Bjørnson, Bjørnstjerne
Synnöve Solbakken
(Synnøve Solbakken)

[135] Erstes Kapitel

In unsern weiten Tälern ragt wohl manchmal eine größere Anhöhe empor, die nach allen Seiten freiliegt und von der Sonne den lieben langen Tag über bestrahlt wird. Leute, die dichter am Fuß der Felsen und auf sonnenärmeren Plätzen wohnen, nennen solche Anhöhe: Solbakken, d.h. Sonnenhügel. Das Mädel, von dem hier die Rede sein soll, wohnte auf solchem Sonnenhügel, und von ihm hatte ihr Heimatshof den Namen; dort blieb der Schnee im Herbst am spätesten liegen und schmolz im Frühling am zeitigsten.

Die Besitzer des Hofes waren Haugianer und wurden »Leser« genannt, weil sie sich mehr als alle ihre Nachbarn befleißigten, die Bibel zu lesen. Der Mann hieß Guttorm, die Frau Karen. Sie hatten einen Sohn, aber der starb ihnen, und nun gingen sie drei Jahre lang nicht auf die Ostseite der Kirche. Als die drei Jahre um waren, bekamen sie eine Tochter, die sie gern nach dem toten Knaben nennen wollten. Er hatte Syvert geheißen, und sie wurde Synnöv getauft, weil sie nichts ähnlicher Klingendes finden konnten. Aber die Mutter sagte immer »Synnöve«: sie hatte nämlich, als das Kind noch klein war, die Gewohnheit, seinem Namen am Ende ein »mein« hinzuzufügen, und das ging ihr nach dem »e« leichter von der Zunge, gleich viel – als das Mädchen größer wurde, hieß sie bei allen so wie bei ihrer Mutter: Synnöve. Und es gab nur eine Stimme: seit Menschengedenken war im ganzen Kreise kein so anmutiges Mädchen aufgewachsen, wie Synnöve Solbakken. Schon in ihrem zartesten Alter nahmen die Eltern sie an jedem Sonntag, an dem eine Predigt war, mit in die Kirche, obgleich Synnöve zunächst nicht mehr verstand, als daß der Pastor auf den Zuchthaus-Bent [135] schimpfte, den sie unten vor der Kanzel sitzen sah. Doch der Vater wollte sie mit haben, – »damit sie sich daran gewöhne«, sagte er; und die Mutter wollte es, »weil keiner wissen könne, wie auf das Kind unterdessen zu Hause aufgepaßt würde«. Fing auf dem Hofe ein Lamm, eine kleine Ziege oder ein Ferkel zu verkümmern an, erkrankte eine Kuh, dann wurde das Tier sofort Synnöve geschenkt, und von der Stunde an, meinte die Mutter, erholte es sich. Der Vater glaubte nicht recht daran, aber, »jedenfalls war es ja gleichgültig, wem es gehörte, wenn es nur gedieh«.

Auf der anderen Seite des Tales, dicht an den hohen Felsen, lag ein Hof, der Granliden, d.i. Tannwald, hieß, weil er mitten in einem großen Tannenforst, dem einzigen in weitem Umkreis, lag. Der Urgroßvater des jetzigen Besitzers hatte sich seinerzeit mit unter der Mannschaft befunden, die nach Holstein gezogen war, um dort den Russen zu erwarten, und hatte von dieser Kriegsfahrt eine Menge fremder und merkwürdiger Samensorten mitgebracht. Die pflanzte er rings um sein Haus; aber im Lauf der Zeit war ein Keim nach dem anderen eingegangen; nur aus den Tannäpfeln, die wunderlicherweise zwischen den Samen geraten waren, erstand ein dichter Wald, der das Haus jetzt von allen Seiten beschattete. »Der Holsteinfahrer« hatte Thorbjörn nach seinem Großvater geheißen, und sein ältester Sohn wieder nach seinem Großvater: Sämund, und in der Folge trugen die Hofbesitzer immer abwechselnd die Namen: Thorbjörn und Sämund – seit schier undenklichen Zeiten. Aber es ging die Sage, nur immer der in der Reihenfolge zweite Mann habe auf Granliden Glück, und zwar kein »Thorbjörn«. Als dem jetzigen Besitzer Sämund ein Sohn geboren wurde, kam ihm das wohl in den Sinn; er hatte aber nicht den Mut, sich gegen den Familienbrauch aufzulehnen, und nannte das Kind wieder Thorbjörn. Er sann, ob der Junge nicht so erzogen werden könne, daß er um den Stein des Anstoßes, den ihm das Gerede in den Weg gelegt hatte, glatt [136] herumkomme. Ganz sicher war er nicht, aber er glaubte zu bemerken, daß der Bengel ein Hitzkopf sei. »Das wollen wir ihm schon austreiben«, sagte Sämund zu seiner Frau, und als Thorbjörn drei Jahr alt war, saß sein Vater manchmal mit der Rute in der Hand bei ihm und zwang ihn, die zerstreuten Holzspäne auf ihren richtigen Platz zu tragen, den Tassenkopf, den er heruntergeworfen, aufzuheben, die Katze, die er gekniffen hatte, zu streicheln. Währenddessen ging die Mutter meistens aus der Stube.

Sämund wunderte sich sehr, daß er immer mehr an dem Jungen zu verbessern fand, je größer der Bengel wurde. Er hielt ihn zeitig zum Lesen an und nahm ihn mit auf das Feld, um ein Auge auf ihn zu haben. Die Mutter hatte ein großes Hauswesen und kleine Kinder zu besorgen; sie konnte nicht mehr tun, als den Jungen jeden Morgen beim Anziehen zu streicheln und zu ermahnen und seinetwegen mit dem Vater an den Feiertagen, da sie Zeit für einander hatten, eindringlich zu reden. Thorbjörn aber dachte sich, wenn er Prügel kriegte, weil a-b ab und nicht ba lautet, oder wenn ihm nicht erlaubt wurde, die kleine Ingrid mit derselben Rute zu hauen, womit ihn sein Vater schlug: »Es ist doch merkwürdig, daß ich es so schlecht haben soll und meine kleinen Geschwister so gut!«

Da er meistens mit seinem Vater zusammen war und nicht viel mit ihm reden durfte, wurde er wortkarg, doch er dachte sich sein Teil. Einmal, als sie gerade mit dem nassen Heu beschäftigt waren, entfuhr ihm doch eine Frage: »Warum ist in Solbakken das ganze Heu schon trocken und eingebracht, wenn es bei uns noch naß draußen liegt?« – »Weil sie dort mehr Sonne haben als wir.« – Da merkte er zum ersten Male, daß der Sonnenglanz, an dem er sich oft erfreut hatte, für die drüben sei, und er eigentlich benachteiligt war. Fortan sah er häufiger als früher nach Solbakken hinüber. »Sitz nicht so da und reiße den Mund auf,« sagte der Vater und versetzte ihm einen Puff; »hier [137] müssen alle rackern, die Großen wie die Kleinen, um etwas ins Haus zu kriegen.«

Als Thorbjörn sieben oder acht Jahr alt war, nahm Sämund einen neuen Jungknecht an; er hieß Aslak und hatte sich, trotz seiner Jugend, schon weit in der Welt herumgetrieben. Am Abend, da er zuzog, lagen die Kinder schon im Bett, aber wie Thorbjörn am nächsten Morgen am Tisch vor seinem Lesebuch saß, schlug einer die Stubentür mit einem Fußtritt auf, wie ihn Thorbjörn noch nie gehört hatte – und das war Aslak, der nun mit einem großen Haufen Brennholz hereintrampelte und die Scheitern mit einem Schwung auf die Diele warf, daß sie nur so herumflogen. Dann hopste er in die Höhe, um den Schnee abzuschütteln, und rief bei jedem Hopser: »Kalt ist es, sagte die Trollbraut, als sie bis zum Gürtel im Eis steckte!« Der Vater war nicht da, die Mutter fegte den Schnee zusammen und trug ihn, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. – »Nach was glotzt Du denn?« fragte Aslak den Thorbjörn. »Nach nichts«, sagte der Junge, denn er hatte Angst. »Hast Du schon den Hahn dahinten in Deinem Lesebuch gesehen?« – »Ja.« – »Wenn's Buch zu ist, sind auch 'ne Menge Hühner um ihn herum, – hast Du das auch schon gesehen?« – »Nein.« – »Na, dann sieh mal nach.« – Der Junge tat's. – »Schafskopf!« sagte Aslak zu ihm. – Aber von dieser Stunde an hatte keiner soviel Macht über ihn wie Aslak.

»Du kannst gar nichts«, sagte eines Tages Aslak zu Thorbjörn, als der wie gewöhnlich hinter ihm herstapfte. – »Ja, ich kann schon alles bis zur vierten Seite.« – »Das ist was Rechtes! Du hast noch nicht mal was vom Troll gehört, der mit dem Mädchen solange tanzte, bis die Sonne aufging, und dann platzte, wie ein Kalb, das saure Milch gesoffen hat!« So große Kenntnisse hatte Thorbjörn noch nie auf einmal gehört. »Wo war das?« fragte er. – »Wo das war? Das war dort drüben in Solbakken.« – »Hast Du denn schon von dem Mann gehört, der sich dem Teufel für ein paar [138] alte Stiefel verschrieben hat?« – Thorbjörn erstaunte dermaßen, daß er vergaß zu antworten. – »Du denkst wohl wieder, wo das war? Das war auch in Solbakken, dort dicht neben dem Bach, siehst Du? Herrgott, mit der Christenlehre hapert's noch recht sehr bei Dir. Du hast wohl noch nicht mal von Kari Baumrock gehört?« – »Nein«; von der hatte er noch nicht gehört. Und während Aslak nun arbeitete, erzählte er immer schneller von Kari Baumrock, von der Mühle, die Salz auf dem Meeresgrunde mahlte, vom Teufel mit den Holzpantinen, vom Troll, der mit dem Bart im Baumstamm festsaß, von den sieben grünen Jungfrauen, die aus Schützenpeters Wade die Haare zupften, während er schlief und gar nicht aufwachen konnte, – und das war alles in Solbakken passiert. – »Lieber Gott, was ist denn heute in den Jungen gefahren?« sagte die Mutter am nächsten Tage, »er kniet schon seit heute morgen dort auf der Bank und sieht nach Solbakken 'rüber.« – »Ja, heute strengt er sich an«, sagte der Vater, der seine Glieder reckte und sich den ganzen Sonntag über ausruhte. »Er hat sich mit Synnöve Solbakken versprochen, erzählen die Leute,« meinte Aslak, – »die Leute erzählen ja soviel«, setzte er hinzu. Thorbjörn verstand das nicht recht, bekam aber doch einen feuerroten Kopf. Als Aslak darauf aufmerksam machte, kroch der Junge herunter von der Bank, nahm seinen Katechismus vor und fing an, darin zu lesen. »Tröste Dich nur mit Gottes Wort,« sagte Aslak, »Du kriegst sie ja doch nicht.«

Gegen Ende der Woche dachte Thorbjörn: nun haben die anderen die Sache vergessen, – und so fragte er seine Mutter ganz leise (denn er schämte sich ein bißchen): »Du, wer ist denn Synnöve Solbakken?« – »Ein kleines Mädchen, dem mal Solbakken gehören wird.« – »Hat sie auch einen Baumrock an?« Die Mutter sah erstaunt auf den Jungen. »Was sagst Du da?« Er merkte, daß er eine Dummheit gesagt hatte, und schwieg. »Ein hübscheres Kind hat noch keiner[139] gesehen,« fügte die Mutter hinzu, »und die Hübschheit hat ihr unser Herrgott zum Lohn beschert, weil sie immer artig und brav ist und sehr fleißig beim Lernen.« Nun wußte er's und konnt' es beherzigen.

Sämund hatte einmal mit Aslak im Feld zusammen gearbeitet; am Abend desselben Tages sagte er zu Thorbjörn: »Daß Du mir nicht mehr mit dem Knecht zusammensteckst!« Aber Thorbjörn achtete nicht darauf. Einige Zeit darauf hieß es wieder: »Find' ich Dich noch mal bei ihm, dann geht's Dir schlecht!« – Da schlich der Junge Aslak nach, wenn es der Vater nicht sah. Der überraschte sie, als sie wieder beisammensaßen und plauderten; Thorbjörn bekam Prügel und wurde in die Stube gejagt. Später wartete er auf die Gelegenheit, wenn sein Vater im Felde zu tun hatte.

An einem Sonntag, da der Vater in der Kirche war, machte Thorbjörn zu Hause dumme Streiche. Aslak und er warfen sich mit Schneebällen. »Nein, Du tust mir weh, – wir wollen nach was anderem werfen«, bat Thorbjörn. Aslak war sofort bereit, und so warfen sie zuerst nach der dünnen Tanne beim Vorratsschuppen, dann nach dem Schuppentor und endlich nach dem Fenster. – »Nicht nach den Scheiben, sondern nach dem Rahmen«, sagte Aslak. Aber Thorbjörn traf eine Scheibe; er wurde ganz blaß. »Schadet nichts, wer hat's denn gesehen? wirf nochmal und besser!« Thorbjörn traf wieder eine Scheibe. »Jetzt will ich nicht mehr.« Im selben Augenblick trat seine älteste Schwester, die kleine Ingrid aus dem Hause. »Du, wirf nachder mal!« Und Thorbjörn tat, wie ihm geheißen; das Mädchen weinte, die Mutter kam heraus und sagte dem Jungen, er solle aufhören. »Wirf, wirf«, flüsterte Aslak. Thorbjörn – aufgeregt und in Hitze – warf. – »Du bist wohl nicht mehr richtig im Kopf«, sagte die Mutter und lief auf ihn zu. Da rannte er fort, sie hinterdrein; Aslak lachte, die Mutter drohte; endlich faßte sie den Jungen vor einem Schneehaufen und hob schon die Hände, um ihn ordentlich durchzubläuen. – »Ich haue [140] wieder,« rief er, »das ist hier so Sitte.« Die Mutter ließ ganz betroffen die Hände sinken und sah ihn an. »Das hast Du von einem andern«, sagte sie darauf, nahm ihn still bei der Hand und führte ihn in die Stube. Sie sprach kein Wort mehr mit ihm, beschäftigte sich mit seinen kleinen Geschwistern und erzählte ihnen, Vater komme bald aus der Kirche nach Hause. Da begann es tüchtig heiß in der Stube zu werden. Aslak bat um Erlaubnis, einen Verwandten zu besuchen, und durfte gleich gehen; aber Thorbjörn wurde viel kleiner, als Aslak gegangen war. Er hatte schauderhaftes Magendrücken und so feuchte Hände, daß er damit Flecke in sein Buch machte. Wenn Mutter nur Vater nichts sagen wollte, wenn er käme; aber sie darum zu bitten, das kriegte er nicht fertig. Es wurde ihm ganz grün vor den Augen – und die Uhr an der Wand sagte: »Klaps, klaps«. Er mußte zum Fenster hin und nach Solbakken sehen. Das lag still wie immer und verschneit da und glänzte wie perlenbedeckt in der Sonne: das Haus lachte aus allen Fensterscheiben, und von denen war gewiß keine entzwei; der Rauch zog höchst vergnügt aus dem Schornstein und sagte Thorbjörn, daß auch dort für die Kirchgänger gekocht wurde; Synnöve sah bestimmt nach ihrem Vater aus und würde nicht ein bißchen Prügel kriegen. Der Junge wußte nicht mehr recht, was er anfangen sollte, und wurde mit einemmal schrecklich zärtlich mit seinen Schwestern. Gegen Ingrid war er besonders gut und schenkte ihr sogar einen blanken Knopf, den er von Aslak bekommen hatte. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, und er umarmte sie auch. »Liebes Ingridchen, bist Du mir böse?« – »Nein, liebes Thorbjörnchen, Du kannst mich soviel schneeballen, wie Du willst.« Aber da schüttelte sich jemand mit Auftrampeln draußen auf dem Flur den Schnee ab. Und richtig, – das war Vater. Er schien in sanfter und guter Stimmung zu sein; und das war noch schlimmer. »Na«, sagte er und sah sich um; – es war merkwürdig, daß die Wanduhr nicht auf die Diele rasselte. [141] Die Mutter brachte das Essen. »Wie geht's, wie steht's?« fragte der Vater, setzte sich hin und nahm seinen Löffel. Thorbjörn sah seine Mutter an; die Tränen kamen ihm dabei in die Augen. »So lala«, sagte sie unglaublich langsam, und er merkte wohl, daß sie noch mehr sagen wollte. »Ich habe Aslak erlaubt, auszugehen«, sagte sie. – »Für diesmal bin ich durch«, dachte Thorbjörn – und fing mit Ingrid zu spielen an, als ob nichts andres seine Gedanken beschäftige. So lange hatte Vater sich noch nie beim Essen aufgehalten, und Thorbjörn suchte ihm jeden Bissen nachzuzählen, aber als er bis zum vierten gekommen war, wollte er ausprobieren, wie weit er zwischen dem vierten und fünften zählen könne, und da geriet er ganz aus der Ordnung. Endlich stand der Vater auf und ging hinaus. Die Scheiben, die Scheiben klirrten in des Jungen Ohren, und er sah nach, ob sie ganz seien, die in der Stube. Ja, die waren alle ganz. Aber jetzt ging Mutter dem Vater nach. Thorbjörn nahm die kleine Ingrid auf den Schoß und sagte so sanft, daß sie ihn ganz erstaunt ansah: »Wollen wir nicht beide, ›Goldkönigin auf der Wiese‹ spielen, Du und ich?« Ja, das wollte sie gern. Und nun sang er, während die Beine unter ihm zitterten:


Feine Blume,
Wiesenblume,
Höre mir jetzt zu!
Und willst Du meine Liebste sein,
Dann kriegst Du einen Mantel fein,
Mit Gold in Hauf
Und Perlen darauf;
Bimmel, Bammel, Bimmel,
Wie lacht die Sonne vom Himmel!
Da antwortete sie:
Goldkönigin,
Perlenkönigin,
Höre mir jetzt zu:
Mag nicht Deine Liebste sein,
[142]
Mag nicht Deinen Mantel fein,
Mit Gold in Hauf
Und Perlen darauf;
Bimmel, Bammel, Bimmel,
Wie lacht die Sonne vom Himmel!

Doch als das Spiel im besten Gange war, trat der Vater wieder in die Stube und sah Thorbjörn groß an. Der drückte sich fester an Ingrid und fiel nicht mal vom Stuhl herunter. Der Vater drehte sich um und sagte nichts; eine halbe Stunde verging, und er hatte immer noch nichts gesagt, – und der Junge war schon fast beruhigt und wäre beinahe vergnügt geworden; aber das traute er sich doch nicht. Er wußte gar nicht mehr, was er denken sollte, als ihm der Vater selbst beim Ausziehen half; er fing wieder an, etwas zu zittern; da tätschelte ihm der Vater den Kopf und streichelte ihm die Backen; das war Thorbjörn nicht passiert, so lange er denken konnte, und deshalb wurde ihm so warm um das Herz und im ganzen Körper, daß seine Furcht zerrann, wie Eis im Sonnenstrahl. Er wußte nicht, wie er in das Bett kam, und da er weder singen noch laut reden durfte, faltete er still die Hände, betete ganz leise sechsmal das Vaterunser vorwärts und rückwärts und fühlte, während er einschlief, daß er doch niemand auf Gottes grüner Erde so lieb habe wie seinen Vater.

Als er am nächsten Morgen im Halbschlaf dalag, empfand er einen schrecklichen Angstdruck: er sollte Prügel kriegen, wollte schreien, konnte aber nicht. Da er die Augen aufschlug, merkte er zu seiner großen Erleichterung, daß er nur geträumt, aber er merkte auch bald, daß ein anderer Prügel kriegen sollte, nämlich Aslak. Sämund ging in der Stube auf und ab – und was solcher Gang zu bedeuten hatte, das wußte Thorbjörn genau. Der etwas kleine, doch stämmige Mann sah unter den buschigen Augenbrauen manchmal derart Aslak an, daß der hinlänglich spürte, was in der Luft lag; Aslak selbst saß auf dem Bodenrand einer umgekippten [143] großen Tonne und ließ seine Beine herunterbaumeln oder zog sie über Kreuz in die Höhe. Er hatte wie gewöhnlich die Hände in die Hosentaschen gesteckt und die Mütze auf dem Kopf leicht hintenüber gedrückt, so daß das schwarze Haar in vollen Büscheln unter dem Schirm hervorquoll. Sein etwas schiefer Mund war noch schiefer gezogen, den Kopf hielt er halb schräg und blickte durch seine halbgeschlossenen Augenlider von der Seite nach Sämund hin. »Ja, Dein Junge ist verrückt,« sagte er, »aber schlimmer ist, daß Dein Pferd den Teufel im Leibe hat.« Sämund blieb stehen: »Du bist ein Flaps«, sagte er so, daß die Stube dröhnte, und Aslak die Lider noch dichter schloß. Sämund nahm seinen Gang wieder auf; Aslak saß eine Weile still da. »Ja, richtig den Teufel im Leibe«, wiederholte er und schielte nach seinem Herrn, um zu sehen, was für eine Wirkung seine Worte hätten. »Waldscheu ist der Gaul«, rief Sämund im Gehen, »einen Baum hast Du über ihm gefällt und jetzt will er nicht mehr ruhig an den Bäumen vorbei.« Aslak hörte das mit an und erwiderte nach einer kurzen Pause: »Du kannst ja glauben, was Du willst; Glauben macht selig; aber daß Du damit Dein Pferd wieder gesund machst, das glaube ich nicht« – im selben Augenblick jedoch drückte er sich tiefer in die Tonne und deckte sein Gesicht mit der Hand. Sämund war fest auf ihn zugegangen und sagte halblaut, aber in recht unheimlichem Ton: »Du niederträchtiger ...« »Sämund«, erklang eine Stimme vom Herde. Ingebjörg, seine Frau war es, die rief und ihn beruhigen wollte, wie sie ihr Jüngstes beruhigte, das auf ihrem Schoß saß, bange war und schreien wollte. Zuerst wurde das Kind still, dann schwieg auch Sämund, aber er hielt die für einen so stämmigen Mann etwas kleine Faust Aslak dicht unter die Nase, während er sich vor ihm aufpflanzte und ihm mit lodernden Blicken förmlich das Gesicht zu versengen suchte. Dann ging er, wie vorher, auf und ab, sah ihn aber wiederholt hastig an. Aslak [144] war ganz blaß, lachte jedoch mit dem halben Gesicht Thorbjörn zu, während die andere, Sämund zugewandte Hälfte ganz stramm blieb. »Schenk' uns Geduld, lieber Gott im Himmel«, sagte er nach kurzer Stille, machte aber flugs den Ellbogen krumm, wie, um einen Schlag abzuwehren. Sämund war ihm gegenüber stehen geblieben, stampfte nun mit dem Fuß auf den Boden und schrie dabei mit aller Kraft: »Lästre seinen Namen nicht, Du –« Ingebjörg sprang auf, kam mit dem Säugling heran und legte sanft die eine Hand auf den erhobenen Arm ihres Mannes. Er sah sie nicht an, ließ aber den Arm sinken. Sie setzte sich, er ging wieder auf und ab; keiner sprach ein Wort. Nach einiger Zeit ließ es Aslak keine Ruhe: »Ja, der dort oben hat 'ne Menge zu tun in Granliden.« »Sämund, Sämund«, rief Ingebjörg leise und ängstlich, aber bevor er es noch gehört hatte, war er zu Aslak hingerast. Der streckte seinen Fuß vor; diesen beiseite schlagen, am Fuß und am Kragen den Burschen packen, ihn hochheben und gegen die geschlossene Tür schleudern, daß die Füllung in Stücke ging und der ganze Kerl kopfüber hinausflog, war für Sämund das Werk weniger Augenblicke. Seine Frau, Thorbjörn, alle Kinder, schrien und baten; das ganze Haus war ein Jammer. Aber Sämund dem Aslak nach; ohne die Tür richtig aufzumachen, nur die Holzstücke und Spitter fortstoßend, packte er den Knecht zum zweiten Male, trug ihn durch den Flur, hinaus in den Hof, hob ihn wieder hoch und warf ihn mit aller Macht zu Boden. Und als er merkte, daß zu viel Schnee dalag, um den Fall wuchtig genug zu machen, kniete er auf die Brust Aslaks hin, schlug ihm in das Gesicht, hob ihn zum dritten Male hoch, trug ihn zu einer schneefreieren Stelle wie der Wolf einen erjagten, zerfleischten Hund, warf ihn wieder hin, kniete wieder auf ihm – und, wer weiß, welches Ende es genommen hätte, wenn sich nicht Ingebjörg, den Säugling auf dem Arm, zwischen die beiden geworfen hätte. – »Mach' uns nicht unglücklich!« schrie sie.

[145] Eine Weile darauf saß Ingebjörg in der Stube; Thorbjörn zog sich an, der Vater ging auf und ab und trank hin und wieder einen Schluck Wasser; aber die Hand zitterte ihm so dabei, daß das Wasser manchmal über den Tassenrand auf die Diele spritzte. Aslak kam nicht herein, und Ingebjörg machte kurz darauf Miene, hinauszugehen. »Bleib«, sagte Sämund, mit einem Ton, als wenn er gar nicht zu ihr spräche; und sie blieb. Bald jedoch ging er selbst. Er kam nicht wieder. Thorbjörn las fortwährend, ohne aufzublicken, obgleich er nicht imstande war, den kleinsten Satz zusammenzubringen.

Weiterhin am Vormittag war das Haus in gewohnter Ordnung, obgleich allen zumute war, wie nach dem Besuche eines noch nie dagewesenen Fremden. Thorbjörn wagte endlich auf den Hof zu gehen, und der erste, den er dort traf, war Aslak, der alle seine Habseligkeiten auf einen Schlitten – Thorbjörns Schlitten – geladen hatte. Thorbjörn starrte ihn an, er sah gräßlich aus. Sein Gesicht war mit Blut beklebt und beschmiert; er hustete und faßte sich oft an seine Brust. Erst blickte er den Jungen stumm an und stieß darauf hart die Worte hervor: »Ich kann Deine Augen nicht leiden, Bengel«; dann setzte er sich mit gespreizten Beinen auf den Schlitten und fuhr bergab. »Du kannst zusehen, wie Du Deinen Schlitten wiederkriegst«, rief er, während er sich noch einmal umdrehte und lang die Zunge herausstreckte. Dann zog er weiter. In der nächsten Woche kam der Gerichtsdiener nach Granliden; der Vater ging öfter fort; die Mutter weinte und war auch ein paarmal fort. »Wo geht Ihr denn immer hin?« »Ach, Aslak hat uns was Tüchtiges eingebrockt.«

Einige Tage darauf wurde die kleine Ingrid ertappt, wie sie sang:


»O Du holdselige Erden
Kannst mir gestohlen werden;
Das Mädel reckt und streckt sich weit;
Der Junge ist nicht recht gescheit;
[146]
Die Wirtin kocht nur Sudelbrei,
Der Wirt ist faul und sauft dabei;
Die Katze ist die einzig kluge,
Sie leckt den Milchrahm aus dem Kruge.«

Da fragten die Eltern, von wem sie das schöne Lied gelernt habe. »Ja, von Thorbjörn.« Der Junge bekam einen großen Schreck und stotterte, daß er es von Aslak habe. Nun wurde ihm unter Androhung gehöriger Prügel verboten, je wieder solche Lieder zu singen oder sie Ingrid zu lehren. Kurz darauf fluchte die kleine Ingrid. Thorbjörn mußte wieder vor das Gericht, und Sämund meinte, das beste sei, wenn er als Anstifter gleich die Rute kriege; aber er weinte und gab das hochheilige Versprechen, es nie wieder tun zu wollen; so kam er für diesmal noch davon.

Am Sonntag darauf sagte der Vater zu ihm: »Damit Du zu Hause keine dummen Streiche machst, sollst Du heute mit mir in die Kirche.«

Zweites Kapitel

Die Kirche stellt der Bauer in seinen Gedanken auf einen hohen Platz, auf einen Platz für sie allein; er sieht sie in Heiligkeit, umgeben vom feierlichen Ernst der Gräber, erfüllt von der frischen Lebenskraft des Gottesdienstes. Sie ist das einzige Haus, bei dessen Bau er Pracht entfaltet hat, und deshalb ragt ihre Turmspitze für seine Anschauung weit höher, als sie in der Tat ist. Ihre Glocken grüßen ihn am klaren Sonntagsmorgen den ganzen Weg entlang auf dem Gange zu ihr, und er zieht immer den Hut vor ihnen ab, als wollte er sagen: »Dank für das vorige Mal!« Es ist ein geheimes Band zwischen ihm und den Glocken. In den frühesten Lebensjahren stand er wohl im offenen Haustor und lauschte ihrem Klang, während unten auf dem Wege die Kirchgänger still vorbeizogen; Vater schloß sich an, er selbst war noch zu klein. Damals verband er so [147] manche verschiedenartige Vorstellungen mit diesem schweren, starken Schall, der ein oder zwei Stunden zwischen den Felsen dröhnte und sich von einem zum andern schwang; aber eine Vorstellung war ihm unzertrennbar davon: saubere Röcke und Hosen, Frauen in ihrem besten Schmuck und Staat, geputzte Pferde mit blankem Geschirr.

