763. Das Fräulein von Boineburg
Viele Sagen gehen im Volksmunde von der Boineburg in Hessen und ihren Bewohnerinnen. Es waren der Schwestern drei, und da träumte der jüngsten, daß es in Gottes Rat beschlossei, eine von ihnen werde vom Wetter erschlagen werden. Als sie nun morgens ihren Schwestern diesen Traum erzählt hatte und mittags ein schweres Gewitter aufstieg, so sprach die älteste: Mir ist sicher der Tod bestimmt, ließ sich einen Stuhl hinaustragen und saß harrend im Wetter – aber sie blieb unversehrt. Am zweiten Tage, da wieder ein Gewitter drohend aufzog, tat die zweite Schwester das gleiche, allein ihr widerfuhr wie der ältesten. Nun sprach die dritte: Ich bin es, die Gott rufen wird! und machte sich in gleicher Weise bereit, beichtete und stiftete zu ihrem Gedächtnis eine Spende, setzte sich auf den Stuhl, und alsbald fuhr ein Blitz herab und tötete sie.
Andere erzählen ganz anders. Eine tausendjährige Eiche stand im Hofe der Boineburg. Unter ihr lag an einem heißen Sommertage die einzige Tochter des Ritters und war eingeschlummert. Ein rasches Wetter zog heran, und vom Donner und strömenden Regen erwacht das Fräulein, fährt auf und eilt nach dem Hause. Indem so fährt ein Wetterstrahl in die Eiche und wirft auch das Fräulein leblos zu Boden. Aber es gelingt, die bloß Ohnmächtige wieder in das Leben zurückzurufen, und der erfreute Vater stiftet dankbar eine Armenspende. An jedem Gründonnerstage mußte der Kaplan vor dem zerspaltenen Baum eine Gedächtnisrede halten, und Korn und Fleisch ward an die Armen von vierundzwanzig Dörfern ausgeteilt. Das Fräulein nahm den Nonnenschleier. Die Spende besteht noch immer, obschon die Burg längst in Trümmern liegt; die Rede hält der Pfarrer zu Datterode.
Einst lag am Gründonnerstag noch hoher Schnee, und der vierspännige Wagen mit den Liebesgaben konnte den steilen Burgweg nicht hinan; der Wagenführer wollte daher umlenken. Da erschien aber plötzlich auf dem Wagen eine weiße Jungfrau mit schönem, aber ernstem und drohendem Antlitz und bedeutete dem Fuhrmann, hinaufzufahren. Der wendete erschrocken sich wieder zum Weg, und siehe, mit Leichtigkeit zogen die Rosse jetzt den schweren Wagen, und droben verschwand die Jungfrau lächelnden Blickes. Alles Volk, das den Wagen umwimmelte, hatte sie gesehen.
Als das Hessenland in ein Königreich Westfalen umgewandelt war, wollte die französische Behörde nichts von dieser altherkömmlichen Spende wissen, sondern sie mit andern Einkünften unter dem üblichen lügenhaften Vorwand der Ersparnis selbst schlucken – ein nicht bloß bei Franzosen geübter schlechter Finanzkniff –, und wirklich unterblieb im Jahre 1808 Spende und Rede. Aber da ist dem Könige von Westfalen ein schreckliches Gesicht erschienen, und seine Finanzer haben die Spende wieder herausrücken und das Vermächtnis auf Schloß Boineburg erfüllen müssen.
Noch ruhen im Bergesschoße der Boineburg viele Schätze, und die Jungfrau hütet dieselben; auch sie breitet ein weißes Tuch mit Knotten aus und macht einzelne glücklich. Es soll im Dreißigjährigen Kriege aus Eschwege, Sandra und andern Nachbarstädten viel Geld und Gut hinauf auf die Burg geflüchtet worden sein.
Die Jungfrau der Boineburg erscheint auch als weiße Reiterin. Sie reitet auf des Berges Hochebene hin bis zu einer Stelle, wo eine weiße Lilie mit purpurnem Kelche blüht, die sie dann bricht, und eilend zurückreitet. Begegnet ihr einer, der reinen Herzens und Wandels ist, und ruft sie an: Gib mir die Blume! – der kann großes Glück erlangen, noch aber soll das keinem widerfahren sein, weil die Menschen nicht mehr reinen Herzens und Wandels sind.