weiß,« entgegnete ich; »im Frühjahr aber, zur Zeit, als ich das Referat übernahm, bestand dieser Beschluß noch nicht. Ich würde meinen Rücktritt, so kurz vor dem Kongreß, für einen Wortbruch halten, der um so weniger zu entschuldigen wäre, als ich selbstverständlich mein Thema auf Grund meiner politischen Überzeugung behandeln werde und es für dies Publikum sehr nützlich ist, auch diese ihm ganz fremde Seite kennen zu lernen. Zahlreiche Elemente, die der bürgerlichen Frauenbewegung in die Arme liefen – die Lehrerinnen, die Handelsangestellten, die Beamtinnen –, gehören ihrer ganzen Lage nach zu uns. Wir können sie nur gewinnen, wenn wir ihnen bis ins feindliche Lager nachgehen –«

Frau Orbin unterbrach mich. »Sie irren. Diese Leute kommen für uns zunächst gar nicht in Betracht. Und wenn Sie wirklich durch Ihre Überredungskünste« – sie schürzte wieder spöttisch die Lippen – »zwei oder drei gewinnen würden, stünde der Nachteil, den Ihre Teilnahme an einer bürgerlichen Veranstaltung zur Folge hätte, gar nicht im Verhältnis zu diesem minimalen Gewinn.« Ich sah sie fragend an. Sie stand auf, ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder und blieb dann dicht vor mir stehen.

»Sie sind eben erst die Unsere geworden,« sagte sie mit einer Art mütterlicher Freundlichkeit, »Sie sind Aristokratin, – Gründe genug, um Ihnen mißtrauisch zu begegnen, um Ihnen die Tätigkeit in der Partei, von der ich so viel erwarte, sehr zu erschweren. Und nun wollen Sie noch als einzige, – gegen unseren Beschluß, – an diesem einseitig feministischen Kongreß teilnehmen! Das verstehen die Genossinnen nicht. Und wenn Sie dabei mit Engelszungen den Sozialismus verkündigen würden, sie hören Sie nicht, – sie sehen darin doch nichts anderes, [141] als daß Sie eben noch zu jenen gehören. Ich habe gestern Ihretwegen einen schweren Kampf gehabt: die Genossinnen weigern sich unbedingt, Sie zur internen Arbeit zuzuziehen, wenn Sie nicht durch Unterwerfung unter unseren Beschluß Ihre Zugehörigkeit zu uns dokumentieren.« Sie zögerte und sah mich erwartungsvoll an. Als ich noch immer schwieg, legte sie mir beide Hände auf die Schultern und fuhr mit eindringlicher Stimme fort: »Sie sind in die Partei eingetreten, um für sie zu wirken; wollen Sie sich aus Rücksicht auf die alten Kolleginnen Ihre künftige Stellung erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen? Haben die Damen das um Sie verdient ...?« Sie machte abermals eine Pause. Ich erinnerte mich, wie Frau Vanselow in einen Seitenweg eingebogen war, um mich nicht grüßen zu müssen, wie Frau Schwabach mit hochmütig erhobenem Kopf an mir vorüberging. Aber hatte ich durch meinen Brief an Frau Morgenstern das Referat nicht erzwungen, – konnte ich unter diesen Umständen daran denken, zurückzutreten? Vor allem aber: entsprach es meiner Überzeugung?

»Sie mögen in allem recht haben, – nur in der Hauptsache nicht: in Ihrem Beschluß. Würde ich Ihnen nicht selbst als eine Heuchlerin, zum mindesten als ein Schwächling erscheinen, wenn ich mich ihm fügen wollte wider besseres Wissen und Gewissen?!« sagte ich. Auge in Auge standen wir uns gegenüber. Sie ballte die kleinen breiten Fäuste, auf ihrem Gesicht brannten hektische Flecke, ihre roten Haare umgaben es wie mit einem Feuerkranz. Ich dagegen erschien ganz ruhig, ganz kühl; ich wußte, daß kein Blutstropfen meine Wangen färbte; und wie um meine sie überragende Gestalt zu betonen, reckte ich mich gerade auf.

»Noch nicht das Abc der Demokratie scheinen Sie gelernt zu haben!« rief sie aus. »Auers Worte kann ich Ihnen entgegenhalten, mit denen er in Frankfurt vor zwei Jahren seinen [142] aufsässigen Landsleuten diente: ›Das gehört zum Demokraten und zum Sozialdemokraten, daß er sich sagt: Esel seid ihr zwar, aber ich muß mich fügen.‹ Mögen Sie uns meinetwegen für Esel halten – der Reichtum Ihrer Erfahrung gibt Ihnen ja wohl ein Recht dazu! –, wenn Sie aber zu uns gehören wollen, so haben Sie Ihre Person der Allgemeinheit unterzuordnen.« Jetzt war die untersetzte, kleine Frau doch die Überlegene. Ich wandte mich ab und lehnte die heiße Stirn an die kühle Fensterscheibe; – sie sollte nicht sehen, wie schwer es mir wurde, mich zu unterwerfen. Aber sie folgte mir.

»Genossin Brandt –,« aus ihrer Stimme war der schrille Ton wieder verschwunden, der an den Kasernenhof erinnerte, – »wir haben uns alle opfern müssen –« Ich sah ihr ins Gesicht. Die scharfen Züge waren weich geworden. »So will ich Ihnen nicht nachstehen,« antwortete ich. In ihren Augen leuchtete es auf wie Triumph. Mir war, als ob ihr Händedruck mich in neue unsichtbare Fesseln schlüge.

»So, – und nun soll Ihnen eine goldene Brücke gebaut werden,« damit zog sie mich neben sich aufs Sofa. »Wir erlassen Ihnen den offiziellen Rücktritt, aber Sie benutzen die kurze Zeit, die Ihnen sowieso nur zur Verfügung steht, zu einer Erklärung Ihres Standpunktes und überbringen dem Kongreß unsere Einladung zu den Volksversammlungen, in denen die Arbeiterinnenfrage in einem Umfang zur Erörterung kommen wird, der ihrer Bedeutung allein entspricht. Sie müssen es selbst schon als eine skandalöse Zumutung empfunden haben, daß man Ihnen dieselben fünfzehn Minuten zugestand, die man so welterschütternden Fragen wie den Volksküchen oder den Kleinkinderschulen auch gewährt hat –.« Ich bejahte, ohne recht hinzuhören, sie sprach weiter, wie ein unaufhörlich knarrendes Wasserrad, immer rascher, ohne Absatz. »Den ersten Vortrag in unseren Versammlungen übernehmen Sie,« – damit war ihr Redestrom endlich versiegt. Wir verabschiedeten uns. An [143] der Treppe blieb sie noch einmal stehen: »Ich hätte fast die Hauptsache vergessen: Wir haben morgen eine Sitzung. Holen Sie mich um acht Uhr ab; es wird für Sie angenehmer sein, wenn ich Sie einführe.«

So war ich also aufgenommen – endgültig, aber zu einer rechten Freude darüber kam ich nicht. So sehr sich mein Nachgeben begreifen und entschuldigen ließ, so notwendig es vielleicht in der gegebenen Situation für mich war, ich wurde das peinliche Gefühl dabei nicht los, einen Wortbruch begangen zu haben. Was mir zuerst wie eine Erleichterung schien: die »goldene Brücke«, – kam mir nun vollends wie eine Täuschung vor. Aber ein Zurück gab es nicht mehr.


Die sozialdemokratische Frauenbewegung stand damals noch immer im Zeichen des Köller-Kurses. Ihre Bildungsvereine waren unter den nichtigsten Vorwänden aufgelöst worden; ihre Vorkämpferinnen mußten sich wiederholt polizeilichen Haussuchungen unterwerfen, jede Korrespondenz mit Gesinnungsgenossinnen, die man auffand, genügte, um sie als staatsgefährliche Verbrecher hinter Schloß und Riegel zu setzen. An der Frauenbewegung blieb daher der Charakter revolutionären Geheimbündlertums, den die Partei als solche mehr und mehr abstreifte, noch lange haften. Für die Zusammenkünfte, die notwendig waren, bedurfte es der größten Vorsichtsmaßregeln, und nur ein kleiner Kreis vertrauenswürdiger Frauen wurde dazu eingeladen. Die Sitzung, zu der wir gingen, Frau Orbin und ich, fand bei einem kleinen Parteibudiker in der Linienstraße statt. Wir vermieden es, durch das Lokal zu gehen – »hier gibt's überall Spitzel,« meinte meine Gefährtin –, und bogen in den dunkeln Torweg ein, stiegen vorsichtig tastend eine stockfinstere Treppe hinauf und standen einen Augenblick zögernd vor einer Tür, durch deren Schlüsselloch ein schwacher Lichtschein [144] drang. Ich bemühte mich, hindurch zu sehen. »Drinnen ist niemand,« sagte ich, »eine Photographie hängt an der Wand, – ein Mann mit schwarzem Bart und weißen Locken.« – »Marx!« rief Wanda Orbin, »so sind wir richtig.« Wir durchquerten den fensterlosen Raum, dessen stickige Luft mir den Atem benahm, und traten in die niedrige Stube, die daneben lag. Eine Petroleumlampe hing von der geschwärzten Decke; mit einem Geruch von schlechtem Tabak schienen alle Gegenstände im Zimmer, – die schmutzigen Vorhänge, die fettigen Zeitungen, die rotgewürfelte Tischdecke, das alte Klavier im Winkel, – förmlich imprägniert zu sein. Und dazu hatte der frische September draußen den Rest stickiger Sommergroßstadthitze hier hereingedrängt. Die Frauen, die um den langen Tisch in der Mitte saßen, schwitzten. Ich wurde vorgestellt. Mein verbindliches Lächeln begegnete unfreundlich-neugierigen Blicken. Erst als Wanda Orbin mit ungewöhnlicher Wärme von mir sprach, meinen Entschluß, dem Kongreß eine Erklärung abzugeben, statt den angekündigten Vortrag zu halten, mit großem Nachdruck herausstrich, klärten die Mienen sich auf. Eine kleine runde Frau, die neben mir saß, streckte mir die arbeitsharte Hand entgegen: »Na, sehen Se mal, det is scheen von Ihnen!« sagte sie laut mit feucht schimmernden Äuglein. »Ruhe, Genossin Wengs!« rief die Bartels vom Tischende hinunter und trommelte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. Man versuchte parlamentarisch zu verhandeln, aber es entspannen sich immer wieder Privatunterhaltungen. Endlich schien sich das Interesse auf einen Punkt zu konzentrieren: die Kassenverhältnisse eines der aufgelösten Vereine wurden erörtert. Da man Bücher und Protokolle aus Angst vor Polizei und Staatsanwalt nicht zu führen pflegte und das kleine Rechnungsbuch aus demselben Grunde eilig verbrannt worden war, so fehlte es an den nötigen Unterlagen, um zu einem tatsächlichen Ergebnis zu gelangen. Es kam zu einer heftigen Debatte. Die arme Frau, die Kassiererin [145] gewesen war, wurde laut und leise der Unredlichkeit geziehen –, sie hätte unbedingt noch vier Mark haben müssen und behauptete schluchzend, nichts zu haben.

»Zu all die Arbeet un Schreiberei, die ich vor nischt gemacht hab,« heulte sie, »soll ich nu noch als Diebin dastehn. In Zukunft macht euren Dreck alleene!« Und hinaus war sie. Immer drückender wurde die Luft. Das Fenster durfte nicht geöffnet werden, man hätte uns vom Hof aus hören können. Ich erstickte fast in dieser Atmosphäre. Die anderen schienen an sie gewöhnt zu sein, niemand beklagte sich. »Wir müssen unbedingt die beiden Hauptpunkte unserer Tagesordnung heute noch erledigen,« erklärte schließlich Wanda Orbin, nachdem man sich schon zwei Stunden um lauter persönliche Dinge hin- und hergezankt hatte. »Ich bitte daher ums Wort zur Frage des bürgerlichen Frauenkongresses.« Man schwieg, und sie fuhr fort, indem sie nochmals den Standpunkt der Genossinnen begründete, – mit einer Stimme und einer Ausführlichkeit, als gelte es eine Volksversammlung zu überzeugen. Machte sie eine Pause, so gab Martha Bartels das Signal zu allgemeinem Applaus. »Wir sind in der vorigen Sitzung mit unserer Besprechung zu keinem Abschluß gekommen. Ich frage die Genossinnen, ob sie sich meinen Antrag, in die Diskussionen des Kongresses einzugreifen, überlegt haben, und wie sie sich dazu stellen?« Mit dieser mich nicht wenig überraschenden Frage, schloß sie ihre Rede. Alles blieb still. Martha Bartels sah erwartungsvoll von einer zur anderen. »Wir sind wohl alle einer Meinung,« meinte sie dann, »und können ohne weiteres zur Abstimmung schreiten.« Ich hatte bisher mit keinem Wort in die Debatte eingegriffen. Man sah mich mißbilligend an, als ich mich jetzt meldete. Wanda Orbin runzelte die Stirne. »Ich habe der Sitzung nicht beigewohnt, in der Sie, scheint's, die Angelegenheit schon hinreichend besprochen haben,« sagte ich, »mir fehlen daher, um zu einem sicheren Urteil zu kommen, Ihre Gründe. [146] Ich möchte mir deshalb nur die Frage erlauben, ob es nicht eine Inkonsequenz ist, die Beteiligung am Kongreß abzulehnen und die Teilnahme an der Diskussion zu beschließen?« Allgemeines, stummes Erstaunen. Nur Ida Wiemer, die neben mir saß, stieß mich unter dem Tisch heimlich an und warf mir einen aufmunternden Blick zu. Mit endlosem Wortschwall suchte Wanda Orbin, vom Beifallsgemurmel der Anwesenden begleitet, die grundsätzliche Verschiedenheit beider Arten der Beteiligung auseinander zu setzen. »Es hieße das Prinzip des Klassenkampfes preisgeben,« sagte sie, »wenn wir mit bürgerlichen Elementen irgend etwas gemeinsam unternehmen wollten, aber es gehört zum Klassenkampf, daß wir in der Debatte ihnen geschlossen gegenübertreten.« »Niemand hinderte uns, in selbständiger Rede dasselbe zu tun –«, warf ich noch einmal ein. Meine Worte gingen im allgemeinen Geschwätz, das wieder entfesselt war, verloren. Wanda Orbin hatte alle Stimmen auf ihrer Seite, – auch Ida Wiemer. »Wenn man nicht mittut, wird man gehenkt –,« flüsterte sie mir sich entschuldigend zu. Ich enthielt mich der Abstimmung. »Wir kommen zum nächsten Punkt der Tagesordnung: Parteitag,« sagte Martha Bartels, die den Vorsitz führte. »Genossin Orbin hat das Wort.« »Der Parteitag in Gotha ist für uns ganz besonders bedeutungsvoll,« begann sie; »die Frauenagitation steht auf der Tagesordnung. Es ist infolgedessen wünschenswert, daß viele der tätigen Genossinnen als Delegiertinnen anwesend sind, damit die praktische Erfahrung neben der theoretischen Schulung zu Worte kommt. Unsere Resolution ist Ihnen durch die ›Freiheit‹ bekannt; es hat niemand an ihr etwas auszusetzen gehabt, sie wird ohne Zweifel zur Annahme gelangen, da sie nichts Neues bringt, sondern nur das bewährte Alte zusammenfaßt. Nach anderer Richtung jedoch drohen uns Kämpfe: es liegen Anträge vor, die die Schaffung einer besonderen Arbeiterinnenzeitung bezwecken. Ihre Verfasser sind mit unserer ›Freiheit‹ unzufrieden. Es ist [147] notwendig, daß die Berliner Genossinnen klipp und klar dazu Stellung nehmen.« Nun entwickelte sich etwas wie eine Diskussion. Ein paar Frauen, Martha Bartels voran, lobten die ›Freiheit‹ in allen Tönen, Frau Wiemer allein sprach mit dem Wunsch nach etwas populäreren Artikeln zugleich einen leisen Tadel aus, den Frau Orbin dadurch entkräftete, daß sie erklärte, die ›Freiheit‹ sei gar nicht für die Massen bestimmt, sondern nur für die Führerinnen. Man war danach ausnahmslos entschlossen, jede Änderung ihres Inhalts und jeden Plan eines Konkurrenzunternehmens abzulehnen. Als ich bemerkte, man möge wenigstens dafür sorgen, daß, als wichtiges Mittel unserer Agitation, die allgemeine Parteipresse der Frauenfrage einen breiten Raum gewähre, lachte alles. »Da kennen Se unsere Männer schlecht,« meinte die dicke Frau Wengs neben mir, »die wollen von uns rein jar nischt wissen.« »Die mehrschten erlooben den Frauen nich, daß se in 'ne Versammlung jehn oder in 'nen Verein. Daheem sollen se sitzen un Strümpe stoppen,« rief eine andere, und ein allgemeines Klagelied über die Männer hub an; erst die energische Stimme der Orbin stellte die Ruhe wieder her: »Es ist zwölf Uhr, – wir müssen zu Ende kommen.« »Jotte doch, schon zwölwe, un ick habe soo'n weiten Weg,« jammerte Frau Wengs und erhob sich. Ein paar andere, die schon lange auf ihren Stühlen hin und her gerückt waren, sprangen auf. »So bleiben Sie doch fünf Minuten, Genossinnen,« kommandierte Martha Bartels, »wir müssen doch die Delegiertinnen zum Parteitag noch bestimmen.« Frau Wengs ging eilig zu ihrem Stuhl zurück, mit ihr die anderen; gespannte Neugierde drückte sich in den Mienen aller aus. Die Bartels fuhr mit erhobener Stimme fort: »Vorgeschlagen sind Genossinnen Stein, Wolf und meine Wenigkeit.« Ein eifriges Geraune und Getuschel setzte ein. »Hat jemand andere Vorschläge?!« Sie sah drohend umher. Ein Dutzend Frauen meldeten sich auf einmal. »Immer dieselben!« – »Laßt doch ooch andere drankommen!«[148] – »Die gewerkschaftlich tätigen Genossinnen werden natürlich übergangen –!« schrie und lärmte es durcheinander. »Ich schlage die Jenossin Brandt vor –,« rief Frau Wengs. Es wurde still. Die Frauen sahen mich an, – mißtrauisch, feindselig. Ich hatte die Situation rasch erfaßt. »Ich danke der Genossin Wengs für ihre Freundlichkeit,« sagte ich, »aber ich fühle mich noch viel zu jung in der Bewegung, als daß ich solch einen Ehrenposten annehmen könnte.« Wanda Orbin nickte mir, sichtlich erleichtert, zu: »Nun aber schnell zur Abstimmung, – wir versäumen ja noch die Pferdebahn! – Ich denke, wir bleiben bei unseren Vorschlägen –« Niemand widersprach, aber kaum war die Sitzung geschlossen, als die allgemeine Unzufriedenheit sich in lauter Unterhaltung wieder Luft machte. Man ging in kleinen Gruppen auseinander, – lauter feindliche Lager, wie mir schien. Wanda Orbin legte ihren Arm in den meinen, die Bartels begleitete uns; ihre Stimmung gegen mich war wieder umgeschlagen. Sie drückte mir herzlich die Hand, als wir Abschied nahmen.

Mein Mann erwartete mich im nächsten Café. »Das hat aber lange gedauert,« meinte er. »Wenn die Bedeutung eurer Beschlüsse der Länge der Zeit entspricht, die ihr darauf verwandt habt –!« Ich lachte, aber es war nicht das Lachen glücklichen Humors, der den Ereignissen die komische Seite abgewinnt und sich dadurch über sie erhebt. Heute würde mich der Humor im Stich gelassen haben, auch wenn ich ihn je besessen hätte. Es war alles so eng gewesen, so drückend, – wie die schmutzige Stube und die eingeschlossene Luft in ihr; kein großer Gesichtspunkt war zutage getreten. »Wir Genossinnen sind immer einig,« hatte Wanda Orbin mir gesagt. Konnte sie wirklich für Einigkeit halten, was nichts war als die Beherrschung armer Frauen kraft ihres Willens und ihrer Intelligenz? »So wird es also deine Aufgabe sein, diesen Absolutismus zu brechen,« sagte Heinrich. – »Nachdem ich mich ihm selbst schon unterworfen habe?!«


[149] Ich schritt die breite Treppe des Berliner Rathauses hinauf. Seit vier Tagen verhandelte der Frauenkongreß in dem festlichen Bürgersaal vor einem Publikum, das immer weniger aus Neugierde, immer mehr aus Interesse kam. Es war zwar im Grunde nichts als eine Truppenschau, bei der jede Teilnehmerin ihr Schlachtroß in raschem Galopp vorzuführen hatte. Aber Berlin sah zum erstenmal: die Frauen konnten reiten. Heute war der Tag der großen Sensation: die Arbeiterinnenfrage stand auf der Tagesordnung; man erwartete eine Schlacht zwischen den bürgerlichen Frauen und den Proletarierinnen, und auch mir persönlich galt ein Teil der allgemeinen Spannung, – der Frau, deren Roman von Mund zu Mund ging, der Renegatin. An der Türe stand Egidy, mein alter Freund. Er drückte mir die Hand: »Ich bin erst eben nach Berlin zurückgekehrt. Sonst wäre ich schon bei Ihnen gewesen. Zwischen uns bleibt alles beim alten.« Ich lächelte dankbar. Bei meinem Eintritt in den überfüllten Saal entstand eine bemerkbare Unruhe: Kleider raschelten, Stühle wurden gerückt, Köpfe wandten sich nach mir um, man flüsterte meinen Namen. Eine Gruppe russischer Studentinnen, an denen ich vorüber mußte, klatschte stürmisch. Vom Vorstandstisch mahnte eine scharfe Stimme zur Ruhe. Die Genossinnen begrüßten mich; die erwartungsvolle Erregung, in der sie sich befanden, steigerte ihre Freundlichkeit mir gegenüber. Wanda Orbin nötigte mich auf den Stuhl neben sich. Ich blieb trotzdem befangen und suchte mit den Augen meinen Mann, als müßte ich mich wenigstens mit den Blicken an ihn klammern.

Eine Österreicherin sprach zuerst über die Ergebnisse der Wiener Arbeiterinnen-Enquete. Ich kannte sie. Sie war eine überzeugte Sozialdemokratin. Die fünfzehn Minuten reichten aus, um ein ergreifendes Bild schrecklichen Elends zu malen. So hatte ich zu sprechen gedacht! Eine Engländerin folgte ihr. Sie begründete die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation [150] der Frauen in wenigen scharf umrissenen Sätzen; in langer Rede hätte sie kaum mehr sagen können.

»Frau Alix Brandt hat das Wort«, – tönte jetzt die heisere Stimme der Vorsitzenden durch den Saal. Ich stand auf und zwängte mich durch die Stuhlreihen, am dichtbesetzten Tisch der Presse vorbei. »Sie wissen« – »Scheidunsgprozeß« – »Verhältnis« – »Unglaublich«, – flüsterte es. Mein Blut begann zu sie den. Ich stand auf der Tribüne; – am Vorstandstisch zischte jemand, aus einer Ecke des Saales klang Beifallsgeklatsch und Getrampel. Das Zischen wurde stärker. Sekundenlang kämpften beide Laute miteinander, – die Vorsitzende rührte sich nicht. Helle Empörung bemächtigte sich meiner, – jetzt war ich bereit, ihnen meine Verachtung ins Gesicht zu schleudern. Ich begann sehr ruhig, indem ich erklärte, warum die Vertreterinnen der deutschen Arbeiterinnenbewegung es abgelehnt hätten, sich an den Arbeiten des Kongresses durch Delegierte zu beteiligen. »Für sie, die auf dem Boden der Sozialdemokratie stehen, ist die Frauenfrage nur ein Teil der sozialen Frage, und als solche durch die mehr oder weniger gutgemeinten Bestrebungen bürgerlicher Sozialreformer nicht lösbar. Ich selbst teile diese Auffassung vollkommen.« Meine Stimme hob sich und wurde schärfer; zu schneidendem Schwert sollte jedes meiner Worte sie schleifen. »Wer vorurteilslos und logisch denkt und sich eingehend mit der Frauenfrage, – wohlgemerkt, der ganzen Frauenfrage, nicht mit der Damenfrage, – beschäftigt, der muß notwendig zur Sozialdemokratie gelangen.« Stürmische Ohorufe unterbrachen mich, die der Beifall der Genossinnen vergebens zu ersticken suchte. »Mit anderen Worten: wer es nicht tut, ist ein Dummkopf oder ein Heuchler?!« schrie eine der Damen vom Pressetisch zitternd vor Aufregung. Ich neigte mit spöttischer Zustimmung den Kopf; sie sprach aus, was zwischen meinen Worten klingen sollte. Die Unruhe wuchs, ich mußte lauter sprechen, um durchzudringen. »Die Wertschätzung [151] und das Verständnis der bürgerlichen Frauenbewegung für die Arbeiterinnenfrage wird durch nichts deutlicher charakterisiert als durch die Tatsache, daß man mir zu einem Vortrag über sie, die die größte Masse des weiblichen Geschlechts umschließt, und die entrechtetste und unglücklichste, dieselben fünfzehn Minuten gewährt hat wie etwa der Damenfrage der Mädchengymnasien. Ich verzichte daher auf meinen Vortrag ...«

Die Zuhörer schrien und tobten, ein paar Männer sprangen auf die Stühle und drohten mir mit erhobenen Armen, in größter Erregung schwang die Vorsitzende unaufhörlich die Glocke, deren wimmerndes Klagegeheul die Melodie zu der Begleitung brüllender Stimmen zu sein schien. Endlich verschaffte ich mir wieder Gehör:

»In zwei Volksversammlungen, die von uns einberufen worden sind, soll den Teilnehmerinnen des Kongresses Gelegenheit geboten werden, die Arbeiterinnenbewegung kennen zu lernen. Nicht als ob wir des frommen Glaubens lebten, auch nur eine von Ihnen für uns gewinnen zu können. Zu tief eingewurzelt ist der jahrhundertelang genährte Klassenegoismus, zu einschneidend in das Leben und Denken gerade der abhängigen Frau sind die Interessen ihrer Klasse, als daß sie sich so leicht davon losreißen könnte. Aber vielleicht wird Ihnen eine Ahnung davon aufgehen, daß es ein größeres, ergreifenderes Elend gibt als das der unbefriedigten, berufslosen Töchter Ihrer Stände; daß außerhalb Ihrer Kreise ein Kampf gekämpft wird, der ernster, heiliger ist als der um den Doktorhut; daß der Schwung der Begeisterung, der Heldenmut der Aufopferung nur dort zu finden ist, wo Männer und Frauen ihre vereinten Kräfte für das eine große Ziel einsetzen: Befreiung der Gesamtheit aus wirtschaftlicher und moralischer Knechtschaft ...«

Ich stieg vom Podium. Es war ein Spießrutenlaufen. Die eleganten Frauen Berlins, die in ihren schönen Herbsttoiletten die ersten Reihen besetzt hielten, hatten ihre ganze gesellschaftliche [152] Haltung verloren. Sie zischten, sie riefen mir Schimpfworte zu, weißbehandschuhte Fäuste erhoben sich in bedrohlicher Nähe. Aber schon war Heinrich neben mir und reichte mir den Arm. Ein paar Schritte weiter umringten mich die Genossinnen, Wanda Orbin schloß mich stürmisch in die Arme.

Kurz vor dem Ausgang stand eine Gruppe von erhitzten Damen um den jüngsten Philosophen Berlins geschart; er war ein Freund meines Mannes. »Sie haben Gift gespritzt,« schrie er mir zu. Mit einem Blick voll Zorn und Verachtung maß ihn Heinrich. Den nächsten Augenblick trat mir Egidy entgegen. »Sie haben sich schwer versündigt,« sagte er, seine blauen Augen funkelten zornig.

An der Türe zögerte ich. Mir war, als müßte ich noch einmal rückwärts sehen, über die Menge hinweg in den festlich glänzenden Saal: Von der Decke herab flutete das Licht in Strahlenbündeln; es schimmerte weich auf weißen Marmorfiguren, es zauberte lebendige blutdurchflossene Adern in die Säulen von rotem Granit, es funkelte prahlend auf goldenen Gesimsen, und dem grauen Herbstabend draußen wehrten die hohen farbigen Bogenfenster den Eintritt.

Langsam gingen wir die breite Steintreppe hinab auf die schmutzige Straße.


Am Südende der Friedrichstraße, wo das Licht spärlicher wird, lag der alte Tanzsaal, in dem ich am Abend sprechen sollte. Durch ein paar Höfe, die nur die glühenden Augen breiter Fabrikfenster erhellten, führte der Weg. Sie waren schwarz von Menschen. Auf den ausgetretenen Stufen der Holztreppe bis zum Saal war ein Vorwärtskommen fast unmöglich. Ein paar stämmige Ordner bahnten uns mit Ellbogenstößen den Weg. »Die Berliner Arbeiter wollen Sie alle sehen, Genossin Brandt,« sagte der eine. Ich senkte den Kopf. Wie [153] ich mich freute! Über den Massen, die den Raum erfüllten, in den wir endlich gelangten, lagerte Tabaksqualm und Menschenschweiß in schweren, dunkeln Nebeln. Das Licht von den verstaubten Kronleuchtern drang nur trübe durch den grauen Dunst. Rußgeschwärzt war die niedrige Decke, von den Wänden bröckelte der Kalk, blinde Spiegelscheiben warfen gespensterhaft verzerrt das Bild der Menschen zurück, die sich vor ihnen sammelten. Ein paar steile Stufen zu einer kleinen Bühne ging es empor, auf der grell gemalte Kulissen einen Wald von Palmen darstellen sollten. Unter mir stand jetzt die Menge Kopf an Kopf. Siedende Hitze stieg von ihr auf, daß der Atem mir sekundenlang stockte.

»So warten sie schon seit zwei Stunden wie eine Mauer,« sagte Ida Wiemer, die den Vorsitz führte. Der graubärtige Polizeileutnant schüttelte bedenklich den Kopf. »Ich kann nur einen kurzen Vortrag gestatten,« sagte er, »wenn ich nicht die Versammlung auflösen soll.« »Genossen,« rief Ida Wiemer so laut sie konnte in den Saal, »macht den fremden Kongreßdelegierten Platz, die heute unsere Gäste sind –.« Eine Anzahl Arbeiter versuchten, sich langsam hinauszuschieben. Aber die Scharen, die die Türen belagerten, versperrten den Weg. »Das ist lebensgefährlich,« wiederholte der Polizeileutnant und wischte sich den Schweiß von der Stirne. »Fangen Sie an und machen Sie's kurz, – ein anderes Mittel gibt's hier nicht.«

Ich trat vor. Kirchenstille umfing mich. Ich sprach gegen jene landläufigen Vorwürfe, durch die die Gegner der Sozialdemokratie sie tödlich zu treffen glauben: Die Zerstörung der Familie, die Propagierung der freien Liebe, die Vernichtung der Religion, den blutigen Umsturz. Und ich zeigte, wie die wirtschaftliche Not es ist, die das Familienleben zerstört, wie aus derselben Not die käufliche Liebe wächst, die nichts gemein hat mit jener Freiheit der Liebe, die wir als die einzige Grundlage echten Familienglückes den Menschen erobern wollen; wie es [154] die Kirche ist und der Staat, die die Religion Christi vernichtet haben, wie die blutige Revolution nicht von uns, sondern von denen vorbereitet wird, die mit Flinten und Säbeln drohen, die der wehrhaften Jugend befehlen, auch auf Vater und Mutter zu schießen, die den Ruf hungernder Arbeiter um ein paar Pfennige mehr Lohn, um ein paar Stunden weniger Arbeitszeit mit Gewehrsalven beantworten. Ich sah nichts mehr; zwischen mir und den Menschen da unten hingen dichte Schleier. Aber ich fühlte ihren heißen Atem, ich hörte mit gesteigerten Sinnen ihr Stöhnen, wenn ich ihr Elend malte, ihren Beifall, wenn ich von ihren Kämpfen sprach, ihren hoffnungsstarken Jubel, wenn ich der Zukunft gedachte, die unser sein wird.

Ich schwieg erschöpft, – jetzt erst fühlte ich, wie der Kopf mir brannte und der Atem nach Luft rang. Hundert Hände streckten sich mir entgegen, als ich zitternd die Stufen hinabstieg. Die Masse umdrängte mich. Dank, – Vertrauen, – Liebe las ich in ihren Mienen. Ein paar Frauenrechtlerinnen gingen mit steif erhobenen Köpfen an mir vorbei. Ich lächelte. Wie hatte ich mich nur je über ihre Feindseligkeit grämen können?! Ich kam nur langsam vorwärts. Mit lauter Fragen und Bitten wurde ich aufgehalten: »Nicht wahr, Sie sprechen auch bei uns einmal?« – »In unserem Kreis?« – »In meiner Gewerkschaft?« Und immer wieder sagte ich freudig ja. Die hier glaubten an mich und erwarteten von mir, daß ich ihnen etwas sein könnte. Im dunkeln Saal war mein Herz wieder warm und hell geworden.

Wir gingen den weiten Weg durch die Nacht nach Haus. Am Kanalufer raschelten die gelben Blätter uns zu Füßen und tanzten wie goldige Schmetterlinge in der feuchten Herbstluft.

»Warum die Menschen trauern, wenn die Blätter fallen?« sagte ich. »Sie machen doch nur den jungen Trieben Platz!« Mein Liebster küßte mich. »Du, was denken die Leute?!« rief ich lachend und lief ihm davon. »Die Wahrheit!« sagte er, mich [155] einholend, und preßte mir die Hände mit einem starken Griff zusammen. »Daß wir ein Liebespaar sind!«

Im Schlafzimmer droben riß ich die Kleider vom Leibe, in denen der Dunst des Saales noch hing. Das rosige Licht der Lampe umflutete mich; meine Augen suchten den kleinen Ganymed. Unwillkürlich faltete ich die Hände. Auch an diesen Frühling glaubte ich wieder.

[156]
6. Kapitel
Sechstes Kapitel

Goldener Herbst! Ein königlicher Verschwender bist du.

Deiner Geliebten, der Sonne, gibst du in brennenden Farben zurück, was sie an Sommerglut der Erde geschenkt hat. Nichts ist dir zu gering, um es mit dem Glanz deiner Liebe zu überschütten. Auf die ödesten Mauern zaubert dein Blick jauchzende Melodien von Gelb und Rot. Aus dem armen Sand märkischen Bodens lockst du der Sonnenblumen tropische Pracht hervor und lehrst sie, ihr Strahlenangesicht deiner Geliebten anbetend zuzukehren. Unter deinem Hauch reifen die Früchte, und schwer von Segen neigen sich die Äste vor dir. Von entblätterten Blüten trägt dein Atem zarte Samenfäden über die Wiesen und schüttelt von den alten Eichen die Hoffnung kommender Jahre.

Tage, über die der Himmel leuchtet wie flüssiges Silber, läßt du in Nächten untergehen, die tief und dunkel sind, ein zukunftschwangeres Geheimnis.

Nicht wie die jungen Mädchen den Lenz begrüßen – schämig errötend und demutsvoll – empfing ich dich. Ich forderte von dir, erhobenen Hauptes, meinen Anteil an deinem Reichtum, Fürst des Jahres. Und, siehe, aus meinem Herzen wuchsen glutrote Blumen, meine Seele wurde zu deinem Saitenspiel, mein Schoß zum Tempel des Lebens – – –

Es kam über mich wie ein einziger großer Feiertag. Er duldete nichts Dunkles. Aus den Kammern vertrieb ich allen Staub der Vergangenheit, aus Kisten und Kasten alles was moderte. Ich badete meine Augen, daß sie klar und hell wurden und die Welt ihnen in einem Glanz erschien, wie sie ihn nie vorher [157] gesehen hatten. Wie der Herbstwind am Morgen die Nebel zerstreut, so flohen die Sorgen vor dem Sturm meiner Seligkeit. Ich ging der Sonne nach. Auch den verlorensten ihrer Strahlen fing ich auf und barg ihn in der Schatzkammer meiner Seele.

Sonnengesegnet sollte es sein, mein Kind!

Ich war nicht mehr Ich. Das geheimnisvoll neue Leben unter meinem Herzen hatte von mir Besitz ergriffen. Ich träumte nicht mehr meine engen Träume, die sich im Kreise um mich selbst bewegten, und lebte nicht mehr meiner kleinen Hoffnung, die ihren Bogen nur bis zum Friedhofstor des eigenen Daseins spannte. Wie Wandervögel flogen meine Träume weit über mein Gesichtsfeld hinaus, und die Brücke, die die Hoffnung baute, verband die Zeit mit der Ewigkeit.

Ich ward mir selbst zum Heiligtum. Ich pflegte meinen Körper wie der Gläubige den Schrein, der das Allerheiligste birgt. Und meiner Seele Eingang hüteten goldgepanzerte Wächter; die Schärfe ihres Schwertes traf jeden bösen Gedanken, ihren Speeren entging kein niedriges Gefühl. Denn mein Körper und meine Seele nährten das neue Leben. Kein Tropfen Giftes durfte in ihnen sein.


Ich wünschte mir einen Sohn. Einen, der ein Führer und Vorkämpfer werden könnte. Aber die Erfüllung dieses Wunsches schien mir fast zu viel des Glücks. Und so dachte ich auch der Tochter – einer, die ein Vollmensch und darum ein echtes Weib sein sollte. Von nun an stand Watts Ganymed vor meinem Platz auf unserem großen Schreibtisch und neben ihm ein süßes, blondes Mädelchen nach einem Porträt von Gainsborough. Ich sah von einem zum anderen, und tief in mein Herz prägten sich die holden Kindergesichter. Mein Mann brachte mir täglich frische Blumen für sie. Einmal aber kam er nach Haus und stellte statt ihrer ein neues Bild mitten auf [158] den Schreibtisch. Es war Meister Dürers furchtloser Ritter, der seelenruhig, im Schritt, den Kopf erhoben, das Auge geradaus gerichtet, an allen Schrecken des Daseins vorüberreitet.

»Laß kommen die Höll', mit mir zu streiten, ich will durch Tod und Teufel reiten –,« ist sein Wahlspruch. »Wenn's ein Bub wird,« sagte der Liebste, »so soll's so einer sein.«

»Du hast recht,« antwortete ich und drückte ihm zärtlich die Hand, »ich habe schon zu viel an das Kind und zu wenig an den Mann gedacht,« dabei wies ich lächelnd auf die Wolken weißen Linnens, die mich umgaben, und zeigte stolz die ersten winzigen Hemdchen, die daraus entstanden waren. Mein Mann hatte zuerst von dieser Arbeit nichts wissen wollen. »Du nimmst einer armen Näherin das Brot und hast selbst weit Besseres zu tun,« war seine Ansicht gewesen. Aber zum erstenmal hatte ich ihm widersprochen und meinen Willen durchgesetzt. Auf die Stoffe, die meines Kindes Körper berühren sollten, durften keine Kummertränen fallen; Mutterliebe mußte die Nadel führen, Mutterträume mußten sich mit jedem Stich hinein verweben. Nun kam es freilich vor, daß ich im Übereifer stundenlang über der Arbeit saß und vernachlässigte, was ich sonst zu tun hatte. »Das muß anders werden, Heinz,« sagte ich laut und faltete die Leinwand zusammen. »Auch um des Kindes willen darf ich die Welt außerhalb unserer vier Wände nicht vergessen, die doch auch seine Welt sein wird. Schau, hier ist ein Brief von Wanda Orbin –,« ich reichte ihn meinem Mann hinüber, der sich an den Schreibtisch gesetzt hatte; »sie beklagt sich, weil ich zu wenig für die ›Freiheit‹ schreibe; hier sind eine Reihe Aufforderungen zu Vorträgen, – ich war nahe daran, sie ablehnend zu beantworten –«

»Und hier,« unterbrach er mich, »habe ich Bücher, die deiner Besprechung warten. An den Artikel, den du mir für mein Archiv versprochen hast, will ich schon gar nicht erinnern –.«

Ich stand auf und reckte mich mit einem Gefühl tiefen Wohlbefindens. »Du wirst ihn bekommen! Ich verstehe nicht recht, [159] warum so viele Frauen jammern, wenn sie guter Hoffnung sind. Ich fühle Kraft für zwei!«

Und mit Feuereifer stürzte ich mich in die Arbeit, die ich nur stundenweise unterbrach, um frische Luft zu schöpfen.


Ich sollte mir täglich Bewegung machen und vermied den nahen Tiergarten, weil ich den Eltern zu begegnen fürchtete. Ich wußte: mein Herz würde sich schmerzhaft zusammenkrampfen, und ich wollte mich jetzt nicht grämen. So fuhren wir denn fast immer in den Grunewald und wanderten um die stillen Seen, die zwischen entlaubten Bäumen und schwarzen Kiefern dem Winter entgegenträumten, oder gingen auf den gepflegten Wegen der jungen Kolonie, all die vielen Villen betrachtend, die rascher als die Mietskasernen auf dem Kurfürstendamm aus der Erde wuchsen. Sie waren anders als die, die noch vor wenigen Jahren entstanden waren, – heller, freundlicher. Die verlogenen Butzenscheibenerker und die altdeutschen Sprüche über den Türen verschwanden mehr und mehr. Die Zeit wurde selbstbewußter und schämte sich der erborgten Formen vergangener Jahrhunderte. Oft freilich sahen wir halb staunend, halb lachend Häuser, die aus lauter Originalitätssucht absurd geworden waren. Aber auch das war im Grunde nichts anderes als der tolle Ausbruch überschäumender Jugendkraft, und wenn mein Mann spotten wollte, erinnerte ich an Goethes Wort: Es ist besser, daß ein junger Mensch auf eigenem Wege irre geht, als daß er auf fremdem recht wandelt.

Heute blieben wir in Schauen versunken vor einem Häuschen stehen, das aus dem Märchenbuch ins Leben versetzt zu sein schien: ein tiefes Dach hing schützend über den von rotem Weinlaub dicht umsponnenen Wänden, hinter kleinen blitzenden Fenstern hingen weiße Vorhänge, auf den braunen Holzaltanen blühten noch rote Geranien, und davor auf dem glatten Rasenteppich [160] warf ein kleiner Knabe jauchzend den bunten Ball in die helle Herbstluft. »Wenn doch mein Kind wie dieses in Wald und Garten wachsen könnte,« dachte ich. »Solch ein Haus möcht' ich euch bauen, dir und dem Kinde,« sagte Heinrich im gleichen Augenblick. Ich lachte ein wenig gezwungen. »Wie sollte das möglich sein, wo unsere Mietwohnung für uns schon zu teuer ist!« »Wenn wir Zinsen statt Miete zu zahlen hätten –,« meinte er nachdenklich; »Hall hat in dieser Weise schon mancher Familie die Möglichkeit verschafft, im eigenen Häuschen und im Freien zu wohnen!« Wir gingen schweigsam weiter, nur hier und da fiel eine Bemerkung, die mir zeigte, daß er denselben Gedanken weiterspann.

Am Wildgatter nach Hundekehle holte uns eine große Gesellschaft junger Radler ein; ihre blanken Räder blitzten, knapp und elegant schmiegten sich die Sportanzüge neuester Mode um die schlanken Gestalten. »Ist das nicht –,« rief ich unwillkürlich, und mein Herz klopfte rascher, aber schon wandte das reizende Mädchen, das dicht an mir vorbei geflogen kam, dunkelerrötend den Kopf zur Seite. »Ilse, – kein Zweifel,« antwortete Heinrich. »Und sie grüßt mich nicht einmal!« Tränen verdunkelten mir den Blick. »Wollen wir umkehren?« frug mein Begleiter sanft und zog meinen Arm fest durch den seinen. »Nein,« entgegnete ich und versuchte zu lächeln; »sie kann ja nichts dafür, die Kleine! Sie darf mich nicht kennen.«

Unten vor dem Wirtshaus standen die Räder. Wir wollten gerade links einbiegen, den Weg nach Paulsborn, der für uns so reich war an Erinnerungen, als Ilse, nach einem Augenblick des Zögerns, quer über die Straße zu uns herüberlief. Sie umarmte mich stürmisch.

»Sei nicht böse, Schwester,« rief sie atemlos und zog mich tiefer in den Wald hinein. »Sie würden mich zu Hause verraten, wenn ich dich gegrüßt hätte.« Zärtlich streichelte ich ihr das erhitzte Gesicht und drückte ihr kleines Händchen, [161] das immer noch so weich und zart war, so unfähig zuzupacken und festzuhalten.

»Die Eltern wollen nichts von mir wissen?« fragte ich zaghaft.

»Wir reden viel von dir, Mama und ich,« antwortete sie, »aber vor Papa dürfen wir deinen Namen nicht nennen. Trotzdem weiß ich, daß er sich bangt nach dir,« fügte sie rasch hinzu, als sie sah, wie ich erschüttert war. »Wir holen ihn manchmal vom Kasino ab; wenn wir über den Lützowplatz fahren, läßt er deine Fenster nicht aus den Augen.«

»Und Mama, sagst du, spricht von mir?!«

»Ja. Sie hatte zuerst des Morgens rote Augen, aber jetzt ist sie ruhig. Es quält sie nur, glaube ich, daß sie nicht weiß, ob – ob –,« sie errötete, ein forschender Blick glitt über meine Gestalt.

Heiß strömte es mir zum Herzen, mein ganzes, reiches Glück überkam mich, und alles Erinnerungsweh verschwand vor ihm. »Grüße Mama,« sagte ich weich, »und sage ihr, daß ich guter Hoffnung bin.« Ihre Hand löste sich aus der meinen, ein Schatten schien über ihre Züge zu huschen, etwas Fremdes stand auf einmal unsichtbar zwischen uns. »Ich muß fort, – sie suchen mich sonst, – lebwohl – –!« und schon war sie wieder jenseits der Straße.

»Verstehst du das?« fragte ich meinen Mann, der die ganze Zeit mit gerunzelter Stirn neben uns gestanden hatte, und sah ihr kopfschüttelnd nach. »Nein,« sagte er, »sie scheint mir aus Widersprüchen zusammengesetzt, deine Schwester.«

Auf dem Rückweg ertappten wir uns gegenseitig bei einem verstohlenen, sehnsüchtigen Blick nach dem weinumsponnenen Häuschen mit dem tiefen Dach darüber. Der Rasenplatz war leer. Ob der Kleine da oben hinter den zugezogenen weißen Vorhängen schlummern mochte? Und ich träumte, während wir heimwärts fuhren, offenen Auges einen gar süßen Traum.

Mein Herz war heut übervoll. Als ich abends bei den Knaben saß, um ihre Arbeiten zu beaufsichtigen, fühlte ich stärker als [162] sonst, wie wenig ich sie eigentlich kannte. Sie waren nachmittags wie gewöhnlich im Zoologischen Garten gewesen. Es kam mir wie ein Unrecht vor, daß ich sie allein ließ dort; ich wußte nicht, was sie hörten und sahen, welchen Einflüssen sie inmitten der verdorbenen Großstadtjugend unterliegen mochten. Und doch, nicht möglich wäre es gewesen, so große Jungen auf Schritt und Tritt unter Aufsicht zu halten.

Ihr Verhältnis zueinander war kein brüderliches, sie klagten sich häufig gegenseitig bei mir an, – das einzige Mittel, wodurch ich etwas von ihnen zu erfahren bekam. Hätte ich doch ihr volles Vertrauen besessen! Aber freilich: ich hatte kein Recht darauf; für sie stand ich nicht einmal an Stelle der Mutter, denn sie lebte noch. Je erfolgloser mein Bemühen gewesen war, ihnen näher zu kommen, desto unbegreiflicher war es mir, daß die Mutter sich hatte von ihnen trennen können. Ein Kind bedarf der Mutter, die es besser versteht, als es sich selbst verstehen kann. Tiefes Mitleid ergriff mich mit den beiden Buben, aber ein noch tieferes fast mit ihrer Mutter. Welch Schicksal mußte sie getroffen haben, daß sich ihr Herz so hatte verhärten können? Heinrich sprach nicht gern von ihr; und meinen Gedanken, ihr zu schreiben, um wenigstens in bezug auf die Erziehung der Kinder im Einvernehmen mit ihr zu handeln, hatte er schroff und ärgerlich als einen ganz törichten und zwecklosen zurückgewiesen. Ich hatte ihn trotzdem ausgeführt – heimlich, um ihn nicht zu ärgern. Da wir aber im Überschwang unseres jungen Eheglücks einander gestattet hatten, unsere Briefe gegenseitig zu öffnen, so las er ihre Antwort: ein paar kühle hochmütige Zeilen, im Tone der Herrin gegenüber der Gouvernante. Heinrich war damals ernstlich böse geworden, und – was mir am tiefsten in die Seele schnitt – traurig dazu. »Ich kann alles vertragen,« hatte er gesagt, »nur eins nicht: daß du unehrlich bist mir gegenüber. Ich muß dir unbedingt vertrauen können, sonst ist unsere Ehe keine mehr.« Seitdem hatte ich die kaum begonnene Korrespondenz [163] wieder abgebrochen, und die Brücke zum Herzen der Kinder, auf die ich gehofft hatte, blieb ungebaut. Und nun kam es plötzlich wie eine Erleuchtung über mich: ich wußte, womit ich sie würde gewinnen können.

»Erzähl' uns was,« bettelte Wolfgang wie immer, wenn er aufatmend die Schulbücher zuschlug. »Gleich!« antwortete ich lächelnd und ging hinaus, um mit dem Korb voll weißer Leinwand wiederzukommen.

»Was meint ihr wohl, was das ist?« fragte ich und hielt ein kleines Hemdchen hoch, so daß das Licht der Lampe rosig hindurchschimmerte. Sie rissen erstaunt die Augen auf. »Eurem Brüderchen oder eurem Schwesterchen gehört es, das ihr bekommen werdet. Habt ihr die Eicheln gesehen, die von den Bäumen fallen? Wenn die Erde sie aufnimmt und weich und warm einhüllt, damit der Winter ihnen nichts Böses tun kann, so wachsen im Frühling junge Bäumchen daraus ... Und ein Vogelei kennt ihr doch auch? Da ist zuerst gar nichts drin als eine weißliche Flüssigkeit. Wenn's aber eingebettet im Nestchen liegt, und die Henne es mit ihrem Leib bedeckt, dann entwickelt sich der gelbe Dotter und aus ihm ein winziger lebendiger Vogel. Sobald er groß genug ist, zerbricht er das Ei und ist da! Wir sind so sehr daran gewöhnt, daß wir uns des großen Wunders gar nicht mehr bewußt werden, – eines Wunders, das viel unfaßlicher ist, als wenn der Storch die kleinen Kinder brächte, wie man es früher zu erzählen pflegte.« Ich machte eine Pause; meine Zuhörer rührten sich nicht, und ich hatte nicht den Mut aufzusehen. Wußte ich doch nicht, was für Blicken ich begegnen würde. »Euch ist vielleicht auch einmal das Märchen vom Storch zu Ohren gekommen,« fuhr ich leiser fort, »es ist dumm und albern! Die Wahrheit ist tausendmal schöner: wie die Eichel im Schoß der Erde, ruht der Menschensamen im Mutterleib, und wie das Vögelchen sich entwickelt, so entwickelt sich das Kind, nur daß die Menschenmutter das Ei [164] unter dem Herzen trägt, bis es zerspringt, und das junge Leben geboren wird.« Ich schwieg wieder; es war so still, daß ich hätte meinen können, ich wäre allein im Zimmer. »Weil ich euch lieb habe, euch beide –,« flüsterte ich und senkte den Kopf tief auf die Arbeit, die meine zitternden Hände hielten, – »darum mag ich euch nicht belügen, darum will ich euch anvertrauen, was mein glückseliges Geheimnis ist: ich werde auch ein Kind bekommen!«

Eine beklemmende Stille; ich konnte die Nadel hören, wenn sie den Stoff durchstach. Endlich sah ich empor. Die Köpfe gesenkt, mit dunkelroten Wangen saßen die Knaben vor mir. Ein rascher scheuer Blick traf mich aus Wolfgangs hellen Augen, um seine Lippen zuckte es. Waren es verhaltene Tränen, oder war es am Ende gar – Spott? Hans rutschte vom Stuhl auf die Erde und machte sich, abgewandt von mir, an seiner Dampfmaschine zu schaffen. Ich wußte nur zu gut, wie verdorbene Kinder das Geheimnis des Lebens ihren Schulkameraden zu erklären pflegen: mit lüsternen Augenzwinkern, mit der Freude am Schmutz. Hatten sie es so erfahren?! Mir stieg die Schamröte bis unter die Haarwurzeln. Oder hatten sie, während ich sprach, ihrer Mutter gedacht, hatten plötzlich empfunden, daß ich sie nicht so würde lieben können wie mein eigenes Kind? Ich seufzte tief auf. So war auch das vergebens gewesen; statt eine Schranke einzureißen, hatte ich eine neue errichtet. Ich begegnete ihnen von nun an mit doppelter Zärtlichkeit; ich suchte ihre Wünsche zu erfüllen, noch ehe sie laut wurden. Aber ihre Scheu überwand ich nicht.

Vor Heinrich ließ ich mir nicht merken, was in mir vorging. Er hätte mich mißverstehen, hätte glauben können, daß ich seine Bitte, die Kinder lieb zu haben, nicht zu erfüllen vermöchte, – dachte ich. Auch war er den Kindern gegenüber oft so reizbar, daß ich Mühe hatte, ihn zu besänftigen. Das Verlangen, mit mir allein zu sein, äußerte er zuweilen in einer, wie mir schien, [165] für die unschuldigen Buben empfindlichen Weise. Ich lenkte ein, – ich deckte zu, – ich versteckte mein eigenes Empfinden, das in derselben Sehnsucht gipfelte wie das seine. Wie viele warme Worte und heiße Blicke und zarte kleine Aufmerksamkeiten, die wie ein holder Frühlingsflor den Garten junger Ehe schmücken, wagten sich vor den fremden Augen der Kinder nicht ans Tageslicht. Auch über das Glück meiner Mutterhoffnung mußt' ich vor ihnen einen Schleier ziehen.


Wir lebten damals ganz still. Von geselligem Verkehr war selten die Rede. Wir scheuten noch immer unliebsame Begegnungen, und unsere Zurückhaltung, die mir als Hochmut ausgelegt wurde, steigerte nur unsere Isoliertheit. Es kam vor, daß wir im Theater zwischen lauter alten Bekannten saßen und uns doch wie auf einsamer Insel mitten im Meer befanden. Man musterte uns neugierig, man tuschelte über uns, man grüßte bestenfalls, und ich setzte dazu meine abweisendste Miene auf, um den Menschenhunger, der mich manchmal überfiel, nicht merken zu lassen.

Zuweilen besuchten uns die Mitarbeiter an meines Mannes Zeitschrift: Nationalökonomen, Juristen und Politiker aus aller Herren Länder, die er mit dem ihm eigenen redaktionellen Geschick unter einen Hut zu bringen gewußt hatte, und die, – mochten sie sonst in ihren Ansichten noch so weit auseinandergehen, – unter seiner Führung gemeinsam am selben Strange zogen.

»Ihr Mann ist ein wahres Redaktionsgenie!« sagte mir einmal einer von ihnen, nachdem er sich nach langer Debatte doch wieder unterworfen hatte, halb ärgerlich, halb bewundernd. »Meist erdrücken die Autoren den Redakteur, er nimmt dankbar, was ›bewährte Mitarbeiter‹ ihm bringen und ist eigentlich nur ihr Geschäftsführer. Ihr Mann aber zwingt uns in seinen Dienst wie ein Feldherr seine Soldaten. Wenn er will, so müssen [166] wir alles andere stehen und liegen lassen, uns hinsetzen, die Feder ergreifen und den gewünschten Aufsatz schreiben.«

Ich freute mich jedesmal dieser Gäste; denn mochten sie von Rußland oder Frankreich, von England oder Italien kommen, – eins war ihnen gemeinsam: Tatkraft und Hoffnungsfreudigkeit. Ganz richtig äußerte sich einer über diese innere Einheit, wenn er sagte: »Wir sind Leute mit der Devise ›Ja, also!‹, im Gegensatz zu der älteren Generation der kathedersozialistischen Nationalökonomen, die die Männer des ›Ja, aber!‹ gewesen sind.« Sie zogen die Konsequenzen ihrer wissenschaftlichen Erkenntnis in Fragen des Arbeiterschutzes. In ihnen sah ich starke Verbündete der Sozialdemokratie, und es schien mir kein Zweifel, daß die Logik der inneren Entwicklung und der äußeren Geschehnisse sie schließlich zu ihren offenen Parteigängern würde machen müssen.

Aber noch eine andere Tatsache unterstützte meinen Glauben an den Fortschritt sozialer Erkenntnis: die Gründung der nationalsozialen Partei.

Sie war eben in Frankfurt zur Welt gekommen und getauft worden; sie hatte im Rausch der Festesfreude freilich den Mund sehr vollgenommen, wie das nun einmal in solcher Situation deutsche Art zu sein pflegt: »Wir stehen als Erben vor der Türe der Sozialdemokratie,« hatte Göhre erklärt. »Wir stellen uns an die Spitze der Arbeiterbewegung, denn die Zeit der Sozialdemokratie ist um,« hatte Sohm ihm sekundiert. Aber solche rednerischen Entgleisungen, die unsere Parteipresse mit einem übertriebenen Pathos rügte, statt über sie zu lächeln, wogen leicht gegenüber dem Handeln dieser Männer und Frauen: sie anerkannten die Gegenwartsforderungen der Sozialdemokratie, sie stellten sich, bei aller Betonung nationaler Gesinnung, in bewußten Gegensatz zur Regierung, die die sozialen Pastoren maßregeln ließ, – zum Kaiser, der ihre Bestrebungen für sträflichen Unsinn erklärte.

[167] Ein Ereignis trat ein, das vollends zwischen rechts und links wie Scheidewasser wirken sollte: der Hafenarbeiterstreik in Hamburg. Hatte wenige Jahre vorher die Cholera die Augen der ganzen Welt auf die gräßlichen Elendsquartiere der reichen Kaufmannsstadt gerichtet, so zeigte sich jetzt, daß selbst ihr Schrecken nicht imstande gewesen war, die Brutstätten des Todes aus der Welt zu schaffen. Noch hausten zwanzig Prozent ihrer Bewohner dicht zusammengedrängt in winzigen Räumen und engen Gassen, – zu fünft in einem Zimmer, zu neun in zweien! Und zu diesen gehörten vor allem die Hafenarbeiter, die bei schwerer Arbeit, die sie oft Tag und Nacht nicht losließ, nicht genug verdienten, um sich auch nur in Frieden ausruhen und frische Arbeitskräfte sammeln zu können. Der Eindruck der Tatsachen, die der Streik enthüllte, war ein ungeheurer, und die Haltung der Hamburger Reeder, die sich allen Einigungsversuchen der Arbeiterorganisationen widersetzten und einen Kampf um ein paar Groschen mehr Lohn zu einem Kampf um ihre Macht erweiterten, empörte jeden, der vorurteilslos zu denken vermochte. In höherem Maße als zur Zeit des Konfektionsarbeiterstreiks nahm die Öffentlichkeit Partei für die Arbeiter, geführt von den jungen sozialpolitischen Professoren und der nationalsozialen Partei. Das waren, so schien mir, Symptome für das Erwachen eines Geistes, der nicht mehr zu bannen sein würde. Und die Haltung der Gegner bekräftigte meine Auffassung: Kleine Nadelstiche, wie die Ausweisungen englischer Arbeiterführer, die, um Frieden zu stiften, nach Hamburg gekommen waren, – schroffe Erklärungen der Reichsregierung gegen die Streikenden, – von ihr unwidersprochene Aussprüche, wie die des alten Reaktionärs Kardoff im Reichstag: »Ich freue mich, daß man von den bedenklichen Wegen des Erlasses von 1890 jetzt abgekommen ist,« – Wünsche eines Stumm und seiner Gesinnungsgenossen, die zur Bekämpfung staatsgefährlicher Umtriebe eine Änderung der Vereinsgesetze forderten, – waren [168] das alles nicht Zeichen der Angst und der Schwäche? Und war nicht die Wandlung, die der Kaiser seit seinen sozialpolitischen Erlassen durchgemacht hatte, ein unbewußtes Eingeständnis schwindenden Einflusses? Erfüllt von seinem Gottesgnadentum, durchtränkt von der Vorstellung, die Tradition und Erziehung den Fürsten unauslöschlich einprägt: daß das Volk ihnen gegenüber im Verhältnis des Kindes zum Vater steht, hatte er ein sozialer Kaiser sein wollen, indem er der Arbeiterschaft als Geschenk brachte, was ihm gut schien für sie. Als sie es ihm nicht dankte, als sie Rechte forderte, statt Gnaden zu erbitten, sie sogar mit Gewalt ertrotzen wollte, – da wurde der in seiner Autorität verletzte Fürst zum zürnenden, strafenden Vater. Und derselbe Kaiser, der 1890 für die Schaffung von Schiedsgerichten eintrat, stellte sich 1896 auf die Seite der Hamburger Reeder und forderte die Vereinigung aller Arbeitgeber gegen die Arbeiter.

Um diese Zeit besuchte uns mein alter Freund Professor Tondern, der ein stiller Gelehrter irgendwo an einer Provinzuniversität geworden war. Er war zur Zeit des Streiks in Hamburg gewesen, und mein Mann hatte ihn für das Archiv zu einer Arbeit darüber aufgefordert. Statt aller Antwort kam er selbst, ganz erfüllt von dem Erlebten.

»Da bilden wir uns nun wer weiß wie viel auf unsere Bildung, unsere alte Kultur ein,« sagte er, »und müssen angesichts solcher Kämpfe beschämt eingestehen, daß wir mit all dem lumpigen Rüstzeug ihren Forderungen gegenüber jämmerlich Schiffbruch leiden würden, während die in Elend und Unwissenheit Aufgewachsenen sich wie Helden bewähren. Sie hätten nur sehen sollen, wie tapfer die Frauen, vom kleinen Mädchen bis zum steinalten Mütterchen, ihren Vätern und Söhnen zur Seite standen. Da steckt ungebrochene Jugendkraft –« Er brach seufzend ab.

»Zeugt die arbeiterfreundliche Haltung gewisser bürgerlicher Kreise nicht auch dafür?« fragte ich.

[169] Er schüttelte heftig den Kopf, daß die dünn gewordenen roten Haarsträhnen flogen. »Immer noch die alte Optimistin!« murmelte er. »Zu einem guten Teil haben Sie freilich recht –« fügte er dann laut hinzu. »Der Streik hat die Verschlafenen aufgerüttelt, hat die sozialpolitischen Probleme wieder in den Fluß der Diskussion gebracht, hat die brennende Feindschaft, die der Generalstab des Kapitals, das heißt das Kapital in seiner bedrohten politischen Machtsphäre gegen die freie Wissenschaft empfindet, zu hellen Flammen werden lassen, – und das kann dem echten, dem kritischen wissenschaftlichen Geist nur heilsam sein.«

»Diese Feindschaft muß aber auch mehr und mehr zu uns herübertreiben,« entgegnete ich.

»Zur Sozialdemokratie? Nein! Erinnern Sie sich unserer Haltung nach der Frankfurter Tagung der Ethischen Gesellschaft? – Seitdem hat sich für uns nichts verändert. Wir sind sogar nur noch fester an die Staatskrippe, und damit an den Dienst der kapitalistischen Gesellschaft geschmiedet, weil unsere Kinder inzwischen größer und anspruchsvoller wurden. Eine Ausnahme wie Sie bestätigt nur die Regel. Marx hat keine größere Wahrheit ausgesprochen als die, daß die gesellschaftliche Umwandlung nur das Werk der Arbeiterklasse sein kann.«

Er stand auf. »Ich muß eilen, – meine Frau wartet auf mich,« sagte er hastig, und strich sich gleich darauf mit einer verlegen ungeschickten Bewegung den roten Bart. Ich verstand. Es war gewissermaßen nur ein Geschäftsbesuch gewesen. Mit Damenbesuchen wurde ich nicht verwöhnt! Er schüttelte meinem Mann die Hand: »Sie bekommen den Aufsatz in spätestens vierzehn Tagen.« Dann wandte er sich abschiednehmend zu mir: »Sie dürfen mir auch die Hand geben. Meine Stellung zu Alix Brandt ist genau dieselbe geblieben wie zu Alix von Glyzcinski.«

Kurze Zeit darauf meldete sich einer der geistvollsten Archiv-Mitarbeiter, Professor Romberg, bei uns an. Ich sah ihm mit [170] gespannter Erwartung entgegen, denn ihm war ein Buch vorausgegangen, das ihn wie ein Herold mit Fanfarenstößen angekündigt hatte. Ein schmaler roter Band war es nur, aber das Wort »Sozialismus« prangte in goldenen Lettern darauf, und sein Inhalt war nichts anderes als eine Verteidigung der Lehren von Karl Marx, als eine Anerkennung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Das Katheder eines wohlbestallten ordentlichen preußischen Universitätsprofessors hatte sich der Verfasser wohl auf immer verscherzt, aber eine Zuhörerschaft hatte er sich erobert, aus der für die Sache des Sozialismus eine große Gefolgschaft werden mußte.

Mein Mann lächelte über meinen Enthusiasmus, er spielte sogar ein wenig den Eifersüchtigen, als ich zum Empfang dieses Gastes ganz besondere Vorkehrungen traf, den Tisch mit buntem Herbstlaub schmückte und eine Flasche Wein besorgen ließ, – zum erstenmal seit unserer Hochzeitsfeier.

Als er eintrat, hatte ich jene seltsame Empfindung, die ich als Kind besonders häufig gehabt hatte: daß mir derselbe Mann in derselben Situation schon einmal begegnet war; selbst die gleichgültige Begrüßungsphrase und der Ton seiner Stimme dabei war mir bekannt, ehe er sie aussprach. Im ersten Augenblick war ich verwirrt und überließ Heinrich die Unterhaltung, dann musterte ich den Gast, und dabei verwischte sich das Gefühl langen Bekanntseins wieder, ähnlich wie ein Traum uns um so gewisser entgleitet, je mehr wir über ihn nachdenken. Diesen großen, tiefbrünetten Mann mit den lebhaften braunen Augen und der hochgewölbten Stirn hatte ich gewiß noch nie gesehen. War es Sympathie, die ich für ihn empfand? Der dunkle Bart beschattete dicke Lippen, die von stark entwickelter Sinnlichkeit zeugten, die großen Hände mit den breiten Fingerkuppen und den abgebrochenen Nägeln widersprachen der vornehmen Eleganz seiner schlanken Gestalt. Aber diese Mischung von Roheit und alter Kultur prädestinierte ihn vielleicht gerade für die [171] Rolle eines Führers der öffentlichen Meinung, die er, unserer Ansicht nach, zu spielen bestimmt war.

In einer Rede, die von Geist und Wissen sprühte, setzte er meinem Mann die Ideen auseinander, die er in einer Abhandlung für das Archiv zusammenfassen wollte. »Wir müssen der Sozialpolitik die Krücken nehmen, die Ethiker, Christlichsoziale und neuerdings Rassenhygieniker ihr glaubten geben zu müssen, um sie dem von ihnen willkürlich gesteckten Ziele entgegenhumpeln zu lassen. Sie kann und muß auf eigenen Füßen gehen, eigene Ziele verfolgen. Ich verlange die Autonomie des sozialpolitischen Ideals, das nicht nur nicht ethisch, nicht religiös, nicht rassenhygienisch, sondern diesen Idealen direkt entgegengesetzt sein kann.«

»Das sei Ihnen in bezug auf das religiöse Ideal zugegeben,« warf mein Mann ein, »aber das ethische, das rassenhygienische?! Die ›Befreiung des gesamten Menschengeschlechts, das unter den heutigen Zuständen leidet‹, ist doch wohl ein ethisches Postulat!«

Romberg bewegte lebhaft abwehrend die Hände: »Bleiben Sie mir mit der Zukunftsmusik des Erfurter Programms vom Leibe! Sie können ebenso gut die ›Versöhnung der Klassengegensätze‹, die die Ethiker unter den Nationalökonomen der Sozialpolitik als Aufgabe zuschieben, predigen. Nein: wir stehen im Klassenkampf, wir müssen in diesem Kampf Partei ergreifen, und zwar nicht für die Schwachen nach christlicher Auffassung, sondern für das höchst entwickelte Wirtschaftssystem, für die den wirtschaftlichen Fortschritt repräsentierende Klasse, das heißt auf Kosten der anderen.«

»Mit anderen Worten: für das Proletariat?« fragte ich. Er wandte sich mir zu.

»Gewiß: für das Proletariat, soweit seine Ideale sich mit dem Ideal der Sozialpolitik decken: der wirtschaftlichen Vollkommenheit, und« –, er betonte scharf den letzten Satz, – »soweit [172] sie sich dauernd mit ihm decken werden. Denn sie ist einerseits in dauerndem Fluß begriffen und ist andererseits kein absoluter Endzweck, sondern nur ein Mittel zur Verwirklichung höherer Zwecke. Das wirtschaftliche Leben ist die Schranke, in der unser ganzes Dasein, auch in seinen höchsten Äußerungen, eingeschlossen ist. Wir müssen sie erweitern, so rasch als möglich, ohne Rücksicht auf die Bedenken empfindsamer Seelen, um zu Licht und Luft zu gelangen.«

»Und mit diesen Ansichten können Sie es verantworten, außerhalb unserer Partei zu stehen!« rief ich aus. Er schien erstaunt.

»Alles, was ich sagte, was ich schrieb, beweist doch, daß ich es verantworten kann!« meinte er langsam. »Oder glauben Sie, ich würde mehr erreichen, wenn ich mich in Ihr Heer einreihen, Ihre Uniform anziehen würde, wenn ich jede meiner Ideen, ehe ich sie auszusprechen mich getraute, dem Votum Ihres Parteitages unterwerfe?!«

»Ich verstehe Sie nicht!« antwortete ich. »Wie reimt sich Ihre Abneigung gegen die Partei mit diesem Buch zusammen,« – ich hielt ihm den roten Band entgegen, – »mit Ihrer Verteidigung des Klassenkampfes, mit Ihrer Prophezeiung der dauernden, der notwendigen Einheit der Bewegung?«

»Ich muß Ihre Frage mit einer Frage beantworten: Ist die Zugehörigkeit zur Bewegung abhängig von der namentlichen Einschreibung in einen Wahlverein? Ist es für meine Stellung wichtiger, wie ich mich nenne, als was ich leiste?! Die Frage des Eintritts in die Partei kann für unsereinen nur individuell gelöst werden. Ich zum Beispiel würde in dem Augenblick flügellahm werden, wo ich in der Gesellschaft aushalten müßte.«

»Für einen Augenblick vielleicht, aber in dem Moment, wo Sie sich durchsetzen, wo Sie Einfluß gewinnen würden, hätten Sie die Kraft Ihrer Flügel in doppeltem Maße wieder –,« mischte sich mein Mann ins Gespräch.

[173] »Sie überschätzen mich, lieber Freund. Über gewisse Dinge komme ich nicht hinweg. Sie wissen, mein ›Sozialismus‹ hat einen ungeahnten Erfolg; ich brauche mich in meiner Schriftstellereitelkeit wahrhaftig nicht gekränkt zu fühlen. Aber die Behandlung, die mir – mir, der ich den Sozialismus verteidige! – von einem Teil Ihrer Presse zuteil geworden ist, hat mir die ganze Gesellschaft auf lange verekelt!«

Der Gegensatz zwischen dem Enthusiasmus, der ihn wenige Minuten vorher erfüllt hatte, und der morosen Stimmung, die jetzt aus Wort und Ton und Haltung sprach, war so verblüffend, daß wir verstummten. Aber Romberg forderte uns zur Antwort heraus:

»Sie mißbilligen meinen Standpunkt?« Fragend sah er von einem zum anderen.

»Ganz und gar!« antwortete ich heftig. »Glauben Sie, daß wir um der schönen Augen der Parteigenossen willen Sozialdemokraten geworden sind, – oder der Partei entrüstet den Rücken kehren würden, weil ein paar Nasen uns nicht gefallen?! Wir dienen der Sache, nicht den Personen.«

»Eine so reinliche Scheidung zwischen der Sache und den Personen läßt sich in Wirklichkeit nicht durchführen,« sagte er, sichtlich verletzt. »Es kann sehr wohl der Fall eintreten, daß eine Sache durch eine bestimmte Personengruppierung rettungslos verloren geht, und ich bin der Meinung, daß in Ihrer Partei Leute den Ton angeben, die Ihre Sache diskreditieren.«

»Wenn Sie dieser Ansicht sind, müßten Sie erst recht in die Partei eintreten, um die Sache, die doch auch die Ihre ist, vor solchen Einflüssen zu retten!«

Er biß sich auf die Lippen und schwieg sekundenlang. Dann ließ er sich, wie ermüdet, in den Lehnstuhl fallen und sagte langsam: »Sie mögen recht haben, – auf Grund Ihrer Individualität. Ich würde einfach zugrunde gehen, wenn ich mit dem Gesindel, das Ihre Partei großgefuttert hat, auf gleich und gleich [174] verkehren müßte. Übrigens,« er lächelte ein wenig, »Sie sind ja erst seit vorgestern ›Genossin‹, – wir wollen unser Gespräch in zehn Jahren zu Ende führen! Und Sie, mein lieber Brandt, sind doch auch nur im Nebenberuf ›Genosse‹. Wenn Sie Ihrer Frau beistimmen, warum treten Sie nicht in die politische Arena?«

Mein Mann ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder, ehe er antwortete. »Ich habe nicht Ihre Begabung, die Sie zum Agitator stempelt. Und ich bin nicht unabhängig wie Sie, was, meiner Ansicht nach, eine wichtige Voraussetzung ist, wenn man in der Partei Wertvolles leisten will. Das Archiv ist mein Brotgeber. Es könnte seine wertvollsten Mitarbeiter verlieren, wenn sein Redakteur politisch hervorträte. Sonst, – lieber heute als morgen würde ich ein tätiger Parteigenosse sein!«

Ich hatte Heinrich noch nie so sprechen hören; eine tiefe Unbefriedigung enthüllte sich mir, eine Seite seines Wesens, die sich selbst dem durchdringenden Blick meiner Liebe bisher versteckt hatte. Ich konnte den Gedanken daran nicht los werden und vergaß fast unseres Besuchers darüber.

Beim Abschied reichte ich ihm die Hand. Ein unbehagliches Gefühl überkam mich: die seine lag, so groß sie war, schwach und leblos in der meinen. Menschen ohne Händedruck waren mir immer unsympathisch gewesen. Und doch zog dieser Mann mich an.

»Wollen wir nach all dem Ernst nun nicht Berlin ein wenig genießen?« fragte er. »Wir armen Provinzler müssen uns mit Großstadtluft auf Monate versorgen, wenn wir einmal von unserer Kette loskommen.« Wir verabredeten allerlei, und er ging.

»Nun?!« fragte Heinrich, als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte.

»Ein interessanter Mensch, ob ein Kämpfer?!« antwortete ich nachdenklich. »Aber was interessiert mich dies Problem, wo mein eigener Mann mir eins aufgegeben hat!«

[175] Er zuckte lachend die Achseln: »Kümmere dich nicht darum, Schatz, es ist doch zunächst unlösbar.« »Du würdest wirklich gern politisch tätig sein?« drängte ich unbeirrt. »Wäre es dir willkommen?« fragte er statt der Antwort. Mir stieg das Blut in die Wangen. Ich sah den Geliebten an der Stelle, die ich Romberg zugedacht hatte; ich sah uns beide Schulter an Schulter im Kampfe stehen. »O wie schön wäre das!« flüsterte ich.

Die nächsten Tage nahm uns Romberg sehr in Anspruch. Er war von einer fast kindischen Genußfähigkeit, dabei voller Interesse für Kunst und Literatur, in allem das Gegenspiel des typischen deutschen Professors.


Berlin war damals reich an neuem Leben für den, der es zu finden verstand. Denn die Oberfläche trug noch immer das Stigma geschmackloser Alltäglichkeit. Mein Instinkt war doppelt wach; meine Sinne schienen geschärft für alles Werden, und meine Hoffnung umschlang mit üppigen Ranken jede neue Erscheinung.

Wir sahen Gerhart Hauptmanns »Versunkene Glocke«, die zum erstenmal zur Aufführung kam. Alles stritt um des schönen Märchens eigentlichen Inhalt und riß ihm im Streit grausam die Schmetterlingsflügel aus. Den einen erschien es als das tragische Bekenntnis eigener Schwäche: denn die im Tal gegossene, für die Höhe bestimmte Glocke Meister Heinrichs stürzte vom Berge hinab in die Tiefe, und als er selbst emporstieg, um droben ein neues Wunderwerk zu schaffen, zog sie ihn nach sich ins Grab. Den anderen war es nichts als ein Zeichen geistiger Reaktion: der Dichter der »Weber« floh vor dem wirklichen Leben. Ich aber hörte darin das immer wiederkehrende Leitmotiv der Sehnsucht, das den Glockengießer emporzog, auch als er an seiner Schwäche sterben mußte, ich sah die Sonnenpilger, die den Marmortempel suchten, dessen Baumeister zugrunde [176] ging, dem aber Kräftigere als er Hammer und Kelle aus den toten Händen nahmen.

Und dieselbe Sehnsucht, die der Hoffnung Schwester ist, die aus unserer nüchternen, auf praktisch-greifbare Ziele gerichteten Zeit hinwegverlangt in reichere, blühendere Gefilde, wo die arme gehetzte Seele nicht mehr zu dursten und zu frieren braucht, schien einer jungen, noch unbekannten Künstlerschaft die Hand zu führen. Wir sahen Gläser, deren zart schimmernde Blumenkelche in Märchenfarben strahlten, und Teppiche, auf denen die ganze Fülle des Frühlings ausgestreut erschien. Wir kamen in eine Ausstellung, die eine Welt fremder Wunder enthielt, deren Schöpfer ein noch Unbekannter war. Staunend stand ich vor dem schönsten, das sie bot: einem Fenster voll leuchtender Glut, mit den Gestalten Tristans und Isoldens. In ihren Augen, in ihrer Gebärde steigerte sich die Sehnsucht zum Verlangen; die Farben waren eine Hymne des Lebens: das Rot jauchzte, das Blau verging in zärtlichen Melodien, wie ein mystischer Orgelton stand das Violett dazwischen.

Achselzuckend ging die Masse an alledem vorüber. Auch die beiden Männer, die mich begleiteten, waren mehr erstaunt als betroffen. Ob wohl nur eine, die schwanger war, die verborgenen Lebenskeime dieser Zeit zu schauen vermochte? Ich sog mit allen Sinnen ein, was der Menschenknospe in meinem Schoß zur Nahrung dienen konnte.

»Seit ich Sie kenne, begreife ich nicht, wie Sie Genossin werden konnten,« sagte Romberg beim Abschied, »mit Ihrem starken Kulturbedürfnis, Ihrem Schönheitsdurst!«

»Für mich war das nur ein Motiv mehr, um es zu werden,« antwortete ich. »Auch den Seelenhunger der Massen nach höheren Lebenswerten möchte ich stillen helfen.«

»Sie haben kaum einen –,« meinte er wegwerfend.

»Dann ist meine Aufgabe doppelt groß: ich muß sie hungrig machen – –«


[177] Mein Zustand hinderte mich zunächst nicht an der Parteitätigkeit. Ich hielt Versammlungen ab, so lang es ging, obwohl die schlechte Luft sich mir immer schwerer auf den Kopf legte; ich besuchte die Sitzungen der Frauenorganisation regelmäßig trotz der ekelerregenden Düfte der Lokale, in denen sie stattfanden. Wenn die Polizei, die uns ständig auf den Fersen war, gewußt hätte, wie wenig welterschütternd die Fragen waren, über die wir debattierten, sie würde uns ruhig unserem Schicksal überlassen haben. Seitdem Wanda Orbin nicht mehr in Berlin war, schien zwar auch den Nur-Ja-Sagerinnen der Mund geöffnet zu sein, aber was sie vorbrachten, das drehte sich meist um die kleinlichsten Dinge. Derselbe Zank, derselbe Neid, der mir die bürgerliche Frauenbewegung vergällt hatte, fand sich auch hier, nur daß er sich in gröberen Formen äußerte. Ich wäre bitter enttäuscht gewesen, wenn ich nicht allmählich Einblicke gewonnen hätte, die mir die Dinge in anderem Licht erscheinen ließen.

Ich lernte das Leben dieser Frauen kennen. Da war eine, die tagaus, tagein in dieselbe elende Zwischenmeisterwerkstatt ging, um, wenn sie todmüde heimkam, von dem betrunkenen Mann mit Schlägen oder zudringlichen Zärtlichkeiten empfangen zu werden; – sollte sie nicht verbittert sein? Da war eine andere, die, obwohl sie einen braven Gatten hatte, auf ihre alten Tage in die Fabrik zurückgekehrt war, weil sie nur auf diese Weise ihrem kranken Sohn den Besuch eines Sanatoriums ermöglichen konnte; – sollte sie die glücklicheren Mütter nicht beneiden, die die Gesundheit ihrer Kinder nicht so schwer erkaufen mußten? Und ein verblühtes Mädchen war zwischen uns, die ihrer gelähmten Mutter ihre ganze Jugend hatte opfern müssen, – war's nicht begreiflich, daß etwas wie Haß in ihren Augen aufblitzte, wenn ich sprach?

Einmal besuchte ich die kleine dicke Frau Wengs; sie war vor drei Tagen ihres siebenten Kindes genesen, und ich fand sie [178] schon wieder hinter dem Waschfaß. War es erstaunlich, daß sie reizbar war? All diese Frauen standen in harter Arbeitsfron; war es nicht viel merkwürdiger, daß sie sich dabei die Kraft, den Opfermut, die Begeisterungsfähigkeit erhalten hatten, die es ihnen möglich machte, ihre spärliche Freiheit, ihre ihnen so bitter nötige Nachtruhe dem Dienst der Partei zu widmen? Sie leisteten das äußerste, was sie leisten konnten; es war nicht ihre Schuld, daß es trotzdem so wenig war.

Ich grübelte lange nach, wie hier zu helfen wäre. Mein alter Plan eines Zentralausschusses für Frauenarbeit tauchte wieder auf. Wenn man mit Hilfe der Partei solch einen Mittelpunkt schaffen, die begabtesten der Frauen dabei beschäftigen, von ihrer Erwerbsarbeit dadurch befreien könnte? Frau Wengs war nach dem Parteitag zur »Vertrauensperson für ganz Deutschland« gewählt worden. War es nicht wie ein Hohn auf die Frauenbewegung, daß sie, die kaum Zeit hatte, eine Zeitung zu lesen, für die das Schreiben eines Briefes eine fast unlösbare Aufgabe war, an ihrer Spitze stehen sollte? Man hatte mir freilich erzählt, Wanda Orbin habe ihre Wahl unterstützt, um die Leitung um so sicherer in der eigenen Hand zu behalten, Wanda Orbin, die uns so fern war, deren unzureichende Kenntnis der Verhältnisse schon daraus hervorging, daß sie ihre Zeitschrift in einem Tone schrieb, der einen hohen Grad von Wissen bei dem Leser voraussetzte. Ja, wenn sie in Berlin wäre, wenn sie offiziell die Führung in die Hände bekäme, wenn die Gestaltung der »Freiheit« dem Einfluß der Genossinnen zugänglich gemacht werden könnte! Schon damit, so schien mir, wäre viel geholfen. Ich schrieb ihr in diesem Sinne, ich fragte sie, ob sie kommen würde, wenn man die Anstellung einer weiblichen Parteisekretärin durchgesetzt hätte. Sie antwortete ausweichend: es fessele sie vieles, vor allem die Erziehung ihrer Söhne in Stuttgart. Ich gab die Sache noch nicht verloren. Ich legte meinen Plan der Schaffung eines Sekretariats für [179] die Frauenbewegung den Genossinnen vor, ich entwickelte ihn in einem längeren Artikel in der »Freiheit« und hütete mich zunächst, Wanda Orbins Namen zu nennen, da ich wußte, daß auch sie Gegnerinnen hatte. Die Wirkung war verblüffend: die Frauen gerieten in eine Aufregung, die in keinem Verhältnis zur Sache zu stehen schien. Man fand es ungeheuerlich, daß ich, die ich noch nichts, aber auch rein gar nichts geleistet hätte, mir herausgenommen habe, an der Arbeiterinnenbewegung Kritik zu üben; man bekämpfte meinen Plan durch Wort und Schrift, als bedeute er eine Gefahr für die Partei. Bei der Abstimmung erhob sich keine Hand für ihn. Ich erfuhr erst allmählich die wahre Ursache dieser wütenden Gegnerschaft: die Frauen hatten angenommen, daß ich für mich selbst eine einträgliche Stellung schaffen wolle. Und Wanda Orbin hatte sie offenbar in diesem Glauben gelassen. Es gab Momente, in denen diese Erfahrung mir wehe tat, – trotz aller Mühe, überall nur das Gute zu sehen. Und die Entrüstung meines Mannes, der jeden Nadelstich, der mich traf, wie einen Dolchstoß empfand, trug nicht dazu bei, mich zu beruhigen.

Aber die öffentlichen Ereignisse sorgten dafür, Gedanken und Interessen auf wichtigere Dinge zu lenken, und die Verstimmung zwischen mir und den Genossinnen in einmütige Kampflust gegen die Feinde, die unsere Sache von außen bedrohten, zu verwandeln.

Hatten die Parlamentsreden der Herren der Rechten, vom Geiste Stumms beherrscht, schon kriegerisch genug geklungen, so kündigten die kaiserlichen Worte auf dem Brandenburger Provinzial-Landtag Kampf bis aufs Messer an: »Die Aufgabe, die uns allen aufgebürdet ist, die wir verpflichtet sind zu übernehmen, ist der Kampf gegen den Umsturz, mit allen Mitteln ... Ich werde mich freuen, in diesem Gefecht jedes Mannes Hand in der meinen zu sehen, er sei edel oder unfrei,« hieß es darin, und zum Schluß: »Wir werden nicht nachlassen, um unser Land [180] von dieser Pest zu befreien, die nicht nur unser Volk durchseucht, sondern auch das Heiligste, was wir Deutsche kennen, die Stellung der Frau, zu erschüttern trachtet.«

Kein Zweifel: ein Gewitter stand bevor, das unsere Saaten bedrohte; dem Blitz, der die Situation grell beleuchtet hatte, folgte der Donner und der prasselnde Regen in Gestalt einer Vereinsgesetznovelle, die dem reaktionären preußischen Landtag zur Entscheidung vorlag und nichts anderes bedeutete als eine Knebelung des Koalitionsrechts, eine Auslieferung unserer Organisationen an die Willkür der Polizei. Da war niemand unter uns, dem nicht das Herz stürmisch geschlagen hätte, – vor Empörung über das drohende Unrecht, vor Freude über den aufgezwungenen Kampf. Es gab keinen kleinlichen Zank mehr; man drängte sich zur Arbeit und übernahm auch die geringfügigste mit dem Pflichtbewußtsein des Soldaten, der seinen Posten bezieht. Ich konnte der vorgeschrittenen Schwangerschaft wegen nur mit der Feder tätig sein, und Zorn und Begeisterung führte sie. Ich sah eine Zeit nahe bevorstehen, wo die besten Elemente des Bürgertums, wo vor allem die Vertreter der freien Wissenschaft, vor die Wahl gestellt zwischen der Reaktion und dem Proletariat, sich auf die Seite der Arbeiter stellen müßten.

»Du prophezeist trotz einem Bebel,« lachte mein Mann, wenn ich mich fortreißen ließ, alles zu sagen, was ich erträumte, und dann erinnerte er mich an jene anderen Kaiserreden, die den Dreizack des Meeres für die deutsche Faust verlangten, und den Beifall derselben Männer fanden, auf die ich rechnete. Aber ich hörte nicht darauf, ich wollte nicht hören.


Die Fähigkeit, Dunkles zu sehen, war meinem inneren Auge mehr und mehr abhanden gekommen. Wo immer ich den Blick hinwandte: überall war es hell, überall strahlte die Welt voll Frühlingsahnen. Und als es draußen in den [181] Gärten und auf den Plätzen wirklich zu blühen begann, da schien mir's, als wäre dies der erste Lenz, den ich erlebte. Ich saß in der Sonne auf dem Balkon und sah staunend, wie aus den braunen saftig glänzenden Knospen auf den Kastanienbäumen kleine zartgrüne Blätter leise ans Licht strebten. Ich ging am Arm des Geliebten durch den Tiergarten, den ein starker würziger Erdgeruch erfüllte, und stand vor dem Wunder still, das in Hunderten bunter Frühlingsblumen aus dem Rasenteppich emporwuchs. Und die Sonne schien so mild und warm, – wenn sie meine Wange traf, war mir, als streichle sie mich. In der Nacht lag ich oft stundenlang wach; ich war nicht müde. Regte sich dann in meinem Schoß das junge Leben, so strömte es mir durch die Glieder wie Feuer.

Frühzeitig war alles zu seinem Empfang bereit. Oft, wenn niemand es merkte, schloß ich mich ein in dem hellen Zimmer, wo alles seiner wartete, und kniete vor dem kleinen Bettchen, und vergrub meine heißen Wangen in seinen kühlen Kissen.

Einmal, als ich mit Heinrich am Ufer entlang heimwärts ging, an der Bucht vorbei, wo die Weiden ihre grünen Schleier tief bis zum Wasser hinuntergleiten lassen, kam uns ein alter grauhaariger Mann entgegen. Ich hörte zuerst nur seinen schleppenden Schritt, denn die Abendsonne, die im Westen verglühte, blendete mich. Aber ich wußte: das war mein Vater. Meine Knie zitterten. Und schon war er vorbei. Er schien in Gedanken verloren und hatte uns wohl nicht erkannt. Ich wandte den Kopf nach ihm, – da stand er wie angewurzelt und starrte mich an, so voll Zärtlichkeit –! Ich wäre ihm fast zu Füßen gestürzt, aber er machte eine rasche, abwehrende Bewegung und ging weiter. An dem Abend weinte ich. Und ich hatte doch mein Kind vor allem Kummer schützen wollen!

Wenige Tage später waren wir wieder zur gewöhnlichen Zeit fort gewesen. Mit geheimnisvollem Lächeln öffnete mir das Mädchen die Tür, als ich heimkam. Ins Kinderzimmer [182] sollt' ich kommen, sagte sie. Da brannte die Lampe unter dem Rosenschleier, und auf dem weißen Tisch lagen lauter spitzenbesetzte Hemdchen und Jäckchen, und kleine Schuhe und Steckkissen, und lange Tragekleidchen; durch die blauen Bänder, die sie zusammenhielten, waren Sträuße duftender Maiblumen gezogen. »Das gnädige Fräulein brachte alles selbst,« berichtete lächelnd das Mädchen und übergab mir einen Brief von Mama:

»Mein liebes Kind! Das alles schickt Dir Dein Vater. Er hat mir und Deiner Schwester erlaubt, zu Dir zu gehen und Dir seine Grüße zu bringen. Schreibe mir, wann wir Dich besuchen können,« schrieb sie. Bald darauf kam sie selbst. Ich hatte vor Erregung eine böse Nacht gehabt und empfing sie auf dem Diwan liegend. Sie aber war so ruhig, so teilnahmsvoll, als läge höchstens eine Reise zwischen ihrem ersten Besuch und heute. Drohte eine verlegene Pause, so half das Geplauder Ilschens darüber hinweg, die mir von ihren ersten Ballfreuden und ihren Triumphen nicht genug erzählen konnte.

»Wie geht es dem Vater?« fragte ich schließlich zaghaft, da sie zu vermeiden schien, seiner Erwähnung zu tun. »Er ist recht alt geworden,« antwortete Mama langsam. »Aber noch rüstig,« fiel die Schwester ein, und berichtete zum Beweis dafür von den Diners und den Bällen, zu denen er sie begleitet hatte. Sie nannte Namen, die ich nicht kannte, und erwähnte Gesellschaftskreise, die er früher auf das peinlichste gemieden hatte: Tiergartensalons, in denen, wie er zu sagen pflegte, der jüngere Offizier nur als Mitgiftjäger, der alte nur als Tafeldekoration auftritt. Ich fühlte jetzt: er mußte sehr alt geworden sein.

Ehe sie gingen, bat ich Ilschen, nun aber recht oft zu mir zu kommen. Sie sah, statt zu antworten, ängstlich fragend auf Mama. »Allein darf sie euch nicht besuchen,« sagte diese mit dem alten harten Ton in der Stimme, während sich tiefe Falten um ihre Mundwinkel gruben. Als sie fort waren, trat ich auf den Balkon. Ich hatte das Bedürfnis, frische Luft zu schöpfen. [183] Da fiel mein Blick auf die Straße: mit kleinen, hastigen Schritten ging der Vater vor unserer Haustür auf und ab, und als Ilse ihm entgegentrat, wandte er sich ihr mit einer raschen Bewegung zu, und ich sah, wie sie sprach und sprach, und wie er horchte, den Kopf ihr zugeneigt, als fürchte er, auch nur ein einzig Wort zu verlieren. An diesem Abend mußt' ich wieder weinen.


Der Sommer kam. Ich schleppte mich nur noch mühsam die hohen Treppen herauf und hinunter. Ich zählte nicht mehr nach Wochen, sondern nach Tagen. Meine Zimmer standen voll Junirosen.

Ich war noch einmal mit den Kindern in die Stadt gegangen, um zu besorgen, was ihnen für die Ferienreise zu ihrer Mutter noch fehlte. Als ich daheim die Sachen in den Koffer legte, dunkelte es mir plötzlich vor den Augen. Ein jäher Schmerz zog mir den Leib zusammen. Ich schlich ins Wohnzimmer und fiel meinem Mann, der erschrocken vom Schreibtisch aufgesprungen war, in die Arme. »Nun ist's so weit,« flüsterte ich und sah ihn glückselig an. Er schickte zu meiner Ärztin. Ich aber saß still im Lehnstuhl und spottete seiner Ängstlichkeit. Wie hätte ich mich auch nur einen Augenblick lang fürchten können! Wenn ich die Augen schloß, sah ich Großmamas gütiges Antlitz vor mir und hörte sie tröstend wiederholen, was sie mir früher so oft versichert hatte: Ein Kind gebären ist das leichteste von der Welt. Aber der Abend kam und die Nacht, – ich wartete noch immer. Und am folgenden Tag war ich zu schwach, um vom Bett aufzustehen, und in der Nacht standen zwei Ärztinnen um mein Bett, und Heinrich wich nicht von mir. Ich allein spürte nichts von Angst; wenn ich vor Schmerzen stöhnte, so war mir's, als wäre ich's nicht.

Am Morgen des dritten Tages strahlte der Himmel in wolkenloser Pracht; von der Gedächtniskirche herüber klang tiefer [184] Glockenton, und von allen Seiten antworteten ihm hellere Stimmen. »Es will ein Sonntagskind sein,« flüsterte ich lächelnd dem Liebsten zu, der neben mir saß, und an den ich mich klammerte, wenn es gar zu wehe tat.

»Und in der Johannisnacht geboren werden,« hörte ich wie von ferne sagen. Müde sank ich in die Kissen. Mir träumte von den Bergen, die zum Himmelszelt stolz ihre weißen Häupter heben, und von grünen Matten, die sich zart und weich zu Füßen grauer Felsen schmiegen. Und ich sah, wie alle Spitzen zu glühen begannen, als hätten sich die Sterne auf sie herniedergesenkt, und von allen Hügeln die Flammen loderten. Plötzlich aber war mir, als stünde ich selbst auf dem Scheiterhaufen, – schon züngelte das Feuer an meinem nackten Körper empor, – ich schrie laut auf – –

War ich gestorben, – und darum so seliger Ruhe voll?! Ich schlug die Augen auf. »Heinz!« kam es ganz, ganz leise von meinen Lippen. Ich tastete mit den Händen auf dem Bett, – ich fühlte seinen Kopf, – seine Schultern, – warum bebten sie nur so?! Heiße Augen, die durch Tränen leuchteten, richteten sich auf mich. Von der anderen Seite öffnete sich die Türe, ein breiter Strom von Licht ergoß sich in das dunkel verhangene Zimmer, auf der Schwelle stand eine Frau, ein weißes Bündelchen auf den Armen. »Mein Kind –!« rief ich. »Unser Sohn!« antwortete Heinrich und legte ihn mir an die Brust. Ehrfürchtig berührten meine Lippen die von wirren Löckchen dunkel umrahmte Stirn. Und zwei große blaue Augen, in denen des Werdens tiefes Geheimnis noch zu schlafen schien, blickten mich an.

[185]
7. Kapitel
Siebentes Kapitel

Drei Monate später saß ich an unserem Schreibtisch, in einen Artikel vertieft, den ich Wanda Orbin versprochen hatte.

»Fast schien es, als sollte der Züricher Arbeiterschutz-Kongreß den Beweis erbringen, daß die Anhänger der verschiedensten politischen und religiösen Weltanschauungen auf dem Gebiete praktischer Sozialreform zu gemeinsamen Resultaten gelangen könnten. Die Fragen der Kinder- und der Sonntagsarbeit riefen keinerlei tiefere Differenzen hervor. Nur hie und da fiel ein Wort, das wie Wetterleuchten die Abgründe erhellte, die tatsächlich zwischen den Rednern auseinanderklafften. Aber erst die Frage der Frauenarbeit vollzog schließlich die Trennung der Geister. Schon in der vorbereitenden Sektion kam es zu hitzigen Debatten: auf der einen Seite standen die katholischen Sozialreformer Belgiens und Österreichs, unter ihnen Männer in langem Priesterrock und brauner Mönchskutte, auf der anderen die Führer der internationalen Sozialdemokratie, die Bebel und Liebknecht, die Vandervelde und Geier an ihrer Spitze. Und als wir uns am nächsten Morgen in dem hohen Saal der Tonhalle wieder versammelten – einem Saal, der nur für Festesfreude geschaffen schien, – und der blaue See und die weißen Berge durch die breiten Fenster zu uns hereinstrahlten, ein Bild glücklichen Friedens, da wußten wir: heute kommt es zur Schlacht. Die Tribünen waren überfüllt: die ganze studierende Jugend Zürichs drängte sich dort oben zusammen. Erwartungsvolle Erregung brannte auf ihren Wangen. Und unten sammelten sich die Delegierten um ihre Tische: die Luft [186] schien zu vibrieren unter dem Einfluß all der klopfenden Pulse, all der kampfheißen Blicke. Der katholische Demokrat Carton de Wiart trat hinter das Rednerpult zur Verteidigung seines Antrags: Verbot der großindustriellen Frauenarbeit. Mit tiefem Glockenklang erfüllte seine schöne Stimme den Riesenraum und steigerte sich zum tragischen Pathos, wenn sie die zerstörenden Folgen der Frauenarbeit schilderte: ›Der Säugling verkommt in Hunger und Schmutz, die heranwachsenden Kinder werden ein Opfer der Straße; vom erloschenen Herdfeuer flieht der Mann und sucht Trost und Wärme im Trunk ...‹ Er malte nicht zu schwarz, und auch aus den Reihen der Gegner hätte ihm niemand widersprechen können. Aber während die tatsächlichen Zustände ihm und seinen Gesinnungsgenossen als eine beklagenswerte Verirrung der Menschheit erschienen, die durch ein gebieterisches ›Zurück!‹ von dem alten kleinbürgerlichen Familienleben wieder abgelöst werden könnten, sahen die Sozialdemokraten in ihnen eine notwendige Begleiterscheinung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die nur durch ein ›Vorwärts!‹ zum Sozialismus zu überwinden ist. ›Auch wir sind für die Verkürzung der Arbeitszeit, für gesetzlichen Mutterschutz, für Verbot der Frauenarbeit in gesundheitsschädlichen Betrieben,« erwiderte Frau Alix Brandt dem Redner; ›aber für ein Verbot der Frauenarbeit überhaupt sind wir nicht. Denn nicht jenes idyllische Bild glücklichen Familienlebens, das Herr de Wiart in so leuchtenden Farben malte, würde seine Folge sein, sondern eine noch größere Zerstörung der Familie, eine noch gefährlichere Untergrabung weiblicher Kraft. Weder Laune, noch Neigung treibt die Frauen in Scharen in die Fabriken, sondern Not. Schließt ihnen deren Tore, und dieselbe Not wird sie in das Elend der Heimarbeit treiben, wo schrankenlos die Ausbeutung herrscht, wird sie demjenigen Frauenberuf zuführen, vor dem weder die christliche Sittlichkeit des Staates, noch die Ritterlichkeit der Männer das weibliche Geschlecht jemals gehütet [187] haben: der Prostitution.‹ Und in einer Rede voll hinreißender Leidenschaft verteidigte Frau Wanda Orbin die Berufsarbeit der Frau als die Grundlage ihrer sozialen Befreiung: ›Die Arbeit ist ihre Menschwerdung. Was sie auf der einen Seite zerstört, baut sie auf der anderen wieder auf für die sittliche und geistige Einheit von Mann und Frau. Aus den Konflikten zwischen Beruf und Haus erwachsen dem Weibe zwar die größten Schmerzen, aber auch die größte Kraft. Nicht nur, weil ein Verbot der Frauenarbeit heute die Not steigern würde, wie meine Vorrednerin Ihnen auseinandersetzte, stimmen wir geschlossen gegen den Antrag Wiart, sondern weil wir Frauen die Arbeit wollen um unserer Selbstbefreiung willen, um einer künftigen Neugestaltung der Ehe und der Familie willen, die die ökonomische Unabhängigkeit des Weibes zur Voraussetzung hat.‹ Minutenlang umbrauste der Jubel aus dem Saal hinauf, von den Tribünen herab die Rednerin. Und als die Baronin Vogelsang, eine zarte, schlichte Frauengestalt, sie ablöste, – mit niedergeschlagenen Augen und leise zitternden Händen, ungewohnt des öffentlichen Auftretens, – erschien sie wie die Personifizierung jener fernen versunkenen Welt, die sie mit leisen, weichen Worten, mit einem Appell an das Gefühl wieder glaubte heraufbeschwören zu können: ›Um der Kinder willen, denen die Industrie die Mütter raubt, nehmen Sie den Antrag an –;‹ ihre erhobenen Blicke flehten und rührten manch einem ans Herz, so daß die rauhe Wahrheit, die der Verstand erkennt, hinter den weichen Schleiern, die die Empfindung webt, zu verschwinden drohte ...«

Ich legte die Feder aus der Hand und seufzte tief auf. Seit meines Kindes Geburt waren die Probleme der Frauenbefreiung für mich keine bloßen Theorien mehr. Sie schnitten in mein eigenes Fleisch, – und ich war keine Industriearbeiterin, – ich brauchte nicht von früh bis spät in der Fabrik zu schuften, fern meinem Liebling. Mir grauste, wenn ich daran dachte, daß so[188] etwas möglich, ja notwendig sein konnte. Es gab Augenblicke, in denen meine Überzeugung auf tönernen Füßen zu stehen schien.

Schon die Reise nach Zürich war mir schwer genug geworden, obwohl ich mein Kind in bester Obhut zurückgelassen hatte. Meine Phantasie malte sich täglich neue Schrecken aus, die ihm zustoßen konnten. Und wie viele Stunden des Tages mußte ich jetzt fern von ihm sein! Wie oft sprang ich vom Schreibtisch auf und sah sehnsüchtig auf den sonnigen Platz hinunter, wo es, in seinen weißen Wagen gebettet, auf-und niedergefahren wurde. Wie viele Blicke aus seinen blauen Augen, wieviel krähendes Babylachen von seinem roten Mündchen gingen mir verloren! Und abends, und nachts: wie oft mußte ich, statt an seinem Bettchen zu sitzen, in Versammlungen sprechen, an Partei-Zusammenkünften teilnehmen.

