Das Herz meiner Schwester
Lieber Bruder.
Du glaubst, dass etwas Grosses in meinem Gemüthe vorgehe?! Das »stille Drängen von Frühlings-Kräften«, wie Du Dich so poetisch ausdrückst?!
Es befindet sich momentan Folgendes in meinem Herzen und beschäftigt es:
»Werden wir ein Stubenmädchen bekommen bis zu den Feiertagen?!«
»Und wenn, wird sie friesieren können, nämlich diese complicirten Frisuren, welche sich Mama jedesmal bei der Aufnahme aus dem Stegreif erdichtet, während wir nur ewig diese kleinen einfachen Dreher tragen?! Aber es ist einmal ›Prüfungsgegenstand.‹«
»Wird sie einen Geliebten haben oder wird sie keinen Geliebten haben?! (Ich glaube, diese einfachen Worte sind immer die ersten, welche ein Töchterchen aus gutem Hause mit dem Mysterium ›Liebe‹ bekannt machen.)«
»Warum riecht es in den Aufnahme-Bureaux für Dienstboten immer so entsetzlich dumpf?! Und warum tragen alle anspruchvollen Köchinnen falsche türkische Schawls mit Fransen?!«
»Wird die Köchin ihre Zeugnisse morgen wieder abholen kommen, nachdem sie über Mama Erkundigungen eingezogen hat, oder nicht?!«
[208] Und wenn sie nicht erfahren hat, dass man »lieber sterben« solle als zu Mama in Dienst treten, und die Klippe »Hausmeisterin« passirt hat, wird sie wirklich den Eisenverkleidungen des Heerdes vermittelst Smirglpapieres den Glanz von Silber verleihen können, wie sie es Mama versprochen hat?!«
Diese Dinge, mein Bruder, befinden sich in meinem Herzen und beschäftigen es. Es ist nicht ganz das »stille Drängen von Frühlings-Kräften« – – –.
Deine Mildred.
p.s.
Noch Eines vergass ich: »Ob die neu aufzunehmende Köchin jene feinen, äusserst complicirten Fisch-Haschées in Papier-Hülschen werde componiren können, welche Mama bei der Aufnahme jeder Köchin als den Hauptbestandtheil unserer täglichen Kost zu betrachten sich bemüht und welche wir bis heute noch niemals bekommen haben?! Es scheint wie bei Euren Examen zu sein. Man muss ›Kirchenrecht‹ können. Wozu braucht man es im Leben?! Dasselbe ist mit Fisch-Haschées.«
[209]