[]Erstes Buch [] >Der zweiundzwanzigste November des Jahres 1830 begann über Zürich zu grauen, als zwischen den klohigen Quadern der Kronenporte das wellergraue Eichenbohlentor aufknarrkte und daraus ein schlan-ker Mann hervorschritt, der den handfesten Regen-schirm wie ein Gewehr schulterte. Er trug einen mausfarbenen halbhohen Zylinderhut mit aufgeschweiften Seitenrändern, dunkelblauen, in die duß ten merklich Ange zuuntenen langschößigen Rock,graue, enge Beinkleider und über den blankgewichsten Schuhen sandgelbe, von zierlichen Stahlkeltchen estgehaßeite Gamaschen. Um den hohen Hemdenragen war sorgfältig eine breite, blaßblaue Binde geschlungen, und zwar so, daß, wie die Mode verlangte, nichts mehr von ihm siptege blieb. An der goldenen Uhrkette hing ein Petschaft, aus dessen rotem Stein das Familienwappen blickte, das auch der Siegelring der wohlgepfleglen, weißen Hand zeigke, nämlich zwei stehende Rüden an einer Kette.
Der junge Mann war Johann Kaspar Blunt-R der nach längerer Abwesenheit als wohlbetallter Doktor beider Rechte mit dem ersten Lenz-laub dieses Jahres aus der Fremde in die Vaterstadt heimgekehrt war, wo ihm bereits die Kunde seines rühmlich bestandenen Examens Quarkier gemacht hakte und wo er bald die Augen seiner Mitbürger auf sich lenkte, wie vorher draußen auf deut-schen Hochschulen diejenigen eines Savigny und Niebuhr. Schon bekleidete er Amt und Würden,die indessen ihm und andern lediglich als Staffeln zu höhern, ja zu leitender Stelle erschienen. Der
J
Frey, Bernhard Hirzel []Gedanke kauchte auf, es möchte ihm beschieden sein,dem seit über vier Jahrhunderten ins Bürgerrecht aufgenommenen, doch geraume Zeit etwas zurück-gekretenen Geschlecht der Blunkschli neuen Glanz und Namen zu gewinnen. Bereits hatte er auch durch ein geistvolles und bei allem Maßhalten ent-schiedenes Schriftchen versucht, den Verfassungs-wirren und Umstürzen vorzubeugen, die den Kankon Zürich bedrohten, oder ihnen doch die Schärfe zu nehmen.
Jetzt schritt er von der Kronenporke weg bis ans Ende der niedrigen, begrasten Schanze, wo sich das Sträßchen ins Freie und landauswärts wandͤte, unweit der Südecke des heultigen Polytechnikums.Dann kehrte er um und ging die Strecke ein paar-mal hin und zurück, indem er zuweilen auf die Uhr blickke. Ungeduldig geworden, denn alles Unpünkt-liche und Unzuverlässige widerle ihn in der Seele an, kat er einige Schrilke durch die offene Porte,um das Halseisen hinunterzuspähen, wie der aus * Stadk den Hang hinanführende Weg damals ieß.
Da hörtke er eilige Schritte bergan und sah auch gleich den Erwarketen, seinen Freund Bernhard Hirzel, im schwarzen Habit wie einen Schatken der Unkerwelt emporrudern durch den Vebei, der sich hier oben zu lockern begann, während er See und Stadt noch dicht überwob.
Ich komme, ich komme“, keuchte der Hastende,der den Harrenden durch den fahrenden und zerfahrenden Silberduft erblickt halle, und schwenkie seinen Hut. Oben angelangt, holte er ein wenig Alem und bat dann:
‚Gelt, Chäppi, du bit mir nicht böse? weißt, ich mußte gestern die Zunft; es ging einmal nicht anders. Valürlich geriet man vn Polilisieren,und du kannst dir denken, daß alles bis ins Kleinste wütig erlesen und erkernt und ein gräulicher Blast []gemacht wurde. Es gab roke Köpfe, und vom Löschen mit Rotem und Weißem wurden sie noch röter. Als ich schließlich heimkam und einschlafen wollte, polterte der Vater, schwer geladen, wie immer, durchs Haus herauf und fluchte und wekterte,daß die Wände erzitkterten. Und “
Er hielt inne und seufzte.