Manche meiner Genossinnen kamen aus der Werkstatt und der Fabrik, auch sie hatten kleine Kinder zu Hause und kein Dienstmädchen, um sie zu hüten; – meine Bewunderung für sie stieg und zugleich mein Verständnis für all die Bitterkeit, den Haß und das Mißtrauen, das sich in ihnen angesammelt hatte. Kann ein Weib der Welt, die den Kindern die Mutter entreißt, mit anderen Empfindungen gegenübertreten? Und doch hatte ich mich in Zürich mit aller Leidenschaft dafür eingesetzt, die weibliche Berufsarbeit – auch die der Mütter – zu erhalten? Ich zerriß den halbfertigen Artikel wieder und schrieb an Wanda Orbin ein paar entschuldigende Worte. Ich konnte nicht mehr über eine Frage sprechen, ich war außer stande, den Lesern fix und fertige Ansichten aufzutischen, seitdem sie mir zur persönlichen Angelegenheit geworden war, und ich ihr für mich selbst die Antwort noch schuldig bleiben mußte.

Mein Mann kam nach Hause. »Bist du schon fertig?« fragte er mit einem verwunderten Blick auf den Schreibtisch, dessen Aussehen keine Arbeit mehr verriet. Ich erklärte ihm die Situation, [189] obwohl ich von vornherein wußte, daß ihm das volle Verständnis dafür fehlen würde. Er hatte schon oft nachsichtig, wie über eine kindliche Torheit gelächelt, wenn ich den Konflikt berührte, in dem ich mich befand; er war sogar hie und da heftig geworden, hatte mich für sentimental, für überängstlich erklärt, wenn ich die Trennung von meinem Kinde, die meine Berufs- und Parteipflichten mir auferlegte, so schwer nahm. Auch heute schüttelte er den Kopf und unterdrückte sichtlich eine Antwort, weil er mich nicht verletzen wollte. »Ich glaube, wir haben Grenzpfähle berührt, die das Reich des Weibes von dem des Mannes trennen,« sagte ich nachdenklich. »Wir sind nicht imstande, wie ihr, alle Probleme in kühler Objektivität zu lösen, – wie eine mathematische Aufgabe.«

Gegen Abend besuchte uns Romberg. Wir waren rasch mitten in lebhaftester Debatte. Das Fernbleiben aller jungen sozialpolitischen Professoren vom Züricher Arbeiterschutz-Kongreß hatte wie eine gemeinsame Demonstration gewirkt und war mir um so peinlicher aufgefallen, als es im Gegensatz nicht nur zu meinen großen Hoffnungen, sondern auch im Gegensatz zu ihren eignen Wünschen und Äußerungen gestanden hatte.

»Waren Sie nicht derjenige, der es stets bedauerte, daß Gelehrte und Arbeiter nicht einmal auf dem Gebiet der Sozialpolitik sich begegnen und miteinander beraten könnten?« fragte mein Mann. »Und nun bot sich Ihnen endlich die Gelegenheit, und Sie ergriffen sie nicht!« Romberg biß sich in die Lippen wie immer, wenn er um eine Antwort verlegen war.

»Die Zeit war unglücklich gewählt,« meinte er schließlich zögernd.

»Warum sagen Sie nicht lieber gleich, was die linksliberale Presse zu ihrer Rechtfertigung feierlich erklärte,« rief ich empört, »daß die starke Beteiligung unserer Partei den Kongreß von vornherein zu einem sozialdemokratischen gestempelt habe und preußische Professoren daher nicht hingehörten!«

[190] Er unterbrach mich: »Sie wissen genau, daß der Vorwurf eines Mangels an Mut mich nicht treffen kann!« Ich dachte an das rote Buch und lenkte ein. Aber die gegenseitige Verstimmung wich erst allmählich dem Interesse am Gegenstand unseres Gesprächs.

»Die blutige Wanda hat, wie ich gelesen habe, in Zürich auch die Frauenfrage gelöst,« sagte Romberg mit einem sarkastischen Lächeln.

»Ich fürchte, jede ›Lösung‹ ist nur der Ausgangspunkt neuer Probleme,« erwiderte ich.

Romberg warf mir einen überraschten Blick zu: »Wie, – auch Sie beginnen, an der Unfehlbarkeit Ihrer Päpste zu zweifeln?! Das wird ja immer besser: Schönlank putzt den alten Liebknecht herunter wie einen Schulbuben und weist ihm nach, daß die Verelendungstheorie angesichts der gestiegenen Lebenshaltung der Arbeiter zum alten Eisen geworfen werden muß wie das eherne Lohngesetz seligen Angedenkens; Bebel tritt für die Beteiligung an den Landtagswahlen ein, was ein Preisgeben eines mit aller Lungenkraft verteidigten Prinzipes ist, und Alix Brandt wird zur Antifeministin – –«

»Wenn Ihre Zusammenstellung eine Berechtigung hat, so ist es die, daß meine Zweifel ebensowenig zum Antifeminismus führen wie Schönlanks oder Bebels Negationen veralteter Anschauungen zum Antisozia lismus.«

»Also auch hier nur eine Revision des Programmes?«

»Auf Grund der Revision der Erfahrungen, die wir durchgemacht haben, – gewiß! Übrigens fehlt es ja der Frauenbewegung noch an jedem Programm, weil es ihren Problemen an der wissenschaftlichen Formulierung fehlt.«

»Das wäre eine Aufgabe, die Sie lösen müßten,« meinte Romberg lebhaft.

»Damit würdest du dir und anderen zur Klarheit verhelfen –« fügte Heinrich rasch hinzu, »ein Buch über die Frauenfrage, das [191] von einer Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse ausgehen müßte, das die wirtschaftliche, die soziale und die rechtliche Lage der Frauen zu behandeln hätte ...«

»In Ihnen regt sich doch sofort der Redakteur,« unterbrach ihn Romberg. »Die vage angedeutete Idee ist unter Ihren Händen zur Disposition eines ganzen Werkes geworden.«

Das Herz klopfte mir vor Erregung. Der Gedanke an diese Arbeit packte mich gerade durch seine Selbstverständlichkeit. Ein zusammenfassendes, grundlegendes Werk der Art gab es noch nicht. Es fehlte nicht nur mir, es fehlte der ganzen Bewegung, die auch darum so unsicher hin- und hertastete.

»Ich habe, fürchte ich, die nötigen Vorkenntnisse nicht,« meinte ich schließlich zaghaft.

»Dafür haben Sie ja einen Nationalökonomen zum Mann,« antwortete Romberg.

Während des Abends, den wir im Theater verbrachten, dachte ich nur an den Plan der Arbeit, die ich entschlossen war auszuführen. Erst auf Rombergs wiederholtes: »Sehen Sie nur!« sah ich mich um. In der Reihe vor uns erschienen zwei seidenrauschende Damen mit goldroten Haaren, feuchtschimmernden Augen und unnatürlich glühenden Lippen. »Wird für diese in Ihrem Zukunftsstaat kein Platz sein?« flüsterte Romberg. »Ich hoffe nicht!« sagte ich. »Schade!« antwortete er lächelnd. In der Bewunderung für derlei Erscheinungen ist er wie ein Onkel aus der Provinz, dachte ich ärgerlich. Als wir aber nachher, seiner Gewohnheit gemäß, die die Nacht gern zum Tage machte, noch lange bei uns zusammensaßen, kam er auf die Begegnung zurück: »Können Sie sich wirklich eine Welt als wünschenswert vorstellen, in der alle Frauen Berufsphilister werden, wie es heut schon alle Männer sind, in der sie keine Zeit mehr haben, ihre Schönheit zu pflegen, kurz, in der alle duftenden Luxusgärten in Kartoffelfelder verwandelt werden?« –

[192] »Ich würde solch eine Welt zerstören und nicht schaffen helfen! Aber Frauen wie jene, auf die Sie anspielen, gehören nicht zu den duftenden Blumen, zu den an sich unnützen, aber unentbehrlichen Reizen des Lebens, – sie sind verdorbene Speisen für verdorbene Gaumen.«

»Sie mögen in dem Einzelfall recht haben; unumstößlich aber bleibt für mich das Eine: nicht die Berufsarbeiterin, nicht die, nach Ihren Begriffen freie, emanzipierte Frau wird der Kultur höchste Blüte sein, sondern die femme amante.« Er sah mich kampflustig an, er liebte den Widerspruch und erwartete ihn; der Typus einer Frauenrechtlerin stand für ihn ein für allemal fest, und er glaubte immer wieder, ihn in mir vor sich zu haben.

»Sie hoffen umsonst auf meine sittliche Empörung,« spottete ich, »meine Meinung stimmt fast überein mit der Ihren, nur daß ich die Existenz derfemme amante leugne, so lange nicht die wahrhaft freie Frau ihre Voraussetzung ist ...«

Als Romberg uns verlassen hatte, zog mein Liebster mich in seine Arme und flüsterte mir ins Ohr: »Hätte ich nicht meinem dummen Katzel widersprechen müssen, das die femme amante wegdisputieren will und selbst nichts anderes ist?« »Und nichts anderes sein will,« sagte ich leise und gab ihm seinen Kuß zurück.

Ich lag noch lange wach und grübelte. Ob ich ihm anvertrauen könnte, was mich bewegte? Schon in der kurzen Zeit meiner Ehe war mir klar geworden, was ich vorher nicht verstanden und darum nur verurteilt hatte: warum Staat und Kirche nicht die Liebe, sondern die Pflicht zur Grundlage der Ehe gemacht haben, warum nach ihnen die Zeugung, Erhaltung und Erziehung der Nachkommenschaft ihre Hauptaufgabe ist. Die Ehe kam mir vor wie eine moralische alte Jungfer, die der jungen unbändigen Liebesleidenschaft durch ihre Predigten das Leben ständig vergällt. Die Liebe braucht Festtagsstimmung, die Ehe braucht den Alltag. Vor jedem rauhen Luftzug, den die [193] Ehe erzeugt, läßt die zarte Blume der Liebe die Blätter hängen. Die Liebe ist ein Rausch, die Ehe ist nüchtern. Lodern auf dem Altar der Liebe die Flammen, so schämen sich die Opfernden wie arme Sünder, wenn die Ehe sie plötzlich ertappt. Eins aber vor allem wurde mir täglich gewisser: die Liebe fordert Freiheit, die Ehe Abhängigkeit. Eines muß sich dem anderen unterordnen, wenn der Frieden des Hauses gewahrt sein soll, wo aber in der Liebe Unterordnung anfängt, flieht sie selbst.

So türmten sich die Probleme der Frauenfrage, –meiner Frauenfrage. Wahrlich, es war eine große Aufgabe, sie zu lösen.


Ich stürzte mich mit Feuereifer in die Vorstudien meiner Arbeit; daß sie mich ans Haus, an den Schreibtisch fesselte, war eine willkommene Begleiterscheinung.

Als der Vortragsaufforderungen gar zu viele wurden, – und es blieb nicht bei bloßen Aufforderungen, deren Annahme oder Ablehnung der Entscheidung des einzelnen überlassen blieb, die Genossinnen verfügten vielmehr, ohne viel zu fragen, über meine Arbeitskraft –, erzählte ich von dem Buch, das ich vorbereitete, und das mir gewisse Beschränkungen auferlege. Ich war nicht wenig erstaunt, daß dieselben Menschen, die der Wissenschaft eine fast unbegrenzte Bedeutung zumaßen, über meine Mitteilung die Nase rümpften und sie nur als einen Vorwand ansahen, um mich von der Agitation zurückzuziehen. Je mehr ich sie zu überzeugen suchte, desto weniger verstanden sie mich. »Wer so 'ne Erziehung jehabt hat wie die Jenossin Brandt, für den is das Schreiben doch keen Kunststück,« sagte eine von ihnen. »Un ieberhaupt: im Erfurter Programm steht haarkleen allens, wat wir wollen,« fügte eine andere hinzu. »Genosse Bebels ›Frau‹ und Genossin Orbins Artikel in der ›Freiheit‹ sind als Grundlage für unsere Bewegung mehr als ausreichend,« sagte Martha Bartels mit einer Schärfe, die sich steigerte, je älter sie [194] wurde. Ich sah ein, daß nichts zu machen war; im Grunde hatten die Frauen recht, wenn sie sich um ungelegte Eier nicht kümmern mochten.

Nur eine Idee erwähnte ich noch, die ich kürzlich als den gesunden Kern aus der ungenießbaren Schale einer französischen Broschüre herausgeschält hatte: die einer staatlichen Mutterschafts-Versicherung. Ich wollte ihr eine fest umrissene Gestalt geben und sie in den Mittelpunkt meines Buches stellen. Die Mutter schützen, solange sie das Kind unter dem Herzen trägt, sie dem Kinde erhalten, solange es der Pflege und Ernährung durch sie bedürftig ist, – das schien mir aber auch ein Ziel, würdig einer starken Bewegung, es zu erreichen. Ich schlug vor, in unseren Versammlungen die Frage zur Erörterung zu bringen. Aber seltsam: um unseren Sitzungstisch saßen die früh gealterten, abgehärmten Mütter, und kein Wort, keine Miene verriet, daß der Gedanke sie zu erwärmen vermöchte. Alles Neue galt ihnen zunächst als etwas Feindliches. Diese Revolutionärinnen hatten schon eine Tradition und waren darum vielfach reaktionär.

Von dem Plan meines Werkes sprach ich mit ihnen nicht mehr. Aber ich beschloß, alle Zeit, die mir blieb, ihm zu widmen.

Doch auf die Möglichkeit stetiger Arbeit hoffte ich vergebens.

An unserem Schreibtisch saßen wir, mein Mann und ich. Wie schön hatten wir es uns gedacht, das gemeinsame Arbeiten! Aber dieses Einandergegenübersitzen von zwei Menschen, die sich lieben, die jeden Ausdruck im Gesicht des anderen sehen müssen und unwillkürlich zu deuten versuchen, diese Sorge, einander ja nicht zu stören, schufen eine Atmosphäre von Nervosität, die um so unerträglicher wurde, als keiner den Mut hatte, sie dem anderen zu gestehen. Es kam vor, daß ich aufatmete, wenn mein Mann das Zimmer verließ; und oft ging ich hinaus, weil ich fühlte, daß er allein sein mußte.

Tausenderlei Dinge zerrissen die Tage und die Stimmung: Da gab's bei den Kindern Vokabeln zu überhören und Anzüge [195] zu flicken, da waren die Haushaltssorgen, die mich um so stärker in Anspruch nahmen, je weniger ich von ihnen verstand, und die ständige angstvolle Frage: komme ich aus? Auf meinen Mann, der für mich die Güte und Rücksicht selber war, wirkte sie wie ein rotes Tuch. Ohne irgendeine Erklärung und Entschuldigung gelten zu lassen, hielt er mich stets für schuldig, wenn ich sie nicht bejahend beantworten konnte. »Du verschwendest, – du läßt dich vom Mädchen betrügen –,« rief er, während die Zornadern ihm auf der Stirne schwollen. Und doch lebten wir nach meinen anerzogenen Begriffen über die Maßen einfach. Mich kränkte sein Zorn, den ich als Ungerechtigkeit empfand. Ich konnte keine gute Hausfrau sein, wenn ich zu gleicher Zeit meinen schriftstellerischen Beruf ausüben wollte. Das menschliche Gehirn ist auf das Nebeneinander von zwei Gedankenketten nicht eingerichtet. Und der Haushalt erfordert um so mehr die Gedankenwelt der Frau, je weniger ihr seine Pflichten zur mechanischen Gewohnheit geworden sind. Mir blieb kein Ausweg: ich verschwieg meine Sorgen, ich vermied es soviel als möglich, meinen Mann um Geld zu bitten, was ich immer als eine Erniedrigung meiner selbst empfand. Wanda Orbin hatte recht, tausendmal recht: die ökonomische Selbständigkeit des Weibes ist die Voraussetzung einer glücklichen Verbindung der Geschlechter, sie hilft so manche andere Klippen der Ehe umschiffen. Ich schrieb, neben der Vorarbeit für mein Buch, wieder Artikel für Zeitschriften und Tagesblätter, um Geld zu verdienen.

Nur wenn ich bei meinem Kinde war, wenn seine Pflege meine Gedanken in Anspruch nahm, dann empfand ich das nicht wie eine Störung oder wie ein Ablenken von meiner eigentlichen Tätigkeit. Fühlte ich sein warmes rundes Körperchen in meinen Armen, so strömte wunschloser Friede mir tief ins Herz. Lachten mich seine blauen Augen an, so vergaß ich alles darüber, was es an Glück in der Welt noch geben mochte, und weinte es, und ich wußte nicht warum, so gab es kein Menschenleid, das [196] mir hätte größer erscheinen können; klammerten sich seine rosigen, kleinen Finger fest um die meinen, so fühlte ich, daß es für immer von mir Besitz ergriffen hatte; daß mein Herz dazu da war, um es zu lieben, mein Geist, um es zu erziehen, meine Kraft, um ihm den Weg ins Leben bahnen zu helfen. Kam ich von ihm zu meinem Mann zurück, so war jeder Schatten verschwunden, ich liebte ihn doppelt, weil er meines Kindes Vater war. Und sah ich meine Stiefsöhne dann, so tat mir das Herz weh: ich konnte sie nicht lieben wie mein eigenes Kind; sie mußten das fühlen, wenn ich mich auch noch so sehr bemühte, meine Zärtlichkeit für den Kleinen nur zu äußern, sobald sie fern waren.

Zuweilen, wenn das Geld wieder einmal recht knapp war, dachte ich nicht ohne Bitterkeit an die reiche Mutter dieser Kinder. Aber meinem Mann sagte ich nichts davon. Die Erziehung, die ich zu Hause genossen hatte, und deren Folgen Georgs sanfte Hand von mir abzustreifen vermochte, bekam wieder Macht über mich: ich lernte schweigen, um nicht zu verletzen, und um Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen.

Meine Mutter kam um jene Zeit häufig zu mir. Seitdem wir unser Kind hatten taufen lassen, war sie viel milder und herzlicher geworden, obwohl ich sie über unsere Beweggründe nicht im Irrtum gelassen hatte. »Wir haben kein Recht, dies Kind von vornherein in eine Ausnahmestellung zu zwingen,« hatte ich ihr gesagt, als sie in unserer Handlungsweise einen Ausdruck unseres eigenen Gesinnungswechsels zu sehen glaubte; »ebensowenig wie wir es später, wenn es selbständig denken kann, hindern wollen, zu tun oder zu lassen, was seiner eigenen Überzeugung entspricht.«

Aber nach anderen Richtungen hütete ich mich um so mehr, sie ins Vertrauen zu ziehen. Sie hatte mir häufig gesagt: »Wenn du einmal verheiratet bist, wirst du einsehen, daß das Leben der Frau aus lauter Opfern und im Kampf mit lauter [197] Kleinkram besteht!« Sie durfte nicht glauben, daß ihre Prophezeiung in Erfüllung gegangen wäre. Und sie mußte in der Meinung erhalten werden, die sie schließlich allein über meine Heirat getröstet hatte: daß meine äußere Lage die behaglichste sei. An der Art, wie diese ruhige, anscheinend kühle Frau ihre Freude darüber äußerte, sah ich erst, wie sehr sie selbst unter den dauernden pekuniären Sorgen gelitten hatte. Wie oft hatte ich sie um ihrer Härte willen im stillen angeklagt. Jetzt bat ich ihr manches ab. Ich erinnerte mich, wie umsichtig sie den großen Haushalt geführt hatte, wie sie stunden-und tagelang Wäsche flickte und uns unsere Kleider nähen half, – wie schwer mochte es auch ihr geworden sein, wie viel mochte sie entbehrt haben!


Weihnachten 1897 war es. Zum erstenmal putzte ich für mein Kind den Weihnachtsbaum. Erstaunt riß es die Augen auf und streckte die Händchen verlangend aus, als es die vielen bunten Lichter sah! Unter der Tanne lag allerlei Spielzeug für ihn, darunter ein großer bunter Hampelmann, den mein Vater geschickt hatte. Mit dem Söhnchen auf dem Arm trat ich zu meinem Weihnachtstisch, auf dem ein geheimnisvoll versiegelter Brief lag. Ich öffnete ihn, während mein Junge fröhlich lallend den Hampelmann hin- und herschwenkte: »Ein Häuschen im Grunewald« stand darin. Vor Überraschung war ich sprachlos. Heinrich umarmte mich und das Kind, glückselig über die Freude, die er bereitet hatte. In aller Stille hatte er mit Hall verhandelt und ihn rasch bereit gefunden, unseren Wunsch durch die Beschaffung von Baugeld und Hypotheken erfüllen zu helfen. »Wie wird unser Kind gedeihen, wie ruhig und friedlich wird meine Alix dort arbeiten können!« sagte er.

»Werden wir auch die Zinsen aufbringen können?« meinte ich schließlich, nachdem der erste Sturm der Freude sich gelegt [198] hatte. Ein Schatten flog über seine Züge: »Mußt du dich immer gleich wieder fürchten, – auch angesichts solch eines Glücksfalles?!« Beschämt senkte ich den Kopf. Die Lichter waren längst erloschen, und die Kinder schliefen, unser Liebling mit dem Hampelmann, fest an sich gedrückt; der süße Duft der Wachskerzen, vereint mit dem starken der Tanne, erfüllte das Zimmer; wir großen Kinder träumten darin unseren Weihnachtstraum: von dem stillen Häuschen im Wald, fern dem Lärm der Großstadt, von einer Heimat, die wir beide nie gekannt hatten, von unserm Kind, das wachsen sollte wie die Bäume: die Wurzeln im Boden der Mutter Erde, das Haupt erhoben, der Sonne zu und dem Sturme trotzend.

Am nächsten Morgen, einem echten Weihnachtsfeiertag, über den der Himmel all seinen Glanz und seine Farben goß, zog ich meinem blonden Buben ein weißes Mäntelchen an, packte ihn sorgfältig in die weichen Kissen seines weißen Wagens und schickte ihn zu den Eltern. Meine Gedanken begleiteten ihn: wie ein helles Licht sah ich ihn auftauchen in dem dunklen Flur, sah, wie der Großvater ihn feuchten Auges in die Arme nahm, fühlte, wie der letzte eiserne Reifen um des alten Mannes Herz zersprang.

»Das war ein lieber Gedanke von Dir,« schrieb die Mutter. »Ich habe Deinen Vater seit Jahren nicht so froh gesehen. Er strahlt noch jetzt und behauptet, es gäbe in der ganzen Welt kein zweites Kind wie seinen Enkel. Mich hat die Nachricht von Heinrichs Weihnachtsgeschenk noch besonders beglückt: so hat Gott meine Gebete doch erhört und alle Strafe von Dir abgewendet!«


Unseren wundergläubigen Vorfahren galten die zwölf Nächte, die dem Weihnachtsabend folgen, für heilig: in dieser Zeit wurde die Arbeit auf das Notwendigste beschränkt, nur in Feiertagsgewändern begegneten die Menschen einander, und [199] die Träume, die geträumt wurden, gingen in Erfüllung. Unter der Schwelle unseres Bewußtseins lebt und wirkt auch heute noch dieser Glaube. In den Straßen und in den Herzen ist es stiller als sonst. Der fieberhafte Pulsschlag des öffentlichen Lebens stockt. Selbst der heimatloseste Weltenbummler sucht sich einen Winkel Familienleben, wo er unterkriechen kann. Und wem es recht wohl und warm ums Herz wird, der wünscht zuweilen, sich auf immer einspinnen zu können in diese Stille.

Aber das junge Jahr wirft alle guten Gaben, die die Greisenhand des alten zum Abschied spendete, aus seinem Lebenspalast hinaus und ruft mit schmetternden Fanfaren zu neuen Kämpfen, richtet Ziele auf mit lockenden Preisen, so daß auch die süß Schlummernden sich dem Land ihrer Träume entreißen und im grellen Licht des Tages den alten Wettlauf wieder beginnen.

So erging es auch uns. Sturmzeichen sahen die Wetterkundigen am Himmel seit jenen ersten Gewitterwolken kaiserlicher Reden im vergangenen Jahr. »Rücksichtslose Niederwerfung jeden Umsturzes« hatte die eine gefordert, als »Vaterlandslose« hatte die andere diejenigen gebrandmarkt, die den Flottenforderungen ablehnend gegenüberstanden. Inzwischen war die Flottenvorlage dem Reichstag zugegangen, die ihren Schatten monatelang vorausgeworfen hatte, und auf sieben Jahre hinaus Millionen und Abermillionen für neue Schiffsbauten forderte. Doch die stürmische Entrüstung, zu welcher der Philister sonst immer bereit ist, wenn seinem Geldsack Gefahr droht, war ausgeblieben. Denn in feiner psychologischer Kenntnis der Menschennatur, die um so überraschender war, als die Regierungen ihre Völker mit dergleichen nicht zu verwöhnen pflegen, waren Vorfälle, die früher spurlos vorübergingen, – wie der Streit eines deutschen Kaufmanns mit den Polizeibehörden der Republik Haiti und die Ermordung zweier deutscher Missionare in China, – zu so ernsten Konflikten mit fremden Mächten aufgebauscht worden, daß der furor teutonicus sich [200] daran zu entzünden vermochte. Einmal gereizt, griff der gute deutsche Michel wutschnaubend nach dem Racheschwert, und in seinen Träumeraugen brannte plötzlich wieder die alte Sehnsucht nach fernen fremden Ländern und ihren Märchenschätzen. Was uns, die wir nüchtern geblieben waren, wie eine romantische Floskel klang, – die pathetische Rede des Kaisers an seinen nach China ausziehenden Bruder von dem Dreinfahren der gepanzerten Faust und dessen Antwort von dem »Evangelium der geheiligten Person Seiner Majestät«, das er im Auslande verkünden wolle, – das entsprach im Augenblick dem fanatisierten Empfinden des deutschen Bürgers. Er, dessen Leben so lange sang- und klanglos dahingeflossen war, der seit Bismarcks Abschied für seine Begeisterungsfähigkeit keinen Gegenstand mehr gehabt hatte, berauschte sich an der Idee der Weltmacht, und die ungeheure Flottenforderung schreckte ihn nun nicht mehr.

Aber die Regierung erreichte durch ihre Politik noch mehr als das: hatte das Interesse eines großen Teiles der Bourgeoisie sich in einer für sie bedenklichen Weise in den letzten Jahren der sozialen Frage zugewandt, so war nunmehr ein Mittel gefunden, es von ihr abzulenken. Mit schmerzlichem Erstaunen sah ich, wie Männer, auf die ich noch vor wenigen Monden für unsere Sache gerechnet hatte, den Nationalismus über den Sozialismus siegen ließen, wie selbst ein Romberg und seine Freunde die Weltmachtpolitik verteidigten. Daß es zwischen ihr und der Arbeiterpolitik nichts anderes geben könne als unversöhnlichen Gegensatz, schien mir über allem Zweifel zu stehen. Für Rombergs Argumente, der in der Erschließung neuer Absatzgebiete auch einen Vorteil für die deutsche Arbeiterschaft sah, war ich vollkommen unzugänglich.

Die große Flutwelle patriotischer Begeisterung trieb nicht nur alte Freunde von unserer Sache ab, sie trug uns auch neue Feinde zu. Vielen, die sich um Politik bisher kaum gekümmert hatten, galten wir jetzt als Feinde des Vaterlandes, die mit [201] allen Mitteln bekämpft werden müßten. Der Weizen Herrn von Stumms, unseres grimmigen alten Gegners, blühte; er drohte mit der Revolution von oben, wenn die Flottenvorlage im Reichstag zu Falle käme. Und tatsächlich schien ein neues Ausnahmegesetz in Vorbereitung. Der »Vorwärts« veröffentlichte ein Geheimschreiben des Staatssekretärs des Innern an die verbündeten Regierungen, worin er ein Gesetz zum Schutz der Arbeitswilligen in Aussicht stellte, das, nach den Absichten unserer Gegner, die Koalitionsfreiheit der Arbeiter notwendig beeinträchtigen, wenn nicht vernichten würde.

Was die Regierung gewollt hatte, wurde erreicht: eine Mehrheit für die Flottenvorlage, eine scharfe Trennung zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie für die Wahlen zum neuen Reichstag.

Aber auch für uns schien die Lage günstig: auf der einen Seite die Weltmachtpolitik mit ihrer möglichen Folge kostspieliger Kriegsabenteuer und drückender Steuerlasten, auf der anderen die Bedrohung des Koalitionsrechtes, – war das nicht genug, um die proletarischen Massen zu einem gewaltigen Protest aufzupeitschen?! Warum war die Stimmung in unseren Versammlungen so flau, warum fehlte auch mir, wenn ich sprach, jene anfeuernde Kraft der Rede, die früher an ihren Wirkungen zutage getreten war? Die starke, hoffnungsvolle Freudigkeit war verloren gegangen, als ob sich zwischen uns und das Ziel, dem wir so leidenschaftlich zustrebten, ein dunkler Schleier gesenkt hätte. Durch die Einheit, die unsere Kraft gewesen war, ging ein blutender Riß. Das Instrument der Partei klang verstimmt, als wäre eine Saite gerissen.

Langsam und allmählich, für die meisten unmerklich, hatte es sich vorbereitet: mit der Entwickelung der Sozialdemokratie von der Sekte zur Partei hatte sich zuerst die Taktik ihres Vorgehens leise verändert. Von der Ablehnung jeder Beteiligung an einem Parlament des kapitalistischen Staates als eines unmöglichen [202] Paktierens mit der Bourgeoisie bis jetzt, wo sogar von alten bewährten Führern die Teilnahme an den Landtagswahlen unter dem Dreiklassenwahlsystem empfohlen wurde, war ein weiter Weg. Und er war gegangen worden. Was einer der wenigen Staatsmänner der Partei, Georg von Vollmar, nach dem Fall des Sozialistengesetzes unter dem empörten Widerspruch der radikalen Elemente in der Partei erklärt hatte: daß in dem Maße, in welchem wir einen unmittelbaren Einfluß auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten gewinnen, wir unsere Kraft auf die nächsten und dringendsten Dinge konzentrieren müßten, und »dem guten Willen die offene Hand, dem schlechten die Faust« zu zeigen sei, – das hatte sich von Jahr zu Jahr als immer notwendiger erwiesen, und vor der Logik der Tatsachen wich die radikale Phrase bloßer Verneinung Schritt vor Schritt zurück.

Jetzt aber begann sogar die altehrwürdige Theorie vor dem Ansturm der jungen Praxis in ihren Grundfesten zu zittern. Im Lichte der fortschreitenden Zeit erwiesen sich manche Fundamentalsätze, wie sie das Erfurter Programm formuliert hatte, als überholt. Schon die Beschäftigung mit der Agrarfrage hatte gezeigt, daß die wirtschaftliche Entwickelung sich nicht überall mit den von Marx aufgestellten Gesetzen in Einklang bringen ließ, daß die Konzentrierung des Kapitals sich nicht so rasch und nicht so schematisch vollzieht, wie er auf Grund damaliger Erfahrungen angenommen hatte. Und auch das vom kommunistischen Manifest mit apodiktischer Sicherheit in Aussicht gestellte allgemeine Herabsinken der Arbeiter in den Pauperismus war nicht eingetreten; die Lebenslage des Proletariats hatte sich vielmehr im Laufe des letzten halben Jahrhunderts gehoben. Und nun trat einer der bewährtesten Vorkämpfer des Sozialismus, einer ihrer Märtyrer, der noch im Exil in England lebte – Eduard Bernstein –, auf und erörterte in breiter Öffentlichkeit die neuen Probleme des Sozialismus. Er rüttelte weder [203] an seiner Voraussetzung noch an seinem Ziel, aber er zeigte an der Hand der Tatsachen, daß der Weg zwischen beiden länger ist und an ders geartet, als Marx und seine Schüler ihn dargestellt hatten, daß wir ihn daher mehr berücksichtigen, unsere Handlungen mehr auf seine Etappen, als auf das schließliche Ende einstellen müßten.

Auf uns, die wir durch die Erkenntnis des Elends in der Welt zum Sozialismus geführt worden waren, die wir von ihm in einem in seiner Wurzel religiösen Glaubensüberschwang die Erlösung von allem Übel erwartet hatten, wirkte die kühle Klarheit der Bernsteinschen Beweisführung niederschmetternd. Meinem Verstande waren die Grundsätze des Sozialismus so ohne weiteres einleuchtend gewesen, weil mein Gefühl mit seinem Wollen von vornherein übereinstimmte. Sie kritisch und wissenschaftlich zu prüfen, war mir, wie Tausenden meiner Gesinnungsgenossen, nie eingefallen. Jetzt war es ein Gebot der höchsten Tugend, – der intellektuellen Redlichkeit, – es nachzuholen.

Die Zeiten meiner religiösen Kinderkämpfe schienen wiedergekehrt zu sein. Nur daß ich jetzt mit allen Fasern meines Innern in dem Glauben wurzelte, dem ich meinen ganzen Lebensbesitz geopfert hatte, aus dem ich alle meine Kräfte sog. Was stand noch fest, dachte ich verzweifelt, wenn so vieles schwankte? Ernüchtert, – bar jener stürmischen Begeisterung, die mich ausziehen ließ, der Menschheit eine neue Welt zu erkämpfen, sah ich den langen, öden Weg vor mir mit all seinen kleinen Hindernissen, die im Schweiße unseres Angesichts überwunden werden sollten, und mit dem Ziel, das im Nebel der Ferne fast verschwand. Die Naivetät jungen Glaubens, die noch keine Probleme kennt, ist für die Masse der Menschen die Voraussetzung ihres Enthusiasmus und damit ihrer Stärke. Ich hatte sie verloren wie viele meiner Genossen; das lähmte uns. Oft kamen Augenblicke, wo ich die anderen beneidete, die, sei es aus unbewußter [204] Furcht vor einem inneren Zusammenbruch, sei es aus einer gewissen Beschränktheit ihres Denkens, den alten Glauben gegenüber der neuen Erkenntnis aufrecht erhielten und leidenschaftlich verteidigten. Mein Gefühl war auf ihrer Seite, und nur zu häufig riß es mich wieder mit sich fort. Vielleicht wäre es sogar auf lange Zeit hinaus das herrschende geblieben, wenn nicht mein Mann immer wieder meinen Verstand gegen mein Herz zu Hilfe gerufen hätte. Und die Tatsachen und die Zahlen waren unerbittlich: Die Konzentration des Kapitals und die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat waren die beiden anerkannten Bedingungen der Verwirklichung des Sozialimus. Aber der Schneckengang der Entwickelung zum Großbetrieb, der zuweilen sogar ein Krebsgang zu sein schien, und die Tatsache, daß von hundert Wahlberechtigten nur achtzehn sozialdemokratische Stimmzettel abgaben und mehr als die Hälfte der erwachsenen männlichen Arbeiterschaft der Sozialdemokratie noch gleichgültig, wenn nicht feindlich gegenüberstand, bewiesen, wie weit wir noch vom Ziel entfernt waren. Eine Selbsttäuschung hierüber wäre ein Verbrechen an unserer Sache gewesen, – das sah ich ein. Es galt, den Kinderglauben ruhig und mutig aufzugeben.

Mit jener rücksichtslosen Leidenschaft, die stets das Produkt der Angst um die Gefährdung der Grundlagen des Lebens und Wirkens ist, bekämpfte die Masse der Arbeiterschaft, an ihrer Spitze all die Führer, deren heißblütiges Temperament über alle Zweifel siegte, und all die klugen Demagogen, die auf der Seite der Mehrheit blieben, weil ihre Macht von dieser Mehrheit abhing, die neuen Ideen und ihre Vertreter. Und dieser ganze Kampf fiel in die Vorbereitung der Reichstagswahlen; er lähmte die Agitationskraft der einen, die wie ich noch mit sich selbst zerfallen waren, er lenkte die Interessen der anderen ab, die die Partei vor dem unheilvollen Einfluß der Ketzer glaubten schützen zu müssen.

[205] Wenn ich in Versammlungen sprach, fühlte ich: meine Worte zündeten nicht. Einmal traf ich bei solcher Gelegenheit Reinhard wieder. Er schien mir sehr gealtert. Wir sprachen über unsere Aussichten. »Wir hätten zwanzig bis dreißig Mandate erobern können,« sagte er, »wäre das ganze Getratsch von Endziel und Bewegung uns nicht in die Parade gefahren.«

»Hat Bernstein etwa nicht recht?!« fragte ich.

»Recht! – Recht!« antwortete er heftig. »Natürlich hat er recht in dem, was er sagt, aber daß er es sagte, in diesem Augenblick sagte, war ein Fehler, ein schwerer Fehler. Wir alten Gewerkschafter, die wir mitten im Leben stehen, sind schon lange seiner Meinung, aber wir machen die Genossen nicht kopfscheu mit theoretischem Kram, wir handeln einfach, wie die Verhältnisse es fordern.«

»So hätte er schweigen sollen?«

»Keineswegs! Er hätte nach den Wahlen fünf Jahre zum Reden Zeit genug gehabt. Aber daß er uns jetzt diesen Knüppel zwischen die Beine schmeißt –«

Ich dachte an Reinhards Worte, als mir ein andermal in der Diskussion ein rabiater Genosse vorwarf, auch ich hätte »das Endziel in die Tasche gesteckt«, und verteidigte mich nicht. Solange wir im Kampf gegen den gemeinsamen Gegner standen, mußte die Streitaxt begraben werden. Aber die Radikalen dachten anders. Es kam vor, daß Reichstagskandidaten von den eigenen Genossen wie Parteiverräter behandelt wurden. Wanda Orbin vor allem, die immer wieder erklärte, daß die Reinheit der Partei ihr höher stünde als ihre numerische Stärke, wurde zur fanatischen Gegnerin aller derer, die sich nicht unverbrüchlich auf die alten Dogmen einschwuren. Und mehr als je hatte sie die Frauen auf ihrer Seite, – die Frauen, die nicht auf dem Wege wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern einzig und allein durch ihr Gefühl geleitet, zu Sozialistinnen geworden waren. Mit jener naiven Kraft der ersten Christen, die ihr ganzes Tun [206] und Denken auf die unmittelbare Wiederkehr des Gekreuzigten eingerichtet hatten, hofften sie auf die baldige Erfüllung ihres Zukunftstraums.

Als das Resultat der Wahlen bekannt wurde, – es war in bezug auf die Zunahme der Mandate, aber noch mehr im Hinblick auf das Stimmenverhältnis weit hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben, – stieg die Erbitterung gegen die »Bernsteinianer«, denen man die Schuld an diesem Ergebnis zuschob, noch mehr.

Ein Symptom für die allgemeine Stimmung war der Beschluß, der nach einer stürmischen Versammlung im Feenpalast von den Berlinern gefaßt wurde. Seinem Wortlaut nach richtete er sich zwar nur gegen eine Beteiligung an den Landtagswahlen in Berlin selbst, sein Tenor aber war eine Verurteilung der Beteiligung überhaupt. Sie erschien den Radikalen als ein bedenkliches Hinneigen zu revisionistischen Ideen.


In dem Kreise der Genossinnen äußerte sich das gegenseitige Mißtrauen weniger im Streit um Meinungen als in persönlichen Reibereien. War ich schon während meiner Tätigkeit in der bürgerlichen Frauenbewegung zu der Überzeugung gelangt, daß diese spezifisch weibliche Art nur durch eine Zusammenarbeit mit dem Mann sich beseitigen lassen würde, so war ich jetzt entschlossen, den Einfluß, den ich noch besaß, nach dieser Richtung geltend zu machen.

»Wir haben die Gleichberechtigung der Geschlechter auf das Programm geschrieben, wir müssen sie also zu allererst in der eigenen Partei durchführen,« erklärte ich, und selbst die Feindseligsten waren in diesem Gedanken mit mir einig. »Bei den Genossen aber werden Sie damit schön abblitzen!« meinte Martha Bartels. »Bei denen heißt's noch immer, wenn unsereins den Mund auftut: Kusch dich! zu Hause – wie in der Bewegung,« [207] sagte eine andere langjährige Parteigenossin. »Sie wissen, wie wir voriges Jahr behandelt worden sind, –« fügte die dicke Frau Wengs hinzu, »als wir auch nur eine einzigste von uns in den allgemeinen Versammlungen als Delegiertin zum Parteitag wollten aufgestellt haben. ›Wascht man eure dreckige Wäsche alleene –,‹ sagten uns die Vertrauensleute.« »So müssen wir eben immer wiederkommen,« entgegnete ich. »Na – für die schönen Augen von Genossin Brandt tun sie's am Ende,« höhnte Martha Bartels. Endlich beschloß man, noch einen Versuch zu machen, und es gelang auf einer der Parteiversammlungen, zunächst meine Delegation zum Parteitag der Provinz Brandenburg durchzusetzen. Die Freude der Genossinnen über diesen Erfolg war die der Kinder, wenn sie ein neues Spiel beginnen: auf eine Zeitlang war jeder Streit vergessen.


Am Vorabend der Provinzialkonferenz veröffentlichte die Presse eine neue Rede des Kaisers, die er im Kurhause von Oeynhausen gehalten hatte: »Das Gesetz naht sich seiner Vollendung und wird den Volksvertretern noch in diesem Jahre zugehen, worin jeder, der einen deutschen Arbeiter, der willig ist, seine Arbeit zu vollführen, daran zu verhindern sucht, oder gar zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus bestraft werden soll ...«

Das bedeutete nichts weniger und nichts mehr, als eine Vernichtung des Koalitionsrechts, das war eine Kriegserklärung an das Proletariat, für die es nur eine Antwort gab: einmütiges Zusammenhalten. In der Sitzung am nächsten Morgen brachte ich eine Protestresolution ein, die zur einstimmigen Annahme gelangte, und unter dem Eindruck der kaiserlichen Drohung verlief die Tagung ohne einen Mißklang. Martha Bartels schüttelte mir herzlich die Hand, wie seit Monaten nicht, die gute Frau Wengs lachte über das ganze runde Gesicht, klopfte mir wohlwollend [208] auf die Schulter und versicherte: »Nun haben Sie uns aber alle miteinander auf Ihrer Seite.«

Zwei Tage später erfuhr ich, daß einer der Berliner Wahlkreise bereit sei, mich zum nächsten Parteitag zu delegieren.

»Du bist leicht zu befriedigen!« sagte mein Mann mit einem leise spöttischen Ton in der Stimme, als er meine Freude sah.

»Es ist doch ein Anfang,« antwortete ich. »Oder meinst du, ich wäre in die Partei gekommen, um ewig Rekrut zu bleiben?«

»Gewiß nicht,« lachte er, »ich kenne doch meinen ehrgeizigen Schatz!«

Mir stieg das Blut in die Schläfen. War es Ehrgeiz, der mich beherrschte, oder nicht vielmehr der berechtigte Wunsch nach einem Wirkungskreis für meine Leistungskraft? Zu tief empfand ich das Opfer, das ich brachte, wenn ich mein Haus und mein Kind verließ, als daß ich es dauernd für überflüssige Nichtigkeiten hätte bringen können. Jetzt war ich im Aufstieg, und weil ich es war, hatte ich die Sympathie der anderen für mich; es galt nunmehr, beides festzuhalten.


In der Versammlung, die über die Parteitagsdelegationen endgültig zu entscheiden hatte, herrschte von Anfang an Gewitterschwüle. Die schroffsten Gegner saßen einander gegenüber, und bei jedem Punkt der Tagesordnung kam es zu hitzigen Wortgefechten. Eines schien von vornherein klar: die Masse der radikalen Berliner erwartete vom nächsten Parteitag eine Abrechnung mit den revisionistischen Elementen in der Partei, ja sie scheuten sich nicht, selbst gegen Bebel Stellung zu nehmen, weil er in der Landtagswahlfrage nicht auf ihrer Seite stand. Man forderte schließlich, daß sämtliche Delegierte sich auf die Feenpalastresolution verpflichten sollten. Während ringsumher alles durcheinander schrie und tobte, wurden die zur Delegation Vorgeschlagenen aufgerufen.

[209] »Genossin Brandt, stehen Sie auf dem Boden unseres Beschlusses?« Überrascht fuhr ich auf, – ich hatte nicht erwartet, als erste gefragt zu werden, – ich versuchte mir im Moment die Situation zu vergegenwärtigen. »So antworten Sie doch!« rief ungeduldig die Stimme des Vorsitzenden.

Die Genossinnen umringten mich: »Sie werden uns doch nicht im Stiche lassen,« flüsterte Frau Wiemer von der einen Seite, – »wir haben ja nur für Berlin die Beteiligung abgelehnt,« zischte mir Martha Bartels von der anderen ins Ohr. Und ein leises »Ja« kam zögernd von meinen Lippen.

Gleich darauf hörte ich Reinhards Namen nennen, und im selben Augenblick seine Antwort: ein scharfes »Nein«. Ich wurde gewählt – er nicht.

Glückwünschend umringten mich die Genossinnen. Aber jedes Wort, das sie sagten, ließ mich dunkler erröten. Am Ausgang traf ich Reinhard. »Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet,« sagte er. »Sie kannten doch den tieferen Sinn der Resolution.«

Ich schlich nach Hause, müde, schuldbewußt. Noch in der Nacht schrieb ich eine Erklärung für den »Vorwärts« und legte mein Mandat in die Hände meiner Wähler zurück ...

Die Frauen hätten mich am liebsten gesteinigt, die Männer lachten mich aus. Ich schwieg. Womit hätte ich mich verteidigen können?

[210]
8. Kapitel
Achtes Kapitel

»Ottoo – addaa,« rief das helle Stimmchen meines Sohnes. Er saß auf meinen Knien im Wagen und winkte unermüdlich nach rechts und links, als ob er in seiner Freude alles grüßen müßte, was er sah. Wir fuhren hinaus in den Grunewald. Es war ein strahlender Sommertag; Scharen von Radlern flogen an uns vorüber; selbst die Dampfstraßenbahn fauchte heut wie ein vergnügter Alter, weil sie so viel Jugend in hellen Kleidern ins Grüne fuhr.

Vor einem umzäunten Waldwinkel hielten wir. Ich setzte den Kleinen ins Moos, und verwundert tippte er mit den runden rosigen Fingern jeden Grashalm an und kroch den schillernden Käfern nach und sah mit einem jauchzenden »Da – da!« den Vögeln zu, die von Zweig zu Zweig hüpften. Die alten dunkeln Kiefern wiegten ihre Häupter im Winde, die Sonne malte runde goldene Flecke auf ihre braunen Stämme, ein paar kleine blaue Blümchen reckten neugierig die Köpfe, und ein gelber Schmetterling tanzte über ihnen, – es war eine große Sommer-Festvorstellung für mein Kind.

Wir erwachsenen Leute gingen indessen ernsthaft umher und betrachteten das grüne Erdenfleckchen, auf dem unser Haus stehen sollte. Der Baumeister war mit uns gekommen. Er war noch jung und ein echter Künstler; von allen, bei denen wir gewesen waren, hatte er uns am besten verstanden. Ich hielt das Bild des Häuschens in der Hand, das seinen Namen trug – Alfred Messel –, und sah es schon lebendig vor mir, mit seinen blumenbesetzten Fensterbrettern und seinem lachenden roten Dach. »Ein rotes Dach?« sagte der Baumeister. »Nein! Unter [211] die schwarzen Kiefern paßt nur ein graues.« Schwarz und grau? Wie trübe klang das! Ich sah ihn erschrocken an, – mir war auf einmal die Freude vergangen.

»Schwester Alix!« rief es über den Zaun. Ilse stand an der Türe, die Hand auf der blitzenden Lenkstange ihres Rades, und neben ihr ein großer, überschlanker Mann. Errötend stellte sie ihn vor: »Professor Erdmann!« Sie hatte mir schon von ihm erzählt, dem aufgehenden Stern am Himmel des Kunstgewerbes, der in den Salons des Tiergartenviertels eine Rolle zu spielen begann, und Messel begrüßte ihn wie einen lieben Kollegen. Nach ein paar raschen Worten drängte Ilse zum Aufbruch: »Wir dürfen die anderen nicht verlieren,« sagte sie. »Ich find' es viel hübscher zu zweien,« meinte ihr Begleiter und sah sie mit einem Lächeln an, das auf ein tieferes Einverständnis der beiden schließen ließ. Sie fuhren davon. Das helle Köpfchen meiner Schwester hob sich empor zu ihm, seine lange Gestalt neigte sich zu ihr, – so flogen sie nebeneinander die sonnige Straße hinauf, bis der dunkle Wald sie verschlang.


»Ottoo – addaa,« klang es wieder aus dem Wagen heraus, als wir heimwärts fuhren. Aber die Händchen grüßten nicht mehr nach rechts und links; krampfhaft umspannten sie einen Büschel grünes Gras, und unverwandt hafteten die Augen meines Kindes auf dem bunten Käfer, der sich gemächlich darin niedergelassen hatte. Auf einmal breitete er seine schillernden Flügel aus und flog mit surrendem Geräusch davon; entsetzt starrte mein Kind ihm nach, das Gras entfiel den Fäustchen – ein sehnsüchtig-schluchzendes »adda – adda« kam von dem zuckenden Mündchen, und verzweifelt weinte es vor sich hin. Mein Mann lächelte über den wilden Schmerz um den entflogenen Käfer. Tut er dem kleinen Seelchen nicht ebenso weh, wie wenn die großen Leute um den Verlust ihrer Eroberungen trauern? dachte ich und zog meinen Liebling mitleidig in die Arme.


[212] Am nächsten Morgen in aller Frühe kam meine Schwester. Sie wollte mich allein sprechen. Ihr heißes Gesichtchen, ihr rascher Atem, drei mühsam hervorgestoßene Worte: »ich liebe ihn,« sagten mir genug. »Und die Eltern?« fragte ich. »Sie wissen von nichts,« stotterte sie und sah ganz verängstigt drein.

Ich dachte an meinen Vater: mit welch verächtlichem Naserümpfen hatte er früher über Künstlerehen gesprochen. Sollten für seine Töchter keine seiner heißen Wünsche in Erfüllung gehen?

»Du wirst dich auf harte Kämpfe gefaßt machen müssen, –« sagte ich, und mein Blick haftete auf ihren kleinen, kraftlosen Händen. »Ich laufe davon, wenn Papa es nicht zugibt,« rief sie.

Noch am selben Tage besuchte ich Erdmann. Mein Schwesterchen war einmal mein Kind gewesen, sie war es mir von dem Augenblick an wieder, wo sie schutzbedürftig vor mir stand.

Als der Mann, den sie liebte, mir in seinem Atelier entgegentrat, war mein erstes Gefühl das des Schreckens: wie bleich war er, wie groß und schmal, wie seltsam durchsichtig waren seine schlanken, langfingrigen Hände. Aber die Art, wie er mit mir sprach, ließ mich über den Menschen seine Erscheinung vergessen.

»Ich liebe Ihre Schwester und werde sie heiraten,« antwortete er auf meine Frage. »Freilich: Ilse stellte mir eine Bedinguntg –« fügte er lächelnd hinzu, »du mußt Alix gefallen, sagte sie.«

»Das dürfte weniger schwer sein, als daß Sie ihren Eltern, vor allem dem Vater, gefallen müssen,« meinte ich.

»Gegen den härtesten Schädel hat sich noch immer der meine als der härtere erwiesen,« entgegnete er.

»Aber Ilse ist weich; ob sie schweren Kämpfen gewachsen sein würde?!«

»Gerade weil sie so zart ist, liebe ich sie, und nehme alle Kämpfe auf mich, – nur ihrer Treue muß ich sicher sein.« Dabei funkelten seine Augen. Ein starkes Temperament schien sich hinter den leichten Formen zu verstecken; würde die kleine Ilse es ertragen können?

[213] »Sie ist noch sehr jung,« warf ich noch einmal ein. »Um so besser,« – ein warmer Glanz echter Freude verschönte seine Züge, – »wir Künstler brauchen leere Leinwand und unbehauenen Stein.«

Vor dem Abschied versprach er mir, sich meiner Mutter zu erklären, damit sie imstande sei, den Vater vorzubereiten. Ich ging nachdenklich heim. Ilse war ein leicht zu leitendes Kind gewesen, – fast zu leicht, denn mit dem Zuckerbrot der Liebe ließ sie sich willenlos hin- und herführen; aber hörte sie auch nur eine Peitsche knallen, so erwachte ein unbändiger Trotz in ihr, und in ihren Augen glühte der Haß gegen den, der sie meistern wollte. Würde die Liebe dieses Mannes, der nur aus von Energie gespannten Nerven und Sehnen zu bestehen schien, die richtige Grenze zu finden wissen?

Meine Mutter war zuerst außer sich, als Erdmann sich ihr eröffnet hatte. Sie kam zu mir und kämpfte mit den Tränen: »Nun bin ich es wieder, die eurem Vater standhalten muß! Und ich habe es doch so satt!« »Dafür wirst du nachher um so mehr Ruhe haben,« suchte ich sie zu beruhigen. Ihre schmalen Lippen kräuselten sich, sie hatte wohl ein bitteres Wort auf der Zunge, aber sie sprach es nicht aus.

Erdmann verkehrte von nun an bei den Eltern. »Denk' nur, er gefällt Papa!« erzählte mir Ilse ganz glücklich, und die Mutter lebte wieder auf. Daß der Bewerber ihrer Tochter in guten Verhältnissen war, beruhigte sie vor allem. Und auch ich freute mich dessen; meine Schwester war ein verwöhntes Prinzeßchen; wie oft hatte nicht die Mutter vor ihr gekniet, um ihr die Stiefel zuzuschnüren, damit ihr nur ja der Rücken nicht schmerzte! Zu keinerlei Arbeit war sie jemals genötigt worden, – ich selbst hatte ihr nur zu häufig die Schularbeiten gemacht, damit das Köpfchen unter den schweren goldenen Flechten nicht gar zu müde wurde!

Eines Morgens kam die Nachricht: »Papa hat eingewilligt!« und daneben von der Mutter Hand: »Hans war ganz ruhig. [214] Nur als Erdmann fort war, hat er sich stundenlang in sein Zimmer eingeschlossen.« Er mußte doppelt gelitten haben, da er sich durch keinen Ausbruch seiner Leidenschaft mehr zu erleichtern vermochte. Ich konnte mich noch nicht freuen, weil ich nur seiner gedachte. Ob ich ihm schreiben dürfte, – ob ein verständnisvolles Wort von mir ihm zu helfen vermöchte?

Im Zoologischen Garten erwartete er täglich mein Kind. Er hatte immer die Taschen voll für den Kleinen; war das Wetter schlecht, so ließ er ihn zu sich kommen, setzte sich zu ihm auf den Teppich und baute dem Enkel Bleisoldaten in Schlachtordnung auf. Und stets ließ er mich grüßen, sagte das Mädchen. Er würde einen Brief von mir nicht zurückweisen! An einem blauen Bändchen knüpfte ich ihn meinem Jungen um den Hals, als er das nächste Mal zu »Apapa« fuhr. Auf dieselbe Weise brachte er die Antwort mit zurück:


»... Hast es richtig getroffen, mein Kind: ein Auge weint, und das andere lacht nicht. Ich muß mich selbst überwinden. Wenn man das Fahrwasser kennt, dann hat die Hoffnung ihr Recht; aber das unbekannte Fahrwasser, in das man sein Letztes lassen muß, das gibt an keiner Stelle Ruhe. Daß Du mich verstanden hast, erfreut mich und macht mich dankbar.

Dein alter Vater.«


Meine Schwester strahlte vor Glück. Mit jener geistigen Beweglichkeit, die ihr von jeher eigen gewesen war, ging sie vollkommen auf im Künstlertum ihres Verlobten. Sie schien wirklich die leere Leinwand, der unbehauene Stein, aus dem erst unter seinen Händen ein lebendiges Werk werden sollte. Selbst ihre Kleidung richtete sie nach seinem Geschmack; sie war eine der ersten, die jene malerischen Gewänder trug, wie sie aus den Köpfen der jungen Vorkämpfer des aufblühenden Kunstgewerbes hervorgingen und von den Frauenrechtlerinnen aus hygienischen, von den Malern aus künstlerischen Gründen [215] geschaffen wurden. Jedes Stück ihrer künftigen Einrichtung wurde nach den Zeichnungen Erdmanns angefertigt. »Oskars Stil entspricht so vollkommen meinem ästhetischen Empfinden,« sagte sie, und ihr Blick flog ein wenig hochmütig über unsere Möbel hinweg, »daß ich in einer anderen Umgebung nicht leben könnte.« Sie hatten nahe dem Kurfürstendamm eine Wohnung gemietet, die nach Erdmanns Angaben umgestaltet wurde. Kam das junge Paar mit der Mutter zu uns, so drehte sich das Gespräch um die Zukunftspläne mit all ihren reizvollen Details. Meine eigenen, die mich so glücklich gemacht, so ganz gefangen hatten, traten dabei zurück. »Du willst uns wohl mit eurem Haus überraschen, daß du so wenig davon erzählst,« meinte die Mutter einmal, und ich nickte dazu.

Die Gründe, warum ich schwieg, waren freilich anderer Art. Das Haus, das inzwischen immer stattlicher aus der Erde herauswuchs, war zur Quelle neuer drückender Sorgen geworden. Wir hatten in unserer naiven Unkenntnis aller realen Forderungen des Lebens vorher nicht berechnet, daß doch auch während des Baues Zinsen zu zahlen waren, die unser Budget auf das Schwerste belasten mußten. Ich wußte oft nicht ein noch aus; dabei sah ich, wie mein Mann unter den Verhältnissen litt, und zwar um so mehr, je mehr er empfand, daß ich von ihnen betroffen wurde. Machte ich einmal irgendeine von der Angst diktierte Bemerkung, so fuhr er sich mit der Hand nervös durch das weiche, wellige Haar und sagte mit einem gequälten Ausdruck in den Zügen: »Kümmere dich doch nicht darum! Überlasse mir all diese Lappalien. Ich werde dir alles aus dem Wege räumen.«


Um jene Zeit kamen die Kinder aus den Ferien zurück. Ich fürchtete mich schon davor, denn noch Wochen nachher pflegten sie mir in naivem Egoismus zu erzählen, was alles bei ihrer Mutter besser und schöner gewesen war. Hörte es [216] Heinrich, so schalt er sie, weil er sah, daß es mich kränkte, und eine bleischwere Stimmung herrschte um unseren Tisch. Diesmal stürmten sie besonders eilig die Treppe hinauf; – so freuen sie sich doch, nach Hause zu kommen, dachte ich. Wolfgang, der Leichtfüßigere, kam zuerst. Kaum ließ er sich Zeit, mich zu begrüßen. »Die Mutter läßt dir sagen,« rief er atemlos, »sowas dürfte nicht mehr vorkommen. Mützen hätten wir, wie sie in Österreich nur Portiers tragen, und Anzüge, über die die Bauernjungens lachten.« Ich fühlte, wie blaß ich wurde. Ich hatte sie wie immer für die Reise neu eingekleidet, um ja keinerlei Vorwurf auf mich zu laden. Und diesmal war es mir noch schwerer geworden als sonst. Bei Tisch fing auch Hans, der stets zurückhaltender war, zu erzählen an. »Warmes Abendessen ist viel gesünder, meint die Mutter,« sagte er, »und es schmeckt auch besser als immer bloß Wurst.«

Ich war so überreizt, daß ich mit den Tränen kämpfte, und als am nächsten Morgen auch noch ein Brief aus Wien kam, in dem mir die Mutter der Kinder über meine unzureichende Erziehung allerlei Vorhaltungen machte, war es zu Ende mit meiner Selbstbeherrschung. Konnte ich die Kinder denn überhaupt erziehen, wo ich ständig fürchtete, von ihnen als die böse Stiefmutter angesehen zu werden und damit jeden Einfluß zu verlieren?! Konnte ich sie strafen, wo ich wußte, daß sie sich bei der eigenen Mutter darüber beklagen würden?! Ich zeigte Heinrich den Brief und schüttete ihm, nicht ohne mich selbst all meiner versäumten Pflichten anzuklagen, mein Herz aus.

»Und das alles sagst du mir erst jetzt?« rief er. »All den Kummer schleppst du mit dir herum und sprichst dich nicht aus?« Er schlang den Arm um mich und küßte mir die Tränen aus den Augen. »Hier muß gründlich Wandel geschaffen werden, um deinetwillen ...« »Vor allem um der Kinder willen, Heinz,« unterbrach ich ihn; »so gut geartet, wie sie sind, – schließlich müssen sie Schaden leiden.« Wir berieten, was zu tun sei.

[217] In früheren Jahren hatte die Mutter wiederholt versucht, ihre Söhne bei sich zu behalten, aber immer wieder hatte sie Heinrich zurückgefordert. »Wie konntest du?!« sagte ich mit leisem Vorwurf. »Kinder gehören zur Mutter!« »Ich war sehr einsam, sehr liebebedürftig; ich hatte im Scheidungsprozeß mit Nägeln und Zähnen um die Kinder gekämpft,« antwortete er. »Jetzt aber ist die arme Frau viel einsamer als du –« »– sie zu bemitleiden, habe ich keinen Grund,« entgegnete er hart, »sie war es, die zuerst ihre Kinder im Stiche ließ! Jetzt darf nur die Rücksicht auf dich und auf das Wohl der beiden Buben den Ausschlag geben.«

In der Nacht nach unserem Gespräch warf sich Heinrich im Bett schlaflos hin und her; im ersten Morgengrauen stand er leise auf, und ich hörte, wie er im Zimmer nebenan auf und nieder ging. Ich hätte doch nichts sagen sollen, dachte ich angstvoll. Er sah müde und vergrämt aus, als er wieder zu mir hereinkam.

»Ich habe mich entschlossen, ihr die Kinder anzubieten,« sagte er.

»Wollen wir nicht doch lieber alles beim alten lassen, – ich sehe vielleicht nur zu schwarz,« warf ich ein.

Ich dachte an die Stunde, da er mir mit der Bitte, sie recht lieb zu haben, seine Söhne anvertraut hatte. Er sah so finster drein! Jähe Furcht beschlich mich um meinen kostbarsten Besitz: seine Liebe. Aber er blieb bei dem einmal gefaßten Beschluß.

Sein Anwalt schrieb in seinem Auftrag nach Wien. Die Antwort war keine rückhaltlos zustimmende: jede Verbindung, so wünschte die Mutter, sollte zwischen den Söhnen und dem Vater abgebrochen werden, sobald sie ihr Haus betreten würden. Wochenlang zogen sich die Verhandlungen hin, und die Korrespondenz nahm eine immer erbittertere Form an. Ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie Heinrich litt, und all die Selbstvorwürfe, die mich quälten, nicht mehr ertragen.

[218] Eines Abends benutzte ich meines Mannes Abwesenheit und fuhr mit dem Nachtzug nach Wien. Vom Hotel aus meldete ich mich bei der Mutter der Kinder an. Herzklopfend stieg ich die steinernen Stufen hinauf. In einem Salon mit schweren Renaissancemöbeln empfing sie mich, eine schlanke, dunkle Frau mit scharf geschnittenen, fast männlichen Zügen. Sie gab mir nicht die Hand, sie zögerte offenbar, mir auch nur einen Stuhl anzubieten.

»Ich komme, weil ich hoffe, daß eine mündliche Besprechung leichter zum Ziele führen wird,« begann ich.

»Er schickt Sie?« Ihre Stimme hatte einen merkwürdig leblosen, kalten Ton, als käme sie weit her aus dunkler Tiefe.

»Nein! Ich reiste ohne sein Wissen. Wir Frauen, meine ich, werden uns verständigen, – mit einigem guten Willen natürlich, – denn zwischen uns steht nichts –«

»Meinen Sie wirklich, daß zwischen uns nichts steht?!« Ein Blick voll Haß streifte mich. »Meine Kinder stehlen Sie mir!«

»Ich?! –« Aufs Äußerste erstaunt sah ich sie an. »Ich, die ich sie Ihnen wiederbringe?!« Aber sie hörte nicht auf mich. In leidenschaftlicher Erregung kamen die Worte, sich überstürzend, von ihren Lippen: »Habe ich nicht in diesem letzten Sommer tagtäglich hören müssen: ›Die Mama erlaubt das alles, – die Mama straft uns nicht, – die Mama schenkt uns dies und jenes‹?! Und jetzt soll ich vielleicht erleben müssen, daß meine eigenen Kinder sich fortwünschen von mir? Oder jedesmal unzufrieden heimkehren, wenn sie, wie ihr Vater es wünscht, zu den Ferien in Berlin gewesen sind?!«

Ich verstand sie, – so hatte ich auch ihr unbewußt Böses getan! »Sie wissen, mein Mann hat für das erste Jahr schon auf ein Wiedersehen verzichtet,« antwortete ich.

»Das ist aber auch das Allermindeste, was ich verlange! Im übrigen –,« sie nahm wieder den alten eisigen Ton an und zwang sich zur Ruhe, »muß ich umziehen, ehe die Kinder kommen. [219] Sie sehen hier meine Wohnung –,« sie wies nach dem Eßzimmer nebenan, »ich habe keinen Platz für sie.«

Keinen Platz für die eigenen Kinder?! Sie schien zu fühlen, was ich empfand, denn rasch fuhr sie fort: »Ich wünsche, daß die durch Unordnung sowieso schon genug geschädigten Buben gleich in ein regelmäßiges Leben, eine zu ernster Arbeit gestimmte Häuslichkeit kommen.«

»Und wann, meinen Sie, dürfte das sein?« drängte ich. »Die Situation ist für alle Teile unerträglich!«

Sie lächelte: »Finden Sie? Ich habe Schlimmeres ausgehalten!« Tiefe Falten gruben sich auf ihre Stirn, um ihre Mundwinkel. Wieder streifte mich ein Blick, – zum Fürchten. »Warten Sie nur, bis Sie fünf, sechs Jahre mit ihm gelebt haben werden!«

Ich erhob mich, – fast wäre der geschnitzte Stuhl bei meiner raschen Bewegung zu Boden geglitten. Hier hatte ich nichts mehr zu tun. Sie geleitete mich hinaus. Und als müßte sie mich zuletzt noch ihren Haß fühlen lassen, sagte sie: »Ich werde schwere Mühe haben, – die Kinder sind zu schlecht erzogen.«

Ich dachte an die Buben, – an ihre lustigen Knabenstreiche, an die ungebundene Freiheit, die sie genossen. Noch ein gutes Wort wollte ich bei der strengen Frau für sie einlegen und sagte bittend: »Sie werden sie nicht zu plötzlich die Wandlung fühlen lassen?«

»Wie können Sie sich erlauben –?!« rief sie fassungslos. »Wer ist hier die Mutter: Sie oder ich?!«

Krachend fiel die Flurtüre hinter mir zu. In der nächsten Nacht fuhr ich nach Berlin zurück. Nicht das mindeste glaubte ich erreicht zu haben. Ein Brief des Wiener Anwalts folgte mir auf dem Fuße. Er enthielt den unterschriebenen Vertrag und übermittelte den Wunsch, den Kindern möchte die Reise nach Wien nur als ein Besuch dargestellt werden, »damit sie gerne kommen.«

[220] Das war ein Jubel: Der Schule entrinnen, – und eine Reise nach Wien! Wir brachten sie zur Bahn und sahen den strahlenden Gesichtern nach, die grüßend aus dem Coupéfenster nickten, bis der Zug unseren Blicken entschwand.


Kaum drei Wochen später kehrten sie zurück, – still und blaß. Wolfgangs rundes Kindergesicht war schmal geworden, in Hans' dunkeln Augen hatte sich der Ausdruck von Melancholie noch vertieft. Ihr Aufenthalt in Wien war wirklich nur ein Besuch gewesen. Ob die einsame Frau das Glück nicht ertragen hatte? Ob die Forderungen eines Lebens für andere sie erdrückt haben mochten? In die größte, die letzte Einsamkeit hatte sie plötzlich der Tod entführt.

Aber noch darüber hinaus wirkte ihr Haß: das Testament bedrohte die Kinder mit Enterbung, wenn sie im Hause des Vaters bleiben würden. Und so mußten sie wieder fort, da sie der Wärme, der Liebe am meisten bedurften.

Von einer neuen Schule im Harz hatten wir erfahren, wo die Jugend in schöner Abwechselung von Spiel und Arbeit, von der Übung körperlicher und geistiger Kräfte sich frei und fröhlich zu entwickeln vermag, einer Schule, deren Leiter den Mut hatte, dem Geist engherzigen Preußentums den Eintritt bei sich zu verwehren. Dorthin brachten wir sie. Es war das beste, das wir hatten finden können, und doch so schrecklich wenig für die, denen die Mutter gestorben war.


Nun war es still bei uns im Hause. Ottochen, der sich inzwischen auf seinen eigenen Füßchen zu bewegen gelernt hatte, lief im Zimmer der Brüder von Stuhl zu Stuhl, guckte in die Schränke und unter die Betten und rief vergebens »Wof« und »Ans«. Zuerst weinte er, weil sie nicht kamen, um mit ihm zu »pielen« dann erinnerte er sich ihrer nur noch, wenn [221] er auf meinem Schoß am Schreibtisch saß und ich ihm ihre Bilder zeigte. Er war ein unbändiger kleiner Kerl, der nie lange an einem Platz aushielt. Ein Sonnenstrahl im Zimmer, eine Fliege am Fenster, Hundegebell und Pferdegetrappel auf der Straße, – alles erregte seine brennende Neugierde; wenn aber gar Soldaten vorübermarschierten, so zappelte er mit Händen und Füßen vor Freuden, und rief, so laut er konnte: »Daten! daten!«

Seitdem der Großvater sich dem Enkel zuliebe einmal in die alte Generalsuniform gezwängt hatte, ging er noch einmal so gern in die Ansbacherstraße. »Apapa Dat, Apapa Dat,« hatte er mir mit erstaunten Augen und einem Ausdruck von Ehrfurcht in dem Gesichtchen damals erzählt. Und »Apapa dehn!« schrie er mit Stentorstimme, wenn wir nicht ruhig genug mit ihm spielten.

Eines Abends im Herbst kam meine Mutter und erzählte mir, der Vater habe heute, ohne sie zu fragen, die Wohnung gekündigt. »Er will im Grunewald mieten,« fügte sie hinzu, »um Ottochen nahe zu sein.« Mir wurden die Augen feucht: so ersetzte ihm der Enkel die Tochter, die er verloren hatte.

Kurze Zeit darauf bekam ich einen Brief von ihm:


»Liebes Kind! denke doch nicht, daß es mir genügt, Deinen Jungen bei mir zu sehen. Alte Leute brauchen viel Wärme, darum sagte ich Ottochen heute, daß er Papa und Mama das nächste Mal mitbringen soll. Er sah mich so ernsthaft an, daß ich glaube, er hat mich verstanden.

Dein treuer Vater.


Und so trat ich mit meinem Kind auf dem Arm in die alte Wohnung. Die Schwester kam mir entgegen: »Nun wird meine Hochzeit erst ein richtiges Fest für mich sein,« sagte sie und küßte mich stürmisch. Sie öffnete die Tür zum Zimmer des Vaters. »Er kommt gleich,« flüsterte sie und lief davon. Ich mußte mich setzen; die Knie zitterten mir. Alles hatte ein Gesicht, ein liebes, [222] vertrautes: die verblichenen Sessel, die so einladend die Armlehnen nach mir ausstreckten, der alte, grüne Teppich, der sich warm und weich unter meine Füße schmiegte, die dunkeln Bilder an der Wand, die zu lächeln schienen. Auf dem Schreibtisch lagen wie einst in Reih und Glied die sorgfältig gespitzten Bleistifte und die Gänsefedern, die der Vater sich selbst zu schneiden pflegte, und der »Soldatenhort«, für den er schrieb. Und in der Ecke – die alte Reiterpistole! Aus dem Zimmer war ich einmal geflohen vor ihr! – Der sie auf mich gerichtet hatte, rief mich heut zurück! Nein, – mich nicht! Nur dieses süßen blonden Kindes Mutter!

Die Türe ging auf. »Apapa!« rief der Kleine und streckte ihm die Ärmchen entgegen. Im nächsten Augenblick fühlte ich uns beide umfaßt: Die Lippen zitterten, die meine Stirn berührten. »Wir wollen einander nicht weich machen, Alix,« sagte er leise. »Wir wollen so tun, als wärst du gar nie weg gewesen.«

Von nun an sahen wir uns oft. Mühsam, mit schwerem Atem, auf jedem Treppenabsatz minutenlang innehaltend, kam er immer häufiger zu uns herauf, und meist um die Stunde, die er früher im Kasino zuzubringen pflegte. Er hatte stillschweigend auch diese alte Gewohnheit aufgegeben, und als die Mutter ihn danach fragte, sagte er: »Was soll ich mich jetzt noch über Menschen und Zeitungen ärgern?!«

Mein Mann, der sich nie als »Schwiegersohn« fühlte, sondern stets sehr zurückhaltend, sehr förmlich blieb, gefiel ihm. »Du ahnst ja kaum, wie der Frieden auf mich wirkt,« schrieb er mir einmal. »Ich bin Dir die Erklärung schuldig, daß Dein Mann, dessen vollendeter Takt mir so wohltuend ist, ganz auf mich zählen kann.«

Zuweilen fuhr er mit uns in den Grunewald, wo er zum Frühjahr in unserer Nähe eine Wohnung gemietet hatte. Er strahlte vor Freude, wenn er unser Häuschen wachsen und werden sah.

[223] »Wie mich das glücklich macht, dich so ohne Sorgen zu wissen,« sagte er zu mir, während er unermüdlich über die Balken kletterte und jeden Raum in Augenschein nahm. Dann drückte er Heinrich die Hand: »Daß du meiner Alix solch eine Heimat schaffst!«

Draußen im Garten freute ihn jeder Strauch, der gepflanzt wurde. »Hier muß Ottochen einen großen Sandhaufen haben,« – meinte er, »und eine Schaukel und eine Kletterstange, damit seine Muskeln straff werden. Daneben aber baut mir eine Laube, in der ich im Sommer, ohne euch zu stören, sitzen und mit meinem Jungen spielen kann.«


An einem dunkeln Spätherbsttag, kurz vor der Hochzeit meiner Schwester, kam ich nach Hause. »Exzellenz ist beim Kleinen,« sagte das Mädchen. Ich nickte lächelnd. Ottochen war nicht ganz wohl und durfte des schlechten Wetters wegen nicht ausgehen. Nun kam der Großvater zu ihm. Ich trat in sein Zimmer. Auf dem Teppich saß mein Kind, vertieft in die neuen Soldaten, die ihm »Apapa« mitgebracht haben mochte; im Lehnstuhl lag der Vater tief zurückgelehnt und schlief. Der sonst so lebhafte Junge bewegte sich leise zwischen dem Spielzeug und sah erschrocken auf, als ich näher trat. »Pst, pst!« machte er und legte ein Fingerchen auf die Lippen. »Apapa baba!«

Der graue Schatten des frühen Abends kroch durch die Fenster. Schwer lag er über den Zügen des Schlafenden, verwischte jede Lebensfarbe, ließ jede Falte tiefer erscheinen. Ich faltete unwillkürlich die Hände: Wie alt, wie blaß, wie müde sah er aus! Und war doch ein so starker Mann gewesen und den Jahren nach kein Greis! Ich sank in die Knie und küßte die herabhängende Hand. Der Kummer um mich war es gewesen, der ihm ein Stück seines Lebens gekostet hatte.


[224] Ende November wurde Ilse im Elternhaus mit Oskar Erdmann getraut. Nur die nächsten Verwandten waren geladen worden, und auch von ihnen hatten manche abgesagt, als sie erfuhren, daß wir zugegen sein würden. Meine Schwester sah aus wie eine Frühlingselfe. Alles Licht im Raum ging von ihren goldenen Haaren aus, deren Glanz selbst der keusche Brautschleier nicht zu dämpfen vermochte. Erdmann schien mir noch schmaler als sonst. Ein unbestimmtes Angstgefühl beschlich mich. Meiner Schwester »Ja!« klang so froh, so hell an mein Ohr, daß es die Sorge verscheuchte. Als aber der Geistliche sich fragend an ihn wandte, verschlang ein rauher Husten, unter dem ich seinen Rücken beben sah, seine Antwort. Mir war, als wechselten seine Geschwister, die neben uns standen, einen erschrockenen, vielsagenden Blick. Doch wie das junge Paar sich uns zuwandte, überstrahlte ihr Glück auch diesen Eindruck.

Vor der Hochzeitstafel überkamen mich alte Träume. Sie stiegen aus den schlanken Kelchen, die einst aneinanderklangen, während Walzermelodien mich umrauschten, sie schimmerten in den silbernen Jardinieren, in denen so viel Rosen, – duftende Zeugen meiner Balltriumphe, – verblüht waren.

Jemand schlug ans Glas. Nun, wußte ich, wird meines Vaters klare Stimme die Luft in rasche Schwingung versetzen, sein Geist und sein Witz wird alle bezaubern und alle verdunkeln, die nach ihm reden werden. Erwartungsvoll sah ich ihn an.

Seine Finger zerdrückten unruhig die Serviette, seine Lippen öffneten sich einmal – zweimal, bis daß ein Ton sich ihnen entrang, der rauh und heiser war. Und dann sprach er, – langsam, schwerfällig, wie eingelernt. Meine Erwartung verwandelte sich in Staunen, mein Staunen in Angst. Seine Hand hob sich wie zu einer jener alten Gesten, die so wirksam zu unterstreichen pflegten, was er sagte, – gleich darauf sank sie schlaff herab, die Lippen zuckten, – der begonnene Satz zerriß; – eine qualvolle Pause; – dann griff er hastig nach dem Kelchglas, [225] hob es empor, wobei die Tropfen zitternd über den Rand spritzten: »Die Familie Erdmann lebe hoch – hoch – hoch!« – In den Stuhl sank er zurück; seine Augen wanderten wie um Verzeihung bittend von einem zum anderen, und als sein Blick den meinen traf, sah ich die Träne, die ihm in den Wimpern hing.


Im Winter ging es meinem Vater Woche um Woche schlechter. Es duldete ihn nicht im Hause; schon früh trieb ihn eine unerklärliche Unruhe fort; versuchte die Mutter, ihn zurückzuhalten, so setzte er ihren Bitten einen so heftigen Widerstand entgegen, daß sie ihn gehen lassen mußte. Er besuchte meine Schwester und schleppte sich bis zu uns herauf, obwohl es ihm täglich schwerer wurde. Es war, als ob er das Alleinsein mit der Mutter nicht ertrüge. Nur wenn sein Enkel bei ihm war, wich seine innere Unruhe einem Ausdruck stillen Friedens. Zuweilen verließ ihn das Gedächtnis, dann nannte er den Kleinen »Alix« und war noch zärtlicher zu ihm als sonst. Einmal kaufte er eine Puppe, um sie »Alix« zu schenken; als ihn die Mutter auf den Irrtum aufmerksam machte, geriet er in helle Wut. »Alle Freude willst du mir verderben,« schrie er und sprach stundenlang nicht mit ihr. Irgendeine Pflege duldete er nicht; er schloß sich im Schlafzimmer ein, wenn der Arzt kommen sollte.

Ich sah, wie meine Mutter sich mühte, ihm alles recht zu machen. Aber die Sorgfalt, mit der sie ihn umgab, hatte etwas Kühles, Fremdes, – als ob das Herz nicht dabei wäre. Sie litt unter seiner Heftigkeit; es kam vor, daß ihre starre Selbstbeherrschung zusammenbrach; dann weinte sie bitterlich, aber es waren Tränen des Zornes, nicht des Leides. »Er ist so böse zu mir, so böse!« kam es krampfhaft zwischen ihren fest geschlossenen Zähnen hervor. Hilflos stand ich vor der Offenbarung der Ehetragödie meiner Eltern. Manches Erlebnis, das meine Jugend verbittert hatte, tauchte in der Erinnerung wieder auf, und ich fand jetzt den Schlüssel dazu.

[226] »Die Ehe hat sie zerstört,« sagte ich zu meiner Schwester, als wir darüber berieten, wie ihnen vielleicht noch zu helfen sei.

»Ja, – das glaube ich gern,« antwortete sie mit einem grüblerischen Ausdruck, der ihrem weichen Gesichtchen sonst fremd war.

Ich horchte auf; – kaum zwei Monate war sie verheiratet! Von da an führte mein Weg, wenn ich zu den Eltern ging, regelmäßig bei ihr vorüber. Ich hatte sie in ihrem jungen Glück nicht stören wollen, jetzt trieb mich die Sorge, zu sehen, ob es nicht schon gestört war. Aber ich fand sie stets heiter inmitten ihrer schönen Häuslichkeit, die in Formen und Farben so harmonisch zusammenstimmte, daß eine Vase, ein Blumenstrauß schon störend zu wirken vermochte, wenn sie nicht in bewußtem Einklang damit gewählt worden waren. Und ich fand ihren Mann zärtlich um sie besorgt, – in einer Art freilich, die ich nicht vertragen hätte, die der Natur Ilsens aber zu entsprechen schien. Er bestimmte ihre Kleidung, er beaufsichtigte die Hauswirtschaft, er ordnete den Tisch, wenn Besuch erwartet wurde. Und alles nahm unter seiner Hand den Charakter seines Künstlertums an: der Vornehmheit, die jedes äußeren Schmuckes entbehren konnte, weil sie das Wesen des Materials zu reinstem Ausdruck brachte; der jedem lauten Ton abholden Ruhe, die wie Sonnenuntergang am Tage durch die orangeseidenen Vorhänge klang und am Abend in den Falten der grünen, die sich darüber breiteten, träumte; und der Liebe zur Natur, die sich in allem, was ihn umgab, widerspiegelte, – in den dunkelroten Kastanienblättern der Tapete, den zarten Pflanzen- und Vögelstudien japanischer Holzschnitte, dem Wandteppich mit dem stillen Waldbach, auf dem die Schwäne ziehen. Es war gut sein bei ihnen, und wer davonging, dem kam die Welt draußen doppelt häßlich, unharmonisch, laut und herzlos vor. Aber es ging auch etwas wie Lähmung von dieser Umgebung aus, etwas, das vom wirklichen Leben gewaltsam abzog.

[227] Die Gäste des Hauses entsprachen dieser Stimmung; keine der Fragen, die uns bewegten, traten mit ihnen über seine Schwelle. Die Kunst stand im Mittelpunkt all ihres Denkens und Fühlens; nicht jene nebenabsichtslose, die wächst wie ein Baum, gleichgültig, ob nur einsame Wanderer ihn finden, oder ob Scharen unter seinem Schatten ruhen, sondern jene märchenhafte Treibhausblume, die nur für die Auserwählten gezogen wird. Sie vertraten alle den Individualismus, aber hinter ihrer Forderung der höchsten Kultur des Individuums verbarg sich nur sein Kultus. Man sprach mit halber Stimme, man las Bücher, die in numerierten Exemplaren nur für einen kleinen Kreis von Freunden gedruckt wurden; am Flügel saß häufig ein katholischer Priester, der in dem milden Wachskerzenlicht des zartgetönten Salons Palestrinas feierliche Weisen ertönen ließ.

Dieselbe Atmosphäre, die sich weich um die Stirne legt, herrschte hier, wie im Theater, wo Hofmannsthals Hochzeit der Sobëide jenen Haschichrausch hervorrief, der der Welt entrückt. Und am Ende des Jahrhunderts jauchzte die Jugend den neuen Göttern ebenso stürmisch zu, wie wir die Ibsen und Gerhart Hauptmann empfangen hatten. Flüchteten die Menschen nur im Gefühl ihrer Schwäche aus der Wirklichkeit, oder waren nicht unter denen, die sich abseits des rauhen Lebens in einem weißen Tempel versteckten, auch solche, die als geweihte Priester der Menschheit wieder aus ihm hervorgehen werden?

Ich hätte die Frage nicht entscheiden können, aber mein Optimismus glaubte gern an Keime neuen Werdens, wo andere Fäulniserscheinungen sahen. Auch Erdmanns Persönlichkeit berechtigte dazu. Er selbst wurzelte zu bewußt im Boden der Erde, als daß er seine Kunst ihr hätte entreißen können. Er behandelte die jungen Männer, die seine genial geknoteten Krawatten nachahmten, von seinem tiefsten Wesen aber wenig wußten, mit leiser Ironie. Die l'art pour l'art-Devise war für ihn nicht das Letzte.

[228] »Wir müssen den Snob benutzen,« sagte er, als wir einmal unter uns waren, »um allmählich zum Volk zu kommen. Es ist mit dem Kunstgewerbe wie mit der Mode: Das Neueste ist zuerst ein Vorrecht der Wenigen und nach einem Jahr die Gewohnheit der Massen.« Lebhaft hin- und hergehend, setzte er uns dann seine Zukunftspläne auseinander: Handwerkerschulen wollte er schaffen, in denen nicht alte Klischees immer wieder benutzt werden, sondern die neuesten und schönsten Errungenschaften der Kunst zu Mustern dienen.

»Es ist bewundernswert, wie verständnisvoll all die kleinen Handwerker, die ich jetzt schon zusammengesucht habe, meinen Ideen entgegenkommen. Sie sind in ihrem Geschmack weniger verdorben, sie haben vor allem weit mehr Gefühl für das Material, das sie bearbeiten als die meisten unserer Kunstgewerbetreibenden, die vor lauter theoretischem Wissenskram jede persönliche Stellung zu den Dingen verloren haben –.« Ein heftiger Hustenanfall unterbrach ihn, rote Flecken zirkelten sich auf seinen eingefallenen Wangen ab. Meine Schwester erblaßte, lief hinaus und brachte ihm eine Tasse Tee, die er entgegennahm wie etwas längst Gewohntes. »Der Berliner Winter, – dies ekelhafte Regenwetter –,« sagte er dann und lehnte sich müde in den Stuhl zurück, während seine Brust sich noch krampfhaft hob und senkte. »Ich war um diese Zeit immer im Süden –,« fügte er halblaut wie zu sich selbst hinzu.

Wir gingen. Meine Schwester begleitet uns bis zur Tür. Ich sah sie fragend an. Sie nickte, um ihren Mund zuckte es verräterisch: »Ich weiß, – wir sollten fort, aber er will nicht. Er kann seine Arbeiten nicht im Stiche lassen, sagte er. Aber später, in Jahr und Tag, wenn er sehr viel verdient haben wird, –« dabei lächelte sie wieder hoffnungsvoll, – »dann wollen wir reisen –« »Ilse!« klang es ungeduldig von innen. Sie fuhr erschrocken zusammen: »Nun wird er wieder böse sein!« und lief, sich hastig verabschiedend, hinein.

[229] Wochenlang war er an das Zimmer gefesselt. Nun ging meine Mutter zwischen dem Mann und dem Schwiegersohn unermüdlich hin und her. »Ilschen ist viel zu zart für solch eine Pflege,« meinte sie, während sie selbst dabei immer magerer wurde. Bat ich sie, sich zu schonen, so hatte sie nur die eine Antwort: »Solange mir Gott Pflichten auferlegt, habe ich sie zu erfüllen.« Dabei rückte der Umzugstermin näher; er mußte pünktlich innegehalten werden, denn die Wohnung der Eltern war vermietet. In der Nacht, wenn der Vater schlief, kramte und packte die Mutter, um ihn nur ja bei Tage damit nicht zu stören.

Bei uns sah es ähnlich aus, denn unser Häuschen war inzwischen fertig geworden, und der Tag des Einzugs war festgesetzt. Aber die Freude fehlte, mit der ich ihm vor Monaten entgegengesehen hatte.

»Sind wir erst draußen, so wird alles gut werden,« versicherte mir Heinrich immer wieder, wenn meine sorgenvollen Mienen ihm meine Stimmung verrieten. »Glaubst du, daß wir Taler von den Kiefern schütteln können wie das Kind im Märchen?« antwortete ich. »Wertvollere jedenfalls,« meinte er gereizt. »Deines Kindes und deine Gesundheit, deine Arbeitskraft sind doch wohl wichtiger, als die paar blauen Lappen, die du momentan vermißt.« Ich zuckte die Achseln. Die Sorgen waren ja meine Krankheit, und sie gedeihen auch in der besten Luft.


»Hans geht es schlecht, kommt bitte gleich –«

Meine Mutter schickte diese Zeilen. Wir fuhren in die Ansbacherstraße. Auf seinem Lehnstuhl saß der Vater, halb angezogen, mit blaurotem Gesicht und blutunterlaufenen Augen. Gepackte Kisten standen umher, öde starrten uns die vorhanglosen Fenster entgegen, grauer Staub lag auf den abgeräumten Tischen.

[230] »Ich will nicht zu Bett, – ich will nicht,« stöhnte der Kranke. Der Mutter liefen die Tränen über die abgehärmten Wangen.

»Er stößt mich zurück, wenn ich ihm helfen will,« flüsterte sie. Der Arzt trat ein. Mit gewaltsamer Anstrengung erhob sich der Vater, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch vor ihm und schrie, während die Augen ihm aus den Höhlen zu treten schienen: »Hinaus – hinaus! Ich mag keinen Quacksalber!« –

Dann brach er zusammen, krallte die Hand in die linke Seite, – langsam wich die Farbe aus seinen Zügen; willenlos ließ er sich ins Schlafzimmer führen, den Kopf tief gesenkt, schwankend, mit kleinen, unsicheren Schritten. Im Bett lag er ganz still. Nur die Augen, die merkwürdig groß und klar geworden waren, sprachen, was die Lippen nicht sagen konnten.

Während Heinrich und Erdmann von den neuen Mietern der Wohnung, die sich zu einem Aufschub des Einzugs nicht verstehen wollten, zum nächsten Krankenhaus fuhren, um die Übersiedlung dorthin vorzubereiten, und die Mutter mit Ilsens Hilfe draußen das Notwendigste zusammenpackte, war ich allein bei dem Kranken.

Wir redeten miteinander. Seine Augen bohrten sich forschend in meine Züge. »Du kannst ruhig, – ganz ruhig sein, lieber Papa. Ich bin vollkommen glücklich –,« versicherte ich. Sie leuchteten auf, um sich gleich darauf in jäher Angst, halb geschlossen, wieder auf mich zu richten. »Ich liebe dich, Papa, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben,« antwortete ich mit tränenerstickter Stimme. Um seine blassen Lippen zuckte ein leises Lächeln, seine schwache Hand versuchte, die meine zu umschließen, die Lider deckten sekundenlang die stahlblauen Pupillen, – dann zuckten sie schreckhaft wieder empor. Eine einzige, ungeheure, verzweifelte Frage starrte aus diesen Augen, in die das ganze Leben sich zu einer letzten Zuflucht zusammendrängte. Ich verstand. Vorsichtig löste ich meine Hand aus der seinen und ging hinaus – »Mama!« rief ich leise. Sie kam. Ich sah noch zwei [231] Hände, die sich zitternd ihr entgegenstreckten, – dann zog ich die Türe hinter mir ins Schloß ...

Als der Krankenwagen vorfuhr, trat sie aus dem Zimmer, bleich, regungslos, wie versteinert. »Er schläft,« sagte sie. Ich beugte mich über ihn: wie ein Hauch schwebte der Atem nur noch von seinen Lippen. Die Augen waren geschlossen, das Gesicht weiß und still, beherrscht von einem Ausdruck feierlichen Ernstes.


Zu Hause lief mir mein Kind entgegen. »Apapa dehn!« schrie es ungeduldig. Es war die Stunde seiner täglichen Ausfahrt. Ich schüttelte traurig den Kopf. Da fing es an, herzbrechend zu schluchzen.


Noch zwei Tage atmete der Sterbende. Mit einer Ruhe, von der ich nicht wußte, ob ich sie bewundern oder mich vor ihr entsetzen sollte, ordnete die Mutter alles an, als wäre er schon gestorben.

Angstvoll sah ich hinüber zu dem starren Gesicht in den weißen Kissen. »Er ist ohne Bewußtsein,« hatte der Arzt versichert. Zuweilen aber schien mir, als hörte er noch, als sähe er mit geschlossenen Augen, als ginge ein Beben durch seinen Körper.

In der dritten Nacht starb er.


Droben an der Hasenhaide, wo der Riesenleib der Stadt sich gigantisch den Hügeln zu Füßen hinstreckt und der Sturm ungehindert durch die alten Bäume pfeift, ist die letzte Garnison der Soldaten. Von den Schießständen grüßen die Flintenschüsse herüber, von den Kasernenhöfen die Trompetensignale, und vom Tempelhofer Feld klingen zuweilen die Kriegsmärsche in den Frieden des Kirchhofs.

Dorthin trugen alte Regimentskameraden den Sarg, in dem der Tote schlief, gehüllt in den Mantel, der in allen Feldzügen [232] sein unzertrennlicher Begleiter gewesen war. Es war ein stilles Begräbnis. Für die alten Freunde war er gestorben, als er sich mit mir, der Abtrünnigen, versöhnte.

Auch der Kaiser hatte des Mannes vergessen, der seinem Ahnherrn in Frankreichs blutgetränkter Erde die Krone des Deutschen Reiches erobern half.


Acht Tage später verließen wir die Wohnung, in der die Sonne durch alle Fenster hatte fluten können, in der mein Sohn geboren worden war. »Ottoo – addaa –« jauchzte er wieder, als wir davonfuhren; aber die Fenster des Wagens waren geschlossen, und der Frühlingsregen peitschte an das Glas. Im Walde draußen empfing uns die neue Heimat: Unter dem tiefen grauen Dach unseres Hauses schauten die kleinen Fenster wie Augen unter schattenden Wimpern hervor, geheimnisvoll lockend und feindselig abwehrend zugleich. Darüber wiegten die Kiefern ihre schwarzen Kronen. Es war wie ein Stück der stillen, ernsten Natur, die es umgab. Und still und ernst trat ich über seine Schwelle.

[233]
9. Kapitel
Neuntes Kapitel

Der Winter des Jahres 1899 wollte kein Ende nehmen. Die Stadt Berlin, die durch Reinlichkeit zu ersetzen pflegte, was ihr an Schönheit gebrach, war dem Schnee, der sich auf den Straßen bis in den April hinein in schmutzig-grauen Schlamm verwandelte, nicht gewachsen. Heerscharen, mit Spaten und Hacke bewaffnet, schickte sie aus, um den hartnäckigen Feind aus den Toren zu treiben und um die Massen der Arbeitslosen, die unter seinem Regiment immer stärker angeschwollen waren, zu verringern. Vergebens. Der Schnee ballte sich zu Haufen; vor den Asylen der Obdachlosen staute sich die Menge. Mehr als je waren kräftige Männer darunter. Selbst um die am schlechtesten bezahlte Heimarbeit rissen sich die Frauen; wovon sollten sie die Kinder ernähren, da die Väter feiern mußten und das Fleisch immer teurer wurde?

»Der Winter ist mit den Ausbeutern im Bunde,« sagte eine blasse, kleine Parteigenossin, die jedesmal mit entzündeteren Augen in die Sitzungen kam. »Die Agrarier, die Konfektionäre und die Kohlenfritzen werden dick und fett, und wir kriegen die Schwindsucht.« Sie stickte Hemden, – »ganz feine aus Battist, mit 'ner Fürstenkrone. Ich wünschte bloß, jeder Stich wäre 'ne Nadelspitze, wenn sie den durchlauchtigsten Körper berühren,« fügte sie hinzu. Die Bitterkeit, mit der sie sprach, erfüllte mehr denn je ihre Klassengenossen.

Sie froren und hungerten. Im Reichstag aber bewilligte die Mehrheit der bürgerlichen Parteien eine Militärvorlage, die Millionen und Abermillionen kostete. Sie suchten vergeblich nach Arbeit, und im Abgeordnetenhaus brachten die Junker den [234] Plan des Mittellandkanals zu Fall, der zahllose neue Arbeitsmöglichkeiten eröffnet hätte. Überall siegten die Interessen der Besitzenden gegen die der Arbeiter, und nun drohte die Zuchthausvorlage, ihnen im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen die letzte Waffe zu nehmen: Das Koalitionsrecht.

Noch zögerte die Regierung mit der Veröffentlichung des Wortlautes der Vorlage, aber sie warf ihre Schatten voraus, so daß an ihrem Inhalt niemand mehr zweifeln konnte.


Um diese Zeit erschien Eduard Bernsteins längst erwartete Broschüre: »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie.« Sie faßte zusammen und führte aus, was er ein Jahr vorher in seiner Artikelserie über die Probleme des Sozialismus gesagt hatte. Jetzt, wo die erste Erregung hinter mir lag und ich mit ruhigem Verstand zu lesen vermochte, spürte ich den Einfluß der englischen Fabier, der Webb, der Shaw, der Burns, in deren geistiger Atmosphäre dies Buch entstanden war. Ich spürte aber auch den deutschen Gelehrten, der der rauhen Luft Preußens seit Jahrzehnten entwöhnt war und es in seiner stillen Londoner Studierstube, fern der Heimat, verfaßt hatte. Er konnte drüben nicht wissen, wie der deutschen Partei im Augenblick jede Aufnahmefähigkeit für theoretische Erörterungen gebrach, und wie der Masse der Parteigenossen, die sich von allen Seiten in ihrer physischen und rechtlichen Existenz bedroht sahen, seine Mahnung, den Liberalismus nicht zurückzustoßen, zu handeln wie eine demokratisch-sozialistische Reformpartei, als blutiger Hohn erscheinen mußte. Wo waren denn die freigesinnten Elemente der Bourgeoisie, auf die es sich verlohnte, Rücksicht zu nehmen, um mit ihnen gemeinsam demokratische Forderungen durchzusetzen? Sie entflammten in schöner Begeisterung für Völkerfreiheit, – wenn es sich um den Kampf der Buren gegen die Engländer [235] handelte. Sie empörten sich wider Unrecht und Vergewaltigung, – wenn von Dreyfus und dem französischen Generalstab die Rede war. Es kam sogar etwas wie ein Entrüstungssturm zustande, als das Zentrum die Kunst in die Ketten kirchlicher Moral zu legen drohte, – aber dem Urteil von Löbtau, das neun Maurer, die sich mit ihren über die schwer errungene zehnstündige Arbeitszeit hinaus arbeiten den Kollegen in eine Schlägerei verwickelten, mit Zuchthaus bestrafte, standen sie stumm und kalt gegenüber.

So sehr ich mich genötigt sah, der theoretischen Kritik Bernsteins zuzustimmen, so wenig seiner Auffassung von der Notwendigkeit eines Paktierens mit dem Liberalismus. »Wer nicht mit uns ist, der ist wider uns –.« Getäuschte Liebe trägt die Maske brennenden Hasses; darum urteilt der Renegat über die Klasse, die er verließ, am schärfsten. Wo waren all die, auf die ich gerechnet hatte? Ein einziger hatte seitdem den Weg zu uns gefunden: Göhre. Alle anderen starrten geblendet in die Fata Morgana deutscher Zukunftsweltmacht.


»Ich habe den Genossinnen einen Vorschlag zu unterbreiten,« begann Martha Bartels in einer unserer Frauensitzungen. »Unter uns ist kaum eine, die nicht wenigstens die Bernsteindebatten im »Vorwärts« verfolgt hätte. In engeren Parteikreisen haben wir wohl auch Gelegenheit gehabt, uns darüber auszusprechen und Belehrung durch andere zu empfangen. An einer großen öffentlichen Auseinandersetzung fehlt es leider noch. Ich beantrage, Genossin Orbin zu bitten, in öffentlicher Volksversammlung einen Vortrag über den Streit, der uns so nahe angeht, halten zu wollen.«

Mit ungewöhnlicher Leidenschaft stimmte man ihr zu. Ich wußte, daß es Wanda Orbin selbst gewesen war, die ihr diesen Gedanken souffliert hatte. Sie wütete in der »Freiheit« gegen [236] Bernstein. »Soweit es sich um die Erörterung der praktischen Vorschläge Bernsteins handelt, scheint auch mir der Antrag annehmbar,« sagte ich. »Seine Theorien aber sind doch wohl kein Thema für eine öffentliche Volksversammlung.«

»Genossin Brandt hält uns mal wieder für zu dumm,« hörte ich die schrille Stimme der rotäugigen Stickerin sagen. »Bernstein meent ja ooch, daß wir noch nich reif sind,« meinte eine andere mit einem giftigen Blick auf mich, »er is nischt als so'n verkappter Bourgeois, der uns zum St. Nimmerleinstag vertrösten will, damit's ihm nich an den Schlafrock jeht.«

Ich hielt diesem Ausbruch proletarischer Eitelkeit, die die Partei groß gezogen hatte, ruhig stand. Die apodiktische Sicherheit, mit der die Partei in ihrer Presse ihre Ansichten vertrat; die verflachende Popularisierung der Lehren ihrer Vorkämpfer, durch die sie sie den Massen mundgerecht machte; der Hohn, mit dem sie die Äußerungen »bürgerlicher Wissenschaft« überschüttete, konnten keine andere Wirkung haben.

»Wie wär's, wenn Genossin Brandt das Korreferat übernähme?« fragte Ida Wiemer, die vor allem gewerkschaftlich tätig war und infolgedessen zu einer weniger radikalen Auffassung neigte.

»Selbst wenn Sie das wünschen, müßte ich nein sagen,« antwortete ich rasch; »ich bin außer stande, theoretische Fragen zu beurteilen, die einen Mann wie Bernstein jahrelang beschäftigt haben, ehe er eine Antwort fand.« Rings um mich sah ich spöttisches Lächeln in den Mienen, Ida Wiemer senkte errötend den Kopf, als schäme sie sich für mich.

Tatsächlich hätte ich nicht törichter vorgehen können: Nur wer keck alles zu wissen und zu können behauptet, verschafft sich Ansehen in der Öffentlichkeit. Ich hatte mir eine Blöße gegeben, die mir nicht vergessen werden würde.

Luise Zehringer sprach nach mir, eine Genossin aus Hamburg, eine Zigarrenarbeiterin mit harten vermännlichten Zügen. [237] Es fehlte ihr, auch in dem Klang der Sprache, jede Spur von Weiblichkeit. Ein ernstes Arbeitsleben von Kindheit an hatte der ganzen Erscheinung jede Weichheit genommen.

»Ich gehöre zu denen, die eine energische Zurückweisung der Bernsteinschen Angriffe auf unsere Grundanschauungen nicht nur für notwendig, sondern für jede von uns, die im Besitze proletarischen Klassenbewußtseins ist, für möglich hält,« sagte sie. »Ich habe keine vornehme Erziehung genossen wie die Genossin Brandt, aber meine fünf Sinne habe ich beieinander. Ich weiß darum, ohne jahrelanges Studium, daß Bernstein Marx und Engels Unterstellungen macht, die sie niemals vertreten haben, daß er gegen eine Verelendungstheorie kämpft, die niemals von uns propagiert worden ist. Wir verstehen unter Proletariat nicht diejenigen, die mit zerlumptem Rock und knurrendem Magen umherlaufen, sondern jeden, der abhängig ist vom Kapital. Und diese Abhängigkeit wächst von Tag zu Tag und damit die Masse des Elends. Und ist die Zunahme der Erwerbsarbeit proletarischer Hausfrauen und Mütter nicht ein weiterer, schlagender Beweis für die Zunahme des Elends? Glauben Sie vielleicht, Genossinnen, sie verließen aus Vergnügungssucht, wie die Damen der Bourgeoisie, ihr Zuhause und ihre Kinder?!«

Aller Augen hingen an der Sprecherin, die ihre leidenschaftlich vorgestoßenen Worte mit lebhaften eckigen Gestikulationen begleitete. »Ich weiß aber noch mehr: ich weiß, daß die Empörung gegen das Elend mit ihm wächst, daß die Gleichgültigsten, wenn sie hungernd über den Jungfernstieg gehen, während hinter den Spiegelscheiben der feinen Restaurants die Protzen schmatzen und saufen, die Fäuste ballen lernen und weniger denn je von einem Techtelmechtel mit den schlauen Verführern der Bourgeoisie, den Liberalen, wissen wollen. Zwischen uns und ihnen gibt es nur Kampf, – Kampf bis aufs Messer, – bis zur Diktatur des Proletariats, vor dem der behäbige, [238] gut genährte Herr Bernstein und seinesgleichen solch ein Grausen hat ...« Sie schwieg erschöpft; ihre Züge waren noch um einen Schein blasser geworden. Wanda Orbins Referat war gesichert.


