Schneider Hänschen und die wissenden Tiere

Ein Schuhmacher und ein Schneider sind einmal miteinander auf die Wanderschaft gegangen. Der Schuster hatte Geld, der Schneider aber war ein armer Schwartenhans. Beide hatten ein und dasselbe Mädchen lieb, welches Lieschen hieß, und jeder gedachte, es zu heiraten, wenn er sich ein gutes Stück Geld verdient habe, und Meister geworden sei. Der Schuster, Peter genannt, war aller Tücke voll und hatte ein schwarzes Herz, das Schneiderlein war gutmütig und leichtfertig, und sein Name war Hänschen. Erst hatte Hänschen nicht mit dem Peter zusammen wandern wollen, weil es kein Geld hatte, aber Peter, der auf eitel Bosheit gegen das Schneiderlein sann, weil jenes Lieschen das Hänschen gern sah und nicht den Peter, sann auf des Schneiderleins Verderben und sprach: »Komm nur mit mir, ich habe Batzen, ich halte dich frei, auch wenn wir keine Arbeit bekommen. Alle Tage wollen wir uns dreimal tüchtig satt essen und satt trinken. Ist dir das nicht recht?«

»Von satt essen und satt trinken bin ich ja ein Freund!« antwortete Hänschen, und beide schnürten ihre Ränzel und traten ihre Wanderschaft an. Neun Tage lang gingen sie und fanden nirgend Arbeit, zumal Peter keine finden mochte, und wenn auch Hänschen Arbeit hätte haben können, diesen immer verlockte, sie nicht anzunehmen, sondern mit ihm zu wandern. Nun, nach den neun Tagen sprach Peter: »Hänschen, mein Geld nimmt ab, soll es noch eine Weile reichen, so dürfen wir von jetzt an des Tages nur zweimal essen und trinken.«

»O weh!« seufzte Hänschen: »wird schon jetzt Schmalhans unser Wandergeselle? Wär ich doch nicht mit dir gegangen! Hungern konnt ich auch daheim! Dort hatt ich doch was Liebes, was mir den Hunger versüßt hätte!«

Peter, der während des Weitermarsches stets die Speisen kaufte, aß sich heimlich dicksatt, denn er hatte Geld genug [493] dazu, aber Hänschen gab er täglich nur zweimal, und hatte seine Freude daran, wenn seinem Gefährten der Magen murrte und knurrte, und sich nach dem Sprüchwort, die Betteljungen in Hänschens Leibe prügelten.

So gingen abermals neun Tage hin, und noch immer fand sich keine Arbeit, da sprach Peter: »Liebes Hänschen, mit meinem Gelde wird es bald Matthäi am letzten sein – es langt wahrlich nimmer zu, zu vier Mahlzeiten täglich, zwei für dich, zwei für mich. Mein Geldbeutel hat die galoppierende Schwindsucht. Schau her, er ist so dünn wie ein Spulwurm. Wir können von jetzt an uns nur einmal täglich sättigen.«

»Ach, ach, Peterlein!« klagte Hänschen. »In welches Unglück hast du mich gebracht! Das halt ich ja nicht aus! Sieh mich doch nur an, ich bin ja schon so dünne und durchsichtig, daß ich schier kaum noch einen Schatten werfe. Wo soll denn das zuletzt hinaus?«

»Schnalle einen Schmachtriemen um!« lachte Peter. »Übe dich in der Tugend der Enthaltsamkeit. Tritt in einen Mäßigkeitsverein!«

»Hat sich was einzutreten« – jammerte das Schneiderlein: »Ich meint wir wären schon mitten in der Mäßigkeit!«

Was half aber nun alles, es mußte gut tun, wohl oder übel; Hänschen hungerte tapfer, daß er aber nicht zunahm an Leibesfülle, kann sich jeder denken. Er wurde rasseldürr, und sein Angesicht bekam eine Farbe, wie Hauszwirn. Und immer gab es keine Arbeit, und nun zumal erst recht nicht, denn die Meister sprachen: »Reise mit Gott, Bruder Mondschein! Wie kann so ein Kerlchen etwas Dauerbares nähen, dem sein ganzes eigenes Gestelle aus der Naht reißt? Schneider dürfen von Natur dünn sein, aber nur was recht ist – so dünn, daß man sie statt Nähgarns einfädeln kann, dürfen sie doch nicht sein!«

