7. Von der Selbsterkenntniß.

Meister! – redete ein Jüngling einen weisen Mann an – es geht die gemeine Lehre, daß Selbsterkenntniß der Anfang sei zur Weisheit. Nun aber sage mir, wie man zur wahren Selbsterkenntniß gelangen könne? Der Meister erwiderte: Doch wol dadurch, daß du dich, deine Gedanken, Begierden und Neigungen beobachtest, und sonach dir ein Bild deiner ganzen Sinnes- und Gemüthsart zusammen setzest. Denn, sage, wer wäre dir näher, als du dir selbst, und wer könnte dein Inneres besser erkennen, als eben dein Innerstes, das Gewissen? Aber, versetzte der Jüngling, das Gewissen ist parteiisch in der eigenen Sache, und wie ich täglich erfahre, mindestens bald zu streng, bald zu milde in seinen Urtheilen, so daß es mich vollends irre macht an mir selbst. Wohlan, sagte der Meister, so richte dich denn nach den Urtheilen der Menschen. Ihre Meinung von dir diene dir als ein Spiegel, darin du deine Gebrechen wie deine Tugenden, klar erkennen magst. Wahrlich! versetzte der Jüngling, da wäre ich noch übler daran, wenn ich meinen Werth oder Unwerth nach dem Urtheile der Welt ermessen sollte. Sie kennt ja an mir nur, was ich [53] scheine, und nicht was ich bin; und in diesem Schein und Widerschein selbst flimmert alles, Licht und Schatten, so durch einander, daß sich nur ein verzerrtes, gespenstisches Bild gestalten will. Der Meister schwieg, als wäre er um weitern Rath verlegen. Nach einer Weile, gleichsam als ob er nachgesonnen, sprach er: Weil du denn meinest und erkennest, daß weder dein eigenes, noch der Menschen Urtheil dir zur wahren Selbsterkenntniß verhelfen könne, so kann und muß wol die Quelle dieser Erkenntniß anderswo zu suchen und zu finden sein, dort, wo die Wahrheit und die Weisheit selbst ist: in Gott. Der Jüngling sagte: Freilich wol! aber wer hat den Muth, an ihn diese Frage zu stellen, und von ihm Antwort zu erhalten? Der Demüthige, antwortete jener. Er spricht zu Gott: Herr, wer bin ich? und wer bist du? Und so nahet er denn im Bewußtsein der Schwäche und der Schuld, die ihm inne wohnt, und er entfernt sich im Bewußtsein seiner Kraft und seiner Würde, die von oben kommt. Er weiß, daß er nichts sei ohne Gott, und alles durch Gott. Und das ist jeder Mensch. Der Jüngling fühlte sich durchdrungen von der Wahrheit dieser Worte, und er sprach: Also ist die Selbsterkenntniß, wie sie jene anpreisen, zu nichts nütze? Nein, antwortete jener; denn das Wissen, das aus sich selbst ausgeht, blähet auf. All unser wahres Erkennen und rechtes Wollen aber kommt aus Gott; und es ist darum kein anderer Weg, der da zur Weisheit führt, als die Gottesfurcht.

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TextGrid Repository (2011). Aurbacher, Ludwig. Märchen und Sagen. Ein Volksbüchlein. Erster Theil. 2. Allerlei erbauliche und ergötzliche Historien. 7. Von der Selbsterkenntniß. 7. Von der Selbsterkenntniß. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-160A-4