»Wie stellen sich die Parteigenossen Berlins zu Bernsteins Schrift?« Auf leuchtend gelben Zetteln prangte diese Frage an den Litfaßsäulen. Im Westen gingen die Spaziergänger achtlos daran vorbei. In der Friedrichstadt blieben Studenten mit unverkennbar russischem Typus nachdenklich davor stehen, während ihre deutschen Kollegen der Anzeige der Amorsäle ihre Aufmerksamkeit zuwandten. Im Norden und im Osten dagegen sammelten sich Gruppen von Arbeitern vor ihr, und in die Kneipen, in die Arbeitssäle und in die Wohnungen wurde die Frage weitergetragen. Als Wanda Orbin die Tribüne betrat, erwarteten nur wenige ihrer Zuhörer von ihr etwas anderes als die Bestätigung der Antwort, die für sie selber schon feststand.

Sie verkündete mit priesterlichem Fanatismus den beseligenden Glauben an die Herrlichkeit des nahe bevorstehenden Zukunftsstaates gegenüber der kühlen Beweisführung seiner langsamen Entwickelung; sie schürte den Haß wider die bürgerliche Gesellschaft, sie mahnte zum Vertrauen allein auf die eigene Kraft des Proletariats. Zwischen ihr und der Zuhörerschaft entstand jene hypnotische Verbindung, durch die der Redner nur als Sprachrohr der Massen erscheint und die Massen wieder unter der Suggestion des Redners stehen. Sie war die Stimme des Volkes, das die Ketzer verdammte, die ihm nehmen wollten, was ihres Lebens einziger Reichtum, ihres Willens einzige Triebkraft war: den religiösen Glauben des Sozialismus. In ihr lebte die Urkraft der Bewegung, die nur Freunde und Feinde kannte, die kämpfen wollte, aber nicht paktieren, die im Eroberungskriege [239] das Leben jedes einzelnen zu opfern bereit war, nicht aber die Hoffnung auf raschen Sieg.

Ein alter Mann saß neben mir. Er war müde gekommen; jetzt glänzten seine Augen, seine Wangen glühten, sein gebeugter Rücken richtete sich auf. An einem Tische nicht weit davon sah ich eine Gruppe junger Arbeiter; sie trommelten mit den breiten Fäusten auf den Tisch, und Haß und Lust und barbarische Kampfbegier leuchtete aus ihren Zügen. Unter dem Spiegel an der Wand lehnten umschlungen ein paar schwarzhaarige Studentinnen; aus ihren Blicken sprach jene Schwärmerei, die Hirtenmädchen zu Heldinnen macht. Auch ich war erschüttert; was mein Verstand, mir selbst zum Trotz, Stein um Stein aufgerichtet hatte, das drohten die Pfeile von der Rednertribüne zu zerstören. Aber dann vernahm ich schrille, falsche Töne, für die nur mein Gehör fein genug schien: die Rednerin verhöhnte die Kraft ethischer Motive als einen in Rechnung zu stellenden Motor in der revolutionären Bewegung. Sie überschüttete mit Spott jene »bürgerlichen Intelligenzen«, die mit der »Gerechtigkeitsidee« ins weite Meer gesteuert und mit gebrochenen Masten in den Hafen der Entsagung zurückgekehrt sind. »Nur der aus seinen Klasseninteressen entstehende Klassenkampf des Proletariats wird dem Sozialismus die Welt erobern.« Welche Motive hatten die Marx und Engels, die Lassalle, die Liebknecht auf die Seite der Enterbten getrieben? Waren sie nicht »bürgerliche Intelligenzen« gewesen, wie Wanda Orbin selbst? Mit frenetischem Beifall nahm das Volk ihren Kniefall vor seiner Majestät entgegen, während mir die Schamröte in die Schläfen stieg. Als sie dann mit einer Stimme, die nur noch ein Kreischen war, weil nicht mehr das Feuer der Begeisterung, sondern weibische Rachsucht sie belebte, in den Saal hinausschrie: »Wenn die Gegensätze so schroff zutage treten, wie zwischen der Masse der Genossen und den Bernstein, den Heine, den David, den Schippel, so ist eine reinliche Scheidung besser als ein fauler[240] Friede,« und die Zuhörer trampelnd und johlend Beifall klatschten, da wußte ich, daß die Partei der Freiheit Scheiterhaufen zu schichten imstande sein würde.

Still davon zu gehen, nachdem die Versammlung geschlossen worden war, wäre gewiß am klügsten gewesen. Der Wirbelsturm meiner Gefühle, der sich aus Bewunderung und Empörung, aus Schüchternheit und Angst zusammensetzte, hatte mich gehindert, in der Diskussion zu sprechen, jetzt aber kochte mir das Blut; ich wollte nicht feige erscheinen, ich mußte mit Wanda Orbin sprechen, die mich noch immer für ein Glied ihrer Gefolgschaft hielt. Sie kam meinem Wunsch entgegen.

Wir gingen noch in ein Café, und schon auf dem Wege dahin sprach sie mich an: »Sie waren gegen mein Referat, hörte ich?« »Ja, und ich bin es nachträglich noch mehr als vorher,« antwortete ich. »Das ist ja sehr interessant,« meinte sie spitz und wandte sich von mir ab. Ich war den Rest des Abends Luft für sie.

Wir verabschiedeten uns mit einer kühlen Verbeugung, und während sie, umringt von den Genossinnen, ihrem Absteigequartier entgegenging, fuhr ich allein nach Hause. Ich kämpfte mit den Tränen. In dem engen Kreise der Arbeiterinnenbewegung Wanda Orbin als Gegnerin gegenüberzustehen, das bedeutete entweder mein Ausscheiden aus ihm oder einen endlosen aufreibenden Kampf.


Spät in der Nacht kam ich nach Hause. Hier draußen im Grunewald bedeckte eine feste Schneedecke Straßen und Gärten, tiefschwarz stiegen die Kiefern aus ihrem hellen Weiß empor; ihre dünnen, dürftigen Wipfel verloren sich im Nebel. Ich fürchtete mich. Nacht und Dunkelheit waren meine schlimmsten Feinde. Dann sah ich, wie in meiner Kindheit, drohende Gestalten hinter Baum und Busch und hörte die Tritte Unsichtbarer hinter mir. Ich lief. Auf dem kleinen Platz, wenige Schritte [241] vor unserem Garten, blieb ich stehen. Der Atem wollte versagen. Ich sah hinüber: Grau, düster, als wäre es selbst nur ein Gebilde des Nebels, schlief unser Haus zwischen den schwarzen Stämmen, die es umstanden wie lauernde Wächter.

Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken: wir hatten hier noch keinen frohen Tag gehabt. Der Kleine schlief schlecht, – der Kiefernduft rege ihn auf, meinte der Arzt, – er war oft krank gewesen. Und zwischen mir und meinem Mann richteten die Sorgen sich auf, immer höher und höher, wie eine trennende Mauer, in die die Kraft unserer Liebe nur hie und da Bresche schlug. Wir trugen unsere Qualen allein, – aus Rücksicht; wir hüllten unsere Seelen in den dunkeln Mantel des Schweigens, damit der Anblick ihrer Not nicht den anderen verletze. Daß einer den anderen überhaupt nicht mehr sehen konnte, blieb uns verborgen. Unausgesprochene Vorwürfe wirkten auf unsere Gefühle wie früher Frost auf entfaltete Rosen. Uralte Vorurteile, Traditionen, deren triebkräftige Wurzeln den Boden umklammern, wenn auch der Baum gefällt ist, nährten sie.

Unter der Schwelle des Bewußtseins lebte in mir, der Emanzipierten ihres Geschlechts, die Vorstellung: daß der Mann, dem das Weib sich anvertraute, wie ein Schutzengel über ihrem Leben stehen müsse, daß er verpflichtet sei, sie vor Sorgen zu hüten. Statt dessen hatte der meine – der Vorwurf wühlte in mir – sie über mich heraufbeschworen! Und in dem Grunde der Seele des Mannes, der aus eigener Überzeugung meine Berufsarbeit förderte, lebte der Gedanke: daß die Frau das Reich des Hauses zu regieren habe, daß ihr die Pflicht obliege, durch ihr Wirken die Not von seiner Schwelle zu bannen. Statt dessen verstand die seine nichts von alledem, und nur zu oft las ich in seinen sprechenden Zügen den Vorwurf: Du – du bist schuld.

Ein Licht, das im Erdgeschoß, wo die Köchin schlief, aufflammte, riß mich aus meinem Sinnen. Ich eilte der Gartenpforte zu. Da öffnete sich die Türe zum Kücheneingang, – »auf [242] morgen!« hörte ich flüstern, ein Mann trat heraus, kletterte gewandt über den Zaun und ging, vor sich hinträllernd, die Straße hinab. Das Licht im Mädchenzimmer erlosch.

Ich schlich hinauf. Mein Mann schlief fest. Wie ich ihn schon um diesen Schlaf beneidet hatte! Ihn suchte er auf, ich mußte ihn mir erst erzwingen! Heute wollte er sich überhaupt nicht festhalten lassen. Der Gedanke, daß ich morgen die Minna schelten mußte, peinigte mich: dadurch, daß ich ihre Arbeitskraft in Anspruch nahm, hatte ich doch noch kein Recht über ihre Person. Wie durfte ich verlangen, daß sie mir ihre Liebe opfern sollte? Und doch würde vermutlich die Konsequenz meiner Nachsicht nichts anderes sein, als daß sie ihren Liebhaber mit ernährte. Eine gute Hausfrau nimmt alle Schlüssel an sich, – die des Hauses wie die der Speisekammer. Ich vermochte es nicht: Konnte ich einen fremden Menschen einsperren wie einen Sklaven? Vor einer Hausgenossin alles verschließen, als hielte ich sie von vornherein für eine Diebin? Wieder rollte sich durch einen geringfügigen Anlaß ein ganzes Problem vor mir auf. Ich grübelte ihm nach, über die kleinen Nöte meiner eigenen vier Wände hinaus, und fand keine andere Lösung als die radikalste: Vernichtung des patriarchalischen Haushalts, Entwicklung des Dienstmädchens, das unter ständiger Kontrolle steht, das Tag und Nacht dienstbereit sein soll, zur freien Arbeiterin, die stundenweise beschäftigt und entlohnt wird.

Mit dem grauenden Tage kehrte ich wieder zu mir selbst zurück. Die nächste Zeit stellte starke Anforderungen an mich: der Feldzug gegen den Zuchthauskurs sollte auf der ganzen Linie eröffnet werden, – ich würde häufig abends fort sein müssen Wenn ich doch irgend jemand hätte, der mich im Hause vertreten könnte. Aber die guten Hausgeister der Vergangenheit, – all die unbeschäftigten Tanten und Cousinen waren ausgestorben, hatten sich in selbständige Berufsarbeiterinnen verwandelt. Und meine Mutter?!


[243] Gleich nach des Vaters Tod hatte sie ihren Haushalt aufgelöst und war zu Erdmanns gezogen. Eine Lungenentzündung hatte Ilse aufs Krankenlager geworfen, die Mutter war Pflegerin und Haushälterin zugleich gewesen. Durfte ich sie jetzt, wo sie selbst der Erholung bedürftig war, für mich in Anspruch nehmen?

Sie besuchte uns am nächsten Tag. Ottochen lief ihr entgegen. Er suchte immer noch den »Apapa« und weinte, wenn er nicht mitkam.

Wie leicht, wie elastisch der Gang der Mutter ist, dachte ich erstaunt, als ich sie näherkommen sah. Mir war, als wäre sie sonst schwer und hart aufgetreten. Ihre Wangen waren gerötet, der bittere Zug um ihren Mund wie weggewischt, die schmalen, blassen, zusammengepreßten Lippen wölbten sich plötzlich, wie von jungem Blut durchglüht.

»Nun kann ich reisen!« sagte sie mit einem Aufleuchten in den Augen. »Meine Pflicht Erdmanns gegenüber ist erfüllt, – sie wollen selbst so rasch als möglich auf See, um ihre Lungen auszuheilen; da bin ich frei –,« sie dehnte dies letzte Wort, als müßte sie es ganz auskosten.

Nach Italien wollte sie zuerst. Sie erzählte von einem ganzen Stoß kunsthistorischer Bücher, die sie mitnehmen wollte. »Ich bin nie zum Lesen gekommen,« meinte sie; »wie viel hab' ich versäumt, wie viel kann ich nachholen!«

Ich sah sie verwundert an wie eine Fremde: hatte sie mich nicht so und so oft aus der Lektüre herausgerissen, als ich noch daheim war, und mich neben sich an den Flickkorb gezwungen? Hatte sie jemals etwas anderes gelesen als die Zeitung und hie und da einen Roman?

»Du bist erstaunt?« lächelte sie. »Du wirst es noch selbst erfahren, wie die Pflicht, für andere zu leben, uns Frauen fast bis zur Selbstvernichtung treiben kann.« Ich fand keine Antwort. Wie unglücklich mußte sie gewesen sein, – und wie unglücklich [244] gemacht haben, da sie fünfunddreißig Jahre lang nur aus Pflichtgefühl die Ketten der Ehe getragen hatte!

»Im nächsten Winter werde ich mich hier in einer Pension etablieren,« fuhr sie fort, »du glaubst nicht, wie allein der Gedanke mich beruhigt, alle Haushaltsquälerei los zu sein!« Und sie war scheinbar in ihrem Haushalt aufgegangen!

»Was geschieht aber dann mit den Möbeln?« fragte ich, um nur irgend etwas zu sagen.

»Ich habe heute das letzte verkauft – –«

»Verkauft?!« Ich starrte sie entgeistert an. Wie?! Ohne uns, ihren Kindern, auch nur eine Mitteilung davon zu machen, hatte sie all die hundert lieben Dinge, die ein Stück Heimat für mich gewesen waren, achtlos in alle Winde verstreut?! Des Vaters Schreibtisch mit den geschnitzten Eulen, – den alten Stuhl davor –! Ich strich mir mechanisch mit der Hand über die heiße Stirn, um den bösen Traum zu verscheuchen, – denn es war doch nur ein Traum!

»Auch die grünen Lehnsessel – und das alte Sofa, das in meinem Zimmer stand?« murmelte ich.

»Gewiß!« antwortete sie mit heller Stimme, aus der der scharfe ostpreußische Akzent mehr als sonst hervortrat. »Ihr alle habt, was ihr braucht, – das Gerümpel hätte kaum noch einen Umzug ausgehalten; – nur Silber, Glas und Porzellan ließ ich bei Ilse auf den Boden stellen. Ich habe lang genug all dies Schwergewicht mit mir gezogen.«

Mir schoß das Blut in die Schläfen: So strich sie Jahrzehnte ihres Lebens aus und mit ihnen die Erinnerung! Schon hatte ich bittere Worte auf der Zunge. Ich hob den Blick: Der Ausdruck ihrer Züge entwaffnete mich. Mir war, als sähe ich plötzlich bis zum Grunde ihres Herzens. Dem Götzen der Pflicht hatte sie ihr Leben geopfert und wußte nun nicht einmal, wie groß ihre Sünde gewesen war. Jetzt erst trat sie aus dem Dämmerdunkel seines Tempels ans Tageslicht und grüßte es, [245] als sähe sie es zum erstenmal. Arme Mutter! Keinen Strahl deiner schon leise sinkenden Sonne will ich dir verdunkeln, dachte ich, und bat ihr im stillen ab, was ich an heimlichem Groll gegen sie im Herzen getragen hatte. Als ich sie zum Abschied küßte, liebte ich sie, – mit jener mitleidigen Liebe, die eine einzige Trennung ist.

Es war gut, daß sie ging, – für sie und für mich. Der Glaube, daß ihre Kinder keine materiellen Sorgen hatten, gehörte zu dem Glücksgefühl, mit dem sie die späte Freiheit genoß. Hätte ich sie zurückgehalten, ihr in meine Häuslichkeit Einblick gewährt, es wäre doch erschüttert worden. Ich mußte selbst mit mir und den Verhältnissen fertig werden.


»Eine Villa im Grunewald, –« wie oft hörte ich in den Kreisen der Parteigenossen mit einem mißtrauisch-hohnvollen Blick auf mich diese vier Worte flüstern. Sie wußten nicht, daß uns kein Stein von ihr gehörte, daß sie aber mit dem Gewicht aller ihrer Steine auf uns lastete. Die Zinsen, die wir zu zahlen hatten, waren schließlich doch höher als die Miete gewesen; Haus und Garten erforderten mehr Arbeitskräfte als die kleine Etagenwohnung, und das Leben hier draußen war auf Rentiers und Millionäre zugeschnitten, die den Grunewald allmählich bevölkert hatten. Noch mehr als früher war jeder Erste des Monats ein Schreckenstag für mich Und wenn ich am Schreibtisch saß und meine Gedanken auf das Buch, an dem ich arbeitete, konzentrieren wollte, kamen die Sorgen grinsend aus allen Winkeln gekrochen und bohrten ihre Knochenfinger in mein Gehirn und zerdrückten meine Gedanken zwischen ihnen. Dann lief ich zu meinem Sohn hinauf oder spielte im Garten mit ihm, – denn über seinen Zauberkreis wagten sich die grauen Gespenster nicht.

Wie hatte die Mutter gesagt, als sie mit jungen Augen von ihrer Freiheit sprach? »Lang genug hab' ich dieses Schwergewicht mit mir gezogen – –« Ein Schwergewicht, – eine [246] Kette am Fuß, – so empfand ich auf einmal das Haus, in dem ich wohnte. Flügellos machte es mich und – alt, alt!

Du hast Falten um Mund und Nase, sagte mein Spiegel, Falten, und trübe Schleier über den Pupillen wie all jene Frauen, denen der jämmerliche Kleinkram des Lebens die Seele zertritt. Ich aber will nicht alt sein, schrie es in mir; noch braust und schäumt der Strom der Jugend in meinem Innern, der starke Strom, der Felsen höhlt und Riesen des Waldes entwurzelt, und den die Ehe in ihre gemauerten Kanäle zwang.

»Heinz, hab' einmal Zeit für mich,« sagte ich eines Abends. Wir saßen fast immer bis zum Schlafengehen arbeitend an unserem Schreibtisch. Gemeinsame Abende gab's für uns nicht. Ich hatte unter diesem Mangel im Beginn unserer Ehe schwer genug gelitten. Er sah von seiner Lektüre auf; ein helles Licht huschte über seine Züge. »Immer, mein Schatz – nur leider verlangst du nie danach.«

»Ich weiß, du hast es sehr gut gemeint,« begann ich stockend, »du hast nur meinen Wunsch erfüllen wollen, als du dieses Haus für uns bautest. Keiner von uns hat vorher gewußt, daß – daß es eine unerträgliche Last für uns sein würde – –«

»Aber, Alix, du kommst auf diesen vernünftigen Gedanken, du?!« unterbrach er mich. »Du könntest – du wolltest –?!«

»Das Haus verkaufen, – ja! Tausendmal lieber, als in dieser Angst weiterleben –« Mir stürzten die Tränen aus den Augen, trotz aller Selbstbeherrschung.

Heinrich gehörte zu den wenigen Männern, die durch Frauentränen nicht weicher, sondern härter werden. »Wozu die Tragik,« sagte er ärgerlich. »Wenn du einsiehst, was mir längst klar ist: daß wir über unsere Verhältnisse leben, so sind wir einig, und die Konsequenzen sind selbstverständlich.«

Meine Tränen flossen nur noch stärker; ich hatte unwillkürlich so etwas wie ein Lob für meinen Opfermut erwartet. Erst allmählich kam ich zur Ruhe.

[247] Wir saßen aneinandergeschmiegt wie in den ersten Zeiten unserer Ehe auf dem pfauenblauen Sofa und spannen neue Zukunftsträume, als wäre durch unseren bloßen Entschluß schon die Bahn für sie frei.


Wochen und Monde vergingen. Niemand fragte nach unserem Haus. Indessen zog mit blauem Himmel und heißer Sonne der Sommer ein, und auch unter den Kiefern lachten und dufteten Rosen, Nelken und Lilien. Grüne Ranken kletterten übermütig an den grauen Wänden empor, vor allen Fenstern nickten rote Geranien. Und mitten in all der Pracht blühte mein Kind. Es spielte den ganzen Tag im Grünen, jeder Busch wurde ihm ein lebendiger Gefährte. Und wenn es droben im Giebelstübchen hinter den Blumenbrettern schlief, dann saßen wir noch lange auf der Altane und atmeten den würzigen Duft der Nacht und genossen der zauberischen Ruhe des Waldes. Ich fing an, dies Stückchen Erde zu lieben: es hatte meinem Sohn eine Heimat werden sollen. Ich trennte mich immer schwerer von dem stillen Winkel.

Nichts ist gefährlicher für den Altruismus als die mit Egoismusbazillen gefüllte Luft häuslicher Gemütlichkeit. Nur die ganz Starken, Widerstandsfähigen entziehen sich der Ansteckung.

Die Vorkämpfer der Menschheit waren fast immer die Heimatlosen.

Aber auch meine Körperkräfte hinderten mich oft an der agitatorischen Tätigkeit. War ich genötigt, ein paar Abende hintereinander zu sprechen, so versagte meine Stimme. »Sie dürfen sich niemals in Rauch und Staub aufhalten,« sagte dann der Arzt und verordnete mir Schweigen und frische Luft. Meine robusten Genossinnen, für die die Atmosphäre der Versammlungssäle nicht schlechter war als die ihrer engen Stuben, ihrer überfüllten Werkstätten und Fabrikräume, hielten mich für schulkrank und mißtrauten mir mehr noch als früher.


[248] Wir hatten im Winter einen Arbeiterinnenbildungsverein gegründet, – einen Notbehelf, da das Gesetz den Frauen die Teilnahme an politischen Organisationen untersagte und seine Handhabung den Arbeiterinnen gegenüber besonders streng war. Er wurde aber rasch zum Selbstzweck; die Frauen hatten ein lebhaftes Bedürfnis nach geistiger Aufklärung aller Art, und es war für mich eine Erfrischung, seinen Zusammenkünften beizuwohnen. Zwei Abende war schon über Erziehung gesprochen worden, und die Debatte bewies, mit wie viel Ernst, mit wie viel Eifer diese armen Arbeiterfrauen ihre Aufgabe als Mütter erfaßten.

Diesmal hatte ich Romberg genötigt, mitzukommen. Er war in bezug auf die geistige Entwicklungsmöglichkeit der Frauen sehr skeptisch, und so sehr er aus rein ökonomischen Gründen die Frauenbewegung für notwendig anerkannte, so war sie ihm doch nur eine traurige Notwendigkeit; was sie erstrebte, er schien ihm nicht als Fortschritt, sondern nur als eine unausbleibliche beklagenswerte Wandlung. Den Bildungshunger der »Waschfrauen und Näherinnen« hielt er nun gar für eine meiner unverzeihlichen Illusionen. Ich wollte ihm einmal statt Gründe Beweise liefern. Und allmählich schien er wirklich erstaunt. Eine kleine, adrett gekleidete Frau stand jetzt auf dem Podium. »Mein Mann ist Maschinenschlosser,« sagte sie, »wir haben nur zwei Kinder und soweit unser Auskommen, so daß ich nicht mit zu verdienen brauchte. Aber unser Junge ist ein heller Kopf. Da hab' ich mir gesagt: Der soll was Besseres werden als seine Eltern, der soll auch mal wissen, wie schön und wie reich die Welt ist, und nicht, wie wir, bloß durch so'n schmales Guckloch ein Endchen von ihr zu sehen kriegen. Und nun gehe ich wieder in die Fabrik, und der Fritze geht dafür aufs Gymnasium. Ich will mich nicht rühmen, daß ich's tu, ich möcht' nur jeder raten, es ebenso zu machen.«

In jener Impulsivität, die ich so sehr an meinem Mann liebte, stand er auf, um der tapferen kleinen Frau, die wieder ihrem [249] Platz zuschritt, die Hand zu drücken. Romberg dagegen sagte: »Meinen Sie, daß der ›Fritze‹ als Geistesproletarier glücklicher sein wird!?« »Auf das Glück kommt es nicht an, sondern auf den Grad der sozialen Leistung, und die wird größer sein, wenn seine Begabung zu ihrem Rechte kommt,« antwortete ich rasch.

Ein junges Mädchen trat an unseren Tisch. »Genossin Brandt?« forschend sah sie mich an. – »Die bin ich.« – »Ich wollte Sie nur mal was fragen. Ich bin nämlich Dienstmädchen gewesen und habe eine Freundin, die noch Köchin is, und die hat mich neulich in den Dienerverein mitgenommen, wo sie jetzt wollen auch die Mädchens aufnehmen. Sie schimpfen aber dort alle gegen die Sozialen, und da wollt ich gern mal wissen, ob Sie nicht mal könnten hinkommen –«

»Sie werden doch nicht!« flüsterte mir Romberg zu. »Verpflichte dich zu nichts,« sagte mein Mann leise.

»Selbstverständlich komme ich,« entgegnete ich der zaghaft vor mir Stehenden; ihr Gesicht erhellte sich; wir verabredeten alles weitere.

Beim Heimweg schalt mein Mann: »Du läßt dich von jeder beschwatzen, und alle spekulieren schließlich auf deine Gutmütigkeit.«

»Wenn diese kleine Begegnung zu einer Dienstbotenbewegung den Anlaß gibt, so wirst du anders denken.«

»Mir tut es in der Seele weh, wenn ich Sie in der Gesellschaft seh,« meinte Romberg. Er sah mich mit einem Blick an, der mich erröten machte. Wie töricht, – dachte ich gleich darauf, zornig über die eigene Schwäche, und doch blieb ich den ganzen Abend über im Bann jener Frauenfreude, die belebend wirkt wie prickelnder Champagner: der Freude an der Bewunderung. Alix von Kleve stieg aus der Versenkung ernster Jahre empor und sonnte sich an altvertrauten Triumphen. In meinen Verkehr mit Romberg trat ein neuer Reiz: er ließ es mich fühlen, daß das Weib in mir ihn anzog und nicht nur die neutral-interessante[250] Persönlichkeit. Es gibt Frauen, die angesichts solcher Erfahrung die Beleidigten spielen. Sie lügen.

»Ich drehe dir den Hals um, wenn du dir von Romberg die Kur machen läßt,« grollte Heinrich, als wir zu Hause waren, zwischen Scherz und Ernst. Ich flog ihm in die Arme. »Hast du mich wirklich so lieb?« lachte ich. Er zog mich stürmisch an sich: »Dich, dich hab' ich lieb,« flüsterte er leidenschaftlich, »das süße Katzel, – meinen Schatz; – die berühmte Frau kann mir gestohlen werden ...«


In der ersten Morgenfrühe weckte mich ein wilder Schrei. »Aus Minnas Stube,« – sagte ich mir und stürzte hinunter. Sie lag in ihrem Blut, und als der Arzt kam, schwand mein letzter Zweifel: sie hatte gewaltsam die Folgen ihres Liebesverhältnisses beseitigen wollen.

An ihrem Krankenbett studierte ich die Dienstbotenfrage. Sie faßte Vertrauen zu mir. Ich erfuhr von diesem armen Leben, das von Kindheit an unter fremden Leuten in ständiger Unfreiheit, in ununterbrochener Dienstbarkeit verflossen war. »Was muß unsereiner doch auch haben, – was fürs Herz. Und wenn ich nicht getan hätte, was er wollte, – dann wär' er fortgegangen, – dann hätte er zehn für eine gefunden,« schluchzte sie.

»Warum heirateten Sie nicht?« wagte ich einmal einzuwenden. »Heiraten?! Womit denn?! – Arbeit hat mein Franz keine, – meine paar Spargroschen gab ich ihm, – und vor so einer Jammerwirtschaft in einem Loch auf'n Hof mit'n halb Dutzend Göhren graust's mich ...« Sie wurde von Tag zu Tag elender. Ihr Franz fragte nur einmal nach ihr. Als er hörte, daß sie krank sei, kam er nicht wieder. Ich mußte sie schließlich der schweren Pflege wegen, die ihr Zustand nötig machte, ins Krankenhaus bringen. Dort starb sie.


[251] »Wir wollen die Harmonie zwischen Dienstboten und Herrschaften wieder herstellen ...,« – »die Dienstboten allein können nichts erreichen, es gehören auch die Herrschaften dazu ...,« – »den Arbeitern fehlt es heute an tüchtigen Hausfrauen, weil die Mädchen lieber in die Fabrik als in Stellung gehen, wo sie sich dazu vorbereiten könnten ...« Das waren die Leitmotive, unter denen die Versammlungen tagten, die der Dienerverein veranstaltete. Die wenigen weiblichen Dienstboten, die ihm schon angehörten, schlugen zwar zuweilen eine schärfere Tonart an, wenn die Erinnerung an all die erlittene Unbill sie überwältigte, aber sie trugen schwarz-weiße Kokarden und verwahrten sich nachdrücklich dagegen, mit der Arbeiterbewegung irgend etwas gemeinsam zu haben.

Ich verhielt mich während der ersten Versammlungen nur als Zuhörerin und erkannte bald, daß es dem Verein an Mitteln und Mitgliedern fehlte und er offenbar nichts wollte, als durch Hinzuziehung weiblicher Dienstboten diesem Übel abzuhelfen. Im Grunde fürchtete er schon, die Geister, die er gerufen, nicht los zu werden, denn sobald ein Mädchen ihre Erfahrungen gar zu rückhaltlos zum besten gab, trat irgendein Beschwichtigungsapostel ihr entgegen.

»Ich stelle den Antrag, daß wir uns der entstehenden Dienstbotenbewegung mit allem Nachdruck annehmen,« sagte ich, als ich wieder einmal mit den Genossinnen zusammenkam; »in jeder Versammlung müssen einige von uns anwesend sein. Wir dürfen die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, um diese rechtlosesten unter den Arbeiterinnen zum Bewußtsein ihrer Klasse zu erziehen. Wir müssen so bald als möglich eine selbständige Organisation gründen, damit sie dem Einfluß dieses grundsatzlosen Vereins nicht unterworfen bleiben.«

Aber je lebhafter ich sprach, desto kühler und zurückhaltender waren die anderen. »Genossin Brandt scheint nicht zu wissen, daß die Dienstboten kein Koalitionsrecht besitzen –,« meinte Martha Bartels naserümpfend.

[252] »Gerade weil ich das weiß, empfinde ich um so mehr unsere Verpflichtung, ihnen zu helfen, ihnen das Rückgrat zu stärken,« entgegnete ich heftig.

»Die Dienstmädchen sind noch längst nicht reif für unsere Bewegung, – überlassen wir sie ruhig sich selbst,« sagte eine andere.

»Damit sie den Nationalsozialen in die Hände fallen, die ihre Netze auslegen, wo immer sie einen Proletariermassenfang erwarten dürfen,« antwortete ich, und unterdrückte noch rasch eine Bemerkung über die Schädlichkeit dieses fatalistischen Glaubens an die Alleinseligmachung der ökonomischen Entwickelung, der uns in geeigneten Momenten die Hände in den Schoß legen läßt.

»So werde ich denn allein mein Heil versuchen,« erklärte ich schließlich, als mein Antrag abgelehnt wurde, und verließ die Sitzung.

Von nun an fehlte ich in keiner Dienstbotenversammlung. Mit bunten Sommerhüten und hellen Blusen füllten die während der Reisezeit der »Herrschaften« dienstfreien Mädchen die glutheißen Säle. Zuerst kamen nur die Gutgestellten, die Jungen, die Handschuhe trugen, und zuweilen vornehmer aussahen als ihre »Gnädigen«. Sie betrachteten die Sache fast wie eine Ferienlustbarkeit und kokettierten mit den Männern, die hier auf Abenteuer ausgingen. Aber allmählich überwogen die älteren, die von zehn und zwanzig und dreißig Dienstjahren erzählen konnten, und die Armen, die Mädchen für alles waren, auf deren schmale Schultern die gut bürgerliche Hausfrau die Lasten des Lebens abzuwälzen sucht. Und ihre Klagen wurden lauter, ihre Worte deutlicher; das Kichern und Lachen verstummte vor den Bildern des Grams, die sich enthüllten.

Es gab welche, die ihre Kolleginnen um den dunkeln Hängeboden über der Küche beneideten, weil sie nichts hatten als ein Schrankbett auf dem offenen Flur oder eine Matratze im Baderaum: [253] »Dabei wird unsere gute Stube nur zweimal im Jahre für die große Gesellschaft geöffnet ...«

Ach, und die schmale Kost bei der harten Arbeit: »Eine Stulle mit Schweineschmalz am Abend, – während der Herr drinnen Rotwein trinkt zu fünf Mark die Flasche ...«

Vor allem aber: »Nie ein Stündchen freie Zeit ... Wir schrubbern und kochen, während die Herrschaft spazieren geht, ... wir hüten die Kinder, während sie tanzen ...«

Dazwischen schüchterne Bitten der Ängstlichen und Gutmütigen: »Nur ein wenig geregelte Arbeitszeit, – und freundliche Worte statt des ewigen Zanks, – dann wollen wir gern dienen, wollen treu und fleißig sein.«

Sie waren wie aufgescheuchte Vögel, die ohne Richtung hin- und herflattern. Als ich zum erstenmal vor ihnen zu reden begann, hielten sie mich für eine »Gnädige«. »Nu aber jeht's los!« rief kampflustig eine rundliche Köchin. Alles lachte. Ich sprach von den Gesindeordnungen, den Ausnahmegesetzen für die Dienstboten, die sie den Dienstgebern fast rechtlos in die Hände liefern, von der erlaubten »leichten« körperlichen Züchtigung, von den vielen Gründen zur Entlassung ohne Kündigung und schließlich von einer jener Schöpfungen der preußischen Reaktion, die den Streik der Dienstboten mit Gefängnis bestraft. Noch hörte man mir ruhig zu, unsicher, was ich aus den Tatsachen folgern würde. Nur der Vorsitzende, der stets aus eigener Machtvollkommenheit »das Hausrecht übernahm«, sah beunruhigt zu mir auf.

»Für Sie ist demnach die Zuchthausvorlage, die Deutschlands gesamte Arbeiterschaft knebeln will, immer Gesetz gewesen,« rief ich laut.

»Eine Sozialdemokratin!« kreischte neben mir eine Frau in hellem Entsetzen. Ein unbeschreiblicher Lärm erhob sich; auf die Tische sprangen die Mädchen in hysterischer Erregung, schrien und winkten mit den Taschentüchern; eine von ihnen drängte [254] sich neben mich, ballte die Fäuste und rief schluchzend: »Wir sind königstreu! Wir sind gottesfürchtig!« Hilflos, mit angstgerötetem Gesicht schwang der Vorsitzende unaufhörlich die Glocke. Aber in der nächsten Versammlung erwarteten mich schon ein paar Mädchen an der Türe: »Sie werden sprechen, nicht wahr? – Wir werden Ihnen Ruhe verschaffen!«

Und im überfüllten Saal waren außer den Dienstboten: Neugierige, Hausfrauen, bürgerliche Frauenrechtlerinnen, Journalisten mit der frohen Erwartung einer in möglichst vielen Zeilen zu beschreibenden Sensation. Auch ein paar Genossinnen entdeckte ich: Ida Wiemer und Marie Wengs. »Wir greifen ein, wenn's not tut,« sagten sie, »nur tapfer!« Bis um Mitternacht ließ mich der Vorsitzende nicht zu Worte kommen. Ich ging im Saal umher, von Tisch zu Tisch. »Das ist Recht und Freiheit im Dienerverein,« sagte ich. Jemand rief: »Alix Brandt soll reden!« und der Ruf pflanzte sich fort und dröhnte schließlich durch den Saal. Als ich aber auf dem Podium stand, erstickte ihn ein zorniges Zischen; die Kraft meiner Stimme kämpfte dagegen an, und wie ein Unwetter in der Ferne verklang es.

»Sie wollen eine Verbesserung der Gesindeordnung, als ob auf verunkrautetes Feld frischer Samen gesät werden sollte. Es gibt nur eine Forderung, die Sie stellen dürfen: ihre Abschaffung, damit Sie den Arbeitern gleichgestellt werden –«

»Wir sind keine Arbeiterinnen, – wollen keine sein!« rief ein zierliches Zöfchen mit gebrannten Stirnlocken entrüstet.

»Sie predigen Harmonie zwischen Herrschaft und Dienstboten, und doch gibt es zwischen ihnen ebensowenig eine Interessengemeinschaft wie zwischen dem Arbeiter und dem Unternehmer –

»Unerhört!« – Ein paar Damen mit hochrotem Gesicht drängten sich zur Türe. Die Mädchen lachten hinter ihnen: »Sie können die Wahrheit nicht vertragen!«

»Je mehr Sie Maschinen sind, desto weniger Menschen sind Sie und desto bessere Dienstboten im Sinne der Hausfrauen ... [255] Sie wollen statt der endlosen eine beschränkte Arbeitszeit, Sie tun recht daran. Aber die Masse der Hausfrauen ist nicht in der Lage, statt eines, zwei und drei Mädchen für dieselbe Arbeit anzustellen. Sie wollen statt einer Schlafstelle ein Zimmer, das Ihnen etwas wie ein Zuhause sein kann. Sie tun recht daran. Aber bei der heutigen Einteilungsart der Wohnungen und ihren hohen Preisen sind die meisten Frauen nicht imstande, sie Ihnen zu geben. Sie wollen – lassen Sie mich aussprechen, was Sie selbst noch nicht ausgesprochen haben – Sie wollen mit Ihren Freundinnen verkehren können, Ihren Bräutigam sehen, ohne auf die Straße, auf die Tanzböden gehen zu müssen –«

»Unglaublich!« – Und wieder leerte sich der Saal um zahlreiche elegante Zuhörer.

»Das ist Ihr gutes Recht. Und wer sich hier entrüstet gebärdet, den frage ich: was empört sich in Ihnen? Ihre Sittlichkeit?! Ist es sittlich, junge, lebensvolle Mädchen, die auf Freude dasselbe Recht haben wie die höheren Töchter, denen die Natur dasselbe Verlangen nach der Erfüllung ihrer Geschlechtsbestimmung verlieh wie diesen, auf Hintertreppen, auf Schleichwege und zweifelhafte Ballokale anzuweisen, statt ihnen den Schutz des Hauses zu verleihen ...?«

Minutenlanger Beifall unterbrach mich. Dicht um das Podium scharten sich junge Gestalten, und leuchtende Augen hingen an meinen Lippen.

»Es ist vielmehr der natürliche Egoismus, der Interessengegensatz der Hausfrauen zu den Dienenden, der auch die Wohlwollenden unter ihnen zwingt, fremden Gästen ihr Haus zu schließen ... Wir werden für die Gegenwart eine Reihe von Forderungen an die Gesetzgebung im Interesse der Dienenden zu stellen haben, deren Erfüllung viele Mißstände beseitigen wird. Aber der Dienst des Hauses wird nur dann den Charakter des Sklavendienstes verlieren und zur Würde selbständiger Arbeit sich entwickeln, wenn das abhängige Dienstmädchen sich [256] in die freie Arbeiterin verwandelt hat, die ihre Arbeitskraft nur stundenweise verkauft, die imstande ist, in Reih und Glied mit dem in der Sozialdemokratie organisierten Proletariat für ihre letzten Ziele zu kämpfen ...«

Ich stieg in den Saal hinunter, umbraust von Beifallsrufen und Schimpfworten.

Von nun an hatte ich die Mehrheit auf meiner Seite. Die Versammlungen wurden ruhiger, sachliche Beratungen der aufzustellenden Forderungen wurden ermöglicht.

Der Lärm tobte statt dessen außerhalb der Säle weiter. Die Presse schrie nach der Polizei; Hausfrauenversammlungen nahmen geharnischte Resolutionen an, durch die sich die Anwesenden verpflichteten, ihren Dienstboten den Besuch unserer Zusammenkünfte zu verbieten. Alles war von der Angst ergriffen, daß mit der Dienstbotenbewegung die Intimität des Familienlebens der Sozialdemokratie ausgeliefert sei. Auf mich, die ich diese Gefahr über die ruhigen Bürger heraufbeschworen hatte, konzentrierte sich der persönliche Haß. In allen Tonarten wurde ich beschimpft und verleumdet. Und selbst nahe Freunde, aufgeklärte, freidenkende Menschen, sprachen mir mündlich und schriftlich ihre Mißbilligung aus. Die ruhigsten Frauen gerieten dabei in leidenschaftliche Erregung.

»Der Kanal, in den Sie den Strom der Dienstbotenbewegung geleitet haben, wird das ›traute Familien leben‹ überfluten. Was dann?!« schrieb mir Romberg.

Meine Mutter erfuhr durch die Zeitungen von den Vorgängen in Berlin. »Immer wieder zerstörst Du durch die Maßlosigkeit Deiner Forderungen ihren nützlichen Kern und machst Dir und Deiner Sache die wohlwollendsten Menschen zu Feinden,« hieß es in einem Brief von ihr. Tags darauf folgte ihm ein zweiter, dem ein Schreiben meiner Augsburger Tante beigelegt war. »Nach den unerhörten Vorgängen in Berlin bin ich außerstande, an Alix persönlich zu schreiben. Ich habe sie [257] bisher immer verteidigt, habe ein Auge zugedrückt, wo ich konnte, aber ihre unverantwortliche Aufhetzung der Dienstboten, – denen es im Grunde nur zu gut geht, – werde ich weder verstehen, noch verzeihen können. Teile ihr das in meinem Namen mit und sage ihr, was vielleicht nicht ohne Eindruck auf sie bleiben wird, daß auch ihre alten Freunde, die Grainauer Bauern, empört über sie sind ...« Ich lächelte unwillkürlich: wenn ich von der Unfreiheit des Gesindes sprach, mußten sie sich getroffen fühlen.

Aber dann machte ich mir den Ernst der Sache klar: Ich hatte in Gedanken an das reiche Erbe der Tante nie auch nur einen Bruchteil meiner Überzeugungen preisgegeben, die Selbständigkeit meiner Entschließungen war nie durch sie beeinflußt worden. Jetzt aber besaß ich einen Sohn, dessen einzige Zukunftsaussicht vielleicht in Frage stand, – seine Eltern hatten nicht das Zeug dazu, Kapitalisten zu werden! – und ich wußte nur zu gut, was es heißt, unter dem Druck ständiger Sorgen zu leben, ich ahnte, wie frei sich ein Mensch entfalten, wie ungehindert er seine Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit stellen kann, der an das Dach über dem Kopf, an den Rock auf dem Leib und das tägliche Brot keinen seiner Gedanken zu verschwenden braucht. Ich schrieb an Tante Klothilde und versuchte, ihr meine Stellung zur Dienstbotenfrage auseinanderzusetzen. Ich bekam meinen Brief uneröffnet zurück. Meiner Mutter teilte sie mit, daß sie das Geschehene vergessen wolle, wenn ich nach dieser Richtung auf meine agitatorische Tätigkeit verzichten würde.

In jenen Tagen erklärte Wanda Orbin in der »Freiheit«, daß die Genossinnen verpflichtet seien, sich der Dienstbotenbewegung anzunehmen. Wenn sie schon ohne besonderen Beschluß immer häufiger in den Versammlungen erschienen, so war dies das Signal zur Änderung ihrer Stellung der ganzen Sache gegenüber. Die Veranstaltung selbständiger Versammlungen wurde beschlossen, und zur Rednerin wurde ich bestimmt. [258] Ich zögerte: verletzte ich nicht ein höheres Interesse, das meines Sohnes, wenn ich zusagte?

»Lege ihm die Frage vor, wenn er reif genug ist, sie zu verstehen,« sagte mein Mann. »Wie er sie beantworten wird, kann ich dir jetzt schon sagen: Meine Mutter darf niemandem, auch mir nicht, ihre Überzeugung opfern.«

Und ich sprach. Die Empörung in der Öffentlichkeit wuchs mit jeder Versammlung. Mit einer gewissen Ostentation zogen sich die Menschen von mir zurück. Aber die Bewegung war im Fluß und durch nichts mehr aufzuhalten. Wäre ich weise genug gewesen, der sachliche Erfolg allein hätte mich befriedigt. Aber noch war ich zu jung, war zu sehr Weib, um den Menschen und den Ereignissen mit der kühlen Objektivität reifer Politiker gegenüberstehen zu können. Im Grunde sehnte ich mich nach einem warmen, aufmunternden Wort seitens meiner Kampfgefährten, nach ein wenig freundlicher Anerkennung. Statt dessen begegneten sie mir stets mit gleicher Kühle, mit gleicher Zurückhaltung. Zu keiner einzigen entstand ein persönliches Verhältnis; je länger ich mit ihnen arbeitete, desto fremder schien ich ihnen zu werden.

»Ich bin aus Liebe zu euch gekommen, mit vollem Herzen und ganzer Kraft,« hätte ich sagen mögen, »warum stoßt ihr mich zurück?«

Ich kämpfte oft mit den Tränen, wenn ihr Mißtrauen mir immer wieder begegnete. Und nachher hörte ich, daß man über meinen Hochmut, meine Unnahbarkeit schalt. Im stillen hoffte ich, man würde mich diesmal zum Parteitag delegieren, aber ich wurde nicht einmal dazu vorgeschlagen. Martha Bartels sagte nicht ohne Betonung: »Wir bleiben natürlich dem Grundsatz treu, nur bewährte Genossinnen mit einer Delegation zu betrauen.« Darauf wurde die große, hagere Frau Resch gewählt; sie trug schon seit Jahren unermüdlich Flugblätter aus, und ihr Mann war eine Größe in der inneren Bewegung.

[259] »Was kümmerst du dich um die Weiber!« meinte mein Mann ärgerlich, als ich ihm klagte. Und Ignaz Auer, der uns an einem schönen Septembersonntag besuchte, wiederholte dasselbe.

»Glauben Sie mir altem Knaster,« meinte er, und sein schönes blasses Gesicht nahm jenen rätselvollen Ausdruck an, der aus Sarkasmus und Melancholie zusammengesetzt war, »glauben Sie mir: solange ich denken kann, war bei den Frauen stets derselbe Krakeel, und wenn ich schon lange modere, wird's ebenso sein. Sie haben alle Untugenden der Unterdrückten in konzentriertester Form, und schwingt man nicht, wie die Wanda, ständig die Knute, so hat man verspielt. Seien Sie versichert: schon Ihr Aussehen vergeben Ihnen die Weiber nie.«

»Und doch sind Sie als Sozialdemokrat für die Gleichberechtigung der Geschlechter?« wandte ich ein. Er wehrte ab, mit einer vollendet geformten starken Männerhand, die aber durch ihre Blutleere an die eines Toten gemahnte. »Ich werd's ja, gottlob, nicht erleben!« sagte er. »Nach der Richtung hat die Wanda recht, wenn sie den Auer mit dem Bernstein, den Schippel und den Heine in einen Topf wirft: ich bin mehr für die Bewegung als für das Endziel.« So waren wir wieder bei dem Thema angelangt, in das jede Unterhaltung zwischen Parteigenossen zu münden pflegte.

»Der Parteitag in Hannover wird eine Klärung bringen,« meinte ich im Laufe der Unterhaltung.

»Eine Klärung?!« Er lachte kurz auf. »Ich muß Genossin Bartels wirklich recht geben: Sie sind noch nicht mandatsfähig! Glauben Sie wirklich, so tiefgehende Meinungsverschiedenheiten, die auf Unterschieden des Temperaments, der Urteilskraft, der Bildung und der Lebenslage beruhen, ließen sich durch bloßes Handaufheben entscheiden?! Wir werden sie auch mit zehn Parteitagen nicht aus der Welt schaffen. Und wieder füge ich hinzu: Gottlob nicht! Es wäre nur ein Zeichen von Altersschwäche, wenn wir alle ja schrien. Die Hauptsache bleibt [260] die Einigkeit im handeln. Und um die ist mir nicht bange, – die zwingen uns unsere Gegner auf.«

»Die Meinungsverschiedenheiten wären gewiß kein Unglück, wenn nicht die Unduldsamkeit hinzukäme,« sagte mein Mann.

»Auch die ist noch nicht das Schlimmste. Wenn wir die eigene Ansicht für die richtige halten, so müssen wir doch konsequenterweise die falsche des Gegners bekämpfen,« entgegnete Auer. »Nur daß der Andersdenkende immer gleich als ein hundsgemeiner Kerl gebrandmarkt wird, – das ist bitter.« Er verabschiedete sich. Er fürchtete sichtlich, sich zu Klagen und Anklagen hinreißen zu lassen. An der Gartentür blieb er stehen, ein spöttisches Lächeln kräuselte seine Lippen: »Wenn Sie übrigens ein Mandat haben wollen, Genossin Brandt, – ich verschaff' es Ihnen. Die liebe Wanda und ihre Leibgarde ein wenig zu ärgern, macht mir Spaß. Sie müssen sich nur nachher zur Agitation in dem betreffenden Kreis verpflichten.« Ich schüttelte den Kopf. Mir widerstrebte die Sache.

»Nimm's an, Alix,« mahnte mein Mann, »so zeigst du am besten, daß du von der Gnade der Berliner Frauen nicht abhängig bist.«

»Sie können's tun, – ganz ohne Gewissensbisse. So was haben auch die obersten Halbgötter nicht verschmäht.« Zögernd sagte ich zu. Es war mir nicht wohl dabei, so sehr ich auch gewünscht hatte, einem Parteitag und vor allem diesem beizuwohnen.

Kurz ehe wir abreisten, kam meine Mutter zurück. Sie schien um ein Jahrzehnt verjüngt. »Ich bleibe bei dem Kleinen, während ihr fort seid,« sagte sie; »das wird mein bedrücktes Gewissen etwas erleichtern, – nach diesen selbstsüchtigen Monaten!«

Wir mußten ihr nun auch von unserer Absicht, das Haus zu verkaufen, erzählen. »Das ständige Hin- und Herfahren zerrüttet unsere Nerven,« sagte ich leichthin, »ich müßte auf die öffentliche Tätigkeit verzichten, wenn wir draußen bleiben wollten.«

[261] Sie sah von einem zum anderen in stummer sorgenvoller Frage. »Es ist wirklich so, Mamachen –,« versicherte ich lächelnd. Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf und fragte nichts mehr.


Zwischen schmalen Gassen und engen Höfen, fern jenem modernen Teil der Städte, der auch in Hannover ebenso elegant wie charakterlos ist, liegt eine große dunkle Halle, der Ballhof genannt. Vor Zeiten warfen hier Kurfürsten, Prinzessinnen und Könige einander im graziösen Spiel ihre Bälle zu, bis mit schwerem Schritt und ernstem Gesicht einer kam, dem Spielen fremd war: der Proletarier. Hellere Räume suchten die Fürsten für ihre Freuden; er nahm für seine Arbeit, was sie übrig ließen: die dunkle Halle. Mit frischem Grün waren ihre Pfeiler umwunden, hinter purpurroten Fahnen verschwanden die alten schmucklosen Wände. Das Parlament der Arbeiter tagte hier. Draußen lachte die Oktobersonne, drinnen brannte über den langen Tafeln künstliches Licht, das auf alle Gesichter scharfe Schatten zeichnete, so daß sie finster und feindselig erschienen. Dumpf hing die Luft im Raum; der Atem der Jahrhunderte war hinter den winzigen Fenstern gefangen geblieben. Er beengte die Brust.

Lange vor dem Beginn der Verhandlungen war der Saal schon gefüllt. Anschwellendes Stimmengewirr, Stühlerücken, Rascheln von Papier, – jenem Papier, das alle Süßigkeiten und alle Gifte der Welt auszuströmen vermag, – bildete die in ihren ungelösten Disharmonien aufreizende Ouvertüre. Zeitungsblätter wurden hin- und hergezeigt: »Bernstein Apostata« stand über dem einen Artikel, »Reinliche Scheidung« über einem zweiten; »wir werden mit dem Revisionismus fertig werden, oder wir sind fertig,« hieß es an einer rot angestrichenen Stelle, »die Genossen im Reich erwarten eine klare Entscheidung,« an einer anderen. Von der unausbleiblichen [262] Spaltung der Partei sprachen frohlockend bürgerliche Zeitungen; in linksliberalen Blättern begrüßten Kathedersozialisten die Anhänger Bernsteins als die ihren.

Bureauwahl. Es hörte kaum jemand zu. Paul Singer war anwesend, das Präsidium also von vornherein in guten Händen. Die Begrüßungsreden der Ausländer dämpften das Stimmengewirr im Saal. Frankreich, wo der Dreyfus-Skandal noch im Mittelpunkt des Interesses stand, wo Millerand, der Sozialdemokrat, mit Jaurès', des Sozialdemokraten, ausdrücklicher Zustimmung das in den Augen der deutschen Radikalen unverzeihliche Verbrechen begangen hatte, in das Ministerium einzutreten, – Seite an Seite mit Gallifet, dem Mörder der Kommune, – war nicht vertreten. Des alten Liebknecht heftige Angriffe auf die Genossen jenseits der Vogesen mochte an dieser Zurückhaltung nicht ohne Schuld sein.

Die Verhandlungen begannen. Mit ungeduldiger Hast wurde ein Punkt der Tagesordnung nach dem anderen erledigt. Alles drängte dem Hauptthema des Parteitages zu. Und selbst mitten in die nebensächlichsten Debatten hinein blitzte schon das Wetter der kommenden Tage.

»Sie stehen bereits mit der Brandfackel an unserem Scheiterhaufen –,« sagte einer der Revisionisten neben uns.

Am Abend, als wir Frauen zu einer internen Besprechung zusammenkamen, fühlte ich: in Gedanken war die »reinliche Scheidung« schon vollzogen. Wir berieten einen Antrag für den Arbeiterinnenschutz, der unserer nächsten agitatorischen Tätigkeit Inhalt und Richtung geben und dessen Forderungen durch den Parteitag sanktioniert werden sollten. Im Grunde waren es lauter Selbstverständlichkeiten. Nur der Schutz der Schwangeren war neu. Ich hatte dafür gekämpft, obwohl ich wie vor einer Mauer redete, und sie hatten ihn nicht ablehnen können, ohne sich selbst ins Gesicht zu schlagen. Dafür waren sie um so hartnäckiger, als ich die Unterstellung der Dienstboten[263] unter die Gewerbeordnung in den Antrag aufzunehmen empfahl. Das steht bereits in unserem Programm, hieß es. Aber viele unserer anderen Forderungen standen auch darin. Und gerade jetzt wäre es wichtig gewesen, uns offiziell mit der Dienstbotenbewegung solidarisch zu erklären. »Wir dürfen unsere Kräfte nicht verzetteln.« – Damit war die Sache abgetan.

Die Frauen rückten nach der Besprechung freundschaftlich zueinander, unterhielten sich mit wohltuender Herzlichkeit mit all den Genossinnen, die aus Ost und West hierher gekommen waren; mich streifte zuweilen ein scheuer Gruß, ein fremder Blick; – ich ging hinaus.

In unserem Gasthof fand ich die Führer in erregte Unterhaltung vertieft. Ihre Augen glühten in jugendlichem Feuer, selbst die Ausbrüche ihrer Leidenschaft bändigte der heilige Ernst, mit dem sie alle für ihre Sache kämpften. Bebel war am stillsten; immer wieder strich er sich nervös die widerspenstige Locke aus der Stirn; auf ihm lastete die Verantwortung der kommenden Tage.


Kalt und grau brach der nächste Morgen an. Im Ballhof kämpften die elektrischen Lampen umsonst gegen das Dunkel; es hockte um so deutlicher hinter den Pfeilern und zwischen den Tischen, je heller in ihrem direkten Strahlenkreis das Licht erschien. Nur langsam füllte sich heute der Saal, und nur wenige Stimmen wurden laut. Ein gemessener Ernst lag auf allen Gesichtern und eine zweifelvolle Erwartung. Singer betrat das Podium:

»... Zur Verhandlung steht Punkt 5 der Tagesordnung: ›Die Angriffe auf die Grundanschauungen der Partei.‹ Das Wort hat der Berichterstatter Genosse Bebel.« Noch ein heftiges Stühlerücken, dann tiefe Stille.

Bebels Stimme allein beherrschte den Raum.

[264] Im Gesprächston begann er, ruhig, fast gemütlich. Jeder Zuhörer fühlte sich unwillkürlich persönlich angeredet. Selbst als er die unbeschränkte Freiheit der Kritik an den eigenen Grundanschauungen als die Lebensluft der Partei bezeichnete, warf er den Satz nicht wie einen Fehdehandschuh in die Menge, sondern sprach im Tonfall der Konstatierung einer Selbstverständlichkeit. Die Fragen der materialistischen Geschichtsauffassung, der Dialektik, der Werttheorie schaltete er von vornherein aus, – »der Kongreß ist kein wissenschaftliches Konzil,« sagte er, – um zum Problem des Entwickelungsprozesses der kapitalistischen Gesellschaft überzugehen, das Bernstein anders darstellte als Marx und Engels. Eine Fülle statistischer Berechnungen schüttete er vor uns aus, um Bernsteins Ansichten zu entkräften, um festzustellen, daß das marxistische Dogma von der Zuspitzung der wirtschaftlichen Gegensätze, von der relativen Verelendung des Proletariats noch unerschüttert ist.

Und angesichts der verwirrenden Masse des Materials, an der die große Menge den Grad der Wissenschaftlichkeit mißt, wie sie an der Häufigkeit der Zitate den Grad der Bildung zu messen pflegt, ging ein Flüstern staunender Bewunderung durch die Reihen, das sich in einem »sehr richtig«, einem »hört, hört« wieder und wieder Luft machte.

Bebels Stimme schwoll an, seine Bewegungen wurden lebhafter, seine kleine Gestalt reckte sich. Er malte die Not des Proletariats; die grollende Leidenschaft dessen, dem das Elend Auge in Auge gegenübertritt, zitterte in seinen Worten, und klein und jämmerlich erschien dagegen, was Bernsteins nüchterne Schreibstubenweisheit von der gebesserten Lage des Arbeiters zu berichten gewußt hatte.

Wie der peitschende Ostwind über die Baumwipfel, so wehte seine Rede über die Köpfe. Und sie neigten sich gedankenschwer, sie wandten sich einander zu; sie hoben sich wieder, von einem Wort, das sie traf, emporgerissen. Da und dort stand einer auf,[265] wie magnetisch angezogen von dem, der sprach. Eine dunkle Gruppe Menschen umringte die Rednertribüne.

Auf einmal aber war es der Wind nicht mehr, der in den Ästen rauschte, – es war der Sturm. Die jugendstarke Kraft des Revolutionärs, die begeisterte Schwärmerei des Glaubenshelden donnerte und brauste in den Worten des Agitators. All der zaghafte Pessimismus, all der unschlüssige Zweifel, all die resignierte Bedenklichkeit, mit denen Bernstein die Seelen belastet hatte, flog vor ihnen davon wie Spreu und Staub. Und wie der Geisterbeschwörer aus dem Nebel Gestalten entstehen läßt, so entwickelte sich unter dem Zauberstab des Redners die Erscheinung des alten Marx. War er es wirklich? Seltsam, – uns allen, die wir aufmerksam zusahen, kam es vor, als habe Bernstein manche Farben zu diesem Bilde gemischt. Was Bernstein wider ihn gesagt hatte, das nahm Bebel für ihn in Anspruch: Die Elendstheorie hat an den Tatsachen Schiffbruch gelitten, sagte Bernstein, – nie hat Marx sie im Sinne des absoluten Niederganges aufgefaßt, erklärte Bebel; der Hinweis auf die Erlöserkraft der Revolution ist vom Übel, sagte Bernstein, – auf die Evolution hat Marx schon das größte Gewicht gelegt und niemals das Heil im Straßenkampf gesehen, erklärte Bebel. Und während er sein Feuerschwert gegen all die zückte, die vor lauter Wenn und Aber den rücksichtslosen Kampfmut einzubüßen im Begriffe standen, traf es auch die Inquisitoren, die ihn besaßen, aber auf die Ketzer im eigenen Lager zielten.

Die Menge, die sich zuerst auseinandergerissen wie Steine von einem Felssturz vor ihm ausgebreitet hatte, – jeder die scharfe Kante feindselig wider den anderen gekehrt, – schien wieder ein Marmorbruch, aus dem er planvoll gewaltige Quadern schlug, die sich zu Grundmauern zusammenschließen ließen.

Fünf Stunden sprach er schon. Nun wich der Sturm seiner Rede wieder dem ruhigen Gesprächston; sich selbst zurückgegeben, atmete die Menge tief und gesättigt auf. Noch einmal, wie der [266] letzte ferne Donner des Gewitters, hob sich seine Stimme in ungeschwächter Kraft: »Unsere Grundanschauungen sind nicht erschüttert, – wir bleiben, was wir waren –.« Tobender Beifall verschlang den Schluß.

Minutenlang stand der nächste Redner, Eduard David, an Bebels Stelle, ehe seine Stimme den Lärm durchdrang. »Ich habe den Mut, auch nach Bebels Referat, Bernstein in seinen Anschauungen zuzustimmen,« sagte er. Irgendwo zischte jemand, aber der Respekt vor dem ehrlichen Bekenntnis unterdrückte rasch jeden Laut des Mißfallens. Kühl, fast nüchtern sprach er; wer ihn auch nicht kannte, empfand: er kam mitten aus der Praxis des politischen Gegenwartslebens, er stand nicht mehr im Bann der Tradition der Sekte mit ihrer Geheimbündelei, ihrem Märtyrertum, ihrer Glaubensseligkeit. Er ließ das grelle Licht des Tages auf die durch Bebel beschworene Geistererscheinung von Marx fallen, und hinter ihr stand der lebendige Bernstein. Wo Bebels Leidenschaft Gegensätze verwischt oder sein Zorn die Ansichten des Gegners niedergetrampelt hatte, da malte er sie groß und deutlich, wie der Lehrer die Rechenaufgaben vor der Klasse auf die schwarze Tafel. Keiner, der nicht blind war, konnte sich ihnen verschließen. Und er rief in die Wirklichkeit zurück, wo Bebel uns auf den Flügeln seiner Phantasie in die Zukunft getragen hatte. »Die höhere prinzipielle Bewertung der Gegenwartsarbeit, – das ist es, was Bernstein uns gibt, und das ist mehr wert, als was er uns genommen hat,« erklärte er und verkündete gegenüber der einseitigen Betonung des Kampfes um die politische Macht – als des einzigen Mittels, den Sozialismus zum Siege zu führen – die Dreieinigkeit der gewerkschaftlichen, der genossenschaftlichen, der politischen Bewegung, die durch tägliche Arbeit dem Sozialismus einen Fußbreit Erde nach dem anderen erobern.

Nun erst war der Kampfplatz abgesteckt. Der Alltagsausdruck trat an Stelle der Begeisterungsglut, die Bebels Rede [267] angefacht hatte, auf die Gesichter, und über die Geister herrschten wieder, an Stelle des großen einigenden Gedankens, all die Streitpunkte der praktischen Politik.

Durfte ich mich deshalb dem Gefühl des Bedauerns überlassen, das mich momentan überwältigt hatte? Entsprang nicht jenes instinktive Festhalten an den überkommenen Anschauungen jener Schwerkraft des menschlichen Geistes, die sich von je im Dogmatismus, im Konservativismus, wie in Denkfaulheit und Bequemlichkeit geäußert hat? Wir, die wir Vorkämpfer sein wollten, waren verpflichtet, sie zu überwinden.

Bewegte Tage kamen, ein Kampf, der nicht immer ein Kampf der Meinungen blieb. Und das »Kreuzige!« tönte am lautesten vom Munde der Frauen. Wanda Orbin kreischte es in den Saal hinein; Luise Zehringer, die Hamburger Zigarrenarbeiterin, wiederholte es; eine kleine polnische Jüdin, die eben erst in die deutsche Partei eingetreten war, kritisierte mit der Sicherheit einer Parteiautorität die Ansichten und Handlungen bewährter Führer. Und die Masse klatschte ihr Beifall. »Sehen Sie, – das ist eine Politikerin,« sagte ein Journalist, »je respektloser sie die Auer und Vollmar und Bernstein abkanzelt, desto sicherer ist ihr Erfolg.«

Immer deutlicher sonderten die Parteien in der Partei sich voneinander ab; über dem tiefer und tiefer wühlenden Streit vergaßen auch die Leichtsinnigsten die Vergnügungen des Abends; Sitzungen wurden statt ihrer abgehalten. Es gab dabei Augenblicke, in denen es schien, als würden die Radikalen vor dem Äußersten nicht zurückschrecken. Die uneingeschränkte Anerkennung des Parteiprogramms wollten sie fordern, wie der orthodoxe Priester den Schwur auf das Apostolikum. Und jeder begann im stillen die große Abrechnung mit sich selbst.

Zum erstenmal kam mir zum Bewußtsein, was all die Jahre hindurch die unbekannte Quelle meiner Kämpfe und Schmerzen gewesen war: die Sache forderte den ganzen Menschen restlos, [268] ich aber wollte im Kampfe für sie ich selber bleiben. Und zu gleicher Zeit schien mir, als ob zuletzt kein anderes als dies Problem all den Kämpfen, die wir führten, zugrunde lag.

»Warum bist du so stumm?« fragte mein Mann, als wir in der Mittagspause zusammensaßen.

»Weil ich anfange zu fürchten, daß ich kein Recht habe, Genosse zu sein. Ich bin ja auch kein Christ –.« Verständnislos, ein wenig erschrocken, als zweifle er einen Augenblick an meinen gesunden Sinnen, sah Heinrich mich an. Ich legte meinen Arm in den seinen. »Hab' keine Angst, Liebster, – ich dachte niemals klarer als jetzt! Hingabe an den Willen Gottes bis zur Selbstentäußerung fordert das Christentum, Hingabe an den Willen der Massen der Sozialismus. Ob es zwischen dieser Forderung und dem Persönlichkeitsrecht eine Brücke gibt, das weiß ich im Augenblick ebensowenig, als wir es in der Partei wissen.«

»Deine Formulierung ist falsch, ganz und gar falsch,« entgegnete Heinrich erregt, »nicht an den Willen, sondern an das Wohl der Massen wird die Hingabe verlangt.«

»Und doch verlangt ihr als etwas Selbstverständliches das Opfer der Überzeugung,« unterbrach ich ihn.

Wir traten in den Saal. Mit einer fiebrigen Nervosität, die alle ergriffen hatte und manche jener robusten sehnigen Arbeitergestalten tragikomisch erscheinen ließ, rissen die Delegierten den austeilenden Ordnern die neuen Drucksachen aus der Hand. Es war Bebels Resolution in neuer Fassung. Wir verglichen.

»... Nach alle diesem liegt für die Partei kein Grund vor, ihr Programm ...« las ich. »Jetzt heißt es: ›ihre Grundsätze und Grundforderungen‹ zu ändern« las Heinrich, »damit können wir uns ohne weiteres einverstanden erklären,« fügte er hinzu, und mit einem lächelnden Blick auf mich: »Du siehst, die Klippe tragischer Konflikte ist glücklich umschifft.«

Auer kam an uns vorüber. In seinem Gesicht wetterleuchtete es. »Jetzt werde ich ihnen einmal zum Tanz aufspielen,« sagte [269] er in grimmigem Scherz. Dabei sah ich, wie seine Finger sich zur Faust zusammenzogen. Von allen Seiten, schriftlich und mündlich, direkt und indirekt war er angegriffen worden. Er, der sich zur Bernsteinfrage in der Öffentlichkeit überhaupt nicht geäußert hatte, galt als der eigentliche und der gefährlichste Führer der Revisionisten, als der Abtrünnige.

Die Luft im Saal war immer schwerer geworden. Oder war es nur die gesteigerte Reizbarkeit der Nerven, die sie so empfand? Irgendeine Entladung mußte kommen. Mit Naturnotwendigkeit schien jeder Redner die Gegensätze ins Absurde steigern, den Gegner bis zur Lächerlichkeit herabsetzen zu müssen. Die Zuhörer wurden unruhiger. Man ging ab und zu, man unterhielt sich.

Da betrat Auer die Tribüne. Mit dem leisen Spott der Überlegenheit um die Lippen sah er über die Menge hinweg. Dann kam die Abrechnung. Unwillkürlich senkten sich alle Köpfe vor diesem gewaltigen Ausbruch eines feuerbergenden Kraters. Eine öffentliche Anklage war es, und am Pranger standen alle, die den befreienden Streit der Gedanken in ein lähmendes Gezänk um Personen verwandelt hatten. Und eine Verteidigung war es, – eine Verteidigung des Mannes, den dieselbe Partei, um deretwillen er aus dem Vaterland verbannt worden war, des Verrats bezichtigte; – aber auch eine Verteidigung seiner selbst, des in der jahrzehntelangen Parteiarbeit aufgeriebenen Kämpfers. Seine breiten Hände, – bestimmt, einen Hammer zu führen oder ein Schwert, – umklammerten, zuweilen krampfhaft zuckend, den Rand des Rednerpults. Sie waren am Schreibtisch, in der eingeschlossenen Bureauluft weiß geworden. Das stolze Germanenhaupt, dem ein Ritterhelm gebührte, sank leise nach vorn. Die Sorgen der Partei lasteten schwer auf ihm. Das Antlitz, das auf den Bergen seiner Heimat, der Sonne am nächsten, braun und rot sich hätte färben müssen, war grau und fahl. Durchwachte Nächte sprachen aus seinen Augen.

[270] Gereizte Zurufe unterbrachen ihn, – zu wuchtig fielen seine Schläge. Und seine Stimme, durch Hunderte von Reden, Hunderte von Agitationsreisen abgenutzt, drohte zu versagen. Noch eine die Luft durchschneidende Bewegung mit der Hand, als wolle er ausstreichen, was sich doch unauslöschlich seiner Erinnerung eingeprägt hatte, noch ein Witz, den er in die Masse warf, wie der Tierbändiger einen Knochen zwischen die Tiger, und der Strom seiner Rede erreichte in ruhigem Fluß sein Ziel.

Die Resolution Bebel wurde angenommen, nur ein kleines Häuflein Unentwegter, die noch immer ihr »Kreuzige!« schrien, stimmte dagegen.

»... Auch auf diesem Parteitag hat es sich gezeigt, daß die Partei über ihre Grundsätze und ihre Taktik einheitlich denkt und auch fernerhin in voller Einmütigkeit handeln wird ...,« sagte Singer zum Schluß. Die Arbeitermarseillaise brauste durch den Ballhof. Hörte niemand die Dissonanz? Es waren nicht die Geister der Vergangenheit, die Prinzessinnen, die Kurfürsten und die Könige, die sie hervorriefen. Es war der Geist der Zukunft.


Müde und erschöpft reisten wir heimwärts. Es dämmerte, als wir vom Bahnhof zum Grunewald fuhren. Wie herrlich die Stille war in den breiten Alleen! Wie erfrischend der Duft der Kiefern den heißen Kopf umstrich! Statt der vielen Menschenstimmen nur ein abendlich-süßes Vogelgezwitscher! Wer doch im Walde bleiben könnte! –

Mit jenem feinen Taktgefühl, das auf dem Baume alter Kultur eine der köstlichsten Früchte ist, hatte meine Mutter, kurz ehe wir ankamen, das Haus verlassen. So konnten wir uns ungeteilt am Wiedersehen mit unserem Jungen freuen. Mir schien, als wären wir Wochen statt Tage weg gewesen: war er nicht viel größer und viel klüger geworden? Und wie entzückend ringelten sich die blonden Löckchen um den breiten Schädel! [271] In übersprudelndem Eifer mußte er alles erzählen, alles zeigen. Seinen Bauernhof packte er vor mir aus, nahm die Bäume und rief: »Nu laufen sie zu dem lieben, duten Mamachen!« »Aber Bäume laufen doch nicht!« meinte ich. Darauf nickte er altklug mit dem Köpfchen und sagte: »Doch, Mama; in der Elektrischen, da laufen die Bäume.« Und als er zur Feier des Tages mit uns zu Abend gegessen hatte, rutschte er geschickt von seinem hohen Stühlchen, stellte sich breitbeinig vor uns hin und rief: »Ich bin satt!« Das erste »Ich«! – Lachend schloß ich ihn in die Arme: Nun war mein Kind ein Mensch geworden. Alle Probleme der Welt verschwanden mir wieder angesichts dieses Wunders.


Am nächsten Morgen saß ich am Schreibtisch und rechnete. Die Angst trieb mir Schweißtropfen auf die Stirn: schon das nächste Vierteljahr würden wir die Zinsen nicht zahlen können. Wie hatte ich als Mädchen gezittert, wenn die Rechnungen kamen, die der Mutter Tränen erpreßten! Es war das reine Kinderspiel gewesen im Vergleich mit meiner Situation. »Mach dir doch keine Sorgen, ehe das Unglück da ist,« sagte mein Mann ärgerlich, als er sah, wie verstört ich war.

Ich wurde krank. Die alten unausbleiblichen Schmerzen, die jede Erregung zur Folge hatte, stellten sich mit erschreckender Heftigkeit wieder ein. Und abends, wenn ich todmüde in die Kissen sank, klopfte mir das Herz bis zum Halse herauf. Ich war genötigt, ein paar Versammlungen abzusagen. Ich war froh darüber: in einem Zustand geistiger und körperlicher Erschlaffung verbrachte ich meine Tage.

»Wir haben einen Käufer!« mit der Botschaft überraschte mich mein Mann eines Morgens. Ich zweifelte noch. Aber bald darauf kam er selbst, und in wenigen Tagen war der Kauf abgeschlossen.

[272] »Siehst du nun ein, wie töricht es war, sich zu fürchten?« sagte Heinrich. Beschämt senkte ich den Kopf. »Ich will in Zukunft mutiger sein,« versicherte ich.

Schon im Januar sollten wir das Haus verlassen. Dann wollen wir von vorne anfangen, dachte ich, und begann eifrig nach einer bescheidenen Wohnung zu suchen.

Bin ich erst in Ruhe, so werde ich auch gesund werden, sagte ich zu mir selbst, wenn die Schmerzen nicht weichen wollten und das Herz mich nicht schlafen ließ.


Eines Abends nahm ich wieder an einer Sitzung der Genossinnen teil. Wie die Befreiung von den persönlichen Sorgen mich aus der Erstarrung aufgerüttelt hatte, so elektrisierten mich jetzt die politischen Vorgänge wieder. Das Zuchthausgesetz war endgültig begraben worden, aber trotz aller gegenteiligen Versicherungen drohte eine neue gewaltige Flottenvermehrung.

»Unter den Waffen schweigen die Musen,« erklärte ich, als wir die Aufgaben besprachen, die der kommende Winter uns stellte, und einige der Frauen den Arbeiterinnen-Bildungsverein und seine Veranstaltungen in den Vordergrund schieben wollten. »Wir müssen unsere Kräfte konzentrieren: auf die beschlossene Agitation für den Arbeiterinnen-Schutz und auf den Kampf gegen die neue Volksausbeutung.«

»Wenn wir so sicher wie stets auf Genossin Brandts wertvolle Unterstützung rechnen können, wird der Sieg uns nicht fehlen,« spottete Martha Bartels und berichtete dann, wie ich durch die kürzlich »angeblich« wegen Krankheit erfolgten Absagen die Sache geschädigt hätte.

»Unsichere Kantonisten können wir nicht brauchen,« sagte Frau Resch, die seit ihrer Delegation nach Hannover sehr selbstbewußt geworden war.

[273] Während ich antwortete, drückte ich die Hand krampfhaft in die Seite, wo die Schmerzen wühlten, und suchte, tiefatmend, die wilden Schläge meines Herzens zu beruhigen. Aber trotz meiner Verteidigung, setzte der Zank sich fort. Und plötzlich war mir, als drehe sich das Zimmer um mich –, ohnmächtig brach ich zusammen. Als ich zu mir kam, übersah ich mit einem einzigen Blick die Situation: Ida Wiemer hielt mich umschlungen, auf ihren Zügen lag ein Schimmer aufrichtiger Teilnahme; aber steif und unbeweglich saßen alle anderen um den Tisch, die Augen auf mich gerichtet, voll Hohn und Spott, voll Kälte und Mißtrauen. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Ich preßte die Zähne zusammen und erhob mich. In dem Augenblick kam mein Mann. Der Kellner hatte mich fallen sehen und ihn, der im Restaurant auf mich wartete, benachrichtigt. Auf seinen Arm gestützt, verließ ich das Zimmer. Niemand erhob sich. Niemand sagte mir Lebewohl.

Wir fuhren noch in der Nacht zum Arzt. Er machte ein bedenkliches Gesicht. »Ein paar Monate im Süden, und Sie können genesen,« sagte er. Ich empfand seinen Bescheid wie eine Erlösung. Fort, – weit fort, wo ich Ruhe finden, wo ich wieder zu mir selber kommen würde!

Wir entschieden uns für Meran. Der Überschuß, der uns vom Kaufpreis des Hauses bleiben würde, ermöglichte die Reise. Mein Kind nahm ich mit. Und eine große Kiste mit Büchern und Manuskripten. »Nun werde ich ungestört meine ›Frauenfrage‹ vollenden können,« sagte ich hoffnungsvoll.

»Wenn der Arzt dir das Arbeiten erlaubt,« meinte mein Mann und sah dabei traurig drein. »Ich werde ihn nicht erst fragen,« lachte ich; »Arbeit ist für mich die beste Medizin.«


Silvester 1899 kamen Erdmanns mit der Mutter zu uns. Als es Mitternacht schlug, rissen wir alle die Fenster auf und riefen ein schallendes »Prost Jahrhundert!« in die sternhelle Nacht hinaus. Da war keiner, dem das Vergangene nicht wie [274] ein Alp von der Seele gefallen wäre. Und unsere Hoffnungen waren riesenstark. Nur die Mutter sah sorgenvoll von einem zum anderen: zu Erdmann, dessen eingesunkene Brust nach jedem lauten Wort trockener Husten erschütterte, zu Ilse, deren Blicke halb ängstlich, halb verschüchtert an ihrem Gatten hingen, zu uns, von deren Kämpfen sie manches ahnen mochte.

Schatten gingen um. Ich mußte sie bannen. Aus dem Bettchen droben, wo es mit heißen Wangen schlief, nahm ich mein Kind und trug es hinunter. Im Licht der Lampen schlug es die strahlenden Augen auf. Ich hatte es jubelnd emporheben wollen, nun aber drückte ich es zärtlich ans Herz und flüsterte leise, ganz leise, damit die anderen nichts hörten: »Dein ist das Jahrhundert.«

Wenige Tage später schloß sich die Pforte des grauen Hauses hinter uns. Die Wipfel der Kiefern bewegten sich leise über dem Dach. Schwarz standen ihre Stämme vor den blumenlosen Fenstern. In jubelnder Vorfreude auf die Reise warf mein Junge keinen einzigen Blick zurück. So wollte auch ich nur vorwärts sehen.

[275]
10. Kapitel
Zehntes Kapitel

Ein eisiger Wind pfiff aus dem Passeier Tal über Meran; die Schneeflocken fielen so dicht, daß es aussah wie lauter weiße Schleier, die der Winter, mißgünstig, einen nach dem anderen der natur vor das schöne Antlitz zog. Und ich war mit der ganzen Sonnensehnsucht des Deutschen, der jenseits des Brenners zu jeder Jahreszeit blauen Himmel und blühende Bäume erwartet, gen Süden gefahren!

»Du hast mir das Sommerland versprochen, – ich will ins Sommerland –,« weinte mein Bübchen, als es am ersten Morgen aus dem Fenster unseres kleinen Zimmers in die weiße Welt hinaussah. Während ich ihn durch lauter Hoffnungen zu beruhigen suchte, fröstelte auch mich.

Das Sanatorium »Iduna«, das westlich von Meran einsam zwischen Wiesen und Obstbäumen lag, war uns empfohlen worden. »Es nimmt nur eine beschränkte Anzahl von Patienten auf, bewahrt daher den Charakter eines behaglichen Privathauses,« hieß es im Prospekt. In Wirklichkeit war's ein altes Landhaus, das, wie so viele seinesgleichen im Süden, mit dünnen Wänden und zugigen Fenstern den Winter zu ignorieren schien. Ein paar eiserne Öfen strahlten stundenweise rotglühende Hitze aus, um dann wieder kalt, schwarz und feindselig dazustehen, als freuten sie sich des grausamen Spiels mit den armen Bewohnern.

Ich hatte nicht schlafen können: der Wind rüttelte an den Fenstern, mein Sohn warf sich unruhig in dem ungewohnten großen Bett hin und her, und ein hohler Husten, nur von stöhnenden Seufzern unterbrochen, klang aus dem Zimmer unter uns [276] unaufhörlich zu mir empor. Müde und abgespannt ging ich zum Frühstück in den Eßsaal, – einer verglasten Veranda, durch deren breite Fenster der Winter von allen Seiten hereinsah. In der Mitte stand der lange schmale weißgedeckte Tisch, darauf in nüchterner Regelmäßigkeit Reihen weißer Teller und Tassen. Eine Frau saß daran in schwarzem Kleid mit vergrämten Zügen, neben ihr im Rollstuhl ihr blasser Mann, finstere, gerade Falten auf der Stirne, – einer jener Kranken, die hoffnungsloses Leiden böse gemacht hat, – ihm gegenüber am äußersten Ende der Tafel ein schmalbrüstiger Jüngling, dessen Antlitz nur noch mit der Haut bespannt schien, – einer fahlen, graugelben –. Ich zögerte an der Schwelle, mir grauste vor dem Bilde, in dem alle Farben des Lebens erloschen waren.

Da sprang mein Kind an mir vorbei, im feuerroten Kleidchen, mit frischen Wangen und glänzenden Augen. Und der ganze Raum war erhellt. Ein freundliches Lächeln spielte um die blutleeren Lippen des Jünglings; die Falten auf der Stirn des Gelähmten glätteten sich, nur die Frau im schwarzen Kleid wandte wie verletzt den Kopf zur Seite.

Ich wäre am liebsten wieder fortgezogen. Aber ich war viel zu müde, viel zu apathisch dazu. Der Arzt, ein gütiger alter Mann mit weichen Frauenhänden, versprach mir ein anderes Zimmer mit einem Balkon nach Süden. »Das unter Ihnen,« sagte er, »der Herr reist ab –,« dabei verschleierten sich seine hellen Augen. Dann gab er mir Verhaltungsmaßregeln. »Meine wichtigste Verordnung ist: ein Kindermädchen. Sie müssen Ruhe haben, – Tag und Nacht, der Bub dagegen soll sich tüchtig Bewegung machen,« begann er.

Ruhe, – schon das Wort war wie einlullendes Streicheln. Am nächsten Tage brachte er mir ein hübsches, brünettes Landmädchen, das mir gefiel; sie zog mit dem Kleinen, der sich an die lustige Gefährtin rasch gewöhnte, in das Zimmer nebenan. Nun erst fühlte ich, wie krank ich war: den ganzen Tag lag ich [277] still, und bewegungslos wie mein Körper waren Gedanke und Gefühl. Auch meine Umgebung störte mich nicht mehr; – wenn ich nur mein Bett hatte und meinen Liegestuhl.

»Nun wird er bald abreisen,« sagte der Arzt eines Tages und drückte mit der Spitze des Zeigefingers in den Augenwinkel, als sei ihm ein Staubkörnchen hineingeflogen.

»Dann soll ich hinunter?« fragte ich und dachte entsetzt an die Mühe des Umräumens. »Ja,« meinte er, »denn nun es täglich wärmer wird, müssen Sie in der Sonne liegen.« »In der Sonne?!« Ich lächelte ungläubig. Seit einer Woche hatte der Schnee sich in Regen verwandelt.

Die Nacht darauf kam ich nicht zur Ruhe. Ich warf mich im Bett hin und her, und plötzlich wußte ich, was mir fehlte: der regelmäßige Husten unter mir war verstummt; die Stille lastete auf mir, die unheimliche Stille. Bald danach war mir, als gingen Gespenster um: das huschte im Haus auf leichten Sohlen, das wisperte und flüsterte, – knarrend öffnete sich unten eine Tür. Ich erhob mich und trat ans Fenster: ein Leiterwagen stand im Garten; Männer waren darin, die sich durch Gebärde mit denen im Hause zu verständigen schienen; und auf einmal schwebte etwas in der Luft dicht unter mir, etwas Schwarzes, Großes, – der Regen klatschte darauf, – eintönig. Schon wollt' ich schreien, – da geriet das Schwarze in den Lichtkreis der nächsten Laterne: es war ein Sarg.

Ich schwankte ins Bett zurück und verkroch mich zitternd unter der Decke. So war er »abgereist«! –

Ich sah wieder die Glasveranda vor mir im Schneelicht, mit den Menschen, deren Körper im Sterben lagen, oder deren Seelen schon gestorben waren. Und das Badhaus fiel mir ein mit den dunkeln Holzwannen, in denen das Wasser aussah, als wäre es Schlamm. Willenlos war ich hineingestiegen, hatte mir Gesundheit holen wollen, wo Krankheit in allen Ritzen und Fugen lauernd saß. Und mein Kind hatte ich die Pestluft atmen lassen!

[278] Noch in der Nacht fing ich an zu packen. Früh fuhr ich nach Meran und drüber hinaus nach Obermais, so hoch und so weit als möglich. Dort fand ich neben alten efeuumsponnenen Schlössern ein freundliches Haus zwischen Nußbäumen und Weinreben.

Am selben Abend zogen wir ein.

Es war, als ob der Winter uns nicht hätte folgen können. Die Berge entschleierten sich. Der Schnee, der eben erst wie ein Leichentuch die Erde verhüllt hatte, blitzte jetzt im Sonnenlicht wie eine Hochzeitskrone auf ihren Häuptern. Errötend entfalteten sich an den Mandelbäumchen die ersten Blüten. Ich lag auf der Veranda und ließ mich wie sie von der Sonne durchglühen und fühlte, daß auch mir die Lebensfarbe in die Wangen stieg. Täglich brachte mir mein Söhnchen frische Wiesenblumen.

»Ich werde dich führen, Mamachen, wenn du nicht mehr Auau hast,« schwatzte er, »zu den so vielen Vergißmeinnicht, und zu den Musikmännern auch, wo die Damen und Herren sind.« Ich lachte ihn an: wirklich, die Sehnsucht nach dem Leben regte sich wieder in mir. Liegen sollt' ich, immer liegen, sagte der Arzt, weil mein Herz noch nicht ruhig genug war. »Dann müßt' ich liegen bis ich neunzig Jahr alt bin,« antwortete ich ihm, »denn daß mein Herz so gegen alle Vorsicht klopft, ist nur ein Beweis, daß ich lebe.«

Einmal wachte ich auf nach erquickendem Schlaf, streckte und reckte mich und blinzelte in die Sonne. Mir war so wohl, – so wohl! Warum nur?! Und in mir antwortete es ganz deutlich: weil du frei bist. Ich sah mich erschrocken um, als könnte irgend jemand dies tiefe Geheimnis, das ich kaum mir selbst gestand, erkundet haben. Ich war frei – wirklich frei; ich konnte tun, was ich wollte, ohne vorher all jene bohrenden Fragen erst beantworten zu müssen: stört es den anderen? Verletzt es ihn? Beeinträchtigt es seine Ruhe, seine Wünsche, seine Liebe? Jetzt, zum Beispiel, konnte ich aus dem Bette steigen und lustig einen[279] Walzer trällern, – läge Heinrich neben mir, ich würde mich aus Rücksicht auf seinen Schlaf ganz, ganz still verhalten. Und dann konnt' ich gemächlich im Wasser planschen, mich ankleiden, mir die Haare ordnen, ohne jene quälende Scham des Häßlichen, des Unästhetischen, – die einzig berechtigte zwischen zwei Menschen, die einander lieb haben, und die einzig notwendige, wenn sie ihrer Liebe den Zauber des ersten Rausches erhalten wollen. Die Ehe der meisten ist ein Erwachen aus ihm, mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge. Sie wissen nicht, daß die Liebe eine zarte, kostbare Blume ist, die sorgsamer Pflege bedarf. Sie pflanzen sie in den Küchengarten und wundern sich dann, wenn sie eingeht.

Ich war frei – wirklich frei. Und ich konnte hingehen, wohin ich wollte! Ganz erstaunlich kam mir das vor, – gerade, als ob die Welt mir auf einmal ihre Tore aufschlösse. In den ersten Jahren meiner Ehe hatte Heinrich mich auf jedem Weg begleitet, – aus zärtlichster Liebe, nicht etwa aus Mißtrauen oder aus Eifersucht. Und ich hatte keinen anderen Weg machen können, als der ihm recht war. Zuweilen war ich heimlich die Hintertreppe hinuntergestiegen, nicht, weil ich ein Geheimnis vor ihm gehabt hätte, sondern nur um einmal ohne innere Hemmung in den Straßen herumlaufen zu können. Allmählich hatte unsere verschiedenartige Tätigkeit dem steten Zusammensein ein Ende gemacht; aber selbstverständlich blieb, daß ich ihm erzählte, wo ich gewesen war, was ich getan hatte. Und da ich ihn nicht unzufrieden machen, nicht ärgern wollte, so stand ich doch stets in seinem Bann. Wenn ich einmal seiner Empfindung zuwider gehandelt hatte, so kam es vor, daß ich – log.

Kaum daß der Gedanke daran in mein Bewußtsein trat, als ich ihn auch schon, dunkel errötend, zurückweisen wollte. Aber je mehr ich mich mühte, desto klarer stand er vor mir. Ich mußte ihm Auge in Auge sehn: »Es kam vor, daß ich meinen Mann belog.« Nicht, weil ich ihn hintergehen, sondern weil ich ihn nicht ärgern, nicht erregen wollte. Aus Liebe also! Oder [280] aus Furcht?! So lernen die Frauen lügen, weil sie des Mannes Besitztum sind, weil die Ehe ihre Persönlichkeit auslöscht wie ihren Namen. Wie vielen, die gerade gewachsen waren, hat sie das Rückgrat zerbrochen! Und sie verlieren nach ein paar Jahren der Ehe ihre Physiognomie, – sind farblos, zermürbt.

Ein brennendes Verlangen nach Menschen überkam mich. Wie war ich doch mein Leben lang an den bunten Schwarm um mich gewöhnt gewesen! In den letzten Jahren hatte er sich mehr und mehr verflüchtigt. Den alten Freunden war ich gestorben, seit ich Sozialdemokratin geworden war; neue hatte ich unter den Genossen nicht gefunden, und von den Künstlern, von den Gelehrten, die unsere Räume einmal betraten, kamen nur wenige wieder. Romberg war im Grunde unser einziger Verkehr gewesen. Und der wohnte nicht in Berlin.

Woher kam das alles? War ich weniger anziehend als die Frauen, die »ein Haus ausmachten«? Waren sie geistreicher als ich? Ich schürzte spöttisch die Lippen. Stießen sich die Sittenstrengen noch immer an der Geschichte meiner Eheschließung? Sie machten sich doch sonst nichts daraus, mit Frauen zu verkehren, die »eine Vergangenheit« hatten, die Gegenwart geblieben war! Nein, in alledem lag die Ursache nicht. Bei meinem Manne, schien mir, war sie zu suchen. Er war ein Menschenschwärmer gewesen, leicht geneigt, zu bewundern und zu verehren und sich den anderen gegenüber gering zu achten. Um so schmerzhafter hatte jede, auch die leiseste Enttäuschung ihn getroffen, und je häufiger sie sich wiederholte, desto scheuer zog er sich zurück, desto mißtrauischer wurde er. Und für jenen leichten Verkehr, der wie mit Libellenflügeln nur die Oberfläche des Lebensstromes streift, war er zu schwerblütig. Er hatte nie getanzt; – seltsam, daß mir das erst heute einfiel. Er hatte nie gelernt, eine Gesellschaftsmaske zu tragen. Darum fühlten sich immer nur die Menschen, die er aufrichtig gern hatte, wohl bei uns. Die anderen stieß er ab.

[281] Draußen lachte der Frühlingstag. Zwischen blühenden Bäumen und Beeten von Hyazinthen spielte die Musik fröhliche Weisen, die Passer sprang dazu in entfesselter Wildheit über Stock und Stein. Ich ging mit meinem Buben an der Hand zwischen der Menschenmenge hin und her. Ich freute mich, als wäre ich zwanzig Jahr, über die bewundernden Blicke, die uns folgten. Täglich wollt' ich von nun an hinuntergehen, Sonnenschein trinken und Lebenslust. Ich traf Bekannte und geriet durch sie in einen Kreis fröhlicher Weltbummler. Wie gut das tat, einmal wieder unterzutauchen in Glanz und Freude! Einmal wieder lachen zu können aus Herzensgrund! Bewundernde Blicke zu fühlen! Man brachte mir täglich Blumen, – jene großen glühenden Rosen von Meran, deren Duft nicht an Gärten erinnert, sondern an berauschende Essenzen des Morgenlandes. Ich ließ mir gefallen, daß man mir huldigte; ich spielte mit heißen Gedanken, wie ein Kind mit rotleuchtenden Giftblumen. Eines Abends, während bunte Lichterkränze sich an den alten Bäumen vor dem Kurhaus von Ast zu Ast schwangen und die Geigen der Zigeunerkapelle in die laue Nacht hinein seufzten und lockten, ließ ich mich in den Kursaal führen, um den Tanzenden zuzuschauen. Süße Walzermelodien umschmeichelten meine Sinne. Der Rausch des Tanzes ergriff mich. Willenlos überließ ich mich ihm. Erst als der letzte Ton verklungen war, kam ich zu mir und erschrak. Leichtsinn und Genuß, die Zaubergeister, drohten mich in ihre Gewalt zu bekommen. Das durfte nicht sein!

»Meran fängt an, schwül zu werden,« schrieb ich am nächsten Morgen an meinen Mann; »so sehr die weiche Luft meiner Gesundheit nützte, so sehr schädigt sie meine Arbeitskraft. Und ich wünsche jetzt nichts mehr, als mich Hals über Kopf in meine Arbeit zu stürzen. Darum möchte ich fort. Der Arzt verordnet mir Höhenluft; ich selbst fühle, daß ich etwas Starkes, Herbes atmen müßte. Wollen wir nicht miteinander irgendein stilles Plätzchen suchen? Wir waren lange genug getrennt ...«

[282] Statt aller Antwort kam er selbst. »Ich habe gewartet, bis du mich rufen würdest –, es ist mir schwer genug geworden,« flüsterte er zärtlich, »nun aber wirst du mich nicht mehr los.« Dunkel errötend barg ich den Kopf an seiner Brust.


An der Ampezzostraße, südlich von Cortina, liegt ein kleines Dorf, Pezzié genannt. Zwischen seinen braunen, ärmlichen Hütten ragte ein einzelnes Bauernhaus mit weißgetünchten Mauern und großen Altanen stattlich hervor. Über ein Vierteljahr wohnten wir dort in tiefster Stille und Zurückgezogenheit. Im Lärchenwald hinter dem Hause spielte mein Junge mit den braunen Bauernkindern, auf der Altane, angesichts des weiten blühenden Tals und des gewaltigen schneebedeckten Felsenmassives der Tofana, fing ich wieder an zu arbeiten. Wenn mir in den vergangenen Wochen die Aufgabe eingefallen war, die ich mir mit meinem Buch gestellt hatte, so war sie mir wie ein unübersteigbarer Berg erschienen. Jetzt, da ich sie aufs neue in Angriff nahm, war mir's, als habe all die Zeit hindurch eine fremde Kraft unter der Schwelle meines Bewußtseins weiter an ihr gearbeitet.

Oder sollten Gedanken wie Samen sein, die einmal in den Boden des Geistes gestreut, sich aus eigener Macht weiterentwickeln? Die vielen Zahlen, die ich in meinen Büchern vor mir hatte – Ergebnisse der Volks- und Berufszählungen europäischer und außereuropäischer Länder, Lohn- und Arbeitsstatistiken –, wurden merkwürdig lebendig, als zuckten in ihnen die Leiden der Millionen. Immer deutlicher sah ich das Bild, das ich zu malen hatte: den Zug der Frauen, wie er durch glutheiße Wüsten und rauhe Steppen dahinschleicht, jede einzelne in ihm gebeugt unter den Lasten, die sie zu tragen hat: der Hacke und dem Spaten, der Sichel und der Spindel, dem einen Kinde auf dem Rücken, dem anderen unter dem qualvoll klopfenden Herzen. Was mich zuerst nur wie ein Instinkt in die Reihen der [283] kämpfenden Arbeiterschaft geführt hatte, das wurde mir jetzt zur bewußten Erkenntnis: die Berufsarbeit der Frau, die ihre Entstehung der Umwandlung der Produktionsweise durch die Maschine zu verdanken hat, ist immer mehr zu einem notwendigen Bestandteil dieser Produktionsweise geworden. Aber indem sie sich ausdehnt, untergräbt sie zu gleicher Zeit die alte Form der Familie, erschüttert die Begriffe der Sittlichkeit, auf denen der Moralkodex der bürgerlichen Gesellschaft beruht, und gefährdet die Existenz des Menschengeschlechtes, deren Bedingung gesunde Mütter sind. Es bleibt der Menschheit schließlich nur die Wahl: entweder sich selbst oder die kapitalistische Wirtschaftsordnung aufzugeben. Diese Konsequenz zu scharfumrissenem Ausdruck zu bringen, so daß niemand ihr aus dem Wege zu gehen vermöchte, – das war mein Wunsch.

Das Fieber der Arbeit, das alle Pulse schneller schlagen läßt, das über jede Müdigkeit hinwegtäuscht, das die Gedanken des Tages in den Traum der Nacht verflicht, hatte mich ergriffen. Und zugleich jener gesunde Egoismus des Schaffenden, der ihn für seine Umgebung blind und taub macht, nur damit das Werk wachsen kann. Dankbar überließ ich der Berta, dem Meraner Kindermädchen, die sich mit solcher Klugheit in jede Lage zu schicken schien, die Sorge um unseren kleinen Haushalt. Daß sie für uns kochte und wusch und nähte und eifersüchtig jede andere Hilfe abwehrte, war mir nur ein Beweis für ihre Tüchtigkeit; und daß der Kleine mit solcher Liebe an ihr hing, machte sie mir vollends unentbehrlich.

Wenn ich mit meinem Mann spazieren ging, so sprach ich von nichts anderem als von meiner Arbeit, von all den Ideen, all den Plänen, die sie in mir auslöste. Und er hörte mir nicht nur ruhig zu, er ging voller Anteilnahme auf meine Interessen ein und half mir durch seine Fachkenntnisse.

Daß auch er ein selbständiges Leben hatte, daß auch in ihm vieles bohrte und gärte, das nach Ausdruck verlangte, daß er [284] um so einsamer wurde, je mehr ich mich in die Arbeit verlor, – von alledem wußte ich nichts.

Zuweilen stiegen am Horizont drohend die Sorgenwolken empor: was das Grunewaldhaus uns übrig gelassen hatte, war bald verzehrt, die Einnahmen aus dem Archiv blieben unzulänglich, mein Buch, auf dessen Erfolg ich rechnete, war noch lange nicht vollendet; wie würden wir auskommen?! Mit aller Anstrengung vertrieb ich die bösen Gedanken, ich arbeitete noch ununterbrochener, um mir selbst keine Zeit zu lassen, ihnen nachzuhängen.


Eines Morgens bekam Heinrich einen Brief, den er mir stumm herüberreichte: Ob er während der nächsten Monate für ein uns nahestehendes Blatt die Pariser Korrespondenz übernehmen könne? Ihr bisheriger Leiter sei erkrankt und habe einen längeren Urlaub angetreten.

Es überlief mich heiß und kalt. Wie der Name Rom auf die Deutschen des Mittelalters, so wirkt der Name Paris auf die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts. Aus ihren dunklen Wäldern, ihren finsteren Burgen und engen Städten sehnten sich unsere Vorfahren nach dem lachenden Himmel Italiens; und aus dem Ernst unseres strengen Alltagslebens verlangt alles, was jung ist in uns, nach dem Glanz, nach dem Leichtsinn von Paris. Aber ich bemühte mich, ruhig zu scheinen und meiner stürmisch aufwogenden Freude Herr zu werden.

»Was sagst du dazu?« fragte mein Mann. »Wir würden uns rasch entschließen müssen. Mit dem internationalen Sozialistenkongreß, der in zehn Tagen zusammentritt, müßte meine Tätigkeit anfangen.«

»Und dein Archiv?!« warf ich ein. »Du kannst es doch nicht monatelang von Frankreich aus redigieren!«

»Ach, – das Archiv ...!« meinte er mit einem halb wegwerfenden, halb ärgerlichen Ton, der mich erstaunt aufsehen ließ. Das Archiv war seine Schöpfung, sein liebstes Geisteskind.

[285] »Das Archiv könnte ich von überall her leiten! In Paris aber scheint mir jetzt der rechte Ort, um den Sozialismus in seiner neusten Phase zu studieren, in Paris, wo ein Millerand Minister ist, wo die Intellektuellen, – unter ihnen ein Zola, ein France, ein Steinlen, – mit Jaurès Arm in Arm gehen! ... Wenn du also nichts dagegen hast, so nehme ich den Antrag an.«


Paris! Die untergehende Septembersonne umgab die schwarz hingestreckte Stadt mit rotglühender Glorie. Mir war, als klänge im Räderrollen unseres Zuges ein rhythmisches Jauchzen, als könne die fauchende Riesenschlange es nicht erwarten, sich in die lodernde Glut zu stürzen.

Am Morgen nach unserer Ankunft wanderten wir durch die Straßen. Es war die vollkommenste Überraschung, die mich mehr und mehr verstummen ließ. Ich hatte etwas Lautes, Buntes erwartet, etwas, das übereinstimmt mit dem Begriff »Paris«, den wir uns draußen gebildet haben. Und nun sah ich Häuserzeilen in gleichmäßig feiner zurückhaltender Architektur, hohe Fenster mit schmalen Gittern davor, sah Mauern, über die der Efeu kroch, und Baumriesen, die aus alten verschwiegenen Höfen geheimnisvoll herüberrauschten.

Ich sah, wie sich die vielen Alleen plötzlich in weite, weite Gärten verloren, unter deren Büschen graue Statuen träumten, und unter runden Lorbeerbäumen stille Bassins goldig glitzernd von den vielen kleinen Fischen darin. An altertümlichen Kirchen kamen wir vorbei mit runden und viereckigen dicken Türmen, oder dem mystischen Maßwerk keuscher Gotik über alten Portalen.

Zur Madeleine schritten wir die breite Steintreppe empor und traten aus der heidnischen Pracht ihrer Säulenhalle in das Dämmerdunkel ihres Inneren. Eine wunderschöne Nonne kniete regungslos am Eingang, die Sammelbüchse vorgestreckt in schmalen weißen Händen. Und als wir uns wieder zum Gehen [286] wandten, schweifte der Blick über die zu unseren Füßen sich dehnende Straße und die majestätische Größe der Place de la Concorde, wo Menschen und Wagen sich verloren wie Spielzeug, bis weithin zur Kuppel des Invalidendoms. Er hütete, was sterblich war an dem korsischen Riesen, der die Welt formte nach seinem Willen, und der, ein Lebender, noch heute die Stadt Paris erfüllt.

