788. Die Garnkocherin

Zu Hessenthal, das so recht mitten im Schoß des Spessart liegt, steht in einer großen offnen kapellenartigen Halle das Bildwerk einer Kreuzigung mit reicher Gruppierung auf einem dreißig Fuß langen und neun Fuß hohen Piedestal. In der Mitte desselben, unter dem mittleren Kreuze, ist an der Vorderseite eine eingehauene zweikantige Vertiefung in den Stein. Hält man nun hier den Kopf hinein, so vernimmt man ein Brausen, ähnlich dem Strudeln kochenden Wassers. Hierüber geht diese Sage. Es standen früher an diesem Platze zwei Hütten. Die Bewohnerin einer derselben kochte am Pfingstmontage, wo man das Marienbild in Prozession zum Berge trug, Garn, um es zu bleichen. Ihre Nachbarsfrau, die es sah, sagte zu ihr: Was! Du kochst heute am Pfingstmontag Garn? – Allein jene gab ihr zur Antwort: Pfingstmontag hin, Pfingstmontag her, mein Garn muß gekocht sein. – Und alsbald sank sie unter furchtbarem Getöse samt ihrer Hütte unter die Erde. Seitdem vernimmt man nun hier das brodelnde und strudelnde Getöse, das an Pfingstmontagen immer stärker ist als an andern Tagen, und hört aus der Tiefe ein jammerndes Ächzen. Aber die Höhlung hat die wunderbare Eigenschaft, Schwerhörige, die hineinhorchen, von ihrer Taubheit zu heilen.

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TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Sagen. Deutsches Sagenbuch. 788. Die Garnkocherin. 788. Die Garnkocherin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-270D-F