Bern / Verlag von A. Francke / 1917 [] Vorbemerkung.
Diese Erzählung bedeutet keineswegs eine Absage an das Berndeutsche. Der Verfasser entschloß sich nur deshalb, hochdeutsch zu erzählen, weil ihm daran lag,diesmal auch denjenigen Lesern entgegenzukommen, die das vaterländische Schrifttum schätzen, das Lesen der Mundart aber zu mühsam finden. Vielleicht gelingt es mir, auf diesem Wege ihre Aufmerksamkeit auch für das zu gewinnen, was ihnen in der eigenen Mundart erzählt wird. Ich habe mich bei der Niederschrift der hier vorliegenden Erzählung von neuem überzeugen müssen, daß wer sich in des Volkes Herzen eingräbt und aus diesem heraus reden will, ohne weitgehende Anpassung an die natürliche Redeweise des Volkes nicht auskommt. Der Teser möge mir deshalb die mitunter etwas rauhe Sprache zugute halten. Zu entschuldigen brauche ich mich wohl nicht. Oder sollten wir es schon so weit gebracht haben in der Verleugnung nationaler Eigenart? Einige dem NichtBerner vermutlich unbekannte oder mißverständliche Ausdrücke sind am Schlusse des Buches erläutert.Bern, den J. September 1916.Der Verfasser. [] Auf einem verwitterten Reitwägelein, das an der Flanke des Lättberges langsam gegen den Bifangsattel hinauffuhr, hockten sinnenden Blickes und mit gesenkten Häuptern zwei wettergebräunte Männer. Das Leitseil hielt der Bauer Engel von der Schniggenen. Sein kahlrasiertes Gesicht war reich an Runzeln, und den Kopf deckte kurz geschnittenes, silbern schimmerndes Haar; aber seine frischen Farben und die sichern Bewegungen ließen vermuten, daß der Mann die sechzig noch nicht überschritten hatte. Neben ihm saß in der Uniform eines Infanteriewachtmeisters der Großrat Fritz Cellenbach. Er füllte seinen mit den Landwehrachselkllappen geschmückten Waffenrock so wohl aus, daß die Knöpfe schwere Anforderungen an die Kraft des Nähfadens stellten. Der Hals quoll rings über den roten Kragen, dessen Enden schon gar nicht mehr zusammenhalten wollten. Ein kräftiger dunkelroter Schnurrbart stand dem blühend roten, von dunkeln Augen belebten Gesicht vsehr gut. Brotsack und Feloflasche trug der Wachtmeister umgehängt, das Gewehr aber und der Tornister mit dem blinkenden Kochgeschirr und dem drallgerollten Kaput lagen hinten im Wagen. Gesprochen wurde nicht viel. Wer die Beiden vorüberfahren sah,[6] mußte aus ihrer Haltung schließen, daß sie in stiller üÜbereinstimmung einer ernsten Sache nachsannen. Und so war es auch. Die Beiden dachten, jeder mit seinen besonderen Gedankengängen, an die Vergänglichkeit alles Irdischen.
CTellenbach war, von seiner Familie gerufen, vierunozwanzig Stunden vor Schluß des Wiederholungsturses aus dem Dienst entlassen worden, um wenn moöglich seinen sterbenden Vater noch zu sehen. Engel hatte ihn in Thun beim Bahnhof getroffen und ihn eingeladen, aufzusitzen und gleich mitzufahren. Die Aufforderung war dem Wachtmeister gerade recht gekommen.So erreichte man rasch sein Ziel und brauchte sich nirgenos mit den Leuten in müßiges Gespräch einzulassen.Eigentlich war Engel verwundert über seines Gefährten vorzeitige Entlassung. Er müsse es zu einem wohlwollenden Kommandanten getroffen haben, meinte der Bauer; sonst sei es etwa Brauch gewesen, daß man nur zur Beerdigung beurlaubt werde. Vernünftiger freilich sei es, einen noch zu Lebzeiten des Sterbenden laufen zu lassen. Begraben könnten diesen auch andere Leute.
„Ja,“ meinte Tellenbach, „wenn so ein Kommandant immer wüßte, ob einer auch wirklich zu sterben käme!Aber da heißt es eben oft, es pfeife einer aus dem etzten Loch, wenn er noch gar nicht ans Sterben denkt.“
Engel aber legte für sich zurecht: Und wenn einer Großrat sei, so gehe es wohl auch leichter mit dem
[7]Urlaub. Ausgesprochen hätte er so etwas in diesem Augenblick nicht, wiewohl er dem Großrat einen Nadelstich hie und da gönnte. Jetzt aber gebot ihm der Gedanke an die schweren Stunden, denen Tellenbach entgegenging, Schweigen. Wenn der Tod an eine Haustüre klopft, so sollen die Fernerstehenden zurücktreten,es sei denn, sie hätten wahren, wirksamen Trostes etwas zu spenden.
Jenseits des Bifangsattels, wo in einsamer Talmulde das Rotwasser aus tannenduntler Bergschlucht ins offene Wiesengelände hinausrieselt, steht das Wirtshaus „zur Linde“, gemeinhin Rotwasserbädli oder auch nur das Bädli geheißen. Wie in alten Zeiten die Raubritter ihre Burgen an begangene Saumpfade hinstellten,um die Transporte der Kaufherren zu plündern, so schlagen in neueren Cagen klug berechnende Wirte ihre Schenken da auf, wo Wege zusammenlaufen und Menschen sich kreuzen, die des Lebens Bedarf zu wandern zwingt. Hier, an der Rotwasserbrücke, einen sich die Wege aus den Tandstrichen nordwärts und südwärts der Stahrenfluh zur Straße nach CThun. Nordwärts der Stahrenfluh breitet sich das wohlbebaute Gelände der Gemeinde Walpersboden aus, und tief im Hintergrunde leuchtet das weiße Kirchlein des an gewerblichen Werkstätten reichen Dorfes Hahnenberg. Nach Süden hin fallen die Walodhänge der Stahrenfluh in tiefe Schluchten ab, und nur vereinzelt liegen größere Höfe auf sonnigen Reutenen. Mühselig winden sich []Sträßlein und Wege durch die schattigen Schluchten in die weit auseinander gestreuten Heimwesen hinauf.
Engels Mähre stand vor der „Linde“ still. So war sie's gewöhnt, und nicht oft in ihrem arbeitsreichen Leben hatte Vater Engel sie an diesem Hause ohne Aufenthalt vorbeigetrieben. Der Wachtmeister stieg ab,während der Bauer Miene machte, nur warten zu wollen, bis sein Fahrgast Tornister und Gewehr umgehängt, um dann gleich weiterzufahren. In Wirklichkeit wußte Engel freilich, daß sich Tellenbach nicht so ohne weiteres von dannen trollen würde; nur war er heute nicht sicher, ob er es seines Vaters wegen eiliger hatte. Wohl drängte es Tellenbach, rasch heimzukommen;aber keinen Büchsenschuß weit hätte er sich von einem aus dem Wahlkreis, am allerwenigsten von einem änet der Stahrenfluh, auf dem Wägeli führen lassen, ohne sich dafür irgendwie erkenntlich erzeigt zu haben. Er ließ Tornister und Gewehr ruhig auf dem Wagen und winkte Engel, abzusteigen. Tellenbach würde auch, wenn er auf seinem eigenen Wagen gefahren wäre, nicht an der „Linde“ vorbeigerasselt sein; denn es war ihm nicht gleichgültig, wie der Wirt an der Rotwasserbrücke von Fritz Tellenbach sprach. Gerade dort wollte er als freier und unabhängiger Mann gepriesen werden, und das geschah nur, wenn er den Brückenzoll in Form eines Halbliters erlegte.
Der Wirt hieß die Beiden willkommen, und alle drei gingen, ohne ein Wort zu verlieren, in die Gast[9] stube, wo alsobald der weiße Waadtländer in den Gläsern blinkte. Man sprach vom Militärdienst, vom Schießen, und der Wachtmeister sagte, er sei nicht mehr der Schütze von ehedem er trug die silbernen Schießlitzen am Waffenrock aber in der letzten Übung habe er doch noch seine drei Fähnler? hintereinander gemacht. Auch der Wirt, ein eifriger Jäger, wußte von schönen Treffern und Pech im Schießen zu reden.Engel hingegen schwieg. Als der erste Halbliter leer war, gab er dem Wirt einen Wink, noch einen zu bringen und sagte kurz und trocken: „Der ist dann der meinige, verstanden ?
Es dauerte nicht lange, so war auch der zweite Halbliter herum, und der Wirt war schon bereit, den dritten zu holen, da sagte der Wachtmeister: „So, jetzt muß ich weiter“ und schob dem Wirt das Geld für beide Halbliter zu.
„Halt,“ sagte Engel, „laß mich, der zweite ist meiner.“Aber weder TCellenbach noch der Wirt achteten darauf.
„Das ist mir nicht recht,“ meinte Engel, „so bring noch einen!“
„Ein ander Mal,“ wehrte Cellenbach, „jetzt will ich heim.“
„Das wird etwa nicht so schrecklich pressieren,“brummte Engel und gab dem Wirt zu verstehen, er solle noch einen halben Liter herbeischaffen. Aber da konnte er wieder einmal feststellen, was sein Wort und was dasjenige des Großrates galt. Ohne weiter von
[2]Engels Worten Notiz zu nehmen, schritt Tellenbach der Haustüre zu, und der Wirt stand da, als erachtete er es für selbstverständlich, daß auch Engel das Feld räume.
Ächzend schnallte sich der Wachtmeister den Tornister an und hing das Gewehr über die Schulter. Dann bot er dem Bauer von der Schniggenen die Hand,dankte freundlich und sagte: „Bhüet dich Gott! Ein ander Mal höcklen wir länger zusammen. Und nichts für unguet.“
Als Engel mit seinem Rößlein nach rechts gegen die Rotwasserschlucht abbog, war der wackere Wehrmann schon ein gut Stück weit auf der Straße nach dem Walpersboden hinaus marschiert, und in regelmäßigem Tempo flimmerte ein Scheinchen Abendsonne auf seinem Käppi und dem messingenen Taufdoeckel.
Jetzt erst, als er so einsam seines Weges schritt,eilten Cellenbachs Gedanken voraus zum heimischen Hof und in des Vaters Krankenstube. Er sah wohl die schwer tragenden Apfelbäume bei den Gehöften,sah die Leute auf Kartoffeläckern arbeiten, Kinder um ein Mottfeuer springen und allerhand anderes, aber er ging achtlos daran vorüber. Eine gute Strecke herwärts des Dorfes Walpersboden aber zog ein Mann seine Aufmerksamkeit auf sich, der wackelnden und doch sicheren Schrittes einherlam. Kaum hatte er des Wanderers untrügliche Umrisse erkannt, so beschleunigte Tellenbach seinen Gang. Er wollte unangeredet an dem []i1
Dorfgenossen vorbeilommen. Es war nämlich der Evangelist Friedli, den die bösen Zungen den Mössliheiland nannten. Tellenbach hatte zwar nichts Besonderes wider diesen braven Mann, der jedenfalls auf dem Weg nach dem Sägessenmoos begriffen war, wo er allwöchentlich einer kleinen Gemeinde heilsbegieriger Leute das Wort Gottes anhand seiner langen Lebenserfahrung aus warmem Herzen und in schlichten Worten auslegte.Aber in diesem Augenblick wäre dem heimwärts Eilenden ein Gespräch mit dem trostreichen Manne gar nicht erwünscht gewesen. Friedli hatte etwas Achtunggebietendes an sich. Er war nicht sehr hoch gewachsen,aber breit und kräftig. Auf den starken Schultern saß,fast ohne Hals, ein schöner, an charakteristischen Runzeln reicher Petruskopf mit hoher, kahler Stirn und einem auf der Brust sich silbern ausbreitenden Vollbart.Gekleidet war er immer in währschaften braunen Halblein. Seine in sanftem Feuer glühenden Augen hefteten sich schon von weitem auf den heimkehrenden Soldaten. Je mehr dieser seine Schritte beschleunigte er ging rechts dem Lebhag entlang desto mehr mäßigte Friedli, der auf der andern Seite der Straße ging, seinen Gang, und als sie sich kreuzten, blieb er mit einem freundlichen „Guten Abenod, Fritz“ stehen.„Haben sie dich laufen lassen? Es steht nicht gut mit dem BühlChristen, wie man hört.“
„Nein, leider nicht,“ antwortete Cellenbach, ohne einen Augenblick stehen zu bleiben.
[14]Friedli war's, als hätte der Wachtmeister das Gesicht abgewendet, um nicht merken zu lassen, daß er Tränen in den Augen hatte. Er setzte sich langsam wieder in Bewegung, nachdem er Tellenbach noch einen Moment nachgeschaut hatte. Da ging Einer mit einem großen Weh im Herzen. Das hatte Friedli gleich gefühlt. Der Mann tat ihm leiod, obschon er sich nicht seiner besonderen Gunst erfreute, und im Weitergehen ließ er seine Gedanken zu Gott fliegen: „Du Vater der Barmherzigkeit, neige dich freundlich zu diesem Manne und lass' dein Licht in seiner Seele aufgehen, sei dem Sterbenden nahe und lass' ihm deine Gnade widerfahren.Amen.“
Diese Gedanken ließen Vater Friedli auf dem ganzen Wege nicht mehr los.
Tellenbach hatte das Dorf glücklich passiert, ohne aufgehalten zu werden. Als er um das letzte Haus bog, überfiel ihn mit eigenartiger Gewalt der Anblick seines väterlichen Hauses. Eine Stadt auf dem Berge,lag der stolze Hof auf dem Saarbühl, einem Vorsprung am Nordabhang der Stahrenfluh. Mächtig überragte die langgestreckte Schindelfirst des alten Bauernhauses die umliegenden Gebäude und Bäume. Nur der Wipfel einer prächtigen Linde reichte noch über das silbergraue Dach. Aber all die dunkelbraune Behäbigkeit verschwand in diesem Augenblick im Feuer der Abendsonne, die in den Fenstern der Giebelfront blitzte wie das Breitseitefeuer einer alten Kriegsfregatte. Es blinkte und [43] glänzte in das weite, grüne Tal hinaus, als ob das ganze Haus in Flammen stünde.
Ach, was wohl jetzt hinter den blinkenden Fenstern vor sich ging? Fritz Tellenbach konnte in seinem engen Waffenrock kaum hinreichend Luft aufnehmen, um so hastig zu gehen. Aber es fiel ihm nicht einmal ein,Kragen und Rock zu öffnen. Kirschrot und schweißgebadet erreichte er endlich die Höhe, von wo die breite Zufahrt zwischen Haus und Stöcklein zum Hof einbog.Alles lag still. NAur Ringgi kam an seiner langen Kette hergerasselt, streckte gähnend die dicken weißen Pfoten nach vorn, als wollte er dem Heimkehrenden eine Verbeugung machen, und versuchte dann einige plumpe Sprünge.
„Schweig, schweig, Ringgi!“ wehrte der Meister und ging mit langen Schritten der Küchentüre zu. Dort warf er Tornister und Lederzeug ab und stellte das Gewehr an die Wand. Auf das Geräusch hin öffnete sich die Cüre zur Schlafstube der Eltern Tellenbach,und Fritzens Frau trat heraus.
„Gott sei Dank, kommst du! Schon den ganzen Tag hat der Vater nach dir gefragt.“
„Wie steht's ?“
„Jetzt schläft er: aber er vermag kaum noch den Atem zu ziehen. Es geht erschrecklich mühsam.“
Schwerfällig und doch behutsam trat Fritz in die dumpfe Stube. Da merkte man nichts von der Lichtflut, die eben noch die Fenster zurückgeworfen. Doch [14] schlich noch ein matter Abenosonnenstrahl der Wand entlang, wo des Vaters Bett stand, und glänzte in den feuchten Augen der alten Mutter, die müde und eingefallen am Fußende der Bettstatt saß und mit angstvoller Andacht die Atemzüge ihres Mannes verfolgte. Mit einem freundlichen Blick reichte sie Fritz die Hand. „Gut, daß d'da bist“, sagte sie leise, während ihr von neuem Tränen über die Wangen liefen. In der Fensterecke saß auf der Wandbank Christian, Fritzens älterer Bruder, ein kräftiger, braungebrannter Bauer mit dunkelbraunem Vollbart und glanzlosem, struppigem Haupthaar. Er hockte gebückt, hatte die Hände zwischen den Knien ineinandergelegt und blickte vor sich hin ins Leere. Den Vock hatte er auf dem Wege zum Saarbühl ausgezogen und saß nun immer noch hemdärmelig in der Stube.
Die beiden Brüder grüßten sich nur mit einem Blick und einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken. Auch die Schwester Lisebeth wurde nicht geräuschvoller begrüßt. Sie stand mit übereinander gelegten Händen am Kopfende des Krankenbettes und ließ ihre Blicke durchs Fenster hinausschweifen. Lange blieb es ganz stille, so daß man nur das Ticken der Schwarzwälderuhr und das gelegentliche Räuspern des Kranken hörte.Als nach etwa einer Viertelstunde der Vater immer noch schlief, sagte Fritz zu Lisebeth: „Ruf mich, wenn er erwacht!“ und ging, gefolgt von seiner Frau, durch []I 1 die Küche nach seiner Stube, um sich umzukleiden.Während ihm die Frau dabei behilflich war, fragte er: „Hat er nichts Besonderes mehr gesagt? Seit wann ist Christian da?“
„Heute Mittag ist er herüber gekommen“, antwortete sie. „Aparte Wichtiges hat er, was ich hoörte, nicht mit ihm geredet. So um die viere herum sagte der Vater: „Ach du mein Gott! Du mein Gott, es ist ja doch alles nichts, alles lätz.“ Sagt es dann dem Fritz auch“. Wir wußten nicht, was er damit meinte, ob er etwas besonderes verspürte oder ob er sonst etwas damit sagen wollte. Später und schon am Vormittag hat er nach dir gefragt.“
„Ist der Doktor dagewesen?“
„Ja, kurz vor Mittag.“
„Was hat er gesagt?“
„Herzwenig. Er werde es nicht mehr lange machen;aber es könne noch ein paar Stunden, vielleicht noch einen Tag oder zwei gehen. Man hat dann dem Pfarrer Bescheid gemacht. Die Mutter hat's haben wollen.“
„Also mit dem Christian hat er nichts besonderes geredet ?
„Nicht daß ich wüßte.“
Während Frau Berta die Uniform ihres Gatten auf die Laube hinter dem Hause hinaustrug, fing der nun in starken, dunkelbraunen Halblein gekleidete Großrat an in den Papieren zu kramen, die sich während seines []4*34
Militärdienstes auf dem Tische angesammelt hatten.Er fuhr damit ungestört fort, bis er in der Küche Stimmen horte. Als er hinaustrat, stand der Pfarrer von Hahnenberg da, ein stattlicher Herr mit blondem Vollbart und goldener Brille vor den tiefliegenden,graublauen Augen. Er begrüßte die Geschwister Tellenbach und Mutter Käthi mit einem teilnahmsvollen,kräftigen Händedruck. Sie unterhielten sich in der Küche über BühlChristens Krankheit, bis Lisebeth heraustrat, und meldete, der Vater habe die Augen aufgeschlagen. Der Pfarrer trat ein und begab sich an das Bett des Kranken, der ihn mit hin und her irrenden Blicken wie einen Fremden betrachtete. Freunolich ergriff der Seelsorger Christens Hand und fragte nach seinem Befinden. Als der Kranke vergeblich nach Worten suchte, sprach ihm der Pfarrer Trost zu. Mit kräftiger, doch freundlich weicher Stimme sagte er frei aus dem Schatze seines Gedächtnisses einige Kernsprüche her und schloß daran ein warmes, herzliches Gebet.Er betete, wie man um das Heil seines liebsten Freundes betet.
Nur die Mutter stand dabei. Alle andern Familienglieder, zu denen sich inzwischen der achtzehnjährige Hansli und das vierzehnjährige Berteli, Fritzens Kinder, gesellt hatten, waren vor der halbgeöffneten Türe stehen geblieben. Die Weiber ließen sich gehen,und als der Pfarrer sagte: „Ob ich schon wanderte im finstern Cal....“, hörte man in der Stube ihr
[17]Schluchzen. Die Mutter hingegen hielt sich tapfer. Es sah aus, als wäre sie mit ihren Sinnen und Gedanken ganz anderswo. Was ihr aber diese ruhige Haltung verlieh, war eigentlich nicht Fassung, sondern jene tiefe Verwirrung, die auf Augenblicke von der Klarheit quälender Gedanken befreit und deshalb eine Wohltat in höchster Not ist.
Der Pfarrer nahm Abschied von dem Sterbenden,ohne zu wissen, ob er von ihm verstanden worden sei.Aber im Augenblick, als er seine Schritte der Türe zuwandte, machte Christen Anstrengungen zu reden.Er arbeitete mit dem ganzen Leibe, und in dieser Anspannung der letzten Kräfte erhielten seine bisher ausdruckslosen Augen wieder einen lebendigen Glanz.Gespannt blickte der Pfarrer auf ihn, während Käthi die beiden Söhne und Lisebeth heranwinkte. Sie glaubte,der letzte Augenblick sei gekommen.
Die drei Geschwister traten an das Sterbelager, indes der Pfarrer hinter sie zurückwich. Die Mutter lehnte sich auf das Fußende der Bettstatt und heftete ihre Blicke angstvoll auf das Gesicht ihres scheidenden Lebensgefährten. Den tiefsten Eindruck aber machte auf den Pfarrer der lautere und demütige Ernst auf den wetterharten Gesichtern der beiden Söhne. Als ob sich etwas in dem alten Manne löste, wurde sein eingefallenes Gesicht, aus dem schmal und wächsern die kühn gebogene VNase hervortrat, heller. Er schien seine Gedanken gesammelt und gefaßt zu haben. Mühsam, aber von Tavel, Die heilige Flamme
7 [15] ganz verständlich sagte er: „Ich muß euch jetzt alles überlassen. Tragt Sorge dazu. Habe zeitlebens genug getan daran, gelt Mutter? Habe hart durchmüssen.Jetzt gibt's der liebe Gott euch. Aber daß ihr's wißt,Haus und Hof ist sein Geschenk, aber das geringste.Daß Er selber drin daheim, ist mehr wert. So wie wir Alten es gehalten damit, so wie wir's gehalten so ........“
Christen blieben die weiteren Worte in der Kehle stecken. Wie er auch danach rang, er vermochte seinen Satz nicht zu vollenden. Unwillkürlich waren ihm alle nähergerückt, als könnten sie ihm damit die Aussprache erleichtern. Er suchte mit der rechten Hand nach etwas,und Fritz, der beweglichere der beiden Söhne, faßte die suchende Hand. Müde blieb sie in der seinen liegen.
Nach einigen bangen Minuten sagte Christen wie aus einem Traum: „den rechten Weg.... rechten Weg ... rechten Weg gangen.“ Er warf einen verwunderten Blick auf die Umstehenden. Dann sank er in sich zusammen, und seine Brust verfiel in ein regelmäßiges, kurzes, hastiges Atmen. Der Pfarrer verließ,von den übrigen nicht beachtet, die Stube. Nur die Mutter schlich ihm nach und wollte ihm vor der Haustüre danken, aber sie fand keine Worte dazu. Schmerzlich zuckend drückte sie ihm die Hand und hörte still weinend zu, als der Pfarrer ihr sagte: „Ja, Mutter Cellenbach, es ist hart, wenn man so auseinander muß,nachdem man in LTieb und Frieden solch langen und []schweren Gang zusammen getan und so vieles ersorgt und erstritten hat. Aber nicht wahr, jetzt wollen wir dran denken, daß wir doch eigentlich in einer andern Welt daheim sind und hienieden alles zu Lehen haben.Den bessern Teil haben wir ja vor uns, nicht hinter uns, und jetzt wollen wir's dem lieben Christen gönnen,daß er vorausgehen darf. Ihr habt's ja gehört, er ist getrost, weil er den rechten Weg gegangen. Jetzt behüt euch Gott, Mutter, lebt wohl und seid getrost.“
Mit beiden Händen hatte Käthi des Pfarrers Rechte gedrückt, und nun blickte sie dem im Dunkel Davoneilenden nach.
Stundenlang atmete der Kranke ohne Stsörung weiter.Die Mutter, Fritz und Lisebeth hatten sich in der dämmerigen, nur durch ein niedergeschraubtes Lämplein erleuchteten Stube in irgend einen Winkel zurückgezogen und kämpften mit dem Schlaf, dann und wann durch ein leises Geräusch oder den Stundenschlag der Uhr aufgeschreckt.
Christian hingegen, der Älteste, hatte die Stube verlassen und saß draußen auf der Laube. Er wollte sich nicht da drinnen vom Schlaf übermannen lassen. Was dem Hause bevorstand, gab ihm viel zu denken. Jetzt kam ja doch, was er schon seit Jahren befürchtet und was ihm eigentlich Cag und Nacht Sorgen machte:die unvermeidliche Auseinandersetzung mit Fritz.
Es war so wunderbar still. Nur der Brunnen da,mitten im Hof, oberhalb des gezüpfeten?“ Miststockes [20] brodelte wie von alters her im Sternenglanz der milden Herbstnacht, und dann und wann fuhr ein leiser Windhauch durch das Riesengebäude der alten Linde,so daß die ersten braun gewordenen Blätter sich lösten und sachte zur Erde niederflogen. War es nicht wie am Baum der großen Menschheitsfamilie, wo eins ums andere sich loslöst, wenn sein Stündlein geschlagen hat und dahinschwindet, ohne daß am Ganzen etwas sich verändert?
Ach, aber hier kam nun etwas ganz anderes. Wer von weit her in die Welt blicken könnte, der würde nichts merken, wenn der BühlChristen dahinging. Aber schon im Tal herum, da würde mancher aufschauen,wenn der geachtete, erfahrene Bauer auf dem Saarbühl die Augen schloß und verstummte. Und erst im Hofe selbst! Du mein Gott! dachte Christian, da wird auf einmal alles auf den Kopf gestellt werden. Die Mutter wird weichen und ins Stöckli hinüber zügeln.Das hätte bis jetzt niemand den Eltern zugemutet.Der Vater war nun einmal der BühlChristen und die Seele des Hauses. Daran änderte das großrätliche Ansehen Fritzens nichts. Nach außen hin trat wohl dieser als der Bühlbauer auf, aber wer in engerem Verkehr mit der Familie stand, wußte genau, daß der Alte sagte, was gehen müsse. Inzwischen freilich hatte Fritz sich auf dem Saarbühl angeharzt. Es ließ sich kaum mehr denken, daß der nun das Feld räumen würde. Damals als Christian, im Bestreben auf eigene
[2]Füße zu kommen, selber vorgeschlagen hatte, er wolle auf ein anderes Heimet ziehen, heiraten und selbst sein Brot erarbeiten, da war es den Eltern wie ein Stein vom Herzen gefallen. Er hatte ihnen eine Sorge abgenommen. Nun konnte Fritz einsitzen, und weil man ihn bald ringsherum als den Erben des Saarbühls betrachtete, so bekam er Zug bei den Leuten. Diese ihm angedichtete Anwartschaft und des Vaters Ansehen halfen ihm in den Gemeinderat und den Großen Rat.Daß er nun binnen wenigen Tagen als BühlFritz das ganze Gewicht des väterlichen Ansehens als Erbe antreten werde, das war nur noch eine kleine Formsache.
Und er, Christian, er blieb nun für immer jenseits der Stahrenfluh, auf der Strubenweid, im engen Bann einer schmalen Reute an steilem Berghang. Seinen gutmütigen Entschluß von damals, der ja eigentlich nicht für Tebenszeit berechnet war, sondern nur bis zum Tode des Vaters, den hatte der BühlChristen mit viel Güte und Freundlichteit belohnt. Wie oft war er herübergekommen! Wie oft hatte er ihm mit Rat und Tat geholfen offenbar um in ihm nicht den Gedanken aufkommen zu lassen, daß er sich selbst in Nachteil gebracht habe.
Aber nun war es so, und es bestand keine Aussicht,das wieder zu ändern. Und doch das hatte Christian oft genug feststellen tsnnen war er, der Erstgeborne,der wahre Träger der väterlichen Üüberlieferung. An die hatte vorhin zweifelsohne der Vater gedacht, als []2*er sagte: „So wie wir Alten es gehalten....“ Er wollte sagen: „So haltet auch ihr's!“ Und was er vom rechten Weg sagte, das bezog sich auch darauf.Er, Christian hatte es erkannt, was des Vaters geheime Kraft, sein Glück war. Sein frommer, einfältiger Glaube, seine Rechtschaffenheit waren des Hauses Grunöstein und Herofeuer. Er, Christian hatte sich das zu eigen gemacht und daran festgehalten, unbekümmert um das Gerede der Leute. Fritz hingegen, bei dem wußte man nie, wie er dachte. So unterm Dachtrauf hielt er auch zu des Vaters Ansichten und wo es etwa sonst noch guten Eindruck machen konnte: aber draußen an Wahlversammlungen und hinterm Wirtshaustisch,da nahm er sauber Abstand von den Stündelern, ja sogar vom Pfarrer.
Christian hätte diesen Gedanken niemandem gegenüber Worte zu geben vermocht. Er konnte nicht reden.Aber gerade desto tiefer durchwühlten sie seine Brust.Auch in Cränen konnte er sich nicht Luft machen. Er mußte alles in sich verwürgen, und nur die feinsten Beobachter hätten es verstanden, in seinen dunklen Augen etwas von dem Herzweh zu lesen, das ihn marterte.
Einmal es hatte an der Kirche in Hahnenberg schon längst Mitternacht geschlagen kam Lisebeth vor die Haustüre heraus. Es ging ein Weilchen, bis sie Christian auf der Laube bemerkte. Sie erschrat und rief mit verhaltener Stimme: „Eh um os Him[23] mels Wille! Bist du da? Jetzt habe ich schon lang immer nachgesonnen, wohin du gegangen seiest, ich habe schon bald gemeint, du seiest gar heim, in die Strubenweid.“
Christian sagte bloß: „Ich hab' nimmer odrin sein mögen.“
„Ja,“ antwortete Lisebeth, „'s geht mir eben auch so.Ich mag bald nimmer zuschauen. Der arme VBater erbarmt mich so. Wenn er nur gehen dürfte. Er hat ja nichts mehr vom Leben, und es kann ihm doch niemand helfen.“
„Weiß schon, warum er nicht fort kann,“ brummte Christian, ohne nach seiner Schwester hinzublicken.„Man hätte ihm etwas abnehmen sollen. Hab's wohl gemerkt, wie seine Augen darum gebeten haben, ich hätt's ihm schon abgenommen; aber.......“
„Was meinst denn?“
„Hast dich nicht geachtet, wie er das Versprechen geheischen, daß wir auf seinen Wegen bleiben, daß wir's halten wollen, wie er's gehalten?“
„Du magst Recht haben. Warum hast nichts gesagt ?“
„Der Fritz hat mir im Weg gestanden. Er hat Vaters Hand gehalten.“
„Aber du bist doch der Ältere.“
„Eben bin ich. Aber was nützt es, wenn ich rede?Von mir weiß der Vater schon längst, daß ich's halte wie er. Aber auf mich kommt es nun nicht an. Wenn [24] der Vater Ruhe haben soll, so muß er wissen, daß es auf dem Saarbühl bleiben wird, wie er's haben wollte.Da muß ein anderer reden.“
Tange schwiegen sie beide. Dann fing Tisebeth wieder an: „Schon wahr, du hast Recht, Christian. Aber schau, du hast mehr Einsicht in solchen Sachen. Wie wär's, wenn du dem Fritz zuredetest, er solle doch dem Vater das zulieb tun und ihm so etwas versprechen?Es kostete ihn doch wohl nicht so viel. Zuletzt und am End hält er's ja doch auch mit des Vaters Meinung.So fände der Vater seine Ruhe, und du dürftest dir hernach sagen, du habest ihm dazu verholfen.“
„Man darf ihn jetzt nicht wecken. Er ertrüge es vielleicht nicht mehr, und dann ..... Vielleicht wenn er die Nacht übersteht und noch einmal zu sich kommt .....“
Lisebeth ging wieder ins Haus. Sie war festen Willens aufzupassen und beim leisesten Anzeichen eines lichteren Augenblicks im Todeskampfe des Vaters die beiden Brüder herbeizurufen.
Fritz schlief mit der Müdigkeit des Soldaten auf der Ofenkunst.
Als Christian sich wieder allein sah, geriet er in Unruhe. Er fühlte, wie recht eigentlich seine Schwester hatte; aber ihm bangte vor dem Augenblick, da er Fritz zum Versprechen drängen sollte. Und dann wenn er ihn dazu brächte nun, es wäre ein selbstloser gottgefälliger Schritt. Aber es wäre wiederum [25] wie damals, als er freiwillig auf die Strubenweid zog. Eine endgültige Abdankung wäre es. Marlisi,seine Frau, brauchte es ja nicht zu erfahren. Verstehen würde sie es niemals. Er selber aber, das fühlte er deutlich, hätte dann einen Gottesfrieden im Herzen,um den ihn die Engel im Himmel beneiden könnten. Aber so ein abgensötigtes Versprechen Fritzens!Nein, wenn er dann zusehen müßte, wie Fritz es damit leicht nähme und trotz allem Versprechen ein leichtfertiger, unfrommer Geist in dem väterlichen Hofe walten würde!
Auf und nieder wogten in des einsamen Mannes Herzen die Entschlüsse und Bedenken. Aber immer heller, wie ein aufgehender Stern, leuchtete in seiner Seele die heilige Freude auf, die über ihn kommen mußte, wenn er dem Bruder zu dem Versprechen und dem Vater zu einem friedlichen Heimgang verhalf.Mochte Fritz dann Wort halten oder nicht, mochte ihn selbst der Verzicht schmerzen, seinen Frieden hätte er für immer.
Christian war ein so keuscher, einfältig denkender Mensch, daß er's nicht über sich brachte, seinen Gefühlen in einem in Warte gefaßten Gebet Tuft zu machen. In einem verschlossenen Gaden hätte er es getan. Aber hier hemmte ihn die Befürchtung, es möchte jemand herauskommen, leise, wie vorhin CLisebeth, und ihn belauschen. Aber Worte oder nicht Waoarte, Christians Seele brach in ein Gebet aus. Er []V saß da mit gefalteten Händen. Wo seine leiblichen Augen hinblickten, hätte er selbst nicht sagen können,aber seines Geistes Augen suchten den lebendigen Gott,und sein ganzes inneres Wesen schrie zum Vater des Friedens um Kraft zur Überwindung, um Frieden für seinen sterbenden Vater und endlich um Kraft und Weisheit für seinen jüngeren Bruder.
Jählings schrak Christian auf. Was war das? Ein Winöstoß, kräftiger als alle bisherigen, fuhr durch die Linde, Blätter raschelten. Der Brunnen stockte und sprudelte schneller. Und drüben im Pferdestall gab's Unruhe. Ein Pferd mochte aufgestanden sein. Dumpfer Hufschlag erscholl, und eine Kette rasselte. Noch blickte Christian aufgescheucht nach den Stalltüren, da ward es auch drinnen in der Stube lebendig. Man hörte Schritte. Die Türe ging. Hastigen Schrittes kam Lisebeth unter die Haustüre, winkte Christian und flüsterte etwas von Röcheln und Ersticken.
Christian stand auf und ging hinein. Die Mutter hielt an Christens Bett die Lampe hoch. Fritz stand wie betäubt neben ihr, und als Christian zwischen sie trat, blickte er auf das eben erloschene zusammengezogene Antlitz seines Vaters.
Gott hatte sein Amen zu Christians Hilferuf gesagt.
Bald glättete sich das edle Angesicht des Bühlbauers,während die Seinen in Cränen und lautes Weinen ausbrachen, sich unwillkürlich bei den Händen faßten und des Heimgegangenen friedevolle Züge betrachteten.
[27]Dann kam die Unruhe über die Frauen, sie fingen an die Leiche herzurichten, weckten das Gesinde, und hielten mit den beiden Söhnen Rat, was zu geschehen habe.
Lisebeth hatte es eilig, das Tüchlein, womit sie des Entschlafenen Gesicht abgewaschen, um den Stamm eines Lieblingsapfelbaumes zu binden. Jemano sagte,man sollte so bald wie möglich die Bienenstöcke drehen;aber es war noch finster, und niemand hatte Tust dazu. Die Bienen hatte der Vater immer selbst besorgt, mochten sie nun eingehen, was verschlug's?
Über dem Herrichten, Ordnungschaffen, Beraten verstrichen die frühen Morgenstunden, und der Tag brach an. In den Tannenwäldern der Stahrenfluh hatte sich der Nebel verfangen, und strich, ohne vom Fleck zu kommen, über den Mulden und Krächen? hin und her. Christian hatte es übernommen, die Nachricht vom Code des BühlChristen nach Hahnenberg zu bringen und mit dem Pfarrer das Begräbnis zu verabreden, während Fritz in den Walpersboden zum Ziviliger? ging und den Totenbaum' bestellen sollte.
Die Mutter war wie betäubt. Aber wie. oft Lisebeth zu ihr sagte: „Mutter, bleib sitzen! Mutter, halt dich stillt Wo willst jetzt wieder hin?“, sie konnte nicht müßig zusehen und machte sich allerhand zu schaffen, woran sonst niemand zu denken schien. „Geh,Mutter,“ mahnte Lisebeth wieder, „leg dich doch ein wenig hin, derweil ich zur Sache sehe. Hernach kannst [280] du dann tun, was dir gut scheint, wenn ich fort bin.Ich muß doch auf einen Augenblick heim zum Mann,ihm Bescheid machen und mich anders anziehen. Auf den Abend bin ich dann wieder da. In die Strubenweid hinauf könnte Hansli. Marlisi sollte doch wissen,daß der Vater gestorben ist, bevor Christen.....“Lisebeth fing wieder an zu weinen, sie konnte das Wort „gestorben“ noch nicht aussprechen, ohne den Halt zu verlieren.
Fritz schritt mit einem ganz eigenartigen Gefühl in den Walpersboden hinunter. In den tiefen Schmerz um des Vaters Hinscheid mischte sich, ohne daß er sich dessen klar bewußt gewesen wäre, das beinahe freudige Gefühl wachsender Autorität und Selbständigkeit.Das war ja gewiß: einer besonderen Proklamation bedurfte es nicht mehr. An BühlChristens Stelle trat ohne weiteres BühlFritz. Vor ihm schwand etwas wie eine Schranke, und ein freierer Horizont umgab ihn nach allen Seiten. Wohl lag darin eine gewisse Kälte. Man konnte aber diese Kälte auch als erfrischenden Luftzug empfinden. Und wenn nun der tatenfreudige Wille zu allerhand gutem, gemeinnützigen Wirken, der Fritz schon seit Jahren beseelte, in seinem zwischen Schmerz und frohem Hoffen schlagenden Herzen aufflammte, so kam eine stolze Freudigkeit über den kräftig ausschreitenden Mann, eine Art patriarchalisch wohlwollenden Herrschersinnes. Ein seltsames Gemisch von Heimweh, unendlicher Güte und vornehmem
[29]Stolze wogte in seiner Brust wie das Nebelgewölt über den Tannenspitzen.
Christian wanderte versonnen dem Pfarrhause zu.Als die Turmuhr eine Stunde schlug, zuckte sein Herz zusammen. Er hätte nicht sagen können warum, und doch war das leicht erklärlich. Christian war seit langer Zeit nicht mehr nach Hahnenberg herunter gekommen. Die Strubenweid gehörte zur Kirchgemeinde Rotenbalm. Darum klang ihm die Glocke von Hahnenberg wie ein wehmütiger Gruß aus alter Zeit, aus einer Zeit, da ihm der Vater ein und alles gewesen.Und jetzt weckte ihr Con plötzlich das volle Empfinden des Verlustes, des Abgeschnittenseins von der Scholle,in der er eben doch angewurzelt blieb und wenn das Weltmeer ihn davon getrennt hätte.
Aber da stand er auch schon vor der Türe des Pfarrhauses. Der Pfarrer hatte ihn kommen sehen und ging ihm entgegen mit der Frage: „Ihr werdet mir doch nicht etwa sagen, der Vater Tellenbach sei gestorben ?“
„Eben just, Herr Pfarrer,“ sagte Christian, „heut morgen, kurz vor ein Uhr.“
Der Pfarrer erkundigte sich nach den letzten Augenblicken des Verstorbenen, nach der Mutter, und sprach mit großer Liebe und Anerkennung von BühlChristen,den so viele Teute schwer vermissen würden.
Christian blieb wortkarg, aber trotz seiner Unbeholfenheit verriet sich sein Dankbarkeitsgefühl in Ton und
[30]Mienen. Als sie das Begräbnis verabredet hatten,fragte der Pfarrer, ob Christian oder seine Angehörigen noch einen besondern Wunsch in bezug auf das Teichengebet hegten. Da kam es stockend über des Bauern bärtige Tippen: „Em .... dürfte ich etwas sagen, so wäre es mir aus dem Herzen gesprochen, wenn der Herr Pfarrer etwa das Woart antönen wollte: „Ich weiß, daß mein Erlõser lebt.“
Der Pfarrer sah erstaunt auf. Hatte er einen Mann vor sich, der in der Heiligen Schrift zuhause war?Gehörte er wohl zu der kleinen Herde des Evangelisten Friedli? Vom Kirchenbesuch her kannte er ihn nicht.Es lebt also dort noch etwas in den Herzen, sagte er sich mit Genugtuung. Diese Überlegung flog blitzschnell durch seinen Kopf, so daß Christian kein Zögern in des Pfarrers Antwort auffiel. „Schön,“ sagte der Pfarrer, „davon will ich gern reden.“
Einen Augenblick sah es aus, als wollte Christian noch etwas zur Begründung seines Wunsches sagen.Aber ein unbestimmtes Gefühl ließ ihn befürchten, es könnte Unerwünschtes entstehen, wenn er dem Pfarrer verriete, was ihm diesen Spruch ins Gedächtnis gerufen hatte. Daß mit des Vaters Erlösung aus der Not des Erdenlebens ihm selber eine Erlösung widerfahren sei, brauchte niemand zu wissen. Fritz sollte es auf andere Weise merken. Dann erst würde des Vaters Hoffnung recht erfüllt werden. Christian dankte dem Pfarrer und ging seines Wegs.
[11]Pfarrer Harotmut hatte an dem unbeholfenen Mann ein warmes Interesse gewonnen und machte sich mit aufrichtiger Ceilnahme an den Entwurf der TLeichenrede, die ihm Gelegenheit bot, zu einem gewichtigen und zahlreichen Teil seiner Gemeinde zu sprechen.
Das Leichengebet gestaltete sich zu einer Feier, die nicht so schnell vergessen wurde. Dicht gedrängt in großem Kreise stand die Trauergemeinde zwischen Haus und Stöckli. Unterm Vorscherm neben der Haustüre war der Sarg aufgestellt, mit einigen Blumen und Kränzen geschmückt. Die schlanke Gestalt des Pfarrers stand unter der Linde. Vom blaßblauen Herbsthimmel überschüttete die Mittagssonne alles mit wehmütig freundlichem Glanze. Der Pfarrer sprach mit großer Wärme und schlug mit eindringlichen Worten an die Herzen.
Als er geschlossen, hoben untersetzte Gmeindsmannen den Sarg auf die Schultern und trugen ihn gemessenen Schrittes gegen Hahnenberg hinunter. Hinter ihnen gingen die beiden Söhne mit ihren Knaben, der Tochtermann Schwander und in langem schweigsamem Zug das zahlreiche übrige Geleite, die Frauen hinter Käthi,Lisebeth und den Sohnsfrauen. TCieftraurig sah es im verlassenen Hofe aus, als die letzten Leidtragenden daraus verschwunden waren. Die Linde schüttelte, von keinem menschlichen Auge beachtet, eine Menge dürrer Blätter über Hof und Dächer, und hinter der Türe des Wagenschopfes heulte in langen Tönen der dort [32] vergessene Ringgi. Von fernher hörte man den letzten Willkommensgruß, den die Kirchenglocken dem heimtehrenden BühlChristen zuriefen, dem Manne, der aus Dankbarteit für das von Gott empfangene Gut ein vorbildlich treuer und fleißiger Bauer gewesen.[]Ij.
Es ging gegen Ende November. Seit drei Wochen hatte das trostloseste Regenwetter nur auf kurze Stunden ausgesetzt, so daß das Rotwasser in wildem Ungestüm schmutzig gelbe Fluten durch seine zwischen Nagelfluhbänken tief eingeschnittenen Schluchten wälzte und die Wiesen drunten im Walpersboden mit wüstem Geschiebe bedrohte. Aber vom Bifangbädli abwärts brauchte keinem Bauer bange zu werden. Dort hatten schon vor alters vorsorgende Regenten und Bauern sich die Hand gereicht und das wilde Wasser in jahrzehntelangem, schwerem Kampf gebändigt. Sein Bett lag heute in einem schützenden Schachenwald zwischen Dämmen, und die schäumenden Wellen mußten die Geschwindigkeit ihres Laufes durch Schwellen und Sporren bestimmen lassen. Dies alles hatte das heutige Geschlecht so übernommen und dachte auch nicht einen Augenblick mehr an diejenigen, die einst diese Sicherheit der Natur abgetrotzt. Ja, die Bauern, deren Äücker an den Schachen? stießen, hätten sogar in Verwunderung und Entrüstung aufgeblickt, wenn jemand sie an die auf ihren Gütern haftende verbriefte Schwellenpflicht erinnert hätte.von Tavel, Die heilige Flamme
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[0]Vom Bädoli aufwärts, im großen Tugikrachen und seinen zahllosen und weitverästelten Rebengräben, ließ man die Wasser toben, wie es ihnen gefiel.
Engel, der Schniggenenbauer, stand in düsterer, nebliger Morgenfrühe vor seinem Hause. Das Knechtlein hatte ihn herausgerufen, und nun spähten sie beide nach dem Gyrgaden hinüber, von wo man ab und zu ein seltsames Knacken, Knirschen und dumpfes Rauschen hörte. Die beiden kannten das Geräusch von früher her und wußten, was es bedeutete. Der Knecht machte sich nichts draus; aber dem alten Engel schnitt es tief in die Seele, denn er wußte, daß dieses Knacken den allmählichen Ruin seines Nachbars bedeutete. Trotz des nebligen Wetters erkannte man am gegenüberliegenden Waldhang jenseits des Rotwassers eine Reihe von Tannen, die kreuz und quer übereinander lagen,mit den Wipfeln im Schaum des Bergwassers. Die Wurzeln waren mit breiter Erdomutte? losgerissen und starrten auf einem sumpfig triefenden Schlipf in die regenverschleierte Luft.
„Es kommt noch mehr herunter,“ sagte der Knecht.Und alsobald entfuhr es beiden: „Ho, ho!“
Wohl ein halbes Dutzend weitere Cannen rutschten,schwankten und überschlugen sich, während mit dumpfem Brausen eine breite Erdmasse nachstürzte und aufplatschend in dem gestauten Bach verschwand.
„Der arme Gläis!“ sagte Engel zu seinem Knecht.„Komm, wir wollen hinunter an den Bach. Vielleicht [35] gibt's was zu helfen. Nimm eine Art mit und gib mir die Reuthaue.“
Als sie ans Wasser kamen, sahen sie am andern Ufer den langen, dürren Gläis stehen. Triefend naß stand er da in seine Holzböden gepflanzt und verfolgte mit stierem Blick, die Hände in den Hosentaschen, den fortschreitenden Einsturz seines Waldes. Sobald er Menschen in der Nähe fühlte, schien er aus einer Betäubung zu erwachen.
Engel rief ihn an, er wolle mit seinem Knecht hinüber kommen, unten herum, wo ein Steg über eine enge Kluft zum Gyrgaden führte. Sie wollten ihm helfen wenigstens das Holz festzumachen, damit nicht das wütende Wasser noch die Beute entführe und damit Stege und Brücken niederreiße.
Gläis schien nicht darauf zu achten. Mit wilder Gebärde hob er die Fäuste in die Tuft, fluchte und wetterte, der Teufel solle doch gleich den ganzen Wald herunter räumen und das Hüsli und Weib und Kind und War o damit, so wisse er hernach auch, woran er sei.
Ja, der Gyrgaden! Das Gütlein bildete in der Gabel, wo das Rotwasser und der Gschneitbach zusammenflossen, einen flachen Buckel, ganz in der Ciefe des Cobels. Hinter dem alten Hause stieg die bewaldete Berglehne gegen Morgen steil und so hoch empor,daß das GEyrgadenBödeli um ganze zwei Stunden Tageslicht zu kurz kam. Zum Heimetli gehörte von dem anstoßenden Bergwald nur ein steiler schmaler
[26]Streifen längs des Rotwassers. Dort standen freilich die schönsten CTannen; aber sie waren nur unter Lebensgefahr und mit unendlich mühevoller Arbeit herauszuholen. Als Gläis das Heimwesen kaufte, war er von Engel gewarnt worden. Es sei den Preis nicht wert und vermöge eine große Familie nimmermehr zu ernähren.Aber die lächerlich kleine Anzahlung, die er zu leisten hatte, lockte Gläis. Redete man ihm zu, er werde die Hypothekarzinsen nicht erwerken können, so lächelte er pfiffig und zeigte auf die schönen Cannen am Berghang. Dort werde er die Zinsen schon heraushauen.Gläis wollte auf eigenen Grund und Boden kommen,und wär's eine nackte Moräne am Kühlauenengletscher gewesen, er hätte das Heimetli erstanden. Kaum war er darin eingezogen, sah er sich schon gensötigt, sich nach Holz umzusehen, um Geld zu machen. Da sagte ihm Baumann, der Bannwart: „Schau, die und die darfst nicht schlagen, und dort den Riemen mit dem niedern Holz mußt auch stehen lassen, sonst, so wahr ich der Bume Kari bin, gheit i dir eines schönen Tags der ganze Riemen mit allem, was orauf steht, ins Rotwasser. Siehst, da drunten ist alles ausgeschwemmte Nagelfluh. Das Härdlin ist gar grüsli dünns, und wenn du da unten anfängst aufzutrennen, so kommt alles ins Rutschen.“ Der Bannwart kannte die Struktur des Grabens und sprach aus Erfahrung. Aber GyrgadeGläis wollte es noch besser wissen, ging hin und hieb aus, nicht wo es ohne Schaden geschehen konnte,[37] sondern wo es am „ausgiebigsten“ war. Und als ein Winter drüber gegangen war, tat's den ersten Rutsch.Gläisens Geldnot aber nahm nicht ab, um so weniger,als sein Kopf auch von Nagelfluh war und keine guten Räte Wurzel schlagen ließ. So nahm er vorweg, was an Tannen zu erreichen war. Schlug er eine, so warf ihm das Wasser drei, und zuletzt kamen sie, wie heute,dutzendweise mitsamt dem Eroreich, und auf die blankgescheuerte Nagelfluh hätte ihm auch der Teufel, den er so häufig anrief, nichts mehr pflanzen können.
Engel und sein Knecht kamen über die Wiese hergestapft. Kaum hatte Gläisens Frau, deren wohlgenährte Gestalt in einem schwer erklärlichen Gegensatz zu der ihres Mannes und des Heimwesens stand, die beiden erblickt, so kam sie vom Hause heruntergelaufen und hinter ihr her ein ganzes Rudel ungewaschener, barfuß gehender Kinder. Sie alle wollten hören, was Engel zu der Bescherung sagte. Aber keines vernahm seine herben Worte gern, am allerwenigsten Gläis, als der alte wohlmeinende Nachbar ihm sagte: „Hättest du auf den Bannwart gehört! Jetzt hast's! Dein Hölzli kannst ins Kemins schreiben.“
Gläis holte zu einem schrecklichen Fluch aus und lamentierte: Ihr habt gut raten. Wovon soll ich leben? Frau und Kinder wollen gekleidet sein und gefressen haben. Oder soll ich sie blutt!““ herumlaufen lassen, he? Macht, daß ihr hinaufkommt!“ unterbrach er sich, als er der Kinder gewahr wurde, und schlug [30] mit der flachen Hand nach den Nächststehenden, so daß das ganze Völklein in jäher Flucht davonpfoselte. Dann fuhr er fort: „Soll ich die Tannen auf dem Stock verfaulen lassen? Das ist eben das Verfluchte. Unsereiner soll nichts haben, und wenn er endlich einmal etwas sein eigen nennt, dann darf er's nicht brauchen. Luegten sie z'Bern nide nur halb so zu uns hinter der Stahrenfluh, wie sie denen vor dem Berg zu Diensten sind,so wäre hier längst aufgeforstet und verbaut worden.Aber das ist der Teufel, vornache haben sie ihrer zwei im Großen Rat hocken, und hier hinten hat niemand was zu sagen.“
Engel meinte, da sei wohl etwas daran, aber die beiden Großräte vor dem Berg hätten auch die Sache derer hinter der Fluh zu vertreten. Und wenn sie es nicht täten, so stehe nirgenos geschrieben, daß man nicht endlich einmal einen von hienache wähle. Das ließe sich dann gschauen.
Bis dahin sei dann wohl der jüngste Cag um,brummte Glaäis; aber Engel schnitt ihm das Wort ab,indem er fortfuhr: „Ich sehe wohl, daß jetzt schon etwas gehen sollte. Weißt, Gläis, zu retten gibt's da nichts mehr. Den Wald hast verdonnert; aber vielleicht wenn sie 3Bern sehen, daß es wachsenden Schaden gibt, so müssen sie wohl oder übel das ganze Grütsch bis an den Ibachgraben kaufen.“
Da spitzte Gläis die Ohren.
„Ja,“ fuhr Engel fort, „und da muß man gleich [39] derhinger. Wir lassen die ganze Bescherung liegen. Die beiden Großräte müssen her, sie zu beschauen, und wenn wir an den Ohren sie zuecheschryßen müßten. Her müssen sie, ich steh dir gut dafür.“
In Gläisens Nagelfluhschädel brach eine Morgenröte an. Das ganze Grütsch verkaufen an den Staat!ob er gleich heute noch zu BühlFritz sollte, fragte Gläis seinen Berater.
„Nein,“ sagte der, „da laß nur mich machen. Schau,das will mit Verstand angefaßt sein.“
Engel kannte seine Leute, und wenn er auch im politischen Leben niemals hervorgetreten war, so hatte der kluge Bauer doch schon manchen feingesponnenen Faden bloßgelegt, manchen zerschnitten, manchen zusammengeknüpft, ohne daß die führenden Männer es gemerkt hatten. Auch den Betrieb hinter den Kulissen von Großrat und Regierungsrat hatte er ausgespäht.Er wußte, daß die Fraktionen sich dankbare Anregungen streitig machen, um erfolgreiche, den Parteien wohlanstehende Motionen daraus zu schmieden, daß aber Postulate, die wegen ihrer finanziellen Folgen dem budgetbrütenden Regierungsrat unerwünscht sind und nur einem geringen Teil der Bevölkerung NAutzen bringen, nicht leicht ihren Götti“* im Ratssaal finden.Die Verbauung und Aufforstung des Tugikrachens mußte, wenn etwas draus werden sollte, erst ein wenig aufgeputzt und verallgemeinert werden. Um Gyrgade Gläisens willen würde kein Ratsherr einen Wank tun.[]4*
Gläis mußte vorderhand in die Versenkung und durfte nur als Bauer und Grunobesitzer mitgezählt werden.Dann mußte eine möglichst große Zahl von Bauern beigebracht werden, die ein Interesse an der Sache hätten. Was nun den „Götti“ betraf, so hatte Engel auch hierin seine Gedanken. Weder der Vertreter der „Schwarzen“, der Herr Major Senno auf Schloß Hahnenberg, noch der Weiße BühlFritz würde sich aus eigenem Antrieb für das Projekt erwärmen. Aber Engel wußte, daß BühlFritz auf Gegenstände erpicht war, die ihm Gelegenheit boten, einmal mit einer Motion Tellenbach aufzumarschieren, und wenn er sich damit den jenseitigen Teil seines Wahlbezirkes sichern konnte, so würde er schon mit sich reden lassen. Damit er aber desto sicherer auf den Köder biß, mußte sein Kollege von der schwarzen Fraktion als Konkurrent hinter die Sache gereiset werden. Dann wußte Engel noch einen Schachzug. BühlFritz sollte nicht direkt um Vertretung der Sache angegangen werden. Viel ratsamer war es, das Projekt in Gegenwart des Bühlbauers seinem Konkurrenten, dem Moser auf der Herti, ans Herz zu legen, der bei der letzten Wahl Fritz Tellenbach gegenüber knapp unterlegen war. Das würde dann den Bühlbauer schon auf die Beine bringen.
Diesen Plan sich ausdenkend, stieg Engel schweigsam vor seinem Knecht her den Berg hinan, der Schniggenen zu.
Tags darauf ein kalter Westwind jagte graue
[41]Regenschleier mit Schnee untermischt ins Tal klingelte am Kramladen zu Walpersboden ein Mägolein.Klingeln ist zu schön gesagt, denn das Klirren des lockeren Drahtes machte viel mehr Lärm, als das kleine Glöcklein. Die vom Regen benetzte auffallend schlanke Hand war rot angelaufen und zitterte beinahe, ob von der Kälte bloß, oder weil aus des Herzens heißer Zentrale dazu ein Wink ergangen wer weiß das?Bescheiden und scheinbar harmlos trat das Mäochen in den nach Malzzucker duftenden, wohlgeheizten Laden.In einer Fensterecke hinter dem Tadentisch saß ein verbeulten und verklerten Schreibpult. Er drehte mühsam den kahlen Kopf auf dem wulstigen Nacken und zeigte der Eintretenden sein wie mit einem feinen Gewebe von blauen und roten Fäserchen übersponnenes,schwammiges Gesicht. Über die altmodische Brille weg blickte ein Paar wässerig blauer Augen das Mädchen forschend an, ehe die schlaffen Lippen sich öffneten und zwischen einem Rechen gelber Zähne hindurch die griesgrämige Frage kam: „Was willst?“
Das Mädchen brachte seine Wünsche vor. Erst jetzt schien der Krämer die Käuferin zu erkennen. Er nahm die Brille von der Nase, wobei die Wülste, die unter seinen Augen hingen, in ihrer feuchten Röte zum Vorschein kamen. „Grüß dich wohl, Züseli, sieht man dich auch wieder einmal hienache dem Berge?“ Aus dem Con seines Grußes ließ sich ein Interesse erraten, das [42] der alte Buri nicht jedem seiner Käufer entgegenbrachte. Und das Interesse galt nicht bloß dem Züseli,es ging über das Mädchen hinweg auf die Teute,welche es hierher gesendet. Das wußte Züseli, und es wußte, daß derjenige, der es zum Krämer in den Walpersboden geschickt, auf dieses Interesse gerechnet.Züseli hatte eine diplomatische Mission, an deren Gelingen ihrem Auftraggeber hundertmal mehr gelegen war, als an dem Pfund Kaffee und den andern Sachen, die es in sein Körbchen versorgte. Es wußte,daß der Krämer seiner Gewohnheit gemäß, nach Züselis Stiefvater, Christian Tellenbach auf der Strubenweiod,fragen würde, und wenn er wider Erwarten diese Frage vergessen sollte, so hatte es sie herauszufordern. Buri machte ihm die Sache leicht. Ganz, wie vorausgesetzt,fragte er, während er den Kaffee in die graue Düte schaufelte und wog: „Was macht der Elter ?“n0 „Dankheiget, es ist nichts zu klagen,“ sagte Züseli auftragsgemäß,“ wenn schon nicht immer alles kommt,wie man's gern hätte, so ist doch Grund genug da,Gott zu danken. Andere sind übler dran. Dem Gyrgade Gläis ist gestern ein ganzes Stück Wald in das VRotwasser gerutscht. Der arme Mann kann einem leid tun.“„So, so? Der wird auch nicht am gescheitesten gewirtschaftet haben dahinten. Da ist bös helfen.“„Eben, so sei's, sagt der Elter. Sie wollen neuis im Bädli Rat halten. Der Engel von der Schniggenen hat es berichtet. Und jetzt soll ich gleich noch in die
[43]Herti hinüber, dem alten Moser Bescheid machen. Der SchniggenenBauer hält gar große Stücke auf Mosers Rat.“
„So, Züseli, da hast du deinen Kaffee,“ sagte der Krämer, als ob er nur das Rieseln der Kaffeebohnen und das Knistern der Papierdüte gehört hätte. Beinahe war Züseli im Zweifel, ob es auch deutlich genug gesprochen. Aber, so schien ihm, überhört haben konnte Buri seine Mitteilung doch nicht.
Sie sagten sich Bhüet Gott, und schon klirrte der Glockendraht vom Offnen der Türe. Da fuhr ein Wirbel von Schneeflocken in den stickigen Kramladen. Man hätte glauben können, das hätte dem Krämer einen Einfall gegeben; aber es war in Wahrheit nur die stille Überlegung, die eben jetzt eine Berechnung Buris zur Reife brachte und ihn das Mägochen wieder hereinrufen ließ.
„Hör, Züseli,“ sagte er freundlich, „wenn du doch in die Herti hinüber willst und hernach heim, auf die Strubenweid, so mußt ja wieder hier vorbei. Was willst denn deinen Korb mitschleppen?“ Damit nahm Buri dem Mädochen den Korb ab und fuhr fort: „Schau,da in die Ecke stelle ich ihn. Wenn du wieder kommst,so kannst du ihn nehmen.“
Züseli ging darauf ein. Noch einmal beim Krämer einzukehren, konnte ihr nur von Vorteil sein. Sie dankte und huschte in das Schneetreiben hinaus, der Herti zu.[]4*
Der Alte hatte erreicht, was er wollte. Er hatte Zeit gewonnen zum Überlegen und die Gelegenheit,seinerseits Züseli einen Botendienst aufzutragen, falls es ratsam erscheinen sollte.
Potz Wetterwille! Das war klar. Wenn im Bädli etwas abgekartet werden sollte dazu noch mit dem Hertibauer dann mußte BühlFritz heute noch Bericht haben. Buri, der vor Jahren das ans Saarbühl grenzende Ladenwandgut sein eigen genannt und bebaut hatte, war des alten BühlChristen geheimer Rat und Busenfreund gewesen. Und als er sich ins Dorf zurückgezogen und die Krämerei übernommen hatte,ward der Laden zur Aufnahmestation der drahtlosen Telegraphie für Saarbühl. Buri übertrug seine Anhänglichkeit an den alten Christen auf dessen Sohn.Er war es, der seine Wahl in den Großen Rat durchgesetzt, und als Christen seine Augen geschlossen, fühlte Buri aus Pietät sich verpflichtet, nun erst recht BühlFritz zur Seite zu stehen.
Aber so unauffällig, wie Buri sich einbildete, war seine Freundoschaft zum Saarbühl nicht geblieben. Auf der Strubenweid und in der Schniggenen wußte man genau, daß eine Meldung in den Kramladen so viel bedeutete, wie ein Bericht auf Saarbühl. Darum waren Engel und Christian Tellenbach eins geworden, Züseli um Kaffee aussuschicken.
Warum Christian nicht selbst an seinen Bruder berichtete? Nun, er ließ sich ja von Fritz manches [45] gefallen, aber daß er ihm als Großrat huldigen sollte,das konnte niemand von Christian verlangen. Und wenn Fritz nun schon auf allerlei Weise Vorteile ergattert, über die sich unter Brüdern rechten ließe, so brauchte er doch nicht zu meinen, der Erstgeborne sei neidisch auf ihn und es nehme ihn grüslich wunder,wie es auf dem Saarbühl zugehe. Darum war es ein seltenes Ereignis, wenn jemand von der Strubenweid dort vorsprach. Das Züseli würde man zu allerletzt hinsenden. Es galt auf dem Saarbühl als ein lästiges Anhängsel, das Marlisi aus seiner ersten Ehe dem Christian mit ins Haus gebracht. Schon die Großeltern hatten es wie ein Verdingkind betrachtet, und diese Geringschätzung hatte sich bei Fritz und seiner Frau noch vertieft. Auf der Strubenweid hingegen war das Züseli der Sonnenschein. Ein stilles, liebes Kind, war es allen ans Herz gewachsen, und weil der Schulmeister in Rotenbalm große Stücke auf das Meitschi hielt, so galt es daheim nicht wenig. Je mehr man es auf dem Saarbühl demütigte, desto inniger ward es von Christian und der Mutter ans Herz geschlossen.
Der Krämer wußte viel und hatte manches erraten,aber in Züseli hatte er auch nie etwas anderes gesehen als so eine Art Verdingkind. Warum also hätte er es nicht zu BühlFritz geschickt, um sich selber einen Gang durch das Schneegestöber zu ersparen? Buri setzte sich hin und schrieb ein Brieflein an den Groß[4] rat, schob es in einen unverhältnismäßig großen Umschlag und legte denselben auf Züselis Korb.
Es ging schon gegen Mittag, als endlich das Mädchen wieder klingelte.
„Hör, Züseli,“ ward es in beinahe zärtlichem Con empfangen, „du könntest mir einen großen Gefallen tun, wenn du diesen Brief im Vorbeigehen auf dem Saarbühl abgeben wolltest. Du ersparst mir einen Gang und dir machts keinen großen Umweg.“
Züseli schien nicht erbaut von diesem Auftrag. Es kehre dort nicht besonders gern ein, sagte es, aber wenn es sein müsse und sonst niemand zur Hand sei, so wolle es mira“ gehen. Als Botenlohn legte Buri dem Mädochen eine Strange Garn ins Körblein.Züseli wehrte ab, das mangle es nicht, es gehe ja schon, wenn es dem Krämer damit einen Dienst leiste.Als Buri darauf beharrte, nahm es das Garn mit schicklichem Dank und ging.