Durch Alleen breiter Kastanienbäume, deren dunkle große Blätter schwarze Schatten auf die hellen Wege warfen, gingen wir langsam hinauf, wo der Triumphbogen des Etoile sich, von weichen Morgennebeln umspielt, mit den Wolken zu verschmelzen schien. Und in den Gärten der Tuilerien verloren wir uns. Zarte Kinder mit künstlich geringelten Locken spielten auf seinen Plätzen, alte Herren, mit dem roten Bändchen im Knopfloch, fütterten die Vögel, von einer Schar Zuschauer umgeben, deren Interesse fast wie Andacht war. Von den Bäumen tanzten leise die gelben Blätter; eine träumerisch süße Luft, die Geräusche und Farben dämpfte, spielte zärtlich um den grauen Königspalast des Louvre und streichelte sanft die Gesichter der Vorübergehenden, als wollte sie sie trösten, weil es schon Herbst geworden war. Und selbst die Bettler auf der Brücke, und die schmutzigen Savoyardenknaben, die ihre Ware feilboten, und die alten Buchhändler, die ihre stockfleckigen Scharteken auf den Quaimauern aufbauten, lächelten leise. Der Fluß aber wälzte sich lautlos vorüber; seine Wasser schimmerten in gebrochenen Farben wie müde Opale.

»Eine vornehme Frau ist Paris,« sagte ich nachdenklich, als wir von unserem ersten Ausgang zurück gekehrt waren, »eine vornehme Frau, deren schöne Züge die Wehmut des Alterns umflort ...«

Am Abend verließen wir wieder das Hotel. Jetzt brauste die Weltstadt: rauschende Kleider, rollende Wagen, girrendes Lachen, wüstes Geschrei –, zu einem einzigen Ton verschmolz das alles. Zwischen den Bäumen der Boulevards strahlten die Laternen[287] wie endlose Lichterketten, breit quoll das Licht aus den Cafés über wippende Federhüte und spiegelnde Zylinder. Nur auf dem riesigen Concordienplatz wirkten die Bogenlampen wie Brillanten auf dem dunkelgrauen Samt der Nacht.

Da plötzlich leuchtete jenseits zwischen den Bäumen ein Wunder auf: ein schimmerndes Tor aus Juwelen erbaut, eine Märchenstadt dahinter, deren Mauern Kristall, deren Türme Feuerbrände waren; die Weltausstellung. Wir folgten dem wimmelnden Menschenstrom, dessen Rauschen sich aus allen Sprachen der Welt zusammensetzte. Es war ein einziger Traum aus Tausendundeine Nacht. Ein Turm, aus strahlenden Goldfäden gewoben, trug auf seiner diamantenen Spitze die schwarze Kuppel des Himmels. In tiefdunkle Teiche ergossen sich Kaskaden von Licht. Der stille Fluß spiegelte Paläste wieder, die allen Glanz der Welt an seinen Ufern vereinigt hatten. Die Brücken spannten sich über ihn wie lauter glückverheißende Regenbogen. Und wer sie überschritt, den empfing jenseits ein Lachen, ein Singen, ein Jubeln, – als gäbe es nirgends Tränen mehr. Ein Taumel erfaßte die Menschen: von den Terrassen herunter, – aus den weit geöffneten Türen bunter Häuser lockte die Freude in sehnsüchtigen Geigentönen, in wilden Trompetenstößen. Dort tanzte Loie Fuller, die lebendig gewordene Flamme: wenn sie sich aufwärts schwang, züngelten die Schleier über ihrem Haupte, wenn sie sich neigte, leuchtete sekundenlang ihr schneeweißer Busen. Drüben trippelte auf Stöckelschuhen Sada Yacco, die Japanerin; aus ihren geschlitzten Augen sprühten Blitze fanatisierter Kunst, auf ihren Gewändern leuchteten Blumen der Hölle und Vögel des Paradieses. Und unter dem bunten Zeltdach ringelten sich Schlangen um den halbnackten Leib der Indierin, züngelten zärtlich um ihre braune Haut, während ihre kleinen Füße, von goldenen Ringen umklirrt, sich im Takte bewegten und ihre Arme sich ausstreckten – eine einzige Gebärde verlangender Lust ....


[288] Mitten im Gewühl trafen wir Geier, der zum Sozialistenkongreß nach Paris gekommen war. »Ein Riesenvarieté, – nichts weiter,« brummte er, »im Grunde widerwärtig.« Ich erwachte wie aus einem Traum: die Gesichter der Tänzerinnen erschienen mir plötzlich fratzenhaft; wo die Schminke sich verwischte, grinste hinter dem Lächeln der Freude die rohe Sucht nach Gewinn. Und der lichtgewobene Turm, der den Himmel trug, war aus Eisen; Menschlein kletterten selbstbewußt bis in seine Spitze, und hoheitsvoll wich die Sternenkuppel weit, weit zurück vor ihnen. Kulissen aus Gips und Leinwand waren die Paläste, Glas die Juwelen im Portal.

»Man soll einen Mondsüchtigen nicht anreden,« sagte ich. »Schon glaubt' ich mich wirklich auf dem Wege zur Erfüllung einer Sehnsucht, die mit mir geboren zu sein scheint –«

»Und die wäre?« fragte Heinrich. Ich zögerte; ich wußte, wie falsch ich verstanden werden könnte.

»Bacchantische Lust zu sehen, überströmende, jauchzende Lebenswonne, – die dabei eines Gottes würdig wäre. Immer ist Freude so etwas Armseliges, – Mutloses.«

»Dann sind Sie jedenfalls in Paris am rechten Ort. Übrigens hätte ich Ihrer norddeutschen Prinzessinnenwürde nicht so exotische Phantasien zugetraut,« spottete Geier. »Aber immerhin, – ich, als alter Pariser, kann Ihnen vielleicht heute noch dienen.«

Wir verließen die Ausstellung, überquerten den Platz bis zur Rue Royal.

»Maxim« stand in großen Buchstaben über der Tür des Restaurants, in das wir eintraten. Auf den hohen Stühlen vor dem Schenktisch der Bar saßen elegante Männer mit müden, gelangweilten Gesichtern. Aus dem Saal dahinter klang gedämpfte Musik. Die Frauen unter seinen Spiegelwänden an den kleinen, blumengeschmückten Tischen flüsterten nur hie und da miteinander. Sie waren alle schön und jung. Hellblond und [289] üppig die eine im weißen Seidenkleid, Perlen in den rosigen Ohren, rieselnde Perlen um den runden Hals und einen matten Perlenglanz in den großen hellen Augen. Statuenhaft die andere neben ihr, die prachtvolle Gestalt eng in roten Samt gehüllt, die schmalen Finger von Brillantringen bedeckt, die nachtschwarzen Haare in glatten Scheiteln um die Schläfen, und rothaarige, hinter deren durchsichtiger Haut blaue Adern klopften, brünette, mit dem bräunlich warmen Ton der Südländerin, reihten sich ihnen an, eine schneeweiße dazwischen, mit rosigem Antlitz, als wäre die Pompadour aus dem langweiligen Jenseits in ihr geliebtes Paris zurückgekehrt. Zuweilen standen sie auf und schritten langsam auf und nieder; ihre Kleider raschelten, als ob schillernde Salamander durch dichtes Blattwerk schlüpften, das aufreizende gleichmäßige Klippklapp der hohen Absätze ihrer Seidenschuhe tönte dazwischen, in ihren Juwelen brachen sich hundertfarbig die Lichter, Wolken betäubenden Duftes zogen hinter ihnen her. Sie waren wie exotische Blumen aus fremden Urwäldern.

Die Musik ging in Walzermelodien über. Und durch die offenen Türen kamen allmählich die Herren aus der Bar, – alte und junge Greise. Nüchtern, lustlos, wie der Trainer ein Rennpferd, musterten sie die Frauen. Sie erwachten erst zum Leben, als der Sekt in den Gläsern vor ihnen perlte. Ihre Blicke wurden zu lüsternem Greifen, ihr Lachen wurde gemein. Sie erschienen wie rohe Barbaren gefangenen Königinnen gegenüber. Und jetzt begannen die Geigen zu jauchzen, rascher und rascher füllten sich die Gläser und leerten sich wieder, die Paare schwangen sich in rasendem Tanz; – dort senkte ein Graubart die zittrigen Knie vor einer jungen Schönen und trank aus ihrem weißseidenen Schuh.

»Nun?!« fragend wandte sich Geier mir zu. Ich zuckte die Achseln: »Nennen Sie das bacchantische Lust?! Wenn Männer sich erst betrinken müssen, um für Frauenschönheit zu entflammen, [290] und Frauen nur durch den Rausch, der ihre Augen und ihre Sinne umnebelt, den Ekel vor diesen Männern zu überwinden vermögen?!«

Wir gingen. Über die Boulevards schob und drängte sich die Menge: Fremde mit gespannten Zügen, überall ungeheuerliche Enthüllungen der Sünde erwartend, kleine bescheidene Provinzfrauen mit einem dirnenhaften Funkeln in den Augen, Kinder, blaß und übernächtig, immer noch Blumen verkaufend, den alten wissenden Blick halb neidisch auf die geschminkten Kokotten gerichtet, die wie Götzenbilder sich durch die dunkeln Massen bewegten.

War Paris nicht doch ihresgleichen?


Als wir am nächsten Morgen den Sitzungssaal des Internationalen Kongresses betraten, blieb ich schon an der Tür erschrocken stehen: das tobte und schrie, pfiff und trampelte, als sollte ein Sensationsstück zu Fall gebracht werden. Vandervelde, der belgische Volksführer, stand auf der Rednertribüne, aber weder seine Autorität, noch der sonore Klang seiner schönen Stimme, noch die beschwörenden Gesten seiner aristokratischen Hände wurden Herr über die entfesselte Leidenschaft der Menge. Drohende Fäuste reckten sich zu ihm empor: »A bas les ministériels!« tönte es im Takt von der einen Seite, wo sich um Jules Guesde, den französischen Liebknecht, die Anhänger scharten. Wer es nicht vorher wußte, erfuhr es angesichts dieser Versammlung: nur um eine Kardinalfrage des Sozialismus konnte ein so wüster Kampf entbrennen. Die Vertreter des alten revolutionären Gedankens behaupteten standhaft ihre Intransigenz: »Die Befreiung der Arbeiter kann nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein, jedes Paktieren mit der bürgerlichen Gesellschaft ist ein Verrat an der Sache des Proletariats.« Von diesen lapidaren, jedem Arbeitergehirn leicht einzuprägenden [291] Sätzen aus, verurteilten sie notwendigerweise den Eintritt des Sozialisten Millerand in das Ministerium und forderten vom Kongreß eine offizielle Anerkennung ihres Standpunktes. Wider Vandervelde, der die Vermittlungsresolution der Deutschen verteidigt hatte, erhob sich der Italiener Ferri; die schönheitstrunkenen Romanen jubelten schon seiner bloßen Erscheinung zu, und als er mit all den klassischen Worten der Revolution jonglierte, wie ein geschickter Taschenspieler mit glänzenden Kristallkugeln, und den Revisionismus von der Landtagswahlbeteiligung der Deutschen bis zum Ministerialismus der Franzosen als einen Abfall brandmarkte, dankte ihm brausender Beifall. Die graziösen Französinnen auf den Zuschauertribünen, denen der Kongreß dieselben Nervenreize bot wie eine Première, schlugen begeistert die weißbehandschuhten Händchen aneinander, und des Redners dunkler Blick grüßte dankend die seidenrauschenden Vertreterinnen des Kapitalismus, gegen den er eben zum Kampf gerufen hatte.

Dann kam Jaurès, der das moderne republikanische Frankreich in der Dreyfusaffäre gegen Klerikalismus und Militarismus verteidigt hatte, – eine untersetzte Gestalt, mit dem breiten blonden Kopf eines Germanen. Er wird es schwer haben, dachte ich angesichts dieser Versammlung, die ihre Redner ästhetisch zu werten scheint. Aber schon der erste Laut seiner Stimme zog die Menge in seinen Bann: sie war wie das Meer; selbst wenn sie ruhig schien, war Sturm in ihr, und wenn sie anschwoll, schlug sie donnernd gegen die Mauern, wie die Wogen gegen den Fels. Ich war nicht imstande, auf die Worte zu achten, ich hörte nur den Klang, jenen musikalischen Tonfall der Sprache, der die Wesensart des ganzen Volkes enthüllt, eines Volkes, das durch logische Schlüsse wissenschaftlicher Deduktionen niemals überzeugt zu werden vermag, wenn nicht der Künstler in ihm durch die Schönheit der Form, durch das Pathos des Ausdrucks gepackt wird, eines Volkes, von dem ich plötzlich begriff, [292] daß es die Bastille stürmen und Napoleon Bonaparte zu seinem Kaiser krönen konnte.

Ich war noch wie benommen, als wir abends den Saal verließen. An der Tür begrüßten uns unsere Landsleute. »Eine unglaubliche Gesellschaft!« schimpfte der eine. »Für nichts ist gesorgt: nicht mal Bleistift und Papier gibt's auf den Tischen.« – »Und keine Möglichkeit, die Anträge rechtzeitig drucken zu lassen,« fügte ein zweiter hinzu, – »man weiß nich mal, wo man essen jehn soll,« brummte ein dritter.

Jetzt fühlte ich mich wieder in Deutschland.

Wir unterhielten uns, als wir zusammensaßen, über die deutsche Resolution. »Sie ist aus Wenn und Aber zusammengesetzt, und einem Fall Millerand ist zwar die Tür geschlossen, aber das Fenster geöffnet,« – räsonierten die Vertreter des sechsten Berliner Wahlkreises, für die der Eintritt eines Sozialisten in ein bürgerliches Ministerium keine taktische, sondern eine prinzipielle Frage war. »›Die Eroberung der Regierungsgewalt kann nicht stückweise erfolgen,‹« las stirnrunzelnd einer der Wortführer des Revisionismus; »das ist ein Satz, den wir unmöglich unterschreiben können, denn in parlamentarisch regierten Staaten kann und wird sie nicht anders als allmählich vor sich gehen.«

Am Morgen darauf stimmten die Deutschen trotzdem geschlossen für die Resolution, um die Einigkeit der Partei zu dokumentieren, und sicherten ihr dadurch ihre Annahme. Ich war froh, daß ich kein Mandat besaß, denn die vielgerühmte Disziplin unserer Genossen mißfiel mir, die die persönliche Ansicht dem Willen der Mehrheit unterwarf; die individualistische Haltung der Franzosen schien mir ein Beweis größerer innerer Stärke zu sein. Ich äußerte meine Ansicht, als wir mit unseren näheren Bekannten nachts vor einem Boulevard-Café zusammensaßen, und stieß auf heftigen Widerspruch. »Unsere Disziplin hat uns groß gemacht,« hieß es von allen Seiten. »Numerisch groß,[293] – gewiß,« antwortete ich, »ob aber entsprechend einflußreich?! In England, wo die Partei so zerrissen ist wie hier, durchdringt die sozialistische Idee alle Kreise, gehören Sozialisten allen öffentlichen Körperschaften an, in Frankreich stützt sich die Republik auf Sozialisten, und ein einziger sozialistischer Minister ist imstande, in Monaten mehr Reformen auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes durchzuführen als seine Vorgänger während Jahrzehnten –«

»Und in Deutschland übernahm unsere Reichstagsfraktion im Kampf gegen die Lex Heinze die Führung und rettete Wissenschaft und Kunst vor unerhörter Knebelung,« unterbrach mich einer der Anwesenden lebhaft; »es geht langsam bei uns, aber es geht, und selbst die Resolution, deren Annahme durch uns Sie so verurteilen, ist ein Zeichen des Fortschrittes. Sie hat dem falschen Radikalismus eine seiner Spitzen abgebrochen, indem sie der politischen Taktik freie Hand ließ.«

»Dazu, scheint mir, werden die Verhältnisse Radikale und Revisionisten stets ohne weiteres zwingen. Die Preisgabe persönlicher Überzeugung war überflüssig,« antwortete ich.

»So halten Sie es für besser, wenn man um verschiedener Ansichten willen wie verzankte Kinder nach rechts und links auseinanderläuft?!«

»Es scheint mir jedenfalls richtiger, als klaffende Gegensätze mit den morschen Brettern gegenseitiger Konzessionen überbrücken zu wollen.«

Eine augenblickliche Stille trat ein; man sah erwartungsvoll auf Geier, der eben hinzugetreten war.

»Politik besteht aus Konzessionen,« erklärte er und strich gleichmütig die Asche von seiner Zigarre; »aber davon versteht ihr Weiber nichts. Für das Geschäft seid ihr entweder zu gut oder zu schlecht, darum laßt die Finger davon. Übrigens: – Ich habe eine Nachricht in der Tasche, die den Wünschen der Genossin Brandt entgegenkommt: Euer neuer Prophet, Bernstein, wird Deutschland in persona beglücken dürfen.«

[294] Von allen Seiten mit Fragen nach dem Wie und Warum bestürmt, fuhr Geier mit einem spöttischen Blick auf mich in seinem Berichte fort: »Die deutsche Regierung hofft auf eine Spaltung der Partei. Es ist Bülows, des neuen Reichskanzlers, erste Heldentat, wenn er das Ausweisungsdekret gegen Bernstein nicht mehr wiederholt. Viel Glück zu diesem Zuwachs, ihr lieben Reichsdeutschen!« Damit erhob er sich, flüchtig grüßend.

Wir gingen schweigsam nach Haus, mein Mann und ich, in unsere kleine möblierte Wohnung, die wir nach langem Suchen endlich gefunden hatten. Ich fühlte auf diesem Heimweg deutlicher als je, daß wir allmählich auch innerlich nebeneinander und nicht miteinander gingen. In der Nacht hörte ich, wie unruhig er sich hin und her warf, und sah im Laternenlicht, das matt durch die Fensterscheiben drang, wie zerquält seine Züge waren. Er litt, – und ich wußte nicht warum; ich, die ich ihm am nächsten stand, hatte ihn allein gelassen! Das Herz krampfte sich mir zusammen. Waren nicht jene Frauen wirklich die besseren gewesen, die nichts hatten sein wollen als ein allzeit offenes Gefäß für die Schmerzen und die Kämpfe des Gatten? Vielleicht waren sie die tiefste Bedingung seiner Kraft.

»Heinz,« flüsterte ich zaghaft und griff nach seiner Hand, »warum sprichst du nicht mit mir? – Irgend etwas lastet auf dir –.«

Er lächelte mich an. »Gutes Kind, – beunruhige dich doch nicht! Du hast mit dir selbst genug zu tun und mit deiner Arbeit.«

»Du aber nimmst teil daran, – du hilfst mir, und ich sollte dir nicht helfen dürfen?! – Hängt es am Ende damit zusammen, daß du dem Archiv innerlich untreu geworden bist?« drängte ich.

»Woher weißt du das?« fuhr er auf.

»Ich habe doch Augen im Kopf, – ich sehe, wie oft du die Korrekturen ungeduldig zur Seite wirfst –«

»Du hast recht,« antwortete er, »ich hätte dich nur gern mit meinen Angelegenheiten verschont, so lange sie mir selbst so [295] unklar sind. Als ich das Archiv ins Leben rief, war die Sozialpolitik ein unbebautes Ackerland. Jetzt, wo der Samen aufging, kann jeder Garben schneiden –«

»Ich verstehe,« unterbrach ich ihn lebhaft, »wir beide gehören zu denen, die Wege anlegen, aber nicht die Steine dafür karren können.«

»Wege anlegen –,« wiederholte er, »ganz richtig! Und dafür ist in der Partei jetzt die Zeit gekommen. Gräßlich, angesichts dieser Aufgabe die Hände gebunden zu haben! Dem Revisionismus fehlt es an einem geistigen Mittelpunkt, einem unabhängigen Organ, das an Stelle bloßer Verneinung die Ideen praktischer Politik in die Köpfe der Massen hämmert, das die geistigen Kräfte der Intellektuellen in den Dienst unserer Sache zieht. Die Lex Heinze hat sie aus dem Schlaf geweckt, – auch hier müßte das Eisen geschmiedet werden, solange es warm ist.«

»Und wieso sind dir dafür die Hände gebunden?!« rief ich aus, von den Gedanken, die er aussprach, gepackt. »Der Plan muß ausgeführt werden!«

»Bei all deiner Klugheit bist du doch ein ganz dummes Katzel!« sagte er. »Oder wächst dir ein Kornfeld auf der flachen Hand?! Kein bürgerlicher Verleger würde ihn verwirklichen helfen, ein Parteiverlag erst recht nicht ...«

Ich dachte an den Amerikaner Garrison, der seine der Idee der Sklavenbefreiung gewidmete Zeitschrift selbst schrieb und druckte. Ob wir nicht diesem Beispiel folgen könnten? Mein Mann lachte mich aus. »Selbst wenn wir unsere ganze Arbeitskraft der Sache opfern würden, ohne pekuniäre Mittel hülfe das nichts. Ich sehe nur eine Möglichkeit, um zum Ziel zu gelangen,« – er brach ab, als habe er schon zuviel gesagt.

»Die wäre?«

»Der Verkauf des Archivs. Mit dem Erlös könnte man die Zeitung ins Leben rufen –«

[296] »Warum versuchst du das nicht?!« Ich ärgerte mich, daß er nur einen Moment hatte zögern können. Er sah mich forschend an.

»Ist das Tapferkeit oder Leichtsinn, was aus dir spricht? – Mit dem Verkauf des Archivs ist die Sicherheit unserer Existenz preisgegeben. Wir können bei dem neuen Unternehmen alles verlieren –«

»Darüber bin ich keinen Augenblick im Zweifel,« antwortete ich ernst. »Aber mir scheint, gegenüber der Größe der Aufgabe fallen persönliche Bedenken nicht ins Gewicht.«

Wir waren einig. Von nun an widmete mein Mann all seine freie Zeit der Verwirklichung seines Gedankens. Er trat mit deutschen Verlegern in Verkaufsverhandlungen, und wenn ich angesichts ihrer wiederholten Resultatlosigkeit oft nahe daran war, den Mut zu verlieren, so schien der seine mit jedem Mißlingen neu zu wachsen. Er wandte sich an die bekannteren Revisionisten, und wenn ihre zögernden Antworten mich deprimierten, so steigerten sie nur seine Energie. Und meine Liebe, die unter der grauen Asche der Alltäglichkeit nur noch leise geglimmt hatte, glühte auf wie Waldfeuer im Sturm. Je stärker ich die Überlegenheit seines Willens empfand, desto mehr liebte ich ihn. Und gewohnt, mein eigenes Erleben zu betrachten wie der Forscher ein wissenschaftliches Experiment, aus dem er bestimmte allgemeine Schlüsse zieht, sah ich, daß eine der Theorien der modernen Frauenbewegung sich angesichts der Erfahrung wieder einmal als leere Konstruktion erwies.

»Das geistig entwickelte, seelisch differenzierte Weib ist die Voraussetzung und Bedingung tieferer und dauernder Beziehungen zwischen den Geschlechtern,« hatte meine alte Gegnerin, Helma Kurz, noch kürzlich in dem ihr eigenen geschwollenen Stil den Lesern ihrer Zeitschrift verkündet. Sie identifizierte Liebe und Freundschaft, weil sie – das einsame alte Mädchen – wie der Blinde von der Farbe sprach. Weibesliebe ist Hingabe an den Höherstehenden, gleichgültig ob das Herz, das sie empfindet, [297] unter dem groben Hemd der Dienstmagd oder dem Talar der Doktorin beider Rechte schlägt. Darum wird die erotische Treue um so seltener sein, je stärker das Weib sich geistig und seelisch individualisiert.


Mit noch größerem Eifer als früher stürzte ich mich in meine Arbeit; nicht nur, weil der Augenblick schreckhaft näher rückte, in dem ich das Honorar dafür nicht mehr würde entbehren können, sondern mehr noch, weil das Buch vollendet sein mußte, ehe die neue Aufgabe – die Zeitschrift meines Mannes – an mich herantrat.

Archive, Arbeitsämter und Bibliotheken öffneten sich mir ohne Schwierigkeiten. Vom Minister bis zum Portier verleugnet der Franzose die Kultur des achtzehnten Jahrhunderts nicht, auch wenn die Dame, die ihm begegnet, keine Marquise ist; jeder beeilt sich, ihr behilflich zu sein, ihr entgegenzukommen, kein spöttisches Lächeln, keine herunterhängenden Mundwinkel verraten der arbeitenden Frau, wie der Mann sie im Grunde wertet.

Je mehr ich mich aber in die Arbeit versenkte, desto höher türmten sich die Probleme der Frauenfrage um mich auf, – die sozialen, die ethischen, die sexuellen entwickelten sich eines aus dem anderen, als kröche ein Drache aus dunkler Höhle hervor, ein Glied um das andere vorschiebend, langsam, endlos. Wenn ich mich morgens zum Fortgehen rüstete und mein Kind die runden Ärmchen um meinen Hals schlang und bat und schmeichelte: »Mamachen, bleib doch mal bei mir, – Mamachen, bitte, bitte, erzähl' mir nur eine einzigste schöne Geschichte –,« dann erschien mir mein eigenes Leben wie jene unheimliche Höhle, und in mein eigenes Herz bohrte der Drache seinen Giftzahn. Wie gläubig hatte ich früher den alten Vorkämpferinnen der Frauenbewegung gelauscht, wenn sie von jenen Amerikanerinnen erzählten, die ihre Pflichten als Mütter, Hausfrauen [298] und Berufsarbeiterinnen in so unvergleichliche Harmonie zueinander zu setzen vermochten. Ich erinnerte mich vor allem jener Advokatin, die neben ihrer großen Praxis sechs Kinder erzogen und einen großen Haushalt allein geleitet haben sollte.

»Infame Lügen alter Jungfern!« dachte ich grimmig. Und doch war ich selbst noch eine Bevorzugte. Kam ich nach Haus, so fand ich mein Kind in guter Obhut und unseren Tisch gedeckt.

Der Berta, die mit so viel Tränen durchgesetzt hatte, bei mir zu bleiben, verdankte ich die äußere Arbeitsmöglichkeit. Ich konnte ihr nicht dankbar genug sein.

Aber Millionen armer Frauen arbeiten in der Werkstatt und in der Fabrik, während die Straße ihrer Kinder Hüterin ist und sie gezwungen sind, nach der Hast der Arbeit noch die unzureichende Ernährung für sich und die Ihren selbst zu bereiten. So unschätzbar die wirtschaftliche Selbständigkeit des Weibes sein mag, sind die Opfer des Mutterherzens und des Kinderglücks nicht ein zu hoher Preis für sie? Ich fand aus der Wirrnis nicht heraus: auf der einen Seite diese Not, auf der anderen Seite die liebezerstörende pekuniäre Abhängigkeit des Weibes vom Mann.

Die deutschen Gewerbeaufsichtsbeamten hatten um jene Zeit eine Untersuchung über die Arbeit verheirateter Frauen in der Industrie angestellt. Die Ergebnisse lagen mir vor: überall war es die bittere Notwendigkeit, die ihnen zwischen dem natürlichen Weibesberuf und dem Erwerb außerhalb des Hauses keine Wahl ließ. Und alles deutete darauf hin, daß ihre Zahl ständig zunehmen würde. Nichts schien mir im Augenblick so wichtig, als die Lösung dieser brennenden Frage. Es galt auf der einen Seite, dem Säugling die Mutter zurückzugeben, und auf der anderen, das Weib von der Last doppelter Pflichten zu befreien. Ich baute meinen alten Plan der Mutterschaftsversicherung aus, – fest überzeugt, daß über kurz oder lang die Regierungen gezwungen sein würden, ihm näher zu treten. Aber selbst seine [299] Verwirklichung würde die notwendige Arbeitsteilung zwischen Hausfrau und Berufsarbeiterin nicht herbeiführen.

»Laß einmal heut deine Nachmittagsarbeit,« sagte Heinrich eines Tages, als ich in meine Grübeleien versunken nach Hause kam. »Wir sind zur Einweihung eines Arbeiter-Restaurants geladen, – France und Jaurès werden dort sein –«

»Du weißt, ich darf mich nicht ablenken lassen,« antwortete ich mißmutig.

»Diesmal ist aber die Sache interessant genug, um eine Ausnahme von der Regel zu entschuldigen,« meinte er. »Eine genossenschaftliche Gründung der Art liegt auf dem Wege zu unseren Zielen.« Ich horchte auf: irgend etwas, halb Unbewußtes, packte mich.

In einer engen Seitenstraße des Boulevard Montparnasse lag ein altes kleines Haus geduckt zwischen hohen Mietskasernen. In seinem neuen Anstrich, mit den Girlanden um die Türe und den Fähnchen an den Fenstern sah es lustig aus wie ein altes Männlein, das goldene Hochzeit feiert. Drinnen um die festlich gedeckten Tafeln herrschte eitel Fröhlichkeit.

»Daß wir es erreicht haben, – endlich!« sagte glückstrahlend einer der Leiter. »Seit Jahren sammeln wir Sou um Sou, um die armen Arbeiter dieser Gegend von der Ausbeutung der Kneipenwirte zu befreien, und um den zahllosen arbeitenden Familienmüttern ein gutes und billiges Mittagsmahl zu verschaffen.«

Ich reichte dem Manne die Hand und drückte sie herzhaft; er sah mich verwundert an: er konnte nicht wissen, welch ein Geschenk er mir eben gegeben hatte.

Die breite Gestalt von Jaurès erschien in der Türe, hinter ihm die elegante eines vornehmen Graubarts, dessen geistfunkelnde Augen über die große schiefe Nase unter ihnen zu spotten schienen. »Anatole France,« stellte Jaurès ihn uns vor. Wir waren sofort in lebhaftem Gespräch.

[300] »Ich mag nicht fehlen, wenn die sozialistische Arbeiterschaft irgendwo einen Fuß breit Boden gewinnt,« sagte er; »je mehr die Bourgeoisie an Idealismus verloren hat, desto unfruchtbarer ist sie für uns Intellektuelle. Wir müssen uns stets zu den Hoffenden und Werdenden halten, wenn wir nicht selbst absterben wollen.«

»Unsere deutschen Intellektuellen halten sich lieber zu denen, die zwar an Hoffnungen arm, aber an Gold und Juwelen um so reicher sind –,« antwortete ich.

Er lächelte ungläubig: »Wirklich?! In einem Lande, das sprichwörtlich reich an hungernden Dichtern und arm an Männern ist?!«

Dann wurde er zerstreut, zog ein Blatt Papier aus der Tasche, überflog es wieder und wieder und reichte es Jaurès: »Ich bin kein Redner und soll durchaus sprechen. Was meinen Sie, wenn ich das hier sage?« Dabei stieg die Röte der Verlegenheit in das gebräunte Gesicht des berühmten Mannes.

Wir setzten uns zu Tisch. Ich konnte nicht glauben, daß die vielen Menschen um uns herum mit den selbstverständlich guten Manieren, dem freimütigen Ton, der ohne weiteres jeden Abstand der Bildung und des Milieus ausglich, die Ärmsten der Armen waren. Ich sah es erst allmählich an den hohlen Wangen und sorgfältig vernähten Flicken auf den Kleidern. Und doch aßen und tranken sie, als ob sie alle Tage satt würden.

France sprach; stockend, schüchtern, aber mit einem so warmen Ton in der Stimme, daß er alle gefangen nahm. Und dann wußten sie auch von ihm: »Unser großer France,« flüsterte stolz einer dem anderen zu, und ein paar kleine Nähmädchen mit harten zerstochenen Fingern brachten ihm die Veilchensträußchen, die sie im Gürtel trugen.

Als ich am nächsten Tage wieder bei der Arbeit saß, war mein neuer Plan fix und fertig: »Haushaltungsgenossenschaften« nannte ich ihn. In den Arbeitervierteln der großen Städte sollte [301] jede Mietskaserne mit einer Zentralküche versehen sein, die den Bewohnern ihre Mahlzeiten liefert. In den Häusern der Arbeiter-Baugenossenschaften müßte der Anfang damit gemacht werden; Kinderkrippen und Kinderhorte zum Tagesaufenthalt der Mutterlosen sollten sich anschließen; die genossenschaftliche Wirtschaft, der Einkauf im Großen müßte, so berechnete ich, die Kosten für die anzustellenden Arbeitskräfte aufbringen. Einsichtige Kommunen würden sich allmählich bereit finden, solche für die physische und moralische Gesundheit der Bevölkerung überaus wichtige Häuser selbst zu bauen. Mit der Befreiung von der doppelten Arbeitslast der Hauswirtschaft und der außerhäuslichen Erwerbsarbeit würde einer der wichtigsten Teile der Frauenfrage ihrer Lösung entgegengeführt werden. Und was für die Arbeiterin galt, das galt ebenso für die geistig tätige Frau. Ich war so erfüllt von meiner Idee, daß ich vor freudigem Herzklopfen nächtelang schlaflos blieb. Mit dieser Sache konnte ich bis zum Erscheinen meines Buches nicht warten. Gerade jetzt, wo das Problem der Erwerbsarbeit verheirateter Frauen auf der Tagesordnung stand, mußte ich damit hervortreten.

Ich schrieb an Wanda Orbin und teilte ihr mit, daß ich an der Hand der neuesten Fabrikinspektorenberichte eine kurze Broschüre über die Arbeiterinnenbewegung für die so wichtige Frage der Beschäftigung verheirateter Frauen in der Industrie schreiben wolle und von ihr nur erfahren möchte, ob nicht etwa von anderer Seite ähnliches geplant würde. Irgendwelche Details gab ich ihr nicht.

Sie antwortete mir umgehend, daß sie selbst seit längerer Zeit mit der Bearbeitung der Frage beschäftigt sei. »Ich habe mich nunmehr entschlossen,« fuhr sie fort, »die einzelnen Teile meiner Arbeit als selbständige Broschüren erscheinen zu lassen, um sie weiteren Kreisen leichter zugänglich zu machen. Die erste enthält die grundsätzliche Auseinandersetzung der Frage der Fabrikarbeit verheirateter Frauen und des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes, [302] das Manuskript liegt im wesentlichen bereits fertig vor ... Sie werden mir kaum zumuten, auf die Veröffentlichung zu verzichten, weil an anderer Stelle die Behandlung derselben Frage beabsichtigt wird ...«

Nein: ich dachte nicht daran, um so weniger, als es mir nichts genutzt haben würde. Ich wollte auch nicht mit Wanda Orbin in einen lächerlichen Konkurrenzkampf eintreten. Mochte ihre Schrift zuerst erscheinen, – mir würde nachher genug zu sagen übrig bleiben.

Während der Monate, die wir noch in Paris verlebten, erschien sie jedoch nicht, und die verschiedenen Parteibuchhandlungen wußten nichts von ihr.


Schwer und grau hing der Winterhimmel über Paris. Zuweilen tanzten weiße Flocken in der Luft, und dann schien's, als ob es hell werden wollte; aber die schmutzige Straße verschlang sie. Die Obst- und Gemüseauslagen, die im Sonnenschein sonst so bunt und lockend den Vorübergehenden angelacht hatten, sahen welk und unappetitlich aus. Die kleinen Mädchen mit den schönfrisierten Köpfchen, die vor kurzem noch lachend und kokettierend mit spitzen Hacken klappernd über das Pflaster getrippelt waren, liefen jetzt fröstelnd ihres Wegs mit verfrorenen, mißmutigen Gesichtern.

Wer jetzt dicht am Kaminfeuer sitzen und träumen könnte! Aber nach wie vor ging ich dieselben Wege durch alte enge Gassen und saß mit eisigen Füßen in dunkeln Bureaus. Wußte ich noch, daß es Paris war, in dem ich lebte? Lebte?! War das wirklich Leben? Hatte nicht am Ende auch mich die schmutzige Taglöhnerstraße verschlungen? Mich, die ich licht und frei sein wollte? Wenn wir abends zuweilen aus unserem stillen Stadtwinkel zum rechten Seineufer hinübergingen, wo die Bogenlampen festlich zu strahlen beginnen, wo hinter glänzenden [303] Spiegelscheiben Juwelen und Spitzen und märchenhaft schimmernde Gewänder prahlend ihre Schönheit entfalten und Equipagen und Automobile hin und wieder rollen, aus denen schöne Frauenköpfe nicken und lächeln wie seltene Treibhausblumen hinter ihrem Glashaus, – nur zum Schmuck einer Nacht gezüchtet, – dann fühlte ich im verborgensten Winkel meines Herzens einen stechenden Schmerz.

Am Eingang zum Opernhaus standen dicht gedrängt arme junge Mädels; sie warteten auf die eleganten Damen, die mit seidenbeschuhten Füßchen und langen Schleppen den Wagen entstiegen. Sie ließen sich von den Rädern mit Kot bespritzen, um vom Glanze des Lebens nur einen Schein zu erhaschen.

Wir hatten bei einigen Parteigenossen Besuch gemacht, – auch bei Millerand, – und waren mit einer Liebenswürdigkeit empfangen worden, als wären wir längst erwartete alte Freunde. Aber es blieb bei ein paar förmlichen Einladungen mit oberflächlichen allgemeinen Gesprächen. Während mein Mann einen unvereinbaren Gegensatz in dem Benehmen unserer Gastgeber empfand, fühlte ich mich plötzlich in die Umgebung meiner Jugend zurückversetzt und verstand sie.

Der Franzose ist ein geborener Aristokrat, er hat jene Kultur des Benehmens, jene Liebenswürdigkeit der Form, die zugleich eine unübersteigliche Mauer ist, hinter der sich das persönlich Menschliche verbirgt.

Wir gerieten auch in einen literarischen Salon, dessen Herrin tout Paris um sich zu versammeln verstand. Sie war von unverwüstlicher Schönheit, und ihre Küche war berühmt. Als wir nach Hause gingen, war mein Mann befriedigt und angeregt und ich schlechter Laune. »Hast du dich denn nicht amüsiert?« fragte er mich schließlich.

»Ganz und gar nicht,« antwortete ich, »und wenn ich nicht fürchten müßte, daß meine Ehrlichkeit mich in deinen Augen herabsetzt, –«

[304] »Aber Alix,« lachte er und zog meinen Arm fester durch den seinen, »du weißt, daß du mich immer entzückst, wenn du du selber bist.«

»So will ich's drauf ankommen lassen und dir gestehen, daß ich die Rolle des unbeteiligten Zuschauers in jeder Gesellschaft, – und wäre es die interessanteste, – unerträglich finde. Es ist ja sicher lehrreich, zu erfahren, daß der Wert der Frau in Paris mit dem Wert ihrer Kosmetik und ihrer Toilette steigt und fällt, aber da ich auf dem Gebiet nicht konkurrieren kann –«

Heinrich lachte noch lauter. »Du liebe Eitelkeit, du,« war alles, was er sagte, während die Röte der Beschämung mir noch auf den Wangen brannte.

Ein andermal folgte ich der Einladung einer der führenden Frauenrechtlerinnen in die Redaktion ihrer Zeitung. Ich bewunderte schon lange die Energie, mit der sie die Frauen – französische Frauen! – zwang, die politischen Tagesereignisse zu verfolgen, und an der Seite der Zola und Jaurès an dem Kampf für Dreyfus teilgenommen hatte. Ich erwartete unwillkürlich eine typische Feministin: harte Züge, eckige Bewegungen, männliche Kleidung. Schon die Räume, die ich betrat, überraschten mich; sie hatten alle das Aussehen und das Parfüm eines eleganten Boudoirs. Ein paar Damen gingen vorüber, – sie hätten ebenso beim five o'clock im Grand Hotel erscheinen können. Dann kam die Leiterin selbst. Wenn sie mir bei Maxim begegnet wäre, ich hätte mich nicht gewundert. Ihre Schönheit hatte trotz aller statuenhaften Kühle, – oder vielleicht gerade deshalb, – etwas Sieghaftes.

»Je radikalere Feministen wir sind, desto stärker müssen wir unser Weibsein betonen,« sagte sie im Lauf des Gesprächs. Ich stimmte ihr lebhaft zu und dachte an ihre deutschen Gesinnungsgenossinnen, die den Gegensatz zwischen der Weltdame und der Frauenrechtlerin nicht genug glaubten zeigen zu müssen.

[305] »Sie vergessen nur eins,« fuhr ich fort. »Die Pflege der Schönheit kostet Zeit und Geld. Und die eigentlichen Trägerinnen der Frauenbewegung, die Frauen, die heute im Kampf ums Dasein stehen, haben keins von beiden.«

»Darum müssen wir es ihnen schaffen,« warf sie lebhaft ein und führte mich, um ihre eigene Tätigkeit nach dieser Richtung zu illustrieren, in den Setzersaal, wo lauter junge Mädchen beschäftigt waren. Unter den großen Schürzen lugten zierliche Kleider hervor, die hübschen Lockenköpfchen hätten höheren Töchtern gehören können. Ihre Augen folgten mit schwärmerischer Bewunderung der stolzen Gestalt ihres weiblichen Chefs, die sich, umgeben von Veilchenduft, mit einem leisen Wiegen in den Hüften durch ihre Reihen bewegte. Ich hörte später, sie sei eine grande amoureuse, eine von jenen, deren Herzen kalt bleiben, wenn ihre Sinne glühen. »Ihre Mittel sind unerschöpflich,« sagte man mir mit einem vielsagenden Lächeln. Mich interessierte dieser Typus, der mir in Deutschland nicht würde begegnen können. Ich versuchte, ihr näher zu treten. Doch auch sie blieb stets dieselbe: geistvoll, liebenswürdig, – aber unnahbar.


Unser Pariser Aufenthalt neigte sich seinem Ende zu. Mein Buch war fast fertig. Es fing schon an, sich von mir loszulösen und vor mir zu stehen wie etwas Fremdes, nicht mehr zu mir Gehöriges, mit dem ich auch innerlich abgeschlossen hatte. Es war wie eine erstiegene Höhe, von der aus ich nun weitergehen mußte. Meine Gedanken kreisten immer enger um die neue Aufgabe, die wir uns gestellt hatten. Meine Hoffnungen, genährt von der Liebe zu meinem Mann, der seine Lebensbestimmung glaubte gefunden zu haben, übertönten die leise warnenden Stimmen meines Inneren.

»Du kannst nur schaffen, wenn du dich selbst behauptest,« sagten sie.

[306] »Du wirst die Sache zum Siege führen, wenn du dich selbst hingibst,« frohlockte die Hoffnung.

Ich glaubte ihr.

Heinrich fuhr voraus nach Berlin. Ich erinnerte mich während der letzten acht Tage, daß ich in Paris war. Mein Junge jubelte, weil er nun jeden Morgen mit »Mamachen« gehen durfte. Die Berta hatte auf ihren Spaziergängen mit ihm viel mehr gesehen als ich; der kleine Bub wurde mir zum Führer. Er kam sich dabei sehr wichtig vor. Zuerst zog er mich in atemloser Eile durch die Tuilerien hindurch zu »der Frau, die ein Soldat war«. Ich lächelte: war es doch meiner frühesten Kindheit Traum gewesen, das Vater land zu befreien wie sie! Stolz und siegessicher, Frankreichs Fahne fest in der Hand, erhob sich ihr Standbild vor mir; sie war den Stimmen in ihrer Brust gefolgt, – unbeirrt; aus dem Scheiterhaufen, der ihren Leib verzehrte, erhob sie sich nur noch größer.

»Die Jungfrau von Orleans, – ist das ein Märchen?« fragte der Kleine, als ich ihm die Geschichte erzählt hatte, und sah mit nassen Augen zu der Reiterin empor.

»Nein, es ist Wahrheit,« antwortete ich.

»Warum verbrannten sie denn die bösen Menschen?« Auf seine glatte Kinderstirn gruben sich tiefe Falten des Zornes.

»Sie vertragen nur, was ihresgleichen ist,« sagte ich leise, wie zu mir selbst.

Unter der hohen Kuppel des Invalidendoms standen wir miteinander. Ein breiter Strom bläulichen Lichtes ensprang ihr und wogte tief unten um den roten Porphyr, der des großen Korsen Gebeine umschließt. Der Gang ringsum, die Kapellen zur Seite schienen im Dämmer zurückzutreten. Mit leiser Stimme erzählte ich von dem armen Knaben aus Ajaccio, der, seinem Sterne getreu, die Welt eroberte, der das Testament der Revolution vollzog, und der auf der Felseninsel im Weltmeer starb – in Ketten.

[307] »Auch weil – weil –« das Kind neben mir suchte nach den Worten, deren Sinn es nicht verstanden hatte; »weil er zu groß war für die anderen,« ergänzte ich.

Am letzten Tage vor unserer Abreise kämpfte der erste Frühlingssonnenschein mit den schwarzgrauen Regenwolken; grüne Spitzchen lugten neugierig an Büschen und Bäumen aus braunen Hüllen hervor; die Kinder mit den langen gedrehten Locken bevölkerten wieder die Gärten.

Ich war stundenlang im Louvre gewesen. Ich hatte die Menschen, die Welt, die Jahrhunderte durch die Augen der Größten aller Zeiten gesehen und fühlte meinen Geist heller, mein Herz wärmer werden. In der Kunst kommt es nicht darauf an, wie die Welt ist, sondern wie die Augen sind, die sie betrachten. Nur der Künstler hat recht, dem sie immer Objekt bleibt, der im Häßlichen noch das Schöne, im Bösen das Menschliche findet.

Und nun, zum Abschied, nahm ich noch einmal den Kleinen mit mir.

»Zur Göttin der Griechen wollen wir,« sagte ich ihm, »die Odysseus und Achilles anbeteten.«

Die Leute drehten sich um, lächelnd, spottend, entrüstet, als sie mich mit dem Kind an der Hand durch die Säle gehen sahen, bis dahin, von wo der Venus von Milo weiße Gestalt uns entgegenleuchtete.

»Warum beten die Menschen nicht?« flüsterte mein Sohn, der die Mütze vom Köpfchen gezogen hatte.

In einsamer Herrlichkeit stand sie vor uns, im Bewußtsein ihrer Macht und Schöne, zeitlos, beziehungslos. Ihr Blick schweifte hinweg über die Menge, gleichgültig, ob sie ihr Opfer zündete oder die Linien ihres Körpers mit dem Zirkel maß. Sie herrschte, sie begeisterte und belebte, nicht weil sie vom Sockel stieg in den Dienst der Massen, sondern weil sie vollendet war in sich.

[308] Droben in den Sälen hingen die Bilder aller derer, die die Menschen, denen sie dienten, gekreuzigt hatten: die Heiligen, die Madonnen, die Christuskinder. Sollte der Zweck des Daseins nicht doch der Olymp der Griechen und nicht der Himmel der Christen sein?

Ich strich mit der Hand über die Stirn. Es war etwas wach geworden in mir, das schlafen mußte.

Ein weiches Händchen nestelte sich in das meine: »Warum hat die Göttin keine Arme, Mamachen?«

»Zur Strafe, weil sie die Menschen nicht festhielt, die ihrem Tempel entliefen.«

[309]
11. Kapitel
Elftes Kapitel

Es war ein Sonntag, als wir Berlin wiedersahen. Mir schien, als wären wir Fremde. Wie klein, wie armselig war das alles: die Linden mit ihren kraftlosen Bäumen und stillosen Häusern, der Pariser Platz mit seiner bedrückenden Engigkeit. Und die neuen Stadtteile: eine gute Bürgersfrau, die sich herausgeputzt hat, und das bißchen echte Kultur, das sie besaß, darüber vollends verlor. Dazwischen die Feiertagsbummler: Der Kontrast zwischen ihrer kreischenden Lautheit in Tönen und Farben und dem matten Grau des Märztages tat Augen und Ohren weh.

»Ich möchte wissen, wo ich zu Hause bin,« seufzte ich und legte mich abends mit jenem Gefühl innerer Leerheit schlafen, das uns zuweilen überkommt, wenn wir eine Staatssoirée hinter uns haben. Mir träumte von einem riesigen Wasserfall. Noch im Halbschlaf am Morgen hörte ich sein Rollen und Rauschen, und je wacher ich wurde, desto stärker schwoll es an. Vom Potsdamer Platz herauf klang es; Straßenbahnen, Omnibusse, Lastwagen, eilende Menschenfüße waren die Instrumente dieses Konzertes; Berlin ging auf Arbeit. Da war kein Winkel ohne Leben.

Drüben in der Leipzigerstraße waren unter der Spitzhacke alte Mauern zusammengebrochen, und sieghaft erhob sich jetzt, von Riesengranitpfeilern getragen, ein mächtiges Warenhaus, wie selbst Paris es nicht kannte, aus dem märkischen Sand. Kein Basar, dessen Bau Gotik, Barock und Renaissance durcheinanderwirft, wie seine reklameschreienden Schaufenster die Waren – ein Stück neuer Kultur vielmehr, die die Schönheit [310] der Zweckmäßigkeit erkannte und doch allen Zauber der Kunst über sie ausgoß. Die Menschen strömten aus und ein. Sie trugen von all jenen glänzenden Goldblumen und köstlichen Steinreliefs, die seine inneren Räume schmückten, von den farbenleuchtenden Onyxplatten und gemalten Holzdecken, von den Feuertropfen und Lichtgirlanden einen Schimmer von Schönheit mit sich nach Haus.

Jenseits des Platzes waren Baumriesen gestürzt, denn dem Verkehr mußte die Straße sich weiten, und an der Peripherie der Stadt standen reihenweise die Holzgerüste, wie gewaltige Pallisaden, – Zeichen dafür, daß das alte Kleid ihrem Riesenleibe zu eng wurde.

Ein Emporkömmling ist sie, – gewiß! Aber keiner, den das Glück aufwärts trug. Vielmehr einer, der sich durch die Kraft seiner Fäuste den Weg bahnte.

Wie die Menschen liefen und hasteten! Sie kannten jenes gemächliche Schlendern nicht mit dem Lächeln der Behaglichkeit auf den Lippen und kokettierenden Blicken hin und her. Aller Züge schienen gespannt von nervöser Eile, von sorgender Angst, von lastenden Gedanken.

Klingendes Spiel, feste Schritte im Takt kündeten das Nahen von Soldaten. Der Verkehr stockte. Wo in Preußen die bewaffnete Macht erscheint, gehört ihr die Straße. Und hypnotisiert durch den Marsch, durch die Masse, durch wehende Federbüsche und blinkende Uniformen, drängte jung und alt ihr nach, ihr voran.

Die Alexander-Grenadiere bezogen heute ihre neue Kaserne: in nächster Nähe des Schlosses war sie errichtet worden, eine Zwingburg mit Mauern und Schießscharten; und vom Lustgarten aus führte der Kaiser selbst seine Garde dem neuen Heime zu, während die Polizei in weitem Bogen das gaffende Volk beiseitedrängte, damit der Herrscher allein blieb mit seinen Truppen. »Ihr seid die Leibwache eures Königs,« sagte er, [311] »und wenn diese Stadt noch einmal wie Anno 48 sich wider ihn erheben wird, so seid ihr berufen, die Frechen und Unbotmäßigen mit der Spitze eurer Bajonette zu Paaren zu treiben.«

Fürwahr, wenn ich mich bis jetzt wie in einem Traum befunden hatte, nun wußte ich: wir waren in Berlin.


Wir gingen mittags zu Erdmanns. Sie waren erst kürzlich von einer langen Seereise zurückgekehrt, die der Arzt ihnen verordnet hatte, und schienen, nach den Briefen meiner Schwester zu schließen, befriedigt von ihrem Erfolg. Und nun standen sie mir gegenüber, so anders als ich sie verlassen hatte. Scharf und eckig traten die Backenknochen aus meines Schwagers Gesicht hervor, sein Anzug hing um ihn, als wäre sein Körper nichts als ein Knochengerüst. Nur sein Geist schien lebensvoller als je und sprühte Funken. Das Schwesterchen dagegen war ebenso still, wie sie blaß und schmal war. Wo war das runde Kindergesicht und die glänzenden Augen? Seltsam: auch aus ihren Haaren war der Goldschimmer verschwunden; es lag wie Asche auf ihnen. Die einstmals lauter Wärme ausströmte, hatte eine Atmosphäre abweisender Kühle um sich. Ihre Lippen glichen jetzt denen meiner Mutter: scharf, schmal, blutlos. Ich sah, daß sie sich mir nicht öffnen würden, und forschte in ihren Zügen; aber auch sie blieben verschlossen. Ob sie unglücklich war, weil sie kein Kind hatte? Erdmann spielte stundenlang mit meinem Buben, während sie ihn kaum mit einem Blick streifte. Wir sprachen von der Mutter, die den Winter in Italien verlebt hatte und Briefe schrieb wie ein junges Mädchen, das zum erstenmal in die Welt sieht.

»Sie ist glücklich, seitdem sie allein ist,« sagte Ilse. Ein flehender, gequälter Blick ihres Mannes traf sie.

»Was spielst du jetzt?« fragte ich, zum Flügel deutend, um das Gespräch abzulenken.

[312] »Ich habe die Musik aufgegeben, sie macht mich nervös,« antwortete sie.

»Auch die Oper??«

»Die erst recht! Die offenen Mäuler und gespreizten Arme all der dicken Tenöre und Primadonnen zerstören jeden Rest von Illusion. Man kann sie bestenfalls ertragen, wenn man geschlossenen Auges zuhört. Aber da man immer den übrigen Pöbel um sich hat – –«

Sie unterbrach sich und schürzte ein wenig spöttisch die Lippen: »Ach so, – entschuldige! Ich vergaß, daß ich euer proletarisches Empfinden kränken könnte.

Erdmann lachte. »Nun – nun,« meinte er begütigend, »der Pöbel des Parketts dürfte doch auch in euren Augen mit dem Proletariat nicht identisch sein. Übrigens bin ich mit Ilse einer Meinung: der Zirkus und das Überbrettl sind für unsereins allein noch erträglich. Hohe Kunst auf der Bühne ist verletzend für Menschen von Kultur. Man sollte dafür Marionettentheater schaffen, oder sechsfache Schleier vor die Darsteller hängen, damit sie wie Schatten wirken.«

»Unvergleichliche Wirkungen müßten sich dadurch erzielen lassen,« sagte Ilse, etwas lebhafter werdend, »zum Beispiel mit herrlichen Sachen, wie diesen hier.« Sie wies auf das neuste Heft der Blätter für die Kunst, das dramatische Gedichte von Schülern Stefan Georges enthielt.

»Ich lese sie noch immer nicht,« entgegnete ich lächelnd; »weniger denn je kann ich heute die hochmütige Abkehr vom Leben vertragen, die das Kennzeichen all dieser Menschen ist. Sie berauschen sich am Klang der Sprache und bekommen, wenn es zu handeln gilt, zittrige Hände wie Absinthtrinker.«

Wir gerieten in eine Debatte, die sich immer schärfer zuspitzte. Ilse bekam heiße Wangen und mitten im Gespräch einen heftigen Hustenanfall, der mich angstvoll aufhorchen ließ. Erdmann sah in diesem Augenblick wie verstört drein. Und wie um [313] gewaltsam den Eindruck abzuschütteln, beschloß er, uns durch den Tiergarten zum Hotel zurückzubegleiten.

»Ich bin zu müde –,« sagte Ilse.

Wir begegneten vielen Menschen, die Erdmanns grüßten. Das stimmte ihn fröhlich. »Lauter Leute, die ich einrichte,« sagte er. »Wenn ich erst all den Berlin-W.-Protzen zu anständigem Wohnen verholfen haben werde, kann ich den ganzen Kram an den Nagel hängen und Pinsel und Palette wieder vorholen. Was, mein kleines Ilschen?!« Und zärtlich schob er seinen Arm in den ihren. Aber sie senkte den Kopf nur noch tiefer.


Als die Mutter zurückkehrte, äußerlich und innerlich verwandelt, frisch und strahlend, dabei mit gesteigertem Lebensdurst, der sich auf alles stürzte was sich ihr bot, lag Erdmann fiebernd zu Bett.

»Er wird sich erholen, sobald es warm wird,« sagte sie zuerst, und erzählte voll freudigem Eifer von ihren schweizer Sommerplänen. Ein paar Tage später sah ich sie wieder: gerade, steif, mit zusammengekniffenen Lippen, wie damals als der Vater noch lebte. Die Ärzte hatten sie aufgeklärt. Erdmann hatte die Schwindsucht, Ilse schien angesteckt.

Wir nahmen Abschied von Erdmanns. Sie sollten in ein Heidelberger Sanatorium Die seidene Decke, unter der er lag, bauschte sich kaum sichtbar über dem Körper; die mageren Finger führten eifrig den langen Bleistift über das Papier auf seinem Schoß. »Ich muß doch für Prinzessin Ilse Geld verdienen,« und ein leidenschaftlicher Blick traf die schöne junge Frau, die ihm mit gesenkten Lidern, ruhig und pflichttreu, die Arznei zum Munde führte.

Ich kämpfte mit den Tränen, als ich nach Hause kam. Nicht nur weil meine Schwester in einem Augenblick, wo ich sie unglücklich wußte, mir fremd, fast feindselig gegenüberstand, sondern [314] weil sie das Opfer einer Ehe war, von der ich sie vielleicht hätte zurückhalten können. Ich empfand ihre Kühle wie einen Vorwurf.

»Vor Kinderschmerzen hast du mich einst gehütet,« schienen ihre Augen zu klagen, »warum hast du mich vor dem schlimmsten nicht bewahrt?« Und wenn sie meinen Buben geflissentlich übersah, so wußte ich, was sie damit sagen wollte: »Du hast mich über ihm vergessen.«


Unser Einzug in die neue Wohnung – einem Gartenhaus der Uhlandstraße, – war kein fröhlicher. All die tausenderlei Dinge, die mit ihm zusammenhingen, vom Auslösen der Möbel auf dem Speicher bis zu den Löhnen der Handwerker, hatte unser letztes Geld verschlungen.

»So mach' dir doch nichts draus, – quäle nicht dich und mich mit unnützen Sorgen,« rief Heinrich heftig, als ich ihm unsere Lage auseinandersetzte. Ich schwieg verletzt. Er war wie ein geistig Weitsichtiger, der das Nächste nicht sieht, dem immer nur das Ferne gegenwärtig ist. Der Plan seiner Zeitschrift beherrschte ihn völlig. So mußte ich mir selber helfen. Ich bat den Verleger meines Buches um mein Honorar. Er erfüllte meinen Wunsch ohne weiteres. Heinrich aber wunderte sich nicht einmal, wieso ich plötzlich Geld hatte. Für ihn schienen die pekuniären Seiten des Lebenskampfes nicht zu existieren, mir dagegen nahmen sie alle Schwungkraft und machten mich bis zur Grausamkeit bitter gegen ihn. Bat ihn jemand um ein Almosen oder um ein Darlehen, so gab er, was er in der Tasche hatte. Wagte ich einen leisen Vorwurf, so gruben sich seine Stirnfalten noch tiefer, und es kam immer häufiger vor, daß er mir mit einem: »Sieh lieber, daß deine Berta dich nicht betrügt!« antwortete. Dann erst war die Entzweiung eine vollkommene. Nichts schien mir ungerechter, als dieses Mädchen zu verdächtigen, [315] das sich für uns aufopferte und nicht einmal eine Aufwärterin zu ihrer Hilfe zuließ. Daß sie allmählich in ihrem Aussehen und Benehmen zu einem »Fräulein« geworden war, schien mir im Interesse meines Jungen nur vorteilhaft, während Heinrich es als Folge meiner Verwöhnung ansah und behauptete, ich verdürbe nur das einst so schlichte Bauernmädchen.

Lange freilich währten unsere gegenseitigen Verstimmungen nie. Vor den klaren Augen unseres Kindes, denen nichts entging, schämten wir uns ihrer. Seine Jugend sollte nicht durch den Unfrieden seiner Eltern vergiftet werden, wie die meine.

»Nu lach doch wieder ein ganz kleines bißchen!« Damit kletterte er schmeichelnd auf seines Vaters Knie. »Nich wahr, Mamachen, du gibst dem Heinzpapa gleich einen dicken, runden Kuß!« Damit lief er zu mir und legte das weiche Bäckchen zärtlich an meine Wange.

Waren wir so versöhnt, so fühlten wir den Stachel nicht, der sich trotzdem immer tiefer in unsere Herzen bohrte.


Gleich nach unserer Ankunft hatte ich den Genossinnen meine Rückkehr mitgeteilt. Auch das war der Anlaß zu einer kleinen Auseinandersetzung zwischen uns gewesen.

»Willst du dich wirklich wieder in die unfruchtbare Arbeit stürzen?!« sagte mein Mann ärgerlich.

»Gewiß,« entgegnete ich mit jener Gereiztheit, die mich immer überkam, wenn ich meine persönliche Freiheit durch ihn gefährdet glaubte. »Ich sehe die Frauenbewegung mehr denn je als das Gebiet an, auf dem ich wirken muß.«

»Du wirst in unserer Zeitschrift genug für sie tun können, – mehr als in eurem Kaffeekränzchen!«

Ich zuckte spöttisch die Achseln und meinte gedehnt: »Wenn ich darauf warten soll!« Im selben Moment aber bereute ich schon, ihn an seiner empfindlichsten Stelle verletzt zu haben. [316] Es lag wahrhaftig nicht an ihm, wenn seine Idee noch nicht verwirklicht war.

Unsere Gesinnungsgenossen, mit Einschluß von Bernstein, der sie noch von London aus in Briefen an meinen Mann lebhaft begrüßt hatte, stimmten ihr rückhaltlos zu, aber es fand sich niemand, der auch nur einen Pfennig für sie gegeben oder sich sonst um ihre Ausführung bemüht hätte. Daß auch dies nur ein Symptom für die Uneinigkeit und Unklarheit des Revisionismus war, empfand jeder von uns. Eine Bewegung war vorhanden, aber es fehlte ihr die starke Hand eines Führers, der sie zusammenzufassen und ihr Richtung zu geben vermag. Wir erwarteten für die Sache wie für unseren Plan, der ja nur in ihren Diensten stehen sollte, von dem persönlichen Eingreifen Bernsteins nicht wenig.

An einem Maiabend des Jahres 1901, dessen Luft vom Brodem lebensschwangerer Erde so gesättigt war, daß er selbst mitten in der steinernen Öde der Stadt fühlbar wurde, drängten sich die Menschenmassen in einem engen Saal dicht zusammen; sie trugen in ihren Haaren und Kleidern den Duft des Frühlings mit herein, und der ganze Raum schien erfüllt von seinem Fieber. Es waren keine Arbeiter. Aber die intellektuelle Jugend war es. Besann sie sich endlich auf sich selbst? War sie im Begriff, Ideale aufzurichten, die einer großen Kraft und eines großen Kampfes würdig waren? Die sozialwissenschaftliche Studentenvereinigung Berlins hatte diese Versammlung einberufen und Eduard Bernstein zum Redner gewählt. Ihre berühmtesten Lehrer saßen unter ihnen, dazwischen die politischen Führer jener Linken, – die Barth, die Naumann, die Gerlach, – die, abgestoßen von allen anderen bürgerlichen Parteien, zwischen ihnen und der Sozialdemokratie die unfruchtbare Rolle des Puffers spielte. Sie alle hofften, – bewußt oder unbewußt, – daß dieser Abend irgendeine Quelle erschließen würde, an der sie nicht nur ihren Durst stillen könnten, sondern deren Wasser sich zum Strome weiten und alle ihre irrenden Schiffe zu tragen vermöchten.

[317] »Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?« lautete die Frage, auf die Bernstein die Antwort geben wollte. Er trat an das Rednerpult. Hinter den Brillengläsern sahen seine kurzsichtigen Augen mit einem verlegen-erstaunten Blick auf die Menge der Zuhörer. Dann sprach er. Mit einer Stimme, die brüchig klang. In abgehackten Sätzen. Ein Mann, der an die Enge der Studierstube gewohnt war, nicht an die Volksversammlung. Schon zog der Schatten der Enttäuschung über den hoffnungsfrohen Glanz auf den Gesichtern. Schüchtern und leise tauchte hie und da schon die Frage auf: »Was hat er eigentlich? – Was will er?«

Daß der Sozialismus von spekulativem Idealismus erfüllt und darum nicht Wissenschaft sei, die im voraussetzungslosen Streben nach Erkenntnis bestehe; daß die Arbeiterbewegung vom Wollen eines bestimmten Zieles, vom Glauben an ein bestimmtes Zukunftsbild getragen sei und nicht vom Wissen, – es war kaum möglich, aus der langen Rede etwas anderes herauszuhören, als diese wenigen, für den Ausgangspunkt einer neuen Bewegung viel zu negativen Gedanken.

Zuweilen schien es, als ob der Vortrag nichts wäre als das laut gewordene Grübeln eines Menschen über Dinge, die ihn selbst noch als Probleme quälen. Er war so mit sich beschäftigt, daß er nicht fühlte, wie jener elektrische Strom, der ihn zuerst mit den Zuhörern verband, sich mehr und mehr verflüchtigte, statt daß er ihn benutzt hätte, um die unerschütterten befreienden Gedanken des Sozialismus diesen offenen Seelen einzuprägen, ihnen den Willen zur Tat zu vermitteln, nach dem ihre junge Kraft sich sehnte.

Wir hatten einen Künder neuer Wahrheit erwartet, und ein Zweifler war gekommen, dem des Pontius Pilatus Frage Geist und Gewissen bewegte.

Ein feiner durchdringender Regen rieselte hernieder, als wir den Saal verließen. Mich fröstelte. Ich wäre am liebsten still nach Hause gegangen.

[318] »Nun?! In diesem zweieinhalbstündigen Redefluß sind Ihnen wohl alle Felle weggeschwommen?« sagte eine sarkastische Stimme neben mir. Ich sah in Rombergs lächelndes Gesicht und machte eine abwehrende Bewegung; mir war nicht zum Scherzen zumute. »Und nun rasch, kommen Sie beide mit, in irgendeinen gemütlichen Winkel. Wir haben uns eine Welt zu erzählen;« damit versuchte er, einen Weg durch die Menge zu bahnen. Seine aufrichtige Freude über unser Wiedersehen tat mir in diesem Augenblick, in dem ich so viel verloren zu haben glaubte, doppelt wohl.

»Lassen wir's heute,« meinte mein Mann mißmutig, »wir würden nur Ihre gute Laune verderben.«

»Oder ich Ihre schlechte, da meine die dauerhaftere ist,« lachte Romberg.

Wir gingen zusammen in eins der zunächst gelegenen Restaurants, aber der »gemütliche Winkel«, den wir uns aussuchten, wurde rasch zum Kriegsschauplatz, denn eine ganze Gesellschaft Versammlungsbesucher fand sich allmählich ein, und jeder hatte das Bedürfnis, seinem Herzen Luft zu machen. Es zeigte sich nun erst recht, wie unklar Bernstein gesprochen hatte: je nach der politischen oder philosophischen Richtung, der der einzelne zugehörte, gab er seinen Worten eine andere Deutung.

»Das Todesurteil des Marxismus!« triumphierte der Nationalsoziale.

»Nein,« antwortete scharf einer unserer radikalen Parteigenossen, »ein Todesurteil seiner selbst! Er hat als wissenschaftlicher Sozialist abgedankt.«

Und nun wurden aus seiner Rede einzelne Sätze herausgerissen, die der und jener sich notiert hatte, und betrachtet und zerpflückt. Als eine Rückkehr zum Utopismus wurde bezeichnet, daß er die »Wünschbarkeit einer sozialistischen Gesellschaftsordnung« für den Hebel der Agitation und die werdende Kraft der Partei erklärt hatte.

[319] »Nur alte wundergläubige Weiber lockt man damit hinter dem Ofen hervor,« spottete einer; »auch das himmlische Jerusalem war ›wünschbar‹, und doch haben wir die Fahrt dahin aufgegeben, weil seine Existenz unbeweisbar blieb.«

»Vollends lächerlich,« fügte ein anderer hinzu, »ist die Behauptung, daß die Einsicht in die größere Gerechtigkeit sozialistischer Einrichtungen uns zu Sozialisten gemacht hat. Mag sein, daß Mitleid mit den Armen, Empörung gegen die Ungerechtigkeit manch einen zuerst in unsere Reihen trieb. Aber bloße Empfindungen verflüchtigen sich, wenn die Erkenntnis sie nicht auf realen Boden zwingt. Würde Bernstein wirklich die Frage nach der Wissenschaftlichkeit des Sozialismus verneinen können, so wäre er so viel wert, als das Christentum bisher gewesen ist.«

Romberg hatte zuerst ruhig zugehört.

»Jetzt zerzausen sie den armen Bernstein, weil er ihnen nicht die letzte Wahrheit gab!« sagte er nun, während aller Augen sich auf ihn richteten. »Die Wissenschaft ist doch nichts Fertiges, sondern ein ewiges Suchen! Er sucht, und beweist dadurch, daß er denkt. Wissenschaftlich abgedankt hat nicht er, sondern haben diejenigen seiner Gegner, die jeden Satz im Lehrgebäude des Sozialismus für ein unersetzliches Glied in der Kette der sozialistischen Beweisführung halten. Dieser Dogmatismus könnte die Bewegung töten, nicht aber der Revisionismus, auch wenn er sich noch so täppisch gebärdet.«

»Bernsteins Kritik vernichtet doch aber geradezu grundlegende Ideen des Marxismus?« wandte der Nationalsoziale ein.

»Und wenn schon?!« antwortete Romberg. »Der Bau des marxistischen Systems ist so genial, daß sich Mauern herausbrechen lassen, ohne ihn zu gefährden. Die Tatsache des Klassenkampfes schaffen Sie nicht aus der Welt, sie allein genügt, um die Naturnotwendigkeit des Sozialismus zu beweisen.« Er trank sein Glas leer und erhob sich mit einem hochmütigen Blick [320] auf die verdutzten Gesichter der Tischgenossen. »Unser Schicksal ist unentrinnbar, – damit muß man sich abfinden,« sagte er, »aber wünschbar – weiß Gott! – ist's für unsereinen nicht. Ich bin bloß froh, daß die berühmte ›lutte finale‹ sich erst auf meinem Grabe abspielen wird.«

Wir gingen zusammen.

»Ich danke Ihnen,« sagte ich, als wir draußen waren; der niederdrückende Eindruck der Rede Bernsteins war verwischt.

»Im Grunde habe ich ja auch nur für Sie gesprochen –,« es war der teilnehmende Blick eines Freundes, mit dem er mir bei den Worten in die Augen sah, – »ich bin so gewohnt, Sie stark zu sehen, daß mir Ihr Kummer förmlich weh tat.«

Er begleitete uns bis nach Haus. Mein Mann weihte ihn in unsere Pläne ein.

»Und Sie sind einverstanden? Sie wollen am Ende gar mit tun?« wandte er sich an mich.

»Mit allen Kräften, – gewiß!« antwortete ich. »Was können Sie dagegen haben, nach all den Gedanken, die Sie heute über den Sozialismus entwickelten.«

»Ich mag Sie mir nicht vorstellen, – auf dem Drehschemel vor dem Redaktionspult, – die Schmierereien anderer Leute korrigierend. Sie gehören ins achtzehnte Jahrhundert –«

»Gewiß! An die Seite der Madame Roland –!« unterbrach ich ihn rasch.

Nach und nach erwärmte er sich für unseren Gedanken. »Mit all dem Kleinbürgerlichen, Philiströsen in Ihrer Partei werden Sie gründlich abrechnen müssen,« meinte er im Laufe des Gesprächs, »weite Horizonte geben, die über den Misthaufen des Nachbarn hinausgehen.« Und er verbreitete sich über die Stellung der Partei zur auswärtigen Politik.

»Hier trennen sich unsere Wege, lieber Professor,« sagte mein Mann. »Sie werden kaum erwarten, daß ich als Sozialdemokrat auf diesem Gebiet Ihre Wandlungen mitmache.«

[321] »Wandlungen?! Wieso?!« ereiferte sich Romberg. »Es entspricht der Konsequenz meiner Entwicklung, daß ich für den Kolonialbesitz Deutschlands eintrete und demzufolge für die Flottenvorlage agitiert habe. Traurig genug, daß ihr Sozialisten euch, scheint es, erst belehren lassen werdet, wenn ihr die Macht im Staate habt! Das ist, – verzeihen Sie, liebe Freundin! – der unglückselige feministisch-sentimentale Einschlag in der Sozialdemokratie, der sie für die notwendigen, großen, – wenn Sie wollen – grausamen Forderungen der Kultur blind und taub macht. Der Kampf um die Macht ist die Bedingung unserer Entwicklung. Die Frage, die uns die Weltgeschichte stellt, ist einfach die: soll uns die Erde gehören oder den Negern und den Chinesen? Die Antwort scheint mir nicht zweifelhaft.«

Ich sah empört zu ihm auf: »So sind Sie für das Chinaabenteuer mit all seinem Gefolge von Hunnentum und für die Kolonialkriege mit all ihrer Unmenschlichkeit?! Das heißt doch nicht, Forderungen der Kultur erfüllen, sondern die Kultur preisgeben, die wir haben!«

»Ich bin für die Erschließung Chinas, die für unseren Handel eine Notwendigkeit ist; ich bin für die Kolonialkriege, die den Boden gewinnen für unsere Volksvermehrung, aber daraus folgt doch nicht, daß ich die Greuel des Krieges verteidige. Ich nehme sie nur um der größeren Werte willen in den Kauf, wenn sie unvermeidlich sind ... Wir würden heute noch in Urwäldern wohnen, wenn wir mit den wilden Tieren Mitleid gehabt hätten.«

Eine lebhafte Debatte über die volkswirtschaftliche Bedeutung der Kolonien und der »offenen Tür« Chinas entspann sich zwischen meinem Mann und Romberg. Ich hörte kaum zu; der Gedanke an die Urwälder und die wilden Tiere ließ mich nicht los und spann sich wie von selber weiter. Ich horchte erst auf, als Romberg sagte: »Wenn die Sozialdemokratie sich nicht entschließt, die Sache der Starken zu führen, so wird ihr Sieg eine Niederlage der Menschheit sein.«

[322] Vor unserer Haustür nahmen wir Abschied voneinander.

»Was wird denn aber mit dem Archiv?« wandte sich Romberg noch einmal an Heinrich; »es wäre ein Jammer, wenn es zugrunde ginge!«

Mein Mann zuckte die Achseln. »Wissen Sie einen Käufer dafür?« fragte er statt einer Antwort.

»Einen Käufer? – Vielleicht!« meinte Romberg nachdenklich.

Eine leise Hoffnung stieg in uns auf.


An einem der folgenden Tage kam ich zum erstenmal seit meiner Rückkehr mit den Genossinnen zusammen. Man empfing mich kühl, – fast als bedaure man, mich überhaupt wiederzusehen. Ich unterdrückte den aufsteigenden Ärger. Bald würden sie mir ganz anders begegnen. Lag erst mein Buch in ihren Händen, – das Buch, das eine wissenschaftliche Leistung und ein Bekenntnis war, – so würden sie mich alle freudig willkommen heißen.

In dem Jahr meiner Abwesenheit waren die Fortschritte der Arbeiterinnenbewegung nicht erheblich gewesen. Man hatte versucht, durch Einrichtung von Beschwerde- und Auskunftsstellen einen persönlichen Zusammenhang mit den der Bewegung noch fremd gegenüberstehenden Arbeiterinnen zu schaffen. Ich lächelte unwillkürlich, als ich davon hörte. Vorschläge der Art hatte mein so leidenschaftlich bekämpfter Plan eines Zentralausschusses für Frauenarbeit enthalten.

Für den Arbeiterinnenschutz und gegen die Beschränkung der Fabrikarbeit verheirateter Frauen war auf Grund eines Parteitagsbeschlusses eine größere Agitation entfaltet worden. Die Erfolge waren minimal.

»Es fehlt uns immer noch an packenden Schriften, die wir verbreiten könnten,« meinte eine der Frauen.

»Ist denn Genossin Orbins Broschüre noch nicht erschienen?« fragte ich und begegnete erstaunten Gesichtern.

[323] »Genossin Orbins Broschüre?!« wiederholte Ida Wiemer. »Von der wissen wir nichts!«

»Ich habe doch darauf hin meine eigene Absicht, eine solche zu schreiben, aufgegeben!« rief ich aus, – noch immer wollte ich nicht glauben, woran doch nicht mehr zu zweifeln war: sie hatte mich nur an der Arbeit hindern wollen! Martha Bartels lächelte ironisch. Ich hörte, wie sie ihrer Nachbarin zuflüsterte »Sie will sich nur aufspielen, – uns glauben machen, daß sie auch mal was zu arbeiten die fromme Absicht hatte –,« und ich sah, wie ihre Worte von Mund zu Mund gingen und die Mienen sich klärten.

»Wenn Sie sich mit der Frage beschäftigt haben,« sagte sie dann laut und hochmütig, »so können Sie ja ein paar Referate übernehmen.«

Ich war bereit dazu.

»Vielleicht sprechen Sie auch bei uns?« fragte die Vorsitzende des Arbeiterinnenbildungsvereins; »es müßte freilich ein anderes Thema sein.«

»Gern!« antwortete ich und war entschlossen, die Frage der Haushaltungsgenossenschaft bei der Gelegenheit zur Erörterung zu bringen.

»Frauenarbeit und Hauswirtschaft« nannte ich meinen Vortrag, der schon eine Woche später stattfand. Der niedrige, enge Raum der Arminhallen war überfüllt, als ich eintrat. Eine Anzahl bürgerlicher Frauenrechtlerinnen suchten sich in den Winkeln des Saales zu verbergen. Sie hatten mein Auftreten bei Gelegenheit des internationalen Frauenkongresses nicht vergessen und zeigten nicht gern ihr Interesse für mich.

Ich stellte in großen Zügen die Entwicklung der Frauenarbeit dar, von ihrer ersten Beschränkung auf das Haus bis zu ihrer heutigen Ausdehnung auf alle Berufe, und die parallel laufende Evolution der Hauswirtschaft von jenen Zeiten an, wo innerhalb ihres Kreises alle Bedürfnisse der Familie hergestellt [324] wurden, bis zur Gegenwart, wo nichts von ihr übrig geblieben war als der Herd. Ich schilderte die Lage der erwerbstätigen Familienmütter, die physischen und seelischen Gefahren, denen ihre Kinder ausgesetzt sind, und ich erörterte die Zunahme der Berufsarbeit verheirateter Frauen nicht nur auf dem Gebiet der manuellen, sondern auch auf dem der geistigen Arbeit. »Die unausbleiblichen Folgen dieser Tatsachen liegen auf der Hand: entweder bricht der weibliche Körper unter der doppelten Arbeitslast des Hauses und des Berufs vorzeitig zusammen und der Geist büßt seine Leistungskraft ein, oder die Häuslichkeit wird vernachlässigt, und die junge Generation wird durch Mangel an Pflege und hygienisch einwandfreier Ernährung aufs äußerste geschädigt ... Die Gefahr ist zu groß, zu dringend, als daß wir uns mit dem Appell an die Hilfe des Staates genügen lassen dürften, wir müssen zu gleicher Zeit zur Selbsthilfe greifen.« Und nun entwarf ich meinen Plan. »Hungernde englische Weber waren die Schöpfer der Konsumgenossenschaften, deren Kauffahrteischiffe heute die Meere durchziehen; der Wohnungsnot armer Arbeiter entsprang die Idee der Baugenossenschaften, deren Häuser überall aus der Erde wachsen, – sollte der Jammer der Frauen und der Kinder nicht die Haushaltungsgenossenschaft ins Leben rufen können?«

Ich fühlte die wachsende Erregung, die sich der Zuhörerschaft bemächtigte. Es war das Zentrum der Interessensphäre der meisten, in das ich getroffen hatte. Aber auf den Sturm, der sich erhob, war ich doch nicht gefaßt gewesen. Alle jene Gründe, mit denen die Sozialdemokratie vor Jahrzehnten der Selbsthilfe der Gewerkschaften entgegengetreten war, mit denen sie heute noch vielfach den Genossenschaften entgegentritt, – als Ablenkungen vom Hauptziel, der Verwirklichung des Sozialismus, und vom allein wichtigen Kampf: dem politischen; als Versöhnungen des Proletariats mit dem Gegenwartsstaat, – wurden mir wie ein Hagel von Pfeilen entgegengeschleudert. Es fehlte[325] nicht an scharfen Seitenhieben auf meinen Revisionismus, der sich darin dokumentiere, daß ich innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sozialistische Ideen verwirklichen wolle, wie die alten, überwundenen Utopisten.

Nur wenige unterstützten mich. Die Frauenrechtlerinnen schwiegen.

Bereits am nächsten Morgen ging mein Vortrag durch die Presse, entstellt, verspottet, beschimpft.

»Der Zukunfts-Karnickelstall, wo sich das Familienleben auf das Schlafzimmer beschränkt«, hieß es in der konservativen Presse; von der »Kaserne als Idealzustand« sprach die liberale. Als die Spottlust befriedigt war, kamen die pathetischen Artikel, die angesichts der drohenden Zerstörung der Familie ihre Kassandrastimme erhoben. Und in den »Sprechsälen« und »Frauenecken« zeterten die guten Hausfrauen, deren einziges Zepter der Kochlöffel war. Hatte ich sie schon durch die Dienstbotenbewegung gegen mich aufgebracht, – jetzt standen sie mir als ein Heer gerüsteter Feinde gegenüber. Der Kochherd war wirklich nicht nur der Inhalt, sondern die Grundlage ihres Familienlebens.

»Die Männer werden überhaupt nicht mehr heiraten, wenn sie keine Hausfrau brauchen,« jammerte eine ehrliche Naive.

Ich wartete vergebens auf die Unterstützung der Frauen, die mir ihre Not oft selbst geklagt hatten: der Schriftstellerinnen, Ärztinnen, Künstlerinnen.

»Nur ein Jahr lang sollten unsere männlichen Kollegen Suppe kochen und Strümpfe stopfen,« hatte einmal eine von ihnen ausgerufen, »und wir würden an dem Fehlen großer Leistungen ihre geistige Minderwertigkeit beweisen können!«

In den Blättern der Frauenbewegung fand mein Plan keinen Widerhall. Helma Kurz rief Ach und Wehe über mich, die ich »alle Frauen aus der trauten Häuslichkeit in die Kaserne« treiben wolle. Keine der Führerinnen der Frauenbewegung begriff, daß die Befreiung der erwerbstätigen Frau von der [326] Sklaverei der Küche eine ihrer Programmforderungen sein müßte. Nur eine kleine Gruppe Menschen, die in der Öffentlichkeit unbekannt waren, schloß sich mir allmählich an, und ein paar Baumeister meldeten sich, die den Mut gehabt hätten, ein Haus nach meinem Plan aufzuführen, – mit abgeschlossenen kleinen Wohnungen und Speiseaufzügen aus der Zentralküche. Wir waren überzeugt, nur ein lebendiges Beispiel würde genügt haben, um die Bewegung in Fluß zu bringen. Aber wir waren zu wenige, um das Bestehen des Hauses zu sichern, und mein Name, – der der Sozialdemokratin, – schreckte viele ab. Sie fürchteten den kommunistischen Zukunftsstaat im Kleinen.

Inzwischen kam Wanda Orbin nach Berlin und bat mich, da sie krank sei, »in wichtiger Angelegenheit« um meinen Besuch. Sie reichte mir nur die Fingerspitzen, als ich eintrat.

»Sie haben die Interessen der Partei auf das schwerste verletzt,« begann sie im Ton eines Inquisitors, »und da es nicht das erstemal geschieht, so bin ich verpflichtet, Sie zu warnen.«

Ich griff mir an die Stirn: was war es nur, was ich verbrochen hatte?!

»Ihre Agitation für die Haushaltungsgenossenschaft –« ich lachte ihr ins Gesicht; sollte sie mit so strenger Miene scherzen?! Aber sie runzelte die Stirn, – es war ihr Ernst, blutiger Ernst! – »hat weitere Kreise gezogen, als gut ist. Dergleichen verwirrt die Köpfe, stört die Einheitlichkeit des Vorgehens –«

Ich stand auf. »Möchten Sie mir wohl noch mitteilen, worin meine erste Verletzung der Parteiinteressen bestand?« fragte ich ruhig.

»Sollten Sie Ihren Plan eines Zentralausschusses für Frauenarbeit schon vergessen haben?« rief sie aus.

»Und durch ihn habe ich die Partei geschädigt?! – Sie sind ja jetzt schon im Begriff, teilweise auszuführen, was ich wollte-!«

Wanda Orbins Augen funkelten mich zornig an: »Wenn Sie die Unterschiede nicht verstehen, so beweist das nur wieder [327] Ihren Mangel an proletarischem Bewußtsein –;« dabei kreischte ihre Stimme wie auf der Rednertribüne.

»Mag sein!« entgegnete ich scharf. »Mir fehlt das Demagogentalent, um mich als Proletarierin aufzuspielen.« Damit wandte ich mich zum Gehen, auf das tiefste verwundet.

Mein Vortrag erschien im Verlag des »Vorwärts« als Broschüre. Wanda Orbin »vernichtete« ihn in vier Leitartikeln, und ihre Autorität war viel zu gewichtig, als daß sich innerhalb der Partei irgendeine Stimme für ihn erhoben hätte. Wie die Schnecke, wenn ihre Fühlhörner unsanft berührt werden, sich in ihr Haus zurückzieht, so hatte ich das Bedürfnis, mich zu verkriechen.

»Laß deine Ideen erst Wurzel fassen, Liebste,« tröstete mich mein Mann; »sind sie lebenskräftig, so fällt dir die Frucht von selbst in den Schoß.«

Ich lächelte wehmütig über den Irrtum, in dem er sich befand. Was mich schmerzte, war nicht das momentane Scheitern eines Planes, sondern daß ich Wanda Orbin so klein gesehen hatte, die mir, auch mit ihren Fehlern, so groß erschienen war. Und daß sie die anderen beherrschte, zum Teil mit Mitteln, gegen die ich mich waffenlos fühlte!

Nun galt es, statt alle Kräfte auf den Kampf für die gemeinsame Sache zu konzentrieren, sich für den eklen Streit im eigenen Lager stets gewappnet zu halten.

Wenn ich mich abseits stellen, einer jener Eigenbrötler werden könnte, mit Scheuklappen vor den Augen, immer nur ein Teilchen des allgemeinen Zieles verfolgend?! Daß ich unfähig dafür war, bewies mir die Erfahrung mit meinem eigenen Plan. Hätte ich das Talent und die Zähigkeit des Organisators gehabt, ich würde ihn in jahrelanger steter Arbeit, unbekümmert um die Spötter, haben durchsetzen können. Und nun stand ich da und sah erschrocken auf meine Hände, die so leer geworden waren und so kraftlos.


[328] Die Sonne brannte auf dem Asphalt, braun und verdorrt hingen die Blätter an den armen Bäumen, zu ihren steingepanzerten Wurzeln drang keine Luft und kein Tau. Grauer Staub deckte die Büsche wie mit Trauerschleiern. Wer draußen im Wald den Sommer suchen ging, den empfingen die Kiefern schwarz und ernst und die blumenlosen Felder. O, daß ich empor auf einen Berg steigen könnte zu reiner Luft und klaren Quellen! Heimweh packte mich, – Heimweh nach den schmalen Pfaden zwischen duftenden, buntblühenden Wiesen, nach dem stillen See im Buchenwald, wo zwischen Moos und Gestein Märchenblumen ihre Kelche öffnen. Heimweh nach der großen Einsamkeit!

Ob nicht der Geist der Frauen verkümmert und ihr Gemüt verdorrt, weil sie nicht einsam sein dürfen?

»Geh, – erhole dich, – ruh' dich aus, und wenn es nur ein paar Tage sind, – es wird dir gut tun,« sagte mein Mann, dem meine Schlaflosigkeit, meine Blässe auffiel; »ich und die Berta hüten den Jungen.«

Es bedurfte keiner Überredungskünste, meine Sehnsucht, allein zu sein, ganz allein, war zu groß. Ich fuhr nach dem Harz. Aber schon unterwegs packte mich die Unruhe: was konnte dem Kleinen inzwischen nicht alles geschehen! Tausend Fragen und Sorgen schreckten mich am Tage, ängstliche Träume verfolgten mich bei Nacht. Und die Berge hier, die mir fremd waren, blieben mir stumm, und die rauschenden Quellen sprachen eine fremde Sprache.

Da erreichte mich ein Brief meiner Mutter aus Heidelberg. »Erdmann ist aufgegeben,« hieß es darin, »und Ilse hat Lungenentzündung, deren Ausgang unabsehbar ist. Sie spricht oft von Dir ...«

Am selben Abend schrieb ich an meinen Mann: »Liebster! Ich halte es nicht aus ohne Dich, ohne Otto. Aber ehe ich zurückkehre, muß ich Ilse wiedersehen. Nach den Andeutungen meiner [329] Mutter ist alles zu fürchten. Du hast mich ausgelacht, als ich Dir einmal sagte, daß ich mich ihr gegenüber schuldig fühlte. Es kommt ja aber auch nicht darauf an, ob eine Schuld im Sinne landläufiger Moral besteht, sondern darauf, ob ich sie empfinde. Ich muß das gut machen, – damit ich mich nicht quäle, wenn das arme Kind sterben sollte, und damit sie mir wieder vertraut, wenn sie lebt und meiner bedarf ...«

Ich reiste am selben Abend noch ab. Meine Mutter empfing mich am Bahnhof.

»Es geht zu Ende,« sagte sie auf meinen fragenden Blick. »Und Ilse?« »Sie fiebert noch immer! Meine Ahnung betrog mich nicht. Diese unglückliche Ehe!«

Die letzten drei Worte stieß sie zwischen den Zähnen hervor. Es war kein zärtliches Mitleid, das sie empfand, sondern Empörung gegen das Geschick.

»Das ist lieb, daß du kommst, gute Schwester,« rief mir Ilse entgegen, als ich an ihr Bett trat. Seit langem hörte ich wieder den alten warmen Ton in ihrer Stimme, und ihr Gesichtchen hob sich rund und rosig von den weißen Kissen ab, als wäre es wieder das des süßen kleinen Mädchens von einst. Wußte sie nicht, daß ein paar Türen weiter ihr Mann im Sterben lag? Der Arzt trat ins Zimmer mit den Tropfen und dem Fieberthermometer. Ich sah, wie ihre Augen jeder seiner Bewegungen folgten, wie sie ihn anlächelte, voll dankbaren Vertrauens. Und in der Sorgfalt, mit der er ihr die Kissen rückte und den Vorhang am Fenster weit zurückschlug, damit die Sonnenstrahlen ihre Haare umspielen konnten, lag tiefere Empfindung, als die des Arztes. Blühte dem armen Kinde eine Herbstrose auf dem Totenacker?

»Du gehst zu ihm?« fragte sie und lehnte sich mit geschlossenen Augen müde zurück.

»Ja,« antwortete ich leise. Das Lächeln aus ihrem Antlitz verschwand, die Lippen preßten sich zusammen.

[330] In Decken gehüllt, am weit offenen Fenster lag er. Die weißen Wände des Zimmers, die Betten, das weiße Geschirr, von blinkendem Metall unterbrochen, die weiße Schürze der Pflegerin strahlten über sein eingefallenes gelbes Gesicht eine grausame Helle aus. Er war so geistvoll, so lebendig wie je; das hätte täuschen können, wenn mein Auge nicht eben auf die Morphiumspritze in der Hand der Diakonissin gefallen wäre.

»Sieh nur, wie wunderschön das ist!« sagte er und sein Blick umfaßte in leidenschaftlicher Liebe das bunte Herbstlaub der Bäume draußen. Er hatte den Schoß voll kleiner Skizzen und ließ den Pinsel nur aus der Hand, wenn die Schwäche ihn übermannte.

»Hast du Ilse gesehen?« fragte er schließlich.

Ich nickte.

»Sie ist noch viel, viel schöner als die Berge und der Wald,« flüsterte er sehnsüchtig.

Am nächsten Tage verließ ich Heidelberg wieder. Eine bleierne Müdigkeit bemächtigte sich meiner. Ich hätte immerfort schlafen mögen. Dabei fand ich lauter dringende Briefe vor: der Verleger wünschte eine raschere Erledigung der Korrekturen, der Verein für Haushaltungsgenossenschaften lud mich zur nächsten Sitzung, ein paar Parteigenossen erinnerten an die ihnen bereits zugesagten Vorträge.

Eine mir selbst Fremde stand ich auf der Rednertribüne. Jene Glut der Leidenschaft, die allein fähig ist, den Eisenmantel zu schmelzen, den Kummer und Not um die Herzen der Ärmsten schmiedeten, jene Klarheit der Überzeugung, die allein das Dunkel des Vorurteils und der Unwissenheit zu durchleuchten vermag, fehlten mir und ließen sich nicht erzwingen.

»Ich bin unfähig, zu sprechen, – erlassen Sie es mir diesmal,« bat ich einen der Genossen; »die Menschen kehren heim, ohne einen Gran Kraft und Klugheit gewonnen zu haben.«

Aber er bestand auf seinem Schein: »Ihr Name zieht, und wir brauchen einen vollen Saal.«

[331] Eines Abends sollte ich bei den Textilarbeitern referieren. Als ich kam, war der Saal leer, und der Wirt erzählte mir, daß die Versammlung schon vor zwei Tagen stattgefunden und man mich vergebens erwartet habe. Ich zog die Einladungskarte aus der Tasche: nur das Datum war angegeben, nicht der Tag, und dieses stimmte. Der Vertrauensmann der Gewerkschaft, zu dem ich ging, mußte mir bestätigen, daß der Irrtum nicht auf meiner Seite lag. Wenige Tage später hörte ich, eine der Genossinnen habe behauptet, ich hätte das Datum gefälscht, um mich der Aufgabe zu entziehen, und habe hinzugefügt, sowas sei bei mir schon öfter vorgekommen. Auf das äußerste empört, verlangte ich eine Untersuchung der Angelegenheit. Ein Schiedsgericht trat zusammen. In endlosen Sitzungen wurden Zeugen vernommen, die Einladungskarte geprüft, verglichen. Ich ballte die Fäuste unter dem Tisch vor Erregung und konnte mich doch dem Eindruck nicht entziehen, den die ruhige Gründlichkeit all dieser Arbeiter auf mich machte. An Ernst und Objektivität, an Takt und Würde standen sie turmhoch über ihren weiblichen Klassengenossen, mit denen ich bisher zusammengekommen war. Eine formelle Ehrenerklärung, die mir schriftlich zuging, war das Resultat der Verhandlungen. Aber die Empfindung, besudelt zu sein, wurde ich lange Zeit nicht los.

Ich vertiefte mich in die Korrekturen meiner »Frauenfrage«. Und die Genugtuung über meine Arbeit wirkte wie ein stärkendes und reinigendes Bad.

Mitten in der Arbeit an den letzten Druckbogen besuchte mich die weibliche Vertrauensperson meines Wahlkreises. Für eine große Volksversammlung, die in den allernächsten Tagen stattfinden und sich mit den von der Regierung angekündigten Zollerhöhungen beschäftigen sollte, hatte man mir den Vortrag zugedacht. Ich lehnte ab. Meine Broschüre wurde immer dringender.

»Sie müssen kommen,« erklärte sie schließlich.

»Ich muß?! Warum?!« fragte ich verwundert.

[332] »Wir haben Ihren Namen schon auf die Plakate gedruckt!«

»Das ist Ihre Schuld, – nicht die meine,« entgegnete ich; »selbst wenn ich Zeit hätte, mich binnen zwei Tagen auf ein schwieriges Thema, wie den drohenden Zolltarif, vorzubereiten, würde ich bei meiner Ablehnung bleiben und Sie die Folgen eines so unverantwortlichen Vorgehens tragen lassen.«

Sie warf mir noch einen rachsüchtigen Blick zu und ging.


Mein Buch erschien. Die Aufnahme, die ihm zuteil wurde, entschädigte mich für viele Schmerzen und gab mir das Vertrauen in die eigene Kraft zurück.

»Sie haben mehr geleistet, als ich erwartet hatte, und das will viel sagen,« schrieb mir Romberg. »Ihr Werk ist eine wissenschaftliche Leistung, dem keine Kritik und keine Zeit den Charakter eines standard work nehmen wird, und – was für mich seinen größten Wert ausmacht – der Ausdruck einer starken Persönlichkeit. Die objektive Wissenschaft ist zweifellos etwas sehr Großes, aber der Mensch bleibt immer das Allergrößte ...«

Nur zwei Zuschriften rissen meine Arbeit herunter; die Monatsblätter von Helma Kurz und – die »Freiheit« von Wanda Orbin.

»Alix Brandts Buch ist jeder Mütterlichkeit und jeder Wissenschaftlichkeit bar,« hieß es in dem einen Blatt: »die Genossin Brandt hätte in der Kleinarbeit der Agitation erst lernen und sich bewähren müssen, ehe sie etwas für die Arbeiterinnenbewegung wirklich Nützliches hätte schaffen können,« lautete das Endurteil in dem anderen.

Ich lachte zuerst und dachte daran, wie ich von einer meiner bürgerlichen Gegnerinnen einmal pathetisch als ein »Tribünenweib« bezeichnet worden war, »deren Lenden nie ein Kind getragen haben«, und eine Genossin mir als schwere Unterlassungssünde die Tatsache vorgehalten hatte, daß ich eine wichtige Parteipflicht – die, Flugblätter auszutragen – noch nicht erfüllt hätte.

[333] Aber dann verging mir das Lachen. Mein ganzes Ich lag in dem Buch, all mein Wissen, mein Glauben, mein Hoffen. »Meinem Mann und meinem Sohn« stand als Widmung vor dem Titel. Das war keine bloße Form, es war ein Bekenntnis: ich hätte es nicht schreiben können ohne das Doppelerlebnis der Liebe und der Mutterschaft, das aus dem Kinde erst den Menschen macht, das Schleier von den Augen reißt und eiserne Klammern von den Herzen. Es sind Männer gewesen, die die Madonna zur Mutter Gottes erhoben, denn nur der lebendig befruchtete Schoß vermag Lebendiges zu gebären. Und arme Irre waren es, die die Jungfrauschaft mit dem Heiligenschein krönten. Denn die Voranleuchtenden sind nur, die des Lebens Tiefen erschöpften.

An die Mütterlichkeit hatte ich appelliert mit jedem Satz, den ich niederschrieb. Aus einem primitiven Empfinden, das über die Wiege des eigenen Kindes kaum hinausging, sollte sie zu weltumspannender Kraft sich entfalten. All die Tausende und Abertausende Hilfloser und Entrechteter hatte ich aufgeboten, daß sie die Mütter suchen sollten. Einst pochte ihr Murmelgebet: »Heilige Maria, bitte für uns!« umsonst an das Tor des Himmels, – sollte ihre stumme Not auf der Erde keine Antwort finden?

Waffen hatte ich geschmiedet für die Proletarierinnen, Waffen, – ich wußte es, – die unzerbrechlich waren. Ich erwartete keinen Dank dafür, denn daß ich sie schaffen konnte, war Dank genug. Nur nehmen, nur gebrauchen sollten sie meine Klingen und Pfeile.

»Warte die Zeit ab,« sagte mein Mann. Aber ich fieberte nach Tat, nach Wirken, – ich konnte nicht warten.


Dem Arbeiterinnen-Bildungsverein und einzelnen der führenden Genossinnen hatte ich mein Buch zur Verfügung gestellt. Eines Morgens bekam ich einen Brief von Martha Bartels. Schon freute ich mich, – ich werde sie wiedergewonnen [334] haben, dachte ich, und erinnerte mich, wie sie mir, der Fremden, einst entgegengekommen war, als ich noch Alix von Glyzcinski hieß.

Ich ließ ihren Brief in den Schoß fallen, als ich seine wenigen Zeilen durchflogen hatte, und lehnte mich mit einem Gefühl von Schwindel in den Stuhl zurück.

»Nachdem Ihre Unzuverlässigkeit in der Ausführung übernommener Parteipflichten wieder offenbar wurde,« schrieb sie, »haben die Genossinnen einstimmig beschlossen, Sie zu unseren Sitzungen nicht mehr einzuladen.«

Ein formeller Ausschluß also, – ohne Gründe anzugeben, – ohne mich zu hören! Und das in einer Partei, die die Ideale der Demokratie vertritt! Ich verlangte, mir zu gewähren, was die Gesetzgeber des kapitalistischen Staates den Mördern und Dieben zugestehen: mich vor meinen Richtern verteidigen zu können. Man antwortete mir nicht. Ich erfuhr schließlich, daß jene Genossin, die mich vergebens zu einem Vortrag hatte pressen wollen, die Sache so dargestellt hatte, als ob ich mein gegebenes Wort gebrochen hätte. Und ich hörte weiter, daß meine »Fälschung« jener Einladungskarte zum Referat bei den Textilarbeitern noch immer in aller Munde sei. Ich sandte die Ehrenerklärung der Gewerkschaft ein, ich zwang die Lügnerin, ihre Behauptung zu widerrufen. Es nützte nichts.

»Wir erkennen an, daß in diesen beiden Fällen ein Irrtum vorlag,« schrieb Martha Bartels, »aber es stehen noch so viele andere fest, wo Sie sich als unzuverlässig erwiesen haben, daß die Genossinnen an ihrem einstimmigen Beschluß, Ihre Mitarbeit abzulehnen, festhalten.«

Ich ging zum Parteivorstand, um die Einsetzung eines Schiedsgerichts zu fordern. »Liebe Genossin,« sagte Auer, mir gutmütig die breite Hand auf die Schulter legend, »tun Sie das nicht! Lehren Sie mich unsere Weiber kennen! Jedes Schiedsgericht wird Ihnen recht geben, – natürlich! Aber, glauben [335] Sie, daß damit geholfen ist?! Schon am nächsten Tag werden die Klatschmäuler, denen Sie nun einmal ein Dorn im Auge sind, neue, noch schlimmere Sünden über Sie zu verbreiten wissen, und das modernisierte Gerichtsverfahren der heiligen Feme wird alle demokratischen Schiedssprüche umstoßen. Überlassen Sie der Wanda die Weiber! Für Ihren Tätigkeitsdrang ist in der Partei noch Raum genug.«

Ich fügte mich seiner Ansicht. Ob aus Einsicht, aus Müdigkeit, aus Ekel? Ich weiß es nicht mehr. Auers Hand umspannte die meine schmerzhaft fest.

»Wollen Sie von mir alten Kerl noch einen Rat auf den Weg nehmen?« fragte er. »Wer auf hoher Warte steht, dem sollten die leid tun, die sich von unten im Schweiße ihres Angesichts abmühen, mit Steinen zu werfen. Er sollte immer über sie hinwegsehen. Dann hören sie von selber auf und besinnen sich, daß ein Weg da ist, auf dem auch sie aufwärtssteigen könnten ... Wer die Distanz nicht wahren kann, ist kein Politiker.«

»Die Distanz, – das bedeutet Fernsein, Kühle,« antwortete ich mit einem leisen Seufzer, »– ich liebe die Menschen; ich möchte von ihnen geliebt sein.«

»Sie lieben die Menschen, – diese Menschen?! Sie scherzen!« Er reckte sich zu seiner ganzen Größe. »Wir würden sie erhalten, wenn wir sie lieben würden. Aber wir wollen sie überwinden – mit dem gewaltigen Erziehungsmittel einer neuen Gesellschaftsordnung –, also hassen wir sie.«

Ich schüttelte den Kopf. War das eine hohe Warte? Würde ich sie je erreichen, – erreichen wollen?!

[336]
12. Kapitel
Zwölftes Kapitel

Probleme werden nicht durch Resolutionen aus der Welt geschafft. Auch der beste Wille der Streitenden, – und es gab Augenblicke, wo selbst Eduard Bernstein die Schwäche dieses »guten Willens« hatte und Hervorragende unter seinen Anhängern den »Revisionismus« als eine neue Richtung innerhalb der Partei abschworen, – vermag das Streitobjekt nicht zu beseitigen. Einmal ausgesprochene Gedanken lösen sich gleichsam von dem, der sie dachte, ab und haben ein selbständiges Leben.