Hänslein weinte heiße Tränen, wenn er solche lose Reden zu hören bekam, und der schlechte Peter frohlockte heimlich und innerlich darüber, und als wiederum neun Tage vergangen waren, und Hänschen vor Hunger fast am Wege liegen blieb, da sprach der falsche Peter: »Bruderherz – es tut mir leid, und schneidet mir in die Seele, daß ich's sagen muß, aber mein Geldbeutel ist jetzt ganz auf den Hund – mit Essen und Trinken bei Bäcker und Wirt ist es nun ganz und gar vorbei.«

»Daß's Gott erbarm!« schrie Hänschen. »Gar nicht mehr [494] essen und trinken? Da steht mir der Verstand stille! Wer kann das aushalten? O wehe, wehe mir! Daß ich dir folgte! Wehe dir, daß du mich so verlockt hast!«

»Mein Himmel, wie du gleich außer dir geraten kannst, Hänschen!« rief Peter. »Als ob es nicht zu trinken vollauf gäbe!«

»Wo? Wo?« rief Hänschen mit lechzender Lunge.

»Überall! Wasser, Bruderherz! Wasser!« lachte Peter. »Wasser ist sehr gesund, es verdünnt Blut und Säfte, es heilt die meisten Krankheiten, es stärkt die Glieder. Siehst du, ich muß ja auch Wasser trinken.«

»Aber Wasser ist kein Essen!« klagte Hänschen. »Von Luft kann ich nicht leben, also schaffe mir zu essen, oder ich muß ins Gras beißen und Erde kauen.Etwas muß ich zu kauen haben.«

»Nun, ich will zum Bäcker gehen, und für das letzte Geld ein Brötchen kaufen, das will ich redlich mit dir teilen!« sagte der falsche Peter, hieß Hänschen auf einen Stein sitzen und ging zu einem Bäcker, kaufte dort vier Brötchen, aß drei davon gleich auf, und trank einen Schnaps dazu – dann kam er wieder zu Hänschen.

»Aber Peter!« sprach das hungrige Schneiderlein: »Du bleibst sehr lange aus. Gib mir zu essen, die Ohnmacht wandelt mich an.«

»Ich habe erst warten müssen, bis das Brot sich abgekühlt hatte«, verteidigte sich Peter: »warmes Brot ist nicht gut in einen leeren Magen. Hier hast du deine Hälfte.« – »Peter, du riechst nach Schnaps!« – sprach Hänschen. »So?« fragte Peter: »kann schon sein, drinnen trank einer, der stieß an mich und schüttete mir aus Ungeschick ein paar Tropfen auf mein Gewand.«

Hänschen verschlang sein halbes Brötchen mit Wolfshunger, stillte mit Wasser seinen Durst und wanderte weiter mit seinem treulosen Gefährten. Beide sprachen fast nichts mehr miteinander.

Als es bald Abend wurde und beide wieder durch ein Dorf kamen, ging Peter wieder zu einem Bäcker, aß sich satt und kam mit einem Brötchen aus dem Laden. Hans dachte, jener werde das Brötchen mit ihm teilen, aber Peter schob es in die Tasche.

Nach einer Weile sprach Hänschen, als sie das Dorf im Rücken hatten, und in einen Wald gelangt waren: »Nun, [495] Peter! Rücke heraus mit deinem Brötchen! Mich hungert äußerst.«

»Mich nicht«, antwortete Peter ganz kurz.

»Nicht?« schrie Hänschen erschrocken, und blieb stehen, und seine Beine zitterten. »Unmensch, der du bist!«

»Vielfraß, der du bist!« höhnte Peter. »Bei dir trifft doch recht zu, was ich immer habe sagen hören: je dürrer ein Kerl ist, eine um so bessere Klinge schlägt er. Das Brötchen, das ich noch bei mir trage, ist, wie du sehr richtig bemerktest, mein Brötchen, und du bekommst nicht eine Krume davon, weil du gesagt hastUnmensch.«

»So muß ich ja Hungers sterben!« schrie Hänschen in Verzweiflung.

