IX.
Soden, den 16. Mai
Im September 1819, an einem trüben deutschen Bundestage, erwachte ich zu Frankfurt a.M. mit dem Katzenjammer. Ich hatte mich mit guten Kameraden in schlechter Hoffnung berauscht, hatte zuviel getrunken von der verdammt geschwefelten Freiheit und mußte das alles wieder von mir geben. Wer den Katzenjammer nicht kennt, der kennt die Macht der strafenden Götter nicht; es ist die Reue des Magens. Mir war jämmerlich zu Mute. Da beschloß ich, diese Jammerstätte zu verlassen und nach Frankreich zu gehen, wo klügere und mutigere Bürger ihre Rechte besser kennen und verteidigen als wir und wo schelmische Wirte ihnen den blutroten Wein nicht unbemerkt, nicht ungestraft verderben können.
Zu jener Zeit gab ich ein Journal heraus. Es wurde in Offenbach gedruckt, wo die herrlichen Pfeffernüsse gemacht werden. Das Blatt war gut, solange es frei war, und es mundete den Lesern. Da setzte man es unter Zensur, und ich gab es auf. Wenn Regierungen Furcht bekommen, sind sie furchtbar; sie werden übermütig aus Mangel an Mut.
In einem der letzten Blätter meines Journals stand ein Aufsatz, der mir aus dem nördlichen Deutschland zugeschickt worden. Ich erinnere mich nicht genau mehr seines Inhalts und besitze das Blatt nicht mehr; ich erinnere mich nur noch, daß er mit Geist geschrieben war und von den Mitteln sprach, die man anwenden könne und solle, den Fürsten trotz den sie umlagernden Höflingen und Ministern die Wahrheit und die Not und die Wünsche des Volkes zuzuführen. Mein Verleger erzählte mir, ein Bundestaggesandter habe sich von dem bezeichneten Aufsatze mehrere Exemplare holen lassen. Das kümmerte mich wenig; ich rief bloß, als hätte ich den Herren niesen hören: zur Gesundheit!
[797] Als ich auf die Polizei kam und einen Paß nach Paris verlangte, bestellte man mich auf den andern Tag. Als ich den andern Tag wiederkam, bestellte man mich auf morgen. Das dritte Mal wurde ich unter irgendeinem Vorwande wieder abgewiesen. Ich setzte das mit dem Blatte in Verbindung, welches diplomatische Wißbegierde unter ihr Mikroskop gelegt hatte, und ich ward besorgt. Ich bedachte, daß unsere gute Frankfurter Polizei sich nicht eher um Politik bekümmert, als bis es ihr ein Minister oder Ministerchen befiehlt; daß sie dann aber nicht den Eulenspiegel nachahmt, der als ein guter Christ nicht mehr tut, als ihm befohlen ist, sondern daß sie aus Furcht, zu wenig zu tun, mehr tut, als ihr befohlen worden. Auf die neununddreißig Köpfe des deutschen Zerberus blickt sie mit unbeschreiblichem. Grauen. Von der heilsamen Angst, welche eine gute Polizei den Spitzbuben einflößen soll, von dieser Spitzbubenangst hat die Frankfurter Polizei, als ihrem Kriegsmaterial, einen großen Vorrat. Ja, von der Furcht für Österreich allein besitzt sie ein ganzes Zeughaus voll. Sobald dieses befiehlt, vergeht ihr alles Hören und Sehen; sie wirft sich auf den Bauch, ruft Allah! Allah! gelobt sei Gott und Mahomet, sein Prophet! – und gehorcht.
