295. Das Vogelnest.
Vor ungefähr sechzig Jahren lebte in Eibensbach ein begüterter Bauer, der häufig auf das verfallene Bergschloß Blankenhorn lustwandelte. Als er eines Abends sich wieder daselbst befand, kam zu ihm ein Fräulein und lud ihn ein, ihr zu folgen. Ohne Bedenken that er dies und wurde von ihr durch eine Thüre, welche sie aufschloß, in einen langen unterirdischen Gang und aus ihm in ein Gewölbe geführt, wo viele Kisten umherstanden. Hier gab sie ihm ein Vogelnest und sprach: »Nimm dieses Nest und halte es an die Kisten, so springen sie von selbst auf, und du kannst daraus so viel Geld nehmen, als du willst, aber vergiß darüber ja das Beste nicht!« Ohne mehr auf die letzten Worte zu hören, hielt der Bauer das Nest sogleich an eine der Kisten, und im Augenblick sprang sie auf, und war bis oben mit Geld gefüllt. Gierig wollte er zulangen, da stürzte ein großer schwarzer Pudel auf ihn los und brachte ihn so in Schrecken, daß er das Nest von sich warf und eilig durch den Gang entfloh. Im Freien angelangt, hörte er hinter sich ein starkes Getös und eine Stimme, [277] welche ihm nachrief: »Wehe dir, du hast das Beste vergessen, du hast das Vogelnest zurückgelassen!« Voll Unmuth ging er nun nach Hause, verfiel darauf in Tiefsinn und Arbeitsscheu und mußte nach und nach alle seine Güter verkaufen. Endlich starb er in tiefster Armuth und hinterließ nichts als einen Zettel, worauf folgender Reim stand:
Eibensbach und Blankenhorn Sind mir im Aug' ein großer Dorn!