Erster Vorgang
Sowie der Vorhang aufgerollt wird, verbreitet sich ein scharfer Spiritusduft über den Zuschauerraum, man riecht genau, daß es neunziggrädiger ist. Die Bühne bleibt anderthalb Minuten leer, darauf hört man hinter der Szene links eine sonore Männerstimme in singendem Sächseln: Lehmann, Se sein ä Rindvieh. Eine Tür wird heftig zugeschlagen. Nach einer halben Sekunde tritt Krawutschke aus dem Ärztezimmer heraus. Er ist ein kleiner Mann mit semmelblondem Haar und Spitzbart. Ansatz zum Höcker. Er trägt auf der Spitze seiner Höckernase einen neusilbernen Kneif über den er hinwegschielt. Seine hellblauen Augen sind wässerig. Er spricht sehr schnell in hastigen Stößen mit auffallend sächsischem Anklang: er ist in der Schäffelgasse zu Dresden geboren. Er hat in Heidelberg studiert und von dort sehr burschikose Manieren mit heimgebracht. Er wiederholt häufig Worte und halbe Sätze und schiebt ganz unmotiviert ein »nu äben« oder ein »i nu heeren Se mal« ein. Sonst ist er jovial und munter, und immer vergnügt. Er trägt langgestreifte Hosen, ein kariertes Jackett und schmutzige Wäsche, da er sie immer erst wechselt, wenn er von der Ronde nach Hause kommt. Der linke Absatz ist unmerklich schief getreten. Er verbreitet einen eigentümlichen unbestimmbaren Geruch, halb Alkohol, halb Jodoform.
Lehmann, Se kennen mersch glooben, Se sein werklich ä Rindsvieh!
Hinter Krawutschke tritt Lehmann auf. Er ist genau einen Kopf größer als der Doktor, ein spindeldürrer Mann mit einer roten Nase, die er sich aber, wie er sagt, in Rußland erfroren. Er war aber nie da. Jeder seiner absichtlich und darum ungeschickt gemessenen Bewegungen sieht man an, daß er gern häufig einen nehmen möchte, es aber im Dienst nicht wagt. Er trägt schmutzige graue Hosen und einen dunklen Dienstrock voll Fettflecken. Seine Hand zittert ein wenig. Er hat die Angewohnheit nach jedem dritten Wort zu spucken, aber immer nur nach links. Er spricht schlesisch, den Dialekt der Gegend um Salzbrunn. Seine Haare sind weiß und spärlich, er trägt einen grauen Schnauzer, in [247] den noch einzelne blonde Haare verstreut sind. In seiner Jugend muß er hübsch gewesen sein. Wenn er im stillen an dieselbe denkt, namentlich an seine Dienstzeit bei den Elfern, so richtet sich der etwas zusammengefallene Körper instinktiv wieder auf und er fährt sich mit der Linken über den Bart. Sonst ist seine Lieblingsbewegung, die leichtgeballte rechte Faust an den Mund zu führen, und gleichzeitig fliegt für eine Sekunde, von Zungenschnalzen begleitet, ein verklärender Schimmer über sein Gesicht.
Nee, 's wull nich Ihr Ärnst, Härr Dukter?
KRAWUTSCHKE.
Follgommen, mei Gudester!Räuspert sich. Ähhmmm!
LEHMANN.
Hoaben Se woas gesoagt, Härr Dukter?
KRAWUTSCHKE.
Ich?
LEHMANN.
Joa – Chchfftt! Spuckt.
KRAWUTSCHKE.
Nee, mei Dierchen.
LEHMANN.
Eich doachte ock. – Chfft!
KRAWUTSCHKE.
Supolderne, mei liepstes Dierchen, hon Se gor nicht zu denken, wissen Se – äähhmm! ... das is Se nämlich widersch Reechlement – Er spricht alle Fremdworte deutsch aus. – hihi, joa sehn Se, nu äben, mei Liepster, des dürfen Se neemlich eechentlich goar nich – nee ... äähhm! ...
LEHMANN.
Na, eich meente ock blußig! ... Pause. Soogen Se, Härr Dukter, glooben Se, doß die Hundelerge nu tot is? ... Chchfftt? ...
KRAWUTSCHKE.
Äähhmm! ... die Hundelerche? ...
LEHMANN.
Joa ... chchfft ... die Hundelerge! ...
KRAWUTSCHKE.
Nu nadierlich, mei Gudster, die is se nämlich ganz mausetot, nadierlich, joa, ... welche Hundelerche meenen Se denn? ...
LEHMANN.
Na, das Oas drieben, doas tobsichtige, das mit'n Kopp ... chchfft ... gägen de Woand gerennt is! Akkerat bluß um Sie zu ärgern, Herr Dukter! ...
KRAWUTSCHKE.
Nu nadierlich mei Gudster, die is se rattefallenmausedod ... die hot sich ja die Gorder in dausend Splitter gehauen, hihi, joa nadierlich, die steht se nich mehr wieder uf, nee, mei Dierchen – ähhm – heite rot, morgen tot ... joa – so is es ... äähm! ...
LEHMANN.
Na joa, ich hoa mersch glei gedoacht ... Na 's is o gutt, daß dos verfluchchte Oas krepiert is – hammer eene winger! ... Chchfft ... Meenen Se nich? ... Wos ...
KRAWUTSCHKE.
Ähhmm! ...
[248]LEHMANN.
Ich weeß gor nich, wozu 's so vill Verrickte uff der Wält gibbt. Die sein doch zu gor nischt gutt! Woas? Su ä Schwindsichtiger, doas luß ich mer noch gefalln – ober su ä Verrickter ... doas is do gor kee Mensch nich! ... Chchfft ...
KRAWUTSCHKE.
I nu heeren Se mal, nu sein Se so gut, nu halten Se oaber gleich de Luft on, joa? Ähhmm!
LEHMANN.
Nu – wozu sein se denn gutt, Härr Dukter ... de Verrickten ... Chchfft! ... woas? ...
KRAWUTSCHKE.
Nu warten Se eenen Oogenblick, dann wär ich Se das gleich ganz genau saachen, mei Lieber, ähhmm! ... Das is se nämlich e ganz e seere wichtige Soache, joa, hihi! ... Er geht in das Ärztezimmer hinein, schließt die Tür, bleibt etwa eine halbe Minute dort und kommt dann wieder zurück.
