[1] Erstes Kapitel
Marie Müller war die einzige Tochter eines wohlhabenden Bürgers in L., – sein Stolz und die Freude seines Alters. Ihre Schönheit zeichnete sie früh vor allen Mädchen ihres Standes aus, und ihr Vater sparte nichts, seinen Liebling auch durch eine sorgfältige Erziehung über sie zu erheben. Marie hatte Talente, und liebte ein häusliches Leben. In ihrer Eingezogenheit bildete sich ihr Verstand durch Lesen nützlicher Bücher, und ihre Gefühle wurden durch Nachdenken und Natur verfeinert und veredelt. Sie lernte Klavier, und begleitete ihr Spiel mit einer sanften, melodischen Stimme; jedoch nur im Geheim, um nicht verspottet zu werden, da sie wohl wußte, daß Vorurtheile den unteren Ständen jedes Streben nach höherer Ausbildung untersagen. Fast in allen [1] weiblichen Arbeiten war sie Meisterin, und eine liebenswürdige Bescheidenheit erhöhte den Werth ihrer Talente. Sie übte sie nur, um ihrem Vater Freude zu machen, und ihre einsamen Stunden nützlich und angenehm zu beschäftigen. In einer glücklichen Verborgenheit gingen ihre Tage vorüber; – unbekannt mit der Welt und ihren verführerischen Freuden, hatte sich Marie freilich jenen feinen Ton höherer Stände nicht erworben, der den Geist fesselt, aber in ihrem ganzen Wesen herrschte mit zauberischer Allmacht jene reine Innigkeit der unverdorbenen, und doch gebildeten Natur, die unwiderstehlich zum Herzen dringt.
Als sie achtzehn Jahr alt war, sagte der Vater: Marie! es ist Zeit, daß ich an Deine Versorgung denke. Ich bin alt und schwach, und würde mit schwerem Herzen sterben, wenn ich Dich so allein zurücklassen müßte. Sage mir, hast Du noch auf keinen Mann gesehn, mit dem Du glücklich seyn könntest? Ich will Dich nicht zwingen, nicht einmal überreden, aber wenn Du Den gefunden hast, den Du Deiner Liebe werth hältst, so entdecke Dich mir, und mache meine alten Tage froh durch Dein Zutrauen, und die Freude, Dich nach Deinem Herzen versorgt zu wissen.
[2]Marie schlang ihre Arme um den redlichen Greis, und antwortete mit einer Thräne und einem holden Erröthen: Guter Vater, red' Er nicht so ernsthaft von den Zeiten, wo ich Ihn verlieren werde. Er thut mir zu weh damit. Nicht um nach Seinem Tode, den der Himmel noch lange entfernen möge, einen Schutz zu haben, nein, um Seinem Willen zu gehorchen, will ich Ihm recht aufrichtig sagen, was ich denke. Mein Vetter Ludwig ist brav, und scheint mir gut zu seyn. Ich fühle eine recht herzliche Freundschaft für ihn, und glaube, ich würde ihm einst gern meine Hand geben, wenn ich denn doch einmal heurathen muß.
O Marie! rief der glückliche Alte, Du hast meinen größten Wunsch erfüllt, ohne es zu wissen. Längst wollt' ich Dir ihn vorschlagen, und jetzt kömmst Du mir so freundlich zuvor. Er umarmte seine Tochter mit der ganzen Lebhaftigkeit seiner Freude.
Ludwig war der Sohn seines verstorbenen Bruders, ein offner, redlicher Jüngling, seit seinen Kinderjahren mit Marien erzogen. Die Unbefangenheit jenes fröhlichen Alters knüpfte schon früh das Band der festesten Freundschaft unter ihnen. Er hatte sich den Forstwissenschaften gewidmet. [3] Unverdorben, wie die schöne Natur, in der er immer lebte, war sein Sinn, und innig seine Liebe zu Marien. Sie hatte schon in den Tagen der Kindheit sein junges Herz erfüllt, und war fester und ernster in spätern Jahren geworden. Wenn den wilden, brausenden Knaben nichts zu bändigen vermochte, so gelang es Marien mit ihrer milden, liebkosenden Stimme, die sich sanft und beruhigend in die Tiefen seiner Seele stahl. Ein freundlicher Blick, ein Wort von ihr ging ihm über alles, und lenkte alle seine Handlungen und Wünsche. Auch Marie empfand ein herzliches Wohlwollen für ihn. Leidenschaft war es nicht, die sie zu ihm hinzog, es war Kenntniß seines Innern, Achtung für seinen edeln Karakter, lang gewohnte Vertraulichkeit, und die Unwissenheit ihres unbefangenen Herzens, das die Liebe noch nicht kannte.