Bergan eilend sann Züseli über die Sache nach.Einen Augenblick stand es in Versuchung, mit dem Brief erst in die Strubenweid hinüber zu steigen, ihn dem Stiefvater zu zeigen und ihn zu fragen, ob es ihm auch recht sei, wenn es ihn auf das Saarbühl trage. Dann aber erinnerte es sich seiner Mutter, die einmal gesagt, wenn man zwei Wege vor sich habe und nicht wisse, welches der tugendhaftere sei, so solle man denjenigen wählen, der einem am meisten zuwider sei. So ging es denn mit Widerstreben zum
[47]Saarbühl hinauf, hoffend, es werde ihm jemand vom Gesinde den Brief abnehmen, damit es nicht bei Fritz oder gar dessen Frau eintreten müsse. Als es auf die Höhe kam und neugierig seine Blicke in den Hof schweifen ließ, entfiel ihm beinahe das Herz. Mitten auf der Zufahrt hielt der junge Hans einen stattlichen Gaul, während der Tierarzt von Hahnenberg an dessen einem Knie herumtastete. Und trotz des unwirschen Wetters stand die ganze Familie um das schöne Cier herum. Da half also nichts, Züseli mußte unter die Saarbühler. Schüchtern trat es hinzu, nahm seinen Brief unter dem Tuch hervor und gab ihn dem großrätlichen Stiefonkel. Bis zu diesem Augenblick hatten sie alle nur Augen für das Pferd gehabt und die Hinzutretende gar nicht beachtet. Jetzt fühlte Züseli plötzlich aller Blicke neugierig auf sich gerichtet. Besonders neugierig, so kam es ihr vor, betrachtete sie der Bühlbauer selber, nachdem er die Schriftzüge der Aodresse gesehen.
Schon wollte Züseli wieder das Weite suchen, als Fritz Cellenbach sie mit der Frage zurückrief: „Was machen sie droben in der Strubenweid? Man hört ja gar nichts mehr von Euch.“
Dann trat die Großmutter herzu und fragte Züseli,ob es schon zu Mittag gehabt. Und als es antwortete nein, eben drum sei es pressiert, lud die Stieftante es großmütig ein: „So bleib du hier, kannst gleich zueche sitzen. So lang wirst's wohl noch aushalten, oder nicht?
[48]Die Frage klang spaßhaft freundlich, und Züseli blieb nichts anderes übrig, als die Einladung mit Dank anzunehmen, trotzdem ihm in diesem Augenblick einfiel,wie ungern man das auf der Strubenweid hören werde.In diesem Gedanken blieb Züseli noch schweigsamer,als es sonst schon war.
Als der Tierarzt fort war und das Pferd wieder im Stall mit der Halfterkette klirrte, wurde zum Essen gerufen. Züseli war gespannt, mehr auf das, was es zu hören bekommen würde, als auf Speise und Trank,hatte es doch schon bald den Stiefvater, bald die Mutter sagen hören, es nehme sie nur wunder, wie es jetzt im Saarbühl zu und hergehen werde. Bald werde von allem, was zu Großvaters Zeiten des Hauses guter Brauch gewesen, nicht mehr viel wahrzunehmen sein. In seiner kindlichen Phantasie hatte das Mäochen sich sogar den Haushalt bei Tellenbachs schon mehr oder weniger zerrüttet vorgestellt.
Aus dem, was sie zu hören bekommen, bilden Kinder sich die Begriffe etwa nach dem Plan und Muster von Geschichten, die man ihnen in der Schule oder sonstwo mit erzieherischer Absicht erzählt. Da geht es mit Schnellzugsgeschwindigkeit bergab und bergauf,und sie ahnen noch nicht, wie langsam und folgerichtig im wirklichen Leben sich entwickelt, was der Mensch beginnt. So war denn Züseli nicht wenig verwundert AR der gleiche fromme und biedere Geist sich kund tat,[8]*der auch in der Strubenweid waltete. Der ganze Unterschied zwischen beiden Haushaltungen schien ihr darin zu bestehen, daß die auf dem Saarbühl zahlreicher und um ein Weniges behäbiger war. Christian und seine Frau würden sich, trotz allem, was sie gelegentlich über die vom Saarbühl sagten, weniger verwundert haben.Sie hätten es gleich gemerkt, warum alles noch so aussah wie ehedem! Die Großmutter lebte in ihrer Mitte. Sie sprach wenig und befahl noch weniger,aber ihr bloßes Dasein hielt doch alles in Respekt.Das war's.An dem sehr reinlichen schweren Eßtisch saß obenan Fritz Tellenbach, zu seiner Rechten auf der Fensterbank die Großmutter und ihr gegenüber Fritzens Frau. An sie reihten sich die Kinder und das Gesinde. Züseli kam neben die Hausfrau zu sitzen und hatte zur Linken das Berteli, gegenüber neben der Großmutter den Hansli, den man aber mit gutem Grund jetzt Hans nannte; denn er war ein gar stattlicher Bursche geworden, breitschultrig und groß, und niemand konnte seine Ähnlichteit mit den schönen Zügen des verstorbenen Großvaters leugnen.
In den Herzen der Familienmitglieder war etwas Merkwürdiges vor sich gegangen, als Züseli in die Stube getreten war. Ob dieses Meitschi hereinkam und sich zu Tische setze oder nicht, das hatte gar nichts zu sagen. Niemand maß dem Gast irgendeine Bedeutung hei. Man horte wenigstens kein besonderes Wort seinetvon Tavel, Die heilige Flamme []M 9 wegen, ja, man hätte keinen ungewohnten Ausdruck auf irgendeinem Gesichte sehen können. Und doch sproß im gleichen Augenblick in drei Herzen die gleiche Empfindung auf, eine jener Empfindungen, die vielleicht jahrelang kein Wort gebären und doch dem Leben eines Menschen in irgendeiner Weise eine besondere Richtung geben. Als nämlich das so wenig beachtete Mäochen von der Strubenweid „Marlisis Meitschi“ das Umschlagtuch ablegte, da war es, als ob in einem Garten auf einmal eine Rose aufgegangen wäre, über deren Anblick der Tustwandelnde des ganzen Gartens übrige Herrlichkeit vergißt. Nicht daß etwa Züseli eine auffallende Schönheit gewesen wäre. Aber es ging von ihrem lieblichen blonden Kopf, von ihren aufrichtigen grauen Augen etwas aus, das jeden, der dem Mäochen begegnete, in eine Art andächtiger Zufriedenheit versetzen konnte. Es kam nur darauf an, ob einer sich dieser Bestrahlung aussetzen wollte oder nicht.
Was aber jetzt über Fritz Tellenbach, seine Frau und seine Mutter kam, das war weder Andacht noch Zufriedenheit, sondern eine Wahrnehmung, gegen die sich alle drei sträubten. Wie kam das Marlisi zu einem solchen Mädchen? Kinder mißliebiger Verwandter dürfen schön sein; man läßt sie gelten, wie man die Blumen in des Nachbars Feld und Garten gelteñn läßt. Nur ganz kleinliche Menschen mißgönnen einander solchen Besitz. Wenn aber die Kinder groß werden und dabei lieblich bleiben, dann wird es etwas Ernstes um sie.
[51]Man fühlt, daß Herzen sich ihnen zuneigen werden,viele Herzen und unter ihnen solche, deren Regungen in der Welt etwas zu bedeuten haben. Auch das läßt sich ertragen, so lange kein Maßstab zum Vergleich da ist. Auf dem Saarbühl war es aber anders. Da verglich man unwillkürlich mit dem eigenen Gewächs.Frau Tellenbachs Unbedachtsamkeit hatte es gefügt,daß das Züseli neben das Berteli zu sitzen kam. Da hätte Einer doch blind sein müssen, wenn ihm nicht der Gegensatz aufgefallen wäre. Das verhätschelte Berteli mit seinem zwischen den Schultern stecken gebliebenen Kopf und den ungelenken Bewegungen hatte bösen Stand neben Züseli, über dessen ganze Gestalt,vom Scheitel bis zur Zehe, Anmut ausgegossen war.
Die Großmutter, die den beiden Mädochen schräg gegenüber saß, redete sich's einfach aus. Ihre einfältige Befangenheit erkannte keinen Engel Gottes, sobald er von jenseits der Stahrenfluh herüberkam. So gingen heute ihre sonst noch recht neugierigen Blicke nur selten über den Rand des Suppentellers hinaus. Weil sie sich aber die Existenz Züselis so gut wie möglich ausredete,so faßte auch weiter nichts Arges Wurzel in ihrem Herzen.
Fritz Tellenbach konnte sich dem Unterschied zwischen den beiden Mäochen nicht entziehen. Er wurde verstimmt; aber er machte sich wenig daraus, weil er schon gewohnt war, mit den Kräften und Beweggründen zu rechnen, welche das Gesellschaftsleben der Menschen zu gestalten pflegen. Hübsch oder nicht hübsch, was hatte [55] das zu sagen, wenn Eins von den Steilhängen des Tugikrachens kam? Mit der Hübsche schlittelt sich gar leicht bergab, aber zum Leben gehört was anderes,und auf dem Saarbühl war dieses andere reichlich vorhanden. Also hatte es weiter keinen Zweck, sich zu ärgern. Das Geleise, auf welchem der Wagen von Saarbühl lief, war sicher und führte über Berg und Tal in unabsehbare blaue Ferne.
Frau Berta hingegen, so sicher auch sie dieses Geleises war, würgte schwer an Züselis Vorzügen. Es war eben gar nicht bloß Hübsche, was Züseli auszeichnete, sondern man sah ihr an, und zwar von weitem,daß sie ein rangiertes und herzensgutes Meitschi war,und wer je einen Blick in ihre Augen getan, der wußte auch, daß es an Klugheit ihr nicht gebrach. Hätte jemand Frau Tellenbach gefragt, warum sie sauer sehe,so würde sie geantwortet haben: „Bhüet mich Gott!Emel nicht wegen dieses Lärvleins. Was wollte mir das antun? Meinethalb soll es ihm wohl gehen im Leben. Mich dauert nur das Berteli, weil es daneben so leid aussieht. Aber wartet nur, es wird noch manche ausstechen.“ Da saß das Gift. Ein tiefes Mitleid mit dem eigenen Kinde quälte die Mutter, und weil es ein törichtes und fruchtloses Mitleid war, dem keine Türe zur Betätigung offen stand, so schrumpfte es in sich zusammen, versauerte und ward unversehens zum Haß gegen die, welche dieses Mitleides nicht bedurfte.
Von all diesen Gedankengängen würde wohl selbst [53] ein Seher nichts bemerkt haben, hätte er mit Tellenbachs zu Tisch gesessen. Es waltete nicht nur jene Feierlichkteit am Tische, die heiligen Hanolungen innewohnt,sondern man ließ es auch nicht an Äußerungen einer sich selbst abgetrotzten Freundlichkeit und Güte fehlen.Das einzige Beleidigende für Züseli war, daß die Mutter Tellenbach ihm Essen aufnötigte, als käme es nie sonst zu einer sättigenden Mahlzeit.
Etwas Ungewöhnliches war nur zu Beginn des Essens vorgefallen. Hans war am Kehr, das Tischgebet zu sprechen. Und nun wollte er nicht. Er war Züseli gegenüber verlegen geworden, als säße statt des Meitschis Gott weiß was für eine Majestät da. Ein zorniger Blick des Vaters zwang ihn, und tief errötend staggelte er seinen altgewohnten Spruch herunter.
„Dummer Bub,“ schalt die Großmutter, „was kömmt dich an? Möchte auch wissen, vor wem du dich zu genieren brauchtest!“
Als sie vom Tisch sich erhoben, trugen Tellenbachs dem Gaste Grüße an die Eltern auf und ließen ihn im Frieden ziehen. Das Berteli aber begleitete das Mädchen hinaus und konnte sich nicht enthalten, es noch zum Stöckli hinüberzuführen. Es wolle ihm etwas zeigen, sagte es mit aufleuchtenden Augen. Züseli machte erst Komplimente. Es fürchtete, vom Hause aus beobachtet zu werden, und wollte Tellenbachs nicht neugierig erscheinen. Aber Bertelis Drängen nachgebend,folgte es diesem in eine behaglich eingerichtete Wohnstube.[]X
„Siehst du,“ sagte Berteli, „das gibt dann einmal meine Stube, und hieneben hat der Vater sein Bureau,und der Hans bekommt dann droben seine Stube, wenn er aus dem Welschen heimkommt.“
Da hatte Züseli auf einen Klapf einen ganzen Schübel Neuigkeiten vom Saarbühl, ohne mit einem Con danach gefragt zu haben. Die Hauptsache aber kam erst noch.„Und schau,“ fuhr das Berteli fort, „da ist das Klavier. Ich nehme Klavierstunden. Zweimal in der Woche gehe ich zum Sekundarlehrer Wiegsam in Hahnenberg,oder eigentlich mit ihm in den „Kebstock“. Er selber hat kein Klavier. Und hier daheim übe ich.
„Spiel einmal etwas,“ sagte Züseli staunend.
Und Berteli rückte sich auf dem dreibeinigen Taburettli zurecht, schlug eine „Klavierschule mit Fingerübungen“ auf und klimperte ein paar Sätzlein, wobei sie meist zwei Tasten mit einem Finger anschlug; denn sie hatte Fingerbeeris wie Pflaumen. Züseli griff neugierig nach den glänzenden Tasten und ließ ihre schlanken Finger leise darauf niedersinken.
„Nid, nid!“ wehrte Berteli, „das darfst du nicht.Man kann da nicht mit jeder Hand drauf.“
„E bhüet' is,“ sagte Züseli. „Ja, ich muß gehen.Lebwohl, Berteli.“ Und hinaus huschte sie. Vor der Haustür stand der junge Hans offenkundig ohne besonderen Zweck, oder war er etwa geschickt worden,die Geheimnisse des Stöckleins zu behüten? Er rief Züseli nach: „Das pressiert jetzt aber. Adie! Adie!“[]III.
Hei, wie das pfiff und sauste, als Großrat Tellenbach in der Dunkelheit des Novemberabends durch die flotschenden Karrgeleise der Lanostraße zum Bädoli hinausstapfte. Der stämmige, seines Gewichts bewußte Mann schmunzelte trotz des argen Wetters in sich hinein. Ihm war zumute wie einem Batteriechef, der genau die Distanz kennt von seinen Geschützeinschnitten zum RendezvousPlatz einer feindlichen Division und der nur noch zu warten braucht, bis ihm deren vollständige Besammlung gemeldet wird, um seine alles zerschmetternden Geschoße abzusenden. Und weil kaum einer seinem Überfall entwischen konnte, durfte Tellenbach sich's gsnnen, unterwegs bei seinem väterlichen Freund Buri anzukehren, um sich noch genauer über das rätselhafte Stelldichein am Votwasser aufklären zu lassen. Der Krämer saß mit ausgetretenen roten Pantoffeln an der Kunst, die zugleich seine Wohnstube und den Taden heizte, und bekundete nicht die mindeste Lust, mit BühlFritz ins Feld zu ziehen. Aber er ermunterte Tellenbach, die Gelegenheit nicht zu versäumen. „Du brauchst noch lange nichts auf dich zu nehmen,“ riet er, aber du mußt sie merken lassen, daß dir nichts entgeht und daß du 3'weg bist, wenn's sein [56] müßte. Wärest du unbestritten der Einzige, der bei Wahlen in Frage kommt, so könntest du unterm Dackbett bleiben und sie reden lassen. Aber zähl' drauf,wenn bei solchem Wetter die von da hinten hervorkommen und von Dingen reden wollen, über denen sie seit Jahren ganz ruhig geschlafen haben, so ist öppis cheibs!s im Tun. Wegen ein paar Cannlenen im Gyrgaden liefen die nicht halb so weit.“
„Also meinst, ich sollte mich der Sache annehmen?“
„Vorläufig zum Schein. Gib acht! Es kann daraus ein kitzlig Ding werden. Dank würdest du wenig dafür haben. Aber schau, welchen Weg der Hase laufen will. Ist's ihnen nur darum zu tun, denen vor dem Berg eine Falle zu stellen, so muß man dafür sorgen,daß sie selber hineinfallen und dann nach Gott schreien müssen, bis es uns paßt, ihnen aus dem Sumpf zu helfen. Hernach werden sie schon wieder lernen, dir aus der Hand zu fressen.“
„Kannst du dich erinnern, ob die Verbauung im Lugikrachen schon einmal vor dem Großen Rat gewesen ist?“„Zu meinen Lebzeiten nicht. Und früher wohl erst recht nicht. Und da draus wird nie etwas werden.Es ist unter allen Umständen nur etwas auf die lange Bant, so eins von den Projetten, die auf dem Schreibtisch des Regierungsrats liegen, immer süferli?d wieder zu unterst in die Bygete? geschoben werden, wenn oben abgearbeitet ist und sie bald an die Reihe kämen.
[37]Ist dann die Zeit um und kommt ein neuer Direktor an den Schreibtisch, so weiß niemand mehr Bescheid,und die Alten werden unter den großen Haufen verlochet. Und hier geschähe es mit Recht. Wer wird denn auch des GyrgadenWäldleins wegen eine Verbauung durchsetzen wollen? die Hunderttausende von Franken verschlingen würde!“
Fritz Tellenbach hatte, als er seines Weges weiter zog, erst recht das Gefühl, er beherrsche die Situation.Aber nun nahm er sich vor, zunächst nur zu beobachten. Als er unter der Türe der Gaststube sich den Schnee vom Rock klopfte, saßen da, um einen Liter Waadtländer versammelt, ganze zwei Männer. Es waren der alte Engel und Moser von der Herti, ein kleiner, knorriger Mann mit gestutztem weißem Kinnbart und tiefliegenden listigen Äuglein. Von einer Voltsversammlung der Teute aus dem Tugikrachen keine Spur. Das war Tellenbach unangenehm. Wie sollte er nun sein Kommen begründen, falls sie ihn fragten, woher, wohin? Er hatte ja keine Ahnung davon, daß gerade Engel ihn hierher beschieden hatte.
„So so?“ begrüßte Moser den Großrat, als wäre ihm dessen Erscheinen völlig unerwartet, „treibt's dich auch an den Schermen?“ Hast wohl den Hafnern an der Dornhalde wieder eine Fuhre Lehm um schwer Geld angehängt. Ist doch verflucht kommod, wenn man nur so den Berg anschneiden und aus dem Dreck Gold machen kann. Oder bist etwa gar im Sägessen[58] moos gewesen, dem MsssliHeiland 3'Predigt, so an einem heiligen Werktag? Ha ha ha.“
„Du hast gut reden, Moser,“ gab Tellenbach zurück.„Führst du etwa die Turben?? umsonst, daß du sagst,ich könne aus Dreck Gold machen, he? Und wer hat mit seinen Eichen Vermögen gemacht? Etwa nicht der Moser von der Herti? Die hast du auch nicht selber gepflanzt. Oder ist's etwa dein Verdienst, daß du gerade zu der Zeit in die Welt kamst, da man Eisenbahnen zu bauen anfing und Schwellen brauchte,he ?
„Mir scheint,“ fiel jetzt Engel dazwischen, „ihr habt beide einander nicht viel vorzuwerfen. Eher hätten wir ein Recht dazu, die es hinter den Berg verschlagen hat. Ihr davorn wißt nicht viel anderes, als zu ernten, was die Vorfahren euch ersorget unod erarbeitet haben. Und ihr denkt nichts weiter dabei, als daß es eben so fortgehe, wie es immer gegangen. So ein Klupf?* hin und wieder würde euch nicht schaden.“
Damit hatte Engel die Sache eingerenkt. Hier konnte nun angeknüpft werden mit der Klage über das Rotwasser. Aber so wie mit der Cür ins Haus fuhr man nicht ins Zeug. In einer andern Ecke der Gaststube unterhielten sich der Bannwart und der Wirt über Jagohunde. BumeKari war von Engel als Sachverständiger in Reserve gestellt worden. Jetzt schien der Augenblick gekommen, diese Reserve heranzuziehen.
[2]85
„Wenn wir noch Einen hätten, so langte es zu einem Jaß,“ sagte der SchniggenenBauer mit einem Blick nach dem andern Tisch. Unod wie er's gewünscht,so kam's. Der leutselige Großrat wandte sich um und hieß den Bannwart herüberkommen. BumeKari war „leid“ anzuschauen. Einen Schnauz hatte er wie abgerupftes Riedgras. Dieser Schmuck seiner Oberlippe und die vorstehenden Backenknochen hatten dem Bannwart bei Waldfrevlern und anderen Leuten den Übernamen „der Chineser“ eingetragen. Dafür aber war Bume ein tüchtiger Forstmann und genoß das Vertrauen seiner Vorgesetzten so offenkundig, daß er bei allen Leuten ein wenig Respektsperson war. Er durfte also sehr wohl mit Großräten, BeinaheGroßräten und Wahlmachern zum Jaß sitzen.
Der Jaß wurde in der üblichen Schweigsamkeit geklopft. Nach dem dritten Spiel sagte Moser zum SchniggenenBauer: „Also, einen Klupf würdest du uns hienache dem Berg gönnen. Und was müßte denn das sein?“ Dazu lachte er hellauf.
„O es gäbe mancherlei, was euch zum Nachdenken bringen könnte. Ich dachte an einen Krieg oder dergleichen, aber davor behüt' uns Gott! Nein, für den Augenblick tät's auch so etwas, wie das Unglück, das der GyrgadeGläis erleben muß.“
Nun wurde dem Großrat genau berichtet, was geschehen sei, und Moser fügte mit Berechnung hinzu:„Ja, da muß etwas geschehen. Man sollte nach Bern []a 0 und einmal gehörig zBode stellen auf der Forstoirektion oder vor wen sonst die Sache gehört. Wenn sonst niemand reden will, so gehe ich selber hin, sa beim Donner, und das tue ich.“
Fritz Tellenbach schwieg. Er schien nachzudenken.Dann fragte er den Bannwart: „Hast du die Rütschete gesehen ?“
„Ja,“ sagte der, „dem habe ich schon lange zugesehen. Das mußte so kommen. Und wenn dem Gläis nicht das Holzen verboten wird, so kommt dann anderer Leute Wald auch noch an die Reihe. Von Auf-forsten ist dann nichts mehr. Auf der nackten Fluh tkann man nicht aufforsten.“
„Eben drum,“ griff Engel ein, „drum habe ich dem Herrn Senno auch ein Wort davon gesagt. Und er hat mir versprochen, einmal herüber zu kommen, die Sache zu besehen.“
Das schlug bei Tellenbach ein; aber er ließ sich nichts vom Gesicht ablesen, geschweige denn, daß er in Worten seinem Ärger Tuft gemacht hätte.
„Man kann ja sehen, ob es sich lohne,“ sagte er scheinbar gelassen, „jedenfalls dem GyrgadenGläis zulieb kann man nicht die ganze Regierung in dSätz bringen.“
„Nein,“ pflichtete der Bannwart bei, „dort rutscht nicht bloß der Wald. Dort geht alles bachab. Und daran ist die Frau schuld. Sie ist eine donners Schleckbase. Da muß immer Geld her, weil sie nicht leben []J.mag, wie es ihr zukäme. Ich will wetten, die hat kein ganzes Hemo in der Haushaltung, alles ist 3Hudels und 3'Fetzen; aber sie versäumt keine Gelegenheit, im Land herumzufahren und geht an keinem Kramladen ungschellet? vorbei.“
„Selb ist wahr,“ sagte Engel, „und dabei ist sie ein schön, stattlich Weib. Wäre sie nicht so meisterlosig, so hätte sie auf einen großen Hof heiraten können.
Die Frau GyrgadeGläis kam bei dem Jaß wie vom Himmel gefallen als ein Opfer zur Ablenkung aller Verstimmung. Die TugikrachenVerbauung war für heute erledigt. Man kam von der schönen „Schlecke“im Gyrgaden auf andere Frauen zu reden, erörterte,wie übel es diesem und jenem beim Weiben ergangen,bis einen jeden zu seiner eigenen Frau heim verlangte.
Fritz Tellenbach war nicht zufrieden. Aus der Verbauung ließ sich das sah er deutlich genug keine dankbare „Motion Tellenbach“ schmieden. Und trotzdem fühlte er sich gezwungen, auf die Sache einzugehen,weil Herr Senno von Hahnenberg und Moser von der Herti bereits im Spiel waren. Über Engels Schliche knurrend, stieg er zum Saarbühl hinauf. Was aber Fritz, den ehrlichen wohlmeinenden Volksfreund, am meisten quälte, war das langsam aufdämmernde Bewußtsein, kein freier Mann zu sein. Beinah' erfaßte ihn ein Groll gegen den alten Krämer, als er in der unwirschen Winternacht an dessen Haus vorüberging.Mehr als ihm lieb war, genoß Tellenbach die fürsorg[627] liche Freundschaft Buris. Es lag darin der Schatten einer durch Pietät gegen den verstorbenen Vater unliebsam geheiligten Bevormundung. Unsichtbare, zuweilen aber hart einschneidende Stricke hielten Fritz umwunden. Zum Teufel! So hatte er's gar nicht gemeint, als man ihn seinerzeit in den Großen Rat gewählt hatte. Dieses immerwährende Intrigenspiel, dieser ununterbrochene Handel nach dem Grunosatz „Gibst du mir die Wurst, lösch ich dir den Durst“ war ihm in der Seele verhaßt. Hätte er gewußt, daß die Arbeit eines Volksvertreters sich auf diesen Rahmen müsse spannen lassen, so wäre er lieber ein schlichter Bauer geblieben. Frei nach seines Herzens Drang hatte er eintreten wollen für alles, was dem Volke frommt,und ein Freund und Fürsprech der Kleinen, der Unbeholfenen wäre er gerne geworden. Aber schon die erste Fahrt nach Bern hatte ihm die Augen aufgetan.Kaum unter die Ratskollegen getreten, war er beiseite genommen worden. Die „Maßgebenden“ hatten ihm den politischen Untergrund seiner Wahl klarzumachen gesucht. Die Wahl sei das Ergebnis eines Kompromisses. Mehr als die Hälfte seiner Stimmen entfalle auf das Tager der Weißen, also sei er diesen verpflichtet, und nun müsse er in deren Fraktion eintreten.Als er sich dagegen gewehrt mit dem Einwand, er wolle sein eigener Herr und Meister bleiben, hatte sich ein fast mitleidiges Lachen hören lassen. Nur zu bald hatte er dann einsehen müssen, daß es keinen andern
[60]Weg gab, seine Meinung durchzusetzen. Alles, was im Rate zur Verhanolung kam, schien schon vorher irgendwo beschlossen zu sein. Und weil es Tellenbach ehrlich darum zu tun war, etwas zugunsten seiner engeren Heimat ausgzurichten, so ließ er sich der Mehrheit eingliedern, durch die allein etwas zu erreichen war. So war er in das Getriebe hineingeraten. Er hätte sich mit den Verhältnissen abfinden müssen, weil sie unabänderlich schienen; aber es war eine schmerzliche Enttäuschung gewesen, und seine Freude am Mitregieren hatte einen harten Stoß erlitten. Immer ärger war es seither gekommen. Nicht nur zwischen Weiß und Schwarz und Rot wurde um jede Taus gestritten, auch zwischen hinter der Fluh und vor der Fluh, zwischen Walpersboden und Hahnenberg, zwischen der landwirtschaftlichen Genossenschaft und dem Konsumverein,zwischen kirchlich Gesinnten und Gemeinschaftsleuten,zwischen Revierjägern und Patentjägern, zwischen Fleckviehzüchtern und Braunviehzüchtern, zwischen Hans und Benz mußte Schritt für Schritt gesteuert, gestoßen,gebremst, angegriffen und retiriert werden, um schließlich hol's der Kuckuck! mit dem Einodruck stehen zu bleiben, es gehe doch alles, wie es von jeher gegangen, nicht nach Recht und Billigkeit, sondern nach den Grunosätzen herzloser Gewalt.
Mit welcher Freude würde Fritz Cellenbach das Problem der LugikrachenVerbauung angepackt und vor dem Rat vertreten haben, wäre er noch der freie Mann
[21]*gewesen, als welcher er einst nach Bern zu fahren vermeint! Jetzt war ihm aber alles verhunzt. Beinahe wie ein Ertrinkender mußte er um sich schlagen, um bei der Bewegung, die ohne ihn ihren Lauf zu nehmen drohte, obenauf zu bleiben ohne die geringste Genugtuung.
Welche Wohltat war Tellenbach der erste matte Sonnenstrahl, der ihn am andern Morgen wieder an die Arbeit rief! Und dieser Sonnenstrahl, er leuchtete auch auf der faltenlosen Stirn des jungen Hans, seines Sohnes. Mochte der ganze politische Anlauf im schnödesten Undank endigen, so blieb doch die Arbeit für die kleine, blühende Republit des eigenen Hofes, den er als ein Mustergut seinem Erben hinterlassen wollte.
Am liebsten hätte der Großrat heute irgendwo kräftig Hand angelegt, um in der rauhen Arbeit seiner Verärgerung Herr zu werden; aber es war kein großer Werchet“s an der Tagesoronung, der in den Augen der Knechte das persönliche Eingreifen des Meisters gerechtfertigt hätte. Dagegen gab es leidliches Wetter,so daß man einen Gang ins Holz unternehmen konnte.Da konnte Hans mitgehen, und es bot sich Gelegenheit, ihn über mancherlei zu belehren. In den entlegensten Wald wollte Cellenbach mit seinem Sohn,auf die Kienschwendi. Dort, auf der südlichen Abdachung der Stahrenfluh, hatte Vater Tellenbach eine große Parzelle prächtigen Hochwaldes gekauft, die schweren Ertrag verhieß. Der Weg war weit, steil und lag nun [55]2zum größten Teil im Schnee. Darum mußte die Mutter ein Säcklein Proviant rüsten, und Hans bekam des Vaters OrdonnanzFeldoflasche mit Kaffee und Gebranntem umgehängt. Vater und Sohn freuten sich auf den Gang. Zuvor aber hatte der Vater noch allerlei Bescheid zu erteilen. Man braucht ja auf einem großen Hofe nur zu merken, daß der Meister für ein paar Stunden fort will, so kommt plötzlich einem jeden, von der Bäuerin bis zum Hüterbub, alles mögliche in den Sinn, was man schon lange hätte fragen sollen und worüber nun unbedingt noch Aufschluß erteilt werden muß als ob der Meister im Begriff stünde, eine Wallfahrt zum Heiligen Grabe anzutreten. Und es braucht schon eine Engelsgeduld, um nicht endlich mit einem Donnerwetter aus dem sich blähenden Kropf das hindernde Fragengespinst zu zerreißen.
Endlich schritten die Beiden wohlgemut dem Sträßchen zu, da horten sie droben einen leichten Wagen knarren, und wie sie aufblickten, hielt am Eingang zum Hofe ein hübscher naturfarbener Jagowagen. Vom Bock grüßte aus behäbigem Pelzkragen das rosige Gesicht des Herrn Major Senno von Hahnenberg. Der junge Herr gab die Zügel dem neben ihm sitzenden Kutscher,sprang herunter und kam mit freundlichem Gruß auf die beiden Tellenbach zu.
„Guten Tag wohl!“ rief er, „ihr wollt über Land,scheint mir ?“
„Ein wenig, ja,“ sagte Vater Tellenbach, und es von Tavel, Die heilige Flamme []AX
*klang, als hätte er einen nicht sonderlich angenehmen Gang vor sich. Ihn, wie den jungen Hans, hatte der Ärger gepackt. Man brauchte doch wirklich nur einmal frohen und freien Herzens ausziehen zu wollen, so trat einem in irgend einer Gestalt wieder dieses verdammte politische Müssen in den Weg. Blitzschnell brachte Tellenbachs ÜÄberlegung das Erscheinen seines Ratskollegen mit den gestrigen Gesprächen in Zusammenhang. Sollte er die Sache von sich schütteln und ruhig seiner Wege gehen? Er verspürte gute Lust dazu;aber schon fühlte er in sich die Unfreiheit, die nun wie ein Belag von Algen auf all seinem Tun und Denken klebte. Er sah den Blick seines Sohnes, der ihm zu sagen schien: du wirst doch nicht die Freude, die du mir versprochen, diesem Herrn da opfern? Ein Groll packte ihn. Aber nichts vermag über einen Berner mehr als liebenswürdige Worte weil seine eigene Zunge so wenig dieses Honigseims absondert.„Ich möchte Euch nicht in die Quere kommen, wenn Ihr etwas Dringendes vorhabt; aber es wäre mir ganz besonders wertvoll gewesen, Eure Meinung über die Verbauung im Lugitrachen zu vernehmen. Ohne Eure Zustimmung möchte ich die Sache in Bern nicht vorbringen. Wenn etwas daraus werden soll, so müßt Ihr mindestens dabei sein, wenn nicht vorangehen.“„Ihr wollt in den Gyrgaden?“„Wenn's Euch recht ist, so fahren wir um die Fluh herum bis gegen Rotenbalm : dann können wir in den
[37]Krachen hinuntersteigen, wo's uns am zweckmäßigsten scheint.“
Tellenbach blieb keine Wahl. Tieß er den Schloßherrn allein fahren, so blieb er selbst außerhalb des Spiels. Die hinter der Fluh aber durften nicht den Eindruck bekommen, BühlFritz kümmere sich nicht um ihre Anliegen.
„Nun wohl,“ sagte er mit einem teilnehmenden Blick auf seinen Sohn, „wir können auch einen andern CTag in den Wald hinüber.“
„Der Junge soll mitfahren,“ fiel ihm Herr Senno ins Wort, „es ist gut, wenn die Nachwachsenden so etwas kennen lernen. Über solche Werke gehen die Generationen hin wie ein Jährlein über die Welt.Den Dank fuür solche Unternehmungen bekommen nicht die zu hören, welche ihnen den Weg gebahnt. Um so besser also, wenn die Jungen mit eigenen Augen sich einprägen, was sie den Vätern verdanken, was?“ Der Major klopfte dem jungen Tellenbach auf die Schulter und hieß ihn mit aufsitzen.
„Den Proviant kannst daheim lassen,“ sagte der Vater. Und nachdem Fritz Säcklein und Feldflasche versorgt, ließ Herr Senno seinen schlanken Fuchs ausgreifen, daß es eine Lust war. Im Nu war man um den Westfuß der Stahrenfluh herum und fuhr hoch,dem Bädli gegenüber, in den dunkeln Cann des Tugikrachens hinauf. Unweit der Schniggenen hielten sie an. Alle waren froh, auf die Füße zu kommen, um [58] sich zu erwärmen. Es dauerte nicht lange, so gesellte sich der alte Engel zu den Großräten und stapfte mit ihnen zum Steg hinunter.
Strauchelnd und glitschend schritt man im Gänsemarsch dem Wasser entlang gegen den gefährdeten Wald hinauf. Jeder hatte auf seine Füße zu achten.Links und rechts griffen sie in die Zweige der Uferbüsche. Jeder überließ seinem Hintermann die Verteidigung gegen die Schmisse zurückschnellender Ruten.So merkte niemand, daß die EinerKolonne sich allmählich verlängerte, indem sich nach und nach der Chineser, der GyrgadenGläis und dessen ganze Nachkommenschaft eingliederten. Als Engel, der den Zug anführte, an der Abrutschungsstelle stehen blieb, staute sich hinter ihm ein ganzes Völklein. Nun kletterte der Bannwart voraus und begann, immer weitersteigend,einen Vortrag über die Situation zu halten. Engel blieb vor der Abbruchstelle stehen. Dicht hinter ihm stand Gläis. Das kleine Voll zerstreute sich, gleich einer Schar Hühner über das ihm wohlvertraute Borod.Herr Senno, von seinem Militärdienst her gewohnt,vor keinem Terrainhindernis zurückzuschrecken, folgte behutsam dem Bannwart über die blankgescheuerte Fluh, jeden Absatz geschickt ausnützend. Fritz Tellenbach fühlte sich verpflichtet, seinem Kollegen nachzusteigen,obschon er den Nutzen dieser Kletterpartie durchaus nicht einsah.
Der Chineser hatte den jenseitigen Rand der blanken []J2æS
Fluh erreicht. Über ihm hin zog sich die zerfranste Abbruchlinie der Humusschicht, aus der ihm eine hentelartig verbogene Cannenwurzel feste Handhabe bot.Hier demonstrierte der Bannwart die Struktur des Abhanges und versicherte den beiden Großräten, die sich sehr unbequem fühlten und nicht recht über sich hinauf zu blicken wagten, das einzig Kichtige sei der Antauf des ganzen Lugikrachens durch den Staat. Sie waren über die Tragweite dieses aus der Vollsseele geborenen Postulates noch nicht ins Reine gekommen,als unter Tellenbachs grob genagelten Schuhen eine Mutte ausbrach. Umsonst griff der vierschrötige Mann links und rechts nach einem Halt. Rittlings glitt er ab und kriegte mit Händen und Füßen den unter ihm stehenden Herrn Senno zu fassen, so daß der Schwarze in des Weißen Umarmung jählings zu Cale fuhr. In einem formlosen Schlitten von Schlamm und Geröll tamen sie mitten in das sehr kühle Rotwasser zu sitzen.
Von strafendem Pflichtgefühl gepeitscht, folgte BumeKari, auf seinem Hosenboden reisend, durch das großrätliche Rinnsal nach, während Vater Engel nur mit der äußersten Anstrengung sein runzliges Gesicht zu bändigen vermochte. Hinter ihm krümmte sich der GyrgadenGläis dermaßen vor Lachen, daß die zahllosen Nähte seiner allmendartig geplätzeten Hosen zu reißen drohten. Hans Tellenbach, über den Sturz seines Vaters jäͤh erschrocken, suchte nach Tritten und Griffen, um den Abgestürzten Hilfe zu bringen.
[8]Wer nun etwa glaubt, die beiden Verunglückten seien mit der Behendigkeit des Selbsterhaltungstriebes dem unwilllommenen Bad entsprungen, kennt Bernerart nicht. Die Herren Volksvertreter krochen nicht eher aus dem „oberen Rotwasserbädli“, wie die Stelle von nun an hieß, als bis sie sich der Komitk ihrer Lage ergeben hatten.
Überzeugt, daß ein Mehreres auf diesem „Augenschein“ von ihnen nicht mehr verlangt werden konnte,beschlossen die Herren Senno und Tellenbach, hier abzubrechen und sich in den Bereich der nächsten geheizten Kunst zu begeben. Eine solche stellte ihnen Engel in seinem Hause zur Verfügung. Dem Saarbühler war das nicht recht; aber die Einladung ließ sich nicht ablehnen.
Auf jener Kunst hockend, kamen sie bei einem Kacheli heißen Kaffees überein, umsonst wollten sie nicht im Wintermonat gebadet haben. Der Ankauf des Tugikrachenwaldes durch den Staat und eine Korrektion des oberen Taufes des Rotwassers müsse der Gegenstand einer Motion „Cellenbach und Konsorten“ werden.Nach Tellenbach wurde sie benannt; dafür übernahm er auch die Aufgabe, die Motion vor dem Rate zu verfechten.[]IV.
Hoch über der Stahrenfluh flogen in majestätischem Strome die schneeweißen Frühlingswolken dahin. Ihre weichen Schatten glitten über das Tand, als lägen die Waldkämme mit ihren tausend schwarzen Tanzen, die steilen Wiesenhänge, die tief eingefressenen Krächen und die jäh zerbrochenen Fluhbänke nur wie auf eine glattliegende Tandkarte gemalt. Wo die Wolken rissen,lachte des Äthers blaue Wonne auf den goldenen Teppich der löwenzahnleuchtenden Matten und das duftende Geschmeide der blühenden Obstgärten. Auf silbernen Schindeldächern und rotbraunen Ackerfurchen spielten die Sonnenstrahlen mit zarten Dampfschleiern.Aber wenige nur unter den zahllosen Menschlein, die einzeln oder zu zweit und dritt im Gelände versteckt arbeiteten, sahen die große Herrlichkeit des Maientages. Der eine schlug um sein täglich Brot das Eisen in den Ackergrund, als sollte der unermeßliche Leib der Erde darob in wütendem Schmerz aufzucken; der andere knallte mit der Peitsche seinen schwer einherschreitenden Rossen und Kühen um die wedelnden Ohren, auf daß sie den Rädern nicht Zeit ließen, in den mastigen Boden einzusinken. Mochte der Wind in
[72]Himmelshöhen seine Psalmen jauchzen, hienieden war der Klang des Lebens ein unablässig ächzendes: „Vorwärts, vorwärts, auf daß wir nicht sterben.“ Müßiges Aufblicken war ihnen Sunde. Aber Keines lehnte sich auf, Keines wagte zu denken, daß es irgendwann und irgendwo anders sein könnte. Der hornharte Nacken unterm Joch, der wundgescheuerte Hals im Kummet,sie trugen und zogen von alters her und ins Nimmeraufhören hinein ihre Last. Nach den Gotteswundern der ewigen Firnen, die über blaubeschattete Felsrücken hinweg ins grüne Land hinunter leuchteten, wagte nur der sich umzublicken, den keines Gefährten Auge streifen konnte.
Die erhabene Sprache der Schneeberge, ihr Hinweisen auf die Übermacht des Ewigen, verstanden auch die zwei Wanderer nicht, welche durch die warmduf-tende Schneise des Waldes auf der Kienschwendi gegen das in seiner Frühlingspracht vor ihnen ausgebreitete Land jenseits der Fluh hinunterschritten. O ja, es gab auch dahinten noch schöne Lanöstriche. Man mußte sie nur nicht in der Ciefe des Tugikrachens suchen, der aus dem ganzen Hinterland die Wasser in seine weit verzweigten Gräben sammelte. In einem gewissen Umkreis um den abgestumpften Kirchturm von Rotenbalm zum Beispiel sah es recht anmutig aus. Aber auch das kam den Wanderern kaum zum Bewußtsein. Ja,selbst der hochragende Tannenwald, dem eigentlich ihr Besuch galt, fand nur eine geteilte Aufmerksamkeit.
[72]Fritz Tellenbach und sein Sohn waren mit ihrem Denken auf dem Saarbühl geblieben, wo seit dem „Augenschein“ im Gyrgaden manches sich verändert hatte.Aus dem geplanten Gang in den Kienschwendiwald war nichts geworden. Von Tag zu Tag hatte er verschoben werden müssen. Staats und Gemeindepflichten,Familie, Haus und Hof hatten in bunter Reihe ihre gebieterischen Anforderungen an Vater Tellenbach gestellt. Und wenn er schon mitunter über die „Treibjagd“ loswetterte, so waren es doch gerade dieser fortlaufende Nachweis seiner Unentbehrlichkeit und eine rechtschaffene Freude, sich nützlich zu machen, die ihn frisch durch den Winter hindurch trugen. Nicht am wenigsten hatte Fritzens parlamentarischer Erfolg in der Wintersession des Großen Rates dazu beigetragen,ihn mit seinem Lebensweg völlig auszusöhnen. Die „Motion Tellenbach und Konsorten“ war nach einer sehr holperigen, aber sachlich gut unterlegten und deshalb um so wirlsameren Rede Tellenbachs und einem unterstützenden Votum des Herrn Senno erheblich erklärt worden und harrte nun auf einer regierungsrätlichen Kanzlei einer frohen Auferstehung zu wirklichem Leben. Wurde nichts daraus, so konnte Cellenbach nicht mehr dafür verantwortlich gemacht werden.
Das Ereignis des Winters auf dem Saarbühl aber war der Hinscheid der Großmutter. Vor einem Monat etwa hatte man sie in Hahnenberg an der Seite ihres Gatten zur letzten Ruhe bestattet. Da war nun fenes [729] seltsame Gemisch von Freiheitsgefühl, von Selbständigkeit und Verlassensein, von Wachsstum im Ansehen und Beneidetwerden, das ihn schon nach des Vaters Code beschlichen, erst recht über Fritz gekommen. Nun war er nach außen hin und in Wirklichkeit der Bauer vom Saarbühl, der vollwertige Nachfolger des vielvermißten BühlChristen. Aber diese Freude war nicht ungetrübt geblieben. Als die Geschwister Tellenbach vor dem Notar zu Hahnenberg über die Teilung des Erbes sich einigen wollten, sagte der klug berechnende Notar: „Nach bisherigem Brauch hat der jüngste Sohn das Anrecht auf den Hof zu einer gerichtlichen Schatzung.Das neue Gesetz freilich kennt dieses Vorrecht des Züngsten nicht mehr. Ihr seid also nicht mehr daran gebunden. Aber mir scheint es doch das Natürlichste,daß der Herr Großrat auf dem Saarbühlhof bleibe.“
Ein tiefes Schweigen der Geschwister schien die Zustimmung zu diesem Vorschlage auszudrücken. Als Fritz den Anstand durch eine hinlängliche Pause gewahrt ADdaß es ihm leid tun wurde, den Hof räumen zu müssen,den er schon zu Vaters Zeiten bebaut, räusperte sich Christian. Man sah ihm an, daß er nach Worten rang.Aachdem er bis jetzt gebückt dagesessen hatte, richtete er sich mit einem leichten Seufzer auf und ließ seine Blicke durch das Fenster schweifen. „Es wird ja so sein sollen,“ brachte er mühsam hervor. In seines Herzens Einfalt gab Christian sich nicht Rechenschaft [75] darüber, welchen Stich er mit diesen Worten seinem Bruder versetzt hatte. Vor seinen Augen lag in diesem Augenblick das Heimwesen auf der Strubenweid mit all seinen Mühsalen und seinen bescheidenen Erträgnissen. Er hörte die Stimme Marlisis, die ihm beim Weggehen eindringlich nachgerufen: „Wehr dich dann,Christen! Hast's gehsrt? Wehr dich!“ Diese Erinnerung hatte ihm das Wort aus der Kehle gepreßt.Aber kaum war es laut geworden, so befiel ihn Reue. Was er da gesagt, entsprach ja gar nicht seinen ernsten Vorsätzen. Wie eines entschwundenen Paradieses gedachte Christian des seligen Friedens, den er im Sieg über sein eigen Herz in jener Nacht erstritten,da der Vater starb. Hatte er nicht diesen Frieden jetzt eben geschändet? Ja, er ward es inne, daß solche Siege nicht des Menschen Verdienst, sondern Gottes Geschenk sind. Desto sorgfältiger wollen sie gewahrt sein.
Fritz hätte viel darum gegeben, wäre es ihm gelungen, seinen älteren Bruder zu offenherziger Aussprache zu bringen. Statt dessen ließ Christians Bemerkung erkennen, daß er sich nicht widersetzen, dafür aber einen Stachel im Herzen behalten werde, der das ganze Einvernehmen der Geschwister untereinander für immer gefährden mußte.
„Ist's dir nicht recht?“ fragte Fritz.
„Wohl, es ist mir recht,“ antwortete der Strubenweidbauer, der inzwischen seine alte Willensrichtung wieder [76] gefunden hatte, „es soll dabei bleiben. Und wenn ...Plötzlich stockte seine Rede wieder.
„Nun?“ ermunterte ihn Fritz. „Rede doch frei heraus! Hast du etwas dawider?“
Nein, ich habe nichts dawider. Ich wollte nur sagen .... aber das ist ja meine Sache nicht. Also, es soll dabei bleiben, und jetzt wollen wir weiter machen.“
„Nicht so! Ich fahre nicht fort zu teilen, es sei denn über den Hof zwischen uns alles im Reinen.“
„Ich wollte ja nur sagen,“ rückte endlich Christian heraus, „daß ich dir den Hof von Herzen gönne und allen Segen dazu, wenn du dafür sorgst, daß der Eltern Geist und Wesen auf dem Saarbühl weiter waltet.“
„Gut,“ sagte Fritz, „was an mir liegt, soll geschehen.“
Erleichtert durch die Verständigung der Brüder, erhob nun auch Lisebeth ihre Stimme:
„Macht euch deswegen nicht mehr Sorgen als nötig.Es kommt ja nur auf das Vertrauen an, das wir einander schenken. Was wollten wir denn anderes ?“wandte sie sich an Christian, „kein Mensch würde es verstehen, wenn jetzt Fritz vom Hofe wegziehen müßte.Es hieße ja doch allenthalben, wir zwei haben es ihm wüst gemacht. Und so etwas möchtest du doch auch nicht auf dich nehmen.“
Aun wurde das Erbe rechtschaffen geteilt, und weil der Hof den größten Teil des Vermögens ausmachte,so wurde Fritz seinen Geschwistern zinspflichtig. Die
[77]Zinsen, welche Christian von seinem Bruder empfing,deckten ihm mehr als ausreichend, was er selbst an Hypothekarzinsen auf der Strubenweio schuldete.
Davon unterrichtete BühlFritz auf jener Frühlingswanderung seinen Sohn. Für den Vater war das keine Kleinigkeit. Der Junge hatte etwas seltsam Versonnenes in seinem Wesen. Und wenn er schon bei der Arbeit munter war, so kam es den Eltern doch mitunter vor, als wären ihm die ganze Saarbühlherrlichkeit und die Traditionen, welche den Hof mit bäuerlichem Glanz umgaben, gleichgültig. Er nahm alles in jugendlicher Sorglosigkeit als selbstverständlich hin, namentlich daß er selber in diesem warmen Neste saß und eine schöne Zukunft hatte. Hatte der Vater an einer Biehschau eine hohe Prämie davongetragen, staunten die Nachbarn über die schönen Gespanne des Saarbühls oder über den prachtvollen Stand seiner Saaten,so freute sich Hans wohl auch mit über die schönen Sachen, aber in seiner Bewunderung lag doch immer etwas, als ginge ihn das alles nichts an. Die Eltern fühlten sich oft durch dieses einem Bauernsohn übel anstehende Wesen gekränkt. Sie waren noch nicht klug geworden darüber, in welche Wege sie den Sohn leiten sollten. Ob er vielleicht gar aus dem Bauernstand hinausstrebte? An der Begabung zum Studieren fehlte es ihm nicht. Davon war der Vater überzeugt; aber die Stunde der Entscheidung ließ sich noch hinausschieben, und bevor der Junge die angestammte Scholle
[7]0 verließ, um sich einem andern Berufe zuzuwenden,sollte ihm zum Bewußtsein gebracht werden, was er preiszugeben im Begriffe stand. Wenn's ihm nur um höhere Bildung zu tun war, so sollte ihm klar gemacht werden, daß die sich mit dem Bauernstand sehr wohl vertrug. Hatte nicht er, der Großrat selber, schon einen Schritt in dieser Richtung getan? Hans sollte auch einen Blick in die Nöte und Schwierigkeiten tun, die der Vater auf sich genommen, um dem Sohn ein stolzes Erbe zu hinterlassen.
In einsamen Stunden kämpfte in des Bühlbauern Herz die Liebe zu seinem Sohn mit einem Ingrimm über dessen rätselhafte Gleichgültigkeit. Dann reifte jedesmal der Entschluß, sich den Burschen bei der nächstbesten Gelegenheit gehörig vorzunehmen. Aber wie so viele andere Gelegenheiten, auf die man wartete, war auch diese bis heute immer entflohen. Den Gang über die Fluh hatte BühlFritz erzwungen. Er hatte dazu gar keinen äußern Grund; nur um die Zwiesprache mit dem Sohn war es ihm zu tun gewesen.
Ein Meisterstück von Lobgesang auf den Bauernstand hatte Tellenbach im Aufstieg zur Fluh vollbracht.Und daran hatte sich ganz natürlich ein Stück Familiengeschichte angeknüpft. Sich selber hatte der Vater mit seiner Schilderung ordentlich erwärmt, und nun hämmerte er dem Sohn in die Seele, was er um Haus und Hof gelitten und gestritten. Der Entschluß,den er daraufhin von dem Jungen erwartete, mußte [7]öä c*ungefähr lauten: Ja, Vater, nun weiß ich, was ich dir schuldig bin. Dein Lebenswerk soll unter meinen Händen eine ehrenvolle Fortsetzung finden.
Statt dessen antwortete Hans: „Vater, du mühst dich zu viel ab um diese Dinge. Du gehst darin auf und unter.“ Er hatte noch weiter reden wollen; aber des Vaters jähes Aufschrecken benahm ihm das Wort.Ein fast wilder Blick traf den Jungen. Der Vater packte ihn am Arm uno schüttelte ihn.
„Bub!“ schrie er, daß es in den TCannen widerhallte. „Bub, wer hat dir das angegeben? Wie kommst du dazu mir so etwas zu sagen? Ist das dein ganzer Dant, he?“
War das überhaupt die Redeweise eines auf dem Hofe des Vaters aufgewachsenen Bauernjungen? Aus dieser Antwort redete doch unzweifelhaft ein Anderer.Das war der Gedanke, der in Tellenbach alles übertönte und einen schmerzenden Argwohn weckte.
„Woher hast du das?“ entfuhr es dem enttäuschten Vater wieder.
Hans war durch die Entrüstung seines Vaters nicht minder überrascht als dieser durch seine Antwort. Er glaubte aufrichtig, was er gesagt, und daß er irgend eines andern Menschen Gedanken ausgesprochen hätte,war ihm nicht bewußt. Viel leichter als er selber hätte sein Vater das Erempel lösen können. Aber auch er stand zu nahe an der Quelle. Er selbst und seine Frau hatten in törichtem Wohlmeinen ihres
[30]Söhnleins Füße vor allen Dornen und scharfkantigen Steinen geschützt, die der Bauer auf seinem Wege findet und deren Erduldung den Beruf schwer und heilig, deren Überwindung in eigener Mühsal ihn dem Manne adelt. Welcher Mensch weiß die Not einzuschätzen, die ein anderer für ihn erlitten und durchgerungen? So hatte der Junge des Vaters harte Arbeit nicht nur als selbstverständlich hingenommen,sondern er fühlte auch gar keinen inneren Zusammenhang zwischen seiner eigenen sorglosen Jugend und jener Arbeit, an der er nur teilnahm, wenn sie in den großen Werchete ein festliches Gepräge annahm.Vater Tellenbach war ein geborener Meister. Nicht nur unter seinen Augen erfüllte jedes Glied der großen Wirtschaft seine Aufgabe. Er hatte das Pflichtgefühl seiner Leute so zu Kraft und Atem gebracht,daß es auf dem ganzen Hofe pulsierte, auch wenn der Meister meilenweit entfernt war. Hans war von Kind auf gewohnt, das Leben im Stall und auf dem Felde so rollen zu sehen. Nie war ihm der Gedanke getommen, daß auch eine Musterwirtschaft erlahmen tönnte, wenn der Meister nicht im Schweiße bleibt.Zwischenhinein fielen dann auch Worte, die in seinem Herzen nur zu leicht Anklang fanden. Die Großmutter und die Mutter hatte er gelegentlich jammern hören,der Vater werde sich noch übertun. Einmal sprach der Pfarrer Harotmut in der Unterweisung örastisch von dem reichen Manne, der seine Scheunen durch [81] größere ersetzen läßt und schließlich das Donnerwort zu hören bekommt: „Du UNarr, in dieser Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und weß wird es sein, das du gesammelt hast?“ Da sah Hans seines Vaters rastlose Arbeit vor sich, und seither hielt er dessen Streben für einen Irrweg, den zu meiden ihm als ein Verdienst vorkam.
„Aber, Vater, warum erzürnt dich denn das so?“ antwortete er jetzt. „Es ist doch nichts als Sorge um dich.“
„Dummheiten!“ brummte der Vater. „Ist es etwa deine Sache, um mich zu sorgen? Das kannst du mir überlassen. Bin Manns genug, um zu wissen, was ich ertragen kann. Sorge du dafür, daß ich nicht umsonst arbeite. Merkst du denn eigentlich gar nicht,daß das alles dir zulieb geschieht, Bub? Halte dich dazu und schau, daß du mir's abnehmen kannst, wenn meine bösen Jahre kommen. Es würde mir das Herz brechen, wenn du noch vor meinen Augen die Sache zu Schanden gehen ließest.“
Hans war stummgeschlagen und trabte, mit den Tränen kämpfend, neben seinem Vater her, der sich in immer größeren Grimm hineinredete.
„Weißt, Bub,“ sagte er, am Ausgang der Walogasse stehen bleibend, „andere würden Gott auf den Knien danken, wenn ihre Alten den zehnten Teil von dem für sie arbeiteten, was ich für dich schaffe.“
Fritz verschwamm die ganze herrliche Frühlingslandschaft um Rotenbalm im Augenwasser.von Tavel, Die heilige Flamme
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„Aber Vater,“ würgte er mühsam heraus, „du verstehst mich ja gar nicht. Glaub' doch um des Himmels Willen nicht, ich sei so undankbar und wüßte nicht zu ehren, was du für mich tust.“
Der Vater schien auf nichts zu hören. Es war ihm auch ziemlich gleichgültig, was der Zunge heulte. In seinen Gedanken war er längst über das Nächstliegende hinaus gekommen. Was ihn jetzt so erregte, daß er unwillkürlich die Fäuste ballte, das waren die Gedanken des Verfolgers, der über die zerstörten Heimstätten hinweg den Urheber des Schadens sucht. Wer hatte seinem Buben diese Ideen gegeben? Tellenbach ließ nichts verlauten; aber in seinem Zorn hatte er sich schon in den Stundenhalter, den alten Friedli, verbissen, der ihm nie etwas zuleid geredet und getan,der ihm aber in seiner weltfremden Überlegenheit und heiteren Ruhe schon so oft auf die Nerven gekommen war. Hatte nicht vor einigen Wochen der Krämer ihm gesagt: „Fritz, paß' auf, der MösösliHeiland fängt dir noch den Buben ab.“ Tellenbach hatte damals über den Verdacht gelacht. Aber, wer weiß, am Ende mochte da doch etwas dran sein.
Schweigend waren sie ins Dorf hinunter gekommen,wo der Karrer mit dem Reitwägelchen sie erwarten sollte. Er war auch schon da. Am liebsten wären VDater und Sohn gleich aufgesessen und um die Fluh herum heimgefahren; aber in RVotenbalm gab es ein Wirtshaus, und der Herr Großrat kam an diesem nicht [33] ohne vermeintlichen Schaden vorbei. Er befahl dem Karrer, einen Augenblick einzustellen und dem Pferd einen Dreier Hafer geben zu lassen. Sie standen noch bei einander, als schon ein Sägebesitzer sich zu ihnen gesellte und mit einem Anliegen auf Tellenbach einhakte.
Hans war mit seinen Sinnen und Gedanken anderswo. Mechanisch strich er mit seiner Rechten über den weichen feuchtwarmen Hals der Stute; aber er und das Pferd waren gefangen von weichen Geigentönen,die durch die blühenden Obstbäume hergeschwebt kamen,Hans wußte so wenig wie der Gaul, was da gespielt wurde. Danach fragte er auch nicht. Genug, daß ihm die elegischen Cõöne wohltaten. Sie weckten in seiner wunden Seele einen süßen Trotz, klangen sie doch wie Mitleid mit einem zu Unrecht Geschmähten.
Während der Vater mit dem Säger dem Wirtshaus zuschritt, in der selbstverständlichen Annahme, daß Hans dem Karrer beim Ausspannen helfe, schlich der Junge den Geigentönen nach. Sie kamen aus offenen Fenstern, deren hölzerne Schutzgätterlein das Schulhaus von weither erkennen ließen. Hans ging bis dicht heran, lauschte und stieg auf einen Tattenzaun des Turnplatzes, von wo er in das Schulzimmer hineinblicken konnte. Der Tehrer stand an seinem Notenpult und schien die Welt vergessen zu haben. Aber da war noch etwas, was Hansens Neugier fesselte.Dicht an dem zweiten Fenster war eine weibliche Ge[]ga stalt über einen Schultisch gebeugt. Ein Sonnenstrahl beleuchtete das Gewinde aufgesteckter hellblonder Zöpfe und spielte in dem den Kopf umgebenden duftigen Kranz trauser Härchen. Neben dem Mäochen blinkte ein Wasserglas, in das hin und wieder ein Pinsel getaucht wurde.Jetzt hob sich der Oberkörper des Mädchens. Sein Kopf legte sich schräg in den Nacken, und es schien mit Befriedigung seine Arbeit zu betrachten. Den Kopf hatte Hans schon gesehen. Hol's der Kuckuck, wenn das nicht das Züseli von der Strubenweid war!
Herrlich klangen immer noch die Saiten der Geige;aber sie ließen Hans doch schon so viel Bewegungsfreiheit, daß er von seinem Zaun heruntersteigen konnte. So leise, als es ihm seine schweren Schuhe erlaubten, ging er zum nächsten Busch hin, schnitt ein Rütlein unod schlich sich damit unter das zweite Fenster der Schulstube. Dann reckte er sich und berührte mit dem Zwiesel den Nacken des Mädchens. Dieses fuhr mit der Hand über die berührte Stelle und malte weiter. Erst beim dritten Mal blickte es sich um, und sah das Rütlein hinter der Simse verschwinden. KRasch stand es auf und beugte sich aus dem Fenster. Der Geigenspieler brach ab, und deutlich klangen Züselis Worte: „So so, du bist's? Wart', ich will dir!“Sie griff nach dem Wasserglas und hielt es drohend über Hansens Gesicht. „Wie kommst denn du hierher ?“
„Und du?“ antwortete Hans. „Gehst du noch in die Schule und hast gar noch Arrest, he?“
[88]„Das könnte dich wunder nehmen, gelt?“
Der LTehrer, ein leicht ergrauter, kräftiger Mann mit ernstem Ausoruck, kam, auf den Saiten klimpernd,in die Nähe des Fensters, um zu sehen, wer da störend in seine ländliche Kunstpflege eingegriffen habe. Er tannte den Burschen nicht, und trat, ohne ein Wort zu sagen, vom Fenster zurück, die saubere Ornamentmalerei seiner Schülerin betrachtend.
Hans hatte, mit dem einen Fuß auf den Sockel der Hauswand tretend, sich soweit hochgezogen, daß er einen Blick auf den Tisch werfen konnte. Die Augen fragend auf Zuseli gerichtet, ließ er sich aber bald aus seiner unbequemen Stellung heruntergleiten. Das Mädchen hatte die stumme Frage verstanden. Sie würde ungefähr gelautet haben: „Wie kommst du, das Strubenweid Züseli, an einem heiligen Werktage dazu, hier unten solche GäggeliArbeit zu verrichten?“ Sie beantwortete die Frage damit, daß sie vor dem verblüfften Gesicht des Jungen das Fenster schloß und ihm einen triumphierenden, doch nicht unfreundlichen Blick durch die Scheiben zuwarf.
Hans hob den Drohfinger und ging, mehrmals noch zurückblickend, langsam über den Turnplatz der Straße zu. Ein neuer Wolkenschatten huschte über den Wiesenplan seines jungen Herzens, dem erst noch der blaue Himmel zugelacht, denn Hans fiel eben jetzt ein, daß drüben, im Wirtshaus, sein Vater wohl dachte: „Wo bleibt der ketzers Bub? Dem will ich das Dubeln?[86] schon noch austreiben.“ Aber diesen unfreundlichen Gedanken durchleuchtete die Erinnerung an das Fenster,hinter dem ein wunderlieblich Bild sich geborgen. Geborgen? Vor ihm? Oder für ihn?
Frohgemut betrat Hans die Gaststube, wo er sich alsobald davon überzeugen konnte, daß er des Vaters Gedanken schlecht erraten hatte. Der Großrat saß inmitten einer kleinen Schar von Männern, die ihn nicht zum Nachdenken über seine Familienangelegenheiten kommen ließen. Doch winkte der Vater seinen Jungen zu sich heran, schob ihm ein Glas Wein zu und hieß ihn Käse und Brot für sich abschneiden.
Die Sonne näherte sich schon dem westlichen Kamm der Stahrenfluh, als Tellenbach im Wirtshause von Rotenbalm die Uerte“ beglich und sein Wägelchen bestieg. Der Karrer saß hinten, so daß Vater und Sohn auf dem vordern Sitz sich ungestört hätten unterhalten können. Aber es ward wenig gesprochen, und die paar Worte, welche sie wechselten, galten nur den kleinen Beobachtungen, die etwa der Weg mit sich brachte.Doch hatte sich die Verstimmung einigermaßen gelegt.Jeder hing seinen Gedanken nach und neigte sich unwillkürlich den freundlicheren zu. Vater Tellenbach hatte in Rotenbalm ein gutes Geschäft eingeleitet, und Hans kehrte in seinem Sinne immer wieder zum Schulhause zurück. Plötzlich, wo die Straße in sanfter Steigung sich der Berglehne entlang zieht, sah er wohl hundert Schritte vor dem Wagen eine schlanke, weib[37] liche Gestalt bergan gehen. Kein Zweifel, das war abermals Züseli, die der Strubenweid zuwanderte.Als sie das Mädchen einholten, machte Hans den Vater aufmerksam: „Da geht Marlisis Züseli.“ Sie boten sich einen freundlichen guten Abend, und Vater Tellenbach fragte: „Willst heim? Kannst mitreiten bis zur Nischenen. Hock auf!“ Im Weiterfahren ließ der Vater den Gaul seinen Weg gehen, wanote sich nach hinten und begann Züseli zu fragen, wie es daheim stehe und ob sie in Rotenbalm gewesen.
Züseli war immer noch vom Gefühl beherrscht, es sei aller Welt Rechenschaft schuldig über den Zweck ihres Aufenthaltes im Schulhause zu Rotenbalm. Sie vermutete, Hans habe seinem Vater davon gesprochen,und erzählte nun treuherzig, es sei ausgemacht, daß sie in vierzehn Cagen bei einem Töpfer an der Dornhalde als Malerin in die Lehre treten solle.