LEHMANN.
Noa, da bin ich oaber verfluchtig neigierich.
KRAWUTSCHKE.
Ähhm! ... Säh'n Se mei kudes Dierchen, das is se nämlich ... äähhm ... so ... die Verrickten, das sein se de eenzichen vernünftigen Menschen uff der ganzen Wäld ... ähhm ...
LEHMANN
verwundert.
Chchfftt! ...? ...
KRAWUTSCHKE.
Säh'n Se, 'n kleenen Vogel habn wer doch alle – nich? ... Nu joa ... äben ... ähmm ... sahn Se ... »Von der Wieche bis zur Bahre bleibt der Suff das eenzich wahre«, sagt schonst Schiller! ...
LEHMANN.
Doas stimmt!
KRAWUTSCHKE.
Der Mänsch ... äähhm ... der Mänsch fängt se eechentlich überhaupt ärscht bei's Dralirium an ... nämlich, wenn er das ieberwunden hat und er wierd wieder vernimftig ... ähhm ... sähn Se, denn wierd er sei ganzes Läben nicht mehr meschugge! ... wer hier als geheilt rauskommt, mei Lieber, der riert se sei ganzes Läben keenen eenzigen Droppen Algohol mehr oan! ... nee, nu sähn Se äben ... der is gefeit joa ...
LEHMANN.
Gutt, Härr Dukter, ... oaber vun die kummt se kee eenziger mehr widder 'raus ... in sei Läben nich ... as wie hächstens naa Zählendurff ... oder naa Dalldurff zu de Unheilboaren ...! Chchfft ...
KRAWUTSCHKE.
Lehmann, faseln Se niche! ... Wovor wär' ich denn doa? ... ei Herrcheeses nu äben ... des loaßen Se meine Sorche sind ... bassen Se uf, mit meine neie Medode mach ich [249] se oalle wieder vernimftig ... nachdem ich den Drunksuchtsbazillus entdeckt hoabe ... is se joa das ä Ginderspiel ... ei nadierlich, ä reenes Ginderspiel ... nu äben ...
LEHMANN.
Menen Se werklich Härr Dukter? ... Ach nee ... Chchfft ... Se veralbern mich uck bloßig! ...
KRAWUTSCHKE.
Lehmann, wann ich Se soage, des is se so, dänn is es so, das gennen Se mer glooben. Säh'n Se, Lehmann, de geistige Wiedergeburt der Menschheet, die geht se äben durchs Irrenhaus, durchs Spitoal und durch den Algohol! ...
LEHMANN.
Woas, Härr Dukter, wiedergebur'n wull'n Se wärden? ... Chchfftt ... Hoan Se denn an dem eemoal ni' scho' gnug? ...
KRAWUTSCHKE.
O Schobenhauer, biste ooch hier? ... Äähhmm? ... Nadierlich, mei liebstes Garniggelchen, wiedergeburn müss' mer oalle wär'n, ä ganz neies Geschlächt muß se ruffkumm'n uff de Welt ... damit mer den Gampf uffnähmen genn'n geechen de Lieche ...
LEHMANN.
Doa wär'n Se oaber lange zu kämpfen hoan, denn leugen tun se heit olle mitsamm! Eener beleucht immer den oannern! ...
KRAWUTSCHKE.
Leider! leider! Äähhmm! ... Oaber's soll anners wär'n, mei Schnudegen, ich wär' se de Welt scho umgestalten, nadierlich, ei choa – mit meine Deliranten wär' ich se umgestalten, und den beesen Geist aus de Welt schaffen, der schuld is an ollem – wissen Se wer das is? ...
LEHMANN.
Eich hoa keene Oahnung ... chchfft! ...
KRAWUTSCHKE.
Ich wär's Ihnen soachen, ober gäb'n Se genau oacht ... 's is ... äähhmm! ... der Fusel is es ...
LEHMANN.
Doa hoan Se recht, Herr Dukter ... der reene Schnaps is mer oach lieber ... aber das Oaszeug is blußig so verfluchchtig teier! ... chchfft!
Aus dem Zimmer der männlichen Deliranten ertönt fürchterlicher Lärm, Heulen, Schreien, Toben, Singen, Winseln in den scheußlichsten und unartikuliertesten Lauten. Man hört Lude schreien. »Bin ich nich eppes ä großer Mann? Bin ich nich als ä beriemter Mann? Hab' ich nich e paar Dutzend Lorbeerkränz'?« Bulle donnert mit den Fäusten gegen die Tür, daß sie zittert. »Hund, du hast das Pschorr ausgesoffan! Warst du's ausbrachen, oder ich schlag' dich tot!« Man sieht die Wand des Zimmers wackeln. Nach einer [250] halben Minute beginnt auch im weiblichen Delirantenzimmer ein Höllenlärm, man hört Miezens Stimme, sie kräht. »Kikeriki! Kikeriki! Ich bin de Fuselsuse! Kikeriki!«
LEHMANN.
Hähä! Nee – eich weeß nich ... chchfft ... ob de Verrickten denn gor nich emol a bissel verninftig sei kennten! ...
KRAWUTSCHKE.
Sie sind's – meine Freunde! ...Zieht die Uhr aus der Tasche, eine alte, abgegriffne Spindel, der man's ansieht, daß sie schon oft im Leihhaus war. Joa, 's is de Stunde! ... wartet nur eenen eenzigen kleenen Ochenblick ... nur 'ne kleene Härzensstärkung vorher, dann geheer' ich eich, meine Lieblinge! ... äähhmm! ... Er geht ins Ärztezimmer. Der Lärm wird toller. Man hört Anglers Stimme. »Teremtete verläg' ich nich Sch-ßkerls solche wie Schiller und Goethe, verläg ich nur vornämmes Literatur!« Abramsen piepst dazwischen. »Ruhig ihr Swinegels, 's wird mer mieß vor euch!«
LEHMANN
haut gegen die Tür.
Ääster verfluchte, wullt a de Fresse hoalen! Mieze fängt wieder an zu krähen. Das Fruvolk is noch ärger! Schlägt gegen die andere Tür. H-npakasche Obster stille seids drinne!
