Ludwig Börne
Theaterkritiken

[205] Vorrede

Deutschlands kritische Nacht war gekommen, die Wärter saßen kopfschüttelnd am Bette, alte Basen machten bedenkliche Runzeln, und die Lichter wurden nicht mehr geputzt. Da richtete sich der Kranke plötzlich auf, saß ganz gerade, blickte umher und fragte: »Wo bin ich?« – »In Ihrer alten Wohnung, bei den lieben Ihrigen« – antwortete der Arzt, freundlich und vergnügt, und machte eine siegreiche Miene. Ein wohltätiger Schweiß war ausgebrochen, die Fieberphantasien hatten aufgehört, der gute alte Puls war gleich wieder da, und die Gesundheit kehrte mit schnellern Schritten zurück, als sie sich entfernt hatte. Noch einige Tage blieb der Genesende schwach; aber er lächelte selig, alles war ihm recht, er war alles zufrieden. Noch einige Tage, und Vetter Michel stand wieder auf den Beinen, schnitt sich zwölf Dutzend neue Federn und aß abends seinen Kartoffelsalat. Noch einige Tage, und das Testament, in der Furcht des Todes geschrieben, wurde hervorgesucht und zerrissen; es sollte alles beim alten bleiben. Noch einige Tage, und der Krankenwärter kam glückwünschend und erinnerte an den neuen blauen Rock, den ihm der Kranke versprochen hatte, wenn er wieder aufkäme. Der Gesunde lachte den guten Mann aus und sagte: »Im Fieber mag ich wohl viel dummes Zeug gesprochen und versprochen haben ...« Ach! es war eine schöne Zeit. Zwar habe ich nicht mitgefochten im Befreiungskriege – mir fehlte das gehörige Maß des Körpers und des Glaubens –, aber ich habe den Franzosen auch kleine Stöße gegeben. Von der Polizeistelle eines rheinischen Bundesstaates war ich, ohne Stuhl [205] und Stil zu wechseln, zur Polizeistelle eines deutschen Bundesstaates gekommen. Früher hatte ich gehorsame, eilfertige Briefe nach allen Postwinden geschrieben, um arme deutsche Jungen, die sich versteckt hatten, weil man sie als widerspenstige Konskribierte verfolgte, zu erspähen und den französischen Metzgerknechten auszuliefern. Jetzt schrieb ich noch gehorsamere, noch eilfertigere Briefe, um alte Deutsche mit pedantischen Herzen, die immer noch Liebe und Bewunderung für Napoleon zeigten, als Verräter festzuhalten und deutschen Metzgerhunden zur Bewachung zu übergeben. Einmal fing man einen solchen Spion, und ich mußte ihn auf Befehl meiner Vorgesetzten zwingen, sich bis auf das Hemd auszukleiden, im nachzusehen, ob er sich nicht die drei Farben tätowirt hätte. Ich fand nichts, sah, daß alles gut war und Deutschland wirklich frei. Darauf bekam ich meinen Abschied, und das war auch gut. Ich trieb Privatpatriotismus und gab eine Zeitschrift heraus: Die Wage. Ach Himmel! An Gewichten fehlte es mir nicht, aber ich hatte nichts zu wiegen. Das Volk auf dem Markte tat nichts und machte keine Geschäfte, und das Völkchen in den höhern Räumen handelte mit Luft und Wind und andern imponderablen Stoffen. Ich war in sehr großer Verlegenheit. Das Journal war angekündigt, der Druck hatte schon begonnen, die Abonnementsgelder waren schon ein- und ausgezogen, und ich wußte noch nicht, wie ich mein Versprechen erfüllen und das Versprochene voll machen sollte. Da riet mir ein Freiwilliger Jäger, der sein Leben liebgewonnen und, um es fortzusetzen, Komödiant geworden war, ich solle über das Theater schreiben. Der Rat war gut, und ich befolgte ihn. Ich setzte die wohlweise Perücke auf und sprach Recht in den wichtigsten und hitzigsten Streithändeln der deutschen Bürger – in Komödiensachen. Wie ein Geschworener urteilte ich nach Gefühl und Gewissen; um die Gesetze bekümmerte ich [206] mich, ja ich kannte sie gar nicht. Was Aristoteles, Lessing, Schlegel, Tieck, Müllner und andere der dramatischen Kunst befohlen oder verboten, war mir ganz fremd. Ich war ein Naturkritiker in dem Sinne, wie man einen Bauer vor zwanzig Jahren – ich glaube, er hieß Maus –, der Gedichte machte, einen Naturdichter genannt hatte. Die Katze Kritik ging damals sehr schonend um mit jener Maus, zog ihre Krallen ein und liebkoste sie. Eine gleiche Nachsicht fand ich auch, wahrscheinlich aus gleichem Grunde: weil man eine gewisse bäuerliche Natürlichkeit an mir bemerkt. Die Menschen sind gar nicht so schlimm, als man gewöhnlich glaubt. Sie lassen jedem gern seine Meinung, häßlich oder schön, wenn er nur fest darinsteckt wie in seiner Haut; versteckt man sich aber hinter einer Meinung, dann ziehen die Leute mißtrauisch den Vorhang weg, um zu sehen, wer dahinter ist. Meine Kritiken fanden vielen Beifall, sogar Kotzebue lobte mich. Wie wütend war ich über Sand, als er mir meinen lieben guten Kotzebue umgebracht, der mich gelobt hatte. Es war Hamlet, der Polonius erstach, Rattengift – dummes Volk!