»Stirb in Gottes Namen!« antwortete Peter. »Die Leichenträger werden sich an dir keinen Schaden heben.«

»Aber ich bitte dich um Gottes willen!« jammerte Hänschen.

»Um was?« fragte Peter lauernd.

»Um die Hälfte deines Brötchens!« stammelte Hänschen.

»Umsonst ist der Tod – es hat mich mein allerletztes Geld gekostet. Wie vieles Geld könnte ich noch haben, hätte ich mich nicht mit dir geschleppt und dich gefüttert!« sprach Peter aufs neue.

»Aber du selbst hast mich ja beredet, mit dir zu gehen!« warf Hänschen ein, doch machten Ärger und Hunger ihm schon schwer, die Worte hervor zu würgen. Seine Zunge klebte am Gaumen.

»Gibst du mir, so geb ich dir« – nahm Peter wieder das Wort. »Mir ist mein Brötchen so lieb wie meine Augäpfel, folglich ist es zwei Augäpfel wert. Gib mir einen deiner Augäpfel für die Hälfte.«

»Gott im Himmel! Wie strafst du mich, daß ichdiesem folgte!« wimmerte Hänschen, denn schreien konnte das arme Schneiderlein schon vor Schwäche nicht mehr – doch streckte es die Hand nach dem halben Brötchen aus, und sättigte sich, und dann stach ihm Peter den einen Augapfel aus.

Am andern Tage wiederholte sich alles Traurige des vorigen Tages bei den zwei Wandergesellen. Peter kaufte wieder ein Brötchen und gab Hänschen nichts davon, und wollte das andere Auge Hänschens für dessen Hälfte haben.

»Aber dann bin ich ja stockblind!« jammerte das Schneiderlein. [496] »Dann kann ich ja nicht mehr arbeiten! Ohne ein Auge mindestens kann ich doch nicht einfädeln!«

»Wer blind ist«, tröstete der hart- und schwarzherzige Peter mit heimlichem Hohne: »der hat es gut. Er sieht nicht mehr, wie böse, falsch und treulos die Welt ist; er braucht nicht mehr zu arbeiten, denn er hat eine triftige Entschuldigung, und einem armen Blinden gibt auch der Geizigste zur Not noch eine Gabe. Du kannst noch reich werden als blinder Bettler, während ich mich armselig durch die Welt schleppen muß. Sollte dies eintreten, so werde ich zu dir kommen, und du wirst mich noch als deinen besten Wohltäter segnen und deinen Reichtum mit mir teilen, wie ich bisher meine Armut mit dir geteilt habe.«

Hänschen vermochte auf diese teuflische Rede gar nichts mehr zu erwidern – er ließ alles mit sich geschehen, und gab, um nur nicht Hungers zu sterben, dem treulosen Gefährten auch den zweiten Augapfel preis. Und als das geschehen war, und Hänschen hoffte, daß der Peter ihn nun leiten und führen werde, sprach dieser: »Nun gehabe dich recht wohl, mein gutes dummes Hänschen! Hier habe ich dich haben wollen. Hier ist Bettelmanns Umkehr. Jetzt wandre ich wieder heim, und heirate unser Lieschen. Ätsch! Siehe du zu, wohin du kommst!« –

Fort ging Peter und Hänschen schwanden vor Körper- und Seelenschmerz eine Zeitlang völlig die Sinne, so daß er umsank und wie tot am Wege lag.