Und wenn dann die Glocken sein eigenes Glück einläuten, wenn er selbst im funkelnagelneuen, aber etwas für ihn zu großen Anzug wichtig an Vaters Seite zur Kirche geht, – welcher Jubel tönt da aus ihrem Klang! Da können sie wohl alle Tore sprengen zu dem, was er schauen soll! Und wenn sie dann auf dem Rückweg über seinem Kopf lärmen, der noch schwer, noch von den Gesängen, Gebeten, Pastorsworten, die sich darin wiegen und kreuzen, wirr ist, wenn alle die früher nie gesehenen Bilder: Altargemälde, Trachten, Personen, vor seinen Augen auf- und abjagen – dann wölbt auch ihr Geläute für immer das Dach über die gesammelten Eindrücke und weiht die kleine Kirche ein, die er fortan im Herzen trägt.

Ist er etwas älter geworden, dann muß er zu Berg und das Vieh hüten; aber wenn er an einem schönen, taufrischen Sonntagsmorgen auf einem Stein zwischen seiner Herde sitzt, und die Kirchenglocken die Schellen der Tiere übertönen, dann wird er schwermütig. Denn aus den Glockentönen klingt etwas Lustiges, Leichtes, Lockendes von dort unten herauf; sie wecken die Erinnerung an Bekannte vor und in der Kirche, an die Freude, dort zu sein, an die vielleicht noch größere, dort gewesen zu sein, zu Hause gutes Essen, die Eltern, die Geschwister zu finden, – sie erzählen vom Spiel auf den Grasflecken am vergnüglichen Sonntagsabend, – und dann gerät das kleine Herz des Jungen in Aufruhr. Aber schließlich: es sind doch die Kirchenglocken, die erklingen; und so sucht und findet er doch in seinem Kopf das Bruchstück eines Gesangbuchliedes, das er zur Not auswendig weiß, und er singt es mit gefalteten Händen und blickt weit [148] dabei ins Tal hinunter, spricht ein kurzes Gebet, springt auf und stößt in sein Hirtenhorn, daß die Töne gegen die Bergwände schmettern.

Hier in den stillen Felsentälern hat die Kirche noch für jedes Lebensalter ihre besondere Sprache, für jedes Auge ihr besonderes Aussehen. Erwachsen und fertig steht sie vor dem Konfirmanden, – mit aufwärts gerecktem Finger, halb drohend, halb winkend, vor dem Jüngling, der seine Wahl getroffen hat, – breitschultrig und stark vor dem sorgenden Mann, – geräumig und mild vor dem müden Greise. Mitten im Gottesdienst werden die jüngst geborenen Kinder hereingetragen und getauft und, wie bekannt, ist während dieser Feier die Andacht am größten.

Man kann deshalb nie ein richtiges Bild von den norwegischen Bauern, von verderbten oder unverdorbenen, wiedergeben, ohne an irgendeiner Stelle die Kirche als Hintergrund heranzuziehen. Dadurch entsteht eine gewisse Einförmigkeit; aber das ist nicht das Schlimmste. Dies sei hier ein für allemal hervorgehoben, und nicht nur mit Bezug auf den Kirchgang, von dem jetzt berichtet werden soll.

Thorbjörn war sehr vergnügt über den Gang und alles Neue; merkwürdig viele Farben spielten in sein Auge draußen vor der Kirche; in ihrem Inneren fühlte er den Druck der Stille, der auf allen und allem schon vor Beginn des Gottesdienstes lag; und obgleich er beim Vorlesen des Gebetes vergessen hatte, den Kopf zu senken, war es ihm doch, als beuge der Anblick von den mehreren hundert gesenkten Köpfen auch den seinen. Der Gesang setzte ein; alle um ihn her sangen mit einemmal; ihm wurde fast ängstlich zumute. So versunken saß er da, daß er wie aus einem Traum auffuhr, als die Tür sacht geöffnet wurde und ein Mann neben Vaters Sitz trat. Wie das Lied zu Ende war, gab Vater dem Hereingekommenen die Hand und fragte: »Wie geht's in Solbakken?«

Thorbjörn schlug die Augen auf, aber so genau er[149] hinsah und suchte, eine Verbindung zwischen dem Mann und Trollen oder irgend welcher Hexerei konnte er nicht finden. Der Mann hatte ein sanftes Gesicht, blondes Haar, große blaue Augen unter einer hohen Stirn und eine stattliche Figur; er lächelte, wenn jemand mit ihm sprach, und sagte auf alle Worte Sämunds »Ja«, sonst redete er wenig. – »Jetzt will ich Dir auch Synnöve zeigen«, meinte der Vater und wies nach dem Frauenplatz gerade gegenüber. Dort kniete ein kleines Mädchen oben auf der Bank und sah über den Rand der Brüstung; es war noch blonder als der Mann, so blond, wie er noch keins gesehen hatte. Rote Bänder flatterten von ihrem Hut über dem Flachshaar, und sie lachte ihm zu, so daß er eine ganze Weile auf nichts anderes blicken konnte als auf ihre weißen Zähne. In der einen Hand hielt sie ein blinkendes Gesangbuch, in der anderen ein zusammengefaltetes, rotgelbes seidnes Taschentuch, und sie machte sich den Spaß, mit dem Taschentuch auf das Gesangbuch zu schlagen. Je mehr er sie anstarrte, desto mehr lachte sie; und nun wollte er auch auf die Bank hinauf, ebenso hoch wie sie. Da nickte sie ihm zu. Er sah sie ein paar Minuten ernst an, dann nickte er. Sie lachte und nickte wieder, und noch einmal, und noch einmal. Dann lachte sie; nickte aber nicht mehr, – nach kurzer Zeit, als er nicht mehr daran dachte, nickte sie.

»Ich will auch sehen«, hörte er eine Stimme hinter sich, und im selben Augenblick wurde er am Bein gepackt und heruntergezerrt, so daß er beinahe hingefallen wäre. Das hatte ein kleiner Bengel zuwege gebracht, der sich jetzt tapfer auf Thorbjörns Platz hinaufarbeitete. Aslak hatte Thorbjörn gründlich belehrt, wie er mit bösen Buben in der Schule oder Kirche verfahren sollte, deshalb kniff er den Jungen in sein Hinterteil, so daß der fast geschrien hätte; aber er nahm sich zusammen, krabbelte schnell herunter und faßte Thorbjörn bei beiden Ohren. Thorbjörn packte ihn beim Schopf und warf ihn hin; noch schrie der kleine Kerl nicht, aber er [150] biß seinen Gegner ins Bein. Thorbjörn zog es zurück und drückte das Gesicht des andern fest auf den Boden, da wurde er selbst beim Kragen genommen und wie ein Strohsack hochgehoben, – von seinem Vater, der ihn vor sich auf das Knie setzte. »Wenn wir jetzt nicht in der Kirche wären, dann kriegtest Du gleich Deine Prügel«, flüsterte er ihm ins Ohr und packte ihn so fest bei der Hand, daß es Thorbjörn bis zu den Sohlen prickelte und stach. Dann erinnerte Thorbjörn sich wieder an Synnöve und sah zu ihr hinüber; sie war noch auf ihrem früheren Platz; aber starrte ganz betroffen und ängstlich vor sich hin. Da fing es in ihm zu dämmern an; was er getan hatte, mußte wohl ganz toll und schlimm gewesen sein! Sowie sie merkte, daß er sie ansah, kroch sie von der Bank herunter und ließ sich nicht wieder blicken.

Der Küster, der Pastor trat vor; wohl hörte er und sah er hin auf beide – und wieder kam der Küster und wieder der Pastor – aber er saß immer noch auf dem Knie seines Vaters und hatte eigentlich nur den einen Gedanken: wird sie bald wieder hersehen? Der Bengel, der ihn von der Bank heruntergezogen hatte, hockte weiter hinten auf einem Schemel und bekam jedesmal, wenn er aufstehen wollte, einen Puff in den Rücken von der Hand eines Alten, der auf seinem Stuhl im Halbschlaf nickte, aber regelmäßig aufwachte, wenn der Junge Miene machte, hochzukommen. »Wird sie nicht bald wieder hersehen?« dachte Thorbjörn; und jedes rote Band, das sich in seiner Umgebung bewegte, erinnerte ihn an Synnöves; und jedes alte Bild an der Kirchenwand war ebenso groß oder kleiner als sie. Ja, jetzt streckte sie den Kopf hoch; aber sobald sie Thorbjörn sah, duckte sie sich wieder. – Der Küster trat noch einmal vor, und auch der Pastor; dann läutete es, und die Gemeinde stand auf. Der Vater sprach wieder mit dem blonden Mann; sie gingen zusammen zu den Frauenplätzen hinüber, wo auch schon alles aufgestanden war. Die erste, die herauskam, war eine blonde Frau; sie [151] lächelte, aber nicht so ausgesprochen, wie der Mann, war sehr klein und blaß, und hielt Synnöve an der Hand. Thorbjörn ging gleich auf das Kind zu, aber es lief weg und versteckte sich hinter seiner Mutter: »Ich will nicht«, rief es. »Er ist wohl noch nie in der Kirche gewesen«, sagte die Frau und legte die Hand auf des Knaben Schulter. »Nein,« antwortete Sämund, »sonst hätte er sich heute nicht geprügelt.« Thorbjörn sah ganz beschämt sie und dann Synnöve an, die ihm noch viel ernster schien. Sie gingen alle aus der Kirche – die älteren im Gespräch, Thorbjörn hinter Synnöve; die drängte sich immer dicht an ihre Mutter, sobald er ihr näherkam. Den anderen Jungen sah er nicht mehr. Draußen blieb die ganze Gesellschaft stehen und fing eine längere Unterhaltung an. Thorbjörn hörte mehrmals den Namen »Aslak« heraus, und da er bange war, daß sie auch über ihn selbst reden könnten, blieb er einige Schritte zurück. »Du brauchst das nicht mit anzuhören,« sagte die Mutter zu Synnöve, »geh ein bißchen weiter, mein liebes Kind; geh, sag' ich.« Synnöve trat widerwillig zurück. Thorbjörn ging auf sie zu und sah sie an; und sie sah ihn an; und so standen sie ein Weilchen und sahen sich an. Endlich sagte sie: »Pfui!« – »Warum sagst Du Pfui!« fragte er. – »Pfui!« sagte sie noch einmal, »Pfui, Du solltest Dich lieber was schämen«, setzte sie hinzu. – »Was habe ich denn getan?« – »Geprügelt hast Du Dich, während der Pastor dastand und Gottesdienst hielt, – Pfui!« – »Ja, das ist doch aber schon so lange her.« – Das leuchtete ihr ein, und sie fragte kurz darauf: »Bist Du Thorbjörn Granliden?« – »Ja, und bist Du Synnöve Solbakken?« – »Ja, ich habe immer gehört, daß Du so'n artiger Junge bist.« – »Nein, das ist nicht wahr; ich bin zu Hause der allerschlimmste«, sagte Thorbjörn. – »Hör' mal einer an!« sagte Synnöve und schlug ihre beiden kleinen Hände zusammen: »Mutter, Mutter, er sagt –« – »Sei still und geh fort«, rief die Mutter und die Kleine machte Halt, ging wieder langsam und rückwärtsschreitend [152] nach hinten, heftete aber dabei die großen, blauen Augen stetig auf ihre Mutter. – »Ich habe immer gedacht, Du bist so artig!« – »Ja, manchmal, wenn ich in der Bibel gelesen habe«, antwortete sie. – »Sag' mal, ist es wahr, daß da drüben bei Euch alles dick voll von Kobolden und Trollen und anderen Hexenkram steckt?« fragte er und stemmte die eine Hand in die Seite, setzte den einen Fuß vor und stützte sich auf den andern – genau wie Aslak. – »Mutter, Mutter, weißt Du, was er gesagt hat ...« – »Laß mich doch zufrieden, hörst Du nicht! Und komm nicht her, wenn Du nicht gerufen wirst!« – Synnöve mußte wieder langsam nach hinten; sie steckte dabei einen Zipfel vom Taschentuch zwischen die Zähne, biß ihn fest und zog daran. – »Ist das also nicht wahr, daß bei Euch das Hügelvolk jede Nacht unten Musik macht?« – »Nein!« – »Dann hast Du wohl noch nie bei Euch einen Troll gesehen?« – »Nein!« – »Aber Jesus soll mir bei ...« – »Pfui, so was darfst Du nicht sagen!« – »Ach was, das schadet nichts«, sagte er und spuckte durch die Zähne, um ihr zu zeigen, wie weit er spucken könne. – »Doch,« sagte sie, »dann kommst Du in die Hölle.« – »Meinst Du?« fragte er bedeutend kleinlauter; denn er dachte, er könne höchstens Prügel dafür kriegen, und sein Vater stand ja jetzt weit weg. – »Wer ist denn bei Euch zu Hause der Stärkste?« fuhr er nach einer Weile fort und rückte seine Mütze mehr nach einer Seite. – »Das weiß ich nicht.« – »Bei uns ist es Vater; ja, der ist so stark, daß er Aslak verhauen hat, und Aslak ist stark, das kannst Du glauben.« – »Na ja –« – »Er hat mal ein Pferd hochgehoben.« – »Ein wirkliches Pferd?« – »Ja, das ist wahr, ganz gewiß wahr – er hat's mir selber erzählt.« – Daraufhin durfte sie nicht länger daran zweifeln. – »Wer ist denn Aslak?« fragte sie. – »Du, das ist ein ganz Schlimmer, weißt Du; aber Vater hat ihn verhauen; ich sage Dir, noch nie hat einer soviel Prügel gekriegt.« – »Prügelt Ihr Euch denn zu Hause?« – »Ja, manchmal, Ihr nicht?«[153] – »Nein, nie.« – »Na, was macht Ihr denn eigentlich?« – »Mutter sorgt fürs Essen und strickt und näht. Das tut Kari auch, aber lange nicht so gut wie Mutter, weil sie faul ist; Randi besorgt die Kühe; und Vater und die Knechte arbeiten auf dem Feld oder auch zu Hause.« – Diese Erklärung befriedigte ihn. – »Abends lesen wir in der Bibel und singen,« fuhr sie fort, »und Sonntags auch.« – »Du, das muß aber langweilig sein.« – »Langweilig? Mutter, er sagt ...« aber dann erinnerte sie sich, daß sie das Gespräch der Alten nicht stören durfte. – »Ich habe eine Menge Schafe«, sagte sie. – »So?« – »Ja, drei gehen mit Winterlämmern und das eine, glaube ich, wirft bestimmt zweie.« – »Schafe hast Du?« – »Ja, auch Kühe und Ferkel, hast Du keine?« – »Nein.« – »Wenn Du zu uns kommst, dann gebe ich Dir ein Lamm ab; und, paß mal auf, davon bekommst Du wieder Kleine.« – »Das wär' aber ein Spaß!« – Ein Weilchen blieben sie still. – »Kann Ingrid nicht auch ein Lamm kriegen?« fragte er. – »Wer ist denn Ingrid?« – »Na, Ingrid, Ingridchen.« – Sie kannte doch aber Ingrid gar nicht. – »Ist sie kleiner als wie Du?« – »Gewiß doch, ungefähr so groß wie Du.« – »Ach, die mußt Du mitbringen, hörst Du?« – Ja, das wollte er. – »Aber«, sagte sie, »wenn Du ein Lamm bekommst, kann sie ein Ferkel bekommen.« – Das fand er auch viel netter, und nun erzählten sie sich etwas von gemeinschaftlichen Bekannten, von denen sie nicht arg viel hatten. Dann war die Unterhaltung der Eltern zu Ende, und sie mußten nach Hause gehen.

Nachts träumte er von Solbakken; er meinte dort lauter weiße Lämmer zu sehen und zwischen ihnen ein kleines Mädchen mit blondem Haar und roten Bändern; – Ingrid und er sprachen alle Tage davon. Sie hatten schon im voraus soviel Lämmer und Ferkel zu besorgen, daß sie es gar nicht schaffen konnten; aber sie wunderten sich sehr, daß sie nicht sofort zu Synnöve durften. »Auf die Einladung von dem Kind?« sagte die Mutter [154] »nein, das paßt sich nicht.« – »Warte bis Sonntag,« sagte Thorbjörn, »dann werden wir ja sehen.«

Der Sonntag kam. »Du sollst so sehr prahlen und lügen und fluchen,« sagte Synnöve zu ihm, »und da darfst Du nicht zu uns kommen, bis Du das nie wie der tust.« – »Wer hat das gesagt?« fragte Thorbjörn erstaunt. – »Mutter.«

Ingrid erwartete ihn schon sehr gespannt zu Hause. Als er wiederkam, erzählte er, wie es ihm ergangen war. »Da hast Du's«, sagte die Mutter. Aber von dieser Stunde erinnerten sie ihn jedesmal daran, wenn er fluchte oder prahlte. Dabei kam es einmal zwischen ihm und Ingrid bis zur Prügelei, weil sie nicht einig darüber wurden, ob »mich soll gleich der Hund beißen« als Fluch gelten dürfe oder nicht. Ingrid bekam Schläge von ihm, und nun gebrauchte er die Redensart den ganzen Tag. Doch abends hörte sie der Vater. »Gleich wird er Dich beißen«, sagte er, und nahm sich Thorbjörn so vor, daß dieser hinpurzelte. Da schämte er sich, und am meisten vor Ingrid; aber kurz darauf ging sie zu ihm und streichelte ihn.

Endlich, nach ein paar Monaten, durften sie hinüber nach Solbakken; dann kam Synnöve zu ihnen, sie beide wieder zu ihr, und so verkehrten sie die ganzen folgenden Jahre zusammen. Thorbjörn und Synnöve wetteiferten beim Lernen miteinander; sie gingen in dieselbe Klasse, und zuletzt überholte er sie; er wurde ein so tüchtiger Schüler, daß der Pastor sich seiner ganz besonders annahm. Ingrid kam nicht recht mit, und die beiden halfen ihr; sie und Synnöve wurden unzertrennlich, die Leute nannten sie »Schneehühner«, weil sie beide immer zusammen ausflogen und so hell aussahen.

Aber mitten drin wurde Synnöve oft mit Thorbjörn böse, weil er so wild war und immer in Händel geriet. Dann versöhnte Ingrid sie, und sie lebten wieder als gute Freunde wie zuvor. Doch hörte Synnöves Mutter von einer seiner Schlägereien, so erlaubte sie nicht, daß er in derselben Woche, kaum in der nächsten,[155] nach Solbakken kam. Sämund durfte nichts davon erfahren; er geht so hart mit dem Jungen um, sagte seine Frau und verbot, davon zu reden.

Als sie heranwuchsen, waren alle drei fein anzusehen; jedes hatte seinen besonderen Vorzug. Synnöve wurde groß und schlank, bekam goldblondes Haar und ein zartes, leuchtendes Gesicht mit stillen, blauen Augen. Beim Sprechen lächelte sie, und bald hieß es bei den Leuten: »Zum Segen wird es jedem, den Synnöves Lächeln trifft.« Ingrid war untersetzter und dicker; sie hatte noch blonderes Haar als Synnöve und ein ganz kleines rundes Gesicht mit weichen Zügen. Thorbjörn war mittelgroß, besonders gut gewachsen, hatte schwarze Haare, dunkelblaue Augen, einen scharfgeschnittenen Kopf und starke Gliedmaßen. Geriet er in Hitze, dann sagte er gewöhnlich, er könnte ebenso gut lesen und schreiben wie der Lehrer und fürchte keinen Menschen im ganzen Tal; – bis auf seinen Vater, dachte er, aber das sprach er nicht aus.

Er wollte schon früh konfirmiert werden; aber dar aus wurde nichts. »Solange Du noch nicht konfirmiert bist, giltst Du noch als Junge, und ich habe Dich mehr in meiner Gewalt«, sagte sein Vater; infolgedessen ging er erst zur selben Zeit wie Synnöve und Ingrid zum Pastor. Auch Synnöve hatte lange warten müssen, fast bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr. »Man kann nie genug wissen, wenn man sein Bekenntnis vor Gott ablegen soll«, hatte die Mutter gesagt, und der Vater, Guttorm Solbakken, hatte zugestimmt. Daher war es nicht eben unerklärlich, daß sich schon zwei Freier meldeten: der eine der Sohn eines besseren Mannes, der andere ein reicher Nachbar. »Da hört doch alles auf, – sie ist ja noch nicht mal konfirmiert.« – »Dann wollen wir sie konfirmieren lassen«, sagte der Vater. Aber davon erfuhr Synnöve nichts.

Der Frau und den Töchtern des Pastors gefiel sie so gut, daß sie von ihnen zu einem Gespräch in das Haus gerufen wurde. Ingrid und Thorbjörn standen unterdessen [156] mit den anderen Konfirmanden draußen, und als einer von den Burschen zu ihm sagte: »Du darfst nicht mit 'rein? Paß' auf, die schnappen sie Dir bestimmt fort«, da brachten ihm diese Worte ein blaues Auge ein. Seitdem machten sich seine Kameraden immer ein Vergnügen daraus, Thorbjörn mit Synnöve zu necken, weil sie genau wußten, daß nichts anderes ihn so ärgern und in Wut versetzen konnte. Schließlich kam es, nach vorheriger Verabredung, in einem Walde beim Pfarrhof deswegen zu einer tüchtigen Rauferei, die sich so zuspitzte, daß Thorbjörn es mit einem ganzen Haufen Angreifer auf einmal zu tun kriegte. Die Mädchen waren schon vorausgegangen, und daher niemand da, der dazwischen treten und die Burschen trennen konnte; immer hitziger und hitziger wurden die Gemüter. Thorbjörn wollte auch der Übermacht gegenüber nicht klein beigeben und war nicht wählerisch in der Art seiner Verteidigung; dabei hagelte es Hiebe, die später selber den Vorfall kundtaten. Nun kam auch die Veranlassung heraus und wurde überall viel besprochen.

Am nächsten Sonntag wollte Thorbjörn nicht in die Kirche, und als er am folgenden Tage in die Pastorstunde sollte, stellte er sich krank; deshalb ging Ingrid allein. Bei ihrer Rückkehr fragte er sie, was Synnöve gesagt habe. »Nichts.«

Als er nun wieder mitging, glaubte er zu bemerken, daß alle Leute ihn ansähen und die Konfirmanden grinsten und kicherten. Synnöve kam später als die andern und war nachher viel im Pastorhause. Er fürchtete vom Pastor ausgescholten zu werden, aber er entdeckte schnell, daß nur zwei nichts von der Rauferei wußten, sein Vater und der Pastor. Das war ja soweit ganz gut; aber wie er mit Synnöve wieder in ein Gespräch kommen könne, das wußte er nicht; denn es genierte ihn zum erstenmal, Ingrid um Hilfe zu bitten. Nach Schluß des Unterrichts ging Synnöve wieder zu Pastors; er wartete, solange noch andere dablieben, mußte aber dann auch fort. Ingrid war schon weit voraus.

[157] Das nächste Mal war Synnöve früher als alle übrigen gekommen und spazierte mit einer der Pastorstöchter und einem jungen Herrn im Garten umher. Das Fräulein zog Blumen mit der Wurzel heraus und gab sie Synnöve; der Herr half dabei; und Thorbjörn stand mit den andern draußen und sah zu. Da drin sehr laut gesprochen wurde, hörten sie, wie man Synnöve erklärte, in welcher Weise diese Blumen eingesetzt werden müßten, und wie sie versprach, das selbst zu tun, damit es sorgfältig gemacht würde. »Das kannst Du ja gar nicht allein,« sagte der Herr; und das gab Thorbjörn zu denken. – Als Synnöve zu den andern herauskam, wurde sie von ihnen mit noch größerer Achtung wie gewöhnlich begrüßt; sie schritt aber direkt auf Ingrid zu, sagte ihr guten Tag und bat sie, mit ihr auf die Wiese zu gehen. Dort setzten sie sich hin; sie hatten sich ja lange nicht richtig ausgesprochen. Thorbjörn stand wieder bei den andern und sah nach Synnöves feinen, ausländischen Blumen.

An diesem Tage ging Synnöve zu derselben Zeit wie die übrigen nach Hause. »Darf ich Dir vielleicht die Blumen tragen?« fragte Thorbjörn. – »Bitte«, antwortete sie sanft, doch ohne ihn anzusehen, faßte Ingrid bei der Hand und schritt mit ihr voran. Am Wege nach Solbakken blieb sie stehen und nahm von Ingrid Abschied. »Das Stückchen kann ich sie schon selbst tragen«, sagte sie und hob den Korb auf, den Thorbjörn hingesetzt hatte. Bei jedem Schritt bis hierher war es eigentlich seine Absicht gewesen, ihr anzubieten, die Blumen für sie einzupflanzen, aber nun brachte er es nicht mehr übers Herz, weil sie sich zu schnell umdrehte. Doch konnte er an nichts anderes denken, als daß er ihr eigentlich dabei helfen müßte. »Wovon sprecht Ihr denn?« fragte er Ingrid. »Von nichts.«

Als er alle im Bett wußte, zog er sich wieder an und verließ den Hof. Der Abend war schön, war mild und still, der Himmel von dünnen, blaugrauen Wolken überzogen; ihr Flor hatte sich hier und dort gelöst, und nun [158] sah es aus, als ob blaue Augen von oben Umschau hielten. Keine Menschenseele ließ sich bei den Höfen und weiter draußen blicken, doch überall im Grase zirpten die Heuschrecken; rechts lockte eine Wachtel, links antwortete eine zweite, und nun erhob sich auf allen Seiten ein Singen, so daß ihm, dem Dahinschreitenden, zumute war, als ob er in großer Begleitschaft ginge, wenngleich er nicht das Geringste davon sehen konnte. Der Wald zog sich blau, dann dunkler und dunkler die Böschungen entlang und nahm sich zuletzt wie ein großes Nebelmeer aus; aber durch den wogenden Schleier hörte er den Auerhahn sich melden und laut werden, eine einzelne Eule schrie und der Wasserfall sang seine alten, harten Reime stärker als je; – jetzt, da sich alles niedergelassen hatte, um sie anzuhören. Thorbjörn sah nach Solbakken hinüber und schritt weiter. Er bog vom gewöhnlichen Wege ab, kam schnell vorwärts und bald stand er in dem kleinen Garten, der Synnöve gehörte und unterhalb eines Bodenfensters lag, gerade des Fensters, hinter dem sie schlief. Er lauschte und lugte, alles war leer und still, dann sah er sich im Garten nach Arbeitsgeräten um und fand richtig sowohl Spaten wie Harke. Der Anfang zu einem Beet war schon versucht worden; aber nur ein kleiner Streifen fertig; zwei Blumen hatte jemand bereits eingesetzt, vermutlich um zu probieren, wie es aussehe. »Die Ärmste ist müde geworden und wieder weggegangen«, dachte er; »hier muß ein Mann 'ran«, dachte er weiter, und machte sich an das Werk. Er verspürte nicht die geringste Lust zum Schlaf; ja, nie schien ihm eine Arbeit leichter von der Hand gegangen zu sein. Er erinnerte sich, wie die Blumen eingesetzt werden müßten, erinnerte sich, wie sie im Pfarrhof standen, und beachtete beides gewissenhaft dabei. So verging die Nacht, er merkte nichts davon; er gönnte sich kaum ein Weilchen zum Ausruhen, grub das ganze Beet um, pflanzte die Blumen ein, versetzte eine oder die andere, damit es noch schöner aussehe, und guckte ab und zu nach dem Bodenfenster, ob er [159] doch vielleicht bemerkt wurde. Weder dort noch anderswo war jemand zu sehen; er hörte nicht einmal einen Hund bellen, bevor der Hahn krähte und die Vögel im Walde erwachten, sich, – jetzt dieser, jetzt jener, – aufsetzten, um »Guten Morgen« zu singen. Während er rings um das Beet die Erde mit dem Spaten festschlug, fielen ihm die Märchen von Aslak ein, und er erinnerte sich, wie er damals geglaubt hatte, in Solbakken wüchsen Trolle und Kobolde aus der Erde. Da sah er zum Bodenfenster hinauf und lächelte: Was wird sich wohl Synnöve denken, wenn sie herunterkommt? Es wurde ganz hell; die Vögel vollführten schon einen schauderhaften Spektakel; schnell sprang er über den Zaun und machte, daß er nach Hause kam. So! Nun sollte mal einer beweisen, daß er Synnöves Blumen eingepflanzt habe.