Ich beschloß daher, ohne Paß und so leise als möglich mich aus meiner guten freien Vaterstadt zu schleichen, und ich tat es. Der Paß wurde mir später nachgeschickt; doch habe ich nie erfahren können, aus welchem Grunde er mir einige Tage lang vorenthalten worden. Ich glaube zwar nicht, daß diese Zögerung ein diplomatisches Belieben zur Ursache hatte; doch ist meine damalige Ängstlichkeit noch heute in meinen Augen gerechtfertigt, und ich würde im gleichen Falle auf gleiche Weise handeln. Vor der Revolution sagte ein kluger Franzose: »Wenn man mich beschuldigte, die große Glocke von Notre – Dame gestohlen und sie an meine Uhrkette gehängt zu [798] haben, ich würde vorläufig die Flucht ergreifen. »So schlecht war damals die Kriminaljustiz in Frankreich. Nun, mit dem Stehlen, Rauben und Morden ist es in Deutschland so gefährlich nicht, und ich würde, wenn man mich eines solchen Verbrechens beschudigte, ruhig die Untersuchung abwarten. Nicht aber so bei politischen Vergehen. Käme morgen beim Frühstücke ein Freund zu mir und warnte mich: ich wäre in Verdacht geraten, auf der Frankfurter Börse dreihundert der tapfersten Juden angeworben zu haben, um an deren Spitze am nächsten Ultimo nach Mannheim zu ziehen, die Rheinpfalz zu erobern, eine Republik daraus zu bilden und so den monarchischen Streitigkeiten zwischen Bayern und Baden ein Ende zu machen – ich würde mir nicht die Zeit nehmen, meine Stiefel anzuziehen, sondern in Pantoffeln davonlaufen. Ich möchte nicht sagen, daß die deutschen Justiz – und Verwaltungsbehörden minder einsichtsvoll und gerecht wären als die englischen und französischen; aber sobald es sich um sogenannten Hochverrat handelt, verlieren sie die Besinnung, sie wissen nicht, was sie sehen, was sie hören, noch was sie tun; sie haben dann ihren Gott im Auge und sind unmenschlich. Sie beherrscht eine falsche oder eine überspannte Vorstellung von der Göttlichkeit und doch zugleich wieder von der Sterblichkeit, von der Unverletzlichkeit und zugleich wieder von der Verletzbarkeit einer Regierung. Ein politisches Vergehen ist ihnen auch eine Ketzerei, und die Glaubenswut trübt dann ihre Vernunft. Ja, je ehrlicher die Richter, je mehr sie gewohnt sind, ihre Pflicht streng zu erfüllen, umso gefährlicher werden sie dem Unschuldigen wie dem Schuldigen. Ich erinnere mich, daß ich vor mehreren Jahren mich gegen einen Diplomaten tadelnd ausgesprochen über die Art, wie die preußische Regierung in der Angelegenheit der demagogischen Umtriebe verfahren und wie mancher Unschuldige, unschuldig selbst in dem engen [799] Sinne, wie es die Regierung nahm, durch eine hinschleppende Untersuchung und lange Gefangenschaft so geängstigt und gequält worden, daß dieses ganz einer richterlichen Strafe gleich kam. Der Diplomat antwortete mir mit bewunderungswürdiger Naivetät: Ja, das wären unglückliche Zufälle, die nicht anders anzusehen, als wenn Ziegeln vom Dache fielen und die Vorübergehenden verwundeten. Aber zum Teufel auch! Eine Regierung soll kein Dach sein, und wenn ja ein Dach, eines uns zu schirmen, nicht uns zu verderben. Und sie soll ihre Ziegeln fest machen, daß nicht jeder Windstoß einer Begebenheit, daß nicht der Sturm jeder Leidenschaft sie herabschleudere auf die unten gehenden Bürger. Es ist doch gar zu traurig, wenn man ohne Kopfweh nicht vor einer Regierung vorbeigehen kann!
An einem heitern Oktobertage ging ich über die Sachsenhäuser Brücke, um durch Straßburg nach Paris zu reisen. Der Kriegsrat Reichard gibt es in zwei Sprachen deutlich zu verstehen, einem jungen Menschen, der mit Nutzen reisen wolle, wären folgende Kenntnisse und Übungen ganz unentbehrlich. Nämlich: 1) Naturgeschichte; 2) Mathematik; 3) Mechanik; 4) Geographie; 5) Landwirtschaft; 6) Sprachen; 7) Zeichnen; 8) leserlich und schnell schreiben; 9) Schwimmen; 10) einige medizinische Kenntnisse; 11) schöne Künste, besonders Blasinstrumente, die man auseinanderlegen und sehr bequem in die Rocktasche stecken kann. Außerdem müsse ein reisender Jüngling mehrere spirituöse Dinge mit sich führen, als 1) eine Flasche Vierräuberessig; 2) eine Flasche französischen Branntwein; 3) eine Flasche Schußwasser oder peruanischen Balsam; 4) ein Fläschchen Ammoniaksalz gegen Ohnmachten; 5) ein Fläschchen Hoffmännsche Tropfen. Von allen diesen Kenntnissen besaß ich wenig, von den medizinischen und chirurgischen Flüssigkeiten gar nichts; sondern ich führte bloß ein zweites Hemd bei [800] mir, schon genannten Kriegsrat und eine kleine nette Ausgabe von den Dynastien des französischen Kaiserreichs: Napoleon I., Napoleon II., Napoleon III. bis Napoleon L. Als einst Napoleon I. in Danzig, nachdem er den Tag über mit den Deutschen gespielt hatte, abends mit seinen Generalen spielte, faßte er eine Hand voll Gold und fragte: n'est–ce pas, Rapp, les Allemands aiment beaucoup ces petits Napoléons? – Oui, Sire, plus que le grand, antwortete Rapp. Das hat der Kaiser einige Jahre später auch erfahren. Die Deutschen haben den großen Napoleon auf die Erde geworfen und haben die kleinen Napoleons, ob sie zwar der große alle geschlagen hat, behalten ... Diesen Doppelgedanken hatte ich vor dem deutschen Hause.