Eh“, beruhigte ihn Bluntschli, dessen blaugraue Augen wieder ihr freundliches Licht gewonnen hatten, vergiß das jetzt! Es langt schon noch. Wir kommen immer noch zeitig zu der famofen Komödie!“
Wie sie, aus der obern Kronenporte herausgetreten, auf dem hölzernen Steg schritten, der den Wallgraben überspannte, fuhr sich Bluntschli unwillkürlich über die glattrasierte Wange, als er wahrnahm, daß die seines Freundes gestern, geschweige diesen Morgen, noch kein Schermesser berührt hatte. Auch bemerkte er gleichzeitig, daß über das schwarze Gewand, das den Unbilden schon mehr als einer Jahreszeit getrotzt, heute wenigstens keine Bürste gekommen sei.
Sag', forschte er, wo hast du eigentlich deine Kravatte? Du wirst doch in einem solchen Aufzug nicht an dem herrlichen Volkstag paradieren wollen?Die Bauern und Wohlfahrksbrüder vom Lande erklären das als Mißachtung der geheiligten Majestät des Volkes und ewe unveräußerlichen Rechte und sind imstande, dich halbtot zu schlagen. Oder beabsichtigst du, mit deiner Kravattenlosigkeit einen radikalen Eindruck zu erzielen und dir bei den Häuptlingen der neuen Ara einen Stein ins Breltk zu sehen?
Hirzel fuhr in die Tasche und brachte eine zerknüllte und zusammengewurstete schwarze Halsdege nnVorschem. Triumphierenö schwang er sie in der Luft.
Ich hatte keine Zeit mehr“, entschuldigte er,[]blieb stehen, nahm seinen Stock zwischen die Beine und begann das dunkle Geflatter hastig und unge-schickt umzuknüpfen, sodaß es Blunltschli einen Stich gab in sein ordentliches Herz.
Da“, herrschte er ihn an und überreichte ihm seinen Regenschirm. Das will ich besorgen!“
Mit einem Griff zerstörke er das unzureichende Gebilde Hirzels, zog die Halsbinde herunter und glättetle sie erst auf seinem Oberschenkel, indem er das Bein gegen einen Grasbüschel der Schanzmauer stemmte. Dann formten seine geschickten und sin ken Finger ein untadeliges Kunstwerk um den Hals seines Freundes, der mik weit zurückgelegtem Kopfe bocksteif dastand, seinen Stock in der einen Hand,in der andern den Schirm e
Vach einigen Schritten bemerkte dieser:
‚Du hast nur einen Stecken mitgenommen? Ich denüe, der Nebel, der jetzt in die Höhe steigt, könnte heute wieder herunkterkommen.“
Ja, ja“, entgegnete Hirzel. Ich habe eben ergriffen, was just zur Hand war, und an weiter nichts gedacht. Es ist eine alte Geschichte und wird auch nie anders: ich bin eben nicht so überlegt und über-denkt wie du.“
Sie bogen beim nahen Schanzenende rechts ab und steuerten der Außengemeinde Fluntern zu,wanderten an dem Kirchlein vorbei und erreichten bald den Waldrand oben am Zürichberg. Hier mach-ten sie Halt und nahmen die Hüte ab, um sich den fühlbaren Hauch an die Stirne wehen zu lassen. Dem vorgerückten Jahr zum Trotz war es warm, beinahe schwül. Denn der Föhn regierte im Land. Tiefblau strahlle der Himmel, die Zte standen frei, an ihren Füßen ebbten die Nebel zurück. Golden und purpurn brannten die Buchenwälder der Albiskette,von violettblauem Duft übergossen. Handgreiflich trat jeder Buckel und jede Brüstung der Gebirgs-wand heraus, und die grauen Felsenschilde der []Falätsche warfen einen bleiernen Schein. Zuweilen gn ein Stücklein Seeflut für einen Augenblick erauf. Auch die Stadt begann sich losnchteiern.Zwar der Rebel überbordete immer wieder ihre Bastionen, die Ziegelkappen der Ringmauern und das Gassengewinkel, sodaß es allenthalben um Schanzen und Dächer dampfte, als ob tausend schwere Feldstücke im Feuer rauchten. Aber die stattlichen Kirchtürme focht das Treiben nur wenig mehr an. Das Paar des Großmünsters beschaute würdig und raltsherrnmäßig limmatüber den schlan-ken Fraumünsterturm, der, soeben mit einer gorg mernden Wandernebelschleppe angetan, zierlich und kokett die Blicke der beiden erwiderte, während der philisterhafte Sankt Peter sich den Vorgang sauer-töpfisch besah und das rote Dachreiterchen vom Prediger schelmisch herüberblinzelte.
