538. Der Fluch der Witwe

Zwischen Saalfeld und Gräfenthal liegt Reichmannsdorf, allwo in frühern Zeiten des Bergsegens und Bergbaues kein Ende war, darum heißt noch immer ein Berg in der Nähe der Goldberg und ein anderer der Venusberg, darinnen eine Grube liegt, die den Namen führt Zufällig Glück, und mag wohl der, der in den Venusberg baute, zufällig Glück gehabt haben. Der Ort hatte früher auch einen andern Namen, da aber der ergiebige Bau alle Einwohner zu reichen Mannen machte, so bekam er den Namen Reichmannsdorf. Schon im Jahre 1335 stritten und verglichen sich die Grafen von Orlamünde und die von Schwarzburg über den Ertrag der Gold- und Silberbergwerke, die im Umfang von fast zwei Meilen um den Ort abgeteuft wurden, und deren Anzahl zweihundertundzwanzig überstieg. Die Einwohner wurden, wie die Sage erzählt, so übermütig, weil sie so viel gewachsenes Gold und Silber gewannen, daß sie mit goldnen Kegeln spielten und mit goldnen Kugeln danach schoben. Der Ort genoß die Rechte einer Bergstadt und ward im Scherz die Vorstadt von Saalfeld genannt.

Zu einer Zeit geschah es, daß in einem der Reichmannsdorfer Schachte eine so große Stufe gediegenen Goldes gefunden wurde, daß sie viertausend Gulden geschätzt wurde. Das Mineral hatte im Bruch die Form eines Sessels bekommen, und da gerade zu jener Zeit ein Sachsenherzog kam, das reiche Gewerk zu beschauen, so legte man die Stufe auf ein mit Stricken befestigtes Brett, und darauf fuhr nun, von einem Knappen begleitet, der Herzog in den Schacht. Er kehrte befriedigt zurück und lohnte seinem jungen Geleitsmann mit einer Handvoll Dukaten. Der junge Gesell ließ bald darauf das Geld sehen und tat sich gütlich beim Kirmsentanz, und da kam er in den Verdacht, daß er Erze gestohlen habe, ward auch sofort auf heimliche Anklage eingezogen und mußte auf der Folter den Diebstahl eingestehen, den er doch nicht begangen hatte. Nach der Art jener Zeit, Diebe nicht jahrelang in Gewahrsam und liebevoller Verpflegung zu halten, vielmehr kurzen Prozeß mit ihnen zu machen, wurde der unschuldige Knappe auf den Richtplatz geführt, um dort an den Galgen gehenkt zu werden. Vergebens flehte seine arme alte Mutter für sein Leben, vergebens beschwur sie und er selbst seine Unschuld, und daß [370] jenes Gold ein Geschenk des gütigen Herzogs gewesen. Der Arme mußte henken. Da erfaßte Verzweiflung die alte Mutter, sie taumelte vom Richtplatz, sie wankte auf die reichste Grube zu, in welche der Sohn mit dem Herzog gefahren war, sie umwandelte diese dreimal und sprach in der Hölle Namen schreckliche Zauberflüche aus. Dann ergriff sie ein Gefäß voll Mohnsamen, das sie mit sich führte, und schrie: Verflucht sei dieses Bergwerk um meines unschuldigen Sohnes willen! So viele Körnlein Mohnes hier niederrieseln in die Tiefe, so viele Jahre lang finde man kein Körnlein Goldes wieder! Und als sie so gerufen hatte, stürzte sie sich, den Zauber zu vollenden und den unterirdischen Geistern für die Erfüllung ihres Fluches ein lebendes Opfer darzubringen, in den tiefen Schacht. Wie sie unten zerschellte, durchdröhnte ein unterirdischer Wetterschlag das ganze Gebirge, der Hauptschacht stürzte zusammen, wilde Wasser ersäuften ihn, und der bei weitem größte Teil des Reichmannsdorfer Bergsegens hatte ein Ende, und mit ihm verschwand auch die Prachtliebe und der Glanz der Ortsbewohner. – Auf ähnliche Weise ist auch zu Schleiz im Vogtlande ein reicher Schacht von einer alten Hexe verflucht worden.

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TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 538. Der Fluch der Witwe. 538. Der Fluch der Witwe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-28C4-B