KRAWUTSCHKE
kommt zurück und wischt sich mit den Fingern den Mund.
Das schmeckt! ... So nun zu euch! Heraus meine Kutesten, ihr Hoffnung der Zukunft, Deutschlands Jugend, ihr Edelste der Nahzejohn! ... Er öffnet die Tür links. Die Deliranten kommen heraus. Voran drängt sich, mit den Ellenbogen sich Bahn machend, Angler. Er ist sehr klein von Gestalt, hat wenig Haare, aber eine große Schnauze. Er ist mit einer gewissen schäbigen Eleganz gekleidet, der linke Lackstiefel ist aufgeplatzt. Er war Inseratenagent für das Fachgewerbeblatt der Destillateure, und da er demgemäß des Tags über in zehn bis zwanzig Destillen einkehren und überall einen nehmen mußte, so verfiel er bei seiner schwachen Konstitution bald ins Delirium. Er leidet an Größenwahnvorstellungen, er bildet sich ein, Verlagsbuchhändler zu sein und hält sich für Brockhaus und Cotta in einer Person. Sein Dialekt, den er, wie jeder handelnde Mensch in dieser Katastrophe redet, ist ausgesprochen ungarisch, doch stößt er außerdem auch mit der Zunge an. Er hält sich von den übrigen gerne abgesondert, weil [251] er sich sehr vornehm vorkommt und mit der Gemeinheit nur dann gern zu tun hat, wenn sie Geld einbringt. Seine Bewegungen, seine Sprache sind hastig-nervös. Er eilt auf Krawutschke freudig er regt zu. Herr Doktorr ... konn ich Ihnen gor nich sogen ... sssss ... jedesmal wie ich freue mich wenn ich hob Ehre Sie zu sehen ... – Feixend. – hihi ... haben Se nix zu verlegen, Herr Doktorr? ... sss ...
KRAWUTSCHKE
fühlt seinen Puls.
Na, geht's heut besser? Nu 's scheint ja. Ähhmm! Nu säh'n Se, Angler, Se sein doch e verninftiger Mensch, nich? ... Haben Se das netig geha't, sich mit dem Fusel einzulassen? ... Hätten Se nich bei Ihrem früheren unschädlichen Kretzer bleiben kennen, mei liebes Seelenwärmerchen? ... Ach, Lude, alter Freund, da biste ja ooch ...
LUDE
wirft den Kopf in den Nacken.
Hbbff! Er ist mittelgroß, schlank, trägt eine goldene Brille, und sieht wie ein versoffener Schulmeister aus. Er trägt sehr hohe Vatermörder. Er stammt aus sehr reichem Hause und ergab sich schon frühzeitig dem Laster der literarischen Selbstverunreinigung. Vorsorgliche Mütter, in ihm eine gute Partie für ihre Töchter witternd, und verhungerte Rezensenten, die sich sonntags in seinem väterlichen Hause satt aßen, machten ihn stets mit Redensarten voll überschwänglichen Lobes besoffen, so daß er sein Laster immer ärger trieb, jeden Tag ein Schauspiel schmierte und, der übrigen Welt Morphium spendend und selbst frühzeitig vor Lob und Einbildung aus der Trunkenheit nicht mehr herauskommend, in Paralyse endete. Sein Blick ist umflort, die ganze Erscheinung welk, die eines jungen Greises. Mer habe doch noch als koine Brüderschaft miteinand getrunke, soviel ich woiß!
KRAWUTSCHKE.
Stimmt ... ähhmm! ... aber missen Se denn immer ans Saufen denken! ... Iebrigens ... des kennen wir ja noch nachholen ...
LUDE
patzig.
Wenn Se eppes so viel Lorbeerkränz habe werde wie ich ... Mache Se sich als koine Hoffnung eher ...
KRAWUTSCHKE.
I nu herren Se mal, mei Kudester ... was sein denn Sie für e Landsmann eechentlich? ... Ihnen versteh ich ja gar nicht orntlich ... sein Se denn eechentlich vom Main her? ... Ähhmm ...
[252]LUDE
parodiert seine Sprache, aber mit Sachsenhäuser Anklang.
Nee, dummes Luderche, ich bin se nämlich vom Ufer der ... Werra ... Wieder in seinem ordinären Ton. Hawe se koine Appewoi nich? ...
KRAWUTSCHKE.
Nee mei Dierchen, Se derfens mer nich iebel nähmen, oaber doas gibt's se hier nich ...
LUDE
weinerlich.
Ich will aber als Appewoi ... gebt mer ä Flasch Appewoi! ... Stampft mit dem Fuß, als ob er Bediente riefe. Hört'r, Karl! Fritz! August! e Flasch Appewoi! ... ich verdurst als ... ach ... ich verdurst als ... ich hab e Kamin in der Kehl! ... ich verdurst als ... Er fängt an zu klönen, wie ein kleines verzogenes Kind und besabbert sich den Rock.
LEHMANN.
Na, natsch' uck ni glei! Spricht in ihn hinein und sucht ihn zu beruhigen.
BULLE
ein großer, dicker, vierschrötiger Kerl mit rotem aufgedunsenem Gesicht, eingedrückter Plattnase und kurzgeschorenem Haar.
Seine Korpulenz ist angeschwemmt durch das unmäßige Pschorrsaufen, das ihn ruiniert hat. Seine Züge erinnern an eine bissige Dogge. In seinem Blick liegt hämisch lauernde Unehrlichkeit. Er schlendert scheinbar gleichgültig und teilnahmslos umher, aber heimlich läßt er keinen Blick von dem Arzt, und sowie er diesen im Gespräch mit Lude bemerkt, schleicht er sich heran und gibt ihm, da er es am wenigsten ahnt, einen wütenden Stoß in die Rippen. Er spricht breiten ostpreußischen Dialekt, der bei ihm seltsam schleimig klingt. Da, krapier, du Hund!
KRAWUTSCHKE.
Mei scheenstes Mausezähnchen, wenn Se sich unanständig ufführen dann ...
BULLE.
Nu, was dann? Stellt sich breitbeinig vor ihn hin.
KRAWUTSCHKE.