Da kamen drei Wanderer des Weges daher, aber keine zweibeinigen, sondern zufällig vierbeinige, das waren ein Bär, ein Wolf und ein Fuchs. Sie berochen den Ohnmächtigen und der Bär brummte: »Dieses Manntier ist tot! Mögt ihr ihn? Ich mag ihn nicht!«

»Ich habe vor einer Stunde erst ein frisches Schaf verspeist, habe justement jetzt keinen Hunger, auch ist ja der Kerl so dürr und so hart wie ein Baumast!« sprach der Wolf. »Da wäre mir leid um meine Zähne, die ich weiter brauche.«

»Dieser Held muß ein Schneider gewesen sein!« spöttelte der Fuchs. »Mir ist eine fette Gans lieber wie ein dürrer Schneider. Wäre er ein Kürschner gewesen, so würde ich ihm die Nase abbeißen – so aber liegt er mir gut. Er ist ja blind gewesen, der hat gewiß nie einen Fuchs geschossen.«

Das arme Schneiderlein kam wieder zu sich, merkte seine [497] Gesellschaft und hielt den Odem an sich, so gut es ging, während die drei Tiere sich gar nicht weit von ihm behaglich ins Grüne lagerten.

»Blind zu sein, ist ein großes Unglück«, sprach der Fuchs: »sowohl für uns edle Tiere, als für die schlechten zweibeinigen Gabeltiere, die sich Menschen nennen, und sich so klug dünken, und so fürchterlich dumm sind, daß sie gar nichts wissen. Wüßten sie, was ich weiß, so gäb es keine Blinden mehr.«

»Oho!« rief der Wolf. »Ich weiß auch, was ich weiß. Wüßten das die Manntiere in der nahen Königsstadt, so litten sie nicht den gebrannten Durst, den sie leiden, und kauften nicht ein Schnapsgläschen voll Wasser um eine Krone.« –

»Hm hm!« brummte der Bär. »Unser einer ist auch nicht auf den Kopf gefallen. Auch mir ist ein Geheimnis kund. Sagt ihr mir das eure, sage ich euch das meine, aber bei Leib und Leben darf keiner von uns den andern verraten.«

»Nein das dürfen und wollen wir nicht tun!« gelobte der Fuchs.

»Es muß einer dem andern feierlich die rechte Pfote darauf geben!« bekräftigte der Wolf.

»Topp, es gilt!« sprach Petz, und hielt seine haarige Tatze hin, und wie die andern einschlugen, so drückte und schüttelte der Bär zum Spaß ihre Pfoten so, daß sie vor Schmerz laut auf heulten, davon dem blinden Schneiderlein angst und bange wurde.

»Ich weiß«, begann der Fuchs, als der Bär ihn ob seines Zartgefühles ausgelacht, und wieder begütigt hatte: »daß heute eine besonders heilige Nacht ist; in dieser fällt Himmelstau auf Gras und Kraut. Wer blind ist, darf nur mit dem Tau seine Augen salben, so wird er wieder sehend, und selbst wenn er keine Augäpfel mehr hat, so bekommt er neue.«

»Das ist ein schönes Geheimnis«, sprach der Wolf: »meins ist aber auch nicht zu verachten. In der Königsstadt ist das Wasser ausgeblieben, und die Leute dort leben jetzt fast nur vom Geist, wenigstens sagen sie so, wenn es aber noch ein Weilchen so fort geht, so werden sie ihren Geist ganz aufgeben müssen. Gleichwohl haben sie Wassers die Fülle unter sich, und wissen's nur nicht. Auf dem Markte mitten im Pflaster liegt ein Grauwackenstein, wenn der aufgehoben [498] wird, so wird ein Wasserpütz turmhoch aus dem Boden springen. Ach wie froh würden die Residenzstädter sein, und wie heilsam wär es ihnen, wenn sie wieder Wasser hätten. Daß aber keiner von euch es ihnen sagt, sonst beiße ich jedem die Zunge im Maule ab!«

»Nichts wird gesagt, Bruder Isegrimm!« sprach Herr Braun und brummelte: »Was ich weiß, ist dieses: Seit sieben Jahren kränkelt des Königs einzige Tochter und kein Doktor kann ihr helfen, weil keiner weiß was ihr fehlt, wie wunderklug sich auch alle dünken. Gar manchen Rat gaben schon insgeheim des Königs Geheimeräte, aber es ist nichts Rätliches davon an Tag gekommen. Die Krankheit der Königstochter ist so gestiegen, daß der König verheißen hat, sie dem zur Gemahlin zu geben, der ihr hilft, um sie nur beim Leben erhalten zu sehen; es kann aber keiner helfen, der das nicht weiß, was ich weiß.«