Blunlschli und Hirzel rüsteten zum Aufbruch, als hinter ihnen auf dem nämlichen Weg, den sie gee ein Trupp von ungefähr dreißzig Männern auftauchte.
Die wollen auch nach Uster“, sagte Blunlschli.Komm, wir drücken uns ein bischen auf die Seite!Sonst schleppen sie uns mit und asen uns nicht meht los, bis sie uns Volksrecht und Freiheit mit Kübeln eingetränkt haben.“
Die Ankömmlinge, alle im bäuerlichen Sonn-tagsstaat, behieltlen nach überwundener Wegstei-gns den langsamen Schrikt noch eine Weile bei.ann beschleunigten si ihn und griffen wacker aus,ohne dem Schauspiel in der Tiefe einen Blick zu gönnen. Sie stimmten, in der Weise Hans Georg Nägelis, das beliebte Lied an:Goldne Abendsonne,Wie bist du so schön!Nie kann ohne Wonne Deinen Glanz ich sehn.[]Sie sangen kräftig alle Strophen durch, daß es ge Wäldern des Zürichberges schallle und wider-allte.
Eben drangen zwischen einem Geschwaderchen lhier Wölkchen die ersten WMorgensonnenstrahlen urch.
Vachdem die Schaar hinker einer Wegbiegung verschwunden war, schriktkten die Freunde wieder tüchtig fürbaß, bald an rokkronigen Buchenbeständen vorbei, bald an Tannenschlägen, bald an Flächen von struppigem Unterholz, aus dem gewaltige Eichen in weitem Abstand aufragten. Zuweilen hängte eine Birke ihre goldenen Teppiche über ihren Silberstangen aus, oder ein Sträuch prangte im reifweißen UÜberwurf der abgeblühten Waldrebe. An begrasten Wegrändern und drinnen im Waldraum lachten graue und farbige Pilze. Denn noch war kein Reif ins Land gefallen, der dieser Herrlichkeit ein Ende gemacht halte.
Auf einmal kat sich der Wald auf, und die Wanderer blickten in ein begrenztes Tal, dessen sanft absinkende Hänge diesseits bunte und grüne Büsche hedeckten, drüben aber leichtansteigende Wiesen,die der langgestreckte, gerade Rand eines Tannen waldes krönte. Die blasse Sonne beschien die rötlichen Stämme, hinker denen es sehnsuhtig blau hervordämmerte. Darüberhin winkke ein fernblauer Bergzug. Wie weiße Blüten glänzten auf ihm da und dort ein Kirchlein oder ein Haus auf.
Wie still und friedlich ist es doch hier!“ esge Hirzel. Er blieb stehen und heflete die dunkeln Augen auf, die Gegend. Hier möchte man waohrlich Hütten bauen! Weißt du was? Wir laser den langweiligen Volkstag laufen und bleiben hier ein paar Stunden für uns allein! So nett bekommen wirs lang nicht mehr.“
Das könnlke mir fehlen! Ich bin so früh aufgestanden, um den radikalen Bären in seiner Höhle 5 []aufzusuchen, und du auch. Also vorwärtks!“ ermahnte Bluntschli.
O du Linealkreatur!“ seufzte Hirzel.
O du Zickzackmensch!“ replizierte Bluntschli lachend.
Hirzel warf noch einmal einen Blick auf das Tälchen:
Wie anders als in dem verwünschten Nest Zürich wo die Menschen ihre Vasen zu nichts anderm brauchen, als sie in die Töpfe ihrer Vachbarn zu stecken, und mit den Zungen nichts Gescheiteres anzufangen wissen, als am Kleide der größten Hure zu flicken, nämlich der öffentlichen Meinung.“
Wirklich ein scharmantes und höchst geziemen-des Wort aus dem Munde eines verbi divini Magister', bemerkte Bluntschli, halb belustigt, halb verweisend.