„Ist dir das ernst?“ fragte Tellenbach, sichtlich verwundert. „Was sagt denn der Elter dazu?“
„Dem ist's recht. Ich soll einen Beruf erlernen,damit ich einst meinen Weg allein finde, wenn's nötig wird. Und ich tu's gern. Was soll ich da oben,auf der Strubenweid ?“
„Eigentlech hast recht,“ meinte Tellenbach. „Du hast die geschickten Finger von deinem Vater. Es wäre schade, die mit dem Karst zu verderben. Dein Vater ist ein tüchtiger Handwerksmann gewesen. Hab' ihn wohl gekannt. Hätt' er länger zu leben gehabt, so hätt [88] er's mit seiner Malerei noch zu etwas gebracht. Aber weißt, Meitschi, das ist dann kein Spaß, jeden Morgen in die Dornhalde hinüber und schaffen bis in den Abend hinein. Und dann so zwischen diesen Lätttöble. Das ist ein wunderlich Volk. Nimm dich dann nur in acht. Denen haftet immer noch etwas vom KacheliFuhrmann an.“
„O es gibt auch rechte Leute darunter. Der Friedli hat mir zu einem rechten Meister verholfen.“
„So? Nun, der soll sie kennen. Es sitzen ihrer ja viele zu seinen Füßen, wenn er im Sägessenmoos predigt.“
„Und später kann ich dann nach Cramlingen. Das Geschäft gehört einem von dort, einem Welschen. Da kann ich dann noch welsch lernen.“
„Aha, ja, den kenne ich wohl. Hab' auch schon mit ihm gschäftet.“
Sie wechselten noch manches Wart miteinander,wobei Züseli den Lehrer Zybach rühmte, was der für ein wohldenkender Mann sei. Hans nahm nicht teil an dem Gespräch. Er warf nur dann und wann einen verstohlenen Blick nach dem Mäochen, wenn es dem Vater antwortete. Nur zu bald hatten sie die Höhe erreicht. Der Vater mußte sein Augenmerk auf den Gaul richten, der nun Graben ein, Graben aus mit seinen starken Hufen den Berg entlang trabte, daß die Kiesel Funken sprühten. Schon tauchte die lange,dunkle First des Bauernhauses in der Schniggenen
[89]über eine Bergrippe empor, und dann war auf einmal die Mulde da, in welcher der Karrweg nach der Strubenweid einmündete. Züseli bedankte sich höflich bei dem Stiefonkel und sprang schicklich und leicht wie ein Buchfinkt vom Wagen.
Im Weiterfahren sagte Tellenbach zu seinem Sohn:„Das ist ein ankehriges Meitschi. Von dem könntest du etwas lernen. Es hat begriffen, daß sich rühren muß, wer seiner Gaben wert sein will. Schade,daß es nicht eine Bauerntochter ist.“
„Vater,“ antwortete Hans gekränkt, „du redest, als hätte ich's drauf abgesehen, mein Leben auf der faulen Haut zuzubringen. Warte nur, bis ich einen Beruf anfassen kann, dann sollst du mich kennen lernen.“
„Einen Beruf? Faß du an, was man dir vor die Füße legt!“
Sie bogen um das Ende der Fluh und fuhren in den Walpersboden, dessen Höfe, Äcker und Obstgärten,von der Abendsonne übergossen, in stolzer Üppigkeit vor ihnen lagen. In der Ferne wölbte sich die alte Linde des Saarbühls wie eine riesenhafte, grüne Kugel am Berghang. Die Braune griff aus und warf Schaumflocken vom Gebiß, als wollte sie dem Wahlkreis ihres Meisters imponieren. Vater Tellenbach aber blieb stumm. Das Abendgold stimmte ihn wehmütig.[]V.
Auf einem steilen Roggenacker saß im Schatten des Waldrandes Christian Tellenbach inmitten seiner Leute.Sie hatten unter glühender Augustsonne Garben eingebracht und hielten Rast. Droben, neben dem Hause,hing an einem mächtigen Nußstamm ein Rad in einem Kloben. Um dieses Rad lief ein Seil, an welchem Christeli, der Sohn, mit zwei Pferden auf ebenem Karrweg schreitend, die garbenbeladenen Schneggen den steilen Berg heraufzog. Das war alles, was die moderne Technik dem StrubenweidBauern zur Bergung seiner Ernte an die Hand gab. Vom Nußbaum auf die Bühne mußten die Schneggen von Hand geschleift werden. Jahr um Jahr war das so gemacht worden,und auch heute kam es niemandem in den Sinn, darüber zu jammern, trotzdem man zur Heimschaffung des Roggens dreimal so viel Zeit brauchte, als auf einem Talgut von gleichem Umfang. Und doch blickten Christians dunkle Augen diesmal trauriger in die Welt als vor einem Jahre. Mit gesenktem Haupt und gespreizten Beinen hockte er im Gras und betrachtete tiefsinnig das eben geleerte Kaffeekacheli. Seine knorrigen Hände drehten das buntgeblümte Geschirrlein.
[91]Kaum achtete er der Bremsen, die sich auf seiner schweißgebadeten kupfernen Stirne niederließen. Diese Quälgeister wichen ja den halbbewußten Abwehrbewegungen seines Armes; was aber unter der Schädeldecke festsaß, das war nicht zu verscheuchen. Christian mochte so tapfer sein, als es von einem aufrechten Mann erwartet werden darf, gewisse Gedanken rang er nun einmal nicht nieder. Was konnte er dafür, daß er angesichts seiner primitiven Aufzugsmechanik immer das Klappern der Mähmaschinen und Garbenbinder hörte, die drunten, im Walpersboden, wie langarmige Ungeheuer durch die sanftgewellten Kornäcker krabbelten und mit unheimlich geschickter Berechnung den letzten Halm aufgabelten? Mit diesen Gedanken mußte er alleine fertig zu werden suchen; denn sie quälten seine Frau noch viel mehr, und gönnte er sich das leiseste Wörtlein darüber, so löste dies jedesmal bei Marlisi eine Sturmflut bitterer Worte aus. Daß er sich bei der Erbteilung nicht besser um den Saarbühlhof gewehrt, vergaß sie ihm nimmermehr.
Unverwanöt noch starrte Christian sein Kacheli an,als auf dem nahen Sträßlein Vater Friedli vorüberging. Er hatte, den Schatten des Waldsaumes nützend,seinen breitkrämpigen Strohhut abgenommen, wischte sich mit dem bunten Taschentuch die Stirn und lachte nach den ruhenden Ernteleuten hinauf, als wollte er mit einem Anflug von Galgenhumor sagen: Nein aber,so was von Hitze! Und weil die Begegnung nun just [32] in eine Ruhepause fiel, so trat er näher an die ihm wohl vertrauten Strubenweidleute heran. Ein freundlicher Gruß wurde getauscht, und dann blieb Friedli vor Christian stehen. Der Bauer fühlte den verwunderten Blick und sagte: „Weißt, das Geschirrlein mahnt mich an das Meitschi, an das Züseli. Zum erstenmal bringen wir den Roggen ein ohne es. Ach Gott, wie fehlt mir das Meitschit Mir ist trotz dem glahrigen?Wetter, als schiene mir keine Sonne mehr.“
„Ich glaub's dir gern, daß euch das heitere Kind fehlt. Ja, ja. Ich weiß schon, wie's tut, wenn man so eins ums andere ziehen lassen muß; aber das ist der Welt Lauf.“
„Weißt Friedli, seitdem ich das Meitschi drüben an der Dornhalde in der Werkstatt gesehen, muß ich vor jedem Kacheli denken: Wo der Mensch mit der Erde in Berührung kommt, ist ein Kreuz dabei.“
„Ja, so ist's,“ sagte Friedli, „verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich nähren dein Leben lang. Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.“
Dieses Zitat aus der heiligen Schrift, fest und feierlich auf dem Acker selbst gesprochen, unter dem schwülen Himmel, durch dessen weites Gewölbe von Zeit zu Zeit ein ferner Donner rollte, machte einen merkwürdigen Eindruck auf die rastenden Bauernleute. Sie empfanden [10] nicht das Harte, das in dem heiligen Worte liegt,sondern die Zuversicht, daß sie durch ihre mühsame Arbeit eine göttliche Bestimmung erfüllten, zu Gott in einem besondern Verhältnis stunden, das Heilsgewißheit in sich barg. Sie wußten, daß der an den Pforten des Paradieses ausgesprochene Fluch nicht das letzte Wort des Schöpfers zu den Menschen ist.
Christian erhob sich und ging ein paar Schritte mit dem Evangelisten, während die Familie sich wieder an die Arbeit machte.
„Bist etwa in Sorge um das Züseli?“ fragte Friedli.
„Selb nicht,“ versicherte Christian, „das Meitschi geht seinen Weg sicher. Dem bleibt der Lätt nicht an den Fingern hängen. Aber ich selber hätt's übel nötig.Schau, das Marlisi ist voller Verbunst?o gegen die im Saarbühl, und ich mag mich wehren, wie ich will,so nimmt's mich auch in diesen Wirbel hinein. Solang das Züsi ums Haus herum gesungen hat, blieb das Gewölt lugg.“‘ Aber seither hängt der Nebel durch alle Löcher bis z'hinterst in die Stuben hinein. Es geht so mühsam, so schröcklich gnue.“
Friedli schwieg noch ein Weilchen still, als wollte er Christian Zeit lassen, den Kübel seines Jammers bis auf die letzte Neige zu leeren. Dann sagte er: „Du bist lätz brichtet, Christen. Hock da einen Augenblick nieder, so können wir ein Wort miteinander reden.“Er wies auf eine umgehauene Tanne. Als Christian sich niedergelassen, trat Friedli mit einem Fuß neben [9] ihm auf den Stamm und begann auf den vor sich in den Straßengraben Stierenden einzureden: „So lange ihr beide, du und deine Frau, allzeit in ein und dasselbe Loch hineinschaut, kommt ihr nicht zu einem frohen Gedanken. Ihr wisset doch so gut wie ich, daß es zuletzt nicht darauf ankommt, wie viel Fuder und Garben Einer einbringt, sondern wie er den Weg in die Ewigkeit findet. Und da läßt es sich noch gschaue, wer den leichtern Weg hat, ob ihr zwei oder die im Saarbühl.Ich, an deinem Platz, tauschte nicht, Christen. Schau,ihr beide bildet euch ein, die drüben auf dem Saarbühl seien wie die Vögel im Hanfsamen, und ihr hättet's immer nur bös. Ich aber sage dir: Du bist ein Freiherr von Gottes Gnaden auf deiner Strubenweio,dein Bruder aber ist jedermanns Knecht. Gib zu,Christen, du bist dein eigener Herr und Meister. Deine Arbeit ist zwar hart, und der Boden gibt dir's nicht ring; aber was du erntest, ist dein. Du kannst damit tun, was du willst. Vom 3'Ackerfahren bis zum Mähen hat dir kein Mensch ein Wort dreinzureden. Du kaufst und verkaufst, wie es dir beliebt. Und was noch viel schöner ist, du kannst denken, reden, schweigen, wie dein Gewissen dir's befiehlt. Niemand als deinem Gott bist du Rechenschaft schuldig. Schöner, vornehmer kann's keiner auf dieser Welt haben. Und das alles, weil du dem Andern seine Sache gegönnt, nichts an dich gerissen hast und als ein freier Mann in die Stille gegangen bist. Laß dich's nicht verdrießen, wenn die Teute dich []XV auslachen und nicht verstehen, daß du diesen Weg eingeschlagen hast. Es ist in Wahrheit der leichtere Weg als der deines Bruders. Der ist reich und kommt daher wie ein Großer des Landes. Aller Augen sind auf ihn gerichtet, und darum ist er aller Knecht. Keinen Schritt kann er tun, ohne sich zu besinnen, ob er nicht damit diesen oder jenen vor den Kopf stoße. Er kann nicht einmal essen und trinken, wie es ihm behagt. Wie viel hundert Schoppen hat er schon wider Willen trinken müssen! Er darf nicht schweigen, wann und wo es ihm gut scheint. Er muß reden, wo er nicht Bescheid weiß,muß loben, wo er nichts Gutes sieht. Nein, Christen,den beneide du nicht! Du sollst ihn aber auch nicht verachten. Lieben sollst du ihn um der Last willen, die er trägt.“
„Die Tast scheint ihn nicht hart zu drücken,“ warf hier Christian ein, „sonst wäre er nicht übermütig.Hat er nicht seinem preisgekrönten Stierkalb meines Sohnes Namen gegeben! Das steht in der „Bauernzeitung“.
Friedli fuhr fort: „Es ist nicht unsere Sache, über ihn zu Gericht zu sitzen. Er geht einen schweren Weg,und auch dieser Weg führt zu Gott; denn eines Cages wird dein Bruder in sich zusammenbrechen und sagen:„Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele; ich bin nicht besser denn meine Väter“. Und wenn er dann seinen Gott versteht und seine eigene Ohnmacht eingesehen, so wird's auch nicht fehlen, daß Gott, wie zu []**v
Elias, auch zu ihm sagen wird: Gehe wiederum deines Weges durch die Wüste!“ Dann wird er seinen Weg gehen, innerlich klein und demütig, aber geläutert und mit großem Segen für sein Haus und all das Volk,das Gott ihm anvertraut. O, es ist schwer regieren,schwer, so vieler Menschen Vater sein. Man muß mit den Regenten Mitleid haben, denn sie leiden für viele.“
„Es hat ihn aber niemand gezwungen, diesen Weg einzuschlagen,“ brummte Christian.
„Nein, Christen; aber er lag offen vor ihm, und es ist um so verdienstlicher, wenn er ihn freiwillig gegangen ist. Er hat ihn mit guten Absichten angetreten,das weiß ich. Schau, das müssen wir achten, wenn ein klar blickender und wohlgesinnter Mensch sich dazu hergibt, Regentenpflichten zu übernehmen. Wie stünde es um uns, wo wäre unsere freie, glückliche Schweiz,wenn keiner sie auf sich nähme und jeder nur für sich und sein Haus leben wollte? Wir denken viel zu wenig mit Dank an die, welche um unser Lanö gelitten haben oder noch leiden. Nicht zu reden von Gott, der nicht müde wird, zwischen Boden und Genfersee allen Fluch in Segen zu verwandeln. Wart nur! Wenn's einmal einen Schreckschuß gibt, dann werden die Spatzen auffliegen. Ja, du wirst mich schon verstehen. Ich meine,wenn's einmal am Jura donnert, aber nicht so wie jetzt eben, vom Wetter, sondern aus den Kanonenrohren, wenn der Strahl des Verderbens nicht von Gott, sondern von Menschenhand gereiset wird, dann [37] wird noch mancher erwachen und plötzlich merken, wie gut er eingenistet war. Vielleicht werden sie dann endlich aufbrechen, ihrem Gott entgegenzugehen.“
Durch eine Waldlücke sah man, wie der Wetterwind drunten auf der Talstraße in hohen Staubwirbeln einherfegte, und zugleich begann es wie von titanischen Atemstößen in den Cannwipfeln des Tugikrachens zu brausen.
Christian stand auf und sagte zu Friedli: „Komm,ein bös Wetter ist im Anzug. Komm 3'Schermen bei uns, Friedli. Was du mir gesagt, mußt du droben noch einmal dem Marlisi sagen. Schau, es trägt nichts ab,daß du's mir sagst. Ich glaube dir's, du hast recht.Aber ich kann's meinem Weibe nicht weitergeben, ich habe das Wort nicht dazu.“
„Nein,“ antwortete Friedli, „laß es für heute genug sein. Sie warten droben in Rotenbalm auf mich.“
„Du kommst nicht mehr trocken hinauf.“
„Mag sein; aber ich habe nicht die Freiheit, bei dir zu bleiben. Bhüt dich Gott, Christen.“
Friedli wandte sich zum Gehen. Noch einmal vernahm Christian seine Stimme: „Halte, was du hast,auf daß dir niemand deine Krone nehme!“ Dann verschlang der mächtig aufbrausende Wald den Mann Gottes.
Christian stieg langsam und versonnen bergan.Mächtig hub es hinter ihm, in der Tiefe der Waldschlucht, zu tosen an. Wie ein Roggenacker wogte der von Tavel, Die heilige Flamme [98] dunkle Cann unter dem Winde. Die Tuft ward finster,und in wilden Akkorden mischte sich das Cosen des Sturmes mit dem Brüllen der Donner. Der Berg flammte im Blendefeuer der Blitze.
Kaum war der letzte Schneggen voll Garben am Nußbaum angelangt, koppelte Christeli die beiden Pferde,die fast nicht zu halten waren, los und ließ sie dem Stall zu traben. Von der andern Seite flüchtete sich das Völklein der Erntenden unter das im Wind erschauernde Schindeldach des alten Bauernhauses, dessen kleine Fensterscheiben ob dem Donner in ihren ausgedörrten Rahmen klirrten.
In silbergrauen Wogen brauste schon die Regenflut wagrecht gegen die sonnenverbrannte Hauswand. Dessen nicht achtend, kam Christian Tellenbach unbeschleunigten Schrittes das Brachfeld herauf. Als seine dunkle Gestalt vor dem Feuerschein der Blitze sich im Türrahmen abzeichnete, war Marlisi damit beschäftigt, das Herdfeuer anzufachen. Eben wollte sie eine Zeitung zerknüllen, als ihr Blick auf diese fiel. Da war ein kleines Bild drin, ein junger Stier von tadellosem Körperbau und schnurgeradem Rücken, und darunter stand in fetten Lettern: „Christeli. Einjähriges Stierkalb, an der Viehschau in Ostermundigen mit dem 1. Preis gekrönt.Eigentümer Herr Großrat Tellenbach auf Saarbühl bei Walpersboden“. In aufzischendem Grimm ballte Marlisi das Blatt zusammen und wollte es ins Feuer werfen! aber plötzlich besann sie sich anders, faltete das
[59]Papier wieder auseinander, strich es mit ihrer ledernen Hand glatt und legte es auf die Kachelbank. „Das wird aufbewahrt,“ sagte sie mit sprühenden Augen zu Christian, „das muß noch einmal zeugen wider sie.“
Christian rutschte auf der Wandbank hinter den Tisch bis dicht ans Fenster, stopfte mechanisch seine Pfeife,ohne sie anzuzünden, und schaute dann dem Coben des Wetters zu. Lange wurde kein Wort gewechselt. Dann hielt es endlich Marlisi nicht länger.
„Schon recht,“ sagte sie, „der Friedli; aber so einer hat gut reden. Er weiß nicht, wie die Welt hinten herum aussieht. So einer, dem alle Teute nur das Sonntagsgfräß ꝰ zukehren.“
Christian antwortete nicht, aber etwas wie ein Lachen zuckte ihm um Hals und Schultern. Er dachte an den „Freiherrn von Gottes Gnaden“. Marlisi verfolgte bei allem Hantieren ihren Mann mit forschenden Blicken.Er ist kurlig,“ dachte sie und machte keinen neuen Versuch, ihn aus seinen Gedanken aufzustören. Als er aber sich erhob und auf den Weg zur Cüre vor sich hinmurmelte: „Freiherr von Gottes Gnaden auf der Strubenweid“, sagte sie sich: „Er ist meiner Seel ein wenig lätz im Kopf, der Christen.“[]VI.
Auf dem Rathause zu Bern flatterte farbenprächtig das Bernerbanner in der frischen Herbstbise. Der Große Rat tagte. Hundert harte Bauernhände hoben sich, um die einzelnen Artikel eines neuen Gesetzes gutzuheißen. In kleineren Gruppen schoben sich dazwischen weichhäutige Hände, die nur den blendend weißen Grund des Papieres zu pflügen pflegten. Zwischen den Säulen der Portlaube standen vierschrötige Männer vom Tande, die Daumen in den Armlöchern der Weste, und berieten sich mit städtischen Abgeordneten über Handel und Wandel. Advokaten und andere Leute, hinter denen des Alltags Arbeit immerfort Fäden zieht, kamen lässig mitten in die Sitzung und ließen sich mit ihren Ledermappen ächzend in die grünen Polster plumpsen. Abgeoronete, die bäuchlings etwas zu erobern hofften, legten sich zutraulich vor den Regierungsräten über den Tisch, und die Herren Direktoren bemühten sich pflichtschuldigst und wahlfromm, ihren Ärger über die Postulanten zu verbergen. Der Ratsweibel und seine Gehilfen wanden sich, Drucksachen verteilend, in den grünen Halbkreisen um spitze Kniee und rundliche Bäuche. Das Flattern [101] und Knistern der Papierbogen mischte sich in das Flüstern der Abgeoröneten. Der Präsident in seiner einsamen gelben Nische mit dem blauen Muscheldach strengte sich aufs Äußerste an, den langwierigen Ausführungen eines Kommissionsreferenten zu folgen. Ein Dutzend Ratsherren hatte sich im Vorzimmer Stelldichein gegeben, und ihrer zwei, deren Zigarren erst halb abgebrannt waren, rauchten auf der großen Freitreppe zwischen den Oleandern und Granatbäumen die Stummel zu Ende. Sie waren immerhin des Winks gewärtig, falls ein Namensaufruf stattfinden sollte.Wie sie mitzustimmen haben würden, das ließ sich ja mühelos den Fraktionsgenossen abgucken oder abhören,da die Anfangsbuchstaben ihrer Namen nicht unter den ersten des Alphabets standen.
Herr Senno von Hahnenberg, einer der letzten bernischen Landjunker, saß in des Rates Mitte und ließ,seine Umgebung vergessend, die träumerischen Augen hin und herschweifen zwischen den beiden großen Olgemälden, welche die Stirnwand des Saales zieren.Das eine gewährt einen Blick in die üppig grünen,friedliche Schönheit und Wohlhabenheit atmenden Weiden und Tannenforste des Juras sorgenloser Gottesfrieden unter blauem Himmel das andere erinnert an die schmerzdurchwühlten Zeiten, da in furchtbarem Gericht eine zersplitterte Generation hoffnungslos um die Freiheit des ihr anvertrauten Landes rang Rauchwolken über zerstampften, blutgetränkten Saat[103] feldern. Ob es nun dabei bleiben wird? An das Ohr des Abgeordneten von Hahnenberg schlug, hoch und dünn, doch mit dem Gewicht einer Greisenstimme, das Glöcklein der prachtvollen Pariser Pendule, der einzigen lebendigen Seele im Saal, die jenen Sturm noch miterlebt hatte und deren heilige Aufgabe es ist, an den sich wiederholenden Wechsel der Zeiten zu erinnern.In Sennos Brust lebte der Schmerz seiner Väter nicht mehr als Leidenschaft. Die Freude an seinem neu erblühten Vaterland hatte ihn erbleichen lassen, wie die Sonne einem Bild an der Wand die glühendsten Farben nimmt, wenn man sie gewähren läßt. Senno liebte sein Volt und sein Vaterland, und er wußte kein höheres Ziel, hegte keinen innigeren Wunsch als den, einmal für dies sein Vaterland den Degen ziehen zu dürfen. Nicht Pflegen und Bauen, wiewohl er auch daran mithalf, war sein Ideal, sondern Verteidigen, zeigen, daß man dafür zu bluten imstande.Ist es nicht ein seltsam Ding an uns armen Menschen,daß in unserer Seele immer zunächst am Empfinden herrlichen Besitzes der Gedanke an dessen Verteidigung gegen andere liegt?Auch Herr Senno folgte also nur mit halber Teilnahme den Verhandlungen des Rates. So gut wie allen andern war ihm bewußt, daß das, was hier geschah, gewissermaßen nur so eine Art notarieller Verschreibung dessen darstellte, was schon außerhalb des Ratssaales vereinbart war. In der Demokratie [157]u wird nicht nur am grünen Tisch, nicht nur in den Ratsstuben regiert, sondern draußen auf dem grünen Teppich des blühenden LTandes, unter den behäbigen Dächern, in den Hinterstuben, dann freilich auch in den Wirtshäusern, in den Eisenbahnwagen, auf dem Markt unod endlich erst im Rathaus. Und da regiert alles mit, der Gelehrte und der Taglöhner, das Haupt der Familie, die Mutter, ja sogar die Kinder, jedes,indem es seinen Einfluß auf die andern geltend macht.Leben heißt regieren, denn Regieren ist dienen und beherrschen in einem Zug. Wer weise dient, wirkt am Gemeinwohl mit durch seine Unteroronung, und wer es versteht, seinem Willen zum Guten andere dienstbar zu machen, der tut es fürs Ganze. Die Auf-gabe der Regenten ist es, all diese Willensstränge zu binden zur mächtigen Garbe des Gesamtwillens. So wurzelt in tausend und abertausend lebendigen Fasern der gesunde Baum der Volksherrschaft im Lande der Eidgenossen, und niemand kann ihn ausreißen. Der Sturm kann ihn brechen, der Blitz ihn versengen, aber die Wurzel reißt kein menschlich Wesen aus den tiefen Spalten seines wundersamen felsigen Nährbodens, und so lange Gottes Segen auf die Berge träuft, schlagen sie aus zu neuem Leben.
Noch während sie drüben, unterm flackernden Bärenbanner im Namen des Volkes ratschlagten, hielt im Hintergrund einer Weinstube an der Aarbergergasse Fritz Tellenbach Rat mit dem Krämer Buri, der heute [105] auch einmal seinen schlagflüssigen Leib der Eisenbahn anvertraut hatte, um in der Stadt allerhand Geschäfte zu besorgen. Der Großrat erzählte, daß man ihn heute wieder einmal in eine Kommission gewählt habe, nämlich in eine Kommission für das Gesetz betreffend die kantonalen Viehprämiierungen. Das sei ihm nicht angenehm, da er gerade in den nächsten Jahren einen besonders schönen Viehstand werde zur Schau stellen können.
„Einen Muni habe ich dir,“ sagte Fritz und leckte sich den Rotwein aus dem dicken Schnauzbart, „einen Muni, wie man ihn schöner nicht leicht züchtet.“
„Weiß schon,“ meinte Buri, „er mag dir schon etwas einbringen, den Ärger dazu hast du zum voraus gehabt.“
„Was denn?“
„Hast's nicht gemerkt, wie es droben auf der Strubenweid übel angegangen ist wegen des Christeli?“
„Ach, du mein Gott! 's wär auch der Rede wert!Da kann doch ich nichts dafür. Sie haben dem Tierchen so gesagt im Stall. Hab's kaum gewußt. Und als es dann auf der Viehschau hieß, man müsse ihm einen Namen geben, da ist's mir entwischt: Sie sagen ihm daheim Christeli. Ich hab' meiner Seel nichts weiter gedacht dabei. Dann kam's in die Zeitung.Jetzt ist's halt so. Am besten ist's, man rede davon nicht mehr als nötig. Was Christens Christeli angeht, so werde ich den schon wieder finden. So ein [05] sauberer Göttibatzen wird wohl auch dieses Bürschlein herumlüpfen. Und mit den Jungen gheitn man auch die Alten um. Nein, aber wer mir mehr Sorge macht, das ist mein eigener Bub.“
Der Krämer sagte kein Wort, aber in seinen wässerigen Augen glotzte lautere Neugier. Tellenbach fuhr fort: „Mür kommt's manchmal vor, als hätte mir ihn jemand vergiftet. Einmal aus ihm selber heraus kommt das nicht. Seit Menschengedenken sind wir Bauern gewesen, und wenn wir's nicht im Blut hätten, so wäre das Saarbühl nicht, was es heute ist. Und meine Frau ist doch auch eine Bauerntochter. Wo zum Donner hat denn der Bub das her?“
„Ich hab's dir ja schon einmal gesagt,“ warf jetzt der Krämer ein. „An deiner Stelle würde ich dem Jungen den Weg ins Sägessenmoos verbieten und schon herwärts des Rotwassers ihm auf die Füße aufpassen.“
„Du hast den Friedli im Verdacht? Ich habe da drüber nachgedacht; aber ich kann mich nicht entsinnen, wo die beiden zusammengekommen wären. Im Sägessenmoos gewiß nicht.“
Der Krämer hob seinen dicken Kopf, blickte pfiffig durch die Weinflasche und machte mit der Hand eine Bewegung, als wollte er etwas in der Tuft auswischen. „Die Teute gehen um. Die haben Anhang.Magst mir's glauben oder nicht. Da ist unser Pfarrer ein Unschuloströpfli dagegen. Und das Verfluchte [106] ist, daß es gegen sie keine Handhabe gibt. Einen Pfarrer kann man doch noch sprengen, wenn die Zeit um ist. Aber so Einer ist einghocket, daß ihn der Teufel mit sieben Zentnern Sprengpulver nicht um einen Zoll lüpft.“
In Tellenbach kämpfte der Argwohn mit dem Biedersinn. Die Leute vom Saarbühl hatten es immer mit dem jeweiligen Pfarrer von Hahnenberg gehalten, wenn Landeskirche und Pietismus nicht einig gingen. Solange aber Friede zwischen ihnen waltete, hielt man's gegenüber den Evangelisten mit dem Weibe des Pilatus und lebte nach der Parole: „Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten“. Ja, man legte sogar ein gewisses Gewicht auf die Gewogenheit des Mannes vom Sägessenmoos, dessen Feinoschaft dem Hofe großen Schaden hätte bringen können. So Teute, die mit der Geisteswelt in Verbindung stehen .......Aber eben, gerade in dieser Überlegung war etwas Unheimliches, das Fritz Cellenbach empfänglich machte für Buris Einflüsterungen.
„Also, da gibt es nichts z'brichten,“ fuhr Buri fort. „Gescheidter wär's, den JZungen in Sicherheit zu bringen. Schau, Fritz, zwängen läßt sich da nichts.Wenn Einer den Geist nicht hat zum Bauern, so macht kein Herenmeister aus ihm einen Landwirt. Da ist's besser das Holz zu dem brauchen, wozu es taugt.Was hast du davon, wenn er dir dann den schönen Hof verliederlicht? Wer weiß, es kommt auf anderem
[107]Wege nur noch schöner. Probier's mit einem Beruf,der das ausnützen kann, was da ist. Wie wär's mit einem Baugeschäft? Du hast schönen Wald, und daraus läßt sich etwas machen. Die Bauleute haben Arbeit. Schau nur rings herum. Kennst du etwa einen Säger, der nicht alle Hände voll zu tun hat?Aber z'grechtem muß man's anfassen, nicht nur so ein altmodisches Baggelwesen mit Gattersägen, die nur alle Halbtag dreimal niedergheien. Das muß ketzern wie der Teufel, mit Elektrischem, bei Cag und Nacht,daß man vor Bretterbeigen die Hausfirst nimmer sieht.Schick den Buben aufs Technikum, daß er mit Teib und Seel hinter alle Schliche kommt und andern über ist. Unterdessen kannst du weiter bauern, und wenn du nicht mehr gfahren magst, so finost schon einen zuverlässigen Meisterknecht.“
Fritz Tellenbach hörte andächtig zu und strich einmal übers andere den Schnauzbart von den Lippen.Buris Rat kleidete in Worte, was er schon oft in seinem Herzen bewegt. Er ging mit glänzenden Augen darauf ein und horte schon die Zirkularsägen mit ihrem Kreischen den idyllischen Dorffrieden von Rotenbalm zerreißen. Denn dorthin mußte die Säge, das war längst ausgesonnen und zwar rasch noch bevor der dortige Säger modernen Betrieb eingerichtet. Im Tugikrachen mußte ein Kanal angelegt, ein kleines Kraftwerk gebaut werden. Tellenbach sah schon ein Netz von Drähten den Nagelfluhwänden entlang laufen,[108] sah, wie Elmsfeuer Glühbirnen durch den unwirtlichen Tann schimmern. Es war eine Zukunft. Geld? Mit Hypotheken auf den Saarbühlhof ließ sich leicht aufbringen, was etwa noch fehlen sollte.
In seinem Glück befahl Fritz Tellenbach eine Flasche vom Bessern.
„Ja,“ sagte er, „du hast recht. Ich hab' auch schon an so was gedacht. Aber ich habe bis jetzt die rechte Tust dazu nicht gefunden, weil ..... Aber eigentlich ..... wenn's jetzt einmal so ist mit dem Jungen, so wird mir's niemand verargen können. Was kann ich dafür, wenn er das Zeug zum Bauern nicht hat?“
„Donner auch! Wer kann dir davor sein? Es wird dir niemand Dank dafür sagen, wenn du das unbenützt lässest, was in deinem Voarteil liegt.“
„Nein, gewiß nicht. Aber .... es ist mir nur wegen ....“
„He?“
Was Fritz Tellenbach noch nicht recht zu reimen wußte, das waren diese Projekte und sein aufrichtiges Gelöbnis, dafür zu sorgen, daß des Vaters Geist im Saarbühl heimisch bleibe. Er wußte, daß der Vater sein Haupt ablehnend geschüttelt haben würde, und gar zu gerne hätte er eine Stimme vernommen, die ihm über den Zwiespalt hinweghalf, aber lieber nicht die Stimme des Krämers. Wohl war Buri von langer Zeit her des Hauses Freund und des Vaters kluger Ratgeber gewesen; aber ein unbestimmtes Gefühl sagte
[1]Fritz, daß er jedenfalls nicht der Priester sei, der in des Hauses Allerheiligstem seine Stimme erheben durfte.
Vorderhanod blieb es Tellenbach erspart, den Krämer in seine geheimen Bedenken einzuweihen, denn jetzt eben öffnete sich die Cüre der Wirtschaft, und einige Ratskollegen traten ein.
„So so,“ hieß es, „ihr seid noch immer am 3 Nüüni,und wir wären schon bald nache für dos 3'Mittag.“Man neckte sich und kam dann bald in ein eifriges Gespräch über die Tagesfragen. Fritz Tellenbach nahm wenig Teil daran. Seine Gedanken kamen nicht mehr los von den Projekten für Rotenbalm.
Als sie abenos spät selbander von der Eisenbahnstation über das KienBergli gegen Walpersboden wanderten, mahnte Buri noch einmal: „Überleg dir's,Fritz. Aber versäume nichts. Es kann dir jeden Tag Einer zuvorkommen.“
Was Tellenbach dem Krämer nicht anvertrauen konnte, das unterbreitete er der berufenen Priesterin des Hauses, seiner Frau. Und ob es auch derselben an der richtigen Salbung fehlte, sie ging auf ihres Mannes Sorgen ein. Noch ehe der Morgen graute,war des Bauern Seelennot zerronnen; denn Frau Berta war keinem Gedanken zugänglicher als dem an eine goldene Zukunft. Sie erklärte es rundweg als Torheit, dem Andenken an die Toten zuliebe das fahren zu lassen, was doch geeignet sei, dem Werk der Verstorbenen die Krone aufzusetzen.[]VII.
Jeglichen Glanzes baar standen in einer großen,niedrigen Werkstatt an der Dornhalde hunderte von Töpfen und Tellern, wie sie eben aus dem Raume nebenan, von des Cöpfers Drehscheibe gekommen waren,eintönig grau, öde und matt. Und doch war etwas in den trüben Reihen, was sie schon über das Nichts-sagende erhob. Eben noch war das alles Erde, formlose Masse, die sich hemmend an des Menschen Sohlen hängt; nun aber hatte es Form und Gestalt gewonnen,zierliche, nützliche Form, und die werdenden Gefäße waren auf dem gottgesegneten Wege, den Menschen das Leben zu erleichtern, ihrem Auge wohlzutun, ihr Herz zu erquicken. In dieser Geburtsstätte eines Wunders saß, umgeben von tausend Geschirrchen, deren rötlicher Con verriet, daß sie die erste Probe der Lebensfähigkeit, den ersten Brand glücklich überstanden hatten, das Züseli von der Strubenweid. Auf niedrigem Taburett saß sie, in ein verkleckstes Überhemd gehüllt,nahm Teller um Teller, drehte sie mit der linken Hand und goß aus Farbtopfchen, welche die Gestalt einer altrömischen Ampel hatten, in quellenden roten, grünen,gelben Tröpfchen Blumen und Ornamente auf die sauberen Rundungen. Was half es, daß die bleiche
[1141]Herbstsonne ihren ermunternden Schein durch die Fenster hereinwarf? Noch nahm kein glanzfähiger Stoff das himmlische Lebensgut dankbar auf. Aber unter Züselis sorgsam flinken Händen schwand des Cones armselige Ohnmacht, ward leucht und freuensfähig die geformte Erde. Noch eine Nacht in der Gluthitze des Ofens, und die zur Labung einladenden Gefäße vermochten das Sonnenlicht weiterzuwerfen, kleine Planeten, die in der Nacht rußiger Küchen, im Halbdunkel dumpfer Stuben Licht verbreiten durften.
Züseli saß allein. Ihr Kittel war um keinen Cupfen schöner und reiner als der ihrer Kolleginnen. Sie war für alle, die vorübergingen, eine „Malere“ wie jede andere. Aber sie saß allein, und wenn sie ein und ausging, so drehten sich wohl die Köpfe der Arbeiter nach ihr um, aber keine Hand berührte die schlichten Falten ihres Kleides, kein unsauber Wort schlug an ihr Ohr.Respekt schloß hinter ihr die Türe zur Malerwerkstatt.Das öde Gemach ward zum Heiligtum, in dem außer dem leisen Geräusch der Arbeit höchstens dann und wann von blühenden Lippen ein Liedlein erscholl, nicht aufdringlicher als das Summen einer Hummel draußen in den Astern.
Der Spott sie nannten unter den Coöpfern Züseli die „Lättheilige“ war anfänglich auf den Drehscheiben und zwischen den halbgeformten Gefäßen herumgehuscht, dann aber vor der Schwelle der Malerei bald verblödet und draufgegangen.
[112]Es ging gegen Abend, da war's einmal Züseli, als huschte etwas dunkles, lebendiges an ihrem Fenster vorüber. Sie konnte nicht aufstehen und nachsehen, aber der vorübergleitende Schatten hatte ihren Gedanken eine andere Richtung gegeben. Sie glitten von der unablässigen Sorge um den guten Elter auf der Strubenweid ab auf Einen, der ihr schon einmal ins Fenster geguckt, droben im Schulhause zu Rotenbalm. Das verdarb ihr die Behaglichkeit ihrer Gedankengänge,denn ihr Herz gehörte den Alten auf der Strubenweio,ganz besonders dem Stiefvater, der wie ein altes Kind an Züseli hing. Und was mit dem Saarbühl zusammenhing, war auf der Strubenweid unwillkommen.
Endlich ward Feierabenod gemacht. Jedes räumte seine Sachen zusammen und ging zum Brunnen, die Hände zu waschen. Da sah Züseli querüber einen jungen Burschen die Straße hinan schlendern, welche über den Bifangsattel nach dem Bädli und Rotenbalm hinaufführt. Kein Zweifel, es war der junge Tellenbach vom Saarbühl. „Schlendre du nur zu,“ sagte sich Züseli und erblickte mit stiller Genugtuung ihr triumphierendes Spiegelbilod im Brunnentrog. Die verstohlenen Blicke,mit denen sie Hansens zögernde Schritte verfolgte,vermochte niemand um sie her wahrzunehmen. Das traf sich nicht übel. Heute war Mittwoch, da ging Züseli nicht direkt heim, sondern ins Sägessenmoos,wo Vater Friedli seine Bibelstunde hielt. Man gab ihr dort Nachtessen, und manchmal kamen Leute von [113] hinter der Stahrenfluh, mit denen sie dann den Heimweg antreten konnte. Sägessenmoos lag in entgegengesetzter Richtung und das Versammlungshaus auf dem Bergrücken, der die Dornhalde vom Aaretal abschneidet.
Als Züseli das Dorf verlassen hatte und behenden Ganges bergan stieg, hörte sie Schritte hinter sich. Und kaum hatte sie sich umgewandt, als sie in der Dämmerung Hans Cellenbach erkannte.
„Wart! Züseli, wart!“ rief er.
Sie bemühte sich harmlos zu erscheinen und wünschte Hans einen guten Abend. Mit ungläubig lächelndem Gesicht fragte sie: „Kommst etwa auch zum Friedli in do Stund ?“
„Das nicht,“ antwortete er, „ich mag's dem Vater nicht z'leid tun. Sonst warum eigentlich nicht? Nein, aber ich habe dir was zu sagen.“
„Und ?“
„Ich verreise morgen ins Welsche.“
„Und um mir das zu sagen, bist du ertra hier herüber gekommen?“
„Ja, Züseli, ganz allein für das. Hab' wollen adie machen von dir.“
„Du, halt mich nicht für einen Narren!“
„Es ist mir Ernst, Züseli.“
„So was war sonst nicht der Brauch im Saarbühl.“
Eben ist's nicht; aber es steht nirgenos geschrieben,daß das so bleiben müsse bis zum jüngsten Tag.“von Tavel, Die heilige Flamme
[114]Während sie so mit einander redeten, kamen Leute den Berg herauf, vermutlich auf dem Weg zur Bibelstunde begriffen. Züseli war es peinlich, mit einem jungen Burschen so im Halbdunkel des Abends getroffen zu werden.
„Henu,“ sagte es, „besser wär's schon, man lernte sich im Frieden vertragen; aber es nähme sich doch schöner aus am hellichten Cage. So, also du willst ins Welsche? Nun so bhüet dich der lieb Gott, und komm brav und gesund wieder heim. Adie, Hans.“
Sie bot ihm die Hand. Hans hielt sie fest und wollte Züseli zurückhalten, bis die Leute vorüber wären. Aber Züseli machte sich los. „Adie,“ sagte sie noch einmal und schritt weiter.
„Adie,“ sagte Hans, wie einer, der den Abschied noch nicht als endgültig betrachtet.
Dater Friedli predigte mit großer Wärme; aber Züseli war nicht bei der Sache. Kunterbunt gingen ihr die Familiensorgen von der Strubenweid und dem Saarbühl durch den Kopf. Nein, mit Hans durfte sie sich nicht einlassen. Zum übrigen Verdruß ertrüge das Christian Tellenbach nicht. Er war ja ohnehin schon so kurios seit einigen Monaten.
Von den Leuten hinter der Fluh war heute niemand im Sägessenmoos, und Züseli konnte auf dem langen Heimweg ungestört ihren Gedanken nachhängen. Unter dem, was Hans ihr gesagt, war ihr besonders aufgefallen, daß er es nicht von sich geworfen, in die Ver[]J F sammlung zu kommen. Nur dem Vater zuliebe wollte er nicht. Ob es ihm damit ernst war? Wenn er es nicht nur sagte, um sich damit näher an ihr Herz heranzupirschen, so wäre es kein schlechtes Zeugnis für den Burschen. Achtung und Rücksicht für die Eltern galten bei Züseli sehr viel und schienen ihr im Saarbühl nicht selbstverständlich. Und dann das war ausgemachte Sache für die „Lättheilige“ verband sie sich keinem, der nicht in allen Stücken ihren Glauben teilte und der Religion den gleichen Wert für das Leben beimaß wie sie. Zehnmal würde sie jeden auf die Probe stellen, bevor sie ihm den kleinen Finger gab. Und dann so ein reicher Bauernsohn! Oft genug hatte Vater Friedli ihnen dargelegt, wie eine Seele im Reichtum ersticken ksnne. Übrigens war ja der Hans nur ein Bub, ein ganzes Jahr wenigstens jünger als sie selbst. Immer törichter kam es Züseli vor, daß sie überhaupt in ihrem Herzen eine Vermutung von ernsten Absichten des Burschen hatte aufkommen lassen. Von beiden Seiten würden sich die Alten dagegen einhellig auflehnen.
Züseli ahnte noch nichts von der Gewaltlust der Tiebe, die, einmal im Bewußtsein ihrer Kraft, an alles sich heranmacht und umso trotziger zu Felde zieht, je dräuender der Widerpart. Ihr Kopf sann unod rechnete,wog und prüfte, und sie wußte nicht, daß der leise Wioderstand, auf den ihre braven Gedanken stießen, in ihrem eigenen Herzen seinen Ursprung hatte.
[116]Plötzlich unterschied sie jenseits des auf der Straße liegenden Waldschattens, auf einer monöbeschienenen Strecke, eine Mannsgestalt. Das war wieder der Hans!Zuüseli schlug das Herz mächtig. Was tun? Mit dem Burschen nachts herumlaufen? Nein, niemals. Sie hemmte ihre Schritte und tat das solange, bis sie an die Stelle kam, wo der Fußsteig rechts nach dem Gyrgaden abbog. Den konnte nachts keiner ohne Schaden gehen, der ihn nicht blindlings in den Sohlen hatte.Der Mond warf seine matten Strahlen auf ein dünnes Nebelgespinst im Lugikrachen. Ängstlich lauschend, schlich Züseli zwischen den CTannen hinauf. War sie einmal über den Walm, der nach dem Bädli hinunter vorsprang, so gab's eine Strecke ebenen Weges, da konnte sie eilen; aber jetzt wollte sie jedes stolpern meiden.Kein Kiesel sollte sie verraten. Aber kaum war sie zwanzig Schritte waldauf gestiegen, als sie Hansens Schritte deutlicher hörte. Sie kamen näher. Er mußte sie beobachtet haben und wollte ihr folgen. Noch hatte sie Vorsprung genug. Sie hätte ihm, der den Pfad nicht kannte, leicht entwischen können; aber wenn sie ihn den Weg laufen ließ, so war ein Unglück sicher,denn beim Abstieg in den Krachen wand sich die Wegspur den Flühen entlang.
Rasch entschlossen kehrte Züseli um. Mit der Unerbittlichkeit einer Schildwache trat sie bei der Abzweigung des Fußpfades dem Burschen in den Weg.
„Hans, du gehst heim!“ befahl sie ihm. „Wenn du [117]ein rechtschaffener Mensch bist, so weißt du, was sich gehört.“
In ihre erst noch so feste Stimme floß bei den letzten Worten etwas Bittendes.
„Ich tu dir ja nichts zuleide, Züseli,“ antwortete er. „Hättest du mich heut abend ausreden lassen, so würde ich dir nicht hier gewartet haben. Ich bin kein Strolch und weiß auch, was ich von dir zu denken habe. Aber gerade deswegen bin ich hier. Wenn du mir nicht ablosen willst, so.....“
„Mach daß d'heimkommst, sag ich dir,“ unterbrach sie ihn. „Ein rechtschaffener Mann findet seinen Weg am Tag.“
„Wie soll ich ...?“
„Wenn's denn sein muß aber es wiro schon nicht so wichtig sein so komm tags in die Dornhalde.“
„Das kann ich nicht. Morgen verreise ich.“
„So rede. Aber mach, daß es rückt. Ich will nicht hier mit dir gesehen werden, und ohnehin ist's Zeit, daß ich heimkomme. Nicht, daß sie mich noch suchen kommen!“
„Sakerment! Sind wir etwa nicht Vetter und Base? Du hast dich meiner nicht zu schämen. Ist das etwas so Unerhortes, daß ich dich heim b'haupte? He?Wenn ich nicht fort müßte, meiner Seel käm ich jeden Mittwoch Abend in die Stunde, dann müßtest mich wohl leiden, du wunderliches Gitzi, du.“
„Wie du redst, Hans! Schwor doch nicht so leichtsinnigt“
[118]„So komm jetzt. Wir wollen selbander gehen. Es ist ja niemand mehr unterwegs.“
„Am Buäoli vorbei?“
„S'ist kein Licht mehr dort. Und wenn auch. Laß sie doch reden. Was könnten die uns anhaben?“
„Nüt da!“
Hans hatte Züselis Hand gesucht, um das Mädchen mit sich zu ziehen. Sie wies das ab, folgte ihm jedoch zögernden Schrittes. Hans begann mit Eifer zu erzählen, wie er mit seinem Vater uneins geworden.
„Weißt, so etwas muß man jemandem sagen können.Und wem soll ich's sagen? Die Mutter begreift's nicht.Statt daß sie dem Vater auch einmal zureden würde,er solle es nicht übertreiben, sieht sie nirgends genug.Der Vater dauert mich. Er meint's so gut und ist mir lieb; aber es hat ihn in einem Wirbel, der ihn zu tkeinem ruhigen Gedanken mehr kommen läßt. Da geht's immer hü, hü, hü, von einem ins andere. Er grämt sich, weil mir das Bauern nicht Freude macht. Aber was ist's mit diesem Bauern? Eine Treibjagd vom Austagen? bis in den Winter hinein. Und auch der Winter bringt keine Rast. Und über all dem plagt's ihn doch in der Seele, daß er nicht Frieden hat mit denen auf der Strubenweid. Er möcht's so gern; aber er weiß, daß sie's ihm nicht gönnen.“
„Sie gönnten's ihm schon, Hans. Aber dein Vater sollte nicht Mutwillen treiben mit ihnen.“
„Das tut er nicht, bei meiner Seel nicht.“
[119]„Jawohl, Hans, das tut er. Er merkt's nur nicht.“
„Nun, 's mag sein, wie's will. Einmal sollte es anders werden. Aber wie? Ich muß jetzt fort. Das tut zwar nichts zur Sache, er hört so wie so nicht auf mich. Aber, hernach, weißt, Züseli! Ich bin doch einziger Sohn. Und wenn ich einmal etwas werde zu sagen haben, so muß es dann ein Gleich?s geben. Ich steh' dir gut dafür. Und dann bist du droben auf der Strubenweid. Und wenn wir zwei uns die Hand geben ....“„Ach, Hans, ob ich dabei bin oder nicht, hat nichts zu bedeuten. Mach, was du kannst; aber ich kann dir nichts nützen.“
„Verstehst du nicht, wie ich's meine ?“
In diesem Augenblick erstarb auf beider Lippen das Gespräch. Sie gingen am Bädli vorüber und traten unwillkürlich so leise auf, daß das Geräusch ihrer Schritte im Gurgeln des herbstlich wasserarmen Wildbaches unterging. Nach der Straße zu war kein Licht im Hause. Aber als sie zehn Schritte weiter waren,bemerkten sie hinter dem Laden des kleinen Gaststübli einen Schimmer, und dem verängstigten Mädchen kam es vor, als hörte es Stühle rücken.
Schweigsam gingen sie weiter bis zur Straßenkreuzung, wo das Fahrsträßlein nach Rotenbalm abzweigt.Züseli blieb stehen und bot Hans die Hand.
„Jetzt bhüt dich Gott, Hans,“ sagte sie weich und doch entschlossen. „Geh jetzt heim.“
[9]Hans faßte die dargebotene Rechte und hielt sie fest.Er schien zu überlegen, ob er Züseli nachgeben solle.
„Geh,“ drängte sie, „der tusig Gottswillen laß mich und geh. Ich möchte nicht, daß der Elter oder sonst eins von denen droben uns hier fände.“
„Züseli,“ sagte Hans und hielt sie in seiner kräftigen Hand fest, „du hast mich nicht verstanden. Ich meine nicht, daß du droben auf der Strubenweid und ich drunten im Saarbühl einander in die Hand arbeiten sollen. Näher zusammen! Ich wollte doch sehen, ob...
„Ach Hans, hab doch Erbarmen mit mir. Halt mich nit zum Narren. Du weißt so gut wie ich, daß unsere Wege nicht zusammenführen. Schon bin ich älter als du, und was man bei euch drüben von einem Meitschi hält, dem der Lätt an den Fingern klebt, das braucht mir niemand zu berichten. Nie und nimmer tauge ich zur Bäuerin auf einem großen Hof.“
„Das ist auch nicht nötig, Züseli, ich soll Baumeister werden und die Säge in Rotenbalm übernehmen,und ...
„Nun wohl. Das mag alles kommen, wie es soll.Aber bis dahin läuft noch viel Wasser bergab. Vielleicht bist du dann noch zehnmal froh, dich anders zu besinnen.“
„Das ist meine Sache; aber wenn ich einmal wüßte,daß du mir warten willst, Züseli...“
Züseli lachte gezwungen auf: „Selb braucht dir keinen Kummer zu bereiten, Hans. Das Warten wird ohne
[141]2 8 hin mein Los sein. Aber wenn wir jetzt doch einmal an dem sind, so magst es auch gleich wissen: Wer nicht meines Glaubens ist und wem nicht der liebe Gott über alles geht, der soll nicht daran denken mich heimzuführen.“
In diesem Augenblick zuckte Züseli jäh zusammen.„Herr Jeses!“ entfuhr es ihr. „Jetzt hast's. Schau dort! Das ist gerade der Rechte, wenn der uns kennt.“
Vom Buäoli her stapfte an seinem Hakenstock der alte Krämer des Weges nach dem Walpersboden. Und zu des Mädochens Entsetzen blieb er einen Augenblick stehen, nach den Beiden herüberspähend. Züseli wollte sich loswinden. „Schau, schau! Er hat uns sicher ertannt.“
Hans aber blieb stehen, hielt Züselis Hand wie in einem Schraubstock und ballte die freie Faust. Knirschend sagte er halblaut: „Schau nur her, alter Spion! Du wirst noch Einen erleben, der dir auf dem Saarbühl die Zähne weist.“
So standen sie still, bis die plumpe Gestalt des Krämers ein gut Stück weiter war. Dann wanote sich Hans zu dem Mäochen: „Jetzt will ich dich nicht länger plagen, Züseli. Hab' Dank, tausendmal Dank. Und vergiß mich nicht. Weißt auch ich kann und will's ohne Gott nicht machen. LTeb wohl, Züseli.“
„So bhüt dich Gott.“
Rasch wanöte sich Züseli und lief, so schnell die Füße sie trugen. Ein Wirbelsturm von Hoffnungen, Ängsten [122] und Sorgen ließ sie alles vergessen, was um sie her war. Fast atemlos erreichte sie die Höhe der Strubenweid und stürmte der Gadentreppe zu, da erschrak sie abermals. Saß da nicht ihr Stiefvater vor dem Haus im Mondenschein!
„Aber VBater!“ kam sie seinem Schelten zuvor. „Was kommt dich an, um diese Zeit vor dem Hause herum zu hocken? Du solltest mit den Hühnern 3'Sädel'ꝰs. Das wäre dir zuträglicher, als nachts vor dem Hause zu bleiben, bis dir der Nebel in den Hals schleicht.“
„Laß mich,“ brummte Christian. „Mag mich der Aebel ersticken! Hab ja keine Ruh unter meinem Dach.“
„Vater, was redest du für Sachen?“ Sie faßte ihn am Arm und wollte ihn in die Küche ziehen.
„Geh nur!“ wehrte der Alte. „Mir ist hier wohler als drinnen neben ... Ach geh! Taß mich. Wollte lieber nackend in der Welt herumlaufen und Frieden haben, als da odrinn ersticken.“
„Nicht so, Vater! Du versündigst dich. Der liebe Gott hat dich doch noch immer zu deiner Sache kommen lassen.“
Der Bauer richtete einen erstaunten Blick auf sein Stiefkind, erhob sich und ging, ohne weiter ein Wort zu sagen, in die Küche. Züseli, froh, wenigstens so viel erreicht zu haben, wünschte ihm eine gute Nacht und begab sich selbst zur Ruhe.
Als sie am Morgen herunterkam, fand sie den Alten neben dem Küchenherd eingenickt. Da traten ihr die
[15]Tränen in die Augen. Ohne ihn zu wecken, ging sie in der Mutter Stube. Sie wollte einmal der Mutter ein Wort zusprechen.
„Was willst?“ fragte Marlisi unwirsch, währenod sie sich die spärlichen Zöpfe am Hinterhaupt zur Schnecke wand uno feststeckte.
Statt zu antworten, fiel Züseli über den Tisch herein. „Ach Mutter, Mutter,“ schluchzte sie, „es kommt nicht gut mit dem Elter, wenn das so fortgeht.“
„Du Babeli, meinst, ich merke das nicht schon lange?Kann ich ihm etwa seine Mucken austreiben?“
Die derbe Frau wußte schon lange keinen Rat mehr.Ihres Mannes schmerzliche Gedankengänge waren ihr verborgen. Jeden Seufzer, der ihm entwischte, beantwortete sie mit Vorwürfen über seine Nachgiebigkeit. So trieb sie Rauch und Feuer immer tiefer in die Kohlen seiner verschlossenen Crübsal hinein, und wenn es in ihm wieder einmal aufflackerte in seltsamen Worten,deren Werdegang sie nicht begriff, so schlug sie mit wohlgemeinten, aber hart klingenden Worten wieder zu. Was es doch helfe zu gränne?s über die Sache,wie er in seiner Tropf Gutmütigkeit sie verschuldet. Es wäre besser einmal aufzubrüllen und denen drüben ins Gesicht zu schleudern, was Recht und Gerechtigkeit sei.
Was wußte die Frau von Christians einstigem Gelöbnis und Sieg über sich selbst? Unter ihrem unaufhörlichen Schelten und Aufbegehren diesen Sieg zu behaupten und zu erneuern, das war des Mannes schwere
[124]Sorge. Dazu kam er in die Jahre, in denen die federnde Kraft allmählich erlahmt. Die Arbeit aber auf der Strubenweid warod nicht leichter. So wurde die Probe größer und härter. Christian wollte sie bestehen um jeden Preis. Er rang mit seinem Gott. Er ahnte,daß Gott ihn auf harten Wegen in lichte Höhen führen wollte. Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn,das war das ewige Licht, das in seinem schwer schlagenden Herzen glomm. Und wenn ein Sturm darüber gegangen und das kleine Flämmchen scheinbar zum Erlöschen gebracht hatte, dann peinigte Christian sich selbst mit dem Vorwurf der Untreue. Ein Heldenkampf tobte in dieses Gotteskindes einfältiger Brust; denn bei allem wehrte er sich aufs AÄußerste, sein Weib in Ehren zu halten, wie hart sie ihn auch in ihrer Verständnislosigkeit bedrängte. Und gerade weil er ihr so treu und ohne Widerspruch begegnete, ihr nicht harte Worte gab, ahnte Marlisi nicht, was ihr Mann litt.Sie sah ihn nur in seinem trübseligen Grübeln versinken. Ihr bangte um die Wirtschaft. Alles fühlte sie auf sich allein lasten. Darum griff sie überall derb zu, schalt lints, schalt rechts, um den Haushalt im Gang zu erhalten. Und je mehr sie diese Last empfand,desto weniger konnte sie den Gegensatz zu des Schwagers Wirtschaft verwinden.
„Mutter,“ hub jetzt Züseli wieder an, „sei mir nicht böse; aber ich glaube, du seist auf dem lätzen Tromemit dem Elter. Du solltest ihn nicht immer an die vom []
Saarbühl erinnern. Es ist jetzt einmal so und wird wohl etwa Gottes Wille sein. Der Elter kann's ja doch nicht ändern und wenn man ihn immer wieder drauf stüpft, so wird er sicher noch 3'hinderfür.“ *
„Du kommst mir grad recht, du Tüpfi. Wo kämen wir hin, wenn ich ihn nicht albeneinisch“ zwägstellte? Habe ich etwa nicht genug dran zu bühren,“ daß ich allein den Karren durch den Dreck schleipfen muß? Hab' ich's eingebrockt? Hätt' er mir gefolget, so brauchten wir nicht auf der Strubenweid zu verrebeln.“s Marlisi drängte Züseli in die Küche hinaus und folgte ihr auf dem Fuß. „Und du ja grad du, Meitschi, du hättest ein ander Leben, könntest die Bauerntochter spielen,in seidenen Cschöplene, statt drunten an der Dornhalde um einen Schinderlohn Lätt zu kneten. Siehst du das nicht? Mir zerreißt's das Herz grad wegen dir. Und jetzt kommst noch und machst mir Vorwürfe. Weiß übrigens schon, wer dahinter steckt. Das ist der Friedli,der meint auch, er sei des Herrgotts Landvogt im Walpersboden. Das ist eine alte Geschichte. Aber daß du nun meinst, du müßest auch noch seinen Profos an mir machen ...
Geh, sürfle deinen Kaffee und mach, daß d'in die Dornhalde hinunterkommst!
Diese Worte begleitete das Klirren von Cassen und Tellern, die Marlisi auf den Tisch stellte, als ob alles in Scherben gehen müßte.
„Häb' uf, Christe, und hock zuehe!“ herrschte sie ihren
[126]Mann an. Daß er das Schlafgemach die ganze Nacht gemieden und sich ihrem Vertrauen entzog, verdroß Marlisi nur destomehr.
Es war eine trübselige Mahlzeit. Eins ums Andere tam, schlürfte seinen Kaffee, nahm sein Brot und ging an die Arbeit, ohne ein Wort verloren zu haben.Christeli kam eben aus dem Stall, als Züseli in hellen Tränen die Küche verließ und sich auf den Weg machte.
„Was hat's gegeben?“ fragte er erstaunt.
„Ach der Vater! der Vater!“ schluchzte sie und lief in den dichten Nebel hinunter, der über dem Tugikrachen schwamm.
Christeli blickte ihr ratlos nach. Schon lange dünkte auch ihn, es könnte anders sein zwischen Eltern. Aber die Mutter verwöhnte ihn, zog ihn immer näher an sich heran, je weiter sie vom Vater abkam. So fand der Junge sich damit ab, daß der Vater nicht recht im Kopf sei und daß destomehr er, der älteste Sohn, den Meister spielen müsse, was der Mutter draufgängerisches Regiment ihm sehr erleichterte. Die jüngern Geschwister pfoselten mit großen Augen ums Haus herum und mieden, so oft es ging, der Mutter derbe Hände.
So marschierte die Haushaltung auf der Strubenweid bis in den Wintermonat hinein. Da geschah ein neues Knacken im morschen Bau des häuslichen Glückes.Christian, des dumpfen Druckes auf seiner Seele herzlich satt, hatte in einem lichten Augenblick den Entschluß gefaßt, auf das Saarbühl hinüber zu gehen.[]n 7
*
Eigentlich war ihm nicht recht klar gewesen, was er dort wollte. Es war ein unbestimmtes brüderliches Familiengefühl, was ihn geleitet hatte. Vielleicht hätte eine schlichte Aussprache mit Fritz ihm helfen können.Ein letzter Versuch hatte es sein sollen, den Bruder durch Vertrauen zu gewinnen. Christian hatte gehofft,auf dem Saarbühl doch noch die Spuren von des Vaters Geist zu finden. Das würde seinem Herzen den Frieden wieder gegeben haben, und er hätte des Hauses Last mit neuer Ergebung weiter tragen können.
Niemand hatte zu Hause gewußt, wo der Vater hingegangen. Als er aber zur Mittagszeit noch nicht heimgekehrt war, blickten sie einander doch ängstlich fragend an. Wir wollen ihn suchen gehen, hieß es.Eins lief bergauf, das andere nach dem Krachen hinunter. Gegen vier Uhr kamen dann die Jüngsten heimgetrippelt und berichteten, der Vater sitze am Waldsaum ob der Brach; aber er wolle nicht heimkommen. Jähen Schrecken im Herzen, gingen Marlisi und Christeli hin und brachten ihn heim. Er war völlig geistesabwesend und ließ sich führen wie ein Kind.
Was war geschehen? Christian war in seine Gedanken versunken den Hohlweg über den Kamm der Stahrenfluh hinuntergestiegen. Als er den Hohlweg verließ und auf die oberste Cerasse des Nordabhanges hinaustrat, von wo der Blick frei über das ganze Tal der Kien schweift, vom Walpersboden bis hinauf über das Dorf Hahnenberg, schien ihm etwas fremö. Er []E
wußte zuerst nicht was. Seine Augen suchten das Saarbühl und wurden darob irre. Wo war er denn?Plötzlich durchzuckte es Christian. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Die braune Riesenkuppel der alten Linde fehlte in der Lanoschaft, das Wahrzeichen des väterlichen Hofes, der Baum, aus dessen rauschender Krone in des Vaters Sterbenacht Gott selber zu ihm gesprochen. Mit aufgerissenen Augen rannte er langen Schrittes ein Stück weit den Berg hinunter bis auf einen Vorsprung, von dem man in den Hof hinuntersehen konnte. Gütiger Himmel! Da lagen Stamm und Üüste der Tinde, in kurze Stücke zersägt, an der Straße, fertig zum Transport. Offen,öde und kahl lag der Hof. Ein großer Schopf aus Zementsteinen und häßlich roten Falzziegeln stand am Platz der Linde. Erdarbeiten waren im Gang, als gälte es eine Belagerung des uralten Bauernhauses einzuleiten. Ja, wäre Christian vollends hinabgestiegen, so würde er noch mehr gesehen haben, was wider des Vaters Geist und Wesen auftrat. Das Emailschild „Bureau“ an der Türe des Stöckleins, ein Stoß Eisenbalken, ein Berg Zementsäcke, eine Batterie schwerer Brückenwagen, fremde Knechte und Arbeiter.Christian stand eine Weile starr auf dem Hübeli,wo er so oft als Knabe mit seinen Geschwistern gespielt und durch die Linde gegen die Blicke der Mutter gedeckt, Mutwillen getrieben. Jetzt lag alles offen.Aber es blickte kein wachsames Auge mehr herauf. Die
[20]Eltern waren weg und ihr Geist wohnte nicht mehr auf dem Saarbühl. Fritz hatte nicht Wort gehalten.
Plötzlich stieg es Christian heiß in die Kehle. Der Unglückliche hatte in die Vergangenheit geblickt. Was tonnte er dafür, daß ihm gleichzeitig die Mühsal seines eigenen Haushalts vor die Augen trat und damit auch das Vergebliche seines Verzichtes auf das Saarbühl?Sein Grimm entlud sich in einem wilden Fluch auf das Haus seines Bruders. Aber kaum waren ihm die grausamen Worte entschlüpft, so fingen sie an ihn zu brennen. Es war ihm zu Mute, als hätte er alles zerrissen, was ihn in stillem Frieden bis jetzt noch mit seinem Gott verbunden hatte. In seiner Brust begann ein Toben zwischen Schmerz, Zorn und Reue, über das sein einfältiger Verstand nicht mehr Meister werden tonnte. Bald zog ihn etwas auf die Knie nieder. Er hätte Gott anflehen mögen, seinen Fluch in Segen zu verwandeln; aber ein nüchterner Crotz verwehrte ihm diese Umkehr, und dann überflutete der glühende Zorn wider Fritz von neuem seine ganze Seele. Diesen Kampf im Herzen, streifte der Unglückliche planlos an dem Berge herum, bis er aus einem Waldsaum seinen einsamen Hof erblickte. Da setzte er sich dumpf brütend hin. In sein eigenes Heim, um das er vor Jahren ein Erstgeburtsrecht preisgegeben, zog es ihn nicht. Dort schollen aus allen Ritzen Vorwürfe - berechtigte Vorwürfe. Christian fühlte sich diesseits und jenseits der Fluh fremd, peinigte sich in Selbstanklage und wäre am liebsten sich selbst entflohen.von Tavel, Die heilige Flamme []VIII.