Weeß Gott, ich muß Se dann in de Zwangsjacke ... äähhmm ... joa, uf Ehre, da laß ich Se reinstecken! ...
BULLE.
Wann ich dir nicht vorhar dan Schädel zarschlagen habe ... Ja ja, ich weiß, du trachtest mir nach dam Laben ... Du willst uns hier alle umbringen ... Er versucht ihn plötzlich an der Gurgel zu packen. Boofke, warste uns Bier gaben? ...
KRAWUTSCHKE.
Bier her oder ich fall' um? Macht sich von ihm los. I nu nee mei Lieber, so geschwind geht das nu niche ... Lehmann ... gäbe Se'm 'ne kalte Dusche! ...
LEHMANN
packt ihn und zieht ihn fort.
BULLE
sträubt sich, versucht um sich zu schlagen, aber Lehmann [253] hält ihn mit eiserner Faust fest.
Dar Hund, dar Marder! ... Da, du kannst mich am Abend besuchen – Er läßt einen fahren und wird abgeführt.
ABRAMSEN
ist vorgeschritten.
Er ist klein und engbrüstig, sein Anblick der eines schwindsüchtigen Papageis. Sein Mund reicht von einem Ohr bis zum andern. Er ist bartlos, aber seine Haare hängen ihm bis zum Kragen, während seine Hosen nicht das Schienbein erreichen, was seinen knabenhaften Eindruck noch erhöht. Er war früher Reporter, litt aber schon damals an Halluzinationen. So ließ er einmal einen Bericht über eine Theatervorstellung drucken, der er gar nicht beigewohnt hatte. Deswegen aus allen Zeitungen hinausgeworfen, ergab er sich in Verzweiflung dem stillen Suff und ruinierte sich, indem er in den Nachtcafés bis zu zwölf Schlummerpünschen an einem Abend trank. Er piepst mit hoher Kastratenstimme. Er gibt sich gern für einen ollen Schweden oder Norweger aus und hat demgemäß auch seinen Namen skandinavisiert, denn er hält sich für den direkten Abkömmling eines Wikingerhäuptlings, seine wahre Abstammung und Gesellschaft verrät aber sein Dialekt, eine seltsame Mischung des Hamburger Platts von St. Pauli und singernden Mauschelns, welch letzteres er sich erst von den Börsenjünglingen angewöhnt hat, denen er früher spät nachts im Café in vollständig besäuftem Zustand Vorlesungen über die soziale Frage hielt. He he! Wat gieft 't denn? Wie heißt? Wat hewwt ju denn? Seggt mi doch ...; ick bin jo jüwer Hauptmann. Seggt mol, ju hewwt mi doch zu jüwerm Hauptmann maken!
LUDE.
Mer wolle eppes ze trinke und er gebbt als nich ...
ABRAMSEN.
Heißt ä mießer Szoff, was nehmen werd der Butje! Wat will wi denn drinken? Bär? Snaps? Wien? Seggt, ick wert all besorgen. Mir is all eins. Ick hewwt all da drinn – Zeigt auf seinen Bauch. – seggt man blot, wat ick rutlaten sull ...
BULLE
von Wasser triefend, ist mit Lehmann wie der aufgetreten.
Haart man, wie dar Boske rannomiert!
MIEZE
genannt die Fuselsusel, tritt aus der Tür links.
Sie ist ein ehemaliges Mitglied der Halbwelt, war Tingeltangeleuse, verkaufte später Apfelsinen und wurde in einer Winternacht bewußtlos betrunken und delirierend in einem Rinnstein am Moritzplatz gefunden. Die linke Hälfte ihres Gesichts ist von tausend Pockennarben zerstört, die rechte zeigt noch einige geringe Spuren ehemaliger Schönheit. Die Nase ist geschunden, [254] die Augen sind entzündet, blutig unterlaufen und triefend. Ihr Kleid ist aus hundert Fetzen zusammengesetzt und voller Löcher. Die Stimme ist rauh und schrill. Sie singt und tanzt.
»Zwei schöne Dinge kenn' ich wohl,
Die Liebe und den Alkohol ...«
Kikeriki! Ihr könnt mir alle 'n Buckel lang rutschen!
KRAWUTSCHKE.
Na, Suse, immer fidel? Ei joa? Nu, das freut mich! Ähhmm!
MIEZE.
Haben Sie 'ne Ahnung von meinem Dalles! ... Fauler Kopp, mir uzen Se nich! Kräht. Kikeriiki! hopp! hopp! Morgen geh' ich tanzen – nach 'n schwarzen Adler ... komm mit, Lude! ... Tanzt und singt, hebt kokett ein wenig die Röcke.
»Na, wenn das nich jut für die Wanzen is,
Denn weeß ich nich, was besser is ...«
Flöhe und Wanzen, morgen muß ich tanzen ...Spricht und singt umzech.
»Wer hat dich du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben?«
»Ach du schöne Adelheid, du bist meines Herzens Freud ...«
»Ich liebe dich so tieieief, so innig tieieief –«
Gebt mer Schnaps – Schnaps will ich haben – Kikeriki –
»Denn du hast ja die Bertha ins Unglück gestürzt ...«
LEHMANN.
'n Tritt in a Rick'n, oales Gestell! ..., hoal od's Maul! ...
HENRIETTE MARSCHALL
kommt aus dem Gebärsaal.
Sie ist eine magere Frau, sehr groß, nicht schön. Ihre Hände sind knochig, am rechten Zeigefinger fehlt ein Glied, am Kinn wachsen ihr Haare. Ihre Stirn ist niedrig, die Wülste sind ganz besonders groß ausgebildet, und die Zähne riesig wie bei einem Pferde. Sie ist in anderen Umständen. Alles an ihr atmet Gleichgiltigkeit, Gefräßigkeit, Stumpfsinn und Pflichttreue. Jott, Herr Doktor, wollen Se nu nich bald 'mal nachsehn komm'n? Bei de Millern muß't jeden Oogenblick losjehn, die olle Scharteke winselt und heilt – 't ist schonst nich mehr scheene.
[255]KRAWUTSCHKE
geht an die Tür hinten, horcht gleichgiltig.
Ach nu nee ... ähhmm ...! – des hat se noch 'ne Viertelstunde Zeit ... ich heer's ... 's Wurm is noch ganz hinne ...