Bis zur Sachsenhäuser Warte sah ich oft nach Frankfurt zurück; ich fürchtete immer, der Polizeiaktuar Gravelius und der lange Gatzenmayer würden mich verfolgen. In meiner Angst betrübte es mich besonders, daß ich aus der ganzen Reiseapotheke nicht wenigstens das Ammoniaksalz gegen Übelkeiten mit mir führte. Doch nichts kam hinter mir als eine kleine Kutsche, worin ein vergnügter Lotteriekollekteur saß, bei dem das große Los herausgekommen war oder der es selbst gewonnen hatte und der mit seiner Gattin eine Lustreise machte. Auf meine Bitte waren sie so artig, mich in den Wagen zu nehmen, oder eigentlich auf den Bock, weil der Wagen für drei Personen zu eng war. Als ich die Frankfurter Grenze zurückgelegt hatte, ward ich sehr heiter. Daß Deutschland, welches doch im Grunde ein ungeteiltes Ganze ausmacht, nur immer in Brüchen gezählt wird und daß man, statt zu sagen: Österreich, sagt: der deutsche Bund, nämlich 39/39 – das hat mich zwar immer nicht weniger geärgert, als es den Armenadvokat Siebenkäs verdroß, wenn seine Frau sagte: es hat vier Viertel auf vier geschlagen. Doch fiel mir in Langen bei, daß [801] diese Verbalzerstückelung des Landes auch für kleine Spitzbuben nützlich sei; denn da eine Behörde oft schon für die zweite Meile Requisitorialien braucht, so kann, bis diese konzipiert und mundiert sind, ein Spitzbube schon einen guten Vorsprung gewinnen. Es kamen uns mehrere Boten entgegen, die im raschen Vorübergehen dem Kollekteur die in der Darmstädter Lotterie herausgekommenen Gewinste zuriefen. Fortuna auf der Chaussee kam mir wunderlich vor; aber der Kollekteur schien zufrieden. Als wir uns Darmstadt nahten, bat ich dringend, mich, bis wir die Stadt hinter uns hätten, in den Wagen zu nehmen. Dies ward mir zugestanden. Ich für meine Person bin zwar ziemlich hager; aber der dicke Passagier in meiner Rocktasche inkommodierte die schöne Kollektrice ganz ungemein. Die guten Leute dachten gewiß, ich hätte Ehrgefühl und ich schämte mich, in einer großherzoglichen Residenz mich auf einem Bocke zu zeigen. Das hatte aber einen ganz andern Grund. Ich wollte mich nämlich vor einem Gesandten verbergen, an dessen Wohnung wir vorüberfahren mußten, und der, wie mir ahndete, meine geheime Gesinnung noch einmal dechiffrieren würde. Auch ist diese Ahndung einige Monate später eingetroffen, wie ich es in der Folge meinem neugierigen Tagebuche erzählen werde. Zwar ist die Geschichte alt und mein Gedächtnis schwach; doch in unsern Tagen braucht man kein Gedächtnis, um dumme Gewalttätigkeiten nicht zu vergessen.