Ein groß Wehklagen erfüllte das Bauernhaus auf der Strubenweid. Heute hatten sie den Vater weggeführt, der Doktor von Steffenbach und der SchniggenenBauer waren mit ihm gefahren. Gefürchtet hatten sich die Hausgenossen vor ihm, weil er so unendlich traurig dreingeschaut und sonderbare Sachen geredet hatte, die kein Mensch begriff. Und jetzt, da er weg war, kam es ihnen vor, als hätten sie die Seele des Hauses umgebracht, und sie schlichen türein, türaus und wußten nicht, was sie suchten. Der ihre Ruhe gestört, war fort, aber er hatte des Hauses friedliche Ruhe mitgenommen. Die grõßeren Kinder suchten ihr Herzweh durch unvernünftiges Dreinfahren bei der Arbeit zu betäuben, liefen in entlegene Winkel, um ungesehen die Tränen rinnen zu lassen. Die Kleinen flennten, weil sie die Großen unglücklich sahen. Dem Melter troffen die Augen, während er, seinen dicken Kopf an die Flanke der Kühe stemmend, dem Schicksal seines Meisters nachsann.
Aur Marlisi fühlte eine Erleichterung, weil sie die Trennung von ihrem Mann vorausgesehen und im Verborgenen schon völlig durchgekämpft hatte. Vor[]4*zuwerfen hatte sie sich nichts. Vernunft und Sorge um Haus und Hof hatten sie gezwungen, Engel und den Doktor zu Rate zu ziehen. Ihren Mann hatte sie gar nicht weg haben wollen, aber der tusig Gotts Wille einen Rat zur Verhütung eines Unglücks; denn daß ein Unglück drohte, schien ihr gewiß. Christian redete, wenn er sich unbeachtet wähnte, häufig vom Freiherrn von Strubenweid, von Untreue, Fall und Gericht, von Sühne und Brandopfer. Und dieser furchtbar unglückliche Ausdruck in seinen Augen! Gegen sie, Marlisi, war er duuch“ wie ein Schäflein, geduldig bis zur äußersten Selbstverleugnung. Aber er wich ihr aus und zog sie nie und nirgends ins Vertrauen. „Ach du mein Gott!“ klagte sie manchmal, „wenn er mir doch widersprechen wollte! Auszanken, schlagen ließe ich mich, wenn er mich nur eines Blickes in sein Herz würdigte! Aber dieses totenstille Dulden ertrag' ich nicht mehr.“
Dann hatte sie Engel gerufen. Der sagte: „Marlisi,Euer Mann ist übel zweg, da muß ein Doktor zueche.“Und der Doktor redete freundlich mit Christian, schüttelte aber gar bald den Kopf und sagte: „Mano, Ihr seid krank.“
„Krank?“ antwortete Christian mit einem gar sonderbaren, schmerzdurchwobenen Lächeln. „Krank. Jawolle, das sind wir ja allesamt, ihr nicht minder als ich. Mir aber hilft euer Keiner. Ihr wißt den Weg ins Heiligtum nicht und wisset das Opferblut nicht.
[37]Taßt mich! Der Freiherr von Gottesgnaden hat die Gnade verspielt. Er wird auch seine Freiherrschaft verspielen und nicht Frieden finden, bis er, als Bettler von Schwelle zu Schwelle gejagt, Gott suchen geht.“
„Hört, gute Frau,“ sagte darauf der Doktor im Weggehen zu Marlisi, „Eurem Mann vermag ich nicht zu helfen. Wir müssen mit ihm zum Professor im Sennfeld. Erschrecket nicht. Vielleicht bringen sie ihn dort bald wieder herum.“
„Gütiger Gott!“ schrie Marlisi auf. „Den Christian ins Sennfeld, in die große Anstaltt Ihr werdet mir doch nicht sagen, er sei verrückt ?“
„Müßt nicht erschrecken, Frau Tellenbach,“ sagte der Arzt. Wißt, es gibt keinen Menschen, dem gar nichts am Verstand fehlte. Wir wollen Euren Mann nur untersuchen lassen, und wenn sie ihn ein wenig behalten sollten da drunten, so ist's ja nur, daß er sich wieder bchymen“ kann.“
Zuerst wollte Christian nichts wissen von der Fahrt nach Sennfeld. „Verrückt soll ich sein?“ sagte er.„Welcher Mensch hat das Recht den andern einen Narren zu nennen? Sie sind allesamt abgewichen und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollten.“ Auf Engels Zureden hin ergab er sich dann aber und folgte den beiden, die ihn abholten, ohne Widerstreben. Auf dem ganzen Weg sprach er kein Wort. Erst der Professor in Sennfeld brachte ihn wieder zum Reden. Anfänglich blieb er auch da wort
[0]8*karg. Als ihm aber aufdämmerte, der gelehrte Mann da vor ihm mit dem unheimlich durchoringenden Blick tönnte aus dem Schweigen falsche Schlüsse ziehen, begann Christian zu reden.
„Ich weiß schon,“ sagte er, „warum sie meinen, ich gehöre ins Narrenhaus. Das ist nur, weil ich nicht mit ihnen reden kann. Ich rede nur mit Gott. Gott aber ist von mir gewichen, und ich vermag nicht ihn zu erreichen mit dem Beten. Und solang ich das nicht tann, ist mir nicht zu helfen. Menschen leide ich nicht zwischen mir und Gott. Gott ist mein Richter und sonst niemand.“
„Warum habt Ihr denn Euren Glauben verloren?“fragte der Professor. Da wurde Christian zornig:„Glauben verloren! Ich habe meinen Glauben nicht verloren. Da sieht man, daß Ihr selber keinen habt,Herr Professor, sonst könntet Ihr nicht so etwas fragen.Ich habe nur Gott aus den Augen verloren. Er versteckt sich mir, weil ich ungehorsam gewesen bin. Ich laufe wie in einem finstern Wald; aber ich komme dann schon wieder voruse, wenn ich geopfert habe.“
„Ja, was wollt Ihr denn opfern?“
„Das, worüber ich Gottes Gnade verspielt habe.“
„Und das wäre?“
„Das ist meine Sache. Sagte ich es den Menschen,so würden sie mir in den Weg treten. Ich will nichts mit den Menschen zu tun haben. Zu Gott allein will ich. Laßt mich nur machen.“
[7]Weiter kam der Professor nicht mit Christian. Ihm schien Christians Gemütsverfassung durchaus nicht harmlos. Der Mann, sagte er sich, scheint etwas im Schilde zu führen. Dem Doktor aus Steffenbach erklärte er unter vier Augen, Christian sollte eigentlich in der Anstalt bleiben; leider aber sei kein Raum für ihn.Einstweilen müßte er wieder heimgeschickt werden, man sollte ihn jedoch dort nie ganz aus den Augen lassen.Sollten die rätselhaften Absichten Christians deutlicher zutage treten, so müßte man sich dementsprechend vorsehen.
So rückte denn abenos der alte Engel mit seinem armen Nachbar wieder auf der Strubenweid an. Sie wurden mit verwunderten Gesichtern empfangen. Die jungen Leute und der Melker atmeten auf. Es sei also doch nichts Schlimmes mit dem Vater, legten sie sich tröstlich zurecht. Marlisi hingegen brachte es nicht fertig,ihre Verstimmung zu verhehlen, besonders nicht, nachdem Engel ihr vom Doktor ausrichtete, Christian sollte mit peinlicher Aufmerksamkeit überwacht werden. Alles müßte vermieden werden, was seine Verstimmung noch steigern könnte, und die geringste Wahrnehmung absonderlicher Vorsätze sollte ohne Verzug dem Arzt gemeldet werden. Die Bäuerin jammerte, wie ihr doch alles verleidet sei hier oben. Den Tag über hatte sie im Gedanken, daß sie nun wenigstens frei nach ihrem Gutdünken werde schalten und walten können, eine Übereinkunft mit ihrem Schicksal geschlossen. Nun war [135] das alles wieder nichts. Es mußte von vorne angefangen werden. Christian zerriß es das Herz, daß seine unerwartete Heimkehr auch nicht den leisesten Freudenschimmer auf das Gesicht seiner Lebensgefährtin gerufen hatte. Nur Züseli äußerte Freude, als sie,abenos spät heimkehrend, ihren Elter wieder auf der Kunst des Stubenofens sitzen sah. Sie streichelte dem Alten Haupt und Hände und sagte, es sei ihr doch lieb, zu wissen, daß er wieder daheim sei.
Christian gelüstete es mächtig, Züselis treue Liebe mit Zutrauen zu erwidern. Aber zweierlei verschloß ihm den Mund: einmal wollte er das jugendliche Gemüt des Mäochens nicht mit seinem Jammer beschweren,und dann verbot ihm auch die immer noch aus der Asche aufglimmende Tiebe zu Marlisi, die Eifersucht seiner Gattin herauszufordern. Übrigens fürchtete er die von Züseli zu erwartenden Einwendungen. Auch diese menschliche Stimme durfte nicht Gehör finden.
So flossen nun die ohnehin trüben Wintertage über die Strubenweid. Es änderte sich scheinbar nichts.Aur in Christians Kopf wucherte die unheilvolle Abkehr von den Menschen langsam weiter. Und weil er im Hause nie etwas Unvernünftiges tat, so wußte man dem Doktor nichts zu melden. Wieder und wieder spann er die Gedankengänge durch, die ihn in die dunkelste Vereinsamung trieben. In wollüstiger Qual grub er nach den Wurzeln seines Unglücks. Ja, damals hatte es angefangen, als er in vorzeitigem Verzicht [136] sein Erstgeburtsrecht preisgab, um Marlisi zu heiraten.Wie schön hatten sie sich's ausgesonnen: Lieber auf der Hinterseite des Berges wohnen und allerhand Mühsal mit kräftigen Armen auf sich nehmen, dafür aber unabhängig sein! Tapfer hatten sie's angepackt, in frohem Gottvertrauen. Ausgehalten hatten sie ein paar schwere Jahre lang, und keines hatte es dem andern eingestanden, daß es den Mut schwinden fühlte, bis der herannahende Tod des Vaters eine erste Gelegenheit bot, sich auf eine Veränderung zu besinnen. Damals erlag Marlisi dieser Versuchung. Er aber machte sich klar, was diese Veränderung für den jüngern Bruder bedeutete, der in langer Arbeit sich ein Vorrecht auf den väterlichen Hof erworben. Dann kam jene letzte Nacht des Vaters, jenes Stoßgebet, jener wunderbare Sieg, der noch lange Christian über alle Not hinwegtrug. Dann aber dann wich die Kraft, und enolich erlag er seinem Weibe nachgebend seinem Weibe,das auch nicht eine Silbe des Willkomms für ihn hatte,als er aus dem Sennfeld heimkehrte. Da ließ er die Tiebe zu seinem Bruder erkalten, ließ den Neid in sein Herz sich einfressen und verlor sein Glück. Er begann mit Gott zu hadern, dem er doch einst alles siegreich anheim gegeben. Und Gott verhüllte ihm sein Angesicht. Weg war die Kraft, weg der Frieden, weg alles Licht. Da blieb nichts anderes, Christian wollte von sich werfen, was ihn von Gott geschieden. Erst wenn er alles vernichtet und nackt und hungrig sich
[8]niederwerfen konnte, würde er seinen Gott und sein Glück wieder finden.
Wo einer mit freundlichem Rat sich nahte, witterte Christian einen Versuch, ihn von dem selbstgewählten Leidensweg abzulocken.
Sogar den treuen Friedli floh er, der dem Freunde von ferne folgte, um ihn von seinen Irrwegen wegzurufen. Christian redete sich ein, gerade solcher Gottestinder bediene sich der Ceufel am liebsten, um die Pläne des Schöpfers zu durchkreuzen.
An einem wunderlichen Märztage der Föhnsturm leckte den Schnee auf und lockte mit seiner fremdländischen Wärme die zarten Keime heraus, um sie, plötz-lich versagend, mörderischem Froste preiszugeben kam, trostlich und arm an Erfahrung, der junge Pfarrer von Rotenbalm auf die Strubenweid zu einem seelsorgerlichen Besuche. Wie die meisten Kollegen seiner Promotion hatte er ein hochentwickeltes Verständnis für die Opfer des Kapitalismus. Die Bauernwelt,in welche das Bedürfnis bald zu heiraten und sein Brot zu finden ihn verschlagen, gab ihm neue Probleme auf. Sie zu lösen, machte ihm viel Kopfzerbrechen, weil er immer wieder die soziale Frage als Sprungbrett benützte. Erst wenn er die schwer arbeitende Bauersame unter die Enterbten einrangiert hatte, gewann er Tuft zur Verkündigung des Heils. Den Unzufriedenen behagte das, die Satten lebten übel dran,und niemand fand Licht und Kraft für den täglichen
[380]Kampf im angewiesenen Lebensraum. Der Pfarrer war ein wackerer Mann, voll Liebe und Feuer für seine Aufgabe, und darum litt er viel um seine Gemeinde, wenn ihm die Unzulänglichkeit seiner geistlichen Rüstung zum Bewußtsein kam. So war's ihm auch heute recht unbehaglich, als er in die Küche der Strubenweid trat und die mit Herzeleid und Seelennot so schwer geladene Atmosphäre zu atmen bekam.
Obwohl Marlisi sich wenig Hilfe von dem Besuch versprach, empfing sie ihn freundlich, denn es war ihr schon eine Wohltat, einmal einen ganz anderen, freundlichen und frischlebenden Mann an ihrem Tische zu sehen. Der Herr Pfarrer tat das Gescheiteste, was er konnte, er schwieg so viel wie möglich und ließ die Frau reden. Da ging ihm ein Ticht auf. Er empfand immer deutlicher, daß er eine Heldin von eigener Art vor sich hatte, ein Weib, das mit einer höchst bescheidenen Ausstattung an Wissen und Weisheit einen erdrückenden Kampf ausfocht, rechtschaffen und tsricht.Zu raten wußte der junge Mann nicht, und fast getraute er sich angesichts der überwältigenden Einfalt und Ehrlichkeit des Kampfes nicht, in Gegenwart Marlisis Gott um Hilfe anzurufen. Würde es nicht allzu matt, allzu pfarramtlich klingen gegenüber den wuchtigen Stoßseufzern, welche dieses Weib aus heiß wogender Brust zum Himmel sanöte? Am liebsten wäre er irgenowo ins Dickicht geflohen, um dort als Priester für diese leidenden Menschen ins Allerheiligste zu gehen.[]Jes
Aber nun hieß es hic Rhodus, hic salta. Der Pfarrer nahm Zuflucht zum Urquell. Er zog seine Bibel aus der Casche und gab Marlisi vom besten. Und dann konnte er nicht anders, er betete herzlich unod schlicht und warod darüber froh. Als der Pfarrer sich von der Bäuerin verabschiedete, wußte er nicht, ob er ihr unmittelbar geholfen habe; aber er durfte sich sagen, daß er der ratlos vor dem Berg der Not Stehenden doch einige gangbare Fußstapfen gezeigt, und für den Rest getröstete er sich mit Recht des Bewußtseins, die Tast auf die unendlich tragfähigen Schultern seines Heilandes abgeladen zu haben. Das zu tun wollte er die Frau bei ferneren Besuchen lehren.
Wo unterdessen Vater Tellenbach gewesen, wußte niemand. Er werde nach seiner Gewohnheit, des argen Wetters nicht achtend, im Holz herumstreichen, hatte Marlisi gesagt. Mit unästhetisch langen Schritten eilte der Pfarrer den pfützenreichen Karrweg hinunter, drückte mit der einen Hand den breitkrämpigen Filz auf den Kopf und knüpfte mit der andern den Rock bis unten zu, damit ihm der bergan rasende Föhn nicht die wild flatternden Schöße um die Ohren schlage.
Da sah er sich, mitten im ächzenden, brausenden Buchenwalo plötzlich einem struppigen Manne gegenüber,der vollständig in sich gekehrt, einherstapfte und nicht die geringste Absicht zeigte, auszuweichen. Er schritt im Gegenteil, als wären seine Füße in ein Geleise gefalzt und als müßte der daher rennende Pfarrer wie ein [140] dürres Buchenblatt an ihm vorüberwirbeln. Das war er ja. Das war Christian Tellenbach. Welch merkwürdiger Ausdruck lag in dem tief zerfurchten Gesichte! Der Pfarrer hatte aber weder Zeit noch Fassung zu einer Analyse dieses Blickes. Seinem Instinkte folgend, stimmte er mit einem Ruck jede Faser seines Willens auf Freunolichkeit.
„Grüß Euch Gott wohl, Vater Tellenbach,“ redete er ihn mit dem weichsten Klang seiner Kehle an. „Bin just bei Euch droben gewesen, um zu sehen, wie's Euch geht. Eure Frau hat mir ein wenig berichtet,was ihr auf dem Herzen habt. Es tut mir leid, daß Ihr solche Sorgen mit Euch herumtragen müßt. Verliert nur nicht den Mut. Es kommt dann auch wieder besser. Der liebe Gott hat noch keinen im Stich gelassen, der sich auf ihn verläßt. Eure Frau hat mir gesagt, daß Ihr nur mit Gott zu tun haben wollet und in die Menschen kein Vertrauen mehr habt. Seht, gerade das gefällt mir. Ihr habt recht, Vater Tellenbach.Auf Menschen ist kein Verlaß. Aber solange Ihr Euch unseres Gottes getröstet, ist mir nicht bange um Euch.“
Christian hatte den Gruß des Pfarrers nicht erwidert, er hörte scheinbar auch nicht auf dessen Worte,sondern stieß nach kurzem Stehen wieder vorwärts,als stünde ihm gar niemand im Weg. Dem Pfarrer blieb nichts anderes übrig als auszuweichen und weiter zu gehen. Als er dem verdüsterten Manne nachblickte,der ihn zu allen übrigen vertrauensunwürdigen Men[141] schen zu zählen schien oder ihn vielleicht auch gar nicht verstanden hatte, ahnte er nicht, daß er mit seinen aufmunternden Worten den unheilvollen Wahn des Bauern gewissermaßen sanktioniert und den Verirrten noch tiefer in seine Zwangsvorstellung getrieben hatte.Tangsam schritt der Bauer seinem Hause zu. Seltsam! Sonst, wenn er heimwärts ging, zog es ihn mit Heimatgewalt unter das riesige, mattsilberne Schindeldach, an das Herdfeuer, das bei Frost und Hitze gleiches Behagen um sich verbreitete; heute hingegen kam es ihm vor, als legte dieses gleiche Dach seine schimmernden Schildflächen wie abwehrend über den behäbigen Haushalt, wie um ihn zu verteidigen gegen das heimkehrende Familienhaupt. Plötzlich bog er vom Weg ab und lief querwaldein. Seine Gedanken aber weilten im Hause, bald in der Küche, bald im Halbdunkel der heimeligen Stuben, bald im Stallgang hinter den Kühen, die, breitmäulig mahlend, sich nach ihm umsahen, bald im Roßstalle, wo er so oft damit sich erlustigt, mit dem Kreischen des Futterkrumendeckels die braunglänzenden Tiere zu helken“s. Er hörte und fühlte in der Erinnerung das sorgenfreie Völklein der Kinder um sich her schreien und krabbeln. Nicht ein Freiherr, ein König in Hemosärmeln und Zipfelkappe war er gewesen. Es war ihm, als blickten all diese großen und kleinen, die melancholisch glotzenden und klugen Augen nach ihm, als tönte aus all der dampfigen Dämmerung heraus der Ruf nach dem Meister.
[142]Aber so oft er nach dem Haus hinüber blickte, war wieder die Abwehr da, das Geheimnisvolle, das ihn zurücktrieb. Der warme Föhnwind benahm ihm den Atem und machte ihm den Kopf schwer und befangen.Auf einmal kam ihn das Verlangen an, unter das Dach zu gehen und sich in einem entlegenen Winkel der Bühne ins Heu zu legen, in ein Huli,“ wo er schon so oft seinen Gedanken nachgehangen. In großem Bogen umging er das Heimwesen, um sich dem Brüggstockts zu nähern. Kaum aber blickte er von der Einfahrt in die Bsetzis hinunter, wo der Brunnen brodelte, so jagte ihn das Unbehagen wieder in den Wald hinaus. Fort! Fort! Weg von den Menschen! Los vom Erzwängten! In die arme Wildnis hinaus! Gott suchen? Wo ist Gott? Gott muß ich haben! So hörte er seine eigene Stimme im Heulen des Sturmwindes. Und doch blieb sein Mund krampfhaft verschlossen, seine Kehle zugeschnürt, die Brust beklommen.
Unwillkürlich stieß er die Arme in die Tuft, als wollte er sich von etwas losringen. Er lief bergauf,bis wo die Fluhkante nackt den Wald überragt und von wo man die Strubenweid überblickt zugleich aber auch Walpersboden und das Saarbühl. Dort kauerte er sich zwischen die Tanngrotzen, ließ den Föhn über sich fauchen und pfeifen und versank in ein gedankenloses Hinduseln, aus dem von Zeit zu Zeit ein quälendes Angstgefühl ihn aufrüttelte.
Der Tag verstrich. Der Wind legte sich; aber die [143] föhnige Fieberglut blieb in der Luft. Weithin unterschied man in der Landschaft jeden Baum, jede Ackerfurche. Durch klaffende Wolkenrisse warf die Sonne ungewohnte Farbentöne auf die unheimlich groß und klar leuchtenden Schneeberge. Kaum war sie erloschen,so breitete sich gespenstische Kälte über das Land, erst nur für das Auge, dann beschlich sie allmählich auch jedes lebendig fühlende Wesen.
Jetzt bemerkte Christian Tellenbach, daß die Seinigen das Haus verließen, ihn zu suchen. Nach allen Richtungen liefen sie, nach den Stellen, wo sie ihn nun schon oft gefunden. Sein heutiges Versteck hatten sie noch nicht entdeckt. Sie liefen links und rechts in die Bergflanken, so daß der kürzeste Weg zum Haus ihm frei blieb. Seine Stunde war gekommen. Christian erhob sich und schritt entschlossen durch den Wald hinunter, schnurgerade auf sein Heimet zu. Er wußte nicht, was er tat. Es war ihm, als tauchte er in ein dickfließendes Nebelmeer. Als er aus den Stauden des Waldsaumes brach, lag der scharfe Schattenriß des Daches vor ihm. Das heimatliche Ungetüm forderte ihn zur Besinnung heraus. Es wollte ihn zurückschrecken.Nichts da! Vorwärts! Das Opfer das Opfer muß geschehn. Christians Blick glitt unter das Dach. Aus der Küche rief ein warmer Lichtschimmer: Kehr ein!Hier ist Frieden. „Nicht um diesen Preis!“ befahl er seinem klopfenden Herzen.
Aus der Küche scholl ein leises Geräusch. Vom []J44
Pferdestall hörte Christian aufgeregtes Stampfen und Rasseln. Vorwärts! Vorwärts! An allen Gliedern zitternd, eilte er die Einfahrt hinauf. Hastig ballte er einen Strohwisch zusammen. Seine schwerfälligen Hände flogen ihm, als er das Zündholzschächtelchen aus dem Gilettäschli holte. Drei, vier Hölzchen zerbrach er, über die Hose streichend. Das fünfte gab Feuer. Der Strohwisch flackerte auf, flog von der Brücke in die finstere Bühne, schien im Fallen zu erlöschen, blieb plötzlich hängen. Das Feuer flackerte auf, huschte den Wandpfosten entlang durch die Spinnweben ans Dach und fuhr brausend nach allen Richtungen unter dem klingeldürren Schindelbelag nach der First.
Christian war in drei Sprüngen wieder am Fuße der Einfahrt. Als er sich umwandte, brach in breiter,grausiger Welle das Feuermeer unter dem kompakten,fauligen Vorscherm heraus und loderte, weithin leuchtend, zum Nachthimmel auf. Es regnete Funken auf die Bsetzi, und in diesem Funkenregen raste aufheulend der Hund an seiner Kette. Sie riß nicht. In Christian hingegen tat sich jählings ein Riß auf. Er erwachte aber der Schrecken lähmte ihn, daß er stehen blieb wie ein lebloses Bildwerk, gräßlich beschienen von dem Element, das er in seinem Wahn entfesselt hatte, um eine Schranke niederzureißen, die ihn von Gott getrennt.
„Herr Jeses, Herr Jeses!“ schrie es wie wahnsinnig aus der Tiefe herauf durch das prasselnde Funkenmeer.
[145]Es war die Stimme Marlisis. Ein schauerliches Brausen, Poltern, Knattern, tausendfältiges Knistern mischte sich mit den wehklagenden Stimmen der von allen Seiten heim eilenden Leute und Kinder.
„Herr Jeses! Der Vater! Vater, was hast du...“Weiter hörte Christian nicht. Wie ein Holzklotz fiel er kopfüber in den Acker.
Mit Todesverachtung trieben Christeli und der Melker die wie toll sich geberdenden Pferde und Kühe aus den Ställen, während die Mutter das Kleinvieh über die Bsetzi fortjagte. Die Kleinen liefen kopflos nach allen Seiten und schrien in wilder Todesangst. Unterdessen brach die Flammenflut durch hundert Breschen aus dem mächtigen Dache und loderte in Funken wirbelnder Säule hoch empor, den Himmel über der Stahrenfluh weithin schaurig rötend. Sie brach in die Speicher über dem Wohnstock, legte Breschen in die Böden, sprengte Cüren und Wände und brandete in wilden Wogen den Decken entlang, leckte in lang aufwallenden Zungen aus Fenstern und Lucken und kletterte mit brutaler Behendigkeit über die wetterdürren Caubengeländer hin. Aus all den hundert Feuer blutenden Wunden, unter denen das gastliche Bauernhaus jämmerlich zusammenbrach, quoll in graugelben und schwarzen Schwaden der Rauch, und die Schwaden verwoben sich in unstätem Fluge zur schaurig schön geröteten Trauerfahne. Wild sprühende Riesenfetzen jagten die Flammengarben in das schwer sich übervon Tavel, Die heilige Flamme
[195]*wälzende Rauchgewölk hinauf. Mit unsicheren Schwingen schwebte der Feuerschein über dem in stummem Entsetzen aus dem Nachtschlaf aufhorchenden Cannenwald, und bis tief in den Buchenwald, den treuen Zeugen redlicher Arbeit der Strubenweider, erröteten die schlanken, weißrindigen Stämme. Das tausenöfältige Knistern und Brechen des glühenden Dachgerippes durcheilte, Rache heischend, den feierlichen Nachtfrieden bis in die Schlucht hinunter, wo es im ewig rauschenden Psalm der Wasserfälle verschied.
Ach, daß die Bäume Tränen hätten! Sie würden damit das Mäochen gelabt haben, das, von der Dornhalde heimwärts eilend, in erstickendem Schluchzen unter den Tannen der Schlucht zusammenbrach. Pferdegetrappel und dumpfes Wagenrollen von der Bifangstraße brachten Züseli wieder zur Besinnung. Es waren die Lättmannen, die, in dichtem Knäuel auf ihrer Feuerspritze zusammengekauert, zu Hilfe fuhren. Jenseits des Bädli bog vor ihnen die Spritze von Walpersboden in die Bergstraße. Spöttische Zurufe flogen von den Vorsprung gewinnenden herüber, bis nach einigen Minuten hinter ihnen neue Rufe erschollen:„Uf oSyte mit eune Bschüttigöhn o0 ,Morn de!“ward geantwortet. Von hinten fuhren sie dicht auf.Es waren die von Hahnenberg. Mit dem Traben war's aber hier zu Ende. Die Steigung der Straße hieß die Mannschaften absitzen und mäßigte das Tempo, so daß die nachrückenden Feuerwehren aufschließen konnten [147] und nun alle, wie in einem Aufzug zur Musterung marschierten. Das Mannsvolk lief unter allerhand Zäpfeleien neben den Spritzen her, bis von vorne her der Zuruf erscholl: „Halt! S'ist nichts zu machen.Kein Wasser.“ Noch fuhren die Hahnenberger mit ihrer funkelnagelneuen Spritze unter dem Spott aller Übrigen vor. Aber bald standen sie Deichsel gegen Deichsel im Waldesdunkel den Rotenbalmern gegenüber. Die hatten einen biedern, roten, mit Göhnen und Eimern beladenen Rumpelkasten von Spritze, dessen trübe Rondellampel mit grämlichem Neid hinüberblickte auf die nach Firnis duftende Base von jenseits der Fluh.Diese, ein Werk von Schents Söhnen in Worblaufen,mit auswechselbaren Konusventilen und anderem Raffinement, blitzte aus zwei hocheleganten Kutschlaternen übermütig nach der Kusine von RVotenbalm,verleugnend, daß auch diese an der Worblen geboren und dem genialen Großvater Schenk vor Jahrzenten an einer Gewerbeausstellung Ehre eingebracht hatte.
Mitten durch das stolpernd und rutschend bergan steigende Mannsvolk, unter dem man die Hahnenberger an ihren Messinghelmen erkannte, huschte Züseli, von den Flügeln der Angst getragen, der Stätte des Unglücks zu. In weitem Umkreis standen hunderte von Neugierigen und verfolgten stieren Blicks den gräßlichen Todeskampf der einst mit Liebe und Fleiß gepflegten,Frieden atmenden Heimstätte. Krachend und funkensprühend begruben vor den hunderten fremder Augen [3] die einstürzenden Trümmer all die traulich heimlichen Schauplätze segensreicher Leiden und hoffnungsfreudiger Ereignisse eines langen Familienlebens unter sich. Gefühllos zerlegt und aller Neugier preisgegeben lag der schsöne Hausrat in den Äckern und Wiesen herum, vom Funkenregen vielfach verlöchert. Die Feuersäule, die das Unglück diesseits und jenseits der Fluh verkündet, hatte sich in eine Menge kleiner Flammennester aufgelöst, die nun in ihren Kratern das Zerstörungswerk vollendeten.
In den sich lichtenden Gruppen der Zuschauer tuschelten sich die wunderlichsten Gerüchte von der Brandursache herum. An solch einer Gruppe vorüber keuchend,hörte Züseli die Worte: „Sie haben ihn. Dort hinter dem Speicher nehmen sie den Tatbestand auf.“Das Mädöchen nahm sich nicht Zeit zu erlauschen, wen sie dort hätten. Und eher als einen der müßigen Zuschauer einer Frage zu würdigen, hätte es deren zehn erwürgt.Sie brach sich Bahn und fand hinter dem Speicher eine Ansammlung von Menschen. Eine Taterne beleuchtete die auf der Treppe in sich zusammengesunkene Gestalt Christians. Ihm gegenüber blinkten die Uniformknöpfe des Landjägers, der in ein Notizbuch Aufzeichnungen machte. Gmeindosmannen standen, verlegen blickend, mit gesenkten Häuptern herum. Dicht neben Christian stand aufrecht und stumm der Saarbühlbauer.
Züseli wagte nicht, sich in den Kreis zu drängen.Sie blickte sich um nach einem Bekannten, der ihr Auskunft geben könnte. Da stieß sie auf der andern []ao
Seite des Speichers auf Lisebeth, die mit ihrem Manne und den Kindern einen Karren mit Hausrat belud.„Komm,“ sagte ihr Lisebeth, „hilf uns die Mutter ab Fleck bringen.“ „Wo ist sie?“ „Da.“ Lisebeth deutete nach dem Dengelstock hinter dem Speicher. Da kauerte, erschöpft und leise vor sich hin weinenod, Marlisi.Das jüngste Kind hatte sich an ihr festgekrallt und barg sein Gesichtchen an ihrer Brust, indes die andern ratlos um sie herum standen.
„Mutter! Mutter! Du arme Mutter!“ schrie Züseli auf und sank neben ihr in die Knie. Eine Weile liebkoste sie die Mutter stillschweigend; dann raffte sie sich auf, um den Zuschauern zu entrinnen.„Komm, Mutter,“ sagte sie, „wir wollen zu Lisebeth in die Brach.“ Die Mutter erhob sich ohne Widerspruch. Die Stimme ihrer ältesten Cochter hatte ihr Kraft gegeben, und sie schickte sich an, die Kleinen auf den Wagen zu heben.
In diesem Augenblick setzte sich auch die Gruppe der Männer in Bewegung. Der Taterne folgend, die einer voraus trug, schritten sie langsam bergab. Der Dater ging wankend zwischen seinem Bruder und dem Gemeindepräsidenten von Rotenbalm. Der Tandjäger und andere Männer folgten.
Zuüseli legte aufschluchzend ihren Kopf auf der Mutter Schulter, während Marlisi wie in einem bösen Traum den im Dunkel Verschwindenden nachblickte.Rj
[150]Einer von denen, die das Unglück auf der Strubenweid aus allen Wolken geschüttelt hatte, war der junge Pfarrer Zingel von Rotenbalm. Inmitten seiner Dorfgenossen war er hinauf geeilt, Hand anzulegen, Crost zu sprechen oder sonstwie etwas zur Rechtfertigung seines Daseins zu tun. Unter dem heimtückisch verhaltenen Spott seiner Unterweisungsbuben war er durch den Wald hinauf gestolpert bis zu der Stelle, wo er vor einigen Stunden den Christian Tellenbach seines Gottvertrauens getröstet. NAun war hier schon alles von der grausigen Röte übergossen. Vereinzelte Funken fielen durch das kahle Geäst nieder, und ein dumpf brausendes Gemisch von vielen Menschenstimmen und tausendfältigem Flammenknistern irrte wie ein Geisterchor durch des Waldes schweigende Kreuzgänge.
Der Pfarrer schlich hinter den Zuschauern herum und spähte nach einer Gelegenheit zu nützlichem Eingreifen. Aber es gab nichts zu helfen. Das wenige Hausgerät, das ohne Lebensgefahr erreichbar gewesen,lag in den ückern herum. Alles andere hatte man preisgegeben. Zingel suchte die Familie Tellenbach;aber noch bevor er ihrer eins gefunden, überkam ihn das Gefühl seiner Tröstensohnmacht. Sollte er Worte machen? Sie wären so nutzlos gewesen, wie all das Löschgerät ohne Wasser. Sollte er im flackernden Scheine der Feuersbrunst, mitten im Gestürm und Getöse die Bibel aus der Tasche ziehen und Sprüche lesen? Sie würden ihn als einen, der hier nichts zu tun habe,[151] wegörängen. Noch überlegte er, als die Stimme eines Rotenbalmers an sein Ohr schlug: „Herr Pfarrer,wißt Ihr's schon?“
„Was denn?“
„Daß der Christen selber es angezündet hat ?“
„Ihr seid nicht gescheit?“
„Jawohl, Herr Pfarrer, der Christen selbst. Wißt Ihr, er ist nicht recht im Kopf. Sie haben ihn schon.Seht, dort drüben haben sie ihn. Er hat sich greifen lassen, ohne einen Wank zu tun.“
Pfarrer Zingel war von dieser Mär so übernommen,daß er nun erst gar keinen Versuch mehr machte, sich auf Trostesworte zu besinnen. Vergessend, daß nach altem Brauch der Pfarrer die Hilfsmannschaften mit Dank entlassen sollte, eilte er heimwärts, um sich in ungestörter Stille mit diesem Fall auseinanderzusetzen.
Als er tags darauf vernahm, daß Christian zu Rotenbalm hinter Schloß und Riegel sitze, litt es ihn nicht länger im Pfarrhause. „Er ist ein gebrochener Mann,“ sagte ihm der Gemeindepräsident, „ein Bild der Verzweiflung. Die Augen sind ihm über dem Unglück aufgegangen, und jetzt zermartert er sich in Reue.“
Ein gebrochener Mann! Was ist ein gebrochener Mann, und wie begegne ich einem solchen? überlegte der Pfarrer. Plötzlich fiel ein Lichtstrahl in sein Herz.Ein gebrochener Mann ist einer, dem der eigene Mensch nicht mehr im Wege steht. Somit ist ihm zu helfen.Auf denn! Ich will hingehen in der Kraft Gottes.
[55]Der Tandjäger öffnete dem Pfarrer das Gefängnis.Es war ein moderiger Untergeschoßraum mit gestampftem Tehmboden. Da hockte Christian Tellenbach in sich zusammengesunken auf einer Strohschütte. Die Wolldecke lag an einem Häuflein am Boden. In die erdrückende Stille des Gemaches drang durch das unverglaste Gitterfensterchen das eintönige Geplätscher der überlaufenden Dachrinne. Draußen rauschte der Regen in reichen Strömen. Es sah unergrünolich traurig aus; aber das kalte Rauschen hatte doch etwas Erlösendes.Christian hatte den Gruß des Pfarrers nicht erwidert.Er hielt sein wetterbraunes Haupt in die linke Hand gestützt, von dem Besucher abgekehrt.
„Ich komme nicht mit Vorwürfen zu Euch,“ begann der Pfarrer. Schon duünkte ihn, er habe verkehrt zu reden angefangen. Aber wie dem auch war, er mußte jetzt, wie ein Käfer über einen Haufen querliegender Halme krabbelt, an das Herz des Unglücklichen heranklettern, helff, was helfen mag! „Ja, Vater Tellenbach,“fuhr er fort, „das haben wir nicht geahnt, als wir uns gestern im Walde trafen, nicht wahr? Ihr habt doch zu selber Stunde noch nichts im Sinn gehabt,was zu dem Unglück führen konnte oder? Ihr wart doch ganz auf dem rechten Trom,“ dünkt mich.Aach dem, was Eure Frau mir sagte, wolltet Ihr ja nur noch auf Gott vertrauen und von keinem Menschen Euch leiten lassen.“[]*3
Jetzt hob Christian den Kopf, so daß der Pfarrer in seine unheimlich traurigen Augen blicken konnte.
„Ja, Herr Pfarrer, so ist's. Aber ich habe vergessen .... er klopfte ein paar Mal auf seine Brust .....daß ich auch einer bin. Allen hätte ich mißtrauen sollen zuvörderst aber dem da. Hätte ich Gott allein vertraut! Jetzt läßt er mich erst recht in der Menschen Hände fallen. Herr Gott, jetzt hast du vollends mich verstoßen. Herr Gott, wo bist du?“ Bei diesen Waorten, die wie der Schrei eines todwunden Tieres klangen, war Christian auf die Knie gefallen. Seine groben, zerarbeiteten Finger krallten sich in den ergrauten Haarschopf, und die Augen hielt er zugekniffen,als wollte er nichts mehr von seiner irdischen Umgebung sehen und ein Bild Gottes aus dem Dunkel, das ihn umgab, herauspressen.
„Gott! Gott! Herr Gott, warum hast du mich verlassen ?“ schrie er von neuem auf.
Der junge Pfarrer stand einen Augenblick starr vor diesem Ausbruch der Verzweiflung. Dann schrie auch er tiefinnnerlich, wortlos, zu dem, den der Unglückliche suchte. Und wieder fiel ein Lichtstrahl in seine Seele.So sah ein gebrochener Mensch aus Einer, dem zu helfen ist!
„Vater Tellenbach,“ sagte er, „nun, da die Dunkelheit um Euch vollkommen geworden und es dunkler nicht mehr werden kann, gehet Euch bald der Morgenstern auf und es will Tag werden. Seio stille und
[0]1 höret, was Gott Euch zu sagen hat: Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte.Er wird nicht immer hadern, noch ewiglich Zorn halten.Er handelt nicht mit uns nach unsern Suünden und vergilt uns nicht nach unserer Missetat. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, läßt Er seine Gnade walten über die, so ihn fürchten. So ferne der Morgen ist vom Abend, lässet Er unsere Übertretungen von uns sein. Wie sich ein Vater über Kinder erbarmet,so erbarmet sich der Herr über die, so ihn fürchten.Denn Er kennet, was für ein Gemächte wir sind; Er gedenket daran, daß wir Staub sind'.
Nun mag kommen, was will, so gedenket dieser Worte. Und wenn an den trüben Tagen, die Ihr nun wohl ferne von Euren Tieben werdet zubringen müssen,ein Sonnenstrahl durch Euer Zellenfenster fällt, so weichet ihm nicht aus. Denket, daß er ein Gruß vom Vater im Himmel sei, und lasset ihn scheinen auf dies sein Wort, damit es Euch lebendig werde und Ihr Gottes Stimme höret.“
Damit reichte Pfarrer Zingel dem Gefangenen seine zerlesene Caschenbibel hin. „Seht,“ fügte er bei, „ich lege Euch hier ein Zeichen hinein.“ Er nahm ein Strohhälmchen von der Schütte, legte es über den 103. Psalm und klappte die Bibel zu. Christian Tellenbach steckte das heilige Buch in die Brusttasche seines halbleinenen Rockes.
„Aun behüt Euch Gott!“ sagte der Pfarrer und [1] wollte gehen. Da faßte Christian seine beiden Hände.Er rang nach Worten. Seine Knie zitterten, als er endlich mit brechender Stimme herausbrachte: „Das Marlisi und die Kinder und das Züselil .....Herr Pfarrer, Herr Pfarrer ..... der tusig Gottswille .....“Zingel machte der Qual ein Ende, indem er mit fester Stimme sagte: „Deretwegen macht Euch nicht Sorgen. Die lassen wir nicht im Stich. Ich will mit Eurem Bruder, dem Großrat, reden, der wird .....“
„Nein, nein, der tusig Gottswille nit, Herr Pfarrer!In die Brach hinüber, zum Lisebeth, bringt sie, zu meiner Schwester. Aber nimmer ins Saarbühl.“
„Also, so sei's. Ich will dafür sorgen, und jetzt bhüet Euch Gott, Vater TCellenbach.“
Der Pfarrer hielt Wort. Noch bevor sie Christian ins Untersuchungsgefängnis auf Schloß Hürnberg abgeführt hatten, war er den Leuten von der Strubenweid nachgegangen. Marlisi war schon in der Branodnacht mit seiner Kinderschar in die Brach hinübergezogen, ein uraltes Bauernhaus, das aus einer gegen Abend sich öffnenden Mulde an der Stahrenfluh lugte und zur Gemeinde Walpersboden gehörte. Das Haus bot Raum genug für eine zweite Haushaltung, und Lisebeth, selber mit Kindern reich gesegnet, hatte Herz und Güte genug für viele. Marlisi dankte ihr's mit „wüetigem Werchen“, und die Kinder erholten sich am Reiz einer neuen Heimat von dem überstandenen []V
Schrecken. Das Züseli aber ward noch einmal so still wie vorher. Es trug ein unendlich Heimweh nach dem Elter mit sich herum. Um Schwanders von der Brach nicht auch noch „aufzuhocken“, verkostgeldete es sich bei braven Leuten im Sägessenmoos. Nur Sonntags kam es in die Brach hinauf, nach der Mutter zu sehen.Wenn die Stiefgeschwister auf die Strubenweid hinübergingen, zu beeren ꝰt oder sonst sich zu vergnügen,ging Züseli nie mit; es ertrug den Anblick der Brandstätte nicht.
Christian Tellenbach mußte nicht ein Berner Bauer gewesen sein, wenn er nicht unter all den äußern Begebenheiten, deren Mittelpuntt er in den nächsten Tagen war, schwer gelitten hätte. Es war kein TLeichtes für einen geachteten Bauer, nun plötzlich keinen Schritt ohne das demütigende Geleite des Landjägers tun zu dürfen. Schrecklich war es, in Begleitung dieses Hüters nach Hürnberg zu fahren, am Byfangbädli vorüber,unter dem Dorf Walpersboden hin, über die Höhe vom Saarbühl, mitten durch das endlos lange Dorf Hahnenberg, an der Glunggenmühle vorbeit Die Abfahrt geschah freilich, dank dem Mitleid des Gemeindepräsidenten von Rotenbalm, vor Tagesanbruch; aber nach der ersten Stunde Weges begegnete man doch schon den zur Arbeit Ausrückenden, gerade den Fleißigsten und Rechtschaffensten. Der Anblick der traulichen, an Erinnerungen so reichen Gegend tat zwar Christian nicht einmal besonders weh, befanod er sich [37] doch auf der Flucht aus einem mißglückten Leben, auf der Heimkehr (so hoffte er seit des Pfarrers Besuch)zu Gott. Aber all die äußeren Erlebnisse erschienen ihm bedeutungslos gegenüber den Qualen, die er nun um seiner Friedenssehnsucht willen zu erdulden hatte.In redlichem Kampfe suchte er aus den Trümmern seines alten Glaubenslebens wieder zurechtzukommen.Tag und Nacht rang er mit seinen Zweifeln, zog sich mühselig an Seilen der Hoffnung empor, um wieder in dunkle Gruben zu fallen, in denen er sich, leer mahlend, umtrieb, wie die Kiesel einer Gletschermühle.Was Wunder, daß alles, was über seine Lippen kam,ein unverständliches Durcheinander von Selbstanklagen,von abgerissenen Hanögriffen aus der Bibel und jenseitsbrünstigem Seufzen nach Gott war! Und nun stand diesem Menschen ein Untersuchungsrichter gegenüber,der sich in Wohlwollen und humanitären Grunosätzen fast wollüstig groß däuchte, aber von irgendeinem Erleben Gottes nicht die geringste Ahnung hatte. Er wußte bei aller Herzensgüte mit den scheinbar zusammenhangslosen Äußerungen Christians nichts anzufangen und sagte schon nach dem ersten Verhör zum Gerichtsschreiber: „Das gibt Futter für den Psychiater.“Wie Stiche mit glühenden Messern trafen Christian die Fragen des Verhörs: Ob er seiner Frau und den Kindern nach dem Leben getrachtet hätte? Ob er nicht wenigstens bedacht habe, daß er mit der Brandlegung das Leben aller im Hause befindlichen Menschen ge[0]4 fährde? Ob er Rachegedanken in sich getragen? Ob er provoziert worden sei? Ob er einen materiellen Gewinn aus der Branöstiftung erhofft habe von der Brandversicherung? O, was war das für eine Folter!Jetzt mußte er anderer Menschen Meinung, die er vor seiner unseligen Tat verachtet, anhören und einsehen, daß diese Meinung dem Willen Gottes näher war als seine eigene. Schuppe um Schuppe wurde ihm von den Augen gerissen, und immer gräßlicher stieg das Gespenst seiner Cat aus dem Boden herauf. Je deutlicher er es sah, desto unmöglicher wollte ihm eine Sühne erscheinen. So kam es denn, daß alle, die aufs Schloß gerufen, einvernommen und mit Tellenbach konfrontiert wurden, mit dem Bescheid heimkamen:„Der Christen wird's nicht überstehen, er hat gar grüslech gleidet.“? Es gab herzzerreißende Szenen zwischen dem Gefangenen und seinen Angehörigen. Und es fehlte auch nicht an falschem Verdacht. So ein Verhörschreiber zieht seine eigenen Schlüsse. Hätte man diesen befragt, so würde er gesagt haben, vermutlich habe sein eigener Bruder ihn zur Verzweiflung getrieben, und der Stundenhalter Friedli habe des Angeklagten Geistesstöärung auf dem Gewissen. Das blieb natürlich alles unter dem Siegel der Verschwiegenheit.Wie es dann doch im Wirtshaus an der Schloßhalde auskam, weiß der Kuckuck. Den tiefsten Einöruck auf das Gerichtspersonal machte die Konfrontation mit dem Züseli, das dem Gefangenen laut schreiend um den []4*
Hals fiel und das man nur mit Anwendung von Gewalt wieder hinausbrachte. Nein, der Mann konnte kein Mörder sein und überhaupt kein Verbrecher. Es war ganz richtig, wenn Christian Tellenbach zu seinen Richtern sagte: „Alles sollt ihr wissen, ich will euch nicht das Kleinste vorenthalten; aber verstehen könnt ihr's nicht, Gott hat euch allen die Augen verbunden.“ In das Wirrsal seiner wunderlichen Gedankengänge vermochte keiner hinabzusteigen. Grunosäizlich mußte eine Verurteilung erfolgen; aber es wurde angenommen, die Tat sei in einem Anfall von religiösem Wahnsinn geschehen, und deshalb wurde Christian Cellenbach zur weiteren Beobachtung der Irrenanstalt Sennfeld überwiesen. So war er denn wieder denen überantwortet, die ihn vor Monaten wegen Mangels an Raum und als harmlos heimgeschickt hatten.Man behandelte auch hier den stillen und willfährigen Mann mit aller Schonung. Aber die Sonne mochte scheinen, so hell sie wollte, über Christian Tellenbach breitete die Reue ihre dunklen Fittiche, die Traurigkeit wich nicht aus seinen Augen. Immerwährend gedachte er der Trümmer seines einstigen Glückes. Marlisi?Ja, sie war mitschuldig gewesen, durch ihre Unzufriedenheit. Aber ihre Strafe war unsäglich hart. Die Kinder mußten gewiß leiden unter der Grausamkeit einer ihnen fremden Dorfjugend, die schonungslos den Schulkameraden die Suünden der Eltern vorhält. Aber auch der Strubenweid gedachte Christian täglich. Sah [160] er einen Pflug seine Furchen ziehen, so hörte er den Acker seines alten, einst wohlgepflegten Heimets seufzen.Er hielt, wenn der Winod rauschte, wortlose Zwiesprache mit den Cannen auf dem Stahrengrat. Ein Roßstriegel, eine Milchbrente riefen ihm seine schönen,lieben Tiere in Erinnerung, die er o Gott! einem grausamen Tode ausgesetzt, nachdem er sie in gesunden und kranken Tagen mit Angst und Sorge gepflegt.Nächte langer Stallwachen lebte er wieder durch. Und selbst das große graue Schindeldach erhob sich wieder vor seinen Augen, das herrliche Schirmdach, das er mit frevelnder Hand in einen alles unter sich begrabenden Scheiterhaufen verwandelt hatte. Nicht die entfesselte Flamme, die das alles in grausiger Wut verschlang,sah er, sondern die sanfte Glut der Geranien, die in frohen Sommertagen die heimelig braunen Fensterbänke geschmückt, und das trauliche Glitzern der Scheiben in der Abendsonne. Wie selig war doch einst die ganze Mühsal gewesen, und wie örückte ihn jetzt die Erlösung von dieser Mühsal!
Von Zeit zu Zeit aber erfaßte Christian noch ein anderes Gefühl, als das der Reue und Trauer. Wenn er die vergangenen Tage an sich vorübergleiten ließ und die Menschen, welche diese Tage beherrscht hatten,dann stieg es heiß ihm in die Kehle, wie damals, als er von ferne die Trümmer der alten Linde gesehen.Ja, sein Fluch hatte sich entladen über ihn selbst,in Verblendung und Umnachtung. So hätte er es ver[161] dient. Aber das konnte er noch lange nicht überwinden in seiner Seele löste das Bild seines Bruders immer noch quälende Verbitterung aus, und wenn er noch tiefer hinabblickte in die dunkelsten Gründe,so schwärte dort noch ein Fleck des Hasses. Christian wußte, daß er diesen Fleck nicht dulden durfte, wenn er an völlige Gesundung denken wollte. Aber ihn auszuätzen, das ging einstweilen noch über seine Kraft.von Tavel, Die heilige Flamme
11 []IX.
Auf der blendenden Lanöstraße durch den Gallenforst marschierte die Vortruppkompagnie des Schulbataillons von Lanöstadt. Zu beiden Seiten der Straße flimmerte das glänzende junge LTaub üppiger Erlenbüsche im frischen Morgenwind. Den weiter schweifenden Blick fingen die blauschattigen Hallen hohen Buchenwaldes auf. Lichtblau und wolkenlos wölbte sich der Himmel über die herrliche Landschaft. Ja, heute war's eine Freude Soldat zu sein. Die Seligkeit der Schulreischenstimmung, gehoben durch das stolze Bewußtsein, einer großen, als heilig gepriesenen und durch ruhmreiche Traditionen geadelten Sache zu dienen,belebte die Herzen der jungen Krieger. Die Schulfuchserei der Kaserne lag hinter ihnen. Ein fesselndes Kriegsspiel begann. Was gibt's denn schöneres in der Welt als einen alle Kräfte des Mannes herausfordernden, doch aller Greuel entkleideten Krieg!
Am liebsten hätten die Rekruten ihrer Stimmung in Marschliedern Luft gemacht; aber das gestattete die taktische Situation nicht, man konnte ja jeden Augenblick auf die Sicherungsorgane des Gegners stoßen.Und nun lief plötzlich etwas von hinten nach vorn durch die Kolonne, etwas Unsichtbares, wofür es auch [105] keinen Namen gibt, es sei denn, daß man es Galonsnervenschauer nennen wolle. Am besten könnte mir's ein Pferd nachfühlen, welches von einem ängstlichen Reiter heimgesucht ist. Auf einmal hatte der Kompagniekommandant ein ungemütlich wachsames Auge,nicht feindwärts, sondern auf seine Kolonne. Er entdeckte im zweiten Zug, den der Leutnant Beyeler, im bürgerlichen Leben Lehrer zu Walpersboden, führte,eine „verfluechti cheibe Sauornig“, die darin bestand,daß die äußerste Reihe einer Pfütze wegen ausgebogen hatte. „Oha,“ sagte leise der Rekrut Spring zu seinem Nebenmann Tellenbach, „was gibt's wohl?“
„Ist etwa das Rößlispiel im Anzug?“ kicherte Hansli Cellenbach.
Der Rekrut Marending, Buchbinder und Genossenschaftssekretär, drehte sich halb um und verlangsamte seinen Schritt, so daß der hinter ihm marschierende ebenfalls zurückblickende Korporal Ledermann mit seiner Nase an Marendings TCornister stieß und sich ein „hü do! Lauf, Päppeler!“ entwischen ließ.
„Was isch o das für nes herrgottdonner Gschwätz i der Gruppeninne, he?“ krähte der Leutnant Beyeler. „Ufschließe!“
Hansli TCellenbachs Vermutung ward bestätigt durch das Aufschlagen von Pferdehufen auf den Steinen und Wurzeln des Waldbodens, und es dauerte nicht lange,so hörte man längs der Kolonne das Gurren von Sattelzeug, schnaufende Nüstern und Säbelklirren.
[164]„Rechts anhalten!“ rief's von hinten und da sah der neugierige Marending auch schon eine breite goldene Schabrackenborde und einen feuerroten Hosenstreifen neben sich. Ja, sogar eine silberne Schärpe glänzte im Sonnenschein. Ein Korpskommandant! Diesem hohen Herrn mit dem unbeweglichen Gesicht folgten der inspizierende Divisionär, der bärbeißige Schulkommandant, der Bataillonskommandant und dessen Adjutant.
Einige Schritte vor dem Gros der Kompagnie knallten die Haren des Oberleutnants Schübliger zusammen, und eine forsche Meldung des Kommandanten der Vortruppkompagnie an den Herrn Oberstkorpskommandanten widerhallte im grünen Dome der Buchen.Einen Augenblick stand alles still. Der Inspektor richtete einige Fragen an den jungen Offizier, der sich innerhalb drei Minuten fünfmal überaus schneidig blamierte und dann, auf das läßig hingeworfene „Danke“ des hohen Herrn, unentwegt wieder an seine Aufgabe ging.
Eben wollten die Inspizierenden weiter reiten, als ein Rekrut herankeuchte. Er brachte eine Meldung vom Ausspähertrupp, verlor nun aber vor der Ansammlung hoher Herren den Kopf. Aufs Geratewohl riß er den Schießprügel herunter und pflanzte sich,nach Atem ringend, vor dem Korpskommandanten auf.„Herr Oberst ... Herr Oberst ....“ begann er. Der Korpstommandant wies ihn an den Oberleutnant.
[65]Erleichtert trabte der Rekrut zu seinem KompagnieKommandanten, vergaß aber ob dieser Erleichterung die vorgeschriebene Form und meldete: „Herr Oberlütenant, am änere Waldrand ......“. Weiter kam er nicht. Die jeden Käppideckel durchfressenden Blicke des Schulkommandanten auf sich fühlend, brüllte der Oberleutnant den Rekruten an: „Himmelherrgottsdonnerwetter! Kerl, ist das eine Art zu melden? Wie sollen Sie melden?“
„Herr .....“
„Was Herr? Was sind Sie?“
Der Retrut, dem der letzte Rest der Besinnung abhanden gekommen war, antwortete: „Hanodlanger, Herr Oberlütenant.“ Während der Wald von Gelächter widerhallte, fuhr der Kompagniekommandant schnaubeno auf sein Opfer los: „Ich will Ihnen sagen, was Sie sind: Der dümmste Esel, landauf, landab. Also,was sind Sie ?“
Der Rekrut, der sich nun plötzlich eines Auftrittes erinnerte, bei dem dieser nämliche Offizier einen Rekruten gezwungen hatte zu sagen: „Ich bin ein Schafskopf,“ kämpfte mit seinen Regungen und schwieg.
Nun legte sich der Schulkommandant ins Mittel.„Lassen Sie den Mann zu sich kommen, Herr Oberleutnant,“ sagte er und ritt näher heran. „Erinnern Sie sich nicht, wie man melden soll?“ fragte er den Rekruten mit der größtmöglichen Gelassenheit. In tiefster Seele dankbar für diese menschliche Regung,[166]schrie nun der Rekrut auf: „Herr Oberscht! Rekrut Berner Meldung vom Ausspähertrupp. Am äneren Waldrand ob Gutschinen ischt eine Schützenlinie bemerkt worden.“
Hochbefriedigt von diesem erzieherischen Ergebnis,ließ man den Rekruten, nachdem er sich auch vorschriftsgemäß abgemeldet, laufen. Einige Schüsse, die durch den Wald hallten, lenkten die Aufmerksamkeit auf die Übung zurück. Die Inspektoren ritten weiter. Es folgten neue Meldungen, die Züge der Vortruppkompagnie brachen aus, der Bataillonskommandant traf seine Anordnungen, und bald entwickelte sich ein mustergültiges Schulgefecht. Die Rekruten waren mit Leib und Seele dabei und nahmen es mit dem Niederringen des Gegners so ernst, daß sie die Nervosität ihrer Führer völlig vergaßen. Der Feind wurdoe schließlich in einem prachtvollen Bajonettangriff unter den Klängen des Sturmtruppenmarsches in und über die sommerlich wasserarme Gutschen zurückgeworfen. Dieses prächtige Gefecht versöhnte die jungen Soldaten mit allen Garnisonsplackereien, und nach nichts hätten sie in diesem Augenblick mehr Verlangen getragen, als dasselbe Erlebnis nochmals dann aber „z'grechtem“ durchzutosten, so im Vollbewußtsein der patriotischen Tat und mit dem Reiz des Tebenseinsatzes.
Das Signal des Zapfenstreiches machte der fröhlichen Schlacht ein unerwünscht frühes Ende. Gruppen und Züge zogen sich zusammen, und nun entdeckte man,[167] daß man tüchtig geschwitzt und schon viele Stunden Marschierens und Mansverierens hinter sich hatte. Bald war das Bataillon beisammen, und die Biwakarbeiten begannen. Damit fing es unter unvermindert blauem Himmel auch gleich wieder zu „herrgottdonnern“ an,nur daß das Wetter jetzt mehr in den niederen Schichten, d. h. bei den „Geschnürten“, sich austobte. Es ließ erst nach, als abseits vom Biwakplatz, aus einer kühlen Hofstatt „Offiziere heraus“ geblasen wurde und die zwei dem Signal folgenden Hornstöße verkündeten,daß man auf die Dauer eines Cellers Suppe mit Spatz Ruhe haben werde. Als ein jeglich Ding wieder an seinem Orte hing, schlich sich die Jungmannschaft aus den Reihen der Gewehrpyramiden und Cornister an die schattigen Borde und ließ sich's wohl sein. Blaue Wölklein entstiegen unzähligen Stumpen,Tieder erschollen und Witze flogen. Nur die allerschwersten Faultiere ergaben sich, um nachzuholen, was die frühe Tagwacht am Nachtschlaf abgeschnitten.Unter einem alten Birnbaum lagen behaglich hingestreckt die unzertrennlichen Kameraden Spring, Tellenbach und Marending. Hans Tellenbach zählte nicht etwa zu den Bauernbuben, obschon seine nächsten Kameraden wußten, wo er daheim war. Hans galt nun schon als Techniker. Er stand im oritten Semester der Mechanikerschule und war als intelligenter und flinker Bursche zur Unteroffiziersschule „ausgezogen“.Ob er später auch den Schleppsäbel „nehmen“ würde,[168] war noch nicht ausgemacht. Der Zivilberuf bildete die äußere Brücke zur engern Kameradschaft Hansens mit Spring und dem BuchbinderSekretär. Aber der Hauptgrund lag tiefer. Spring war Cheologiestudent,ein aufgeweckter und liebenswürdiger Mensch, der den Mut der Überzeugung besaß. Das imponierte Marending, und Spring fand es würzig, mit einem waschechten Sozi sozusagen in einem Nest zu liegen. Hans fühlte sich mächtig zu dem Studenten hingezogen. Der bekundete nämlich ein besonderes Verständnis für jeden jungen Menschen, der unter irgend einer Cradition seufzte. Hei, das war, was Hans brauchte. Schon nach vierzehn Tagen Zimmerkameraoschaft mit Spring hatte er sein Martyrium klar überblicken gelernt. Jetzt erst sah er seines Vaters Bild deutlich: Der war ja ein vollgültiger Vertreter des kapitalistisch verseuchten Bauerntums. Dem Spring aber war es Überaus interessant, bei einem Bauernsohn so viel Verständnis für neuere Gesellschaftsformen zu entdecken. Was das für Perspektiven eröffnete! Und enolich lag unter dieser Freundschaft des gesellschaftlichen Sichverstehens noch ein tieferer Wärmeherd. Unaustilgbar waren in Hans Tellenbachs Herzen die Bedingungen eingebrannt,die ihm Züseli beim Abschied gestellt hatte. Als er einmal in einer besonders freundschaftsseligen Stunde dem Kameraden erzählt hatte, sein Schatz habe ihm erklärt, wem nicht der liebe Gott über alles gehe,der solle nicht daran denken, ihn heimzuführen, da [16] hatte sich der Student nicht zu fassen gewußt vor Entzücken über solch ideale Bauernliebe. Sapperment auch, wie stimmte denn das eigentlich mit der stereotypen Familiengründung auf dem Wege des Kiltgangs? Gaben wohl die Dichter der Bauernnovellen ein ganz falsches Bild von Brauch und Sitte?
Als sie nun da unterm Birnbaum lagen und in das Geäste staunten, schüttelte plötzlich ein aus der Tiefe brechendes Lachen den Theologen. Er warf vor Vergnügen seine Füße in die Tuft.
„Was gibt's?“ fragte Hans.
„Mir ist etwas furchtbar Komisches eingefallen,“antwortete Spring. „Weißt du, eigentlich wäre es eher zum Heulen, denn vor meinen Augen klafft ein Abgrund, der die Welt zerreißt. Im Grunde ist die ganze Militärlerei ein verdammter Unsinn. Nicht wahr,wir sind doch alle Christen? Durch eine feierliche,heilige Handlung sind wir als Kinder dem Reiche BGottes einverleibt worden verstehst du, dem Reiche Gottes, zu dessen elementarsten Grundsätzen die Tiebe und zu dessen Zielen die endgültige überwindung des Todes gehört. Oder nicht?“
„Myhm.“ nickte Hans.
„Wir aber werden dazu erzogen, im staatlich sanktionierten und patriotisch vergoldeten Mordhandwert die nobelste Beschäftigung zu erblicken. Ist das etwa nicht ein Unsinn? Und den Widerspruch fühlen sie eigentlich alle, die das anordnen, wenn sie's []10v schon nicht zugeben wollen. Beweis: Ein rechter Christ beginnt sein CTagewerk damit, daß er Gott um Hilfe und Gelingen anruft. Nun stell' dir einmal eine Rekrutenschule vor, in der als erste Nummer des Tagesbefehls ein Morgengebet steht.“
Alle drei lachten hell auf.
„Das ist doch heutzutage undenkbar,“ fuhr Spring fort. „Und warum? Doch im Grunde deshalb,weil man fühlt, daß man nicht an ein Gott wohlgefälliges Werk geht.“
„Halt!“ warf da Marending ein. „Es klappt da etwas in den Voraussetzungen nicht. Wer sagt dir denn, daß wir alle deinen Glauben teilen? Ich bin zwar auch der Meinung, daß der ganze Militarismus ein Fluch.......“
Bumm. Bummbumm. Alle odrei waren aufgesprungen. Dem Krachen von Petarden folgte jenseits des Flusses Gewehrfeuer. Im Hui war alles bei den Gewehren. Im Hui war alles Philosophieren verflogen wie die Räuchlein der weggeworfenen Stummel. Jeder hatte begriffen: Ein Überfall. Eine Probe der Schlagfertigkeit. Ein neuer Reiz für das kriegslustige Völklein. Eine Kompagnie wurde an den Damm des SFlusses geworfen und ersffnete ein wütendes Magazinfeuer, die zweite, zu der die drei Freunde gehörten, ging links davon zum Gegenstoß vor. Vor Vergnügen leuchtend, sprangen die Retruten in das niedrige Wasser des Flusses, durchliefen die Kiesbänke,[171] kletterten durch das jenseitige Ufergestrüpp und warfen sich auf den Damm zum Magazinfeuer in den von gegnerischen Tirailleurschwärmen wimmelnden Schachenwald. Da scholl aus einem Busch ein furchtbarer Schrei. Und während links und rechts das Gefecht seinen Fortgang nahm, erstarb im zweiten Zuge das Feuer. Ein Unglück! Offiziere liefen herbei. Man rief nach den Wärtern und Trägern. Ein Rekrut mit blutüberstrsmtem Gesicht wurde auf den Damm geführt. „Ein Auge!“ hörte man sagen. „Ein Auge schwer verletzt wahrscheinlich verloren.“ Man ließ aber den Leuten nicht Zeit zum „Maulaffen feilhalten“.„Sprung?! Vorwärts! Mir nach!“ Und weiter rasselte die Schützenlinie durch den Wald.