So? bin ich etwa der Erste oder der Einzige,der zu dieser Ansicht gelangt ist? Hast du vielleicht noch nie gehört, was für gepfefferte Episteln der Mäler Füeßli über seine Vaterftadt und deren wohlehrsame Bewohner zu Papier gebracht und nach Zürich geschickt hat? Man hätte sie durch Henkershand verbrennen und den Schreiber stäupen lassen,wenn nicht mehr, sofern man darum gewußt. hätte!“
Auf den kannst du dich nicht berufen“, erwiderle Bluntschli. Der ist eine Nummer für sich, ein Genie und ein Füeßli dazu. Die zeighen von alters her, stechen in Kupfer, malen und lästern. Das letz-iere namentlich.“
Und Pestalozzi, den sie jetzt als einen Halbgott ausposaunen? Wie gings ihm daheim?“
Der gehört auch nicht unter die vollgültigen Zeugen. Er hat alle Welt erzogen, mag sein. Nur sich selber nicht.“
Und Salomon Geßner? Wäre er nicht in der Phinfterzwangsjacke und in den engen Pfahlbürgerfsefeln beinahe erwürgt, er hätte seine Jöyllen nicht []geschrieben und sich nicht in ein von keiner Obrig-keit behelligtes Arkadien geflüchtet.“
Wer hat dir das eingegeistet? Wenn je ein Zürcher sich wohl gefühlt hat in seiner Haut und Heimat, so war's der Sihlherr Salomon Geßner.
Dir ist wohl in deiner Haut und Heimalꝰ, entgegnete Hirzel eifrig. Du darfst deine schönen Gaben entwickeln! Dich braucht man, dich sucht man!Du bist wie ein Baum, gepflanzt an den Wasser-bächen! Dir läuft alles am Schnürchen! Du kannst triumphieren und psalmieren: mache den Raum deiner Hütten weit und breite aus die Teppiche deiner Wohnung! denn du wirst ausbrechen zur Rechten und zur Linken! Aber eben darum fühlst du den liefsten Kern Geßners nicht; darum empfindest du nicht Ungenügen und Heimweh, die auf dem Grunde aller jener Dichterfeelen ruhen, deren Schöpfungen aus dieser Welt wegstreben nach einem Reich und Bezirk, die nicht von dieser Welt sind.Mir aber, dem der Lebensfaden gleichsam auf eine Spuhle aufgedreht und aufgezwängt ist, mir ist das offenbar. Ich höre ihre geheimen Stimmen, ich vernehme ihre verborgenen Klagen, durch Lachen und Glück hindurch, das du und deinesgleichen qusschließlich gewahren. Erst im Verlauf der lehten Wochen lernte ich einen solchen Poeten kennen und versenkte mich in ihn. Aus den Banden und Schranken der Erde rettete er sich hinüber in den Bereich des Märchens. Aber alle Zarkheit, alle Tiefe der Leidenschaft, alle Schönheit raffle er mit sich in das Traumgebiet und ließ den Erkennenden dadurch ahnen, was ihm in der Wirklichkeit versagt war.Und eben darum ist er ein ganz Großer. Doch wovon rede ich? Wie die meiten andern kennst du vermutlich kaum mehr als den Vamen des Erlauchten,obgleich kein Geringerer als Goethe sein entzückendes Werk erhoben hat.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, blieb er stehen,
2 []streckte die Hand aus und krug begeistert das begeisterle Lob vor, das er sich eingeprägt, weil es ihm aus der eigenen Brust zu erklingen schien:Willst du die Blüte des frühen, die Früchte des spätern Jahres,Willst du, was reizt und entzückt, willst du, was sättigt und nährt,Willst du den Himmel, die Erde mit einem Namen begreifen,Nenn ich Sakuntala dich, und so ist alles gesagt.
Blunkschli ersah und ergriff den Anlaß, den Freund von jenen schmerzlichen Klagen über widrige Zustände und verwölkte Aspekte, die er schon so häufig vernommen, hinwegzubringen.
