Das blaue Flämmchen

Einst lebte ein einzelner alter Herr in einem uralten Hause, bei dem blieb selten ein Gesinde lange, und alle die Dienstboten, die er gehabt, erzählten, es sei nicht recht geheuer in dem Hause; man höre Gespenster rumoren, sehe Flämmchen an dunkeln Orten und werde auch auf sonstige Weise von Spukdingern geschreckt. Nun geschah es, daß bei diesem Herrn abermals eine neue Magd anzog, welche Anna hieß, und nach der ersten Nacht fragte der Herr die Dienerin, wie sie geschlafen habe? denn er besorgte sich, schon wieder Klage über Geisterspuk im Hause zu vernehmen. Die [637] muntere Dirne aber antwortete ihm, sie habe ganz gut geschlafen. Eine gleiche Antwort auf die gleiche Frage erfolgte auch am zweiten Morgen. Am dritten Morgen aber verschlief sich die Magd, war denn verlegen, und sagte:

»Mir war die ganze Nacht, als tanze um mein Bette herum ein bläuliches Lichtlein, und das flüsterte fort und fort: ›Geh Ann, geh Ann!‹ so daß ich nicht eher einschlafen konnte, als gegen Morgen beim ersten Hahnschrei.«

Wie nun einige Nächte hintereinander diese Beunruhigung fortdauerte, so zeigte das Mädchen Neigung, den neuangetretenen Dienst wieder zu verlassen; das war dem Herrn leid, und er sagte zu der Anna: »Weißt du was, Anna, sprich doch einmal mit dem Herrn Pfarrer darüber, vielleicht kann dieser dir einen guten Rat erteilen!« –

Der Geistliche sagte nun zur Anna, als diese ihn fragte:

»Wenn das blaue Licht ein Geist ist, und dich ruft, so ziehe dich schnell an und folge ihm, sei aber dabei sorglich auf deiner Hut, daß du nichts von ihm annimmst, nichts ergreifst, was er dir bietet, nichts tust, was er dir heißt, und daß er dir stets voran gehe. Tust du genau nach diesem Rate, so kann es dein Glück sein.«

Abends war die Dirne kaum ins Bette, so tanzte das blaue Flämmchen wieder um dasselbe herum und flüsterte wieder:

»Geh Ann, geh Ann!«

»Wenn es denn sein muß«, sagte Anna, indem sie aus dem Bette und rasch in die Kleider fuhr: »so gehen wir.«

»Geh Ann!« flüsterte das Flämmchen. »Geh du voran!« sprach Anna, und da flackerte das Flämmchen vor ihr her, über einen Gang, die Treppe hinunter, bis vor die Kellertüre. Dort flüsterte das Flämmchen wieder: »Schließ auf, Ann!« –

»Schließ du auf!« sagte Anna: »ich habe keinen Schlüssel.«

Da schien das Flämmchen die Gestalt eines kleinen weißen Weibleins zu gewinnen, das hauchte gegen das Schlüsselloch und da ging die Kellertüre auf. Jetzt schwebte die bläulich schimmernde Gestalt die Kellertreppe hinunter vor Anna her, nach des Kellers hinterster Ecke. Dort lehnte eine Hacke an der Mauer, und das Weibchen, dessen bläulicher Lichtschimmer den Keller leidlich hell machte, deutete auf das Werkzeug, und flüsterte: »Hacke hier ein Loch, Ann!« – »Hacke du ein Loch!« sprach Anna, »ich brauche keins.« [638] Und da ergriff das Weiblein wirklich die Hacke und arbeitete tüchtig darauf los; nach kurzer Weile kam ein Kesselchen zum Vorschein, darinnen lagen allerhand schöne Sachen, alte Goldmünzen und Schmuck von guten Perlen und Edelsteinen. »Heb Ann! Heb heraus Ann!« flüsterte der Geist, aber Anna sprach ganz ruhig: »Hebe du heraus, ich könnte mir Schaden tun.« Da hob auch das Weiblein das Kesselchen aus dem Boden, und setzte es vor Anna hin, daß es klang und klirrte, das viele Gold und Silber, welches darinnen lag.

»Trag's h'nauf Ann, in deine Kammer!« flüsterte das Frauchen – doch Anna sagte: »Trag's selber h'nauf. Mir ist's zu schwer.« Da hob das Weiblein das Kesselchen und flüsterte wieder: »Geh Ann, geh Ann!« – und Anna erwiderte: »Geht nicht an! Der Leuchter geht voran!« So ging denn auch das Weiblein wieder aufwärts voran, aber langsam, denn es trug schwer an dem Kesselchen und ächzte und stöhnte alle die Treppen hinauf bis in Annas Bettkammer. Da setzte es das Kesselchen hin, und Anna legte sich wieder in ihr Bette, und um das Bette tanzte wieder das bläuliche Licht. Da schlug Anna ein Kreuz und sprach: »Hast du mir geholfen, so helfe dir Gott Vater, Gott Sohn, Gott heiliger Geist in das ewige Himmelreich, Amen!«

Da stand noch einmal das weiße Weiblein in klarer Gestalt vor Anna, und sein Gesicht leuchtete im Schimmer reinster Freude – dann verschwand es plötzlich. Anna schlief ruhig ein, und als sie am Morgen erwachte, glaubte sie, es habe sie das alles nur geträumt. Aber siehe da – das Kesselchen war noch vorhanden und ein ansehnlicher Schatz war ihr beschert. Nie spukte wieder ein Geist im Hause des alten Herrn.

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TextGrid Repository (2011). Bechstein, Ludwig. Märchen. Neues deutsches Märchenbuch. Das blaue Flämmchen. Das blaue Flämmchen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-25A0-6