So sind diese dramaturgischen Blätter entstanden, die ich jetzt, gesammelt und vermehrt, den Lesern vorlege. Möchten sie größere Freude daran haben, als ich selbst dabei gefunden. Ich beklage verlorne Zeit und fruchtlose oder übel verwendete Mühe. Der Kritiker befördert so wenig die schöne Kunst, als der Scharfrichter die Tugend befördert. Beide schrecken nur von Vergehungen ab, beide bestrafen sie nur. Ich fange an zu glauben, daß die armen Bühnendichter doch recht haben mögen, wenn sie ihre Rezensenten Freudestörer schelten. Wir sind wirklich garstige Raupen, die Blatt nach Blatt abfressen, bis vom Buche nichts mehr übrigbleibt als der Deckel und die Rechnung des Buchhändlers. Ehe die Schlange Kritik mich verführte, war ich unschuldig wie der Mensch im Paradiese; [207] ich konnte über einen Ifflandschen Hofrat, wenn er tugendhaft war, weinen wie ein Bürgermädchen, und über Bären und närrische Pudeln gleich einem Wiener lachen. Da aß ich vom Baume der Erkenntnis, lernte Gutes vom Bösen unterscheiden, und meine Zufriedenheit war hin. Da kam ich mit einem Vergrößerungsglase in das Schauspielhaus und entdeckte häßliche Flecken und Unebenheiten, wo ich früher alles schön und glatt gefunden. Da fing ich die armen Leute zu plagen an, und mich am meisten.


– Ein Kerl, der kritisiert,
Ist wie ein Tier auf dürrer Heide,
Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt,
Und ringsumher liegt schöne grüne Weide.