HENRIETTE.
's aber eklig langweilig, det Frauenzimmer feixt und klönt ... soll ick nich'n bisken dricken det's schneller jeht? ...
KRAWUTSCHKE.
Ach nu ne, meine Kuteste, das lassen Se nu lieber ... das kennte se sehre beese Folgen haben ...
HENRIETTE.
Na mehr als druffjehn kann det Aas doch nich – un denn wern wer se los ...
KRAWUTSCHKE.
Aber 's kann ooch'n Unterleibskrebs werden – und denn behalten wer se ewich ...
HENRIETTE.
Nu, wenigstens kommt se denn in 'ne annre Abteilung! ... Man hört hinter der Szene eine Frau in Kindsnöten winseln. Na, Herr Doktor ...
KRAWUTSCHKE.
's noch nich so eilig ... Geh'n Se nur 'rein ... Zu den Deliranten. So, Kinder ... ähhmm! ... nu ham' mer g'nug ... nu geht hübsch wieder auf eire Stube ...
BULLE
ihm die Faust unter die Nase haltend.
Schweinehund ... warste nu rausricken mit 'n Schnaps, oder ...
KRAWUTSCHKE
sieht ihn scharf an.
Oder woas ... mein Kudester? ...
BULLE.
Oder ich war ... wä ... wä ...
KRAWUTSCHKE.
Wä ...? ...
BULLE.
Wä ...w ...w ... Ein Zungenkrampf befällt ihn, er kann nicht weitersprechen. Er zittert am ganzen Körper und blickt starr in die linke Vorderecke der Bühne. Plötzlich schreit er auf. De Maus! De Maus! Und taumelt schwankend ab. Krawutschke und Lehmann treiben die anderen Irren ihm nach. Fuselsusel hat hinter dem Rücken des Arztes mit Lude poussiert.
LEHMANN
fährt auf sie zu.
Auseinander, Schweinebande! Zu Mieze. Du denkst woll du bist noch unter Sitte! ...
MIEZE.
Kikeriki! »Du bist verrückt, mein Kind, du mußt nach Berlin« ... Appelsinen jefällig – he? – ... Springt ab, indem sie wie eine Sängerin Kußhände wirft.
HENRIETTE.
Na kommen Se nu, Herr Dokter? ...
[256]KRAWUTSCHKE.
Gleich, meu kudestes Dierchen, ich muß nur erst 'mal ... Geht ins Ärztezimmer.
HENRIETTE
ihm verwundert nachsehend.
Wat macht denn der da drinne?
LEHMANN.
Ä wäscht siech de Hänne.
HENRIETTE.
Ach Quatsch! Er hat ja nischt angefaßt. Im Ernst, wat macht er denn da?
LEHMANN
lächelt schlau.
HENRIETTE.
Na, wennste Kodder im Maul hast, denn nich. Wat ick mer vor koofe!
LEHMANN
führt die geschlossene Hand zum Munde.
HENRIETTE
versteht erst nicht – endlich begreift sie und wiederholt die Bewegung.
Det?
LEHMANN
nickt.
HENRIETTE
prustet los.
Dat heb' ick mer jleich jedacht. Der ooch! Nu natierlich! Det dun wer ja alle!
LEHMANN.
Ja weeste ... so 'ne Konsultazejohn oder Operazejohn, doas greift 'n jedesmoal su an, daß a immer eenen heben muß. A reibt siech uff im Dienst der Menschheet un arbeet't mit su'n Feier! Chfffttt!
KRAWUTSCHKE
kommt zurück, wischt sich den Mund.
Fein! Ähhm!
HENRIETTE.
He, gehn wer nu?
KRAWUTSCHKE
betrachtet sie lächelnd.
HENRIETTE.
Na, wat kieken Se mir an? ... Natierlich ... ick leichne et ja nich ... ick mache keene Merdergrube aus meinen Herzen ...
KRAWUTSCHKE.
Jettchen! Jettchen! ... In Ihre Joahre ... un noch solche Streiche! Schämen Se sich denn gar nich? Ähhmm?
HENRIETTE.
Jott, Herr Dokter ... wat soll man dun? ... Wenn det bisken Liebe nich wäre ... man würde ja ganz meschugge hier mang die ollen Verrickten ... Eene Erholung muß der Mensch doch haben! ... der eene de Liebe, der an're 'n Suff – un mehrschtendeels beedes! ...
KRAWUTSCHKE.
Nu sachen Se mer bloß det eenzige ... wer is es denn gewäsen?
HENRIETTE.
Ja ... Jotte doch, Herr Dokter ... wie soll ick det bei die Masse hier im Hause 'rauskriegen ... wenn det Jöhr erst da is, werd'n wer ja sehen wie et erblich belastet is, un da kennen wir't ja feststellen, ... wenn't Ihnen interessiert, [257] heeßt det, ... mir is't Wurscht ... Na komm'n Se nu? Ab durch die Mitte.
KRAWUTSCHKE.
Nee, is des de Menschenmöglichkeet! ... 's wirklich jammerschade 's unse beste Pflegerin! ...
LEHMANN.
Jo, de Menschen sein ock su – alles krign se dicke – bloßig das nich! Man hört hinter der Szene wieder schreien und röcheln. Verfluchtig, das wird ne Schwargeburt! Henriette klatscht in die Hände und ruft: Herr Doktor! Man bisken fix! Bringen Se de Zange mit!
KRAWUTSCHKE.
Ja, glei, mei Karnickelchen ... nur ne kleene Vorbereitung ... Will ab nach dem Ärztezimmer.
LEHMANN.
Herr Dukter, nich ze vill – Se kriegen sunst 'n kleenen Schumm!
KRAWUTSCHKE.
Mei liebstes Schkuteken, des verstehn Se nicht! Sähn Se, wann ich se besondere Kraft zu 'ner Operation oder Untersuchung anwenden soll, so muß ich dem Gerper ooch vorher mehr Kraft zufieren, als er hot, dadermit ich se widder ausgäben kann! Ähhmm ... sähn Se, das nännt man se nämlich das Gesetz von der Erhaltung der Enerchie, mei Kutester!
LEHMANN.
