Der undankbare Sohn

Eine alte Mutter hatte einen Sohn, der wollte heiraten, und bat die Mutter, sie möge ihm doch ihr Häuschen und ihr Gütchen geben, er und ihre zukünftige Schnur wollten es auch gar gut mit ihr meinen, sie bei sich hegen und pflegen, und sie so zu sagen auf den Händen tragen. Die alte Mutter war vom Herzen gut und vom Hirn etwas einfältig; sie kannte das Sprüchwort nicht: Ziehe dich nicht eher aus, bis du dich schlafen legst, und gab her, was sie hatte. Zum Danke wurde sie sehr übel gehalten, war über nichts mehr Herrin und jeder Bissen Brot wurde ihr erst schmal genug vorgeschnitten, dann vorgerechnet und jeder Tropfen Trankes ihr vergällt; aber Sohn und Schnur ließen sich's ganz gütlich und wohl sein.

Einst speisten letztere beiden miteinander und mit Knecht und Magd ein gebratenes Truthuhn, ohne die Mutter dazu einzuladen; zufällig kam diese aber dennoch, mußte jedoch anklopfen, denn die Türe war zugeschlossen. »Holla! die Alte kommt, fort mit dem Huhn! Setze es derweil in die Ofenröhre und mache deren Türe zu!« gebot der Sohn dem Knechte, und dieser vollzog alsbald den erhaltenen Befehl. Jetzt wurde die Stubentüre aufgerissen von dem Sohne und die arme Alte angefahren: »Nun, was soll es denn? Hat der alte Drache etwa schon wieder Hunger? Ei so wollt ich doch! Da, nehmt, hier ist Brot, und nun trollt Euch von hinnen!«

Weinend wankte mit dem trockenen Stückchen Brot die alte Mutter aus der Stube; der böse Sohn warf hinter ihr die Türe in das Schloß, daß es krachte, und eiferte: »Keinen Bissen kann man doch in Ruhe und ohne Ärger genießen! Ich möchte nur wissen, ob die Alte ewig leben will?« – »Bringe das Huhn wieder her!« gebot die Sohnesfrau dem [522] Knechte – dieser öffnete die Ofentüre und sprang mit einem lauten Schrei des Schreckens drei Schritte vom Ofen zurück, und verfärbte sich.

»Nun, was hat denn der tölpelhafte Narr? Er ist wohl verrückt?« rief der Mann, und gebot der Magd, das Huhn aus der Röhre zu holen. Diese ging und griff in die Röhre, und kreischte alsbald vor Entsetzen auf, indem auch sie zurücksprang. »Was soll das heißen, ihr dummes Volk?« schalt der Herr. »Und wenn der lebendige Teufel drinnen säße, so würde ich nicht solchen Lärm aufschlagen!« – »Geh du hin, Frau.«»Ich?« fragte die Frau: »nicht um die Welt, ich tu's nicht – ich danke; ich bin satt.« »Ei so muß ich selbst nachsehen, und will es, und wenn der Donner drinnen säße!« rief der Mann, stieg auf, und ging an die Röhre. Hu! da schoß eine armsdicke und klafterlange Schlange heraus, und schnellte gegen ihn, und ringelte sich um seinen Hals, eiskalt, und als er sie abzuwenden strebte, riß sie ihren Rachen greulich auf und zeigte ihre Giftzähne und ihre Gabelzunge, und weder er noch sonst jemand anders durfte sie berühren, und wenn man Miene machte, sie von weitem zu beschädigen, so zog sie sich gleich fester um den Hals, daß der Mann zu ersticken Gefahr lief, und ängstlich schrie, man solle die Schlange unberührt und ungeschädigt lassen.

Und die Schlange wich nicht von ihm; sie um seinen Hals legte er sich schlafen, sie um seinen Hals stieg er wieder auf. Ehe er einen Becher Getränk zum Munde führte, trank erst die Schlange aus demselben Becher, jeden Bissen, den er aß beleckte sie, oder biß Stücken davon ab, ach und dabei roch sie, so wie sie nur den Rachen aufriß, fürchterlich aus dem Halse, daß dem Mann eine Ohnmacht um die andere anstieß, und niemand es in seiner Nähe aushalten konnte. Wer zuerst von ihm weglief, das war seine Frau, die doch die meiste Schuld daran trug, daß er die Schlange des Undanks gegen seine betagte Mutter in seinem Herzen getragen, die schlimmer und scheußlicher ist, als jener Wurm, den er jetzt am Halse tragen mußte, zur quälenden Strafe. Knecht und Magd liefen auch davon; Hund und Katze wanderten aus; der Vogel im Käfig krepierte; Motten und Mücken starben, die Spinnen machten sich hinweg, die Mäuse entflohen so schnell sie nur konnten; die Wanzen zogen in langen Zügen langsam an den Türpfosten nieder und schlüpften zwischen Türe und Angel hinaus – nicht das armseligste Läuschen [523] bewies dem Undankbaren, von Gottes Strafgericht hart Heimgesuchten noch freudige Anhänglichkeit und Treue – alles, was lebte, floh ihn. Nur ein Wesen, welches lebte, floh ihn nicht, hielt treu bei ihm aus, und das war seine arme alte Mutter – sie pflegte sein, sie betete zu Gott um Erlösung für ihren undankbaren Sohn, und da diese nicht erfolgte, so griff sie endlich furchtlos mit ihrer zitternden Hand und doch kräftig die drohende, zischende, Zähne zeigende, Gift hauchende Schlange an, und in dem Augenblicke, wie die alte Mutter das tat, fiel die Schlange ab vom Halse des Sohnes, und – verschwand.

Der Sohn aber stürzte nieder zu den Füßen seiner Mutter und küßte ihr die Füße und ihres Kleides Saum, und weinte heiße Reuetränen auf die treuen Mutterhände, und begann fortan ein neues Leben voll Demut gegen sie, voll Sorgfalt, voll Liebe, voll Gehorsam, voll Zuvorkommenheit, und sie lebte noch lange glücklich mit dem durch ihre starke Mutterliebe ihr und sich selbst geretteten Sohne bis in das höchste Greisenalter.

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TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Märchen. Neues deutsches Märchenbuch. Der undankbare Sohn. Der undankbare Sohn. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-27F6-1