Die Beschlüsse des Parteitags von Hannover hatten nichts zur Folge als einen Waffenstillstand. Bernsteins Rede im sozialwissenschaftlichen Studentenverein eröffnete den Kampf von neuem. In Artikeln, Reden und Broschüren wurde er mit steigender Erbitterung geführt. Und die aufreizenden Zurufe der Zuschauer, die vom nächsten Tage die Spaltung der Sozialdemokratie erwarteten und erhofften, erhitzten die Kämpfenden noch mehr. Die wachsende Leidenschaft tötete jede Objektivität. Keiner gestand dem anderen die Ehrlichkeit der Gesinnung zu. Hinter jeder Äußerung eines Revisionisten entdeckte der orthodoxe Marxist Parteiverrat, in jeder Verteidigung des radikalen Standpunktes sah der Revisionist dogmatische Verbohrtheit und bewußtes Demagogentum. Er überhörte geflissentlich die Lehren der Psychologie und der Geschichte, aus denen er hätte folgern können, daß die Verteidigung der Tradition, der grundlegenden Dogmen des Sozialismus notwendig zu demselben Haß, derselben Verfolgung der Angreifer führen muß, wie einst die des Heidentums gegen die Christen, der römischen Kirche gegen die Reformation.

[337] Aber ein noch merkwürdigeres Zeichen dafür, wie wenig bloße Erkenntnisse des Verstandes die ursprüngliche, nur auf die Einflüsse des Gefühls reagierende Natur des Menschen zu ändern vermögen, war die Haltung der Radikalen. Sie verleugneten in ihrem Zorn eine der Grundlagen ihrer eigenen Anschauung: die materialistische Geschichtsauffassung. Es war die befreiendste Lehre, die Marx hinterließ, zu der sich allmählich, bewußt oder unbewußt, auch Nichtsozialisten bekannten: daß, da »alles fließt«, auch die Theorien sich entwickeln müssen, entsprechend den Wandlungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. In diesem Sinne war der Revisionismus marxistisch und der Radikalismus reaktionär.

Die ernsten Kämpfe zwischen den beiden Richtungen spielten sich zwischen den geistigen Führern ab, von denen die eine die Masse der Arbeiterschaft hinter sich hatten, die anderen noch Offiziere waren ohne Armee. In dem harten Schädel der Proletarier saß jeder Buchstabe des sozialistischen Apostolikums noch fest; wurde der Kampf daher in die Volksversammlungen getragen, so äußerte er sich in wüstem Geschimpfe gegen die Neuerer, die dem Armen das Beste zu erschüttern drohten, was ihnen der Sozialismus gegeben hatte: ihren Glauben. Es kam aber noch ein anderes hinzu: der Respekt vor der Wissenschaft, zu dem der Sozialismus sie verpflichtete, ging Hand in Hand mit einem glühenden Verlangen nach Wissen. Bildungsschulen, wissenschaftliche Vorträge und Kurse kamen diesem Verlangen entgegen und pfropften auf den lebensschwachen Baum der Volksschule ein Reis, unter dessen Früchten Dilettantismus und Bildungsdünkel am besten gediehen. Wozu ernste Denker Jahrzehnte brauchen, das glaubte der Proletarier in ein paar Abendstunden erreichen zu können. Daß er es glaubte, war nicht seine Schuld: die Naivität seiner Jugend unterstützte die Partei, die ihm in Wort und Schrift nichts mehr einprägte als die Überzeugung von der Dummheit seiner Gegner. [338] Als Gegner aber erschienen ihm auch die Revisionisten. Zu seinem gefühlsmäßigen Haß gegen die Unruhstifter trat die hochmütige Verachtung der Akademiker hinzu.


Einmal –, ich war gerade von einer Agitationsreise zurückgekehrt, – beklagte ich mich darüber, als Reinhard gerade bei uns war.

»Ich habe Sie sonst für so verständig gehalten,« sagte er; »daß Sie nun auch so nervös, so empfindlich geworden sind! – Ich kann Ihnen versichern, mir selbst kommt der Krakehl zum Halse heraus! Er macht unsere Leute kopfscheu; von jedem Gegner wird er uns aufs Butterbrot geschmiert. Außerdem haben wir doch jetzt, ein Jahr vor den Reichstagswahlen und angesichts der Zolltarif-Vorlage Besseres zu tun, als uns über die Verelendungstheorie die Köpfe blutig zu schlagen.«

»Sind wir etwa daran schuld?!« fuhr Heinrich auf. »Oder nicht viel mehr die Großinquisitoren der ›Neuen Zeit‹, die seit Jahr und Tag ihre Spürhunde auf uns hetzen?! Die jungen Leuten, die noch nichts geleistet haben, als ihnen nachzubeten, gestatten, gegen alte verdiente Genossen, – einen Jaurès, einen Auer, einen Vollmar, – wie gegen Schwachköpfe oder Verräter vom Leder zu ziehen?!«

»Die Propheten aus dem Osten nicht zu vergessen, die desgleichen tun –,« unterbrach ihn Reinhard mit einem sarkastischen Lächeln.

»Die gehören in dieselbe Kategorie, nur daß ihre, – na, sagen wir parlamentarisch: Unbescheidenheit noch größer ist. Vom Kothurn ihrer Unentwegtheit herab führen sie das große Wort, und ihr Ziel ist offensichtlich der Bannfluch, d.h. der Ausschluß aller derer aus der Partei, die eine selbständige Meinung haben.«

»Wenn man Sie so schimpfen hört, lieber Brandt, könnte man die Schicksalsfügung segnen, die Sie bisher verhinderte, [339] Ihre Zeitschrift ins Leben zu rufen,« sagte Reinhard. »Wenn Sie all Ihre Wut noch in Druckerschwärze verwandeln würden!!«

»Sie irren sehr, wenn Sie glauben, ich werde mein Blatt zum Kampfplatz für Theoretiker machen,« entgegnete Heinrich ruhig. »Mir würde es in erster Linie darauf ankommen, praktische Politik zu treiben. Daß das auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens notwendig ist, daß es endlich an der Zeit wird, den ruhenden Koloß der Partei in Bewegung zu setzen und Tagesarbeit verrichten zu lassen, – das scheint mir das wichtigste Ergebnis der gegenwärtigen Bewegung.«

Reinhard stand auf, stampfte ärgerlich mit der Krücke auf den Boden und sagte: »Als ob das alles eine blitzblanke neue Erfindung wäre! Was war es denn, was wir lange vor Bernstein in den Parlamenten, in den Kommunen, in den Gewerkschaften und Genossenschaften getrieben haben?! Der ganze Unterschied zwischen den Revisionisten und den Radikalen ist, daß die einen in der Arbeiterschutzgesetzgebung, in der Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung, in der allmählichen Demokratisierung des Staats nichts als Erziehungsmittel für das Proletariat erblicken, und die anderen Sozialisierungen der Gesellschaft, Voraussetzungen des Sozialismus. Dem Arbeiter aber ist's wirklich einerlei, wie die Dinge heißen, die er bekommt, wenn er sie nur überhaupt kriegen kann. Und darum –« er ging erregt im Zimmer auf und nieder – »begreife ich die ganzen Skandale nicht und fühle es meinen Genossen nach, wenn sie euch Akademiker mißtrauisch betrachten. Wir sind ja auf dem besten Wege, – was werft ihr Steine in unseren Teich?! Sehen Sie sich zum Beispiel mal die Tagesordnung unseres Stuttgarter Gewerkschaftskongresses an! Sie waren ja dabei, als man sich wütend an die Gurgeln fuhr, weil der eine die sozialpolitische Tätigkeit der Gewerkschaften forderte, der andere sie für schädlich hielt. Und ich selbst, – Sie besinnen sich! – war der radikalsten einer. An meiner eigenen Entwicklung mögen Sie die Entwicklung [340] der ganzen Bewegung messen. In aller Stille ist viel Wasser die Spree hinuntergelaufen, und jetzt sind wir mitten drin in der Sozialpolitik. Oder betrachten Sie unsere Haltung in der inneren Politik: denken Sie an die Budgetbewilligung der Badener im vorigen Jahr, – Bebel hat sie freilich hinterher heruntergeputzt, – oder an die Zustimmung unserer bayrischen Landtagsfraktion zur Wahlreform, – Bebel wird sie natürlich darum auch noch unter die Lupe des Prinzips nehmen –. Und vor allem! erinnern Sie sich, wie selbst die ärgsten Berliner Revolutionäre mit dem dreifachen R jetzt stramm und einig zur Landtagswahl aufmarschieren. Von dem Augenblick an, wo der Parlamentarismus den Charakter des Kräutchens Rührmichnichtan für uns verloren hatte, sind wir folgerichtig weitergegangen.«

Ich hatte ihm mit wachsendem Interesse zugehört. »Und was wollen Sie mit alledem beweisen?« fragte ich.

»Daß der ganze Stank und Zank überflüssig ist, sowohl vom Standpunkt eurer Angst um Versumpfung und Verknöcherung der Partei, wie vom Standpunkt all der radikalen Kassandras männlichen und weiblichen Geschlechts, die um unser sozialistisches Seelenheil zittern. Wahrhaftig: wenn wir mit der Bourgeoisie paktieren, so doch nur, um für uns das Schäfchen ins Trockne zu bringen!«

»Ich folgere aus Ihren Beweisführungen etwas ganz anderes,« rief ich aus. »Da die Praxis wieder einmal der Theorie vorausgeeilt ist, so muß die Theorie sich ihr anpassen, sonst kommt der Moment, wo das Band zwischen beiden zerreißt. Die Lehre von der planmäßigen Demokratisierung und Sozialisierung der kapitalistischen Gesellschaft muß an Stelle des Dogmas von der alleinseligmachenden Revolution treten –«

»Aber das ist doch genau dasselbe!« polterte Reinhard. »Selbst der dümmste Radikale denkt doch nicht im Schlaf daran, daß er die Hände nur in den Schoß zu legen und auf die gebratene [341] Taube der politischen Macht zu warten braucht, die ihm ins Maul fliegen wird! Jeder Rekrut in unserer Armee sieht alle Tage, wie sie sich jede Handbreit politischer Macht schrittweise erobern muß. Ebenso wächst ihr Einfluß nur nach und nach, und das berühmte Endziel kann nichts anderes sein als die letzte Krönung des Gebäudes.«

Mein Mann lächelte: »Ich sage ja: Sie sind Revisionist.«

»Zum Donnerwetter, nein! Ich bin Sozialdemokrat!« – Reinhards Augen glänzten – »und ihr seid Rabulisten.«

Beim Abschied nahm sein Gesicht wieder den alten, gutmütig-freundlichen Ausdruck an.

»Nichts für ungut, Genossen!« brummte er mit einem leichten Anflug von Verlegenheit; dann reichte er meinem Mann die Hand. »Sie können auf mich rechnen. Wenn Ihr Blatt praktische Politik treiben wird, – in bewußtem Gegensatz zu unseren Zeitschriften von rechts und links, die sich um des Kaisers Bart raufen, – so wird es befreiend wirken und seines Erfolges bei unseren Genossen sicher sein.«

Als er gegangen war, reichte mir mein Mann einen Brief von Romberg.

»... Ihre Pläne sind mir immer wieder durch den Kopf gegangen,« schrieb er, »und der Gedanke, das ›Archiv‹ selbst zu erwerben, ließ mich nicht los. Trotzdem bin ich zu dem Entschluß gelangt, meine persönlichen Wünsche nicht nur zu unterdrücken, sondern Ihnen überdies den dringenden Rat zu geben, die Verkaufsidee überhaupt fallen zu lassen. Sie wissen selbst, daß das neue Unternehmen, dem Sie Ihren Brotgeber, das Archiv, opfern wollen, in bezug auf seinen materiellen Erfolg ein ganz unsicheres ist. Stünden Sie allein, so könnten Sie meinetwegen den Husarenritt unternehmen, aber Sie haben Familie, – verübeln Sie es meiner aufrichtigen Freundschaft nicht, wenn mich die Sorge um sie in diesem Zusammenhang von ihr sprechen läßt. Ich weiß: Frau Alix zieht in diesem Augenblick zürnend [342] die Brauen zusammen; sie ist ja noch fanatischer, noch leichtsinniger als Sie. Seien Sie darum doppelt klug für beide, und erhalten Sie sich das Archiv. Es kann einmal die Rolle der Planke spielen, die Sie vor dem Ertrinken rettet ...«

Ich warf den Brief heftig auf den Tisch. »Daß Romberg solch bourgeoise Anschauungen hat!« rief ich aus. »Als ob wir beide nicht im Notfall schwimmen könnten!« Heinrich zog mich zärtlich in die Arme.

»Daß du so denkst, weiß ich,« sagte er, »trotzdem werde ich handeln wie ein Bourgeois!« Ich wollte auffahren. »So höre doch erst zu, ehe du schimpfst!« meinte er lächelnd. »Besinnst du dich auf Lindner, den jungen Dichter, den wir auf dem Pariser Kongreß getroffen haben?« Ich nickte. »Er tauchte vor kurzem hier auf und besuchte mich, während du weg warst; ein sympathischer Mensch, dessen Schüchternheit alle seine guten Absichten im Keime erstickt. Er möchte in der Partei wirken; aber auf der einen Seite fürchtet er als Akademiker das Mißtrauen der Genossen, auf der anderen Seite stößt ihn die Pöbelgesinnung zurück, die ihm vielfach schon begegnete. Er schüttete mir sein Herz aus; dabei erfuhr ich, daß er der einzige Sohn reicher Leute ist. Ich sprach ihm von unserem Plan, er war sofort Feuer und Flamme dafür.«

»Und gibt die Mittel?!« unterbrach ich Heinrich erregt.

»Wenn die Eltern, von denen er noch abhängig ist, sie ihm bewilligen ...«

Endlich dem Ziele nah, war der einzige Gedanke, der mich beherrschte; winzig erschienen ihm gegenüber die noch vorhandenen Hindernisse.

Einige Tage später kam Lindner zu uns: ein lang aufgeschossener blonder Mensch, mit kurzsichtig zwinkernden blaßblauen Äuglein und schlaffen, feuchten Händen. Er gefiel mir nicht. Aber ich unterdrückte rasch diese erste instinktmäßige Empfindung.

[343] »Ich möchte den Arbeitern die Kunst nahebringen,« sagte er im Verlauf unseres schwerfällig sich hinschleppenden Gesprächs.

»Die Freien Volksbühnen erfüllen, wie mir scheint, Ihren Wunsch. Sie haben Tausende von Mitgliedern aus Arbeiterkreisen und leisten Vorzügliches,« antwortete ich.

»So meinte ich es nicht, nein –,« und die Stimme unseres Gastes, die noch den Timbre der Knabenstimme hatte, obwohl er längst über die Entwicklungsjahre hinaus war, wurde lebhafter; »ich dachte, es müßte möglich sein, das Künstlertum im Proletariat zu erwecken, eine neue Kunst – die Kunst der Zukunft – entstehen zu lassen. Ich würde das als meine Aufgabe ansehen.«

Ich musterte ihn genauer: er war gar nicht dumm, er hatte sogar einen originellen Zug.

»Ich glaube nicht recht daran,« sagte ich dann langsam. »Daß die Talente sich durchsetzen, gehört zu den Fabeln der Menschheit. Der harte Kampf ums Dasein erstickt die meisten ihrer Keime. Und die davon doch zur Blüte gelangen, verkümmern schließlich im Dilettantismus. Vielleicht würden die von Ihnen erhofften Talente statt freier Künstler Hörige des Proletariats, wie die Talente, auf die wir vor zehn Jahren hofften, Hörige des Kapitalismus geworden sind ...«

Mein Junge kam herein und erfüllte das Zimmer im Augenblick mit seiner strahlenden Frische. Wie eine Pflanze, die im Dunkel gestanden hat mit blassen saftlosen Trieben, wirkte Lindner jetzt auf mich. Er tat mir leid, und ich wurde darum weicher. Er erzählte von seinen Eltern. Sie hatten große Hoffnungen auf ihn gesetzt, und daß er sie immer wieder enttäuschte, machte ihn selbst mutlos. Aber jetzt, – jetzt würde er um seine Überzeugung, um seine Zukunft mit ihnen kämpfen!

Er gewann Vertrauen zu mir. Und wenn er meine instinktive Abneigung immer wieder hervorrief, so überwand das Mitleid mit dieser armen Greisenseele eines Jünglings sie eben so oft. [344] Seine Besuche waren oft recht unbequem. Wie die meisten Menschen, für die die Arbeit nur eine Nebenbeschäftigung ist, hatte er keinen Respekt vor der Zeit. Er fühlte nicht, daß er störte, und wenn man es ihm andeutete, so war er gekränkt. Nur wenn er mit Ottochen spielen konnte, merkte er nicht, daß ich ihn hatte loswerden wollen. Er liebte die kleinen Kinder und ließ sich von meinem fünfjährigen Wildfang mit einer Gutmütigkeit tyrannisieren, die rührend war. Oft hörte ich durch die Türe die hellen Kommandotöne meines Jungen.

Mein Bub'! Daß ich nur heimlich, wie aus dem Hinterhalt, sein Geplauder belauschen durfte! Daß ich mir die Stunden für ihn stehlen mußte! Ich war abermals einem falschen feministischen Lehrsatz auf der Spur. Nicht der Säugling bedarf der Mutter am meisten. All die vielen, mechanischen Dienste, die der kleine Körper fordert, versteht eine geschulte Pflegerin besser als sie. Erst der erwachende Geist braucht die Augen der Mutter, die jede seiner Regungen sieht, und ihre Sorgfalt, die allein weiß, welche seiner vielen Triebe beschnitten, welche genützt, welche der Sonne und dem Wetter ausgesetzt werden können. Und Millionen Frauen dürfen es nicht! Nie erschien mir unsere Gesellschaftsordnung widersinniger: sie zwingt den Staat, Gefängnisse zu bauen für die Verbrecher und Fürsorgeerziehungsanstalten für die verwahrloste Jugend, der sie die Mütter genommen hat.

Sollten wir wirklich darauf warten müssen, bis sich in hundert und aberhundert Jahren der Prozeß der Sozialisierung der Gesellschaft abgespielt hat? War unsere wirtschaftliche und technische Entwicklung nicht heute schon so weit vorgeschritten, um durch eine sozialistische Organisation in Verbindung mit der allgemeinen Arbeitspflicht, die Herabsetzung der Arbeitszeit auf das geringste Tagesmaß zu ermöglichen und den Kindern nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater zurückzugeben? In dem leidenschaftlichen Zorn, der mich gegen die Hüter der bestehenden [345] Ordnung erfüllte, konnte ich nicht anders, als sie für Heuchler oder für Dummköpfe zu erklären. Die Frauen galt es, wider sie zu empören! Mutterliebe ist das stärkste Gefühl in der Welt, stärker als die Leidenschaft der Geschlechter, stärker als der Hunger. Einmal von den Fesseln befreit, in die die Tradition sie zwängte, muß sie zum Motor werden, der die Gesellschaft aus den Angeln hebt.

Ich wandte mich in meinen Reden immer mehr an die Frauen. Ich peitschte ihre Empfindung auf; ich erklärte sie für die Schuldigen, wenn ihre Kinder hungerten an Leib und Geist, wenn sie verkamen, wenn die Maschine ihre Jugend zerfraß, wenn sie im Zuchthaus endeten. Der Zolltarif mit seiner Verteuerung aller Lebensmittel, der zu gleicher Zeit die Reichstagsdebatten beherrschte, die Fleischteuerung, die eine Folge der Schließung der Grenzen war, – kurz, die ganze agrarische Reichspolitik, in die die Regierung eingeschwenkt war, boten mir die Handhabe, um an die nächsten Interessen der Frauen anzuknüpfen, an jene Frage, die je nach der Bedeutung, die sie für die Glieder des Volkes hat, ein Gradmesser der Menschheitskultur sein kann: wie sättige ich meine Kinder?

Von einer meiner Versammlungen war ich fast stimmlos zurückgekehrt.

»Sie dürfen weder in Rauch noch in Staub sprechen,« sagte der Arzt wie schon einmal vor Jahren.

Ich lachte ihm ins Gesicht, ließ mir den Hals ein paarmal einpinseln und fuhr nach Schlesien. Mit äußerster Anstrengung gelang es mir, noch zwei Reden zu halten. Dann versagte die Stimme ganz.

Jetzt erklärte der Arzt, daß ich sobald als möglich fort müsse: »In gute reine Luft, am besten ins Gebirge.« Ich schüttelte den Kopf. Wie konnte ich an eine Sommerreise denken?!

»Die Gesundheit geht allem anderen voraus,« sagte mein Mann, »heute noch kannst du packen und morgen in den Alpen sein.«

[346] Die Frage, ob solch eine Reise möglich wäre, schien ihn keinen Augenblick zu beunruhigen.

»Ich kann den Kleinen nicht wochenlang allein lassen –,« wandte ich ein.

»Natürlich: Ottochen nimmst du mit,« antwortete Heinrich ohne Besinnen, »auch diesem Stadtpflänzchen wird das Landleben gut tun.«


Um jene Zeit war mein Schwager Erdmann gestorben. Meine Mutter kam mit Ilse nach Berlin zurück. Ich erschrak, als ich sie sah. Jetzt erst war sie wirklich alt geworden, unauslöschlich hatten sich die Falten der Verbitterung um ihre Mundwinkel eingegraben. Zwischen ihre fest aufeinandergepreßten Lippen kam kein Laut der Klage. Aber wenn Ilse neben ihr stand in all ihrer strahlenden Jugend, mit den Augen, die sehnsüchtig die Sonne suchten nach all dem monatelangen Leid, dann fühlte ich die ganze Qual dieses Zusammenlebens.

Sie kamen häufig allein zu mir, und ich mußte immer wieder zwischen ihnen vermitteln. Endlich faßte ich den Mut der Mutter ehrlich meine Meinung zu sagen:

»Warum läßt du sie nicht frei? – Viele in ihrem Alter stehen allein in der Welt. Wozu quälst du dich selbst und sie?«

Die Mutter wurde hochrot im Gesicht. »Da sieht man, wohin eure religionslose Moral euch führt!« rief sie. »Nicht genug, daß du im Lande umherziehst und die Frauen gegen Kirche und Staat aufhetzst, wie mir mein Bruder erzählt, du respektierst nicht einmal mehr die selbstverständlichsten Gebote der Mutter-und der Kindespflicht.«

»Nein,« antwortete ich erregt. »Eine Pflicht, die kein Gebot des Herzens ist, eine Pflicht, die sich wie ein antiker Schicksalsspruch durchsetzen will, auch wenn die Menschen dabei zugrunde gehen, erkenne ich nie und nimmer an! – Was Onkel Walter erzählt, sollte dir übrigens nichts Neues sein: du weißt, daß ich [347] Sozialdemokratin bin. Daß meine Agitation ihm jetzt, wo sie sich gegen seine speziellen agrarischen Interessen richtet, besonders antipathisch ist, scheint mir auch nur selbstverständlich.«

»Und ich hatte gehofft, daß die Mutter in dir dich allmählich von diesen Abwegen zurückführen würde –«

»Die Mutter in mir treibt mich vorwärts!« unterbrach ich sie.

»Lehrt sie dich auch jede Familienrücksicht über Bord werfen? Nicht daran denken, wie du alle kompromittierst, die unseren Namen tragen? Wie mein Bruder sich sogar gezwungen sieht, ein Mandat für den nächsten Reichstag nicht mehr anzunehmen?!« Ihr Zorn fing an, mich zu entwaffnen.

»Liebe Mutter, das alles wollen wir, denke ich, nicht wieder aufrühren,« sagte ich ruhig. »Die Verwandten haben sich längst in aller Form von mir losgesagt, und wenn es für mich Familienrücksicht gibt, so ist es allein die auf mein Kind.«

»Gerade an diesem Kind wirst du für all das Unglück, das du über uns gebracht hast, büßen müssen!« rief die Mutter mit funkelnden Augen.

Ich war von dem drohenden Ton ihrer Stimme betroffen. »Was meinst du damit?!« frug ich.

»Solltest du für Otto etwa nicht auf Klothildens Erbe hoffen?« entgegnete sie. »Hat sie dich seit deiner Heirat jemals eingeladen?!«

»Ich stehe dauernd in brieflichem Verkehr mit ihr. Sie hat mir erst kürzlich über meine ›Frauenfrage‹ Worte wärmster Anerkennung geschrieben. Und daß sie mich nicht bei sich sehen kann, begreife ich vollkommen. Ich würde ihre Freunde vertreiben, an denen sie hängt,« antwortete ich ausweichend.

»Nun, so laß dir von mir gesagt sein, daß die Berichte über deine agitatorische Tätigkeit sie aufs äußerste empörten. Jenny Kleve kam eben aus Augsburg zurück –«

Ich biß mir heftig auf die Unterlippe. »Jenny Kleve! Allerdings eine gute Quelle! Und eine geeignete Vertreterin meiner [348] Interessen!« spottete ich. »Bist du es nicht gewesen, die alles daran setzte, um zwischen ihr und ihren Geschwistern und Tante Klothilde nähere Beziehungen herzustellen?! Dein eigener Bruder warnte dich damals, dir ein Kuckucksei ins Nest zu legen!«

»Ich habe nur meine Pflicht getan,« erklärte die Mutter.


Tante Klothildens Erbschaft! Der Gedanke bohrte sich mir in Hirn und Herz. Mit einer Sicherheit, die nie auch nur den geringsten Zweifel aufkommen ließ, hatte ich stets auf sie gerechnet. Ich wußte: ihrem geliebten ältesten Bruder, meinem Vater, hatte sie versprochen, für mich sorgen zu wollen; er hatte mir noch kurz vor seinem Tode den Inhalt ihres Testamentes vorgelesen, und hinzugefügt: »Daß ich Deine und Deines Jungen Zukunft gesichert weiß, wird mir das Sterben erleichtern. Habe ich doch selbst gar nicht für Euch sorgen können!« Über manche schwere Stunde hatte die Erinnerung daran mir hinweggeholfen: Mag kommen, was will, mein Kind wird einmal nicht darben! Sollte sie ihr Wort brechen können?! Ein kalter Schauer erschütterte meinen Körper. Ich wußte, wie es tat, an die jämmerliche Notdurft des Lebens ständig denken zu müssen. Wie viele junge Menschen hatte ich aus der Flut des Lebens auftauchen sehen, von einem starken Talent emporgetragen, und nach ein paar Jahren hatte das Bleigewicht der Not sie niedergezwungen!

Mein Sohn sollte sich frei entwickeln können. Ich mußte mich selbst überzeugen, ob die Warnung meiner Mutter berechtigt war.

Mein Mann war böse, als ich davon sprach. »Du wirst dich doch nicht mit den Kleves auf eine Stufe stellen?!« rief er aus. »Unser Junge hat es nicht nötig, daß seine Mutter sich erniedrigt. Er wird stark genug sein, sich selbst durchzukämpfen.«

Ich war so erregt, daß all die verschwiegenen Qualen hervorstürzten wie ein entfesselter Wildbach: »Du freilich wirst nichts [349] davon merken, wenn er sich grämt, gerade so, wie du nicht merkst, nicht merken willst, wie mich die Sorgen niederdrücken. Du schiltst, wenn ich nach deiner Ansicht nicht genau genug auf jeden Wurstzipfel achte, der in die Küche kommt, aber du fragst nicht danach, woher ich das Geld nehme, wenn du keins mehr hast und wir leben wollen!«

Und ich erzählte ihm, wie ich im vorigen Jahr den Verleger um Vorschuß hatte bitten müssen, wie ich mein bißchen Schmuck heimlich aufs Versatzamt getragen hatte. Er wurde ganz blaß, und sein Gesicht nahm jenen harten, kalten Ausdruck an, vor dem ich mich immer fürchtete. Tagelang gingen wir stumm nebeneinander her, während das gezwungene Zusammensein uns stets aufs neue reizte.

»Die Ehe ist doch eine gräßliche Einrichtung,« sagte Heinrich schließlich und reichte mir in versöhnlicher Stimmung die Hand.

Ich nickte eifrig und meinte lächelnd: »Wie stark muß die Liebe sein, um sie auszuhalten!

»Die besten Freunde müssen einander unerträglich werden, wenn sie Tag und Nacht in denselben Käfig gesperrt sind,« ergänzte er.

»Ich glaube, es ist Zeit, daß wir für ein paar Wochen in Freiheit gesetzt werden,« wagte ich zögernd auszusprechen; – ich erwartete jeden Tag die Antwort von Tante Klothilde auf meinen Brief, in dem ich sie gefragt hatte, ob es ihr recht wäre, wenn ich mit dem Kleinen nach Grainau käme. Ich würde mir eine eigene Wohnung nehmen, – natürlich, – und sie nur besuchen, wenn sie uns sehen wollte. Mein Mann runzelte zwar noch die Stirn, aber er meinte dann doch lachend: »Mach, daß du wegkommst, damit ich die Gattin loswerde und die Geliebte wiederfinde.«

Die Antwort kam, – eine kühle, glatte Ablehnung. »Die Welt ist groß,« schrieb sie, »Du brauchst Deine Sommerferien nicht gerade in Grainau zu verleben, wo die Situation für dich,[350] – ganz abgesehen von der meinen, auf die Du ja keine Rücksicht zu nehmen scheinst –, eine wenig gemütliche wäre. Die Bauern würden Dir fremd, wenn nicht feindlich gegenüberstehen. Seit der Dienstbotenbewegung, die Du mit soviel Lärm in Szene setztest, hast Du ihre Sympathie verloren. Deine ständigen Angriffe auf unseren allverehrten Kaiser« – hier hörte ich die Stimme der Kleves, die nur in der Potsdamer Hofluft zu atmen vermochten – »haben den vielleicht noch vorhandenen Rest vollends zerstört ... Ich bin eine alte, kranke Frau und brauche innere und äußere Ruhe. Im übrigen wird meine Liebe zu Dir durch die räumliche Entfernung eher erhalten, als beeinträchtigt werden ...«

Was nun? Gab es nichts mehr, das mir den Weg zu ihr bahnen könnte? »Gehen Sie ins Gebirge,« hatte der Arzt gesagt. Wenn ich nun doch reisen würde, – mit dem Kleinen, – irgend wohin nicht allzu weit von Grainau, wo der glückliche Zufall eine Begegnung ermöglichen könnte! Ich war überzeugt: sah sie mein Kind, ihr ganzes Herz würde gewonnen werden!


In Grainaus Nähe, dicht unterm Berg, fand ich bei einem Bauern ein Giebelzimmerchen und die große, bunte Wiese, die ich meinem Liebling versprochen hatte. Den ganzen Tag spielte er dort mit dem kleinen Sohn des Hauses, dem Hansei, und seine weiße Stadthaut bräunte sich, und seine Muskeln wurden straff. Ich saß indessen auf der Altane und schrieb alle möglichen Artikel und freute mich, wenn das Honorar immer wieder eine Woche längeren Aufenthalt möglich machte. Von fernher glänzte und lockte die Zugspitze bis zu mir herüber. Ich sah sie bei Nacht im Mondschein, wenn die Sterne am dunkeln Himmel sich bewundernd um sie scharten. Ich sah sie bei Tage, wenn die Sonne sie inbrünstig küßte und ihr doch nichts zu rauben vermochte von ihrer jungfräulichen Reinheit. Ihr zu Füßen war das Stückchen [351] Erde, das ich liebte, wie keins in der Welt. Wo ich mein Jugendglück fand und – begrub. Ich verstand, daß es Menschen gibt, die vor Heimweh krank werden.

Auf unseren Spaziergängen suchte ich immer die Wege, auf denen ich dem weißen Berge näher kam, und erzählte dem aufhorchenden Kleinen von ihm als der verzauberten Prinzessin und ihrem grauen finsteren Wächter, dem Waxenstein. Dabei wurden mir wohl auch die Augen feucht. »Sei nicht traurig, Mamachen,« tröstete mich mein Kind. »Ein großer Held wird kommen und die Prinzessin befreien!«

Einmal, als wir wieder zu dem stillen See aufwärts gingen, plauderte er lustig von den Kühen und den Blumen. Dann wurde er plötzlich still, ein grübelnder Zug trat in sein rundes Kindergesichtchen, und seine Wangen färbten sich dunkler.

»Der Hansei will Kutscher auf'n Stellwagen werden,« begann er unvermittelt; »ist das nicht dumm?!«

Ich nickte zerstreut. Er schwieg wieder.

Als wir uns aber im Walde lagerten, zog er meinen Kopf dicht an den seinen und flüsterte aufgeregt: »Ich muß dir ein großes Geheimnis sagen, – dir ganz allein. Ich will ein Held werden und alle schlechten Leute totschlagen!«

Ich streichelte seinen Lockenkopf. »Das ist nicht leicht, mein Kind,« sagte ich ernst.

»Oh, ich weiß! Aber was man will, das kann man auch!« rief er mit einem hellen Jauchzen in der Stimme. Ich zog ihn zärtlich an mich. Hatte ich es nötig, um ihn zu bangen? Brauchte ich zu fürchten, daß seine Zukunft von der Gunst der harten Frau dort drüben abhängig werden könnte? Ich vergaß allmählich, weshalb ich hierher gekommen war. Ich sah nicht mehr erwartungsvoll die weiße Straße hinauf, wo ich vor Zeiten so oft mit der Tante gefahren war.

Es fiel von meiner Seele wie lauter dunkle Schleier. Die Sonne und die freie Bergluft berührten sie wieder. Zuweilen [352] kam ich mir selbst wie verzaubert vor: als sei all mein Träumen, mein Hoffen und Sehnen aus mir herausgetreten und lebendig geworden in der Gestalt dieses Kindes.

An den Wiesenwegen standen überall Kruzifixe, Wahrzeichen jener Verneinung des Lebens, die uns gelehrt hat, Armut und Unglück nicht als unsre ärgsten Feinde, sondern als gottgewollt anzusehen.

»Ich kann einen angenagelten Gott nicht anbeten«, sagte mein Sohn.

Unser Aufenthalt ging zu Ende. Ich mußte zum Parteitag nach München. Aber ich konnte nicht fort, ohne drüben gewesen zu sein, wo auf dem Hügel die kleine weiße Kirche steht und der grüne Badersee im Walde träumt, mit dem Bilde der Zugspitze im Herzen. Wir fuhren nach Garmisch und wanderten über die Wiesen, an den braunen Heuschobern vorbei, dorthin, wo sich in leisen Wellenlinien das Tal erhebt, Hügel an Hügel von alten Baumriesen bekrönt und blühenden Büschen. Glänzend wie ein Silberstreifen schlängelt sich der Weg durch die Gründe, – braune und rote Dächer tauchen auf, – schon plätschert der Bergbach, der ganz, ganz oben in den Furchen und Spalten dem Felsen entspringt und vom Schnee sich nährt und vom Eis: Das war Grainau –. »Und nun, Bubi, paß auf: nun kommen die blauen und goldgelben Häuser mit den lustigen Heiligenbildern daran und den vielen, vielen Nelken auf den Altanen.«

»Wo denn Mamachen?!«

Ich sah mit großen Augen um mich. Wo waren sie nur? Die Erinnerung malte mir wohl ihr Bild, aber die Zeit hatte ihre Farben verlöscht, und überall standen neue Häuser mit kalkweißen Wänden, – ohne den heiligen Florian in den Nischen, – blumenlos. Wie verschüchterte Bauernkinder vor den Städtern verkrochen sich die alten scheu in den Winkeln. Ich beschleunigte meine Schritte. Der Wald war derselbe geblieben, und zwischen den Buchenstämmen leuchtete schon der See. Dort wollt' ich [353] stille Andacht halten! – Mein Fuß stockte: ein großes Hotel erhob sich an seinem Ufer. In seine kristallklare Flut hatte man eine Nixe aus Bronze versenkt; auf den Kähnen drängten sich die Menschen um sie und starrten hinunter. Aber den Badersee sahen sie nicht. Der lag ganz still und sah zum Himmel empor in großer, großer Einsamkeit. Und hinter dunkeln Wolken versteckten sich die Berge, als schämten sie sich der Welt unter ihnen.

Ich kämpfte mit den Tränen. Meine Jugend hatte ich gesucht, – war ich nicht statt dessen plötzlich uralt geworden? Ich mochte nichts mehr sehen, auch das Rosenhaus nicht. Aber mein Junge gab nicht nach.

Lange lagen wir auf dem Moose im Wald, den kleinen Rosensee uns zu Füßen, am jenseitigen Ufer das traute grünumrankte Haus. Hier hatte sich nichts verändert. Und all die Bilder von Glück und Leid, die dieser Rahmen einst umschloß, zogen an mir vorüber. Die Jahre zwischen damals und heut wären mir wie ein Traum erschienen, wenn nicht das Kind neben mir mich an die lebendige Gegenwart erinnert hätte. Ich stand auf und reckte den Körper. Der Abschied von diesem Haus, diesem See, diesem Wald war der erste Schritt in das neue Leben gewesen. Ich bereute ihn nicht. Dankbar sah ich noch einmal hinüber. Trotz alledem: dieser Erdenwinkel blieb mein.

Eine weißhaarige Frau, die den schweren Körper nur mühsam am Stock vorwärts bewegte, trat aus der Tür in den Garten. Uns entgegen auf dem schmalen Steg kam hastig ein hellgekleidetes Mädchen. Dicht vor mir blieb sie sekundenlang mit weit aufgerissenen Augen stehen. Es war Jenny Kleve. Dann sah ich noch, wie sie hinüberlief, mit erregten Gesten auf die alte Frau einsprach, und wie diese dem herbeigerufenen Diener eine Weisung erteilte. Ich lachte auf: jetzt hat sie Befehl gegeben, mich nicht vorzulassen, dachte ich; – Jenny Kleve, auf diesen Triumph freust du dich umsonst!


[354] In München erwartete uns Berta, mit der der Kleine nach Berlin zurückreisen sollte.

Hätte ich nur mit ihnen heimreisen können! All der Staub der Stadt, der meine Lungen erfüllt, der grau und schwer die Glut meines Herzens fast erstickt hatte, war vom Bergwind weggeweht worden. Mein Kind, – mein Geliebter, – waren sie nicht der Inhalt meines Lebens? Mein Geliebter, – nicht mein Gatte, an dessen Seite nichts mich zwang als ein Stück Papier. »Die geläuterte Moral der Zukunft wird die Roheit unserer Gesittung nicht verstehen,« schrieb ich an Heinrich, »die die Beziehungen der Geschlechter, wie die zwischen Unternehmer und Arbeiter, zwischen Herrn und Diener, mittelst eines formulierten Vertrages regeln wollte, die die Frau nötigte, als Symbol des Auslöschens ihrer Persönlichkeit, den eigenen Namen mit dem des Mannes zu vertauschen. Liebe sollte immer ein Geheimnis sein, eins, um das nur die Allernächsten wissen. Die Ehe schreit es in alle Welt hinaus und erzählt zynisch jedem Gassenbuben: sieh, dieses Weib gehört jenem Mann! ... Ich sehne mich nach Dir. Mit tieferer, heißerer Sehnsucht, als da die Liebe mir nur ein Traum war. Ich möchte untertauchen bis auf den Grund ihres Ozeans, denn mir ist, ich wäre bisher nur auf der Oberfläche gefahren, und in der Tiefe warteten Schätze auf mich von unermeßbarem Wert. Aber wenn ich an unsere laute Straße denke, an die engen Zimmer, in die unsere große Liebe sich sperren ließ, um Magddienste zu tun, – dann sinkt meine Sehnsucht in sich zurück wie ein Springbrunnen, der eben in Milliarden Wassertropfen der Sonne entgegenflog und nun, da der Gärtner den Hahn abdreht, plötzlich verschwindet ...« –

»Du hast recht,« antwortete er, »tausendmal recht! Aber glauben kann ich Dir erst, wenn Du Deine Empfindung nicht nur aussprichst, sondern ihr folgst ... Komm, und wir wollen in irgendeinem stillen Winkel, wo uns niemand kennt, Hochzeit feiern, wie einst ... Der Parteitag braucht Dich nicht. Dieser [355] Augenblick jedoch ist vielleicht der einzige, der in uns beiden die Erinnerung an die Ehe auslöscht ...«

Aber ich ging nicht. Ich war unfrei. Nie hätte ich es mir eingestanden, und doch war es so: ich stand, wie die Mutter, noch unter dem kalten Gesetz der Pflicht. Ich durfte die Aufgabe nicht im Stiche lassen um meiner Wünsche willen! Am wenigsten jetzt, wo ihre Erfüllung mir widerstrebte.


Wie schön hatte ich es mir einst gedacht, wenn zu den Kongressen der Partei die Gesinnungsgenossen von Ost und West, von Nord und Süd zusammenkommen würden, ungleich nach Beruf und Alter und Geschlecht, und doch ein einiges Heer, von derselben Kraft durchdrungen, von demselben Willen beseelt, neue Kreuzfahrer, die auszogen, der Menschheit heiliges Land zu suchen. Und jetzt?

Schon im Hotel, wo die meisten Delegierten untergekommen waren, musterte man sich mißtrauisch, begrüßte sich kühl. Und Gruppen bildeten sich, die berieten, ob und wie man die Ansichten der anderen Gruppen überstimmen könne.

Dem Parteitag ging eine Frauenkonferenz voraus. Als ich in den Kreis der fünfundzwanzig Genossinnen trat, fühlte ich die abweisende Kälte, die mir entgegenströmte. Nur Ida Wiemer schüttelte mir herzhaft die Hand. »Was sagen Sie nur zu dieser Tagesordnung?!« flüsterte sie erregt.

Ich lachte spöttisch: »Sie wollen offenbar in anderthalb Tagen die ganze Frauenfrage lösen. Arbeiterinnenschutz, Kinderschutz, gesetzliche Regelung der Heimarbeit, politische Gleichberechtigung –, ein imponierendes Programm! Es ist ja aber auch eine hübsche Zahl von Jasagern beisammen. Die schlucken die Resolutionen unbesehen.«

»Aber Krach gibt's auch,« antwortete Frau Wiemer. »Ihnen müßten die Ohren geklungen haben, so giftig ist die Bartels auf Sie.«

[356] »Auf mich?! Ich habe ja gar nichts getan!« meinte ich verwundert.

»Aber die Düsseldorfer Genossinnen haben einen Antrag auf Anstellung einer Parteisekretärin eingebracht. Man meint, Sie müßten dahinterstecken –«

Darum also die bösen Gesichter!

»Und dann: daß Sie als Einzige von uns morgen im Kindlkeller sprechen!«

Darum also die gekränkten Mienen!

Die arme Düsseldorferin wußte offenbar nicht, in was für ein Wespennest sie mit ihrem Antrag gestochen hatte, und konnte die Erregung, die er hervorrief, nicht begreifen. Ich kam ihr zu Hilfe und goß nur Öl ins Feuer. Alles fiel über uns her. Martha Bartels sah in dem Antrag ein Mißtrauensvotum gegen ihre Tätigkeit als Zentralvertrauensperson und spielte die persönlich Gekränkte, Luise Zehringer gab der offenbar allgemeinen Meinung, wonach ich mir auf diese hinterlistige Weise eine fette Pfründe schaffen wollte, drastischen Ausdruck, indem sie mit einem wütenden Blick auf mich erklärte:

»Die Genossinnen, die nur ab und zu von sich hören lassen, sonst aber praktisch gar nicht arbeiten, können wir für solche Stelle nicht brauchen. Die haben unser Vertrauen nicht.«

Dabei begann sie krampfhaft zu schluchzen und kreischte, wie ich es von ihr noch nie gehört hatte. Aller Klang und alle Weichheit waren aus ihrer Stimme verschwunden. Ob das das unausbleibliche Schicksal aller Agitatorinnen war?!

Die Bartels sekundierte ihr: »Uns können nur Frauen nützen, die Fleisch von unserem Fleisch sind ... Keine akademisch gebildeten Damen, die nur mal, um sich zu zeigen, ab und zu in einer großen Versammlung einen Vortrag halten –.« Ich stand dicht vor ihr und sah ihr gerade ins Gesicht. »Solche Paradepferde können wir nicht brauchen,« schrie sie.

[357]

Mein Nachbar, ein belgischer Genosse, schüttelte verwundert den Kopf: »Es scheint, die ganze Konferenz richtet sich gegen Sie. Was haben Sie nur getan?!« fragte er.

»Ist's nicht Verbrechen genug, daß ich überhaupt da bin?!« antwortete ich bitter.

Als im weiteren Verlauf der Debatte die Frage des Arbeiterinnenschutzes besprochen wurde, nahm ich die Gelegenheit wahr, abermals die Forderungen einer umfassenden Mutterschaftsversicherung zu verteidigen. Ein paar Beifallsrufe wurden laut, die meisten der Frauen jedoch, ihr Leben lang gewohnt, sich unterjochen zu lassen, waren durch die Anwesenheit so anerkannter Parteiautoritäten, wie Wanda Orbin und Martha Bartels, viel zu verschüchtert, als daß sie ihnen hätten opponieren können. Kaum hatte ich geendet, als Wanda Orbin sich zum Worte meldete.

Sie sprach mit einer Leidenschaft, als gelte es, die höchsten Prinzipien des Sozialismus zu verteidigen, und mit einer Stimme, als hätte sie eine Riesenvolksversammlung vor sich: »Der Gedanke, welcher der Mutterschaftsversicherung zugrunde liegt,« sagte sie, »ist der Gedanke der menschlichen Solidarität in seiner weitesten Form. Die Verwirklichung dieses Prinzips aber steht in so schreiendem Gegensatz zu dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, daß wir sie auf ihrem Boden nicht erreichen werden ... Sie kann erst zur Verwirklichung gelangen, wenn das Recht des lebenden Menschen über den toten Besitz zur Geltung gebracht sein wird, – in einer sozialistischen Gesellschaft ...« Ihre Stimme überschlug sich, Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Von allen Seiten klatschte man enthusiastisch.

»Bisher hat es nur als ein Kennzeichen der bürgerlichen Frauenbewegung gegolten, aus Opportunitätsgründen möglichst wenig zu fordern, um überhaupt etwas zu erreichen,« antwortete ich in ruhigem Gesprächston. »Wir verlangen im Gegenteil [358] Alles, und nehmen nur als Abschlagszahlung, was davon stückweise errungen wird. Haben wir etwa jemals aufgehört, für den Achtstundentag zu agitieren, weil der Gegenwartsstaat ihn nicht gewähren wird? Mit noch größerem Recht können wir von ihm die Mutterschaftsversicherung fordern, denn ein gut Teil ihrer Ziele muß er im eigensten Interesse verwirklichen. Er braucht gesunde Mütter, arbeitsstarke Männer, kriegstüchtige Rekruten.«

Wanda Orbin erhob sich noch einmal. »Die Forderung der Mutterschaftsversicherung ist durchaus nicht so radikal sozialistisch, wie Frau Brandt meint ...,« rief sie. Ringsum klatschte man wieder. Weder sie noch ihre Zuhörerinnen hatten bemerkt, daß sie, um mir zu widersprechen, sich innerhalb weniger Minuten selbst widersprochen hatte.

Als ich ins Hotel zurückkam, müde und verärgert, trat mir überraschend mein Mann entgegen. Ich errötete dunkel. Er küßte mir nur die Hand.

»Ich wußte, daß du Kämpfe haben wirst,« sagte er, »und daß ein Freund dir fehlen könnte.« Mit tiefer Dankbarkeit sah ich ihm in die Augen.

Der Geist, der in der Frauenkonferenz umgegangen war, herrschte auf dem Parteitag.

»Wir brauchen die Akademiker nicht!« war die Parole, unter der er stand. »Wenigstens die nicht, die sich erlauben, eine andere Meinung zu haben als wir.«

Ein Antrag besonders war von symptomatischer Bedeutung; er verlangte nichts weniger, als daß die Mitglieder der Partei verpflichtet werden sollten, Kritiken über schriftliche oder mündliche Äußerungen von Parteigenossen nur in Parteiblättern, das heißt solchen Zeitungen und Zeitschriften, die der Parteikontrolle unterstehen, zu veröffentlichen. War es nicht ein grotesker Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien der Partei, daß solch ein Antrag auch nur ernsthaft diskutiert werden [359] konnte? Daß es Sozialdemokraten gab, die die »Einheitlichkeit der Partei« dazu mißbrauchten, um die Meinungsfreiheit niederzuknütteln?

»Ich habe geglaubt, die Leute hätten sich in der Adresse geirrt,« sagte Vollmar und reckte sich zu seiner ganzen Riesengröße auf, so daß er turmhoch und turmsicher über der brandenden Woge der Menge stand. »Das ist ein Antrag für die Zentrumspartei, für die Kirchenorgane mit dem Zensor obenan, wo nur eine Meinung gilt. Bis auf seine Wurzeln, gilt es, ihn zu verfolgen, sonst kehrt er in der und jener Form alljährlich wieder und überwuchert unser Erdreich. Es ist der ewige Geist der Kontrolle, der Geist der Kasernenhofdisziplin, dem er entspringt. Und gegen ihn müssen wir uns wenden. Nicht die freie Meinung unterdrücken, was eine Schwäche verraten würde, die nur dem Tode, das heißt der Versteinerung einer Bewegung vorangehen kann, sondern sie fördern, ist unsere Aufgabe. Sollte der Versuch unternommen werden, selbständige Menschen mundtot zu machen, so wäre der kein echter Sozialdemokrat, der es fertig bekäme, sich solcher Zensur zu unterwerfen. Es wäre wahrhaftig nicht der Mühe wert, die Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft von sich zu werfen, um sie nur mit neuen zu vertauschen!«

Ich sah mich um im Saal. Es waren nur bestimmte Gruppen, die Beifall klatschten. Reihenweise saßen die Genossen an den langen Tafeln mit verschlossenen oder gleichgültigen Mienen. Unwillkürlich lief mir ein Schauer über den Rücken. Die »Diktatur des Proletariats«, – wird sie die Freiheit sein?

»Sie würde ein rasches Ende nehmen, wenn sie etwas anderes wäre,« sagte einer unserer Genossen, als wir am Abend zusammen waren und ich die Frage ausgesprochen hatte.

Während der letzten Tage des Kongresses, deren Verhandlungen sich um die praktischen Fragen der Arbeiterversicherung [360] und der Kommunalpolitik drehten, legten sich die Wogen der Erregung wieder. Und als August Bebel von den kommenden Reichstagswahlen sprach und seine braunen Jünglingsaugen unter dem grauen Haarschopf immer feuriger glänzten, je drastischer seine Darstellung der inneren und äußeren politischen Lage wurde, je weitgehendere Hoffnungen er für den Wahlkampf daran knüpfte, da jubelte alles ihm einmütig zu; jener zündende Funke der Begeisterung sprang von einem zum anderen, derselbe Funke, den eine Kriegserklärung für alle waffenfähigen Männer bedeuten mag. Sie werfen ihr Werkzeug beiseite, sie treten in Reih und Glied, und zum guten Kameraden wird der Nachbar, mit dem sie eben noch in kleinlichem Hader lebten.

Noch erging sich die bürgerliche Presse in langatmigen Betrachtungen über den »Bruderzwist« in der Partei, um Hoffnungen für ihre Sache daraus zu schöpfen, und schon standen wir in Reih und Glied dem gemeinsamen Feind gegenüber.


Am Tage unserer Rückkehr nach Berlin ging ich zur Mutter. Drei Monate hatte ich sie nicht gesehen. Ihre Briefe, die kurz und freudlos waren, ließen mich nichts Gutes ahnen. Sie wohnte mit Ilse in einer Pension am Lützow-Ufer. Als ich aus dem hellen Tageslicht in das dunkle Zimmer trat, – die Häuser hier traf nie ein Sonnenstrahl, – löste sie sich langsam wie ein Schatten, aus dem tiefen Stuhl, in dem sie gesessen hatte. Ihre Hände nur leuchteten weiß und überschlank aus dem schwarzen Ärmel des Kleides. Sie war sehr verändert.

Streifen weißen Haares zogen sich durch ihre blonden Scheitel. Auf ihrem schmalen Gesicht wechselte fahle Blässe mit fliegender Röte. Die Pupillen in ihren Augen standen keinen Augenblick still. Ein Gefühl von Zärtlichkeit überkam mich. Ich küßte ihr beide Hände.

[361] »Es ist nicht leicht –,« sagte sie.

»Was denn, Mamachen?« fragte ich so sanft, als hätte ich eine Kranke vor mir.

»Weißt du noch, wie ich Ilse die Stiefel zuschnürte, als sie ein Kind war? Vor ihr auf den Knien, – nur damit sie sich nicht bücken sollte?« begann sie langsam, traumverloren. »Dann pflegte ich ihren Mann zu Tode, – und nun läßt mir die Angst keine Ruhe, daß sie wieder in ihr Unglück rennt –« Sie ließ sich nicht beruhigen. Es war, als ob eine fixe Idee sie beherrschte.

Eines Abends schickte Ilse nach mir.

»Um Gottes willen – rasch –,« rief sie mir schon vor der Haustür entgegen, »ich fürchte mich so!« Oben fand ich die Mutter im Bett zusammengekauert, die Augen starr ins Wesenlose gerichtet. »Hans – Hans – tu mir nichts!« wimmerte sie. »Du hast ja mein Versprechen –« Und dann streckte sie wie lauschend den Kopf vor. »Hier meine Hand darauf –« flüsterte sie ruhiger werdend, und ihre weißen Finger griffen in die leere Luft, um etwas zu umschließen, das niemand sah als sie.

Der Arzt erklärte ihren Zustand für Nervenüberreizung und verlangte die Trennung von Mutter und Tochter. Aber erst nach Wochen voller innerer und äußerer Qualen ließ sie sich überreden, ohne Ilse nach Montreux zu gehen. Ich hatte ihr versprechen müssen, die Schwester zu mir zu nehmen, und sie selbst überwachte noch ihre Übersiedlung in eine zufällig leere Wohnung neben uns.


Es war um die Weihnachtszeit; jene Zeit voller Geheimnisse und voller Freuden; jene Zeit, die ein Gott der Liebe wirklich geweiht zu haben scheint. Ich hatte dann immer alle Hände voll zu tun. In den Laden gehen und kaufen, das kann jeder, der einen vollen Beutel hat, auch im Alltag des Jahres. Aber den Wünschen derer, die man liebt, nachspüren, und sie mit[362] eignen Händen zu erfüllen suchen, das kann nur, wer Festtagsstimmung hat.

Eine Götterburg baute ich meinem Buben auf mit Wodan und Baldur, mit Loki im roten Feuerkleid und den Walküren in Schwanengewändern. Stets fehlte noch irgend was: ich mußte weit umherlaufen, um die Silberflügel für die Helme der Schlachtjungfrauen oder den goldenen Eber für Freyas Wagen zu finden. Und ich war so müde, so schrecklich müde! Es war, als ob mein Körper täglich schwerer auf den Füßen lastete. Endlich war alles fertig. Ich lag erschöpft auf dem Sofa.

Wie schwach mir war und wie glühend heiß dabei! Mit einer letzten Kraftanstrengung schlich ich ins Schlafzimmer und legte mir den Fieberthermometer unter den Arm: 39 1/2 – Ich rief nach Berta und schickte zum Arzt. Dann wußte ich nichts mehr von mir.

Erst allmählich sah ich schattenhaft Gestalten um mein Bett – Heinrich – den Arzt – die Pflegerin in der weißen Haube und – die Mutter! Wie hatte man sie nur rufen können, die arme, kranke Frau?! Oder, – eiskalt packte mich die Angst, – sollte ich sterben müssen?! Ich durfte doch gar nicht! Ich mußte den Weihnachtsbaum putzen für mein Kind! Unaufhaltsam liefen mir die Tränen über die Wangen.

Ich genas. Auf dem Sofa lag ich jetzt wieder, und über meine Decke ließ Ottochen alle Götter und alle Walküren reiten.

»Wie kam es nur,« wandte ich mich zur Mutter, die, noch schmaler geworden, im Stuhl neben mir lehnte, »wie kam es nur, daß du so plötzlich hier warst? Heinrich gab mir sein Wort, daß er dir nichts von meiner Erkrankung geschrieben hat, – und Ilse auch.

Ein stilles Lächeln glitt über ihre Züge.

»Nein, niemand schrieb mir, – aber ich sah, daß der Tod neben dir stand. Ihr mögt noch so sehr zerren wie an einer Kette, das Band zwischen Mutter und Kind ist stärker als ihr.«

[363] Am nächsten Tage reiste sie ab. Sie hatte den alten schwarzen Mantel an, den ich seit Jahren an ihr kannte, und auf ihrem dunkelgrauen Hut saß ein kleiner grünschillernder Käfer, – ich weiß noch alles ganz genau. An der Tür zögerte sie und sah mich an, – mit einem langen, langen Blick. Ich wollte mich aufrichten und sie noch einmal umarmen. Aber ich war viel zu schwach dazu.

Acht Tage später war sie tot.

[364]
13. Kapitel
Dreizehntes Kapitel

»Genosse Weber aus Frankfurt an der Oder – meine Frau.« Ich war gerade zur Türe eingetreten, als Heinrich mir seinen Gast vorstellte, einen kleinen lebhaften Menschen mit blanken, braunen Augen und kahlem Schädel. Verwundert sah ich von einem zum anderen: sie waren beide rot vor Erregung.

»Helfen Sie mir, Genossin Brandt,« sagte der Fremde und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Komisch, was für einen breiten, nach außen gebogenen Daumen er hat, wie bei der Spinnerin im Märchen, dachte ich zerstreut, während meine Augen gewohnheitsmäßig an seinen Händen hängen blieben.

»Weber bietet mir die Kandidatur seines Wahlkreises an,« erklärte Heinrich. Nun erst horchte ich auf.

»Und er zögert, sie anzunehmen. Bringt lauter Wenn und Aber vor. Und will Bedenkzeit. Als ob es jetzt noch was zu bedenken gäbe! Jeder von uns muß ins Geschirr, – so oder so,« rief unser Gast, und seine Worte überstürzten sich vor Eifer. »Machen Sie kurzen Prozeß, – schlagen Sie ein!«

»Schade, daß Sie mich nicht brauchen können, – ich täte es besinnungslos,« antwortete ich und legte meine Hand in die seine, die er noch vergeblich meinem Mann entgegenstreckte. Weber hielt sie fest.

»Ein Weib – ein Wort,« lachte er. »Sie sollen sehen, wie wir Sie brauchen können, – zuerst müssen Sie uns den Kandidaten und dann den Wahlkreis erobern helfen.«

Aber mein Mann blieb fest, trotz allen Zuredens.

»In vierundzwanzig Stunden werden Sie meine Antwort haben ...« sagte er.

[365] Als Weber gegangen war, schalt er mich: »Du bist unüberlegt wie ein Kind! Glaubst du, daß das Archiv nicht sehr geschädigt wird, wenn ich für die Partei kandidiere, oder gar als Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion in den Reichstag komme?!«

Ich machte eine wegwerfende Bewegung: »Ach, – das Archiv und immer das Archiv! Lindner wird sich über kurz oder lang entscheiden müssen, und wenn du erst eine ausgesprochen sozialistische Zeitschrift leitest, so wird das auf das Archiv nicht anders wirken, als wenn du Abgeordneter bist ...«

Einen Augenblick lang schwieg ich und sah ihn erwartungsvoll an, aber er blieb am Schreibtisch sitzen mit gesenkten Augen und zusammengekniffenen Lippen, während seine Hand unruhig mit dem Bleistift spielte.

»Heinz –,« fuhr ich mit weicherer Stimme fort, »Heinz, das bist nicht du, den ich unschlüssig vor mir sehe! Alle Wetterzeichen deuten auf einen großen Kampf, und du könntest abseits bleiben, wenn man dich zu den Waffen ruft?! Du, den ich liebe um seiner Kühnheit willen, der all die tausend jämmerlichen Rücksichten des Alltagsmenschen nicht kennt –«

»Ich sage dir, wie schon einmal, daß ich an euch zu denken habe, an dich und das Kind,« unterbrach er mich, aber seine Stimme hatte keinen Ton dabei.

»Hat Romberg, der den Freien spielt und im Grunde nichts ist als ein Philister, so viel Macht über dich?!« antwortete ich heftig. »Soll auch für uns die Familie der Götze sein, dessen Unersättlichkeit wir das Beste opfern: unsere Freiheit, unsere Überzeugung, unser Menschentum?! Sie wäre wert, daß wir sie zerstörten, wie unsere Gegner es von uns behaupten, wenn dem so wäre!«

Heinrich erhob sich und reichte mir die Hand. Seine Augen glänzten wieder. »Du bist mein tapferer Kamerad,« sagte er, – nichts weiter. Und ich stellte keine Frage mehr an ihn.

[366] Am nächsten Morgen gingen wir in den Reichstag. Seit Wochen tobte hier der Kampf um den Zolltarif. Mit eiserner Konsequenz hatte die sozialdemokratische Fraktion es bisher durchgesetzt, daß über jeden einzelnen Zollsatz beraten und namentlich abgestimmt wurde. Wenn sie die schließliche Annahme der Vorlage auch nicht verhindern konnte, – sie hatte eine geschlossene Mehrheit gegen sich; von den bürgerlichen Parteien wagte es nur die kleine freisinnige Vereinigung unter Führung von Theodor Barth mit ihr zusammen gegen die drohende Verteuerung aller Lebensmittel Front zu machen –, so wollte sie wenigstens nichts versäumen, um ihre Folgen abzuschwächen, oder, – das war die Hoffnung der Optimisten in ihrer Mitte, – die Entscheidung so lange hinauszuschieben, bis die neu gewählten Volksvertreter sie zu fällen haben würden. Sie wußten genau: wenn sie mit dem Zolltarif als Agitationsmittel vor die Wählermassen treten könnten, so würde eine verstärkte Opposition in den Reichstag zurückkehren. Aber ihre politischen Gegner fürchteten diese Entwicklung der Dinge ebenso sehr, als die Sozialdemokraten sie wünschten. Schon hatten sie versucht, durch eine Umänderung der Geschäftsordnung die Verhandlungen zu beschleunigen, – umsonst. Die Sozialdemokraten begegneten ihnen mit vier- und fünfstündigen Dauerreden, mit immer neuen Anträgen. Die Empörung stieg bis zur Siedehitze. Und jetzt, – darüber war kein Zweifel, – hatten die Vertreter der Rechten und des Zentrums nach langwierigen Beratungen ein Mittel gefunden, das den Einfluß der Opposition endgültig lahmlegen sollte.

In der langen grauen Wandelhalle, die der dunkle Novembertag noch öder, noch farbloser erscheinen ließ, warteten wir auf unsere Tribünenkarten. Abgeordnete eilten an uns vorüber, in schwarzen Röcken oder in Soutanen, schwere Mappen unter den Armen, mit müden, überwachten Gesichtern, oder sie gingen flüsternd zu zweien und blieben in den Ecken stehen, die [367] Köpfe zueinandergeneigt wie Verschwörer. Erhob sich ihre Stimme im Eifer des Gesprächs, so hallten abgerissene Worte durch den hohen Raum und schwebten wie verirrt in der Luft. Ein langsamer fester Schritt näherte sich uns: Ignaz Auer.

»Sie haben eine gute Nase, Genossin Brandt,« lachte er, indem er uns kräftig die Hände schüttelte, »heute platzt hier irgendeine Bombe. Und da müssen Sie dabei sein, was?!« Er führte uns in den Wandelgang, der den Sitzungssaal umschließt, und mit seinem weichen Teppich und seiner braunen Täfelung behaglich gewirkt hätte, wenn nicht ein unaufhörliches hastiges Hin und Her die Luft in ständiger nervöser Schwingung erhalten hätte. Wir setzten uns.

»Mir ist die Kandidatur für Frankfurt-Lebus angeboten worden. Was halten Sie davon?« wandte sich mein Mann an Auer. Der strich sich nachdenklich mit der breiten Hand den Bart, während ein leiser Spott seine Lippen kräuselte.

»Also wieder ein Akademiker! Was werden unsere Berliner sagen?! – Übrigens,« fügte er lauter hinzu, »ich kenne den Wahlkreis: Äcker, nichts als Äcker, und Bauern- und Rittergüter, wenig Industrie, – kurz, ein böser Winkel.«

»Aussichtslos?« fragte Heinrich.

»Aussichtslos? Nein!« antwortete Auer. »Nur erleben wir beide seine Eroberung nicht.« Ich biß mir ärgerlich die Lippen, – ich hatte erwartet, daß er zureden würde.

Ein heller Glockenton klang durch das Haus. Die Sitzung war eröffnet. Wir stiegen zur Tribüne hinauf. Jeder Platz war besetzt. Gespannte Erwartung lag auf allen Zügen. Man zeigte einander flüsternd die Hauptführer im Kampf. Allmählich füllte sich unten der Saal. Das gelbgraue Licht, das von den farblosen Wänden und der tiefen Glasdecke ausstrahlte, ließ alle Gesichter gleichmäßig fahl erscheinen.

»Ein vornehmer Raum!« sagte eine Dame neben mir. Daß man so oft für vornehm hält, was nur kühl, nur leblos ist! Die [368] Architekten öffentlicher Gebäude sollten den psychologischen Einfluß der Farben auf die Menschen studieren. Vielleicht würden dann manche Parlamentsverhandlungen und Gerichtsbeschlüsse anders ausfallen.

Hinter dem Rednerpult stand ein Abgeordneter, der mit einförmiger Langsamkeit über die Petitionen zu den Vieh- und Fleischzöllen berichtete. Niemand hörte auf ihn. In Gruppen standen die Mitglieder der Rechten und des Zentrums beieinander. Hier und da eilte einer von ihnen zur Tür, um bald darauf achselzuckend wiederzukommen. Irgend etwas sehnlich Erwartetes fehlte. Die Linke nur saß scheinbar ruhig auf ihren Plätzen, und auf dem Präsidentenstuhl lehnte Graf Ballestrem in erzwungener Gelassenheit den weißen Kopf an die hohe Lehne. Der Berichterstatter schloß. Graf Ballestrem erhob sich: »Wir treten nunmehr in die Beratung des Zolltarifs ein ...«

In diesem Augenblick stieg Herr von Kardorff, der greise Führer der Rechten, mit jugendlicher Elastizität die Stufen zur Estrade empor. Ein weißes Papier zitterte in seinen Händen. Die Stimme, mit der er scharf und hell seine Worte in den Saal hinausstieß, vibrierte:

»In wenigen Minuten wird dem Hause ein Antrag vorliegen, der dahin geht, in Paragraph 1 der Gesetzesvorlage die En-bloc-Annahme des Zolltarifs auszusprechen ...«

Ein Hohngelächter übertönte jedes weitere Wort. Die Linke sprang auf und umdrängte die Estrade.

»Eine Guillotinierung!« klang es aus dem schwarzen Menschenknäuel.

»Sie haben uns selbst auf diesen Weg gedrängt ...,« rief Kardorff. Er ballte die Faust um das weiße Papier, reckte die überschlanke Gestalt hoch auf und maß mit einem hochmütigen Blick die Gegner unter ihm.

Man wartete auf die Verteilung des Antrages. Eine lange, atemlose Pause. Endlich traten die Diener ein. Man riß ihnen [369] die bedruckten Blätter aus der Hand. Dicht unter der Rednertribüne, unter der Kardorff noch immer aushielt – gerade, starr, scheinbar gleichgültig –, warf einer der Sozialdemokraten in fanatischem Zorn das zusammengeballte Blatt zu Boden. Um den heftig gestikulierenden Bebel sammelte sich die Linke.

»Zur Geschäftsordnung!« rief Singers tiefe Stimme immer wieder dem Präsidenten zu.

Und dann sprach er. Aber durch den frenetischen Beifall der Linken und die empörten Zwischenrufe der Rechten und des Zentrums klangen nur abgerissene Sätze zu den Tribünen empor.

»... Dieser Antrag ist der Ausfluß des persönlichen Interesses, welches die Herren Gesetzgeber an der Zolltarifvorlage haben ... Sie fördern den Umsturz, Sie propagieren die Revolution, indem Sie die Interessen des Volkes mit Füßen treten ... Neunhundert Positionen, von denen jede einzelne die wirtschaftliche Existenz Tausender bedroht, wollen Sie in einer Abstimmung zur Entscheidung bringen ... Sie fürchten sich, die Beute könnte Ihnen entgehen ... Sie sind die Schleppenträger der Agrarier und die Regierung ist ...

»Ihr Zuhälter!« kreischte eine Stimme dazwischen.

Der Präsident erhob sich und schwang die Glocke. Aber das Wort saß; flüsternd ging es schon durch die Menschenreihen auf den Tribünen.

Noch einmal übertönte Singers Rede den Sturm im Saal: »Mehr denn je wird das Recht der Minorität, sich gegen Vergewaltigungen zu wehren, zur heiligen Pflicht, wo es sich darum handelt, dem Volke ein Gesetz zu ersparen, das es der Not ausliefert, während es Ihre Taschen füllt ...«

Seine Fraktionskollegen umringten den Redner; einen Augenblick lang lag die Hand Theodor Barths in der seinen.

»Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete von Kardorff.«

[370] Schon hatte sich Singer seinem Platz wieder zugewandt. Wie er den Namen hörte, drehte er sich um und blieb zwischen den Seinen stehen, groß, schwer, breitschultrig. Über ihm auf einer der Stufen, die zur Estrade führten, stand Bebel, die dunkelglühenden Augen fest auf den Redner gerichtet, während seine Finger sich nervös bewegten, sich spreizten und wieder zusammenzogen, als prüften sie ihre Kraft.

Ruhig, mit der ganzen Selbstbeherrschung des alten Aristokraten, begann Kardorff zu sprechen: »Wir sind der Überzeugung, daß der vorliegende Antrag das einzige Mittel ist, um die Tarifvorlage, deren Erledigung wir für ein großes vaterländisches Interesse halten ...«

»Vaterländisch?!« fragte jemand ironisch; ein schallendes Gelächter antwortete.

Der Redner gab sich nicht die Mühe, den Lärm zu überschreien. Gleichgültig sah er über die Menge hinweg und wartete, bis der Präsident die Ruhe wieder hergestellt hatte. Dann sprach er weiter, ohne die Stimme zu erheben, ohne Pathos. Er gab sich nicht die Mühe, überzeugen zu wollen; in seiner ganzen Art lag eine souveräne Verachtung des Gegners.

»... Daß die Mehrheit wichtige Gesetzesvorlagen auch gegen den Willen der Minorität durchsetzt, ist eine grundlegende Forderung unseres konstitutionellen Lebens ...«

Tosender Lärm unterbrach ihn. Aus dem dichtgedrängten Haufen, der sich allmählich immer näher zur Rednertribüne emporschob, erhoben sich geballte Fäuste. »Räuber!« – »Taschendieb!« – »Volksverräter! –«, wie Peitschenhiebe pfiff und sauste es durch die Luft. Die Mitglieder der Rechten erhoben sich und besetzten wie zum Schutz die andere Seite der Treppe. Kardorff sprach weiter. Sein Gesicht war um einen Schein blasser geworden, und seine schmalen Hände umklammerten krampfhaft das Pult. Hier stand nicht mehr der einzelne, der um einen momentanen Vorteil kämpft, – in diesem Mann [371] erhob sich vielmehr die alte Welt wider die neue und umgab seinen scharf geschnittenen Aristokratenkopf mit dem dunklen Glanz tragischer Größe.

Als wir gingen, stritt man sich noch immer in endlosen Reden über die Zulässigkeit des Antrags.

»Acht Tage läßt sich die Sache wohl noch hinziehen,« meinte einer unserer Reichstagsabgeordneten, den wir in der Wandelhalle trafen, »dann ist der Zolltarif angenommen. Ein Pyrrhussieg für die Rechte, – der Nagel zum Sarg für die Nationalliberalen!«

»Und hundert Mandate für uns!« fügte ein anderer frohlockend hinzu; »das wird ein Wahlkampf werden, der seinesgleichen nicht hatte!«

In einem Café der Potsdamerstraße erwartete uns Weber. Fragend sah er von einem zum anderen. Mein Mann reichte ihm die Hand.

»Hier haben Sie mich, wenn Sie noch mögen. Auer sagt wir würden die Eroberung von Frankfurt-Lebus nicht erleben, – das gab den Ausschlag. Die gebratenen Tauben, die in den Mund fliegen, schmecken mir nicht. Wir wollen uns zusammen ein Wild erjagen.«

Wir blieben noch lange beieinander. Weber erzählte von seinem eigenen Leben: wie er als armer Schustergeselle in die Welt hinausgewandert war, sich schließlich seßhaft gemacht hatte und anfing, sich emporzuarbeiten.

»Eine verbissene Zähigkeit gehört dazu, wenn's gelingen soll,« meinte er, »dieselbe Zähigkeit, die wir haben müssen, soll die Partei vom Flecke kommen. Nur ein paar solcher Genossen haben wir in Frankfurt, die seit Jahren den steinigen Boden beackern, unermüdlich, in täglicher Kleinarbeit, gegen den Haß und die Verfolgungssucht des ganzen bourgeoisen Klüngels, – und doch sind wir ein gut Stück weitergekommen. Seit zwanzig Jahren schau ich mir die alte rote Fahne an, die seit dem ersten [372] Lassalleschen Arbeiterverein eingerollt im Winkel steht. Der schönste Tag meines Lebens wär's, wenn ich sie einmal flattern sehen könnte!« Und mit dem breiten Schusterdaumen wischte er sich einen feuchten Tropfen aus dem Augenwinkel.


Mit jedem neuen Tage wurde der Kampf im Reichstage brutaler; selbst die politisch Gleichgültigen wurden aufgerüttelt und verfolgten ihn mit gespannter Aufmerksamkeit. Durch Nachtsitzungen versuchte die Mehrheit die Kraft der Minderheit zu erschöpfen, aber mit trotziger Ausdauer hielt sie stand, und schob die Entscheidung durch endlose Reden immer wieder auf Tage und Stunden hinaus. Der gegenseitige Haß zerriß in zügelloser Leidenschaft alle Bande äußerer Gesittung. Konservative Abgeordnete bezeichneten die Arbeiter Berlins, die in riesigen Versammlungen gegen den Umsturz der Geschäftsordnung durch den Antrag Kardorff protestierten, als »skrophulöses Gesindel«, und ihre Presse forderte von der Regierung: »der Bestie den Zaum anzulegen«. Die »Bestie« blieb ihre Antwort nicht schuldig. Die größten Säle der Millionenstadt konnten die Menge nicht fassen, die nichts mehr war, als ein Wille: nieder mit der Reaktion! und eine Hoffnung: der Rachefeldzug der nächsten Wahlen. Und mehr und mehr tauchten Menschen in den Versammlungen auf, die nicht zum Proletariat gehörten. Bewunderung für die wilde Energie der kleinen Schar Belagerter riß so manchen aus dem politischen Schlummer, und der Groll führte andere hierher; sie fühlten ihre liberalen Interessen durch ihre eigenen Vertreter im Reichstag – die Bassermann, die Richter – schmählich verraten. Zu früh vernarbte Wunden brachen auf: die Erinnerung an die Lex Heinze erwachte, durch die Kunst und Wissenschaft tödlich getroffen worden wären, wenn die Roten im Reichstag sie nicht so wütend verteidigt hätten; und die Rede des Kaisers klang lauter, als [373] da sie gehalten wurde, in die Ohren derer, die sich bisher vom Getümmel der Schlacht scheu vor ihre Staffelei und ihren Schreibtisch zurückgezogen hatten. »Eine Kunst, die sich über die von mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr,« hatte er angesichts der vollendeten Standbilder in der Siegesallee erklärt, und die großen Eroberungen neuer künstlerischer Möglichkeiten, wie sie denen um Manet und van Gogh, um Liebermann und Klinger gelungen waren, als ein Niedersteigen in den Rinnstein bezeichnet. Jetzt rötete das Schamgefühl manchem die Wangen, der den Streich ruhig empfangen hatte. »Wahrlich, es gilt mehr als den Zolltarif,« sagte mir einer aus dem Kreise der Sezession, »es gilt die Verteidigung der ganzen modernen Entwicklung. Wenn es zu diesem Ende nichts anderes gibt als den Stimmzettel, so werden auch wir uns seiner zu bedienen wissen.« Eine Revolte der Intellektuellen stand bevor, und im stillen hoffte ich wieder, daß sie zu einer Revolutionierung der Geister führen würde.

Aber auch die Gegner außerhalb des Reichstages rüsteten sich schon für die kommenden Wahlen. Was der Adel Preußens vor zwanzig Jahren noch für unmöglich gehalten hatte, das geschah: Junker und Fabrikant vereinigten sich, da der gemeinsame Feind drohte: die Sozialdemokratie. Und der Kaiser selbst wurde in diesem Kampf der erste Agitator: »Zerreißt das Tischtuch zwischen euch und diesen Leuten, die euch aufhetzen gegen Thron und Altar, um euch zugleich auf das rücksichtsloseste auszubeuten und zu knechten –;« wie auf Windesflügeln durcheilten diese seine Worte, die er an eine Deputation von Arbeitern gerichtet hatte, das Reich, denn jeder Sozialdemokrat trug sie weiter. Und lauter, immer lauter wurde der Groll: »Wer anders beutet uns aus als die Zollwucherer, die uns das Fleisch vom Tisch nehmen und das Brot verteuern? Wer anders knechtet uns als die Stützen von Thron und Altar, die das Joch der Fronarbeit auf unsere Schultern laden?«

[374] Während die Folgen der schweren Krankheit mir die agitatorische Tätigkeit noch unmöglich machten, stand mein Mann schon mitten im Wahlkampf. Er kam jedesmal hoffnungsvoller wieder, denn an der neuen Aufgabe wuchs seine Energie. Ich benutzte die Stunden der Alleinherrschaft über unseren Schreibtisch zur Abfassung einer Agitationsbroschüre, in der ich die politische Situation vom Standpunkt der Frau aus beleuchtete. Für den kommenden Wahlkampf sollte sie die Arbeiterinnen aufklären, anfeuern, mit Waffen versehen. Das Häuflein ihrer offiziellen Vertreterinnen hatte mich zwar hinausgeworfen, aber Hunderttausende gab es, zu denen ich sprechen konnte.

»Jetzt mache ich auch mit Lindner kurzen Prozeß,« sagte Heinrich eines Abends, als er eben von Frankfurt zurückkehrte. »Gehen wir aus dem Wahlkampf in der Stärke hervor, wie wir es hoffen dürfen, so treten die Aufgaben praktischer Politik mit zwingender Notwendigkeit an uns heran, und meine Zeitschrift hat einen Wirkungskreis ohnegleichen ...«

Lindner kam. Mit Wünschen und Hoffnungen und ohne Entschlossenheit, wie immer.

»Sie haben mich lange genug genarrt,« fuhr ihn Heinrich an; »im Vertrauen auf Sie habe ich gewartet und immer wieder gewartet. Nun aber verlange ich ein Ja oder Nein.«

Lindners schmale Gestalt sank förmlich in sich selbst zusammen. Halb verlegen, halb gekränkt versprach er eine rasche Entscheidung.

»Wie kannst du nur!« rief ich, als die Türe sich hinter ihm schloß. »Nun wird er ganz gewiß zurücktreten!«

»Und wenn schon!« lachte Heinrich fröhlich, »glaubst du, die Zeitschrift hinge von ihm allein ab?!«

Drei Tage später war der Vertrag abgeschlossen, die Zeitschrift gesichert. Lindner schien umgewandelt; die Aufgabe, die er vor sich sah, wirkte auf ihn wie Morphium auf Hysterische: sie gab ihm Kraft, Tatendurst, Selbstbewußtsein.

[375] »Nun fehlt nur noch die notarielle Beglaubigung,« sagte er, nachdem er seinen Namen unter das Schriftstück gesetzt hatte, »und morgen kann die Arbeit losgehen!«

Mein Mann legte ihm die Hand mit einer bevormundenden Bewegung auf den Arm: »Arbeiten müssen wir tüchtig, alle drei, aber über den geeigneten Zeitpunkt des Erscheinens wollen wir noch andere hören. Und eine notarielle Beglaubigung?« – Er lachte. »Ich denke, solche Scherze schenken wir uns. Unser Wort genügt, auch wenn wir es nicht notariell gegeben haben.«

An einem der nächsten Abende folgten die Führer der Revisionisten unserer Einladung. Wie zu einem Feste hatte ich unser Zimmer geschmückt und unsere Tafel bereitet. Und festlich war mir zumute, – wie den Soldaten nach der Kriegserklärung. Die Frankfurter Fahne fiel mir ein, die eingerollt im Winkel stand, – eine im Sturme immer voranflatternde sollte unsere Zeitschrift werden!

Unsere Gäste gratulierten uns, – aber sie hatten doch viel Bedenken, ob unser Plan durchführbar sei. Sie anerkannten die Wichtigkeit der Aufgabe, die wir uns gestellt hatten, – aber an der Stärke der Wirkung zweifelten sie. Ihre rege Mitarbeit versprachen alle, – aber ohne den Enthusiasmus für die Sache, den ich erwartet hatte. Der Name der Zeitschrift wurde bestimmt: Die Neue Gesellschaft; die Zeit ihres Erscheinens wurde festgesetzt: nach den Wahlen, nach dem Parteitag. – Es war eine nützliche und verständige Besprechung, die wir hatten, aber wir feierten kein Fest. Die vielen Blumen auf meinem Tisch taten mir leid.

Was ich schon oft empfunden hatte, das verstärkte sich jetzt: der Revisionismus besaß den Verstand und die Einsicht des Alters, das Feuer der Jugend war ihm jedoch darüber verloren gegangen. Wer aber die Zukunft erobern will, der muß es erhalten, muß es mit seiner Liebe, seinem Haß, seiner Hoffnung nähren, damit es weithin leuchtet und wärmt, und die Fackeln derer, die ihm folgen, sich daran entzünden können.


[376] An einem frühen Märzmorgen des Jahres 1903 war ich zu meiner ersten Wahlagitation von Berlin weggefahren, das grau und grämlich, jenseits aller Jahreszeit, den Schlaf noch in den Augen hatte. In Gusow verließ ich den Zug. Auf dem Bahnsteig stand ein Mann, die Schirmmütze keck auf ein Ohr gezogen, eine Nummer unserer märkischen Parteizeitung in der Hand – unser Erkennungszeichen. Er lachte mich fröhlich an.

»Ich bin der Jenosse Merten,« sagte er. »So was war noch nich da in Jusow und Platkow. Alles, aber auch alles lauert auf Ihnen –«

Wir stiegen in ein klappriges Wägelchen und fuhren zwischen Weiden und Erlen die Straße hinauf. Überrascht sah ich um mich. Ich hatte es gar nicht gewußt, daß es schon Frühling geworden war.

»Welch eine Luft!« sagte ich mit tiefen Atemzügen.

»Nich war, jut ist sie!« antwortete mein Begleiter mit einem Stolz, als wäre sie sein eigenstes Werk. »Wenn die nicht wäre, wir gingen längst auf und davon. Aber wenn wir – meine Kollegen und ich – Sonnabends von der Arbeet aus Berlin nach Hause fahren und unsere Kinder kommen uns entgegen, nich so blaß und dünn wie die Berliner Jöhren, und wir können im Jarten in der Laube sitzen, an unserem eigenen Jemüse rumpusseln und an unseren Obstbäumen, – dann vergessen wir gern die Plackerei der ganzen Woche.« Wir begegneten vielen Fußgängern. Er grüßte nach rechts und links. »Kommst du ooch nach Platkow?« redete er sie an.

»Jawoll –« »Natierlich,« riefen sie.

»Sind das alles Maurer?« fragte ich.

»Wo denken Sie hin,« antwortete er, »da sind Landarbeeter mang, sogar Bauern. Heute kommt alles zu uns. Die haben ja nie in ihrem Leben 'ne Frau reden jehört.«

Mitten auf der Straße, wo die Aussicht am freiesten war, ließ er den kräftigen Braunen halten.

[377] »Das ist das Oderbruch,« erklärte er und wies nach links, wo sich das Land weit, endlos weit in der Ferne verlor, und darauf verstreut, wie Spielzeug, zwischen knorrigen Bäumen, rotbedachte Häuschen und Kirchen mit breiten Türmen hervorsahen. Blaßblau, wie von durchsichtigem Kristall, wölbte sich die Himmelsglocke über der Ebene. Aus den dunkeln Ackerfurchen stieg lebenverkündend ein würziger Geruch. Vergessene Geschichten fielen mir ein: vom alten Fritz, der dies fruchtbare Land dem Wasser abgetrotzt hatte, von all den märkischen Junkern, den Itzenplitz, den Marwitz, den Finkenstein, die hier ringsum seit Generationen die Herren waren. Mein Begleiter zeigte nach rechts, wo der Boden sich hob und Wälder den Horizont begrenzten.

»Hier oben sind die Ritterjüter, da sitzen lauter Agrarier, – unsere ärgsten Feinde,« erzählte er. »Die sind schlau gewesen, von Anfang an. Haben sich die guten Stellen gesichert, wo das Wasser sie nicht erreichen konnte; während die Bauern unter alljährlich drauf gefaßt sein mußten, daß es ihre arme Kate davontrug. Sie kennen doch die Jeschichte, die unsere Kinder in der Schule lernen müssen: ›Hier habe ich in Frieden eine Provinz erobert,‹ soll König Friedrich gesagt haben, als er mal hier in die Jegend kam. So 'n Mumpitz! Als ob es nich arme Luders wie wir gewesen wären, die die Kanäle gruben und die Dämme aufwarfen!«

»Aber den Gedanken hat doch der König gehabt,« meinte ich.

Ein mißtrauischer Blick streifte mich. »Für'n König mag das freilich ooch schon 'ne Anstrengung gewesen sein!« spottete er.

Eine breite Kastanienallee führte in das Dorf Gusow. Einstöckige Häuser, mit weißen Vorhängen an blanken Fenstern, umgaben in weitem Bogen den Dorfteich, seitwärts öffnete sich der kiesbestreute Weg zum Schloß, dem einstigen Besitztum des alten Derfflinger, und zur Kirche, unter deren Altar seine Gebeine ruhten. Mein Begleiter sah nach der Uhr.

[378] »Was meinen Sie, wenn wir zu Fuß durch den Park gingen? Sie glauben nich, wie schön der ist!« Dabei bekam sein breites Gesicht einen fast schwärmerischen Ausdruck.

An dem stillen Schloß vorbei betraten wir den Park. Weite Rasenflächen dehnten sich vor der Terrasse, mit einem lichten Schimmer jungen Grüns überzogen. Zu Füßen uralter Eichen, die schwarz gegen den hellen Himmel standen, guckten Schneeglöckchen neugierig aus der Erde hervor und Krokusblüten schlugen verwundert ihre blauen Augen auf. Ein schmaler Pfad wand sich zwischen hohem Gebüsch, das plötzlich zur Seite wich, um dem Wunder fremdartig märchenhafter Bäume Platz zu machen; grau schimmerten ihre Stämme wie Granit, und graue Wurzeln krochen knorrig über das dunkle Moos des Bodens.

»Zedern sind es,« sagte mein Begleiter, »Zedern vom Libanon;« und blickte bewundernd auf den Traum des Südens. Über uns in den Kronen der Bäume brauste der Frühlingssturm. Nach seiner Melodie wiegten sich schlanke Birken, und krachend splitterten von Eichen und Linden die dürren Äste.

Mein Begleiter kannte jeden Platz im Park und jede Pflanze, – mit scheuer Zärtlichkeit strichen seine rissigen Hände über die ersten kleinen Knöspchen an den Sträuchern.

»Daß Sie in der Stadt arbeiten, wo Sie das Land so lieben!« staunte ich.

Er schüttelte sich: »Landarbeeter?! Nee! Das is nischt for unsereens!«

Wir näherten uns Platkow, dem nahen Ziel unserer Fahrt.

»Sehen Se mal hier die wackeligen Buden an,« sagte Merten, »Strohdächer, – Fenster, wie Mauselöcher, Türen, daß sich ein ordentlicher Mann bücken muß, – wahrscheinlich, damit man's nich verlernt! Nischt als Leisetreter gab's hier, die die Mütze bis auf die Erde zogen, wenn die herrschaftliche Kutsche sie mit Dreck bespritzte! Aber nu wird's anders, sage ich Ihnen, [379] janz anders –« dabei strahlte er förmlich – »sehen Sie dort, das Weiße, das ist unser Gewerkschaftshaus!«

Mitten in diesem agrarischen Winkel, der der Agitation der Partei so gut wie unzugänglich gewesen war, weil kein Lokal ihren Versammlungen zur Verfügung stand, hatten die Bauarbeiter sich ihr eigenes Haus errichtet. Die Ortspolizei verweigerte ihnen zwar die Schankkonzession, aber sie hatten ein Dach über dem Kopf, einen freien Raum zu freier Rede.

»Sie hätten die Bauern sehen sollen, wie unser Haus eins – zwei – drei, haste nich jesehn! aus der Sandkule herauswuchs!« erzählte Merten. »Wir hatten ja nur Sonntags Zeit zur Arbeet, aber die Steene flogen man so. An eenem Sonntag in aller Frühe, als sie nach Jusow zur Kirche fuhren, fingen wir zu buddeln an, und als sie nach dem letzten Amen wieder vorbeikamen, sahen die Mauern schon aus der Erde!«

Der Wagen hielt. Der ganze Platz stand voll Menschen. Sie schoben sich hinter mir in den kleinen Saal; auf den Bänken an den Wänden saßen schon die Frauen mit heißen Gesichtern.

Ich sprach vom Sturm, der draußen den Staub von den Dächern fegte und alles Morsche zu Boden riß. Und von dem Sturm des Sozialismus. Ich schilderte die politische Lage Deutschlands und zählte die Sünden der Regierung und der Reichstagsmehrheit auf vom Zuchthauskurs bis zum Zollraub, ich erzählte von den Milliarden, die dem armen Mann in Gestalt von indirekten Steuern, Zöllen und Liebesgaben aus dem schmalen Beutel gezogen werden, während sein Weib daheim im kleinen Haushalt seufzend mit jedem Pfennig rechnen muß. An der Hand der Untersuchungen bürgerlicher Gelehrter wies ich nach, wie die Verteuerung der Lebensmittel auf die Steigerung des Alkoholismus, der Kriminalität, der Lungentuberkulose wirkt. Ich zog die ärztlichen Forschungen heran, um zu zeigen, wie ganze Volkskreise entarten, wenn die Ernährung eine unzureichende ist: »Schwächerer Wille, schneller versagende Aufmerksamkeit, [380] raschere Erschöpfung sind die Folgen einer Politik, die das Wohl des Volks, die Liebe zum Vaterland ständig im Munde führt, in der Tat aber die Leistungsfähigkeit der Arbeiter untergräbt, und unsere Stellung auf dem Weltmarkt erschüttert. Die wirtschaftliche Krise, unter der wir alle leiden, die Zunahme der Arbeitslosigkeit mit ihrem Gefolge von Kinderjammer und Frauenausbeutung sind ein Beweis dafür. Keine ›gepanzerte Faust‹ kann uns davor retten ... Einmal im Laufe von fünf Jahren ist es jedem Deutschen vergönnt, Urteil zu sprechen über die, die sein Schicksal sind. Des Volkes Not und Unterdrückung liegt auf der einen Schale der Wage, des Volkes Glück und Freiheit auf der anderen. Wir, die ›Vaterlandslosen‹, wir, die ›Elenden‹, wir, die ›Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen‹, machen unser Urteil davon abhängig, welche Seite der Wage schwerer wiegt ...«

Man hatte mir bewegungslos zugehört, die Frauen, mit den Händen gefaltet im Schoß, die Männer, ohne den Blick von mir zu wenden. Nur hie und da sah ich ein zustimmendes Nicken. Das Volk dieser kargen Erde trug sein Herz nicht auf den Lippen und wußte nichts von der Reaktion empfindlicher Nerven, worin oft der ganze Beifall des Städters besteht. Aber nachher, als ich nicht mehr über ihnen stand, ging ein Fragen und Erzählen an, das mehr als jedes Händeklatschen bewies, wie jedes Wort vom durstenden Boden ihres Innern aufgenommen worden war. Freilich: im engsten Kreise eigenen Lebens drehten sich ihre Interessen, aber ein jeder umschloß das große Leid der Welt.

Ich wurde in Arbeiterhäuser geführt: so klein, so arm, so eng. »Und hier is doch so ville Sand, auf dem jut noch zehn Häuser stehen könnten!«

Sie zeigten mir das Armenhaus: in einem winzigen Raum hauste ein uraltes Paar mit vier kleinen Enkelkindern. Das einzige Bett nahm fast die Hälfte der Stube ein.

[381] »Immer, von kleen auf, haben wir hier uf'n Jut jearbeetet,« sagte der Mann, eine zusammengeschrumpfte Gestalt mit einem kleinen braunen Gesicht, wie eine Wurzelknolle, »nu essen wir's Inadenbrot –,« dabei kicherte er halb verlegen, halb höhnisch. »Det Schloß aber, det hat woll an die fufzich leere Zimmer ...«

Wir gingen durch das nachtdunkle Dorf zum Bahnhof. Einer, der jüngste der Schar, begann mit heller Stimme zu singen. Allmählich fielen die anderen ein. Die Türen der Häuser, an denen wir vorüberkamen, öffneten sich. Einige der Bewohner traten neugierig bis zur Schwelle. Andere lockte das Lied und die feuchtwarme Märznacht, – sie folgten uns. Und so ging es im Takt auf die Straße hinaus und immer, immer länger wurde der Zug singender Menschen.


»Wir hämmern jung das alte morsche Ding, den Staat,
Die wir von Gottes Zorne sind, – das Proletariat – das Proletariat –«

klang es schmetternd hin über das schlafende Bruch.

Allmählich, je mehr ich dem Land und seinen Bewohnern nähertrat, gewann ich es lieb, und die weite Ebene enthüllte mir all ihre verborgene Schönheit, und die Menschen ihr weiches, trotziges Herz. Sie fühlten noch nicht die Distanz zwischen sich und mir, darum begegnete mir nirgends Neid oder Mißtrauen. Fingen sie doch kaum an, das Allerhandgreiflichste zu empfinden: wie etwa den Gegensatz ihrer Hütte zum Herrschaftsschloß. Und gerade an diesem Punkt ihres Wesens sah ich, wo ich eingreifen mußte.

»Wer andere Zustände schaffen soll, muß doch erst den Druck der eigenen empfinden lernen,« sagte ich zu Romberg, der mir meine agitatorische Tätigkeit durchaus verleiden wollte.

»Ich kann Sie mir nun einmal nicht vorstellen, in einer Dorfkneipe Unzufriedenheit predigend,« antwortete er ärgerlich.

»So überzeugen Sie sich durch eigenen Augenschein, daß ich es kann,« meinte ich. Auf meiner nächsten Fahrt kam er mit. [382] Diesmal war es ein Leiterwagen, der uns in strömendem Regen über aufgeweichte Landwege nach einem kleinen Dörfchen fuhr, Lehmannshöfel mit Namen.

»Wie wird's mit unserer Versammlung bei dem Wetter?« fragte ich den alten Genossen, der uns an der Bahn empfangen hatte.

»Jut, – sehr jut,« entgegnete er. »Was unser oller Pfarrer is, der hat vorichte Woche die Weiber ufjehetzt. Sie sollten man bloß nich in die Versammlung jehn, hat er jesagt, so wat jinge sie jar nischt an, am wenigsten, wenn 'ne Frau reden tut, die lieber zu Haus det Mittagbrot kochen und mit die Kinder beten sollte. Nu können Se sich denken, daß se justament in die Versammlung jehn. Proppenvoll war's schonst heut morjen.«

Radfahrer begegneten uns, von oben bis unten bespritzt, Fußgänger mit aufgeweichten Sohlen, denen das Wasser von der Mütze tropfte. Wir luden auf, so viel der Wagen fassen konnte. Seit dem Morgengrauen hatten sie Flugblätter ausgetragen. Voll guten Humors erzählten sie ihre Abenteuer. Auf manchem Hof hatten sie über Zäune klettern müssen, weil das Tor vor ihnen verschlossen wurde; der eine war als reisender Handwerksbursche bis in die Gesindestuben der Rittergüter vorgedrungen, der andere hatte mit demütigem Gesicht, als wär's ein Traktätchen, den Kirchgängern die Zettel in die Hand gedrückt; im Vorübersausen hatte der Radler sie geschickt durch offene Türen und Fenster geworfen.

In der Wirtsstube von Lehmannshöfel glühte der eiserne Ofen. Nasse Mäntel und Stiefel trockneten daran. Tabaksqualm zog in schweren Schwaden an der niedrigen Decke. Mein Platz war mit Kiefernzweigen umwunden. Vor mir auf dem Tisch standen rechts und links zwei Blumensträuße in flachen weißen Papiermanschetten.

»Von den Tagelöhnerinnen aufs Jut –,« erklärte dunkel errötend ein junges Mädchen, das als letzten Rest der alten Tracht [383] die strohblonden Flechten unter dem schwarzseidenen Kopftuch verborgen hatte. Wie in der Kirche saßen die Leute vor mir: rechts die Männer, links die Frauen, – lauter Gesichter, in die kein anderer Gedanke als der an die nächste Not des Daseins seine Zeichen gegraben hatte. Noch nie war eine Versammlung hier gewesen. Ob ich den Ton finden würde, der zu ihnen drang? Ich erzählte von ihrem eigenen Dasein, wie es in ewigem Gleichmaß dahinfließt, nach der alten eintönigen Melodie: Leben, um zu arbeiten, arbeiten, um wieder leben zu können. Wie Freude für sie nur ein kurzer Rausch ist mit bösem Erwachen – ein Alkoholrausch, ein Liebesrausch – und die Sorgen allein sie nie verlassen. Wie die Welt voll Glanz und Schönheit ist; wie das Größte und Schönste, was die Menschheit in Jahrhunderten gedacht und empfunden, in Tausenden von Büchern und Statuen und Bildern aufbewahrt wurde für ihre Nachkommen. »Aber eine Mauer baute man ringsum, und nur wer den goldenen Zauberstab besitzt, dem öffnet sich die Pforte ...«

Ein junger Mann, der ein bißchen stumpfsinnig vor mir gesessen hatte, sah plötzlich auf – mit einem Paar Augen, in deren Tiefe die Sehnsucht flammte.

»Das Kind der armen Tagelöhnerin hat vielleicht die Seele eines Dichters, – mit vierzehn Jahren schon muß es Kartoffeln buddeln und Rüben ziehen, und die Arbeit tritt mit ihren eisenbeschlagenen Füßen seine Seele tot ...«

An der Tür drüben sah ich ein altes Mütterchen, das den weißen Kopf schluchzend in den knochigen Händen vergrub.

»Für diese Welt ist Armut ein Verbrechen, das mit lebenslänglicher Zwangsarbeit bestraft wird ... Tränen darüber sind genug vergossen worden. Vor lauter Jammern haben wir das Handeln vergessen. Von der Kanzel herab haben sie gepredigt, daß die Ergebung in das Geschick eine Tugend ist. Ich sage euch, sie ist ein Laster. Denn an all dem Elend in der Welt sind wir schuld, – wir mit unserer Demut, unserer Unterwürfigkeit, [384] unserer Trägheit ... Jeder Blick in das bleiche Gesichtchen ihres Lieblings, jede jammernde Bitte um Nahrung sollte der Frau nicht Tränen fruchtlosen Leids erpressen, sondern sie anspornen, ihrem Kind die Zukunft erobern zu helfen ... Wo die Mutter unfrei und furchtsam ist, wächst ein Geschlecht von Knechten mit knechtischer Gesinnung empor, und der Wert einer Mutter wird in Zukunft nicht bloß daran gemessen werden, ob sie ihre Kinder gewaschen, gekleidet und genährt hat, sondern ob sie sie zu Kämpfern erzog und ihnen mit dem Vorbild tatkräftiger Begeisterung voranging.«

An Beispielen des täglichen Lebens suchte ich ihnen klarzumachen, wie jeder Einzelne, auch der Bescheidenste, an dem großen Befreiungsfeldzug des Sozialismus teilnehmen kann, wie er nie zum Ziele führen würde ohne die Arbeit des einzelnen. Mir war, als hörte ich die Atemzüge der Menschen vor mir und ihre Seufzer. O, daß ich sie doch ins Herz getroffen hätte!

Feuchte Nebel hingen wie lange Trauerschleier über den Feldern. Wir fuhren stumm zurück. Frostgeschüttelt lehnte ich mich in die Kissen, als wir endlich den Zug nach Berlin bestiegen hatten.

»Wie Sie das verantworten können!« brach Romberg los, der bis dahin kein Wort gesprochen und den armen Leuten, zwischen denen er gesessen hatte, sein Unbehagen so deutlich fühlen ließ, daß ich schon bedauerte, ihn mitgenommen zu haben. Jetzt fuhr ich aus dem Halbschlaf auf.

»Ich verstehe Sie nicht!« sagte ich.

»Um so schlimmer!« rief er. »Sie nehmen diesen Menschen das einzige, was sie besitzen, was ihnen das Leben erträglich machte: ihre Unwissenheit, ihren Stumpfsinn, – ohne ihnen irgend etwas dafür geben zu können.«

»Wie, das Erwachen aus der Lethargie wäre nichts?!« entgegnete ich heftig. »Sich durch die Teilnahme an dem Befreiungswerk der Klassengenossen über sich selbst und sein kleines [385] Schicksal hinauszuheben, – das wäre nichts?! Von Ihnen hörte ich zuerst das Wort von der Politik der Starken. Das ist mein Leitmotiv. Ohne die Disharmonien des aufwühlenden Schmerzes, ohne die Grausamkeit der Erkenntnis gibt es nicht den starken Akkord ihrer Lösung.«

»Und wie steht's mit denen, die daran zugrunde gehen?!«

»Sie wären auch am Leben zugrunde gegangen!«

Mit einem fremden Blick, der mir zu meinem eigenen Erstaunen wehe tat, streifte er mich.

»Ist Weichheit und Schwäche auch für Sie noch ein Attribut der Weiblichkeit?« fragte ich, und das Herz klopfte mir, als fürchtete ich die Antwort.

»Ich weiß selbst nicht recht –,« meinte er zögernd. »Aber daran soll unsere Freundschaft nicht Schiffbruch leiden.«

»Haben Sie gar keine Zeit mehr für mich?« fing er nach einer Pause wieder zu sprechen an, als der Zug sich Berlin schon näherte. Ich sah auf. »Ich möchte, daß Sie wenigstens zwischendurch wieder ein Kulturmensch werden!«

Ohne rechte Lust, nur um ihn nicht wieder zu verletzen, versprach ich ihm, mich am nächsten Tag seiner Führung zur »Kultur« anzuvertrauen. Am Bahnhof empfing uns Heinrich, der eine Stunde früher aus einer anderen Gegend seines Wahlkreises zurückgekehrt war. Wir waren beide so erfüllt von unseren Erlebnissen, daß wir im Eifer des Erzählens Romberg fast vergaßen. Er verabschiedete sich steif und verstimmt.

»Bildung und Politik sind für mich schwer vereinbare Begriffe –,« sagte er am nächsten Morgen, als wir zusammen in die Stadt gingen.

»Sie scheinen einem Wechsel der Stimmungen unterworfen, der bisher nur einer Frau gestattet war,« entgegnete ich ärgerlich. »Es ist noch nicht lange her, daß Sie mit einer Begeisterung, die ich nicht vergessen habe, die Sozialdemokratie als die bedeutsamste Erscheinung der Zeit feierten.«

[386] Er lächelte. »Frauenlogik! Es tut mir ordentlich wohl, diesen weiblichen Zug bei Ihnen zu finden! Was hat mein Urteil über den Klassenkampf des Proletariats mit meiner Meinung über die Beteiligung des Gebildeten an der Politik zu tun?! Wir sollten um höhere Werte ringen –«

»Gibt es höhere als die Befreiung der Menschheit von all den Fesseln, die sie an die Erde chmieden und ihren Höhenflug hemmen?!« unterbrach ich ihn erregt.

»Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, – die alte Parole, unter der schon die Bastille gestürmt wurde,« entgegnete er mit spöttischem Lächeln; »fügen Sie noch das Ideal des Christentums, – die selbstentsagende Nächstenliebe hinzu, so beweist das alles, wie unsäglich arm eine Zeit sein muß, die selbst einer so gewaltigen Bewegung wie der des Proletariats keine neuen Ideale hat schaffen können.«

Seine Worte begegneten einem noch unklaren Empfinden, das ich um so energischer zu unterdrücken gesucht hatte, als mir die Wege dunkel erschienen waren, zu denen es hätte führen können.

Wir traten in den modernsten Kunstsalon Berlins. Der Holzbogen der Eingangshalle, der in seinen geschwungenen Linien alle Sprödigkeit des Materials siegreich überwunden hatte, empfing mit weit ausgebreiteten Armen die Besucher. In hellen Vitrinen, durch unsichtbare Lichtspender von innen strahlend, lagen auf grauem Samt Gürtel, Schnallen, Armreifen und Diademe; Vogelgefieder und Schmetterlingsflügel aus durchsichtigem Email vereinten sich mit dunklem Gold, mattem Silber; Perlen in phantastischen Formen standen neben Edelsteinen von unerhörter Farbenpracht –.

»Ein Schmuck für Märchenprinzessinnen, von einem Dichter geschaffen,« sagte Romberg bewundernd und versenkte sich in den Anblick. Er mochte weißer Arme gedenken und schimmernder Nacken und holder Frauenköpfe mit lachenden Lippen und duftenden [387] Locken. In meinen Augen aber hafteten andere Bilder: rissige Hände, gebeugte Rücken, sorgendurchfurchte Gesichter –, ich wandte mich ab, im Innersten verletzt.

Der nächste Raum war voll sanften Lichtes und tiefer, weicher Sessel.

»Wie wohltuend, wie ruhig!« meinte jemand. »Eine schöne alte Frau mit sehr weißen stillen Händen müßte ihren Lebensabend hier verträumen.« Aber die Armenstube von Platkow sah ich vor mir.

Vor ein großes Bild traten wir dann: auf weichem, blumendurchwirktem Rasenteppich, der sich im stillen Wald verlor und zärtlich eine Quelle umgab, die diesen Frieden mit keinem Plätscherlaut stören mochte, kniete ein Jüngling, den dunkeln Dantekopf andachtsvoll zu der Jungfrau erhoben. Aus der Säulenhalle des Tempels tretend, krönte sie ihn; lange, schmale, durchsichtig bleiche Finger hielten den Kranz. Mädchen, so schlank und hoheitsvoll wie sie, standen zur Seite. Und das alles leuchtete in mystischem Blau, in trunkenem Purpur, in sattem Grün, – weitab aller grauen Töne der Wirklichkeit. Fast nahm die fremde Wunderwelt mich schon gefangen. Da tauchte der sturmdurchpeitschte Park vor mir auf und der rauhe Mann, der mit harten Arbeitshänden zärtlich die kleinen Knospen streichelte. Ich war sehr einsilbig.

Wir beschlossen den Tag im Theater, wo Maeterlincks Pelleas und Melisande unter der Direktion eines jungen Revolutionärs der Bühne zur Aufführung kam. Böcklins Landschaften schienen lebendig geworden:

Der Zauberwald und die Felsen, die finsteren Schloßtürme und der weiße Marmorbrunnen verschmolzen mit den schwebenden Gestalten, dem Sonnenglanz und dem Mondlicht zum reinen Rhythmus bewegter Kunst.

Die lärmende Straße draußen zerstörte den Traum. Mit schmerzhafter Klarheit empfand ich die gähnende Kluft zwischen [388] all der ästhetischen Kultur, die um uns her zu blühen begann, und dem Leben, dem Denken und Wünschen der Millionen, die erst anfingen, um die Befriedigung ursprünglichster Triebe zu kämpfen. Rombergs Gedanken begegneten den meinen.

»Fühlen Sie nicht selbst, wie weltenfern Sie denen stehen, deren ganzes Bedürfen in etwas mehr Zeit, etwas mehr Brot gipfelt?« sagte er. »Sie müssen Ihre Sinne, Ihre Nerven, an deren subtiler Verfeinerung Generationen arbeiteten, gewaltsam abstumpfen, um ihr Sprachrohr werden zu können.«

Meine ganze Freudigkeit kehrte mir wieder.

»Wie eng Sie denken!« lachte ich. »Nicht abstumpfen, steigern muß ich meine Empfänglichkeit, damit ich immer weiß, wie groß das Entbehren ist und wie ungeheuer der Gewinn unseres Kampfes.«

»Machen Sie sich denn gar nicht klar, daß, wenn die Masse erreichen sollte, was Sie heute haben, Sie und Ihresgleichen ihr wieder um tausend Jahre voran sind?!« sagte Romberg. »So wird die Kluft bleiben, – immer bleiben, und die Gleichheit ist eine Chimäre.«

»Ich fordere auch nur die Gleichheit der Lebensbedingungen; wie der Baum aus diesem Boden wächst, darüber entscheidet seine eigene Kraft,« antwortete ich.

Wir brachen ein Gespräch ab, das uns nur voneinander entfernen mußte. Aber einen Gedanken hatte es wachgerufen, der sich von nun an nicht mehr einschläfern ließ. Wenn er mich quälte und ich ihn abschütteln wollte, so bohrte er sich nur noch tiefer in Hirn und Herz. Hörbarer, als da die Völker wanderten, um sich neuen Heimatboden zu erobern, dröhnte die Erde unter den Tritten der Millionen, die sich in Bewegung gesetzt hatten, um dem Elend zu entfliehen. Aber ihrem Wollen fehlte die einheitliche Formel. Im Dreigestirn der Revolutionsideale lag sie nicht. Und was Marx ihnen gegeben hatte, das waren wissenschaftliche Erklärungen über die Art, das Tempo und das Ziel [389] der Bewegung gewesen, die nur so lange über den Mangel hinwegtäuschen konnten, als sie unerschüttert waren.

Ein Ereignis bestärkte mich in meiner Idee. Mitten im Wahlkampf, der all unsere Kräfte auf ein Ziel, – die Niederwerfung des Gegners, – hätte konzentrieren müssen, entspann sich ein wüster Krieg zwischen den Parteigenossen selbst. Er wäre unmöglich gewesen, wenn nicht jenes Fehlen der inneren Einheit gegenseitiges Mißtrauen zur Folge gehabt hätte. Was der eine ruhigen Gewissens tat oder ließ, das erschien dem anderen als ein Verstoß gegen die Partei.

Ein halbes Dutzend Parteigenossen, – ich gehörte zu ihnen, – hatten seit Jahr und Tag an einer bürgerlichen Wochenschrift mitgearbeitet, die eine Tribüne war, auf der alle Richtungen ungehindert zu Worte kamen. Die literarischen und künstlerischen Kritiken, die ich darin veröffentlicht hatte, – Augenblicksarbeiten, denen ich gar kein längeres als ein Augenblicksinteresse beimaß, – hatten oft weniger dem Bedürfnis nach Aussprache, als dem Erwerbszwang ihr Entstehen zu verdanken. Die Parteipresse stand mir nur selten zur Verfügung, und um so seltener, je mehr ich des Revisionismus verdächtig war. In ähnlicher Lage wie ich waren die meisten derer, die mit mir ›gesündigt‹ hatten. Zwei von ihnen standen als Reichstagskandidaten im heftigsten Feuer der Wahlkampagne. Aber das hinderte einige radikale Wortführer nicht, uns in breitester Öffentlichkeit als Schleppenträger der gegnerischen Presse zu verdächtigen.

Kaum hatte ich den betreffenden Artikel gelesen, als ich schon am Schreibtisch saß, um uns dagegen zu verteidigen. Die Ansicht, daß wir jede Tribüne benützen müssen, von der aus wir gehört werden können, hatte sich in mir seit der Zeit, wo ich sie, von Wanda Orbin beeinflußt, angesichts des Frauenkongresses verleugnet hatte, nur befestigt. Unsere Presse, unsere Versammlungsreden erreichten immer nur dieselben Kreise, [390] und abseits standen Hunderttausende, die uns nur aus den Darstellungen der Gegner kennen lernten. Ich legte meine Erklärung den Mitbetroffenen vor. Sie sollte in derselben Zeitung erscheinen, die uns angegriffen hatte. Ich wurde daran verhindert; man wünschte die Ausdehnung des Zwists zu vermeiden, indem man die öffentliche Antwort, wie ich sie beabsichtigt hatte, in eine Zuschrift an den Parteivorstand verwandelte. Dieser aber sah sich nicht mehr imstande, auf eine interne Auseinandersetzung einzugehen, – die ganze Presse hatte sich schon der Sache bemächtigt, unsere politischen Gegner schlachteten sie gegen uns aus –, er veröffentlichte seine Entscheidung: kein Parteigenosse darf an einer Zeitschrift mitarbeiten, die die Sozialdemokratie in hämischer oder gehässiger Weise kritisiert. Die ganze Provinzpresse druckte natürlich die lapidaren Sätze des Vorstands ab. Wir waren gebrandmarkt vor den Genossen, in deren Mitte wir wirken sollten; den Gegnern waren die Waffen in die Hand geliefert, um uns vor ihnen zu diskreditieren. Darüber verging uns das Lachen, das im Grunde die richtigste Antwort gewesen wäre. Wir sahen in der Entscheidung, die es jedem Parteiführer an die Hand gab, mißliebige Blätter auf den Index zu setzen, einen weiteren Schritt zum Papismus, wir empörten uns, daß gerade diejenigen, die in der Partei in Amt und Brot waren, den freien Schriftstellern, die dem Verdienst nachgehen mußten, die Zugehörigkeit zur Partei unmöglich zu machen suchten, und eine ihrer Grundlagen schien uns in dem Angriff auf die Freiheit der Meinungsäußerung verletzt. Wir Überläufer aus der Bourgeoisie, die im Kampfe gegen alle Autoritäten, – die der Familie, der Bildung, der Religion, des Staats, – den Weg zur Sozialdemokratie gefunden hatten, wären die letzten gewesen, eine neue Autorität, – die des Parteivorstands, – anzuerkennen. Und mein Mann, der seine Frondeurnatur am wenigsten verleugnen konnte, wurde unser Wortführer gegen ihn: in einem geharnischten Artikel verteidigte[391] er die Freiheit der Meinungsäußerung. Nun erst entbrannte der Kampf, der seit dem Münchener Parteitag schon im stillen die Geister erhitzt hatte, auf der ganzen Linie, – mit all jener Bitterkeit, die entsteht, wenn Freunde zu Feinden werden.

Im stillen fürchteten wir, was unsere politischen Gegner hofften: daß die Wahlen dadurch zu unserem Nachteil beeinflußt werden könnten.


Am ersten Mai, dem Weltfeiertag der Arbeit, sollte ich in Frankfurt a. O. die Festrede halten. Mir war im Augenblick wenig festlich zumute; mit so viel Hoffnungsfreudigkeit hatte ich die Agitation begonnen, – sollte sie vergebens gewesen sein?! Sollte ich am Ende an ihrer Erfolglosigkeit mitschuldig sein, weil ich – es klang wie der dumme Witz eines Possenreißers – in einer bürgerlichen Zeitschrift über Halbes Theaterstücke und Laura Marholms Frauenbücher geschrieben hatte?! Aber schon als der Zug die letzte Berliner Bahnhofshalle verließ und statt der hohen grauen Häuser sich draußen Laube an Laube reihte, von dem ersten jungen Grün überhaucht, mit bunten Fähnchen lustig bewimpelt, und Menschen in Festtagskleidern auf der Chaussee zwischen den jungen Birken, die grüßend die grünen Schleier ihrer Äste bewegten, den Versammlungen entgegeneilten, in denen ihres Frühlingsglaubens Auferstehungsbotschaft gepredigt werden sollte, verschwanden all meine törichten kleinlichen Ängste. Was hatten die dogmatischen Zänkereien der Priester mit der Religion der Massen zu tun?

Zwei kleine Mädchen empfingen mich am Bahnhof, mit blauen Bändern in den Zöpfchen und frisch gewaschenen weißen Kleidern, die sich um sie bauschten, so daß sie aussahen wie Riesenglockenblumen. Sie führten mich hinunter in die Stadt über den Platz mit seinen geharkten Wegen, seinen artigen Rasenfleckchen und den kleinen dürftigen Beeten darauf, an Häusern vorüber mit nüchternen Fassaden und ablehnend verhangenen [392] Fensterscheiben. Die Glocke der Elektrischen wirkte hier wie erschreckender Lärm. Als wir aber um die Ecke bogen, wo die Kastanien über das holprige Pflaster schon breite Schatten warfen, da schien das Leben der träumenden Stadt erwacht: in Trupps zu vieren und fünfen, mit weißen und braunen und gelben Kinderwägelchen dazwischen, die Männer im Sonntagsrock, die Frauen mit nickenden Blumen auf hellen Hüten, so zogen sie durch die Straße. Und an jeder Gassenmündung gesellten sich andere hinzu, und wo die Gärten größer und die Häuser kleiner wurden, kamen Landleute mit Stulpenstiefeln, Mädchen mit Kopftüchern über die Feldwege. Alles grüßte einander mit dem Blick frohen Erkennens. Weit hinunter bis zu dem silbernen Band der Oder dehnten sich, von alten Weiden umrahmt, üppige Wiesen; in goldgelben Flecken, wie auf die Erde gebanntes Sonnenlicht, glänzten Butterblumen daraus hervor. Von der anderen Seite des Wegs, wo der Boden sich hob, nickten über Weißdornhecken rosig blühende Bäume; darüber klang der langgezogene Sehnsuchtston der Stare, das Kwiwitt der Rotkehlchen, das vielstimmige Zwitschern buntgefiederter Meisen.

Nun hatten sich die Wandernden zu einem Zuge zusammengeschoben, und eins war ich mit ihnen. Aus dem Garten, durch dessen laubumwundene Pforte wir zogen, tönte Musik. Auf der Bühne der Festhalle, die wir betraten, warteten schon die Sänger. Ich stieg die Stufen hinauf. »... Ein Sohn des Volkes will ich sein und bleiben ...« sang der Chor. Durch die hohen weit geöffneten Fenster strömte die Sonne in breiten Wogen; ihre Strahlen trugen den Duft des Frühlings mit herein und berührten all die braunen und blonden Scheitel der andächtig lauschenden Menge.

Dicht unter der Bühne hatten sich die Kinder zusammengeschart, die kleinsten in ihren bunten Kleidchen, wie ein Beet farbenfroher Sommerblumen, am weitesten nach vorn. Ein [393] kecker kleiner Kerl war bis auf die Rampe geklettert, ein strohblondes Mädchen schmiegte sich schüchtern an sein Knie, und die beiden Augenpaare – ein schwarzes und ein blaues – hingen an mir wie eine große verwunderte Frage.

Sehr feierlich war mir zumute, als stünde ich, ein geweihter Priester, zum erstenmal auf der Kanzel. Aber es war nicht die Religion der Liebe, die ich predigte, – jener Liebe, die den Haß der Welt in sich trägt, es war nicht die ewige Seligkeit, die ich verkündigte, – jene Seligkeit, in die nur Eingang findet, wer zu kriechen und den Kopf zu bücken gelernt hat. Was als unklare Empfindung in den Herzen unserer Väter lebte, die die Sonne anbeteten, deren Feste Sonnwendfeiern waren, die dem steigenden Licht im Lenz die Neugeborenen weihten, das ist die Grundlage unserer Religion. Nicht wer am nachhaltigsten seine Sinne abtötet, sondern wessen Augen am klarsten sind, wessen Ohr am feinhörigsten ist, um alle Schönheit der Welt in sich aufzunehmen, der ist der Heiligste unter uns. Und ein Anrecht auf unser Himmelreich gewinnt nicht, wer leidet und duldet, sondern wer handelt und genießt. Dulden und leiden kann jeder, aber nur der Sohn einer reifen Kultur vermag zu genießen, nur der Wissende handelt.

»Wenn sich die Arbeiter der ganzen Welt Jahr um Jahr in der Forderung des Achtstundentages zu diesem Frühlingsfest vereinigen, so tun sie es, weil sie wissen, daß sie damit ihre Menschwerdung fordern. Zeit ist die Voraussetzung für Wissen und Genuß ...«

Halb enttäuscht, halb erwartungsvoll sahen die Frageaugen der Kinder noch immer zu mir empor. Mit demselben Ausdruck bettelte mein eigen Kind um eine Geschichte, wenn wir im Walde gingen, wo die Bäume und die Blumen ihm noch stumm waren. Auch diese Kleinen hier sollten nicht vergebens warten: von den Bettelkindern erzählt' ich ihnen, die auszogen, ihre verlorenen Königskronen wiederzufinden ...

[394] Draußen im Garten kamen sie dann alle und dankten mir. Die Kinder hatten die Fäustchen voll Wiesenblumen und legten sie mir in den Schoß. Die Alten luden mich an ihren Tisch. Sie wußten nicht, daß ich ihnen zu danken hatte. Ich war wieder stark und froh, ich hatte in ihnen die Erde berührt, die kraftspendende.


Der Tag der Entscheidung rückte näher. Immer leidenschaftlicher wurden die Angriffe unserer Gegner in ihrer Presse, in ihren Flugblättern. Mit dem alten Märchen vom gewaltsamen Teilen suchten sie den Bauern, der an seiner Scholle hängt, den kleinen Handwerker, der sich an den kläglichen Rest seiner Selbständigkeit klammert, in ihre Gefolgschaft zu fesseln. Mit der Autorität des Kaisers stützten sie ihre Angriffe auf die sozialistischen Agitatoren.

»Zerreißt das Tischtuch zwischen euch und jenen Leuten,« – dieses kaiserliche Wort machten sie zu ihrem Schlachtruf. Weite Kreise des Volkes, denen der Thron noch so heilig war wie der Altar, scharte er unter ihre Fahnen, aber größere noch, empört über die Stellungnahme des Staatsoberhaupts im Kampf der Parteien, trieb er zu uns herüber. Hochauf loderte der Zorn in unseren Reihen. Was sich in Jahren angesammelt hatte an bitterer Enttäuschung und stillem Groll, das brach flammend hervor. Zu Regimentern, die wider den Gegner aufmarschierten, wurden die vielstelligen Zahlen, die Milliarden, die Armee und Flotte, China und Afrika verschlungen hatten; als Raubritter und Ausbeuter wurde gestempelt, wer je dazu ja gesagt hatte. Malten sie drüben mit blutigen Farben das Bild der Revolution und rissen dadurch den Gleichgültigen aus dem verschlafenen Winkel seines Daseins, so beschworen sie hüben alle Gespenster der Not und des Hungers herauf und schreckten mit ihnen die Stumpfen aus ihrem Arbeitsleben. Der ehrliche Kampf mit offenem Visier auf freiem Felde wurde zum Guerillakrieg mit [395] heimtückischen Listen und nächtlichen Überfällen. Und durch die feindlichen Lager hin und her auf leisen Sohlen schlich die Verleumdung; wen das Schwert nicht niederstreckte, den vergiftete sie.

Ich hatte dem Gegner gegenüber gerecht bleiben, mich als einzelne behaupten wollen gegenüber der Suggestion der Masse. Aber je länger ich im Kampfe stand, desto schwerer wurde es, ihrer Gewalt zu widerstehen. War ich nicht auch nur ein Soldat im Heere, dessen Füße von selbst im Takt der anderen marschieren, der die gleichen Waffen trägt und, vom Rausch des Krieges überwältigt, einen persönlichen Feind in jedem Glied des gegnerischen Heerbannes sieht?


Der Gegenkandidat meines Mannes war ein alter Reaktionär, den der Bund der Landwirte auf seinen Schild erhoben hatte. Der Zolltarif galt ihm als ein »gigantisches Werk«; die Arbeitslosenversicherung, die in diesem Jahre wirtschaftlicher Depression für uns eine immer dringendere Forderung geworden war, erklärte er für »unmoralisch«; dem gesetzlichen Arbeiterschutz, dessen Ausbau auf dem Wege zu unseren Zielen lag, müsse, so sagte er, ein »Stopp« entgegengerufen werden, und wider den Großkapitalismus, dessen Entwicklung eine Voraussetzung des Sozialismus war, galt es, den Mittelstand mobil zu machen. Als der typische Konservative war er der willkommenste Gegner, weil sich hier, klar voneinander geschieden, zwei Weltanschauungen gegenüberstanden. Zwischen ihnen schwankten, als das Zünglein an der Wage, die Liberalen des Kreises hin und her. Sie wollten nicht glauben, daß wir ein gut Stück Weges zusammengehen konnten und es einer Verleugnung aller liberalen Grundsätze gleichkam, wenn sie den Konservativen Gefolgschaft leisten wollten.

Meinen Mann sah ich immer seltener. Trafen wir uns zu Hause, so schrieben wir zusammen Flugblätter und Artikel, wobei er mit der ruhigen Sachlichkeit seiner Beweisführung die [396] Gegner zu entwaffnen, und ich mit dem Feuer, das mich durchglühte, Anhänger zu werben versuchte. Hie und da trafen wir uns in Versammlungen, dann hörte ich, daß er sprach, wie er schrieb: er wandte sich an den Verstand, er suchte zu überzeugen, wo ich an das Gefühl appellierte. Er hatte die Sprache des Dozenten, nicht die des Agitators. Wen er dem Sozialismus gewann, der wurde zum Bekenner. Was ich entzündete, mochte nur zu oft nichts als ein Feuerwerk sein.

In den letzten Tagen fuhren wir von Ort zu Ort. Schon blühten Pfingstrosen in den Gärten, und von Flieder und Holunder dufteten die Lauben. Über den staubigen Chausseen brütete die Sommersonne. Die Menschen in den engen Sälen atmeten rasch und schwer wie im Fieber. In den Dörfern gab's Schlägereien. War einer als Genosse bekannt, so spien die Bauern vor ihm aus, und seinem Weibe gingen die Nachbarinnen aus dem Wege. Die Kinder aber in der Schule ließ der Lehrer mit besonderer Vorliebe patriotische Lieder singen. Säle, die uns zur Verfügung gestanden hatten, wurden uns genommen; breitspurig, ein Herr der Situation, stand der Gendarm vor der Türe, wenn wir den Eingang erzwingen wollten. Kamen wir auf freiem Felde zusammen, der Sonne und dem Regen trotzend, so löste er die Versammlung auf, hatten wir irgendwo einen Raum für sie gefunden, so erklärte er ihn für feuergefährlich, kam ich als Rednerin in irgendein abgelegenes Nest, so hieß es: »Frauenspersonen dürfen nicht sprechen.« Aber die Genossen waren immer wieder erfinderischer als er. So fuhren wir einmal in ein kleines Dorf, das weltverlassen zwischen zwei blauen Seen in der Niederung liegt. Nur arme Schiffer wohnten hier und kleine Bauern, die elender lebten als der Fabrikarbeiter in der Stadt. Einer von ihnen hatte seine ganze arme Kate ausgeräumt, um die Versammlung zu ermöglichen. Das Hausgerät stand auf dem Hof, die Sonne enthüllte unbarmherzig all seine Armseligkeit. Die leeren Stuben faßten [397] trotzdem die Menge nicht, das Gärtchen stand noch voll von ihnen. Selbst auf den Gemüsebeeten trampelten schwere Stiefel, aber als ich ein Wort des Bedauerns äußerte, sagte des Schiffers Frau mit glänzenden Augen: »Wenn's auch mit Erbsen nischt is dies Jahr, wenn's man mit die Stimmen für den Sozi wat sein wird!«


Am Vorabend der Entscheidung kamen wir in Frankfurt an. Im Hauptquartier der Partei herrschte fieberhaftes Leben: hier meldeten sich Radfahrer, um zum morgigen Dienst ihre Marschorder in Empfang zu nehmen, blutjunge Leute unter ihnen, die sich mit um so größerem Enthusiasmus in den Dienst der Sache gestellt hatten, als sie selbst noch nicht wählen durften; dort stellten sich Frauen zur Verfügung, um die Säumigen an die Urnen zu holen, und in später Nachtstunde kamen andere hungrig, heiß und verstaubt von der letzten Verteilung der Wahlflugblätter zurück. Als die Stadt schlief, huschten die Unermüdlichsten noch durch die Straßen, und am Morgen leuchtete in weißen und roten Lettern ein »Wählt Brandt!« an den Zäunen und auf dem Trottoir.

Wir gingen durch die Wahllokale. Vormittags stellten sich allmählich die Bürger ein, ruhigen Schrittes, ohne sonderliche Erregung; mit dem Zwölfuhrglockenschlag wurde es auf den Straßen lebendig, und durch die Türen schoben sich die Arbeiter, beschmutzt, verstaubt, wie die Fabrik und der Bau sie entlassen hatte. Die Bezirksleiter notierten jeden, der sich meldete, strichen an, wer noch fehlte, gaben Weisung an die ihrer Aufgabe wartenden Frauen. Und die suchten dann die Säumigen in den Wohnungen, auf den Arbeitsstätten. Nachmittags lag wieder sommerliche Stille über der Stadt. Dann aber, als der Himmel sich schon mit rosigen Wolken überzog, hallte das Pflaster wider von raschen Tritten. Sie kamen in Scharen: die jungen, rüstigen voran, und zuletzt, von Frauen, von Kindern geführt, Alte, [398] Kranke und Krüppel. Der Zettel in ihrer Hand, das war ihr einziges, freies Mannesrecht, damit waren sie an diesem einen Tage die Gestalter ihres Geschicks.

Es dämmerte. In den Wahllokalen saßen unter spärlichen Gasflammen, vor rauchenden Petroleumlampen die Zähler. Wenn wir eintraten, bedurfte es keiner erklärenden Worte, die leersten Gesichter waren sprechend geworden: Furcht und Hoffnung, Zorn und Siegeszuversicht drückte sich in ihnen aus.

Schon brannten die Laternen in den Straßen. Im Hause, wo die Partei ihr Bureau aufgeschlagen hatte, waren alle Fenster erleuchtet. Im Saal oben war es noch leer; nur der Vorstand des Wahlvereins harrte vor dem Tisch mit dem großen Tintenfaß und den unbeschriebenen weißen Blättern der kommenden Dinge. Sie grüßten uns kopfnickend, sie waren blaß und schweigsam vor Erregung. Über Webers Stirn standen helle Schweißtropfen, seine blanken Augen waren verschleiert. Wir setzten uns. Nach und nach füllte sich der Raum. Lauter Schweigende. Die Minuten schlichen wie ebenso viele Stunden. Endlich der erste Radler! Gleich darauf der zweite, der dritte, der vierte – die Wahlbezirke der Stadt.

»Schlecht steht's!« knirschte der eine und warf den Zettel auf den Tisch.

»Der Westen Frankfurts –,« sagte Weber, »immerhin: zum erstenmal Stimmen für den Sozi! – Das Zentrum, – na, besser hätt's sein dürfen! – Und die Vorstadt, pfui Teufel, das sind die Eisenbahner, die auf Kommando wählten! – Aber hier –,« sein Gesicht strahlte – »das reißt die ganze Stadt heraus!«

»Hurra!« rief einer und schwenkte die alte Soldatenmütze zum offenen Fenster hinaus.

»Bravo!« antwortete es vielstimmig von unten.

Wieder verrannen Viertelstunden. Schon waren alle Plätze an den langen Tischen besetzt.

[399] »Warum dauert das nur so lang –,« seufzte ich.

»Die Radler aus dem Oderbruch können noch nicht hier sein –,« sagte Weber, der wieder und wieder nach der Uhr sah.

»Telegramme!« schrie jemand. Der Postbote drängte sich durch die Reihen.

Mit bebenden Fingern riß Weber sie auf: »Berlin erobert! – Ganz Sachsen unser –!«

Ein Jubelruf, der sich wieder bis auf die Straße weiterpflanzte, aber rasch verklang. Das Schweigen war eine einzige Frage: »Und wir?!« – Jetzt aber tönte von unten ein donnerndes »Hoch!« Wir stürzten zum Fenster: über das Pflaster sprangen Lichter in langer Kette, Räder blitzten auf –, die Treppen stürmte es empor: atemlos, blaurot, mit zitternden Knien standen sie vor uns, die Männer aus dem Oderbruch. Sie waren keines Wortes mächtig, aber die Tränen, die hellen Freudentränen tropften ihnen über die Wangen. Mit einer fast feierlichen Gebärde breitete Weber die Botschaften vor uns aus. Hunderte von Stimmen hatten wir gewonnen. Dicht unter den Augen der Gegner, auf Gutshöfen, in Dörfern hatten die Landleute für uns gestimmt. Stumm streckte ich dem Maurer Merten die Hand entgegen. Er hielt sie lange zwischen seinen harten Fingern.

Jetzt standen die Menschen schon Kopf an Kopf. Noch fehlten die entferntesten Bezirke, – Buckow, Fürstenwalde. »Entschieden ist noch nichts,« murmelte Weber angstvoll.

Wieder ein Lärm auf der Straße. »Die Oderzeitung bringt ein Extrablatt!« schrien sie zu uns empor. In weitem Bogen flog es von der Tür über die Köpfe hinweg auf unseren Tisch: »Depeschen aus Süddeutschland – München, Nürnberg, Bayreuth, Stuttgart, Darmstadt – alles unser!«

Und nun löste ein Depeschenbote den anderen ab; jede Siegesnachricht steigerte die elektrische Spannung, selbst die Nachtluft draußen schien erfüllt von ihr.

[400] Zu elf dumpfen Schlägen holte die Uhr auf der Marienkirche aus.

»Im Haus der Oderzeitung löschen sie die Lampen,« – rief ein junger Bursche, und brach sich mit Ellbogenstößen freie Bahn in den Saal. Die Gesichter ringsum erhellten sich.

Eine Gärtnersfrau, der ausdauerndsten eine im Heranholen säumiger Wähler, nahm aus ihrem bis dahin sorgfältig gehüteten Korb einen großen Strauß roter Nelken und stellte ihn vor uns auf den Tisch. – »Ist's nicht zu früh?!« – Ein Brausen lag in der Luft, – war's nicht das pochende Blut in meinen Schläfen? Oder waren's die vielen Stimmen vor dem Haus?

»Die ganze Straße steht schwarz voll Menschen,« flüsterte ein baumlanger Arbeiter neben mir in scheuer Angst. Es war heiß, – glühend heiß im Saal, und doch schien mir, als müßten alle frieren wie ich.

Da – »Fürstenwalde!« und wie ein Echo: »Buckow!« Weber war weiß im Gesicht, – sekundenlang bohrten sich seine Augen in das Papier. Wir hielten den Atem an, – dann stieß er mit rauher Stimme ein einziges Wort hervor: »Gesiegt!«

Einen Augenblick war es noch still. Einem alten Mann, den ich nicht kannte, und der bis zu mir vorgedrängt worden war, drückte ich krampfhaft die Hand. Dann brach es los wie Gewittersturm. Das schrie, das jauchzte, das schluchzte –, alte Männer fielen einander um den Hals, Frauen verbargen die Gesichter an den Schultern der Nächsten. Und draußen zerriß ein einziger Jubelruf die Stille der Nacht. Sie riefen nach ihrem Gewählten.

Auf die Fensterbrüstung trat er. »Nicht mir dieses Hoch, Parteigenossen –,« und seine tiefe Stimme klang voll und warm, und die Luft selbst schien sie weiter und weiter zu tragen, »– euch vielmehr, die ihr den Sieg erkämpftet, und unserer großen Sache vor allem, die die Siegesgewißheit in sich trägt! Ein Hoch der Sozialdemokratie, ein dreifaches Hoch!« Und [401] wieder brauste es, als schlügen orkangepeitschte Wellen an Felsenriffe.

Inzwischen war Weber still beiseite gegangen. Nun kam er zurück. Er trug die alte Fahne, von grauen Tüchern umwunden. Dicht vor dem Fenster nahm er langsam die Hülle ab, hob die schwere Stange hinaus, und das rote Tuch rollte auseinander und wehte, aufglühend, wo das Licht es traf, wie entfachte Flammen über die stumme Menge.

»Genossin Brandt! – – Alix Brandt!« – Riefen sie mich! Man schob mich zum Fenster, – man hob mich empor, – ich sah keine Menschen, ich sah nur ein wogendes Meer, – ohne Anfang, ohne Ende. Und ich streckte die Arme weit aus –.

[402]
14. Kapitel
Vierzehntes Kapitel

Alle Vorbereitungen für das Erscheinen der Neuen Gesellschaft waren getroffen. Es sollte eine Zeitschrift großen Stiles werden. Hervorragende Parteigenossen des In- und Auslandes hatten uns ihre Mitarbeit zugesagt. Eine junge Künstlerin, von der Idee, die uns leitete, gepackt, hatte den Umschlag gezeichnet: schwarze Fabriken, aus deren Essen die Feuerflammen der kommenden Zeit emporschlagen. Es gab Leute, die angesichts der schönen Ausstattung, des niedrigen Preises und der hohen Honorare, die wir festgesetzt hatten, bedenklich die Köpfe schüttelten. Aber der Dreimillionen-Sieg der Partei hatte den Glauben an unsere Sache, den wir von jeher besessen hatten, nur noch gestärkt. Jetzt war wirklich die Zeit gekommen, wo die Sozialdemokratie eine Macht im Staate zu werden begann, wo sie vor der Aufgabe stand, selbständig praktische Politik zu treiben. Breite Schichten der Arbeiterschaft, die erstarkten Gewerkschaften an der Spitze, verlangten danach, und die Masse der Mitläufer, die unseren Sieg hatte vergrößern helfen, war zweifellos nicht durch die ferne Aussicht auf den Zukunftsstaat zu uns gekommen, sondern durch die Hoffnung auf Reformen der Gegenwart.

Eines Morgens kam Heinrich verärgert aus dem Bureau: »Der Lindner läuft umher wie die Jungfrau von Orleans: ›und mich, die all dies Herrliche vollendet, mich freut es nicht, das allgemeine Glück‹. Sollten die Schwarzseher ihn schon beeinflußt haben?! Das könnte mir passen!«

Wir hörten eine Woche lang nichts von ihm. Dann kam ein Brief; – während mein Mann ihn überflog, veränderten sich [403] seine Züge: »Hier hast du den Wisch,« rief er wütend und warf die Türe hinter sich ins Schloß.

»Da ich mich überzeugt habe, daß ein gedeihliches Zusammenarbeiten zwischen uns nicht erreichbar sein wird, trete ich von unserem Vertrag zurück –,« las ich.

Das ist doch nicht möglich, – das kann doch nicht sein, fuhr es mir durch den Kopf; wie kann er sein Wort brechen, jetzt, in diesem Augenblick, wo er weiß, daß damit alles steht und fällt!

Heinrich war beim Rechtsanwalt gewesen. »Nichts zu machen,« knirschte er, als er nach Hause kam, »mein Anstand, oder sagen wir lieber meine Dummheit, die mich hinderten, den Vertrag notariell zu machen, ermöglichen diesen erbärmlichen Rückzug.«

Was nun?! Heinrichs trotzige Energie hatte auf diese Frage nur eine Antwort: »Erst recht!«

Ich fühlte mich im ersten Augenblick wie gelähmt und war geneigt, im Rücktritt Lindners etwas zu sehen, das einem Wink des Schicksals oder einem Gottesurteil gleichkam. Aber die Ereignisse innerhalb der Partei zerstreuten den Nebel, der meinen Blick vorübergehend verdunkeln wollte.

Überall hatten nach den Wahlen Siegesfeiern stattgefunden. Hunderte von Rednern hatten das »Unser die Welt!« in die überfüllten Säle hinausgeschmettert und ein vieltausendstimmiges Echo gefunden. Dann aber war der Rausch verflogen, und jenes erwartungsvolle Schweigen war eingetreten, das jedem großen Ereignis zu folgen pflegt. Man konnte sich nicht vorstellen, daß nun der Alltag wieder da ist, – genau so wie vorher; es mußte irgend etwas folgen, das dem Ungeheueren entsprach, das wir erlebt hatten! Doch es geschah nichts. Nur der Sommer war gekommen mit seiner Blumenpracht, – wie immer. Ein unbestimmtes Gefühl der Enttäuschung erkältete die eben noch glühenden Herzen. Die durch den Kampf aufgepeitschten Nerven erschlafften plötzlich; eine nörgelnde Empfindung [404] der Unzufriedenheit entstand; kaum einer war, der sich ihr entziehen konnte, und wer am leidenschaftlichsten um den Sieg gerungen hatte, den packte sie mit doppelter Gewalt.

Einige der führenden Geister in der Partei waren sich bewußt, daß die nervöse ungeduldige Frage der Massen nach dem Preise des siegreichen Kampfes Antwort heischte. Aber sie empfanden nicht, daß die Antworten, die sie gaben, angesichts der Größe der Erwartungen wie eine Verhöhnung wirken mußten. Kautsky, der Theoretiker des Radikalismus, versuchte ihr als der Vorsichtigere aus dem Wege zu gehen, indem er sich nur mit den Wahrscheinlichkeiten der künftigen Haltung unserer Gegner beschäftigte, und im übrigen die Gemüter durch den Hinweis auf »die alte, bewährte Taktik der Partei« zu beruhigen suchte. Eduard Bernstein dagegen, der Revisionist, hatte in dem Bestreben, zu momentanen praktischen Resultaten zu gelangen, acht Tage nach dem Siege auf die Frage: was folgt aus dem Ergebnis der Reichstagswahlen? keine andere Antwort als die: ein sozialdemokratischer Vizepräsident im Reichstag! Was in ruhigen Zeiten vielleicht zu einer Erörterung innerhalb der Fraktion geführt hätte, das wurde jetzt das Signal zum Aufruhr.

Wie, darum haben wir monatelang unsere Haut zu Markte getragen, darum haben drei Millionen Deutsche einundachtzig Sozialdemokraten in den Reichstag geschickt, damit einem von ihnen die Gelegenheit geboten wird, vor dem Kaiser zu katzbuckeln, – dem Kaiser, dessen Faust wir von Essen und Breslau her noch auf unserer Wange brennen fühlen?! So tönte es von allen Seiten.

Vergebens, daß Vollmar von München aus versuchte, der kühlen Vernunft zu ihrem Rechte zu verhelfen, indem er die tatsächlichen Vorteile der Vertretung der Partei im Präsidium hervorhob und die Haltlosigkeit der prinzipiellen Gegnerschaft zu dem »Hofgang« dadurch illustrierte, daß die Parteigenossen [405] in den Einzelstaaten es mit ihrer republikanischen Gesinnung vereinigen müssen, dem jeweiligen Landesherrn Treue zu schwören, der Eid aber doch bedeutungsvoller sei, als ein offizieller Besuch im Kaiserschloß, – bis nach Norddeutschland drang seine Stimme nicht. Zu tief empfanden alle die unbewußte Verhöhnung ihrer Hoffnungen und ihres Glaubens in Bernsteins Antwort auf die Frage, die sie bewegte. Und auch ich konnte mich dem niederdrückenden Eindruck nicht entziehen.

Die Empörung über Bernstein verdichtete sich zur allgemeinen Wut auf die Revisionisten, die sie ihrerseits mit einem Ungeschick, das sich nur aus ihrer Temperamentlosigkeit erklären ließ, schüren halfen.

»Wir müssen die liberalen Parteien ersetzen –,« erklärte der eine; die aufgeregten Massen lasen daraus: wir müssen unsere sozialdemokratischen Grundsätze in die Tasche stecken.

»Ein proletarischer Klassenkämpfer sein, das heißt nicht auf die bürgerliche Gesellschaft unterschiedslos drauflos prügeln –,« sagte ein anderer; die Arbeiter ergänzten: wir sollen mit ihr liebäugeln.

Sie hatten unrecht – zweifellos –, wie jeder unrecht hat, den die Leidenschaft nicht nur dem Ziel entgegen vorwärts reißt, sondern blind und taub macht für alles, was rechts und links geschieht. Aber weit größer war das Unrecht derer, die imstande gewesen waren, an dem Siegesfeuer, dessen himmelauflodernde Flammen die Begeisterung der Kämpfer entfacht hatten, ihr armseliges Süppchen zu kochen und es den Andächtigen, deren Glauben noch glühender brannte als das Feuer, als sättigende Speise darzureichen.

Ein mächtiger Helfer erwuchs ihrem Zorn, einer, der noch immer wundergläubig gewesen war, wie sie; einer, den, wie sie, der Sieg trunken gemacht hatte: August Bebel. In einer Erklärung, die dem Pronunziamento des Nachfolgers Christi auf dem apostolischen Stuhle gleichkam, verurteilte er Bernstein [406] und die Seinen und drohte überdies mit der Entscheidung des nächsten Parteitages. Nun erst, nachdem der Führer gesprochen, entbrannte der Bruderkrieg in vollem Umfang. Was Bebel nur hatte ahnen lassen, das sprachen andere aus: fort aus der Partei, wer uns den Sieg verekelt.

Ich fürchtete das Schlimmste. Meine persönlichen Besorgnisse verschwanden wie Tautropfen im Meer. Jetzt galt es, den Bedrohten einen Mittelpunkt schaffen, der zum Ausgang einer starken, jungen Bewegung werden könnte. Aus tiefster Überzeugung wiederholte ich Heinrichs: »Erst recht!«


Der Verkauf des Archivs war der erste Schritt zu unserem Ziel. Heinrich wandte sich an einen der größten Verleger, der seine Bereitwilligkeit aussprach, das Archiv zu übernehmen, wenn der alte Herausgeber ihm erhalten bliebe. Er bot ein Redaktionshonorar dafür, das uns zeitlebens der Sorgen enthoben hätte. Wir besannen uns keinen Augenblick, seine Vorschläge zurückzuweisen.

»Nun bliebe noch Romberg,« sagte ich zögernd; ich wußte, seit jener ersten Anfrage war eine leise Entfremdung zwischen den beiden Männern eingetreten.

»Damit er mich wieder behandelt, wie der hochmögende Vormund,« brauste Heinrich auf.

Noch am selben Abend schrieb ich an Romberg. Wenige Tage später war er in Berlin. Ich setzte ihm die Lage auseinander.

»Ich appelliere lediglich an Ihr Interesse für die Zeitschrift,« sagte ich, »die heute eine der angesehensten ihrer Art ist. Es lag Ihnen daran, sie in die Hand zu bekommen; – Sie sprachen seinerzeit davon als von einem Ersatz der ordentlichen Professur.«

Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Wenn ich nun aber statt meines persönlichen Interesses, das sich nicht [407] verändert hat, meine Freundschaft entscheiden ließe?!« rief er aus. »Mir scheint, ich müßte Sie vor einem Unglück bewahren!«

»Das lassen Sie meine Sorge sein,« antwortete ich herb. Er schwieg verletzt, und als gleich darauf mein Mann eintrat, stellte er sich auf einen ausschließlich geschäftlichen Standpunkt und verhandelte nur mit ihm.

Kurze Zeit hernach war die Angelegenheit entschieden: Mit zwei anderen Herren übernahm Romberg das Archiv.

Ich hatte im Augenblick meine ganze Zuversicht wiedergewonnen und lud ihn ein, den Abschluß fröhlich mit uns zu feiern. Aber er war schon abgereist.

»Dann geben wir uns allein ein Fest,« meinte mein Mann; »wir haben Ursache genug dazu als selbständige Inhaber der Neuen Gesellschaft!« Doch es schien, als sollte es nicht sein. Zuerst verschlang die Arbeit unsere Zeit, und dann kam die Stimmung nicht wieder.


Der Hader in der Partei nahm immer bösartigere Dimensionen an. Was Bebel an Erklärungen und Artikeln veröffentlichte, das klang so maßlos, daß die Vizepräsidentenfrage und die Mitarbeit der Parteigenossen an bürgerlichen Blättern unmöglich die einzige Ursache seines Vorgehens sein konnte. Er mußte irgendwo Parteiverrat wittern, wenn er alle politische Klugheit so völlig zu vergessen vermochte und den Gegnern die bittere Pille der Wahlniederlage durch den Kampf in den eigenen Reihen versüßte.

»Die Zeit des Vertuschens und Komödienspiels ist vorbei –,« rief er; »jetzt heißt es Farbe bekennen, jetzt gibt's kein Ausweichen mehr –,« was hieß das anders, als daß Elemente in der Partei vorhanden waren, die nicht hinein gehörten, die entfernt werden mußten?

[408] »Die Masse der Parteigenossen halte die Augen auf!« mahnte er; was bedeutete das anders, als daß sich Verräter in ihrer Mitte befanden? Aber während Bebels Zorn vom Feuer der Leidenschaft noch immer verklärt erschien, sekundierten ihm die Zionswächter des Radikalismus mit der Kälte systematischer Verfolgungssucht. Und nun erwachte im Proletariat, auf dessen rohe Instinkte sie spekulierten, der Pöbel. Er warf sich keifend auf alles, was nicht mit ihm lärmte.

Wir, die wir dem Revisionismus eine selbständige Zeitschrift schaffen wollten, standen, das zeigte sich bald, mit auf der ersten Seite der Liste der Konskribierten. Noch ehe die erste Nummer unseres Blattes erschienen war, wurde es als ein kapitalistisches Unternehmen gebrandmarkt; von Mund zu Mund ging der Klatsch, daß wir einen reichen Gönner gefunden hätten, der es wie einen Sprengstoff in die Partei werfen wollte, und in einer der wild erregten Versammlungen, die dem Parteitag vorangingen, fiel zum erstenmal das verächtliche Wort, das wohlgefällig weitergetragen wurde: »Geschäftssozialisten.«

Es traf mich wie ein Keulenschlag. Eben erst hatten wir eine gesicherte Existenz von uns gewiesen, – und nun dies Wort!!

Ich brütete stumm vor mich hin. Ich ging nicht auf die Straße, denn ich fühlte mich wie beschmutzt.

Was ich erlebte, war nur ein Teil dessen, was allen begegnete, die unter dem Namen Revisionisten zusammengefaßt wurden. Das zahnlose alte Weib, der Klatsch, ging um mit den ewig beweglichen Lippen und den dürren Fingern, die in jeder Gosse gierig wühlen. Als Mandatsjäger wurde der eine verdächtigt, als lügnerischer Verleumder Bebels der andere. Und wessen wir bisher fälschlich beschuldigt worden waren, – eine geschlossene Gruppe zu sein, – das machte die Verfolgung aus uns. Den Kopf umnebelt von den giftigen Dünsten, die rings um uns aufstiegen, erschien uns der Haß der Personen, die uns bekämpften, [409] als das Primäre; kaum einer war, der noch wußte, daß er der Gegensatz der Anschauungen war, der ihn zeugte, und niemand gab zu, daß Bebel recht hatte, wenn er an kleinen Symptomen die ganze Richtung erkannte, – die Richtung, die seinen tiefgewurzelten Prophetenglauben, aus dem er die ganze Schwungkraft seiner Lebensarbeit sog, erschüttern mußte, wenn sie zur allgemeinen Anerkennung kam.

Wie sich sein Zorn und derer um ihn auf die Einzelnen entlud, die im Augenblick als die Sünder erschienen, so entlud sich der unsere auf einen Mann, der seit Jahren das Feuer schürte, das uns verbrennen sollte, der, ohne sich jemals in das Gewühl der Volksversammlung zu wagen, von der Abgeschiedenheit seiner Studierstube aus Jeden verfolgte, der kein Buchstabengläubiger des Marxismus war. Seine glänzende journalistische Fähigkeit hatte ihm seine Stellung geschaffen; die fanatische Rücksichtslosigkeit, mit der er seine Gegner verfolgte, hatte sie erhalten helfen. Niemand wagte, sich ihm entgegenzustellen. Selbst seine Gesinnungsfreunde fürchteten ihn, denn er haßte heute, was er gestern noch liebte.

»Er ist das böse Prinzip der Partei,« hieß es in unserem Kreise, während tatsächlich nur der konservative Radikalismus mit all seiner Unduldsamkeit, all seinem Dogmenglauben in ihm Fleisch geworden war.

»Wenn wir die Partei von ihm befreien können, so haben wir sie gerettet,« erklärten unsere Freunde.

Meinen Mann packte der Gedanke wie keinen. Noch immer hatte seine überschäumende Willenskraft sich an Aufgaben erproben wollen, die niemand sonst übernahm. Er hörte um so weniger auf die warnenden Stimmen, die sich erhoben, als ich ihn in seinem Vorhaben nur bestärkte. Die Partei aus der inneren Zerrüttung erretten, in der sie sich befand, sie einer neuen gesicherten Einheit entgegenführen, – keine Aufgabe wäre mir im Augenblick größer erschienen.


[410] Es war am Abend vor unserer Abreise nach Dresden, wo der Parteitag stattfand.

»Es wird ein Kampf bis aufs Messer,« sagte Heinrich; »aber was auch kommen mag, mich soll's nicht kränken, wenn ich nur deiner sicher bin!«

Ich legte beide Arme um seinen Hals: »Du kannst es, Heinz! Noch niemals liebte ich dich so wie heut!« Und zärtlich schmiegte ich meinen Kopf an seine Schulter, während mein Auge in demütiger Liebe an dem seinen hing.

»Ihr törichten Frauen wollt in den Männern immer nur Helden sehen,« meinte er. Seine Lippen brannten auf meinem Mund. Wir vergaßen der Ehe, wie in allen glücklichen Stunden unseres Lebens; – der Ehe, die alle Geheimnisse schamlos ihrer Schleier beraubt, so daß die Liebe, die nur von Sehnsucht lebt, sterben muß.

Gegen Morgen weckte mich ein Schrei. Ich fuhr entsetzt aus dem Schlaf.

»So bleib doch, Liebste,« flüsterte Heinrich traumbefangen. Aber schon war ich im Nebenzimmer am Bett meines Kindes. Seine Wangen glühten, verständnislos irrten seine Augen an mir vorbei. Und wieder löste sich ein Schmerzensruf von seinen trockenen Lippen. Ich wickelte den zuckenden Körper in nasse Tücher und schickte die Berta zum Arzt. Jetzt erst erwachte mein Mann und erschien an der Türe.

»Papachen,« sagte der Kleine und verzog den Mund mühsam zu einem Lächeln.

»Was ist denn nur?!« rief Heinrich mit gerunzelter Stirn und ungeduldiger Stimme; »komm doch ins Bett, – du erkältest dich ja!«

Ich lief ins Schlafzimmer zurück, um mir inen Mantel zu holen.

»Du siehst doch, – Ottochen ist krank,« flüsterte ich ihm im Vorübergehen zu.

[411] »Krank!« wiederholte er laut und trat näher. »Nicht wahr, mein Junge, dir fehlt nichts, – du träumtest nur schlecht, – du siehst ja rund und rosig aus, wie's liebe Leben.«

Mit einem ängstlich fragenden Blick sah der Kleine von einem zum anderen.

»Gewiß, Papa, gewiß,« sagte er dann mit stockender Stimme, »jetzt ist schon alles wieder gut.« Aber seine tränenumflorten Augen, die flehend zu mir aufsahen, sein heißes Händchen, das krampfhaft meine Finger umschloß, strafte seine Worte Lügen. Ich drängte Heinrich hinaus. Wo nur die Berta blieb? Warum der Arzt nicht kam? – Im Wohnzimmer schlug die Uhr sieben.

»Es ist die höchste Zeit, daß du dich anziehst, Alix,« rief Heinrich. Wir hatten uns mit unseren Freunden für den Achtuhrzug verabredet. Ich wechselte rasch die Kompresse auf der brennenden Stirn meines Kindes und ging ins Schlafzimmer.

»Selbstverständlich bleibe ich hier,« sagte ich, die Stimme dämpfend.

»Das wäre noch schöner!« antwortete er heftig. »Wegen eines Schnupfens, den der Junge im schlimmsten Fall kriegen wird, willst du in diesem Augenblick mich und die Sache im Stiche lassen!«

Ich fühlte, wie das Blut mir siedendheiß in das Antlitz schoß: »So sprich doch wenigstens leise –.«

Aber Heinrich wollte nicht hören: »Du weißt, was auf dem Spiele steht, – du kommst mit,« schrie er mich an, und seine Hand umkrallte meinen Arm.

»Und wenn die ganze Partei darüber zugrunde ginge, – ich bleibe hier,« zischte ich, außer mir vor Empörung.

»Mama, – Mama!« rief eine süße weinende Stimme. Der Kleine stand auf der Schwelle, mit angstvoll aufgerissenen Augen, wie im Schwindel auf den bloßen Füßchen hin und her schwankend. Auf meinen Armen trug ich ihn ins Bett zurück [412] und riegelte die Tür hinter uns zu. Nach kurzer Zeit hörte ich Heinrich das Haus verlassen. Ich fühlte keinen Schmerz, – nur eine ungeheure Leere in meinem Herzen. Darüber nachzugrübeln, war ich nicht imstande; in wilden Fieberphantasien wälzte sich mein Kind auf seinem Lager.

Kaum in Dresden angekommen, telegraphierte mir mein Mann: »Verzeih. Wie geht es?« Mußte ich ihm nicht jetzt, wo er so schweren Stunden entgegenging, die Wahrheit schonend verschweigen?! Aber warum diese Rücksicht?! War er doch mehr als schonungslos, war grausam gewesen! Nie würde ich ihm das verzeihen können!

»Otto schwere Blinddarmentzündung,« antwortete ich kurz, dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung entsprechend.

Zwei Tage vergingen und zwei Nächte. Noch immer stieg das Fieber; der kleine Körper krümmte sich vor Schmerzen. Die Schreie der Angst wurden schwächer; an ihre Stelle trat ein Wimmern – jammervoll, ununterbrochen. Ich wich nicht von dem kleinen Bett. Wenn ich die Hand auf das heiße Köpfchen des Kranken legte, schien er für Augenblicke ruhiger, wenn ich mich ganz dicht an ihn schmiegte, verlor sein Blick den Ausdruck tiefen Entsetzens. Einmal glaubte ich schon beglückt, er schliefe. Da riß er sich ungestüm aus meinen Armen, richtete sich hoch auf, starrte mich verständnislos an und schrie: »Mama, – Mama, – warum bist du so weit, – so weit weg, – ich sehe dich gar nicht mehr, –« und in verzweifeltem Schluchzen bebten seine Schultern. Das Herz krampfte sich mir zusammen, – und doch hatte ich noch Kraft genug, ihm beruhigend zuzulächeln, während ich den kleinen Körper wieder in nasse Tücher hüllte. Er wurde still, er schloß die Augen, er atmete regelmäßiger. Aber in meinen Ohren dröhnten seine Worte: warum bist du so weit weg! Er hatte mich angeklagt, – und ich sprach mich schuldig: War ich nicht Tage, Wochen, Monde lang von meinem Sohn »weit weg« gewesen?! War nicht auf seinen [413] Gedankenwegen mit ihm gegangen, – hatte nicht mit seinem Herzen gefühlt, – mit seinen Augen gesehen? Wenn er nun mich verlassen wollte?! Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende. An seinem Bette sank ich in die Knie; ich faltete die Hände auf seinen Kissen; – ich betete. Nicht zu den Schutzengeln, die mir ein Märchen waren, nicht zu dem Christengott, den ich nicht kannte. Mein Gebet war voll Frömmigkeit, ob es auch keine Worte hatte, mein Gebet war voll Glauben, ob es auch glaubenslos war, mein Gebet war voll Kraft, denn es richtete sich nicht gen Himmel, – es brachte dem Heiligtum des Lebens mich selbst zum Opfer dar ...

Der grauende Tag kroch durch die Fenster. Mein Kind schlief mit einem Lächeln um die blassen Lippen. Ich küßte es leise. Mir war, als wäre ich erst in der letzten Nacht seine Mutter geworden.

Draußen läutete es. Es war der Telegraphenbote: »Wie geht es? Rege dich über Zeitungen nicht auf.« Ich mußte den zweiten Satz noch einmal lesen; gab es noch irgend etwas in der Welt, über das ich mich nach dieser Nacht hätte aufregen können?! Ja so! Der Parteitag, – ich hatte nichts gelesen. »Otto besser. Bin ruhig. Wünsche Dir das Beste,« antwortete ich.

Während Berta mich bei dem Kranken vertrat, las ich die Berichte. Ich erschrak, als ich sah, daß Heinrich entgegen seiner Absicht, durch den Artikel eines sächsischen Parteiblattes herausgefordert, in der Diskussion über die Mitarbeit von Genossen an der bürgerlichen Presse als Erster gesprochen hatte. Die ganze Erregung über unser Auseinandergehen, die wachsende Sorge um das kranke Kind mußte ihn beherrscht, seine Stimmung beeinträchtigt haben. Und ich fühlte zwischen jeder Zeile der Rede die Bitterkeit seines Herzens, die quälende Angst. Über jenen Mann hatte er gesprochen, der sich herausnahm im Kampf gegen uns den Ton anzugeben, der uns um einiger Artikel in einer bürgerlichen Zeitschrift willen wie Verräter [414] verfolgte; und er hatte ihn gekennzeichnet als das, was er war: einen doppelten Renegaten, in der Jugend Sozialdemokrat, gleich darauf der Verfasser einer der giftigsten Schmähschriften gegen die Sozialdemokratie, nach wenigen Jahren wieder Mitglied der Partei, und jetzt: ihr unfehlbarer Sittenrichter. Keiner, so schien mir, würde sich dem Eindruck der Rede meines Mannes entzogen haben, wenn nicht in jedem Ton die Aufregung gezittert hätte, deren Ursache niemand kannte als ich. Immer wieder hatte ihn Bebel unterbrochen, mit stets gesteigerter Heftigkeit, und jeder Zuruf mußte meinen Mann, dessen ganze Seele wund war, doppelt schmerzhaft treffen. Und dann waren sie alle über ihn und uns hergefallen, und am tollsten hatten uns, die freien Schriftsteller – »frei« wie der Lohnarbeiter, der seinem Verdienst nachgehen muß –, die Genossen geschmäht, die in sicheren Parteipfründen saßen. Ein Gefühl von Ekel stieg mir bis zum Hals. Wie hatte doch Romberg einmal gesagt? »Durch eine bestimmte Personengruppierung kann eine Sache rettungslos verloren gehen.« War diese Gesellschaft wütender Proleten wirklich noch der würdige Träger der menschheitbefreienden Gedanken des Sozialismus?

In einem kurzen Brief, den ich von Heinrich erhielt, hieß es: »... Die Lage der Dinge ist unbeschreiblich. Die eingeschlossene Luft in diesem engen halbdunklen Saal scheint gefüllt mit Sprengstoff. Das gezwungene dicht Nebeneinandersitzen erhöht die Reizbarkeit ... Bebel ist selbst für Freunde, die ihn beruhigen wollen, unnahbar. Er hat sich stundenlang in sein Hotel zurückgezogen und hat den Ausdruck eines Rachegottes, wenn er wieder erscheint. Warum? Niemand weiß es. Er soll sich während der Wahlkämpfe überanstrengt haben, sagen die einen; die Erbschaft, die ein bayerischer Offizier ihm hinterließ, und das, was an Prozessen mit den Verwandten dieses Offiziers darum und daran hängt, soll ihn aufregen, meinen die anderen. Jedenfalls kommt mehr denn je alles auf seine Haltung an; und sein Benehmen [415] mir gegenüber läßt wenig Gutes hoffen. Übrigens scheint er auf uns beide ganz besonders wütend zu sein. Als Wanda Orbin die Mitarbeit an bürgerlichen Blättern als todeswürdiges Verbrechen kennzeichnete und dabei von den sündigen ›Genossen‹ sprach, rief er wiederholt mit starker Betonung dazwischen: ›Und Genossinnen!‹ Damit bist Du in erster Linie gemeint ... Man spricht von einer Resolution, durch deren Unannehmbarkeit die Revisionisten hinausgedrängt werden sollen ...«

Seltsam, wie kühl, fast gleichgültig ich dieser Möglichkeit gegenüber blieb.

Gegen Abend fieberte mein Kind wieder. Es phantasierte von Riesen, die das Zimmer füllten, und am Morgen war mir, als ob ich die ganze Nacht mit ihnen hätte ringen müssen, um sie vom Bett meines Lieblings fernzuhalten. Ich fühlte mich zu Tode erschöpft.

»Wir sind noch nicht über den Berg,« sagte der Arzt mit einem ernsten Gesicht, »aber Sie sollten sich trotzdem schonen –.«

»Ich bin die Mutter,« unterbrach ich ihn.

»Gerade darum,« antwortete er.

Aber wie konnte ich von meinem Sohne weichen, solange seine Augen sich trübten, wenn ich den Platz an seinem Bett verließ!

Während er ein paar Bleisoldaten auf den weißen Berg seiner Kissen klettern ließ, überflog ich zerstreut den neuen Parteitagsbericht. Erst Bebels Rede fing an, mich zu fesseln. Er zählte die Sünden jener Wochenschrift auf, für die wir fünf Angeklagten geschrieben hatten: Vor genau zehn Jahren hatte deren Herausgeber ihn als »rote Primadonna« verulkt. Ich staunte: sollte Bebel, der große Bebel, von so kleinlicher Empfindlichkeit sein, daß er dergleichen Nebensächlichkeiten als unauslöschliche Kränkungen empfand?! Und im vorigen Jahre während des Zollkampfes hatte derselbe Redakteur sich gegen die Obstruktionspolitik [416] der Sozialdemokraten ausgesprochen. War das nicht sein gutes Recht? Sollte er selbst mit seiner Überzeugung hinter dem Berge halten, wenn er allen seinen Mitarbeitern die vollste Meinungsfreiheit gewährte?

Ich las weiter. Ich rieb mir die Augen, – vielleicht war ich es jetzt, die fieberte, – der Kopf fing an, mir zu brennen. Ich las noch einmal. Aber ich irrte mich nicht. Hier stand es, ganz deutlich, und noch unterstrichen durch den »stürmischen Beifall«, mit dem es begrüßt worden war: »Es gibt unter uns Marodeure, die ein solches Blatt unterstützen –«, »Elemente, die moralisch tief gesunken sind –«, »ihnen gebührt nichts anderes, als ein kräftiges Pfui!«

Griff mir nicht eine rohe Faust an die Kehle –, traten die Augen nicht schon aus ihren Höhlen? Und der Boden unter mir, auf dem ich stand, schwankte er nicht? – – Meine Familie, meine Freunde, meine Existenz, – alles hatte ich der Partei geopfert, – und jetzt kam dieser Mann und beschimpfte mich, weil ich ein paar literarische Kritiken in ein Blatt geschrieben hatte, das ihm nicht paßte?! Er, dieser Ritter der Frauen, hatte den traurigen Mut, mich vor der ganzen Welt für ehrlos zu erklären?! Ich sprang vom Stuhl, – vergaß mein krankes Kind, – und lief ins Nebenzimmer. Dort in der alten Truhe lag sie noch, – meines Vaters Pistole! Wenn ich ein Mann wäre –! Meine Hand krampfte sich um ihren Griff, mein Finger suchte den Hahn. Wenn mein Vater noch lebte! Vor ihre Mündung würde er den Räuber meiner Ehre fordern!

»Mama!« rief es von nebenan. Ich strich mit der Hand über meine heiße Stirn und warf mit einem spöttischen Achselzucken über die romantische Anwandlung, die ich eben gehabt hatte, die alte Pistole in die Truhe zurück. Ich stehe ja nicht allein, dachte ich; mein Mann, der auf die kleinste Kränkung, die mir angetan wird, mit hellem Zorn reagiert, hat mich in diesem Augenblick schon verteidigt, und die anderen alle, die getroffen [417] wurden, genau wie ich, werden zu flammendem Protest einmütig zusammenstehen.

Aber schon, daß die Diskussion ohne Unterbrechung ihren Fortgang genommen hatte, machte mich stutzig. Freilich, der eine der Angegriffenen, der eben einen Wahlkreis erobert hatte wie wir, verteidigte sich in aufflammender Empörung.

»Auch dem Parteiführer, der die Ehre eines Menschen beschmutzt, gebührt ein Pfui,« rief er aus. Aber mitten in seiner Rede war er imstande gewesen, mit sentimentaler Rührung von der Verehrung zu erzählen, die er für den Beleidiger empfunden hatte! Ich schämte mich, auch nur mir selbst solch ein Gefühl zuzugeben. Und als Bebel nachher ein paar väterliche Worte der Anerkennung für ihn aussprach, bedankte er sich dafür!

Der andere stimmte seine Rede auf denselben Ton und sprach von der ganz besonderen Verehrung, die er für den Veteranen der Partei stets empfunden habe. Der dritte endlich brauste zwar in jugendlichem Eifer auf, hatte aber schon vorher reumütig abgebeten. Ich schüttelte mich. Wer sich so behandeln ließ, war wert, daß er so behandelt wurde. Mein Mann, dachte ich triumphierend, wird anders zu sprechen wissen!

Jetzt endlich fand ich seinen Namen unter den Rednern. Unwillkürlich suchte ich zuerst nach den Zwischenrufen, nach den wilderregten Szenen, die sein Zorn hervorrufen mußte; – und da stand es ja schon: »stürmische Unterbrechungen« – »große Unruhe« – »Skandal«. Aber das bezog sich gar nicht auf eine Zurückweisung der Beleidigungen Bebels. Meine Hände, die das Blatt hielten, begannen zu zittern.

Wie?! Auch was er sagte, klang wie eine halbe Entschuldigung?!

»Wir sind entschlossen, an der fraglichen Wochenschrift nicht mehr mitzuarbeiten, da das Interesse der Partei es fordert ...« Und dann: »Ich erwarte von Bebel, daß er das schwere und bittere Unrecht, das er begangen hat, einsieht und durch eine Erklärung gut zu machen sucht.« War das alles! Wirklich alles?! [418] Ich ballte die Hände und drückte die Nägel ins Fleisch, ich preßte die Zähne aufeinander, daß sie knirschten. Nur nicht weinen, nur jetzt nicht weinen, – wiederholte ich immer wieder. Die große Uhr über dem Schreibtisch tickte laut und vernehmlich, – meines Vaters Uhr, die ich vor fremden Händen gerade noch gerettet hatte.

»Er hat dich nicht verteidigt, – nicht verteidigt –,« sagte sie unaufhörlich; oder war es des Vaters Stimme? – »Nicht verteidigt –.«

Ich schrieb an den Vorsitzenden des Parteitags und forderte ihn auf, Bebel zu einer Rücknahme seiner Beleidigung zu veranlassen. Mein Wunsch wurde abgelehnt. Ich verlangte ein Schiedsgericht, das über meine Ehre entscheiden sollte. »Wegen der Meinungsäußerung eines Genossen über den anderen kann ein solches nicht angerufen werden,« lautete die Antwort. Jetzt also war ich vogelfrei; ausgestoßen aus meiner alten Welt, als Ehrlose gebrandmarkt in der neuen!

Ich wurde merkwürdig ruhig. Ich spielte lächelnd mit meinem Sohn, der sich langsam erholte. Es gab Stunden, in denen ich dem Schicksal dankbar war, das mich an diese Stelle zwang, das es mir deutlicher sagte, als Worte es je vermocht hätten: dein Kind allein ist deine Welt.

Fast mechanisch, interesselos, fing ich wieder an, die Berichte zu lesen.

Inzwischen war die Abstimmung über die Erklärung des Parteivorstandes zur Frage der Mitarbeit von Genossen an bürgerlichen Preßunternehmungen vor sich gegangen. Mit überwältigender Mehrheit war sie zur Annahme gelangt. Ich lachte unwillkürlich laut auf. So orthodor war bisher nicht einmal die Kirche gewesen! Sie war viel zu klug dazu; sie benutzte jede Tribüne, wenn es galt, auch nur eine Seele zu gewinnen.

»Nicht darauf kommt es an, wo Parteigenossen schreiben, sondern was sie schreiben. Je mehr sie mit ihrer Überzeugung [419] und ihrer Person in die Reihen der uns noch feindlich Gesinnten eindringen, desto besser ist es für unsere Sache, denn wir sind keine Sekte, die sich zu ihrem Gottesdienst in ihrer Kapelle verschließt, sondern eine Bewegung, die der ganzen Menschheit dienen und die Welt erobern will ...«

Das wäre eine unserer sozialistischen Grundsätze würdige Erklärung gewesen. Niemand beantragte sie. Nur vierundzwanzig – unter ihnen mein Mann, Göhre, Vollmar – hatten den Vorstandsbeschluß abgelehnt.

Und nun stand der zweite Streitpunkt: die Taktik der Partei, die Vizepräsidenten-Frage, auf der Tagesordnung.

Bebel referierte. Nach allem Vorhergegangenen erwartete ich eine wütende Philippika. Aber das, was er sagte, übertraf jede Erwartung. War das derselbe Bebel, der in Hannover so klug und so einsichtig gewesen war?

»Nie und zu keiner Zeit waren wir in der Partei uneiniger als jetzt –;« das erklärte er, nachdem wir eben einmütig den größten politischen Sieg erfochten hatten! »So geht's nicht weiter, – jetzt müssen wir endlich reinen Tisch machen,« und: »Wer nicht pariert, der fliegt hinaus!« War das noch die Sprache des Führers einer demokratischen Partei, oder nicht vielmehr die eines Diktators? Er sprach von den Revisionisten als von den Leuten, die mit der Bourgeoisie liebäugeln, und verlangte, daß man sie öffentlich denunzieren müsse, damit die Genossen sich vor ihnen hüten könnten. Er erklärte auf der einen Seite, um einen Gewerkschaftsantrag zu Falle zu bringen, daß es für die Fraktion viel zu schwierig sei, ganze Gesetzesvorlagen auszuarbeiten, und versicherte auf der anderen, daß, wenn die Partei heute zur Herrschaft im Staate käme, sie schon morgen wissen würde, was sie zu tun habe. Der heimliche Haß gegen die Akademiker, durch den er die Masse des Proletariats unzerreißbar mit sich verband, ohne zu fühlen, daß er dem ersten Grundsatz des Sozialismus dadurch ins Gesicht schlug, durchglühte seine Rede.

[420] »Seht euch die Akademiker dreimal an, ehe ihr ihnen Vertrauen schenkt!« »Stürmischer Beifall« stand daneben. Und doch waren es Akademiker gewesen, die dem Proletariat die Organisation, seiner Bewegung die Grundlage und das Ziel gegeben hatten. Schließlich warnte er noch vor »dem anderen Teil der Revisionisten, den Proletariern in gehobenen Lebensstellungen«. Und niemand lachte ihm ins Gesicht, – und niewand wies mit Fingern auf die, die Beifall jauchzten: Gastwirte, Redakteure, Parteibeamte, lauter ehemalige Proletarier in gehobenen Lebensstellungen, – und ihn selbst, der ein wohlhabender Mann geworden war. Fielen denn heute lauter Schleier von meinen Augen, oder war ich nur vorher blind gewesen?

Nach ihm sprach Vollmar. Er zeigte, wie die Partei seit Jahren angesichts der praktischen Forderungen des Tages ein Vorurteil nach dem anderen habe fallen lassen, wie zum eisernen Bestand ihrer Taktik geworden sei, was kurz vorher als hochverräterische Forderung gebrandmarkt worden war. Dann aber wandte er sich persönlich gegen Bebel, – der erste und der einzige, der es mit der Autorität seines Namens zu tun vermochte. »Ein ungezügeltes Temperament schadet nicht nur auf Fürstenthronen, sondern auch auf denen der Partei,« rief er aus. »... In welchem Ton hat Bebel sich an die ganze Partei gewandt? ›Ich werde nicht dulden ...‹, ›Ich werde den Kopf waschen ...‹, ›Ich werde Abrechnung halten‹. Ich, ich, ich – so hat der Lordprotektor Cromwell zum langen Parlament gesprochen ...«

Ich atmete tief auf. Auch eine Verteidigung meiner Ehre war diese Anklage gewesen. Nur eins verstand ich nicht: er betonte die innere Einheit der Partei mit derselben Schärfe, wie Bebel sie geleugnet hatte. Wie konnte er nur?! Wären all die Wutausbrüche dieses Parteitages möglich gewesen, wenn eine innere Einheit bestanden hätte? Sie waren doch nichts [421] anderes als Symptome der Zerrissenheit. Aber die Revisionisten schienen sich das Wort gegeben zu haben, Vollmars Ansicht nicht nur zu teilen, sondern zu unterstreichen. Dieselben Männer, die ständig und, wie mir schien, mit Recht diese und jene Programmforderungen der Sozialdemokratie kritisierten und einer Umänderung für bedürftig hielten, erklärten plötzlich, daß prinzipielle Gegensätze nicht vorhanden seien. War das Feigheit oder nur Schwäche? – Schwäche, die in ihren Folgen viel gefährlicher ist als sie? Und ich befand mich plötzlich in Übereinstimmung mit einem der schroffsten Radikalen in der Partei: »Das ist ja der Jammer des deutschen Revisionismus, daß er nie mit einem bestimmten Programm hervorkommt,« sagte Kautsky, nachdem er versucht hatte, den auch seiner Ansicht nach vorhandenen Gegensatz als den zwischen der Zusammenbruchs- und der Evolutionstheorie zu kennzeichnen; »die einen erwarten die Befreiung von der sozialen Revolution, die anderen von der allmählichen Entwicklung.«

Mein Mann schrieb mir noch einmal: »Für die Partei wird diese traurige Tagung mit ihren zahllosen Hintergründen von Gemeinheit, Klatsch und Verhetzung schließlich noch zum guten Ende führen. Der Resolution des Parteivorstandes zur Frage der Taktik sind ihre schärfsten Spitzen, auf denen wir gespießt werden sollten, genommen worden, und ihre einmütige Annahme scheint danach gesichert, was den Frieden in der Partei wieder herstellen wird.«

Ich antwortete umgehend: »Ich verstehe Dich und die anderen nicht. Selbst wenn die Resolution ihrem Wortlaut nach annehmbar wäre, so ist sie es ihrem Sinn nach nicht, und Euer Ja bedeutet keinen Frieden, sondern Unterwerfung. Ich bedaure, bei der Abstimmung nicht zugegen zu sein. Ich würde, – und wenn ich die einzige bliebe, – laut und deutlich Nein sagen.«

Als ich den Wortlaut der Resolution zu Gesicht bekam, wurde mir die Haltung der Revisionisten vollends unverständlich. Wie [422] viele unter ihnen hatten dem Eintritt des Sozialdemokraten Millerand in das französische Ministerium zugestimmt, hatten eine allmähliche Eroberung der Regierungsgewalt überall für möglich, ja für wahrscheinlich erklärt, und jetzt beugten sie sich einer Resolution, in der es hieß: Die Sozialdemokratie kann einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben. Wie viele verurteilten laut und leise die lediglich negierende Haltung der Partei gegenüber der Kolonialpolitik, und jetzt verpflichteten sie sich selbst zum »energischen Kampf« gegen sie. Aber daß dreihundert ja sagten, traf mich immer noch nicht so tief, als daß Heinrich unter ihnen war.


Mein Kind lag noch immer. Den Genesenden zu beschäftigen, kostete fast noch mehr Zeit, als den Kranken zu pflegen. Herrisch verlangte der kleine Tyrann immer wieder nach Mama, wenn Berta mich ablösen wollte. Aber meine Gedanken waren doch wieder frei, und wenn er zur Ruhe gebracht worden war, konnte ich, wenn auch mit mattem Blick und müden Händen, in den Trümmern meines Lebens suchen, was zu neuem Aufbau noch stark genug war. Und ich fand eine unerschütterte Grundmauer: meine politische Überzeugung! Vor der Partei konnte ein Bebel mich diskreditieren, konnte mir die Arbeit in ihren Reihen kraft seines Bannfluchs unmöglich machen. Aber erschöpfte sich denn der Sozialismus in der Partei?

Mein Verstand war befriedigt, und doch blieb es so kalt, so leer in mir. Ich sah mich suchend um, – war die Wärme und die Farbe aus meinem Leben gewichen? Ach, im Garten meiner Liebe waren alle Blumen geknickt! Hatte der eine rohe Griff meines Gatten so viel vernichten können? Oder war es nur ein letzter Herbststurm gewesen, der die schon lange heimlich welken endgültig von den Stielen riß?

[423] Eines Abends, ganz plötzlich, öffnete sich die Türe, und Heinrich stand vor mir. Wie sah er aus! Aschfahl, die Augen tief in den Höhlen, dunkel umschattet, die ganze Gestalt gebeugt.

»Heinz!« schrie ich auf und schlang die Arme um ihn.

»Wenn du mich nur noch liebst – du,« flüsterte er und bedeckte mein Antlitz mit Küssen. »Ich fürchtete mich vor der Heimkehr, weil ich dachte, ich könnte auch dich verloren haben, – aber nun ist alles gut, – nun mögen sie mich steinigen. Ich fühle nichts, nichts als Seligkeit, weil deine Liebe mich unverwundbar macht!«

Mir stürzten die Tränen aus den Augen, – Tränen der Reue, des Schmerzes. Er sollte nicht umsonst an meine Liebe geglaubt haben. War es nicht Liebe, die wieder erwachte, da er so zerschlagen vor mir stand?

Ich erfuhr allmählich, was geschehen war. Artikel, Erklärungen, Briefe legte er mir vor, voll wütender Angriffe auf ihn, den »Urheber des Dresdener Parteitages«, den »geistigen Vater eines nie dagewesenen Parteiskandals«, voll niedriger persönlicher Verleumdungen. Selbst in unserem Leben wühlten fremde Hände, und unter ihrem Griff wurde auch das Reinste schmutzig.

Es war ein grauer Herbstabend mit tiefhängenden Wolken und langen Schatten in den Zimmern. Ich kauerte in der Ecke des Sofas, unfähig, mich zu rühren, wie zerprügelt. Heinrich ging auf und nieder, rastlos, – hie und da griff er mit der Hand nach seinem Kopf, als ob er sich vergewissern müsse, daß er noch lebe.

»Nach meiner ersten Rede schon sagte mir Victor Geier: ›Das ist politischer Selbstmord.‹ Als ich dann Bebel antworten wollte, wie es nach seinem Angriff allein richtig gewesen wäre,« – so hatte mich Heinrich doch verteidigen wollen! – »da haben sie mich alle bearbeitet, haben im Namen des Parteiinteresses an mich appelliert, und ich war so töricht, durch all die widerwärtigen [424] Szenen so erschöpft, daß ich mich wirklich unterwarf. Was nützte es?! Nichts! Der Skandal nahm seinen Fortgang. Und auf der Strecke bleibe schließlich ich allein!«

Einige Tage später kam Geier zu uns. Die erste Nummer der Neuen Gesellschaft war eben in hunderttausend Exemplaren verbreitet worden.

»Ich muß mit Ihnen reden, Genossin Brandt,« sagte er nach einer raschen Begrüßung. »Sie haben sich, fern von Dresden, hoffentlich so viel kühle Überlegung bewahrt, um eher Vernunft anzunehmen als Ihr Mann.«

Und dann setzte er mir auseinander, was seiner Meinung nach geschehen müsse. Zunächst habe sich Heinrich dem Schiedsspruch eines Parteigerichts zu unterwerfen.

»Vielleicht einem so objektiven Richter wie Bebel –,« warf ich bitter ein.

»Stehen Sie erst einmal am Ende der Laufbahn und müssen zusehen, wie andere den ganzen Gewinn Ihrer Lebensarbeit in Frage ziehen!« rief Geier heftig, um sich gleich darauf wieder zur Ruhe zu zwingen. »Ohne eine Rüge wegen seiner Dresdener Rede wird es natürlich nicht abgehen,« fuhr er fort, »im übrigen aber, dafür lege ich jetzt schon meine Hand ins Feuer, werden sich alle Verleumdungen als solche erweisen, und Heinrich wird nachher eine gesichertere Stellung haben als zuvor.«

»Du weißt, daß ich die Einsetzung eines Schiedsgerichts in meinem Wahlkreis bereits selbst veranlaßt habe,« unterbrach ihn mein Mann, »wozu also das Gerede?! Komm lieber gleich zur Sache!«

»Wie du willst,« antwortete Geier ruhig und wandte sich wieder mir zu. »Er hat Sie, wie es scheint, von meiner anderen Forderung noch nicht unterrichtet: das Erscheinen der Neuen Gesellschaft einzustellen.«

Ich fuhr auf: »In diesem Augenblick sollen wir unsere einzige Waffe von uns werfen?!«

[425] »Eine nette Waffe!« höhnte Geier. »Solange das Dresdener Spektakelstück noch in aller Munde ist, werden vielleicht ein paar Dutzend Leute euer Blatt kaufen. Aber über kurz oder lang bleibt euch von der Waffe nichts mehr als eine zerbrochene Klinge.«

»Wir haben schon ein kleines Vermögen in die Sache hineingesteckt –,« murmelte ich mit gepreßter Stimme.

»Kann mir's denken,« meinte Geier und kräuselte spöttisch die Lippen; »vorsichtige Geschäftsleute seid ihr offenbar nicht. Aber so rettet wenigstens, was zu retten ist!«

Heinrichs Gesicht hatte sich mehr und mehr gerötet. Jetzt blieb er dicht vor Geier stehen.

»Du benutzt unsere Notlage, um die Partei von einem revisionistischen Blatt zu befreien,« zischte er ihn an.

Mit einer heftigen Bewegung sprang Geier vom Stuhl und hieb mit der Faust auf den Tisch: »Ich komme nach Berlin gereist, um euch einen Freundschaftsdienst zu erweisen, und du begegnest mir so –. Stürze dich denn meinetwegen kopfüber in dein Verderben –.« Und hinaus war er.

Wir gingen tagelang schweigsam nebeneinander her. Inzwischen fanden überall Parteiversammlungen statt, die sich mit den Dresdener Ereignissen und ihren Folgen beschäftigten. In den Angriffen auf die Revisionisten, ganz besonders auf meinen Mann, übertrafen sie noch den Parteitag. Und stets wurde vor der Zeitschrift gewarnt, mit der wir uns »auf Kosten der Partei« bereichern wollten. Es gab keinen Ausweg mehr, als sie zunächst aufzugeben. Wir hatten die Mittel nicht, um sie gegen die herrschende Stimmung in der Partei durchzusetzen.

»Alle freiheitlichen Elemente hatten sich am 16. Juni um Ihre Fahnen geschart,« schrieb mir Romberg, »weil sie, von den bürgerlichen Parteien im Stiche gelassen, bei der Sozialdemokratie den Schutz der Geistesfreiheit, den Hort des Kulturfortschritts zu finden glaubten. Dresden hat diesen Wahn zerstört, [426] hat gezeigt, daß der Dogmatismus, die Verfolgungssucht Andersdenkender, kurz die ganze Seelenverfassung der Inquisitoren nirgends in so krasser Form zu finden ist als bei den privilegierten Menschheitsbefreiern. Wir sind nun wieder vogelfrei. Und Sie?!«


In der Nacht, nachdem unsere zweite und letzte Nummer erschienen war und wir wieder schlaflos den huschenden Wolken draußen und der wachsenden Mondsichel zusahen, sagte Heinrich zu mir: »Was meinst du, wenn ich ginge?«

Zuerst verstand ich ihn nicht, – dann aber packte ich mit aller Kraft seine beiden Hände und sah ihm mit stummem Entsetzen in das blasse Gesicht.

»Ich warnte dich schon einmal, – vor Jahren,« fuhr er leise und langsam fort. »Ich bringe Allen Unglück, – dir, – der Partei. Mir scheint, ich habe hier nichts mehr zu tun.«

Ich stammelte in heller Angst tausend Liebesworte, ich schmiegte mich an ihn, als ob ihm aus meiner Lebenswärme Lebensmut zuströmen könnte. Aber er blieb ernst und fest und wußte immer neue Gründe nicht nur für die Berechtigung, sondern für die Notwendigkeit seiner Absicht vorzubringen.

Nach alter Gewohnheit pochte morgens unser Bub an die Türe und sprang herein, ohne unsere Aufforderung abzuwarten. Es war das erstemal nach seiner Krankheit, daß er so früh schon aufstehen durfte. Er kletterte eilig auf Heinrichs Bett und sah ihn an, halb überrascht, halb erschrocken. Mit jenem rätselvollen Scharfblick des Kindes schien er das Fremde, Dunkle erkannt zu haben, das von der Seele seines Vaters Besitz ergriffen hatte. Er legte ihm das Händchen auf den Kopf; »so hat Mama auch gemacht, wie ich krank war,« erzählte er wichtig, und dann küßte und streichelte er »den lieben, guten Papa«, bis sich doch noch ein Lächeln um dessen festgeschlossene Lippen stahl.

[427] »Hast du wirklich hier nichts mehr zu tun?!« fragte ich leise, als der Kleine wieder davongelaufen war. »Soll dein Sohn einmal von dir glauben müssen, daß du dich feige davonstahlst?!«

Er drückte mir die Hand, fest und lange. Ich wußte: wenn die Gespenster der Nacht auch nicht auf immer gebannt waren, so würden sie doch keine Macht mehr gewinnen über ihn.


Die Schiedsgericht-Verhandlungen zogen sich wochenlang hin. Es war eine seelische Folter für meinen Mann, und wenn er nach Hause kam, gab ich mir alle Mühe, ihn nicht merken zu lassen, wie ich selber litt.

Draußen entwickelte sich wieder in der alten Weise der politische Kampf: Radikale und Revisionisten arbeiteten scheinbar einmütig zusammen. Es galt diesmal den Landtagswahlen. Mich rief niemand zu Hilfe. Zu keiner der zahllosen Versammlungen forderte man mich auf. Ich war die Gezeichnete. Und nirgends schien eine Lücke entstanden, weil ich fehlte. Ich war wie die Welle, die im Meere aufsteigt und zurücksinkt, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Zuweilen trafen wir mit unseren politischen Freunden zusammen, – zufällig nur, denn die Revisionisten schienen sich nach Dresden noch mehr aus dem Wege zu gehen als vorher. Einmal kamen wir in eine ernstere Unterhaltung, und ich verurteilte unumwunden ihre Annahme der Dresdener Resolution.

»Mir ist es sogar fraglich,« sagte ich, »ob ihre Ablehnung nicht von einem gemeinsamen Austritt aus der Partei hätte begleitet werden müssen.« Aber ich stieß auf allgemeinen Widerspruch.

»Damit hätten die Radikalen erreicht, was sie wollten,« rief der eine.

»Wegen einiger Gegensätze in taktischen Fragen werden wir doch die Partei nicht im Stiche lassen,« sagte der andere.

[428] »Es wäre nichts als Fahnenflucht,« erklärte einer der Gewerkschafter.

»Und wir würden zurückbleiben, als Offiziere ohne Armee,« meinte mein Mann. Ich ließ mich nicht überzeugen.

»Sie haben trotz allem Bekenntnis zum historischen Materialismus aus der Geschichte nicht allzu viel gelernt,« entgegnete ich. »Noch immer ist die Entwicklung die gewesen, daß eine große Bewegung aus sich heraus neue Bewegungen zeugt, deren Träger zunächst nichts sind als ein paar Vorläufer, als Offiziere ohne Armee. Und was nun gar die Gegensätze betrifft, so glauben Sie doch nicht ernsthaft an ihre Geringfügigkeit.«

»Nein,« antwortete einer der anderen, »aber ich glaube, und habe nach unserer bisherigen Entwicklung ein Recht dazu, daß unsere Ideen sich im Proletariat von unten herauf durchsetzen. Wir schließen Lohntarif-Verträge mit den Unternehmern, und niemand zeiht uns deshalb eines Vertuschens der Klassengegensätze; wir arbeiten in den Gemeinden, in den Landtagen, und keiner wagt uns deshalb des Paktierens mit der bürgerlichen Gesellschaft anzuklagen. Unsere Genossenschaften fangen an wie unsere Gewerkschaften zu einer wirtschaftlichen Macht zu werden, und kein Radikalinski hat uns noch vorgehalten, daß das gegen die Zusammenbruchstheorie verstößt und wir damit bis zum großen Kladderadatsch warten müßten.«

Ich schwieg. Der Mann der praktischen Arbeit mochte gegenüber meinen unklaren Theorien doch wohl recht haben.


Kurz vor Weihnachten legte das Schiedsgericht von Frankfurt-Lebus dem Parteitag des Kreises die Resultate seiner Untersuchungen vor, und die Genossen erteilten ihren Abgeordneten daraufhin einstimmig das Vertrauensvotum.

[429] »Und du freust dich gar nicht?!« sagte mein Mann, als er nachts aus Platkow zurückkam, wo die Versammlung stattgefunden hatte.

»Gewiß freue ich mich, – aber im Grunde ist doch das alles selbstverständlich und macht das Geschehene nicht ungeschehen,« antwortete ich und dachte an die Zeitschrift, mit der wir unsere Aufgabe, wie mir schien, geopfert hatten, an die ungesühnte Kränkung, die noch immer wie eine schwärende Wunde an mir fraß, an das verstümmelte, beschmutzte Bild der Partei, das einst in so leuchtenden reinen Farben vor mir gestanden hatte, an die große Flamme meiner Liebesleidenschaft, die über dem Aschenhaufen nur noch leise glimmte.

Aus meines Mannes Wahlkreis wurde ich wieder zu Vorträgen aufgefordert. Seltsam genug: es gab noch Genossen, die mir vertrauten, obwohl der erste unter ihnen mich für ehrlos erklärt hatte! In diesen Kreisen schien das Verständnis für eine Empfindung zu fehlen, die eine Reminiszenz an meine aristokratische Herkunft sein mochte und offenbar zu jenen »Eierschalen der Vergangenheit« gehörte, über die in der Partei so oft gespottet wurde. Aber wenn auch die anderen alle darüber hinwegsehen konnten, ich konnte es nicht. Ich lehnte ab. Meine Zurückhaltung wurde falsch gedeutet. Meine Bemerkung über den Austritt aus der Partei mochte irgendwie durchgesickert sein. Ich sah, daß ich die Stellung meines Mannes, die trotz des Vertrauensvotums eine schwierige geblieben war, noch mehr erschwerte. Und ich hatte mir vorgenommen, ihm nach wie vor ein treuer Kamerad zu bleiben.

»Sie können wieder über mich verfügen,« schrieb ich nach Frankfurt und stürzte mich in die Arbeit, von der ich hoffte, daß sie sich als Morphium für die Schmerzen meiner Seele erweisen würde. Und so lange ich am Schreibtisch über den Zeitungen und Broschüren saß, hielt sie, was ich von ihr erwartet hatte.


[430] Die Ereignisse schienen mit besonderem Eifer dafür zu sorgen, daß wir nicht im Bruderzwist aufgehen konnten. Der Riesenstreik der Textilarbeiter von Crimmitschau, die nun schon seit Wochen mit einer Ausdauer ohnegleichen um den Zehnstundentag kämpften und dem lockenden Gold der Unternehmer ebenso standhielten wie den Verfolgungen der Polizei, ließ uns fühlen, daß wir gegen den Feind so einig waren wie immer. Und die russische Revolution, die wie ein vom Sturm gepeitschter Brand von einem Ende des Riesenreichs zum anderen übersprang, entzündete in uns allen eine Hoffnung, als ginge der Stern der Menschheitserlösung nun wirklich im Osten auf. Daß Preußen-Deutschland sich zum Schleppenträger des Zarismus erniedrigte, daß russische Polizisten im Verein mit den unseren die russischen Gäste der Hauptstadt verfolgen konnten, daß ein Minister die Reichstagstribüne benutzte, um die russischen Studenten der Berliner Universität samt und sonders als Anarchisten zu verdächtigen und ihre weiblichen Kollegen der Unsittlichkeit zu zeihen, daß der Reichskanzler von ihnen als von »Schnorrern und Verschwörern« sprach, – das löste einen Schrei der Entrüstung aus. Die Partei stand wieder auf dem Posten als die einzige, die leidenschaftlichen Protest erhob. Und wenn die politischen Ereignisse nicht auszureichen schienen, um das Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit in den Genossen aufs neue zu festigen, so sorgten unsere Gegner dafür. Sie schufen den Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie, aber die Kette, die sie schmiedeten, um uns damit zu fesseln, verband uns nur.

Ich sah das alles. Ich schöpfte Hoffnung daraus nicht nur für den Kampf nach außen, sondern auch für die innere Entwicklung, die um so kräftiger zu sein pflegt, je unbeachteter sie ist.

Aber als ich zum erstenmal wieder in Frankfurt auf die Rednertribüne trat und all die vielen Augen sich auf mich richteten, da versagte meine Kraft. Das Blut brannte mir in den [431] Wangen; – sahen die Menschen mir den Schlag nicht an, den ich empfangen hatte?! Und ich fühlte feindselige Blicke, spöttisches Lächeln, ich sprach wie gegen ein Tor von Erz. Meine Zuhörer blieben kalt.

»Was fehlte dir nur?« fragte Heinrich mich kopfschüttelnd. Ich gab eine ausweichende Antwort.

Noch ein paarmal machte ich ähnliche Versuche. Von nervöser Aufregung geschüttelt, die mir sonst fremd gewesen war, trat ich schon vor die Versammlung. Und dann sprach ich, daß ich mich selbst nicht wieder erkannte.


»Laß mich eine Zeitlang irgendwo zur Ruhe kommen,« bat ich eines Tages, mit den Tränen kämpfend, meinen Mann, der in mich drang, ihm die Ursache meiner tiefen Verstimmung anzuvertrauen. »Das alles war ein wenig viel für mich ...«

Er stimmte mir ohne Besinnen zu. »Wenn es nichts weiter ist, als daß du Ruhe brauchst!« sagte er aufatmend und entwarf mir die schönsten Reisepläne. »Ich würde dir den Weg auf den Mond bahnen wollen, wenn ich sicher wäre, daß meine Alix wieder gesund und froh würde.« Und in alter Zärtlichkeit zog er mich an sich.

Doch ich wollte weder auf den Mond, noch nach Italien, noch an die See.

»Ich möchte nach Grainau –,« bat ich zaghaft, denn ich wußte, es regte sich immer eine leise Eifersucht in ihm, wenn die Sehnsucht mich dorthin trieb, wo so viele Erinnerungen geweckt wurden. »Ilse weiß von Tante Klothilde, daß sie diesen Sommer in Augsburg bleibt, – die Bahn ist also frei, und ein Zimmer find' ich schon irgendwo für mich und den Kleinen.«

»Der Bub soll mit?« fragte er mißbilligend. »Dann hast du ja keine Stunde Ruhe!«

[432] »– Ich hätte keine, wenn er nicht bei mir wäre,« antwortete ich.

Eine Woche später fuhren wir den Bergen entgegen. Ich biß mir die Lippen wund, um die Tränen zu unterdrücken, als ich im blauen Dunst der Ferne die ersten weißen Spitzen aufsteigen sah. Wie hatte ich so lange leben können ohne sie!

Es war früh im Jahr. In Garmisch fingen sie gerade an, die Betten zu lüften und die Fenster weit aufzureißen. Vier Wochen noch, dann kamen die ersten Fremden. Jetzt war's so still! Kein Radler, kein Wanderer begegnete uns auf dem Wege nach Grainau. Die Wiesen standen voll bunter Frühlingsblumen, voll goldgrüner Spitzen die Bäume, und aus dem Walde kam der erste süße Maiblumenduft.

Im Dorf, hinter dem Kirchlein, wo der Weg empor zum Eibsee führt, stand ein neues blitzblankes Haus mit einer großen himmelblauen Madonna in der Mauernische. Der Hof vom Bärenbauern sah daneben ganz alt und griesgrämig aus.

»Bä-cke-rei,« buchstabierte mein Junge, der auf seine Lesekünste sehr stolz war; »hurra! – da gibt's immerzu weiße Brötchen,« rief er und machte einen Luftsprung, – Semmeln waren sein Leibgericht, »– dahin ziehen wir!«

Und schon lief er am Gartenzaun entlang, mit dem großen schwarzen Hund dahinter um die Wette. In der Tür erschien der Meister, dicht hinter seinem breiten Rücken lugte neugierig der kleine Lehrling hervor, beide mehlbestaubt, und an ihnen vorbei trat grüßend, den gewichtigen Schlüsselbund über der weißen Schürze, die blonde Hausfrau. Eben erst hatten sie das Haus gebaut, erzählte sie lebhaft, als wir die blankgescheuerte Treppe hinaufstiegen, und schon hätten sie die Kundschaft der ganzen Gegend. An der »feinen« Wohnung im ersten Stock gingen wir vorüber, trotz der neuen städtischen Möbel, die sie uns anpries.

»Hier droben in den Stuben steht halt nur der alte Bauernkram,« meinte sie entschuldigend und stieß die Türe auf. Ein [433] blauer Schrank mit roten Herzen darauf, eine alte Pendeluhr mit blumenbestreutem Zifferblatt und einem kreuztragenden Christus darüber, eine breite gewichtige Truhe voll bunter Heiligenbilder lachten uns an wie die Wiesen draußen, so farbenfroh. Einem Vogelnest ähnlich hing ein kleiner Balkon vor der Glastür, und durch die Fenster guckte der Waxenstein mit seinem faltigen Felsengesicht.

»Da bleiben wir,« sagte ich, und mein Junge lief durchs Haus in den Garten, und den Hügel hinauf zum Wald und wieder hinunter auf die Wiese, als müsse er von allem ringsum Besitz ergreifen.

Wie gut es war, wieder schlafen zu können und die müden Augen in lauter Grün und Blau gesund zu baden! Von den Bauern im Dorf erkannte mich keiner. Nur der Sepp, mein alter Spielkamerad, rückte mit einem flüchtigen Aufblitzen des Erkennens in den Augen an seinem verblichenen grünen Hut. Morgens, während mein Junge sich unten am See aus Moos und Steinen einen kunstvollen Hafen baute, saß ich auf der alten Bank, dem Rosenhaus gegenüber, das sich mit seinen geschlossenen Läden und blumenlosen Altanen still und verzaubert im grünen Wasser spiegelte. Alle Rosenbüsche vor der Terrasse waren fort.

»Letzten Herbst hat die alte Frau Baronin sie ausgraben lassen,« erzählte meine Hausfrau. »Sie wird wohl nimmer wiederkommen,« fügte sie hinzu.

»Warum nicht?!« fragte ich erstaunt.

»Schon wie sie wegfuhr, war sie nicht zum Erkennen. Auch so arg brummig und bös. Der alte Doktor von Garmisch meint, sie macht's nimmer lang.«

Ich erschrak. Von ihrer Krankheit wußte ich, aber nicht, daß es so schlimm um sie stand.

»Das Fräulein von Kleve ist allweil um sie, Tag und Nacht,« berichtete die kleine blonde Frau weiter, die froh war, wenn sie schwatzen konnte, »aber die Theres', die alte Köchin, hat mir [434] kurz vor der Abreis' noch erzählt, daß die Frau Baronin Herzweh hat nach einer anderen,« – dabei traf mich ein neugierigforschender Blick – »einer, die sich grad so schreibt, wie Sie –«

Ich antwortete nicht ... Mit meiner Ruhe war es wieder vorbei. Alles wurde lebendig, was unter diesen Buchen, an diesem See, angesichts dieser Berge an Haß und Liebe, an Sehnsucht und Verzweiflung, an Trennungsweh und Zukunftshoffnung geweint und gejauchzt, geseufzt und gelächelt hatte. Ich war nie mehr allein, und es war nie mehr still um mich. Wo ich ging und stand, – meine ganze Vergangenheit umringte mich, und wenn ich schlafen wollte, flüsterte es mir ins Ohr: anklagend, höhnend, drohend.

Eines Vormittags, – ich saß wieder am alten Platz, mit dem Buch im Schoß und sah zu dem toten Haus hinüber, – kam der Bub vom Bärenbauern mir nachgelaufen:

»A Depeschen wär da für Sie –« Ich riß sie ihm aus der Hand, sie bestätigte nur, was ich erwartet hatte: »Baronin Artern heute morgen verschieden. Ihr sofortiges Kommen erwünscht.«

Wir reisten noch am selben Tage nach Augsburg. Mich erfüllte nur ein Gefühl: daß ich ihr viel zu verdanken hatte und sie im Kummer um mich gestorben war.

In voller Sommerpracht blühte der Garten um das schöne Haus. Weinend empfing mich die Theres'.

»Warum sind's bloß nit a Wochen früher gekommen –,« sagte sie immer wieder. Ich vertraute meinen Sohn ihrem Schutz. »Du herzig's Buberl,« schluchzte sie, »wenn die Frau Baronin nur dich gekannt hätt'!« Ich fing an zu begreifen, und jetzt erst fiel mir ein, daß der Tod dieser Frau meines Sohnes ganze Zukunft sichern sollte.

Einen Augenblick lang fröstelte mich. Aber nein: wie konnt' ich nur zweifeln, – auch die alte Theres' sah in ihrer Liebe zu mir nur Gespenster. Meinem Vater hatte die Tote ihr Wort verpfändet. Ich wandte mich zur Treppe.

[435] »Gnä' Frau wollen doch nicht –,« rief die Theres' und griff nach meinem Arm.

»Selbstverständlich,« antwortete ich und nahm den Strauß frischer Maiglöckchen vom Grainauer Wald aus ihrer Hülle.

»Sie sind alle oben, – die Herren Leutnants und das Fräulein,« flüsterte sie ängstlich.

Ich warf den Kopf zurück und richtete mich gerade auf. »Hier bin ich zu Hause gewesen, nicht sie,« sagte ich laut und schritt die Stufen empor. Hinter der Türe des Eßzimmers hörte ich Stimmengewirr.

»Sie wird nicht kommen –,« sagte einer. Ich trat ein. Wie vor einer Geistererscheinung sprangen sie von den Stühlen, meine Vettern und Basen, die sich hier häuslich niedergelassen hatten. Ich ging ohne Gruß an ihnen vorüber, durch die Flucht der Zimmer mit ihren kostbaren Teppichen und seidenen Möbeln, die mir alle so lebendig schienen, so vollgesogen von Vergangenheit. Im Musiksaal, vor der letzten Türe zögerte ich. Mir klang in den Ohren, was die Tote vor Jahrzehnten aus diesem Flügel hervorgezaubert hatte. Ich war ein Kind gewesen damals; die Töne waren an mir vorbeigerauscht; jetzt erst verstand ich sie: wieviel Leidenschaft, wieviel ungestillte Sehnsucht hatte das Herz der Frau bewegt, die nun auf immer verstummt war.

Sie lag aufgebahrt, vom betäubenden Duft unzähliger Blumen umgeben, auf ihrem Lager. Ich stand wie erstarrt. Ich konnte nicht in die Knie sinken und nicht den Blick losreißen von ihr: das war sie doch gar nicht, – das war eine Fremde! Nie hatte ich um ihren Mund diesen grausamen Zug gesehen und auf ihrer Stirn diese vielen finsteren Falten. Die ich gekannt hatte, die mich liebte, war eine andere gewesen. Ich hielt den Strauß Maiglöckchen noch in der Hand, als ich das Haus verließ.

Wir geleiteten sie zu Grabe. All jene alten Augsburger Familien mit den berühmten Namen und unberühmten Nachkommen folgten ihrem Sarge. Aber vor der dunkeln Pforte des [436] Erbbegräbnisses der Artern weinten von allen, die es umgaben, nur zwei: die alte Theres' und ich. Und von denen, die mir einst nahegestanden hatten, grüßte mich nur einer: mein alter Lehrer, der Pfarrer.

Er besuchte mich am Nachmittag im Hotel und erzählte mir von seinem letzten Zusammensein mit der Verstorbenen. Vor kaum zwei Monaten war es gewesen; sie hatte ihn zu sich bitten lassen, um von mir zu sprechen.

»Sie hat Ihretwegen mehr gelitten, als sie sich merken ließ,« sagte er.

»Meinen Sie?!« fragte ich zweifelnd und dachte an das fremde Gesicht, das ich auf dem Totenbett gesehen hatte.

»Ich bin dessen sicher,« antwortete er; »sie wird es Ihnen auch noch beweisen,« fügte er bedeutungsvoll hinzu.

Dann kam ihr Bankier, um mir über den Zeitpunkt der Testamentseröffnung Mitteilung zu machen. »Frau Baronin hat mich ausdrücklich beauftragt, Sie, als ihre Haupterbin, um Ihre Anwesenheit zu ersuchen,« erklärte er.