Es ist wahr, ich hatte bei meinem dramaturgischen Bestreben eine schönere und bessere Absicht als die, einen armen Dichter zu kränken, den die Natur schon genug gekränkt hatte, und seine armen Bewunderer zu verspotten. Aber ich blieb immer ein Tor, zu hoffen, das Feiertägliche werde wirken, wo das Wochentägliche nicht gewirkt, und zu vergessen, daß es Lehren gibt, die, wenn nötig geworden, fruchtlos sind. Ich sah im Schauspiele das Spiegelbild des Lebens, und wenn mir das Bild nicht gefiel, schlug ich, und wenn es mich anwiderte, zerschlug ich den Spiegel. Kindischer Zorn! In den Scherben sah ich das Bild hundertmal. Ich war bald dahintergekommen, daß die Deutschen kein Theater haben, und einen Tag später, daß sie keines haben können. Das erstere war mir gleichgültig – man kann ein sehr edles, ein sehr glückliches Volk sein ohne gutes Schauspiel – aber das andere betrübte mich. Dieser Schmerz gab meinen Beurteilungen eine Leidenschaftlichkeit, die man mir zum Vorwurfe gemacht, weil man sie mißverstanden. »Sie sind zu scharf« sagten mir oft Freunde, weil sie dachten, ich hätte es auf einen Dichter, einen Schauspieler abgesehen. Guter [208] Gott! Wäre der Dichter oder der Schauspieler mein Sohn gewesen, ich hätte ganz so von ihm gesprochen wie von dem Fremden, so wenig dachte ich daran, einem wehe zu tun. Es war oft komisch, wenn junge Leute, die Respekt vor mir hatten, im Theater oder nach demselben auf meine Worte horchten, was ich urteilte von dem neuen Stücke, ob ich es für gut oder schlecht erklärte. Wahrhaftig, ich hatte beim zweiten Akte den ersten, wenn der Vorhang fiel, alles vergessen, und ich erinnerte mich gar nicht, ob das Stück gut oder schlecht war. Aber am folgenden Tage kam immer etwas, das mich daran erinnerte: das Stück mußte schlecht gewesen sein, und da setzte ich mich hin und beurteilte es und tadelte die Zeitung des Morgens im Komödienzettel des Abends, die Natur in der Kunst. Ich schlug den Sack und meinte den Esel. Das französische Schauspiel, das klassische zumal, ist mir weit mehr zuwider als das deutsche; aber nur, wenn ich es lese, nicht, wenn ich im Lande es darstellen sehe. Dann gewahre ich bald, daß die Gebrechen des französischen Dramas die der Franzosen, die ihrer Nationalität sind; die Gebrechen des deutschen Dramas aber zeugen von der Unnationalität der Deutschen, und das ist zum Verzweifeln, das ist keine bloße Komödie. Ein Volk, das nur der Pferch zum Volke macht, das, außer demselben, den Wolf fürchtet und den Hund verehrt und, wenn ein Gewitter kommt, die Köpfe zusammensteckt und geduldig über sich herdonnern läßt; ein Volk, das beim Jahresschlusse der Geschichte gar nicht mitgerechnet wird, ja, das sich selbst nicht zählt, wo es selbst die Rechnung macht, – ein solches Volk mag recht gut, recht wollig, ganz brauchbar für das Haus sein; aber es wird kein Drama haben, es wird in jedem fremden Drama nur der Chor sein, der weise Betrachtungen anstellt, es wird nie selbst ein Held sein.

Alle unsere dramatischen Dichter, die schlechten, die guten [209] und die besten, haben das Nationelle der Un-Nationalität, den Charakter der Charakterlosigkeit. Unser stilles, bescheidenes, verschämtes Wesen, unsere Tugend hinter dem Ofen und unsere Scheinschlechtigkeit im öffentlichen Leben, unsere bürgerliche Unmündigkeit und unser großes Maul am Schreibtische – alles dieses vereint, steht der Entwicklung der dramatischen Kunst mächtig im Wege. Reden heißt uns handeln und schweigen groß handeln. Die Skulptur kam in der christlichen Zeit durch die Entwöhnung, nackte Gestalten zu sehen, herunter, und die Ungewohnheit, nackte Charaktere zu sehen, läßt die dramatische Kunst in Deutschland nicht aufkommen. Zwar versetzt sich der Deutsche leicht in jedes neue Verhältnis, in jede fremde Empfindung; aber diese Leichtigkeit wird durch die andere, sichaus jeder Lage zu versetzen, wieder zunichte gemacht. Der Deutsche reflektiert über alles, sieht alles aus der Vogelperspektive und ist darum nie in der Mitte der Sache. So ist er erhaben über den Scherz, handhabt ihn und ist nie scherzhaft. Den Punkt, den sich Archimedes wünschte, hat er gefunden, und er sollte wünschen, daß er ihn verlöre. Und tritt der Deutsche in ein fremdes Verhältnis ein, dann geschieht es als Gast, er ist bescheiden und verlegen und tut nicht wie zu Hause darin. Der Deutsche hat alles und ist nichts, und die dramatischen Charaktere seiner Schauspiele haben darum nur, was sie sein sollten. Im Lustspiele, wenn ja einmal die Dummheit aufhört und der Witz erscheint, sehen wir den Geist, aber nicht den Charakter des Witzes; wir sehen witzige Geister, aber keine witzige Charaktere. Die Personenhaben Witz und sind nicht witzig. Bezeichnend für diese Gattung der Fehlerhaftigkeit ist Raupach, ein Mann von Geist, Geschmack und schöner Darstellung. Alle seine komischen Personen machen sich über sich selbst lustig, greifen dadurch in das Recht des Zuschauers ein und rauben diesem alle Lust. Sein Eifersüchtiger [210] in »Laßt die Toten ruhen«, sein Shakespeares-Narr in »Kritik und Antikritik«, persiflieren ihren eigenen Charakter; der eine verspottet die Eifersucht, der andere die Shakespeare-Manie. Sie tragen die Maske ihres Charakters, verstellen ihre Stimme, sind aber nicht, was sie scheinen. Ich habe, soviel ich mich erinnere, in den Kritiken dieser Sammlung noch andere Bemerkungen über die Unbedeutendheit des deutschen Lustspiels und die Schuld daran gemacht, und ich will hier darauf hinweisen.