Als abgeblasen wurde, war's schon festgestellt, Rekrut Berner, der ständige Pechvogel, hatte den verhängnisvollen Schuß getan. Es war ein reines Versehen, da er seinen Gegner in dem Gebüsch nicht deutlich sah.Bestraft wurde er nicht; aber er mußte sich durch vier Instanzen bestätigen lassen, daß er der dümmste Esel landauf landab sei. Und um das, was in der Seele des armen Kerls vor sich ging, kümmerte sich niemand.Für die Augenzeugen des Unfalls war die Sonne der soldatischen Freude erloschen. Sie taten, was ihnen befohlen wurde; aber sie empfanden beim Sammeln und auch auf dem Heimmarsch nur noch das Widerliche des Dienstes. Mehr als die übrigen wurden sie [172] jetzt auch ihrer Müdigkeit inne. Die Hitze war mittlerweile auch in des Waldes Dunkel eingedrungen und brutete unter jedem Baume. Auf der Straße lag der Staub fingerhoch. Bei jedem Auftreten glichen die Schuhe kleinen Kriegsschiffen, die nach allen Seiten Salven abgaben. Bald sahen die Soldaten aus wie Mehlsäcke. Der Staub setzte sich als trocknende Schminke auf die schweißtriefenden Gesichter und brannte in den Augen. Dem brennenden Durst zu begegnen, wurde Wasserfassen und Laben im Marsch geübt. Ohne die Marschordnung zu stsren, sollten die Kochgeschirre abgeschnallt werden. Mehrere Gruppen kesselten mit den Geschirren der Kolonne voraus zu den Brunnen und brachten das ersehnte Naß zurück. Nun gingen die Geschirre von Mund zu Mund, immer unter strengster Wahrung der Marschoronung. Aber mit der Labung war's nicht weit her. Drei Schluck platschten daneben,einer spülte den Mund halb voll und ließ auf den Zähnen eine knirschende Staublage zurück. Aber die Übung klappte. Der Oberleutnant war zufrieden. Seine schsöne braune Stute warf ihre Schaumflocken auf den schicken Reitersmann, der von Kopf zu Fuß überaus schneidig equipiert war. Als Sohn eines Großindustriellen in der Ostschweiz konnte er sich alles leisten,was zum Äußern eines flotten Offiziers gehört. Er sah in der Regel auch übermütig glücklich aus, denn er fühlte sich mit Recht als ein Mann nach dem Herzen des Schulkommandanten, der viel Gewicht auf []*173 soldatisches Wesen legte. Gesetz und Evangelium dieses soldatischen Wesens aber hieß: Verbeißen, verbeißen, nochmals verbeißen und in die Welt gucken,als wüßte man nicht wohin mit seiner Lebenslust.Das alles, wohlverstanden, als Forderung an jeden Untergebenen.
Es ging heute gar nicht übel mit der zweiten Kompagnie. Sie „putzte“.“s Nur eines verdroß den Herrn Oberleutnant: Die Kerle wollten nicht singen, und das gehörte doch auch zu einer kriegsmunteren Cruppe.Mit nichts gewann man den Schulkommandanten so sicher, wie mit einer fröhlich heimkehrenden Mannschaft.Wiederholt hatte der Oberleutnant seine Leute zum Singen aufgefordert. An der Töte hatten sie auch schon ganz tapfer angestimmt, aber im zweiten Zug erstickte das Singen immer wieder. Ungehalten ritt der Kompagniekommandant nun neben diesem Zuge her. Natürlich, bei diesem Beyeler, dem SchulmeisterSchlappschwanz, „verreckte“ der schönste Drill. Und mitten in diesem Zug war so eine vertrackte Gruppe,da so um den Sozi herum und den PfarrerLehrbuben,wie der Herr Oberleutnant den Cheologen für sich benannte. Bei ihm selber war nämlich auch etwas „verreckt“: Das Studium, und zwar unmittelbar nach der Matura, im Überlauf des väterlichen Gelosäckels.Diese Gruppe war dem Oberleutnant immer unangenehm.
„Wänd'r jitz emal singe, ihr Lymsieder, he?“
[174]Drei oder vier Stimmen gaben laut; aber schon nach zehn Schritten war's wieder aus. Zu der physischen Unmsoglichkeit hatte sich der Widerwille gesellt, und das ist ein schlimmes Ausstattungsstück für den Soldaten. Der Oberleutnant sagte zu dem LTeutnant Beyeler: „Ich werde den Leuten noch Gelegenheit zu Singübungen im Polisꝰs geben müssen, was?“ Man wußte nicht, sollte das ein Spaß sein oder Ernst. Der Oberleutnant begann endlich etwas von den Regungen der Kolonnenseele zu fühlen und versuchte es nach einiger Zeit mit Spässen. Aber hierin war er sehr einseitig ausgestattet. Der gesunde landläufige Mutterwitz war ihm fremd, und der Schnepfenöreck, der sein täglich Brot würzte, war der Mannschaft zu raffiniert.Und dann genierte ihn auch die Nähe dieses fatalen Gotteskindes, des Cheologen. Der Herr Oberleutnant war nämlich noch nicht brutal genug, um sich aus der Anwesenheit eines gebildeten Menschen nichts zu machen. Er wandte nun seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu und zog sich damit gewissermaßen auf die zweite Tinie zurück. War die Kriegsmunterkeit nicht zu erzwingen, so sollte wenigstens die Marschfähigkeit unangetastet sein. Hinter der Kolonne reitenod, spähte der Kompagniekommandant nach Hinkenden. Es war nicht viel zu entdecken, da die Köpfe bei dem müden Gang überhaupt allgemein mehr wankten als bei frischen Kräften.
Endlich gab es einen Halt. In der Ferne ragten [175] die Turmspitzen von Tanöstadt über das graugrüne Gewühl gartenreicher Außenquartiere. Es galt also,der Truppe wieder ein Aussehen zu geben, das auch ein nicht militärisch eingestelltes Auge befriedigen konnte.Die Rockkragen wurden zugeknöpft, die Sturmbänder um das Kinn gelegt, das Riemenzeug zurechtgerückt.Oberleutnant Schübliger, allzeit auf ein bestechendes Ergebnis seines Drills bedacht, benützte die Rast zu einer Stichprobe. Er ließ die Fußkranken herausrufen.Eigentlich eine ganz unnötige Anordnung. Man hatte den jungen Leuten das gewünschte Verhalten anerzogen und war ziemlich sicher, daß sie auch heute, nach einer schwereren Belastungsprobe hierin nicht versagen würden. Dieses Verhalten bestand im Verbeißen, und der hinterste Lümmel wußte nun nachgerade, daß es im Kriege weniger auf wirklich gesunde Füße ankam, als darauf, daß der Feind, vor allem aber das Auge des Inspizierenden, nichts von kranken Füßen merkte. Und die Kerle hielten Stich. Prachtv.. Halt!Himmeldonnerwetter, was soll das? Oberleutnant Schübliger stieg der Ärger ins Gesicht. Kam da nicht einer vorgehinkt! Natürlich im zweiten Zug. Und selbstverständlich aus dem bewußten Nest um Marending.
„Was ist's mit Ihnen?“
Der hinkende Soldat zwang sich in Stellung und brüllte:
„Herr Oberleutnant, Rekrut Tellenbach meldet sich fußkrant.“
[176]„Fußkrant! Dummheiten. Kann jeder sagen. Rechtsumkehrt! Sehen Sie, Sie sind der Einzige,der es noch nicht gelernt hat, sich zusammen zu nehmen.Schämen Sie sicht Was sind Sie von Beruf?“
Mechaniker, Herr Oberleutnant.“
„Wo sind Sie aufgewachsen?“
„Im Walpersboden.“
„Also auf dem LTande. Natürlich. Bauerntrapp.Herr Leutnant Beyeler, lassen Sie dem Kerl das Schuhwerk nachsehen und die Strümpfe!“ „Übrigens“ Der KompagnieKommandant schien nachzudenken „Cellenbach Walpersboden. Was hat man doch da gelesen? Sagen Sie mal, Tellenbach, sind Sie etwa ein Sohn von dem Tellenbach, der seinerzeit sein Haus anzündete und die ganze Familie verbrennen wollte?“
„Herr Oberleutnant, er hatte es nicht darauf abge .....“„Ob Sie dessen Sohn seien, hab' ich Sie gefragt.Antworten Sie auf meine Frage.“
„Nein, Herr Oberleutnant.“
„Eintreten!“
Ein Pfiff scholl von der Spitze des Bataillons.„Säcke aufnehmen! Gewehre anhängen! Marschieren !“
In der staubigen Kolonne marschierte nun Einer mit, der nichts davon merken ließ, daß ihn seine wunden Füße unerträglich schmerzten. Niemand brauchte ihn aufzurütteln. Er marschierte mit verbissenem
[177]Grimm und haßte seinen KompagnieKommandanten,haßte mit ihm das Waffenkleid und den Dienst. Auf dem schweigenden Marsch läßt sich gut denken. Auch der Zorn vermag die Müdigkeit zu überwinden. Hans Tellenbachs Gedanken streiften zurück unter den Birnbaum, in den Schachenwald, wo der Unfall geschehen,und weiter rückwärts durch die Rekrutenschule, jede Wioderwärtigkeit vergrößernd. Er rief sich die Worte Springs in Erinnerung. Sie verliehen dem Mitleid,das er mit sich selbst hatte, eine gewisse wohltuende Legitimität.
Stolz und zufrieden ritt der Major vor seinem Schulbataillon her in die Stadt ein. Siebenhundert wohlausgebildete Soldaten führte er an den neugierigen Zuschauern vorüber. Daß es auch siebenhundert lebendige Seelen waren und jede dieser Seelen eine Welt voll Leiden und Freuden mit überzeitlichem Endzweck darstellte, ging ihn nichts an zum Glück, sonst hätte er seinen kühn eingestützten Säbel ratlos wie vor einer Sphinr senken müssen. Die rauschenden Alkorde des hinter ihm her marschierenden Spiels jagten ihm militärische Wonneschauer über den Rücken hinauf,und ihr Zauber hob die Kopfe der staubbedeckten Krieger, daß sie mit erquickender Genugtuung die teilnehmenden Blicke der gaffenden Bürger auffingen. Die zweite Kompagnie schnitt nicht schlecht ab, als man bei einer Straßenkreuzung nochmals vor dem Divisionär defilierte. Und welch ein Erfolg! Als nach von Tavel, Die heilige Flamme 12 [] *u dem Einrücken eine Fußinspekttion vorgenommen wurde,konstatierte der Arzt bei der zweiten Kompagnie zwanzig Prozent Fußkranke, und Keiner hatte sich krank gemeldet. Diesen Einen da den Tellenbach den zählte man nicht. Stramme Kompagnie, was? Ja ja, man mußte es nur verstehen, die Kerle zu bilden.Mit solch einer Truppe ließ sich jeder Möglichkeit Trotz bieten.
Der Rekrut Tellenbach hingegen wurde wegen Mangels an soldatischer Selbstzucht von der Liste derjenigen gestrichen, die zur Unteroffiziersschule einberufen werden sollten.[]X.
Wenn der Prinz Thronfolger von KrottenbachMolchburg, ältere LTinie, von einer glücklich vollbrachten Weltumsegelung heimkehrend, in die schmiegsame Schar der Höflinge tritt, können ihm nicht freudestrahlendere Gesichter dargebeugt werden, als Hansli Tellenbach sie bei der Heimkehr aus dem Dienst zu schauen bekam.Man könnte zwar nicht sagen, daß der Hof mit Besen gekehrt und mit Maien geschmückt war. Es lag immer noch alles voll Baumaterial und Gerätschaften. Aber auf den Gesichtern der Arbeiter stand mit großen Buchstaben geschrieben: „Potz Tüüner, das isch der jung Tällebach!“ Und die einfältige Sippschaft der bäuerlichen Weibervölker und Caunerꝰs, welche eben mit Karst und Kratten vom Felde einrückten, bekundete eine familiär aufrichtige Freude an dem schmucken Kriegsmann, dessen Sachen noch immer nach dem Zeughaus dufteten. Übrigens hatte Hansli Tellenbach mit dem Erbprinzen von KrottenbachMolchburg, ältere Linie, noch eins gemein. Genau wie dieser dachte er:O ihr lieben Leute, wenn ihr ahntet, wie ich einer bin, ihr würdet meinetwegen nicht „umeluege“. Der ganze Unterschied ist wohl der, daß die Hofleute zu
[130]Krottenbach schon Wochen vor der Heimkehr zu wissen meinen, wie viel Geld der junge Herr verspielt, wie vielen Mädchen er den Kopf verdreht, während die Leute vom Saarbühl nichts anderes wußten, als daß der ‚Jung' nun „glehrt heigi'.“s
Auch der Vater Großrat ahnte nichts von der sonderbaren Gemütsverfassung seines Sohnes. Daß er nicht mit einem Kopf voll militärischen Ehrgeizes heimkam,war ihm gerade recht; das würde zu seinen Plänen schlecht gepaßt haben. Wenn aus dem Baugeschäft etwas werden sollte, so durfte der Junge seine Zeit nicht mit endlosen Militärkursen hinbringen.
Nein, das Soldatenherz, das sonst jeder Berner mit auf die Welt bringt, war in Hansli nicht aufgegangen.Es sah genau aus wie die Rosenknospe, auf die ein kalter Regen fiel, eingeschrumpft und verkümmert, und wenn nicht was Besonderes geschah, so lief es Gefahr,von innen heraus zu verfaulen. Daran war der Schübliger schuld, diese moderne Sportorohne, der weder schweizerisch dachte, noch etwas von den militärischen Traditionen der alten Zeiten in seinem Blute hatte.Und doch würde Großrat Tellenbach dem Herrn Oberleutnant freundlich die Hand gedrückt haben, denn Hans war als ein anderer Mensch ins bürgerliche Leben zurückgekehrt. Er selbst wußte gar nicht, wie viel selbständiger, frischer und dreister er sich seit dem Dienst bewegte. Sein Schritt war leichter, seine Stimme klang entschlossener, und für alles war er aufmerksamer.
[181]Kein Zweifel, etwas vom Segen der militärischen Erziehung war da offenbar geworden. Nach dem Soldatenherzen wurde nicht weiter geforscht.
Von der äußern Auffrischung ihres Sohnes war ganz besonders Frau Berta erbaut, und als klug berechnende Mutter beschloß sie, die Konjunktur voll auszunützen. So ein Soldatlein ist ja nicht zum Staat machen; aber zweierlei Tuch läßt hoffen auch wenn es noch nicht verschnürt oder galonniert ist. Ein verheißender Anfang macht oft mehr Eindruck als was hernach kommt. Sie schlug vor, den Anlaß zu einem „Fahri“ ins Rosenrainbad zu benützen. Das schickte sich nun allerdings durchaus nicht in die Absichten des Vaters, welcher gerade heute nachmittag dem Montieren einer Dynamomaschine in VRotenbalm hatte beiwohnen wollen, was natürlich auch den Sohn interessieren mußte. Aber Frau Berta hatte ihre Schachfiguren gesetzt und wußte ihren Mann davon zu überzeugen,daß so eine Dominomaschine, oder wie das Zeug heiße,keine Augen hätte für blank geputzte Knöpfe, wogegen die Fahrt ins Rosenrainbad mitten durch das Fabriketablissement Horber führe. Vater Fritz begriff und begab sich ins Bureau ans Telephon, um seine Anorönungen umzuorgeln.
Wer aber nicht begriff, das war Miggu (Emil), der Karrer oder Stallknecht, wie man ihn jetzt nannte,ein zuverlässiger Bursche, den noch der alte Bühlchristen sich auferzogen hatte und dem des Hauses Überliefe[32] rungen vertrauter waren als der neue Kurs. Er schüttelte im Verborgenen den Kopf, als er das neue Reitwägelchen mit den silberbronzierten Beschlägen aus der Remise zog und den Braunen schirrte. Noch nie in seinem Leben war es geschehen, daß man an einem heilige Wärchtig spazieren ritt. Als alles schön „zwäg“stand, erschienen sie gsuntiget. Frau Tellenbach, die man sonst weit herum als das Modell einer stattlichen Bäuerin kannte, „kam stedtlech“. Sie flimmerte in einer schwarzseidenen Bluse mit unzähligen Knöpfen und trug einen Strohhut, in dessen aufgebögeltem Rand eine schwarze Straußenfeder lag. Unter dem Doppeltinn leuchtete eine halbpfündige Golobrosche, und über die mächtigen Schultern lief eine meterlange goldene Uhrkette. Die Mutter stieg ein und setzte sich neben das himmelblau strahlende Berteli, das schon lang auf seinem Sitz fegnestete““ und nicht wußte, wie sitzen vor Freude. Der Vater war schon wieder am Celephon,und Miggu salbte noch des Braunen lauflustige Hufe.Eben trat der Vater aus der Bureautüre. Aber vergeblich sah man sich nach dem Erbprinzen von Saarbühl um. Vater Tellenbach kam nicht aus seiner Ruhe.Er hatte dem Stallknecht noch allerlei zu sagen und verschwand dann wieder im Bureau.
„Mutter,“ fragte plötzlich in gelinder Aufregung das Berteli, „und dein Parisöli?“ ß
„Ach!“ seufzte Frau Tellenbach. „So hol's mira.Das Schirmli ist mir noch so ungwahn,“ fügte sie []halblaut hinzu. „Aber wenn man die Sachen doch einmal hat ...“ Sie brachte ihr Selbstgespräch nicht zu Ende. Herr Hansli Tellenbach aber kam es zu statten, daß behäbige Mütter nicht so leicht von einem Break herunterhüpfen können, wie ein Huhn vom TLattenzaun, sonst hätte es einen Klapf ganz nach der alten Mode abgesetzt. Erschien der Bub nicht in Zivilkleidung! Was von der Mutter süßen Lippen floß,paßte jedenfalls nur teilweise zu der schwarzseidenen Bluse. Die Kosenamen lagen, wie die Zementsäcke im Hof, genau in der Mitte zwischen der verlassenen ehrbaren Bäuerlichkeit und dem neuen Wesen, das man anstrebte.
„Jetzt gehst fläthige? wieder hinauf und legst die Mundur?“ an!“ befahl die Mutter, „sonst kannst äbesomähr mit dem Vater nach Rotenbalm hingere,du Sturm du.“
Aber Hansli, der gestern noch das Rechtsumkehrtmachen in den Absätzen gehabt, dachte nicht einen Augenblick daran, dem Wunsche seiner Mutter nachzukommen. Erstlich war ihm viel zu wohl in seiner bürgerlichen „Kluft“ und zweitens kam er sich in dieser Aufmachung entschieden anziehender vor als in der Uniform, die in seinen Augen jeden Glorienschein verloren hatte. Er trug genau das auf sich, was noch vor zwei Jahren nach der Mutter Wertschätzung dem brävsten Mann die Bezeichnung „Schminggel“ eingetragen hätte! Ein gesprenkeltes Complet, ein gestärktes []·782
Hemd mit Stehkragen und eine weiße, rot getüpfelte Kravatte. Am Technikum pflegte er eine Hand breit Haar unter dem Hut hervor auf die Stirne zu bürsten,was ihm ungemein nett vorkam. Diese Zier war nun dem Schermesser des Kasernenbarbiers anheimgefallen zum Glück, denn Hans war ein durch und durch rechtschaffener Bursche, und jede vermeintliche Aufbesserung seines Äußern ward zu einer Verleumdung.
Ohne die geringste Einschüchterung zu zeigen, kam Hans heran und sagte, ruhig lächelnd: „O Mutter!Was soll ich mit dieser Uniform? Vergiß nicht, daß ihrer Tausende mit dem roten Kragen herumlaufen.Damit könnt ihr nicht Staat machen. Was gilt ein gewöhnlicher Dätel ?“
„In solchen Bchleidige, wie du da eine anhast, laufen ihrer noch viel mehr herum und dazu mancher, der Dreck am Stecken hat,“ lamentierte die Mutter. „Cu mir jetzt den Gefallen und leg die Mundur an!“
Hans blieb fest und wußte die Mutter zu überzeugen, daß weiteres Chähre?? nichts nützen würde.
„So, mira,“ hieß es endlich. „Aber jetzt hocket auf,gäb wieder Einer z'trappen kommt und den Vater versäumt. Man kommt ja nie weg oder man habe ihn dreimal von der chätzers Tschäderes abgschrisse.“ Hansli schwang sich auf den Bock, und Miggu mußte den Großrat vom Telephon wegholen.
Noch lange kolderte Frau Tellenbach und vernütigte ihrem Sohn die Kleidung. Der Stoff sei nur ein min[185] deres Gstrupf und schon jetzt abgschosse.“! Der Großrat wußte sie wenigstens darin zu beruhigen, daß es später doch mehr ausmachen werde, wenn der Bub einmal mit Offiziersachselstücken einherfahren werde.
Auf andere Gedanken kam man erst, als sie unterhalb der großen Schloßmatte von Hahnenberg vorüberfuhren. Da waren am äußern Zipfel des prächtigen Grundstückes einige Pfähle eingeschlagen. „Schau,“erklärte Fritz Tellenbach seiner Gattin, „was da abgesteckt ist, will der Senno oder eigentlich seine Mutter schenken für das projektierte Krankenhaus, und ich bin mit ihm eins geworden, daß ich das Holz zum Bau schenke, behauen auf den Platz geliefert.“ Das gefiel der Frau Großrätin, und ihre Taune verbesserte sich um ein Bedeutendes. Mit stolzerem Bewußtsein war sie noch nie durch das Dorf gefahren. Ihr war, als müßte das Reitwägelchen in einem Glorienschein erstrahlen,fast wie der Wagen des Elias, als er gen Himmel fuhr, und sie wäre nicht einmal heftig erschrocken, wenn sie beim Sekundarschulhaus geschrien hätten: „Wagen Tellenbachs und seine Reuter!“ Mutter Berta hatte wirklich so etwas wie Himmelfahrtsstimmung im Herzen.Ihre Gedanken waren schon weit voraus bei der Fabrik Horber, welche für sie dastand, wie die Conciergerie zum Paradies von Hanslis Zukunft. Und o Glück und Sonnenschein! als sie jenseits des Dorfes über die natürliche Terrasse ob dem Kienbach fuhren, wo Horbers Kästuchwebstühle aus den Fenstern [186] eines langgestreckten Shedbaues in die warme Sommerluft hinaus rasselten, erspähte schon auf Visierschußdistanz das Mutterauge im Rindenholzkabinettchen des Horberschen Gartens weibliche Gestalten.
„Häb se schly!“ mahnte Frau Tellenbach ihren Sohn,„du könntest sonst z'gäch umenEgge cho.“
„Um welenEgge?“ lachte Hans, „es geht ja schnurgerade bis zur GlunggenMühle.“ Er ließ die Stute laufen, als gälte es den goldenen Pokal eines Trabrennens. Aber die Mutter wußte Rat.
Wie es eigentlich kam, konnte später niemandrechtsagen.Nur das Berteli, die Gärnase, wollte gesehen haben,daß die Mutter mit dem Parisöli so ungeschickt gfählet?habe. Sei dem, wie es will, zehn Schritte vor dem Gartenhäuschen an der Straße hieß es plötzlich: „Halt,halt! 's Parisöli!“ Der flatterhafte Fremokörper in Mutter Tellenbachs Garderobe kugelte im Straßenstaub, und Hans brachte die Braune ausgerechnet neben dem Rindenhäuschen zum Stehen. Das hatten sie fein gemacht, Mutter und Sohn. So meinte wenigstens Frau Tellenbach. Und auch mit der Stute war sie sehr zufrieden. Das schöne Tier zäberlete während des kurzen Haltes, als hätte es ein Imi Füürtüüfless gefressen.
Die Töchter Horber benahmen sich, wie gewünscht.Die eine legte ihren ZolaRoman auf den Cisch, die andere erhob sich von ihrer Broderie, und beider Blicke waren mehr durch die Ungeberdigkeit des Pferdes gefesselt, als durch Bertelis Jagd nach dem Sonnenschirm.
[188]Beide streckten zwischen glatt über die Ohren gestrichenen schwarzen Haaren ein Stumpfnäschen in den Sonnenschein, hatten Mäulchen wie usgsteinete Zahmkirschen und Bäcklein wie vollblütige Pfirsiche. Aber Hansli tat dümmer als ein Möff.““ Statt die liebenswürdigen Blicke freundlich zu erwidern, biß er die Tippen zusammen und rief nach hinten: „Seh, Bertle, schick di chly, sonst gablet sie my Seel noch über die Tanden!“Die Mutter hätte am liebsten nach ihm geschlagen. So eine Art zu reden! Schon hatte das blaue Gewölbe ihres Zukunftshimmels ein arges Schirbi,“s da kam geschäftigen Schrittes der alte Horber in eigener Person durch den Garten gerannt und rief: „Grüß Gott, Herr Tellenbacht“ Das hörte sich doch anders an. „Sie kommen mir wie gerufen. Ich will Sie nicht aufhalten. Sie wollen über Tand ... aha, der Herr Sohn? Zurück aus dem Dienst? Hat's Ihnen wohl betommen? Übers Jahr sind wir Korporal, was? Und wer's zum Korporal erst gebracht ... Gratuliere, Frau Großrat. Also, ich will Sie nicht versäumen; aber vielleicht hätten Sie heute abend, wenn Sie heimfahren, ein Viertelstündchen für mich, was?“
„Wenn's es noch geben mag gern, Herr Horber,“sagte Vater Tellenbach.
„Also, viel Vergnügen! Gute Fahrt!“
Hans hatte der Braunen Tuft gelassen, und die Familie Tellenbach verschwand hinter einer Staubwolke direkt in Frau Bertas Himmel hinein. Eigentlich [1880] war der Mutter Genuß an dem Fahri dahin. Wohl saß sie stolz auf ihrem Wagen, wohl sprach sie dem Kaffee und den Küchlene im Rosenrainbad gar wacker zu; aber eine ängstliche Unruhe hinderte sie, sich der Freude sorglos hinzugeben. Daß Herr Horber ihren Mann zu einer Besprechung eingeladen, war ihr so wichtig, daß sie ganz gegen ihre Gewohnheit schon nach dem ersten Kacheli zu stüpfen begann, man sollte fragen,was die Sache koste, die donschtigs Aufwärterinnen seien dann doch nie umewäg, wenn man aufbrechen wolle. Einmal übers andere mahnte sie Hans, nach der Braunen zu sehen und nach dem Stallknecht. Und als endlich Vater Tellenbach ulydig wurde und sagte, das sei ihm emel auch ein Pressier, einmal abgekommen,wolle er jetzt mit seinen Teuten eschly sy,““ da nahm sie sich zusammen, drängte nicht mehr zum Aufbruch;aber der Gwunder?o war da und suchte nach einem andern Tuftloch. Lange meisterte sie ihn und wollte sich nicht derfür ha, etwas merken zu lassen. Aber ob Küchli und Gwunder in Frau Berta nicht länger im Frieden beieinander wohnen wollten, nach der dritten Portion mußte es heraus nämlich der Gwunder.
„Es scheinen recht artige Töchter zu sein, die zwei Horberli,“ meinte Frau Tellenbach. Sie besaß so wenig Verstellungskunst, daß selbst ein Einfaltspinsel ihr vom Gesicht abgelesen hätte, was sie damit sagen wollte,geschweige denn Hans, dem der Mutter Reiselust von Anfang an verdächtig vorgekommen war.
[189]Als Hans keinen Taut von sich gab, probierte die Mutter von neuem: „Es ist eigentlich schade, man hätte sie aufsitzen heißen sollen. Solche Meitscheni sind immer parat mitzufahren, wenn's irgendwo lustig zugehen will.“
Nun wollte aber Hans die Mutter nicht länger im Dunkeln herumtappen lassen. „Affen läßt man besser in ihrer Kräze,““ sagte er wegwerfend.
„Das ist mir auch ein Reden!“ schalt Frau Tellenbach. „Hörst, Vater? Wo hast du das aufgelesen,Bub? Im Dienst oder bei den Studenten?“
Der Vater enthielt sich eines zustimmenden Wortes,ja, es kam Hans sogar vor, als lachte er auf den Stockzähnen. Um so mehr fand die Mutter es notwendig, „zBode zʒ'stelle“*. „Es ist ein Kreuz heutzutage mit dem jungen Vollk,“ schalt sie weiter. „Mich nimmt nur wunder, wo das einmal endigt. Ihr versündiget euch, Kinder, wenn ihr nicht besser zu schätzen wißt, was die Eltern für euch ersorgen. Unsereins hätte Gott auf den Knien gedankt, wenn uns jemand das Glück so geküchelt und gebraten dargeschoben hätte.“
„Mutter, Mutter?“ warf Hans lachend ein. „Habt Ihr nicht unlängst noch zum Berteli gesagt, eine rechte Hausfrau weiche nicht vom Fllürsfeli, so wisse sie auch,was Teigs in der Pfanne? Wenn's ans Glückkücheln geht, so möchte doch der auch dabei sein, der's nachher auf den Teller bekommt.“
[10]„O Hänselit So ein Bürschli, dessen letzte Windeln noch nicht 3'vollem getrocknet sind .....“
„Soll jetzt Hals über Kopf weiben, nicht wahr?“fiel Hans der Mutter ins Wort.
„Abah!“ schnitt nun auch sie ab. „Schaff du lieber ab,'? Vater, wir wollen fahren. Nur um sich das unverschämte Maul anhängen zu lassen, brauchte man nicht so weit zu reisen.“
Halb grollend, halb lachend, brach man enölich auf und fuhr trotz allem recht guter Dinge heimwärts.Mutter Tellenbach, so erzürnt sie sich stellte, hatte doch eigentlich eine geheime Freude an den schlagfertigen Antworten ihres Sohnes. Es schien ihr, aus dem Bürschchen doch noch etwas werden zu wollen. Und was die Horberli betraf, so wer weiß verstecke sich hinter des Jungen zur Schau gestelltem Widerspruch justement eine heimliche Zuneigung. Wenn er selber machen und nicht auf alles die Nase sich wolle stoßen lassen um so besser. Die Hauptsache sei ja doch, daß heute abend der Vater mit dem alten Horber gut ins Greis komme, und dazu sei alle Aussicht vorhanden. Auch der Vater hatte sein Wohlgefallen an Hansens Erwachen. Das habe nun doch der Miilitärdienst bewirkt, vermutete er, und wenn dem so sei, so hätte er schließlich nichts dagegen, daß Hans später avancierte. Das gäbe ihm nach außen Gewicht und ein selbstbewußtes Auftreten. Was Wunder, daß man unter solchen Erwägungen mit vergnügten Gesichtern heimfuhr!
[191]Als Tellenbachs an der Fabrik vorbeifuhren, war allerdings die rebenumsponnene „Kräze“ leer. Aber was verschlug das? Der Vater stieg ab und begab sich in das Horbersche Comptoir, während Hans Mutter und Schwester heimkutschierte.
Das Viertelstündchen, um welches Horber den Großrat gebeten, dauerte bis elf Uhr nachts, so daß der Schlaf mehrmals Meister wurde über Frau Bertas Neugierde.Aber nicht mit sieben Rossen hätte man sie ins Schlafzimmer gebracht. Und als endlich ihres Mannes Schritte die Türschwelle erreichten, war der Schlaf weggeblasen.Die Haltung des Ersehnten gab der Mutter neue KRätsel auf. Fritz hatte einen nassen Schnauz, verdächtig glänzende Äuglein, und sein ohnehin nicht hinreißend bereodter Mund bewegte sich kaum gewandter als im Ausplamp's einer Sichleten.“ Hatte er einen Stüber'*7? Und berechtigte dieser Stüber zu irgendwelchen Hoffnungen? Da mußte flugs hineingeleuchtet werden.Instinktiv hob Frau Berta die Lampe, leuchtete ihrem Mann ins gerötete Gesicht und lud ihn dann mit kategorischer Freundlichkeit ein, hinter den Eßtisch zu rücken:„Komm, hock zueche! Du wirst wohl noch etwas mögen.“
Aber Fritz winkte ab: „Nüt, ungere will ich.“
„Bist du bis jetzt bei Horbers gewesen ?“
„Ja, wodüre! Keine halbe Stunde war ich dort.Habe mit ihm in den „Bären“ müssen. Aber jetzt wollen wir zu Bett. 's ist morgen auch noch ein Tag.“
„Was habt ihr denn zusammen gehabt?“
[1532]„Nichts Gefreutes. So, jetzt ungere! Fertig für heut'.“ Frau Berta blieb nichts anderes übrig, als nachgeben.
„Wo ist der Bub?“ Mit dieser wunderlichen Frage es ging ja schon gegen Mitternacht verriet nach einiger Zeit der Vater, daß er gar nicht schlief.
„Ei, wo wollte der sein? Denk im Bett.“
„Bist sicher ?“
„He z'Tüüner! Was ist jetzt das? Du weißt ja, wie er's hat. Er ist nicht einer von denen, wo nachts in der Welt herumhudeln. Oder meinst, das habe er auch im Dienst gelernt ?“
„Selb nicht. Also gut, wenn er im Nest liegt,ist's schon recht.“ Fritz bereute, daß er seine Frau wieder ins Reden gebracht hatte, orehte sich auf die andere Seite und schwieg. Frau Berta aber dachte:„Er hat doch einen Rausch“, und drehte auch zum Schweigen bei „oder hat er am Ende doch einen Grund zum Argwohn?“ Sollte sie nicht vielleicht hinüber düüßele, ins Stöckli, und nachschauen?Nein, das ging doch nicht.
So blieb es denn stille, und weder unzeitiger Lärm vom Hofe, noch irgendein Lichtschimmer waren schuld an Fritzens Schlaflosigkeit. Aber finsterer als das weiche Dunkel der schwülen Sommernacht waren die Gedanken,die ihn plagten. Ja, gerade hier, in dieser traulichen Stube, unter diesem Dache, wo trotz allem noch der Geist seines Vaters webte, steigerte sich die Oual seiner
[193]Empfindungen. Wenn es nun so kommen sollte, dann mochte seinetwegen der Großratssessel mit allen Vorteilen, die er ihm eingetragen, kaput gehen. So hatte er's nicht gemeint. Ein freier aufrechter Mann, hatte er, allen voran, etwas Tüchtiges für das gemeine Wohl leisten wollen nur ein wenig zeitgemäßer und praktischer als der BühlChristen selig. Aber immer gradaus, treu, aufrecht! Mit diesen Treibern in Hahnenberg hingegen war solch ehrliches Streben unmöglich.Mußte denn wirklich in diesem Teben jedes selbstlose Wollen zuschanden werden? Fritz Tellenbach war vor einigen Tagen von der Krankenhauskommission ins Vertrauen gezogen worden. Da hatte Major Senno,der den Vorsitz führte, mitgeteilt, daß seine Mutter den Bauplatz schenken werde, und er, Tellenbach, hatte,noch bevor der Pfarrer oder sonst jemand ihm auf den Busch klopfen und damit die Freudigkeit vergällen konnte, das Holz zum Bau versprochen. Ihm sollte niemand unter die Nase reiben müssen, daß Gott einen fröhlichen Geber lieb habe. Was auf dem Saarbühl Brauch gewesen, wisse er noch. Warm hatte Senno ihm gedankt, und nach der Beratung hatten sie sich die Hand geschüttelt in ehrlicher Freude darüber, daß sie, ungeachtet ihrer politischen Meinungsverschiedenheit,gemeinsam solch ein Unternehmen ins Werk setzen konnten. Überhaupt die politischen Ansichten! Was hatten denn die zu bedeuten, wo man sich die Hand zur Wohlfahrtspflege reichen durfte? Aber alles von Tavel, Die heilige FJlamme 5
453 [3]**rein alles mußte, so schien es Fritz Cellenbach, zum Teufel. An nichts weiter hätte er gedacht, als daß bald ein hochragender Giebel auf der Schloßmatte die mißgünstig Lauernden, welche sich immerfort zuraunten:„Ja, ja, der BühlFritz ist von seines Vaters Wegen abgekommen, seitdem er den Hof erlistet hat,“ eines Bessern belehren werde. Da hatte ihn der Fabrikant Horber auf die Seite genommen und ihm erklärt, so einfach sei die Sache mit dem Krankenhaus nicht. Und als er gesagt, er wüßte nicht, was da Ungerades dabei wäre, man solle doch nicht Schwierigkeiten sehen wollen,wo keine seien, da sagte Horber: „Nun, Herr Großrat,wenn Sie nicht glauben wollen, daß die Sache auch anders und zwar zweckmäßiger angefaßt werden könnte,so kommen Sie jetzt mit mir in den „Bären“ hinüber.“Konnte er das ablehnen? Er mußte wissen, was da vor sich ging und ließ sich im Stübli hinter den Tisch schieben. Der Wirt war dabei, der Glunggenmüller,der Fürsprech Kröttli und zwei andere Dorfgewaltige.Man rückte eng zusammen, um nicht laut reden zu müssen. Fritz Tellenbach sah sich von allen mit einiger Spannung beobachtet und hatte von Anfang an das Gefühl, Fuchs in der Hatz zu sein, und da er kein Loch sah, durch das er schicklich hätte entschlüpfen können,so bezog er eine Verteidigungsstellung. Er lehnte sich fest an die Wand, steckte beide Daumen in die Gilettäschli, welche wie Kasemattenschlitze auf der runden Bastion seines Bauches blinzelten. Die Augen hielt er [1]4 horchend niedergeschlagen, und nur hie und da ließ er sie nachprüfend in die Runde gehen. Das große Wort führte der Fürsprech Kröttli. Wenn man einen vorausschickt, der sich im verborgenen Netz der ein Dorf umspinnenden Bürgschaften, Schuldbriefe, Verschreibungen und Servituten auskennt, so läßt sich vermuten, daß es im bevorstehenden Meinungsaustausch weniger auf Gemütstiefe und Seelenadel als auf geschäftlichen Scharfblick ankomme. Um so auffallender war es nun,daß Herr Kröttli über das liebliche Gefilde der Gewissensfreiheit vorschlich und sich als den Beschützer der in ihren religiösen Überzeugungen Bedrohten aufspielte.Das ist unzweifelhaft nur der Scheinangriff, der Demonstrativflügel, wie die Strategen sagen; hierhin werde ich keine Kraft verschwenden, sagte sich Tellenbach; aber wart nur, Kröttli, wenn du's auf die rechtschaffene Gesinnung hinausspielst, so sollst du deinen Mann finden.
„Die Sache liegt nun so,“ führte der Fürsprech aus,„auf den ersten Blick hat die Schenkung der Frau Senno etwas ungemein Bestechendes und wird nicht verfehlen,auf den großen Haufen den Einoruck einer hochherzigen Tat zu machen, die man, chapeau bas, mit wärmstem Dank annehmen muß. Nun sa, ich will da nichts gesagt haben. Ein Geschenk ist immerhin ein Geschenk. Aber ich meine, wir dürfen uns doch nicht hinter das Licht führen lassen. So groß ist das Opfer der Frau Senno doch nicht, daß man darüber die Besinnung [180] verlieren müßte. Das Schloßgut bleibt auch nach dieser Abtretung noch ein recht schöner Besitz.“
Ein hämisches Schmunzeln seiner Zuhörer bestätigte dem Fürsprech, daß er hierin keinen Widerspruch zu gewärtigen habe.
„Dies nur nebenbei,“ fuhr er fort. „Der dunkle Punkt liegt für mich darin, daß durch die Schenkung unsere Frau Schloßherrin ein gewisses Mitspracherecht sich erwirbt formell zwar nicht, aber de facto. Ihr dürft euch da keinen Illusionen hingeben. Ihr werdet euch dann doch nicht für diejenigen halten lassen, welche solch einer Donatorin nicht das Wort gönnen, und darum heißt es, sich beizeiten vorsehen. Nun wollte ich erst noch gar nichts gesagt haben, wenn wir's nur mit Frau Senno zu tun hätten, die übrigens schon nahe an den Achtzigen ist. Aber aber, meine Herren,“ Herr Kröottli blähte sich ordentlich „wir wissen ja wohl, daß hinter der alten Dame ganz andere Leute stehen, Leute, deren Einfluß in einem Krankenhaus geradezu verhängnisvoll werden kann. Vergeßt nicht,daß ein jeder von uns einmal dorthin könnte zu liegen kommen. Gott verhüte es! Aber wer vermag etwas wider sein Geschick? Ich erinnere nur an den Propheten vom Sägessenmoos, den MössliHeiland, der im Schloß hoch in Gnaden steht. Man muß sich's wohl überlegen, ob man's drauf ankommen lassen will, daß so einer unsern Kranken in ihren letzten Lebensstunden auf die Seele knieen kann. Dem müssen wir zuvor[197] kommen, und darum meine ich, es wäre ratsamer, die Schenkung in dieser Form abzulehnen. Wir wollen ja der Frau Donatorin nicht davor sein, wenn sie etwas an das Werk beisteuern will; aber sie soll es in anderer Form tun. Einen erklecklichen Gelobeitrag wird man selbstverständlich gern annehmen. Nun, was meinen die Herren?“
Aller Augen richteten sich auf den Großrat, von dem man erwartete, daß er sich der Wirkung der Argumente Kröttlis nicht verschließen werde. Fritz Tellenbach warf abermals einen prüfenden Blick auf die Gesellschaft,lehnte sich mit dem rechten Unterarm auf den Cisch und schob sein Glas ein paarmal hin und her. Dann hub er langsam und gewichtig an: „Daß Friedli und seine Leute im neuen Krankenhaus ein Uebergewicht erlangen, wünschte auch ich nicht. Aber diese Befürchtung ist noch lange kein Grund, die Schenkung zurückzuweisen.Das wäre nicht schön gehandelt. Und was das Hineinregieren der Stündeler betrifft, so wollen wir dann schon sehen. Wir sind auch noch da. Gibt Frau Senno das Land, so gebe ich das Holz. So habe ich's mit dem Herrn Major abgemacht. Und wegen des Mitspracherechtes wird dem einen Schenker billig sein, was dem andern recht. Kurz und gut, wir sind auch noch da.“
Auf diesen unerwarteten Bescheid folgte ein verlegenes Schweigen. Der Scheinangriff des Fürsprechs war wirtungslos verpufft, und nun sann männiglich auf ein Mansöver zur Wiederherstellung des Gefechtes. Herr
[198]Kröttli sammelte die zersprengten Keiter seiner Gedankenfront und meinte:
„Mir scheint, der Herr Großrat denke denn doch zu harmlos von diesen Muckern. Gerade der Stundenhalter Friedli ..... ich weiß doch nicht.“
Fritz Tellenbach hatte für Friedli nicht viel Liebe übrig gewiß nicht. Er hatte sogar schon oft recht scharf über ihn geurteilt und kein Blatt vor den Mund genommen. Aber für die Schnauze dieses lichtscheuen Geschäftlimachers war ihm Friedli nun doch zu gut.Unangenehm fromm kam er ihm vor; aber ein braver Mann war er nun einmal. Darum erklärte der Großrat nochmals: „Es wäre mir doch beim Donner kurios,wenn man die paar Stündeler nicht möchte ebha.'“So darf man mit Leuten wie die Senno vom Schloß nicht umgehen. Ich habe dem Major mein Wort gegeben und will nicht dastehen als einer, auf den kein Verlaß ist.“
Abermals erfolgte ein längeres Schweigen. Das Ding war krumm angelassen worden. Man mußte entschieden auf einem andern Flügel vorstoßen. Enolich kam diese weise Einsicht durch ein Wort Horbers zum Ausdruck. „Es ist nicht das,“ sagte er mit zum Nachdenken gerunzelter Stirn. „Es ist nicht das; aber mir scheint überhaupt das Angebot materiell ungünstig.Sehen Sie, meine Herren, wenn man ein Krankenhaus bauen will, so ist wahrhaftig nur der allerbeste Bauplatz gut genug. Da sollten wir uns wirklich nicht
[59]durch allzuweit gehende Rücksichten gegen einen Schenker binden lassen. Herr Tellenbach wird sein großherziges Anerbieten gewiß auch bei der Wahl eines andern,vorteilhafteren Platzes aufrecht erhalten, er müßte nicht unser lieber, kluger und bewährter Vertreter im Großen Rate sein. Sehn Sie, meine Herren, so ein Platz muß zentral gelegen sein, frei, trocken, und Sonne haben,Sonne Sonne Sonne!“
„Das ist's! das ist's!“ stimmte der Wirt ein, und der Fürsprech versicherte: „Natürlich, darauf wollte ich dann auch noch zu reden kommen. In jeder Hinsicht,moralisch und physikalisch, muß eben so ein Bauplatz absolut einwanofrei sein.“
Des Großrats Augen waren über diesen Worten in großem Staunen weit aufgegangen. Einem groben Ausbruch seiner Entrüstung hatte Horber mit seinen Komplimenten zwar den Weg verlegt, aber das mußten die Teute nun doch hören: „Das ist alles recht und wahr; aber ich möchte jetzt wissen, ob eigentlich keiner von euch allen den Platz auf der Schloßmatte kennt.Zeigt mir einen, der freier, trockener, sonniger ist!“
„Was das betrifft,“ antwortete der Fürsprech, „so wäre man freilich nicht in Verlegenheit, und namentlich eine zentralere Lage wäre leicht zu finden.“
„Zentrale Lage!“ rief Tellenbach, soll das Krankenhaus etwa nur dem Dorf Hahnenberg dienen? Ist es nicht für den ganzen Bezirk bestimmt? Das sind alles faule Ausreden, und damit ihr's wißt, woran [550] ihr mit mir seid: für den Bau auf der Schloßmatte habe ich das Holz versprochen. Soll was anderes gezwängt sein, so werde ich mir die Sache noch zweimal überlegen.“
Auf das hin verschwand der Wirt, wie es Tellenbach bedünkte, nicht mit dem liebenswürdigsten Gesicht.Horber und der Fürsprech warfen sich sprechende Blicke zu und rührten mit ihren Gläsern nachdenklich auf dem Tisch herum. Der GlunggenMüller holte sich vom andern Tisch eine Zeitung herüber. Eigentlich war's ihm mehr um einen Schutzschild als um Neuigkeiten zu tun, denn im Grunde seines Herzens lächerte ihn Kröttlis Mißerfolg. Unversehens aber kam er ins Lesen hinein, und nach einigen Minuten erlöste er die Gesellschaft aus dem Druck des verlegenen Schweigens mit dem Ausruf: „Cusigdonner, es gibt ja Krieg!“
„Wo?“ fragte Tellenbach.
„Da schau! Zwischen den Osterreichern und den Serben.“
„Ja,“ meinte Horber, „und man kann dann von Glück reden, wenn's dabei bleibt; aber der Russe lauert schon hinter den Karpathen. Und wenn der sich drein mischt, haben wir den längst erwarteten europäischen Krieg.“„Ach was,“ entgegnete der Fürsprech. „ZeitungsschreiberGstürm. Das haben sie nun schon unenoliche Male behauptet. Wer wird denn Krieg begehren!“
„Mir wär's gerade genug, wenn's zwischen Oster[201] reich und Serbien losgeht,“ sagte Tellenbach. „Dann hab' ich meinen Baron gesehen.“
„Was für einen Baron?“
„He, den Ungarn, der alle Jahre Vieh kaufen kommt.“Das gab nun zu reden genug, man brauchte vor der Hand nicht auf das Krankenhaus zurückzukommen. Es geschah auch nicht, bis der Wirt wieder eintrat und Tellenbach seinen gestrickten Gelobeutel auf den Tisch legte.„Den versorge du nur wieder, Fritz,“ sagte der Wirt.„Das ist jetzt einmal meines.“
„So kommst du aber nicht zu deiner Sache, Wirt,“erwiderte Tellenbach, indem er sich zum Gehen anschickte. Er überhörte nicht den verärgerten Con in des Wirtes Stimme, als dieser, mehr zu den andern gewendet, sagte: „Das wirod sich noch weisen.“ Da fiel Fritz Cellenbach der Daumen in die Hand, und was er vermutete, bestätigte ihm auf der Straße vor dem „Bären“ der Glunggenmüller: „Du bist heut nicht merkige gewesen, Tellenbach. Hast nicht geschmöckt, wie der Hase läuft? Der Wirt mangelt eine Matte zu verkaufen. Er ist dem Kröttli einen Haufen Gelo schuldig,und sein Schwager, der Horber, hat sich für ihn verbürgt. Das hängt alles an einem Draht, und wenn's Einen überschlägt, so könnte es allen dreien fehlen.Darum der Kummer um die Gewissensfreiheit der Kranken, ha ha ha.“
„Hab mir's schon gedacht, daß so etwas dahinter [20272] steckt,“ sagte Tellenbach, „grad just deswegen habe ich auf diesem Ohr nichts hören wollen. Wenn die glauben,ihren Machenschaften zuliebe werde ich wortbrüchig,so sind sie am Lätzen.“
„Schon recht, Tellenbach; aber vergiß nicht, sie sind ihrer ein styfs Küppeli, und sie könnten dir übel z'leid werken. Gut Nacht.“ Damit verschwand der Glunggenmüller in der nächtlichen Finsternis und überließ dem BühlBauer die weiteren Schlußfolgerungen.
Also, so kam man odrein, mit dem Hervortreten im öffentlichen Leben. Wo einer frank und frei sein Gewicht für eine gute Sache in die Wagschale warf, da wurde er von einer Rotte selbstsüchtiger Menschen an die Wand gedrückt. Aber wartet nur, euch will ich schon zeigen, wer Fritz Cellenbach ist. So sann der gute Mann auf seinem Heimweg, und in all seiner Auflehnung gegen den Strom, der ihn bedrohte, war ihm, als müßte er seinen Sohn ins Vertrauen ziehen,ihn vor allem fest am Arm nehmen, damit er ihm nicht von der Strömung entrissen werde. Daher die unvermittelte Frage nach Hans, die Frau Berta auf so unliebenswürdige Vermutungen führte.
Als der erste Frühschein durch die Fenster brach,betrachtete Fritz Tellenbach nachdenklich seine neben ihm schlummernde Frau. Diese friedlich atmende Brust barg die erste Schwierigkeit, die er heute niederzuringen hatte. Sein gestriges Auftreten dem Fabrikanten gegenüber konnte ja unmöglich die Billigung seiner Frau [203] finden, nicht einmal Verstänonis. Da war es schon besser,einen Umweg zu versuchen. Vielleicht würde nun auch ihm die Kriegsnachricht zustatten kommen. Fritz war gewappnet. Allmählich umfing ihn wieder ein leiser Schlaf. Da riß ihn jählings die fast befehlende Frage seiner Frau aus dem Dusel: „Und jetzt? Was hat er eigentlich gewollt der Horber?“
„Ei, was wollte er gewollt haben! Krieg gibt's,und davon hat man ein Langes und Breites gesprochen.“
„Dreck ame Lümpli! Für das hat dich, denk, der Horber nicht bschickt.“
„Ist das etwa noch nicht genug für einen Abendsitz?Denk doch, was das auf sich hat! Ich werde es auch zu spüren bekommen.“ Mit diesen Worten stand Fritz auf und begann, sich anzukleiden.
„Mit wem gibt's denn Krieg?“
„He, der Osterreicher und der Serb; aber dabei wird's nicht bl.....“
„Blas mir doch! Was gehn uns die an? Die sollen sich meinethalb o'Gringe?“ zerschlagen bis genug. Aber was bei Horbers los ist, das möcht ich wissen.“
Fritz gab bald seinen Umgehungsplan auf. Über kurz oder lang mußte er ja doch mit der Sprache herausrücken. Er erzählte, wie es ihm im „Bären“ ergangen.Ein wenig ungelegen kam Frau Berta die Nachricht schon, daß Horber in seines Schwagers Geschäfte verwickelt sei. Aber was gab's da lange zu studieren?„Gfreuts ist es nicht,“ sagte sie; „aber wenn du dich [204] diesem Gchütt's entziehst, so werden sie dir übel mitspielen, da kannst drauf zählen. Ja und Amen sagen tostet dich am Ende nichts, und dann bist drus und dänne.“
„Wohl kostet's mich etwas, und zwar mehr als ein paar Fränklein. Wenn's nur das wäre, so sollte es mir nicht darauf ankommen; aber meine Reputation ist mir mehr wert. Ich habe dem Senno mein Wort gegeben. Wir sind eins geworden, und es wäre nicht recht, ihn im Stich zu lassen.“
„Du hättest eben früher dran sinnen sollen. Man muß nicht immer auf den ersten Bäägg' einschlagen.Meinetwegen mach, was du willst; aber mich dünkt,ich wüßte bald, was ich da wollte. Auf der einen Seite läuft einem das Wasser in den Mund, und wenn nicht geholfen wird, so nimmt's ihrer drei ungere. Das würden sie dir ihrer Lebtage nie vergessen, und was drei settig Mürggle? in der Gemeinde erbrüelen mögen,ist nicht nüt. Auf der andern Seite bhüet' is Gott! die vom Schloß dauern mich nicht hert. Afe haben sie's in diesem Leben schön genug, was brauchen sie sich mit ihrem Reichtum noch den Sperrsitz im Paradies z'ergattern? Die ließe ich zable. Und von denen hast du nichts Böses zu gewärtigen, das sind gutmüetig Cüüfle und haben es bald verwerchet.“
„Eben drum mag ich ihnen nichts zuleide tun, weil ich wohl weiß, daß sie's ihre Beleidiger nicht entgelten lassen.“
[205]„Dafür wirst du keinen Dank haben. Sei gescheit,Fritz, und besinne dicht Frag den Buri, der wird dir schon sagen, ob ich nicht recht habe.“
Fritz schlüpfte in den Rock und verließ die Stube,ohne auf diese Zumutung zu antworten. Den Gang nach Walpersboden, den konnte er sich ersparen. Daß der Krämer sich auf die Seite der Hahnenberger Dorfmagnaten stellen würde, war ja selbstverständlich. Aber diesmal wollte Fritz Tellenbach frei nach seinem Gewissen handeln. Bevogten ließ er sich nicht. Gesunden Trotz im Herzen, machte er sich an seine Arbeit, die ihm mehr Genugtuung verhieß als ein WerktagsFahri mit Nachspiel im „Bären“. Daß andere für ihn den Weg zu Buri unter die Füße nahmen, ahnte er an diesem Morgen noch nicht; aber er erfuhr es bald genug.
Warme Sommerpracht lag im Cale. Was an der Tagesordnung war, würde auch der erraten haben, den man um Mitternacht mit verbundenen Augen auf die Straße gestellt hätte; denn der Heuduft erfüllte Himmel und Erde. Bis in des Waldes Dickicht drang er. An den Zweigen, die nach dem freien Raum der Straße hin fächerten, hingen überall Fähnchen von abgestreiftem Heu An den schattigen Berghalden schrillten noch die Wetzsteine, rauschten die Sensen; auf den weiten Wiesen des Talbodens aber rückten langsam hinter vergnügt [23] schnaubenden Rossen die wachsenden Fuder, umgeben von Schwärmen arbeitsfrohen Jungvolkes. In das Summen der Bienen donnerte das Rumpeln der Hufe,die mit kräftigem Anlauf duftende Futterberge in die purpurne Nacht der Einfahrten zogen. Wo die Bäurin würzendes Gemüse zur Speisung des Vorrat schaffenden Volkes schnitt, sandten dunkel glühende Rosen festlichen Hauch in den Werktag. Schaffenslust und Frieden segneten das Land.
Erquicklich spielten die Sonnenstrahlen auch mit dem blonden Strubel des barfüßigen Bübleins, das über den Zaun der SaarbühlBäuerin zuschaute, während sie in ihrem Garten Kraut schnitt. Heute trug sie wieder eine schmucklose bäurische Tracht. Über den Heuet wollte sie wieder sein, was sie ehedem gewesen.
„Was willst?“ fragte sie den Kleinen. „Hast wieder nicht zueche dörfe wägem Hund, he?“ Sie kannte den kleinen Boten des Krämers und ging dicht an den Hag,den Bericht in Empfang zu nehmen.
„Der Buri läßt sagen,“ lautete die wichtige Botschaft, „er hätte wieder Kaffee gerösteten.“
„So, so? 's ist recht. He nu, du kannst ihm sagen,ich wolle dran denken.“
Den Schlüssel zu Buris chiffrierten Depeschen besaß Frau Berta so gut wie ihr Mann. Kaffee bedeutete eine wichtige Neuigkeit, und „geröstet“ hieß soviel wie „sehr dringendo“.
Fritz Cellenbach, der, wie seine Frau, jeden großen
[207]Werchet mit Freuden benützte, um wieder einmal Bauer und nur Bauer zu sein, nahm, als er mittags schweißgebadet heimkam, die KaffeeMeldung ziemlich unwirsch auf. „Nach dem Heuet dann,“ sagte er kurz und ging weiter. Während er in der Stube in ein trockenes Hemo schlüpfte, überlegte er sich, ob er nicht doch besser tun würde, dem Ruf Buris zu folgen. Aber nein, sagte er sich, diesmal kann ich mir schon denken, was es ist,und ehe der Heuet zu Ende ist, geht ja in der Sache doch nichts. Wer wollte Zeit dazu haben? Er vergaß in diesem Augenblick, daß Menschen, die auf dem Papier säen und ernten, nicht auf das Wetter zu achten brauchen und auch nicht auf die zu warten pflegen,welche vor dem Abflauen der Bise zu nichts anderem zu haben sind, als zum Heuen.
Den Frauen aber läßt gerösteter Kaffee nicht Ruhe,bis sie ihn haben, er stamme aus Brasilien oder aus dem schmüseligen Sackkalender des Krämers im Walpersboden. So begab es sich denn, daß, ungeachtet der Heuernte, Frau Berta Tellenbach, des Großrats, an jenem heißen Cage noch vor Feierabend den klirrenden Glockendraht an Buris Laden in Bewegung setzte und dem schwammigen Geheimrat mit hochgereckten Fühlhörnern ins Hinterstüblein folgte. Buri verstand sich auf das Anlegen von Traktandenlisten. Er wußte, daß ein Präsident, wenn er mit der Arbeit fertig werden will, die chüstigsten ? Gegenstände hintenan setzen muß,sonst verdampetẽis sich der Rat. Das Trockene voraus[208] nehmend, sagte er: „Ich wollte dem Fritz geraten haben,denen vom „Bären“ in Hahnenberg nicht den Benggel zwischen die Füße zu werfen.“
„Präzis, das meine ich eben auch,“ eiferte ihm Frau Berta ins Wort; „aber er meint immer, er müsse den guten Lali machen gegen die vom Schloß, wo doch nichts mehr zu befehlen haben. Ich hab's ihm schon all diese Cage unter die Nase gestrichen, aber er will mir noch immer nicht recht dran schmöcke. Du mußt dann noch selber hinger ne, du bringst ihn leichter vorume als ich. Seitdem er Großrat ist, meint er eben auch, er dürfe nicht mehr auf mich losen. Bhüet' is Gott! Schnürlimannen?? sind sie doch allsame. Es stünde bigoscht anders im Kanton Bern, wenn man den Weibern mehr losete.“
„Ja, ja,“ lachte der Krämer, „aber weißt, Eine, wo ihren Mann nicht vorumelüpft, soll sich nicht auflassen.Das mußt noch lernen. Übrigens wird sich die Sache schon machen.“
„Es wär mir lieb, nicht wegen dem Bärenwirt.Meinethalb könnte der oBei obsig strecke,“s so höch als er mag; aber das bhalt dann für dich, Buri, sonst ..... ich habe mir so im stillen gedacht, wie es wäre, wenn wir unserem Bub eins von den Horberlene z'warme täten.?s Da sollte man doch ...“ Frau Berta hielt plötzlich inne, weil Buri die Augsbrauen hochzog und mit der Hand auf dem Cisch herumfuhr, als wollte er etwas herunterwischen. Er borzete mit seinem []J7**plumpen Leibe hin und her und sagte dann: „Schau,Bärti, man muß sich überlegen, was man zsämehäicht.“Das Baugeschäft kommt jetzt in Schwung. Das ketzert ja da droben in der RotenbalmSäge, daß es eine helle Freude ist. Und unterlegt ist's. Das mag schon etwas ertragen. Da wär's schade, etwas dran anzuhängen,was sich zum Schleiftrog auswachsen kann. Schau, eine Fabrik, wie dem Horber seine, läßt sich gar gut mit so einer Blechpfurre vergleichen, die man mit einem Schnürchen aufzieht. Sie surret und pfurret und zwirblet und tanzt, bis daß sie an ein Stuhlbein schießt oder über ein Astloch stolpert, dann gheit sie um, pfüderlet noch ein Weilchen, und aus ist's. Nein da würd'ich mich noch dreimal besinnen. Aber weißt, schaden würde es schon nicht, wenn ihr ein wenig besser Acht hättet auf euren Hänsel. Ich hab's dem Fritz schon einmal gesagt, er soll ihn nicht immer ins Sägessenmoos hinaus laufen lassen.“
„Du wirst mir doch nicht sagen ...“
„Frag ihn einmal aufs Gewissen, wo er nächti gewesen, he he he!“
„Wo denn? Sag, was weißt?“
„Schau nur, daß er nicht eines Tages unter einer Chacheliblache 8* bhangen bleibt.“
Frau Berta versagte der Atem.
„Ich kann auch nicht mehr weder sagen. Du weißt ja, daß Marlisis Züsi jetzt im Sägessenmoos wohnt und .....“ Buri wischte wieder mit der Hand in der von Tavel, Die heilige Flamme [230]Luft herum „ich laß mir's nicht ausreden: die Gottsäligkeit ist zu manchem gar tommod.“
„Der Friedli?“ fuhr Mutter Tellenbach auf. „Steckt der Friedli dahinter ?“
Ich will nichts gesagt haben, aber ... Kurz und gut,schaut selber zur Sache und sucht dem Jungen eine Frau, wenn ihr's nicht wollt darauf ankommen lassen.“
Die Unterredung war hierauf bald zu Ende. Mit so langen Schritten wie an jenem Spätnachmittag hatte man die SaarbühlBäuerin noch nie heimwärts marschieren sehen. Als Hans mit den andern Heuern vom Felde heimtam, entging ihm das Wetterleuchten in der Mutter Augen nicht. Er merkte auch, daß sie Gelegenheit suchte, ihn in einen stillen Winkel zu locken, wo sie ihn ins Verhör nehmen könnte, und wich ihr aus.Schließlich gelang es ihr aber doch, ihn mit dem Vater in die Stube hineinzukriegen. Und dann ging's los,wobei sie immer mit Blicken des Vaters Zustimmung suchte.
„Du bist nächti im Sägessenmoos gewesen ?“
„Sollte ich etwa nicht?“
„Was hast dort zu suchen? „Bist etwa dem Friedli ins Garn gelaufen?“
„Ins Garn? Nicht daß ich wüßte.“
„Du bist bei ihm in der Stund gewesen ?“
Und wenn, Mutter?“
Das hast du nicht nötig. Wenn aparti bättet sein muß, so hast in deinem Stübli Platz genug, und für [211] das Ordinäri wird dir wohl der Pfarrer im Hahnenberg gut genug sein oder nicht? Weißt, Bürschli, so dumm sind wir nicht, wir haben schon gemerkt, warum du undereinisch so auf der Religion bist. Aber da wird nichts draus. Das wirst du uns nicht anemache wollen,uns ein solches Schlärpli auf das Saarbühl zu bringen.“
„Mutter, das Heiraten müßt ihr einst mir überlassen. Einstweilen braucht ihr euch deswegen keine Sorgen zu machen; denn morgen reise ich wieder ab ans Technikum. Vom Dienst hab' ich ausgeruht, und der Heuet ist ja morgen zu Ende.“
Hansli hatte in diesen Bescheid einen Trotz hineinklingen lassen, der es unmöglich machte, die Sache heute zu einem befriedigenden Schluß zu bringen. Als er die Stube verlassen hatte, wollte Frau Berta ihrem Grimm in Arbeit Luft machen; aber der Vater hemmte ihre hastigen Schritte mit dem Vorwurf: „Mutter, das hingegen hast jetzt nicht geschickt agattiget.“ 80
„So?“ wanote sie sich scharf nach ihm um. „Da hat man's wieder einmal. Während der ganzen Erläsete *hockst da wie ein Pfund Schnitz und gibst keinen Con von dir. Und jetzt soll ich's natürlich verschüttet haben.“
„Weißt, Fraueli, mit dem Dreinfahren bringst du keinen jungen Burschen von einer Liebe ab. Du hast das Feuer nur tiefer in die Wedelen?s hineingeblasen.Denk doch aucht Wenn die Mutter selig so von dir geredet hätte, als wir zwei einander gefunden hatten.Was meinst, was ich getan hätte?“[212]„No sauftꝰ druuf yhe trappet wärst und hättest mich hocken lassen.“
„So? Meinst? Wär das schön gehandelt ?“
„Mira schön oder wüst!“ Frau Berta wollte sich nicht weiter in Widersprüche verwickeln lassen und verschwand polternd in der Küche.
Fritz Tellenbach war es übrigens längst nicht mehr ums Spassen. Es war ihm in diesen Tagen, als hätte die Freude in seinem Leben nirgends mehr Raum. Er brauchte nur mit frischem Mut an etwas sich heranzumachen, so fiel ihm schon ganz sicher im nächsten halben Tag etwas auf die Nase. Kaum hatte er den Eindruck gewonnen, daß der Militärdienst seinem Sohn den Knopf aufgedrückt habe und das Ding mit der mechanischen Säge sich sehr gut anlasse, so mußte da wieder ein Schatten drüber fliegen. Hätte er erst geahnt, wie Hans von dem Dienst für das Vaterland dachte!
Auf dem Weg zur Station Kienach, wohin er am andern Morgen den Jungen begleitete, während alles,was Beine hatte, wieder zum Heuen ausrückte, suchte er Hans zur Besinnung zu bringen. „Weißt,“ sagte er, „ich habe gestern nicht auch noch drein reden wollen;aber das darfst doch wissen, daß ich mit der Mutter eins bin. Und sie hat recht. Manchmal will's ihr nur nicht recht geraten mit dem passenden Wort. Ich will dir nicht drein reden. Dein Glück soll auch meines sein.Aber eben Glück möchte ich dir wünschen in der Wahl.
[213]Vergiß nicht, daß man mit einer Frau auch den ganzen Kreis von Menschen wählt, worin man dann leben muß. Wenn Einem da die Augen zu spät aufgehen,so ist er dann übel dran. Was das andere ist, mit dem Friedli, so halt's damit nach deinem Gewissen.Ich rede dir nicht drein. Aber was bei uns sonst der Brauch gewesen, weißt, und der Eltern Segen ist für einen jungen Mann niod nüt.“
Sie gingen wohl hundert Schritte weit, ohne ein Wort von sich zu geben, Hans mit gesenktem Kopf,Vater Tellenbach aufrecht und mit Blicken, als wollte er die Kirschbäume am Wegsaum zu Zeugen anrufen.
