74. Räderberg

Auf dem Räderberge ohnweit Nassau soll vorzeiten ein Kloster gestanden haben, davon man noch einige Trümmer sieht, aber niemand wisse, wes Ordens. Einst ging ein Metzger aus Nassau gegen Abend aus, Vieh einzukaufen, und wandelte auf der Landstraße dahin, da fuhr vor ihm her eine Kutsche, und er folgte ihr immer nach und hatte des Weges weiter nicht acht. Auf einmal da hält die Kutsche vor einem großen schönen Landhaus, das dicht an der Straße steht, das aber der Metzger sich nicht entsinnen kann je gesehen zu haben, sooft er auch des Weges schon gekommen. Das Haus war hell erleuchtet, und aus der Kutsche sah der Metzger drei Mönche steigen, welche in das Haus hineingingen, und da er vermeinte, es sei das Haus ein Gasthaus, so folgte er ihnen ebenfalls nach, um des Hauses Gelegenheit zu erkunden und vielleicht da Herberge zu suchen. Er sah die Mönche in ein Zimmer gehen, wo ein Sterbender zu liegen schien, der ihrer harrte, um die Sterbesakramente zu empfangen, und dann trat er in einen großen Speisesaal, wo, so schien es ihm, viele Gäste beisammensaßen, aßen und ziemlich lärmend zechten. Als der Metzger eintrat, verstummten alle – aber der obenan Sitzende erhob sich und brachte dem Metzger einen Becher dar mit den Worten: Noch einen Tag! – Dem Metzger überlief es kalt bei der Stimme, die er hörte, und aller Durst verging ihm – da erhob sich ein Zweiter, trat an ihn heran, gleich wie jener, bot ihm einen Becher zum Trinken und sagte auch: Noch ein Tag! – aber der Metzger dankte. Da erhob ein Dritter sich, kam und sagte: Und noch ein Tag! Jetzt trank der Metzger und tat Bescheid, um nicht unhöflich zu erscheinen – als ein Vierter auf ihn zukam und ihm in gleicher Weise anbieten zu wollen schien. Da wurde es dem Metzger ganz unheimlich, und schlug ein Kreuz vor sich hin – und plötzlich war alles hinweg, er stand in tiefer Nacht ganz mutterseelenallein und wußte nicht, wo er war, um ihn war Waldgestrüpp und Ruinengemäuer. Zitternd und bebend erharrte der Metzger an der wüsten Stätte den Morgen, und als dieser anbrach, nahm jener wahr, daß er auf dem Räderberg sei, von der Landstraße weit, weit abgekommen, mitten in den Trümmern des verfallenen Klosters. Auf unbegangenem steinigen Wege fand der Metzger sich zurück, unterließ seinen Geschäftsgang, ging vielmehr zum Pfarrer und entdeckte ihm, was ihm geschehen war. Genau nach drei Tagen war der Metzger tot.

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TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 74. Räderberg. 74. Räderberg. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-2BE1-F