Drittes Kapitel

Bald wurde ringsum im ganzen Kirchspiel allerhand über die beiden geredet; aber etwas Sicheres wußte keiner zu sagen. Nie wurde Thorbjörn nach der Konfirmation in Solbakken gesehen; und das konnten die Leute gar nicht begreifen. Ingrid kam oft hinunter, und dann machten sie und Synnöve gern einen Spaziergang in den Wald. – »Bleib nicht zu lange«, rief Synnöves Mutter der Tochter nach. – »Nein«, antwortete sie – und kam erst abends nach Hause. Die beiden Freier stellten sich wieder ein. »Sie soll selbst darüber bestimmen«, sagte die Mutter, und der Vater meinte dasselbe; als sie nun Synnöve beiseite nahmen, gab sie ihnen für die Bewerber einen Korb. Es meldeten sich mehr; aber niemand hörte, daß einer mit seinem Antrag in Solbakken Glück gehabt hatte. Eines Tages scheuerten Mutter und Tochter zusammen Milchkübel, und da fragte die Mutter, wer ihr eigentlich in Gedanken liege; das kam dem Mädchen so unerwartet, daß es ganz rot wurde. »Hast Du Dich schon einem versprochen?« [160] fragte die Mutter weiter und sah sie fest dabei an. »Nein«, antwortete Synnöve schnell. Seitdem wurde von dergleichen nicht mehr geredet.

Da sie weit und breit für die beste Partie galt, folgten ihr lange Blicke, wenn sie zur Kirche ging, der einzigen Stätte, wo sie außer dem Hause zu sehen war; sie beteiligte sich nämlich nicht am Tanz oder sonstigen lauten Festlichkeiten, weil ihre Eltern zu den Haugianern gehörten. Thorbjörn saß ihr im Kirchstuhl gerade gegenüber; aber sie sprachen, soweit es zu bemerken war, nie zusammen. Soviel meinten alle zu wissen, daß etwas mit den beiden sein mußte, und da sie nicht in derselben Weise wie andere Liebespärchen miteinander verkehrten, wurde desto mehr über sie gesprochen. Thorbjörn war nicht sehr beliebt. Das empfand er selbst; denn er stellte sich besonders ungeschlacht an, wenn er unter die Leute kam, wie beim Tanz oder auf Hochzeiten, und dadurch passierte es ihm wiederholt, daß er in eine Rauferei verwickelt wurde. Das ließ aber nach, als er einigen beigebracht hatte, wie stark er war; und dadurch wieder gewöhnte er sich, auf seinem Weg keinen andern zu dulden. – »Nun hast Du freie Hand über Dich,« sagte sein Vater Sämund, »aber denke dran, daß meine vielleicht doch noch stärker ist als Deine.«

Der Herbst, der Winter verging, der Frühling kam heran, und noch immer hatten die Leute nichts Gewisses heraus. Die Körbe, die Synnöve ausgeteilt hatte, und das Gerede darüber bewirkten, daß sie sich fast allein überlassen blieb. Nur Ingrid leistete ihr Gesellschaft; sie sollten auch zusammen auf die Alm in diesem Jahr, da die Solbakkener einen Anteil an der Granlidener Weide oben gekauft hatten. Thorbjörn richtete mancherlei für sie, und man hörte ihn dabei laut von der Höhe heruntersingen.

Einmal als er kurz vor der Abenddämmerung mit seiner Arbeit fertig war, setzte er sich hin und dachte über alles mögliche nach; doch hauptsächlich über die [161] Redereien der Leute. Er streckte sich in das rotbraune Heidekraut, legte die Hände unter den Kopf und starrte zum Himmel, der sich über den dichten Baumkronen blau und leuchtend hinzog; die grünen Blätter und Nadeln flossen wie ein zitternder Strom hinein und die dunklen Zweige zeichneten seltsame, wilde Figuren darauf. Der Himmel selbst war nur dann genau dort zu sehen, wenn ein Blatt beiseite flatterte; weiter oben zwischen den Kronen, die einander nicht nahe kamen, brach er wie eine breite Bergflut hervor und lief in lustigen Schwingungen über ihnen hin. Dadurch kam Thorbjörn in eine eigene Stimmung, und seine Gedanken beschäftigten sich weiter mit dem, was er sah. – –

– – Die Birke lachte wieder mit tausend Augen zur Tanne auf; die Kiefer starrte voll stummer Verachtung mit ihren Nadeln nach allen Seiten; denn jedesmal, wenn die Lüfte weicher wurden, schossen mehr und mehr Siechlinge auf, rannten ihr in den Weg und steckten ihr das frische Laub gerade unter die Nase. »Ihr Bande, wo wart Ihr denn im Winter?« fragte die Kiefer, fächelte sich und schwitzte Harz bei der unerträglichen Hitze. »Das ist beinah zu toll – so hoch im Norden – pfui!«

Aber da war noch eine, – eine alte, kahle Kiefer, die über alle übrigen Bäume hinwegsah, und doch einen fingerreichen Zweig fast lotrecht niederbeugen und einen dreisten Ahorn ganz oben am Schopf nehmen konnte, so daß ihm die Knie zitterten. Dieser klafterdicken Kiefer hatten die Menschen nach der Spitze zu immer mehr und mehr Zweige abgeholzt, bis ihr einmal die Geschichte zu bunt wurde und sie derart seitwärts schoß, daß die dünne Fichte neben ihr einen Schreck kriegte und sie fragte, ob sie nicht an die Winterstürme denke. »Na und ob!« sagte die Kiefer und klatschte ihr mit Hilfe des Nordwinds so heftig eins um die Ohren, daß sie fast ihre Haltung und Würde dabei verlor; und das war recht schlimm. Die gliederstarke, finstere Kiefer hatte nun mit einem mächtigen Fuß Boden gefaßt; sechs Ellen hoch ragten die Zehen aus [162] der Erde; und daß sie dicker waren als an ihrer dicksten Stelle die Weide, hatte die Weide selbst eines Abends verschämt dem Hopfen zugeflüstert, als er sie verliebt umspannte. Ihrer Kraft war sich die bärtige Kiefer voll bewußt; Zweig an Zweig jagte sie hoch über der Menschen Machtbereich in die wilde Luft, und rief dabei den Menschen zu: »Nun, holt sie Euch!«

»Nein, die können sie Dir nicht fortholen«, sagte der Adler, ließ sich gnädig auf der Kiefer nieder, schlug die Flügel mit Anstand zusammen und wischte sich einige häßliche Flecke Viehblut vom Gefieder. – »Ich meine, ich könnte die Königin bitten, hier ihren Aufenthalt zu wählen; – sie ist trächtig mit mehreren Eiern; sie wird bald legen«, fügte er leiser hinzu und senkte den Blick auf seine kahlen Füße; er schämte sich, daß ihn holde Erinnerungen an jene frühesten Lenztage überkamen, da die erste Sonnenwärme halbtoll macht. Bald hob er die Augen wieder und sah starr unter den buschigen Brauen auf zu den schwarzen Felsrücken, ob nicht die eierschwere, kränkelnde Königin von dort herniedersegele. Er flog auf, und schon konnte die Kiefer das Paar in der klaren, blauen Luft erkennen, wie es in gleicher Linie mit dem höchsten Felsgipfel dahinstrich und über seine häuslichen Angelegenheiten verhandelte. Sie war nicht frei von einer gewissen Unruhe; denn so vornehm sie sich auch schon dünkte, so mußte sie doch noch vornehmer werden, wenn sie ein Adlerpaar wiegte. Es kam herab, kam direkt auf sie zu; ohne einen Ton von sich zu geben, begann es eifrig Reisig heranzuschaffen. Die Kiefer machte sich, wenn möglich, noch breiter, – daran konnte sie keiner hindern.

Aber im ganzen Wald erhob sich ein eifriges Geraune, als alles sah, was für eine Ehre der Riesenkiefer erwiesen wurde. Da war unter anderen auch eine kleine, nette Birke, die sich in einem Weiher spiegelte und sich ein gewisses Anrecht auf die Liebe eines Hänflings einredete, der auf ihr gewöhnlich seinen Mittagsschlaf hielt. Sie hatte ihm ihren Duft in den Schnabel gehaucht, Fliegen [163] und Mücken auf ihre Blätter festgeklebt, so daß sie leicht genug zu fangen waren, ja, zuletzt hatte sie in der Hitze ein dichtes Häuschen von Zweigen gebaut und mit Blättern gedeckt, so daß der Hänfling wirklich im Begriff war, es als Sommerwohnung zu benutzen. Jetzt aber: der Adler hatte sich in der Riesenkiefer festgesetzt, und fort mußte der Hänfling. Ach, die Trauer! Er trillerte noch ein Abschiedslied; aber nur ganz leise, damit es der Adler nicht höre.

Nicht besser erging es einigen kleinen Sperlingen im Elsenstrauch. Sie hatten dort ein so sündiges Leben geführt, daß die Drossel, nebenan in der Esche, nie zur gehörigen Zeit schlafen konnte, oft ganz außer sich wurde und schimpfte. Das hatte einen ernsten Schwarzspecht derart zum Lachen gebracht, daß er beinah vom Ast gepurzelt wäre. Nun sahen sie den Adler auf der Riesenkiefer; und Drossel, Sperlinge, Schwarzspecht und alles, was fliegen konnte, mußte über Hals und Kopf fort, über und unter die Zweige. Die Drossel versicherte auffliegend mit einem Fluch, daß sie nie mehr eine Wohnung nehmen werde, in deren Nachbarschaft Sperlinge hausten.

So stand der Wald in weitem Umkreis verlassen und nachdenklich im heiteren Sonnenschein. Er sollte Freude an der Kiefer haben; aber die Freude war recht mäßig. Kam der Nordwind, dann bog er sich bange, dann peitschte die Riesenkiefer mit ihren mächtigen Zweigen die Lüfte, – ruhig und bedachtsam umflog sie der Adler, als ob ihn nur ein schwacher Windstoß streifte und etwas kümmerlichen Weihrauch vom Wald zu ihm hinauftrüge. Aber die ganze Kiefernfamilie war froh und stolz. Keins ihrer Mitglieder dachte daran, daß es selbst in diesem Jahr gar nichts wiegte. »Weg damit«, sagten sie, »wir gehören zu einem vornehmen Stamm.«

»– – – Woran denkst Du denn?« fragte Ingrid, die plötzlich lächelnd hinter ihm zwischen Strauchwerk stand, das sie zur Seite gebogen hatte. Nun trat sie vor. Thorbjörn stand auf. »Na, es kann einem wohl manches [164] durch den Kopf gehen«, sagte er und sah mit trotzigem Gesichtsausdruck über die Bäume hin. – »Das Gerede und Geklatsche da unten wird mir schließlich zu arg«, fügte er hinzu und klopfte sich etwas Erde ab. – »Warum bekümmerst Du Dich immer darum; laß doch die Leute reden.« – »Ich weiß nicht recht; – aber – sie haben noch nie etwas gesagt, was ich nicht dachte, wenn ich's auch nicht getan habe.« – »Du, das klingt häßlich.« – »Das tut's auch«, sagte er und fuhr nach kurzer Pause fort: »Aber wahr ist's.« Sie setzte sich in das Gras; er blieb stehen und blickte zu Boden. »Ich könnte leicht so werden, wie sie mich haben wollen; sie sollten mich so lassen, wie ich bin.« – »Am Ende ist es aber doch Deine Schuld.« – »Wohl möglich, aber die andern haben auch Schuld; sie sollen mich zufrieden lassen«, schrie er fast und sah zu dem Adler hinauf. »Aber, Thorbjörn«, flüsterte Ingrid. Er drehte sich zu ihr hin und lachte: »Schon gut, schon gut, wie gesagt, es kann einem wohl manches durch den Kopf gehen – hast Du heute mit Synnöve gesprochen?« – »Ja, sie ist schon auf die Alm gezogen.« – »Heute?« – »Ja.« – »Mit dem Solbakkener Vieh?« – »Ja.« – »Trallala!«


Auf den Baum die Sonne herniedersah:
Trallalirum!
Mein Schatz, wie stehst Du so leuchtend da?
Trallali, trallala!
Der Vogel erwachte, er piept:
Was gibts? Was ist los? Was gibts? –

»Morgen ziehen wir auch hinauf«, sagte Ingrid, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. »Ich gehe mit als Treiber«, sagte Thorbjörn. – »Nein«, antwortete sie, »Vater will selbst mit.« – »Ja so«, meinte er und schwieg. »Er hat heute nach Dir gefragt«, fuhr sie fort. »Wirklich?« sagte Thorbjörn, schnitt mit seinem Taschenmesser einen Zweig ab und begann ihn abzuschälen. »Du mußt öfter mit Vater reden,« sagte sie sanft, »er hat Dich sehr lieb,« setzte sie hinzu. »Wohl[165] möglich«, meinte er. »Er spricht oft von Dir, wenn Du fort bist!« – »Desto seltener, wenn ich zu Hause bin.« – »Das ist Deine Schuld.« – »Wohl möglich.« – »Rede nicht so, Thorbjörn, Du weißt, was zwischen Euch liegt.« – »Was denn?« – »Brauche ich Dir das erst zu sagen?« – »Das kommt auf eins 'raus, Ingrid; Du weißt ja, was ich weiß.« – »Jawohl, Du gehst zu sehr auf eigene Faust los, und Du weißt, das kann er nicht leiden.« – »Natürlich, er will mich noch beim Arm halten.« – »Ja, besonders wenn Du raufst.« – »Dürfen denn die Leute alles sagen und tun, was sie wollen?« – »Nein, aber Du kannst ihnen auch mehr aus dem Wege gehen; das hat Vater immer getan und ist dabei ein geachteter Mann geworden.« – »Sie haben ihn auch nicht soviel wie mich gereizt und geärgert.« – Ingrid schwieg eine Weile, sah sich um und sagte dann: »Das nützt ja nichts, wenn wir immer wieder davon reden; aber trotzdem – wenn Du weißt, daß die Leute irgendwo etwas gegen Dich haben, brauchst Du nicht gerade dorthin zu gehen.« – »Ja, gerade dorthin! Ich heiße nicht umsonst Thorbjörn Granliden!« – Er hatte den Bast vom Zweige abgeschält und schnitt nun den Zweig mitten durch. Ingrid sah ihn an und fragte etwas gedehnt: »Willst Du Sonntag nach Nordhoug?« – »Ja.« – Sie blieb eine Weile stumm, dann fragte sie, ohne ihn anzusehen: »Weißt Du, daß Knud Nordhoug zur Hochzeit seiner Schwester nach Hause gekommen ist?« – »Ja.« – Nun sah sie ihn an: »Thorbjörn! Thorbjörn!« – »Darf er jetzt mehr als früher wagen, sich zwischen mich und andere zu stellen?« – »Das tut er nicht; nicht mehr, als die anderen wollen.« – »Keiner weiß, was sie wollen!« – »Du weißt es ganz gut.« – »Sie selber sagt keinesfalls was.« – »Ach, was redest Du da zusammen!« sagte Ingrid und warf einen Blick rückwärts. Er schmiß die Zweigstücke fort, steckte sein Messer in die Scheide und wandte sich der Schwester zu. »Hör' mal, ich habe es oft recht satt. Die Leute schneiden mir und [166] ihr die Ehre ab, weil nichts offenkundig zugeht; und andererseits – ich komme ja nicht einmal nach Solbakken hinüber, die Eltern können mich nicht leiden, sagt sie. Ich darf sie nicht besuchen, wie andere Burschen ihre Mädchen, weil sie eine Heilige ist – na, Du weißt ja.« – »Thorbjörn«, sagte Ingrid und wurde immer unruhiger, als er fortfuhr: »Vater will kein gutes Wort für mich einlegen; verdienst Du sie, dann kriegst Du sie, sagt er. Geschwätz, Geschwätz auf der einen Seite und nichts, was dafür entschädigt auf der andern – ja, ich weiß noch nicht mal recht, ob sie –« Ingrid sprang auf, schloß ihm mit der einen Hand den Mund und blickte dabei rückwärts. Da wurde das Strauchwerk wieder beiseite gebogen, ein hohes, schlankes Mädchen mit errötendem Gesicht trat daraus hervor; es war Synnöve.

»Guten Abend«, sagte sie. Ingrid sah Thorbjörn an, als wollte sie sagen: »Jetzt sieh mal!« – Thorbjörn sah Ingrid an, als wollte er sagen: »Das hättest Du lieber nicht tun sollen.« Keines von beiden sah Synnöve an. »Ich darf mich wohl etwas hinsetzen; ich bin heut schon soviel gegangen.« Und sie setzte sich, Thorbjörn beugte den Kopf, um zu untersuchen, ob ihr Sitzplatz auch nicht feucht sei. Ingrid hatte schnell fort und nach Granliden hinuntergeblickt; nun rief sie plötzlich: »Ach nein! Ach nein! Fagerlin hat sich losgerissen und trampelt auf der jungen Saat herum! Das Scheusal! Und Kelleros auch! Das ist ja nicht mehr auszuhalten! Höchste Zeit, daß wir auf die Alm kommen!« und weg war sie, ohne auch nur Adieu gesagt zu haben. Synnöve stand sofort auf. »Gehst Du schon?« fragte Thorbjörn. »Ja«, sagte sie, blieb aber stehen.

»Möchtest Du nicht noch ein bißchen bleiben?« brachte er hervor, ohne sie anzusehen. »Ein andermal«, lautete die Antwort. »Das könnte lange dauern.« Sie blickte auf; er blickte jetzt auch sie an; aber es verging eine Weile, bis sie wieder sprachen. »Setz' Dich doch wieder«, sagte er etwas verlegen. »Nein«, antwortete sie [167] und blieb stehen. Er fühlte, wie in ihm der Trotz aufstieg; aber da passierte etwas, was er nicht erwartet hatte; sie tat einen Schritt vorwärts, beugte sich zu ihm hin, sah ihm in die Augen und sagte lächelnd: »Bist Du mir böse?« Und als er sie anblickte, sah er, daß sie weinte. »Nein«, entgegnete er und wurde feuerrot.

Er streckte ihr die Hand hin; aber da ihre Augen voll Tränen waren, bemerkte sie es nicht, und so zog er die Hand wieder zurück. Endlich sagte er: »Du hast alles mit angehört?« – »Ja«, antwortete sie, sah auf und lachte, aber da ihr immer noch mehr Tränen in die Augen traten, wußte er gar nicht, was er tun oder sagen sollte. Da entfuhren ihm die Worte: »Ich habe es doch vielleicht zu arg getrieben.« Das kam sehr sanft heraus; sie blickte zu Boden und wandte sich halb ab: »Du sollst nicht richten über Dinge, so Du nicht kennst.« Das wurde mit gepreßter Stimme gesagt, und ihm wurde ganz schlimm dabei; er kam sich wie ein kleiner Junge vor und wußte deshalb auch im Augenblick nichts anderes zu sagen als: »Ich bitte Dich um Verzeihung.« Aber nun strömten ihre Tränen heftig und heftiger. Das konnte er nicht mit ansehen, er ging hin zu ihr, umfaßte sie und beugte sich über sie: »Liebst Du mich wirklich, Synnöve?« – »Ja«, schluchzte sie. »Aber macht Dich das auch glücklich?« Sie antwortete nicht. »Macht Dich das auch glücklich?« wiederholte er. Sie weinte heißer als zuvor und wollte sich ihm entziehen.

»Synnöve, wir wollen ein bißchen miteinander reden«, sagte er und half ihr sich in das Heidekraut setzen; er setzte sich neben sie. Sie wischte sich die Tränen ab und machte einen Versuch zu lächeln; aber es gelang nicht. Er hielt die eine von ihren Händen fest und blickte ihr in das Gesicht. »Liebste, warum darf ich nicht nach Solbakken kommen?« Sie schwieg. »Hast Du Deine Eltern nie darum gebeten?« Sie schwieg. »Warum nicht?« fragte er und zog ihre Hand näher an sich. »Ich habe mich nicht getraut«, sagte sie ganz leise.

[168] Seine Miene wurde finster; er hob und bog den einen Fuß leicht, lehnte den Ellbogen auf das Knie und stützte seinen Kopf auf die Hand. »Auf die Art werde ich wohl nie hinüberkommen«, sagte er. Statt zu antworten, rupfte sie Heidekraut aus. »Nun ja, ich habe wohl, manches getan, was ich lieber hätte sollen bleiben lassen, – – aber etwas Nachsicht hätten sie doch haben können. Ich bin nicht schlecht,« (hier hielt er einen Augenblick inne) »bin auch noch jung – etwas über zwanzig Jahre bin ich« – er konnte nicht gleich weiter reden. »Aber wer mich richtig liebt,« sagte er wieder, »der mußte doch – –« und nun verstummte er ganz. Da klang es gedämpft von der Seite her ihm ins Ohr: »Rede nicht so, – – Du weißt nicht, wie schwer, – ich darf es ja nicht einmal Ingrid sagen – (und nun unter starken Tränen): ich habe so schwer – zu leiden.« Er umschlang sie und zog sie dichter an sich. »Sprich mit Deinen Eltern,« flüsterte er, »und Du wirst sehen, alles wird gut.« – »Es wird, wie Du willst«, flüsterte sie. »Wie ich will?« Da neigte sich Synnöve zu ihm und legte den Arm um seinen Hals. »Liebst Du mich, so wie ich Dich?« sagte sie sehr herzlich und mit einem Versuch zu lächeln. »Etwa nicht?« entgegnete er sanft und leise. »Nein, nein, Du nimmst auf mich keine Rücksicht; Du weißt, was uns zusammenbringen kann, tust es aber nicht. Warum tust Du es nicht?« Und da sie gerade im besten Zuge war, fuhr sie eifrig fort: »Lieber Gott, wenn Du wüßtest, wie ich auf den Tag geharrt und gehofft habe, da ich Dich in Solbakken sehen könnte. Aber wenn man immer von etwas hören muß, was nicht ist, wie es sein soll, und wenn es die eigenen Eltern sind, die einem damit in den Ohren liegen.« Da kam es wie eine Erleuchtung über ihn; er sah sie in Solbakken herumgehen und auf eine kurze friedliche Stunde warten, in der sie ihn sanft ihren Eltern zuführen könnte; aber nie bescherte er ihr eine solche Stunde.

»Das hättest Du mir früher sagen sollen, Synnöve.« – »Hab' ich das nicht getan?« – »Nein, nicht so.« – Er [169] dachte ein Weilchen nach, dann sagte sie, während sie ihre Schürzenzipfel in kleine Falten legte: »Dann habe ich es nicht getan, weil – ich mich nicht traute.« Da wurde er bei dem Gedanken, sie habe Furcht vor ihm, so gerührt, daß er ihr zum erstenmal in seinem Leben einen Kuß gab.

Vor Verwunderung hielt sie plötzlich mit ihrem Weinen inne; ihre Augen flackerten, sie versuchte zu lächeln, sah zu Boden, sah endlich Thorbjörn an, und nun lächelte sie wirklich. Sie sprachen nicht mehr; aber ihre Hände fanden sich wieder, doch die des andern zu drücken, das traute sich keins von beiden. Dann entzog sie sich ihm sacht, trocknete Augen und Gesicht und strich ihr in Unordnung geratenes Haar wieder glatt. Er saß da, sah sie an und dachte mit beruhigter Seele: »Hat sie mehr Schamhaftigkeit als die andern Mädchen hier, und will danach behandelt werden, so soll keiner was dagegen sagen.«

Er begleitete sie zu ihrer Alm, die nicht weit entfernt lag. Er wollte gern Hand in Hand mit ihr gehen, aber er fühlte eine gewisse Scheu, die ihm kaum erlaubte, sie zu berühren; es kam ihm schon merkwürdig vor, daß er neben ihr gehen durfte. Beim Abschied sagte er daher auch:

»Das soll lange dauern, bis Du wieder einen tollen Streich von mir zu hören bekommst.«

Im Hause fand er seinen Vater bei der Arbeit, Korn vom Schuppen zur Mühle zu tragen, denn alle Besitzer ringsum mahlten auf der Granlidener Mühle, wenn ihre Bäche kein Wasser mehr hatten; der Granlidener Bach bekam immer neuen Zufluß von den Bergen. Viele Säcke waren hinunterzutragen, manche recht große, manche riesig große darunter. Die Frauen standen unweit davon, hielten Wäsche und wrangen aus. Thorbjörn ging zu seinem Vater hin und packte einen Sack. »Kann ich Dir vielleicht helfen?« – »Das schaffe ich schon allein«, sagte Sämund, nahm schnell einen Sack auf seinen Rücken und trug ihn zur Mühle. [170] »Hier sind noch eine ganze Menge«, sagte Thorbjörn, packte zwei große, stemmte den Rücken dagegen, griff über die Schultern, faßte mit jeder Hand einen und stützte ihn seitlich mit dem Ellbogen. Auf halbem Wege traf er Sämund, der zurückkam, um mehr zu holen; rasch sah er Thorbjörn an, sagte aber nichts. Als Thorbjörn zum Schuppen zurückging, traf er Sämund mit noch zwei größeren Säcken auf dem Rücken. Diesmal nahm Thorbjörn einen ganz kleinen und zog damit ab; als Sämund ihn traf, sah er ihn an, aber länger als das vorige Mal. Da geschah es, daß sie einmal zu gleicher Zeit vor dem Schuppen waren. »Eine Einladung von Nordhoug ist gekommen,« sagte Sämund, »Du sollst Sonntag hin zur Hochzeit.« Ingrid sah ihren Bruder bittend an; auch die Mutter sah hin. »Ja so«, sagte er trocken, nahm aber diesmal die zwei größten Säcke, die er finden konnte. »Gehst Du hin?« fragte Sämund und runzelte die Stirn. – »Nein.«

Viertes Kapitel

Die Granlidener Alm war schön gelegen; von ihr konnte man das ganze Kirchspiel überschauen – zuerst und am deutlichsten Solbakken inmitten seines vielfarbigen Waldes; dann die andern Höfe in ihrem Ring von Wäldern; wie Friedensstätten, die mit aller Macht und Kraft dem wilden Boden abgewonnen waren, erschienen die grünen Grasflächen mit den Häusern darauf. Vierzehn Höfe konnten von der Alm aus gezählt werden; von dem Granlidener waren nur die Dächer sichtbar; und auch sie nur vom höchsten Punkt aus. Nichtsdestoweniger setzten sich die Mädchen öfter hin, um nach dem Rauch zu blicken, der dort unten aus den Schornsteinen aufstieg. »Jetzt kocht Mutter das Mittagessen,« sagte Ingrid, »heute gibt's Pökelfleisch und Speck.« – »Hörst Du, jetzt werden die Männer gerufen,« sagte Synnöve, »wo arbeiten sie denn heut?« und die Augen der beiden verfolgten den Rauch, der [171] wild und wirbelnd in die klare, sonnenheitre Luft emportrieb, aber bald langsamer wurde, sich's überlegte – und dann breit über den Wald hinfloß, immer dünner und dünner, zuletzt nur wie ein fächelnder Flor und dann kaum mehr zu erkennen. So mancher Gedanke wurde bei diesem Anblick in ihnen wach und umkreiste das Kirchspiel. Heute waren sie in Nordhoug beisammen. Die eigentliche Hochzeit war schon ein paar Tage vorbei; aber da die Nachfeier eine Woche dauerte, klangen noch immer Schüsse und allerlei derbe Rufe zu ihnen herauf. »Die sind aber vergnügt«, sagte Ingrid. – »Ich beneide sie nicht darum«, sagte Synnöve und nahm ihr Strickzeug. »Da möchte man mit dabei sein«, sagte Ingrid, die sich hingekauert hatte, um nach dem Hofe zu blicken, wo die Menschen zwischen den Häusern hin- und hergingen – einige zum Schuppen, vor dem wohl die gedeckten Tische standen, andere paarweise in vertraulichem Gespräch etwas weiter. »Ich weiß nicht recht, was einen dahin ziehen sollte«, sagte Synnöve. »Ich weiß das auch kaum,« antwortete Ingrid, die immer noch dasaß; »vielleicht der Tanz.« Synnöve entgegnete nichts. »Hast Du noch nie getanzt?« fragte Ingrid. »Nein!« – »Hältst Du Tanzen für eine Sünde?« – »Das weiß ich nicht recht.« Ingrid mochte im Augenblick nicht weiter davon reden; denn es fiel ihr ein, daß der Tanz bei den Haugianern streng verboten war, und sie wollte Synnöves Verhältnis zu ihren Eltern in diesem Fall nicht näher berühren. Aber da ihr nun mal der Gedanke kam, sagte sie nach einer Weile: »Einen bessern Tänzer als Thorbjörn habe ich noch nie gesehen.« Synnöve blieb ein Weilchen still, dann sagte sie: »Ja, er soll gut tanzen.« – »Du müßtest ihn einmal tanzen sehen«, rief Ingrid lebhaft und wandte sich ihr zu. Aber schnell entgegnete Synnöve: »Nein, das möchte ich nicht.«