Nach ihrer Erklärung säumte Müller nicht lange, den Jüngling von seinem Glück zu unterrichten. Ludwig eilte herbey, und empfing Mariens Geständniß mit Entzücken. O Marie! rief der Freudetrunkne aus, wie reich macht mich Deine Liebe! Wann, wann willst Du mein seyn? –
Sobald noch nicht, versetzte Marie. Du mußt Dich erst noch mehr in der Welt umsehn, damit [4] Dir dann ein ruhiges Leben desto besser behagt. O ich weiß wohl, wie Dirs zu Muth war, wenn wir so Sonntags hinaus an den Fluß gingen, und die Gegend breitete sich weit und fruchtbar vor uns aus; – wie Du dann hinstarrtest, mit unbeweglichen Augen, und mich oft fragtest, schon als wir noch Kinder waren, ob ich mich nicht auch hinüber sehnte über die blauen Berge, wie Du? Oder wenn wir in der Ferne ein Posthorn blasen hörten, wie Dich das ergriff! – Oder wenn ein leichter Reisewagen an uns vorüber rollte – da ward Dirs so eng um die Brust, und Thränen standen Dir oft in den Augen, daß mir's nur selten gelang, mit aller meiner Liebe Deinen finstern Unmuth zu zerstreuen. Geh, sieh Dich noch ein paar Jahre um, und dann – – Ihre Worte verloren sich in einen leisen Seufzer, und eine leichte Röthe flog über ihr Gesicht.
Es ward beschlossen, daß Ludwig einen Prinzen, der ihm vorzüglich wohl wollte, als Jäger noch ein oder zwey Jahr auf seinen Reisen begleiten sollte. Alsdann sollte er mit einem ihm angemessenen Dienst, der ihm versprochen war, die Hand seiner schönen Braut empfangen, eine Aussicht, die das Paradies vor ihm öffnete.
[5] O ihr seligen Träume und Hoffnungen der Liebe, warum erfüllt euch die Wirklichkeit so selten? – Die Zeit der Abreise nahte heran. – Ludwig machte Anstalten, seinem neuen Berufe zu folgen. Lebe wohl, mein Freund! sagte Marie zu ihm in der Stunde des Abschieds. Gedenke meiner in der Entfernung, und kehre gut und brav wieder, wie Du von mir gehst.
Lebe wohl, Marie! antwortete Ludwig mit bebender Stimme, indem er ihr einen Ring von seinen Haaren gab, und große Thränen traten in sein redliches Auge. Darf ich Dir schreiben? – Schreib meinem Vater, Ludwig, versetzte Marie, und neigte sich in seine Umarmung. –
Ewig, ewig bin ich Dein! rief Ludwig, schloß sie fester an sein Herz, und eilte, wohin ihn sein Schicksal rief.
Ernsthaft stand Marie am Fenster, und sah ihm nach. Ihr ganzes Wesen bewegte sich mit Wärme für ihn. Er war so gut, er war so herzlich–nie fühlte sie das inniger als jetzt. Sie sah ihn noch, wie er vor ihr stand, im Schmerz der Trennung verloren, die hellen Thränen, die über die braune Wange flossen, den schüchternen Blick, der auf ihr ruhte, mit stillen Bitten um ihre Treue. Ja, ich werde [6] glücklich mit ihm seyn, rief sie, und ihr Auge hing noch immer an der Stelle, wo er verschwand. Sie setzte sich ans Fenster nieder, und versank in ernste Träumereyen.
Zwar oft, in ihren einsamen Stunden, hatte sich ihre Einbildungskraft ein Ideal entworfen, und diesem glich Ludwig nicht. Mit jeder männlichen Vollkommenheit geschmückt stand ein Bild vor ihrer Seele, dem sie huldigte in stiller Liebe; – aber ach, wo sollte sie den finden, dem es ähnlich war? O wie würde ich ihn lieben, seufzte sie oft, wenn ich ihm begegnete, ihm, der meinem Bilde gleicht! Aber ihre Sehnsucht war umsonst. Er ist nicht auf dieser Erde, sagte sie traurig, und suchte ihr Ideal zu vergessen. Als sich Ludwig mit allem Feuer seiner Leidenschaft um sie bewarb, stellte sie es tiefer in den Hintergrund ihrer Seele, weil sie überzeugt war, es nie zu finden. Seine Güte, so anspruchlos und wahr, sein fester, männlicher Sinn, seine innige Liebe zu ihr, erwarb ihm ihre Dankbarkeit und Freundschaft. Sie duldete seine Zärtlichkeit, wenn sie sie auch noch nicht erwiederte, und sah mit Hoffnung und Ruhe in die Zukunft, die sie verbinden sollte.