Joa, energisch genug saufen tun Se ja, Herr Dukter! Chchfft!
KRAWUTSCHKE
ist ins Ärztezimmer getreten.
Man hört, wie er mit dem Glas an die Kognakflasche stößt. Er spricht von drinnen. Ich sauf se nicht zum Verjniegen, wie die da drinnen, sondern zur Arbeet ... das ist äben der Unterschied! Schnaps, Schnaps, du edeles Getränke, du bist und bleibst von der Natur, von die Natur, von das Natur das herrlichste Getränke! Kommt wieder heraus, wischt sich den Mund ab. Ich du se saufen, um die andern vom Dralirium zu retten!
LEHMANN
lächelnd.
Herr Dukter, ich gloobe, Sie sind heute en bisken beduse. Chchfft!
KRAWUTSCHKE.
Reden Se keenen Bleedsinn, Lehmann! Medico nihil nocet! Und ieberhaupt, es gibt mehr als eenen sehr beriehmten Chirurgen, der nur schneiden kann, wenn er sternhagelmäßig besoffen ist. Joa! Ähhmm! – Na, nu 'rin ins Verjniegen!Winseln hinter der Szene. Heil du und der Teufel!Er zündet sich eine Zigarre an und geht ab, indem er nach der Melodie: »Was man aus Liebe tut«, singt: »Die Liebe und der Suff, das reibt den Menschen uff!« Pause. Lehmann blickt ihm [258] nach, schleicht sich dann zur Hintertür, kauert sich nieder und horcht am Schlüsselloch. Dann kommt er mit vorsichtigen Katzentritten vor. Er lächelt pfiffig, dann greift er in die Rocktasche und zieht daraus eine gefüllte Kümmelpulle hervor. Er hält sie hoch gegen das Licht, sein Gesicht strahlt vor Freude. Plötzlich glaubt er ein Geräusch zu vernehmen; er zuckt zusammen und steckt die Pulle schnell wieder ein. Er lauscht, und da es nichts ist, so zieht er die Pulle ganz langsam wieder vor, hält sie selig lächelnd an die Nase und saugt den Duft ein. Dann führt er sie zum Munde und nimmt einen tüchtigen Schluck. Darauf schleicht ersieh auf den Zehen nach der Tür des Männerdelirantensaales und klopft stark an dieselbe. 'raus, verfluchtiges Gesindel, 'raus ihr Lausebande! Da – sauft, aber mit Verstand, un laßt mir noch'n Schluck drin! Wenn's dem Dukterluder nischt schadt – schadt's dem Wärter erst recht nischt! Chchfft?
ABRAMSEN, BULLE, ANGLER, LUDE drängen sich mit großem Geschrei vor. Mir Schnaps!
LEHMANN.
Sstt! Chchfft! ... Wollt er's Maul hoal'n, Kurnalljen verfluchtige! ... Sull der Dukter glei kummen?
ABRAMSEN
auf Bulle zeigend, kläglich.
He hat den ganzen Buddel utsupen! He het mi nischt laten! Er weint wie ein Kind. Giff mi Snaps; giff mi 'n eenzigen Droppen Snaps! Er kauert sich vor Lehmann nieder wie ein Hund, der schön macht, und bewegt die Hände wie Pfoten. Wau, wau, giff mi Snaps!
LEHMANN.
Do, das schickt der deine Braut! – aber daß de mich ock nicht beim Dukter klemmst, suste gibt's Schnicke, verstihste! Zieht noch eine Flasche Branntwein aus der Tasche, die er Abramsen gibt.
ABRAMSEN
hüpft und springt herum, in Fisteltönen, mehr quiekend als singend.
So'n Massel, ik hew Snaps! Ik hew Snaps un ju nich! ...
BULLE.
Verdammtes Oos, gib har den Schnaps! Will ihm die Pulle entreißen.
ANGLER.
Nemmt s 'em weg! nemmt s 'em weg! Sie wollen sie ihm wegnehmen; einer fällt über den andern, sie prügeln sich und wälzen sich am Boden.
MIEZE
donnert an die Tür, von innen.
Fuselsusel riecht Schnaps! Fuselsusel will ooch welchen!
HELENE
tritt ein von vorn rechts.
Sie ist ein kleines zierliches Geschöpf mit einem Gesicht wie aus Milch und Blut und entzückenden blauen Augen. Ein Hauch der Poesie geht von [259] ihr aus, der die Szene sichtbar verklärt. Das blonde Haar fällt in zwei Zöpfen über den Nacken. Jeder Ton aus ihrem Munde ist Musik. Sie trägt ein ebenso einfaches als duftiges Kattunkleid. Ihre zierlichen, winzigen Füße stecken in Goldkäferschuhen. Sie spricht ein vollkommen reines Hochdeutsch. Sie erscheint wie der verkörperte Genius der Poesie, alle Reize sind in ihr vereinigt. Dabei muß ihre Familienähnlichkeit mit dem Vater eine frappante sein. Papa, das Mittagbrot ist fertig – willst du nicht hinunter kommen?
LEHMANN.
Wull, wull, Lene, huste schu'n Tisch gedäckt?
HELENE.
Alles besorgt, Papa! Er blitzt von Sauberkeit! Ein reines Tischtuch ist aufgelegt und herrliche frische Rosen hab' ich besorgt ... ach, wie das duftet! ...
LEHMANN
zu Abramsen.
Nu, bin ich nich e tich'jer Mensch? Hoa ich nich a hibsche Tuchter?
ANGLER
hat sich bei Helenens Eintritt aufgerafft und schwankt auf diese zu, seine Kleider ordnend, die sich beim Raufen verschoben haben.
Er besinnt sich auf seine frühere Don Juan-Rolle; denn er hat sich stets für unwiderstehlich für Frauen gehalten. Er hält Helene die Schnapspulle, die er erbeutet hat, vor die Nase und lispelt. Woll'n Se nich trinken, Freil'n gnäddiges? ...
HELENE
taumelt entsetzt zurück, so wie der Alkohol ihre Nase trifft.
Alkohol ... entsetzlich ... ich kann ihn nicht riechen ... Hält sich die Nase zu. Fort, Wahnsinniger ... weg von mir ...
ANGLER.
Abber mein schenstes Freilein! ... Er will sie umarmen.