Ingrid war einigermaßen betroffen; Synnöve beugte sich über ihr Strickzeug und zählte die Maschen; plötzlich ließ sie die Arbeit in den Schoß fallen, sah vor sich [172] hin und sagte: »So herzlich vergnügt wie heute bin ich lange nicht gewesen.« – »Warum?« fragte Ingrid. »Weil er heute nicht in Nordhoug mittanzt.« Ingrid hing ihren eigenen Gedanken nach. »Ja, es sollen Mädchen dort sein, die ihn gern haben möchten«, sagte sie. Synnöve öffnete den Mund, als ob sie reden wollte, schwieg aber und zog eine Nadel heraus und eine andere ein. »Thorbjörn möchte wohl selbst gern dort sein, ja, das glaube ich gewiß«, fuhr Ingrid fort. Aber kaum hatte sie das ausgesprochen, da fiel ihr ein, was sie damit gesagt hatte; sie sah Synnöve an; die war feuerrot geworden und strickte eifrig. Nun wurde Ingrid mit einem Male alles in ihrem Zwiegespräch klar; sie klatschte in die Hände, kam schnell angelaufen, kniete im Heidekraut dicht vor Synnöve nieder und sah ihr fest in die Augen – Synnöve strickte eifrig. »So, jetzt weiß ich, daß Du mir manchen lieben Tag etwas verheimlicht hast«, sagte Ingrid. »Was meinst Du denn?« fragte Synnöve und warf ihr einen unsicheren Blick zu. »Du bist nicht böse, weil Thorbjörn tanzt«, antwortete Ingrid – die Freundin entgegnete nichts. Ingrid lachte mit dem ganzen Gesicht, schlang die Arme um Synnöves Hals und flüsterte ihr in das Ohr: »Nein, Du bist böse, weil er mit einer andern tanzt.«

»Wie kannst Du nur solchen Unsinn reden«, sagte Synnöve, riß sich los und stand auf. Ingrid stand gleichfalls auf und ging ihr nach. »Sünde ist es, daß Du nicht tanzen kannst,« sagte sie und lachte, »eine wahre Sünde! Komm her, ich will's Dir gleich beibringen«, und sie legte ihren Arm um Synnöves Hüfte. »Was willst Du?« fragte Synnöve. »Dir's Tanzen beibringen, Dir den Kummer vertreiben, daß er mit einer andern als mit Dir tanzt!« Nun mußte Synnöve auch lachen, oder wenigstens so tun. »Hier können wir gesehen werden«, sagte sie. »Gott segne Dich für die Antwort, wenn sie auch herzlich dumm war«, rief Ingrid, fing darauf an zu trällern und Synnöve im Takt herumzuführen. »Nein, nein, das geht ja nicht!« – »Du hast ja selbst vorhin gesagt, [173] Du bist lange nicht so vergnügt gewesen wie heute.« – »Ach, wenn es nur ginge!« – »Probier' es nur, dann wirst Du schon sehen, daß es geht.« – »Du bist außer Rand und Band, Ingrid.« – »Ja, so sagte auch die Katze zum Sperling, als er nicht stillhalten und sich fangen lassen wollte; komm nur.« – »Ich hätte schon Lust; aber –« – »Jetzt bin ich Thorbjörn und Du bist seine junge Frau, die nicht will, daß er mit einer andern als mit ihr tanzen soll.« – »Aber –« Ingrid trällerte, »aber«, entgegnete Synnöve noch; doch sie tanzte schon. Es war ein Springtanz. Ingrid ging mit großen Schritten und Armbewegungen wie ein Mann voraus; Synnöve folgte mit kleinen Schritten und niedergeschlagenen Augen. Ingrid sang:


Und der Fuchs unter Wurzeln der Birke lag,
Abseits vom Heidekraut,
Und der Hase sprang lustig im grünen Hag,
Über das Heidekraut.
Die Sonne gießt Licht aus üppigem Born,
Und glitzert hinten und glitzert vorn,
Über dem Heidekraut.
Und es lacht der Fuchs im Wurzelversteck,
Abseits vom Heidekraut,
Und der Hase sprang unbändig keck
Über das Heidekraut.
Mir ist heut gar so fröhlich zumut,
Juchhei, mein Häslein, wie springst Du gut
Über das Heidekraut.
Und es lauert der Fuchs im Wurzelversteck,
Abseits vom Heidekraut,
Und der Hase hüpft just zum gleichen Fleck,
Über das Heidekraut.
Daß Gott sich erbarme, Du bist hier?
Ei, Freundchen, wer heißt Dich tanzen vor mir,
Über dem Heidekraut?

[174] »Na, ging's nicht schön?« fragte Ingrid, als sie stehen blieben, um Atem zu schöpfen.

Synnöve lachte und sagte, sie möchte lieber Walzer tanzen. »Ja, warum denn nicht?« meinte Ingrid, und sie setzten sich gleich in Positur; Ingrid erklärte ihr, wie sie die Füße stellen müsse. »Pass' auf, der Walzer ist schwer, sehr schwer ist er.« – »Ach, es wird schon gehen, wenn wir erst in Takt kommen.« Nun sollte gleich die Probe gemacht werden. Ingrid sang und Synnöve sang mit, anfangs leise vor sich hin, dann lauter und lauter. Aber plötzlich hielt Ingrid inne, ließ ihre Gefährtin los, klatschte erstaunt in die Hände: »Du kannst ja schon Walzer tanzen!« rief sie.

»Still, nicht sprechen!« sagte Synnöve und faßte Ingrid um die Taille, »wir wollen weitertanzen.« – »Aber wo hast Du das gelernt –?« – »Tralla, tralla« – und Synnöve schwang Ingrid im Kreis; die tanzte jetzt nach Herzenslust und sang dabei:


Schau', die Sonne tanzt auf dem Hankelidfjell,
Tanz', meine Liebste, der Abend naht schnell;
Schau', der Bergbach hüpft zum Meere fort,
Hopp, wilder Gesell, dein Grab wartet dort,
Schau', die Birke schwingt sich beim Windesspiel,
Schwing dich, Dirnlein! – Was brach dort, was fiel?
Schau', – –

»Was singst Du immer für merkwürdige Lieder?« sagte Synnöve und hörte auf zu tanzen. »Ich weiß gar nicht, was ich singe«, antwortete Ingrid, »Thorbjörn hat's mal gesungen.« – »Das ist eins von Zuchthaus-Bents Liedern, die kenn' ich.« – »Zuchthaus-Bent?« fragte Ingrid und genierte sich etwas. Sie sprach nicht mehr und blickte vor sich hin in die Ferne; plötzlich gewahrte sie ein Gespann unten auf dem Wege. »Du, dort fährt einer von Granliden herunter und lenkt in die Gemeindestraße ein.« – Synnöve sah auch hin. »Ist er es?« fragte sie. »Ja, das ist Thorbjörn, er will in die Stadt.« – –

[175] – – Es war Thorbjörn und er fuhr in die Stadt. Sie lag ziemlich entfernt, die Last war schwer und er fuhr deshalb langsam den staubigen Weg hin. Von oben konnte man ein Stück der Fahrstraße übersehen, und als er nun von den Bergen herunter jodeln hörte, dachte er sich gleich, von wem das wohl käme, kletterte auf die Ladung und jodelte wieder, so daß es zwischen den Felsen schallte. Nun wurde oben auf dem Horn geblasen; er lauschte, und als die Töne verklangen, richtete er sich wieder auf und jodelte. Dann fuhr er wohlgemut weiter; er sah nach Solbakken hinüber und meinte es bisher niemals in so hellem Sonnenglanz gesehen zu haben. Aber währenddessen hatte er gar nicht mehr an sein Pferd gedacht; das ging, wie es wollte. Da fuhr er plötzlich auf, der Gaul hatte einen scharfen Seitensprung gemacht, so daß die eine Deichselstange brach, und nun raste das Tier in wildem Trab vom Weg herunter über das Nordhouger Feld. Thorbjörn sprang auf und suchte es zu halten; es kam zu einem richtigen Kampf zwischen beiden; das Pferd wollte über einen Abhang, er riß es mit den Zügeln zurück; endlich zwang er es, sich zu bäumen, sprang ab, schlang die Leine um einen Baum, und nun mußte es stehen. Die Ladung war teilweise herausgeschleudert, die eine Deichselstange zerbrochen und der Gaul stand da und zitterte. Thorbjörn ging hin, faßte ihn am Zaum und redete ihm gut zu; dann wendete er das Pferd, daß es mit dem Rücken gegen den Abhang stand und nicht über ihn hinunter konnte; aber das Tier war zu scheu, um still stehen zu bleiben, – er mußte ihm sprungweise folgen, und so kam er wieder bis zur Straße. Dabei fuhr er an der heruntergefallenen Ladung vorbei; Töpfe und Krüge waren entzwei, der Inhalt größtenteils verdorben. Bisher waren Thorbjörns Gedanken nur auf die Fahrt gerichtet gewesen; jetzt dachte er an die Folgen und wurde wütend; soviel stand fest: zur Stadt konnte er nicht; und je klarer ihm das wurde, um so wütender war er. Als er auf den Weg gekommen, [176] scheute das Pferd noch einmal, und versuchte wieder einen Seitensprung, um sich loszureißen, und nun brach Thorbjörns Wut los. Mit der linken Hand hielt er es an Zaum und Gebiß fest, mit der rechten versetzte er ihm Peitschenhieb auf Peitschenhieb über die Lenden, so daß es rasend wurde und mit den Vorderhufen nach Thorbjörns Brust schlug. Aber Thorbjörn wich ihm aus und hieb nun ärger als zuvor – aus Leibeskräften – mit dem Peitschenstiel. »Ich werde Dir's schon beibringen, Du niederträchtiges Vieh«, und er hieb zu. Das Pferd wieherte, schrie, – er hieb zu. »Jetzt sollst Du einen kennen lernen, der stärker ist als Du«, und er hieb. Das Pferd schnaubte, so daß der Schaum Thorbjörns ganze Hand bespritzte; aber er schlug weiter: »Das soll das erste und letzte Mal sein, Du Schinder; da! da! und noch einen! Du sollst parieren lernen, Du Luder!« und er hieb. Inzwischen hatten sie sich völlig umgedreht; das Pferd wagte keinen Widerstand mehr, zitterte und bebte bei jedem Hieb und bog sich wiehernd zur Seite, sobald die Peitsche durch die Luft schwirrte. Da schämte sich Thorbjörn ein bißchen; er hielt inne. Im selben Augenblick bemerkte er einen Mann, der auf dem Grabenrand saß, sich auf den Ellbogen stützte und ihn anlachte; er wußte nicht warum, aber ihm wurde fast schwarz vor den Augen und, das Pferd am Zaum haltend, ging er auf den Mann mit erhobener Peitsche zu: »Jetzt sollst Du mal lachen!« Der Schlag fiel, traf aber nur halb, da sich der Mann mit einem Aufschrei in den Graben hinunterwälzte; dort blieb er auf allen Vieren liegen, richtete jedoch den Kopf hoch und schielte nach Thorbjörn. Dabei zog er den Mund schief zum Lachen, aber zu hören war kein Lachen. Thorbjörn wurde betroffen; eine Erinnerung durchzuckte ihn. Jawohl, es war Aslak.

Thorbjörn überlief es kalt.

»Du hast gewiß beidemal das Pferd scheu gemacht«, sagte er. »Ich habe ja nur hier gelegen und geschlafen,« antwortete Aslak, »und Du hast mich geweckt, wie Du [177] Dein Pferd verrückt gemacht hast.« – »Du bist es gewesen, – vor Dir haben alle Tiere Angst.« Und er streichelte den Gaul, von dem der Schweiß herabrann. »Dein Tier hat wohl mehr Angst vor Dir als vor mir; – so bin ich noch mit keinem Pferd umgegangen«, sagte Aslak, jetzt kniete er im Graben. »Halt Dein großes Maul«, erwiderte Thorbjörn, und drohte mit der Peitsche. Da stand Aslak auf und krabbelte aus dem Graben. »Ich ein großes Maul!? Fällt mir ja gar nicht ein – wo willst Du denn so schnell hin?« sagte er freundlich und kam näher; aber er wankte beim Gehen – er war betrunken. »Mit dem Weiterwollen ist es heut nichts«, meinte Thorbjörn und spannte das Pferd aus. »Das ist aber recht ärgerlich«, sagte der andere, kam noch näher und nahm den Hut ab.

»Herrjeh, was bist Du für ein großer und hübscher Bursche geworden, seitdem ich Dich nicht gesehen habe.« Er hatte beide Hände in die Taschen gesteckt, stand so fest, wie er konnte, auf den Beinen und betrachtete Thorbjörn, der das Pferd nicht von den Wagentrümmern losbekommen konnte. Thorbjörn brauchte Hilfe; aber Aslak darum zu bitten, das mochte er denn doch nicht. Der sah zu eklig aus. Auf seinem Anzug lag der Grabenschmutz, sein Haar hing wirr unter einem blanken, beträchtlich alten Hut hervor; sein Gesicht war zwar noch teilweise das frühere, wohlbekannte; aber jetzt immer zum Lachen verzogen, die Augen schienen noch geschlossener, so daß er sich hintenüber beugen mußte und der Mund etwas offen stand, wenn er jemand ansah; alle Züge waren schlaff, der ganze Ausdruck stier – denn Aslak trank. Thorbjörn hatte ihn schon vorher ein paarmal gesehen, aber Aslak tat, als wüßte er das nicht, er hatte sich im ganzen Kreis als Hausierer herumgetrieben und war am liebsten dort eingekehrt, wo es laut und lustig zuging. Dort trug er seine Lieder vor, erzählte seine Schnurren und bekam zum Lohn Branntwein. Darum war er auch auf der Hochzeit in Nordhoug gewesen; jetzt aber für einige Zeit wohlweislich verduftet, [178] weil er, wie Thorbjörn später erfuhr, nach seiner gewohnten Art die Leute solange zusammengehetzt hatte, bis eine Rauferei entstanden war, und da hatte er Angst bekommen, selbst verprügelt zu werden. »Binde das Pferd lieber an, das ist besser, als wenn Du's ausspannst,« sagte er, »Du mußt doch nach Nordhoug und Dir Hilfe holen.« Thorbjörn hatte schon selbst daran gedacht, aber der Gedanke war ihm unangenehm. »Dort ist ja heut eine große Hochzeit«, meinte er. »Auch eine große Menge Leute, die helfen können«, antwortete Aslak. Thorbjörn überlegte; aber ohne Hilfe konnte er weder vorwärts noch zurück, und so war es doch schließlich das beste, nach dem Hof zu gehen. Er band also das Pferd am Wagen fest und ging. Aslak folgte, Thorbjörn sah sich nicht nach ihm um. »Jetzt habe ich eine gute Begleitung für den Rückweg«, sagte Aslak und lachte. Thorbjörn antwortete nicht, sondern schritt schnell aus. Aslak sang hinter ihm her. »Da ziehen zwei Bauern zum Hochzeitshaus« usw., ein altes, überall bekanntes Lied. »Du gehst schnell,« sagte er nach einer Weile, »Du kommst noch früh genug hin.« Thorbjörn antwortete nicht. Bald hörten sie den Lärm von Tanz und das Geigenspiel; Köpfe erschienen in den offenen Fenstern des großen, zweistöckigen Hauses; Gruppen versammelten sich im Garten. Thorbjörn merkte, daß die Leute dort besprachen, wer wohl käme, zugleich, daß mancher ihn erkannte, auch wie kurz nachher das Pferd und die verstreute Ladung entdeckt wurden. Der Tanz brach ab und ein ganzer Menschenstrom wälzte sich aus dem Hause und ihnen entgegen. »Hier kommen Hochzeitsgäste wider Willen«, rief Aslak, als sie sich beide der Gesellschaft näherten. Thorbjörn wurde begrüßt, und ein Kreis von Menschen umringte ihn. »Gott segne das Fest, das gute Bier auf dem Tisch, die hübschen Frauensleute auf dem Tanzboden und den wackern Spielmann auf dem Schemel!« rief Aslak und drängte sich schnell in die Menge. Einige lachten, andere blieben ernst, einer sagte: »Hausierer-Aslak [179] ist immer gut aufgelegt.« Thorbjörn traf gleich Bekannte, denen er von seiner verunglückten Fahrt erzählen mußte; sie litten nicht, daß er selbst zu dem Pferd und den Sachen zurückging, und schickten andere hin. Der Bräutigam, ein junger Mann und früherer Schulkamerad von Thorbjörn, lud ihn ein, das Hochzeitsbräu zu kosten, und nun zog der ganze Haufen wieder in die Stube. Ein Teil, besonders Frauen und Mädchen, wollte wieder tanzen, ein anderer lieber ein Stündchen trinken, und Aslak, da er nun doch mal wieder da war, sollte etwas erzählen. »Aber sei vorsichtiger als vorhin«, fügte einer hinzu. Thorbjörn fragte, wo die übrigen Gäste seien. »Es ging ein bißchen laut und derb hier zu,« wurde ihm geantwortet, »da haben sich ein paar hingelegt und ruhen sich aus; wieder welche sitzen in der Scheune und spielen Karten, und welche sitzen mit Knud Nordhoug zusammen«. Thorbjörn erkundigte sich nicht, wo Knud zu finden sei.

Der Vater des Bräutigams, ein alter Mann, der auf einer Bank saß, aus einer Pfeife rauchte und trank, sagte jetzt: »'raus mit Deiner Geschichte, Aslak, einmal kann man sich sowas schon gefallen lassen.«

»Bitten noch mehr darum?« fragte Aslak, der sich auf einen Schemel gesetzt hatte, etwas abseits von dem Tisch, um den die andern saßen. »Jawohl,« sagte der Bräutigam und gab ihm ein Glas Branntwein, »ich bitte Dich auch darum.« – »Bitten mich noch mehr auf die Art?« fragte Aslak wieder. »Ja, das tun sie«, sagte eine junge Frau auf einer Seitenbank und reichte einen Becher Wein hin; es war die Braut, ein Frauenzimmer von zwanzig Jahren, blond, mager, mit großen, schwarzen Augen und einem strengen Zug um den Mund. – »Ich höre Deine Geschichten gern«, setzte sie hinzu. Der Bräutigam sah sie, sein Vater sah ihn an. »Ja, die Nordhouger haben immer gern meine Geschichten gehört,« antwortete Aslak, »auf Ihr Wohl!« und er leerte sein Glas, das ihm ein Brautführer gebracht hatte. »Vorwärts, los!« riefen mehrere. »Von Sigrid, der [180] Herumtreiberin«, schrie einer. »Nein, das ist eine zu eklige Geschichte«, entgegneten andere, hauptsächlich Frauen. »Von der Lierer Schlacht«, bat Svend Tambour. »Lieber was Lustiges«, sagte ein schlanker Bursche, der die Jacke ausgezogen hatte, sich an die Wand lehnte, und dabei immer mit der rechten Hand ein paar jungen Mädchen, die vor ihm saßen, in die Haare fuhr. Die Mädchen schimpften, aber dachten nicht daran, fortzulaufen.

»Jetzt erzähle ich, was mir paßt«, sagte Aslak. »Schwerenot«, murmelte ein älterer Mann, der auf dem Bette lag, rauchte, sein eines Bein herunterbaumeln ließ und mit dem andern wiederholt gegen eine Sonntagsjacke stieß, die über dem Bettpfosten hing. »Weg mit Deinem Bein von meiner Jacke!« rief der Bursche an der Wand. »Weg mit Deiner Hand von meinen Töchtern«, rief der Alte. Da liefen die Mädchen fort. »Ja, ich erzähle, was mir paßt,« sagte Aslak wieder, »Branntwein ist gut, der schießt ins Blut!« Und er schlug klatschend die flachen Hände zusammen.

»Du sollst erzählen, was uns paßt,« wiederholte der Mann im Bett; »der Branntwein kommt von uns.« – »Was meinst Du damit?« fragte Aslak und riß die Augen weit auf. »Das Jungschwein, das wir fett machen, schlachten wir auch,« sagte der Mann und baumelte mit dem Bein. Aslak schloß die Augen wieder; aber hielt den Kopf noch hoch; dann ließ er ihn sinken und antwortete nichts. Verschiedene redeten ihn an; aber er hörte es gar nicht. »Der Branntwein hat ihn untergekriegt«, sagte der Mann im Bett. Da sah Aslak auf und fing wieder an, das Gesicht zum Lachen zu verziehen. »Ja, jetzt sollt Ihr ein lustiges Stückchen hören,« sagte er, »Herrgott, ist das lustig!« setzte er hinzu und lachte mit weit geöffnetem Munde, aber hören konnte keiner irgend welches Lachen. »Er hat heute seinen guten Tag«, sagte der Vater des Bräutigams. »Hat er auch,« entgegnete Aslak, »doch erst einen Schluck auf den Weg!« und er streckte die Hand hin. Er bekam [181] ein Glas Branntwein, trank es langsam hinunter, bog den Kopf zurück, kostete den letzten Tropfen aus und wandte sich zu dem Mann im Bett: »So, jetzt bin ich Euer Schwein«, und er lachte wieder unhörbar wie vorher. Dann legte er seine Hände um das eine Knie, hob den Fuß auf und nieder, schaukelte den Oberkörper dabei hin und her – und dann fing er an:

»Ja, es war einmal ein Mädchen da drüben in einem Tal. Wie das Tal hieß, geht Euch nichts an, und auch nicht, wie das Mädchen hieß. Aber hübsch war die Dirne, und das fand auch der Besitzer des Hofs – psst, keinen Namen! – und bei dem diente sie. Sie kriegte guten Lohn, und sie kriegte mehr als sie kriegen sollte, nämlich ein Kind. Die Leute sagten, es sei von ihrem Herrn, aber er sagte das nicht; denn er war ein verheirateter Mann; und sie sagte es auch nicht; denn sie war stolz, die arme Trude. So logen sie denn was bei der Taufe zusammen – es war ja ein Elend für den Jungen, daß sie ihn geboren hatte, – da war's auch gleich, ob er mit 'ner Lüge getauft wurde. Sie kriegte einen Unterschlupf dicht beim Hof, und das paßte der Besitzersfrau natürlich nicht. Kam das Mädchen ihr mal nahe, dann spuckte sie es an, und kam der kleine Junge auf den Hof und wollte mit ihrem Jungen spielen, dann ließ die den Hurenbengel fortjagen: ›Besseres ist er nicht wert‹, sagte sie.

Tag und Nacht lag sie ihrem Mann in den Ohren, er solle das Bettelvolk hinausschmeißen. Der Mann sträubte sich dagegen, solange er Mann war –; aber dann verlegte er sich aufs Saufen, und da kriegte das Weib die Oberhand. Das war ein Elend für die arme Person. Von Jahr zu Jahr ging es mit ihr zurück, und zuletzt war sie mit ihrem Jungen dicht am Verhungern; aber der wollte nicht fort von seiner Mutter, der kleine Junge.

So vergingen allmählich acht Jahre; sie waren vergangen, und noch immer saß sie auf ihrer Stelle, obgleich sie immer weg sollte. – – – Und schließlich kam sie [182] weg! – – Vorher aber stand der Hof in lustigen, hellen Flammen und der Mann verbrannte, weil er besoffen war – das Weib rettete sich mit ihren Kindern und sagte aus, die Dirne, die dicht beim Hofe wohnte, habe den Brand angelegt. Das war wohl möglich. – – Aber es war auch was anderes möglich. – – Sie hatte so 'nen wunderlichen kleinen Kerl von Jungen. Acht Jahre mußte der sehen, wie sich seine Mutter abrackerte, und er wußte auch, wer schuld daran war; denn seine Mutter sagte es ihm oft, wenn er fragte, warum sie immerzu weine. Das tat sie auch an dem Tage, bevor sie ausziehen sollten, und darum war er fort in der Nacht. – Aber sie mußte auf Lebenszeit ins Zuchthaus, denn sie hatte selbst vor dem Gerichtsschreiber gesagt, daß sie das lustige Feuer auf dem Hofe angesteckt habe. Der Junge zog im Kirchspiel herum und alle unterstützten ihn, weil er so 'ne schlechte Mutter hatte. – Dann zog er weiter, weiter in eine ganz andere Gegend, da wurde er nicht mehr unterstützt; da wußte ja keiner, wie schlecht seine Mutter war. Ich glaube nicht, daß er selbst darüber sprach. – Zuletzt hörte ich, daß er besoffen war, und die Leute sagen, er sei zuletzt gar nicht mehr aus dem Suff herausgekommen; ob das wirklich richtig ist, soll ungesagt bleiben; aber richtig ist, daß ich nicht weiß, was er Besseres hätte tun können. Er ist ein schlechter, gemeiner Kerl; er kann die Menschen nicht leiden, besonders nicht die, die gut zueinander sind; und die gut zu ihm sind, die erst recht nicht. Und er möchte, daß die andern gerade so sind wie er selbst; das sagt er aber bloß, wenn er besoffen ist; und dann weint er, weint er, daß es Tränen hagelt, und über rein nichts; – denn worüber hätte er denn zu weinen? Er hat keinem einen Pfennig gestohlen oder, wie andere, was Böses angestellt, – also warum weint er? Und doch weint er, weint er, daß es Tränen hagelt. Und wenn Ihr das mal sehen solltet, dann glaubt ihm nicht, denn er tut's bloß, wenn er besoffen ist, und da ist er nicht zurechnungsfähig.« – Und [183] mit dem letzten Worte fiel Aslak rückwärts vom Schemel und weinte heftig los; aber das ging schnell vorüber; denn er schlief ein. – »Jetzt ist das Schwein voll,« sagte der Mann im Bett, »dann heult er sich immer in den Schlaf.« – »Das war eine häßliche Geschichte«, sagten die Frauen und standen auf, um aus der Stube zu kommen. »Ich habe ihn noch nie eine andere erzählen hören, wenn er sie selbst aussuchen durfte«, sagte ein alter Mann, der von seinem Platz an der Tür aufgestanden war: »Gott weiß, warum ihm die Leute so gern zuhören«, fügte er hinzu und sah dabei die Braut an.

Fünftes Kapitel

Einige gingen heraus, andere suchten den Spielmann, um wieder zu tanzen; aber der war in einem Winkel des Flurs eingeschlafen, und da baten einige, man möge ihn in Ruhe lassen: »seitdem sein Kamerad Lars hier zuschanden geschlagen worden ist, hat Ole die ganze Zeit über aushalten müssen.« Unterdes war Thorbjörns Pferd angelangt; es wurde vor einen andern Wagen gespannt, da er trotz allen Zuredens weiter wollte. Besonders der Bräutigam gab sich alle Mühe, ihn zurückzuhalten: »Hier ist nicht soviel Freude für mich, wie mancher glaubt«, meinte er; und das brachte Thorbjörn auf eigene Gedanken; aber fort wollte er doch noch vor Abend. Als die anderen sahen, daß er darauf bestand, ließen sie ihn nach und nach allein; es waren viele Menschen da; aber es ging recht still zu, und das Ganze machte gar nicht den Eindruck einer richtigen Hochzeit. Thorbjörn brauchte einen Pflock für sein Pferdegeschirr, und suchte danach; auf dem Hof war nichts Rechtes zu finden, so ging er weiter, kam zu einem Holzschuppen und trat dort ein – langsam und nachdenklich; die Worte des Bräutigams klangen ihm noch immer in den Ohren. Er fand, was er suchte, und setzte sich ganz zufällig, mit Messer und Pflock in Händen, an die Wand. Da hörte er neben sich ein Stöhnen; das [184] mußte von der Innenseite der dünnen Wand kommen, hinter der die Wagen standen; Thorbjörn lauschte. »Du bist es? – Du?« brachte mit langen Zwischenräumen und mühsam eine Stimme heraus; eine Männerstimme. Darauf vernahm er, wie jemand weinte; aber das konnte kein Mann sein. – »Warum mußtest Du auch noch herkommen?« wurde gefragt; und jedenfalls von der Person, die weinte; denn Tränen klangen aus den Worten. – »Hm – zu welcher Hochzeit sollte ich denn aufspielen, wenn nicht zu Deiner?« sprach die erste Stimme. Das kann kein andrer wie Lars, der Spielmann, sein, dachte Thorbjörn. – Lars war ein ansehnlicher, hübscher Gesell, dessen alte Mutter in einer Kate unweit vom Gutshof zur Miete wohnte. Aber die andere Stimme, das mußte die Braut sein! – »Warum hast Du nie gesprochen?« sagte sie gedämpft, aber so gedehnt, als ob sie sehr bewegt sei. »Ich glaubte, das sei zwischen uns beiden nicht nötig«, lautete die kurze Antwort. Einige Augenblicke blieb es still, dann sagte sie wieder: »Du wußtest aber doch, daß er meinetwegen herkam.« – »Ich habe Dich für stärker gehalten.« – Dann hörte Thorbjörn nur, daß sie weinte; endlich stieß sie die Worte hervor: »Warum hast Du nicht gesprochen?«

»Es hätte wohl dem Sohn der alten Birthe viel genützt, wenn er mit der Tochter von Nordhoug gesprochen hätte«, erwiderte er nach einer Pause, in der er schwer Atem geholt und oft gestöhnt hatte. Die Antwort ließ auf sich warten; – »wir haben doch so manches Jahr ein Auge aufeinander gehabt«, klang es endlich.