Hat das Lustspiel keine Lust, ist das Trauerspiel dafür um so trauriger. Man braucht ein doppeltes Maß von Tränen, eines für die Leidenden im Gedichte, ein anderes für den leidenden Dichter selbst. Der arme Tragödist, ein geplagter Schulmeister, auf dessen Bänken naseweise Könige und wilde Völker sitzen, und der die Rute gebrauchen soll für beide, bekommt sie öfter, als er sie austeilt. Er ist furchtsam, versteckt sich hinter die Tugend, sagt, nicht er gebiete, sondern sie, nicht er sei streng, sondern sie, und man möge ihm nichts übeldeuten. Im Hause haben wir Mut, der Deutsche hält etwas auf sein Hausrecht; da sind wir imstande, wie der Geiger Miller in »Kabale und Liebe«, sogar einem Präsidenten mit dem Hinauswerfen zu drohen. Aber vor der Türe, wo die Polizei beginnt, wenn die Dekoration einen Palast, eine Straße, einen Markt vorstellt, da sind wir ängstlich und blöde, sehnen uns nach der warmen Stube, nach den gemütlichen Pantoffeln zurück; und dichten wir Tragödien in dieser weinerlichen Stimmung, wird ein lyrisches Gedudel, ein Papa Tell, ein empfindsamer Tiroler, ein operlicher Belisar daraus. Im Leben und im Drama kommt es darauf an, recht zu behalten; dem ehrlichen Deutschen aber liegt daran, recht zuhaben, und darum haben seine Helden alle recht und die Geschlagenen immer unrecht. Unser Hausherz, unsere Provinzialempfindung verdirbt die [211] Kunst. Dem tragischen Dichter ergeht es wie dem Schweizersoldaten. Er steht mitten im tragischen Schrecken, der Sturm der Schlacht tobt wild, Waffen klirren, Wunden ächzen, das Leben steigt im Preise, der Tod wird wohlfeil, der Augenblick gebietet, der Mut über den Augenblick, die Flamme der Begeisterung erwärmt selbst den kalten Feigling, der Held kämpft wie ein Löwe – da, horch! – da summt einer den Kuhreigen; der Held steht stille, es wird ihm schwabbelig, seine Augen tröpfeln, er läßt den Arm sinken, wirft das Schwert hin, desertiert, vergißt Ehre, Pflicht, Ruhm, alles, läuft in die Heimat zurück, setzt sich hinter den Ofen und weint unaufhörlich. Da sitzt der Held, statt zu streiten, wann im Herzen des Dichters – warm, weil er sich warm gelaufen; denn was ist ein deutsches Herz? – eine gefrorene Schweiz, nichts mehr.