In Mannheim, wo ich meinen Paß fand, setzte ich mich in den Postwagen und fuhr nach Straßburg. Wie wohl war mir, als ich die französische Grenze erreicht hatte! Ich fühlte mich frei. In diesem Lande, dachte ich, wird wohl ein ehrlicher Mann auch gehudelt; ist er aber nicht dumm oder feige, hudelt er die Hudeler wieder. Hier wird man auch geprügelt; aber man wehrt sich. Hier wird man auch geschimpft, aber esbeschimpft nicht, [802] denn man schimpft zurück. Bei uns aber wird man gescholten und muß schweigen wie ein Bedienter; man wird geschlagen wie ein Hund und darf nicht heulen wie ein Hund! Bei Prügeleien kömmt es gar nicht darauf an, wer mehr Prügel bekommt, wir oder unsere Gegner; es kommt nicht auf die größeren oder geringeren Schmerzen, nicht auf die größern oder kleinern blauen Flecken an; sondern darauf, daß wir unsere Ehre behaupten und uns zur Wehre setzen. Auch weiß es ein bedächtiger Mann immer so einzurichten, daß er die erste Ohrfeige gibt.
Am Jahrestage der Leipziger Schlacht kam ich durch die Champagne. Der 18. Oktober wird in Deutschland nur noch von den freien Städten gefeiert. Es geschieht dies, um die Londoner Kaufleute portofrei zu benachrichtigen, daß alles noch gut für sie stehe, und um die hohen vergeßlichen Aliierten jährlich einmal an ihr Versprechen zu erinnern. Es war Weinlese, und die jungen Winzerinnen warfen Körbe mit Trauben in den vorübereilenden Postwagen, es wagend, ob man ihnen ein Stück Geld dafür zurückwerfen werde. Ich nahm und bezahlte einen großen Vorrat, und essend und vergessend kam ich an die Barrieren von Paris.
– Diesen Morgen fand ich am Saume eines waldigen Hügels unter einer Eiche eine junge Vagabundin gelagert, die auf dem Rücken in einem Bettelsacke einen goldgelockten Knaben trug. Das Kind war ihr ganzes Gepäck. Der Bube war seit seiner Geburt nicht gewaschen worden; aber durch die dunklen Wolken seines Gesichts blitzten feuerrote Wangen. Die Sonne schien so warm auf ihn herab, als wäre sie seine Mutter und er ein Königssohn. Sie hat ihn selbst gesäugt, und er wird stark werden. Gras und Bäume verneigten sich vor ihm; die Vögel des Waldes, flüsternde Höflinge, zwitscherten um ihn, und ein sanfter Wind schmeichelte seinen launischen [803] Locken. Wie glücklich ist dieses Kind! rief ich aus. Sorgenlos von der sorgenlosen Mutter von Dorf zu Dorf, von Feld zu Feld, von Wald zu Wald getragen! Es hat nichts zu verlieren, das Leben ist ihm ein Glücksspiel ohne Nieten, und kömmt nur seine Nummer heraus, muß es gewinnen. Vielleicht wird der Bube einmal gehenkt; aber das bringt keine Sorgen, das schafft sie weg. Wie langweilig und abgeschmackt ist es aber, ein Kind honetter Eltern zu sein und selbst ein ehrlicher Mensch zu werden und sein gutes Auskommen zu haben! Wir dummen Esel, statt frei umherzugrasen, wo sich eine Wiese findet, beladen uns mit Säcken voll Getreide, das nicht uns gehört, und schleppen es dem reichen Müller Tod zu, der es für den genädigen Herrn Wurm mahlt und siebt! Alles hat, wer nichts hat; wer viel, hat immer zu wenig. Hoch lebe die Lumperei! Und abermals hoch! und zum dritten Male hoch!
Ähnliche Gefühle, als mir heute die so glückliche unbeladene Vagabundin einflößte, hatte ich, als ich frei und ohne Gepäck, wie sie, in Paris ankam. Hineingeworfen in dieses von ewigen Winden bewegte, tosende Meer, schwamm ich keck darin herum, als wäre ich in dem Elemente geboren; denn ich wußte gewiß, daß ich spezifisch leichter sei. An den drei französischen Mautgrenzen, die mich mit Stolz erfüllten, weil sie mich an den viel zolligeren Mautfuß meines geliebten Vaterlandes erinnerten, wurden alle Koffer, Säcke und Bündel der begüterten Passagiere bei Regenwetter von dem Postwagen herab auf die Erde geworfen, geöffnet und untersucht, und die armen reichen Leute mußten verdrüßlich alles selbst wieder in Ordnung bringen und waren unendlich besorgt, es möchte etwas herausfallen und verloren gehen, und waren geplagt wie die armen Teufel und jammerten, daß es ein Mitleid war. Ich aber sah dieses alles aus dem Fenster des Wirtshauses schaden froh mit an, rieb [804] mir vor Vergnügen die Hände, und als absoluter Monarch meiner Zeit benutzte ich sie, teils nützlich, indem ich mich unter den Postillionen im Französischen übte, teils angenehm, indem ich die Weine des Landes versuchte, teils beides zugleich, indem ich meine Schlafbegierde stillte.
