262. Der Bildstock bei Weißenstein.
Auf dem Bergschlosse Weißenstein lebte ein frommer Ritter mit seinem einzigen Kinde, einem schönen, tugendhaften Fräulein. Um sie warb der Herr der benachbarten Burg Liebeneck, wurde aber, wegen seines wüsten [247] Lebens, von Vater und Tochter zurückgewiesen. Da beschloß er, sie zu rauben, und versteckte sich mit einem Haufen Reisiger in dem Wald bei Weißenstein, wo, wie er wußte, das Fräulein zu lustwandeln pflegte. Als sie am Abend allein dahin kam, ward sie von der Rotte ergriffen, auf ein Pferd gesetzt und den Berg hinab zu der Nagoldbrücke gebracht. Ueber diese wollten sie nun forteilen, aber kaum waren sie in deren Mitte, so brach sie zusammen, daß Mann und Roß in den Fluß stürzten und alle ertranken, außer das Fräulein, welches die Wellen an das diesseitige Ufer trugen. In Folge des Schreckens starb sie jedoch wenige Stunden nachher und wurde in der Gruft des Schlosses beigesetzt. Dieses verließ ihr Vater auf immer und ging in das Kloster Hirschau, nachdem er an die Stelle, wo seine Tochter gelandet, einen steinernen Bildstock hatte setzen lassen, auf welchem der gekreuzigte Heiland zwischen Maria und Johannes ausgehauen ist.
Bei diesem Stocke fährt in gewissen Nächten, zwischen elf und zwölf, ein kleines Schiff an, das mit einer weißen Gestalt auf dem Flusse herankömmt. Dieselbe (das verstorbene Fräulein) trägt ein goldenes Kreuz in der Hand, sie steigt aus, das Schiff verschwindet, und sie geht nach dem, nun verfallenen, Schlosse, wo ein Lichtlein so lange brennt, bis sie innerhalb der Ringmauern ist.
Ein anderes Licht zeigt sich in den heiligen Nächten bei dem Bildstock, an dem zu Zeiten auch ein gespenstiger Ritter knieet und betet.
Einst nahmen Flößer, welche auf der Nagold vorbeifuhren, den Stock mit nach Mannheim und verhandelten ihn; aber in der Nacht kehrte er von selbst an seine alte Stelle zurück.
[248] Ein anderes Mal, als er nach Heidelberg kommen sollte, war er durchaus nicht von seinem Platze zu bringen, und seitdem ist er unangefochten da stehen geblieben.