– »Du warst so stolz, man konnte gar nicht richtig mit Dir reden.« – – »Es war doch nichts auf der Welt, was ich lieber gewollt hätte. – Ich wartete jeden Tag darauf; – wo wir uns trafen – mir kam es fast vor, als drängte ich mich Dir auf. Da dachte ich, Du machtest Dir nichts aus mir.« – Es wurde wieder ganz still; Thorbjörn hörte weder eine Antwort, noch weinen; er hörte nicht einmal den Kranken Atem holen.

[185] Thorbjörn dachte an den Bräutigam; er hielt ihn für einen braven Mann, und er tat ihm leid; und im selben Augenblick sagte auch sie:

»Ich fürchte, er wird wenig Freude an mir haben, – er, der –«

»Er ist ein braver Mann«, erwiderte der Kranke, und dann fing er an, unruhig zu werden, da ihm die Brust schmerzte. Es war, als ob sie die Schmerzen mitfühlte, denn sie sagte: »Mir ist schwer ums Herz Deinetwegen, – aber – wir hätten uns wohl nie ausgesprochen, wenn das nicht dazwischen gekommen wäre. Erst als Du Dich mit Knud gerauft hast, habe ich alles begriffen.« – »Ich konnte es nicht länger ertragen«, antwortete er, und einen Augenblick darauf: »Knud ist ein schlechter Kerl.« – »Ja, gut ist er nicht«, sagte sie, Knuds Schwester.

Sie blieben eine Weile stumm, dann sprach er: »Ich bin gespannt, ob ich wieder mal aufkomme; ach, das ist auch jetzt ganz einerlei.« – »Geht's Dir schlecht, so geht's mir schlechter,« darauf lautes Weinen. »Willst Du fort?« fragte er. – »Ja, ach, Du lieber Gott, – Du lieber Gott, was wird das für ein Leben werden!« – »Weine nicht so,« sagte er, »unser Herrgott macht hoffentlich bald ein Ende mit mir, und dann, wirst Du sehen, geht es auch Dir besser.« – »Jesus, Jesus, wenn Du nur gesprochen hättest!« rief sie mit verhaltener Stimme und schien die Hände zu ringen; Thorbjörn meinte, sie sei fortgegangen, oder nicht mehr imstande, weiter zu sprechen; er hörte eine ganze Zeitlang nichts mehr, und ging dann selber.

Den ersten, besten, den er im Garten traf, fragte er: »Warum sind denn Spielmann Lars und Knud Nordhoug aneinander geraten?« – »Warum, ja –« sagte Per Hausmann und zog sein Gesicht in Falten, als ob er was drin verstecken wollte; »danach kannst Du wohl fragen, denn es war nur um eine Kleinigkeit; Knud fragte Lars, ob seine Fiedel bei der Hochzeit hier auch gut gestimmt sei.« In demselben Augenblick ging die [186] Braut vorbei; sie hatte erst ihr Gesicht seitwärts gewendet; aber als sie den Namen Lars hörte, drehte sie es ihnen zu, und da zeigte es sich, daß ihre großen Augen ganz rot waren und flackerten; aber ihre Züge erschienen kalt, so kalt, daß Thorbjörn nichts von ihren früheren Worten mehr herauslesen konnte; da wurde ihm manches noch klarer.

Weiter vorn im Hof stand sein Pferd fertig zur Abfahrt; er schlug den Pflock ein und schaute nach dem Bräutigam, um Abschied zu nehmen. Er hatte keine Lust, ihn aufzusuchen; es war ihm fast lieber, daß der Bräutigam unsichtbar blieb, und so setzte er sich auf den Wagen. Da entstand mit einem Mal ein großer Lärm links von ihm, bei der Scheune; er hörte rufen, ein Menschenhaufen kam herangezogen, ein großer Mann, der voranging, schrie: »Wo ist er? – Hat er sich versteckt? – Wo ist er denn?« – »Dort, dort«, riefen ein paar Stimmen. »Laßt ihn nicht hin,« riefen wieder andere, »sonst gibt's ein Unglück.« – »Ist das Knud?« fragte Thorbjörn einen kleinen Jungen neben seinem Wagen. »Ja, er ist betrunken, und dann will er immer raufen.« Thorbjörn hatte sich schon zurechtgesetzt und trieb sein Pferd an. – »Halt! Halt! Kamerad!« rief es hinter ihm; er zog die Leine an, aber da das Pferd im Trab blieb, ließ er es gehen. »Hast Du Angst, Thorbjörn Granliden?« schrie es unweit; da hielt er an, sah aber nicht hinter sich.

»Steig ab, hier triffst Du gute Gesellschaft!« rief einer. Thorbjörn drehte sich um. »Danke, ich muß nach Hause«, sagte er. Wie sie ein bißchen hin- und herredeten, war der ganze Haufen herangekommen; Knud ging auf das Pferd zu, streichelte es und faßte es beim Zaum, um es anzusehen. Er war groß, hatte blondes, aber struppiges Haar und eine Stumpfnase, breite, dicke Lippen und milchblaue Augen, doch einen frechen Blick. Seiner Schwester ähnelte er wenig, nur etwas in einem Zug um den Mund; er hatte auch die gleiche gerade Stirn, aber nicht so eine hohe wie sie; alle ihre [187] feinen Züge waren bei ihm vergröbert. »Was willst Du für Deine Schindmähre haben?« fragte Knud. »Mein Pferd ist nicht zu verkaufen«, antwortete Thorbjörn. »Du meinst wohl, ich kann's nicht bezahlen?« sagte Knud. – »Ich weiß nicht, was Du kannst oder nicht kannst.« – »So, – also Du meinst: nein, – Du! Nimm Dich in acht«, sagte Knud. Der Bursche, der vorhin in der Stube an der Wand gestanden hatte und den Mädchen ins Haar gefahren war, äußerte jetzt zu einem Nachbar: »Diesmal hat Knud keine rechte Schneid.«

Das hörte Knud.

»Keine Schneid? Wer sagt das? Ich keine Schneid?« schrie er. Mehr und mehr Menschen kamen heran.

»Aus dem Weg! Achtung, das Pferd«, rief Thorbjörn und trieb seinen Gaul an; er wollte fort. – »Hast Du zu mir aus dem Weg gesagt?« fragte Knud. »Ich habe nur zum Pferd gesprochen, ich muß fort«, antwortete Thorbjörn, bog aber nicht aus. »Warum fährst Du gerade auf mich los?« fragte Knud. »Weg da!« – und das Pferd reckte sich in die Höhe, sonst hätte es mit dem Kopf Knud vor die Brust gestoßen. Da packte Knud es am Zaum und Gebiß, und das Pferd, das diesen Griff noch frisch im Gedächtnis hatte, fing an zu zittern. Das wirkte auf Thorbjörn; das mahnte ihn daran, was er selbst dem Pferde angetan hatte; den Ärger über sich übertrug er auf Knud. Nun sprang er auf und zog mit der Peitsche diesem eins über den Kopf. »Du schlägst?« schrie Knud und kam auf ihn zu. Thorbjörn sprang ab. »Du bist ein schlechter Kerl«, sagte er und wurde dabei totenblaß; die Zügel gab er dem Burschen aus der Stube, der herangetreten war und sich angeboten hatte. Aber der alte Mann, der nach Aslaks Erzählung von seinem Platz an der Tür aufgestanden war, ging nun auf Thorbjörn zu und zog ihn am Arm. »Sämund Granliden ist ein zu braver Mann, als daß sich sein Sohn mit solchem Raufbold abgeben sollte.« Das besänftigte Thorbjörn; Knud aber schrie: »Ich ein Raufbold? Das ist er gerade so gut wie ich, und mein Vater ist gerade [188] so gut wie seiner. Komm 'ran! Dumm genug, daß die Leute nicht wissen, wer von uns der Stärkere ist«, fügte er hinzu und legte sein Halstuch ab. »Die Probe darauf machen wir noch immer früh genug«, sagte Thorbjörn. Da meinte der Mann, der vorhin im Bette gelegen hatte: »Sie sind wie zwei Katzen, erst müssen sie sich anprusten beide.« Thorbjörn hörte das wohl, aber antwortete nicht. Einige lachten; andere sagten wiederum, das sei doch zu toll mit den vielen Raufereien auf dieser Hochzeit; sie sollten doch einen Fremden in Frieden lassen, der ruhig seiner Wege ziehen wollte. Thorbjörn sah sich nach seinem Pferd um, es war seine feste Absicht, weiter zu fahren; aber der Bursche, der es ihm abgenommen, hatte es eine ganze Strecke beiseite geführt und stand selbst wieder dicht bei Thorbjörn. »Was siehst Du Dich um?« fragte Knud, »Synnöve ist weit fort.« – »Was geht Dich Synnöve an?« – »Nein, so'ne scheinheiligen Frauenzimmer gehen mich gar nichts an,« sagte Knud, »aber vielleicht benimmt sie Dir den Mut!« Das war für Thorbjörn denn doch zu viel; die Umstehenden merkten, daß er das Terrain für den Kampf untersuchte. Nun traten wieder ältere Männer dazwischen und meinten, Knud habe bei dem Fest schon genug auf dem Gewissen. »Mir soll er nichts anhaben!« sagte Thorbjörn und darauf verstummten sie. »Laßt sie doch raufen,« sagten andere, »dann werden sie gute Freunde; sie haben sich lange genug mit bösen Blicken verfolgt.« – »Ja,« setzte einer hinzu, »jeder von beiden will der Stärkere sein; jetzt wird sich's ja zeigen.« – »Habt Ihr nicht das Bürschchen Thorbjörn Granliden irgendwo gesehen?« fragte Knud laut, »eben war er doch noch hier.« – »Hier ist er«, sagte Thorbjörn, und in demselben Augenblick bekam Knud einen Hieb über das rechte Ohr, daß er nahestehenden Männern in die Arme purzelte. Nun wurde es still in der Runde. Knud sprang auf – und vorwärts, ohne einen Laut von sich zu geben; Thorbjörn setzte sich zur Gegenwehr. Ein langer Faustkampf entspann[189] sich; beide wollten einander zu Leibe; aber beide waren geübt und jeder hielt sich den andern vom Leibe. Thorbjörns Hiebe fielen dicht und, wie einige sagten, auch recht wuchtig. »Da ist Knud mal an den Richtigen gekommen,« sagte der Bursche, der sich des Pferdes angenommen hatte, »macht Platz!« Die Frauen rissen aus, nur eine blieb oben auf der Treppe stehen, um besser sehen zu können; das war die Braut. Zufällig streifte Thorbjörns Blick sie; er zauderte einen Moment, da sah er ein Messer in Knuds Hand, erinnerte sich ihrer Worte: »Gut ist er nicht«, und traf mit einem wohlgezielten Hieb Knuds Arm so über dem Handgelenk, daß das Messer auf die Erde fiel, und der Arm kraftlos sank. »Au – das war ein Hieb!« rief Knud. »Spürst Du's?«, fragte Thorbjörn und stürzte auf ihn los. Knud war durch den gelähmten Arm in starkem Nachteil; er wurde hochgehoben, weitergeschleppt, aber es dauerte eine ganze Weile, bis er geworfen war. Mehrmals wurde er so hingeschleudert, daß jeder andere mehr wie genug gehabt hätte; aber sein Rückgrat vertrug viel; Thorbjörn zog mit ihm herum, überall wichen die Leute zurück, – aber Thorbjörn schritt immer weiter mit ihm – er trug ihn um den ganzen Hof herum, bis sie vor die Treppe gelangten, dort schwang er ihn noch einmal hoch in die Luft und drückte ihn dann zu Boden; da gaben Knuds Knie nach, und er stürzte auf die Steinfließen, so lang wie er war, und es sang ihm und es klang ihm in den Ohren. Regungslos blieb er liegen, stöhnte tief und schloß die Augen. Thorbjörn richtete sich auf, sein Blick fiel gerade auf die Braut, die noch immer starr dastand und zusah. »Legt ihm etwas unter den Kopf«, sagte sie, drehte sich um und ging ins Haus.

Zwei alte Frauen kamen vorbei; die eine sagte zu der andern: »Herrgott! Da liegt schon wieder einer; wer ist denn das?« Ein Mann antwortete: »Er – der Knud Nordhoug.« Da meinte die zweite Frau: »Dann werden wohl die ewigen Raufereien mal ein Ende nehmen – die Menschen können doch ihre Kräfte zu[190] was Besserem brauchen.« – »Da hast Du ein wahres Wort gesprochen, Randi,« meinte die erste; »unser Herrgott helfe ihnen, daß sie lernen, weniger an sich als an Besseres zu denken.«

Das traf Thorbjörn und ergriff ihn tief; bisher hatte er kein Wort hervorgebracht; er stand nur da und sah den Leuten zu, die für Knud sorgten; einige sprachen ihn an, doch er antwortete nicht. Er wandte sich fort und überließ sich seinen Gedanken. Synnöve kam ihm vor allem in den Sinn, und er schämte sich fürchterlich; er überlegte, wie er ihr die Sache erklären könne, und es fiel ihm aufs Herz, daß er doch sein Leben nicht so leicht zu ändern vermochte, wie er geglaubt hatte. Im selben Nu rief es hinter ihm: »Paß auf, Thorbjörn!« und noch ehe er sich umdrehen konnte, wurde er von hinten an den Schultern gepackt und zu Boden geworfen; dann fühlte er nur noch einen stechenden Schmerz; aber er wußte nicht, an welcher Stelle. Er hörte Stimmen rings um sich her; es war ihm, als ob er weggefahren würde, manchmal glaubte er selbst die Zügel zu führen; aber bestimmt wußte er das nicht.

So ging es eine lange Zeit fort; ihm wurde kalt, dann wieder warm, und dann mit einem Male ganz leicht; so leicht, daß er zu schweben meinte, und nun begriff er: Baumkronen trugen ihn, eine zur andern, endlich hinauf zum Hügel; und wieder höher – zur Alm, und noch höher – hoch auf die höchste Felsenspitze, und Synnöve beugte sich über ihn und weinte und fragte: warum er nicht gesprochen habe? Sie weinte heftig und sagte dann, er habe doch gesehen, wie ihm Knud in den Weg getreten sei, und jetzt habe sie doch Knud nehmen müssen. Und dann streichelte sie ihn sanft auf der einen Seite, so daß er dort ganz warm wurde, und weinte so, daß sein Hemde ganz feucht wurde. Aber Aslak kauerte hoch oben auf einem großen, spitzen Stein und zündete die Baumkronen ringsum an; sie zuckten, sie zischten, Zweige flogen um ihn her, Aslak aber lachte mit weit aufgerissenem Mund: »Ich bin's [191] nicht gewesen, meine Mutter hat's getan!« Und auf der andern Seite stand Vater Sämund und warf Kornsäcke hoch, so hoch, daß die Wolken sie auffingen und das Korn wie Nebel verstreuten, und Thorbjörn wunderte sich, daß das Korn über den ganzen Himmel hinfliegen konnte. Und wie er wieder herunterblickte, war Sämund mit einem Male ganz klein geworden, so klein wie ein Punkt; aber er warf noch immer die Säcke, höher und höher und rief: Das mach' mir mal nach! Hoch, hoch oben in den Wolken stand die Kirche, und auf ihrer Turmspitze die blonde Frau aus Solbakken, die schwenkte in der einen Hand ein rotes Taschentuch, in der anderen ein Gesangbuch und sagte: »Hierher kommst Du mir nicht, solange Du noch raufst und fluchst!« – und als er schärfer hinsah, war es gar nicht die Kirche, – nein, es war Solbakken, und die Sonne strahlte so hell auf all die hundert Fensterscheiben, daß ihm die Augen davon weh taten und er sie schließen mußte.

»Vorsichtig, vorsichtig, Sämund!« hörte er mit einem Male rufen; er erwachte wie aus dem Schlummer, wie wenn er fortgetragen würde, und er sah sich um. Er war zu Hause in der Stube von Granliden; ein tüchtiges Feuer brannte im Herde; er erblickte neben sich die Mutter; sie weinte, der Vater wollte ihn eben aufnehmen – um ihn in eine Seitenkammer zu bringen, da ließ er ihn sacht wieder nieder: »Es ist noch Leben in ihm«, sagte er mit bebender Stimme und wandte sich zur Mutter; die schrie: »Lieber, lieber Gott, er schlägt die Augen auf! Thorbjörn, Thorbjörn, barmherziger Himmel, was haben sie mit Dir gemacht!« und sie beugte sich über ihn, streichelte ihm die Backen, und ihre Tränen fielen dabei warm auf sein Gesicht. Sämund wischte sich mit dem einen Ärmel die Augen, schob die Mutter sacht beiseite: »Ich möchte ihn doch jetzt gleich 'rübertragen«, sagte er, und legte die eine Hand vorsichtig unter Thorbjörns Schultern, die andere unter das Rückgrat. »Stütz' ihm den Kopf, Mutter, wenn er ihn nicht hochhalten kann.« Sie ging voran und stützte [192] den Kopf, Sämund suchte gleichen Schritt mit ihr zu halten, und bald war Thorbjörn umquartiert. Nachdem sie ihn gut gebettet und ordentlich zugedeckt hatten, fragte Sämund, ob der Knecht schon fortgefahren sei. »Da kannst Du ihn noch sehen«, sagte die Mutter und zeigte nach dem Hof hinaus; Sämund machte das Fenster auf und rief: »Wenn Du es in einer Stunde schaffst, kriegst Du doppelten Jahreslohn – und sollte das Pferd auch dabei drauf gehen!«

Er trat wieder ans Bett; Thorbjörn sah ihn mit großen, klaren Augen an; des Vaters Augen waren immer wieder auf den Sohn gerichtet und wurden feucht. »Ich wußte, es würde solches Ende mit ihm nehmen«, sagte er, drehte sich um und ging hinaus. Die Mutter setzte sich auf einen Schemel zu Füßen Thorbjörns und weinte, sprach aber nicht. Thorbjörn wollte sprechen, fühlte jedoch, daß es ihm zu schwer fiel, und schwieg darum. Aber beständig sah er seine Mutter an, und sie hatte früher nie einen solchen Glanz in seinen Augen bemerkt, noch empfunden, daß sie so schön wie jetzt waren, und das nahm sie für ein schlechtes Zeichen. »Gott der Herr steh' Dir bei,« stieß sie hervor, »ich weiß, es ist Sämunds Tod, wenn Du von uns gehst.« Thorbjörn sah sie an; seine Augen, sein Gesicht waren starr. Sein Blick drang ihr tief in die Seele, und sie begann das Vaterunser für ihn zu beten; denn sie hielt seine Stunden für gezählt. Und als sie so bei ihm saß, ging es ihr durch den Sinn, wie überaus lieb sie alle gerade ihn hatten; und jetzt war nicht eins von seinen Geschwistern zu Hause. Da schickte sie zur Alm, um Ingrid und den jüngern Bruder zu holen; dann setzte sie sich wieder an das Bett. Er sah sie unverwandt an; und sein Blick wirkte auf sie wie ein Gesangbuchlied, das sie sanft auf zu Höherem führte; und die alte Ingebjörg wurde andächtiglich ergriffen, nahm die Bibel und sagte: »Jetzt will ich laut zu Deinem Frommen lesen, auf daß es Dir gut ergehe.« Da sie ihre Brille nicht bei der Hand hatte, schlug sie eine Stelle auf, die sie von ihrer [193] Kinderzeit noch so ungefähr auswendig konnte, und die Stelle war aus dem Evangelium Johannis. Sie konnte nicht wissen, ob er es höre, denn er lag nach wie vor starr da, – aber sie las, – wenn nicht für ihn, so für sich selbst.

Bald kam Ingrid nach Hause, um die Mutter abzulösen; aber da schlief Thorbjörn gerade. Sie weinte unaufhörlich; sie hatte schon geweint, ehe sie von der Alm fortging; denn sie dachte an Synnöve, die ohne Nachricht blieb. – Dann kam der Doktor und untersuchte. Thorbjörn hatte einen Messerstich in die Seite bekommen und noch andere Verletzungen, aber der Doktor sagte nichts, und es fragte ihn keiner. Sämund begleitete ihn in die Krankenstube, stellte sich neben ihn und blickte ihm beständig ins Gesicht, ging mit hinaus, da der Doktor ging, half ihm hinauf auf seinen zweirädrigen Wagen und nahm den Hut ab, als der Doktor sagte, er werde am nächsten Tage wiederkommen. Dann drehte er sich zu seiner Frau um, die neben ihm stand: »Wenn der Mann nichts sagt, steht es schlecht«, seine Lippen zitterten, er drehte sich auf den Hacken um und ging querfeldein.

Niemand wußte, wo er steckte, er kam weder am selben Abend, noch in der Nacht, sondern erst den nächsten Morgen nach Hause, und da sah er so finster aus, daß sich keiner zu fragen getraute. Er selbst sagte nur: »Na?« – »Er hat geschlafen,« sagte Ingrid, »aber er ist so von Kräften, daß er nicht die Hand heben kann.« Sämund wollte in die Krankenstube, aber dicht vor der Tür machte er Kehrt.

Der Doktor kam am nächsten Tage wieder und auch die folgenden Tage. Thorbjörn konnte sprechen, aber er durfte sich nicht bewegen. Ingrid saß am meisten bei ihm, auch die Mutter oft und sein jüngerer Bruder; aber er richtete keine Frage an sie und sie nicht an ihn. Der Vater war niemals in der Stube. Die anderen sahen, daß der Kranke das merkte; er blickte gespannt hin, sobald die Tür aufging; jedenfalls doch, weil er den Vater [194] erwartete. Schließlich fragte ihn Ingrid, wen er wohl außerdem noch gern sehen möchte? »Ach, mich will ja keiner sehen«, antwortete er. Das wurde Sämund wiedererzählt; der entgegnete im Augenblick nichts, und als an diesem Tage der Doktor kam, war er nicht zu Hause. Aber ein Stück Weges vom Hofe erwartete er ihn bei der Rückfahrt; er hatte auf dem Grabenrand gesessen, stand auf, als der Wagen vorbeifuhr, grüßte und fragte nach dem Zustand seines Sohnes. »Sie haben ihm böse mitgespielt«, lautete kurz die Antwort. »Wird er durchkommen?« fragte Sämund und bastelte am Bauchgurt des Pferdes. »Danke, der Gurt sitzt ja gut«, sagte der Doktor. »Nicht stramm genug«, antwortete Sämund. Dann waren beide eine Zeitlang stumm; der Doktor sah ihn an; Sämund arbeitete eifrig an dem Gurt herum, blickte aber nicht auf. »Du hast gefragt, ob er durchkommen wird; ja, das glaube ich wohl«, sagte der Doktor langsam; Sämund blickte schnell auf. »Dann ist keine Lebensgefahr mehr?« fragte er. »Seit ein paar Tagen nicht mehr«, antwortete der Doktor. Da rollten Tränen aus Sämunds Augen; er wischte sie ab, aber sie kamen wieder, »'s ist 'ne reine Schande, wie lieb ich den Jungen habe,« schluchzte er, »aber einen prächtigern Burschen hat's im ganzen Gau noch nicht gegeben.« Der Doktor wurde gerührt: »Warum hast Du nicht schon früher gefragt?« – »Ich hätt' es nicht hören können«, antwortete Sämund und wollte die Tränen herunterschlucken; aber es gelang ihm nicht; »und dann waren die Frauensleute dabei,« fuhr er fort, »die sahen immer hin, ob ich Dich nicht fragen wolle, und da kriegte ich's nicht fertig.« Der Doktor ließ ihm Zeit, wieder ordentlich zu sich zu kommen, und nun blickte Sämund ihn fest an: »Wird er wiederganz gesund?« fragte er plötzlich. »Soweit es möglich ist; übrigens läßt sich darüber mit Sicherheit nichts sagen.« Da wurde Sämund ruhig und nachdenklich. »Soweit es möglich ist«, murmelte er und blickte zu Boden. Der Doktor wollte ihn nicht stören; es war [195] etwas in dem Mann vor ihm, das es ihm verbot. Plötzlich hob Sämund den Kopf: »Ich danke für die Auskunft«, sagte er, reichte dem Doktor die Hand und ging nach Hause.

Währenddessen saß Ingrid bei dem Kranken. »Wenn Du es hören kannst, will ich Dir etwas vom Vater erzählen«, sagte sie. »Erzähle«, antwortete er. »An dem Abend, als der Doktor zum ersten Male hier war, war Vater plötzlich weg, und niemand wußte, wo er war. Da war er zum Hochzeitshause gegangen; den Leuten wurde schlecht zumute, als er eintrat. Er setzte sich an den Tisch und trank mit den andern; und der Bräutigam hat später erzählt, er habe geglaubt, Vater sei ins Taumeln gekommen. Aber dann erst hub er an, nach der Rauferei zu fragen, und erhielt auch genauen Bericht. Nun kam Knud; Vater wünschte, Knud solle erzählen, und ging auf den Hof zu der Stelle hin, wo Ihr gerauft hattet. Die ganze Gesellschaft ging mit. Knud erzählte, wie Du mit ihm umgesprungen seist, nachdem Du ihm die Hand lahm geschlagen hattest; aber als er nun nicht weiter mit der Sprache heraus wollte, richtete Vater sich hoch auf und fragte: ob das vielleicht dann so zugegangen wäre – und im selben Augenblick hatte er schon Knud vorn an der Brust gepackt, dann hob er ihn hoch und warf ihn auf die Steinfließen, wo noch Blut von Dir klebte; mit der linken Hand drückte er ihn nieder, mit der Rechten zog er sein Messer; Knud wechselte die Farbe und alle Gäste standen stumm dabei. Einige hatten gesehen, daß Vater geweint hat; aber getan hat er Knud nichts. Der lag da und rührte sich nicht. Vater riß ihn wieder hoch, warf ihn eine Weile darauf wieder zu Boden. ›Es fällt einem recht schwer, Dich entwischen zu lassen‹, sagte er und nahm ihn scharf aufs Korn, indem er ihn festhielt.

Zwei alte Frauen gingen vorbei und die eine sagte: ›Denk an Deine Kinder, Sämund Granliden‹, und sofort, so erzählen die Leute, hat Vater den Knud losgelassen, und bald darauf war er herunter vom Hof; [196] aber Knud drückte sich zwischen den Häusern fort von der Hochzeit und wurde nicht mehr gesehen.«

Kaum war Ingrid mit ihrer Erzählung fertig, da öffnete sich die Tür; jemand sah hinein, und das war der Vater. Sie ging gleich aus der Stube; Sämund trat ein. Wovon Vater und Sohn miteinander gesprochen haben, das hat niemand erfahren; die Mutter, die an der Tür stand und lauschte, glaubte doch einmal verstanden zu haben, daß sie darüber redeten, ob Thorbjörn wieder ganz gesund werden könne oder nicht. Aber sie war ihrer Sache nicht sicher, und hineingehen wollte sie nicht, solange Sämund drin war. Als er herauskam, waren seine Züge sehr sanft, seine Augen etwas gerötet. »Wir werden ihn wohl behalten,« sagte er im Vorbeigehen zu Ingebjörg, »aber unser Herrgott weiß, ob er wieder ganz gesund wird.« Ingebjörg fing zu weinen an und ging ihrem Manne nach; auf der Treppe zum Schuppen setzten sie sich nebeneinander, und sie besprachen mancherlei.

Als aber Ingrid leise wieder zu Thorbjörn hineinkam, lag er da mit einem Zettel in der Hand und sagte ruhig und langsam: »Den Zettel gib Synnöve, sobald Du sie triffst.« Als Ingrid gelesen hatte, was darauf stand, wandte sie sich ab und weinte, denn auf dem Zettel stand:


»An die hochgeschätzte Jungfrau Synnöve, Tochter des Guttorm Solbakken.


Wenn Du diese Zeilen gelesen hast, so soll es aus sein zwischen uns beiden. Denn ich bin nicht der Mann, der für Dich bestimmt ist. Unser Herrgott sei mit uns beiden.