„Vater,“ sagte endlich Hans, „Du wirst doch nicht etwa denken, ich verachte deinen und der Mutter Segen!Aur das nicht!“
„Nun ja, ich will's nicht hoffen.“ Damit brach der Vater das Gespräch ab. Er hatte einen Nachbar erspäht,der sich ihnen auf einem Seitenweg näherte und ein weiteres Zwiegespräch störte.[]XI.
Die hinter der Stahrenfluh hielten Volksversammlung, und zwar diesmal droben, in Rotenbalm, um desto besser unter sich zu sein. Es galt, Stellung zu nehmen zu dem Krankenhausprojekt, das den ganzen Bezirk interessierte. Von außerhalb der Gemeinde Wohnenden durften nur die Großräte dabei sein. Herr Senno war ausgeblieben, so daß Fritz Tellenbach allein mit seinen Wählern hinterm Berg reden konnte. Eigentlich war's keinem anständig so zwischen Heuet und Ernte. So was wäre im Winter besser zu bereden;aber die Zwänggrinde drüben in Hahnenberg hatten es so eilig, und man munkelte auch schon rings um den ganzen Tugikrachen, warum.
Als Großrat Tellenbach den Tanzsaal betrat, in welchem an drei langen Tischen die Rotenbalmer tagten,trug die Sphinr des Volkswillens jenes Lächeln zur Schau, das den Rednern sagt: „Gebt euch keine Mühe,ich weiß ganz genau, was ich will. Auf Wiedersehn am Tage der Abstimmung“. Kluge Demagogen pflegen in solchen Augenblicken zu schweigen, bis sie den Con erlauscht haben, auf den aller Ohren gestimmt sind,und dann stimmen sie geräuschvoll ein, als ob ihre
[215]Kehle diesen Ton angegeben hätte. Hat das Volk sein Amen dazu genickt und bestätigt, daß ihm aus der Seele gesprochen worden sei, so gehen die Wortführer mit dem wohltuenden Gefühl nach Hause, daß ihre Sessel kein Wackeln angetkommen sei. Fritz Tellenbach ahnte nun wohl, was heute hinter der Fluh Parole sei; aber er wagte nicht gleich mit dem Vollklang seiner Stimme darauf einzufallen, weil er annehmen mußte,daß die KröttliPartei von Hahnenberg auch hier ihre verkappten Beobachter habe. Es sah wirklich aus, als wollte überhaupt niemand das Wort ergreifen. Nichts bewegte sich als die Tabakräuchlein. Sogar die Weingläser blieben fast unberührt auf den Tischen.
Man blickte sich nach einem um, der vorangehen würde, aber niemand ranggelteꝰd wie etwa gedankenschwangere Redner zu tun pflegen.
„Ja, will jetzt eigentlich niemand etwas sagen ?“fragte der Präsident. „Dann können wir's kurz machen.“
Ein ungläubiges Lächeln raschelte den Tischen entlang. Niemand, auch Fritz Cellenbach nicht, glaubte,daß dieses Schweigen dem Willen der Versammlung entspreche. Der Großrat lehnte immer noch ab. Es mußte unbedingt einer aufs Seil, der dessen Tücken nicht kannte. Da fielen des Präsidenten Blicke plötzlich auf den Pfarrer. Ei, daß man doch nicht früher an den dachte! Natürlich, das war der gegebene Mann, handelte es sich doch um ein Werk, bei dem der Pfarrer würde mitzureden haben. Das fand im Grund Herr
[2160]Zingel selbst, und da er vor einigen Tagen wieder etwas idealistisch verkantet“ von einer Konferenz im Vortragssaal der Landesausstellung zurückgekehrt war,fand sich noch ein Restchen Zündsatz in seinem Gedankenfach. Mit wohltuender Frische hub er an: „Liebe Mitbürger! Es wäre mir zwar lieber gewesen, wenn ein anderer zuerst das Wort ergriffen hätte. Ist aber der Versammlung damit ein Dienst geleistet, so sei es mir denn gestattet, einigen Gedanken über das Krankenhausprojekt Ausdruck zu geben. Vorerst möchte ich den Herren Initianten meinen wärmsten Dank aussprechen. Dank auch gebührt denjenigen, die durch hochherzige Spenden den Grund gelegt haben zu dem Wert,vorab der ehrwürdigen Frau Senno und unserem Vertreter im Großen Rat, Herrn Tellenbach. Nun scheint mir aber doch, verehrte Mitbürger, wir sollten uns durch diese wirklich großartigen Opfer nicht dazu hinreißen lassen, einen Weg einzuschlagen, den wir später bereuen könnten. Es sei ferne von mir, den Spendern dieser Opfer irgendwie nahezutreten! Herr Großrat Tellenbach wird mir übrigens Recht geben und gewiß bereit sein, auch unter etwas veränderten Verhältnissen das versprochene Bauholz zu liefern.So anerkennenswert die Schenkung der Frau Senno ist, so scheint mir doch, es wäre gewissermaßen demokratischer und größer, jedenfalls aber zweckmäßiger,wenn die Krankenhausgenossenschaft einen Bauplatz kaufte. Sie wäre dann von Anfang an freier [217] in ihren Entschlüssen und stünde unabhängiger da,während sie sich durch Annahme des Geschenkes der Frau Senno in eine moralische Gebundenheit dieser Familie gegenüber begäbe. Das Krankenhaus soll das Werk so recht eigentlich des Volkes werden, ein Dokument seines sozialen Empfindens. Und an diesem Empfinden sollte nichts verkürzt werden. Frau Senno soll es unbenommen bleiben, wie jeder andere Bürger zu dem Werk beizutragen, aber sie sollte nicht der Genossenschaft gegenüber in eine privilegierte Stellung treten.“
Der Pfarrer spann dann diesen Gedanken unter lautloser Stille seiner Zuhörer, die nur er als Zustimmung sich auslegte er dachte: qui tacet, con-sentire videtur weiter aus und schloß: „Ich möchte mir daher erlauben, den verehrten Mitbürgern eine Resolution ungefähr in dem Sinne vorzuschlagen: Die im „Rößli“ zu Rotenbalm tagende Versammlung, in voller Würdigung des hochherzigen Angebots der Frau Senno, in Erwägung aber anderseits, daß der freihändige Kauf eines Bauplatzes eine ihrem sozialen Empfinden besser entsprechende und eines demokratisch fühlenden Volkes würdigere Lösung der Krankenhausfrage darstellen würde, lehnt das Anerbieten der Frau Senno unter wärmster Verdankung ab und spricht den Wunsch aus, es möchte ein geeigneter, zentral gelegener Bauplatz gekauft werden.“
Die andauernde Grabesstille durchbrach ein einziges [288] von einer unbekannten Stimme herrührendes Bravo.Alles blickte in die Ecke, woher es scholl. Es kam aus der einzigen sozialistisch geschulten Kehle des HinterfluhBezirkes, vom Monteur des Tellenbachschen Elettrizitätswerkes, der einige Zeit im Berner Stadtrat das Regieren gelernt hatte. Sympathisch berührt, hatte auch Zingel seinen Hals nach dem Beifallspender gereckt; aber sein Kopf schnellte sofort zwischen die Schultern zurück, da er in nächster Nähe eine knurrende Stimme fragen hörte: „Was wott dä Schnuderi?“Die unartige Frage enthielt einen erschöpfenden Kommentar zu dem eisigen Schweigen der Versammlung.
Das dünnflüssige Votum hatte die zähe Masse der öffentlichen Meinung obenhin aufgeweicht. Nicht daß nun schon jemand das Wort ergriffen hätte; aber es ging ein Raunen durch die Reihen. Die einen machten einander pfiffige Äuglein, weil der Pfarrer in seiner Harmlosigkeit noch nichts wußte von dem Konventikel im „Bären“ zu Hahnenberg, die andern spähten in ängstlicher Spannung nach einem Reöner, der das durch die Idee des Bauplatzes geweckte Gespenst einer Steuererhöhung mit wuchtigem Hieb in den Boden hineintätschte. Jetzt mußte der Großrat heraus. Wenn er jetzt nicht den erwarteten Streich führte, dann sollte er das nächste Mal sehen, wo er seine Wähler fand.Fritz CTellenbach aber verlegte sich fernerhin aufs Beobachten und schwieg. Er wollte erst einfallen, wenn der schlummernde Wioderstand gegen das Kaufsprojekt [219] fich Luft gemacht hatte. Dabei brachte er aber nicht in Rechnung, daß die Großzahl der Versammelten ebenso vorsichtig war und dem Herrn Großrat nicht offen in die Quere kommen wollte. Es entstand ein Hin und Herreden, immer lauter, immer verworrener,aber aus dem Gekräusel wollte keine eigentliche Rede aufspringen. Aus solchen Situationen kann nur der politische Desperado befreien, der Mann, der nichts zu verlieren hat. Und einen solchen hatten sie mitgebracht.Sie wußten ganz genau, wozu.
Aus der Ecke, in welcher die Kellnerin am meisten zu tun hatte, wurde es allgemach lauter, und endlich übertsönte dort eine einzelne Stimme alle andern derart,daß um sie herum ein Verstummen Kreise zog, die schließlich den ganzen Saal überliefen. Und nun hörte man den mit Waadtländer angeheizten GyrgadeGläis mit einer Stimme perorieren, die lebhaft an das Krachen seiner abrutschenden Cannen erinnerte. Der Tisch dröhnte unter einem wuchtigen Faustschlag, als er aufbrüllte: „Wohl, das fehlte grad noch, daß man dene MillionsdonnerFräßhüng in Hahnenberg noch den Hasen in die Küche jagte, wo man die Sache umsonst haben kann. Settig Löhle sind wir denn doch hinter der Fluh noch nicht. Wir kommen schon so bei allem zu kurz, und jetzt meinen die Blutsauger, sie tönnen uns das auch noch aborücken. Wenn üser Großrät diesem Treiben nicht den Riegel stecken, so brauchen wir dann keine mehr. Aber eben, was fragt so einer [2230] nach unserem Begehr? Dem ghejen die hundertjährigen Tannen grad erakt auf den Sagschlitten, und was unsereinem das Wildwasser verherget, macht es ihm gut mit Kraft und Licht, nur weil er die Banknoten nicht zu zählen braucht. Und die Donnere schaffen alle einander in die Hände, daß ja nichts denen in den leeren Sack fällt, wo an jedem Hosenknopf eine Kuppele Burschꝰ? hängen haben. Nirgends sehen sie für sich genug.“
„Hohoho,“ unterbrach der Präsident den immer wilder Redenden. Der aber ließ sich nicht einschüchtern.„Man weiß öppe,“ fuhr er fort, „wer den Christen auf der Strubenweid ins Unglück getrieben hat. Aber wartet nur .....“
„Halt!“ gebot der Präsident. „Wir reden vom Krankenhaus. Es tut's jetzt, Gläes. Wenn die Röhre nur noch Satz zu geben hat, muß man aufhören zu sooden.“ o8
Der Schuß war gefallen, auf den ein Teil der HinterfluhLeute gewartet hatte. Es folgte abermals eine böse Stille. Fritz Tellenbach sah verschiedene Köpfe,die, von ihm abgewendet, sich mit hämischem Niücken zwischen gewölbte Schultern duckten. Sollte er sich mit dem betrunkenen Glaäis in ein Gezänke einlassen? Nein,dieses Schauspiel sollten sie nicht haben. Wem die öffentliche Meinung eine Schlechtigkeit andichtet, ist übel dran. Er ist darauf angewiesen, daß andere ihn reinwaschen. Cellenbach warf einen fragenden Blick auf [221] den Präsidenten, der die Pflicht gehabt hätte, für ihn einzutreten. Da dieser den Blick nicht verstehen wollte,ließ sich deutlich erkennen, daß zum mindesten eine stillschweigende Abmachung ihr Wesen in der Versammlung trieb. Da wäre noch der Pfarrer gewesen, dem es wohl angestanden hätte, eine Tanze gegen die Verleumdung einzulegen. Zingel hätte auch Tust dazu gehabt. Da ihn aber inzwischen ein wohlmeinender Tischnachbar über die wahren Beweggründe der Leute vom „Bären“ in Hahnenberg aufgeklärt hatte, wagte er es nicht zum zweitenmal, das Wort zu ergreifen auf die Gefahr hin, abermals in Widerspruch zu geraten mit denen, die vielleicht auch in dieser Angelegenheit mehr wußten als er.
So erhob sich denn Fritz Cellenbach, um durch ein männlich Wort zu beweisen, daß er sich nicht zu ducken brauchte. Da gab es kein Kränzewinden, kein Werben und kein Schmeicheln. Man hörte dem Manne an, daß er den Entscheid zutrauensvoll dem Volk anheimgab.Das fiel ihm um so leichter, als er herausgefühlt hatte,daß seine eigene Meinung der Ansicht der Zuhörer entsprach. Als er auf den Kern der Tagesfrage kam,sagte Tellenbach: „Seht, liebe Mitbürger, wenn sie in Hahnenberg vom Kauf eines Bauplatzes reden, so verschlucken sie nur eine Silbe. Den Teuten ist es nicht um das Kaufen zu tun, sondern um das Verkaufen.Wohin die Kranken zu liegen kommen, ist ihnen ebenso gleichgültig wie der Einfluß, den der Kauf auf die
[7222]Gemeindetelle“ haben würde. Wir aber wollen ein rechtschaffenes Krankenhaus haben, und zwar bald, und wenn wir den Platz umsonst haben können, so werden wir wohl nicht Dummksöpfe sein und mit vermehrten Steuern einem Einzelnen den Hasen in die Küche jagen. Verstehst jetzt, Gläis, wie ich's meine, he? Und damit ihr wißt, woran ihr mit mir seid, so gebe ich die Erllärung ab, daß mir meine Tannen zu gut sind,um damit einer ungerechten Sache durchzuhelfen. Wird das Geschenk der Frau Senno nicht angenommen, so vermögen sie dann in Hahnenberg auch das Bauholz zu kaufen.“
Fritz Tellenbach setzte sich mit der Überzeugung, das Vertrauen der Leute hinter der Fluh wieder gewonnen zu haben. Seine Erklärung war eine Absage an Kröttli und seine Genossen, und dieser mutige Schritt verdiente Anerkennung. Aber nur zu bald sollte ihm ein neuer Einblick in die Stimmung der Bevölkerung eröffnet werden. Gläis zwar wurde von denen, die um ihn her saßen, niedergehalten. Dafür erhob sich in einer andern Ecke ein hageres, struppiges Bäuerlein, einer von jenen,die nichts wissen von Parteiparole, die, einer Bergföhre vergleichbar, zerzaust und verkrüppelt einsam aufwachsen, sich dann aber von keines Menschen Hand anders biegen lassen. Der sagte: „Das ist alles schön und gut, was der Herr Großrat sagt; aber mich däucht,es sei doch etwas nicht recht an der Sache. Den Boden hätten wir und das Holz hätten wir; aber damit ist [228] das Krankenhaus noch nicht fertig. Da braucht's noch viel, und das kostet Geld. Und warum sollen wir ein Krankenhaus bauen? Weil der Staat, dem wir Steuern zahlen, seine Pflicht nicht tut. In der Insel zu Bern liegen viele Krante am Boden. Und alle Bott heißt's,es sei kein Platz mehr dort. Da sollen wir dem Staat die Last abnehmen. Ja, ja, ihr Herren Großrät, es gibt im ganzen Land herum dere Hahnenberger, dere Profitmacher auf andrer Leute Kosten. Jedem Hudeldörfli bauen sie sein Eisenbähnli, wenn nur Einer, der z'Bern seine Heiligen hat, davon Nutzen zieht. Und wenn sie für den Christen Cellenbach Platz gehabt hätten im Sennfeld, so stünde das Haus auf der Strubenweid noch, und eine brave Familie äße noch ihr eigen Brot. So steht's. Das ist dWahrheit,und das muß einmal gesagt sein. Dort, 3'Bern, sollen die Herren Großrät ausmisten, dann kann man wieder miteinander reden, aber nicht vorher.“
„Der hat recht. So ist's,“ hörte man aus verschiedenen Richtungen sagen.
Das war der zweite Schuß. Fritz Tellenbach fühlte,daß er mit der allerschönsten Rede nur weiteren Widerspruch wecken würde; denn diesen Leuten war das Krankenhaus Nebensache. Sie hatten nur die Gelegenheit erhascht, um ihrem Unmut gegen ihn Tuft zu machen. Christians Unglück und die mechanische Säge in Rotenbalm hatten seine Popularität untergraben.Und wenn sie es schon wagten, ihm in offener Ver[220] sammlung Vorwürfe zu machen, so konnte er daraus schließen, wie schlimm hinten herum über ihn geredet wurde. Dem letzten Redner antwortete Fritz Tellenbach nur sitzend, aber mit kräftiger Stimme: „Das nächste Mal schicken wir dich nach Bern in den Großen Rat,wollen dann sehen, was du ausrichtest.“ Da hatte er wohl einige Lacher auf seiner Seite; aber die Mehrzahl blieb ihm entfremdet. Noch hielt er aus bis zur Abstimmung, die mit erorückender Mehrheit den Kauf eines Bauplatzes verwarf, dann ging er in die Säge hinüber und telephonierte auf das Saarbühl, daß er kein Fuhrwerk benötige.
Einsam stieg Fritz Tellenbach gegen die Kienschwendi hinan. Am Saum seines prächtigen Waldes hielt er Rast. Nichts ladet eindringlicher zum Nachdenken ein als das melodische Rauschen lieber Bäume. Die schwarzgrünen Wipfel wiegten sich majestätisch vor dem blauen Himmel und hielten ernste Zwiesprache mit dem in duftiger Ferne tosenden Rotwasser. Vater Cellenbachs Gedanken streiften angesichts seiner das Dorf Rotenbalm und den Tugikrachen belebenden Anlagen rückwärts. Wie doch alles gekommen war! Er erinnerte sich des frohen Mutes, mit dem er nach des Vaters Tode seinen Weg angetreten hatte. Vorwärts hatte er gehen und weisen wollen, und er hatte die Kraft in sich gefühlt, alle um ihn herum mitzureißen. Und jedesmal, wenn die Herrlichkeit der schönen Heimat vor ihm sich ausbreitete, empfand er es wie eine Auffor
[4]215 derung, nicht zu ruhen, bis alles zu voller Blüte entwickelt war, was in diesem fruchtbaren Lande schlummerte. Hier mußte ein freies Volk glücklich werden.Aber wie viel Unverstand, wie viel Kleinmut, wie viel Mißgunst und Mißtrauen galt es da zu überwinden!Daß man ihn für das Unglück seines Bruders verantwortlich machte, kränkte ihn tief. An ein aufrichtiges,selbstloses Streben für das gemeine Wohl glaubte fast keiner. Diese Menschen vermochten sich's gar nicht mehr vorzustellen, daß man ohne schnöde Gewinnsucht vorangehen könne. Und das Schlimmste war, daß sie sich mit diesen Zuständen abgefunden hatten, daß es ihnen in ihrem alten Schmutz so wohl war. Sollte er nun alles preisgeben und in die Stille eines kleinen friedlichen Bauernhofes sich zurückziehen? Wenn er an die Alten dachte und an die, welche mit ihm aufgewachsen,dann wünschte er nichts mehr als solchen Rückzug.Aber da wuchs doch eine Jugend heran, ein neues Geschlecht. Mußten denn die auch in den alten kleinlichen Sumpf hinein? Nein, die sollten dem Ziele näher kommen. Es durfte nicht sein, daß abermals eine Generation blind blieb für die Herrlichkeit, die des Volkes noch harrt. Man mußte ihnen die Augen öffnen.Nie war das leichter zu machen als jetzt, da die ganze Schaffenskraft des Schweizerlandes auf der Landesausstellung in Bern ihren Reichtum zur Schau trug.Das mußte man ihnen zeigen.
Noch ehe die Sonne hinter den Grat der Stahrenvon Tavel, Die heilige Flamme
15 [226] fluh gesunken war, fand sich Fritz Tellenbach wieder zurecht. Mochte er immer mit denen zu Hahnenberg es verschüttet und das Zutrauen derer hinter der Fluh verloren haben, er wollte den Kampf nicht aufgeben,ehe er wenigstens den Versuch gemacht hatte, die Jugend aufzurufen.[]XII.
Als vor zwei Jahren die ersten Sprengschüsse für den Bau des Tellenbachschen Kraftwerkes im Lugikrachen widerhallten, mußten die Nagelfluhwände, nachdem sie Jahrtausende jeder Nutzung siegreich widerstanden, ihre Rippen durchbohren lassen, damit die Menschen dem Wilodbach Licht und Kraft abtrotzen könnten. Murrend und knurrend hörten es die Bäuerlein auf den undankbaren Hogernꝰ* und Reutenen ringsherum. Eigentlich konnte es ihnen gleichgültig sein, ob einer da drunten sein Pulver wider Kot und Kiesel verschoß; aber sie, die in fast göttlicher Geduld und Ausdauer auf die denkbar redlichste Art um ihr Leben kämpften, ahnten doch, daß der Großrat vom Saarbühl da unten im Krachen aus Steinen Brot mache, und das war nicht ganz leicht zu ertragen. Aus dem den Flühen entlang rollenden Echo meinten sie ein Hohnlachen zu hören, und sie antworteten in ihren Herzen darauf: „He 3“ Donner! In Sinn gekommen wär's uns wohl auch; aber was nützt einem das,wenn man kein Geld hat?“
NAun war dem Großrat wie der etwas in den Sinn
[22]i“getommen, worüber sie im stillen knurrten. Und gerade wie in den Einzug der Elektrizität, so schickten sie sich auch jetzt in Tellenbachs Einfall. Sie fühlten abermals, daß ihnen die unerwünschte Wohltat über den Kopf wegging, wenn sie sich widersetzten und was schlimmer noch daß das heranwachsende Geschlecht über ihren Trotz zur Tagesorönung schreiten würde.
Am letzten Tage des Heumonats nämlich, am frühen,andachtsstillen Morgen, hielten zwei flott bespannte Leiterwagen des Saarbühlbauers auf dem Dorfplatz zu Rotenbalm und harrten der kostbarsten Ladung,die ein Land aufzubringen vermag. Zwei Wagen voll Schuljugend und damit zwei gewaltige Fuder keimfähigster Popularität wollte Fritz Cellenbach aus dem Lande hinter der Fluh abführen. Aus allen Häusern kamen sie getrippelt, mit sprühenden Augen und gefüllten Botanisierbüchsen, und kletterten, kaum recht erwacht und stumm vor Erwartung, auf die mit Tanngrotzen geschmückten Wagen. Manche unter den Buben trugen schwarzsamtene KüherKuttli mit roten Säumen und glänzenden Metallknöpfen, andere steckten in starkem Guttuch, und die Meitscheni strahlten wie Sommervögelchen. Der wackere Lehrer Zybach setzte sich zuhinterst auf den Bubenwagen, seine Frau Tehrgotte mitten unter die Mädchen. Ein Peitschenknall, und Fritz Tellenbachs stolzester Erntezug setzte sich in Bewegung. Kaum einen Büchsenschuß vor dem Dorfe huben die Knaben zu singen an:
[229]Us de Bärge, liebi Fründi,Schickst mer Alpersösli zue,Schribst derzue, si syge gwachse A're höche, wilde Flueh;Grüeßist mi und seist mer no J soll o i &Bärge cho.Was gibt es denn Herrlicheres als das Singen auf dem Leiterwagen, wenn's so den ganzen Leib schüttert!
Die Mädochen ließen sich nicht lumpen. Kaum hatten die Buben ihr Tied fertig, so antworteten sie:Ich bin ein jung Soldat Von einunozwanzig Jahren Geboren in der Schweiz,Das ist mein Heimatland Die dicke Lehrgotte schalt gutmütig, aber sie kam mit ihren Liedervorschlägen nicht auf und mußte sich wohl oder übel fügen. Ihr Mann und Kollege auf dem Bubenwagen hingegen feierte einen stillen Criumph,als seine Zöglinge ein Tied um das andere aus dem „Röseligarten“ losließen. Grad so hatte er's angestrebt.Zum Üürger vieler altmodischen Mütter hatte er in die jungen Herzen die alten aus dem Volk geborenen Lieder neu eingepflanzt, und nun blühten sie auf und stimmten die Ohren auf den echten Heimatklang.
Als sie auf der Eisenbahnstation anlangten, war die Schule von Walpersboden schon dort die Hahnenberger waren schon vor dem Heuet in Bern gewesen und der junge Lehrer Beyeler warf, taktiereno, die
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Hände in die Luft, um ein „Volkslied“ mit sieben Einsätzen möglichst korrett durchzupauken. Die RöseligartenLieder waren ihm vom Militärdienst her geläufig, und deshalb meinte er, in der Schule müßte etwas Gediegeneres geübt werden.
Hinter der Schule von Walpersboden standen nebeneinander Großrat Tellenbach und sein Patentind, der Christeli von der Strubenweid. Sie hörten dem Gesang zu, aber man sah ihnen von weitem an, daß ihre Gedanken ganz anderswo weilten. Unerwartet hatten sie sich hier getroffen, seit sehr langer Zeit zum erstenmal wieder, und nun hatte jeder seine Nuß zu knacken.
Christeli hatte vor Jahren, als der Götti seinen Namen für den Muni mißbraucht, geschworen, von dem Onkel nie in seinem Leben mehr die geringste Gefälligkeit anzunehmen „Und wenn er mir Krampolschybe ꝰ nachbengglete,“ so würde ich deswegen nicht umeluegen,“ hatte er seiner Mutter versichert, und Marlisi ließ es an nichts fehlen, den Sohn bei seinem heroischen Entschlusse zu behaften. Für Fritz Tellenbach war der Junge nachgerade unsichtbar geworden,so daß sich keine Gelegenheit bot, den Gekränkten mit einem Göttibatzen wieder einzufangen. Nun war die Nachricht gekommen, daß der Vater Christian auf den letzten Cag Heumonats aus der Anstalt Sennfeld entlassen werde und heimkehren dürfe. Marlisi war sehr froh, daß dies auf den Tag des Schulreischens traf,
[21]W an dem die Kinderschar vom Hause weg sein würde.Sie würde z3war trotzdem keines der Kinder haben mitgehen lassen, hätte sie eine Ahnung davon gehabt,wer die ganze Reise bezahlte und inszenierte. Nun aber sandte sie ahnungslos den Äültesten mit dem gleichen Eisenbahnzug nach Sennfeld, den Vater abzuholen. Das gegenseitige Erstaunen war nicht gering,als der Schulwagen von Walpersboden bei der Station hielt und Christeli, den man aus Gefälligkeit hatte mitfahren lassen, vom Bock herunter seinem vorausgeeilten Götti beinah in die Arme sprang.
„So so,“ überrumpelte Fritz Tellenbach den Burschen,„kommst du etwa auch mit nach Bern, he?“
„Aä,“ sagte Christeli verlegen, und spähte vergeblich nach einem Vorwand, zu entwischen.
„Ei warum denn nicht? Die Ausstellung zu sehen,würde dir auch nicht schaden. Komm du mit uns, es soll dich nicht reuen. Mir scheint, du willst auch auf die Bahn.“
„Ja,“ sagte Christeli, und in seiner Stimme lag es wie harte Anklage, „den Vater heimholen aus dem Sennfeld.“
„Was du nicht sagst! darf er heim? Warum habt ihr mir nicht Bescheid gemacht? Ich hätte ihn dann mit dem Fuhrwert abgeholt. So so, also du holst ihn ab, und dann bleibt er vorläufig auf der Brach ?“
„Ich denke, ja.“
[232]„Nun, ich werde bald hinaufkommen, mit ihm zu beraten, was geschehen könnte. Schade, daß es sich so trifft und du nicht mit auf die Ausstellung kannst.Da, sät Wirst wohl einen Göttibatzen noch nicht verschmähen, trotzdem du über das Alter hinaus bist.“
Christeli stieg es heiß zu Kopf. Er dachte an seinen Vorsatz gegen die Fünfliber. Aber in des Oheims derber Hand schäkerte das Sonnenlicht mit einem goldenen Vreneli.“s Und das Vreneli im Verein mit dem mächtig überlegenen Blick des selbstbewußten Staatsmannes warf Christelis Trotz zu Boden, daß es stäubte.Sogar „dankheigist, Götti“, mußte er herausborzen.Und nun standen sie beide da und taten, als hörten sie dem Lied mit sieben Einsätzen zu. Christeli drehte sein Vreneli zum zweihundertstenmal im Hosensack um und schämte sich seiner Niederlage. Fritz Tellenbachs Gedanken pendelten in tiefem Mißbehagen zwischen der unliebsamen Erinnerung an Christians Unglück der anklagende Ton in Christelis Stimme hätte ihm furchtbar weh getan und dem Genuß des heutigen Siegeszuges. Die kleine, boshafte Freude an der Überrumpelung des trotzigen Göttibuben war ihre zwanzig Fränklein wert, half sie doch wacker, jenes Mißbehagen unter Verschluß zu legen.
Bald donnerte die Lokomotive des einfahrenden Zuges den Knäuel der sich widersprechenden Empfindungen nieder, und glatt wie ein Glfleck lag es wieder auf TCellenbachs Herzen, als er mit der Lehrerschaft []*
44 inmitten der leuchtenden Jugend saß. Der Halt auf der Station Sennfeld wurde mit dem Grindelwalonerlied übersungen, so frisch und schön, daß der Stationschef sein „ab!“ um ganze zwanzig Sekunden zu spät rief.
Mit dem Ungestüm des Rotwassers in der Schneeschmelze rochelte die tatenlustige Schar durch die Unterführungen des Berner Bahnhofes hinaus und stürmte zum Üürger behäbiger Bürgersleute mehrere Cramwagen. Die Billetteure schimpften, die Lehrer dirigierten nach allen Richtungen, der Großrat stand da,und die Lehrgotte fauchte auf den Geleisen herum wie die Hennen zu Walpersboden, wenn der Stechvogel über der Stahrenfluh kreist. Irgendwo rauschte eine Blechmusik, Automobile tuteten. Als man zwischen Bahnhof und Heiliggeisttirche durchfuhr, entdeckte man, daß Herr Beyeler mit einem Teil seines Heerbannes nach der Länggasse hinaus gefahren war. „Er ist doch immer der gleiche Sturm,“ entwischte es dem Kollegen Zybach.„Immer weiß er alles besser; man hat doch ausgemacht, daß man auf dem Brückfeld in die Ausstellung gehe. In Seelenanalyse weiß er Bescheid, aber eine Schule im Land herumführen, das kann er nicht,der Herr Leutnant.“
Fritz Tellenbach mußte an der Kasse sein ganzes staatsmännisches Gewicht in Bürgschaft geben, um für alle Durchlaß und endlich eine glückliche Wiedervereinigung des ganzen Heeres zu erwirken. üÜber dem entging ihnen [22]2*JV
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7 ein großer Teil der Pracht und Herrlichteit der Landesausstellung. Sie sahen nicht, wie schön die Wunderstadt angelegt war, wie sie anmutig an den Wald sich lehnte und von der andern Seite den Silberglanz der Schneeberge in ihre Gärten hereinleuchten ließ. Führer und Geführte waren viel zu sehr vom Gedanken beherrscht, man müsse ärschtig derhinger, wenn man am Abend auch nur die Hälfte des Zaubergartens gesehen haben wollte. Hinten bei den Fischen wollte man anfangen und dann westwärts grasen bis zu den Kunstwerken der Horloschee vom Jura. Aber das war leichter geplant als ausgeführt. Schon ganz vorn, beim FloraBrunnen, stand ein alter Küher im Sammetchuttli.Der klimperte auf so einer artigen Geige und sang dazu. Da mußten Zybach, Beyeler und die Lehrgotte ringsherum und ihre Schützlinge hinten vom Zuhörerkreis abrupfen. Hatten sie ein Dutzend beisammen, so mußten sie wieder der ander Weg herum, und kamen sie an den Sammelplatz zurück, so hatte sich die Hälfte des Häufleins wieder verlaufen. Fritz Tellenbach mußte schließlich den alten Jodler gschweiggen, um mit der Kinderschar abweg zu kommen. Man zog und stieß und lockte nach Osten, ungeschickterweise bis zum Sport,weil Beyeler, der vorausging, seinen Buben das Matterhorn und die Säcke mit den Abgestürzten zeigen wollte. An die Szeneriebahn hatte er nicht gedacht.Natürlicht Jetzt hatte man die Bescherung. Ein Gebäägg hub an,. und der Großrat drohte schwach zu [25535] werden. Da stellte die Lehrgotte den Verstand wieder her. „Warum nicht gar!“ schmählte sie, „so mit dem leeren Magen. Was sinnt ihr auch? Es würde ja den halben schlecht.“ Diese Aussicht bewog Fritz Tellenbach,fürbas zu locken. Die Fische und die Flugmaschinen waren überwunden. Dann mußte man hinter die Forsthütte, wo der Großrat die längste Tanne des Schweizerlandes, aus seinem Walde stammend, liegen hatte. Ein Ceil der Kinder bestaunte abwechselnd den Baumriesen und den Mann, dem er gehörte. Zwischen den landwirtschaftlichen Maschinen hindurch getrieben, staute sich das Völklein vor dem Kohlenbergwerk. Um vorwärts zu kommen, sagte man den Kindern, sie würden sich da drinnen die Röckli und Hemdärmel wüst machen,und dann gäbe es daheim Verdruß. Überhaupt sei es Zeit zum Essen, was männiglich für zutreffend hielt.Wie die Pilger auf Böcklins Drachenschlucht eilte man an der Kunstausstellung vorbei. Beyeler fanö zwar,...... Aber, „bhüet' is der lieb Gott!“ balgete die Lehrgotte, „das wollen wir doch den guten Kindern nicht 3'leid tun.“ Und so kamen sie glücklich zur Schokolade. NAur das Wunder der MaggiWürfelMaschine noch vermochte sie über ihren Hunger hinwegzutäuschen.Dann war es allerhöchste Zeit, das merklich stiller gewordene Völklein in die KüchliWirtschaft zu führen.
Hier ließ sich's sein; der fette Qualm weckte Erinnerung an heimische Festtage, und der Kinder welk gewordene Herzen gingen wieder auf wie die Küchlein [236] auf der Ofenplatte. Die letzten Euden der StrübliTradle?ꝰ guckten den Gesättigten noch hinter dem Halszäpfchen hervor, da machten sie ihrer Zufriedenheit schon wieder in Liedern Tuft.„Bärn, du edele Schwyzerstärn,Bisch d'Hauptstadt wohl im Kanton Bern,Viel gepriesen und viel genannt,
Alle Völkere wohl bekannt.“Wie sich so etwas singt, wenn d' Muulegge noch vom Anken glänzen! Alle sechs Strophen gaben sie los. Es hatte sich viel Volks um sie herum versammelt, so daß sie nun erst recht mit der Vollkraft ihrer Lungen liedeten:„ZChun, 3'Undersewen u 3'Grindelwald,
Da mache die frömde Familie Halt,
Schwedischi, dänischi, änglischi Lüt,
Vo Rueßland, Frankrych, viel hundert Stund wyt.“Das Publikum klatschte, und Fritz Tellenbach leuchtete vor Stolz und Wonne. Er erhob sich und sprach unter lautloser Stille der ganzen Küchli-Wirtschaft also zu den Kindern:
„Jetzt loset, liebe Kinder! Bevor wir euch weitere Wunder der Ausstellung zeigen, laßt euch daran erinnern, was dieser Tag für euch bedeutet. Was ihr diesen Vormittag gesehen habt und was wir euch noch zeigen werden, das ist alles, alles, alles in unserem lieben Schweizerland gewachsen und erschaffen worden.
[237]Glaubt ihr's jetzt; daß wir in einem Lande wohnen,da Milch und Honig fließen? Wie schön haben uns heute morgen die Schneeberge gegrüßt. Ihr Teuchten hat uns wie ein Morgensegen begleitet, als wir durch das liebe Bernerland hinunterfuhren, an vielen reichen Dörfern vorbei. Aber zu schnell sind wir gefahren.Wir haben nicht hineingesehen in die Täler und Wälder,in die Dörfer, Häuser und Fabriken. Ihr habt bis jetzt nicht geahnt, was da überall Klugheit und Fleiß zustande bringen. Hier aber sollen euch nun die Augen aufgehen. Da seht ihr's jetzt, was ein fleißig Volk erschaffen mag, wenn es mit dankbarem Herzen braucht,was Gott ihm schenkt. Seht, Kinder, eure lieben Eltern,die um euer täglich Brot genug arbeiten müssen, haben das nie so schön beieinander gesehen und haben vielleicht schon da und dort den Mut verloren, wenn's so hart ging in Not und bösen Cagen. Und wer weiß,es erfaßte sie der Neid, wenn sie so vor Augen hätten,was in andern Tandesgegenden zustande kommt. Es wäre ja auch traurig, wenn jedes das Seine voll aufbrauchte und nicht um andere sich kümmerte. Aber so ist es nun eben Gott sei Dank nicht. Gerade das zeigt euch diese schöne Ausstellung, daß im Schweizerland eins für das andere einsteht, daß jeder für das Ganze arbeitet. Jedes hat von des andern Fleiß und Geschicklichkeit seinen Autzen. Daß es geschehe, dafür sorgt die Regierung, und weil wir unsere Regierung selber bestellen dürfen, so ist auch dafür gesorgt, daß [380] es zugehe, wie es für ein Volk von Brüdern sich gebührt. Keine fremde Regierung verstünde das so gut.Und drum sind auch unsere Altvordern mit Gut und Blut eingestanden für des Landes Freiheit und Selbständigkeit, und wir wollen es auch so halten. Ihr habt jetzt vor Augen, was das Vaterland für uns alle bedeutet. Und was ihr heute sehet, dürft ihr euer Lebtag nie mehr vergessen. Stolz dürft ihr heimkehren, stolz auf euer Volk und Vaterland. Unser liebes Schweizerlanö lebe hoch!“
„Hoch, hoch, hoch!“ brüllte die Kinderschar und mit ihr alles, was die weite Halle überwölbte.
Es waren viele LTeute da, welche ein geheimes Bangen in sich trugen; denn was die Zeitungen berichteten,war nichts weniger als vertrauenerweckend. Ja, mancher stand da in der Überzeugung, daß er zum letztenmal des Landes Herrlichkeit so beieinander sehe, daß nicht allzu ferne der Tag sei, an dem das heutige Geschlecht mit Gut und Blut werde einstehen müssen für die Verteidigung des Ererbten und Errungenen. Alle, die da in der Halle herumstanden und gingen, waren von der harmlosen Vaterlandosfreude der Kinder ergriffen,und ein älterer Herr, dem darob die Augen feucht wurden, stimmte an „Rufst du mein Vaterland“. Die Kinder fielen ein und rissen alles andere mit.
Als man auf den freien Platz hinauskam, brütete dumpfe Mittagshitze auf den blendenden Wegen, so daß es den Führenden beinahe graute vor der Fortsetzung [239] des Runöganges. Man sollte die Kinder ein wenig sich verschnaufen lassen, meinte Lehrer Zybach. Aber wo? „Und wenn man sie jetzt auf der Szeneriebahn fahren ließe?“ fragte der Großrat. „Vielleicht würden sie darob die Müdigkeit und Hitze noch besser vergessen.“
„Eh aber um os Himmels Wille, Herr Tellenbach!“widersetzte sich die Lehrerin. „Jetzt mit den vollen Mägen! Das gäbe eine schöne Chörblete.“
„Ihr seid ein Diplomat, Frau Zybach,“ sagte der Großrat. „Einmal wehret Ihr mit dem vollen Magen,das andere Mal mit dem leeren. Aber recht mögt Ihr schon haben. Wißt Ihr was, wir führen sie durch das Dörfli hinauf in den Waloschatten.“
Als das junge Volk sich dort beim goldenen Brunnen gelagert hatte, sah sich plötzlich Frau Zybach allein mit der großen Schar. „Aha,“ dachte sie, „das hab ich doch geschmöckt.“ O ja, sie hatte ganz richtig geraten, die erfahrene Gotte. Auf so viel Anken konnte das Mannsvolk natürlich nicht weiter, ohne alkoholisches Korrektiv.Nach einer halben Stunde entsetzlich fuerigen Gaumens oo sah sie die drei Männer aus dem DörfliWirtshaus kommen, wo der Großrat noch von der Ausstellungseröffnung her eine ihm besonders glatt eingehende Marte von Pütschiertem gewußt. Zur Herrlichkeit des Schweizerlandes gehört nun einmal auch sein Wein,sapperlot!
Die Lehrerin begehrte auf: „Ich wollte lieber ein Mäß on Flöh hüten als eure Bürschleni vom Wal[240] persboden. Von folgen wissen die grad rein nichts.“Zum Dank für ihre Geduld wurde sie nur noch ausgelacht.
Man zog nun weiter nach Westen und durchstreifte,linkts vorrückend, Halle um Halle, wobei die Lehrerschaft ihre liebe Not hatte, weil sich merkwürdigerweise herausstellte, daß nie alle Kinder einmütig für das Interesse zeigten, was Lehrer oder Lehrerin im Schweiß ihres Angesichtes erklärte. Länger und länger ward die Karawane, und Zybach mußte die Rolle des Schäferhundes spielen, wobei er manchen Kilometer Laufens zulegte und allgemach die Geduld verlor. Man hatte endlich unter vielem Rufen, Mahnen und Schelten die Uhrmacherei erreicht. Nun verfügte Fritz Tellenbach den Rückmarsch. Nur noch den Miilitärpavillon als pièce de résisstance und die Maschinenhalle als den höchsten vaterländischen Triumph wollte man durchwandern, dann würde es höchste Zeit sein zum Abendimbiß und zur Heimfahrt. Jetzt waren die Buben voran.Den ganzen Tag schon hatten sie sich auf die ausgestopften Soldaten mit den Kanonen und Maschinengewehren gefreut, von denen man daheim ab und zu erzählen gehört. Erwartungsvoll trabte die bunte Schar dem kriegerisch geschmückten Pavillon zu. Es schien dort überhaupt etwas Besonderes los zu sein; denn es standen viele Menschen vor dem Hause, und es strömten von allen Seiten noch mehr herbei. Pferde waren da und Arbeiter. Als die Spitze der Schulkarawane die
[241]Freitreppe erreichte, hieß es, der Pavillon sei soeben geschlossen worden. Man sei am Ausräumen.
„Was!“ rief Großrat Tellenbach verdutzt. Warum?Wieso ?“
Ein Aufseher blickte den Fragenden an, als hätte er die allerdümmste Frage getan. „He, wegem Krieg,“sagte er. „Die Geschütze gehören zu ihren Batterien.Grad diesen Augenblick sind sie damit abgefahren, ins Zeughaus.“
Fritz Tellenbach war, als schwände ihm der Boden unter den Füßen. Er wanote sich nach den Lehrern um und wollte ihnen etwas sagen; aber die Worte waren ihm abhanden gekommen. Etwas redete er, aber er wußte selbst nicht was.
Zybach hörte ihn mehrmals sagen: „Das kann doch nicht sein! Das ist nicht möglich!“
Unterdessen hatte sich auf dem ganzen Platz ein Schrecken verbreitet. Die Kinder merkten, daß etwas los sei. Die Leute machten seltsam verstörte Gesichter und liefen unter aufgeregten Gesprächen den Ausgängen zu. Einzelne sah man, die hielten bedruckte Zettel in den Händen, durchlasen sie immer und immer wieder mit aufgerissenen Augen, steckten sie plötzlich in die Tasche und rannten davon. Andern wurden die Blätter aus den Händen gerissen. Endlich gelang es Fritz Tellenbach, auch solch einen Zettel zu erwischen. Die Kinder wollten hernach gesehen haben, daß er über dem Lesen bleich geworden sei. Es war aber auch danach. Da hieß es:von Tavel, Die heilige Flamme
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„Die Pitettstellung der ganzen schweizerischen Armee.Der schweizerische Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 31. Zuli im Hinblick auf die ernste Tage die Pitettstellung der ganzen Armee, Auszug, Landwehr und Landsturm verfügt, sowie das Aufgebot des für die erste Grenzbewachung und für die Bewachung der wichtigsten Verkehrseinrichtungen erforderlichen Tandsturms beschlossen.
Das Schweizerische Militärdepartement.“Zum aufgebotenen Lanösturm gehörte auch Tellenbach. Wie die andern Teute, steckte er, nachdem er es Zybach und der Lehrerin gezeigt, das Bulletin in die Tasche, um es mehrmals wieder herauszunehmen und zu lesen. Was in ihren Herzen vor sich ging, ist nicht zu schildern. Es war jene seltsam wirbelnde Flucht von vagen Vorstellungen, wie ein betäubender Schlag sie erzeugt. Tellenbach und der Lehrer blickten sich in die Augen, blickten starr träumend über den leeren Platz und die Dächer in den sich sanft rötenden westlichen Himmel.Ein erdrückender Ansturm von Vaterlanosliebe schnürte ihnen die Kehle zu, nicht singseliger Patriotismus,sondern jene bald sehnsüchtig weinende, bald erhaben auflodernde Liebe, die glühend unsern Horizont überzieht, wenn der Gegenstand dieser uns sonst kaum bewußten Liebe vor unsern Augen in den Abgrund zu versinken droht. Es ist das Erwachen aus traumseligem Schlaf zum Bewußtwerden einer unsere Vorstellung [243] weit überragenden Pflicht. So ging denn auch in den beiden Männern die erste Betäubung bald über in das Pflichtempfinden. Das Bedürfnis, diese unübersehbare Pflicht an irgend einem Zipfel sofort zu erfassen,gab ihnen die Parole: Heim! Heim zu den Ihrigen!Heim mit der Kinderschar, an den heimischen Herd!Bestelle dein Haus, denn morgen mußt du es verlassen. Verstehst du? Nein, du vermagst es nicht zu übersehen, was das heißt: Weib und Kind, Haus und Hof, dein ganzes Wirken und Streben verlassen und unter Verzicht auf das Leben als kleinstes Glied im Volksganzen aufgehen. Cellenbachs Gedanken eilten voraus in den Wirrwarr aller Anorönungen,die er noch heute abend zu treffen hatte. Morgen mittags mußte er ja im Waffenkleid auf dem Sammelplatz des Lanosturms sein. Aber Hunderte von Kinderaugen forderten ihn auf zum Handeln hier, auf dem Platz. Ahnend, daß tausend andere Menschen, die das Hantieren und Gewinnen über die Welt hin zerstreut, nun auch heim wollten, sann Tellenbach vor allem, wie man sich nun den Eisenbahnzug würde zu erstreiten haben. Aber erst mußten die Kinder ihren Abendtrunk haben. Beyeler soll vorauseilen, um ...„Wo ist Beyeler?“ Beyeler! Herr Beyeler! Wo zum Kuckuck ... Hat ihn niemand gesehen?“ „Er ist zurückgeblieben.“ „Dort in der langen Hütte haben wir ihn noch gesehen.“ „Wo? In welcher Hütte?“ „Da im Schneiderladen.“
[244]Zybach stürmte davon, ihn zu suchen, während Tellenbach mit der Lehrerin die Herde dem Frauenrestaurant zutrieb.
Atemlos eilte Zybach von Saal zu Saal. Die Räume waren menschenleer. Die fein ausgeklügelte Schaustellung war plötzlich sinn und zwecklos geworden. Wo nur der pflichtvergessene Mensch stecken mag? Dort hinten bewegte sich etwas. Zybachs eilende Schritte widerhallten in den verlassenen Räumen. Ja, dort stand er, der Träumer vor den lieblichen Wachspuppen der Seidenfabrikanten. Wahrhaftig, die in verführerischen Enthüllungen lächelnden, Anmut vortäuschenden, wächsernen ModeAffen hatten einen lebendigen, denkenden Menschen in Bann gelegt. Ja,freilich, so was gab's im Walpersboden nicht, weder lebend, noch im Bilde. „Beyeler!“ brüllte der empörte Kollege. „Wo steckst du denn! Hat das eine Art, vor diesen Doggle Maulaffen feilzuhalten,wo draußen alles in Angst und Not wartet?“
„E bhüet is,“ warf Beyeler ärgerlich ein. »Warum pressiert's jetzt auf einmal so?“
„Herrgott! Hast du denn nichts gemerkt? 's gibt ja Krieg. Du Teutnant der Infanteriel Einrücken mußt. An die Grenze!“
Zybach hatte den immer noch Zögernden am Arm gefaßt und zerrte ihn mit. „Komm, kannst's lesen draußen. Das Aufgebot ist ergangen. Wir müssen flugs heim, das Füsil holen.“ Wioderstrebend folgte
[245]Beyeler unter immer neuen Fragen dem aufgeregten Kollegen von Rotenbalm. Allmählich aber erfaßte auch ihn das Fieber, so daß er nicht minder erschüttert bei den seiner harrenden Kindern eintraf. Der Großrat war unterdessen selbst nach dem Bahnhof geeilt, um für einen Waggon zu sorgen.
Als die Lehrerschaft mit den Kindern enodlich auf dem Bahnhof eintraf, gab es nichts Besonderes zu sehen. Es standen sehr viele Menschen herum, besonders Fremde, und auf den Bahnsteigen gab es ein Gedränge, das die Verladung der Kinderschar nicht eben erleichterte. Schließlich saßen sie doch wohlgezählt alle beieinander und freuten sich, heimzukommen.
Fritz Tellenbach und die Lehrer sprachen nicht viel.Jeder hing seinen Sorgen nach. Und doch wurde sich ihrer keiner der Tragweite des großen Ereignisses bewußt. Es war da etwas, was man nicht fassen konnte, etwas Riesengroßes, das alle persönlichen Überlegungen störte. Ein geheimnisvolles Feuer flammte vor ihren Augen auf, in das sie immer und immer wieder blicken mußten, so daß ihre Sehkraft für die kleinen, für die eigenen Dinge erlahmte. Tange noch versuchten sie, den Blick wieder abzuwenden; aber all das Alte, Gewohnte wollte seine frühere Farbe und Bedeutung nicht wieder gewinnen, es blieb verblaßt.Erst nach und nach, wenn es stille Augenblicke gab,wurden sie es inne, daß die große, blendende Flamme ihnen Erlösung brachte. Keiner verlor eine Silbe [246] darüber es gibt keine Worte dafür. Der erste, der die Erlössung verspürte, war Beyeler. Er wußte, daß das Vaterland nun von ihm verlangte, was er noch niemandem je gegeben: ein Leben, nicht ein in ästhetischem Dusel hindämmerndes, sondern ein kerngesundes,werteschaffendes Leben, also etwas, das er eigentlich gar nicht zu geben vermochte, weil er es nicht besaß.Wie oft hätte er es eigentlich zu erlangen gesucht!Aber weil keine Macht da war, die es gebieterisch und zwingend von ihm forderte, hatte er es in eiteln Träumereien verkommen lassen und war darüber von einem moralischen Jammer in den andern geschlendert.Jetzt leckte die heilige Flamme nach ihm und versengte den selbstsüchtigen Unrat. Der junge Mann ahnte,daß ein Wunder mit ihm geschehen werde. Er wußte,daß er gegen das Opfer seines kläglichen LTebens erst ein wahres, fruchtbringendes Leben empfangen werde, das er dann auch im Beruf der ihm anvertrauten Jugend weitergeben konnte. Gott sei Dank!seufzte er.
Anderer Art war die Erlösung, die Fritz Cellenbach ersehnte. Eines fruchtbaren Lebens bedurfte er nicht erst. Was war denn sein LTeben bisher anderes gewesen, als ein Streben und Sorgen für andere? Um eine sorglose behagliche Eristenz zu fristen, hätte er nicht so viel Plage auf sich zu nehmen gebraucht. Aber hatten sie etwa sein Opfer dankbar angenommen?Überall hatte man ihm Stricke über den Weg gespannt,[247] und wo ihm etwas gelungen war, da hätten sie Netze von übler Nachrede über seine Fußspuren gesponnen.Gesegnet sollte ihm die heilige Flamme sein, die diese Stricke und Fäden versengte. Ja, er ließ vieles, sehr vieles unvollendet zurück, wenn er morgen ins Feld rücken mußte, und keiner war da, der seine Arbeit aufnehmen konnte. Da würden manchem die Augen aufgehen, und sie würden auf einmal ganz anders nach dem BühlFritz fragen. Es war doch etwas unenolich Wohltuendes, so jählings aus diesem verstrickten Leben herausgerissen zu werden, nicht durch einen jämmerlichen Tod im Siechbett, sondern durch eine Opfertat,durch eine Hingabe an das Ganze, über die es nichts zu deuteln und zu tuscheln gab. Dieses Opfer war heilig und durch keinen Zweifel zu beflecken. Fritz Tellenbachs Überlegungen waren nicht frei von Bitterkeit und Wehmut, umso aufrichtiger aber sein Verlangen nach Erlösung.
Weder Beyeler noch Tellenbach war bewußt, daß ihr Nachdenken durch die Vaterlandslieder der harmlos singenden Kinderschar beschwingt war.
Plötzlich war man in Kienach. Botanisierbüchsen und Proviantsäcklein wurden umgehängt, und ungeduldig rumpelte das kleine Völklein aus dem Zuge. Die Leiterwagen standen hinter dem Stationsgebäude bereit.Aber wie anders war die Heimkehr! Es schlenderten auch hier Neugierige herum, und alles schien schwer niedergeschlagen. Alles wartete auf Nachrichten von Bern.[]24*
5 C
Der Großrat war umringt und sollte nach allen Seiten hören und Auskunft geben. Man erzählte, daß Militärbeamte in einem Automobil die Gegend durchfahren hätten. Mit Feuerhorn und Sturmglocken sei das Aufgebot verkündigt worden. Was der Binggeli dazu gesagt und was der Kaderli meine, vernahm man, und wie die Weiber den Kopf verloren hätten und daß die Lebensmittelpreise Sprünge machten. Und aus diesem Stimmengewirr drängte Lehrer Zybach vor:„Nicht wahr, Kinder, jetzt wollen wir dem lieben Herrn Großrat recht von Herzen danken, daß er uns ...“ „Schon gut, Zybach, laßt die Kinder aufsitzen. Jetzt kommt was anderes.“ Tellenbach wollte weiter reden, da drängte sich Einer dicht an ihn heran, ob er's schon wisse vom Krämer.
„Was denn?“
„Gestorben ist er.“
„Der Buri?“
„Ja, dort im Güterschuppen liegt er.“
Fritz Cellenbach verabschiedete Lehrer und Kinder.Als die Wagen davonrasselten, ging er in den Güterschuppen, wo ihm der Stationsvorstand vor der Leiche seines väterlichen Ratgebers erzählte, daß Buri auf den ersten Tärm hin in der glühenden Nachmittagshitze nach Kienach gelaufen sei, um mit dem nächsten Zuge nach Bern zu fahren. Der berechnende Mann hatte in aller Eile noch Warenkäufe abschließen wollen,um nun, um dem kommenden Ansturm seiner Kun[209] den gewachsen zu sein. Da habe ihn der Schlag getroffen. Zehn Schritte von der Station sei er zusammengebrochen. Sobald es dunkle, werde man die Leiche nach Walpersboden führen.
Lange stand der Bühlbauer gesenkten Hauptes vor dem toten Manne. Neue Verwirrung bemächtigte sich seiner. Was er eben noch von andern gedacht, das konnte man nun von ihm selber denken. Die Augen brauchten ihm zwar nicht erst aufzugehen, denn er war sich nur zu klar darüber, wie viel guten Rat er diesem klug berechnenden und erfahrenen Bauern und Geschäftsmann verdankte. Freilich das war Tellenbach nicht minder gegenwärtig in letzter Zeit hatte seinem Denken und Wollen die Lebensauffassung des ererbten Ratgebers recht quer gelegen. Hatte auch den die große Flamme getroffen als Blitz aus zürnendem Himmel?
In einem Wirbel von Empfindungen und zerrissen hinschwimmenden Gedanken wanderte Fritz Tellenbach heimwärts. Als er über das Kienbergli stieg, hatte gerade in der Richtung seines Weges eine ungeheure,blendendweiße Stockwolke sich über die Stahrenfluh in den blauen Himmel aufgetürmt. Sie fing die Strahlen der scheidenden Sonne auf, erglühte und warf ein magisches Licht in das dämmernde Tal, wo die Bauern auf würzig atmenden Matten die Abendgrasung mähten und mit starken Gespannen heimführten. Da und dort blitzte ein Fensterchen in der
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Abendsonne. Fritz Tellenbach blieb einen Augenblick stehen, blickte nach dem in Obstgärten heimelig eingenisteten Dorfe hinüber und nach seiner hochgelegenen Heimstätte.
„Herr Gott!“ rief es in ihm. „Erhalte uns in Gnaden dies Vaterlando!“[]XII.
Als am 1. August die Sonne über die Berge stieg,blinkten ihr im ganzen Tande viele tausend güldene und silberne Sternchen entgegen. Das waren nicht die alltäglichen Causpiegelein, sondern die Metallknöpfe der Uniformen, die, aus Trögen und Schränken hervorgeholt, aus den Fenstern hingen. Wer auf Pitkett gestellt war, bürstete auf der Laube den Rock im Cakt zum leise summenden Liedlein „Und der Jungknab zog zu Kriege“, während in der Stube die Tochter dem ungeduldigen Vater die Knöpfe am Tanösturmrock vorsetzte. Die LTandsturmleute selber liefen ins Dorf, in den Kramladen und auf die Sparkasse, und begriffen nicht, wie es zu Hause gehen sollte während des kommenden Dienstes. Und wer noch ein paar Minuten erübrigen konnte, kehrte noch schnell im Wirtshaus ein, nicht eines Guraschi Trunkes wegen, sondern um Neuigkeiten zu vernehmen. Eigentlich gab es keine;aber man hat doch in solchen Augenblicken ein dringliches Bedürfnis, die gestrigen und vorgestrigen Neuigkeiten zu variieren, bis niemand mehr sie wieder erkennt, und so entsteht schließlich auch etwas Neues.[]25*
Daheim, in den Häusern, tönte es gar verschieden.Wären nicht die Gerüchte von der Lebensmittelteuerung den Zäunen entlang geschlichen, so hätte gar manche Hausfrau den Lärm der Mobilisation noch nicht tragisch genommen. „Ah bah,“ sagte Frau Berta Cellenbach,und mit ihr noch manche Bauernfrau, „wem wirod es denn ernst sein mit dem Krieg! Sie haben 3'Bern inne schon oft dergleichen getan und ein Wesen gemacht. Das kennt man ja. Es wird öppe sein, um zu schauen, ob sie ihre Sachen schön in der Ordonung halten. Und dann das Gheie, welches die Krämer verführen. Es hat immer Teute gegeben, die gern im Trüben fischen. Wer weiß, wer da derhinder steckt.“Kurz und gut, der Krieg war Frau Berta gar nicht kommod, und darum hatte sie große Mühe, daran zu glauben, und machte sich keinen erdrückenden Kummer um ihres Mannes Schicksal.
Aun ist es ein eigen Ding um die Willfährigkeit.Ob andere Menschen es ähnlich treiben, mag bestätigen,wer sie kennt; aber mit dem Berner ist es einmal so:Verlangst du von ihm ein paar Batzen, so tut er wüst,soll er dir ein Fränklein geben, so findet er dich unverschämt; geht's um einen Napoleon, so gibt er ihn mit Brummen; sind hundert Franken noch nicht genug,so sagt er mit Seufzen: „So sä, wenn's mit weniger nio 3'machen ist.“ Und nimmst du ihm alles, so spricht er mit Hiob: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobtt.
[253]Als gegen Mittag Hans eintraf und sagte: „Mutter,gib mir das Militärgrust herunter, ich muß auch gehen,“schimpfte Frau Tellenbach, warum denn einer um den andern komme, heute früh wär's doch in eins gegangen,sie möge nicht mehr all Viertelstund in den Speicher hinauf stegern. Kaum hatte sie des Sohnes Wehr und Waffen drunten, so kam der Karrer gelaufen, der Miggu,und teilte mit, er müsse „mit Schyn“ die andere Woche auch einrücken. „Ja, wie soll ich denn dann noch gschirren, wenn alles wegläuft?“ fragte unwirsch Frau Berta. Da stand auch der Melker schon unter der Cür und sagte: „Frau Tellenbach, ich muß heim, am Dienstag muß ich einrücken, und meine Mundur liegt im Schangnau hinten.“ „Ja, wer soll dann melken? Du mußt den Gottlieb noch ghörig brichten.“ „Der muß schon am Montag einrücken.“ „So? Dann mögen sie die Ware auch grad nehmen.“ Da lachte der Karrer und sagte: „Emel dRoß afe müssen wir hergeben. Am Dienstag muß jemand mit ihnen nach Chun.“
„So? Ja nun denn, in Gottes Namen.“ Frau Tellenbach gab das Schimpfen auf. Jetzt glaubte sie an den Krieg und des Vaterlandes Not, weil man gerade alles von ihr forderte. Es war gar nicht nötig, ihr erst noch das Generalaufgebot der Armee zu zeigen, das soeben am Stöckli angeschlagen wurde. Wo aber die Männer in einen großen Brand starrten, da verschwand den Frauen, die mit Greisen, Kindern und Krüppeln zurückblieben, alles hinter einer schwarzen Wolke. Von dem,[254] was ihnen bevorstand, konnten sie sich kein Bild machen.Die Käuchlein, die an jenem Cag aus den Kaminen zum Himmel aufstiegen, konnten den Wolken erzählen,daß Tausende von Frauen nur im Trieb der Gewohnheit das Mittagbrot zubereiteten, ihre Gedanken waren nicht dabei.
Fritz Tellenbach hätte nie gedacht, daß man plötzlich so ganz aus allem herausgerissen werden könnte, ohne seine ganze kleine Eigenwelt in sich zusammenfallen zu sehen. Gerade so mußte es zugehen, wenn Einer plötzlich starb. In keiner Richtung ließ sich voraussehen,wie es nun weitergehen werde. Alles schien stecken zu bleiben, und doch wußte jedermann, daß es ohne ihn weitergehen mußte, daß die Welt keineswegs stillstehen werde.Nun kam das letzte gemeinsame z' Mittag. Man sprach wenig, trotzdem man sich noch so vielerlei zu sagen hatte. Das Geschäftliche, ja, das wurde in kurzen Sätzen besprochen; aber dem, was das Herz sagen wollte, wich man aus. Dann und wann meldete sich der Gedanke:Und wenn es dann doch zum Schlimmsten käme zum höchsten Opfer? Davon redeten nur die Augen,und wenn sie zu brennen anfingen, so ließ man des Mundes Klappermühle an, um die gefährliche Stille zu verscheuchen.
Aus der Ferne hörte man eine Trommel. Drunten,auf der Talstraße, marschierte schon ein Crupp LTandstürmer. Es blinkte da und dort zwischen den Obst[255] bäumen. „So,“ sagte Wachtmeister Tellenbach, „es ist nache. Jetzt, bhüet euch alle der lieb Gott und habt nicht Kummer, es kommt ja doch alles, wie es soll,Adie, adie.“ Sie begleiteten ihn alle bis ans Sträßchen.Auch die Knechte kamen alle und drückten dem Meister die Hand. „Stellt euch dann auch brav!“ sagte er ihnen.Den eigentümlichen, ernsten und lieben Blick ihres Mannes im Herzen, eilte Frau Berta ins Haus zurück und fing an zu hantieren, als hätte alles die höchste Eile, während das arme Berteli in Cränen ausbrach.„Du bist ein Babeli,“ lachte Hans die Schwester aus,„dem Vater geschieht doch nichts. Der kommt ja nicht an den Feind heran.“
Dessen war ja auch Fritz Tellenbach selbst ziemlich sicher, obschon niemand voraussah, welchen Weg die Kriegsfurie einschlagen werde. Für alle hatte die Stunde etwas ungewöhnlich Ernstes und Feierliches, da sie zum erstenmal den Fahneneid zu leisten hatten. Wachtmeister Tellenbach überhörte manchen Passus des wohl ausgedachten Gelöbnisses und gab sich auch gar nicht Rechenschaft über das einzelne, was da von ihm gefordert wurde. Was wird man denn anderes von uns verlangen, dachte er, als daß wir unsere selbstverständliche Soldatenpflicht in gewissenhafter Treue erfüllen?Dazu war er ohnehin entschlossen, und darum antwortete er ohne irgendein Bedenken: „Ich gelobe es.“
Als am Abend der Vollmond über die Berge heraufstieg und das in bangen Fragen wachende Land mit [250] geisterhaftem Licht übergoß, stand der Wachtmeister als Chef eines einsamen Brückenwachtpostens weit drunten im Bernbiet. In dunkel dämmernder Ferne konnte er die flachgezackte Linie der Stahrenfluh unterscheiden.Immer wieder flogen seine Gedanken dorthin; doch war ihm nicht schwer ums Herz. Jetzt, da er Minute um Minute unter strenger Mannszucht stand und in keiner Richtung nach freiem Belieben handeln durfte, kam er sich erst recht als freier Nann vor. Es gab nur eine Pflicht, und das Aufgehen in deren Erfüllung brachte ein Gefühl der Freiheit, wie er es überhaupt noch nie empfundden hatte. Wollte ihn eine Sorge um Hof und Familie anlaufen, so getröstete er sich seines Gottes,der ihn aus der Mitte der Seinigen in diese neue Aufgabe hineingeführt hatte. So riesengroß das Unglück des Krieges werden mochte, dieses eine Gute konnte er doch mit sich bringen, daß die unzähligen Lieblosigkeiten und kleinlichen Ungste um den eigenen Vorteil,mit denen die Menschen sich gegenseitig das Leben verhunzen, endlich einmal in Vergessenheit gerieten. Und wär's auch nur für ein paar Wochen! Vielleicht genügte diese Frist doch schon manchem, um von seinem Kleinkram soweit Abstand zu nehmen, daß er ihn in seinem wahren Wesen erkannte. Wer einmal den Schlamm, in dem er lebt, von außen zu sehen kriegt,dem vergeht die Sehnsucht nach Rückkehr.