Im Pariser Posthause stieg mein Wohlbehagen und die Not meiner Reisegefährten erst recht hoch. Diese waren Provinzialen oder Ausländer, wie ich zum ersten Male in Paris, und wußten sich gar nicht zu helfen. Man schleppte ihr Gepäcke in die Mautstube, wo eine Verwirrung ohnegleichen herrschte. Nachdem die Koffer visitiert waren, luden sie Packträger auf den Rücken und trugen sie, unbekümmert um das Schreien der nachkeuchenden Eigentümer, die Straße hinauf oder hinab. Doch ich ging ruhig, kalt und eingewohnt wie ein alter Kondukteur im Hofe herum und rief: es lebe die Demagogie! es lebe die Polizei! es lebe die Lumperei! Um zehen Uhr morgens war ich angekommen, und erst nachmittags vier Uhr sah ich mich nach einer Wohnung um. Ich hatte keine Freunde, keine Bekannte, keine Adresse; aber nichts kümmerte mich. Ich lief den ganzen Tag umher, aus dem Palais Royal in die Tuilerien, von den Tuilerien auf dem Vendômeplatz, von diesem auf die Boulevards, von dort auf den Platz der Bastille. Ich sah gleich den ersten Tag die halbe Stadt. Nur etwas machte mir Sorgen. Der Postwagen war von Straßburg an drei Tage und drei Nächte fortgeeilt und hatte zum Nötigsten nicht die nötige Zeit gelassen. Ich ward auf dem Wege leichter mein Geld los als das, wofür ich es bezahlte. In Paris fand ich die nötige Zeit, nicht aber die nötige Gelegenheit, und ich wußte mir nicht zu helfen. Da trat ich in das erste beste Haus im Palais Royal, stieg eine Treppe hinauf, gebrauchte meine Sinne und suchte. Ich öffnete eine Türe, steckte den Kopf hinein, sah ein menschenleeres [805] Restaurationszimmer, worin ganze Haufen von Silbergeräte auf dem Tische lagen, und zog mich eilig und erschrocken zurück. Ich stieg in den zweiten Stock, öffnete wieder eine Türe, sah in einem kleinen Zimmer einen alten Mann in Kupfer stechen, sagte: pardonnez, Monsieur und kehrte um. Im dritten Stocke öffnete ich gleifalls mehrere falsche Türen, hinter welchen bald ein Herr, bald eine Dame saß, sagte abwechselnd: pardonnez, Monsieur, pardonnez, Madame und setzte meine Entdeckungsreise fort. Endlich im vierten Stock gewahrte ich eine Türe mit einen kleinen runden Glasfensterchen; ich glaubte am Ziele zu sein und öffnete rasch – da trat mir ein junges schönes Mädchen entgegen. Ich brachte wieder mein pardonnez, Madame hervor: die Notre – Dame aber faßte mich am Arme, zog mich weiter vor und verriegelte die Türe hinter mir. Reposez – vous, Monsieur sagte sie mir artig. In meiner Eile war ich tugendhaft und legte, nur als Geschenk, ein Fünffrankenstück auf das Nachttischchen. Dafür machte mich das dankbare Mädchen mit der Topographie des Hauses bekannt. Ich mußte noch eine Treppe höher steigen. So hatte ich bis unter das Dach ein fremdes Haus durchkrochen und war mit einem bangen verlegenen Gesichte in alle Zimmer eingedrungen. Hätte ich kein Geld in der Tasche gehabt, ich wäre wohl zehen Male festgehalten worden; denn ich schlich und lauschte wie ein Dieb. Aber – es ist ein Wunder! man ahndete den unsichtbaren Gott in mir, sah mich für einen Heiligen an und ließ mich ungehindert auf – und absteigen.