»Du machst uns neugierig, hochgnädiger Herr König Braun!« sprach der Wolf, und Petz brummte: »nur Geduld, es kommt schon noch. Werdet doch ein wenig warten gelernt haben?« – Darauf schnaubte der Bär erst einmal gehörig aus, und fuhr dann fort: »Die Prinzessin Königstochter sollte in der Kirche ein Goldstück in den Opferstock werfen, sie war aber noch sehr jung und befangen und ängstlich, und schämte sich vor den vielen Leuten in der Kirche, und warf das Goldstück etwas ungeschickt, daß es daneben und in eine Spalte fiel. Darauf wurde sie von ihrer Krankheit befallen, die nicht früher enden wird, bis man das Goldstück hervorzieht und in die Ritze des Opferstockes einwirft. Solche Kur ist kinderleicht, es dürfte nur einer hingehen, und das Goldstück suchen.«

Als die Tiere sich einander so ihre Geheimnisse mitgeteilt hatten, erhoben sie sich aus ihrer Ruhe und gingen weiter; Hänschen aber war heilfroh über das, was er gehört hatte. Er bestrich sich eilend mit dem bereits gefallenen Himmelstau die Augen, da wuchsen ihm neue klare Augäpfel, und er sahe die goldenen Sterne am Himmel blinken und die dunkeln Wipfel der Waldesbäume. Bald brach der Morgen an, und Hänschen sah nun Weg und Steg, und wanderte neu gestärkt, der Straße entlang. In einigen Dörfern, durch die er kam, erfocht er so viel, daß er seinen neuerwachten Hunger und Durst stillen konnte, und endlich kam er in die Stadt, in welcher der Wassermangel so groß [499] war, daß alle Leute Wein und viele Schnäpse tranken, welche sie Likör nannten.

Hänschen hatte kein Geld zu Likören; er trat zu einer Wirtin und bat, ihm ein großes Glas Wasser zu reichen. Die Wirtin sah ihn dafür sehr groß an und schalt; »Seh mir einer den Lump! Hat nicht einmal Geld, einen Likör zu bezahlen, und will Wasser zechen! Meint der Mosjö, Herr von Fadenschein, das Wasser quelle nur so für nichts und wieder nichts? Es koste kein Geld? O weit gefehlt. Wisch Er sich das Maul von wegen dem Wasser; Wein oder Likör kann Er haben, mit Wasser kann ich nicht dienen, zumal in so großer Menge nicht.«

»Liegt man hier wirklich so krank an der Wassersucht, wie ich draußen vernommen?« fragte Hänschen. »Ei, wozu habt ihr denn hier Magistrat und Gemeinderat? Ist kein Moses im Stadtrate, der Wasser aus dem Felsen schlüge? Eure Krankheit wollte ich bald kuriert haben; ich bin ein Brunnenarzt.«

Diese Worte vernahmen einige junge Ratsherren, welche bei der Wirtin teils auch Liköre, teils Champagnerwein tranken; sie taten dies nur aus Ermangelung des Wassers, sonst würden sie es gewiß nicht getan haben, denn sie nannten den Champagner Gift und Äquinoktialsäure, und ohne die äußerste Not wird sicherlich niemand Gift und solcherlei Säuren zu sich nehmen. Diese jungen Herren umringten Hänschen, und fragten hastig, wie er es anstellen wolle, dem Mangel abzuhelfen?

»Meine hochverehrtesten Herren«, sprach Hänschen: »wenn ich sotanen Mangel allhier abstellen soll, so tut nötig sein, daß ich erst angestellt werde. Soll ich euch geheimen Rat erteilen, so würde eine mir zugeteilte kleine Geheimeratsbesoldung – so ein vier-bis sechstausend Tälerchen alljährlich mich zu Dank vergnügt machen. Dann solltet ihr Herren aber auch sehen, daß ich etwas leiste, was sich nicht von allen Geheimeräten rühmen läßt.«

Die jungen Ratsherren gaben dem Schneiderlein zu verstehen, es möge nicht sticheln und nicht so anzüglich reden, das könne man in der geistreichen Residenz nicht vertragen.