Thorbjörn, Sohn des Sämund Granliden.«

Sechstes Kapitel

Synnöve hatte an dem Tage, nachdem Thorbjörn auf der Hochzeit gewesen, von dem Vorfall erfahren. Sein jüngerer Bruder war mit der Nachricht [197] auf die Alm gekommen; aber Ingrid hatte ihn auf dem Flur abgefaßt und ihm eingeschärft, wie weit er erzählen solle. Synnöve wußte also nicht mehr, als daß Thorbjörn mit Wagen und Ladung umgekippt, dann nach Nordhoug um Hilfe gegangen und dabei mit Knud in Streit geraten war; er habe etwas abgekriegt, liege auch zu Bett; aber es sei nicht gefährlich. Eine Geschichte, die Synnöve mehr böse als traurig stimmte; und je mehr sie darüber nachdachte, desto mutloser wurde sie. Wie fest hatte er ihr versprochen, sich so zu benehmen, daß ihre Eltern nichts gegen ihn sagen konnten! Aber auseinanderbringen sollte das ihn und sie doch nicht!

Die Verbindung zwischen Tal und Alm war spärlich, und die Zeit dehnte sich, bis Synnöve weitere Nachricht bekam. Die Ungewißheit drückte sie schwer; Ingrid wollte auch nicht wiederkommen, – es mußte also etwas besonderes vorgehen. Sie war abends nicht mehr in der Stimmung zu singen, um das Vieh nach Hause zu locken, und schlief nachts nicht gut, weil ihr Ingrid fehlte. Dadurch war sie am Tage müde, und somit wieder ihr Herz nicht gerade leichter. Sie ging umher und wirtschaftete, scheuerte Kübel und Töpfe, machte Käse, setzte Milch an, aber ohne rechte Freude an der Arbeit, und Thorbjörns jüngerer Bruder, sowie der andere Junge, die zusammen hüteten, hielten es nun für ausgemacht, daß mit ihr und Thorbjörn etwas los sein müsse, und das gab ihnen oben auf der Weide Stoff für vieles Gerede.

Am Nachmittag des achten Tages, seit Ingrid nach Hause gerufen worden, verspürte Synnöve stärkere Herzbeklemmung denn je. Nun war schon soviel Zeit vergangen, und sie hatte noch immer keine genaue Nachricht. Sie ließ ihre Arbeit liegen und setzte sich hin, um auf das Kirchspiel hinunterzuschauen; das gab ihr etwas wie einen Zusammenhang mit denen unten, und ganz allein mit sich mochte sie nicht sein. Dabei wurde sie müde, legte den Kopf auf den Arm und schlief [198] sofort ein; aber die Sonne stach und ihr Schlaf war sehr unruhig. Sie glaubte sich zu Solbakken in der Bodenkammer, wo ihre Sachen standen und sie gewöhnlich schlief; die Blumen dufteten so schön zu ihr hinauf; aber nicht mit dem Duft wie sonst; mehr wie Heidekraut. Woher mag das wohl kommen? dachte sie und sah durch das offene Fenster. Ja, da stand Thorbjörn unten im Garten und pflanzte Heidekraut ein. »Aber, Liebster, warum tust Du das?« fragte sie. »Die Blumen wollen nicht wachsen«, sagte er und ließ sich nicht stören. Da tat es ihr um die Blumen leid, und sie bat ihn schließlich, sie ihr heraufzubringen. »Ja, gern«, antwortete er, sammelte die herausgezogenen Blumen und machte sich auf den Weg; aber nun saß sie gar nicht mehr in der Bodenkammer, denn er konnte sofort zu ihr. In demselben Augenblick kam ihre Mutter dazu. »In Jesu Namen, will der Ekel von Junge zu Dir?« rief sie, sprang dazwischen und stellte sich vor ihn hin. Das wollte er sich nicht gefallen lassen, und nun fingen die beiden an, zu ringen. »Mutter, Mutter, er will mir ja nur meine Blumen bringen«, bat Synnöve und weinte. »Das hilft nichts«, sagte die Mutter und ging ihm stärker zuleibe. Synnöve wurde ängstlich, so ängstlich; sie wußte nicht, wem von den beiden sie den glücklichen Ausgang des Ringens wünschen sollte; verlieren aber sollte keiner. »Seht Euch mit den Blumen vor«, rief sie; doch sie rangen immer heftiger und heftiger, und die schönen Blumen wurden dabei überall umhergestreut, von der Mutter zertreten, von Thorbjörn zertreten; Synnöve weinte. Als Thorbjörn aber die Blumen hingeworfen hatte, wurde er mit einem Male furchtbar häßlich, ganz widerlich; das Haar auf seinem Kopfe wuchs, sein Gesicht verlängerte sich, die Augen bekamen einen wilden Ausdruck und mit spitzen Klauen griff er nach der Mutter. »Nimm Dich in acht, Mutter; siehst Du nicht, das ist nicht er, das ist ein andrer – nimm Dich in acht!« schrie sie und wollte hin und der Mutter helfen, konnte sich aber nicht vom Fleck rühren. – Da [199] hörte sie ihren Namen rufen; dann noch einmal. Und im Nu verschwand Thorbjörn und auch die Mutter. »Ja«, antwortete Synnöve und erwachte. »Synnöve!« klang es von neuem. »Ja«, rief sie und blickte auf. »Wo bist Du denn?« Das ist Mutter, dachte Synnöve, stand auf und ging auf den Platz zu, wo die Mutter mit einem Eßkorb in der Hand stand, sich mit der anderen die Augen beschattete und nach ihr ausschaute.

»Hier liegst Du und schläfst auf der kalten Erde?« sagte die Mutter. »Ich war so müde,« antwortete Synnöve, »und hatte mich nur einen Augenblick hingelegt, und da bin ich mit einemmal fest eingeschlafen.« – »Davor mußt Du Dich hüten, mein Kind – – Hier in dem Korb habe ich Dir etwas mitgebracht; ich habe gestern gebacken, weil Vater eine längere Reise machen will.« Aber Synnöve fühlte, etwas anderes müsse die Mutter hergeführt haben, und sie meinte nicht ohne Grund von ihr geträumt zu haben. Karen – so hieß ihre Mutter – war, wie gesagt, klein und schmächtig von Gestalt, hatte blondes Haar, und blaue Augen, die rastlos umherblickten. Sie lächelte ein wenig, wenn sie sprach; aber nur wenn sie mit Fremden sprach. Ihr Gesichtsausdruck war sehr scharf geworden; sie war hastig in ihren Bewegungen und machte sich immer etwas zu tun. – Synnöve bedankte sich für das Mitgebrachte, nahm den Deckel vom Korb und wollte nachsehen, was darin war. »Das kannst Du später tun«, sagte die Mutter; »ich habe wohl bemerkt, daß Du Töpfe und Kübel noch nicht abgewaschen hast; das mußt Du immer besorgen, mein Kind, ehe Du schlafen gehst.« – »Ja, das war auch nur heute.« – »Komm jetzt, ich will Dir helfen, da ich doch nun mal hier bin,« fuhr Karen fort, und schürzte sich auf. »Du mußt Dich an Ordnung gewöhnen, ob ich Dich nun unter Augen habe oder nicht.« Sie ging in die Milchkammer, und Synnöve folgte ihr langsam. Nun nahmen sie die Gefäße herunter und wuschen auf; die Mutter untersuchte, wie die Wirtschaft imstande sei, fand es nicht schlecht, gab eifrig[200] Anweisungen und half auch Synnöve beim Ausfegen. Und damit vergingen ein oder zwei Stunden. Während der Arbeit hatte sie der Tochter erzählt, was sie zu Hause gemacht hatten und wie sie durch die Vorbereitungen für Vaters Reise in Anspruch genommen war. Dann fragte sie Synnöve, ob sie auch nicht vergessen habe jeden Abend, vor dem Schlafengehen, in Gottes Wort zu lesen. »Denn das darf man niemals unterlassen, sonst ist es mit der Arbeit am anderen Tage schlecht bestellt.«

Als sie nun fertig waren, gingen sie hinaus und setzten sich, um auf die Kühe zu warten; und als sie dasaßen, fragte die Mutter nach Ingrid; sie wollte wissen, ob sie nicht bald wieder heraufkomme. Synnöve wußte nicht mehr darüber als die Mutter. »Ja, so kann es einem Menschen ergehen«, sagte die Mutter und Synnöve begriff sofort, daß sich das nicht auf Ingrid bezog; sie wollte gern einem weiteren Gespräch über diesen Gegenstand vorbeugen, fand aber nicht den Mut. »Wer unseren Herrgott nicht im Herzen trägt, der wird an ihn erinnert, wenn er's am wenigsten erwartet«, sagte die Mutter. Synnöve erwiderte kein Wort. »Ich habe immer gesagt: aus dem Burschen wird nichts. – Ist das ein Benehmen? Pfui!« – Sie hatten sich beide hingekauert und blickten vor sich hin; aber keine sah die andere an. »Hast Du gehört, wie es ihm geht?« fragte die Mutter, und warf ihr einen kurzen Blick zu. »Nein«, antwortete Synnöve. – »Es soll schlecht um ihn stehen«, sagte die Mutter. Ein Druck legte sich auf Synnöves Brust. »Ist es gefährlich?« fragte sie. »Ja, der Messerstich in der Seite; – und dann soll er noch am ganzen Leibe zerschlagen sein.« Synnöve fühlte, wie ihr das Blut in das Gesicht schoß; schnell drehte sie sich zur Seite, damit die Mutter es nicht sehen sollte. »Ja, aber es hat wohl im ganzen nicht viel zu sagen?« fragte sie so ruhig, wie sie vermochte; doch der Mutter war es aufgefallen, daß Synnöves Atem heftig ging, und darum entgegnete sie: »Ach nein, das [201] wohl nicht.« Da dämmerte es Synnöve auf, daß etwas sehr Schlimmes passiert war. »Liegt er zu Bett?« fragte sie. – »Ja, natürlich. Wie muß das seine Eltern treffen, – solch brave Leute. Gut erzogen haben sie ihn ja auch, so daß unser Herrgott nicht mit ihnen darüber in das Gericht gehen kann.« Synnöve wurde so beklommen zumut, daß sie sich kaum noch fassen konnte. Da fuhr die Mutter fort: »Nun zeigt es sich, wie gut es war, daß sich niemand an ihn gebunden hat. Unser Herrgott lenkt alles zum besten.« Vor Synnöves Augen schien sich alles zu drehen; sie glaubte vom Berg herunterzustürzen.

»Ich habe immer zu Vater gesagt: Gott schütze uns; wir haben nur die eine Tochter, und für die müssen wir sorgen. Vater ist ja etwas weich, so brav er sonst ist; aber da ist es gut, daß er sich dort Rat holt, wo er ihn findet; und das ist in Gottes Wort.« Als nun Synnöve noch bei all ihrem Kummer daran denken mußte, wie liebevoll ihr Vater immer gegen sie war, da wurde es ihr immer schwerer, die Tränen hinunterzuwürgen; aber es nützte nichts – sie fing zu weinen an. – »Du weinst?« fragte die Mutter und sah sie an; aber Synnöve ließ sich nicht richtig ansehen. »Ja, ich mußte an ihn denken, an Vater, und da – –«, und nun strömten die Tränen. – »Was hast Du denn nur, mein liebes Kind?« – »Ach, ich weiß selbst nicht recht ... das ist so plötzlich über mich gekommen ... vielleicht hat er Unglück auf der Reise«, schluchzte Synnöve. – »Wie kannst Du solchen Unsinn reden,« sagte die Mutter, »warum soll nicht alles gut abgehen? – Nach der Stadt und auf ebenen, breiten Fahrwegen.« – »Ja, denke nur ... wie es ihm gegangen ist ... dem andern«, schluchzte Synnöve. – »Ja, dem! – Aber Dein Vater fährt doch nicht wie toll darauf los, sollt' ich meinen.Der kommt sicher ohne Unfall nach Hause, – sofern unser Herrgott seine Hand über ihn hält.«

Die Mutter machte sich über Synnöves Tränen, die gar nicht aufhören wollten, allmählich Gedanken. »Es [202] gibt vieles auf der Welt, das schwer genug zu ertragen ist; aber da muß man sich damit trösten, daß noch Schwereres hätte kommen können«, meinte sie. »Der Trost ist recht schwach«, sagte Synnöve und weinte heftig. Die Mutter konnte es nicht über das Herz bringen, ihr das zu antworten, was sie dachte; sie sagte nur: »Unser Herrgott verhängt so manches über uns auf sichtbare Weise, – das hat er wohl auch diesmal getan«; dann stand sie auf, denn die Kühe brüllten schon auf dem Hang; das Geläut erklang, die Jungen jodelten, und langsam kam der Zug heran, weil das Vieh satt und ruhig war. Da bat die Mutter Synnöve, ihm mit ihr entgegen zu gehen; Synnöve stand auf und folgte ihrer Mutter; aber sehr langsam.

Karen begrüßte nun eifrig die Herde; – da kam eine Kuh nach der andern; die Kühe erkannten sie wieder und brüllten; – sie streichelte Tier für Tier, und freute sich, daß sie sich so herausgemacht hatten. »Ja«, sagte sie, »unser Herrgott ist dem nahe, der ihm nah ist.« Sie half nun die Kühe hineinbringen; denn es wollte heut mit Synnöve gar nicht flecken; Karen sagte weiter nichts und half ihr auch noch beim Melken, obgleich sie nun länger oben bleiben mußte, als sie sich vorgenommen hatte. Als dann noch die Milch durchgeseiht war, machte sie sich fertig, nach Hause zu gehen; Synnöve wollte sie begleiten. »Nein,« sagte die Mutter, »Du bist müde, die Ruhe wird Dir gut tun.« Dann ergriff sie den leeren Korb, gab ihrer Tochter die Hand, blickte sie fest an und sagte dabei: »Ich komme bald wieder, um zu sehen, wie es Dir geht – – halt Dich zu uns und denke nicht an andere.«

Kaum war die Mutter außer Sehweite, da überlegte Synnöve, woher sie am schnellsten einen Boten nach Granliden bekommen könne; sie rief Thorbjörns jüngeren Bruder, um ihn hinunterzuschicken; aber als er kam, meinte sie, daß es doch zu heikel sei, sich ihm anzuvertrauen, und sagte: »Laß nur, Du kannst wieder gehen.« Sie wollte selbst hinunter; Gewißheit mußte[203] sie haben; es war eine Sünde von Ingrid, daß sie ihr gar keine Nachricht zukommen ließ. Die Nacht war hell, der Granlidener Hof nicht so entfernt, daß sie den Weg nicht machen konnte, wenn ihr Herz sie trieb. Während sie nun noch dasaß und darüber nachsann, faßte sie in Gedanken alles zusammen, was ihr die Mutter gesagt hatte, und fing wieder an zu weinen; aber jetzt zauderte sie nicht mehr, wie sie es den ganzen Tag über getan hatte, band sich ein Tuch um und stahl sich über einen Schleichweg hinunter, damit es die Jungen nicht merkten.

Je weiter sie kam, desto mehr eilte sie; zuletzt sprang sie den Fußsteig hinab; dabei lösten sich kleine Steine und rollten hinunter. Sie erschrak. Obgleich sie wußte, daß das Geräusch nur von den rollenden Steinen kam, war es ihr doch, als befinde irgendein Wesen sich in der Nähe; sie mußte stehen bleiben und lauschen. Es war aber nichts; schneller sprang sie talwärts; ihr Fuß stieß nun gegen einen großen Stein, der mit dem einen Ende aus dem Wege hervorstak, herausgedrängt wurde und hinunterflog. Das gab ein Getöse, es prasselte in den Büschen; ihr wurde bange, und um so mehr, als sie nun genau wahrnahm, daß etwas unten auf dem Wege sich aufrichtete und bewegte. Zuerst glaubte sie an ein Raubtier; sie blieb mit verhaltenem Atem stehen; die Gestalt dort unten stand gleichfalls still. »Hoi–ho!« hörte sie rufen. Ihre Mutter! Das erste, was Synnöve tat, war, sich schleunigst zu verstecken. Sie wartete dann eine ganze Zeit, um sich zu vergewissern, ob die Mutter sie auch nicht erkannt habe und zurückkomme; aber das war nicht der Fall. Dann wartete sie noch länger, um die Mutter recht weit voraus zu lassen; als sie sich nun wieder auf den Weg machte, ging sie vorsichtig, und bald näherte sie sich dem Hof.

Ihr wurde wieder etwas beklommen ums Herz, als sie ihn erblickte, und das nahm mehr und mehr zu, je näher sie kam. Der Hof lag in tiefer Stille; die Arbeitsgeräte standen an die Wände gelehnt, Holz lag[204] gehauen und aufgestapelt, und die Axt war in den Hackeklotz getrieben. Sie ging vorbei und hin bis zur Tür; dort machte sie noch einmal Halt, sah sich um und lauschte; nichts rührte sich. Und als sie noch dastand und sich überlegte, ob sie in die Bodenkammer zu Ingrid hinaufgehen solle oder nicht, da mußte sie daran denken, daß in ebensolcher Nacht Thorbjörn vor einigen Jahren in Solbakken gewesen war und ihr die Blumen eingepflanzt hatte. Hastig zog sie die Schuhe aus und schlich die Treppe hinauf.

Ingrid bekam einen großen Schreck, als sie erwachte und sah, daß es Synnöve war, die sie geweckt hatte. – »Wie geht es ihm?« flüsterte Synnöve. Da wurde Ingrid ganz wach, erinnerte sich an alles und wollte sich erst anziehen, um nicht sofort antworten zu müssen. Aber Synnöve setzte sich auf die Bettkante, bat liegen zu bleiben und wiederholte ihre Frage.

»Jetzt geht's besser,« antwortete Ingrid im Flüsterton, »ich komme bald nach oben zu Dir.« – »Liebe Ingrid, Du mußt mir nichts verhehlen; Du kannst mir nichts so Schlimmes erzählen, das ich mir nicht schon schlimmer vorgestellt habe.« Ingrid versuchte noch sie zu schonen; aber die Furcht ihrer Freundin zwang ihr die Worte heraus und ließ keine Zeit zu Ausflüchten. Geflüsterte Fragen, geflüsterte Antworten; die tiefe Stille ringsumher machte beides noch ernster; die Zeit der Unterredung wurde zu einer feierlichen, zu einer Weihestunde, in der man auch der herbsten Wirklichkeit gerade in das Auge zu sehen wagt. Doch beide waren überzeugt, daß Thorbjörns Schuld diesmal gering war, und daß er nichts begangen hatte, das sich zwischen ihn und ihr Mitgefühl stellen konnte. Da weinten sich beide frei aus, aber leise, – und Synnöve weinte am stärksten; sie saß ganz zusammengekauert auf der Bettkante. Ingrid suchte sie durch Erinnerungen aufzuheitern: wie froh und vergnügt waren sie alle drei so manchesmal gewesen! Aber nun passierte es wie so oft, daß jede winzige Erinnerung [205] an Tage voll Sonnenschein in Kummer und Tränen zerrann.

»Hat er nach mir gefragt?« flüsterte Synnöve. – »Er hat fast gar nicht gesprochen.« – Plötzlich erinnerte sich Ingrid des Zettels, und das fiel ihr arg auf die Seele. – »Fällt's ihm zu schwer, zu sprechen?« – »Das weiß ich nicht – er denkt wohl desto mehr.« – »Liest er in der Bibel?« – »Mutter liest ihm vor; jetzt muß sie es alle Tage tun.« – »Was sagt er dann?« – »Er spricht fast gar nicht, hab' ich Dir ja gesagt; er liegt still da und sieht vor sich hin.« – »Liegt er in der bunten Stube?« – »Ja.« – »Mit dem Kopf zum Fenster?« – »Ja.« Sie blieben eine Weile stumm; dann sagte Ingrid: »Das kleine Sankthans-Spiel, das Du ihm geschenkt hast, hängt am Fenster und dreht sich.«

»Jetzt ist mir alles ganz gleich,« sagte Synnöve plötzlich und entschieden; »nichts auf der Welt soll mich von ihm trennen; es mag kommen, wie es will.« Ingrid war sehr befangen. »Der Doktor weiß noch nicht, ob er wieder ganz gesund wird«, flüsterte sie.

Da hob Synnöve ihren Kopf und sah Ingrid mit verhaltenem Weinen und stumm an; dann ließ sie ihn wieder sinken und saß in tiefen Gedanken da; die letzten Tränen rannen über ihr Gesicht; es folgten keine mehr, sie faltete die Hände, verharrte aber sonst regungslos; sie schien einen großen Entschluß zu fassen. Mit einem mal stand sie auf, lächelte, beugte sich über Ingrid und gab ihr einen langen, heißen Kuß. »Bleibt er siech, so werde ich ihn pflegen. Jetzt rede ich mit meinen Eltern.«

Das rührte Ingrid tief, aber bevor sie sprechen konnte, fühlte sie, wie ihre Hand erfaßt wurde: »Leb' wohl, Ingrid, ich gehe nun wieder allein zurück.« – Und Synnöve wandte sich schnell der Tür zu.

»Der Zettel!« flüsterte Ingrid ihr nach. – »Was für ein Zettel?« fragte Synnöve. Ingrid war schon aufgestanden, suchte ihn hervor und brachte ihn der Freundin; [206] aber während sie ihn mit der linken Hand ihr unter das Brusttuch schob, umschlang sie den Hals Synnöves mit der rechten, gab ihr den Kuß wieder, und ihre großen warmen Tränen fielen auf das Gesicht der Wartenden. Dann drängte Ingrid sie sanft hinaus und schloß die Tür; sie hatte nicht den Mut, das weitere zu sehen.

Synnöve ging langsam die Treppen hinunter, aber da sie zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt war, machte sie unvorsichtigerweise ein lautes Geräusch dabei, erschrak, lief durch den Flur, griff nach ihren Schuhen und eilte, den Zettel in der Hand, an den Häusern vorbei, über den Hofraum und direkt zum Gitter; dort blieb sie stehen, begann den Hang hinan zu steigen schnell und schneller, denn ihr Blut war in Wallung geraten. So schritt sie aus, sang leise vor sich hin, lief immer ungestümer, bis sie zuletzt müde war und sich hinsetzen mußte. Da erinnerte sie sich des Zettels. – –

Als die Schäferhunde am nächsten Morgen laut wurden, die Hirtenjungen erwachten und die Kühe gemolken und dann herausgelassen werden sollten, war Synnöve noch nicht zurück.

Als die Jungen sich darüber wunderten und einander fragten, wo sie wohl sein könne, und entdeckten, daß sie nachts gar nicht in ihrem Bett gewesen war, – da kam Synnöve. Sie war sehr bleich und still. Ohne ein Wort zu reden, schickte sie sich an, das Frühstück für die Jungen zu bereiten, legte ihnen den Vorrat zurecht, den sie für den Tag mitnehmen sollten, und half später beim Melken.

Der Nebel drückte noch auf die niedriger liegenden Hänge, der Tau glitzerte vom Heidekraut über die braunrote Felsfläche; es war etwas kalt, und wenn der Hund bellte, erklang ringsherum Antwort. Die Herde wurde hinausgelassen; die Kühe brüllten in die frische Luft und Tier auf Tier zog den Viehsteig hinab; aber dort saß schon der Hund, erwartete sie und hielt sie solange zurück, bis alle zur Stelle waren; dann ließ er sie weiter ziehen; die Herdenschellen läuteten über die [207] Hänge, der Hund kläffte, so daß es widerhallte, und die Jungen wetteiferten im Jodeln. Aus all diesem Wirrwarr von Tönen ging Synnöve fort und hin zu dem Platz, wo sie und Ingrid früher immer gesessen hatten. Sie weinte nicht, sondern saß still da, blickte starr vor sich hin und verspürte nur ab und zu etwas von dem vergnüglichen Lärm, der sich weit und weiter entfernte und mit der größeren Entfernung besser ineinanderfloß. Dabei fing sie an leise zu singen, dann immer lauter und zuletzt sang sie mit klarer voller Stimme ein Lied, das sie nach einem anderen, ihr aus der Kinderzeit bekannten, umgedichtet hatte:


Hab Dank für alles, was da geschehn,
Seit wir als Kinder im Walde spielten.
Ich dachte, das Spiel sollte weiter gehn,
Bis wir am Himmelstor hielten.
Ich dachte das Spiel sollte weitergehn
Von dort, wo die Birken uns Obdach boten,
Bis hin, wo die Solbakkenhäuser stehn
Und zu dem Kirchlein, dem roten.
Ich harrte so manchen Abend hell
Und ließ den Blick an den Tannen hangen;
Doch Schatten warf das dunkelnde Fjell,
Und Du, Du kamst nicht gegangen.
Ich harrte, harrte – – – die Welt entschlief.
Ich lauschte, spähte, wieder und wieder,
Doch die Leuchte schwelte und brannte tief
Und die Sonne ging auf – und ging nieder.
Die armen Augen spähten zu viel,
Sie taten nur immer nach einem schauen,
Nun wissen sie längst kein ander Ziel,
Und brennen unter den Brauen.
Sie sagen, mir könnte viel Trost geschehen
Im Kirchlein hinter der Fagerleite;
[208]
Doch bittet mich nicht dorthin zu gehen!
Er säße mir dort zur Seite.
Doch gut, so weiß ich doch, wer es war,
Der die Höfe tat geneinander legen
Und junge Augen schuf warm und klar
Und Wälder durchzog mit Wegen.
Doch gut, so weiß ich doch, wer es war,
Der jene Kirche dort schuf zum Beten
Und machte, daß sie dort Paar um Paar
Vor seinen Altar treten.

Siebentes Kapitel

Gute Zeit darauf saßen Guttorm und Karen in der großen, hellen Stube in Solbakken zusammen und lasen sich aus neuen Büchern vor, die sie aus der Stadt bekommen hatten. Vormittags waren sie in der Kirche gewesen; denn es war Sonntag, – dann hatten sie einen kleinen Rundgang durch die Felder gemacht, um zu sehen, wie Saaten und Früchte standen, und um zu überlegen, was Acker und was Brache im nächsten Jahr werden solle. So waren sie langsam von einem Stück Land zum andern gewandert, und sie fanden, daß in ihrer Zeit das Gut sich recht gehoben habe. »Gott weiß, was einmal draus wird, wenn wir nicht mehr sind«, hatte Karen gesagt; darauf hatte Guttorm sie aufgefordert, mit ihm nach Hause zu gehen, um in den neuen Büchern zu lesen: »Denn man tut gut, sich Gedanken, wie Du sie ausgesprochen hast, fernzuhalten.«

Nun hatten sie ein Buch beendet, und Karen war der Ansicht, daß die alten besser seien: »Die neuen sind ja nur aus den alten abgeschrieben.« – »Daran mag etwas Wahres sein; Sämund hat heut in der Kirche zu mir gesagt, daß die Kinder auch nur wieder wie die Eltern sind.« – »Ja, Du und Sämund, Ihr habt lange genug heute miteinander geredet.« – »Sämund ist ein verständiger Mann.« – »Aber ich fürchte, er ist [209] wenig unserm Herrn und Heiland ergeben.« – Hierauf antwortete Guttorm nichts. – – »Wo mag denn Synnöve jetzt sein?« fragte die Mutter. – »Oben in ihrer Kammer«, antwortete er. – »Du hast ja selbst vorhin bei ihr gesessen; wie war sie denn?« – »Ach –« – »Du solltest sie nicht soviel allein lassen.« – »Da kam jemand.« – Die Frau blieb einen Augenblick still. – »Wer war's?« – »Ingrid Granliden.« – »Ich dachte, sie ist noch auf der Alm.« – »Sie ist heute nach Hause gekommen, weil ihre Mutter in die Kirche wollte.« – »Ja, die hat sich ja auch heute dort mal sehen lassen.« – »Sie hat viel zu tun.« – »Das haben andre auch, aber wohin es einen zieht, dahin kommt er doch.« – Guttorm antwortete nicht. Nach einer Weile sagte Karen: »Außer Ingrid waren heute alle Granlidener in der Kirche.« – »Ja, wohl, um Thorbjörn wieder zum erstenmal hinzubegleiten.« – »Er sah schlecht aus.« – »Nicht besser, als zu erwarten war. Ich habe mich gewundert, daß er sich schon soweit erholt hat.« – »Ja, er hat sich mit seiner Torheit viel zugezogen.« – Guttorm blickte vor sich hin: »Er ist doch noch jung.« – »Es ist kein fester Kern in ihm, kein Verlaß.«

Guttorm hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, drehte ein Buch in der Hand, öffnete es, tat, als wenn er darin lese, und ließ die Worte dabei fallen: »Er soll bestimmt wieder ganz gesund werden.« – Die Mutter nahm auch ein Buch zur Hand: »Das wäre dem hübschen Burschen wirklich zu wünschen,« sagte sie; »unser Herrgott stehe ihm bei, daß er dann bessern Gebrauch davon macht.« – Nun lasen alle beide, dann sprach Guttorm beim Umblättern: »Er hat sie heut den ganzen Tag nicht angesehen.« – »Ja, das hab' ich auch bemerkt; er blieb still auf seinem Platz, bis sie fort war.« Eine Weile darauf äußerte Guttorm: »Glaubst Du, daß er sie vergessen wird?« – »Das wäre jedenfalls das Beste.«

Guttorm las weiter, seine Frau blätterte.

