420. Der immerlebende Rabe
Zu Merseburg im Schloßhof wird ein Rabe lebend erhalten als immerwährender Sagenzeuge. Es lebte daselbst ein Bischof, Thilo von Trotha geheißen, ein heftiger und jähzorniger Herr, der hielt im Hause zum Vergnügen einen zahmen Raben. Der Rabe tat, was er nicht lassen konnte, er stahl wie ein Rabe, so stahl er auch einen kostbaren, hoch wertgehaltenen Ring seines Herrn, des Bischofs, und trug den Ring in sein Nest, das er auf einem hohen Turme des Merseburger Schlosses hatte. Der Bischof aber vermeinte nicht anders, als der Ring sei ihm gestohlen und sein alter Kammerknecht sei der Dieb, und ließ diesen Diener peinlich befragen und ihm durch die Folter das Geständnis der Schuld entreißen, und ließ ihn zum Richtplatz führen. Mit zum Himmel erhobenen Händen beteuerte der Greis seine Unschuld – doch sein Haupt fiel unter dem Henkerschwerte. Da geschah es nach einer Zeit, daß ein Sturm des Raben Nest vom Turme warf, darin fand sich mancherlei güldenes und silbernes Kleinod und auch des Bischofs Ring, um den der fromme Kämmerling unschuldig war gerichtet worden. Das traf des strengen Bischofs hartes Herz wie ein Blitzstrahl, und er büßte hart und schwer seine ungetreue Tat an dem Kämmerling. [289] Er tat sich seines Familienwappens ab und nahm ein neues an und setzte in das Schild einen Raben, der einen Ring im Schnabel trug, und oben aus der Krone hoben sich als Helmkleinod zwei Arme und Hände, deren Finger einen Ring faßten. Dieses Wappen ließ der Bischof Thilo von Trotha allenthalben anbringen, daß es ihn überall an seine Untat erinnere und zu steter Buße mahne, innen und außen am bischöflichen Palast, im Dome, an den Mauern, in den Zimmern, auf den Gängen. Und verordnete, daß im Schlosse fort und fort ein lebender Rabe solle gehalten werden, wie denn auch noch geschieht. Und immer noch ist das neue Wappen zu erblicken, am schönsten auf dem ehernen Kenotaph, das dem Bischof Thilo von Trotha im Dome zu Merseburg errichtet ward.