»Nanu!« entgegnete Hänschen. »Wenn ein Kleiderkünstler nicht mehr sticheln und anzüglich reden soll, da hört alles auf.«

Die Sache wurde nun im Gemeinderate und vom Magistrate [500] reiflich erwogen, und alle Stimmen einigten sich in dem Rufe: »Wasser um jeden Preis – ehe wir im Sande totaliter vertrocknen!«

Der Magistrat stellte hierauf die Not gemeiner Stadt dem Könige vor und auch das Mittel zu deren Abhülfe, und bat Seine Majestät in Gnaden zu geruhen, für den fremden Brunnenarzt ein Geheimeratsdekret ausfertigen zu lassen, die Besoldung solle aus städtischen Mitteln gern bestritten werden. Der König willfahrete mit väterlicher Huld diesem Gesuche und ließ das Dekret ausfertigen, jedoch – durch Erfahrungen gewitzigt, – mit dem Vorbehalte, daß selbes nicht eher in Kraft trete, bis hinlängliches Wasser geschafft sei – außerdem solle es nichts gelten, da schon so viele Versprechungen von auswärts her gewanderter Fremdlingen zwar zu Wasser geworden seien, aber zu keinem nutzbaren. Hänschen begab sich nun in Begleitung einer schnell ernannten Wasserkommission auf den Markt, sah schon von weitem den grauen Quader – sprach zu den Technikern der Kommission: diesen Stein lasset ausbrechen, ihr Herren! – und als dies geschah, so rauschte plötzlich der Strahl eines Springbrunnes stark und mächtig und turmhoch in die Luft, und quoll so viel Wasser aus, daß auf der Stelle in allen Kaufläden der Residenz die Preise der wasserdichten Zeuge um das Doppelte in die Höhe gingen.

Laut erscholl durch die ganze Königsresidenz das Lob des Wasserdoktors; fast hätte man ihn, wie den Schneider Hans Bockhold von Leiden, zum Propheten gemacht, und ihn in Opern voll Pomp und Unsinn verherrlicht.

Noch desselben Tages wurde der neue Herr Geheimerat, der sich indessen mit Staatskleidern, Staatswagen und Dienerschaft versehen hatte, an den Hof gerufen, und fuhr stolz in den Palast. Der König sagte ihm vieles Freundliche und schenkte ihm in Anerkennung seines Verdienstes um die Haupt- und Residenzstadt einen schönen Orden, am gewässerten Bande zu tragen. Sehr bald lenkte sich das Gespräch auf die Krankheit der Königstochter, und der König fragte den neuen Geheimerat, ob er als geschickter Wasserdoktor vielleicht für die Prinzessin eine Brunnenkur heilsam finde? »Nein, Euer Majestät«, erwiderte der Geheimerat. »Einmal mit Wasser mich befaßt, und nicht wieder. Lasse mich Eure Majestät der Gnade teilhaft werden, Allerhöchstdero Prinzessin Tochter zu sehen, so hoffe ich zuversichtlich, [501] den Sitz ihrer Krankheit zu ergründen.« – Darüber war der König über alle Maßen froh, und führte den Doktor selbst zu der kranken Prinzessin. Der fühlte ihr den Puls, und sahe, daß sie sehr schön war. Dann sprach er: »Großmächtigster König, wenn die allerdurchlauchtigste Prinzessin genesen soll, so kann dies nicht durch irdische Medizin geschehen, sondern durch göttliche Hülfe; gestatten Allerhöchstdieselben, daß wir die Kranke in die Hofkirche tragen lassen; dort wird sie wohl genesen.« Dieser Vorschlag ward vom Könige alsbald gut geheißen, denn er war sehr fromm, und freute sich, einen so frommen neuen Geheimerat gewonnen zu haben. In der Kirche ließ sich der Heilkünstler von der Prinzessin den Opferstock zeigen, suchte nach, und fand in einer Ritze das Goldstück. Dieses gab er der erlauchten Kranken in die Hand, und ersuchte sie, dasselbe nun richtig in den Stock zu werfen. Selbiges tat die Prinzessin und alsbald wurde sie völlig gesund, und begann wie eine Rose aufzublühen. So führte sie nun der Geheimerat zu dem Könige. Was da für eine große Freude war, ist gar nicht zu schildern. Aus dem Geheimerat wurde alsbald rasch nacheinander ein Reichsrat, ein Standesherr, ein Graf, ein Fürst – und aus diesem ein Bräutigam der genesenen Prinzessin. Nach der Hochzeit fuhren die Neuvermählten auf einer Rundreise durch das Land, da kamen sie auch durch das Dorf, aus welchem der Fürst jüngst als Hänschen gewandert war. Da stand am Wirtshaus ein Scherenschleifer und schliff und seine Frau drehte ihm das Rad – und da war's der Peter und das Lieschen, die den Peter erst durchaus nicht haben wollte, ihn aber am Ende doch nahm, weil er ihr zuschwur, Hänschen werde sie nie wiedersehen. Hänschen kannte gleich den Peter am falschen Gesicht, rief dem Kutscher zu: »Halt!« und jenem rief er zu: »Peter!«