Etwas wie Freude begann heimlich von meinem Herzen Besitz zu ergreifen, und Dankbarkeit löschte alle Erinnerung an die grausamen Züge der Toten aus. Sie hatte mir, da sie lebte, oft bitter weh getan, und nun nahm sie die schwere Sorgenlast des Lebens auf einmal von mir!

Es kränkte mich, daß die Theres' mich so mitleidig ansah.

»Ich weiß, was ich weiß –,« sagte sie, »die da oben –« und sie ballte die Faust nach dem Zimmer, wo die Kleves mit dem Testamentsvollstrecker verhandelten, »– waren immer bei ihr, – ich hab' oft genug gehört, wie sie von Alix Brandt erzählten –.«

Acht Tage später versammelten sich die Erben zur Testamentseröffnung im Gerichtsgebäude. Ein nüchterner Raum mit kahlen Wänden. Kastanienbäume vor den Fenstern, durch die kein Sonnenstrahl drang. An den Pulten der grauköpfige [437] Richter, der krumme Schreiber. Auf den steifen Stühlen wir alle in schwarzen Kleidern. Zwei Schriftstücke aus verschiedenen Zeiten wurden verlesen. Das erste entsprach der Mitteilung ihres Bankiers. Das zweite, – sie hatte es sechs Wochen vor ihrem Tode auf dem Krankenbett geschrieben, – enthielt nur ein paar Zeilen: »Hiermit enterbe ich meine Nichte, Frau Alix Brandt, geborene von Kleve, weil sie in Wort und Schrift der Umsturzpartei dient.«

Es wurde ganz still im Zimmer. Die Köpfe all derer, die neben mir saßen, senkten sich; mich aber überkam ein Gefühl des Triumphes. Mit fester Hand setzte ich als Erste meinen Namen unter das Protokoll und verließ das Zimmer, an den anderen vorbeigehend, die scheu zur Seite wichen, erhobenen Hauptes.

Jetzt war meiner Überzeugung auch das letzte zum Opfer gefallen. Die Schmach von Dresden war ausgewischt. Das Schicksal selbst zwang mich auf meine eigenen Füße. Nun war ich stark genug, allein zu gehen.

[438]
15. Kapitel
Fünfzehntes Kapitel

Draußen auf dem Asphalt brannte die Sommersonne. Ein Geruch von Pech und Staub erfüllte die gewitterschwere Luft. In dem dunkelsten Winkel einer jener öden Straßen Berlins, die keine anderen Farben haben als die grellbunten der Firmenschilder, die kein neugierig flanierendes Publikum kennen, weil ihnen die Anziehungskraft glänzender Schaufenster fehlt, hatte der Sommer sein ganzes Füllhorn ausgeschüttet: Ein enger Hof war zum Blumenteppich geworden, eine graue Eingangshalle zum Laubengang. Und öffnete sich die Doppeltür des hohen Gebäudes dahinter, so schlug Sommerblumenduft dem Eintretenden entgegen. War er von der nüchternen Straße in einen Palast geraten? Zwischen blühenden Büschen standen weiße Bänke, auf den Tischchen davor rote Rosen in Gläsern von geschliffenem Kristall. Eine Flucht fürstlicher Räume schloß sich daran, mit weichen Teppichen auf dem Estrich und Gobelins an den Wänden und tiefen Sesseln vor den Kaminen. Frauenbildnisse hingen in den langen Galerien daneben; ein Rascheln und Knistern von Frauenkleidern, ein Wispern und Flüstern von Frauenlippen war darin. In den großen Sälen saßen dichtgedrängt von früh bis spät lauter Frauen und lauschten mit sehnsüchtigen Augen und heißen Wangen den Rednerinnen, die ihnen vom Kampf und Sieg, vom Wünschen und Hoffen ihres Geschlechts erzählten.

Das Weltparlament der Frauen tagte hier. Während acht Tagen wurde in vier Sektionen zugleich verhandelt. Kunst und Wissenschaft, Erziehung und Unterricht, Recht und Sitte – nicht ein Gebiet, das das Leben des Weibes berührt, blieb unerörtert. [439] Die Großen sprachen und die Kleinen, die Vorsichtigen und die Draufgänger, die Weiten und die Engen. Es war eine Revue der Frauenbestrebungen, ein neutraler Boden für alle Richtungen, eine freie Bahn, um einander kennen zu lernen. Nur die Sozialdemokratie Deutschlands hatte sich selbst ausgeschlossen, obwohl die Leitung des Kongresses ihr alle Referate über die Arbeiterinnenfrage hatte überlassen wollen und ihr damit die Gelegenheit geboten worden wäre, das Elend der Massen zu schildern, das sonst in diese Säle keinen Eingang fand, und die Lehren des Sozialismus zu verkünden, die die Hunderte und Tausende, die hierher kamen, nur in den Zerrbildern seiner Gegner gesehen hatten.

Vor acht Jahren hatte ich mich diesem Beschluß gefügt: die christliche Idee der notwendigen Einheit von Glaubensdienst und Selbstaufopferung, die ich durch ein Leben der Selbstbehauptung glaubte überwunden zu haben, hatte in dem Augenblick wieder von mir Besitz ergriffen, wo ich mich der Sozialdemokratie anschloß. Die »Sache« war die mystische Macht gewesen, die über mir gestanden hatte. Sie war bei mir, wie bei Hunderttausenden meiner Genossen, – als wolle Gott, der von uns verlassene, sich an uns rächen, – an seine Stelle getreten. Nun aber war der Bann gebrochen. Daß ich den zur Hochburg der Frauen verwandelten Musikpalast Berlins betrat, war ein erstes Zeichen innerer Befreiung.

Ich sprach überall, wo die Interessen der Arbeiterinnen zur Debatte standen. Und allmählich strömten die Frauen mir nach, wenn ich von einem Saal zum anderen ging, und manche Diskussion, manche persönliche Unterhaltung bewies mir besser als Beifallssalven, die oft nur der Freude an der Sensation gelten mochten, daß der Samen des Sozialismus auf guten Boden gefallen war. Gewiß, solche Wirkungen lassen sich nicht messen, sie kommen nicht in den Zahlen der Partei- oder Gewerkschaftsmitglieder zu sichtbarem Ausdruck, aber auch sie [440] rufen in Haus und Schule, in Gesellschaft und Staat jene Kräfte hervor, die von innen heraus an der allmählichen Umwandlung der Geistesrichtung der Menschen tätig sind. Während ich hin und herging und diese und jene hörte, sah ich, wie groß die Wandlung schon war, die die Frauenbewegung im Laufe des letzten Jahrzehnts durchgemacht hatte.

Damals hatten sie sich vor mir gefürchtet, als ich in ihrem Kreise der Sozialdemokratie Erwähnung tat, heute stimmten die meisten von ihnen in ihren wesentlichen Gegenwartsforderungen mit denen der Partei überein. Damals war es innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung eine vereinzelte Tat gewesen, als ich das Frauenstimmrecht in öffentlicher Versammlung forderte, heute wurde in den Mauern Berlins der Bund für Frauenstimmrecht gegründet. So ging es doch vorwärts, auch da, wo meine Parteigenossen nichts als Stillstand sahen, nichts anderes bemerken wollten, weil sie meinten, den dunkeln Hintergrund einer einheitlichen Reaktion nötig zu haben, um sich selbst in um so hellerem Licht zu sehen, statt auch aus leisen Tönen den Siegesmarsch des Sozialismus herauszuhören. Mein Mann hatte ein wenig spöttisch den Mund verzogen, – zu einem wirklichen Lächeln kam es bei ihm kaum mehr, – als ich an dem Kongreß teilnahm.

»Du bist ein Trotzkopf,« hatte er gesagt; »du übersiehst in dem Eifer, mit dem du dich dem Beschluß der Genossinnen entgegenstemmst, die Folgen, die solch eine Handlungsweise für dich haben kann. Man wird dich vollends boykottieren.«

Ich zuckte die Achseln.

»Solltest du wirklich schon so weit über den Dingen stehen?!« fragte er zweifelnd. Ich wandte mich ab. Er sollte nicht sehen, daß ich schwächer war, als ich mich zeigte.

Als ich sichtlich erfrischt aus den Verhandlungen nach Hause kam, meinte er unmutig: »Vor acht Jahren gefielst du mir besser als jetzt, wo du dich freust, weil dieselben Leute dir Beifall klatschen, die damals sittlich entrüstet waren –«

[441] Ich unterbrach ihn heftig: »Wie kannst du mich so mißverstehen! – Gewiß, ich bin nicht von Stein, ich freue mich, wenn ich höre, wie die Ideen meiner ›Frauenfrage‹ Verbreitung gefunden haben, ich freue mich, daß die Mutterschaftsversicherung, daß selbst die Haushaltungs-Genossenschaft aus dem Stadium des Bewitzelns in das ernster Erörterung getreten ist, und ich leugne auch gar nicht, daß Anerkennung mir wohl tut, als tröpfle mir jemand ein schmerzstillendes Mittel in eine unheilbare Wunde, – aber das alles ist doch nicht die Ursache meiner Befriedigung. Mein Glaube an die Entwicklung im Sinne des Sozialismus ist das einzig Feste, was mir noch nach all dem Zusammenbruch geblieben ist. Wenn ich nur das Geringste entdecke, was ihn zu stützen, zu kräftigen vermag, so macht mich das stärker.«

»Du bist noch sehr jung und sehr bescheiden!« warf Heinrich ein. Ich unterdrückte einen Seufzer. Seine morose Stimmung war imstande, jede Spur erwachter Freudigkeit wieder zu zerstören, wie der Fluß, wenn er im Frühjahr aus seinen Ufern tritt, mit öder weiter Wasserfläche die blühenden Wiesen bedeckt. Ich fühlte, wie auch meine Arbeitskraft darunter litt, wie Gedanke und Gefühl erstarrten, sobald sie in die eisige Atmosphäre seiner Deprimiertheit gerieten.

Leise, unmerklich zunächst und doch von Tag zu Tag mehr, löste ich mich von ihm. Das Problem der Ehe wuchs, eine üppige Schlingpflanze, und drohte zu überwuchern, was noch an Liebe zu blühen verlangte.


Für die Frauenbewegung war der Kongreß neuer Wind in die Segel gewesen. Alle Fragen, die sie umfaßte, standen wieder im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Das Für und Wider wurde leidenschaftlich erörtert, und in der konservativen kirchlichen Presse erhoben sich lauter als früher die Stimmen derer, die mit dem Feldgeschrei: Erhaltung der Ehe[442] und der Familie! den Emanzipationsbestrebungen des weiblichen Geschlechts gegenübertraten. In einer Versammlung, die von einem der bürgerlichen Frauenvereine einberufen worden war, sollte diesen Angriffen begegnet werden. Ich ging hin. Mehr aus Neugierde, und weil es mich belustigte, daß lauter ehelose alte Mädchen sich für berufen hielten, über diese Probleme zu urteilen, als in der Absicht selbst zu sprechen.

Die Referentin verteidigte zuerst die Frauenbewegung als die Begründerin eines neuen, schöneren, festeren Ehe- und Familienlebens:

»Gerade der Bund zwischen zwei gleichen, geistig und sittlich gereiften Menschen ist der glücklichste, dauerndste,« sagte sie. »Der Mann wird in der Frau nicht mehr nur die Geliebte, die Mutter seiner Kinder sehen, sondern eine Kameradin, die seine Interessen teilt und fördert. Das Familienleben wird sich dadurch erneuern, denn der Mann braucht nicht mehr außerhalb seines Hauses geistiger Anregung, geistigem Austausch nachzugehen ...«

Mich reizte der salbungsvolle Ton, mit dem sie sprach, und die Art, wie sie die Wogen der Frauenbewegung durch das Öl unbeweisbarer Prophezeiungen zu besänftigen suchte. Ich meldete mich zum Wort.

»All Ihre schönen Argumente,« rief ich aus, »beruhen auf einem Trugschluß: der Instinkt der Sinne ist doch nicht identisch mit dem geistigen Verständnis! Nichts gibt die Gewähr dafür, daß zwei geistig reiche Individualitäten, die einander in heißer Liebe begehren, nun auch mit all den feinen Regungen ihres Seelen- und Geisteslebens zusammenstimmen, Regungen, die um so differenzierter sind, je höher entwickelt der Einzelne ist. Und wer vermag zu sagen, ob nicht trotz geistiger Übereinstimmung die Liebe erkaltet oder sich auf einen anderen Gegenstand richtet? Denn auch die Liebesgefühle und das Liebesbegehren ist vielgestaltiger, differenzierter geworden und nicht mehr so[443] leicht und so unbedingt zu befriedigen ... Nein, meine Damen, lassen Sie sich nicht einlullen durch falsche Prophezeiungen, sammeln Sie vielmehr Ihre Kräfte durch die klare Erkenntnis neuer Probleme. Mit dem durch die Angst um die Gefährdung alten geliebten Besitztums geschärften Spürsinn des Feindes haben die Gegner bald empfunden, was ihnen droht: Je mehr sich das Weib zur selbständigen Persönlichkeit entwickelt, mit eigenen Ansichten, Urteilen und Lebenszielen, desto mehr ist die alte Form der Ehe bedroht. Ihr Glück beruhte nicht auf Gleichheit, sondern auf Unterordnung, nicht auf Arbeitsgemeinschaft, sondern auf Arbeitsteilung. Für den Mann war die Ehe von einst, an der Seite einer von den Kämpfen der Zeit unberührten, nur der Sorge des Hauses lebenden Gattin, der Hafen der Ruhe. Heute findet er daheim neben der ihm geistig ebenbürtigen Frau dieselbe Nervosität, dasselbe geistig angespannte Leben wie draußen. Für die Frau war er das einzige Symbol alles äußeren Lebens, allein von ihm empfing sie gläubig die Botschaften der Welt, die Ansichten und Urteile über sie. Jetzt kennt sie das Leben aus eigener Anschauung, sie denkt selbständig, sie übersieht ihn vielfach; sie findet in ihm so wenig den Schöpfer ihres inneren Lebens, als er in ihr die Quelle der Ruhe und des Behagens findet. Was früher einte: das Zusammenleben, kann heute schärfer trennen, als jede äußere Trennung es vermag ... Es kommt aber auch gar nicht darauf an, daß wir mit heißem Bemühen die Ehe retten; mag sie an der Entwicklung zerschellen wie manche andere Lebensform, wenn nur der Kern erhalten bleibt: die Liebe.«

Man hatte mir mit steigender Erregung zugehört. Ich sah, wie eine Frau nach der anderen sich mit hochrotem Gesicht zum Worte meldete. Sie überfielen mich förmlich. Als eine Vertreterin der freien Liebe, eine mit deren Ideen ihre Bestrebungen nicht das mindeste zu tun hätten, griffen sie mich an.

[444] »Ihre Verteidigung nützt Ihnen nichts,« antwortete ich nochmals. »Die ersten Träger einer Entwicklung sind nur in seltenen Fällen zugleich die Propheten ihrer letzten Konsequenzen gewesen. Als Luther seine 93 Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg schlug, glaubte er, die Zyklopenmauer der katholischen Kirche, die hier und da abzubröckeln begann, fester aufzubauen. Als Montesquieu seinen ›Esprit des lois‹ und Rousseau seinen ›Emile‹ schrieb, glaubten sie einige dunkle Gebiete des Staats und der Gesellschaft aufzuhellen. Keiner von ihnen wußte, daß sie die Brandfackel in das ganze Gebäude warfen. Auch Sie propagieren Reformen und werden zu Trägern der Revolution ...«

Als ich geendet hatte, kämpfte lautes Zischen mit vereinzeltem Beifall; als ich aber den Saal verließ, leuchteten mir aus jungen Gesichtern dankerfüllte Blicke entgegen; es war nicht nur mein eigenes Erleben gewesen, das ich in Worte gefaßt hatte.

An der Türe traf ich meinen Mann, der mir, ohne daß ich es wußte, gefolgt war. Ich errötete unwillkürlich.

»War das ein Bekenntnis?« fragte er. Ich nickte. »Wollen wir nicht auch unsere Liebe retten?« fuhr er leise fort und zog meinen Arm durch den seinen. Mir wurde warm ums Herz: wie gut er war! Ein tiefes Schuldbewußtsein bemächtigte sich meiner: Waren es nicht im Grunde lächerliche Kleinigkeiten, die uns voneinander entfernten, war es nicht frevelhaft, aus selbstischen Motiven den großen Schatz der Liebe aufs Spiel zu setzen? Ein böser Zauber hatte ihn in die Tiefe versenkt, war er es nicht wert, daß ich ihn durch meine Hingabe erlöste?

Ich wußte, was meinen Mann bedrückte, aber ich hatte es bisher nicht sehen wollen. Je mehr er litt, desto schweigsamer wurde er; nur an den gefurchten Zügen, an den finsteren Blicken, und hie und da an einem hingeworfenen Wort erkannte ich, daß er sich in selbstquälerischen Vorwürfen verzehrte. Die Schatten des Dresdener Kongresses fielen noch breit über den Weg der [445] Partei, – er fühlte sich mitschuldig daran. Und er hatte in einem Moment fortgeworfen, wodurch er der Partei wieder hätte helfen können, die Schatten zu bannen: die Neue Gesellschaft.

»Das Aufgeben der Zeitschrift war heller Wahnsinn,« sagte er zuweilen. Aber war nicht der Verkauf des Archivs schon Wahnsinn gewesen? Und ich hatte ihn darin bestärkt, ich war mitschuldig, wenn er Schiffbruch litt! Und in diesem Augenblick hatte ich ihn im Stiche lassen wollen! Hatte mich bitter gekränkt gefühlt, weil er seine Stimmung nicht beherrschte, weil er es an Liebesbeweisen fehlen ließ!

Ich wußte auch, was ihm helfen würde. Oft genug sprach er davon: die Neue Gesellschaft wollte er wieder erscheinen lassen. Aber wenn er mich dabei fragend ansah, so schwieg ich, und ein heftiges Wort schwebte mir jedesmal auf der Zunge. Richtete er eine direkte Frage an mich, so äußerte ich rücksichtslos meinen Widerspruch.

»Nicht drei Monate würden wir mit dem bißchen, was wir aus dem Zusammenbruch gerettet haben, die Zeitschrift halten können,« sagte ich, »und ich habe schon zu viel an Sorgen ertragen, um sehenden Auges dem vollständigen Ruin entgegenzugehen.«


Wenn Graf Bülow im Reichstag über den Dresdener »Jungbrunnen« höhnte, wenn jedes ernste Wort unserer Fraktionsredner im Gelächter der bürgerlichen Parteien erstickte und die Kraft unserer 81 Abgeordneten lahmgelegt blieb seit Dresden, so waren das nicht vereinzelte Erscheinungen, sondern Symptome der allgemeinen Stimmung der Partei gegenüber. Und ein Wochenblatt sollte imstande sein, sie zu zerstreuen? Immer deutlicher rückte alles ab von uns, was uns nahegestanden hatte. Noch kam ich zuweilen in Künstler- und Literatenkreise, aber ich fühlte sogar ein persönliches Sichzurückziehen. Das Interesse wandte sich augenscheinlich ganz anderen Gebieten zu. [446] Die l'art pour l'art-Stimmung breitete sich aus. Mit dem Verschwinden der Arme-Leute-Bilder und Dramen verschwand die oppositionelle Gesinnung. Dichter und Maler, die noch vor kurzem wenigstens durch lange Haare, Samtjacken und fliegende Krawatten den Bohemien markiert hatten, exzellierten jetzt in tadellos weltmännischen Allüren und beurteilten den lieben Nächsten nach seinem Schneider. Wie vor wenigen Jahren noch der Weg ins Volk die Parole der künstlerischliterarischen Jugend gewesen war, so wurde jetzt die Vornehmheit Trumpf. Nicht jene echte der Bewegung und Gesinnung, die der Gefahr des Kopiertwerdens nicht ausgesetzt ist, sondern die müde der Dekadenz, die sich jeder aneignen kann, dessen Finger genügend lang, dessen Gestalt genügend schmal und dessen Charakter genügend biegsam ist.

»Und von diesem dürren Boden glaubst du ernten zu können?!« fragte ich meinen Mann.

»Nein,« entgegnete er, »aber ich bin optimistisch genug, um auch ihn für bearbeitungsfähig zu halten.«

Wir widersprachen einander immer. Nur wenn die Ereignisse in der Sozialdemkoratie die feindliche Haltung gegen die Revisionisten gar zu deutlich hervortreten ließen, kam es vor, daß er selber sagte:

»Es ist doch vielleicht noch zu früh!«

Jeder geringfügige Anlaß genügte, um in der Partei den heftigsten Streit hervorzurufen. So war einem der in die Dresdener Skandale verwickelten Revisionisten die Kandidatur eines sächsischen Wahlkreises angeboten worden. Alle höheren Parteiinstanzen erklärten sich dagegen; die Vernichtung der bisher geltenden Autonomie der Wahlkreise war die Folge, und nun entspann sich eine leidenschaftlich erregte Diskussion in der Presse, die auch in Volksversammlungen ihr Echo fand.

»Die Minderheit hat sich der Mehrheit zu fügen,« hieß es kategorisch auf Seite der Radikalen.

[447] »Die Sozialdemokratie hat jede Art von Machtentfaltung, die die Minderheit in ihrer Existenz bedroht, zu bekämpfen, also zu allererst die in den eigenen Reihen. Es ist Despotie und nicht Demokratie, wenn die Rechte der Minderheit schutzlos sind,« lautete die Antwort auf Seite der Revisionisten.

In einem anderen Fall vertrat ein Parteigenosse in bezug auf die Zollfragen theoretisch von den Ansichten der Partei abweichende Meinungen. Er wurde einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen, und sein Ausschluß aus der Partei war die Forderung vieler. Wortglaube, nicht Geistesglaube war für die Dogmatiker Voraussetzung der Parteizugehörigkeit.

Ich hörte überall dieselbe Dissonanz heraus, die in mir tönte: Selbstbehauptung gegen Selbsthingabe, – Individualismus gegen Sozialismus, – dieselbe Dissonanz, die dem Dresdener Konzert zugrundegelegen und keine Auflösung gefunden hatte. Ob mein Mann und mit ihm seine politischen Freunde wohl im Rechte waren, wenn sie behaupteten, daß die Einheit in der praktischen Tagespolitik über diese inneren Gegensätze hinweghelfen würde?

Wenn ich meine Zweifel äußerte, so war es Reinhard vor allem, der sie auf Grund seiner Erfahrungen zu entkräften suchte.

»Sie sollten bei uns in den Gewerkschaften lernen,« sagte er; »da besteht diese Einheit tatsächlich und ist die Grundlage unseres wachsenden Einflusses geworden.«

Ich erinnerte mich dann der Zeiten, wo er unter den Politikern der radikalsten einer gewesen war, und ich konnte mich der Empfindung des Bedauerns nicht erwehren: damals durchglühten die Ideale des Sozialismus seine Reden, heute schien nicht nur sein Handeln, sondern auch sein Denken den Horizont des Auges nicht mehr zu überschreiten. Arbeiterrechte und Freiheiten rang er mit eiserner Energie dem Unternehmertum ab und richtete den Blick bei jedem Schritt vorwärts konsequent nur auf den nächsten Schritt. Darin lag vielleicht seine Kraft. Aber [448] die Stimmung praktischer Nüchternheit, die ihn beherrschte, war nicht die Atmosphäre, in der die umfassenden Ideen der Menschheitsbefreiung sich entfalten.

Mein Mann, der gerade in dieser Richtung auf die Forderungen des Tages das Heilmittel für die inneren Schäden der Partei zu finden glaubte, beschäftigte sich viel mit den Gewerkschaften.

»Das sind die Kerntruppen,« meinte er, »ihre Wünsche und Bedürfnisse müssen wir kennen, wenn wir einmal mit unserer Zeitschrift wirken wollen.«

Wir besuchten ihre Versammlungen. Ruhige Arbeit herrschte hier. Mit tiefgründiger Kenntnis wurden sozialpolitische Fragen behandelt, besonders die des Heimarbeiterschutzes, die damals im Mittelpunkt des Interesses standen. Es war bezeichnend für den Geist der Gewerkschaftsbewegung gewesen, daß fast zu gleicher Zeit, wo die Einladung zum Frauenkongreß von den Sozialdemokratinnen abgelehnt worden war, die Generalkommission der Gewerkschaften den Heimarbeiterschutz-Kongreß einberufen und die Interessenten aus bürgerlichen Kreisen zur Teilnahme aufgefordert hatte.

Aber wenn die bewußte Beschränkung der Bewegung auf der einen Seite einen erstaunlichen Grad von Wissen, von Energie, von Zielsicherheit zeitigte, so entwickelte sich auf der anderen Seite eine gewisse Engigkeit, ein Organisationsegoismus, der vom Standesdünkel alter Zeiten nicht zu weit entfernt war. Ich agitierte selbst für die Gewerkschaften; ich verfocht in Versammlungen die Forderungen zum Heimarbeiterschutz, die wir im Kongreß aufgestellt hatten, ich wußte, wie notwendig das alles war, aber ich hätte darin nicht aufzugehen vermocht, und es schien mir bedenklich, daß so viele tüchtige Kräfte, von der politischen Bewegung angewidert, mehr und mehr darin aufgingen. Tönte nicht der starke Pulsschlag der Zeit nur gedämpft hierher, wo sich Kräfte und Gedanken im engen Kreis [449] der Organisationsarbeit, der Sozialreform bewegten? Lagen hier nicht die Keime einer gefährlichen Entwicklung von Egoismus gegen Sozialismus?

Allmählich war's, als öffneten sich mir immer neue Tore mit weiten Ausblicken auf unbekannte Gebiete der Arbeiterbewegung. Eine Schulvorlage, die von der preußischen Regierung schon lange in Aussicht gestellt war und auf Einführung konfessioneller Schulen hinauslief, rief in der Presse und in Versammlungen eine lebhafte Kontroverse über Erziehungsfragen her vor. Der bloße selbstverständliche Protest dagegen, die bloße Forderung der Trennung von Schule und Kirche genügte nicht mehr. Wer sich aus Arbeiterkreisen an den Debatten beteiligte, der hatte sich auch mit den Details der Frage beschäftigt, und ein Verlangen nach weiterer Aufklärung wurde laut. In einer kleinen Versammlung vor den Toren Berlins hörte ich einen alten Arbeiter von Pestalozzi sprechen. Er hatte ihn nicht nur gelesen, sondern in sich aufgenommen und schilderte die Arbeitsschule der Zukunft, die an Stelle der »Paukschule« der Gegenwart treten würde, mit demselben Enthusiasmus wie ein anderer sich über den Zukunftsstaat verbreitet haben würde. Auf solche und ähnliche Erfahrungen hin wagte ich es, die »pädagogische Provinz«, Goethes Erziehungsutopie, zum Gegenstand eines Vortrags zu machen. Ein Riesenauditorium, das nur aus Arbeitern bestand, folgte mit gespannter Aufmerksamkeit allem, was ich sagte, und in der Diskussion zeigte sich nicht nur, daß ich verstanden worden war, sondern auch wie viele ihren Goethe gelesen hatten. Jetzt fing ich an, mit erwachtem Interesse den nicht politischen Versammlungen nachzugehen, und ich entdeckte mit wachsendem Staunen suchende Menschen, nicht nur fordernde. Wo religiöse, wo philosophische Fragen angeschnitten wurden, war das Interesse am stärksten. Jener brutale philosophische Materialismus, der alles leugnete, was sich nicht mit Händen greifen ließ, und für die Masse der Sozialdemokraten [450] um so mehr an die Stelle kirchlich-dogmatischen Glaubens getreten war, als sie ihn in naheliegender Begriffsverwirrung mit dem Grundprinzip des Marxismus, dem historischen Materialismus, zusammengeworfen hatten, beherrschte nicht mehr so uneingeschränkt wie früher die Gemüter. Der Unglaube, der geblieben war und neben allem Unabweisbaren sein Fragezeichen aufrichtete, schien erfüllt von Sehnsucht und Heimweh.

Junge und alte Männer begegneten mir, die in ihrer freien Zeit verschlangen, was ihnen an philosophischen Schriften erreichbar war: neben Kant und Schopenhauer das seichteste Gewäsch sogenannter Popularphilosophie, neben Dietzgen, dem Parteiphilosophen, allerhand theosophische, selbst spiritistische Schriften. In der Qual, mit der sie immer wieder versuchten, die geistige Vernachlässigung ihrer Jugendjahre zu überwinden, die Grundlagen des Denkens und Wissens, die ihnen fehlten, nachzuholen, lag eine größere Tragik als in der leiblichen Not.

»Wir sind alle gute Sozialdemokraten,« sagte mir einmal ein älterer Mann, der es vom einfachen Arbeiter zum einflußreichen Gewerkschaftsbeamten gebracht hatte, »und der Sozialismus ist das, was uns zusammengeschweißt hat, uns im Kampf gegen die Feinde unüberwindbar macht; aber nun will doch jeder auch etwas für sich sein.«

Das war der Wunsch nach Persönlichkeit, der sich regte, die Reaktion gegen die geistige Nivellierung, die die Stärke und die Schwäche des Sozialismus war.

Und alles Wünschen und Suchen ging in die Irre. Niemand antwortete darauf, niemand sprang hinzu, um Taumelnde zu halten, Blinde zu führen. Eintönig, wie die Zukunftsprophezeiungen der ersten Christen, klang ihnen aus dem Munde ihrer Führer immer dieselbe Formel entgegen:

»Die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch den Klassenkampf bringt allen Erlösung.«

[451] Sie fühlten mehr, als daß es ihnen deutlich zum Bewußtsein kam: über die Befreiung von Not und Elend hinaus muß es ein persönliches Ziel geben, für das die Erreichung dieses ersten rohesten nichts als der Ausgangspunkt ist. Würden sie im Suchen danach nicht auf Abwege geraten, sich nicht entfernen vom Wege, der notwendig zuerst zu jener ersten Etappe führen mußte?


In Rußland warf die Revolution ihre Brandfackel in Städte und Dörfer. Die Blüte der Jugend, die geistige Elite des Landes trugen die Fahne voraus, und die schwerfällige Masse des Riesenvolkes geriet in eine ungeheure Bewegung. Selbst die Bauern in ihren einsamen Steppen grüßten das Licht, das sie flammen sahen, als ihren Befreier. Hunderte fielen, Hunderte verschwanden im grausigen Dunkel russischer Zitadellen, Hunderte wurden in Ketten in die Bergwerke Sibiriens verschleppt, aber Tausende füllten die Lücken wieder aus, die ihr Verschwinden gerissen hatte. Die Zeit forderte Helden, und sie wuchsen empor; das Leben galt ihnen nichts mehr, wo der Tod die Saat der Freiheit war. Das große Reich, der Hort der europäischen Reaktion, schien in seinen Grundfesten erschüttert. Vor Arbeitern und Bauern, vor Studenten und Frauen streckte der Absolutismus die Waffen. Wir sahen, wie der Himmel über der Grenze sich rötete. Und vielen, auf deren Seelen der häßliche Parteizank lastete, die sich ernüchtert fühlten durch den langen staubigen Weg, den sie an Stelle des Schlachtfeldes gefunden hatten, wurde der Glanz zu einem Hoffnungsschimmer.

Von der Weltenwende der russischen Revolution, von dem Zusammenbruch des Zarismus sprachen prophetisch die Redner in unseren politischen Versammlungen.

»Wir leben in den Tagen der glorreichen russischen Revolution –,« damit wurden die Nörgler und Zweifler niedergeschlagen.

[452] »Sehen Sie nicht, daß die Zeit gekommen ist, die Marx voraussah, wo die Evolution in die Revolution umschlägt –?«

Daran entflammte sich die Begeisterung der Massen. Meine Empfindung, meine Phantasie war auf ihrer Seite, meine Hoffnung entzündete sich daran.


Oft, wenn ich als Kind am Weihnachtsabend erwartungsvoll im dunklen Zimmer saß, hatte der Lichtstrahl, der aus dem Raum daneben, wo die Mutter den Baum putzte, durch das Schlüsselloch drang, mir die ganze Seele erhellt und alle Angst vor der Finsternis um mich vertrieben. So war mir jetzt zumut: es drang ein Lichtstrahl in das Dunkel. Noch kannte ich seine Quelle nicht; nur daß er da war, bannte die Furcht.

Heinrich hatte recht: es gab für uns nur eine Aufgabe: die Neue Gesellschaft wieder ins Leben zu rufen, durch sie zusammenzufassen, was in der Arbeiterbewegung nach allen Richtungen auseinanderzufließen drohte: den geistigen Hunger der Massen, die praktische Arbeit der Gewerkschaften und Genossenschaften, die Schwungkraft der kämpfenden Partei. Und wie sie auf dem Wege zu einer neuen tieferen Einheit Richtung geben sollte, so sollte sie im Kreise der intellektuellen Jugend dem Sozialismus Anhänger werben. Wir bedurften dieser Jugend, das lehrte uns Rußland, das predigten uns die stummen Lippen all der Suchenden, die der geistigen Führer entbehrten. »Die Wissenschaft und die Arbeiter«, – ein Kind dieses Bundes war der Sozialismus gewesen, ihn zu zerstören und zu verleugnen war der eigentliche Parteiverrat.

Nun war es nicht mein Mann, nun war ich es, die zuerst wieder von unserer Zeitschrift sprach. Und was ich so lange entbehrt hatte, geschah: Heinrichs verdüsterte Züge erleuchteten sich wie von innen heraus. Jetzt endlich kamen die Stunden innerer Gemeinschaft zurück, und im Überschwang der Freude [453] glaubte ich das Mittel wieder gefunden, das auch die klaffenden Wunden unserer Ehe schließen würde. In gemeinsamer Arbeit, mit demselben großen Ziel vor Augen würden wir enger, unauflöslicher zusammenwachsen.

Ein Umstand half uns, mit etwas größerer Zuversicht an die Arbeit zu gehen. Meine Schwester, eine der sechs Erben der verstorbenen Tante, hatte, empört über die mir widerfahrene Ungerechtigkeit, versucht, die Annullierung des letzten Testaments, das meine Enterbung aussprach, durchzusetzen. Und als die Verwandten einmütig erklärt hatten, den letzten Willen der Toten respektieren zu müssen, tat sie allein, was sie von den anderen verlangt hatte, und verzichtete in Anerkennung meines Anspruchs auf den sechsten Teil ihres Erbes zu meinen Gunsten. Es war zunächst nur wenig, was ich bekam, – der größte Teil des Vermögens lag in Grundstücken fest, – aber für uns, die wir von Anfang an mit einer so geringen Summe rechnen mußten, daß kaum ein anderer daraufhin den Mut gehabt hätte, eine Zeitschrift zu gründen, war es eine willkommene Hilfe. Nur ganz flüchtig dachte ich daran, die paar tausend Mark für meinen Jungen festlegen zu wollen, – ich errötete dabei über mich selbst. Drüben, im Osten, opferten sie ihr Leben ihrer Sache, und ich könnte mit dem lumpigen Gelde knausern!


Es war ein frohes Arbeiten damals. Wir fanden Mitarbeiter im eigenen Lager, die unsere Ideen teilten, wir fanden aber auch Künstler und Schriftsteller, die nicht abgestempelte Genossen waren und mit Freuden die Gelegenheit ergriffen, einmal zum Volk zu sprechen. Und zuerst leuchteten uns überall die aus den schwarzen Schornsteinen glutrot aufsteigenden Flammen der Neuen Gesellschaft entgegen.

Daß innerhalb der Parteiorganisationen schon gegen uns gehetzt, vor einem Abonnement unserer Zeitschrift gewarnt [454] wurde, daß uns die Genossen wieder als »Geschäftssozialisten« öffentlich an den Pranger stellten, – dafür hatten wir nur ein Achselzucken. Sie glaubten, wir wollten wühlen, kritisieren; sie würden sich bald eines Besseren belehren lassen, denn wir dachten nur daran, aufzubauen. Am Himmel der Zeit stiegen Sturmwolken auf, und wer wetterkundig war, der sah dahinter erfrischte Luft, zu neuem Segen durchtränkte Erde.

Der Strom der russischen Revolution, der drüben alles mit sich riß, schien zuerst an Deutschland vorüberzubrausen, als wäre die Grenze ein Felsengebirge. Allmählich aber begannen seine Fluten Tunnel zu bohren, und die deutsche Reaktion warf angstvoll Wälle auf. In den Einzelstaaten kam es zu Wahlrechtsverschlechterungen, und die Angriffe auf das allgemeine Reichstagswahlrecht wurden lauter. Unter dem Deckmantel der scheinbar harmlosen Schulvorlage ging der preußische Landtag darauf aus, mit den Seelen der Kinder die Zukunft dem Fortschritt zu entwinden. Doch das Proletariat lernte von den russischen Freiheitskämpfern. Zum erstenmal in Deutschland eroberten sich die Arbeiter die Straße zu gewaltigen Massendemonstrationen. In Leipzig, in Dresden, in Chemnitz durchzogen Tausende und Abertausende, dem Polizeiaufgebot trotzend, die Stadt. Und wenn sie auch der Hartnäckigkeit der Regierung nichts abzutrotzen vermochten, sie fühlten sich nicht geschlagen, denn die Siege jenseits der Grenzen stärkten immer wieder ihren Mut: in dunklen Massen, dicht gedrängt, mit einem Schweigen, das mehr als drohende Rufe von finsterer Entschlossenheit zeugte, war die Wiener Partei vor dem Parlament aufmarschiert, während in ganz Österreich die Arbeit ruhte, und eroberte im gleichen Augenblick eine Wahlreform, die vor wenigen Wochen noch von der Regierung abgelehnt worden war. Und angesichts der blutgetränkten Straßen Petersburgs, der rauchenden Trümmer baltischer Schlösser versprach der russische Zar dem Volke die Verfassung.

[455] Jetzt galt es auch in Preußen, gegen die Hochburg der Reaktion Sturm zu laufen: gegen den Landtag. Wir schürten in unserer Zeitschrift mit allen Mitteln den Brand.

»Trotz aller Anerkennung des stark pulsierenden Lebens, das in den Spalten der Neuen Gesellschaft herrscht,« schrieb mir Romberg damals, »bleibt Ihre Schornsteinzeitung mir unsympathisch, – jetzt vollends, wo ich mit aufrichtiger Trauer sehe, daß Sie jene Vornehmheit preisgeben, deren Aufrechterhaltung durch alle Fährnisse proletarischer Versuchung mir bisher so bewundernswert erschien. Den ganzen giftigen Zorn des Renegaten schütten Sie über Ihre eigenen Klassengenossen, die Junker, aus.«

»Über Ihren Geschmack streite ich nicht mit Ihnen,« antwortete ich, »er führt uns, fürchte ich, weit voneinander. Aber mir die Preisgabe der Vornehmheit vorzuwerfen, dazu haben Sie kein Recht. Gerade weil ich Aristokratin war und blieb, weiß ich zu scheiden zwischen dem Adligen und dem Junker. Die Hutten und Berlichingen, die Mirabeau und Lafayette, die Struve und Krapotkin, – das sind Aristokraten, das heißt freie Herren, keine Fürstenknechte, keine Sklaven des Herkommens. Ich bin stolz, zu ihnen zu gehören und werde, wie sie, bis zum letzten Atemzug gegen die Junker, das heißt die Dienstmannen, kämpfen.«

Im Abgeordnetenhause erklärte Graf Roon: »Wenn jemals die Regierung daran denken sollte, uns in Preußen die geheime Wahl zuzumuten, so würden wir zur schärfsten Opposition übergehen.«

»Auf das nachdrücklichste lege ich dagegen Verwahrung ein, daß das allgemeine geheime Wahlrecht als Wahlrecht der Zukunft hingestellt wird,« sekundierte ihm Herr von Manteuffel. Hüben und drüben schlossen sich die Reihen der Kämpfer. Sollte die Schlacht schon bevorstehen?

In den Köpfen der Parteigenossen spukte diese Frage, der die andere auf dem Fuße folgte: wie bereiten wir uns vor? [456] Das Mittel immer wiederholter Arbeitseinstellungen hatte sich in Rußland als das eindrucksvollste erwiesen. Es wurde nun auch in der deutschen Partei erörtert. Es trennte die Geister nach einem Schema, auf das die Bezeichnung Revisionisten und Radikale nicht mehr passen wollte. Mein Temperament riß mich rückhaltlos auf die Seite derer, die den Massenstreik verteidigten; mein Mann stand im entgegengesetzten Lager, wo die Gewerkschafter sich vereinigt hatten. Auch die Ansichten unserer Mitarbeiter gingen auseinander.

»Glauben Sie, es läßt sich beschließen, übermorgen nachmittag um vier in den Massenstreik einzutreten?« höhnte Reinhard. »Revolutionen sind keine Paraden, die vorher einexerziert werden.«

»Aber die Truppen müssen dafür vorbereitet sein wie für die Kriege,« entgegnete einer unserer Mitarbeiter; »wir müssen den Gedanken in die Köpfe hämmern, damit er zur rechten Zeit zur Tat reift.«

»Von unseren drei Millionen Wählern sind nur viermalhunderttausend politisch organisiert, und von zwölf Millionen Arbeitern nur anderthalb Millionen gewerkschaftlich!« rief Reinhard aus. »Mir scheint, wir müssen zuerst die Köpfe haben, ehe wir daran denken können, eine Idee in sie hineinzuhämmern.«

Das Feuer meiner Begeisterung verflog angesichts des neu entfachten theoretischen Streites, der bei uns Deutschen so oft an Stelle des Handelns tritt. Die Demonstrationen gegen den preußischen Landtag beschränkten sich auf ein paar große Versammlungen, denen erst das Aufgebot von Polizei und Militär Bedeutung verlieh. Die Schulvorlage wurde angenommen. Graf Bülows Politik der Ablenkung des Volksinteresses bewährte sich wieder einmal: die Blicke aller derer, die nicht zu unseren Kerntruppen gehörten, richteten sich wie hypnotisiert auf die internationalen Verwickelungen. Von der feindseligen Verstimmung sprach der Reichskanzler, als die neue Flottenvorlage [457] dem Reichstag zuging: »Deutschland muß stark genug sein, sich im Notfall allein behaupten zu können!«

Von dem Ernst der Zeit, von der Notwendigkeit, eine stets schlagbereite Armee zu haben, sprach der Kaiser. So wurde gegen die revolutionäre die patriotische Stimmung ausgespielt.


Wir hatten gearbeitet, den Blick krampfhaft vorwärts gerichtet, besinnungslos. Wir hatten unser Programm erfüllt, waren jeder tieferen Volksregung nachgegangen; es hatte an aufrichtiger Anerkennung nicht gefehlt, und trotz allen lauten und leisen Wühlens gegen uns war in kurzer Zeit ein Stamm von Lesern gewonnen worden. Aber die Kosten der Zeitschrift überstiegen bei weitem die Einnahmen. Wir konnten nicht länger die Augen davor verschließen, daß unsere Mittel auf einen winzigen Rest zusammengeschmolzen waren.

»Drei Jahre müssen Sie aushalten können, dann haben Sie sich durchgesetzt,« sagte uns ein treuer Genosse, der zugleich ein guter Geschäftsmann war.

»Drei Jahre!« wiederholte ich in Gedanken. »Wo wir kein Vierteljahr mehr gesichert sind!«

»Wir dürfen die Flinte nicht ins Korn werfen, heute weniger als je,« erklärte mein Mann; »denn jetzt schädigen wir dadurch die Sache.«

Die Furcht flüsterte mir zu: »Gib auf, solang es noch Zeit ist.«

»Heinrich ertrüge es nicht,« antwortete die Stimme meines Herzens.


Um jene Zeit kam meine Schwester nach Berlin zurück. Sie war in einem Sanatorium gewesen und hatte dann eine lange Seereise gemacht.

»Nun bin ich heil und gesund,« damit trat sie wieder vor mich hin, »und jetzt komme ich zu dir und will arbeiten.« Mit ungläubigem [458] Lächeln sah ich sie an. »Meinst du etwa, ich hielte auf die Dauer solch zweckloses Leben aus?« schmollte sie, weil ich sie nicht ernst nehmen wollte.

»Im Sanatorium war einer mein Tischnachbar, der ein heimlicher Genosse ist,« fuhr sie zu plaudern fort. »Er holte nach, was du zu tun versäumtest; gab mir Bücher und Zeitungen und klärte mich auf. Ich bin überzeugte Sozialdemokratin.«

»Aber Ilse!« lachte ich. »Du?! Die Ästhetin?! Du mit deinem Grauen vor dem Pöbel?!«

Nun wurde sie wirklich böse. »Ist es so unwahrscheinlich, daß man sich entwickelt? – Bist du vielleicht als Genossin auf die Welt gekommen?! – Ich bildete mir ein, dir mit dieser Nachricht eine besondere Freude zu machen, und nun glaubst du mir nicht! Aber ich werde dir beweisen, wie ernst ich es meine: noch heute will ich mich dem Vertrauensmann meines Wahlkreises vorstellen, ich werde sogar Flugblätter austragen, wenn er mich brauchen kann.«

Ich war noch ganz benommen von der erstaunlichen Wandlung meiner Schwester, als Heinrich sie begrüßte. Er fand sich rascher in die veränderte Situation.

»Da hätten wir ja eine neue Mitarbeiterin,« sagte er lebhaft.

»Ja, – ob ich aber schreiben kann?!« meinte sie zögernd.

»Sind nicht alle ihre Briefe druckreifes Manuskript?« wandte er sich an mich. »Und prädestiniert sie nicht ihre ganze Vergangenheit, gerade das wichtige, noch so sehr vernachlässigte Gebiet der künstlerischen Volkserziehung zu dem ihren zu machen?«

Alles Fremde, das seit Jahren zwischen uns gestanden hatte, war jetzt vergessen. Die kleine Ilse war wieder mein Kind wie einst, da sie nichts so gerne hörte wie meine Geschichten, mit nichts spielen mochte als mit den Spielen, die ich erfand. Ich streckte ihr beide Hände entgegen:

»Du brauchst keine Flugblätter auszutragen, um zu beweisen, daß du zu uns gehörst. In der Partei ist viel Raum für Kräfte wie die deinen.«

[459] Am Abend sah ich an Heinrichs grüblerischem Gesichtsausdruck daß irgendein Gedanke ihn beschäftigte. Er ging schweigsam im Zimmer auf und nieder. Endlich blieb er vor mir stehen: »Was meinst du, wenn wir Ilse aufforderten, sich an der Neuen Gesellschaft mit einem Kapital zu beteiligen?«

Ich hob die Hände, als gelte es einer Gefahr zu begegnen.

»Um Gottes willen nicht!« rief ich aus.

»Du scheinst deiner Schwester wenig zuzutrauen,« entgegnete er stirnrunzelnd. »Daß wir alles aufs Spiel setzen, ist dir selbstverständlich; daß Ilse einen Bruchteil ihres Vermögens opfern soll, kommt dir unmöglich vor. Und doch könnte das ihr geben, was ihr fehlt: einen ernsten Lebensinhalt, einen Antrieb zur Arbeit, die mehr ist als Laune und Spielerei.«

Ich widersprach auf das heftigste: »Was wir tun und lassen, ist unsere Sache, aber die Verantwortung für Ilse dürfen wir nicht auf uns nehmen. Niemals ertrüg' ich's, sie in unseren Ruin hineinzuziehen!«

Heinrich brauste auf. »Wie kannst du von Ruin sprechen, wo uns nichts fehlt als die Mittel, noch einige Zeit auszuhalten, – wo wir in zwei, drei Jahren über das schlimmste hinaus sein werden! Hast du so gar keinen Glauben an die eigene Sache?«

»Ich habe ihn, Heinz, ich hab' ihn gewiß –,« meine Hände preßten sich flehend ineinander, »– aber lieber will ich mir die Finger blutig schreiben, lieber will ich von Ort zu Ort gehen, um die Mittel für die Neue Gesellschaft zusammenzubringen, als daß ich mich an Ilse wende.«

Mit gerunzelten Brauen sah Heinrich mich an. »Ich finde deinen Standpunkt kleinlich, – deiner und deiner Schwester unwürdig. Sie wird sich freuen, mit einem Teil ihres Überflusses etwas Nützliches leisten zu können.«

Aber ich ließ mich nicht überzeugen. »Laß uns wenigstens noch versuchen, ob sich nicht auf anderem Wege Hilfe schaffen läßt,« bat ich. Heinrich schwieg, sichtlich verletzt.

[460] Alle Schritte, die er in den nächsten Wochen unternahm, waren umsonst. Immer näher rückte die Zeit, die uns vor die letzte Entscheidung stellte. Mich schauderte im Gedanken daran.

Als ich ihn eines Abends wieder von einer vergeblichen Reise zurückkehren sah, – so müde, so gebrochen, da hielt es mich nicht länger: »Geh zu Ilse,« sagte ich.


War es der Leichtsinn der Jugend, war es die Überzeugungskraft der Reife, die Ilse ohne einen Augenblick des Überlegens dem Vorschlag Heinrichs entsprechend handeln ließ? Wie kam es nur, daß in dem Augenblick, wo sie sich nicht nur im Denken, sondern auch im Handeln mit mir vereinte, ein kalter Reif auf die kaum wieder entfaltete Blume meiner Schwester liebe fiel? Irgendeine Fessel, die die freie Bewegung meiner Glieder hemmte, wurde schmerzhaft angezogen.

Eine Unrast der Arbeit packte mich, die mich jede ruhige Stunde als Unterlassungssünde empfinden ließ. Selbst in den Augenblicken, wo die Sache, der ich diente, mich ganz zu packen schien, fiel mir ein, daß ich arbeiten mußte, um das Geld meiner Schwester nicht zu verlieren. Daß die Arbeitsgemeinschaft mit meinem Mann unsere Liebe zueinander festigen sollte, – daran dachte ich kaum mehr. Kam mir in heißen Nächten nach gehetzten Tagen die Erinnerung daran, so grauste mir's. Ich saß meinem Mann gegenüber, tagaus, tagein, über Manuskripte und Korrekturen gebeugt. Ich hatte keine Gedanken mehr, mich für den Geliebten zu schmücken, keine Zeit mehr für das süße Spiel der Liebe, für Suchen und Finden, Zurückstoßen und Wiedererobern. Nur für mein Kind stahl ich mir morgens und abends noch eine Stunde; aus der Frische seines Denkens und Fühlens floß mir der Tropfen Lebensfreude, den ich brauchte, um weiter schaffen zu können.

Meinen kleinen Haushalt überließ ich nun schon lange der Berta. Zuweilen wunderte ich mich wohl, daß er bei seiner [461] Einfachheit so kostspielig war. Aber jede Spur von Mißtrauen lag mir fern. Opferte die Berta uns nicht ihre ganze Arbeitskraft? War sie es nicht, die unter Hinweis auf die entstehenden Kosten jede fremde Hilfe ablehnte und alles allein besorgte?

Eines Tages sah ich ein goldenes Armband auf ihrem Nähtisch liegen. »Mein Onkel hat es mir zum Geburtstag geschenkt,« sagte sie.

Bald darauf brachte die Portierfrau, als sie abwesend war, ein Paket für »Fräulein Berta«, die Uhrkette sei darin, die sie sich durch sie habe besorgen lassen, fügte sie erklärend hinzu. Ich wurde stutzig und ließ mich in ein Gespräch mit ihr ein.

»Auch das Armband hat mein Mann besorgt,« schwatzte sie, »es kostete nur sechzig Mark. Und Fräulein Berta kann sich wohl mal was selber gönnen, nachdem sie immer das viele Geld nach Hause schickt.«

Nach Hause?! dachte ich verblüfft, ihr Vater war doch, wie sie oft genug erzählt hatte, in behäbiger Lage. Nun verfolgte ich erst aufmerksam ihr Tun und Lassen. Im Lauf einer Woche hatte ich alle Beweise in der Hand: seit Jahren war ich von ihr betrogen worden. Im ersten Gefühl der Empörung wollte ich ihre Unterschlagungen zur Anzeige bringen. Aber dann schämte ich mich. War ich nicht die Schuldige gewesen? Ich, die ich dem einfachen Bauernmädchen eine Freiheit gelassen, eine Selbständigkeit aufgebürdet hatte, der sie geistig und moralisch nicht gewachsen war; ich, die ich sie aus Dankbarkeit mit Geschenken überhäuft hatte, die ihre Eitelkeit, ihre Habsucht erwecken mußten? Sie war für die Lebenssphäre, in die sie zurücktreten mußte, bei mir und durch mich verdorben worden.

Ich entließ sie; ich bekannte meinem Manne meine Schuld. Von nun an mußte ich mich um die täglichen Sorgen des Haushalts kümmern, mußte vor allem die Zeit erübrigen, um mit meinem Buben ins Freie zu gehen. Ich war viel zu ängstlich, um ihn sich selbst zu überlassen. Wie müde fühlte ich mich, wenn [462] ich abends schlafen ging! Wie zerschlagen, wenn ich morgens erwachte! Wie lange noch würde ich aushalten können?!

Und mehr denn je verlangte unsere Arbeit die ganze Nervenkraft, die volle Anspannung des Willens. Ein neuer Parteiskandal forderte gebieterisch unsere Stellungnahme. Die Auseinandersetzungen über den Massenstreik hatten in einem Teil unserer Tagespresse wieder die Formen persönlichen Gezänks, gegenseitiger Verdächtigungen angenommen. Zur Empörung der radikalen Berliner vertrat das Zentralorgan der Partei den Standpunkt der Gewerkschaften, und obwohl der Jenaer Parteitag eine wenigstens äußere Verständigung zwischen beiden Richtungen herbeiführte und auch die Preßfehde zu schlichten schien, ließ sich Groll und Mißtrauen nicht durch Resolutionen beseitigen. Trotz aller gegenseitigen Versicherungen blieb die Mehrheit der Vorwärts-Redaktion, die ihre Ansichten weder dem Votum der Masse unterwerfen, noch sich zu einem Inquisitions-Tribunal hergeben wollte, des Revisionismus verdächtig. Kaum war der Parteitag vorüber, als der Parteivorstand mit den Berlinern in Verhandlungen eintrat, deren Resultat die Entlassung und der Ersatz eines oder mehrerer Redakteure und die Neugestaltung der Mitarbeiterschaft über den Kopf der Redaktion hinweg sein sollte. Hinter verschlossenen Türen, mit strengstem Schweigegebot für die Teilnehmer und – unter Ausschluß der Angeklagten ging das alles vor sich. Ein Femgericht nach demselben Prinzip wie das, dem ich einmal seitens der Frauen unterworfen worden war. Wo war hier die Gleichheit, wo die Brüderlichkeit?! Als die Redaktion trotz aller Vorsichtsmaßregeln von den Vorgängen erfuhr und der Parteivorstand ihren Protest gegen ein allen Grundsätzen der Demokratie hohnsprechendes Verhalten schroff zurückwies, handelte sie, wie organisierte Arbeiter handeln, wenn der Unternehmer ihre Kameraden, ohne sie zu hören, mit Aussperrung bedroht: sie erklärte sich in ihrer Mehrheit solidarisch, reichte ihre Entlassung [463] ein und begründete ihre Handlungsweise vor der Öffentlichkeit. Mit gezückten Schwertern standen einander nun wieder zwei Richtungen in der Partei gegenüber. Aber die Masse vertrat nicht die Prinzipien der Demokratie, sondern die der Despotie.

»Wie können wir noch mit freier Stirn unsere Ideale gegenüber der Willkürherrschaft monarchischen Absolutismus verteidigen,« schrieben wir in der Neuen Gesellschaft, »wie können wir die Selbstherrlichkeit des Unternehmertums, seinen rücksichtslosen Herrenstandpunkt gegenüber dem Arbeiter angreifen, wenn der Gegner uns mit den eigenen Waffen zu schlagen vermag? Wie können wir an den endlichen Sieg unserer Sache glauben und uns unterfangen, andere davon überzeugen zu wollen, wenn die Ansichten einzelner, – hier des Parteivorstands, ganz besonders die Bebels, – zum Credo erhoben werden und jeder Andersgläubige der Ketzerei beschuldigt wird, – ungehört, wie bei den Hexenprozessen? ... Die Redakteure haben ihre Schuldigkeit getan, tun wir die unsere! ...«

Wie der Stein, der in den Teich geworfen wird, nicht nur weite und immer weitere Kreise zieht, sondern auch den Grund aufwühlt, so daß dieser plötzlich in das klare Wasser schwarz und schlammig emporsteigt, so war es hier. Man hatte vergessen, den Grund zu säubern und auszumauern, ehe der frische Quell des Sozialismus hineingeleitet wurde. Die Moral der bürgerlichen Gesellschaft, die ihr das Christentum mit Feuer und Schwert und Verfolgung eingeimpft hatte, beherrschte alles menschliche Denken und Fühlen.

»Besser unrecht leiden, als unrecht tun,« predigten salbungsvoll unsere Parteiblätter; also sich beugen, sich der Macht unterwerfen, Demut und Unterwürfigkeit für der Tugenden größte erklären, – konnte, durfte das die Ethik des Sozialismus bleiben?

Ich empfand das alles nur dumpf, wie einen Traum; ich hatte keine Zeit, Gedanken zu formen; ich hatte auch keine Kraft.

[464] Sonderbar, wie elend ich mich fühlte. Als stünde mir eine große Krankheit bevor. Ich ballte die Hände, so daß die Nägel mich in der Handfläche schmerzten: ich durfte nicht krank werden. Oft wenn ich mit meinem Sohn durch die Straßen ging, überfiel mich ein Schwindel. Dann lehnte ich mich an irgendeine Mauer, und er blieb vor mir stehen, die großen ernsten Augen ängstlich auf mich gerichtet. Und wenn ich abends mit irgendeiner notwendigen Näharbeit bei ihm war, und er mir mit all dem überzeugten Pathos des Kindes vorlas, – Märchen und Gedichte, die feierlichsten am liebsten, – dann brauste es mir vor den Ohren, so daß ich kaum seine Stimme noch hörte. Was war das nur?

Meinem Mann verschwieg ich meinen Zustand. Mein Junge war mein Vertrauter und mein Verbündeter zugleich. Er hatte mir versprechen müssen, dem Vater nichts zu sagen.

»Papachen hat soviel Ärger, er soll sich nicht auch noch um mich Sorge machen!« – Und dies erste Zeichen eines freundschaftlichen Vertrauens seiner Mutter hatte ihn sichtlich reifer gemacht.

Aber dann kam ein grauer Tag; der Regen klatschte unaufhörlich an die Scheiben; um meinen Kopf lag es wie ein Band von Eisen. Plötzlich aber mußte ich vom Stuhle springen, auf dem ich zusammengekauert gesessen hatte; ein Gedanke traf mich, blendend wie ein Blitz. Wie hatte ich nur so lange fragen können, was mir fehlte: ich war guter Hoffnung. »Guter« Hoffnung?! Sehnsüchtig hatte ich mir oft noch ein Kind gewünscht, hatte, wenn ich meinen Buben ansah, es fast als ein Naturgebot empfunden, mehr seinesgleichen zu gebären. Und jetzt? Wie anders fühlte ich mich, als da ich ihn unter dem Herzen trug: schwach, schwermütig, arbeitsunfähig. Und ich mußte doch arbeiten!

Seit wir in dem letzten Parteikampf so energisch die Rechte der Minderheit vertreten hatten, regnete es Angriffe auf das »parteischädigende Treiben der Neuen Gesellschaft«. Auf wessen [465] Tisch die rotleuchtende Flammenschrift unseres Blattes entdeckt wurde, der erschien schon verdächtig.

Wenn meine Schwester kam, wurde mir heiß und kalt. Etwas wie Schuldbewußtsein machte mich ihr gegenüber immer scheuer. Wir mußten uns durchsetzen, – um jeden Preis! – Und ich biß die Zähne zu sammen und trug schweigend meine Qual, bis ich nicht mehr konnte.

Meine Ärztin machte ein ernstes Gesicht: »Sie müssen sich vollkommen ruhig halten, sich vor jeder Aufregung hüten,« sagte sie mit scharfer Betonung.

Ich verzog den Mund zu einem Lächeln und ging heim, als schleppte ich eine Zentnerlast mit mir. Und wenn ich mich in irgendeinen Erdenwinkel hätte verkriechen können, sie würde weiter drückend auf mir liegen. Wen einmal die Sorge umstrickt, den hält sie fest.

Eine krankhafte Angst bemächtigte sich meiner. Ich fürchtete mich vor dem keimenden Leben in mir wie vor einem Mörder. Ich malte mir in dunkeln Nachtstunden den Augenblick schreckhaft aus, wo der Ruin vor der Türe stand.

Und dann brach ich zusammen. Ehe das Kind in meinem Schoß Leben gewesen war, starb es. Während der langen dunkeln Stunden, die ich nun regungslos auf dem Rücken lag, blickte das Ungeborene mit zwei starren Augen auf mich, anklagend, richtend. Und ich beweinte es, als hätte es schon in meinen Armen gelegen.

Als ich wieder aufstehen durfte, nahm ich aus meiner Großmutter Zeichenmappe ein kleines, in zarten Farben gemaltes Bild: ein Köpfchen mit weißen Rosen bekränzt, – ihr jüngstes Kind, das gestorben war, ehe seine Lippen das erste »Mutter« zu lallen vermochten. Ich stellte es auf den Schreibtisch vor mich hin. Es sollte mich zu jeder Stunde daran erinnern, daß mein Kind zum Opfer gefallen war.

Ich erholte mich schwer. Mir fehlte der Wille zur Kraft.

[466] Eines Abends saß ich mit meinem Sohne zusammen unter der grünumschirmten Lampe. Er war in das Buch vertieft, das aufgeschlagen vor ihm auf dem Tische lag.

»Das mußt du hören, Mama,« rief er aus; seine Augen glänzten vor Entzücken.


»Nun geht in grauer Frühe
Der scharfe Märzenwind,
Und meiner Qual und Mühe
Ein neuer Tag beginnt ...«
las er. In den Stuhl zurückgelehnt, hörte ich ihm zu.
»Kein Dräuen soll mir beugen
Den hochgemuten Sinn;
Ausduldend will ich zeugen,
Von welchem Stamm ich bin.«

Ich richtete mich auf. »Ausduldend will ich zeugen, von welchem Stamm ich bin,« wiederholte ich leise, nahm meines Kindes Kopf zwischen beide Hände und küßte ihn auf die Stirn. Es war ein Gelöbnis.

[467]
16. Kapitel
Sechzehntes Kapitel

»Wie die Hasen auf der Treibjagd werden die Revolutionäre von den Soldaten zusammengeschossen,« – »fünfzehntausend Gefallene bedecken Straßen und Barrikaden –,« so meldete der Telegraph aus Moskau; »die Regierung hat uns betrogen! Der Zar hat sein Versprechen gebrochen! Die Knute der Kosaken herrscht wieder über uns,« – so klangen die Verzweiflungsschreie der Freiheitskämpfer über die Grenze. Und schwer und dumpf grüßten die Glocken das Jahr 1906.

Auf den eroberten Gebieten des Absolutismus hatten unsere russischen Brüder ihre Siegeszeichen aufgepflanzt, und an ihnen waren die üppigen Ranken unserer Hoffnung wuchernd emporgewachsen. Jetzt lagen sie am Boden. Die Soldaten der Reaktion traten darauf.


Und doch bedurften wir in dem Kampf, den wir führten, der Siegeszuversicht. Ein rocher de bronce war Preußen, dem er galt, noch immer, denn als die Frage der Abänderung des Dreiklassenwahlrechts im Landtag endlich zur Besprechung kam, da erklärte die Regierung: das Reichstagswahlrecht ist unannehmbar, und fügte der Absage durch den Mund des Ministers von Bethmann Hollweg die versteckte Drohung hinzu: »das Gefühl der Unlust besteht ja auch im Reiche, wo wir noch dieses angeblich ideale Wahlrecht besitzen.« Noch! – Wir hatten achtzig Abgeordnete im Parlament, und doch würde Preußens Reaktion sie mit einer Handbewegung beiseite schieben. [468] Es klang wie ein Hohn unserer Ohnmacht, wenn der Kanzler die Machtmittel des Staates für ausreichend erklärte, um »Pöbelexzesse zu verhindern.« Er hatte recht. Es kam zu keinen Exzessen.


Die Einführung des Zolltarifs stand vor der Türe. Mit neuen Steuern und Abgaben drohte eine Reichsfinanzreform. Im Hintergrund lauerte das Raubtier des Kriegs, und die Diplomaten, die mondelang in Algeciras beisammensaßen, um es in Ketten zu legen, schienen es statt dessen groß zu füttern. Für neue Kriegsschiffe agitierten die Regierungsparteien und malten den Weltbrand glutrot auf die leere Leinwand der Zukunft. Aber das Volk hörte gleichgültig zu, als ginge es das alles nichts an. Wo es im Laufe der letzten Jahre bei Nachwahlen zum Reichstag um sein Verdikt gefragt worden war, hatte es Junkern und Junkergenossen das Feld überlassen.

»Mir ist eine kleine Schar überzeugter Genossen lieber als eine große Menge unsicherer Mitläufer,« hatte Bebel wiederholt gesagt. Das sollte ein Trost sein und war bei Licht besehen nur die Konstatierung einer Tatsache, denn der Zuzug aus bürgerlichen Kreisen hatte sich verlaufen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, – das war der Trunk gewesen, an dem sich deutsche Träumer von jeher berauscht hatten. Diesmal war er von der Sozialdemokratie kredenzt worden. Als sie aber erwachten und die Welt noch immer nicht ihren Dichteridealen entsprach, und die Genossen die Ritter vom heiligen Gral nicht waren, die sie in ihnen gesehen hatten, da versanken sie wieder in politische Gleichgültigkeit.

Auf die Maienpracht junger Hoffnungen war der Reif der Enttäuschung gefallen. Es schien fast, als ob alle Knospen daran sterben sollten.

An jenem »roten Sonntag«, der in ganz Preußen der Demonstration gegen das Dreiklassenwahlrecht gewidmet war, sprach [469] ich in einem kleinen Fabrikort Brandenburgs. Es war ein trüber Abend; der Saal lag abseits zwischen hohen Mauern in einem feuchten Grunde. Mein Appell an die Begeisterung, an die Widerstandskraft verhallte wirkungslos. Und es war nicht nur meine Schuld, daß das Feuer nicht brennen wollte. Regenschauer hatten das Holz naß gemacht, so daß es nur knisterte. Wir protestierten gemeinsam gegen die preußische und gegen die russische Reaktion, aber mir schien, als stünde hinter diesem Protest nicht der Wille zur Tat, sondern ein resigniertes Gefühl der Ohnmacht.


Die Neue Gesellschaft führte die Sprache der Kraft. War sie nicht mehr die der Massen, daß sie sie nicht hören wollten?

Frühling und Sommer zogen an unseren Fenstern vorbei. Wir saßen gebückt am Schreibtisch und wagten nicht, einander in das Antlitz zu schauen. Zuweilen war mir wie einem, der in eine Hütte mit blinden Scheiben gesperrt ist und nichts sieht als den Staub und die Dürftigkeit der nächsten Nähe. Dann durstete ich so sehr nach Luft und Sonne, daß ich jeden Hauch, der durch die Türe drang, jeden Strahl, der sich hinein verirrte, wie einen Boten der Erlösung begrüßte.

Meine Schwester hatte sich verlobt.

»Jetzt erst weiß ich, was Liebe ist,« hatte sie mir mit glühenden Wangen und heißen Augen zugeflüstert. Das Leben war ihr viel schuldig geblieben, darum glaubte ich freudig daran, und ihr Glück ließ mich ihr gegenüber freier atmen, darum unterdrückte ich jeden Zweifel. Sie führte uns ihren Verlobten zu, einen jungen Arzt, hinter dessen auffallender Schweigsamkeit ich den Menschen zu sehen mich zwang, den sie lieben konnte. Sie heirateten bald. Auf den Höhen der Schwäbischen Alb übernahm er die Leitung eines Sanatoriums. Sie schrieb Briefe, die ein einziger Jubel waren, und sandte Bilder mit [470] Bergen und Wäldern und weiten Blicken über friedliche Täler. Aber es fiel auf meine Seele nur wie ein Sonnenstrahl aus dem Gewölk, das sich danach nur noch dichter und dunkler zusammenzog.


Um jene Zeit erging von einem aus den Anhängern der verschiedensten Parteien bestehenden englischen Komitee, dem unter anderen auch eine große Zahl englischer Parlamentsmitglieder angehörte, an die Zeitungen aller deutschen Parteien die Einladung zu einem Besuch nach England. Angesichts der gewissenlosen Hetze und der Kriegstreiberei höfisch-militärischer Kreise und ihrer Werkzeuge in der Presse sollte diese Veranstaltung dazu dienen, die wahre Gesinnung des englischen Volkes kennen zu lernen und die freundschaftlichen Beziehungen der beiden Länder wieder fördern zu helfen. Keir Hardie, der Führer der englischen Arbeiterpartei, hatte die Einladung mit unterzeichnet. Auch bei der Redaktion der Neuen Gesellschaft lief sie ein, von einem Brief meines alten Freundes Stead begleitet, der die Hoffnung aussprach, wir würden ihr Folge leisten.

England! Wieviel Erinnerungen wurden in mir wach! Es war mir das Sprungbrett des neuen Lebens gewesen. Vielleicht, daß es mich nun aus seinem Labyrinth wieder ins Freie zu führen vermöchte! Meine Hoffnung sah einen Weg aus der Not und der Enge heraus, – und wenn's nur ein flüchtiges Aufatmen wäre in freier Luft! Mein Mann legte die Einladung beiseite wie etwas selbstverständlich Abgetanes.

»Meinst du nicht, daß ich sie annehmen könnte, – in unserem Namen,« fragte ich zögernd. »Ich möchte fort, – hinaus, ein einziges Mal nur!« –

Er sah verwundert von der Arbeit auf. »Wenn dir soviel daran liegt, bedarf es gar nicht der tragischen Gebärde!« antwortete er ruhig.

Nun erschien mir mein Wunsch doch im Lichte sträflicher Vergnügungssucht. Ich mußte mich und ihn beruhigen, der [471] nicht anders denken mochte: »Ich werde Berichte schreiben, – neue Beziehungen anknüpfen. Vielleicht verschaffe ich mir sogar bei der Gelegenheit die Korrespondenz für ein englisches Blatt.«

Der Gedanke besonders elektrisierte mich: das wäre doch eine Sicherheit, wenn die Neue Gesellschaft zusammenbräche.

Kurz vor meiner Abreise besuchte uns Reinhard. »Ich lese Ihren Namen unter denen der Journalisten, die nach England fahren,« begann er erregt.

»Gewiß,« entgegnete ich, »und was haben Sie dagegen? Keine der berühmten bindenden Parteitagsresolutionen hindert mich daran!«

»Aber Ihr Gefühl müßte es tun,« brach er los; »wollen Sie sich denn gewaltsam jeden Vertrauens berauben?! Kein Genosse wird es begreifen, daß Sie mit einer Reihe unserer ärgsten Gegner gemeinsame Sache machen!«

»Schlimm genug, wenn dem wirklich so sein sollte!« rief ich aus. »Haben wir nicht auf dem Heimarbeiterschutzkongreß mit Gegnern zusammengearbeitet, tun wir es nicht dauernd im Parlament? Und mir sollte es verdacht werden, wenn ich mich an einer Reise beteilige, deren Zweck durchaus im Interesse der Partei liegt? Wir Mitreisenden sollen uns doch nicht untereinander verbrüdern; uns wird nichts als die Gelegenheit geboten, es mit aufrichtigen Friedensfreunden in England zu tun.«

»Das mag alles so sein, wie Sie sagen,« antwortete er, »trotzdem dürfen Sie – gerade Sie, deren Stellung doch schon schwierig genug ist – nicht als einzelne der Empfindung der Massen entgegenhandeln.«

Ich warf den Kopf zurück. Jetzt erst wußte ich, daß diese Reise nicht nur meine persönliche Angelegenheit war. »Ich verstehe Ihre gute Absicht,« sagte ich, »aber wenn etwas mich in meinem Vorhaben noch bestärken könnte, so sind es die Gründe, durch die Sie mich davon abbringen wollen. Nichts ist mir von[472] jeher so verächtlich gewesen wie Lakaiengesinnung, gleichgültig ob sie vor dem einzelnen oder vor der Masse zum Ausdruck kommt –.«

»Ich mute Ihnen doch nicht Lakaiengesinnung zu!« unterbrach er mich heftig.

»Was ist es anders, wenn Sie verlangen, ich sollte mich der Empfindung der Masse beugen, nicht weil sie die rechte, sondern weil sie die herrschende ist?! Wir kommen nie vom Fleck, wenn wir unsere bessere Einsicht nicht zur Geltung bringen; wir erziehen dadurch im Volk nur einen noch beschränkteren, noch despotischeren Herrscher, als unsere Fürsten es sind.«

»Im Grunde bin ich ja Ihrer Meinung,« lenkte er ein; »es handelt sich doch in diesem Fall nur um eine kleine Konzession, für die Sie größere Werte eintauschen werden.«

Ich lachte spöttisch auf: »Meinen Sie?! Man wird mir nicht mehr vertrauen und mich nicht weniger verleumden, wenn ich auf die Reise verzichte. Aber man wird wissen, daß ich kein Zeug zum Demagogen habe, wenn ich auf meinem Entschluß beharre, – auch jetzt, wo mir die Folgen klar sind.«

Reinhard verabschiedete sich kühl und fremd. Er war einer der Besten und Selbständigsten unter den Genossen. »Ich fürchte, wir haben ihn verloren,« sagte mein Mann. Ich unterdrückte einen schweren Seufzer.


Mitte Juni reisten wir ab. Schon im Zuge, der uns nach Bremerhaven führte, freute ich mich der Gegen wart Theodor Barths; – ein freier Mensch und ein Gentleman, also einer der Seltenen, mit denen sich über alle trennenden Schranken der Politik verkehren läßt. Auf dem Schiff fanden sich die übrigen Reisegefährten ein: neunundvierzig Journalisten, unter denen ich die einzige Frau war. Ich empfand, wie meine Anwesenheit sie beunruhigte. Sollten sie mich als Dame oder als Sozialdemokratin [473] behandeln? Sie entschlossen sich in der Mehrzahl, ihrer politischen Gesinnung auch auf dem neutralen Boden unseres Dampfers unverfälschten Ausdruck zu geben. Offenbar störte es sie nur, daß ich ihnen durch mein Benehmen keinen besseren Anlaß dazu bot.

Ich kümmerte mich wenig um sie; mit durstigen Zügen atmete ich die frische Salzluft ein, und mit jeder Meile, die wir uns von der Küste entfernten, fiel mehr und mehr von mir ab, was lastend und quälend mein Herz bedrückte. Ich stand lange am Zwischendeck, wo sie beieinander hockten, all die Männer, Frauen und Kinder, die das Vaterland ausgestoßen hatte. In dem Antlitz der meisten blitzte etwas wie Zukunftshoffnung auf. Fast dünkte es mich beneidenswert: das alte Leben hinter sich zu lassen und nur mit dem leichten Bündel unter dem Arm einem neuen entgegen zu gehen.

In London hatte Beerbohm Tree in seinem Theater für die deutschen Gäste den ersten Empfang bereitet. Ich ging nicht hin; unsere heimische Bühnenkunst hat uns den Geschmack für ein Komödiantentum verdorben, das vielleicht vor fünfzig Jahren auch bei uns noch das herrschende war. Ich erwartete statt dessen Stratfords Besuch.

»Wissen Sie noch, wie wir damals voneinandergingen?« fragte er nach der ersten Begrüßung.

Ich nickte lächelnd: »Ein Mann wie Sie gehört der Sache des Sozialismus, sagte ich Ihnen.«

»Wären nur nicht der Fesseln so viele, antwortete ich, und Sie riefen mir zu: ›wir werden sie beide zerbrechen müssen‹ – nun haben wir sie zerbrochen!«

Überrascht sah ich ihn an.

»Ich kandidiere als Vertreter der Arbeiterpartei für das Parlament,« fügte er mit einem Aufleuchten in den hellen Augen hinzu.

Ich drückte ihm die Hand.

[474] Er schien einen Ausdruck größerer Freude erwartet zu haben. »Haben Sie das Kettenbrechen bereut?!« fragte er zweifelnd.

»Nein, lieber Freund,« antwortete ich mit starker Betonung, »nein! Ich erinnerte mich nur der wunden Hände, die es kostet.«

Am nächsten Morgen sprach ich John Burns auf der Themseterrasse des Parlaments. Mir schien, als sei es gestern gewesen, daß er mir auf den Marmortisch die Situation der deutschen Sozialdemokratie aufgezeichnet hatte.

»Habe ich nicht recht behalten?« fragte er im Laufe des Gesprächs.

»Nicht ganz,« entgegnete ich; »der Druck von außen preßt uns zwar zusammen, aber er hindert nicht nur die Wirkung über seinen Ring hinaus, er trägt auch dazu bei, daß wir unsere Kräfte im gegenseitigen Kleinkrieg verzetteln.«

»Sie übertreiben,« meinte er leichthin. »Jeder Kampf ist Leben und weckt Leben! Sie sind wie der Akteur auf der Bühne, der das Ganze nicht übersehen kann, während wir, die Zuschauer, von fern mit unserem Opernglas Handlung und Szenerien begreifen. Der deutsche Revisionismus siegt nicht nur, – er hat schon gesiegt.«

Ich lächelte ein wenig von oben herab zu seinen apodiktischen Sätzen und lenkte die Unterhaltung auf sein eigenes Wirken.

»Ich bin nach wie vor Sozialist, gerade weil mich keine Arbeit schreckt, wenn es gilt, meiner Überzeugung auch nur einen Fuß breit Boden zu gewinnen,« sagte er, »ich scheue nichts, wenn der Preis dafür mehr Macht ist. Wer immer nur zuschaut und schimpft und kritisiert und dazwischen moralische Bomben wirft, ist in meinen Augen Anarchist.«

Einer der deutschen Englandfahrer näherte sich in respektvoller Haltung. Unser langes Gespräch setzte ihn offenbar in Erstaunen. Er wartete darauf, vorgestellt zu werden. Und erst jetzt fiel mir ein: der John Burns von heute war ja Minister!

[475] Der Gastfreundschaft, mit der uns die Engländer empfingen, entzog ich mich von da an nur selten. Ich hatte meine leise Freude an den verblüfften Gesichtern meiner Reisegefährten, die allmählich einsahen, daß im Lande alter Kultur nur die Erziehung, nicht aber die politische Stellung des Einzelnen gesellschaftliche Unterschiede herbeiführt, und ich merkte erst jetzt, wo ich einmal wieder als Gleiche von Gleichen behandelt wurde, wieviel ich entbehrt hatte.

Eines Vormittags besichtigten wir den Tower. Schon als ich aus dem Hotel trat, war mir aufgefallen, daß die photographischen Kameras der englischen Reporter sich plötzlich auf mich richteten.

Auf dem Wege kam Bernard Shaw mir entgegen und reichte mir mit einem sarkastischen: »Da haben Sie wieder einmal ein unverfälschtes Zeugnis der deutschen Sozialdemokratie,« ein englisches Morgenblatt.

Es enthielt ein Telegramm aus Berlin: »Der ›Vorwärts‹ beschuldigt Frau Alix Brandt, die einzige Vertreterin der sozialdemokratischen Presse bei der Englandreise deutscher Journalisten, des Parteiverrats und kündigt ihr an, daß sie ihres unbotmäßigen Verhaltens wegen zur Rechenschaft gezogen werden würde.«

Ich ballte das Blatt Papier heftig zusammen und schleuderte es zu Boden. »Das glaube ich nicht,« stieß ich zornig hervor.

Shaw lachte: »Und doch ist nichts gewisser, weil nichts folgerichtiger ist! Die deutsche Partei ist von nichts freier als von – Freiheit. Sie ist die konservativste, die respektabelste, die moralischste und die bürgerlichste Partei Europas. Sie ist keine rohe Partei der Tat, sondern eine Kanzel, von der herab Männer mit alten Ideen eindrucksvolle Moralpredigten halten. Mit Millionen von Stimmen zu ihrer Verfügung, widersteht sie den Lockungen des Ehrgeizes und denen realer Vorteile, die ein öffentliches Amt mit sich bringt, und bezeichnet denjenigen, der sich von den Freuden tugendhafter Entrüstung zu den Arbeiten[476] praktischer Verwaltung wendet oder auch nur an einer allgemeinen Veranstaltung in öffentlichem Interesse teilnimmt, als einen Abtrünnigen und Verräter. Freiheit vom Dogmenglauben ist eines der Grundprinzipien des echten Sozialismus, – die Deutschen sind dogmatischer als die Kirchenväter. Der Wille zur Macht ist ein anderes, – die Deutschen machen den Willen zur Phrase daraus. Die Herrschaft des Geistes ist ein letztes, im Gegensatz zur Herrschaft des Kapitals, – die Deutschen stellen das auf den Kopf und verlangen die Unterwerfung unter die Herrschaft der Masse.«

Ich hatte seinen raschen Redefluß, den der Zorn diktierte, nicht unterbrochen. Ich hörte den gleichen Ton heraus wie bei den Worten von Burns, und in mir begann eine Saite, die schon lange leise tönte, lebhaft mitzuschwingen.

Noch am selben Abend bekam ich einen Brief von Keir Hardie.

»... Ich bin ganz außerstande, zu begreifen, welches der Grund sein konnte, Ihre Teilnahme an der Englandreise zu verurteilen,« hieß es darin. »Es ist für uns Sozialisten in England eine selbstverständliche Gewohnheit, gelegentlich mit Nichtsozialisten zusammenzugehen, wenn es im Interesse der Förderung einer großen und guten Sache gelegen ist. Unsere Erfahrung hat uns bewiesen, daß der Sozialismus dadurch nur gestärkt werden kann. Ich will damit nicht behaupten, daß unsere deutschen Genossen unserem Beispiel unbedingt folgen müßten, aber im vorliegenden Fall bleibt ihre Haltung Ihnen gegenüber mir vollständig unverständlich ...«

Ich stand nun plötzlich im Mittelpunkt des Interesses und wurde von Interviewern belagert, die von der ganzen Sache keine andere Auffassung hatten, als daß die große deutsche Arbeiterpartei sich dadurch dem Gelächter der Welt ausgesetzt habe. Und ich gab ihnen stets die gleiche Antwort: »Die Sozialdemokratie, der ich stolz bin anzugehören, hat mit den Quertreibereien einzelner von preußischem Polizeigeist durchseuchter [477] Genossen nichts zu tun.« Als aber mein Mann mir die Zeitungen schickte, – nicht nur den »Vorwärts«, sondern eine ganze Anzahl anderer Parteiblätter, – da schämte ich mich und ging den Interviewern so weit als möglich aus dem Wege, um nicht reden zu müssen. Und doch war es weniger die beleidigende Form der Angriffe, die mich verletzte, als die Gehässigkeit, die dabei zum Ausdruck kam. Wie stark mußte sie sein, um alle Klugheit, alle Rücksicht auf das Ansehen der Partei beiseite zu schieben? Oder gab es etwas Lächerlicheres, als meine Reise, – gleichgültig, ob man sie verurteilte oder nicht, – zu einem Parteiskandal aufzubauschen? Nur eine tiefe, innere Krankheit konnte solche Symptome zeitigen. Ich kämpfte noch mit mir, ob es nicht meiner unwürdig wäre, mich gegen Ausbrüche der Pöbelgesinnung zu verteidigen, als ich die Antwort erhielt, die mein Mann der Parteipresse hatte zugehen lassen. Das waren Rutenstreiche, – es blieb mir nichts zu sagen übrig. Seltsam nur, daß die Ritterlichkeit, mit der er für mich eintrat, eine alte Wunde aufs neue bluten machte, statt sie zu schließen.

Der Schatten, der sich mir über Englands schöne Sommertage breitete, wich nicht mehr.


Ich hatte immer gegen Massen-Museumsführungen, gegen Gesellschaftsreisen und dergleichen eine ausgesprochene Abneigung gehabt. Wem Kunst und Natur mehr sein soll als ein Gesprächsthema, der muß ihnen Auge in Auge still und allein gegenüberstehen. Und wer vor den Heiligtümern der Menschheit seine Andacht verrichten will, der kann es nur in Gegenwart derer, die seine Nächsten sind.

Wir traten zusammen an Shakespeares Grab, – es war wie ein Sakrileg. Wir kamen in sein Geburtshaus und in die blumenumrankte, strohgedeckte Hütte seiner Liebsten, – aber Shakespeares Geist floh vor uns.

[478] Wir kamen nach Cambridge, jener alten Universität, die sich den Typus der mittelalterlichen Klosterstadt noch erhalten hat. Wer ihre Säulenhallen um alte Gärten allein betreten könnte, dem müßten die Bäume in den Weisen derer rauschen und flüstern, die hier dichteten: eines Marlowe, Milton, Byron. Und wer sich still an einen alten Pfeiler lehnen und in die dämmernden Bogengänge blicken dürfte, dem würde aus dunkel geschnitzten Pforten Erasmus von Rotterdam entgegentreten, und Cromwell und Newton.

Wir sahen nur freundliche Professoren und Photographen und hörten Reden und Tellergeklapper.


Als die Mehrzahl der Geladenen England wieder verlassen hatte, sprach ich meinen Freund Stead, der als Reisemarschall der Gäste unaufhörlich in Anspruch genommen gewesen war, zum erstenmal allein.

»Ihnen geht es gut,« sagte er, als wir einander in seinem Heim gegenübersaßen.

»Woher wissen Sie das?« fragte ich mit einem bitteren Gefühl im Herzen.

»Sollten Sie etwa noch den alten Glücksbegriffen huldigen?« fragte er dagegen.

»Jeder hat seine persönlichen,« antwortete ich ausweichend.

»Und sollte nur einen haben, aus dem sich alle anderen entwickeln: leistungsfähig zu sein,« ergänzte er. War ich schon so alt, daß er mir solch einen Glücksbegriff zumutete, der mir nur mit äußerster Selbstverleugnung Hand in Hand zu gehen schien?

»Sie mißverstehen mich,« meinte er. »Ich begreife darunter die stärkste Selbstbehauptung: die Entwicklung aller Fähigkeiten zum äußersten Maß ihrer Leistungskraft ...« Wir wurden unterbrochen; es war gut so, denn um so stärker prägten sich mir seine Worte ein.

[479] Nun blieb mir noch übrig, ehe ich heimfuhr, zu erreichen, was ich mir vorgenommen hatte. Ich verhandelte mit verschiedenen Redaktionen wegen der Übernahme einer deutschen Korrespondenz. In den Briefen meines Mannes spürte ich immer deutlicher den schweren Atem der Sorgen. Um irgendeine ihrer Lasten erleichtert, mußte ich nach Hause kommen. Aber so oft ich auch durch die glutheißen Straßen Londons von einem Bureau zum anderen ging, meine Abreise immer wieder aufschiebend, weil eine neue leise Hoffnung mich festhielt, das Ergebnis blieb ein negatives. Inzwischen war auch die bürgerliche Presse Deutschlands meiner Reise wegen über mich hergefallen, – die vereinzelten Stimmen der Verteidigung waren im Chor der Schreier verhallt, – das mochte die höflich ablehnende Haltung mit verursachen. Ich mußte mich entschließen, mit leeren Händen zurückzukehren. Nur einer Einladung wollte ich noch Folge leisten.

In Warwick, einem Städtchen am Avon, das von den dicken Türmen einer uralten Burg überragt wird, fand eines jener historischen Festspiele statt, an denen sich alljährlich in den verschiedenen Gegenden Englands die ganze Bevölkerung beteiligt. Ich fuhr hin und sah im Park des Schlosses die Darstellung jenes glanzumflossenen Teiles der englischen Geschichte, von dem seine Mauern noch erzählen. Auf der weiten, von mächtigen Bäumen zu beiden Seiten abgeschlossenen Rasenfläche, mit dem Fluß in der Mitte, der zwischen blühenden Rosenbüschen und hängenden Weiden lautlos vorüberzieht, und dem Hintergrund einer sanft verschwimmenden Hügellandschaft zogen Jahrhunderte vorüber. Und zuletzt vereinigten sich noch einmal zweitausend Menschen zu Fuß und zu Pferde in den Rüstungen und Gewändern aller Zeiten. Nun kommt die Schlußapotheose, dachte ich, mit der Büste des Königs und einem »Rule Britannia« aus allen Kehlen. Ich erhob mich, um zu gehen.

[480] Aber da sah ich, wie die Ritter und Edeldamen, die Fürsten und Könige langsam und leise hinter Bäumen und Büschen verschwanden. Nur einer blieb zurück, allein, weltbeherrschend, als wäre die jahrhundertelange Entwicklung nur notwendig gewesen, um diesen einen hervorzubringen, der größer ist als alle: William Shakespeare.


Der Wille zur Macht, – die höchstmögliche Entwicklung der Persönlichkeit als Ziel des einzelnen, – der Übermensch als Ziel der Menschheit –: zu einem einzigen vollen Akkord vereinigten sich plötzlich die Klänge, die mir diesmal in England entgegengetönt hatten. Mein Herz schlug zum Zerspringen wie das eines Gefangenen, dem die Ketten vom Fuße gelöst werden und die Pforten sich öffnen zur freien Wanderschaft. Er sieht nichts wieder als die alte vertraute Welt seiner Jugend, und doch erscheint sie ihm wie ein Wunder so neu. Ein halbes Kind war ich gewesen, als ich aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft den ersten Ruf persönlicher Befreiung vernahm: »Das Leben sagt: Folge mir nicht nach; sondern dir! sondern dir!« – Galt nicht derselbe Ruf heute der Menschheit?


Am letzten Tage meines Londoner Aufenthalts traf ich auf der Straße eine Kapitänin der Heilsarmee, die mich herzlich begrüßte.

»Sie kennen mich wohl nicht mehr?« fragte sie lächelnd; »aber der Nacht in Whitechapel vor elf Jahren erinnern Sie sich gewiß.«

Im Augenblick sah ich das Weib wieder vor mir, die, von den Gefährten ihres Jammers umringt, im Schmutz der Gasse geboren hatte. Ich streckte meiner einstigen Führerin erschüttert die Hand entgegen.

[481] »Sie würden mir heute, nach all den Reformen des Grafschaftsrats, nichts Ähnliches zeigen können,« sagte ich.

»Man hat aufgeräumt, – gewiß,« antwortete sie ruhig, »und an Stelle mancher elenden Häuser neue gebaut, aber das Elend ist immer dasselbe. Die einen sterben, andere wandern zu ...«

»Entsetzlich!« rief ich aus. »Wie können Sie das nur ertragen?! Erscheint Ihnen nicht Ihre ganze Arbeit hoffnungslos?!«

Sie lächelte freundlich: »Ich habe viele Seelen gewonnen, denen für allen Erdenjammer der Himmel offensteht.«

Noch nie war mir der Christenglaube so grausam erschienen wie in diesem Augenblick. Als eine Zyklopenmauer richtete er sich auf zwischen den Menschen und ihrer Erlösung. Ich verabschiedete mich rasch. Den vollen Akkord, den ich eben noch vernommen hatte, durchtönte eine schrille Dissonanz. Ich war der schaffende Künstler nicht, der die einheitliche Lösung hätte finden können. Als ich aber dann heimwärts fuhr, beherrschte mich nicht mehr jene niederdrückende Empfindung, mit leeren Händen zu kommen.


Mein Mann empfing mich mit wehmütiger Zärtlichkeit, so daß ich ihm angstvoll forschend ins Auge sah. »Es ist nichts, Kind, nichts!« wehrte er in nervöser Erregung ab. »Ich bin nur abgespannt, – nur müde.« Aber allmählich erfuhr ich doch, was geschehen war: eine Gruppe von Parteigenossen seines Wahlkreises forderte von ihm die Niederlegung seines Mandats, weil – ich mich an der Englandreise beteiligt hatte, und ein außerordentlicher Kreistag sollte darüber entscheiden.

Glühende Sommerhitze brütete über der Mark; an den Bäumen in den Straßen hingen die Blätter schon gelb und tot; kein Lüftchen rührte sich, und doch umgaben dichte Staubwolken den Wagen, der uns von Gusow nach Platkow führte. In dem kleinen Saal herrschte unerträgliche Schwüle. Er war schon [482] gefüllt, als wir kamen: von lauter schweigenden Menschen mit harten Zügen und finsteren Blicken. Unsere alten Kampfgefährten rührten kaum an die Mütze bei unserem Eintritt. Einen Augenblick lang umklammerte ich den Arm meines Mannes, – außer ihm hatte ich hier keinen Freund mehr. Die Anklage wurde verlesen. Es war die Sprache des »Vorwärts«, die sie führte. »Das hat Berlin diktiert!« rief Heinrich. Die Falten auf der Stirn unserer Richter vertieften sich.

Mein Mann antwortete zuerst. Er erinnerte daran, wie häufig schon hervorragende Parteigenossen sich mit politischen Gegnern zu gemeinsamer Arbeit vereinigt hätten, wie es auch an Beispielen für das harmlosere Zusammensein zu geselligen Zwecken nicht gefehlt habe. Und als einer wütend dazwischenschrie: »Die Monarchentoaste!« erklärte er, daß die Teilnahme an dieser Form internationaler Höflichkeit um so weniger als eine Verleugnung der republikanischen Gesinnung angesehen werden könne, nachdem wir uns den viel ernsteren Treueiden der Landtagsabgeordneten unterwerfen müßten. Als er geendet hatte, hoben sich ein paar Hände zu schüchternem Applaus; die Mehrzahl der Genossen aber verharrte weiter in finsterem Schweigen. Die nach ihm sprachen, hatten ihre Reden alle auf einen Ton gestimmt: daß die Partei durch uns geschädigt worden sei.

»Für uns jibt's nur ein rechts und links,« rief der Maurer Merten; »die Akademiker, die nich Fleisch sind von unserem Fleisch, die zieht's eben immer wieder zu den Bourgeois. Ich aber sage euch, Jenossen« – dabei hieb er mit der breiten Faust auf den Tisch – »sowas dürfen wir uns nicht länger jefallen lassen, am wenigsten von unserem Abgeordneten. Was wäre verloren, wenn die Jenossin Brandt nich nach England jefahren wäre?! Es wäre ooch noch so! Nu aber, wo sie hinfuhr, sehen wir, daß sie kein proletarisches Bewußtsein hat; daß sie den Klassenkampf in Harmonieduselei verwandeln möchte und statt [483] gegen die Gegner neben uns zu stehen, mit ihnen bei Schampagner un Braten techtelmechtelt ...«

»Bravo, bravo« – klang es von allen Seiten, während mein Mann wütend vom Stuhl sprang und ein »Unverschämt!« zwischen den Zähnen hervorstieß. Mich packte ein jäher Schreck, als habe sich plötzlich vor mir die Erde gespalten: standen wir allein auf der einen Seite und jenseits die selbsterwählten Gefährten?!

»Die Genossin Brandt hat das Wort,« hörte ich wie von weither sagen. Ich sammelte mich rasch. Aller Augen sah ich auf mich gerichtet.

»Mein Vorredner,« begann ich, »hat einen konsequenten Standpunkt vertreten, er hätte nur hinzufügen müssen, warum bei uns zum Verbrechen gestempelt wird, was anderen kein Härchen krümmte: wir sind des Revisionismus verdächtig. Das Schauspiel, das Sie hier aufführen, wäre noch kläglicher, als es so wie so schon ist, wenn nicht im Hintergrund tiefere Differenzen schliefen. Sie stehen auf dem Boden des Klassenkampfes, – wir auch; Sie hassen die kapitalistische Wirtschaftsordnung, – wir auch. Aber ihrer selbst unbewußt, führen Sie den Klassenkampf im Sinne des Krieges; Sie wollen den Gegner niederzwingen, Sie wollen sein Land erobern. Sie, die Sie seit Jahrtausenden die Lastträger der Menschheit sind, würden es schon als gerecht empfinden, wenn nur die Rollen der Unterdrücker und Unterdrückten vertauscht würden. Sie sehen in jedem Vertreter der herrschenden Gesellschaft einen Feind, weil Sie ihm als die Abhängigen, die Unfreien gegenüberstehen, weil Sie ihm schon das bloße Sattsein neiden müssen. Wir können Ihren von der Bitterkeit des eigenen Herzens genährten Haß nicht mitfühlen, denn nicht persönliches Leiden macht uns zu Ihren Genossen. Uns ist das Ziel des Kampfes nicht die veränderte Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern die uneingeschränkte Herrschaft der Menschheit über die Natur. Die Erde [484] wollen wir erobern, um gleiche Entwicklungsbedingungen für alle zu schaffen, nicht Feindesland, das Unterworfene beackern sollen ...«

Ein unwilliges Gemurmel erhob sich. Im Saal fing es an zu dämmern. Ich unterschied nur noch die Zunächstsitzenden. Sonst war alles eine schwarze Masse, aus der nur hie und da ein kahler, breiter Schädel, ein weißer Bart, der glühende Punkt einer Zigarre herausleuchtete.

»Die Diktatur des Proletariats!« klang es mit tiefer Stimme drohend aus dem dunkelsten Winkel.

Die Jakobiner! antwortete es in meinem Innern. Ich fühlte, die Luft war geladen mit Sprengstoff gegen mich.

Den Faden meiner Rede hatte ich verloren, und unsicher und leise fuhr ich fort: »Ich habe Schulter an Schulter mit Ihnen gekämpft, – was bedeutet das gegenüber der Tatsache, daß ich mit politischen Gegnern auf demselben Schiff nach England fuhr! Wir haben zusammen diesen Wahlkreis erobert, und in jener Nacht, da die alte rote Fahne als Zeichen des Sieges über uns flatterte, hat uns ein starkes Gefühl, wie ich glaubte, auf immer verbunden, – aber was bedeutet das gegenüber dem Verbrechen der Kaisertoaste! Der Zweck der Reise war nichts anderes, als was im Interesse des Sozialismus gelegen ist, – was bedeutet das gegenüber der Sünde, mit Nichtsozialisten an einem Tische gesessen zu haben! Dafür ist's nicht genug, daß unsere Presse mich beschimpfte, wie kein bürgerliches Blatt jemals zuvor, – nein, es muß auch noch ein Exempel statuiert werden: der Genosse Brandt muß fallen! ... Nicht um unsertwillen, denn nicht wir sind die Unterlegenen, wenn Sie den vorliegenden Antrag annehmen, sondern im Interesse der Partei erwarte ich von Ihnen seine Ablehnung. Leisten Sie ihm Folge, so enthüllen Sie eine schwärende Wunde, und das in einem Augenblick, wo die bürgerliche Welt gierig darauf wartet, uns bei einer Schwäche ertappen zu können ...«

[485] Keine Hand rührte sich. Die Petroleumlampe, die von einem roten Papierschirm umgeben, von der Decke herabhing, flammte auf und warf ein unsicher flackerndes Licht über heiße Gesichter.

Mein Mann sprach noch einmal, – kalt, zornig. »Ich verlange nicht nur, daß Sie den Antrag ablehnen, sondern daß Sie ihn zurückziehen,« sagte er.

Der Geruch der qualmenden Lampe machte mich schwindeln. Während der Pause, die die Genossen zur internen Beratung anberaumt hatten, verließen wir den Saal. Draußen empfing uns die stille, mondhelle Nacht. Das Armenhaus gegenüber warf einen breiten, schwarzen Schatten auf den Sand.

»Der Antrag, den Genossen Brandt zur Niederlegung seines Mandats zu veranlassen, ist zurückgezogen,« erklärte der Vorsitzende, als wir wieder eintraten.

Die Versammlung ging ruhig auseinander. Wir verabschiedeten uns mit einem förmlichen Gruß. Auf unserem Wege nach der Station geleitete uns niemand.

Kaum waren wir ein paar Tage lang in unsere Arbeit wieder vertieft, als ich erfuhr, daß die Berliner Parteileitung mich aus der offiziellen Rednerliste der Partei gestrichen habe. Ich legte Protest ein und verlangte, gehört zu werden.

Man lud mich vor. Rings um den Saal saßen die Männer, in der Mitte an einer langen Tafel die Frauen, Wanda Orbin an ihrer Spitze. Sie waren meine Ankläger gewesen. Martha Bartels war der Staatsanwalt. Sie zählte alle meine Sünden auf, von einer Agitationsreise an, die ich vor vier Jahren hatte absagen müssen, bis zur Englandfahrt. Aber auch meine Verteidigung war eine Anklage: ich verschwieg nichts. Mitten in meiner Rede erhob sich Wanda Orbin ungestüm von ihrem Platz, ich sah, wie ein Zittern ihren Körper durchlief, wie der Zorn ihre Züge verzerrte. Im nächsten Augenblick stand sie vor mir und erhob die Faust, – einer der zunächst sitzenden Genossen sprang dazwischen.

[486] »So diskutieren wir nicht!« rief er empört.

Der Beschluß, meinen Namen von der Rednerliste zu entfernen, wurde aufgehoben. Das Verhalten Wanda Orbins mochte die Genossen stutzig gemacht haben. Trotzdem war mein Sieg nur ein scheinbarer; in seinen Folgen blieb der Beschluß bestehen.

Eine tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich meiner. Jeder Kampf um Ideen wirkt erfrischend, selbst wenn er mit den schärfsten Waffen geführt wird. Aber was ich erlebte, war so eng, so klein, hinterließ einen so arm, mit einem so bitteren Geschmack auf der Zunge. Nicht Gewitterschwüle war's, die lastend auf mir ruhte und die Hoffnung auf Blitz und Wolkenbruch weckt, sondern feuchtwarmer Nebel, ganz dichter, undurchdringlicher. Und er umschlang mit seinen langen Armen, die sich nicht greifen, noch weniger zurückstoßen lassen, die ganze Partei.


Unter dem Zeichen der siegreichen russischen Revolution hatte der Jenaer Parteitag gestanden, eine tiefe Erregung, die nach Taten schrie, hatte sich aller bemächtigt; die Resolution zum Massenstreik hatte angesichts dieser Stimmung, so vorsichtig sie gefaßt war, wie eine Fanfare geklungen. Und nun war der Rausch vorüber; die Ernüchterung allein blieb. In kleinlichem Hader, in gegenseitigen Vorwürfen machte sie sich Luft.

Mit steigendem Mißbehagen empfanden die Nur-Politiker den leisen Hohn, mit dem die Gewerkschafter ihnen begegneten. Sie hatten von jeher dem Theoretisieren über den Massenstreik skeptisch gegenübergestanden, und auf ihrem Kongreß in Köln sprachen sie sich rückhaltlos aus; von der Unfruchtbarkeit der Partei, von dem stagnierenden Sumpf der gegenwärtigen Situation, von der kläglichen Lage, in die wir durch die wirkungslos verpuffte Landtagswahldemonstration gekommen seien, von dem Mißverhältnis zwischen Worten und Taten war viel die [487] Rede. Nicht ohne berechtigten Stolz wiesen sie darauf hin, daß die anderthalb Millionen gewerkschaftlich Organisierter eine stärkere Macht repräsentierten als die viermalhunderttausend Mitglieder der sozialdemokratischen Wahlvereine.

»Ich habe die Möglichkeit einer Spaltung der Partei immer weit von mir gewiesen,« sagte einer der gewerkschaftlichen Führer; »aber wenn die Dinge sich weiter entwickeln wie jetzt, dann reißt uns, weiß Gott, die Geduld! Die Radikalen, die, wenn man den Firnis abkratzt, nichts sind als gewöhnliche Spießer, bilden sich ein, wir tanzen nach ihrer Pfeife, bloß weil sie so laut ist. Sie sollen sich wundern!«

Auf dem Parteitag zu Mannheim kam es zu einem Duell zwischen Bebel und Legien. Keiner war unbestrittener Sieger. Wunden trugen beide davon, die sogenannte Einigungsresolution war nichts als ein Pflaster. Und die schweren Nebelschwaden senkten sich tiefer.