Ausgezeichnet!“ rief er. Ich gestehe meine schmähliche Unkenntknis. Man wird leider durch Akken und Sitzungen und weiß Gott, was alles,immer mehr vom Land des Schönen, der Dichltkunst zumal, abgeschnikken. Nun kommst du mir wie ein Götterboke und stopfst ein schänölich Loch meiner Unwissenheit zu. Was Hänschen Kaspar Blunlschli nicht lernte, das lernt jetzt der Hans Kaspar Agehrlich. Also leg los! aber ein bißchen ausgiebig!So haben wir köstliche Wegzehrung und Wegkür-zung.“
Und nun entfaltete Hirzel Indiens unvergäng-liche Lolosblume, indem sie an Waldrändern dahin-wanderten, wo das welke nordische Laub von den Bäumen rieselte und nur etwa das Gekreisch einer aufgescheuchten Elster zu vernehmen war. Er erzählte, wie die Liebe des Königs Dushyanta zur lieb-lichen Sakuntala erblüht und plötzlich erlischt, weil die Verwünschung des jähzornigen heiligen Büßers die holde Gestalt und Leidenschaft völlig aus seinem Gedächtnis lilgk, wie der Ring verloren geht, den Sakuntala vom Geliebten empfangen, der Ring, der
**[]allein das Geschehene und die frühern Gefühle wieder in ihm zu erwecken vermag, und wie der wieder Gefundene die lange Jahre Getrennten endlich wieder vereinigt.
Diese Fabel krug Hirzel seinem Freunde mit Fülle und Wärme vor, immer wieder sein Unvermögen bedauernd, das wellentrückte Wesen der Dichtung und die zarte Leidenschaft der feinen Seelen zu verdeutlichen und einen Begriff zu bieten von dem zauberkönigen Wunderbrunnen der jahrtausendalten Sanskritsprache.
Vachdem er den Gang der Geschehnisse gezeichnet, kehrte er zu einzelnen Szenen zurück, um Vernachzuholen und sie, namentlich durch Anführung besonders poetischer und eindrucksamer Stellen, nachbessernd anschaulicher zu machen als im ersten Wurf.
Dieses Beginnen war noch nicht weit gediehen,als rasche, schwere Schritte hinker ihnen her stapften. Bald halte sie der Gänger eingeholt, ein hoch-gewachsener, schmaler Mann, ungefähr ihres Alters,in schwarzem, abgetragenem Vock, dessen lange Schöße bei den eiligen, hurtigen, weitausholenden Schritten wie zwei dunkle Hunde hinker ihm hereilken. In dem unrasierten, sommersprossigen Geficht mit dem breiten, unverfrorenen Mund saß eine Hornbrille, die sich wie eine Schlange aus den halblangen, hinter die Ohren zurückgestrichenen Haaren hervorschob.
Er lüpfte den Hut ein wenig. Guten Tag den Herren!“ sagtke er. Ich müßte sehr fehl gehen, oder die Herren und ich haben den nämlichen Weg. Ich dench darum ein wenig anschließen, wenn's eraubt ist.“
Er wartete keine Zustimmung ab, sondern kramtke mit der roten, grobknochigen Hand eine zusammen.Foie Zeilung aus der Tasche und hierauf ein ackmesser. Dann nahm er den derben Knotenstock 10 []unter den linken Arm, öffnete das Papier, zog einen Wurstzipfel hervor und Geh und ihn samt einem Brokranft nicht ohne einiges Geräusch.Schließlich wischte er das Weser am Papier ab und schleuderte dieses in die Büsche.
Die Herren haben sich naktürlich einen gründ-lichen Kaffee zu Gemüte geführt, ehe sie aufbrachen“,nahm er das Wort. ‚Mir wurde es weniger gut. Ich hehte gestern den geschlagenen Tag im Dienst des Volkes und der Freiheit herum, so daß ich meine Beine nicht mehr spürtke, als ich in die Federn kam.Kein Wunder, wacht ich heut nicht früh genug auf!Ich mußle nüchtern auf und davon, wenn ich noch rechtzeilig in Uster eintreffen will. Erst unterwegs gelang es mir, ein Würstchen und ein paar Mund-voll Brot zu ergattern.“
Wieso sagk Ihr: im Dienste des Volkes und der Freiheit? fragte Blunkschli in der Absicht, dem unwillkommenen Begleiter eins aufzusalzen und ihn dadurch abzuschnüren.