Zur gleichen Stunde, da Fritz Tellenbach auf seinem einsamen Posten diesen Gedanken sich hingab, schritt [257] eine dunkle Gestalt schwer und bedächtig über den Kamm der Stahrenfluh, gegen die vom Unkraut überwucherte Branostätte der Strubenweid. Es war Christian. Bleich duckten sich im grellen Monöscheine die ausgeglühten Mauerreste vor ihrem Herrn ins Gebüsch. Der Bauer wich aber vor den starren Anklägern nicht zurück. Als Büßender kam er her. Mochten die Steine schreien,die Bäume wehklagen, die Ackerfurchen vor seinen Schritten erschauern, heute war er nicht mehr der unstät Umhergetriebene. Er hatte Gott wiedergefunden und tam, auf der Stätte seiner Übeltat Zwiesprache mit Ihm zu halten. Das Gesicht in die Hände gelegt, saß er auf der Einfahrt, an der Stelle, von der er das Feuer in die Bühne geworfen. Im Angesicht der Trümmer erinnerte er sich des Psalmwortes es stand dort, wo Pfarrer Zingel den Strohhalm in die Bibel gelegt hatte : „Ich bin gleich wie eine Rohrdommel in der Wüste; ich bin gleich wie ein Käuzlein in den verstöreten Stätten.“
Christian hatte keinen Zeugen außer dem Brunnen,der da zu seinen Füßen glitzerte. Der aber erhob seine Stimme deutlich und redete unerbittlich von vergangenen Cagen. „Weißt du noch,“ sprach der lautere Strahl, „weißt du noch, wie es ehedem war, als die Dankbarkeit deines Herzens mit meinem Morgengesang der aufgehenden Sonne entgegeneilte und dein Abenodͤgebet in meinem Schlaflied erlosch? Bin ich dir nicht in den Tagen der Dürre treu geblieben? Ja, deine von Tavel, Die heilige Jlamme
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[258]Krüge troffen von meinem Tabsal und deinem Vieh hat es an Erquickung nicht gemangelt. Und wenn dein Auge das Dunkel der kommenden Tage nicht zu durchschauen vermochte, so habe ich vor deinen Fenstern die Treue deines Gottes gepriesen. Das Blut hab ich von deinen Wunden gewaschen, die Tränen von den Wangen deiner Kinder. Deine Wetzsteine sind in meinen Fluten glatt geworden, der Stahl deiner Sensen scharf in meiner Kühle. Licht, Leben und Labung sind nimmer ausgegangen in der Höhlung meiner Schale.
Du aber, der du den Rat deiner Freunde verachtetest, da du neben die Majestät deines Gottes dich stelltest, hast auch der Stimme nicht mehr gelauscht,die der Allmächtige den Quellen seines Erdbodens verliehen.
Habe ich nicht aus dem Dunkel meiner Kehle dir zugeschrien, habe ich nicht unter Schluchzen von der Lieblichkeit der alten CTage dir erzählt, als du, vom Wahne geblendet, den Feuerbrand in den Frieden deiner Hütte warfst, in das Heiligtum deines Hauses? Zischend sind deine glühenden Pfeile deinem treuesten Freunde,deinem nimmermüden Priester, zu Leibe gefahren.
Als du schmachtetest im Dunkel des Kerkers, als deine Sehnsucht an den Stäben der Gitter empor sich wand und deine Seele, ferne dem Leibe, hier in den Büschen klagte, da habe ich nimmer geschwiegen. Vergebung hab' ich erbeten dem Sünder, Licht dem Verirrten, Barmherzigkeit und Segen dem Büßenden.
[239]Komm, du Vertriebener! Komm heim, du Einsamer!Siehe, die Wahlstatt deiner Sünde harret deiner, daß du sie bauest in der Kraft deines Gottes. Komm heim und pflüge in Demut! Komm heim und säe im Vertrauen? Komm heim und ernte Frieden!
Trinke von der Kraft meines Lobes und aus der Lust meines Dankes! Komm heim!“
Also hörte der Bauer von der Strubenweid seinen Brunnen reden. Mächtig griff das Lied an sein Herz. Wie seltsam! Dieser Tag, der das Volt unter die Waffen rief, vielleicht zu bluttriefender Verteidigung dessen, was es in zähem Fleiß errungen, dieser nämliche Cag rief ihn zurück, um hinter den Kämpfenden wieder aufzubauen, was er in der Zeit des Friedens in seinem Wahn zerstört hatte. Ja, auch von ihm wollte das Vaterland etwas, nicht nutzloses Opfer, sondern fruchtschaffende Arbeit.
Christian blickte auf, und nun erfaßte ihn etwas wie Ungeduld. Ihm schien, als verlangte das in der nächtlichen Pracht vor ihm ausgebreitete, von fremoden Händen nur notdürftig bearbeitete Land nach seinem Herzen.Ach ja, das konnte kein Pächter ersetzen, was er seinen ückern zu geben hatte. Er erhob sich, fiel auf die Knie und gelobte seinem Gott Heimkehr und Treue. Dann stieg er zu dem Brunnen hinunter, trank vom blinkenden Strahle, tauchte die Hände tief ins Wasser.
Auf seinem Rückweg nach der Brach ward Christian es inne, daß die Liebe zu seiner verwahrlosten „Frei[250] herrschaft“ ihm das Herz erwärmt hatte, und aus dieser Tiebe heraus gedachte er auch mit Dankbarkeit seiner Volksgenossen, die nun an der Grenze das Land behüteten. Jawohl, das war ein wichtiger Dienst; denn fremde Herren ertrug der teure heimische Boden nicht.Da steckte zu viel Seele drin, Seele von seiner Seele;die verstand kein fremder Herrscher. Noch war dem Strubenweidbauer das nicht bewußt; aber auch in seiner Brust begann das heilige Feuer zu flammen,das heißer brannte als der Haß, der sein früheres Leben zerfressen hatte.
4.
Dem Tage des Tanösturms folgte Gott zu Ehren ein stiller Sonntag. Noch einmal sollten die Kirchenglocken das Wort haben, um die jungen Krieger zur Selbstbesinnung und Einkehr zu rufen. Den Frieden des Hauses sollten sie noch einmal atmen, bevor sie die Waffen hinaustrugen. Das war ein Entschluß, würdig der Väter, die durch Gottvertrauen den Sieg an ihre Fahnen geheftet.
Dann ward es allenthalben lebendig. Zum großen Aufbruch aus dem selbstsüchtig verbrauchten Leben bliesen die Trompeten, wirbelten die Crommeln. Das Sinnbild der heiligen Flamme ward entrollt, und einmütig schwuren sie ihm Treue auf Leben und Cod.
Auf heißer Landstraße ritt Major Senno nach Bern hinunter. Hochzeitlich war ihm zumute. Endlich war [261] der CTag angebrochen, da er ins Feld ziehen durfte auf den ruhmreichen Fußspuren seiner Ahnen. Auf einsamer Waldstrecke zog er seinen Säbel, schwang ihn hoch in der Luft, damit er das Licht dieses Ehrentages grüße,und barg ihn dann wieder in der Scheide mit dem Gelübde, ihn lebend nicht aus der Hand zu geben. Wo das Sträßchen von der Dornhalde in die Lanostraße mündet, sah er einen jungen Soldaten von seiner Herzliebsten sich losreißen. „So sei's,“ hörte er ihn sagen,„jetzt vermag ich alles zu ertragen.“ Das war die Antwort gewesen auf der liebreizenden Blonden Verheißung: „Wenn du mit Ehren wiederkommst, so bin ich dein für immer.“
Dem Major war, als hätte er den jungen Mann schon gesehen. Und im Weiterreiten fiel es ihm ein:das war ja des Saarbühlbauers Sohn. Gern hätte er nochmals die Maid ins Auge gefaßt; aber es hatten sich Bäume dazwischen geschoben, denn das Pferod griff mit seinen sehnigen Schenkeln weit aus.
Aun waren sie weg, die in Feld und Wald, in Stall und Werkstatt, die kräftigen Arme gerührt. Welch eine bange Leere! In den Ställen brüllte ungeduldig das Vieh, weil es seines Besorgers schwerfälligen Tritt nicht mehr hörte. Es hörte leichtere, eilige Füße und schlürfend wackelige. Aber es mußte länger auf das Futter warten, länger auf die wohltuende Entlastung [2]2*
2 der Euter. Viel gab es zu reden, viel zu schelten.Die Menschen entdeckten von Neuem, wie sehr sie auf einander angewiesen waren, und mancher bereute in diesen Tagen, daß er durch übermütige Worte in guten Jahren seines Nachbars Freundschaft geschändet. Mancher büßte seinen Stolz mit verdoppelter Arbeitslast,andere lernten Demut, die nun bitter schmeckte.
Um den großen Tisch auf der Brach saßen mehr Männer, als in irgend einem Hause zu Walpersboden.Schwander, der Brachbauer, war über das dienstpflichtige Alter hinaus, Christian Tellenbach hatte nie Militärdienst geleistet, Christell war zu jsung, der Melker hatte einen Kropf; aber jeder von ihnen werkte für zwei, wenn es sein mußte. So war es denn selbstverständlich, daß sie links und rechts aushalfen, gab es doch Häuser, in denen eine Frau ganz allein Haus und Hof versorgen mußte. Da konnte man Wunder erleben von Frauenmut und Berge versetzendem Glauben. Es verging kein Tag, an dem sie nicht droben,in der Brach, etwas Ungewöhnliches zu erzählen hatten.Über manches Erlebnis wurde gelacht; andern Erscheinungen gegenüber verstummte das Tachen von vornherein.
Der alte Schwander war ein braver Mann; aber wenn er irgenowo über das Notwendigste hinaus geholfen hatte, so geriet er leicht ins Walstenor und wußte nicht genug zu sagen, wie er einer sei und wie froh dieser und jener über ihn gewesen. Zu Marlisis
[263]Leidwesen folgte Christeli dem Beispiel des ruhmredigen Onkels und nahm häufig den Mund voll, bis ihm jemand sagen mußte: „Man sollte auch meinen, was du für Wunder verrichtetest.“ Eines abends ging's wieder los. Schwander erzählte, wie er drüben, im Hinterzaun,habe beispringen müssen: „Dort liegt die Frau im Kinöbett, die Stube hat sie voll Burscht“?, im Stall haben sie vier Kühe stehen es wären fey e chly Chuehli, wenn sie Futter hätten aber weit und breit kein ankehriger Mann umewäg. Er ist an der Grenze und um kei Tieb loszukriegen. Es ist richtig auch nichts gemacht, daß man so einen nicht laufen läßt. Die ersten Cage ist sein Vater gekommen und hat ihr zur Sache gesehen. Aber er ist kein Bauer.Herrieses, Herrieses! So ein Kachelidreher von der Dornhalde! Nach drei Cagen hat er vom Melken keinen Finger mehr strecken können, ohne aufzubrüllen, und dann hat ihm der Meister in der Chachelihütte alle GottsArdeSchand gesagt, so komme er nicht auf seine Rechnung. Dem richtig hätte ich den Lätt ins Gfräß geschlagen. Ja, ich bin euch gut derfür. Dann ist der Schwäher an seiner Statt gekommen, auch ein alter,krummer Gritti. Aber wie er mit dem dritten Chuehli fertig war, hat er nicht mehr aufstehen können und vor Gsüchti der Kuh in oRüppi byschtet, daß Gott erbarm. Ja, wenn ich nicht gekommen wäre und fertig gemacht hätte, so hätte die vierte Kuh die Milch können laufen lassen. Den Alten habe ich mitsamt dem Melk[269] stuhl am Hosenboden unger der Chueh füregschrisse und noch lang hat er draußen auf dem Bänkli vor Chrüzweh gmögget. Das ist eine Zuversicht, dort!“
Lisebeth und Marlisi redeten der Kindbetterin zum Besten, man sollte sich's doch ja nicht verdrießen lassen.der armen Tropfin beizustehen.
„Habt nicht Kummer!“ versicherte Schwander. „Die ist ein braves und dankbares Fraueli. Der will ich das Ställeli schon besorgen. Das ist mir ja eine Freude;aber es gibt andere, die haben es trotz aller Verlegenheit noch z'höch im Gring, als daß sie von unsereinem Hülfe annähmen.“
„Ja,“ mischte sich nun auch Christeli ins Gespräch,„ich weiß auch eine. Der brüllen die Kühe, daß man's in Hahnenberg äne hört; aber nüt dest minger pluderet sie im Hof umenangere wie ein Welschhahn und tut so herrschelig, daß kein Mensch sich dafür hält, ihr beizustehen.“
„Wer so?“ fragte Lisebeth.
„He, ihr kennt sie alle. Die Saarbühlere ist's, um's grad zu sagen. Es ist ein Elend und eine Schande.Solch ein Viehstand. Und es geht ihr sicher die Hälfte zugrunde, wenn das so fortdauert. Ihr freilich ist's gesund. Die hat jetzt, was ihr gehört. Die Pferde hat sie alle zum Militär stellen müssen bis an eine Füllimäre. Knecht hat sie keinen einzigen grechten, nur den Gaffureli, den TCschingg da, der ihnen von der Bauerei her ist blybe bhange, und einen kreuzlahmen
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Gritti aus dem Buchholterberg und den Hüterbuben.Dann ist noch eine werkige Jungfrau da. Aber die kann schon jetzt fast nümme.“
Christeli bemühte sich nicht, seine Schadenfreude zu verbergen, und seine Mutter sagte nur: „Jetzt soll sie luegen. Ein Tätsch hat ihr gehört. Wenn sie ein wenig murbet, so kann's nicht schaden.“
Die Übrigen sagten nicht viel anderes, als es sei schade um den prächtigen Viehstand, und die Tiere seien zu bedauern.Waährend des ganzen Nachtessens hatte Christian Tellenbach keinen Laut von sich gegeben. Das war man aber gewohnt, und keinem der TCischgenossen war das Schweigen aufgefallen. Am andern Morgen nun, als sie vom Morgenessen sich erhoben, trat Christian in der Küche zu seiner Schwester Marlisi stand daneben und sagte: „Jetzt hör einmal, Lisebeth. Ich will dir meiner Lebtage nicht vergessen, was du an uns getan hast, seit meinem Unglück. Und wenn's wieder bessere Zeiten gibt ich meine, wenn wenigstens wieder ein Teil des Mannsvolkes heimkommt dann sollst du von neuem erfahren, ob Christen werken kann.Aber jetzt, Lisebeth, jetzt däucht mich, sollten wir denen vom Saarbühl 3Hülf. Es ist unseres Bruders Sache,und wenn der Vater selig vom Himmel heruntertommen könnte, so würde er sich seines Viehes erbarmen.“
Lisebeth wäre ihrem Bruder am liebsten um den []E
Hals gefallen. Ihr war, als bräche nach undentklich langem Regenwetter die Sonne siegreich durch die Wolken.
„Recht hast, Christen,“ sagte sie. „Das wäre ein Schritt zum Frieden.“ Zu Marlisi gewendet, sagte die Brachbäuerin: „Wie wär's, wenn wir den Christeli schickten?
Marlisi blickte wie versteinert in das Herofeuer und vergaß zu antworten. In ihrem Herzen war die Erinnerung aufgestiegen, wie sie einst die Zeitung mit der Abbildung des Zuchtstiers zusammengeballt und in den Herd hatte werfen wollen in ihren eigenen,heimischen Hero! Haß loderte hoch auf in ihrer Seele und schweißte ihr die erbleichenden Lippen zusammen.Christian fühlte ihren höhnischen Blick auf sich, und dieser Blick er schmerzte ihn, aber er trieb ihn tiefer in die wieder erwachte Geschwisterliebe. Tangsam und entschlossen sagte er zu Lisebeth: „Nein, nicht der Christeli soll gehen er ginge mit falschem Herzen ich gehe.“ Und zu seiner Frau gewendet wiederholte er: „Ich selber gehe, jetzt gerade.“
Abermals traf ihn ein höhnischer Blick aus Marlisis Augen. Christian aber sagte: „So bhüet ech Gott,allisame!“ und ging hinaus. Er holte von der Bühnenwand seine Sense herunter und das Steinfaß. Mit seiner Sense wollte er des Bruders Gras schneiden.Und wie einer, der in den welschen Heuet zieht, stieg Christian Cellenbach, der Strubenweidbauer, nach Wal[267] persboden hinunter. Mitten durch das Dorf ging er und blickte trutzig um sich. Sie mochten's sehen, daß die Brüder vom Saarbühl einander in der Kot nicht verließen.
Bald erhob sich vor ihm das Saarbühl mit dem väterlichen Hofe. Da ward ihm wunderlich zumute.„Wie werden sie mir begegnen da droben?“ Das war die Frage, die ihm zu denken gab. „Werden sie mich fortjagen wie einen Hund? Werden sie zu stolz sein,meine Hilfe anzunehmen? Werden sie die Beleidigten spielen? Es ist mir alles einerlei. Ich komme im Namen meines Gottes, dem Vater und Mutter ihre Sache anbefohlen haben. Ich habe Vergebung gefunden, und will ihnen mit der Tat beweisen, daß auch ich vergeben kann.“
Als er um die Stelle bog, wo die Linde gestanden hatte, kniff Christian unwillkürlich die Augen zusammen.Stracks Laufs ging er gegen den Kuhstall. Die Holzzapfen waren nicht mehr da, wo man ehedem die Sensen aufhängte, und noch manches war verändert.Er trat unter die Stalltüre: „Ist niemand da?“
Es ward keine menschliche Stimme laut. Nur das Schnaufen, Schweifwedeln und Stampfen der Tiere antwortete ihm. Ein Blick auf diese ließ ihn sogleich erkennen, wie alles im Rückstand war. Die Tiere standen im schwersten Mist. Ihr Hinterteil war bis an den halben Leib mit einer braungrünen Schuppenkruste bedeckt, so daß ihn die Tust ankam, gerade da []
Hand anzulegen. Aber es gab Wichtigeres. Wie er wieder vor die Stalltüre trat, kamen der Tschingg und der Alte gerade mit einem Fuder Klee angefahren, den sie unzeitig abgemäht hatten. Zwei Kühe hatten sie vorgespannt und die alte Stute, denn sie hatten das Futter aus dem Talboden heraufgeholt. Die beiden Knechte betrachteten den ihnen fremden Mann sehr mißtrauisch.In solchen Zeiten duldet man keine Unbekannten im Stall. Sie hielten ihn für einen Kälberhändler. Bei näherem Zusehen fiel ihnen eine gewisse Ähnlichtkeit mit dem Saarbuhlbauer auf, und nun wußten sie erst recht nichts mit ihm anzufangen.
„Zu wem wollt Ihr?“ fragte der Alte, das Pferd lostoppelnd. „Der Tellenbach ist im Dienst.“
„Weiß schon,“ sagte Christian.
Sie fuhren mit dem Wagen in die Futtertenne und spannten aus. Der Alte kam mit den Kühen zurück und ließ sie am Brunnen saufen. Unterdessen fing Christian mit ihm zu reden an, während der Italiener den Klee abzuwerfen begann. Wo sie gegrast hätten,fragte der Strubenweidbauer; ob ausgemolken sei, wann sie zuletzt Stroh aufgeschüttet und mancherlei anderes.Der Alte merkte, daß Christian im Hofe Bescheid wußte. „Seid ihr etwa des Meisters Bruder?“ fragte er endlich überlaut. Christians langsame, verhaltene Art ließ ihn vermuten, er sei schwerhörig.
Präzis, der bin ich,“ antwortete Christian. „Bin gekommen, um euch ein wenig zu helfen.“
[69]„Ja, dann solltet ihr mit der Frau reden. Sie wird öppe wohl in der Küche sein, sonst dann im Plätz oder bei den Säuen.“
Unterdessen war der Hüterbube mit der Mähr in die Küche gekommen: „Dem Meister der Bruder ist da, der von der Strubenweid, wo lätz im Chopf ist.“
„Du wirst mir öppis dumms eso wollen angeben,du!“ rief Frau Berta, der das Blut zum Herzen schoß.„Hast auch recht gesehen? Ei, du mein Gott, was soll ich jetzt mit dem anstellen? Der muß mir fort.Nicht, daß er mir am Ende noch das Haus anzündet.“
Frau Berta horte Schritte auf der Bsetzi, und da stand er auch schon unter der Türe, ihr Schwager, der keineswegs schwerhörig war, sondern ganz deutlich ihre letzten Worte vernommen hatte. Was zu hören einer gewärtig ist, braucht man ihm nicht in die Ohren zu schreien.
„Ja,“ sagte er, „ich bin's, der Christen. Ich habe nichts Böses im Sinn. Der Krieg hat mich hergetrieben oder das sprach er kaum vernehmlich vor sich hin der, der durch die Kriegsnot zu den Menschen redet. Und du wirst mich wohl nicht von deiner Schwelle weisen.“
„Wenn du etwas 3' Morgen willst, so komm herein oder setz dich auf die Laube. Du sollst genug haben.Aber sonst laß mich lieber in Ruh, Christen.“
Furcht weitete der Bäuerin die Augen, und sie spähte durch Fenster und Türe, ob nirgenos ein menschlich Wesen ihr zur Hand wäre.
[270]„Warum fürchtest du dich vor mir? Hab' ich euer einem je etwas zu leid getan?“ fuhr Christian fort. „Hab'ich etwa denen in der Brach auch das Haus angezündet?Weißt du noch nicht, daß ein Gott im Himmel ist, der Sünde vergibt und Gedanken des Friedens hat für seine Kinder? Schau, damit du keine Furcht zu haben brauchst, will ich alles von mir legen, womit ich Schaden anrichten könnte.“
Wie ein Übernächtler leerte Christian seine Taschen und legte alles auf die Kachelbank, das Sackmesser, den Gelobeutel, das Tubakbläterli, die Pfeife und die Zündhölzer.
Da Frau Berta Kaffeegeschirr auf den Cisch legte,sagte Christian: „Laß nur. Habe 3' Morgen gehabt, 's ist mir nicht da drum. Arbeiten will ich und euch zur Sach luegen, denn ihr seid schlecht versorgt mit Mannevolk.“„Aber Christen, wenn du helfen willst, so hilf doch denen, die dir Speis und Trank geben! Sie werden öppe in der Brach auch kein Bataillon Cauner haben.“
„Das ist alles abgeredet. Jetzt bin ich hier und dem Fritz will ich zur Sach luegen, dieweil er im Dienst ist.“
„Nun denn, wenn du's zwängen willst, so wäre noch Roggen zu mähen. Kannst meinetwegen da derhinder.“
Aus lauter Furcht gab Frau Berta nach und schickte Christian auf den entferntesten Acker des Gutes, damit sie unterdessen um Rat und Hilfe aus könnte. Christian,froh ein Trom zur Verständigung erwischt zu haben,[271]holte seine Sense, füllte am Brunnen das Steinfaß und ging in den Roggenacker.
Die Frau Großrätin wußte zuerst nicht, wo aus und ein. Der Mann unerreichbar, Buri tot, die nächsten Aachbarn auch unter den Fahnen. „Der tusig Gotts Wille, was soll ich nur machen?“ Sollte sie zum Pfarrer, zum Doltor oder zum Landjäger? In ihrer Not beschloß sie, zum Gemeindestatthalter von Walpersboden zu gehen. Sie holte das Berteli aus dem Stõöckli herüber, wo die aufblühende Tochter, vom Kriegsgeschrei gänzlich unbehelligt, soeben zum fünften mal den PastetliWalzer heruntertlavierte. Ihr Klavierlehrer war auch an der Grenze, und da er ihr in der Ungeduld der letzten Stunde gesagt, jetzt werde es angezeigter sein, mit den Fingern die Säumelchtern os umzurühren, als Piano zu spielen, so tat sie, was ihr gefiel. Das Säutränkiumrühren verstand ja die Mutter besser. „Jetzt, Meitschi, tu mir den Gefallen und geh ins Haus hinüber. Ich muß fort ins Dorf. Der Christen ist da, ds Vaters Bruder. Das Eisi soll dann übertun,wenn ich noch nicht zurück sein sollte. Du kannst ihm helfen. Aber vor allem häb ein Aug auf den Christen,daß er nichts Ungerades anstellt. Du weißt, er ist manchmal e chly kurlige.“
Das Berteli nickte, zählte aber den Takt weiter und fing wieder zu klimpern an.
„Aber geh jetzt! Enangerenah 'ä, gäb es etwas Ungeschicktes gibt.“
[2527]Da das Berteli unentwegt über die Tasten hauderte,ward die Mutter unwirsch, zog die Künstlerin unsanft von dem Dreibein herunter und warf den Klavierdeckel zu, daß das Saitenwerk entrüstet aufstöhnte.
„Hör', Meitschi,“ begehrte sie auf, „wenn das nicht bessert, so nehm' ich den Schlüssel ab vom Klavier.Es schickt sich sowieso nicht, den ganzen CTag zu musizieren, wo sonst alle Leute bös haben und Gott weiß,was noch über uns kommt. Jetzt marsch! Uebere!“
Dann betam noch Eisi ihre Instruktionen, und Frau Berta lief, von Bremsen und Schweißperlen bedeckt,über Walpersboden in die Bodenzelg hinaus, wo der Statthalter wohnte. Der war ein pfiffiger Bauer. Er lachte auf den Stockzähnen, als ihm des Großrats Ehefrau ihr Teid klagte.
„Da ist nichts zu machen, Frau Tellenbach,“ sagte er, „Ihr könnt ihn ja vom Haus weisen; aber das würde ich euch nicht anraten. Man muß solche Menschen nicht beleidigen, das könnte gefährlich werden. Schaut ihm auf die Finger, und wenn er sich gut stellt, warum ließet ihr ihn nicht gewähren? In solchen Zeiten muß man froh sein über jede Mannskraft. Dazu versteht sich WeidChristen auf das Bauern.“
Frau Berta war die Schadenfreude in des Statthalters Augen nicht entgangen. Sie war nicht zufrieden mit dem Bescheid. Ja, gewähren lassen! dachte sie. Schon recht, und wenn dann das Unglück da ist,so will niemand etwas gesagt haben. War sie nun [273] so weit gelaufen, so konnte Frau Tellenbach eigentlich auch gleich in die Brach hinauf, um denen da droben zuzureden, sie möchten Christian bei sich behalten. Als sie den Karrweg nach der Brach suchte, entdeckte sie den alten Friedli, der auf seinem Felde Roggen mähte.Da durchzuckte sie der Gedanke: Wie, wenn ich den um seine Meinung befragte? Unser Freund ist er nicht,aber den Christen kennt er durch und durch, und was gilt's, die beiden haben schon zusammen gesprochen seit Christens Entlassungt! Es traf sich etwas ungeschickt, daß Friedli da so auf offenem Felde vor dem Dorf arbeitete, denn man fällt nicht gern vor aller Welt aus der Rolle. Aber Not lehrt nicht nur beten,sondern auch überwinden, und so watschelte die Bühlbäuerin wegab, einem Marchgraben entlang, zu dem silberhaarigen Mähder hin.
Nun ist es eine gar wunderliche Sache um die Begegnung von Weltkindern und Gotteslindern. Wenn so ein dem Pietismus abholdes Menschenkind einmal ausnahmsweise zu einem besonders Frommen seine Schritte lenkt, so erwartet es nichts anderes denn eitel Sonnenschein aus des Gottestindes Antlitz aufleuchten zu sehen. So sollte es ja auch sein. Aber nun sind eben auch die Frommen menschlichen Gefühlen unterworfen,solange sie noch im Leibe ihres Weges wallen. Und daher tommt es, daß sie nicht selten ein Gesicht machen wie ein verschlossener Fensterladen, wenn einer auf sie zutommt, der bislang nichts mit ihnen gemein haben wollte.von Tavel, Die heilige Flamme 1
[274]So trieb es zwar Vater Friedli nicht. Zu reif, um andern gegenüber sich besser zu fühlen, begegnete er jedermann offen und freundlich. Aber er hatte Ohren,feinere Ohren als andere Leute, und wußte längst,daß er im Saarbühl für allerhand Mißliebigkeiten verantwortlich gemacht wurde. Darum benahm er sich vorsichtig, als des Großrats Gattin an ihn herankeuchte: „Friedli, was denkt ihr von dem WeioChristen ?
Aha, dachte Friedli, in Erinnerung an die Tage,da das Strubenweidunglück in aller Leute Mund war,da heißt's aufpassen. Nun schloß auch er die Läden;aber er glüüßelte durch die Heiterlöcher. Frau Berta nahm denn richtig auch bitteren Anstoß an dieser Verschlossenheit, ließ jedoch nichts merken. Angebissen hatte sie, nun mußte es durchgekostet sein.
„Ich meine, ob er immer noch lätz im Kopf sei?Er ist zu mir gekommen und will mir zur Sach luegen.Aber mir ist angst. Ich weiß nicht, ob ich ihn so darf machen lassen.“
„Jä so,“ sagte Friedli, den die Nachricht von Christians Entschluß sichtlich aufheiterte, „wegen dessen? Nein, Frau Cellenbach, da habt ihr nichts zu befürchten.Der Christen hat's nie und mit niemandem bös gemeint. Er hat nur seine eigene Kraft überschätzt. Der Mann hat Fleisch für seinen Arm gehalten, und darum hat ihn Gott zu Schanden werden lassen. Er hat sich darob hintersinnet. Aber er hat Buße getan und ist [275] ein neuer Mensch geworden. Jetzt dürft ihr ihm nicht in den Weg treten. Schenkt ihm Vertrauen, und ihr könnt sicher sein, daß alles wieder gut kommt. Taßt ihn nur machen.“
Im weiteren Verlauf des Gespräches beruhigte sich die Bühlbäuerin ein wenig. Und da sie befürchtete, in der Brach würde sie Worte zu hören bekommen, danach ihr keineswegs die Ohren juckten, gab sie den Plan auf und kehrte mit der Überlegung heim, im Grunde könnte es nicht schaden, wenn die Teute vernähmen, daß Christian im Saarbühl ein und ausgehe.So würden die üblen Nachreden, wonach ihr Mann den Bruder ins Verderben getrieben hätte, am besten widerlegt. Den bösen Mäulern würde sie es von Herzen gönnen, wenn sie nicht mehr drüber kämen, wie es eigentlich unter den Geschwistern Tellenbach stehe.
In der ersten Nacht freilich, die Christian im Saarbühl zubrachte, schloß Frau Berta lange kein Auge.Einmal über das andere fragte sie das Berteli, das bei ihr schlief: „Däucht's dich nicht, es bränotele ?2u00 Hast du nicht etwas gehört, wie sprätzle 2100 Schmötkist o nüt ?“
Nach den wilden Träumen der frühen Morgenstunden war Frau Tellenbach ganz verwundert, als andern Tages der Hof völlig unversehrt in der goldenen Augustsonne da lag, und man draußen schon Sensen dengeln hörte. Jetzt faßte die Bäuerin neuen Mut. Der hartnäckigste Schwarzseher hätte aber auch zugeben müssen,[270] daß es in den folgenden Tagen zusehends sauberer ward in Stall und Tennen. Das Gebrüll in den Ställen nahm ab. Jedes betam seine Sache zur rechten Zeit und gemolken wurde, daß niemand mehr zu schelten brauchte. Knechte und Vieh wußten, daß wieder ein Meister da sei, und zwar einer vom ganz guten, alten Saarbühlschlage.
Selbstverständlich hatte Wachtmeister Tellenbach von seiner Frau Bericht erhalten. Leicht war es ihm nicht geworden, des Bruders Hilfe anzunehmen; aber er war von der großen Sache, der er jetzt diente, immer noch so ergriffen, daß er die Demütigung hinnahm,wie all das andere Querliegende, das nun einmal geschluckt und verwunden werden mußte.
„Laß ihn in Gottes Namen machen,“ schrieb er heim. „Lieber es leiden, als den kranken Mann reizen.Komm' ich heim, so will ich sehen, wie wir's ihm vergelten.“[]XIV.
Eine redlich durchgearbeitete Woche neigte sich ihrem Ende zu. In einer Augusthitze, die kaum über Nacht ein wenig nachließ, hatten ihrer vier unter Christians Leitung von allem, was an der Zeit war, das Nötigste getan.Man sah die Wunder, welche eine mit überlegung, Sachkenntnis und emsiger Herzensgüte schaffende Mannskraft zustande bringt. Die vier ließen weniger zu Schanden gehen als die sechs oder acht, welche sonst in dieser Jahreszeit auf dem Saarbühl arbeiteten. Und bei alledem hatte Christian immer noch ein Restchen Zeit erübrigt, um dem Hof die äußere Würde und Reinlichkeit zu erhalten. Wenn heute die Glocken von Hahnenberg Feierabend läuteten, so sollte das Saarbühl „gsunntiget“ sein.
Es ging gegen Abend. Noch dachte niemand ans Nachlassen. Jedes hatte noch ein gewisses Ziel vor sich,an dem es den Sonntag zubringen wollte. Darum achteten sie auch der Spätsommerpracht kaum, in der schon ganz leise jene Stimmung webte, die uns beschleicht, wenn wir einen Höhepunkt überschritten haben.Neben den Rosen reckten sich schon die purpurnen Dolden der Florstauden und dunkelrote Dahlien über die
[200]Zäune der Bauerngärten. Braunsamtene Viönlikolben mischten ihren Duft mit dem Hauch der Reseden.
Eine Demütigung ist's, daß in das Bewußtsein der Reife immer schon die Ahnung des beginnenden Abstiegs sich schleicht. Das empfand an jenem Samstag der Wachtmeister Tellenbach, als er heimkehrend an all den farbenprächtigen Gärten und den abgeernteten Feldern vorüberging. Seine Kompagnie war abgelöst, und so sehr er sich freute heimzukommen, konnte Tellenbach sich doch des Gedankens nicht erwehren, daß er zum letztenmal die Waffenrüstung getragen und nun in den Haufen derer untertauchen werde, die das Vaterland nicht mehr herausruft. Ein Glück war es, daß das heilige Feuer wenigstens die Jungmannschaft noch umloderte und ausglühte. Die hatten noch ein LTeben vor sich, und ihre Läuterung konnte in kommenden Tagen Großes wirken. Der Bühlbauer freute sich in Gedanken an seinen Sohn, der dieses Ausglühen nun so zeitig durchmachte, daß er als ganzer Mann seines Vaters Lebenswerk antreten durfte.
Je näher Fritz seinem Hofe kam, desto mehr drängte sich in den Vordergund seiner Sorgen der Gedanke an Christian. Leicht zu ertragen war es nicht,daß der von Heimsuchung Verfolgte in freiwilliger Fron des Glücklicheren Hab und Gut pflegte. Auf einmal blieb der Wachtmeister stehn. Seine Augen bohrten sich in den Straßenstaub. „Bin ich eigentlich schuld oder auch nur mitschuldig an Christens Unglück?“
[279]Diese Frage wollte Fritz gelöst haben, bevor er seinem Bruder begegnete. Und nun sann er in rücksichtslos sein wollender Prüfung noch einmal alles durch, vom Kauf der Strubenweid bis auf den Tag, da Christian in Geistesverwirrung sein Heim zerstörte. Konnte denn eigentlich von einem Menschen verlangt werden, daß er seine eigene Sache, die er mit eisernem Fleiß und gesundem Verstand zur Blüte gebracht, fahren lasse, um einem Bruder zu Hilfe zu eilen, der sich schief gebettet?Hätte er mit Christian tauschen sollen? Nein, das durfte Fritz sich ruhig sagen, er hätte damit nicht viel Besseres geschaffen, denn die Wurzel des Übels lag nicht im ungleichen Besitz, sondern in Christians Unvermögen, seinen einst so hochherzigen Entschlüssen treu zu bleiben und ihre bittern Folgen zu ertragen. Ein tiefes, inniges Mitleid mit seinem Bruder ergriff den Bühlbauer, und er war fest entschlossen, alles zu tun,was zum Frieden führen konnte; aber ohne Entgelt tonnte er die brüderlichen Dienstleistungen nicht hinnehmen.
Als der Wachtmeister, den Seinen unerwartet, in den Hof hinunterschritt, stand ein grauköpfiger Mann,nur mit weit geöffnetem Flanellhemo, geflickter Zwilchhose und Holzschuhen bekleidet, auf dem mächtigen Misthaufen. Er legte die Mistschollen sorgsam in Schichten und bog das Stroh darüber auf kurz, er züpfete den Misthaufen, wie es ehedem der Brauch gewesen,als man auf das schöne Aussehen des Bauernhofes [280] noch mehr Gewicht gelegt. Da war nichts verzätteret,und kein Güllenbächlein lief, wie es ihm behagte.
Das war nicht Meistersarbeit wenigstens nicht nach modernen Begriffen. Aber ein Meisterstück voll weitsichtiger Berechnung war, was Christian hier tat. Die Knechte mochten hinter den Tennstoren seiner lachen,er zwang sie damit doch zu gewissenhafter Arbeit. Sogar Frau Berta fühlte sich durch den gezüpften Misthaufen verpflichtet, denn in ihr lebte immer noch die Bauerntochter vom alten Schrot und Korn, die auch den praktischen Vorteil solcher Sorgfalt zu schätzen wußte.
Fritz zwang sich zu einem heitern Gesicht, entbot dem Bruder freundlichen Gruß und fing an zu schmählen:„Das ist jetzt aber, nähms der Gugger, nicht deine Sache, Christen. Komm wir wollen Feierabend machen.“
„Sobald ich hier um die Ecke bin,“ antwortete Christian. „Es sollte doch eine Gattig haben auf den Sonntag. Kommst auf Urlaub?“
„Nein, wir sind abgelöst worden, damit ein jeder seiner Sache nachgehen kann. Komm ou jetzt, du hast mehr getan, als recht ist.“
Des Vaters Stimme hatte Frau und Cochter herausgelockt, und Frau Berta stimmte, kaum daß sie ihren Mann willkommen geheißen, ein: „Ja, Fritz, das muß gesagt sein, wenn ich den da nicht gehabt hätte, ich weiß nicht, wie's mir ergangen wäre.“
Sie traten selbander in das Haus und hatten reich[281] lich Zeit, sich alles Aötige zu sagen, bis man Christians Tritte auf dem Steinboden der Küche hörte. Fritz hieß ihn hereintkommen. Zum erstenmal seit des Vaters Tod standen sich auf diesem Fleck die beiden Brüder gegenüber, und es war einen Augenblick so still wie damals.Niemand als die alte Schwarzwälderuhr redete; aber die tat's genau wie die Pariserpendüle im Großratssaal. Beiden Brüdern stieg es heiß in die Augen, und als sie ihre derben Hände ineinander legten, suchte jeder vergeblich nach Worten.
Endlich sagte Fritz: „Das war brav von dir, Christen,daß du uns so zu Hilfe getommen bist. Es beschämt mich, und ich will dir's nie vergessen. Aber ich sage dir's gleich, was mich am meisten freut, ist, daß du dich wieder zueche gelassen hast zu uns. Es hat mir all die Jahre her seit Vaters Heimgang oft weh getan,daß du mir so dein Vertrauen entzogen hast und nie mehr aufs Saarbühl gekommen bist. Ich hätte dir doch gern geraten und geholfen. Statt dessen haben wir nur so zuschauen dürfen, wie es dich gewürgt hat, und mit dem besten Willen konnten wir dir nirgenös beistehen.Das war nicht recht. Andere haben uns für dein Unglück verantwortlich gemacht, wo wir doch nichts dagegen tun konnten, und das hat mich mögen. Ob wir's hätten abwenden können, weiß ich freilich nicht. Item,wir wollen jetzt nicht mehr davon reden. Was hingereneist, ist gmäit, und wir können ein Neues anfangen.Mir ist, der liebe Gott habe uns diese Stunde gegeben.
[2532]Es ist grad präzis, wie dannzumal. Da bin ich auch vom Dienst heimgekommen, und wir sind einmütig beieinander gewesen. Jetzt wollen wir aber dazu tun, daß wir schön eins bleiben. Gäll, Christen.“ Er bot seinem Bruder abermals die Hand, und Christian schlug ein.
„Es wird schon so sein, wie du sagst,“ brachte er endlich hervor, „und an mir soll's hinfür nicht fehlen.“
Nun trat auch Frau Berta herzu und reichte Christian die Hand: „Und ich möchte dir auch gedankt haben, es soll dir nicht unvergolten bleiben. Aber jetzt hör auf,denn ich kann's nicht länger mehr ansehen, wie du für uns werkist.“
Christian wehrte mit der Hand ab und sagte: „'s wär auch der Rede wert! Mir hat's ja wohlgetan, wieder einmal z'grechtem Hand anlegen zu können. Es dünkt mich, erst jetzt sei ich wieder ein Mensch.“
Den ganzen Abend war's den Dreien wohlig im Hals, und sie trippelten in ihren feierabendlichen Gesprächen, welches behutsamer, um in dem neu angelegten Gärtlein ihres Friedens ja nirgenos über ein Bord zu treten.
In des Schlafgemaches heimlicher Stille ward zwischen Fritz und seiner Frau beschlossen, Christian das Haus auf der Strubenweid wieder aufzubauen oder zu einem kommlicheren Heimet ihm zu verhelfen, wenn er es vorziehe. Crotz allem wiedergewonnenen Frieden wollte aber der Schlaf nicht so recht über sie kommen.Einmal sie waren kaum ein wenig eingeduselt [283] schlug der Hund an, erst hässig, dann als ob er einen Hausgenossen begrüßte. Es war semand durch den Hof gelaufen. „Mach Licht!“ sagte Frau Berta. Beide saßen aufrecht in den Betten und horchten gespannt. Keines verriet, daß in seinem Kopf alle Mutmaßungen sich jagten, welche Christians wunderliche Geistesverfassung in ihren erschreckten Gemütern wecken konnte. Fritz erhob sich, tappte in die Küche und zündete eine Laterne an, um nach Christians Gaden hinaufzusteigen. Als er seinen Bruder in tiefstem Schlafe liegen sah, schlich er sich tief beschämt wieder in die Stube zurück, wo ihn die Frau mit taghellen Augen empfing: „Pick mich der Güggel, wenn ich nicht unterdessen im Stöckli drüben einen Lichtschein gesehen habe!“
„Im Stöckli ?“
„Ja.“
„Dort ist doch alles geschlossen. Ich kann ja noch hinüber.“
Nein, Fritz, das tu mir nicht. Denk doch! Es könnte dir ein Unglück geben.“ Nun Frau Berta ihren Mann wohlbehalten aus dem „Krieg“ zurück hatte,wollte sie ihn nicht einer näher liegenden Gefahr preisgeben. Fritz aber sagte sich: „Wachtmeister Tellenbach,wie steht's mit dir ?“ und ging, um sich spähend, über den Hof. Er fano alles verschlossen und wohlverwahrt. Um nichts zu versäumen, schloß er die Stöcklitüre auf und sah, von Ringgi umwedelt, nach dem Bureau. Es war aber alles in Oronung, und auf der Treppe roch es []I
26t noch immer ein wenig nach Naphthalin, was ihn an das Herunterholen der Uniformen und die Mobilisation erinnerte.
„Du mußt den Schein meiner Laterne gesehen haben,“beruhigte Fritz seine Gattin und streckte sich mit Behagen unter das Dackbett.
Schon am andern Morgen ersffnete der Bühlbauer seinem Bruder, was er mit Frau Berta beschlossen habe. Er wolle die Schulobriefe auf das Strubenweiogut aufkaufen und die Zinsen gegen das verrechnen,was er Christian aus der Erbschaft her an Zinsen schulde, und dann wolle er ihm ein Haus aufrichten, daß er nichts sollte zu klagen haben. Oder ob er lieber das Land auf der Strubenweid verkaufen und nach einem andern Heimwesen sich umsehen wolle?
„Um keinen Preis,“ sagte Christian entschlossen.„Wenn du mir helfen willst, das alte Heim wiederherzustellen, so setze ich alles dran. Dort oben möchte ich wieder arbeiten weißt du: arbeiten und leiden,wenn's sein muß, ohne je wieder einen Con zu klagen.Jetzt vermag ich's, ich weiß es. Und ich kann nur selig sterben, wenn ich das wieder auf mich genommen habe.Am liebsten suchte ich meine einstigen Chuehli und Rosse wieder zusammen.“
„Aber und das Marlisi? Wird es sich drein schicken?“
„Es muß mir's zuliebe tun.“
„Nun also, du wirst schon wissen, ob du's ihm zutrauen kannst.“[]25*
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Fritz ging das Herz auf über diesem Plan. Jenseits der Fluh würde es zwar sicher wieder heißen: „Äüha,ähä, der Saarbühler hat's doch auf dem Gewissen gehabt. Der weiß, warum er seinem Bruder baut.“Dafür gab es aber besser Denkende auch, die sagen würden: „Er ist doch ein braver Mann, unser Großrat.“Und die Schuljugend, die hatte er nun für sich, die hielt es sicher mit den freundlich Gesinnten.
Die Glocken von Hahnenberg hatten das erste Zeichen geläutet, und man machte sich hübscheli ilos zwäg, um wieder einmal selbander 3'Predig zu gehen. Die beiden Brüder empfanden das Bedürfnis, ihre Einigung mit diesem Kirchgang zu besiegeln, der zugleich das Dorfgeschwätz niedertreten sollte. Bis Frau Berta und ihre Tochter sich gesunntiget hatten, unternahmen die beiden Brüder noch einen Gang durch das Gut.
Eben standen sie vor einem prachtvollen Kartoffelacker und ratschlagten, ob man ans Ausmachen gehen oder damit noch warten sollte, da kam der Sektionschef Minder von Hahnenberg raschen Schrittes auf sie zu gelaufen.
„Was gibt's?“ fragte der Bühlbauer. „Muß ich etwa schon wieder einrücken?“
„Ihr nicht,“ antwortete der Mann, „aber Euren Sohn suchen wir.“
Fritz Cellenbach war es, als hätte ihm jemand einen wuchtigen Schlag versetzt.
„Den Hans? Der ist ja längst an der Grenze.“
[280]„Hab' ich auch gemeint,“ sagte der Sektionschef.„Aber les't da!“ Er hielt dem Großrat einen Befehl der Militärdirekttion hin. Dem Bühlbauer tanzten die Buchstaben vor den Augen, als er las, daß laut Meldung des Regimentskommandanten der Füsilier Hans Tellenbach seit dem 8. August vermißt werde und vermutlich desertiert sei. Der Sektionschef hatte Befehl,den Vermißten suchen und verhaften zu lassen.
Vater Tellenbach blickte wie in Betäubung bald den Sektionschef, bald seinen Bruder an und las immer wieder die Depesche. „Bin ich eigentlich bei klaren Sinnen, oder ist es ein Traum?“ fragte er sich.
„Desertiert!“ kam es endlich tonlos über seine Lippen. „Nein, das ist nicht möglich! Warum sollte der Bub desertiert sein? Es muß ein Unglück gegeben haben.“
Wie Nacht fiel es über den Vater herein. All die Feiertagsstimmung, der Friede, das erquickende Einvernehmen, worin sie eben noch geschwelgt hatten, waren versunken. Bange Fragen, Angst, Zorn und Scham tobten in seinem Kopfe durcheinander.
„Was wollt Ihr jetzt machen?“ fragte er den Sektionschef. „SHier, auf dem Saarbühl ist er nicht. Wir wissen nichts von ihm.“
„Man muß halt herumfragen, suchen, telephonieren.Der Landjäger muß ...“
„Was? Der Tandjäger? Ihr werdet mir doch nicht sagen, daß man meinen Sohn durch den Tandjäger
[2]3*8 suchen läßt! Nein, um ds Himmels Gotts Wille, das tut mir doch nicht ane!“
Christian sagte kein Wort; aber er gedachte düsterer Tage, da man auch schon einen Cellenbach dem Landjäger überantwortet hatte.
„Ja, was soll ich denn?“ fragte der Settionschef.„Wenn Ihr mir den Jungen ohne Landjäger herbeischaffen könnt, um so besser. Aber ich weiß mir keinen Rat. Und lange fackeln kann man da nicht. Der Bursch muß her.“
Die drei Männer gingen auf den Hof zurück, wo eben Frau Berta und ihre Tochter sonntäglich geschmückt,mit den Psalmenbüchern in der Hand, aus dem Hause traten. Der Mutter fiel sogleich der verstörte Blick ihres Mannes auf. „Was hat's gegeben?“ fragte sie.
„Komm herein!“ antwortete er, „es ist etwas lätz mit dem Bub.“ Damit ging er an ihr vorbei ins Haus.An allen Gliedern zitternd, folgte ihm Frau Berta.„Er ist doch nicht etwa verunglückt ?“
„Weiß nicht. Verloren gegangen ist er. Sie meinen, er sei desertiert.“
„Aber du mein Gott! Was ist jetzt den angekommen ?“
„Müch nimmt nur wunder ..... Berteli, ruf' die Knechte herein, den Köbel und den Italiener und den Hüterbuben.“
Während das Mädschen den Leuten nachlief, ergingen sich die Eltern in Mutmaßungen, wobei sich nun bald [288] das eine, bald das andere an Äußerungen des Sohnes erinnern wollte, die darauf hätten schließen lassen, daß ihm der Militärdienst verleidet gewesen sei. Damals freilich hatten sie nichts dahinter gesucht; aber es hätte eben doch auch so verstanden werden können.
„Aber wo, zum Teufel, ist das hergekommen?“ sagte der Vater. „In uns hat das nie gesteckt. Der Vater hat mit Freuden Dienst getan, der Großvater konnte nicht genug vom Sonderbunodssskrieg erzählen, und der Urgroßvater hat Anno achtundneunzig Blut geopfert.Wir sind immer gute Soldaten gewesen.“
„Ja,“ stimmte Frau Tellenbach bei, „und wozu habt ihr den Militärtaput über mich gedeckt, als ich den Hans zur Welt brachte?“
„Es hat mir einfach jemand den Bub verdonnert.“Der Vater ging schweren Trittes auf und nieder, blieb stehen, ballte die Fäuste, fluchte in seinen Schnauzbart hinein. Fast dem Heulen nahe schien er, als er vor sich hin knurrte: „Die Schande! Die Schande!“
Plötzlich fiel ihm ein, was in der Nacht vorgefallen.Dieser Zeughausgeruch im Stöckli drüben. Ob der Bursche vielleicht drüben gewesen? Fritz Tellenbach lief hinaus, rannte mitten durch das Mannsvolk, das auf der Taube stand, ins Stöckli hinüber und die Creppe hinauf in Hansens Stube. Ja, da war noch immer etwas von dem Naphthalingeruch. Des Sohnes Ziviltleider lagen über Stuhl und Bett hingeschmissen,die Hälfte am Boden. Auf dem Tisch lag das Sol[573] datensackmesser, ein Taschenspiegelchen und ein angebrauchtes Päckli Stumpen.
„Da ist etwas gegangen,“ sagte sich Tellenbach, warf noch einen prüfenden Blick über die durch die Fensterläden verdunkelte Stube und stieg wieder in den Hof hinab. Jetzt kam der Italiener auf ihn zu.
„Weißt du etwas?“ fuhr Fritz ihn an.
„Ani Anse gseh. Frytig isch da gsi. Soldat. Isch da inne gsi und gange ume furt Zivil.“
„Wohi?“
„Weiß i nit. Isch dert abe. Villicht Sägessemoos.Et e Schatze. Bub 'ete gseit. Kari.“
„Der Kari? Wo ist der Kari?“
Man rief den Hüterbuben herbei und konfrontierte ihn mit dem Italiener. Der Kari tat schüchtern, ranggelte mit seinen magern Achseln und lachte verschmitzt.
Weißt du etwas oder weißt du nichts?“ wurde er angeschnauzt. Da war's mit dem Lachen aus. Aber man brachte aus dem Bengel weiter nichts heraus, als daß Hans des öftern ins Sägessenmoos gegangen sei.Aun wurde dem Italiener die Zivilkleidung gezeigt,die oben in der Stube lag, ob Hans am Freitag diese getragen habe.
„Weiß i nüte,“ sagte Gaffuri, „isch fyschter gsi.“
Fritz Tellenbach genügte der Fingerzeig. Eine Spur war doch gefunden. „Dem will ich jetzt .....“ knirschte er in sich hinein. Er riß sich den Rock vom Leibe und warf ihn der Frau zu. Dann holte er aus dem Stallvon Tavel, Die heilige Flamme
[30]I gang einen wüsten Hakenstock, den er vor Jahren gebraucht, wenn er mit den Gustene 3'Berg fuhr, und machte sich zornglühenden Blickes auf den Weg nach der Dornhalde.
Erst blickten ihm die andern unentschlossen nach.Frau Tellenbach fragte mit angstvoll geweiteten Augen:„Was soll's geben? Wo geht er hin?“ Christian verstand die Bitte, die darin lag, und folgte seinem Bruder. Er hatte schon seine zwanzig Schritte Vorsprung, als auch der Sektionschef zum Entschluß kam,sich dem Gang in die Dornhalde anzuschließen. Jenseits Walpersboden holte Christian, der den längern Schritt hatte, seinen Bruder ein. Eine Zeitlang liefen sie schweigsam nebeneinander her, dann fragte Christian,durch Fritzens zornmütiges Aussehen beunruhigt:„Meinst, du findest ihn im Sägessenmoos ?“
Es dauerte abermals ein paar Schritte, bis Fritz,seinen Viehtreiberstecken vorstreckend, antwortete: „Den,der schuld ist an der ganzen Geschichte, finde ich sicher.Es ist Sonntag, da predigt er doch wohl im Sägessenmoos.“
„Fritzt! Fritzt Auf den Friedli willst du 3'dorf ?“
„Ja, grad auf den. Jetzt muß er einmal herhalten,der Herrgottsdonner. Wenn er mir unter die Finger tommt, so zerschlag' ich ihm mygottsseel den Stecken auf dem Grinod z'chlyne Bitzlene.“
„Da bhüet dich Gott dervor!“ sagte Christian und blieb stehen, um damit seinen Bruder zu ruhigerer
[291]Aussprache zu bringen. Aber Fritz lief weiter, ohne sich umzusehen.
„Fritzt Fritz!“ rief Christian, ihm nacheilend.„Besinn dich, was du tust! Du versündigst dich an dem Manne. Mach das Unglück nicht noch größer. Fritz, hör! Du bist lätz brichtet, so wahr ich dir hier nachlaufe. Fritz, wenn du wüßtest, wie oft der Friedli dir 3'best geredet hat, du würdest ihm dankheigischt sagen, statt ihm nach Leben und Gesundheit zu trachten.“
Fritz spielte den CTauben und lief immer zu, ohne zu antworten. Aber in seinen Ohren hatte sich das Wort vom 3Bestreden festgehackt. Nach und nach begann die Frage ihn zu beschäftigen: „Der Frieoli? Wann und wieso könnte mir der z'best geredet haben?“ Das Nachsinnen verlangsamte ganz unmerklich seinen Schritt,und als sie jenseits des Bifangbädleins gegen den Sattel hinaufgingen, blieb Fritz im Schatten der Cannen stehen, stemmte sich den Stecken unters Kreuz und holte Atem. Er sah aus, als erwartete er von Christian weiteres Zureden. Und Christian versäumte die Gelegenheit nicht, denn er fürchtete wirklich, daß Fritz in seinem Zorn etwas Schlimmes zu tun imstande wäre.„Wenn du mit dem Friedli reden willst,“ sagte er,„dann tu's mit Überlegung und nicht im blinden Eifer.Denn Stecken kannst hier lassen, denn ich lege meine Hand ins Feuer, der Friedli hat dir nie etwas zuleide getan. Im Gegenteil. Nie hat mir einer so wohlmei[292] nend von dir gesprochen, wie gerade er, und wenn ich ihm damals geglaubt und seinen Rat befolgt hätte,so wäre der böse Geist nicht über mich gekommen. Ich hätte mein Unrecht erkannt, und das Unglück auf der Weid wäre nicht geschehen. Ja, so wahr mich Gott hört, es ist so, Fritz. Und ich sage dir, solang ich dabei bin, wirst du dem Friedli kein Haar krümmen. Um deinetwillen leid' ich es nicht.“
Auf das hin standen sich die beiden Männer eine Weile schweigsam gegenüber. „Nun gut,“ sagte endlich Fritz, „man kann sich ja auch einmal irren in einem Menschen, und wenn ich falsch berichtet sein sollte, so wird sich's schon weisen; aber jetzt muß ich wissen, was mit meinem Buben gegangen ist, und da .....*Fritz Tellenbach vollendete den Satz nicht. Er sah vom Bädli her jemand winken, und gleich darauf erkannte er den Wirt, der mit dem Sektionschef den Rain herauf kam. Durchaus nicht zum Einkehren geneigt, ließ der Großrat die beiden herankommen.
„Ihr seid auf der Suche nach deinem Hans?“ sagte der Wirt. „Eben hab' ich dem Minder erzählt, daß er letzte Nacht hier vorbeiging, in Zivil, und zwar nach dem Walpersboden hinüber. Er wird wohl vom Sägessenmoos hergekommen sein.“
Dabei warf der Wirt lachende Blicke, bald auf Fritz,bald auf Christian. Nach einigem Hin und Herreden ließ Fritz den Wirt stehen und ging des Weges weiter.
[293]Christian und der Sektionschef folgten ihm. Des Wirts Blicke hatten Fritz in Erinnerung gerufen, daß bei der Sache im Sägessenmoos das Züseli im Spiel sein konnte. Gerne hätte er nun seinen Bruder darüber zur Rede gestellt, aber in Gegenwart Minders konnte er das nicht. So gingen sie denn, jeder seinen Gedanken nachhängend, weiter. Nur der Sektionschef erging sich in mehr oder weniger wahrscheinlichen Mutmaßungen,die kein Gehör fanden. In der Dornhalde wurde der lästige Beamte abgeschüsselet. Ob es nicht ratsam wäre,beim dortigen Sektionschef Nachfrage zu halten? Der Mann begriff, und da es in der Dornhalde überhaupt keinen Sektionschef gibt, ließ er sich im Wirtshaus zu einem Schoppen nieder, während die andern den Weg nach dem Sägessenmoos einschlugen.
Zu dem Hause, wo Friedli seine Versammlungen zu halten pflegte, führt der Weg durch eine schattige „Hole“ hinauf. Das Bauernhaus, sauber und heimelig und an der Giebelwand von Reben überwachsen,thront auf einem südwärts steil zur Aare abfallenden Hügel. Frei schweifte der Blick über die grüne Ebene des Aaretals zum Fuß des Hochgebirges. Als die beiden Männer, immer noch tief nachdenklich, auf den Hügelrücken hinaustraten, übernahm sie die Herrlichkeit des Ausblickes. Ein duftiger Nebelstreifen, den links der Turmhelm des alten Kpyburgerschlosses durchstach,verschleierte das Becken des Chunersees. Und aus diesem Schleier türmten sich in unvergleichlicher Wucht [234] und Große die in der Morgensonne leuchtenden Firnhäupter der Jungfrau und der Blümlisalp auf. Über ihre blitzenden Zinnen hinweg glitten die Sonnenstrahlen auf die von blauschattigen Furchen durchzogenen Alpen des Niesen und der Stockhornkette. Die überwãältigend feierliche Stille durchbrach nichts als das leise Rauschen der in breitem Glanz aus dem Morgenschatten heranströmenden Aare.
Fritz Tellenbach ging bis an den äußersten Rand des Hügels. Nach einigen Minuten des Staunens wanöte er sich plötzlich ab und schritt dem Hause zu.Die Schönheit des Tanöschaftsbildes hatte seinem Zorn einen wehmütigen Schmerz beigemischt. Ein leises Aufschrecken Christians, der neben ihm herging, weckte Fritz. Aus der Türe des mit leuchtenden Geranien geschmückten Hauses, war eine schlanke, blonde Frauengestalt getreten und warf der aus dem Baumgarten herbeiwackelnden Hühnerschar eine Hand voll Körner hin.Plötzlich griff sie hastig nach der Brust, wo auf dem blendend weißen Mänteli der schlichten Bernertracht ein Röslein leuchtete. Züseli war über den Besuch tief erschrocken, und die beiden Bauern waren nicht minder erstaunt, das Mäochen hier allein zu finden.
„So so?“ rief Fritz Tellenbach, nicht unfreunolich.„Bist du hier? dann wirod wohl auch der nicht weit sein, den wir suchen.“
Züseli überlief es dunkelrot. Der Atem versagte ihr völlig, als sie den beiden die Hand reichte. Die fassungs[295] lose Verlegenheit des Mädchens fachte den Zorn des Bühlbauers von neuem an, und es klang schon wieder recht hart, als er sagte: „So, jetzt heraus mit der Sprache! Ist mein Hans hier gewesen?“
„Ja, der ist hier gewesen bis nächti.!d Hab gemeint, er sei zu euch heimgekommen.“
„Und der Friedli? Wo ist der? Hält er Versammlung?
„An einem Sonntagmorgen nie. Wenn er nicht daheim im Walpersboden ist, so wird er wohl nach Rotenbalm 3'Predig gegangen sein.“
„Aber was machst denn du eigentlich hier?“ fragte nun Christian, der seine Stieftochter an Sonntagen gewöhnlich in der Brach gesehen hatte.
„Ich hüte. Sie sind alle z'Predig. Da bin ich für heut einmal hier geblieben.“
„Wann kommt der Friedli hierher?“ forschte Fritz weiter.
„Das kann ich euch wäger nicht sagen. Jedenfalls vor Mittag kaum. Er hält um 3 Uhr hier Versammlung.
„So lange kann ich nicht warten. Aber jetzt möcht'ich wissen, was mit dem Hans gegangen ist.“
Mit diesen Worten trat Fritz auf die Taube und setzte sich auf das Geländer. Christian ließ sich auf das Bänklein an der Hauswand nieder, und Züseli lehnte sich zwischen den beiden an den blank gescheuerten Tisch.
„Mit dem Hans?“ antwortete Züseli. „Was mir bekannt ist, sollt ihr alles wissen. Gestern am Morgen,[296] als ich in die Dornhalde hinunter gewollt habe, an die Arbeit, ist er mir in der „Hole“ begegnet. Ich glaube,er hat dort auf mich gewartet. Erschrocken bin ich, daß mir schier der Atem bstochen ist. „Wo kommst du jetzt her?“ hab' ich zu ihm gemacht. „Hab' gemeint, du seiest im Jura hinger.“ Aber er hat mir nicht Antwort gegeben. Bei der Hand genommen hat er mich und mich näbedsi ziehen wollen. Aber ich hab' gemerkt,daß etwas nicht richtig ist mit ihm und hab mich gewehrt. „„Du weißt, was abgemacht ist zwischen uns““,hab' ich ihm gesagt.“
„Jä.“ unterbrach sie Fritz, „das nähme mich jetzt grad eis o no chly wunder, was zwischen euch beiden abgemacht worden ist. Oder hat unsereiner öppe da nichts mehr dazu zu sagen, he?“ Mit bösen Blicken musterte Vater Tellenbach das in Scham erglühende Mädchen. Es hatte Mühe, seine Worte zu finden und fing bitterlich zu weinen an.
„Brauchst nicht zu plären,“ wollte der Erzürnte ihr nachhelfen. „Ich weiß ja wohl, daß du ein rechtschaffenes Meitschi bist. Sag mir nur die Wahrheit.“
Züseli schluchzte bitterlich, sank neben Christian auf die Bank und schlang seine Arme um den wetterbraunen Runzelkopf des Alten.
Christian schob sie sanft zurück und sagte: „Red doch! Es nimmt mich bald selber wunder, was ihr zusammen habt. Ta gschaue! Habt ihr euch öppe das Heiraten versprochen, he?“
[297]Züseli nickte unter Schluchzen bejahend.
„So,“ sagte Fritz dumpf, schüttelte den Kopf und tat, als suchte er jemanden, an den er sich wenden möchte. Nach einer Pause peinlichen Schweigens gab er sich einen Ruck und sagte: „Ja nu, darüber wollen wir dann noch reden. Aber bricht jetzt weitert Was habt ihr zusammen abgemacht?“
„Eh, ich habe wohl gemerkt, daß es ihn hart angekommen ist, einzurücken. Nicht daß er ungern gegangen wäre oder öppe sich gefürchtet hätte. Sälb gwüß nid. Aber sie haben da ihrere Paar sich das Wort gegeben weiß nicht wann sie wollten nicht schwören, wenn's einmal dazu käme. Und das plagte ihn grüsli. Hab wohl gemerkt, daß wenn's auf ihn allein ankäme, daß er unbsinnet seinen Mann stellen würde. Aber er hat gemeint', er dürfe nicht. Da hab'ich ihm's ausgeredet und gesagt, er soll sich nicht dran kehren und seinen Mann stellen, sonst sei es aus zwischen uns. Einem, wo nicht für sein Vaterland ausziehe,wolle ich nicht Frau sein.“
über Christians Gesicht flog bei diesen Worten ein heller Schimmer, und Fritz sagte: „He nu, das ließe sich noch hören. Aber und dann?“
„Ja, und dann!“ sagte Züseli. „Mit dem ist er dann gegangen, und ich hab' nichts anderes gemeint,als jetzt sei'ss in der Ordnung. Kommt der auf einmal wieder daher im Zivil.
„„Du weißt, was Gattigs,““ hab' ich gemacht und [298]hab' ihn stehn lassen. Ich hab' auf die Arbeit müssen;aber den ganzen Tag hat's mich übel geplagt, und mir ist's immer gewesen, ich mußte wieder hinauf und ihm zureden. Dann hab' ich ein Meitschi in den Walpersboden geschickt, zum Vater Friedli, er soll herüber tommen, so schnell er könne. Eine Angst hab' ich ausgestanden um den Hans, er tue sich ein Leid an. Ja, wenn ihr ihn gesehn hättet...! Und die Aare so nah'. Denkt doch!
Den ganzen Tag ist er da oben umenano gestrichen.Die meiste Zeit ist er dort zu äußerst am Bord ghocket,ob der Fluh, und hat in ein Loch gestaunt.“
„Und der Friedli? Hat etwa Hans schon früher mit dem von solchen Sachen gesprochen?“ forschte Fritz.