Vom langen Umherstreichen hungrig und müde geworden, ging ich in ein Kaffeehaus, um zu frühstücken, mich auszuruhen und dann meine Wanderung fortzusetzen. Da der schwere Reichard in meiner Tasche mir etwas lästig fiel, bat ich die schöne Dame, die am Comptoir saß, mir das Buch zu verwahren, ich würde es im Vorübergehen [806] wieder abholen. Aber mit ganz unbeschreiblicher Freundlichkeit schüttelte sie ihre schwarzen Locken, wies das Buch zurück und sagte: Oh, Monsieur! Das verblüffte mich etwas. Ich legte das Buch auf den Tisch und bezahlte auf dessen Deckel meine Karte. Die Dame strich das Geld ein und zog dann das Buch mit noch größerer Freundlichkeit, als sie es früher abgewiesen, wieder zu sich, legte es in eine Schublade und sagte, es solle gut verwahrt werden. Erst fünf Minuten nachher wußte ich, was ich von dem Betragen denken sollte. Ganz gewiß glaubte die gute Französin, ich hätte kein Geld, mein Frühstück zu bezahlen, und wollte darum das Buch als Unterpfand zurücklassen. Sie nahm es nicht an und stellte sich, als merkte sie meine Verlegenheit nicht. Dieses machte einen sehr freundlichen Eindruck auf mich, und nichts ist mir früher oder später in Paris begegnet, was diesen ersten Eindruck wieder geschwächt hätte. Ich habe die Franzosen immer urban, immer menschlich gefunden – menschlich im schönsten Sinne des Wortes. Das ist nicht allein Menschlichkeit, daß man jedem in seiner Not, sobald er klagt, zu Hülfe komme – wem reichte hierzu immer die Kraft und der gute Wille zu? –, sondern daß man menschlich fühle und eines jeden Not errate und verstehe. Das vermögen die Franzosen, denn sie sind Totalmenschen; das vermögen aber die Deutschen nicht, die nur Stückmenschen sind und, kleinstädtisch selbst in großen Städten, nur das Glück und Unglück ihrer Standesgenossen verstehen.
Die herannahende Dämmerung erinnerte mich, daß ich für die Nacht noch kein Dach und Bett habe. Ich suchte mir ein Hotel heraus, das schön angestrichen war und viele Fenster hatte, trat hinein und forderte ein Zimmer. Der Wirt fragte mich, ob er meine Sachen von der Messagerie solle abholen lassen? Ich antwortet kurz, ich hätte keine Sachen, die würden später nachkommen. Das machte [807] ihn etwas stutzig, und allerdings gab mir der ordinäre Interimsmantel von Biber, den ich in Mannheim gekauft hatte und der mir nur bis an die Knie reichte, ein etwas ärmliches Ansehen. Indessen bekam ich ein Zimmer, da man wohl dachte, eine Nacht könne man es mit mir versuchen. Ich nahm mir vor, jeden Tag meine Rechnung zu bezahlen, um den Wirt von seiner verzeihlichen Ängstlichkeit zu befreien. Als ich am andern Morgen nach ihm fragte, war er schon ausgegangen, und ich konnte ihn den ganzen Tag über nicht sprechen. Am zweiten Morgen trat der Hausherr in mein Zimmer, drückte mir die Hand und war die Freundlichkeit, ja die Herzlichkeit selbst. Er hatte in den Zeitungen gelesen, ich wäre als politischer Flüchtling in Paris angekommen; er bot mir sein ganzes Haus, seinen Tisch, ja seinen Geldbeutel an – ich würde zur gelegenen Zeit meine kleine Schuld wohl abtragen, bemerkte er. Es dauerte vierzehn Tage, ehe ich meinen Koffer aus Deutschland bekam, und so lange bat ich täglich vergebens um meine Rechnung. Erst als meine Sachen angelangt waren und der Hausherr sah, daß ich nicht ohne Mittel sei, nahm er Bezahlung von mir an.