Der Gefragte rümpfte unmerklich die NRase, weil man ihn mit JIhr anredete. Denn damals ihrzten die Herren bloß die Bauern und das Dienstgesinde.
WVon früh bis fast zum Torschluß vertrug ich in Wipkingen, Höngg, Alistetten, Schlieren, Dietikon und derenden die Einladungen zur heutigen Versammlung.“
Blunischli wurde aufmerksam, ließ sich aber nichts anmerken.
Nun, Sendbote der Freiheit, habt ihr alles an Mann gebracht? oder ist noch ein Müsterchen für uns übrig?“
Durch den, wie ihn bedünklte, spöllischen Ton geärgert, zauderte der Mann einen Augenblick. Dann kläubte'er ein Büschel likhographierter Blätler aus der Brusttasche und überreichte Bluntschli eins davon. Dieser überflog das wenig umfängliche Schriftstück und höhnte:
44 []Da haben wir die echten und gregien Freiheitshelden, die kapfern Verfechter der unantastbaren Volksrechte! Noch nüchtern schlachten sie am frühen Morgen einen Aristokraten, mittags baden sie sich im Blute eines städtischen Tyrannen und abends stürzen sie sich in die papierenen Speere ihrer Feinde trotz einem Winkelried! Aber wenn sie einen αJ zu einer Volkspersammlung unter-zeichnen sollen, dann fällt ihnen das Herz in die Hosen! Sie wagen ihren Namen nicht! Sie schreiden bloßß darunter: die Kommittierten! Dal*
Er schlug mit der flachen Hand verächtlich auf das Blätt und streckte es Hirzel hin.
Der Andre wurde rot vor Atger, faßtle sich in-dessen und wehrke sich kräftig:
Das Volk kennt die Männer schon, die es wohl mit ihm meinen. Es braucht keine Namen!“ Und er warf den Kopf in den Nacken.
„Das kenntnisreiche Volk!“ lachte Bluntschli.
Gereizt, fast heftig klang es zurück:ee ist die erste Tugend des wahren Republikaners. Ihm ist es um die Sache zu kun,nicht um die Person. Keiner kritt hervor. Alle mar schieren in gleicher Linie. Da heißt es: einer für alle und alle für einen!“
«Soll das die Meinung haben, daß der Richter gar keinen oder gleich einige Hundert am Kragen nimmt? Ihr wißt doch, daß es hier Arbeit für den Richter geben kann? Denn Euch wird bekannt sein,daß in wichligen Zeiten Versammlungen nur mii Erlaubnis des Oberamtmanns stattfinden dürfen?
Der Trumpf sticht nicht, Herr Doktor oder was Sie sind! Wir wissen ganz genau, daß die Regierung nichts wagt, daß sie im Gegenteil Weisung erteilt hat, nichts gegen die Versammlung und ihre Urheber und Leiter vorzukehren. Ich möcht es ihr beim Eid auch nicht raken! Es ist von langer Hand gekocht heute wird angerichtel! Wir haben lange 12 []esäet mit Wort und Schrift, mit Zeitungen und Heute fällt die Frucht! Und noch sind
Ja, ja, es ist, dünkt mich“, erwiderte Blunlschli,schön dafür gesorgt, daß auch die Bäume des Radikalismus nichi in den Himmel wachsen. Zunächst wird es sich darum handeln, wie viele mikmachen und namenilich, welche Schichten der Bevölkerung sich an der Sache beteiligen.“
So ?* entgegete der Unbekannte von oben heräb, meinen Sie, wir wissen nicht, daß solche Bewegungen und Reformen nicht vom Dorfwächter und Vorfmauser in die Wege geleitet werden ? Die bravsten und besten Männer, angesehen landauf und landab, stehen voran. Ihnen verleiht der Golk der Freiheit den Mut, das Joch der Aristokratie abzu-schüttein. Sie halten die Fahne hoch wie die Eid-genossen auf dem Rütli. Und sollten die Volksfeinde Bewalt versuchen und bewaffnetes Einschreiten im Schilde führen, so sind wir entschlossen, sie mit Ge-walt abzutteiben. Die Stutzen stehn bereit, und der Landfsturm wird zu den Worgensternen greifen, sobald das erste Zeichen ergeht.“
Das lächerte Bluntschů, da er wohl wußte, daß es nicht so weit kommen würde.