Plötzlich aber erhob sich ein Sturm, den kein Wetterkundiger vorausgesehen hatte: die Regierung forderte einen Nachtragsetat für den Krieg gegen die Hereros, der im Verhältnis zu den Millionen, die die Reichstagsmehrheit bisher für die Kolonien bewilligt hatte, eine Lappalie war. Von den Rednern des Zentrums und der Sozialdemokratie wurde dabei die ganze Kolonialpolitik mit ihren Gewaltmaßregeln, ihren Grausamkeiten aufgerollt, und zu allgemeiner Überraschung wurde der Kredit für Südwest-Afrika abgelehnt. Das erschien der Regierung als der geeignete Moment, dem Volke durch die Tat zu beweisen, daß der Konstitutionalismus in Deutschland nur auf dem Papiere steht: nicht der Kanzler und die Minister danken ab, wenn die Volksvertreter sie desavouieren, sondern die Volksvertreter werden mit einem Fußtritt hinausgeworfen, wenn sie das persönliche Regiment nicht jasagend anerkennen.

Wir erfuhren die Nachricht der Reichstagsauflösung, als wir mit Romberg im Café des Kaiserhofs saßen. Und hier, wo [488] eine Anzahl der politischen Berichterstatter größerer Zeitungen zu verkehren pflegten, rief sie einen Aufruhr hervor, wie ihn Berlin sonst nicht kannte.

»Eine unglaubliche Dummheit der Regierung!« rief der eine stirnrunzelnd, der andere frohlockend.

»Nun geht's in den Kampf –« Ich mußte an mich halten, um es nicht jubelnd herauszustoßen. Ich sah wieder entwölkten Himmel, weiten Horizont.

»Wenn die Partei sich selbst zerfleischt, so ist noch immer die Regierung zugesprungen, um die Wunden zu heilen,« sagte mein Mann. Romberg zuckte die Achseln:

»Die Kolonialfrage als Wahlparole?! Ich fürchte, Sie täuschen sich über ihre Bedeutung.«


Der Winter war ungewöhnlich hart damals. Gerade die Not, die ihn zum Gefolge hat, macht ihn zu unserem Agitator, dachte ich. Alle unsere Gegner, an ihrer Spitze der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie und der Flottenverein, rüsteten sich bis an die Zähne wider uns. Ich war überzeugt: das steigere nur unsere Kampflust und festige unsere Einigkeit wieder. Fürst Bülow selbst trat auf das Schlachtfeld und rief die staatserhaltenden Kräfte gegen die Sozialdemokratie auf. Dieses Eingreifen des höchsten Staatsbeamten wird selbst unsere lauen Anhänger zu hellem Zorn entflammen, – dessen war ich gewiß.

Und der Kampf begann. Über knirschenden Schnee flog der Schlitten, der mich von einem Dorf zum anderen trug. Oft bestieg ich ihn, glühheiß von der eben gehaltenen Rede, und die Luft, die mir den Atem am Munde gefrieren ließ, schien mir eine Wohltat. In den niedrigen Sälen fanden sich die Menschen ein wie sonst, aber der Sturm, der in den Schornsteinen heulte, der Schnee, der in dichten Flocken gegen die Fenster flog, trieb ihnen kühle Schauer über den Rücken.

[489] Je näher der Tag der Entscheidung rückte, desto fieberhafter arbeiteten wir. Den Husten, der mir des Nachts den Körper erschütterte, suchte ich zu ersticken, meine Stimme, die versagen wollte, zwang ich unter meinen Willen. Wir glaubten an den Sieg. Und in Augenblicken selbstvergessener Hoffnung, wo die bösen Geister der Sorge vor unserer Zuversicht die Flucht ergriffen, wo alle Furcht sich verkroch wie Schakale vor der aufgehenden Sonne, da fühlte ich, wie mein Herz heiß wurde und der Aberglaube Gewalt über mich bekam: von der Entscheidung hängt auch unsere Zukunft ab.


Wieder, wie vor vier Jahren, saßen wir am Abend der Wahl im Gewerkschaftshaus zu Frankfurt. Und wieder hatte die Gärtnersfrau den Korb voll roter Nelken neben sich, und die Fahne lehnte eingerollt an der Wand. Aber die Genossen, die sich allmählich hereindrängten, machten ernste Gesichter, und die Boten, die kamen, brachten lauter Hiobsposten. Kein Ort, ohne einen Rückgang unserer Stimmen! Dazwischen die Depeschen aus anderen Kreisen: Verlust um Verlust. Noch ehe die letzten Nachrichten gekommen waren, leerte sich die Straße unter unseren Fenstern, und aus dem Saal schlich sich leise einer nach dem anderen. Es schlug Mitternacht, – die Nelken welkten schon im Korbe. Wir waren nur noch ein Häuflein in dem großen öden Raum, – wir wollten uns nichts ersparen: die Schlacht war endgültig verloren.

Wenige Tage später – in der Nacht nach den Stichwahlen – gingen wir durch die Straßen Berlins: da kamen sie in langen Zügen, unsere Überwinder – kein Polizeisäbel, kein Schutzmannskordon hielt sie auf. Vor dem Königsschloß sammelten sie sich in schwarzen Massen. »Heil dir im Siegerkranz –« brausend stiegen die Töne durch die klare Winterluft zu dem hellen Fenster empor, an dem der sich zeigte, der heute in Wahrheit der Sieger war: der Kaiser.

[490]
17. Kapitel
Siebzehntes Kapitel

Vor einem halben Menschenalter war's. Ich stand allein auf Bergesspitze im Gewittersturm. Dicht über mir hingen die Wolken, aus denen das Wasser brausend in die Tiefe schoß, unter mir ballten sie sich zusammen und verdeckten jeden Ausblick auf stille Dörfer und freundliche Heimstätten. Der Donner rollte; die Berge antworteten ihm, – ein Gelächter der Riesen über das kleine Menschengeschlecht. Jeder Blitz öffnete die Wolkenwand; das Himmelsgewölbe dahinter stand in Flammen.

Ich aber konnte nicht vor, – nicht zurück. Ich mußte mich dem Wetter preisgeben, – – und ich fürchtete mich – –.


Wir lagen nächtelang wach. Jeder tat, als schliefe er, aus Schonung für den anderen. Unsere Arbeit lähmte Hoffnungslosigkeit. Wir lächelten, als wären wir froh, um dem anderen nicht wehe zu tun.

»Ilse meldet sich an –,« sagte Heinrich, als er eines Morgens die Post durchsah.

»Jetzt?!« rief ich erschrocken. Sie kam schon am nächsten Tage, hatte einen seltsam verängstigten Zug im Gesicht und ein erzwungen leichtsinniges Lächeln um die Lippen.

»Ich muß einmal wieder Großstadtluft atmen,« meinte sie; »die Stille bei uns ist oft schaurig.«

Mir schien, als zittere sie dabei. Von nun an war der Telegraphenbote unser häufigster Gast. Zuerst glaubte ich, ihres Mannes besorgte, sehnsüchtige Liebe käme in diesem Depeschenwechsel [491] zum Ausdruck. Warum hatte sie dann nur jedesmal rote Augen, wenn ein Telegramm gekommen war?

Da, eines Morgens, stürmte einer in unser Zimmer, die Haare zerzaust, die Augen rot unterlaufen, – der Gatte meiner Schwester. Vor seinen Verfolgern sollten wir ihn schützen, schrie er verzweifelt und barg den dunklen Kopf in Ilsens Schoß, die mit erloschenem Blick auf ihn niedersah, die kleinen schwachen Hände auf seinem Haar. Noch am selben Tage kam er ins Irrenhaus. Er war tobsüchtig. Dann brach auch Ilse zusammen; aber sie weinte nicht, sie sprach nicht über ihr Schicksal, sie war nur wie erstarrt. Auch als sich herausstellte, daß ein großer Teil ihres Vermögens im Sanatorium ihres Mannes verloren gegangen war, zuckte sie nur die Achseln.

Um so furchtbarer traf es uns. Bisher wäre der Verlust des Geldes, mit dem sie sich an der Neuen Gesellschaft beteiligt hatte, keine ernste Frage für sie gewesen. Jetzt war sie es. Hatte ich vor ihrem Kommen geglaubt, zusammenzubrechen, jetzt kam mir die Kraft zurück, eine des Fiebers.

»Wir müssen aushalten, Heinz, wir müssen!« sagte ich, und wenn eine seiner vielen Bemühungen, Hilfe zu schaffen, wieder vergeblich gewesen war, so trieb ich ihn zu immer neuen Versuchen an. Und hie und da glückten sie. Für ein paar Monate konnten wir weiter schaffen, konnten leben. Aber jedesmal, wenn wir Hoffnung schöpften, erschien sicherlich irgendein Hetzartikel in der Parteipresse gegen uns, oder in den Wahlvereinen wurden wir von radikalen Genossen einer neuen Ketzerei beschuldigt, oder der alte Vorwurf des Geschäftssozialismus wurde laut. Wir spürten das alles an der Abnahme der Abonnenten.

Wie kann ich Geld schaffen, – wie?! Die Frage beherrschte meine Gedanken immer mehr. Ein »freier« Schriftsteller war ich, – einer von den Tausenden, die ausziehen, ihre Feder zu führen wie ein Schwert. Aber die Not heftet sich an ihre Füße, zuerst ein Zwerg, und dann ein Riese, der sie in seine Dienste zwingt.

[492] »Lieber sterben!« stöhnte ich.

Doch dann sah ich mein Kind, – wie es blaß war, welch forschende Augen es auf mich richtete! Ich riß es in meine Arme:

»Unter jedes Joch beuge ich meinen Nacken für dich,« dachte ich verzweifelt.

Ich beschloß, Vorträge zu halten gegen Entree. Das war nichts Erniedrigendes. Jeder Dozent an der Universität bekommt ein Honorar für die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die er den Hörern vermittelt. Trotzdem widerstrebte es mir. Ein Gefühl grenzenloser Scham trieb mir den Angstschweiß jedesmal auf die Stirn, wenn ich die Rednertribüne betrat. Ich hatte immer einen vollen Saal. Ich »zog«, – ich war eine Sensation. Wie ein gezähmter Löwe im Zirkus. Gegen ein paar Mark Eintritt konnte sich nun die beste Gesellschaft, ohne sich etwas zu vergeben, die berüchtigte Sozialdemokratin ansehen, – mit dem Opernglas sogar. Meine Zuhörer trugen rauschende Kleider und viele Brillanten an den weißen Händen, mit denen sie Beifall klatschten, um zu erzwingen, daß ich mich vor ihnen verbeugte.

»Unglaublich von einer Genossin, in diesem goldstrotzenden Saal zu reden und sich von diesem Publikum bezahlen zu lassen –, sagte eine Besucherin, als ich gerade an ihr vorüber ins Freie trat. Ich preßte die Lippen zusammen, um nicht heftig aufzufahren. –.

Sobald ich sprach, erschrak ich vor der Stimme, die nicht mehr die meine war. Im letzten Wahlkampf hatte sie ihren Klang verloren, war heiser und rauh geworden. Und ich hatte sie geliebt, weil sie meine Worte so leicht und willig bis in jeden Winkel trug. Doch, was bedeutete das jetzt?! Es war mehr verloren gegangen als der helle Ton meiner Stimme.

Ich fing an zu reisen; von einer Stadt in die andere. Zuweilen auf die Einladung irgendeines literarischen Vereines hin. In Hannover sagte mir der Vorsitzende:

[493] »Nicht wahr, Sie richten sich darauf ein, daß Offiziere unter unseren Mitgliedern sind.«

In Köln hieß es: »Wir rechnen darauf, daß Sie auf unsere jungen Mädchen Rücksicht nehmen.«

Hätte ich ihnen doch den Rücken kehren können!

Wenn ich nach Hause kam, umklammerte mich mein Sohn mit überströmender Zärtlichkeit. Wie ich ihm fehlte! Niemand hatte Zeit für ihn! Und doch bedurfte er immer mehr der Freundschaft der Eltern! Über hundert Rätselfragen des Daseins begann er in seinen vielen einsamen Stunden nachzugrübeln. Und seine Phantasie, deren üppige Ranken ohne Stütze blieben, ohne die Hand des Gärtners, der sie zur rechten Zeit zu beschneiden versteht, überwucherte sein Gefühl. Er fürchtete sich oft vor seinen eigenen Träumen, so daß ich ihn des Nachts zu mir betten mußte.

»Du verzärtelst den Jungen –,« sagte Heinrich dann ärgerlich. Und für übertriebene Sentimentalität hielt er es, wenn ich von der Atmosphäre des Unglücks sprach, die sichtlich auf des Kindes Seele lastete. So lernte ich schweigen, auch über das, was mir am tiefsten das Herz bewegte. Und in sehr dunkeln Stunden bemächtigte sich meiner ein fremdes, böses Gefühl. Dann häufte ich auf meinen Mann alle Schuld.

In solch einer Stimmung traf mich Romberg. Er war voll aufrichtiger Teilnahme.

»Lange halte ich es nicht mehr aus,« sagte ich, den Kopf in den Händen vergraben. Er sollte nicht sehen, daß meine Kraft nicht einmal mehr ausreichte, um die Tränen zurückzuhalten.

»Ich wüßte eine Hilfe,« begann er dann langsam, »eine, durch die Sie frei würden und sorgenlos.«

Ich hob den Kopf; alles Blut strömte mir zum Herzen. Eine Hilfe! Er zögerte. Dann sah er mich an mit einem festen warmen Blick, der die Freundschaft langer Jahre in sich schloß und sagte, jedes Wort betonend:

[494] »Trennen Sie sich von Ihrem Mann.«

Als Minuten vergingen, ohne daß ich antwortete, erhob er sich.

»Zürnen Sie mir?« fragte er.

»Nein,« antwortete ich, ihm die Hand entgegenstreckend. Dann überlief's mich kalt. Auch jetzt lag die seine schlaff und kraftlos zwischen meinen Fingern.

Ich überlegte seinen Rat und erschrak nicht einmal vor der kühlen Ruhe, mit der ich es zu tun vermochte. Er hatte recht: allein mit meinem Sohn, der Last der Zeitschrift ledig, die das meiste verschlang, was ich verdiente, würde ich, wenn auch noch so bescheiden, von meiner Arbeit leben können. Und ich wäre frei, – frei! Unwillkürlich streckte ich die Arme weit aus, als gelte es, die Welt zu umfassen. Aber dann sah ich ihn: meinen Mann, meinen Kampfgefährten, meinen Leidensgenossen, – den Vater meines Kindes! Ich fing an, ihn zu beobachten. Wie er leiden mußte! Und wie er mich liebte!

Er brachte mir täglich ein paar Blumen mit, und wenn es nur wenige Veilchen waren. Das schlimmste suchte er mir aus dem Wege zu räumen, so lange es ging. Er hatte eine ritterliche, zurückhaltende Zärtlichkeit für mich. Und mein Junge hing an dem Vater.

»Ich kann nicht, lieber Freund,« sagte ich mit einem wehen Lächeln, als Romberg wiederkam. Er runzelte die Stirn und wandte sich ab. Ich legte ihm die Hand auf den Arm.

»Sie müssen versuchen, mich zu verstehen, Sie vor allem!« bat ich. »Haben Sie mich nicht selbst verspottet, als ich einmal die freie Liebe predigte, weil ich überzeugt war, das Eheproblem dadurch lösen zu können? Heute weiß ich, daß der Zettel auf dem Standesamt nicht die stärkste Fessel ist, die sie unfrei macht. Ich habe Frauen gesehen, die sich voll Idealismus dem Mann ihrer Wahl vermählten, ohne ihren Bund nach außen sanktionieren zu lassen. Nach kurzer Zeit sind sie bedauernswertere Sklavinnen geworden als die staatlich abgestempelten Ehefrauen. [495] Ihre und ihres Kindes Existenz war von ihrem Manne abhängig, und jeden Tag konnte er sie verlassen! Darum klammerten sie sich an ihn, unterwarfen sich ihm, ertrugen seine Brutalität, seine Launen, seine Treulosigkeiten. Ich erkannte, daß die wirtschaftliche Selbständigkeit die Voraussetzung des freien Liebesbundes sein muß ...«

»Nun – und sind Sie etwa wirtschaftlich abhängig?! Sie, mit Ihrer Begabung, Ihrer Arbeitskraft?« unterbrach er mich heftig.

»Nein, gewiß nicht,« entgegnete ich; »diese Fessel trag' ich nicht mehr, und keine Frau brauchte ihre Menschenwürde von ihr erdrosseln zu lassen, wenn sie arbeiten gelernt hat. Aber es gibt andere Fesseln, – zart und weich wie Seide, – die unzerreißbar sind. Mein Sohn liebt seinen Vater. Wie kann ich sein Kinderherz verwunden, solch einen Zwiespalt in seine Seele tragen?!«

»Ein Kind überwindet rasch,« antwortete Romberg mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Ich verstummte. Er, der mir so nahe gewesen war, rückte plötzlich weit, weit von mir ab. Ihm von Heinrichs Liebe, von seinem Unglück und den anderen für mich unzerreißbaren Fesseln zu reden, wäre mir wie eine Preisgabe vorgekommen.

Und doch: irgend etwas mußte geschehen.

»Bald, – bald reise ich nicht mehr fort ohne dich,« hatte ich immer wieder beim Abschiednehmen mein Kind getröstet.

»Wann bleibst du wieder bei mir, Mamachen?« fragte es, und jedesmal wurde der Ausdruck seines Gesichtchens quälender.


Meine nächste Vortragsreise führte mich nach Leipzig. Dort wohnte einer jener stillen Genossen, der für den Revisionismus eine offene Hand zu haben pflegte. Als mein Mann sich im Interesse der Neuen Gesellschaft einmal schriftlich an ihn gewandt hatte, war seine Antwort ein unfreundliches [496] glattes Nein gewesen. Trotzdem hoffte ich noch auf die Wirkung einer persönlichen Unterredung. Es galt einen letzten verzweifelten Versuch.

Ich werde die Reise nie vergessen, nie den Augenblick, wo ich, zitternd vor Scham und Angst, in des reichen Mannes Zimmer trat. Er mochte ahnen, daß ich als Bittende kam. Es dauerte Sekunden, ehe er mich zum Sitzen nötigte. Vielleicht würde er es gar nicht getan haben, wenn er nicht gesehen hätte, daß mir die Knie bebten. Ich hatte einen Mantel an. Während der Zeit, die ich bei ihm war, nahm er ihn mir nicht ab. Er ließ mich reden, ohne eine Miene zu verziehen. Und dann sprach er – langsam, jedes Wort betonend, so daß es mir weh tat, wie lauter Schläge: »Ihr Mann ist ein guter Redakteur; das hat er am Archiv bewiesen. Aber er ist ein schlechter Geschäftsmann, sonst hätte er das prosperierende Archiv, das ihm eine sichere und angesehene Stellung bot, nicht hingegeben, um ein aussichtsloses Unternehmen zu beginnen. Ich mag nicht Wasser in ein hohles Faß schöpfen.«

»Und doch erkannten Sie, wie ich hörte, selber an, daß die neue Aufgabe, die er sich stellte, wichtig, ja notwendig war,« wandte ich ein.

»Ja. Für einen Mann, der ausreichende Mittel hat, um die Sache durchzuführen.« Damit erhob er sich.

Ich war entlassen. Mir klebte die Zunge am Gaumen. Nun war der Moment, der einzige, der mir noch blieb. Ich war ja nicht gekommen, um einen Rechtsanspruch durchzusetzen, – ich mußte bitten – bitten. Ich fühlte die Tränen der Aufregung mir heiß die Augen füllen. Nur nicht weinen, – jetzt nicht weinen, dachte ich und biß die Zähne aufeinander. Da aber sah ich plötzlich mein Kind vor mir – ganz deutlich: mit dem ernsten Blick und der sehnsüchtigen Frage auf den Lippen. Mein Kind! Glühende Schweißtropfen bedeckten meine Stirn, der Atem stockte. Mit einer raschen Bewegung warf ich den schweren [497] Mantel von mir und riß das Fenster rücksichtslos weit auf. Ein konvulsivisches Schluchzen, dessen ich nicht Herr werden konnte, erschütterte meinen Körper. Dann wandte ich mich um und hob den Mantel von der Erde auf.

»So will ich gehen –,« kam es tonlos über meine Lippen, – ich konnte nicht bitten, ich konnte nicht!

»Setzen Sie sich!« – Es war wie ein Kommando. Die Erschöpfung, nicht der Gehorsam zwang mich, ihm zu folgen.

»Ich werde Ihnen helfen, – Ihnen persönlich, – dieses eine Mal –.«

Ich kehrte zum Hotel zurück. Plötzlich fiel mir ein, daß ich die kühle Hand mit meinen Fingern dankend umschlossen hatte. Die Hand des Mannes, vor dem ich mich so erniedrigt hatte!


Und nun ging es zu Ende. Unweigerlich. Trotzdem ich noch hergab, was ich eben empfangen hatte. Ein einzigesmal noch stieg unsere Hoffnung hoch auf wie eine Leuchtkugel. Heinrich erhielt von einem, der helfen konnte, ein festes Versprechen. Er schloß darauf hin aufs neue mit dem Drucker ab und mit dem Papierlieferanten. – Aber die Leuchtkugel zerplatzte, und es wurde ganz, ganz dunkel.

Ich verlangte Klarheit von meinem Mann, – rückhaltlose. Er gab sie mir mit einer Ruhe, von der ich glaubte, daß sie eine erzwungene sei: Alles war verloren. Da wir den Konkurs vermeiden wollten, blieb uns eine Schuldenlast, an der wir Jahre zu tragen haben würden. Um die allernächsten Zahlungen leisten und selbst leben zu können, gab es nur einen Ausweg.

»Wir verpfänden unsere Möbel –,« sagte Heinrich, mir einem Ton, als spräche er von dem Gleichgültigsten von der Welt.

Bisher hatte ich zusammengekauert auf dem großen Stuhl gesessen, der mir immer wie etwas Lebendiges gewesen war, weil seine Lehne den müden Kopf stützte, seine Arme sich schützend an mich schmiegten.

[498] Jetzt fuhr ich auf. »Das Letzte soll ich hergeben?! Und du meinst, ich täte das so kaltblütig wie du es aussprichst?!« rief ich, vor Entrüstung am ganzen Körper zitternd. »Das hier ist der Rest Heimat, den ich habe. Fast jedes Stück erinnert mich an den Vater, – die Großmutter, – an Georg, an meine Jugend –,« Tränen erstickten meine Stimme.

Mein Mann maß mich mit einem kühl-erstaunten Blick. »Stellung, Vermögen, Familie, – alles hast du geopfert ohne ein Wort der Klage, und nun jammerst du um diesen Trödel,« sagte er kopfschüttelnd. Mein Verstand gab ihm recht, aber mein Herz blutete, als wäre ihm die schwerste Wunde geschlagen worden.

In der Nacht darauf öffnete sich die Tür zu meines Sohnes Zimmer, er stürzte auf mich zu, umschlang meinen Hals und schluchzte verzweifelt: »Warum weinst du nur so? Warum weinst du nur so?!«

In diesem Augenblick wußte ich, daß ich ein Opfer bringen mußte wie keines zuvor. Ich weinte nicht mehr. Ich war ganz still und ganz entschlossen. »Otto darf den Zusammenbruch nicht mit erleben,« sagte ich zu meinem Mann. »Schon jetzt ist er wie vergiftet, – gar kein Kind mehr –.«

Ich erwartete eine heftige Szene.

Statt dessen erhellten sich Heinrichs Züge. »Nun bist du wieder meine tapfere Alix,« – damit drückte er mir die Hand, so herzlich wie seit Monden nicht – »natürlich ist das für alle Teile das Beste. Wir beide bauen ungehindert ein neues Leben auf, und er wird irgendwo auf dem Land wieder ein starker, froher Junge ...«

Ich hörte seine Stimme nur noch wie ein fernes Brausen. So nahm er auf, wovon ich nie gesunden würde: – fast froh! Ich starrte ihn an; die schreckliche Erregung verzerrte mir sein Bild, als hätte ich ihn noch nie gesehen. Mit diesem Mann hatte ich mein Leben verknüpft, – und eben noch den Gedanken an[499] eine Trennung weit, weit von mir gewiesen?! Mir schien, als wäre die Trennung vollzogen, lange schon, sonst hätte er in dieser Stunde, da mein ganzes Leben zusammenbrach, so nicht zu mir sprechen können, – so nicht.


Ich schrieb an einen Freund Egidys, den ich seit der Zeit, da ich ihn in dessen Hause traf, hie und da wiedergesehen hatte. So selten das gewesen war, mit einem Gefühl warmer gegenseitiger Anteilnahme waren wir uns immer begegnet. Jetzt leitete er eine Schule hoch oben im Thüringer Wald. Ich sprach ihm rückhaltlos von der Lage, in der wir uns befanden. »Mein Sohn leidet darunter, halb unbewußt, und ich will ihm das Schlimmste ersparen, will seine Jugend nicht hineinreißen in den Strudel unseres künftigen Lebens. Sie sehen, es ist ein Freundschaftsopfer, das ich von Ihnen erwarte –,« hier zitterte mir die Hand und versagte den Dienst.

Er antwortete umgehend, mit einem zarten Takt, der mir wohltat: »Ihr Sohn soll uns von Herzen willkommen sein. Und kein drückendes Gefühl darf Ihnen daraus entspringen. Überlassen Sie ruhig der Zukunft die materielle Seite der Sache. Da er Ihr Kind ist, wird er unserer Schule mehr geben, als er erhält und sich durch Gold aufwiegen läßt ...«

Zu Ostern wollte ich ihn hinbringen, aber ich verschob es von Tag zu Tag, mit ihm davon zu sprechen; er war so glücklich, daß ich auf einmal immer bei ihm war, mit ihm spielte, mit ihm spazieren ging, ihm Geschichten erzählte wie in der schönen alten Zeit.


Indessen erschien die letzte Nummer der Neuen Gesellschaft, mit einem kurzen Abschiedswort an die Leser. Keiner von unseren Gesinnungsgenossen hatte ein Wort des Bedauerns dafür, niemand von denen, für deren Überzeugung sie gekämpft [500] hatte, ohne sich durch gehässige Angriffe und gemeine Verleumdungen vom Wege ablenken zu lassen, der ihr als der rechte erschien, kümmerte sich um uns. Keinem konnte es ein Geheimnis sein, daß wir alles verloren hatten, aber kaum ein einziger hatte auch nur eine teilnehmende Frage danach. Wir waren abgetan, – fertig. Die Genossen gingen über uns hinweg wie die Soldaten im Krieg über die gefallenen Kameraden auf dem Schlachtfeld.

Damals hatte ich dafür nur eine verächtliche Gebärde. Große Schmerzen sind ein Palliativmittel gegen die kleinen.

Nur eins erfüllte mich mit tiefer Bitterkeit: daß auch Romberg nicht wiederkam. Er hatte eine Auseinandersetzung mit meinem Mann gehabt, bei der seine lange im stillen herrschende Feindschaft gegen ihn zu offenem Ausbruch gekommen war. Ich erfuhr nicht viel davon. Aber um mich mochte sich's gehandelt haben und darum, daß Romberg meinem Mann vorwarf, unser Unglück verschuldet zu haben, und dieser sich jede Einmischung in unser Tun und Lassen verbat. War das Grund genug, um mich gerade jetzt im Stich zu lassen? Und an seine aufrichtige Freundschaft hatte ich geglaubt!


Ein Ostermorgen war es, hell und leuchtend. Ein Auferstehungsfest, das die geflügelten Musikanten der Natur mit hundertstimmigem Gesang begrüßten. Mit lauter lustigen goldgelben Flecken bedeckte die Sonne den Erdboden unter den Kieferstämmen. Wir gingen durch den Grunewald nach Schildhorn, mein Sohn und ich. Wie er sich freute! Jedes armselige Blümlein, das der karge Sand hervorsprießen ließ, bewunderte er. Und die Luft, die ein Odem erwachenden Lebens war, sog er ein mit tiefen durstigen Zügen.

»Ich hasse die Stadt,« sagte er mit der ganzen Energie seiner zehn Jahre. »Warum können wir nicht auf dem Lande leben?«

[501] Das war der rechte Augenblick, um ihm von Waltershof zu sprechen, der Schule im Thüringer Wald. Mit stockender Stimme begann ich, und erzählte von dem freien Leben dort und den vielen Kindern.

Seine Augen glänzten. »Das denke ich mir riesig fein!« rief er.

»Möchtest du am Ende gar selber hingehen?« fragte ich zögernd.

Er machte einen Luftsprung: »Natürlich! Aus der scheußlichen Stadt heraus auf die Berge, – was gibt es Schöneres!«

Ich hätte mich freuen müssen, – aber die Tränen traten mir in die Augen. So würde ihm der Abschied nicht allzu schwer werden!


Ein paar Tage später reisten wir ab. Er war wie umgewandelt, in leuchtenden Farben malte er sich das Leben aus, das seiner wartete. Zuweilen schien er zu stutzen, wenn er mich ansah.

»Und du besuchst mich oft, sehr oft, nicht wahr, Mamachen? Und zu den Ferien komme ich immer nach Haus?« sagte er dann, im Gefühl, mich trösten zu müssen.

Von der Station fuhren wir mit dem Wagen bergauf durch dichte Tannenwälder. Mein Sohn verstummte und schmiegte sich an mich. Ob ihn nun der Abschiedsschmerz packen würde? Das Herz klopfte mir erwartungsvoll. »Ein bißchen geniere ich mich doch vor den fremden Jungens,« meinte er.

Oben auf der Hochebene, wo der Wind über freie Felder strich und mit den kleinen runden Frühlingswölkchen spielte wie ein Kind mit dem Fangball, verlor er seine scheue Stimmung wieder.

»Wie wunder – wunderschön das ist,« sagte er mit einem Blick in die Ferne.

In stiller großer Einsamkeit reihte sich Berg an Berg; die kleinen grauen Menschenwohnungen verschwanden in den tiefen Tälern.

Der Direktor begrüßte uns wie vertraute Freunde. Die Schüler betrachteten aus gemessener Entfernung den Ankömmling. [502] Er umfaßte wie schutzsuchend meine Hand. Jetzt, – jetzt wird er bei mir zu bleiben verlangen! – Da trat ein brauner Bursche aus der Schar.

»Sieh mal die Wiese dort,« sagte er zu meinem Jungen und wies auf den gelbblühenden Abhang, der sich hinter dem Hause in die Tiefe senkte; »willst du da hinunter mit mir um die Wette laufen?«

Und im selben Augenblick, – kaum daß er Zeit gefunden hatte, mir Mantel und Mütze zuzuwerfen, – flog er mit ihm davon. Wie heller Sonnenschein tanzten ihm die blonden Locken um den Kopf. Ich starrte ihnen nach. Mir gingen dabei die Augen über. Hinter den Fichtenstämmen, – weit, weit im Tal, erloschen sie.

»Er wird sich rasch zu Hause fühlen,« sagte der Direktor.

Er wird sich rasch zu Hause fühlen –!

Ich verließ Waltershof schon am nächsten Morgen. Jede Stunde, die ich blieb, kam wie ein verschlagener Räuber und stahl mir stückweise mein Liebstes.

Ehe ich in den Wagen stieg, umarmte mich mein Sohn mit stürmischer Heftigkeit. Nun endlich wird es ihn übermannen –! Ich preßte ihn an mich, ich hielt ihn fest. Dieser Schoß hat dich geboren, an diesem Herzen wuchsest du empor, – schrie es in mir, – nur ein Wort der Liebe sag mir, ein Wort der Sehnsucht, und ich verteidige deinen Besitz gegen Hölle und Himmel! Aber er schwieg. Seine Augen blieben hell. Ringsum standen die Lehrer und die Schüler –. Ich nahm seinen Kopf zwischen meine Hände und küßte ihn. Ich grüßte noch einmal lächelnd nach rechts und links. Dann zogen die Pferde an –.


Damals, vor einem halben Menschenalter, als ich im Gewittersturm auf dem Berge stand, dem Wetter preisgegeben, fürchtete ich den Tod. Was hätte ich jetzt noch fürchten können?

[503]
18. Kapitel
Achtzehntes Kapitel

In Schleier aus durchsichtigem Silber gewoben hüllte sich der blaue Frühlingshimmel. Milde lächelnd glänzte sein großes Sonnenauge. Und die kleinen weißen Wolken standen ganz still wie erwartungsvoll staunende Kinder, ehe der Vorhang vor dem Märchenspiel aufgeht. Die Luft streichelte mit weichen Händen die Erde, als wäre sie sehr, sehr krank.

Jetzt trugen sie den letzten Hausrat aus der alten Wohnung. Der große gelbe Wagen vor der Tür wartete darauf, ihn in die neue hinüberzufahren.

Ich sah mich um in den leeren Räumen: auf dem Boden lag Papier und Stroh und Scherben, in den Winkeln Staub in großen grauen Flecken. Zögernd, als hielte eine unsichtbare Hand mich zurück, öffnete ich die Tür zu meines Sohnes Zimmer. Von seinen unruhigen Füßchen war die Diele zertreten. Dunkel zeichnete sich der Platz am Boden ab, wo sein Bett gestanden hatte; – wie oft, seitdem er fort war, hatte ich den Kopf in die leeren Kissen vergraben –.

Eine Hand berührte meine Schulter.

»Komm, Alix,« sagte Heinrichs weiche, tiefe Stimme hinter mir. Auf seinen Arm gestützt, mit tief gebeugtem Nacken ging ich die Treppen hinab. Auf der Straße versagte mir der Atem; mein Begleiter hatte einen so raschen, elastischen Schritt, daß ich ihm nicht zu folgen vermochte. Er trug auch den Kopf ganz hoch, wie einer, der noch als Eroberer ins Leben tritt. Und waren wir nicht Geschlagene?! Ich hatte meinen Gedanken laut werden lassen. Heinrich blieb stehen.

[504] »Hast du die Waffen gestreckt?!« fragte er stirnrunzelnd mit scharfer Betonung. »Ich nicht! Was uns nicht umbringt, das macht uns stärker.«

Ich senkte den Kopf noch tiefer; eine jähe Röte schoß mir in die Schläfen.

Er hatte die Türe zu unserer neuen Wohnung mit Blumen bekränzen lassen. Daß ich sie nicht abriß, geschah nur, um ihm nicht wehe zu tun. Drinnen empfingen uns schon die stummen vertrauten Gefährten unseres Lebens. Aber an dem großen Schreibtisch stand jetzt nur noch ein Stuhl. Ich hatte ein eigenes kleines Zimmer.

»Das ist der erste Schritt zur Ehetrennung,« lächelte mein Mann, mit einem Blick auf mich, in dem eine ernste Frage lag. Ich blieb ihm die Antwort schuldig.

»Freust du dich denn gar nicht, daß all der Kram dir nun doch erhalten blieb?!« sagte er nach einer Pause in einem erzwungen leichten Ton. »Wie hast du darum gezittert, du armer Angsthase du!« Und wieder stieg mir das Blut ins Gesicht. Ich schämte mich, daß ich so hatte empfinden können.

»Dem, der mir dazu verhalf, werde ich immer dankbar sein,« sagte ich leise, – es war keiner der alten Freunde, keiner der offiziellen Vertreter der »Brüderlichkeit« gewesen! – »Aber mehr darum, weil ich doch noch einen Menschen mit warmem Herzen gefunden habe, als um der Stühle und Schränke und Kisten und Kasten willen ...«

Heinrich drückte mir die Hand. Dann nahm er eine der letzten Nummern der Neuen Gesellschaft aus dem Bücherschrank.

»›Solchen Menschen, welche mich etwas angehen, wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Mißhandlung, Entwürdigung, – ich wünsche, daß ihnen das Elend der Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob Einer Wert hat, oder nicht, – daß er standhält ...‹« las er. »Diese Worte Nietzsches [505] habe ich abgedruckt, weil sie meine eigene tiefe Überzeugung aussprechen.«

Seine Kraft verletzte mich fast. Ich wollte nicht überwinden. Es kam mir wie ein Verrat an meinem Kinde vor, wenn auch mich ein Gefühl ergriff, als ginge ich gestärkt einem neuen Leben entgegen. Ich pflegte mein Leid mit selbstquälerischer Wollust. Ich liebte es.

Aber – seltsam –: Je länger es neben mir herging, desto mehr wandelte sich sein gräßliches Medusenhaupt in das stille, ernste Antlitz eines Freundes. Es nahm mich bei der Hand und führte mich langsam, Schritt vor Schritt, – mein Herz ertrug es nicht anders, – einen hohen Berg hinauf. Und von da oben sah ich in das Tal meines Lebens. Ich erkannte seine großen Umrisse und geraden Linien, aber all die Hindernisse auf den Wegen – den Unrat auf den Straßen – sah ich nicht mehr.


Eines Tages trat mein Mann mit einem großen Strauß duftender Rosen in mein Zimmer.

»Zum Zeichen, daß ich dir wieder Blumen bringen kann,« sagte er lächelnd. Nun erfuhr ich erst von seiner Arbeit, von den Plänen, die ihrer Verwirklichung entgegengingen, – rein geschäftlichen Unternehmungen, denen er neben seiner literarischen Tätigkeit all seine Kräfte widmete, ohne sich eine Stunde der Ruhe, eine Pause der Erholung zu gönnen, – nur das eine Ziel im Auge: die drückenden Schulden zu zahlen, uns eine Existenz zu gründen und – er sprach es so leise aus, als ob er sich scheue, daran zu rühren – »dir dein Kind zurückzugeben.«

»Heinz!« rief ich, – die Tränen stürzten mir aus den Augen, – ich griff nach seinen beiden Händen und drückte sie zwischen den meinen.

»Was meinst du, wenn du den Buben holen gingst?!« Und vorsichtig, als wäre ich etwas sehr Zerbrechliches, zog sein Arm mich an sich.

[506] Ich fuhr schon am nächsten Morgen nach Waltershof. Wie langsam schlich der Zug durch die blühende Sommerpracht, wie endlos hielt er sich an all den vielen Stationen auf! Endlich, endlich kam ich an. Droben auf der Höhe, wo jetzt das Korn in hohen Garben stand und alle Ähren grüßten und nickten, als wüßten sie um mein Glück, kam mir mein Junge entgegengelaufen – –.

Wie groß und wie braun, und wie stark und wie froh er war! Sonderbar, daß irgend etwas dabei mich schmerzte. Er küßte und herzte mich immer wieder, – aber nicht mit dem Bedürfnis nach Schutz, nach Anlehnung, wie die kleinen Kinder, wenn sie sich an die Mutter schmiegen. Ich sah ihn dann im Kreise der Kameraden auf der grünen Wiese, im Tannenwald: wie er seine Kräfte an den ihren maß. Ich dachte an unsere Straße, unsere enge Wohnung; – ich wagte noch nicht, ihm zu sagen, warum ich gekommen war. Und als ich am nächsten Vormittag dem Unterricht beiwohnte, in Klassen, wo kaum mehr als zehn Kinder beieinandersaßen und der Lehrer imstande war, sich mit jedem einzelnen zu beschäftigen, auf seine Interessen und Fähigkeiten einzugehen, – da dachte ich an die überfüllten städtischen Gymnasien mit all ihrem Gefolge von Krankheiten und Laster und Stumpfsinn; ihre unglückseligen Opfer fielen mir ein, die den Martern des Geistes und Körpers den Tod vorzogen. Mich schauderte: hatte ich ein Recht, über mein Kind zu verfügen nach meinem Gefallen? Kein Zweifel: sein Instinkt hatte für Freiheit und Natur entschieden.

»Ich komme morgen nach Haus, und komme – allein,« schrieb ich an meinen Mann. »Otto ist ein selbständiger Mensch geworden, und ich habe hier gelernt, was keine pädagogische Buchweisheit mir hätte beibringen können: daß auch die Kinder sich selbst gehören, nicht uns; daß die Kindheit einen Wert an sich hat. Es mußte so sein, wie es ist. Wenn unser Sohn stark genug ist, um auch neben uns ein Eigener zu bleiben, wird er [507] vielleicht freiwillig zurückkehren ... Ich schreibe das alles so hin, und die Worte sehen aus, als kosteten sie mich nichts. Ich glaube, ich brauche Dir nicht erst zu sagen, was ich überwinden mußte. Es wird noch lange dauern, bis ich von meiner Mutterliebe abgestreift haben werde, was jeder Liebe eigentümlich ist: den Willen zum Besitz. Seitdem Du mich fühlen ließest, daß auch Du unser Kind entbehrst, weiß ich: Du wirst Geduld mit mir haben.«

Jetzt erst wurde ich mir der ganzen Leere meines Lebens bewußt: war ich schon so alt, um nur noch in philosophischer Ruhe seine Resultate zu ziehen? Um abseits zu stehen wie Zuschauer am Schlachtfeld?


Als mir von seiten der Gewerkschaften die Aufforderung zuging, einige ausschließlich Bildungszwecken dienende Vorträge im internen Kreise organisierter Arbeiter zu übernehmen, ergriff ich die Gelegenheit, von der ich glaubte, daß sie mir wenigstens eine befriedigende Tätigkeit eröffnen würde. Seit dem Jahre 1906 hatten die Partei und die Gewerkschaften, einem Beschluß des Mannheimer Parteitags folgend, den Bildungsbestrebungen tatkräftigeres Interesse zugewandt. Außer der Partei- und Gewerkschaftsschule in Berlin und ähnlichen Einrichtungen in den größeren Provinzialstädten, wo eine beschränkte Zahl ausgewählter Schüler systematischen historischen und nationalökonomischen Kursen regelmäßig folgte, wurden Referate gehalten, die allen zugänglich waren, die ihre Mitgliedschaft zu einer Arbeiterorganisation nachweisen konnten. Die Lehrer der Parteischule waren Radikale strengster Observanz. Sie sprachen von »bürgerlicher« Wissenschaft, »bürgerlicher« Kunst, zu der die vom Zukunftsstaat zu erwartenden in scharfem Gegensatz stünden. Sie waren Geist vom Geist des preußischen Kultusministers, der einen Privatdozenten abgesetzt hatte, weil er Sozialdemokrat war. In ihrem Kreise waren die kühnen [508] Sätze gefallen, daß die Philosophie eine ideologische Begleiterscheinung der Klassenkämpfe und ihre Geschichte eine Geschichte bürgerlichen Denkens sei.

Die Gewerkschaften standen zu ihnen in einem leisen aber darum nicht weniger starken Gegensatz, der auch in der Wahl ihrer Referenten zum Ausdruck kam. Schon als ich zum erstenmal sprach, – vor einer Zuhörerschaft von ein paar hundert Arbeiterinnen, – wurde mir erzählt, wie empört die führenden Genossinnen seien, daß man mich dazu aufgefordert habe.

Durch Fragen, durch Bitten um Ratschläge für ihre selbständige Fortbildung, durch Bücher, die ich auslieh, und die mir persönlich zurückgebracht wurden, kam ich in Berührung mit Männern und Frauen, die noch nicht zu den »gehobenen Existenzen« gehörten. In der Nüchternheit des Alltagslebens, fern der Begeisterung, die Feste und Kämpfe entzünden, lernte ich ihr Leben, ihr Denken und Fühlen kennen. Es stand fast ausnahmslos unter dem Zeichen der Unzufriedenheit, des Mangels an einem Inhalt, der über die Misere des Daseins hinaus stark und hoffnungsfroh macht. Eine gewisse seelische Leere kam vielen zum Bewußtsein, etwa wie ein Gefühl dauernden Frierens. Die Ideale des Sozialismus hatten, da ihre Verwirklichung so fern gerückt war, für das persönliche Leben viel von ihrem Feuer verloren.

Aber gerade in der zum Ausdruck kommenden Unzufriedenheit mit den äußeren Erfolgen und den inneren Werten der Partei lag eine starke latente Kraft, die bereit war, jeden Augenblick alles Lastende, Hindernde fortzuschieben, wenn nur irgendwo der Weg ins Freie sich zeigte.

Nach einer meiner Versammlungen begrüßte mich Reinhard. Er war zuerst ein wenig verlegen, als ich aber harmlos und freundlich blieb, taute er auf. Ich erzählte ihm von meinen Beobachtungen. »Ich bilde mir natürlich nicht ein, daß sie maßgebend sind, aber ich halte sie doch für Symptome.«

[509] Er gab mir recht. »Wir befinden uns zweifellos in einer inneren Krisis,« sagte er, »die sich immer wieder nach außen bemerkbar macht. Jetzt beginnt der Zank schon wieder. Diesmal um die Frage der Budgetbewilligung. Sobald wir versuchen, durch eine Politik, die immer mehr oder weniger auf Konzessionen beruht, Schritte nach vorwärts zu tun, Vorteile oder Einfluß zu gewinnen, kommen die anderen und schwenken mit Geschrei die angeblich von uns verratene Fahne des Prinzips. Ich möchte wissen, was geschehen soll, wenn wir einmal in den Parlamenten eine Vertretung haben, mit der gerechnet werden muß? Ob wir dann das prinzipienfeste Neinsagen unseren Wählern gegenüber verantworten können? – Ich sehe schwarz in die Zukunft, Genossin Brandt, sehr schwarz! Ich fürchte, wenn erst einmal unsere Alten tot sind, dann fällt die Partei auseinander.«

»Und wäre das wirklich so fürchterlich?« wandte ich ein. Er fuhr auf. Seine Augen blitzten mich an wie früher.

»Genossin Brandt!« rief er entrüstet. »Sollten die Leute recht haben, die von Ihnen behaupten, daß Sie nicht mehr die Unsere sind?!«

»So –,« sagte ich gedehnt, »das also erzählt man von mir?! Und Ihnen erscheint es möglich, weil ich eine Spaltung der Partei nicht für den schrecklichsten der Schrecken halte?! Es zeugt für ein sehr geringes Vertrauen in die Notwendigkeit der Entwicklung zum Sozialismus, wenn wir annehmen wollten, daß solch ein Ereignis einen mehr als vorübergehenden Nachteil nach sich zöge. Unser Ziel bleibt doch unverändert dasselbe, in wieviel Heerscharen wir ihm auch entgegenmarschieren!«

Reinhards Gesicht färbte sich dunkelrot. »Sie scheinen ja ein solches Unglück fast zu wünschen!« sagte er mit verbissenem Grimm.

»Davon bin ich ebensoweit entfernt wie Sie,« antwortete ich. »Ich suche nur, Sie und mich von der Angst davor zu befreien. [510] Dabei frage ich mich, ob es nicht viel korrumpierender für den einzelnen und lähmender für die Aktion der Masse ist, wenn immer wieder um der äußeren Einheit willen Resolutionen angenommen werden, die für sehr viele nur auf dem Papiere stehen, und das Erfurter Programm krampfhaft aufrecht erhalten wird, obwohl immer weitere Kreise von Genossen ganze Sätze daraus für unrichtig halten. Die Radikalen, die in der Form des Ausschlusses aus der Partei eigentlich nichts anderes wollen als eine Spaltung, gehen dabei von einer ganz richtigen Empfindung aus: daß die innere Einheit die Voraussetzung der äußeren sein muß. Nur daß sie wie Kurpfuscher an den Symptomen herumkurieren.«

»Und Sie wüßten ein Mittel, die Krankheit zu heilen?« Dabei sah Reinhard mich an, als erwarte er eine Offenbarung von mir.

Ich lachte. »Wenn ich ein Mittel wüßte, glauben Sie, ich hätte es nicht schon längst auf allen Gassen ausgeschrien?! Nur einen Weg dahin glaube ich zu wissen. Die Übel, unter denen wir leiden, lassen sich alle auf eine Ursache zurückführen: die fehlende richtige Grundlage unserer Bewegung. Was bisher als solche galt, hat sich zu einem Teil als falsch oder nicht ausreichend erwiesen.«

Er machte ein enttäuschtes Gesicht: »Also ein neues Programm! Wenn es weiter nichts ist!«

»Ich las gestern in einem Brief von Hegel einen Satz, der sich mir ins Gedächtnis geprägt hat,« fuhr ich fort, »›die theoretische Arbeit bringt mehr in der Welt zustande als die praktische; ist das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht stand‹. Gerade wir Revisionisten haben diese tiefe Wahrheit fast vergessen. Sie auch, wie ich sehe. Und doch glaube ich, hätten wir ein Programm, das alle inzwischen zweifelhaft gewordenen Theorien bei seite ließe, alle praktischen Forderungen den Entscheidungen des Tages anheimgäbe, und nur [511] den Ausgangspunkt feststellte, – den Klassenkampf, – und das Ziel, – die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln; wir würden weniger zerrüttende Kämpfe in unseren Reihen haben, und Millionen Außenstehender würden nicht Mitläufer, sondern Parteigenossen werden.«

»Ich wundere mich, daß Sie bei Ihrem gründlichen Aufräumen den Klassenkampf nicht auch zum Fenster hinauswerfen,« spottete Reinhard mit einem Anflug von Ärger.

»Sie sind hellsehend, lieber Genosse,« entgegnete ich, »denn die Form, in die er vor einem halben Jahrhundert gezwängt wurde, ist freilich unbrauchbar geworden. Leute wie ich zum Beispiel haben keinen Platz in ihr. Man redet uns ein, und wir glaubten es, daß wir aus reinem selbstlosen Edelmut in die Partei eintraten; wir blieben infolgedessen, als nicht recht dazu gehörig, unsichere Kantonisten in den Augen der geborenen Klassenkämpfer. Ich bin inzwischen schon für mich allein von dem Kothurn dieses Edelmuts herabgestiegen und habe gefunden, daß ich mit demselben Recht wie der Arbeiter im Klassenkampf stehe. War ich nicht, mittellos, auf meine Arbeit angewiesen? War ich nicht abhängig von meiner Familie, also unfrei? Der hungernde Arbeiter sucht freilich in erster Linie Brot; aber das könnte ihm auch eine vernünftige bürgerliche Sozialreform sicherstellen. Er ist Sozialdemokrat, weil er mehr will: Freiheit. Genau dasselbe, wonach ich verlangte, als es mich in die Partei trieb; genau dasselbe, wonach Hunderttausende sich sehnen, – lauter Abhängige, – lauter geborene Klassenkämpfer, die die Partei mit dem engen: ›die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein‹, mit der ›Diktatur des Proletariats‹ als notwendiges Befreiungsmittel zurückstößt, im besten Falle nur duldet ...«

Wir waren vor der Tür meiner Wohnung angekommen.

»Selbst wenn Sie recht hätten, – was ich nicht weiß –,« sagte Reinhard; »die radikale Tradition ist viel zu stark innerhalb [512] der Arbeiterschaft, als daß solch eine Programmänderung möglich wäre. Mir scheint auch, es würde immer noch etwas fehlen –«

Ich nickte. »Es fehlt noch immer etwas, – ja –,« meinte ich nachdenklich. Dann trennten wir uns.


Als mein Vortragskursus zu Ende war, bekam ich keine Aufforderungen mehr. An meinen Zuhörern lag das nicht; ihr regelmäßiges Erscheinen, ihr wachsendes Interesse zeugte dafür. Aber der Einfluß der Zionswächter des Radikalismus war stärker als sie.

»Nun haben sie dich wieder an der Arbeit verhindert,« sagte mein Mann ärgerlich.

»Es ist vielleicht für mich das beste,« meinte ich. »Zuviel Zweifelfragen sind in mir wach geworden. Jahrelang hat das Fieber der Tagesforderungen sie immer wieder unterdrückt. Jeder denkende Mensch sollte eigentlich die Möglichkeit haben, sich hie und da von der Welt zurückziehen zu können, um zu sich selbst zu kommen. Trappistenklöster für Ungläubige, – das wäre eine erlösende Einrichtung.«

»Möchtest du den Schleier nehmen?!« fragte er, – etwas wie Besorgnis sprach sich in seiner Frage aus.

»Für ein paar Monate, ja!« entgegnete ich. »Um als ein starkes und frohes Weltkind zurückzukehren.«

Aber wenn ich ihn ansah, schämte ich mich, solche Wünsche zu haben. Er war abgespannt und müde. Er bedurfte mehr als ich einer Zeit der Ruhe. So wenig er von sich selber sprach, ich erfuhr doch, daß das Mißlingen sich mit grausamer Hartnäckigkeit an seine Fersen heftete.

Die Sorgen, die er hatte von unserer Türe fernhalten wollen, krochen durch die Fenster herein; aber wenn ich sah, wie er ruhig blieb, wie neue Hindernisse nur immer neue Widerstände in ihm [513] entwickelten, dann überkam mich das Bedürfnis, mich an ihn zu schmiegen, ganz dicht, geschlossenen Auges, voll tiefen Vertrauens ...

Im Herbst begann ich meine Vortragsreisen wieder. Ich mußte Geld verdienen. Und was dies Publikum verlangte: ein wenig Anregung, ein wenig Sensation, war ich fähig zu geben. Es wurde mir diesmal leichter als sonst. Viele Menschen kreuzten meinen Weg, und was mir bei den Proletariern begegnet war, das fand ich in anderer Form wieder: wer nicht im Genußleben ertrank oder im Kampf ums Dasein zerrieben wurde, den beherrschte ein Gefühl brennender Unzufriedenheit, ein unbestimmtes Suchen.

Es war die Zeit, wo Fürst Bülow, in der Hoffnung auf diese Weise die Steuerforderungen der Regierung durchzusetzen, die unnatürliche Verbindung zwischen Liberalen und Konservativen herbeigeführt hatte. Wer noch vom echten Liberalismus einen Blutstropfen in sich fühlte, mußte sich dieser Paarung schämen.

Die besten Elemente des Bürgertums waren politisch obdachlos. Ihr steuerloses Schiff näherte sich unwillkürlich wieder der Flut des Sozialismus.

»Den Kulturwert der Arbeiterbewegung erkennt wohl jeder von uns an,« sagte mir ein junger Gelehrter in einer kleinen Universitätsstadt. »Und daß ihr ökonomisches Streben zugleich ein sittliches ist, wird kein objektiv Denkender bestreiten. Sie ist im Kampf gegen die Reaktion auch die Hoffnung derer, die nur zusehen müssen.«

Der Kreis der modernen Snobisten, die aus der Erkenntnis der Notwendigkeit sauberer Wäsche und reiner Nägel eine Weltanschauung konstruiert und Rombergs Ausspruch, daß Bildung und Politik unvereinbare Begriffe wären, zu dem ihren gemacht hatten, schrumpfte sichtlich zusammen.

Und auch auf anderen Gebieten geistiger Interessen wuchs die Innerlichkeit, der Ernst. Aus einer Spielerei müßiger [514] Stunden wurde die Kunst zu einer Angelegenheit persönlichen Lebens, – eine Kunst, die von den Göttern und Madonnen zur Erde herabgestiegen war, die den charakteristischen Stempel innerer Notwendigkeit allem aufprägte, – vom geringfügigsten Gebrauchsgegenstand bis zum Hamburger Bismarckdenkmal. Aus einer Tradition, deren man sich nur an jedem Feiertag erinnerte, wurde die Religion zu einer die Gemüter erregenden Bewegung; daneben drängten pädagogische und sexuelle Probleme sich mehr und mehr in den Vordergrund, und neben den alten Werten der Schule, der Ehe, der Familie, erschienen wie aus Flammen gebildet riesengroße Fragezeichen.

Als eine reaktionäre Masse wurde die Bourgeoisie nach altem Rezept von der Partei bezeichn t. Die Wirklichkeit strafte sie Lügen. Was ich sah, war wie ein Strom, dessen Wassermassen der alten Dämme zu spotten schienen und sich nun wahllos, ziellos ausbreiteten. Es fehlte nur das neue Bett, um ihre große Kraft zu vereinen und nutzbar zu machen.

Ich fühlte, wie ich froh wurde angesichts der neuen Erkenntnis, wie meine Hoffnung ihre Flügel regte und Überzeugungen, die im Sturm der Zweifel geschwankt hatten, nur noch tiefere Wurzeln schlugen.

Aber es war, als stünde unser Leben unter einem bösen Zauber: Sahen junge Triebe der Freude mit einem hellen Frühlingslächeln aus dem Erdboden hervor, so prasselten Hagelkörner vom Himmel und schlugen sie grausam nieder.

Mitten in einer Vortragsreise versagte meine Stimme völlig. Was die Ärzte schon lange vorausgesagt hatten, geschah: von einer Tätigkeit wie der bisherigen konnte keine Rede sein.


Was nun? Ich saß vor meinem Schreibtisch, – einem ganz alten aus hellem Birnbaumholz mit schwarzen Säulchen, der früher irgendwo in einem Winkel gestanden hatte, – und lehnte mich müde in den tiefen Stuhl zurück. Großmutters [515] Stuhl! Mir war, als sähe ich sie vor mir: das schmale, dunkle Gesicht mit den großen Augen, und einem Lächeln um die feinen Lippen, das über alles Erdenleid zu triumphieren schien. Viel, viel zu früh hatte ich sie verloren! Plötzlich fielen mir die Papiere ein, die ich von ihr besaß: Briefe, Tagebuchnotizen, Stammbücher. Sie hatte sie mir hinterlassen, mir allein. Als ob sie mir sich selbst habe schenken wollen. Ich suchte sie hervor und las und las. Aus den vergilbten Blättern duftete der Frühling berauschend, und die Sonne schien bis tief hinein in das winterstarre Herz, und aus schweren dunkeln Wolken strömte warmer Regen, segenspendender. Und eine weiche Hand streichelte mich, als wäre auch ich krank, sehr krank.

Ihr Leben war voll stiller Kämpfe gewesen und aus einem jeden war sie stärker hervorgegangen. Es hatte ihr den Geliebten ihrer Jugend, hatte ihr Freunde und Kinder geraubt, und ihr Herz war bei jedem Verlust nur reicher geworden an Kraft und Liebe. Dann war sie einsam zurückgeblieben, zwischen lauter Fremden, und war doch nicht bitter geworden, und verstand auch den Fernsten und den Ärmsten. Nur eins überwand sie nie: das unverschuldete Elend in der Welt –.

Ich ging jeder Regung ihrer Seele, jeder Spur ihres Daseins nach. Dabei entdeckte ich ein Gewebe feiner Fäden, das sich von ihr bis zu mir herüberspann, eine ununterbrochene Folge von Ursache und Wirkung, eine eherne Gesetzmäßigkeit.

Nun schrieb ich das Buch von ihr, weil ich es schreiben mußte. Von früh bis spät arbeitete ich. Es war dabei sehr still um mich und in mir. Nur wenn ein Brief von meinem Kinde kam, – einer jener kurzen, frohen, lebensprühenden Zeichen seiner Jugendkraft, – nahmen meine Gedanken eine andere Richtung an. Aber sie trieben mir nicht mehr die Tränen in die Augen: denn mein Sohn lebte, mein Sohn blieb mir nah, auch wenn er fern war. Meiner Großmutter Kinder waren ihr fern gewesen, wenn sie sie mit Händen hatte greifen, mit Augen hatte [516] sehen können. Und auch daran war sie nicht zugrunde gegangen. Sie hatte standgehalten.

Ich schrieb wie im Fieber. Die Arbeit war wie eine Wünschelrute. Sie schloß in meinem Innern lauter verschüttete Quellen auf.

Von dem glühenden Abendhimmel der klassischen Periode Weimars war der Großmutter Jugend umstrahlt gewesen; die geistigen Heroen des neunzehnten Jahrhunderts hatten auf ihren Lebensweg breite Schatten geworfen. Je deutlicher mir der geistige Werdegang der Vergangenheit entgegentrat, zu desto klareren Bildern schoben sich die scheinbar wirr durcheinanderlaufenden Zeichen der Gegenwart zusammen. Unter dem Gesetz dieses großen Entwicklungsprozesses stand auch ihr Leben; das gab ihm seine Bedeutung, so eng, so still es an sich auch gewesen war.

Mein Buch erschien. Und plötzlich schien die Großmutter nicht nur für mich lebendig geworden. Sie stand da, mitten in der Welt und redete mit den Menschen. Selbst aus den verstimmten Instrumenten der Seelen lockte sie wie einst Melodien hervor. Viele kamen und dankten mir, als ob ich sie geschaffen hätte!

Nur in der Parteipresse gab es Leute, die mich beschimpften; es war in dem Buch auch von Fürsten und Aristokraten die Rede, die keine Schufte waren. Als ich es las und mein Herz dabei nicht einmal schneller klopfte, erschrak ich: Sollte ich so stumpf geworden sein? Oder stand ich den alten Genossen so fern? Erst allmählich fing ich an, mich selbst zu verstehen.

»Geht es dir so nahe, daß du nicht darüber zu sprechen vermagst?« fragte mich mein Mann.

»Es ärgert mich nicht einmal,« antwortete ich.

Sein Gesicht leuchtete auf: »So stehst du endlich über den Dingen und wertest die Menschen, wie sie es verdienen.«

»Du verstehst mich nicht ganz,« wandte ich ein. »Nicht nur weil ich weiß, daß sie mir in Wahrheit nichts anhaben können, [517] gräme ich mich nicht mehr über Urteile wie diese, sondern weil ich sie verstehe –.«

Er sah mich ungläubig lächelnd an.

»Ja, ich verstehe sie,« wiederholte ich. »Uns trennt ein unüberbrückbarer Abgrund: der der inneren Kultur. Wie die Genossinnen sich ständig über mein Äußeres ärgerten, – weil ich eben anders war als sie, – so muß der Durchschnitt der Genossen an meinem Wesen Anstoß nehmen.«

»Hm –,« machte mein Mann, »das klingt –«

»Sehr hochmütig,« vollendete ich. »Ganz gewiß! Und doch ist es weit von jedem Hochmut entfernt. Was ich wurde, bin ich anderen schuldig: Nicht nur meinen Vorfahren, sondern auch den vielen Tausenden, die deren gesicherte Existenz, deren geistige Entwicklung durch ihr sklavisches Arbeitsleben erst möglich machten.«

»Folgerst du nun aus deiner Behauptung, daß Menschen wie du sich von der Partei fernhalten müßten? Daß also der Satz: ›Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein‹ im Sinne der radikalsten Genossen, die heute jeden Überläufer zurückweisen möchten, aufgefaßt werden darf?« fragte Heinrich interessiert.

»Damit würde ich mich selbst negieren,« rief ich lebhaft. »Ich folgere zunächst etwas rein Persönliches: daß ich den Genossen unrecht tat, wenn ich ihnen ihre Feindseligkeit zum Vorwurf machte; daß es himmelblauer, allen realen Erfahrungen spottender Idealismus war, wenn ich von ihnen Anerkennung, Verständnis, Anteilnahme erwartete. Sind sie uns denn in ihrer Masse persönlich anziehend? Stören uns nicht schon eine Menge bloßer Äußerlichkeiten? Verstehen wir sie denn so gut?«

»Du vergißt, wie mir scheint,« warf Heinrich ein, »daß eine Reihe Akademiker ganz im Proletariat aufging –«

»Ich glaube es nicht, so demagogisch sie sich auch gebärden mögen, um den Anschein zu erwecken, es wäre so,« entgegnete [518] ich. »Wenn ihre Kultur nicht nur Tünche ist, so rächt sich ihre Heuchelei in stillen Stunden bitter an ihnen. Weißt du –,« fügte ich langsam hinzu, »sobald ich mir Wanda Orbins früh gealterte, durchfurchte Züge vergegenwärtige, bin ich gewiß, daß sie empfindlich darunter leidet –.«

Heinrich runzelte die Stirn: »Du gehst denn doch ein wenig weit in deinem Mitgefühl. Willst du vielleicht auch ihr Verhalten gegen dich beschönigen?«

»Beschönigen – nein; erklären – ja! Sie muß herrschen, um die Preisgabe der inneren Freiheit ertragen zu können. Infolgedessen beseitigt sie jeden, der ihr im Wege steht, – ganz abgesehen davon, daß ich ihrem fanatischen Radikalismus als Schädling erscheinen mußte!«

»Das Endresultat deiner Erwägungen,« sagte mein Mann mit einem leisen Spott im Ton der Stimme, »ist demnach ein erhaben christliches: Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen –.«

Ich hob abwehrend beide Hände. »Nein, nein, nein!« rief ich aus und stand auf, um mit raschen Schritten im Takt meines Herzschlages auf und ab zu gehen. »Vom Christentum bin ich weiter entfernt denn je. Die tief eingewurzelte christliche Auffassungsweise ist es ja, die uns zu so falscher Stellungnahme getrieben hat. Da ist zunächst die christliche Idee der Selbstaufopferung. Keiner von uns Überläufern, mich selbst eingeschlossen, hat sich nicht zuweilen mit einer Art pfäffischer Selbstzufriedenheit an seinem eigenen Opfermut berauscht, hat sich nicht innerlich vorgerechnet, was er alles um der Sache willen aufgab, hat sich nicht das Leben in dem Gefühl verbittert, daß die Genossen dieses Opfer nicht zu würdigen verstehen. Wenn ich schon als Kind außerstande war, den Opfertod Christi als solchen zu empfinden, – nicht nur, weil er als Gottessohn die Gewißheit ewigen Lebens besaß, sondern weil es mir nicht so heldenhaft erschien, in der Ekstase des Glaubens für die Erlösung der [519] ganzen Menschheit zu sterben, – so weiß ich jetzt, daß unser Opfer gar kein Opfer ist, sondern im Gegenteil Selbstbehauptung. Es wäre ein Opfer gewesen, – und eine Sünde wider den Geist wie jedes ›Opfer‹, – wenn ich mich nicht zum Sozialismus bekannt hätte. Seiner Überzeugung nicht folgen, die Stimmen seines Innern nicht hören wollen, – das allein sind Opferungen; die sie bringen, sind arme Lebensschwache. Auch ich habe mich solcher Sünden schuldig gemacht: als ich mich einmal Wanda Orbin unterwarf, als ich Forderungen meines Geistes und Herzens zum Schweigen brachte.«

»Auch des Herzens?« unterbrach mich mein Mann.

»Weißt du nicht mehr, – damals, – als meine Sehn sucht nach dir rief – und ich sie unterdrückte!«

Er nickte mit gesenktem Kopf. »Ich habe mir schweren Schaden getan,« bekannte ich, als spräche ich jetzt nur mit mir selber, »die Liebe ist eine Quelle der Kraft. Daß so viele Frauen so klein sind und so armselig, liegt wohl nur daran, daß sie sich selbst verurteilen, daneben zu stehen, während die anderen die freien Glieder in ihrem brausenden Strome baden.«

Heinrich sah auf. Sein Blick forschte in meinen Zügen. »Hast du – noch andere Opfer gebracht? Herzensopfer – meine ich,« fragte er langsam. Ich preßte die Handflächen krampfhaft aneinander.

»Mein Kind –,« kam es mühsam über meine Lippen.

Wir schwiegen beide. Ich mußte mir ein paarmal mit der Hand über die Stirne streichen; mit schweren, grauen Schwingen strichen die Vögel meiner Schmerzen mir um das Haupt.

»Ich habe dich aus deinem Gedankengang gerissen, – verzeih!« knüpfte Heinrich das Gespräch nach einer langen Pause wieder an. »Von der christlichen Idee der Selbstaufopferung gingst du aus –«

»Mit ihr haben wir nur immer uns selbst irregeführt,« fuhr ich fort, »aber mit den anderen führen wir die Massen irre: [520] mit der Gleichheit aller im Sinne gleichen Wertes und gleicher Entwicklungsfähigkeit, mit der Brüderlichkeit im Sinne gegenseitigen Verständnisses. Als ob die Natur, die jeden Grashalm vom anderen unterschied, den Menschen nicht eine noch reichere Mannigfaltigkeit ermöglichen sollte; – als ob wahre Brüderlichkeit nicht immer seltener, dafür aber immer tiefer würde, je mehr wir uns entwickeln! Natürliche Schranken respektieren, statt sie niederzureißen, – Distanzen anerkennen, statt sie mit Phrasen zu überbrücken, – kurz, im Sinne der Entwicklung handeln, die stets vom Einförmigen zum Vielfachen schreitet, – das wäre unsere Aufgabe! Statt dessen ziehen wir unter der Maske der Brüderlichkeit den Dünkel groß, rotten die Ehrfurcht vor den Heroen des Geistes aus, so daß schließlich jeder Hans Narr einen Goethe Bruder nennt. Von dem Dreigestirn der Forderungen, das die Revolution vom Christentum übernahm und der Sozialismus von beiden, wird nur eins übrig bleiben: die Freiheit!«

Es wurde wieder sekundenlang still zwischen uns. »Vielleicht begegnen wir einander allmählich in unseren Gedankengängen und könnten dann wenigstens noch zu jener seltenen Brüderlichkeit gelangen –,« sagte Heinrich schließlich.

Mit einer raschen Bewegung näherte ich mich ihm und legte den Arm um seinen Hals. Der Klang seiner Stimme tat mir zu weh. Er löste sich sanft aus der Umschlingung. »Nicht so, Alix –,« sagte er leise; »weißt du noch, wie du einmal zu mir sagtest: der Stunde sollten wir warten, der wir gehorchen müssen?! – Ich fürchte, sie ist noch fern –!« Und in ruhigem Gesprächston fuhr er fort: »Du wirst dich darüber in keiner Täuschung befinden: Alles, was du sagtest, ist für die heutige Sozialdemokratie Ketzerei.« Ich nickte.

»Noch kennt sie niemand als du. Aber sollten die losen Gedanken sich zur Kette zusammenschieben, so werde ich den Schatz nicht in meine Truhe legen.«

[521] »Auch wenn sie dich bezichtigen, falsches Gold zu fabrizieren?!«

Ich warf den Kopf zurück. Ein heißes Gefühl der Kampflust strömte mir durch die Adern und bewies mir, daß ich lebte. »Auch dann!«


Das Erbe meiner Großmutter befreite mich von einem gut Teil äußerer Sorgen. Und jetzt erst, da die Not, dieser Sklavenhalter, nicht mehr hinter mir stand, fühlte ich alle Striemen, mit denen ihre Peitschenschläge meinen Körper gezeichnet hatten. Ich sah die Blässe meiner Wangen, die Falten um meinen Mund, die müden Augen. Und doch wollte ich nicht alt sein, denn noch lag ein Leben vor mir, und ich wollte nicht häßlich sein, denn eine tiefe, tiefe Sehnsucht trieb mir heißes Blut durch die Adern.

Ich ging in ein Sanatorium in die Nähe von Dresden, um gesund zu werden. Unter dem Menschenschwarm aus der alten und neuen Welt, der sich dort ein Stelldichein zu geben schien, traf ich auch einen Bekannten: Hessenstein. Meinen alten Tänzer, einen der glänzendsten Kavaliere der Westfälischen Gesellschaft, hätte ich in dem grauhaarigen Mann mit dem gebeugten Rücken kaum wiedererkannt.

»Merkwürdig,« sagte er nach der ersten Begrüßung, »Sie sind immer noch Alix von Kleve! – Eben las ich Ihr Buch. Daraus erfuhr ich, daß Sie auch innerlich noch Alix von Kleve sind, oder – besser gesagt – daß Sie heimkehrten.«

»Wie meinen Sie das?« fragte ich lächelnd. »Ich brauchte nicht heimzukehren, denn ich war immer bei mir!«

»Auch als Sie noch zu den Singer, Stadthagen, Luxemburg, und wie die Zierden der Partei alle heißen mögen, gehörten?!«

»Ich war und bin Sozialdemokratin, – damit gehöre ich meiner Überzeugung, nicht den Menschen,« antwortete ich merklich kühler werdend.

[522] »Wie, Sie sind nicht aus der Partei ausgetreten und konnten dies schreiben –,« er zog das Buch von der Großmutter aus der Tasche, »– das Werk eines vollendeten Aristokraten –«

»Sie haben einmal andere Ansichten gehabt, Herr von Hessenstein,« unterbrach ich ihn.

»Wer von uns hätte nicht törichten Träumen nachgehangen?!« meinte er.

Wir sahen einander oft, und es tat mir wohl, einem teilnehmenden Menschen von meinem Leben zu erzählen.

An einem kühlen Herbsttag, – dem letzten vor meiner Abreise, wanderten wir auf die Heide hinaus. »Ich liebe sie, sagte Hessenstein, »sie geht mit so stiller Würde dem Winter entgegen, ohne sich durch überflüssige Stürme über die Hoffnungslosigkeit der Situation aufzuregen.«

»Nun weiß ich endlich, warum ich sie nicht liebe,« antwortete ich; »diese Ergebung in das Schicksal wird mir immer fremd sein. Ich würde mich an den Sommer klammern, wenn es Winter werden wollte.«

Er sah mich kopfschüttelnd an: »Nach all Ihren Erfahrungen diese Lebenskraft?! Nachdem all Ihre Opfer nutzlos waren?!«

Ich schwieg betroffen still. Die Frage, ob ich genutzt hatte oder nicht, hatte ich mir selbst nie gestellt. Ich überlegte: all die Reformen, für die ich in hartem Kampf gegen die Genossen eingetreten war, kamen mir jetzt, aus der Vogelperspektive, nicht mehr so welterschütternd vor. Aber immerhin; sie hatten sich durchgesetzt. Die Dienstbotenbewegung war im Gang, die Mutterschaftsversicherung war zur Forderung der Partei geworden; die Haushaltungsgenossenschaft stand wenigstens auf dem Diskussionsprogramm; selbst jene Zentralstelle der Arbeiterinnenbewegung, deren Forderung mir fast den Hals gekostet hatte, war vor ein paar Jahren geschaffen worden und funktionierte vortrefflich. Und wie viele mochte ich dem Sozialismus gewonnen haben? Ich sah wieder glänzende Augen auf [523] mich gerichtet, fühlte den Druck schwieliger Hände, hörte den Siegesjubel mich umbrausen –.

»Nein,« sagte ich hell und laut, »meine Arbeit ist nicht nutzlos gewesen! Es gibt kein Wort, das nicht die Luft in Schwingung versetzt, keinen Gedanken, der sich nicht weiterpflanzt! – Und daß ich in der Partei aushalte?! Meinen Sie denn, es würde an meiner Überzeugung irgend etwas geändert werden, wenn ich ihr nicht offiziell angehörte, oder wenn sie, – was ich nicht für unmöglich halte, – mich noch einmal gehen hieße? Gewiß, ich zweifle an der Richtigkeit mancher ihrer Programmforderungen, ich halte ihre Taktik sehr oft für falsch, ich sehe, daß sie von hundert Schönheitsfehlern behaftet ist, – aber all das vermag die Hauptsache nicht zu erschüttern. Der Sozialismus ist das einzige Mittel, um die Menschheit aus dem Zustand der Barbarei auf die erste Stufe der Kultur zu erheben –«

Er legte beschwichtigend seine schmale, blaugeäderte Hand auf die meine. »Sie sind in keiner Volksversammlung,« sagte er; »sie brauchen nicht so starke Farben aufzutragen –«

»Ich trage sie nicht auf. Ich spreche in ruhigster Überlegung,« fuhr ich fort. »Oder ist es etwa keine Barbarei, daß die überwiegende Masse der Menschheit, daß Millionen, viele Millionen, von Kindheit an bis zum Greisenalter zu härtestem Frondienst verurteilt sind, daß sie von dem einzigen Sinn des Lebens, der Entfaltung der Persönlichkeit zur höchsten Potenz ihrer Leistungs- und Genußkraft, durch den Zufall der Geburt und des Besitzes ausgeschlossen sind?! Die Befreiung des Menschen von den blinden Gesetzen des Schicksals, die vollkommene Unterjochung der Materie unter den Geist, – das ist uns das Ziel; einer fernen Zukunft aber wird es zweifellos erst als der Anfang der Menschheitsentwicklung erscheinen.«

Mein Begleiter blieb stumm. Erst als wir droben von der Heide in den herbstbunten Wald schritten, sprach er wieder. »Ich bewundere Ihren Glauben. Sollte wirklich die Vergesellschaftung [524] der Produktionsmittel solchem Ziel entgegenführen?! Dann wäre es allerdings sträflich, sich ihrer Durchsetzung entgegenzustemmen!«

»Ich sehe zunächst kein anderes,« antwortete ich. »Freilich: ein aktuelles Problem ist sie nicht. Aber so etwas wie eine regulative Idee. Im übrigen: ich schwöre ja nicht darauf. Ich kann mir vorstellen, daß sie einmal durch andere Forderungen ergänzt werden müßte. Aber das Ziel ist für mich unverrückbar.«

Wir näherten uns wieder dem Sanatorium. »Sie gehen nach Java zurück?« fragte ich, ehe wir uns trennten. »Nein,« entgegnete er. »Dreizehn Jahre habe ich da unten gelebt, – eine böse Zahl! – Ich bin dabei ein reicher Mann geworden. Aber kein glücklicher. Jetzt will ich –,« er schürzte in bitterer Selbstverhöhnung die Lippen, »– mein Leben als Europäer genießen. Sie sehen: Ihre ersehnte Beherrschung der Materie ist keine zuverlässige Grundlage des Glücks.«

»Glücklichsein – im Sinne der Befriedigung unserer Triebe ist doch nur ein Herdenideal. Wessen Leben es ausfüllt, der ist entweder ein Schwächling oder ein Greis –.«

Er drückte mir die Hand. »Sie sind eine merkwürdige Frau. Vielleicht komme ich nach Berlin und lerne auf meine alten Tage noch leben. Nur eins geben Sie mir bitte jetzt schon auf den Weg: Sind Sie so kalt, daß Sie das Glück ganz auszuschalten vermögen, und – wenn nicht – was verstehen Sie darunter?«

Ich atmete tief auf. Ich sah mich an einem Tage wie diesem mit dem Geliebten im Wald, – die Sehnsucht packte mich, so heiß, so stark, daß ich erschauerte. Aber dem fremden Mann, der erwartungsvoll vor mir stand, hätte ich nicht sagen können, was mich bewegte. »Kampf, – Kraftentfaltung, – Widerstände beseitigen, – sie aufsuchen, wenn sie sich nicht von selbst ergeben, – darin kulminiert das Lebensgefühl der Starken,« sagte ich.

Er verabschiedete sich. Ich sah ihn im Hause verschwinden, mit gebeugtem Rücken, sehr müde.


[525] Auf der Heimfahrt klopfte mir das Herz unruhiger als sonst. Ich dachte an Heinrich. Seine Lebensauffassung war's, der ich Worte geliehen, an der ich mich selbst zuerst aufgerichtet hatte, und die nun wie ein Fluidum in meine Seele geströmt war. Ein Gefühl tiefer Zusammengehörigkeit überkam mich, das ich noch nie empfunden hatte, – am wenigsten dann, als wir, an den gleichen Pflug gespannt, unzertrennlich waren. Vielleicht, daß Freunde so miteinander leben und arbeiten können; – Liebende nicht, sicher nicht! Aber sind es nicht die besten Ehen, die zur Freundschaft werden? Oder ist das nicht auch eine jener alle Natürlichkeit knechtenden Anschauungen, die wir armen Menschen uns von der Moral des Christentums einpauken ließen, einer Moral, für die die Sinne und die Sünde identisch waren, der ihre Überwindung als der Tugend Krone erschien?! Ehe ist der Bund zweier Liebenden; wo sie zur bloßen Freundschaft wurde, sind die Sinne tot oder äugen sehnsüchtig nach anderer Befriedigung.

Die Ehe von einst beruhte auf der Autorität des Mannes gegenüber der Frau, der Autorität der Eltern gegenüber den Kindern, – ein Staat im kleinen mit Herren und Knechten. Jetzt aber stehen Individualitäten einander gegenüber. Das Leben von einst läßt sich ihnen wohl noch aufzwingen, aber sie zerbrechen daran. Zur Herdflamme wird die Liebe nicht mehr. Aber zum lodernden Opferbrand an den hohen Festen des Lebens!

Für die Liebe ist der sicherste Tod die Unfreiheit. Sie wächst mit dem Pathos der Distanz.

Wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Male liebt, wagte ich kaum mir selbst zu gestehen, was ich fühlte. Als mein Mann mich am Bahnhofe empfing und mir die Hand küßte, errötete ich. Und abends ertappte ich mich dabei, wie ich im Spiegel forschend meine Züge musterte und die Haare anders zu stecken versuchte. – Er war jetzt immer so förmlich, so ritterlich zu mir! [526] Ob ich am Ende zu alt war: – Zweiundvierzig Jahre! In Paris hatte ich Frauen gesehen, die älter waren als ich und doch noch schön. Freilich: das Leben hatte mich gezeichnet! – Ganz heimlich – ich hätte mich sonst vor ihm zu sehr geschämt! – fing ich an, mich mehr zu pflegen als sonst, die Farbe meiner Kleider, die Form meiner Hüte sorgfältiger auszuwählen. Ich verschwendete fast. Ganz, ganz in der Ferne sah ich einen neuen Sommer voll Glanz und Glut. Noch lag er im Zauberschlaf, tief unten in der winterstarren Erde. Aber meine Sehnsucht trog mich nicht: er mußte kommen.

[527]
19. Kapitel
Neunzehntes Kapitel

In Eis gepanzert, einen langen Mantel von Schnee um die Schultern, trat das neue Jahr seine Herrschaft an. Gleichgültig sahen seine kalten Augen über die Menge hinweg, die jammernd die Arme zu seinem Thron erhob.

Die Not war groß. Brot und Fleisch waren teuer, und für die Menschenkraft, die sich billig anbot, gab es keine Arbeit. Der Winter trieb die Arbeitslosen in Scharen in die Wärmehallen; vom frühen Nachmittag an drängten sich die Obdachsuchenden vor den Asylen. Wer in ihre Nähe kam, den trafen Blicke, in denen der Haß gegen die Herrschenden, der Groll mit dem Schicksal flammte. Das waren keine Almosen heischenden Bettler mehr, keine in ein gottgewolltes Geschick Ergebenen.

Das Proletariat füllte den ganzen Winter über die Säle, um gegen eine Politik zu protestieren, die zwar mit den Insignien des Konstitutionalismus prunkte, aber nur ein Werkzeug des Absolutismus war. Es wußte von den Millionen neuer Steuern, die drohten, es hatte erfahren, daß es gegen die geeinte Reaktion machtlos war, daß die eiserne Hand Preußens auf ihm ruhte, wenn es sich aufrichten wollte. Es erkannte, daß es Mauern und Gräben zu bewältigen galt, ehe die feste Burg, der Staat, ihm zufiele. Junker und Pfaffen hielten sie besetzt, bereit nur über ihre Leichen den Weg frei zu geben.

Der erste Akt des Dramas begann.


Vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin eine dichtgedrängte Menschenmasse. Polizisten zu Fuß und zu Pferd, den Revolver im gelben Gürtel, halten die Zufahrt frei. Und hinter ihnen stehen Tausende, Männer, Frauen, Kinder. Sie warten. [528] Sie besetzen die Auffahrt des gegenüberliegenden Kunstgewerbemuseums. Sie halten Umschau von oben. Und plötzlich biegt in scharfem Trabe eine Karosse um die Ecke der Prinz Albrechtstraße. »Der Reichskanzler!« gellt es laut. Die Menge flutet ihm entgegen, ihm nach, eine einzige dunkle Welle. Und brausend tönt es um ihn: »Hoch das freie Wahlrecht!« Dann wieder Stille. Sie wartet weiter.

Und auf der Rednertribüne des Abgeordnetenhauses erscheint Fürst Bülow zur Beantwortung des freisinnigen Antrags: Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts mit geheimer Stimmabgabe für den preußischen Landtag. Mit untergeschlagenen Armen, ruhig und selbstbewußt, den harten Ausdruck geborener Herrscher auf den Zügen, sitzt die Mehrheit vor ihm. Sie weiß, was sie zu erwarten hat; dieser Mann ist ein Erwählter des Kaisers, nicht des Volkes, und der Kaiser ist der Ihre.

»... Für die Königliche Staatsregierung steht es nach wie vor fest, daß die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen dem Staatswohl nicht entspricht und daher abzulehnen ist. Auch kann die Königliche Staatsregierung die Ersetzung der öffentlichen Stimmabgabe durch die geheime nicht in Aussicht stellen.«

Scharf, ohne die liebenswürdigen Floskeln des Weltmannes, ohne das verbindliche Lächeln des Diplomaten klingt die Erklärung durch den Saal.

Das Volk draußen wartet. Da nahen neue Schutzmannspatrouillen; hart schlägt ihr Tritt auf den Asphaltboden auf, Pferdehufe klappern dazwischen, – die Begleitung zum Text des Kanzlerliedes.

Das Volk zieht sich zurück.


Zwei Tage später. Ein heller Wintersonntag. Mittags Unter den Linden das gleiche Bild wie immer: flanierende Damen und Herren, Offiziere und Studenten, hinter den Spiegelscheiben der Cafés neugierige Sonntagsbummler.

[529] Wir gehen langsam dem Schloßplatz entgegen. Schutzleute erscheinen. Aus allen Nebenstraßen blitzen ihre Helmspitzen auf. Im Zeughaus, vor dem Museum, am Dom und rings um das Schloß – lauter Pickelhauben. Mit klingendem Spiel zieht die Wache auf, bunt und glänzend, eine Augenweide für alle Farbenfrohen. An der Kreuzung der Friedrichstraße stockt der Zug der Soldaten, ein anderer überschreitet seinen Weg, ein einförmig dunkler: Arbeiter, die aus dem Innern der Stadt kommen, wo heute die Wahlrechtsversammlungen tagen. Schweigend zieht er vorüber. Es ist, als ob er auf alle Gesichter seinen Schatten geworfen habe.

Da – Signaltöne aus der Hupe. Die Spaziergänger stutzen; drei gelbe Automobile rasen vorbei, dem Schlosse zu. Der Kaiser. Kein Hurra, kein Gruß, alles bleibt still, – wie benommen.

Und plötzlich, als hätte die Erde sie ausgespien, wimmelt es auf der breiten Straße von Menschen; im selben Augenblick bildet sich vor dem Schloß eine Mauer von Polizistenleibern. Die Menge mißt ihre Gegner mit dem spöttischen Blick der Überlegenheit: Wenn wir wollten –! Aber sie wollen nicht. Sie haben stärkere Mauern zu stürmen.

Aus der Ferne klingen Töne, wie Donnerrollen. Sie schwellen an. Sie begleiten den gleichmäßigen Tritt Tausender: – soweit das Auge die Friedrichstraße hinunter gen Süden reicht – ein Meer von Menschen. Es überflutet die Linden. Rechts und links weichen die Spaziergänger zurück. Noch nie hat die Allee der Fürstentriumphe solch einen Aufzug gesehen! Eine Schwadron Berittener sprengt den Demonstranten entgegen, mitten in ihren Zug hinein. Ein Aufkreischen ängstlicher Weiberstimmen, – dann gewitterschwangere Stille.

Einsam liegt das Königsschloß. Leer gefegt ist der weite Raum ringsum. Schwer hängt die Kaiserstandarte in der unbewegten Luft. Hier hält das Leben seinen Atem an.

Aber ringsum, von Norden und Osten, von Süden und Westen strömen sie jetzt herbei in hellen Scharen. Sie singen. Niemand [530] hat den Taktstock geschwungen, sie sehen einander nicht einmal, und doch ist es dasselbe Lied, das aus den Kehlen aller dringt, das die Bastille gestürmt hat und die Barrikaden: die Marseillaise. Es schlägt gegen die Mauern der Kirchen und der Paläste, – und ihr Echo muß es wiedergeben. Es braust sieghaft hinweg über die Ketten der Hüter der Ordnung. Hoch über dem Königsschloß fluten seine Töne zusammen, – es klingt wir das Klirren scharfer Klingen, – wie Wotans gespenstisches Heer.

Und nun hüllt der Abend die Stadt in seinen dunkeln Mantel. Der Gesang verstummt. Das Pferdegetrappel der Polizisten, das Geschrei der Verfolgten tönt nur noch von weit her.

Mir aber ist, als sähe ich in einen unermeßlichen Saal. An seinen Wänden prangen die Bilder verflossener Jahrhunderte: die Geschichten von den Königen und den Kriegen; Marmorstatuen stehen ringsum: Feldherrn und Fürsten, Priester und Propheten. In der Mitte aber auf goldenem Stuhl thront Er. Um das Haupt den Krönungsreif wie einen Heiligenschein; die Finger der Linken um den Reichsapfel gespannt, – die Weltenkugel; in der rechten das Zepter, – eine Peitsche, um Nacken zu beugen, Widerspenstige zu zähmen; auf der Brust ein großes leuchtendes Kreuz. Ich staune ihn an: Alles Vergangene lebt in ihm. Alles, was uns tot ist, umgibt ihn. Gegen die Nacht, die nur sein Glanz erhellt, erscheint das Licht des Tages grau und kalt.

Er ist kein einzelner. Er ist die Welt, die wir überwinden müssen.


Eine kleine Gruppe von Parteigenossen fand sich in einem Restaurant der Friedrichstadt in der Nacht nach den Wahldemonstrationen zufällig zusammen. Die Erregung, die in allen noch nachzitterte, verscheuchte jede Müdigkeit. Große Ereignisse lösen die Lippen. Auch die Kühlen waren warm geworden. Man diskutierte lebhaft: über die heutige Eroberung [531] der Straße, über die künftige Entwicklung der Bewegung, über die Möglichkeit, in diesem Augenblick, wo es sich nicht um die Aufrichtung des Zukunftsstaates, sondern um die Niederwerfung der Junkerherrschaft handelte, das liberale Bürgertum und alle Schmollenden, die unsicher abseits standen, mobil zu machen. »Ein Riesenkampf gegen die Reaktion, – das ist's, was die stagnierenden Gewässer in Fluß bringen würde!« sagte einer.

»Er würde die Geister scheiden wie nichts zuvor –,« ergänzte enthusiastisch ein anderer.

»Sie glauben wirklich, daß das Ziel des allgemeinen Wahlrechts für den preußischen Landtag solch weltbewegende Kräfte entfesseln könnte?« fragte ich. Mein Spott rötete die Gesichter der Begeisterten noch mehr.

»Und gerade Sie waren vor einer Stunde bis zur Stummheit ergriffen!« meinte vorwurfsvoll mein Nachbar.

»Ich bin es noch,« antwortete ich; »mir war, als hätte ich wirklich den Flügelschlag der neuen Zeit gefühlt. Ich fürchte nur, sie rauscht an uns vorüber.«

»Das aber liegt doch an uns!« rief über den Tisch herüber ein junger Literat, der darauf brannte, sich die politischen Sporen zu verdienen. »Wir müssen sie festhalten, wir müssen das Eisen schmieden, solange es warm ist.«

»Womit, wenn ich fragen darf?« –

Die Antworten schwirrten von allen Seiten durcheinander: »Durch die Aussicht auf eine wahrhaft liberal-demokratische Ära,« – »auf wirtschaftliche Reformen großen Stils,« – »Verminderung der Steuern,« – »der Militärlasten,« – »Trennung von Kirche und Staat –«

»Lauter Einzelforderungen, welche die große, heute noch indifferente Masse kaum begeistern, die heterogene Elemente nicht zusammenschweißen werden, die, vor allen Dingen, kein sicher wirkendes Scheidewasser sind,« sagte ich ruhig.

»So nennen Sie es, wenn Sie es wissen!«

[532] Ich sah mich scheu im Kreise um. Sobald ein Gespräch Fragen berührte, die mir sehr nahegingen, überkam mich oft eine gewisse verlegene Unbeholfenheit. »Stünde ich vor einer Volksversammlung, so würde es mir leichter werden als vor all Ihren forschenden, erwartungsvollen und – lächelnden Mienen,« meinte ich.

»So wollen wir streng parlamentarisch verfahren,« sagte mein Nachbar sichtlich belustigt; »wir sind die letzten Gäste, beherrschen also im Moment die Situation. Silentium, meine Herren! Frau Alix Brandt hat das Wort.«

Ich sah zu meinem Mann hinüber. Er nickte mir zu. Ich klammerte meinen Blick an den seinen und erhob mich. Was mir diese Nacht zum erstenmal klar vor Augen gestanden hatte, das sollte ich in Worte fassen. – Mir war die Kehle wie zugeschnürt. Und doch fühlte ich, es mußte sein. Nicht um dieser Tafelrunde willen, – sondern meinetwegen. Der Gedanke zerflattert, wenn er nicht in die Form der Sprache gepreßt wird.

»Mir scheint,« begann ich zögernd, »daß es nicht so sehr darauf ankommt, einzelne praktische Ziele zu setzen. Das haben die Parteien schon längst getan und sind über die Verschiedenheit ihrer Einzelforderungen in Gruppen und Grüppchen auseinander gefallen. Alle großen entscheidenden Weltbewegungen sind voneinem Geist getragen worden –« »Und die materialistische Geschichtsauffassung?!« unterbrach mich ein Genosse.

»Von einem Geist –,« fuhr ich unbeirrt fort, »der sich selbstverständlich erst aus den allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen heraus entwickeln konnte und immer erst dann entstand, wenn der Widerspruch der Gegenwart zur Vergangenheit überall schmerzhaft fühlbar geworden war. Das gilt für das Christentum, – den Mohammedanismus –« »die Revolution,« rief einer dazwischen.

»Nein,« antwortete ich. »Es gibt Zeiten, in denen der Geist der Verneinung, wie ich ihn einmal nennen will, nicht zu reinem, [533] vollem Ausdruck kommt, wo er nur beschränkte Schichten des Volkes ergreift, – wie zur Zeit der Renaissance, der Revolution, – und wo er darum schließlich gezwungen wird, mit dem Geist der Vergangenheit zu paktieren. So baute die Renaissance christliche Kirchen, und die Revolution übernahm die Phraseologie des Christentums. Auch wir versuchen mit jener Geistesfaulheit, die sich scheut, zu Ende zu denken, neuen Wein in alte Schläuche zu gießen. Ich erinnere an die Bemühungen, die Kirche zu modernisieren, an das Bestreben, in der Partei die Ethik Kants für den Sozialismus in Anspruch zu nehmen.«

Hier unterbrach mich mein Nachbar, ein begeisterter Kantianer, und vergaß im Eifer des Widerspruches die von ihm selbst gewollte parlamentarische Ordnung.

»Der kategorische Imperativ, von seiner transzendentalen Herkunft losgelöst, ist tatsächlich der dirigierende Geist, auf den Sie offenbar hinauswollen,« rief er.

»Das bestreite ich. Schon weil er sich von dieser transzendentalen Herkunft nicht loslösen läßt, weil er Geist vom Geist des Christentums ist, weil wir auf Grund unserer Kenntnis der historischen Entwicklung und Umwandlung sittlicher Ideale wissen, daß es ein allgemein gleiches, verpflichtendes Sittengesetz nicht gibt weil nicht einmal zwischen Einzelindividualitäten eine Äquivalenz der Handlungen besteht –«

»Ich höre Alix Brandt, und es ist Friedrich Nietzsche!« spottete jemand. Die anderen lächelten vielsagend.

»Sie haben mir vorgegriffen,« entgegnete ich ruhig. »Ich hätte den Namen des Mannes genannt, der zwar nicht der Erlöser, wohl aber sein Prophet sein kann.«

»Aber, Genossin Brandt, Sie verirren sich,« hörte ich entrüstet rufen; »wie vermögen Sie Ihre sozialdemokratische Gesinnung mit dem Nachbeten Nietzschescher Lehren zu vereinigen?! Denken Sie doch an seine Vergötterung der ›Herrenmenschen‹, an seine Verhöhnung jedes ›Sklavenaufstandes‹!«

[534] »Diesen Einwand mußte ich erwarten. Ich erinnere Sie demgegenüber zunächst nur daran, daß es derselbe Nietzsche war, der anerkannte, daß die einzelne starke Individualität am leichtesten in einer demokratischen Gesellschaft sich erhalten und entwickeln könne. Aber diese Idee ist zwischen uns, wie ich glaube, schon so sehr zum unbestreitbaren Gemeinplatz geworden, daß ich nicht weiter darauf einzugehen brauche. Natürlich gebe ich den Nietzsche preis, der unsere große soziale Bewegung weder kannte, noch kennen wollte. Und ich kann das um so leichter, weil er unbewußt selbst im Flusse dieser Bewegung schwamm, weil er dem Sozialismus das gab, was wir brauchen: eine ethische Grundlage.

Von allen Seiten wurde mir heftig widersprochen, aber jetzt, da ich mir selbst immer klarer wurde, störte mich das nicht mehr.

»Alle seine großen Ideen leben in uns: der Trieb zur Persönlichkeit, die Umwertung aller Werte, das Jasagen zum Leben, der Wille zur Macht. Wir brauchen die blitzenden Waffen aus seiner Rüstkammer nur zu nehmen, – und wir sollten es tun. Mit dem Ziel des größten Glücks der größten Anzahl, – an das ich glaubte wie Sie alle, – schaffen wir eine Gesellschaft behäbiger Kleinbürger ... Und spüren Sie den Geist der Verneinung nicht in allem, was heute lebenskräftig ist und vorwärts will? Kunst und Literatur, Wissenschaft und Politik setzen ihr Nein der Vergangenheit entgegen, die noch Gegenwart sein will. Was ihr Tugend war, – Unterwürfigkeit, Demut, Ergebung in das Schicksal, Ungehorsam gegen sich selbst, wenn der Gehorsam gegen Obere es fordert, – erscheint uns mindestens als Schwäche, wenn nicht als Unrecht. Der Glaube an die gottgewollten Zustände von Armut und Reichtum, von Herrschaft und Dienstbarkeit ist weit über die Kreise der Partei hinaus zerstört. Und mit alledem, das wir unbewußt und bewußt von uns geworfen haben, panzert sich der Riese der Reaktion. Vor neunzehnhundert Jahren unterwarf die Moral des Christentums [535] die heidnische Welt. Vergebens hat die Renaissance und die Revolution sich gegen sie empört, – die Zeit war noch nicht reif. Heute aber ist sie es; der Sozialismus hat ihr den Boden bereitet. Wäre ihre Fahne voll entfaltet, so würden sich vor ihr die Feigen von den Mutigen, die Schwachen von den Starken sondern, und alles würde ihr zuströmen, was jungen Geistes ist, was Zukunft in sich hat. Den Weg zu unserem Ziel finden wir nur, wenn die Idee der ethischen Revolution der Idee der ökonomischen Umwälzung Flügel verleiht ...«

Die Türe ging auf. Ein verschlafener Kellner musterte mißmutig die seßhaften Gäste. Ich erwachte wie aus einem Traum. Die anderen blieben stumm. Ob aus Überraschung, aus Empörung, aus Müdigkeit? »Ich möchte heim,« sagte ich leise zu meinem Mann. Wir gingen allein und schweigsam nach Hause.

Ich hörte danach, daß man mich verspottete: Die Sozialdemokratin und Verkünderin der »Herrenmoral«! Mir schien, als gingen mir die Genossen noch mehr als sonst aus dem Wege. Aber es kränkte mich nicht.


Ein feuchter Märzwind strich durch die Straßen. Die Bäume und Büsche zitterten in seiner Umarmung, denn er flüsterte ihnen vom Frühling die frohe Botschaft zu. Auch um meine Stirne wehte sein weicher Atem. Hatte ich nicht geglaubt, daß ich den Lenz wie alte Leute grüßen würde: versunken in Erinnerungen? –

Ich saß am Fenster und las meines Sohnes Briefe. Seit einiger Zeit schrieb er mir oft: Seiten und Seiten voller Fragen und erregter Geständnisse. Zum erstenmal stand sein junger Geist in offenem Kampf mit der Mehrheit und den Autoritäten. Und er unterwarf sich nicht. Er war mein Kind.

Noch immer hatte ich mich gescheut, Heinrich zu zeigen, was er schrieb. Wir waren früher heftig aneinander geraten, weil ich schon des kleinen Kindes Selbständigkeit respektierte. Und [536] jetzt hatte ich mehr zu fürchten als nur den väterlichen Zorn. Ein Prüfstein würde es sein auch für unsere Beziehungen. Ich liebte meinen Mann. Viel mehr, viel tiefer als zu jener Zeit, da ich mich ihm zuerst verband. Denn damals kannte ich ihn nicht. Aber meine Liebe war zu groß, um Unterwerfung ertragen zu können. Wenn er das Kind nicht verstand, so würde er auch mich nicht verstehen. Wieder aneinander gebunden sein, so daß jeder selbständige Schritt des einen den anderen ins Fleisch schneiden muß; die Blume der Liebe, die nichts als der Persönlichkeit reichste Entfaltung ist, abpflücken, nur damit sie die Brust des anderen schmückt, zu frühem Welken verurteilt, – das vermochte ich nicht mehr –.

Es läutete draußen, lang und heftig. Ich sprang auf, beide Hände auf das wild klopfende Herz gepreßt. Wer lärmte zu früher Morgenstunde so ungeduldig an der Türe? Wer?! Schon sprang sie auf, und ins Zimmer flog es herein wie ein Wirbelwind, und zwei Arme umschlangen mich, und ein glühendes Gesicht mit zwei glänzenden Augen hob sich zu mir empor. »Mein Kind! Mein Kind!« – –

Der Rucksack flog im Bogen von den Schultern. »Davongelaufen bin ich – bei Nacht und Nebel, – ich hielt's nicht länger aus,« sprudelte es hervor, atemlos, triumphierend.

Ich hörte kaum, was er sprach, ich sah nur, daß er da war, wirklich da war!

Ein fester Tritt auf dem Flur weckte mich aus meiner Versunkenheit. »Der Vater!« rief ich angstvoll und legte wie schützend den Arm um meinen Sohn. Der aber riß sich los, lachte mich an und lief mit einem: »Ich fürchte mich nicht!« dem Kommenden entgegen.

Ich stand wie angewurzelt. Ich hörte einen Wortwechsel, dann ein langes, ernstes Gespräch. Frage und Antwort. Hand in Hand kamen sie zu mir ins Zimmer. »Nun werden wir den Schlingel doch wohl behalten müssen,« lächelte mein Mann, »und heute soll für uns drei ein Feiertag sein.«

[537] Wir gingen durch den Wald nach Paulsborn. Die Kiefern standen schwarz gegen den hellen Himmel, und lichtgrün schmiegten sich die Büsche ihnen zu Füßen. Auf dem See tanzten die Sonnenstrahlen. Und weit voraus sprang unser Sohn.

»Weißt du noch?!« sagte Heinrich.

»Ich weiß! Damals schüttelte der Sturm die Bäume. Mich fror, und du schlugst deinen Mantel um mich –.«

»Und habe dich doch nicht schützen können –.«

»Ich danke es dir, denn dadurch wurde ich stark.«

»So stark, daß du allein zu gehen vermagst –,« seine Stimme schwankte dabei. Mich traf's wie blendendes Licht, – ich sah auf dem Wasser nichts mehr als die goldene, schimmernde Sonnenstraße.

»Damals warnte ich dich vor mir,« fuhr er fort.

»Ich aber ließ dich nicht –.«

»Und heute?! –«

»Du siehst: ich gehe auf eigenen Füßen, aber neben dir –.«

Wo die dunkle Allee sich der weiten, sonnenbeglänzten Wiese öffnet, tauchte die schlanke Gestalt unseres Sohnes auf. Er hielt einen Zweig jungen Grüns in der hochgehobenen Hand. Der wehte über ihm wie eine Fahne.


* * *


Und dann kam das Leben wieder und der Alltag, und sein Pfad blieb rauh. Aber ich hatte ihn freiwillig gewählt, und meines Herzens Glut schützte mich vor dem Frost. Er blieb einsam. Aber ich wußte vorher: wer eigene Wege sucht, findet wenig Gefährten. Und über das Donnern der Sturzbäche hinweg flog siegreich hin und her der Gruß der Liebe.

Einmal, als der Föhn mich umheulte und die Steine meine Füße verwundeten, sah ich forschend zurück. Und ich erkannte, daß ich nicht irre gegangen war.

[538]

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TextGrid Repository (2012). Braun, Lily. Autobiographisches. Memoiren einer Sozialistin. Memoiren einer Sozialistin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3E39-7