HELENE.
Vater ... er will mich umarmen ...
ANGLER.
Einen Kuhß ... einen Kuhß ... Teremtete ...
HELENE
weicht entsetzt zurück.
Vater ... schütze mich ... ach ... schütze mich! ...
LEHMANN
sieht sie mit verglasten Augen verschlingend an.
Lene ... Lene ... natürlich ... Keener darf dich han als wie ich ... Wollt er machen, daß er wegkommt, verfluchtige Bande! ... Hier, Lene ...Er stellt sich neben sie und legt seinen Arm um ihren Gürtel; sie glaubt, er will sie schützen, und da seine Hand sich nach ihrer Brust streckt, drückt sie sie unwillkürlich nieder, Angst und Dankbarkeit im Blick. Weg, willste weg! Packt Angler beim Arm – entschuldigend zu seiner[260] Tochter. A hurt a wing schwar! ... Weg. Du Deibel ... do 'nei, do 'nei! ... nähmt die Pullen mit, eich fulg scho ... Der Dukter kummt hint do ni weh ... do ... Er treibt sie zurück.
HELENE.
Gottlob ... ach Vater, die Unglücklichen sind schrecklich ...
LEHMANN
sieht sie mit dem Ausdruck bestialischen Verlangens an.
Hiebsch bist de ... sähr hiebsch ... joa ... gelt? ... kumm här ...
HELENE.
Vater, was tust du? ...
LEHMANN.
Nu, kumm ock ... eich tu der joa nischt ... kumm, Lene ... Chchfft!
HELENE
mit steigender Angst.
Vater, du bist betrunken ...
LEHMANN.
Besuffa? Hihi! Chchfft! Verliebt bin i ... Lene ... ach ... Er machte einige unzüchtige Griffe.
HELENE.
Vater – Schwein – geh ... auf der Stelle ... oder ich schrei um Hilfe! Sie weicht in die äußerste Ecke zurück. Zugleich hört man aus dem hintern Saal einen furchtbaren Schmerzensschrei und gleich darauf das Winseln eines neugebornen Kindes.
HELENE
schreiend.
Vater, rühr mich nicht an ... oder ... ein Unglück geschieht ...
LEHMANN.
Noa, noa ... sei ... ock ruhig ... eich ... tu der ... jo nischt ... nischte nich ... tu ... ich der ... noa ... ich wollte jo ... bloßig ... Er keucht nach Atem. ... Mittag will ich han ... Schreit. Mei Fressa will ich ...
HELENE
unfähig zu sprechen, zeigt nach draußen.
LEHMANN.
Ju ju ... eich gieh jo schunst ... sei ock ni biese ... hierste ... eich gieh scho fressa ... ober eich komm widder. Chfft! ... eich kumm widder ...Ab rechts vorn.
Helene sinkt auf den Stuhl, lehnt das Köpfchen auf die Tischplatte und weint in sich hinein. Lange Pause.
KRAWUTSCHKE
kommt aus dem hintern Saal; er pfeift vor sich hin; seine Hände sind blutig.
Er will nach dem Ärztezimmer, um wieder einen Kognak zu nehmen.
HELENE
durch das Geräusch aufmerksam gemacht, blickt auf.
Der Doktor – Sie trocknet ihre Augen.
KRAWUTSCHKE.
Helene ... Ähmm ...
HELENE.
Sie sind 's ...? ...
[261]KRAWUTSCHKE.
Joa, nu äben ... nadierlich, mein scheenstes Zuckerbibbchen ... ich bin's ... joa ... freilich bin ich's ... wenn Se nischt dagägen haben nämlich ... Ähmm!
HELENE
lächelnd.
Warum sollte ich etwas dagegen haben?
KRAWUTSCHKE.
Ach, Sie sind wirklich die Güte selbst! Darf man frachen, was Sie hier an diesem unfreindlichen Orte machen, meine Dame?
HELENE.
Ich warte auf meinen Papa ... Aber warum unfreundlich? ... Sie sind ja hier! –
KRAWUTSCHKE.
Ähmm, Se sind wirklich zu gierig. Nee, diese Reinheit!
HELENE.
Und darf man fragen, woher Sie kommen, Herr Doktor?
KRAWUTSCHKE.
Derfen? Warum nich? ... da, da drinnen ...
HELENE.
Ein junger Weltbürger? ...
KRAWUTSCHKE.
Nee, wie Sie das gleich erraten!
HELENE.
War es schwer?
KRAWUTSCHKE.
Sehr. Eine Steißgeburt! Sie in Ihrer Harmlosigkeit, kindliches Gemüt ... Sie wissen nadierlich goornich, was das is ...
HELENE.
Nicht wissen? ... Das? Warum nicht? ... Als Frau eines zukünftigen Arztes ... denn wissen Sie ... ich könnte nur einen Arzt lieben ... ein Arzt, der ist für mich ein Heiliger, ein Erlöser der Menschheit ... Sehen Sie ... ich kaufe mir alle die populären Broschüren mit den gelben Umschlägen ... oh, ich bin sehr bildungsbedürftig! ... Steißgeburt ... natürlich weiß ich, was das ist! ... Sie lächeln ... naturalia non sunt turpia ... übrigens bei unseren Klassikern kommt das Wort Steiß ja auch vor, wissen Sie ... zum Beispiel bei Heine ... den haben wir immer in der Pension gelesen ... wissen Sie ... heimlich, unterm Tisch ... denn eigentlich war er verboten, wissen Sie ... aber das sind ja gerade die schönsten Bücher, die verbotenen ... wissen Sie ... nicht?
KRAWUTSCHKE.
Nee, wie reizend Sie plaudern, Fräulein Helene ... man möchte bloß immer stehen und Ihnen zuhören ...
HELENE.
Gott, wofür hätte man denn die höhere Töchterschule besucht und wäre in Pension gewesen?
KRAWUTSCHKE.
Nee, Ihre Reinheit, Ihr unverdorbenes Gemiet, in all dem Schmutz hier ...
HELENE.
Und der armen Frau da drinnen ... wie geht's ihr?
[262]KRAWUTSCHKE.
Den Umständen angemessen, danke für gütige Nachfroage ...
HELENE.