Den armen Rest nimmt eine schamlose Zensur hinweg. War nicht Grillparzers jungfräuliche Muse schön und hold? Nun seht, seht! Man hat sie der ehrlosesten Mißhandlung preisgegeben, in der Wachtstube der Polizei wurde sie geschmäht und geschändet, und jetzt schleicht sie bleich und mit verweinten Augen umher, daß einem das Herz vor Mitleid springen möchte. Sagt nicht: »So schlimm ist es nicht überall!« – doch, doch, so schlimm ist es überall. Nicht die Zensur, die das Drucken verbietet, die andere ist die verderblichste, die uns am Schreiben hindert; und das tut sie im ganzen Lande. Wir werden zensiert geboren, unsere Ammenmilch ist zensiert. Ein Deutscher könnte fünfzig Jahre Großinquisitor sein, und er würde das freie Denken nicht verlernen; aber setzt ihn auf eine menschenleere Insel, wo er sein eigener König ist, und er schreibt nicht frei. Er würde immer fürchten, irgendein Schwachkopf auf einer der Inseln im Stillen Ozean könnte sich an eines seiner harten Worte stoßen und würde sie darum alle mit weichem Wulste umgeben. [212] Wir sind so sehr gewöhnt, vorsichtig zu sein, daß uns die Vorsicht zu tierischem Instinkte geworden und wir sie gar nicht mehr brauchen. Dem Deutschen ist ganz unbekannt, wieviel der Mensch an Wahrheit, Grobheit und Satire, ohne zu sterben, ertragen kann. Er weiß noch weniger, daß der Mensch gar nicht daran stirbt, sondern vielmehr stärker und gesünder davon wird. Selbst verwöhnt und verzärtelt, verwöhnt und verzärtelt er auch die Kinder seines Geistes. Er windelt sie gegen die Luft bis zum Halse ein, und sie liegen da wie die ägyptischen Mumien, regungslos und bedeckt mit Hieroglyphen. Darum ist auch kein Leben, darum herrscht auch das Fratzige und Rätselhafte in allen dramatischen Gedichten. Der Dichter will nicht gedeutet sein, er nimmt seine Urbilder nicht aus der Wirklichkeit. Sie verspotten die Torheiten des vorigen Jahrhunderts, züchtigen die Verbrechen des vorigen Jahrtausends, und wenn nicht ein Bräutigam aus Mexiko oder ein Vetter aus Lissabon kommt, wissen sie nichts Neues aufzutreiben. Sie kennen die Natur und kennen den Menschen nicht. Eine Laune machen sie zur Leidenschaft, den Rausch der Leidenschaft zur perennierenden Empfindung, Empfindungen zu Gedanken, und unfruchtbare Gedanken lassen sie Handlungen gebären. Unmögliche, mißgestaltete Ungeheuer von Geschichten lassen sie geschehen, und sie vergessen, daß, wenn im Leben auch das Unwahrscheinlichste zuweilen wirklich wird, es doch auf der Bühne nie geschehen darf. Und gelingt es ja einmal einem dramatischen Dichter, das wirkliche, gelebte Leben schön und wahr darzustellen, leugnet er es ab, opfert seinen Künstlerruhm seiner Ruhe auf und sagt:


Bemüht euch nicht, im Buche der Geschichte
Der Quelle meines Liedes nachzuspüren;
Die Wirklichkeit taugt selten zum Gedichte.

Es sei alles erfunden, alles gelogen, er habe an nichts dabei [213] gedacht, das Stofflose sei der echte Stoff für ein Drama, und an nichts zu denken, das sei die rechte Art, eine Tragödie zu schreiben! denn


Was niemals war, das ist zu allen Zeiten.