So betrug sich ein Franzose, dem ich fremd war. Darauf ging ich zu einem Deutschen, dem ich bekannt war, der in Paris wohnte und Handel trieb. Ich bat ihn um die Erlaubnis, meine Koffer an ihn adressieren lassen zu dürfen, da ich nicht wisse, ob ich meine gegenwärtige Wohnung behalten würde, und also keine sichere Adresse nach Hause schreiben könne. Der Mann war schon in Verlegenheit, als er mich sah; da ich aber um die Benutzung seiner Adresse bat, erschrak er und verwirrte sich, daß es zum Erbarmen war. Er beschwor mich bei Gott, ihn mit meinem Koffer zu verschonen, denn er habe in den heutigen Blättern gelesen, daß ich in politischen Händeln verwickelt sei, und in dergleichen lasse er sich [808] nicht gern ein. Je suis père de famille, jammerte der Narr. Ich hatte ihm freilich zuviel zugemutet; er war nicht bloß ein Deutscher, sondern zugleich ein Jude, also ein Hase mit acht Füßen. Ich ließ ihn laufen. Aber Minister können daraus lernen, daß, um mit ihren widerspenstigen Liberalen fertig zu werden, sie nichts Klügeres tun könnten, als sie alle beschneiden zu lassen und Juden aus ihnen zu machen. Dann würden sie folgsam wie die Schafe werden und würden, indem sie alle ihr Geld in Staatspapiere steckten, für ihre ewige Ruhe freiwillige Kaution leisten.
Vierzehen Tage lang sprachen die Pariser Blätter der verschiedenen Parteien von meiner Ankunft. Sie brauchten mich natürlich bloß als Farbmaterial und zerrieben mich servil mit dem Stößer oder kochten mich liberal sanft auf – aber man sprach doch von mir. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Bin ich denn eine höchste Person? Bin ich ein Kurier? Bin ich eine Sängerin? Bin ich ein jubelierender Staatsdiener? Das alles nicht, und doch ist in den Zeitungen von mir die Rede! Was ist das für ein närrisches Volk! Insbesondere erinnere ich mich eines langen Artikels imJournal des Débats, worin teils mythologisch, teils biographisch von mir erzählt wurde, ich wäre ein Jude, Jakobiner und Mann von Geist und wäre von den deutschen Demagogen nach Paris geschickt worden, um von dem Comité directeur das Mot d'ordre zu holen. Aber – endigte der Bericht – ich wäre»d'ailleurs un homme de bonne foi«. Da das Journal des Débats damals ein ministerielles Blatt war, so dürfen loyale Deutsche darauf schwören, wie auf den österreichischen Beobachter und die preußische Staatszeitung, und sie dürfen, ohne zu untersuchen, annehmen, daß ich wirklich ein homme de bonne foi bin. Sie werden mir daher glauben, wenn ich sie versichere: daß ich nicht von deutschen Demagogen nach Paris geschickt worden bin; [809] daß ich nichts von einemComité directeur erfahren; daß es nie ein solches gab und daß ich kein mot d'ordre geholt. Mot d'ordre, ich, der ich nur von mir selbst und meinem Arzte mir etwas vorschreiben lasse! Guter Gott! Ich bin kein solcher Narr.
Schon am ersten Morgen nach meiner Ankunft, noch ehe die Zeitungen von mir sprachen, wurde ich von mehreren Deutschen besucht, die ich alle nicht kannte, die mich aber versicherten, sie kennten mich recht gut – welches auch wahrscheinlich war. Gott weiß, woher sie meine Adresse wußten! Sie fütterten mich mit französischen Liebkosungen, zogen mich fort, nahmen mich in ihre Mitte, faßten mich unter den Armen, recht herzlich, recht Brust an Brust, recht nahe unter der Schulter, so daß unsere beiderseitige Achselhöhlen Kapseln bildeten, in welchen man Seifenkugeln hätte verwahren können. Sie fragten mich: wie sieht es im lieben Vaterlande aus? Ich erzählte wie ein Kind und ein Narr. Ich kann schweigen, wenn ich will; ich will aber nicht. Warum auch? Es kann sich eine Furche finden, in welche ein stilles Samenkorn fällt, das Wurzel faßt. »Das arme Vaterland!« – riefen sie aus und sahen einander an und suchten Wechseltrost in treuen Freundes Blicken. Ich hätte die Spitzbuben erwürgen mögen! Das währte so einige Tage lang, bis mein Mundvorrat erschöpft war; dann verschwanden sie, und ich sah sie nicht wieder. Der Teufel soll sie holen, wenn er sie, gegen alle Wahrscheinlichkeit, in diesen zehen Jahren noch nicht geholt hat!