Ach, ich möchte was für sie tun! ... Ob ihr mit einem abgelegten Korsett von mir gedient wäre? ... Aber Sie haben mir ja noch gar nicht die Hand gegeben? ... So kommen Sie doch!
KRAWUTSCHKE
versteckt die Hände schnell.
Nee, nee, ... ich danke ... 's geht nich ... Sie sein sehr gietig ... aber 's geht werklich nich ...
HELENE.
Weshalb denn nicht? ...
KRAWUTSCHKE.
Se sein noch zu ... zu ... zu rot ... ich wollte eben 'neingehen se waschen ...
HELENE.
Rot? ... oh, das ist eine schöne Farbe! Ich liebe rot ... rote Nelken ... überhaupt, ... wissen Sie, ich bin Sozialistin ... Sie nicht auch? Meine Zunge ist auch rot ... ganz rot ... wollen Sie mal sehen? ... Da! Sie zeigt ihm die Zunge.
KRAWUTSCHKE
betrachtet sie.
Hinten 'n wenig belegt, aber sonst ganz gesund! ... Nein, ich bewundere nur immer Ihre Reinheit, Fräulein Helene .... Hier in diesem Pfuhl ist siebzehn Joahre lang diese süße Knospe unberührt geblieben ... unverdorben ... nee! ... is de Meeglichkeit ...
HELENE.
Keine Fladusen, Herr Doktor! ... Aber glauben Sie mir, es ist schwer ... was man hier alles hört ... und erst sieht ... nämlich ... sagte ich nicht, ich liebe das Rot? ... Vermutlich weil ich selbst das Erröten schon längst verlernt habe! ...
KRAWUTSCHKE.
Ne, was Sie geistreich sind ... Helene ...
HELENE.
Ach, das kommt Ihnen nur so vor ...
KRAWUTSCHKE.
Joa, weeß Kneppchen, alles, was Sie sagen, berühren, dun – überhauchen Sie mit dem Schimmer der Boesie ...
HELENE
verschämt, aber doch glücklich.
Sie wollen mir uzen!
KRAWUTSCHKE.
Nee, wahrhaftig, ich gloobe ... wenn Sie das Eemaleens hersagen ... das müßte klingen wie bei 'ner anderen 'ne Liebeserklärung ... ähhmm! ...
HELENE.
Still, davon darf ein junges Mädchen gar nichts hören, Sie ... Sie ... Don Juan Sie ...
KRAWUTSCHKE.
Ich ä Dong Schuang? ... Ach du lieber Gott ... see'n Se, ich meene se das Liebeseemaleens ... kennen Se das? ... ähhem ...
HELENE.
Nein ... was ist das? ...
[263]KRAWUTSCHKE.
Nu, wie man de kleenen Kinder 's Rechen lernt ... Er ist inzwischen dicht hinter sie getreten, jetzt faßt er ihren Kopf zwischen beide Hände. Das is Se nämlich so ... ähhmm ... Emal eens ist eens ... Küßt sie einmal.
HELENE.
Nicht doch ... lassen Sie das!
KRAWUTSCHKE.
Emal zwee ist zwee ... Küßt sie zweimal.
HELENE.
Herr Doktor! ...
KRAWUTSCHKE.
Emal drei ist drei ... Küßt sie viermal.
HELENE.
Halt, das war viermal ... August du mogelst! ...
KRAWUTSCHKE.
Helene ... nee, gemogelt is das nich! ... Mit ausbrechendem Gefühl. Gloobste, daß ich mogle, Helene? ... Sieht sie mit innigem, vielsagendem Blick an.
HELENE.
August, einzig geliebter Mann! ... Nicht wahr, jetzt, wo ich dich habe, dich halte ... nicht wahr, nun bleibst du bei mir ... nun läßt du mich nicht mehr allein verzweifeln in dieser Pesthöhle? ...
KRAWUTSCHKE.
Natürlich – für immer bleibe ich bei dir ...
HELENE.
O wie glücklich, wie unsagbar glücklich bin ich ...
KRAWUTSCHKE.
Heeßt das ... nur für eenen eenzigen Oogenblick muß ich dich alleene lassen.
HELENE.
Warum? Wo willst du hin? ...
KRAWUTSCHKE.
In jenes Zimmer ... ich muß – mir die Hände waschen.
HELENE.
Wasch dir sie nachher. Geh jetzt nicht fort! Auch ungewaschen liebe ich dich ... ich würde mich so verlassen fühlen ... unter Larven die einzig fühlende Brust ...
KRAWUTSCHKE.
Ich muß ... nur eene eenzige Minute, mei süßes Guckelichtel, mei Oogentrost ... ich hält's nicht mehr aus ...
HELENE.
Du wirst nicht wiederkommen!
KRAWUTSCHKE.
In zwee Segunden ...
HELENE.
Nicht fortgehen, ach, nicht fortgehen! ...
KRAWUTSCHKE.
Ich muß ...
LEHMANNS STIMME
hinter der Szene rechts.
Woa is das Oas? Dde Knochen schloa ich er kaputt! Kließe mit Backobst! Is das a Frassa?
HELENE.
Der Vater! Er will mich schlagen, wie er es seinen Deliranten gegenüber gewohnt ist ... Nur jetzt schütze mich ... nur jetzt nicht fortgehen ... mir ahnt Unheil ... nicht fortgehen!
KRAWUTSCHKE.
Ich muß, mei Herzepinkelchen ... ich muß ... [264] siehste, wie mer scho dde Hände zittern ... ich hält's nich mehr aus ... Sie umklammert ihn, er macht sich los, steht auf und geht nach dem Ärztezimmer ab, vor sich hin singend nach der Melodie des kleinen Postillons.
Ich bin der kleine Delirant,
Ich tobe außer Rand und Band;
Ich saufe spät, ich saufe früh
Und nüchtern bin ich nie! ...
Man hört, wie das Kognakglas aus seiner zitternden Hand zur Erde fällt und zerbricht, worauf er ruft. Nun, also aus der Flasche!
Von rechts erscheint Lehmann, einen Knüttel in der Hand. Er ist vollständig knille. Helene erblickt ihn und sinkt mit erschütterndem Schrei ohnmächtig zu Boden.
Ende des ersten Vorgangs.