Der Vater unterbrach ihre Gedanken, die sich mit fernen Tagen beschäftigten – es war ein Geräusch [7] auf der Straße entstanden – sie hatte es nicht bemerkt. Sieh doch, Marie, sagte er zu ihr, wer mag wohl der Herr seyn, der da an unserm Hause vorüber reitet? Marie öffnete das Fenster, und erblickte einen jungen, schönen Mann, der in einem einfachen Jagdkleide, umgeben von einigen Dienern in reicher Livree, auf einem muthigen Falben vorüber ritt. Eine englische Dogge begleitete ihn mit frohem Gebell; Marie sah gedankenvoll hinab – ein Armer bat um eine Gabe. Der Unbekannte hielt, und mit einer Leutseligkeit im Ton und Blick, die sein Geschenk noch übertraf, warf er mit freundlichen Worten ihm ein Goldstück zu, und sprengte rasch von dannen.
Er schien ohngefähr sechs oder sieben und zwanzig Jahr alt zu seyn, hatte eine schöne Gestalt voll Anstand und Würde, Augen, in denen eine sanfte Schwärmerey mit jugendlichem Feuer sich stritt, Lippen, auf denen der mildeste Ernst mit dem frohen Lächeln der Jugend sich paarte, eine Stirn, stolz und leicht empört, und regelmäßige Züge, durch eine sanfte Melancholie verschönert. Mit wilder Anmuth flogen die seidnen Locken um ihn her, und kühn und gebieterisch wölbten sich die dunkeln Augenbraunen über den ernsthaft lächelnden Blick. – –
[8] Marie ging hinab in den Garten. Sie bewohnten ein schönes Haus in der Vorstadt, dessen Garten eine freie Aussicht auf die lachende Landschaft hatte, die L. umgab. Sonst saß sie gern allein, in dem grünen Dunkel ihrer Lauben, aber heute war es ihr zum ersten Mal zu einsam. Eine ahnende Wehmuth bemeisterte sich ihrer, sie wußte sich ihr Gefühl nicht zu erklären, so sehr sie ihm auch nachhing, und buntverworrene Bilder umgaukelten sie.
Der Anblick des schönen Fremden hatte die Spuren von Ludwigs Abschied halb verlöscht. Wer er wohl seyn mag? fragte sie sich selbst. Doch was kann mir daran liegen, antwortete sie schnell, und setzte sich nieder zu ihrer Arbeit.
Aber es wollte ihr heute nichts gelingen. Mit Unwillen bemerkte sie es. Sie fühlte sich so beklommen, alles schien ihr so öde, daß sie rasch aufsprang, und die Thür öffnete, die auf die Straße ging, um eine ihrer Nachbarinnen um ihre Gesellschaft zu bitten. Aengstlich sprang ihr, als sie heraustrat, die englische Dogge entgegen, die vor kurzem den Unbekannten begleitet hatte. Sie schien sich verlaufen zu haben, und eilte freundlich zu Marien, als wäre sie längst mit ihr bekannt. [9] Marie, deren weiches Herz von einem reichen Wohlwollen für Menschen und Thiere erfüllt war, nahm den Flüchtling gütig auf, und dachte nicht mehr an die Nachbarin. Der Hund trug ein Halsband von blauem Sammet, mit einem goldenen Schloß, dem die Buchstaben C. v. W. zierlich eingegraben waren.
Seh' Er, Vater! rief Marie, da er ihr entgegen kam, seh' Er den Hund des Herrn, der vorhin vorbei ritt. Er muß seine Spur verloren haben. Wir wollen ihn behalten, bis uns die Zeitungen melden, wem er gehört, damit wir ihn dann zurückgeben können.
Der Alte war es zufrieden, und Marie übernahm die Pflege des schönen Thiers, das sehr bald ihre Zuneigung gewahr wurde, und sie erwiederte.
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