261. Die Wunder der Marienburg

Als die Kreuzherren in dem Heiligen Lande waren und in Jerusalem wohnten, da war alldort ihre Burg dasselbe Haus, darin der Heiland mit seinen Jüngern zuletzt geweilt und das Nachtmahl eingesetzt hatte. Da nun die Ritter nach Deutschland heimkehrten, nahmen sie von diesem Hause einen behauenen Stein mit sich über Meer und weiheten ihn zum Grundstein des Ordenshaupthauses Marienburg. Darum segnete der Herr diesen Bau, daß er so groß und fest und herrlich wurde und in all seiner alten Pracht und Schönheit noch steht bis auf den heutigen Tag, während tausend und abertausend Schlösser in Trümmer sanken.

Zahlreiche Wunder haben sich im Schlosse Marienburg begeben, wie die Sage geht. So steht noch weit in die Ferne sichtbar und leuchtend außerhalb der Schloßkirche das riesighohe Marienbild, welches der Hochmeister Konrad von Jungingen setzen ließ. Ein frommer Meister fertigte dieses zwölf Ellen hohe Bild und setzte daran den Preis seines ganzen Lebens. Als das Bild nun vollendet war und an seine Stelle gebracht werden sollte, da tat es dem Meister weh, sich von dem lieben Bilde zu trennen, und zündete vor ihm geweihete Kerzen an und betete vor ihm und weinte bitterlich. Da war ihm, als sehe die Mutter aller Gnaden ihn strahlend an, und als hebe das Bild gegen ihn winkend die Hand, und ging vor dem Bilde ein zum ewigen Frieden.

Nach der Schlacht bei Tannenberg, welche die Kraft des Ordens brach, war Marienburg der Ritter letzte Stütze und Schirmhut, wurde aber von den Polen hart belagert und umdrängt. Da ärgerte einen Polenfürsten das herrliche im Glanze seiner Goldmosaik strahlende Marienbild, das gleichsam wie das Symbol des ewigen Sieges des Christentums gegen das Heidentum hoch erhoben über dem wilden Toben und Drängen stand, und er wollte es vernichten oder doch verhöhnen und schänden. Schieße nach der Maria! Schieße ihr die Augen aus! gebot der Polenfürst einem seiner Söhne, und der Sohn spannt die Armbrust, legt den schweren Bolzen auf und zielt nach des Bildes Augen. Aber plötzlich senkt er die Armbrust und ruft: Vater! Wo ist denn das Bild? Ich sehe es ja nicht mehr! Mir wird so schwarz vor den[191] Augen! Der junge Polenprinz war plötzlich erblindet. Darüber ergrimmt der Fürst, er nimmt selbst die Armbrust, zielt gut und trifft – beinahe – denn vor dem Bilde wendet sich rückprallend der Pfeil und fährt dem Fürsten pfeilgeschwind mitten durch das Herz.

Einst waren auf Marienburg zwei Liebende. Da aber das Haus des Ordens ein Haus der Entsagung von irdischer Lust sein sollte, so duldete es nicht der gleichen Gefühle, und die Liebenden wurden in Steine verwandelt, wie Mönch und Nonne in der Wartburg Nähe in riesige Felsen. Lange hat man auf Marienburg diese Steine gezeigt und wahrgenommen, daß sie aus Schmerz noch salzige Tränen weinten.

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TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 261. Die Wunder der Marienburg. 261. Die Wunder der Marienburg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2E46-6