Über die Nachteile der Schulversäumnisse
Einladungsschrift zu der öffentlichen Prüfung der Musterschule, von Dr. Seel, Direktor und Oberlehrer der Musterschule Frankfurt am Main, 1819
Europa hätte nichts Ausführliches davon erfahren ohne mich. Eine kleine Schrift von nur vierundzwanzig Seiten, aber voll Inhalt. Ich habe sie zweimal gelesen. Das erstemal lachte ich, und ich mache kein Geheimnis daraus, ich nahm mir vor, mich darüber lustig zu machen; das andere Mal aber lachte ich nicht; denn ich sah wieder eine Faser von des Lebensbaumes kranker Wurzel. Ich will Scherz und Ernst mit meinen Lesern redlich teilen.
Man kann nicht wissen, ob schon Adams Kinder in die Schule gegangen sind; aber wenn sie es taten, so kann man wissen, daß sie es ungern taten. Wir oberflächlichen Menschen, welche seit Jahrtausenden diese Erscheinung wahrnahmen, begnügten uns mit der Erklärung: das läge in der Natur des Kindes, und dagegen sei keine Hülfe möglich. Ich selbst habe erst vor einigen Tagen die schmerzliche Entdeckung gemacht, daß die diesjährige Wohlfeilheit der Kirschen der Frankfurter Jugend sehr schade, indem sie auf dem Wege zur Schule für ihre wenigen Kreuzer sehr viel Obst essen kann und hierüber auf der Straße kostbare Zeit verliert. Ich wollte den Vorschlag machen, von Polizei wegen für die Schulkinder eine hohe Taxe der Kirschen zu setzen, damit sie solche mit ihrem kleinen Vermögen nicht erstehen könnten.
[781] Herr Direktor Seel behandelt den Gegenstand von einer ganz neuen Seite mit ungemeiner Gründlichkeit und Menschenkenntnis. Im allgemeinen, sagte er, müsse man sich mehr darüber wundern, daß die Schulen noch so viel, als daß sie so wenig wirken. Wir wollen diese Behauptung hingehen lassen und durch keinen Widerspruch der Bescheidenheit des Verfassers, der selbst Schullehrer ist, zu nahe treten. Er teilt die Hindernisse, welche der Wirksamkeit der Schule entgegenstehen, in zwei Regimenter ein, in das unvermeidliche und das vermeidliche. Das unvermeidliche Regiment zerfällt in drei Bataillone, wovon das erste in dem Kinde haust, das zweite bei dem Lehrer liegt und das dritte in die elterliche Wohnung einquartiert ist. Das Kinderbataillon besteht aus folgenden Kompagnien Laster, 1. Trägheit, nicht das wohlbekannte deutsche Übel, sondern eine lateinische Krankheit, vis inertiae genannt. (Die drei übrigen übergehe ich.) Die Laster des Lehrerbataillons zählten: Beschränktheit des Verstandes (nicht die der Lehrer, sondern des menschlichen überhaupt), unvollkommene Einsicht (nicht die des Lehrers, sondern aller menschlichen). »Man denke nur«, sagt der Verfasser, »der Lehrer ist ein Mensch (nicht immer) und das Objekt seinerLehrtätigkeit (Harmonikaklänge) ein Geist! – Und: unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk!« – Das elterliche Sündenbataillon ist aus Mangel an Einklang mit der Schule (oft die einzige Rettung für das arme Kind) und aus vielen andern Unvollkommenheiten, welche bald von den Eltern, bald von den Geschwistern, bald von den Knechten und Mägden ausgehen, zusammengesetzt. »Diese Dinge alle vereinigt«, sagt der Verfasser, »sind die unvermeidlichen Übel, welche das gute Werk der Schule zerstören. Nun gibt es aber auch unvermeidliche Hindernisse, an deren Spitze die Schulversäumnisse stehen.«
[782] Herr Dr. Seel bittet nun die Eltern der Musterkinder, letztere zum fleißigeren Schulbesuch anzuhalten. Er bittet sie, »aber freilich mit dem Zusatze«, sagt der Verfasser, »zu dessen Anfügung ich von höherer Behörde beauftragt worden bin, daß, wenn diese Bitte den Erfolg nicht haben sollte, den ich mir davon verspreche, wir zu Anwendung von – den Eltern vielleicht unangenehmen und empfindlichen – Mitteln schreiten müssen.« Bei dieser Stelle muß ich verweilen, da sie etwas Gefährliches für die Rechte der persönlichen Freiheit zu enthalten scheint.