»Es ist mir weiter nicht angenehm, daß Ingrid immer bei ihr sitzt«, sagte sie. – »Synnöve hat ja fast keine [210] Menschenseele, mit der sie reden kann.« – »Sie hat uns.« – Da blickte Vater Guttorm sie an: »Wir wollen doch nicht zu streng sein.« Seine Frau schwieg; nach einer Weile erwiderte sie: »Ich habe es ja auch nicht verboten.« Der Vater legte das Buch fort, stand auf und sah aus dem Fenster. »Dort geht Ingrid«, sagte er. Kaum hatte die Mutter das gehört, so stand sie gleichfalls auf und lief schnell aus der Stube. Der Vater blieb noch lange am Fenster, dann drehte er sich um und ging auf und ab; bald kam Karen wieder und stellte sich vor ihn hin: »Ja, das hab' ich mir gleich gedacht«, sagte sie, »Synnöve sitzt oben und weint; aber sowie ich komme, dann kramt sie unten in ihrer Truhe«; und sie fuhr fort und schüttelte den Kopf: »Nein, es tut nicht gut, daß Ingrid bei ihr sitzt.« – Dann machte sie sich mit dem Abendessen zu schaffen und ging häufig durch die Tür aus und ein. Einmal, als sie gerade draußen war, kam Synnöve still und mit etwas geröteten Augen in die Stube; sie schlüpfte leicht an ihrem Vater, dem sie in das Gesicht sah, vorüber und hin zum Tisch, setzte sich und nahm ein Buch vor. Nach einem Weilchen legte sie es wieder fort und fragte ihre Mutter, ob sie ihr helfen könne. »Ja, das tu nur,« antwortete Karen, »Arbeit ist für alles gut.«

Synnöve übernahm den Tisch zu decken; der stand unweit vom Fenster. Der Vater, der bisher auf- und abgegangen war, kam nun dorthin und sah hinaus. »Die Gerste, die der Regen 'runtergedrückt hat, kommt, glaub' ich, wieder hoch«, sagte er. Da stellte sich Synnöve neben ihn und sah mit hinaus. Er wandte sich zu ihr, – seine Frau war gerade in der Stube – und so strich er nur mit der einen Hand über Synnöves Hinterkopf; dann nahm er seinen Gang wieder auf.

Sie aßen; aber in tiefer Stille; die Mutter sprach an diesem Tage das Gebet sowohl vor wie nach Tisch; und als alle aufgestanden waren, wünschte sie, sie sollten nun in der Bibel lesen und zusammen singen: »Gottes Wort gibt Frieden, und das ist doch im Hause der [211] größte Segen.« Dabei sah sie Synnöve an, die mit niedergeschlagenen Augen dastand. »Jetzt will ich Euch eine Geschichte erzählen,« sprach die Mutter weiter, »von der jedes Wort wahr ist, und ganz gut für den, der darüber nachdenken will.« – –

Und sie erzählte: »In meiner Jugend lebte in Houg ein Mädchen, die Enkeltochter eines alten, schriftgelehrten Amtmanns. Er hatte sie, als sie ganz jung war, zu sich genommen, um in seinem Alter Freude an ihr zu haben, und so lernte sie natürlich Gottes Wort und gutes Benehmen und Sitte. Sie faßte schnell auf, kam gut vorwärts und überholte im Lauf der Zeit uns alle; sie konnte schreiben, konnte rechnen, konnte ihre Schulbücher und fünfundzwanzig Kapitel der Bibel auswendig, als sie fünfzehn Jahr alt war; dessen erinnere ich mich, als wenn es heute wäre. Sie hielt mehr vom Lernen als vom Tanzen, und war darum selten bei lauten Festlichkeiten, doch häufiger oben in ihres Großvaters Stube bei den vielen Büchern zu sehen. Jedesmal, wenn wir mit ihr zusammenkamen, stand sie da, als wenn sie mit ihren Gedanken gar nicht zu uns gehörte, und wir sagten uns: ›Wenn wir doch nur so klug wären, wie Karen Hougen!‹ Sie sollte den Alten später beerben, und viele gute Burschen boten sich an, mit ihr mal auf Teilung zu gehen; aber alle bekamen Körbe. Zur selben Zeit kam der Pastorssohn aus dem Seminar nach Hause; er hatte dort nicht gut getan, immer nur Sinn für wilde Streiche gehabt und mehr böse Geschichten wie gute im Kopf; jetzt trank er sogar. ›Nimm Dich vor ihm in acht‹, sagte der Großvater, ›ich bin viel mit den Vornehmen zusammen gewesen, und nach meiner Erfahrung ist ihnen weniger zu trauen als den Bauern.‹ – Karen hörte immer mehr auf ihn als auf alle andern – und als sie später den Pastorssohn traf, ging sie ihm aus dem Wege; denn er hatte es auf sie abgesehen. Nirgends konnte sie mehr hin, ohne ihm zu begegnen. ›Geh weg,‹ sagte sie, ›es hilft Dir doch nichts.‹ Aber er lief ihr immer wieder nach, und so [212] geschah es, daß sie zuletzt doch mal stillstehn und ihn anhören mußte. Hübsch genug war er; als er aber zu ihr sagte, daß er nicht ohne sie leben könne, da trieb er sie damit weg. Nun lauerte er ihr auf; fortwährend umkreiste er ihr Haus, aber sie kam nicht vor die Tür; nachts stand er unter ihrem Fenster; aber sie ließ sich nicht blicken; er sagte, er werde sich ein Leid antun; aber Karen wußte, was sie wußte. Da fing er wieder an, mehr zu trinken. – ›Nimm Dich in acht,‹ sagte der Alte, ›das ist alles Teufelslist.‹

Eines Tages, als Karen in ihrer Stube war, stand plötzlich, ohne daß man wußte, wie er hereingekommen war, der Pastorssohn vor ihr. ›Jetzt töte ich Dich‹, sagte er. ›Ja, wenn Du Dich getraust!‹ antwortete sie. Da fing er zu weinen an und sagte, daß es in ihrer Macht stehe, einen ordentlichen Menschen aus ihm zu machen. ›Kannst Du ein halbes Jahr das Trinken lassen?‹ sagte sie. Und er ließ es ein halbes Jahr. ›Glaubst Du mir jetzt?‹ fragte er. ›Nicht bis Du Dich ein halbes Jahr allen lauten Vergnügungen fern gehalten hast.‹ Das tat er. ›Glaubst Du mir jetzt?‹ fragte er. ›Nicht, wenn Du jetzt nicht fortreist und Dein Examen machst.‹ Auch das tat er, und nach einem Jahr kam er als richtiger Pastor zurück. ›Glaubst Du mir jetzt?‹ fragte er und hatte noch dabei Pastorenmantel und Kragen angelegt. ›Jetzt will ich Dich ein paarmal Gottes Wort verkündigen hören.‹

Und das tat er klar und rein, wie es einem Pastor ziemt; er redete über seine eigene Niedrigkeit, und wie leicht der Sieg sei, wenn man ernstlich kämpfe, und von der Bedeutung der Worte Gottes, wenn man erst hin zu ihnen gefunden habe. Dann ging er wieder zu Karen. ›Ja, jetzt glaube ich, daß Du nach der wahren Erkenntnis lebst,‹ sagte Karen, ›und nun will ich Dir erzählen, daß ich schon drei Jahre mit meinem Vetter Andreas Hougen verlobt bin, und am nächsten Sonntag sollst Du uns in der Kirche aufbieten.‹ – –«

Damit schloß die Mutter. Synnöve hatte anfangs[213] gar nicht auf die Geschichte geachtet; dann aber stärker und stärker und zuletzt hing sie förmlich an jedem Wort. »Folgt nichts weiter?« fragte sie sehr bange. »Nein,« antwortete die Mutter. Der Vater sah die Mutter an; da blickte die Mutter etwas unsicher zur Seite, dann sagte sie nach kurzem Nachdenken, und fuhr dabei mit den Fingern über die Tischplatte: »Es mag wohl noch etwas folgen; – – aber das ist ja gleich.« – »Folgt noch etwas?« fragte Synnöve und wandte sich zu ihrem Vater, der ihr davon zu wissen schien. – »Oh – ja; aber wie Mutter sagt: das ist ja gleich.« – »Wie erging es ihm?« fragte Synnöve. »Ja, darum handelt sich's ja gerade«, antwortete der Vater und sah die Mutter an; die hatte sich mit ihren Schultern an die Wand gelehnt und sah beide an. – »Wurde er unglücklich?« fragte Synnöve leise. »Wir machen den Schluß dort, wo er gemacht werden soll«, sagte die Mutter und stand auf; der Vater ebenfalls; Synnöve etwas später.

Achtes Kapitel

Wieder vergingen einige Wochen, da schickte sich eines Morgens zu früher Stunde alles in Solbakken zum Kirchgang an; es sollte heute Konfirmation sein, – in diesem Jahre etwas zeitiger als gewöhnlich, – und wie immer bei solcher Gelegenheit wurden die Häuser zugeschlossen; denn alle gingen mit. Fahren wollten sie nicht; das Wetter war klar, wenn auch in der Frühe etwas winterlich kalt und rauh; der Tag schien recht schön zu werden. Der Weg zog sich rund um das Kirchspiel und an Granliden vorbei, ließ den Hof links in kurzer Entfernung liegen und erreichte nach einer Viertelmeile die Kirche. Das meiste Korn war schon geschnitten und in Haufen geschichtet; die meisten Kühe waren von der Alm getrieben und gingen kauend an Stricken auf Stoppeln und Gras; die Felder hatten sich zum zweitenmal begrünt oder schimmerten weißgrau; [214] ringsherum dehnte sich der Wald in seiner Farbenbuntheit; die Birke schon kahler, die Espe blaßgoldig, die Eberesche mit vertrockneten, runzligen Blättern, doch voll roter Beeren. Es hatte einige Tage stark geregnet; das niedre Gestrüpp, das sich an den Wegkanten hoch arbeitete oder im Wegsande stand und nieste, erschien reingewaschen und frisch. Aber die Felsen fingen an sich schwerer über das Land zu neigen, je ärger sie der beutegierige Herbst entkleidete und ihnen ein ernstes Aussehen gab; wogegen die Felsbäche, die im Sommer manchmal nur ein Scheindasein führten, sich wild tummelten und mit großem Lärm herunterfuhren; besonders wuchtig und prasselnd tat das der Granlidener, und namentlich unten im Geröll, wo der Fels nicht länger mit wollte, sondern sich nach innen zurückzog. Dort nahm der Bach auf dem Gestein einen tüchtigen Anlauf und sprang mit derartigem Jauchzen herunter, daß der Fels erbebte. Gewaschen wurde der für seine Verräterei, denn der Wasserfall schickte ihm seine kribblichsten Strahlen gerade ins Gesicht. Einige neugierige Elsenbüsche, die sich dem Abhang genähert hatten und beinahe fortgeschwemmt wären, schlucksten jetzt krampfhaft im Wassersbade, denn der Gießbach war heut nicht eben sparsam.

Thorbjörn ging mit seinen Eltern, seinen beiden Geschwistern und den übrigen Hausleuten gerade daran vorbei und sah es sich mit ihnen an; er war wieder ganz zu Kräften gekommen und hatte sich schon ebenso tüchtig wie früher an der Arbeit seines Vaters beteiligt; die zwei waren fast unzertrennlich; so auch heut. – »Ich glaube, hinter uns kommen die Solbakkener«, sagte der Vater. Thorbjörn blickte sich nicht um; aber die Mutter setzte hinzu: »Jawohl, das sind sie; – – aber ich sehe nicht – – – sie sind ja auch noch so weit.« Entweder gingen nun die Granlidener schneller, oder die Solbakkener langsamer, denn der Abstand wurde immer größer und größer; zuletzt verloren sie sich ganz aus den Augen. Es schienen heut[215] viele Menschen zur Kirche zu wollen; der lange Weg war ganz schwarz von Fußgängern, Fahrenden und Reitern; die Pferde waren jetzt im Herbst mutig und wenig daran gewöhnt, mit anderen zusammen zu sein; sie wieherten unaufhörlich, und es steckte eine Unruhe in ihnen, die das Fahren gefährlich, aber sehr vergnüglich machte.

Je mehr sie sich der Kirche näherten, desto größeren Lärm machten die Pferde; jedes, das ankam, wieherte zu den schon dort stehenden hinüber; und diese zerrten am Halfter, trampelten mit den Hinterbeinen und antworteten den Ankömmlingen. Alle Hunde aus dem Kirchspiel, die in der Woche aus weiter Ferne auf einander gelauscht, sich gereizt und angekläfft hatten, trafen sich jetzt vor der Kirche und stürzten sich paarweise oder rudelweise Hals über Kopf auf die Felder zu einer gehörigen Balgerei. Die Menschen standen längs der Kirchenmauer und den Häusern, führten Gespräche im Flüsterton und sahen sich nur von der Seite an. Der Weg vor der Mauer war nicht breit, die Häuser lagen unweit von ihr auf der Seite gegenüber; und gern standen die Frauen und Mädchen an der Mauer, die Männer und Burschen vor den Häusern. Erst später fanden sie den Mut, zueinander hinüberzugehen. Sahen sich Bekannte auf geringen Abstand, dann taten sie, als sähen sie sich nicht, bis nach altem Brauch die Zeit gekommen war; – es konnte ja passieren, daß ein Ausweichen nicht möglich gewesen, daß sie sich begrüßen mußten; aber dann geschah es mit halb abgewandtem Gesicht und knappen Worten; worauf sich beide Teile mit Vorliebe nach ihren verschiedenen Richtungen zurückzogen. Als die Granlidener herankamen, wurde es fast noch stiller wie bisher; Sämund hatte nicht viele zu begrüßen, und so ging es schnell durch die Reihen; aber die Frauen blieben gleich bei den Vordersten stehen. Deshalb mußten die Männer, als sie zur Kirche wollten, erst wieder den Weg zurück und zu den Frauen hinüber; in demselben Augenblick [216] fuhren drei Wagen hintereinander, schärfer als alle früher gekommenen, heran und verlangsamten nicht einmal ihre und Fahrt, als sie in die Menge einbogen. Sämund Thorbjörn, die beinahe überfahren wurden, blickten zu gleicher Zeit auf; im ersten Wagen saßen Knud Nordhoug und ein alter Mann; im zweiten seine Schwester und ihr Mann; im dritten die Eltern, die sich des Hofes begeben hatten. Vater und Sohn sahen sich an. In Sämunds Gesicht veränderte sich kein Zug; Thorbjörn wurde ganz blaß; schnell blickten beide wieder weg und geradeaus; dabei wurden sie die Solbakkener gewahr, die direkt vor ihnen Halt gemacht hatten, um Ingebjörg und Ingrid zu begrüßen. Die Ankunft der Wagen hatte ihr Gespräch abgeschnitten, sie verfolgten mit den Augen die Fahrenden, und es verging eine Weile, bis sie von ihnen ablassen konnten. Als sie allmählich die Überraschung verschmerzt hatten und nach einem Übergang suchten, stießen ihre Blicke auf Sämund und Thorbjörn, die dastanden und hinstarrten. Guttorm drehte sich um; aber seine Frau richtete sofort ihre Augen auf Thorbjörn; Synnöve, die fühlte, daß er sie ansah, wendete sich Ingrid zu und nahm sie bei der Hand, um sie zu begrüßen, obgleich sie es schon einmal getan hatte. Aber alle merkten zu gleicher Zeit, daß ihre Dienstboten und ihre Bekannten ohne Ausnahme sie beobachteten, und nun schritt Sämund direkt hinüber und gab Guttorm mit abgewandtem Gesicht die Hand: »Dank für das vorige Mal!« – »Dir selber Dank für das vorige Mal.« – Ebenso sagte seine Frau: »Dank für das vorige Mal!« – »Dir selber Dank für das vorige Mal«; aber sie blickte gar nicht dabei auf. Thorbjörn ging seinem Vater nach und tat wie er; Sämund kam zu Synnöve; sie war die erste, die er ansah; sie sah auch ihn an, vergaß aber dabei zu sagen: »Dank für das vorige Mal«; nun kam Thorbjörn; er sagte nichts; sie sagte nichts; sie gaben sich die Hand; aber nur ganz lose; keins von beiden schlug die Augen auf, keins konnte den Fuß von der Stelle bewegen. – »Das wird sicher [217] prächtiges Wetter heut«, sagte Karen Solbakken und behielt rastlos die beiden im Auge. Sämund war der erste, der ihr antwortete: »Jawohl, der Wind treibt die Regenwolken weg.« – »Das ist gut fürs Getreide, das noch draußen steht und trockenes Wetter braucht«, sagte Ingrid Granliden und fing an mit den Fingern auf Sämunds Rock herumzubürsten, vermutlich, weil sie glaubte, daß er staubig sei. – »Unser Herrgott hat uns ein gutes Jahr beschert; aber ob alles richtig unter Dach kommt, das ist noch ungewiß«, sagte Karen Solbakken wieder und sah beständig auf die beiden, die noch immer regungslos dastanden. »Das kommt auf die Zahl der Arbeitskräfte an«, sagte Sämund und stellte sich vor sie hin, daß sie nicht dorthin sehen konnte, wohin sie gern wollte, »ich habe mir gedacht, wenn sich ein paar Höfe zusammentäten, würd' es besser gehen.« – »Sie wollen aber vielleicht das trockene Wetter zu derselben Zeit ausnutzen«, sagte Karen und trat einen Schritt zur Seite. – »Na ja,« sagte Ingebjörg und stellte sich neben ihren Mann, so daß Karen gar nicht dorthin sehen konnte, wohin sie gern wollte; »aber auf manchen Feldern ist das Korn früher reif als auf anderen; Solbakken ist uns oft vierzehn Tage voraus.« – »Da könnten wir einander ja gut aushelfen«, sagte Guttorm langsam, und näherte sich einen Schritt. Karen warf ihm einen schnellen Blick zu. – »Es könnte jedoch auch vielerlei dazwischen kommen«, fügte er hinzu. – »So ist es«, sagte Karen und machte einen Schritt nach der einen, dann einen Schritt nach der anderen Seite, dann noch einen und endlich einen zurück. – »Ja, oft steht einem vielerlei im Wege«, sagte Guttorm nicht ohne seinen Mund ein klein wenig zum Lachen zu verziehen. – »Wenn das so ist ...«, sagte Guttorm; aber seine Frau warf schnell dazwischen: »Menschenkraft reicht nicht weit; Gottes Kraft ist die größte, sollte ich glauben, und auf ihn kommt es an.« – »Er wird wohl nichts besonderes einzuwenden haben, wenn wir uns in Solbakken und Granliden bei der Ernte helfen?« sagte [218] Sämund. »Nein,« versetzte Guttorm, »dagegen kann er nichts einwenden«; und er blickte ernst seine Frau an. Die suchte dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Heut ist lebhafter Kirchgang,« sagte sie; »es tut einem wohl, die Menschen zu sehen, die zum Gotteshause streben.« Keiner schien ihr antworten zu wollen, – da sprach Guttorm: »Ich glaube wohl, die Gottesfurcht nimmt zu; jetzt kommen mehr in die Kirche als in der Zeit, da ich jung war.« – »Ja, ja, – das Volk vermehrt sich«, sagte Sämund. – »Es sind wohl viele darunter – vielleicht der größte Teil, – die nur die Gewohnheit hertreibt«, erwiderte Karen Solbakken. – »Vielleicht die jüngeren«, sagte Ingebjörg; und Sämund darauf: »Die wollen sich wohl gern hier treffen.« – »Habt Ihr gehört, daß sich der Pastor um eine andere Pfarre beworben hat?« sagte Karen und suchte dem Gespräch abermals eine Wendung zu geben. »Das wäre schlimm,« versetzte Ingebjörg, »er hat alle meine Kinder getauft und auch konfirmiert.« – »Nun soll er sie wohl auch noch erst trauen?« fragte Sämund und biß auf einen Span, den er gefunden hatte. – »Ich wundere mich, – der Gottesdienst muß doch bald anfangen«, sagte Karen und sah nach der Kirchentür. – »Ja, hier draußen ist es heut heiß«, antwortete Sämund. – »Komm, Synnöve, wir wollen jetzt hineingehen.« – Synnöve fuhr zusammen; denn sie hatte gerade mit Thorbjörn gesprochen. – »Willst Du nicht warten, bis es läutet?« sagte Ingrid und schielte verstohlen nach Synnöve; »dann können wir alle zusammengehen«, setzte sie zu. Synnöve wußte nicht, was sie antworten sollte. Sämund drehte sich um und sah sie an. »Wart's ab, dann läutet es bald – für Dich«, sagte er. Synnöve wurde ganz rot; ihre Mutter sandte Sämund einen bösen Blick; aber der lächelte ihr zu: »Das wird so, wie unser Herrgott will; hast Du das nicht vorhin selbst gesagt?« – Und dann schlenderte er voraus, auf die Kirche zu; die anderen folgten ihm.

Vor der Kirchentür entstand ein Gedränge und bei[219] näherer Untersuchung fand es sich, daß sie noch gar nicht offen war. Gerade als einige fortgingen, um nach dem Grund zu fragen, wurde sie aufgemacht, und die Menschen strömten hinein; aber etliche gingen wieder zurück, wodurch die Herankommenden voneinander getrennt wurden. Oben an der äußeren Wand der Kirche standen zwei Männer im Gespräch; der eine von ihnen, – groß und derb, mit blondem, aber struppigem Haar und einer Stumpfnase, – das war Knud Nordhoug; als er die Granlidener unweit vor sich sah, brach er das Gespräch ab; es wurde ihm etwas wunderlich zumut, – aber er blieb stehen. Sämund mußte gerade an ihm vorbei, und tat's nicht, ohne ihm einige Blicke zuzuwerfen; Knud schlug die Augen nicht nieder; aber sie flackerten doch etwas. Dann kam Synnöve; und sobald sie unerwartet Knud vor sich sah, wurde sie leichenblaß. Da schlug Knud die Augen nieder und trat von der Wand zurück, um fortzugehen. Er hatte kaum ein paar Schritte gemacht, da sah er vier Gesichter, deren Augen auf ihn gerichtet waren; Guttorm und seine Frau, Ingrid und Thorbjörn. Verwirrt wie er war, ging er direkt auf sie zu, so daß er bald wider Wissen und Willen fast Kopf an Kopf mit Thorbjörn stand; erst schien er sich beiseite drücken zu wollen; aber der Menschen wegen, die kamen und gingen, machte sich das nicht so leicht. Ihre Begegnung erfolgte gerade auf den Steinfließen vor dem Kircheneingang; oben auf der Schwelle der Vorhalle war Synnöve stehen geblieben; Sämund etwas hinter ihr; sie konnten von ihrem höheren Platz aus deutlich von allen draußen gesehen werden und alle sehen. Für Synnöve war alles andere versunken; sie starrte nur auf Thorbjörn; ebenso Sämund, seine Frau, das Ehepaar aus Solbakken und Ingrid. Das merkte und fühlte Thorbjörn; er stand wie festgenagelt; aber Knud dachte, daß er jetzt etwas tun müsse, und darum streckte er die eine Hand etwas vor, aber er sagte nichts. Auch Thorbjörn streckte eine Hand vor; aber nicht soweit, daß sich die Hände beider fassen konnten. »Dank[220] für ...« fing Knud an, besann sich jedoch schnell, daß dieser Gruß nicht recht hierher paßte, und trat einen Schritt zurück. Thorbjörn sah hoch, sein Blick traf Synnöve, die weiß wie Schnee war. Er tat einen tüchtigen Schritt vorwärts, ergriff kräftig Knuds Hand und sagte, sodaß es die Nächsten hören konnten: »Dank für das vorige Mal – das kann uns beiden eine gute Lehre gewesen sein.«

Knud gab einen Laut, ungefähr wie einen Schluckser, von sich und versuchte zwei- oder dreimal etwas zu sagen; aber es gelang ihm nicht. Thorbjörn hatte nichts mehr zu sagen und wartete – er sah nicht auf; er wartete nur. So fiel kein Wort mehr zwischen beiden, doch wie Thorbjörn noch immer dastand und dabei sein Gesangbuch in den Händen herumdrehte, fiel es zur Erde. Sofort bückte sich Knud, hob es auf und reichte es ihm. »Ich danke Dir«, sagte Thorbjörn, der sich gleichfalls gebückt hatte; er blickte auf, aber da Knud wieder zu Boden schaute, dachte Thorbjörn: das beste ist, ich gehe jetzt. Und dann ging er.

Die anderen gingen ebenfalls, und als sich Thorbjörn hingesetzt hatte und eine Weile darauf zu den Frauen hinübersah, traf sein Blick Ingebjörg, die ihm mütterlich zulächelte, und Karen Solbakken, die sicher darauf gewartet hatte, er möge hinübersehen; denn sobald er sie ansah, nickte sie ihm dreimal zu; und als ihn dies stutzig machte, nickte sie wieder dreimal, und noch freundlicher als zuvor. – Vater Sämund flüsterte ihm in das Ohr: »Das habe ich mir gleich gedacht.« Das Einleitungsgebet war gesprochen, das erste Lied aus dem Gesangbuch gesungen, schon stellten sich die Konfirmanden auf, da erst flüsterte Sämund wieder: »Aber dem Knud wird's nicht leicht, gut zu sein; lasse es immer recht weit von Granliden nach Nordhoug bleiben.«

Die Konfirmation begann; der Pastor trat hervor, und die Kinder stimmten das Einsegnungslied von Kingo an. Wenn nun dieser Kinderchor und nur dieser Kinderchor [221] so voll Vertrauen und so hell singt, dann werden die älteren Leute sehr gerührt, und besonders diejenigen, die ihre eigene Konfirmation noch frischer im Gedächtnis haben. Wenn dann tiefe Stille eintritt, und der Pastor, seit mehr als zwanzig Jahren derselbe, der für jeden einzelnen immer eine schöne Stunde übrig gehabt hatte, da er ihn auf ein Höheres hingewiesen, – wenn dieser Pastor die Hände faltet und zu reden anhebt, dann wächst die Rührung in der Gemeinde. Und den Kindern kommen die Tränen, wenn er sich an die Eltern wendet und sie auffordert, für ihre Kinder zum lieben Gott zu beten. Thorbjörn, der vor kurzem dem Tode nahe gewesen und unlängst noch geglaubt hatte, er werde sein Lebenlang siech bleiben, weinte heftig, besonders als die Kinder ihr Gelübde ablegten, und alle in der tiefsten Überzeugung, daß sie es auch halten könnten. Er sah nicht ein einzigesmal zu den Frauen hinüber; aber nach dem Gottesdienst ging er zu Ingrid und flüsterte ihr etwas ins Ohr; dann ging er schnell durch das Gedränge hinaus. Einige wollten wissen, daß er über den Hügel dem Walde zu statt auf der Fahrstraße geschritten sei; aber sicher wußten sie es auch nicht. Sämund suchte ihn, gab es aber auf, als er entdeckte, daß Ingrid ebenfalls fort war; dann suchte er die Solbakkener; Guttorm und Karen liefen überall herum und fragten jeden nach Synnöve; aber zufällig hatte keiner sie gesehen. Da zogen sie nach Hause, jedes Ehepaar für sich, doch ohne ihre Kinder.

Doch weit vorn auf der Straße gingen Synnöve wie auch Ingrid. »Fast tut es mir leid, daß ich mitgekommen bin«, sagte jene. – »Jetzt ist es nicht mehr so gefährlich; Vater weiß es ja«, antwortete die andere. – »Aber er ist doch nicht mein Vater«, sagte Synnöve. »Wer weiß?« entgegnete Ingrid – und dann sprachen sie nicht mehr darüber. – »Hier sollten wir ja warten«, sagte Ingrid, als sie bei einer scharfen Wegkante an einen dichten Wald kamen. – »Er hat einen weiten Umweg zu machen«, versetzte Synnöve. – »Er ist aber schon [222] da«, fügte Thorbjörn hinzu, der hinter einem großen Stein gestanden hatte und nun hervortrat.

