[97] Sie betrachtet den gekreuzigten Jesum
1
Schau, Braut, wie hängt dein Bräutigam
An eines harten Kreuzes Stamm!
Ist auch wohl ein Schmerz zu nennen,
Den man nicht an ihm kann kennen?
2
Schau doch, er hänget ganz entblößt,
Betrübt, geängstigt, ungetröst!
Voller Beulen, voller Wunden,
Ungepflegt und unverbunden.
3
Die Glieder alle sind zerdehnt,
Der Mund steht offen, lechzt und gähnt.
Und die Lippen, wie Korallen,
Sind verblaßt, beschmitzt mit Gallen.
4
Sein huldenreiches Angesicht
Kann man vor‘m Blut erkennen nicht.
Seine Stirn ist ganz zerstochen
Und die Augen sind gebrochen.
5
Das Haupt ist grausamlich verhöhnt,
Mit einem Dornenkranz gekrönt.
Und der Haare tapfre Locken
Hängen voller Speichelflocken.
6
Die Händ und Füße sind durchbohrt,
Verrenkt, gelähmet und verkohrt.
[98]Auch das Herz, o groß Betrüben!
Ist nicht unverwundet blieben.
7
Schau, Braut, so gehts dem grünen Reis!
So gehts dem fruchtbarn Paradeis!
Schau, wie wirds mit dir dann werden,
Dürres Holz, Staub, Asch und Erden.
8
Jedoch verzage nicht, er hat
Bezahlet deine Missetat.
Schau, er neigt sich, dich zu küssen,
Will dich um und bei sich wissen.
9
Geh, werde seinem Leiden gleich,
Erduld auch du mit ihm den Streich.
Denn es will sich nicht geziemen,
Daß die Braut sei ohne Striemen.
10
Ach, steig hinauf und stirb mit ihm,
Wie ein verliebter Seraphim.
Wer sein Leben will erwerben,
Muß mit ihm am Kreuze sterben.