Peter horchte hoch auf – und fragte, was der Herr befehle?

»Nichts befehlen will ich, Peter«, sprach Hans: »als daß du das Hänschen in mir wiederkennen sollst, dem du zu so hohem Glücke verholfen hast. Dort im Walde fand ich armer augenloser, durch dich augenlos – das blinde Glück, wie manche blinde Taube ihre Erbse. Dort unter einem Baume, an dem ich lag, suchte mich es heim. Hier hast du vieles Geld vom blinden Bettler, der wieder sehend und reich geworden ist! Fahre wohl, und fahr zu, Kutscher!« [502] Peter stand wie aus den Wolken gefallen, lange starrte er dem Prachtwagen nach, dann gab er seiner Frau das Geld aufzuheben, und sagte: »Dorthin muß ich auch – muß auch das blinde Glück finden.« Und alsbald rüstete sich Peter und wanderte so rasch er wandern konnte, an jenen Ort, wo er am armen Hänschen die letzte treulose Tat beging. Ein Fuchs lief lange vor ihm her – an jenem Orte stand der Fuchs. Da kam von weitem ein Wolf entgegengesprungen. Rasch wandte Peter sich um, da trabte ein Bär des Weges daher. Voll Entsetzen klomm jetzt Peter am Baume empor, unter dem er Hänschen den letzten Augapfel ausgestochen hatte.

»Verräter! Verräter! Verräter die ihr seid!« bellte der Fuchs, heulte der Wolf, brummte der Bär, und jeder beschuldigte den andern, das Geheimnis verplaudert zu haben, auf dessen Behütung sie einander doch alle drei die Pfote gegeben hatten, waren sehr bissig gegeneinander, und gaben einander schlechte Titel. Endlich nahmen Bär und Fuchs gegen den Wolf Partei, der sollte zunächst der Verräter sein, und dafür gehenkt werden, und alsbald drehte der Fuchs ein Seil und eine Schlinge aus Tannenreißig, der Bär hielt den Wolf fest, der Fuchs warf letzterem die Schlinge um den Hals, und zog den Zappelnden in die Höhe. Der Wolf starrte stieren Auges empor, da sah er Peter im Gezweige des Baumes sitzen, und heulte: »O falsche ungerechte Welt! Da droben sitzt er, der unser Geheimnis verraten hat!«

Jetzt sahen die andern beiden Tiere auch in die Höhe, ließen den Wolf fallen, und der Bär kletterte auf den Baum und holte den Peter herunter. Drunten empfing ihn der Fuchs, der so fuchswild war, daß er ihm gleich beide Augen auskratzte. Dann würgte ihn der Wolf, und der Bär drückte ihn mausetot, darauf haben sie ihn zu dritt aufgefressen, daß kein Knöchelchen von ihm übrig geblieben ist.

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TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Märchen. Neues deutsches Märchenbuch. Schneider Hänschen und die wissenden Tiere. Schneider Hänschen und die wissenden Tiere. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-270B-4