Er hatte sich alles, was er sagen wollte, fix und fertig im Kopf zurecht gelegt, und er hatte nicht wenig zu sagen. Aber heut sollte es auch frisch heraus, weil sein Vater es wußte und damit einverstanden war; das glaubte Thorbjörn nach den Vorgängen heute bei und in der Kirche bestimmt annehmen zu können. Den ganzen Sommer hatte er sich nach einer Aussprache gesehnt, und da mußte er doch heute freier reden können als früher!

»Am besten gehen wir wohl auf dem Waldweg,« sagte er, »da kommen wir rascher vorwärts.« Die beiden Mädchen sagten nichts, aber folgten ihm. Eigentlich hatte er sofort mit Synnöve reden wollen; aber dann wollte er doch lieber bis jenseits des Hügels warten, und dann, bis sie den Sumpf hinter sich hatten; dort aber meinte er, sie müßten erst weiter in den Wald hineinkommen. Ingrid, die recht gut merkte, daß die entscheidenden Worte zwischen den beiden nicht flott in Fluß gerieten, verlangsamte ihre Schritte, und blieb mehr und mehr zurück, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen war. Synnöve tat, als merke sie das nicht, bückte sich hier und da nach einer Beere am Wegsaum, und pflückte sie.

»Das müßte doch merkwürdig zugehen, wenn ich nicht mit der Sprache heraus könnte,« dachte Thorbjörn, und so sagte er: »Schönes Wetter heute.« – »Recht schönes Wetter«, antwortete Synnöve. Sie schritten ein Stückchen weiter, sie suchte Beeren – und er, er ging daneben. – »Das war hübsch von Dir, daß Du mitgekommen bist«, sagte er dann; sie entgegnete nichts. – »Wir haben einen sehr langen Sommer gehabt«, fing er wieder an; aber darauf antwortete sie gar nichts. – Nein, solange wir gehen, dachte Thorbjörn, kommen wir nicht ordentlich zum Reden. »Wollen wir nicht auf Ingrid warten?« fragte er. – »Ja, das wollen wir«, entgegnete Synnöve und blieb stehen. Hier [223] gab es keine Beeren, und so konnte sie sich auch nicht danach bücken; das hatte Thorbjörn ganz gut gesehen; aber Synnöve pflückte einen langen Grashalm, und nun stand sie da und zog die Beeren auf dem Halm auf.

»Heute mußte ich immer an die Zeit denken, wie wir zusammen zur Konfirmation gegangen sind«, sagte er. »Daran mußte ich auch immer denken«, erwiderte sie. – »Seitdem ist eine Menge passiert« – und da sie still blieb, fuhr er fort: »aber meistens Geschichten, die wir nicht erwartet haben.« Synnöve hatte viel mit Halm und Beeren zu tun und mußte den Kopf dabei senken; er trat einen Schritt vor sie hin, um ihr in das Gesicht zu sehen; doch als ob sie's merke, veränderte sie ihre Stellung so, daß er gezwungen wurde, sich wieder anders zu drehen. Da bekam er fast Angst, daß er seine Angelegenheit nicht vorwärts bringe. »Synnöve, Du hast mir doch etwas zu sagen?« Sie sah auf und lachte. »Was soll ich Dir zu sagen haben?« Er gewann seinen alten Mut wieder und wollte sie umfassen; aber als er ihr nahe kam, traute er sich nicht recht und fragte nur ganz geduckt: »Ingrid hat doch mit Dir geredet?« – »Ja«, antwortete sie. »Dann mußt Du auch etwas wissen«, sprach er weiter. Sie schwieg. »Dann mußt Du auch etwas wissen«, wiederholte er, und trat noch einmal auf sie zu. »Du mußt wohl auch etwas wissen«, entgegnete sie; – ihr Gesicht konnte er nicht sehen. »Ja«, sagte er, und wollte ihre eine Hand fassen; aber sie war gerade zu sehr mit dem Halm beschäftigt. »Dumme Geschichte das,« sagte er, »Du machst mich immer kleinmütig.« – Weil er nicht bemerken konnte, daß sie darüber lächelte, wußte er nicht, wie er fortfahren sollte. »Kurz und gut,« stieß er plötzlich mit starker, aber doch etwas unsicherer Stimme vor: »Was hast Du mit dem Zettel gemacht?« Sie antwortete nicht; wandte sich aber ab. Er folgte ihrer Bewegung, legte die eine Hand auf ihre Schulter und neigte sich ihr zu: »Antworte mir«, flüsterte er. – – »Ich hab' ihn verbrannt.« – –

[224] Er nahm sie und drehte sie zu sich hin, aber als er sah, daß ihr die Tränen in die Augen traten, da blieb ihm nichts anderes übrig als sie loszulassen; – das ist doch ärgerlich, daß ihr die Tränen so locker sitzen, dachte er. Mit einem Mal sagte sie; – jedoch ganz leise: »Warum hast Du den Zettel geschrieben?« – »Das hat Ingrid Dir ja gesagt.« – »Ja wohl; aber – sehr böse und hart war's von Dir.« – »Vater hat's gewollt.« – »Trotzdem –« – »Er hat geglaubt, ich würde mein ganzes Leben lang ein kranker Mensch bleiben; aber jetzt bin ich soweit, daß ich für Dich sorgen kann«, sagte er.

Ingrid erschien unten am Hügel, und da machten sich die beiden wieder auf den Weg.

»Damals, als ich glaubte, ich könnte Dich nicht mehr kriegen, warst Du mir am nächsten«, sprach er. – »Wenn man allein ist, geht man prüfend in sich«, erwiderte sie. – »Ja, da zeigt sich's am besten, wer die größte Macht über uns hat«, sagte Thorbjörn und schritt ernst neben ihr her.

Jetzt pflückte sie keine Beeren mehr. »Willst Du ein paar haben?« fragte sie und reichte ihm den Halm hin. »Danke«, antwortete er und hielt ihre Hand fest. »Dann ist es wohl besser, es bleibt beim alten«, brachte er mit etwas schwankender Stimme hervor. – »Ja«, flüsterte sie unhörbar, und wandte den Kopf ab; nun gingen sie weiter, und solange sie schwieg, traute er sich nicht, sie zu berühren oder mit ihr zu sprechen; aber sein ganzer Körper wurde mit einemmal so leicht, so leicht – und beinahe wäre er hingepurzelt. Vor seinen Augen flimmerte und brannte es; und da Synnöve und er nun auf einen Hügel kamen, von dem sie Solbakken gut übersehen konnten, war es ihm, als sei er sein ganzes Leben dort drüben zu Hause gewesen, und habe Heimweh dahin gehabt. »Ich gehe gleich mit ihr hinüber,« dachte er, schritt aus, und schöpfte sich aus dem Bilde, das sich ihm bot, immer neuen Mut, so daß sein Vorsatz sich mit jedem Schritt befestigte. »Vater hilft mir,« [225] dachte er; »ich ertrag's nicht länger«, und er ging schnell und schneller, immer geradeaus. Kirchspiel und Hof lagen in hellem Licht. »Ja, heute! Nicht eine Stunde wart' ich länger,« und er fühlte sich so stark, daß er im Augenblick nicht wußte, wie er das betätigen solle.

»Du reißt mir ja beinah aus,« hörte er eine sanfte Stimme hinter sich rufen. Es war Synnöve; vergebens hatte sie versucht, ihm nachzukommen, und mußte es jetzt aufgeben. Er schämte sich recht, kehrte um, ging mit ausgestreckten Armen auf sie zu und dachte: jetzt will ich sie mal gleich hoch in die Luft schwenken; aber als er bei ihr war, ließ er es lieber bleiben. »Ich gehe zu schnell«, sagte er. »Ja, viel zu schnell«, antwortete sie.

Nun waren sie der Landstraße nahe; Ingrid, die in der ganzen Zeit unsichtbar geblieben, war auf einmal dicht hinter ihnen. »Nun dürft Ihr nicht länger zusammengehen«, sagte sie. Das war Thorbjörn etwas zu früh, er erschrak; auch Synnöve wurde etwas beklommen. »Ich habe Dir noch so viel zu sagen«, flüsterte er. Sie konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. »Ja, ja,« sagte er, »das nächste Mal« – und ergriff ihre Hand.

Mit klarem, vollem Blick sah sie zu ihm auf; ihm wurde ganz warm, und wieder schoß ihm der Gedanke durch den Kopf: »Ich gehe gleich mit ihr.« Da zog sie behutsam ihre Hand zurück, wandte sich ruhig zu Ingrid, sagte ihr Lebewohl und schritt langsam zur Straße hin. Und er, er blieb, wo er war.

Die Geschwister gingen durch den Wald nach Hause. »Habt Ihr Euch ausgesprochen?« fragte Ingrid. – »Nein, der Weg war zu kurz«, antwortete er; aber ging so schnell, als ob er nichts mehr hören wolle.

»Na?« sagte Sämund und sah vom Mittagessen auf, als die Geschwister in die Stube traten. Thorbjörn antwortete nicht; er ging zu der Bank der gegenüberliegenden Wand, vermutlich, um seinen Rock auszuziehen; Ingrid ging ihm nach und kicherte. Sämund[226] fing wieder an zu essen, blickte dann und wann auf Thorbjörn, tat dabei, als sei er mit dem Essen sehr beschäftigt, lachte leise vor sich hin und aß weiter. »Komm her und iß,« rief er, »sonst wird das Essen kalt.« – »Danke, ich habe keinen Hunger«, antwortete Thorbjörn und setzte sich. »So?« – und Sämund aß. Nach einem Weilchen sagte er: »Ihr wart ja heut mit einemmal aus der Kirche.« – »Wir hatten mit jemand zu reden«, erwiderte Thorbjörn und hockte mit krummem Buckel. – »Na, habt Ihr denn mit ihm geredet?« – »Das weiß ich fast selber nicht«, versetzte Thorbjörn. – »Den Teufel auch«, brummte Sämund und aß. Es dauerte nicht lange mehr, da war er fertig und stand auf; er ging zum Fenster, blieb stehen und sah hinaus; bald darauf drehte er sich um: »Du, komm, wir wollen ein bißchen aus und uns die Felder besehen.« Thorbjörn stand auf. »Nein, zieh Dir erst den Rock an.« Thorbjörn, der in Hemdsärmeln dagesessen hatte, nahm einen alten Arbeitsrock, der hinter ihm hing. – »Siehst Du nicht, daß ich den guten anhabe?« rief Sämund. Nun zog Thorbjörn auch seinen Sonntagsrock an. Dann gingen sie fort; Sämund voran, Thorbjörn hinterher.

Sie nahmen die Richtung der Fahrstraße. »Wollen wir nicht zur Gerste?« fragte Thorbjörn. »Nein, zum Weizen«, antwortete Sämund. Gerade als sie auf die Straße kamen, fuhr ein Wagen langsam auf sie zu. »Der Wagen ist aus Nordhoug«, sagte Sämund. – »Das Jungvolk von Nordhoug sitzt drin«, fügte Thorbjörn hinzu; Jungvolk bedeutet nämlich das junge Paar.

Der Wagen hielt, als die Granlidener herankamen. »Wirklich ein Staat von Frauenzimmer ist die Marit Nordhoug«, flüsterte Sämund, und wandte kein Auge von ihr; sie saß etwas zurückgelehnt im Wagen und hatte ein Tuch lose um den Kopf, ein andres um den Nacken und die Brust geschlungen; sie blickte steif vor sich hin und auf die beiden Fußgänger. Der Mann sah sehr blaß und mager und noch sanfter als früher aus, etwa wie [227] einer, der Kummer hat und sich ihn nicht vom Herzen reden kann.

»Ihr seid wohl aus, um nach dem Korn zu sehen?« fragte er. – »Das will ich meinen«, antwortete Sämund. – »Gut steht's dies Jahr.« – »Hat schon schlechter gestanden.« – »Ihr kommt heute spät zurück«, sagte Thorbjörn. – »Hatte zu vielen Adieu zu sagen.« – »Was? – willst Du denn verreisen?« fragte Sämund. – »Ja, das will ich, ja.« – »Weit?« – »Ach, ja.« – »Wie weit denn?« – »Nach Amerika.« – »Nach Amerika?« riefen die beiden Granlidener auf einmal. »Ein Mann, der sich eben erst verheiratet hat!« setzte Sämund hinzu. Der Mann lächelte. »Ich glaube, ich bleibe von wegen meinem Fuß hier, sprach der Fuchs, da saß er im Eisen fest.« Marit sah ihn und darauf die anderen an; eine leichte Röte flog über ihr Gesicht; aber kein Zug veränderte sich. – »Die Frau geht wohl mit?« fragte Sämund. – »Nein, das tut sie nicht.« – »In Amerika soll man's leicht zu was bringen«, sagte Thorbjörn, – er hatte die Empfindung, das Gespräch dürfe nicht stocken. – »Na, ja«, sagte der Mann. – »Aber Nordhoug hat doch guten Boden und ist groß«, versetzte Sämund. – »Es sind zu viele drauf«, antwortete der Mann; seine Frau sah ihn wieder an. »Der eine steht dem andern im Wege«, fügte er hinzu.

»Glückliche Reise!« sagte Sämund und gab ihm die Hand. »Gott lasse Dich finden, was Du suchst.«

Thorbjörn blickte seinem Schulkameraden lange und fest in die Augen: »Ich möchte später noch mit Dir reden«, sagte er. – »Es tut einem gut, wenn man mit jemand reden kann«, antwortete der Mann und schrapte mit dem Peitschenstiel auf dem Boden des Wagens.

»Komm doch mal zu uns«, sagte Marit; und Thorbjörn und Sämund sahen fast verdutzt die Frau an; es war ihnen immer wieder etwas Neues, daß sie eine so sanfte Stimme hatte.

Das Paar fuhr weiter; langsam rollte der Wagen dahin; eine kleine Staubwolke umkreiste ihn, die Abendsonne [228] senkte ihre Strahlen gerade auf ihn herunter; vom dunklen Friesrock des Mannes hoben sich flimmernd und schimmernd die seidenen Tücher der Frau ab; – ein Hügel kam; der Wagen verschwand.

– – Lange schritten Vater und Sohn nebeneinander her, bis einer ein Wort sprach. »Ich glaube, ich irre mich nicht; es wird lange dauern, bis der wiederkommt«, meinte Thorbjörn, und Sämund antwortete: »Ist auch das beste, wenn einer sein Glück nicht im Lande gefunden hat.« – Und sie schritten wieder stumm weiter. »Du gehst ja am Weizen vorbei«, rief Thorbjörn. »Den besehen wir uns auf dem Rückweg«; – und sie schritten weiter. Thorbjörn mochte nicht mehr fragen wohin; denn die Granlidener Feldmark ließen sie hinter sich.

Neuntes Kapitel

Als Synnöve rot im Gesicht und atemlos eintrat, waren Guttorm und Karen Solbakken schon mit dem Essen fertig. »Aber liebes Kind, wo bist Du denn gewesen?« fragte die Mutter. – »Ich bin mit Ingrid etwas zurückgeblieben«, antwortete Synnöve, und knüpfte sich gemach ein paar Tücher ab; der Vater suchte im Schrank nach einem Buch. »Was habt Ihr denn solange zu reden gehabt?« – »Ach, nichts besonderes.« – »Dann wär' es besser gewesen, Du hättest auf dem Kirchgang keinen Umweg gemacht.« – Sie stand auf und stellte der Tochter zu essen hin. Nachdem Synnöve sich an den Tisch gesetzt hatte, fragte die Mutter, die ihren Platz ihr gegenüber wieder eingenommen hatte: »Hast Du vielleicht noch mit andern geredet?« – »Ja, noch mit manchem«, antwortete Synnöve. – »Das Kind muß doch mit Leuten reden«, sagte Guttorm. »Gewiß muß sie das,« versetzte die Mutter etwas sanfter; »aber sie hätte doch mit ihren Eltern gehen können.« – Darauf bekam sie keine Antwort.

»Das war ein herrlicher Kirchgang heut,« fing sie[229] wieder an, »die Jugend in der Kirche tut einem gut.« – »Man denkt an seine eignen Kinder«, setzte Guttorm hinzu. – »Da hast Du recht,« sagte die Mutter, und seufzte; »keiner weiß, wie es ihnen mal gehen wird.« Guttorm sprach lange kein Wort. »Wir haben Gott herzlich dafür zu danken,« sagte er endlich, »daß er uns eines gelassen hat.« Die Mutter wischte mit den Fingern über den Tisch und blickte nicht auf; »sie ist doch unsere größte Freude«, sprach sie leise; »sie ist auch nicht aus der Art geschlagen«, fügte sie noch leiser hinzu. Es entstand eine lange Pause. »Ja, sie hat uns immer große Freude gemacht,« sagte Guttorm, und etwas später mit weicher Stimme: »Gott schenke ihr Glück!« – Die Mutter wischte mit den Fingern über den Tisch; eine Träne fiel darauf, und sie wischte sie weg. – »Warum ißt Du denn nicht?« fragte Guttorm, als er nach einem Weilchen aufblickte. – »Danke, ich bin satt«, antwortete Synnöve. »Aber Du hast ja noch gar nichts gegessen,« sagte nun auch die Mutter, »und Du hast einen so weiten Weg gemacht.« – »Ich kann nicht«, entgegnete Synnöve und zupfte eifrig am Zipfel ihres Brusttuchs. – »Iß, mein Kind«, wiederholte der Vater. – »Ich kann nicht«, sagte Synnöve abermals und fing zu weinen an. – »Aber, liebes Kind, warum weinst Du denn?« – »Ich weiß nicht«, und sie schluchzte. »Sie weint so leicht«, sagte die Mutter, der Vater stand auf und ging an das Fenster. »Dort kommen zwei Männer auf den Hof zu«, sagte er. »Was? jetzt am späten Nachmittag?« fragte die Mutter und ging auch an das Fenster. Sie sahen lange hinaus. »Wer kann denn das bloß sein?« sprach sie, aber nicht gerade, als ob sie fragen wollte. »Ich weiß nicht«, versetzte Guttorm, und sie sahen und sahen. »Das verstehe ich nicht recht«, sagte sie. – »Ich auch nicht«, sagte er. – »Aber sie müssen es doch sein«, sagte sie endlich. »Allerdings«, bekräftigte Guttorm. Die Männer kamen näher und näher; der ältere blieb stehen und blickte zurück; der jüngere gleichfalls; dann schritten sie weiter.

[230] »Verstehst Du, was sie wollen?« fing Karen wieder an, in demselben Ton wie vorhin. »Nein, das versteh' ich nicht«, versetzte Guttorm. Die Mutter drehte sich um, ging zum Tisch, nahm das Geschirr ab und räumte etwas auf. »Du mußt Deine Tücher wieder umbinden,« sprach sie zu Synnöve; »es kommt Besuch.«

Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da öffnete Sämund die Tür und trat ein; Thorbjörn hinter ihm. »Gesegnete Mahlzeit«, sagte Sämund, blieb einen Augenblick an der Tür stehen und trat dann langsam ein, um jeden einzelnen zu begrüßen; Thorbjörn folgte. Sie kamen zuletzt zu Synnöve, die noch in einer Ecke mit dem Tuch in der Hand stand, nicht wußte, ob sie es umbinden sollte, ja, kaum wußte, ob sie es in der Hand hielt. »Nehmt Platz, wo Ihr wollt«, sagte die Frau. »Danke, der Weg hier herüber ist nicht weit gewesen«, antwortete Sämund, setzte sich aber doch; Thorbjörn neben ihn. »Ihr wart ja heut nach der Kir che mit einemmal fort«, sagte Karen. »Wir haben Euch gesucht«, antwortete Sämund. »Heut waren viele Menschen da«, sagte Guttorm. »Sehr viele Menschen,« wiederholte Sämund, »es war ein schöner Kirchtag.« – »Ja, wir haben eben davon gesprochen«, sagte Karen. – »Es ist einem bei solcher Konfirmation so wunderlich zumute, wenn man selber Kinder hat«, fügte Guttorm hinzu. Seine Frau rückte auf der Bank etwas ab. »Ja, freilich,« sagte Sämund, »da denkt man ernstlich über sie nach, – und deshalb habe ich mich hierher auf den Weg gemacht«, sprach er weiter, sah sich fest und sicher um, nahm den Kautabak aus dem Mund, schob ein anderes Stück hinein, und legte das alte behutsam in eine Messingdose. Guttorm, Karen und Thorbjörn sahen unruhig hierhin und dorthin. – »Ich dachte mir, ich müßte mit Thorbjörn mal hergehen,« begann Sämund langsam; »allein hätte er es wohl sobald nicht fertig gekriegt und hätte sich auch allein nicht gut Bescheid holen können«, dabei blinzelte er zu Synnöve hinüber, die das merkte. »Die Sache liegt nun so, daß er seinen Sinn auf sie gerichtet [231] hat, auf sie, die Synnöve, seit der Zeit, da er Verstand genug für so etwas hatte; und es liegt wohl ebenfalls einigermaßen so, daß sie auch ihren Sinn auf ihn gerichtet hat. Und da meine ich, ist es das beste, wenn die beiden für immer zusammenkommen. Damals, als ich sah, daß er sich selber nicht im Zaum halten konnte, geschweige denn andere, da war ich wenig dafür. Aber jetzt glaube ich, ich kann für ihn bürgen; und kann ich's nicht, so kann sie's; denn sie hat die größte Macht über ihn. – Was meint Ihr also dazu? Wollen wir sie zusammentun? Das hat ja weiter keine große Eile, aber ich weiß auch nicht, warum wir noch damit warten wollen. Du, Guttorm, bist ein Mann mit Vermögen; meins ist kleiner und geht mal später in mehrere Teile; aber ich denke, die Sache läßt sich doch machen. Jetzt sagt also Eure Meinung frei heraus; das Mädchen frage ich zuletzt, denn ich glaube, ich weiß, was sie will!«

Also sprach Sämund. Guttorm saß krumm auf der Bank, legte abwechselnd eine Hand über die andere und machte mehrmals Miene, sich aufzurichten, indem er jedesmal stärker Atem holte; aber erst nach dem vierten- und fünftenmal bekam er den Rücken gerade, strich mit der Hand über das Knie, und sah seine Frau an, streifte aber gleichzeitig Synnöve mit den Blicken. Karen saß am Tisch und wischte mit den Fingern darüber hin. »Nun ja – das ist ein schöner Antrag«, sagte sie. »Ja, ich meine, wir sollen ihn mit Dank annehmen«, sagte Guttorm laut, und seiner Stimme war eine beträchtliche Erleichterung anzuhören; dann sah er von seiner Frau fort und auf Sämund, der die Arme gekreuzt und den Rücken an die Wand gelehnt hatte. »Wir haben nur die eine Tochter,« sagte Karen, »wir müssen's uns erst überlegen.« – »Dem steht weiter nichts im Wege,« erwiderte Sämund, »aber ich weiß nicht, warum Ihr nicht gleich antworten könnt, brummte der Bär, als er den Bauern gefragt hatte, ob er nicht seine Kuh kriegen könne.« – »Gewiß können wir gleich antworten«, versetzte [232] Guttorm und sah seine Frau an. »Thorbjörn kann aber manchmal so wild sein«, sagte sie, blickte jedoch nicht auf. »Das hat sich gebessert,« erwiderte Guttorm; »Du weißt, was Du heut selber gesagt hast!« – – Das Ehepaar sah sich abwechselnd an; das dauerte eine volle Minute. »Könnten wir uns auf ihn verlassen«, sagte die Frau. »Ja,« ergriff nun Sämund wieder das Wort, »was das betrifft, kann ich nur sagen, was ich vorhin gesagt habe; mit der Fahrt geht's gut, wenn sie die Zügel hält. Sie hat eine Macht über ihn, wie man sich's kaum vorstellen kann. Das ist mir damals klar geworden, als er zu Hause bei mir krank lag und noch nicht wußte, was mit ihm würde, ob er wieder aufkomme oder nicht.« – »Du mußt nicht so hartnäckig sein,« sagte Guttorm, »Du weißt doch, was sie selber will, und wir leben doch nur für sie.« Da blickte Synnöve zum erstenmal auf und sah ihren Vater groß und dankbar an. »Ach ja,« begann Karen, nachdem es eine Weile still gewesen, und wischte mit den Fingern über den Tisch; »wenn ich solange dagegen war, dann habe ich's nicht schlecht gemeint. – Ich war wohl nicht so hart, wie sich's anhörte«; sie blickte auf und lachte; aber es wollten ihr Tränen kommen. Da stand Guttorm auf. »So ist denn in Gottes Namen das eingetroffen, was ich am meisten auf der Welt gewünscht habe«, sagte er und ging auf Synnöve zu. »Ich habe gar keine Angst deswegen gehabt,« sagte Sämund und stand ebenfalls auf; »was zusammen soll, das kommt zusammen.« Und er ging auf Synnöve zu. »Na, was meinst Du dazu, mein Kind?« sagte die Mutter, und ging nun auch auf Synnöve zu.

Die saß immer noch da; alle umstanden sie mit Ausnahme von Thorbjörn, der dort saß, wo er sich zuerst hingesetzt hatte. »Du mußt aufstehen, mein Kind«, flüsterte die Mutter ihr zu; sie stand auf und lächelte, wandte sich ab und weinte. – »Unser Herrgott sei Dein Geleit jetzt wie alle Zeit«, sagte die Mutter, umarmte sie und weinte mit ihr zusammen.[233] Die beiden Männer traten zurück; jeder ging zu seinem alten Platz.

»Du mußt zu ihm hingehen«, sagte die Mutter immer noch unter Tränen, ließ sie los und schob sie sanft vorwärts. Synnöve tat einen Schritt; aber blieb stehen, weil sie nicht weiter konnte; Thorbjörn sprang auf, ging auf sie zu, ergriff ihre Hand, wußte nicht, wie er sich benehmen sollte, und blieb Hand in Hand mit ihr stehen, bis sie ihre sacht zurückzog. Dann standen sie schweigend nebeneinander.

Lautlos öffnete sich die Tür, und ein Kopf erschien im Rahmen. »Ist Synnöve hier?« fragte jemand bedächtig. Es war Ingrid Granliden. »Jawohl, hier ist sie, komm nur herein«, antwortete ihr Vater. Ingrid zauderte. »Komm nur; hier steht alles ganz gut«, fügte er hinzu. Alle sahen sie an. Sie schien etwas verlegen; »ich bin aber nicht allein hier«, sagte sie. »Wer ist denn noch da?« fragte Guttorm. »Mutter!« erwiderte sie leise. »Immer herein mit ihr!« riefen alle vier in der Stube auf einmal. Und die Hausfrau ging ihr entgegen, während die anderen sich freudestrahlend ansahen. – »Komm nur, Mutter, Du kannst gern herein«, hörten sie Ingrid sagen. – Und herein kam Ingebjörg mit ihrer weißen Haube. »Ich hab's wohl gemerkt,« sagte sie, »wenn Sämund seinen Mund auch nicht auftun kann; und da hielten die Ingrid und ich es nicht länger aus – wir mußten her.« – »Und hier stehen die Dinge so, wie Du's wünschst«, sagte Sämund und machte Platz, damit sie besser herankönne. – »Gott segne Dich, mein Kind, dafür, daß Du ihn an Dich geknüpft hast,« sprach sie zu Synnöve, und umarmte und streichelte sie; »Du hast solange, solange fest zu ihm gehalten, und jetzt ist alles gekommen, wie Du es gewollt hast.« Und sie streichelte ihr die Backen und das Haar, und über ihr eigenes Gesicht rannen Tränen, aber sie beachtete sie nicht; sie trocknete nur Synnöve die Tränen ab. »Ja, er ist ein lieber, ein tüchtiger Junge,« sagte sie, »und jetzt bin ich auch seinetwegen ganz [234] sicher«; und sie zog die neue Tochter inniger in ihre Arme. »Mutter weiß mehr in ihrer Küche,« sagte Sämund, »als wir, die in der Sache drinstehen.«

Die Tränen und die Rührung ließen allmählich nach; die Hausfrau begann an das Abendessen zu denken, und forderte Ingridchen auf, ihr zu helfen, »denn Synnöve ist heute abend zu nichts zu gebrauchen.« Und so gingen die beiden an die Arbeit und kochten Rahmgrütze. Die Männer gerieten in ein Gespräch über die Ernte und dergleichen. Thorbjörn hatte sich an das Fenster gesetzt; Synnöve schlich zu ihm hin und legte die Hand auf seine Schulter. »Wonach siehst Du?« fragte sie.

Da wendete er ihr seinen Kopf zu, sah sie lange und mit sanfter Zärtlichkeit an, dann blickte er wieder hinaus: »Ich sehe nach Granliden hinüber,« sagte er, »es ist so wunderlich, Granliden von hier aus zu sehen.«

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TextGrid Repository (2012). Bjørnson, Bjørnstjerne. Erzählung. Synnöve Solbakken. Synnöve Solbakken. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3603-C