Bei der jetzigen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft, wo sich der Staat um die Kindererziehung nicht bekümmert (denn öffentliche Schulen sind nicht mehr als Marktanstalten, welche die Regierung mit Nahrungsmitteln für den Geist versehen läßt, damit jeder für sein Geld, soviel er für die Seinigen bedarf, dort finden möge), gibt es keine Zwangsmittel für Eltern, die dumm, leichtsinnig oder pflichtvergessen genug wären, den Unterricht ihrer Kinder zu vernachlässigen. Was könnten also das für unangenehme und empfindliche Mittel sein, auf welche Herr Direktor Seel anspielt? Da er von Aufträgen einer höheren Behörde spricht, so ist zwar nicht zu bezweifeln, daß ihm, um die Kinder von Schulversäumnissen und die Eltern von deren Verstattung abzuhalten, nur solche Verwaltungsbefugnisse eingeräumt worden sind, die innerhalb der Schranken der Gesetze liegen. Aber warum nennt Herr Dr. Seel seine unangenehmen Mittel nicht, und wie kann er je sich zu deren Anwendung berechtigt fühlen, solange er sie nicht bestimmt angedroht hat? Dem Herrn Dr. Seel sollte es nicht unbekannt sein, daß nach dem Geiste der jetzigen Regierungskunst kein Strafgesetz Gültigkeit hat, wenn die darin auf ein Vergehen gesetzte Buße nicht in Größe und Beschaffenheit bestimmt ausgedrückt ist. Der früher in manchen deutschen Staaten bestandene Mißbrauch, [783] wo sich die Regierungen zu sagen erlaubten: dieses und jenes zu tun sei verboten, und solle der Übertreter »nach Befinden angemessen« bestraft werden, um sich hierdurch die schöne breite Willkür vom Galgen bis zu dreißig Kreuzern hinab zu verwahren, findet nirgends mehr statt. Ich fordere daher Herrn Dr. Seel auf, und die Eltern der Musterkinder tun dieses gewiß auch in ihrem Sinne, sich gefällig darüber zu äußern, worin jene empfindlichen Mittel bestehen.
Eine herrliche, ganz nach der Natur getroffene Schilderung gibt der Herr Verfasser (Seite 7 und 8) von den Tücken, welche die Kinderchen anwenden, um ihre Eltern zu bewegen, daß sie ihnen den Besuch der Schule erlassen. Es wird keinen gereuen, diese malerische Stelle selbst nachgelesen zu haben.
»Die Eltern«, fährt der Herr Verfasser fort, »bringen gewöhnlich nur den negativen Schaden (lucrum cessans in der gerichtlichen Sprache genannt) der Schulversäumnisse in Anschlag; den positiven Schaden aber (damnum emergens) rechnen sie nicht.« Grade dieser aber sei die Hauptsache. Schulversäumnisse nämlich zerstören bei dem Kinde die so notwendige Achtung vor der Schule. Warum? Deswegen: »Man urteile nur einmal selbst: wenn die Schule zuweilen mit einem Spaziergange, mit einem Besuche, einem häuslichen Vergnügen, mit der Teilnahme an einer Mahlzeit in Kollision kömmt und die Schule ohne weiteres zum Zurückstehen verurteilt werde ...!« Diese Achtung sei das nötigste. »Wir Menschen alle, wir großen sowohl (es ist von körperlicher Größe die Rede) als die kleinen, bedürfen beständig, um uns immer mehr zu erheben (den Trieb, sich zu erheben, zeigt der Verfasser stark), etwas, das wir hoch über uns erblicken, zu dem wir mit ehrfurchtsvoller Scheu und Achtung emporsehen.« Die Kinder also sollten die Schule scheuen; (aber das tun sie ja auch!).
[784] »Daher« – es ist wundervoll, wie der geistreiche Verfasser ohne Brücke zu diesem Satze kommen konnte – »will es Gottes Wort und Gottes Gesetz, daß der Mensch alle Obrigkeit, Gesetz und weltliche Ordnung ehren soll ... Und wenn wir es einmal dahin gebracht haben werden, daß jeder Zeitungsschreiber und Tagblättler die Obrigkeit bekritteln, meistern und schmähen darf; so sind wir ebenso gut dran, als hätten wir keine Obrigkeit, denn sie ist ja alsdann nicht mehr Obrigkeit.« Wenn ich des Herrn Schuldirektors grammatikalischen Witz richtig aufgefaßt habe, so heißt ihm Obrigkeit, was über alles ist, also auch über das Urteil. Er gestatte mir, ihn hierüber zu belehren. Höher als die Obrigkeit steht das Gesetz. Ehrfurcht dem Gesetz und Achtung den Vollstreckern desselben! Wo aber das Gesetz aufhört: und wo die Willkür beginnt, da hört auch, zwar nicht der jeder Obrigkeit schuldige Gehorsam, aber die von ihr geforderte Achtung auf, und man wird alsdann nicht bloß berechtigt, sondern sogar verpflichtet, ihre Schritte zu beurteilen. Wenn die Folgerung des Verfassers wahr wäre, dann müßten Frankreich, England, Bayern und Württemberg ohne Obrigkeit sein, da dort täglich geschieht, was er Bekritteln der Obrigkeit nennt.
Also wie die Obrigkeit, so solle man auch die Eltern und Gott scheuen und fürchten. Der Liebe ist der Verfasser abhold, vielleicht sie auch ihm. Furcht ist ihm die Lenkerin der bürgerlichen Ordnung und jeder Pflicht, und da es sich von dem Herrn Muster-Schuldirektor wie von jedem braven Manne erwarten läßt, daß er die Regeln, die er gibt, selbst befolgt, so darf man annehmen, daß er sich gewaltig fürchtet.
Wenn Herr Dr. Seel durch diese Abhandlung hat zeigen wollen, warum die Kinder die Schule, deren Direktor er ist, so gern und oft versäumen, so muß man ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er die Wurzel [785] des Übels völlig aufgedeckt hat; sie ist ganz handgreiflich geworden.
Aber ihr armen geschreckten Kinder, weinet nicht! Die Natur ist stärker als die Unvernunft der Menschen. Und was die Toren und was die herrschsüchtigen Knechte auch immer sagen und tun mögen – euch bleibt ewig ein Mutterschoß, wohin ihr vor ihren Schmähungen und ihren Mißhandlungen flüchtet.
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