Mit dem französischen Drama hat die Kritik freilich auch ihre große Not und Langeweile; aber der Zuschauer nie. Ist es kein Trauerspiel, ist es kein Lustspiel, so ist es doch wenigstens eine Zeitung von den Ereignissen des Tages, an denen jeder teilnimmt. Man weint oder lacht, pfeift oder klatscht, man macht Lärm und hat seine Freude daran. Wenn aber dem deutschen Drama der Kunstwert mangelt, mangelt ihm alles. Nur der einzige Kotzebue hat den Verstand gehabt, seinen Schauspielen, die sich alle gleichen, wenigstens den Kalendernamen des Tages zu geben, und er hat damit gewirkt. Es ist ganz zum Verzweifeln, daß der Deutsche mit der Temperatur der Jahreszeiten nie im Einklange steht. Im Winter geht seine Seele nackt, im Sommer trägt sie einen Pelz. Im Kriege ist er politisch und spricht nicht von Politik, während dem Frieden teilt er die Welt aus. Er schreibt Bücher über den Haushalt der Athener; um den Haushalt der Österreicher, welchen er sein Geld anvertraut, bekümmert er sich nicht. Eine Berliner Akademie hält am Geburtstage des großen Friederichs eine Vorlesung über die Infinitesimalrechnung, und es wäre doch wahrhaftig zeitgemäßer, wohltätiger und patriotischer, zur Feier eines solchen Tages eine Vorlesung über den deutschen Fürstenbund zu halten. Engländer und Franzosen walzen mit der Zeit, der Deutsche tanzt einen Menuett mit ihr. Sie sind sich immer entgegen, der Chapeau steht oben, die Dame unten; sie entfernen sich voneinander und sehen sich dabei schief an, und wenn sie sich begegnen, reichen sie sich die Hände, aber mehr zum Adieu als zum Willkommen. Will ja einmal ein Deutscher der Zeit die Hand küssen, [214] benimmt er sich so ungeschickt dabei, daß alle Welt lachen muß. Einer Tat die Farbe der Empfindung geben, das vermögen sie nicht. Dem Zechbruder Lessing errichten sie ein Spital, und für den heiligen Bonifazius in Fuld werden sie wahrscheinlich ein Schauspielhaus bauen. Luther zum Andenken – Luther und ein Andenken! Es kommt noch dazu, daß sie dem lieben Gott eines setzen – wollten sie vor mehreren Jahren in Eisleben eine Art Findelhaus gründen, und Goethe sollte in seiner Vaterstadt einen Tempel der Vesta haben; er war schon in Kupfer gestochen. Können die dramatischen Dichter besser sein? Und wären sie es, und spielten sie aus dem Tone der Zeit, es würde nichts helfen. In Tirol ist ImmermannsTrauerspiel von Tirol, wie uns Heine erzählt, selbst zum Lesen verboten. Ist ganz recht; die Tiroler könnten das Jodeln darüber verlernen, und die guten Wiener hätten ein Vergnügen weniger. Kein Schauspieldirektor denkt daran, unter den Tausenden von Studien eines zu wählen, das für den Tag paßt. Doch ja, in den ersten Wintertagen spielen sie überall den Graf Benjowsky, weil eine Schneedekoration darin vorkommt. Das ist aber auch die ganze Huldigung, die man dem Geiste der Zeit bringt. Das Volk ist nicht besser. Denkt denn einer bei Raupachs Rafaele an die Griechen? Neulich war ich ein Narr. Ich sah LessingsMinna von Barnhelm aufführen. Darin sagt der Wachtmeister Werner: »Unsere Vorfahren zogen fleißig wider den Türken, und das sollten wir noch tun, wenn wir ehrliche Kerls und gute Christen wären.« Varna war gerade an die Russen übergegangen, und ich dachte: Jetzt geht der Lärm los! ... O, mein Gott! kein Goldfingerchen hat sich gerührt. Ja es war stiller als vorher; es schien, als hätte der Atem des ganzen Hauses gefürchtet, irgendeine Teilnahme zu verraten. Dieses geschah freilich in Hannover; aber Hannover ist nur der Titel des Landes; ganz [215] Deutschland ist hannövrisch. Der Teufel mag Komödien schreiben für solche Menschen!

Ich wollte, daß ich auch sagen könnte: wer mag vor solchen Menschen spielen! Aber, warum nicht gut spielen? Das Drama sei, wie es wolle, der Zuschauer sei, wie er wolle, gut spielen ist immer möglich und wird immer empfunden und mit Dank aufgenommen. Vielleicht kann man den niederen Stand der deutschen Schauspielkunst erklären, aber zu entschuldigen ist er gewiß nicht. Und wenn man die zwanzig guten Schauspieler und Schauspielerinnen, die Deutschland vielleicht hat, versammelte und sie auf einer Bühne, im nämlichen Stücke, auftreten ließe, es würde doch nicht gut gespielt werden. Jeder bekümmert sich nur um seine Rolle, keiner um das Ganze, keiner um die Rolle des Mitspielenden. Warum sind die Orchester gewöhnlich gut, obzwar deren Mitglieder gewiß nicht alle Künstler sind, die fühlen und verstehen, was sie vortragen? Es kommt daher, weil sie in Ordnung gehalten werden, weil sie aus einem Takte, einem Tone spielen. Könnte man die Schauspieler nicht auf gleiche Weise leiten? Könnte man ihnen nicht Ton, Takt, Temperatur vorschreiben? Könnte nicht der Regisseur hinter den Kulissen mit einem Stäbchen kommandieren und das Zeichen geben, wenn geschrien oder gelispelt, langsam oder geschwind gesprochen, wenn der Kopf hängen oder sich gerade halten, der rechte oder der linke Arm sich bewegen soll? Die Schauspieler verstehen gewöhnlich das Stück und ihre Rolle nicht. Gebt ihnen Shakespeares Hamlet, und sie machen aus Hamlet einen Helden, aus dem Könige einen Schuft, aus Polonius einen Einfaltspinsel und Ophelia zur Schwärmerin. Man sollte bei jedem Theater einen Dramaturgen anstellen, der jedes neue Stück und die einzelnen Rollen darin den Schauspielern kritisch erläuterte. Die Bessern unter ihnen würden dadurch belehrt und ausgebildet, und bei denen [216] von minderer Fassungskraft wenigstens das gewonnen werden, daß sie den Bau und Zusammenhang des neuen Stücks, daß sie es räumlich kennen lernten. Das wäre schon Vorteil genug. Man hat mir von Schauspielern erzählt, die schon zwanzig Jahre in einem Stücke aufgetreten sind, ohne dessen Ausgang zu kennen, weil sie lange vor demselben abzutreten haben und sie immer, die Zeit nicht zu verlieren, gleich in das Weinhaus gingen ... Warum keine Theaterschule? ... Doch das würde uns hier zu weit ablenken.