Nicht daß ich wüßte, sonst hätte ihn der Friedli schon früher herumgebracht.“
„Ja, hat er ihn jetzt herumgebracht ?“
„Mür scheint so. Den ganzen Nachmittag hat er mit ihm gstucket. Wo ich nach Feierabend heraufgekommen bin, hat er schon weniger stober dreingeschaut. Da hab'ich ihn noch einmal beim Arm genommen und dort hinaus geführt. Es war so wunderschön, und die Berge haben so rot geschienen, es machte einen gwüß gwüß fast 3plären. Da hab' ich ihm noch einmal gesagt:„LCue doch, Hans, siehst jetzt nicht, wie das schön ist?Da darf doch kein Fremder drin regieren.““ „„Das ist doch dreckgleich, wer da regiert,““ sagte er noch. Aber da hab' ich ihm's gegeben. „So?““ hab' ich gesagt,
[299]„„so? Ist das gleich? Ich denke, das ist unser Land,unsere Heimat. Das versteht niemand zu regieren, als wer drin aufgewachsen und örin daheim ist. Du wärst mir schon der Rechte,““ hab' ich gemacht, „dadrinn einem Fremden zu parieren. Ich einmal wär' nicht dabei; 's würd' einem ja das Herz abschnüren. Und ein Mann, wo das nid gspürt, wird nicht meiner. Jetzt weißt's.“s Ja, so hab' ich ihm gesagt, und geschüttelt hab' ich ihn und ihm in die Augen geschaut, daß er wußte, woran er mit mir ist. Da hat's ihn mögen.Er ist einen Schnauf lang dagestanden, wie einer, der nicht weiß, auf welche Seite daß er ghejen will. Dann hat er die Berge noch einmal so recht gschauet, mir die Hand gegeben und gesagt: „„Ich weiß wohl, daß du recht hast, Züsi, und diesmal bleibt's dabei, sie mögen mit mir anfangen, was sie wollen, ich gehe.““ Und das ist ihm ernst gewesen. Ich bin euch gut dafür.“
„Und jetzt ist er wieder zur Fahne?“ fragte Fritz mit einer leichten Erheiterung.
„Ich denke wohl.“
„Nun, umso besser. Aber es ist eben doch zu spät.Sie werden ihn einsperren, und die Schande haben wir einewäg. Ach Gott! Wenn ich nur wüßte ...Jetzt, möcht' ich aber noch eins wissen, Züseli: Warum hat sich der Bub grad hierher geflüchtet, wenn er doch gewußt hat, wie du von der Sache denkst ?“
„Eben drum,“ sagte Züseli. „Just deswegen ist er zu mir gekommen. Es hat ihm nicht Ruhe gelassen.“
[300]„Aber der Friedli? Hat nicht etwa der Friedli ihm früher einmal den Dienst und das Vaterland vernütiget, ich meine so aus religiösen Gründen?“
„Da kennt Ihr den Friedli schlecht. Der ist nicht so einer. Mag schon sein, daß Hans im Stillen darauf gehofft hat, Vater Friedli werde seinen Sprung gutheißen. Aber da ist er an den Rechten gekommen. Sie haben da neuis zusammen gehabt davon. Der Hans hat gesagt, es gebe nur ein Vaterland für alle Völker und es sei Unvernunft wider einander mit Mord und Brand ins Feld zu rücken. Man sollte den Glauben haben, alles über sich ergehen zu lassen, wie es komme,und es als Fügung vom lieben Gott hinnehmen. Da hat ihm aber der Vater Friedli heimgezündet.Erstens einmal wollte er sehen, ob Hans ruhig zuschauen würde, wenn ein Fremder auf mich 3'dorf käme.Wenn man im gewöhnlichen Leben immer nach seinem eigenen Kopf gehandelt, so könne man nicht hurti hurti,wenn der Krieg kommt, auf den Glauben abstellen und alles drangeben wie Hiob. Die Obrigkeit habe das Schwert, und wenn sie befehle, so solle der einzelne einstweilen das für den Willen Gottes über sich ergehen lassen. Einmal komme dann wohl die Zeit, da die Obrigkeit selber von Gottes Willen erfüllt sei, und dann höre der Krieg von selbst auf. Und das hat er ihm auch noch gesagt: Wenn einer nicht imstande sei, sein armselig Leibesleben für das irdische Vaterland einzusetzen, so sei er ganz sicher auch nicht reif für die [301] ewige Heimat. Daraus sei eben der Krieg entstanden.Gäben die Menschen täglich ihr Leben füreinander hin,wie sie nach Gottes Willen es tun sollten, so bliebe es ihnen erspart, es im Krieg gegeneinander opfern zu müssen.“
„Ja, der Friedli hat das Herz auf dem rechten Fleck,“ sagte Christian vor sich hin. „Ich hab's eben auch zu spät gemerkt. Schau jetzt, Fritz, wenn ich dir nicht nachgesprungen wäre! Hinter so einen hast du mit dem Stecken wollen.“
Züseli, durch diese Zustimmung ermuntert, hub noch einmal an: „Und das hat er ihm auch noch gesagt ich hätte ob allem Pläre noch bald lachen müssen:„„Du mußt nicht die Welt auf den Kopf stellen wollen,bevor du gelernt hast, dich selber 3'underobe stellen zu lassen. Das muß einer erst lernen, denn des Menschen Dichten und Trachten ist böse von Jugend auf.“! Ja, er hat ihm zuechegha,nd his er nienemeh gewußt hat. wo usenund ane.“
Fritz Cellenbach tat einen tiefen Seufzer und ging schweren Schrittes durch die Laube bis an deren Ende.Dort blieb er stehen und blickte lange lange in die aus Duft und Glanz gewobene Lanoschaft hinaus. Aber er sah sie kaum, denn seine Gedanken hielten ihn gefangen. Er fühlte sich tief gedemütigt. Sein Sohn war seiner Hand entronnen, hatte ihm Hohn und Schande eingebracht. Er hatte als Vater nichts unterlassen, um aus diesem Burschen einen Mann nach seinem Herzen [32] zu machen. Alles nichts! Alles umsonst! Ein Fahnenflüchtiger, das war die ganze Ernte seiner väterlichen Hingabe. Hingabe? Hätte er sich eigentlich dem Kinde hingegeben? Eine höhnische Stimme warf ihm vor, daß er in den wichtigsten Jahren mehr Aufmerksamkeit für seine Geschäfte und seinen ja,seinen Viehstand gehabt als für die Familie. Fritz stampfte unwillkürlich auf. Und jetzt jetzt kam dieser Friedli, den er bis heute als seinen Feind betrachtet, und ein Meitschi, eine Kachelimalerin, und brachten den Jungen herum, aus der tiefsten Verirrung zu einem Entschluß, dessen so leicht ein ganzer Mann nicht fähig ist. Es war sicher leichter gewesen, den Fahneneid zu verweigern in Gott weiß was für einer Geistesverwirrung, als jetzt reumütig zu den Vorgesetzten und Kameraden zurückzukehren. Herrgott!Und dieses Meitschit Von einer Bauerntochter hatten sie sich alles Heil versprochen, einer alles vermögenden. Aber die da, dieses einfältige Mädchen aus der Dornhalde, hatte Herz und Verstand, daß es nur so über einen hinweg lief. Ds Marlisis Meitschi!? Fritz blieb in diesem Augenblick nur der Trost, daß er sich sagen durfte, er habe von jeher in dem Mädochen etwas Ungewöhnliches erkannt. Nur das hatte er sich bis jetzt nicht zugestehen wollen, daß diese die einzige sei, welche aus seinem Sohn noch etwas Rechtes machen könne. Aber jetzt war das kaum mehr zu bestreiten, und man durfte sich über den Funod noch die Finger schlecken.
[303]Während Fritz hier, am einen Ende der Laube,seine Demütigung durchzukämpfen begann, legte am andern Ende Züseli ihren goldenen Lockenkopf an des Elters Schulter und bat ihn um seinen väterlichen Beistand. „Komm mir 3'Hülf, Vatterli,“ sagte sie,„schau, es kommt mich so grausam hart an. Wie ein Bettelmensch komme ich mir vor. Bin doch, weiß Gott,nie hoffährtig gewesen; aber es tut doch weh, wenn man so aus jedem Wäaärteli herausfühlen muß, daß es sie fast erworgget, von unsereinem den kleinsten Dienst anzunehmen. Ich weiß ja wohl, daß ich ungere mueß, ganz z3'ungerist düre. Aber in Gottes Namen! Es geht um Teben unod Heil eines braven Menschen.“
Christian hatte, während Züseli ihm so anhielt, die Pfeife und das Tubakbläterli aus der Brusttasche gezogen, Feuer gemacht und ließ, seinen Betrachtungen nachhängenod, der hilfeheischenden Stieftochter beißenden Rauch in die ohnehin brennenden Augen streichen. Als er sich so die liebe heilige Last äußerlich vom Herzen geräuchert hatte, paffte er noch ein paar Wolken sinnend vor sich hin. CTief im Grunde seiner Seele lächerte ihn die Geschichte, konnte er doch zuschauen, wie seiner Stieftochter um ein bißchen Demütigung ein ganzes Königreich anheimfiel der ganze stolze Saarbühlhof mit Mann und Maus, Schiff und Geschirr. Und etwas von einer Königin hatte sie. Sie brauchte nichts zu erlisten, nichts zu erzwängen, zu ertüfle. Ihr Lieb[2309] reiz, ihre Rechtschaffenheit und fromme Herzensgüte legte sie allisame ungere.
„Weißt,“ sagte er endlich und blies wieder eine blaue Wolke von sich, „es hat noch keinem Menschen je geschadet, wenn er ungerdüre mußte. Das kannst zum Resten nehmen. Aber eins möcht' ich doch wissen:Hast ihn eigentlich lieb? Vowäge weißt, wenn man einmal enangere het, so het me sech de. Es gibt nichts Schöneres als ein glücklich Eheleben; aber wenn man zu spät drüber kommt, daß man nicht zusammengehört,so ist's gefehlt. Und ohne volles Vertrauen in einem Kratten liegen ist keine Lebtig.“
„Ja, Vater,“ versicherte Züseli, „er ist mir lieb, und ich traue ihm düryne. Wenn es ihm nicht Ernst wäre,so hätte er mich längst können hocken lassen, und ganz sicher wäre er jetzt nicht zu mir gekommen, wenn er mir nicht das größte Vertrauen schenkte. Und jetzt,wo es ihn ungere nimmt, jetzt laß ich ihn nicht fahren.Jetzt halt' ich ihn, bis er wieder über Wasser kommt.Ich halte bei ihm aus. Und sollte er's vergessen und mir hernach doch den Stupf geben, so ist's seine Sache.Ich habe mir dann nichts vorzuwerfen.“
In diesem Augenblick wanöte Fritz Tellenbach sich um. Ob er etwas gehört hatte? Er kam nach vorn und sagte: „Ich will jetzt gegen heim zu, Christen.“Christian erhob sich und sagte zu Züseli: „Komm dann öppe der ander Sunntig auf die Brach, wir können dann noch drüber reden. Jetzt, bhüt dich Gott, Züseli.“[]v5̃
Und Fritz reichte ihr ebenfalls die Hand: „Bhüt dich Gott. Ich will dir's nicht vergessen, was du an unserem Hans getan hast. Und wenn du den Friedli siehst, so sag' ihm, ich lasse ihm danken für sein Zureden.“
Als die beiden Bauern miteinander die „Hole“ hinunterstiegen, tat Fritz einen tiefen Seufzer. „Ach Gott!“sagte er, „es ist wahrhaftig nicht leicht, so etwas über sich ergehen zu lassen. Ich begreife manchmal nichts mehr an dieser Welt. Daß doch immer gerade die vom Mißgeschick verfolgt sein müssen, die es gut meinen und sich in den Dienst des gemeinen Wohls stellen! Mich däucht,wenn es einen gerechten Gott im Himmel gibt, so sollte er's nicht zulassen, daß immer gerade die Aufrichtigsten am meisten zu erdulden haben.“
„Fritz,“ sagte Christian und faßte den Bruder sachte am Hemösärmel, „bist auch gewiß, daß bei dir alles ganz lauter ist? Ich will mich nicht zum Richter machen über dich. Aber das will ich dir doch sagen: mir hat's erst wieder gewohlet, als ich mir frei und frank zugestanden habe, daß ich eigentlich in meinem früheren Leben doch mich und meinen Voarteil gesucht habe.Mehr sag' ich nicht.“
Fritz zog die Stirne in sinstere Falten. Wenn Christian sich anklagen konnte, er habe sich und seinen eigenen Vorteil gesucht, dann mußte es freilich einen Maßstab für Selbstsucht und Selbstlosigkeit geben, den er, Fritz, noch nicht kannte. Darüber wollte er ins von Tavel, Die heilige FJlamme
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Klare kommen. Eines war eben doch auffallend und weckte in Fritz einen gewissen Neid, und das war die tröstliche Gelassenheit, in der Christian und seine Stieftochter sich bewegten. Denen war offensichtlich bei ihren dürftigen Verhältnissen wohler als ihm in all seinem Ansehen und Reichtum. Sie hatten keine übelredenden Neider; ihm wurde alles vergällt, und deß hatte er nun genug. Wegwerfen zwar konnte er sein Hab und Gut nicht und noch weniger sein Ansehen. Aber innerlich wollte er davon sich losmachen, damit er die Widerwärtigkeiten leichter ertrüge eben so wie Christian und Züseli. Und wie die es angefangen, das wußte Fritz ganz gut. Diese Gelassenheit, diese stille Heiterkeit ließ sich nicht erkünsteln, die kam ganz einfach von Gott.Es wäre eine TCorheit, sich das ausreden zu wollen.Und das konnte jeder haben, der schlecht und recht danach verlangte. Freilich, Friedli und andere Helfershelfer begehrte Fritz CTellenbach nicht. Ganz tief im stillen sollte der neue Kurs eingeschlagen werden. Mit der Zeit allerdings würde er schon offenbar werden,und die Teute alle, die Fritz bisher mit ihren Ansprüchen und mit lästiger Kontrolle eingeengt, die würden dann Anstoß nehmen, vielleicht sogar sich von ihm abwenden. Aber so viel Mut hatte er noch, das über sich ergehen zu lassen. Durch Hans, der nun seinen Richtern in der Uniform unter die Augen zu treten wagte, ließ er sich denn doch nicht beschämen.
So war denn für Fritz Cellenbach die Stunde ge[307] kommen, von der Friedli einst seinem Bruder gesprochen, die Stunde, da er sagen werde: Es ist genug,ich bin nicht besser, als meine Väter waren. Das war keine willkürliche Prophezeiung gewesen, sondern ganz einfach die Voraussage eines erfahrenen Mannes, der schon manchem von ferne zugeschaut.
Als der Bühlbauer heimkam, ging er zuerst in den Stall und hing den Viehtreiberstecken wieder an seinen Ort hinter die Türe. Und seine Augen blickten heller als am Morgen.[]XV.
Die Herbstfäden hatten das Land allenthalben übersponnen und fingen in ihren Netzen die Wunder des Sonnenlichtes. Achtlos gingen die meisten Menschen über diese zarten Offenbarungen der Gottesherrlichkeit hinweg, seufzten und krümmten sich unter der Tast ihrer Sorgen. Zeit der Reife, Zeit des Sterbens du große Zeit des stillen Heldentums, da wehmütig jedes lebende Wesen das alte Gewand, worin es einst den Zweck und die Schönheit seines Daseins erblickt,abstreift, um der Erneuerung zu besserem wahrerem Leben Raum zu schaffen! Ach, daß die Menschen dieser Gelegenheit zum Wandel inne würden, es wäre ihnen weniger weh ums Herz bei der letzten Erntearbeit!
Diesseits und jenseits der Stahrenfluh deckten sie,jedes nach seiner Kraft, die Geheimnisse der Erdäpfelacker ab. Und siehe, es stand nicht schlecht. In reichen Büscheln kamen stattliche Knollen zum Vorschein. Der Gedanke an winterliches Darben huschte selbst auf dem AÄckerlein des Armen mit dem Morgennebel davon.Aber noch einmal trat ihnen allen vor Augen, wie ungleich der Große und der Kleine erntet. An den [309] steilen ückern hinter der Fluh entrissen sie mit dem Karst Hieb um Hieb ihr täglich Brot der Erde; nur in den flacheren Ausbuchtungen häufelte der von schwer schnaufenden Kühen gezogene Pflug die Frucht heraus.So ging's auch auf der Brach, wo nun Christian Tellenbach seinem geschwätzigen Schwager den Großteil der Arbeit abnahm. Drunten aber, in den Flachhängen des Saarbühls, wirbelte ein fein ausgeklügeltes Schaufelrad mit emsigen Gabeln die Erdäpfel aus den Zeilen, daß sie stäubend in die Tuft flogen. Der Großrat selber lenkte das zahme Ungetüm. Das war nicht erst heuer so. Man war es längst gewohnt, daß die Kartoffeläcker hier so, dort anders geräumt wurden. Und doch war dabei etwas sehr verändert. Kein Weiser der Erde würde zwar den Unterschied gegen frühere Jahre wahrgenommen haben. Vor den Augen dessen aber,der seine Sonne aufgehen läßt über Gerechte und Ungerechte, war das Bild völlig verändert. Christian,der im Sonnenbrand und Frost hart gewordene Mann,der früher mit Grimm unod Groll seine Kartoffeln aus verfluchtem Acker schälte, hieb heute mit einem Herzen voll Frieden seinen Geschwistern die Frucht aus den Furchen. Und der stolz blickende Erbe des Saarbühls,der ehedem zwischen dem Neid der minder Begünstigten und den erwartungsvollen Blicken seiner Anhänger mit Unbehagen seine Gespanne vor sich her trieb, schritt heute aufrecht und gelassen, innerlich ganz still, hinter seinen Zugtieren her. Häufig, wie ehedem, wurde er [310] von Menschen, die seines Rates und seiner Fürsprache bedurften, vom Acker gerufen. Diese Menschen merkten etwas von dem Unterschied. Vater Tellenbach machte zwar noch weniger Worte als vorher; aber er gab sie nicht mehr mit gewichtiger Miene, wie der reiche Mann, wenn er eine Hand voll Golovögel aus der eisernen Cruhe schöpft, sondern eher wie der gerechte Meister, wenn er dem Arbeiter seinen Lohn mit dem Gedanken gibt: mir ist nur leid, daß ich dir nicht mehr zu geben vermag.
Das fühlte heute auch Tehrer Zybach, der bis zur Rücktehr Beyelers die Schule von Rotenbalm seiner Frau überlassen und in den Walpersboden übersiedeln sollte, um des jungen Kollegen Aufgabe zu übernehmen.Willig hörte der Bühlbauer sein Begehren an. Und obwohl bis zum 3 Nüni noch ein halb Dutzend Furchen hätten ausgeschält werden können, ließ Fritz Tellenbach seine Leute jetzt schon rasten, um mit dem Schulmeister das Nötige zu bereden. Da gab denn ein Wort das andere, und Zybach machte seinem Unmut über das Gezänke der Zeitungsschreiber LTuft, die sich ob fremden Händeln in die Haare führen und das Schweizervolt entzweiten. Der Großrat war mit seinem Besucher vollkommen einverstanden, schnitt aber den Faden dieses Gespräches bald ab, indem er sagte: „Müßten diese Leute um ihr Brot arbeiten wie wir, und wäre es ihnen um das Aufbauen hinter der Front zu tun, so hörten sie wohl auf zu keifen. Mausstill blieben sie,[511] wenn sie das, was wir Schweizer leisten, an den Opfern anderer Völker messen würden.“
Noch hatten die beiden ihre Geschäfte nicht zu Ende beraten, so kamen ihrer zwei vom Vorstand der Käsereigenossenschaft. Die begehrten von Tellenbach, daß er als Gemeindepräsident von Walpersboden die Entlassung des Käsers aus dem Militärdienst verlange. Sein Stellvertreter tauge nichts. Vor zwei Tagen habe er es fertig gebracht, einen zweizentnerigen Käselaib beim Überschlagen von der Bank fallen zu lassen, und die meisten Milchlieferanten seien davon überzeugt, daß der Mann etwas Unsauberes mit dem Kaslet!! anstelle. Das werde ein schönes Gsau geben mit dem Walpersbodener Mulchen.!n2 Heute hätte es in der Käserei schon böse Worte abgesetzt, und es werde nicht lange dauern,so komme es dann zu einer wüsten Erläsete.““ Da durfte nun freilich nicht lange gewerweißet werden.Fritz legte sich gehörig ins Geschirr und erlangte vorläufig einen Urlaub für den Käser, der zu einer gründlichen Untersuchung und zu besserer Instruktion des Stellvertreters benützt werden sollte.
Nach einigen Tagen traf der wichtige Mann ein und unterwarf die Käserei einer Inspektion, wobei er in Gegenwart der Vorstandsmitgliebder und des Hüttenknechtes von Großrat Tellenbach einen gehörigen Wischer einheimste, weil er den Knecht nicht besser unterrichtet habe. Die Antwort blieb er nicht schuldig. Wenn der Herr Großrat gewußt habe, daß [5342] es Krieg gebe, so hätte er davon die Käserei benachrichtigen sollen. Dann hätte man sich auch vorsehen können. Der Käser wurde neuerdings zurechtgewiesen.Im übrigen aber verlief die Inspektion ohne besondern Lärm, und die Bauern gaben sich vorläufig wieder zufrieden. Bald genug jedoch sollte es sich zeigen, daß die Käserei in ihrer Eigenschaft als MarconiStation nicht weit hinter dem von Buris Witwe weitergeführten Kramladen zurückstand. Die Mär von Hans Tellenbachs Desertion war freilich schon lang in aller Leute Mund der Bühlbauer und seine Frau wußten von ihres Sohnes Schicksal nicht halb soviel wie die meisten Dorfgenossen. Aber nun vernahm man aus der sichersten Quelle, was seit Hansens Rückkehr zur Fahne geschehen. Der Käser diente in der gleichen Kompagnie und gab über Bitten und Vermögen Auskunft, gleichviel, ob es der Familie vom Saarbühl zur Schande oder zur Ehre gereiche.
Christian war auf die Brach zurückgekehrt und ersetzte der Schwester mit seiner zähen Arbeitskraft und schweigsamen Bauernklugheit, was ihrem Manne an solchen Tugenden fehlte. Die Hausgenossen merkten ihm an, daß er wieder nachdenklicher geworden;denn er war nicht bloß schweigsamer als gewöhnlich,sondern nun auch noch zerstreut. Hie und da stellte er eine Mistgabel an einen Platz, wo sie doch nie zuvor ge[]3i8 standen, oder er vergaß beim Melken, dem „Bluem“den Schwanz anzubinden, so daß er mit dem Wedel die derbsten Ohrfeigen abkriegte. Marlisi war es ungemütlich. Sie erblickte in dieser Zerstreutheit das sichere Anzeichen eines neuen wunderlichen Einfalls.Erst vor kurzem hatte Christian sie in helle Aufregung gebracht. Hatte ihr der Mensch nicht die Mär unter das Dackbett ausgekramt, Züseli werde den Hans heiraten und Bühlbäuerin werden. Hoch zum Bett hinaus geschossen war sie darob, als hätte man ihr einen lebendigen Igel in die Fußete 18 versteckt. Einen „Sturm“hatte sie den guten Mann gescholten. Und als er ein Gesicht gemacht, wie einer der seiner Sache sicher ist,hatte sie sich aufs Protestieren verlegt. „Potz Cuüner!Das Meitschi ist meins, und ich will dann schon sagen wodüre, wenn's Zeit ist. Es fehlte sich noch, daß das arme Tröpfli der Bühlgluggere!“ unger do'Fäcke 18 müßte. Die müßten dann doMilch noch wüest abela,bevor von so etwas die Rede sein kann.“
Christian hatte sich damals mit dem Entschluß auf die Seite gelegt, die Sache versurren zu lassen.Was sollte er zwängen? Es hatte ja keine Eile, und inzwischen konnte er den schicklichen Augenblick erlauern, seiner Gattin mitzuteilen, daß im Saarbühl der Wiederaufbau der Strubenweiod beschlossen worden sei. Wie ein unsicherer Schütze trieb er's, der sein Gewehr zehnmal an die Wange legt, den Atem verhält und mit dem Finger am Abzug hätkelt bis das [314]Korn ihm vor den Augen tanzt. Der Augenblick, da visiereinschnitt, Korn und das Scheibenzentrum sich deckten, entwischte ihm in diesen Cagen hundertmal.überhaupt schien ihm, wenn jetzt jemand den Namen „sturmes Huhn“ verdiente, so wäre es doch am ehesten Frau Marlisi, der offenbar die SaarbühlSchwiegermutter im Hirnkasten herumwalzerte. Endlich es war an einem Sonntagmorgen, und man erwartete Züseli schien Christian der große Augenblick für seine Eröffnung gekommen. Züseli, die mit Leib und Seele an der Strubenweid hing, würde ihm sicher beistehen und die Mutter bereden helfen.
Lisebeths Mann gehörte zu jenen Bauern, die aus gewissen Gründen den Milchkarren dann und wann in höchst eigener Person in die Käserei ziehen. Sie fahren mit hundert Liter Milch in den Brenten ab und kommen mit einem Liter Waadtländer nicht in den Brenten und allerhand Neuigkeiten heim.Wo man keine Zeitung hält, läßt sich, zumal in Kriegszeiten, dieses Verfahren entschuldigen. Schwander war auch an diesem Sonntagmorgen mit der Milch gefahren. Christian dagegen hatte sich mit der Pfeife auf die Laube hinausgesetzt und spähte nach dem Bifangsattel. Es dauerte nicht allzu lange, so erschien dort Züselis schlanke Gestalt. Christian erhob sich und träppelte beschaulich bergab, der Stieftochter entgegen.Unwillkürlich kam er in einen rascheren Schritt, so daß Züseli schon von weit her den Einöruck empfing,[]
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15 mit dem Elter steige ein besonderes Anliegen zu ihr herunter. Nicht weit von der Stelle, wo einst Züseli in stiller Nacht dem um ihre Liebe werbenden Hans ihre Bedingungen gestellt, trafen sie zusammen. Der Elter hatte gar keine Eile zum Umkehren, sondern schlug vor, den Rank durch den Wald hinauf zu nehmen. Tangsam bergan schreitend, vertraute er nun Züseli an, was ihn so sehr beschäftigte. Das Mäochen erkannte sogleich, daß ein dankbar demütiges Annehmen des Vorschlages den Frieden zwischen den Brüdern befestigen würde und versprach dem Stiefvater seine Beihilfe. „Es wird zwar die Mutter hart ankommen, von denen im Saarbühl den Bau anzunehmen,“ sagte es, „aber die Sache ist ein bißchen Demütigung schon wert.“
So kamen sie beide, kluger überlegung und wohl erwogener Worte voll, auf die Brach zurück. Am Brunnen blinkten schon die entleerten Brenten, und aus dem Stall hörte man Schwanders immer unnötig laute Stimme. Lisebeth begrüßte Züseli vor der Haustüre und hieß sie mit dem Stiefvater in die Taube sitzen. Sie wolle selbst das 3'Mittag übertun, damit die Mutter Zeit habe, ein wenig mit ihnen zu brichten.Züseli wehrte ab und wollte sich in der Küche zu schaffen machen; aber Lisebeth stellte sich ihr mit verständnisinnigem Augenzwinkern breit in den Weg. Da kam auch schon Marlisi vom Stall her, und zwar nicht mit den leichten Schritten der Mutter, die ihr lang[316] entbehrtes Kind ans Herz ziehen will, sondern schon eher wie ein siegestrunkener Lanosknecht. Kaum noch ließ ihre Zunge einem flüchtigen Gruß Zeit über die Lippen hinauszuhuschen, so kam's wie der Mostschuß hinter dem ausgesprengten Spundzapfen her: „So,jetzt brauchen wir uns aber nicht mehr zu pfüpfen!is vor den Großhansen im Saarbühl. Wißt ihr, was der Käser heimgebracht hat? Der BühlHänsel habe mit dem Ärmel das Zuchthaus gestreift. Ja wäger, das Zuchthaus!“ brüllte Marlisi und toppelte mit ihren steinharten Fingerknöcheln auf die Tischplatte. „Das Zuchthaus, ja wäger, und der kann's wissen, der Käser.Er ist selber drin gewesen.
„Im Zuchthaus?“ warf Christian mit lustig blitzenden Augen dazwischen.
„He nei, im Jura hinger, du Sturm!“ eiferte Marlisi so, daß sie den überfließenden Geifer wieder einschlürfen mußte. „Und wenn der Hänsel nicht von selber wiedergekommen wäre und den Obersten den Cusigsgottswille angehalten hätte, sie sollten ihn doch recht wieder annehmen, so eben so hätten sie ihn auf den Maishubeln 3'murbe getan oder ins Große Moos.Das hätte richtig dem Bürsteli wohlgetan, wenn er in die Turbere? gemußt hätte. Und wer anders ist schuld, daß es so und nicht krümmer herausgekommen ist? Wer anders als üsers Meitschi? Wenn ihm nicht der Züsu den Gring zwäggstellt hätte, so könnte er jetzt Mais frässe bis gnueg. Ja ja, Gott Lob und
[317]Dank! Es ist immer noch dafür gesorgt, daß der Hochmut seinen Meister findet. Hocken!! hat er natürlich müssen. Aber weil sie ihm wohl gewollt und der Major Senno ein gut Wort für ihn eingelegt hat, ist er mit vierzig Cagen Loch davongekommen. Eigentlich sei's nicht ganz mit rechten Dingen zugegangen, hat der Käser gesagt, jeden andern hätten sie ins Zuchthaus getan und mit Schimpf und Schand aus dem Militär fortgejagt. Item, seinen Tätsch hat er. Aber die Hauptsache ist, daß sie es zu hören bekommen auf dem Saarbühl. Dafür will ich schon sorgen.“
Christian hatte unterdessen seine Pfeife nachgestopft und wischte, sich ärgerlich abkehrend, mit dem ürmel den Tisch ab. Züseli machte ein bitterbös Gesicht und verfolgte mit erwartungsvollen Blicken jede Bewegung des Alten, während Tisebeth neugierig aus der Küchentür guckte. Als Marlisi es inne ward, daß ihre Rede nur Mißbilligung fand, doppelte sie noch einmal nach:„Ja, nid Gott! und das muß ihnen um die Ohren gerieben sein das wegem Zuchthaus und daß wenn os Züsi ihm nicht den Marsch gemacht hätte ....“
„Mutter!“ wanöte sich jetzt Züseli mit zitternder Stimme an die Triumphierende. „Ist es deine Sache,des Käsers Jaghund zu machen? Jetzt stehn sie draußen an der Grenze, Mann neben Mann, und haben geschworen, ihr Leben einer für den andern zu lassen, damit wir hier ungestört um unser Brot arbeiten können, und der Hans ist wieder gegangen, ob
[48]0 schon er gewußt hat, was ihm wartet, nur um auch seinen Mann zu stellen. Hat da einer noch Anspruch auf Achtung, der heimkommt und seine Kameraden schlecht macht? Ein Fötzel, wer das über sich bringt!“
Auf so etwas war nun freilich Marlisi nicht gefaßt gewesen. Einen Augenblick war sie wie auf den Mund geschlagen. Sie warf einen prüfenden Blick in Züselis Augen, die jetzt hart aussahen wie graue Kieselsteine.Eine tiefe Beschämung überschattete ihre schadenfroh flackernde Seele. Es kam sogar etwas wie ein Gedanke des Hasses in Marlisis Herz. Sie wußte nicht, wo aus,wo ein, fühlte rings um sich Ablehnung und konnte doch nicht zurück, ohne sich schmählich zu blamieren.
„Schlecht machen,“ polterte sie endlich heraus, „was schlecht machen? Da ist nichts von schlecht machen.Was wahr ist, ist wahr. Und das muß einmal heraus.Seit Jahr und Tag müssen wir leiden unter dem Hochmut derer vom Saarbühl, und wenn ihr diesem Stolz immer nur borget!?o, so wundert euch dann auch nicht,wenn sie eines CTages euch in die Pfanne sch....“
„Mutter! Mutter! Vergiß dich nicht!“ bat Züseli.„Du weißt gar nicht, was du sagst. Jetzt, wo die vom Saarbühl uns die Hand zum Frieden geboten haben,hast du kein Recht mehr, so zu reden.“
„Davon habe ich noch nichts gemerkt,“ wetterte Marlisi weiter und forschte abermals in Züselis Augen.„Aber jetzt glaube ich dann selber bald, es sei öppis ateiggetier zwischen dir und dem Hänsel. Aber wart,[319]Meitschi, so gleitig bin ich dann noch nicht ungere.Dem Bürsteli will ich schon zeigen, wo Gott hocket.“
Drohend hatte sie die Faust erhoben. Dann machte sie kehrt und drängte sich an Lisebeth vorbei in die Küche, wobei ein überlegen lächelnder Blick der Brachbäuerin sie traf. Und dieser Blick bewirkte, was Christian und seine Stieftochter noch lange nicht erreicht hätten. Er zersprengte und verhagelte mit einem Schlag in Marlisis Herzen alles Wohlbehagen, das sie bis jetzt auf der Brach genossen. Lisebeth hatte es verstanden, den Abgebrannten von der Strubenweid die Empfindung vom Leibe zu halten, daß sie bei Fremden 3 Hus seien. Jedesmal, wenn solche Gedanten Christian oder seine Frau beschlichen, hatte Lisebeth protestiert,sie wüßte nicht, wie es ohne die beiden Wärchadere!machen, es gehe alles so ausgiebig ab Fleck. Wenn sie nur nie wieder auseinander müßten. So hatte Marlisi ihre Sehnsucht nach einem eigenen Heim und einer eigenen Haushaltung immer überwunden. Aber nun war ihr plötzlich ein Licht darüber aufgegangen,daß alles um sie herum unter einer Decke steckte und daß sie alle ihres ohnmächtigen Hasses gegen die vom Saarbühl lachten. Sie erwachte in einer kalten Fremde.Von der Stunde an gab es für sie nur noch eine Losung: Fort! Fort aus diesem Hause, dessen Frieden sie nicht ertrug. Fort in ein eigenes Heim, wo ihre Leute wieder ihr gehörten und nicht mit andern wider sie sich verschwören konnten. Und wenn sie zuhinterst
[20]3*in den Lugikrachen hätten ziehen müssen, es wäre ihr alles recht gewesen. Nur in ein eigenes Heim. Bald verriet sie ihre Gedanken, und Christian wurde es leicht, ihr zu ersffnen, wo nach dem unter den Geschwistern getroffenen Ratschluß das ersehnte, neue Heim sein würde. Freilich, es kostete Marlisi schwere Überwindung, die Hilfe der Saarbühler zu schlucken;aber in der Drangsal ihres hausfraulichen Heimwehs fand sie sich bald auch damit ab. Ja, es regte sich in ihr sogar eine leise Liebe zu der alten Stätte ihrer langjährigen Leidenszeit. Sie fing an sich zu überlegen,ob nicht bei gutem Willen zum Frieden auf dieser Unglücksstätte eine Wiege heimischen, stillen Glückes sich aufstellen ließe. O, der Stunde des Glücks, da endlich ein Licht ihr darüber aufging, wie froh der Mensch sein darf, wenn er andern ihr Glück neidlos überläßt und dankbar schätzen lernt, was ihm selber zuteil geworden!
Als sie droben, in der Strubenweid, den Boden zu ebnen begannen und die ersten Fuhren mit Fritz Tellenbachs Gespannen den Berg hinauf knarrten, da weilten Marlisis Gedanken nicht seltener auf dem Bauplatz als die ihres Mannes. Sie flogen weit voraus, bis zur Husröuti,!s und Marlisi gedachte sogar mit einem ängstlichen Dankesgefühl der Soldaten an der Grenze:Wenn sie's nur noch so lange möge bha,“?“ bis wir neu eingehauset sind! Ja, es hatte doch etwas für sich in wohl geschütztem Frieden sein Haus bauen zu können.
[321]Bis jetzt hatte sie nicht viel gegeben auf das Gerede vom Vaterland; aber nun begann sie zu ahnen, daß doch etwas ganz Wirkliches und Greifbares dahinter steckte.
Marlisi hatte sich übrigens ganz unnstig mit der Sorge befaßt, ihrer Schwägerin die Tiebenswürdigkeiten des Käsers zu hinterbringen. Frau Berta wußte nun schon Bescheid über Wahrheit und Dichtung in Sachen ihres Sohnes, und auch die häßliche Mär von der unheimlichen Fahrt ganz nahe am Zuchthaus vorbei war von den Dorfspatzen über das Riesendach des Saarbühlhauses heruntergepfiffen worden. Die Bäuerin wußte sogar, daß die Mär nicht eitel Erfindung war, während Marlisi eigentlich nie recht daran geglaubt hatte. Was wußte die Strubenweiobäuerin vom Militärstrafgesetz?Bhüet' is Gott! Die Männer reden gar manches, das man nicht ernst zu nehmen braucht, besonders wenn sie das Militär ob haben. Aber wenn man dem lieben Nächsten eins über die Ohren hauen will, so fragt man nicht erst, an welchem Baum der Zaunstecken gewachsen sei. Fritz Tellenbach hatte seiner Frau nichts vorenthalten. Einmal gehörte diese Offenheit zu den Vorsätzen, welche er gefaßt. Er wollte von nun an weder sich noch die Leute um ihn herum irgendwo in einer Täuschung lassen. Dann aber durfte er auch seiner Frau nichts ersparen, was geeignet war, sie mürbe zu von Tavel, Die heilige Flamme 21 [322] machen. Wie sollte sie sonst zur Einsicht gelangen,daß Züseli das Glück ihres Sohnes begründen werde?Hier war Fritz stehen geblieben. Es gab nämlich immer noch Augenblicke, in denen diese Einsicht, die er seiner Frau zumuten sollte, ihn selbst recht hart ankam. Züseli war ja gewiß ein Mädchen, das, wenn man ganz ehrlich sein wollte, die höchsten Garantien für eine glückliche Ehe bot; aber das war auch nicht zu leugnen zum äußeren Glanze des Hauses würde es wenig beitragen. Darum hatte Fritz Tellenbach bei all seinem prächtigen Willen zu rücksichtsloser Ehrlichteit noch Falschheit genug, um einer leisen Hoffnung auf unbeugfamen Widerstand seiner Frau den Atem nicht von vornherein auszutreten.
In diesem Zaudern wurde Wachtmeister Tellenbach von einem neuen Aufgebot überrascht. Er mußte Wehr und Waffen, die er vor einigen Wochen unter wehmütigen Gefühlen versorgt, wieder herunterholen. Unbequem war's ihm schon; aber es ging nun alles leichter von statten, weil man inzwischen mit Christian auf einen andern Boden gekommen war. Man brauchte sich seiner Hilfe nicht mehr zu schämen, und der Mangel an Arbeitsleuten war nicht mehr so schlimm wie beim ersten Aufgebot des Landsturms.
Wohlgemut zog Fritz Tellenbach aus, und nicht minder wohlgemut erfaßte seine Frau die neue Lage.Die Einberufung des Bühlbauers kam ihr wie von Gott verfügt. Nun konnte sie handeln. Das Geschwätz
[3]J*vom Zuchthaus mußte übertönt und ertötet werden.Daß die Leute dann gar noch sollten behaupten dürfen,ihr Hans sei froh gewesen mit der LättZüsle vorlieb zu nehmen nein, selb hingegen de nid. Nun erst recht mußte höher hinauf gelangt werden. Frau Berta hatte ihren Plan im Kopf. Mit den Horberlene wagte sie keinen neuen Versuch. Affen hatte Hans sie genannt,und damit hatte er eigentlich ganz klar angedeutet,was sein Geschmack war. Es mußte eine Tochter ins Auge gefaßt werden, welche mit den Herzensvorzügen von Marlisis Meitschi anziehende Tölleis und eine stattliche Anwartschaft verband. Das alles vereinigte nach Frau Tellenbachs Meinung des Glunggenmüllers TCochter. Wenn die einem jungen Manne nicht gefiel,dann war ihm nicht mehr zu helfen. Schön war sie und gewachsen wie die Tannen von Raafrütti. Sie hatte schon manchen bandhauen geschickt, und gerade das zog Frau Berta gewaltig an, denn wenn es ihr gelang, sie für ihren Sohn zu gewinnen, so war das der allerwirksamste Klapf auf des Käsers Maul. Natürlich mußte damit gerechnet werden, daß die fatale Kunde auch schon bis in die Glungge gedrungen sei.Aber je unverfrorener man auftrat, desto sicherer überzeugte man die Teute, daß nichts Wahres daran sei. Übrigens, so rechnete Hansens Mutter, wenn einer Verständnis dafür haben mußte, daß das Zuchthaus manchmal ganz dicht an durchaus angesehene Teute herangerückt komme, so war das der sehr reich gewor[324] dene Glunggenmüller, der die Bauern weitherum so hereinzulegen verstand, daß sie alle ihn unter Fluchen heimlich bewunderten. Und reichten sich einmal Fritz Tellenbach vom Saarbühl her und der Müller von der Glungge her über dem Dorfe Hahnenberg die Hand,dann durfte man getrost fragen: Was kostet das Dörfli?
Um einen schicklichen Vorwand war Frau Berta nicht verlegen. Als Großrätin stand es ihr gar wohl an, einen Tismerabend !es zu organisieren, an welchem für die Soldaten im Feld Socken gestrickt werden sollten. Die Müllerin sollte als erste ins Vertrauen gezogen werden, und dann hatte man schon halb gewonnenes Spiel.
Diesmal nun erwiesen sich die Berechnungen der A puppte sich als Soldatenmutter ersten Ranges. Sie war eine von denen, die lieber ein Peloton als nur eine Gruppe uniformierter Buben ihr eigen genannt hätte. Der Vorschlag der Großrätin tat ihr unsäglich wohl, und es verstrichen nicht mehr acht Tage, so lief die Sockenfabrik, wie nie zuvor eine Garnhechlete. Es war einfach wundervoll, wie sich alles anließ. Frau Bertas Herz quoll in einem Brief an ihren Wachtmeister über, und die Antwort brachte neue Genugtuung, denn dem Vater war ein Hoffnungsstern aus dem orthographisch höchst anfechtbaren Brief seiner Gattin aufgegangen. Es kam am Ende doch noch alles gut.
[525]O ja, es kam gut, viel tausenomal besser, als die Saarbühler ahnten. Als nach drei Wochen der Wachtmeister heimkehrte, konnte ihm Frau Berta schon einen ganzen Korb voll Socken zeigen. Und nun kam gar noch Bericht von Hans, daß er über den Sonntag Urlaub erhalte und heimkommen werde. Potz Tüüfeli!Jetzt galt's. Flugs ging eine Einladung in die Glungge für Vater, Mutter und Tochter. Man wartete nicht den Samstag ab, um überall in Haus und Hof Ordnung zu schaffen. Vom Wohnzimmer bis zum Schweinestall wurde alles herausgeputzt. Die Kühe schauten sich um und begriffen gar nicht, warum man ihnen den Wedel in einen Eimer tauchte und ausdrückte.
Der Samstag kam, und es war, als wollte die liebe goldene Herbstsonne ihren Segen zum Feste spenden;denn sie hob mit zarten Händen die Köpflein der letzten Rosen, Dahlien und Sonnenblumen und küußte sie mit Inbrunst. Ja, Frau Berta durfte alles, alles sehen lassen.Einladender und heimeliger als heute hatte das Saarbühl noch nie ausgesehen. Die Braut durfte einziehen.
Voll freudiger Ungeduld eilte Mutter Tellenbach gegen Abend noch einmal in den Walpersboden, zu sehen, ob nicht im Kramladen noch besserer Kaffee zu haben wäre. Eigentlich bewog sie zu diesem Gang mehr der Freudenzappel, den sie in den Beinen hatte, als der Bedarf nach Kaffee.
Ein Feierabend von unvergleichlicher Pracht lag im Tale. Alles schwamm in weichem goldenem Duft,[326] und die Menschen kamen frohgemut vom Felde heim.Frau Berta achtete zwar in ihrer Gedankenfülle kaum der Leute, die ihr einen freundlichen Abendgruß boten;aber als sie ins Dorf einbiegen wollte, kamen zwei ihr wohlvertraute Gestalten, vom Abendfrieden umleuchtet,aus der Gegend der Dornhalde. Hand in Hand, wie arglose Kinder, schritten sie daher. Er trug den Waffenrock der Füsiliere, sie eine ganz einfache bäurische Tracht mit einem seidenen Halstüchlein und ohne Göllerketten.Statt eines Hutes trug sie auf duftigem krausem Blondhaar eine Krone von Sonnengold.
Frau Berta wirbelten die Sinne. Ihr war, als müßte sie am nächsten Zaune Halt suchen. Mit lachenden Augen im braungebrannten Gesicht schritt der Füsilier Hans Tellenbach auf die Mutter zu. Er führte Züseli heran und sagte: „Guten Abend, Mutter, seht, was ich euch heimbringe! Es ist die, welche mir Ehre und Glück gerettet hat. Jetzt sind wir eins geworden für Lebenszeit und kommen, um deinen und des Vaters Segen zu erbitten.“
Schüchtern blickte Züseli aus ihren treuherzig grauen Augen auf, und alsobald füllten sich ihre langen Wimpern mit Tränen; denn in der Mutter Gesicht las sie nichts als zornige Enttäuschung. Und als die Bäuerin tein Wort über ihre bläulichen Lippen brachte, lehnte Züseli ihr weinendes Antlitz an Hansens Brust und sagte: „Laß mich! Laß mich gehn! Ich hab's ja gewußt,es ist ihnen 3'wider.“
[327]„Nein,“ sagte Hans, „dich laß ich nicht mehr von mir. Und noch eh' wir daheim sind, wirst du niemandem mehr z3'wider sein.“
Halblaut entwischte es jetzt der Mutter: „J mueß ga hocke.“ Sie ging über die Straße und lehnte sich gegen den Zaun. Da ließ sie in heilloser Verwirrung ihre Blicke hin und her schweifen, betrachtete dann lange mit gekniffenen Augen die beiden jungen Teute und fragte endlich den Sohn: „Ist's dir ernst?“
„Ja, Mutter,“ erwiderte Hans. „Es ist mir heiliger Ernst. Und keine Gewalt mehr bringt uns wieder auseinander.“
So geht heim und sagt's dem Vater, ich komme dann nach.“ Damit schritt sie dem Kramladen zu, nicht um zu kaufen, sondern nur um wieder zu sich zu kommen.Was jetzt machen? Was jetzt machen? So tönte es mit der unerschöpflichen Einsilbigkeit eines Sägewerks in ihren Ohren. Die zwei auseinanderzusprengen war unmöglich, das hatte Mutter Tellenbach eingesehen.Sie hätte es überhaupt niemals über sich gebracht,einen störenden Eingriff in ihres Sohnes Glück zu wagen. Schmerzlich war die Entdeckung, daß ihrer beider Begriffe von einer glücklichen Zukunft so weit nebeneinander vorbeigingen; aber daran war nun offenbar nichts zu ändern. Frau Berta zürnte ihrem Sohn in aller Mutterliebe, weil er in seiner Wahl entschieden vernünftiger gewesen als sie. Hatte sie nicht von jeher Marlisi um ihr Meitschi beneidet, weil es so ankehrig,[]3*57*
338 so lieb und bescheiden war? Niemals hatte sie sich das eingestehen wollen; aber bewußt war es ihr doch immer gewesen, und heute war ihr das klarer als je zuvor.Aein, es gab keinen Ausweg mehr. Nur durch Nachgeben konnte sie sich die kommenden Tage erträglich machen. Wenn sie abwog zwischen den Freuden, welche ihr das Einlenken bescheren konnte, und dem Kolder,der durch ihren Widerstand ins Haus gelockt würde,so gab es kein langes Besinnen mehr; denn Frau Berta gehörte zu den Teuten, denen ein bißchen Frohsinn unentbehrliche Nahrung ist.
Aber was nun anfangen mit Glunggenmüllers? Es darauf ankommen lassen und tun, als hätte man uberhaupt keinen andern Gedanten gehabt als Niodle und Voresse ? Müllers merkten's ja doch. Ihnen etwas vorlügen, weshalb man sie nicht empfangen tkönne? Frau Berta beschloß, sich dem Rat ihres Mannes anzuvertrauen und machte sich, nachdem sie etwas Kaffee gekauft, auf den Heimweg.
Inzwischen hatte Fritz Cellenbach, als er des Brautpaares ansichtig geworden, sich in sein Bureau zurückgezogen. Eigentlich befahl ihm sein Herz, den Beiden mit offenen Armen entgegenzugehen. Aber der Gedanke an die Heimtehr seiner Frau weckte in ihm das Bedürfnis nach Überlegung. So ließ er seinem Sohne durch Berteli sagen, sie sollten nur in die Stube gehen,der Vater sei durch Geschäfte aufgehalten. Das Bureau hatte ein Fenster nach dem Walpersboden hinaus und [32] beherrschte die Straße dorthin. Es währte nicht allzu lange, so sah Fritz seine Gattin ihre Sorgenbürde herauftragen. Er ging ihr entgegen, holte sie ins Stöckli,und nun konnten sie sich gegenseitig das Herz leeren.Bald waren sie einig, der Braut ihres Sohnes einen freundlichen Empfang zu bereiten. Zu des Bühlbauers Erstaunen hatte Frau Berta den Vorschlag dazu gemacht. Aber nun Glunggenmüllers!
„Was machen?“ seufzte Frau Tellenbach.
Nach einigem Besinnen sagte Fritz kurz und trocken:„Nichts. Nichts wollen wir machen. Wir lassen sie einfach kommen.“
„Aber und dann?“
„Und dann! Es gibt weiter nichts zu machen. Hans bringt heute abend Züseli auf die Brach und geht morgen auch hinauf.“
Der Vorschlag war sehr einfach und lauter; aber er preßte der Mutter einen schweren Seufzer aus. Daß nun Marlisi als erste das Brautpaar bei sich haben sollte, einen ganzen Cag, das war doch etwas viel verlangt.
Noch saßen sie beide ratlos da, als das Berteli gelaufen kam und berichtete, es habe ein Mädchen aus de Glunggenmühle Bescheid gebracht, die Müllersleute ließen gar herzlich danken, aber morgen könnten sie nicht kommen, der Müller müsse in Geschäften fort.
Frau Berta gab zwar keinen Laut von sich. Das Berteli brauchte nicht zu wissen, wie ihr zumute war.
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Aber ihr Gesicht hatte etwas geradezu Verzücktes, und den stämmigen Bühlbauer schüttelte ein verhaltenes Lachen.
In froher Einigkeit gingen nun die Eltern hinüber ins Haus, wo ihrer das Brautpaar mit Bangen wartete.Als Vater Tellenbach seinen Sohn wiedersah, kam ein sonderbares Gefühl über ihn. Es war ihm, als dürfte er den Jungen doch nicht so ganz ungestraft durchlassen. Eigentlich gehörte ihm noch ein ganz kräftiger väterlicher Verweis. Hans las das deutlich in des Vaters Blicken, und seine eigenen Augen antworteten:„Du, Vater, laß gut sein! Stüpf mir nicht mit groben Schuhen an mein junges Glück!“ Jeder verstand des andern Blick, und es blieb bei Blicken, bei feuchten,brennenden; denn keiner fühlte Tust, das wie vom Himmel gefallene Glück anzurühren.
Züseli begriff rein nichts an der Wandlung, die sich in ihrer künftigen Schwiegermutter innert einer Stunde vollzogen hatte. Sie war eitel Güte und Freunolichtkeit,und als dann am Sonntag Züseli mit ihrer Mutter und dem Stiefvater von der Brach herunterkam und sich an den für die stolze Glunggenmüllerstochter bestimmten Platz setzen durfte, da wurde ihnen allen wohl ums Herz. Kein Mensch hätte geahnt, wieviel Überwindung dieses friedliche Beisammensein gekostet. Gerade um den Hals gefallen waren sich ja Frau Berta und Marlisi nicht; aber jede hatte ihren Grund, sich stillvergnügt in den Hausfrieden zu schicken.[] 52
Warum Glunggenmüllers nicht gekommen waren?Das vernahm niemand; aber sie ahnten es im Saarbühl. Des Käsers Geschwätz hatte seine Wirkung getan.Die Müllersleute hatten LTunte gerochen, da sie vernahmen, daß auf selbigen Sonntag viele Teute des Hahnenberger Bataillons beurlaubt worden seien.
Unter andern Verhältnissen hätte die Absage Frau Berta zu Code gekränkt. Das war ihr bewußt, und darum schloß sie das liebe, stille Bräutchen ihres Sohnes um so tiefer ins Herz. Keines redete davon; aber alle priesen in ihren Herzen Gott für die Wiederkehr des alten guten Geistes, der in Züseli aufs neue verkörpert schien. Es ging sehr still zu, fast feierlich, als Frau Berta die reichen Schätze ihrer Küche auftrug. Jedes fühlte dem andern ab, daß es mit seinen Gedanken in vergangenen Tagen weilte. Durch harte Prüfung und Buße waren sie alle gegangen, und das forderte von einem jeglichen Gliede der Familie Achtung für sein Nächstes. Jedes wußte vom andern, was die Heimkehr zum alten Frieden es gekostet hatte. Des seligen BühlChristen Andenken saß wieder wie ein guter Hausgeist am Herde des Saarbühls. Und aus diesem Frieden sproß in allen eine neue, geheiligte Schaffensfreude. Immer wieder betrachtete Fritz mit stillem Behagen seinen jungen Füsilier. Er wußte, aus ihm wurde doch noch ein rechter Mann durch die Gefährtin, die er sich erkoren. Jetzt lohnte es sich wieder, das väterliche Erbe zu pflegen und auszubauen.
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Einstweilen freilich mußte Hans wieder zur Fahne.Aber im Frühjahr sollte Hochzeit sein, Hochzeit und Husrsöule auf der Strubenweid. Ein paar Jahre mochte dann das junge Paar sein Hauswesen in Rotenbalm führen, auf der Säge, und wenn einst die Eltern müde wurden, sollten die Jungen auf den väterlichen Hof zurückkehren.
Ein langer und banger Winter war verstrichen.Hart hatten die Alten mit den Jüngsten arbeiten müssen, denn immerwährend bedurfte es zu des Landes Beschirmung der besten Manneskräfte. Und die Anfuhr des Baumaterials ging langsam vonstatten, weil nur zweispännig gefahren werden konnte. Aber nun verkündete doch endlich der hochragende Walmgiebel eines behäbigen Bauernhauses auf der Strubenweiod,was die Eintracht unter Brüdern vermag.
Glanzvoll und lieblich war der Maientag, an welchem die Glocken von Rotenbalm über die mit Töwenzahn vergoldeten Wiesen hin verkündeten, daß zwei in Trübsal geläuterte und doch noch junge, schaffensfreudige Menschenkinder zur Wallfahrt nach ewigem Ziele die Hand sich reichten. Es war, als rissen Engel die Wolten auseinander und sängen, des Himmels unergründliche Bläue enthüllend, ein Lied von der grenzenlosen Treue Gottes.
[353]Warmer Sonnenschein ruhte auf der kleinen, andächtigen Festgemeinde, während auf der Empore Tehrer Zybach seiner liebsten Schülerin mit herzinniger Freude Händels Targo geigte. Die Frau Tehrgotte begleitete ihn auf der Orgel mit mehr Tiebe als Kunst, und GyrgadeGläises Jüngster zog die Blasbälge. Ja, so war's ein klein Stücklein Himmel auf Erden.
Dann zogen sie andachtvoll bergan, der Strubenweid zu. Voran schritt das Brautpaar, Hand in Hand. Der warme Maienwind spielte übermütig mit der seidenen Schürze der Braut und hinten im Zug mit den langen,schwarzen Rockschößen des Pfarrers Zingel. Wie war da Christian seltsam zumute, als sie aus dem Walde traten und ein riesiges, rotleuchtendes Ziegeldach ihn einlud in sein neues Heim, unter dem schon seine lieben Tiere vergnügt ihr Gras aus den Rafen rupften!Cauben und Stuben waren mit Maien geschmückt, und der Duft herrlicher Speisen wehte lockend aus Türen und Fenstern.
Frau Marlisi war vorausgeeilt und hatte bereits wieder die Zügel ergriffen. Mit solcher Tust hatte sie in ihrem Leben noch nie angerichtet, und doch waren ihre Haare schon grau, die Arme hager geworden. Von neuem konnte Pfarrer Zingel im Stillen das emsige Schalten und Walten dieser Hausfrau bewundern, die so tüchtig ihres Amtes waltete, sobald sie im Schirm des Hausfriedens sich selbst überlassen war.
Eine großtuerische Hochzeit war es nicht; aber man [3074]30
21 hatte doch die Freunde zu Cisch geladen, welche an der Wiederherstellung des häuslichen Glückes mitgewirkt hatten. Neben dem Pfarrer saß Vater Friedli,zwischen dem Ehepaar Zybach der Nachbar Engel von der Schniggenen. Die übermütige Jugend bildete eine zweite Cischete.
Während des Essens selbst ging es recht still zu.Erst als Mutter Marlisi den Kaffee auftrug, und die Kinder ins Freie hinausgestürmt waren, entspann sich ein allgemeines Gespräch. Nun machte sich der Pfarrer an den Bräutigam heran und fragte: „Und jetzt, Hans,wie ist's Euch, nachdem ihr wieder festen Boden unter den Füßen habt?“
„Ihr habt das rechte Wort getroffen, Herr Pfarrer,“antwortete Hans. „Mir ist heute wie einem, der von braven Menschen aus einem Schiffbruch ans Tand gezogen worden ist.“ Dabei schlang Hans seinen Arm um Züseli und zog sie an sich. „Ja, Herr Pfarrer,das ist eine Lebenserfahrung, die ich um großen Reichtum nicht dran gäbe. Und ihr mögt's wissen: Ein junger Pfarrer trägt die Hauptschuld an meiner Verirrung. Damals war er noch Student. In der Rekrutenschule haben wir viel zusammengehalten. Da hat er uns auseinandergesetzt, daß Krieg und Militär ein Übel seien und nicht einmal ein notwendiges. Wenn die Menschen endlich einmal sich aufraffen wollten,um mit Gottes Wort Ernst zu machen, so könnten sie dieses Joch abschütteln. Niemand habe das Recht, sie [] “9
54zu diesem Mordhandwerk zu zwingen. Wenn man nur einmal den Mut hätte, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Bibelstellen hat er haufenweise zum Beweis angeführt. Zuletzt haben wir alle gefunden,er habe recht.
Genug, mit diesen Gedanken bin ich aus meinem ersten Dienst heimgekommen. Und daheim, das heißt unter den Kameraden im Kostlöffel, haben wir manchmal noch darüber disputiert. Unser einige haben sich das Wort gegeben, wenn's einmal ernst werden sollte,so wollten wir den Eid verweigern. Dabei hat natürlich keiner gedacht, daß wir's je erleben würden. Auf einmal aber war's da. Von meinen Kameraden hat wohl keiner mehr an das Versprechen gedacht. Sie haben alle geschworen. Was ich aber in jenen Tagen durchgemacht, davon macht sich niemand einen Begriff.Ich bin mit dem festen Vorsatz eingerückt: du schwörst nicht. Hätte ich gewußt, wie das kommt! Immer und immer wieder habe ich darüber nachgegrübelt, was alles eigentlich geschworen werden müsse, und bin nimmer damit fertig geworden. Und nun kam der Tag.Mit klingendem Spiele sind wir ausgerückt aufs Beundenfeld, alles in heiligem Eifer und mit Begeisterung.Die ganze LTuft war voll davon und die Menschen schienen auf einmal alle ganz anders zu sein. Und mir selbst war's so wunderlich zu Mut. Mir war, als müßte ich sagen: Nun wohl, jetzt ist's endlich einmal ernst, man weiß,wofür man ausgzieht. Jetzt ist's keine plaghafte Spielerei [336] mehr. Aber nun war dieses Versprechen da und mein Widerwille. Ich kam mir vor wie ein Stein im Saatgut. Zu Tausenden strömten sie von allen Seiten her,und Bataillon um Bataillon marschierte auf, mehr als die halbe Division. Und wie sie nun vorritten, die Obersten, und kommandiert wurde: „Kopfbedeckung und Gewehr in die linke Hand!“ und alle die Tausende ihr Haupt entblößten und der Verlesung des Schwures andächtig zuhörten, Herr, du mein Gott!War das ein Augenblick! Alle, alle wollten Leben und Gut einsetzen. Vorne flatterten die Fahnen. Sie flackerten und brannten wie Feuer, und aller Herzen brannten in diesem Feuer. Jetzt huben sie die Hand zum Schwur, allen voran auf seinem stattlichen Roß der Divisionär, vom Kopf zu Fuß ein Edelmann voll leuchtender Begeisterung, und aus vielen tausend Kehlen brauste die einmütige Antwort: „Ich schwöre es“.
Ich begreife heute nicht mehr, wie ich damals widerstehen konnte. Fast zerrissen hat's mich. Zuerst schien mir, es habe es niemand beachtet. Aber auf dem Marsch in den Jura habe ich's dann gemerkt. Sie wichen mir aus, betrachteten mich mißtrauisch. Es wurde über mich geredet und geflüstert, und endlich fragte mich eines Abends im Quartier der Korporal:„Ist's wahr, daß Ihr nicht geschworen habt, Tellenbach? Ja,'‘ sagte ich Warum? Das ist meine Sache.“ Dann muß ich Rapport machen,“sagte der Korporal. Ich aber habe den Rapport nicht
[527]abgewartet. Den Kopf verloren habe ich und bin in der Nacht davongelaufen. Was weiter gegangen ist,wißt ihr schon, Herr Pfarrer.“
„Ei, nun,“ sagte Pfarrer Zingel, daß ihr es mit der Frage der Eidespflicht so ernst genommen habt,gereicht Euch nicht zur Unehre. Mancher schwört eben ohne Überlegung. Und wenn man sieht, wie es jetzt draußen in der Welt geht, so darf man sich schon fragen, ob es denn eigentlich Gottes Wille sei, daß wir uns eidlich verpflichten zum Kriegsdienst. Evangelisch ist es jedenfalls nicht. Die Hauptsache ist schließlich nicht, daß wir ein Vaterland haben, sondern daß wir endlich Menschen werden.“
„Herr Pfarrer, Herr Pfarrer!“ protestierte nun Fritz Tellenbach. „Da bin ich nicht Eurer Meinung. Das Menschseinwollen ich weiß schon, wie ihr's versteht hat uns diesen Krieg nicht erspart. Wenn aber jedes Volk sein Vaterland schätzte, wie es sich gebührt, so achtete es auch des andern Vaterland, und man wüßte nichts von Krieg und Kriegsgeschrei.“
Der Pfarrer war etwas verlegen ob des Großrats energischem Einspruch. „Es kommt eben örauf an,was man darunter versteht,“ wollte er sich ausreden.Aber der Bühlbauer unterbrach ihn wiederum: „Ein Vaterland haben heißt meines Erachtens: ungestört für das Wohl seines Volkes arbeiten können.“
„Wenn man's so versteht,“ sagte der Pfarrer, „so hat man wohl ein Recht, sein Vaterland gegen fremvon Tavel, Die heilige Flamme 22 [338] den Einfall zu verteidigen; aber eigentlich ist es doch Gottes Wille, daß alle Völker in einem Vaterland sich finden.“
„Halt!“ wandte nun Friedli ein. „So weit sind wir noch nicht. Das ist freilich unsere Hoffnung. Aber Gott weiß, warum er Völker werden ließ und warum er jedem sein besonderes Stück Erde zu bauen gab. Hãätten sie's nicht zu eitlem Gewinn und Genuß mißbraucht,so müßten sie heute nicht ihr Blut dafür fließen lassen.Wer sein Leben im Frieden hingibt, wehrt dem Kriege.“
So disputierten sie noch eine Weile, bis der Pfarrer wieder zu einer Rede ausholte. „Mag dem sein, wie es will,“ sagte er, „wir wollen Gott danken, daß er uns ein Wunder erleben ließ. Unser lieber junger Ehemann hat uns erzählt von dem eidgenössischen Banner,das ihm wie ein Feuer vorgekommen sei. Ja, meine Lieben, es ist ein Feuer, eine heilige Flamme. Vor Jahresfrist hat sie unser Volk ergriffen. Sie hat auch uns alle ergriffen und uns den selbstsüchtigen Hader vergessen gelehrt. Darob habt Ihr untereinander den herrlichen Frieden und die alte Liebe wieder gefunden.Dies Haus, das wir heute geweiht, soll von Geschlecht zu Geschlecht ein Zeugnis sein von dem, was die heilige Flamme der Vaterlandsliebe unter uns geschaffen hat, bis einst das Feuer der Gottesliebe alle Völker der Erde ergreift und .....“
In diesem Augenblick kamen die Buben hereingestürzt:
„Vater! Vater! Man hört sie schießen im Jura.“
[4]Alle erhoben sich und folgten den Kindern bis hinaus an den Rand des steilen Abhangs gegen den Walpersboden. Da standen sie lange, ergriffen von der Herrlichkeit des grünen Tales, das sich zu ihren Füßen ausbreitete. Manchen Bauer sah man da hinter Pflug oder Egge seinen Hoffnungen nachgehen. Behäbig und traulich lagen Dörfer und Höfe in den weiß blühenden Baumgärten. Wohlverwahrt zwischen den ererbten festen Dämmen rauschten die glitzernden Wogen des Rotwassers, und drüben, im Aaretal, sah man winzig klein einen Eisenbahnzug dahineilen, den Menschen Gewinn und Genuß vermittelnd. Ja, Gewinn und Genuß ..... Und wer feine Ohren hatte, der hörte aus der blauen Ferne leise, leise und doch gräßlich anzuhören, Schlachtendonner. Da glühten von neuem ihre Herzen auf in einem heiligen Feuer, und ihre Augen verrieten die Flamme, als sie schweigsam dem Hause zuschritten und sich Lebewohl sagten, um an ihre Arbeit zurückzukehren.
Ende.
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- TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Die heilige Flamme. Eine Erzählung aus dem Bernerland: ELTeC Ausgabe. Die heilige Flamme. Eine Erzählung aus dem Bernerland: ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-475B-C