Ich habe auch einige Bemerkungen über schauspielerische Darstellungen – jedoch ohne Namen zu wiederholen – aus alten Blättern in diese Sammlung aufgenommen. Es geschah der Buße wegen; denn wahrlich, wenn ich an meine ehemaligen Beurteilungen der Schauspieler mich erinnere, möchte ich Asche auf mein Haupt streuen und meine Kleider zerreißen. Ich habe jenen guten Menschen sehr wehe getan. Die Beurteilungen bezogen sich alle auf die Bühne meines Wohnorts. Ich war damals noch fremd in der Theaterwelt, sah, daß schlecht gespielt wurde, und dachte, das wäre unserer Bühne eigentümlich. Das Repertoire fand ich erbärmlich, und ich wähnte, das sei allein bei uns so. Als ich aber auch andere Bühnen kennen gelernt, erfuhr ich, daß es nirgends besser sei, ja an vielen Orten noch schlechter als bei uns. Ich bitte darum die Herren und Damen, welchen ich einst zu nahegetreten, herzlich um Verzeihung. Mein Urteil war eine Art Kriegsgericht, es war ein Dezimieren; sie bekamen die bösen Würfel, aber hundert andere waren schuldiger als sie.

Mit gutem Vorbedachte habe ich an die Spitze meiner gesammelten Schriften diese dramaturgischen Blätter gestellt, sie sind ihre Furiere, sie sollen ihnen Quartier machen. O! Ich sehe es schon im Geiste: man wird an das Fenster laufen, wenn ich vorübergehe, man wird vielleicht an manchem Orte mir die Pferde ausspannen. Was kann [217] man Schöneres, was kann man Glorreicheres tun als über Theater sprechen und schreiben? Wenn der Knabe die Schule verläßt, spricht und schreibt er von Leistungen unserer Schauspieler; dann bekommt er die Toga, und der deutsche Bürger ist fertig. Der Messager des Chambres, das Blatt der französischen Regierung, hat am Schlusse dieses Jahres in seiner Übersicht der europäischen Politik unseres Vaterlandes nicht mit einem Worte erwähnt. In diesem Jahre soll das anders werden! Man wird von uns berichten: »In Deutschland sind im verflossenen Jahre zwei neue Bände Theaterkritiken erschienen, und viele Dienstjubilate sind gefeiert worden.« Vorigen Sommer im Bade, als mich mein Barbier zum ersten Male unter seinem Messer hatte, brachte mir der Kellner einen Brief; jener schielte nach der Adresse, und gleich fühlte ich das Blut an meinem Gesichte herabrieseln. »Gott, Gott!« – sprach der Mensch – »Sie haben den schönen Aufsatz von der Sontag geschrieben? Wir haben uns bald buckelig darüber gelacht.« Vor Überraschung und aus reiner Hochachtung hatte er mir einen Schnitt gegeben. Wäre ich gar der Vater der großen Sontag gewesen und die Adresse hätte es ihm entdeckt, ich lebte nicht mehr, er hätte mir aus Ehrfurcht den Hals abgeschnitten. Geht nun, geht! Ergötzt die Barbierer und die Barbierten und macht mir Ruhm!


Hannover, im Januar 1829.

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TextGrid Repository (2012). Börne, Ludwig. Schriften. Theaterkritiken. Vorrede. Vorrede. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3C5E-1