WMit Worgensternen?“ fragte er scheinbar erschreckt.
ZJawohl! die meisten Schlachten werden mit dem Bajönett entschieden. Der Morgenstern ist eben so gut. Das wird im Ausland gewaltigen Respekt einflößen, wenn die Schweizer mit der fürchterlichen Waffe ihrer Altvordern aufstehen und wenn sie mit Begeisterung den Herd verlassen, sobald es gilt, den Tytannen heimzuleuchten, die es wagen, ihre geheiligten Rechte, ihre Freiheit anzutasten. Und dann wird vor allem unsern und ihren Soldknechten das Herz in die Hosen fallen.
Sagt doch“, fragte Bluntschli gedehnt, warum 13 []haben diese ugrnddigen Eidgenossen mit und ohne Morgenstern die Volksversammlung nicht einberu fen an die Wiege der Freiheit? ich meine nach Skäfa oder Männedotf oder Meilen?“
Warum“, fragte der Andere scharf, haben die Eidgenossen sich auf dem Rütli versammelt? Warum nicht etwa in Brunnen oder Flüelen? Um der lückischen Tyrannei der Gewalthaber nicht vor der Vase zu sein. Überdies wohnen in Uster und derenden,die der Freiheit zugekan, aber nichk hinreichend bemittelt sind, um einen ganzen Tag von der Arbeit wegzulaufen und auswärks sich zu verköstigen.“
Das glaubt euch der stärkste Mann nicht“, rief Bluntschli, halb belustigt, halb erbost über die Un.verfrorenheit, womit der Wann die offiziellen Beschönigungsgründe und Redensarken der“ Radikalen heraushing und herausstrich, ohne, anscheinend wenigstens, zu bedenken, daß ein halbwegs Einsichtiger durch das grobmaschige Gespinnst hindurchsah. Die Wahrheit ist, daß im Oberland und besonders um Uster herum eine Menge Hausweber und Haus-spinner durch die neueingeführken Maschinen um Verdienst und Brod gebracht sind und daher Jedem zufallen, der ihnen goldne Berge verspricht. Und die verspricht eben der Radikalismus.“
Die Männer des Fortschritts und des Frei* haben nichts zu verheimlichen und zu vertuchen. Von ihnen gilt, was der Dichtker sagt:Laßt euch nicht vom Schatten blenden,Gürket immer eure Lenden Mit der Wahrheit Feuerschwert!?
Und er bekonte das Wort Wahrheit, indem er die Linke mit ausgestreckkem Zeigefinger emporhob, mt der Rechten den Stock wie ein Sowert in de blaue Spätherbstluft stieß.
Die herausgepolterken Verse ermunterken Hirzel,der bis jeht dem Gespräch nut mit halbem Ohr zu144 []gehört hattke, immer noch berauscht von den Wunder-düften des indischen Dichterbaumes. Denn er war eine Vatur, die sich nicht leicht loswand. Und da er sowohl als Dichter wie als Überseher, wobei er just die kunstvollen Gebilde Jandaas ins Auge gefaßt Pe giwas zu vollbringen gedachte, so horchte er jehzt auf.sigon wem sind diese Verse da?“ erkundigtke er sich.
Der Wann richtete sich auf:
Die sind von mir!“
WVon euch?“ riefen die beiden Freunde aus einem Munde.
Bluntschli war es nicht entgangen, daß der Mann der forkschrittlichen Sache nicht bloß dadurch diente, daß er Flugblätter und Aufrufe zur Versammlung im Lande vertrug, sondern daß er mitten drin stand in der Bewegung und wohl auch einzelnen Juhrern helfend und werbend an die Hand ging.och einen Dichter hakle er hinter ihm nicht gesucht.
Ja, von mir! Sie 5 es mir eben nur nicht an, weil ich ein schlichtes Kind aus dem Volke bin, wie z. B. Schiller auch war, den ich vor allem hoch halte, weil er der Sänger der Freiheit war und die Tyrannei haßte.“
Wie ist Ihr Name, wenn's erlaubt ist?“ fragte Bluntschli, indem er den Poeten nunmehr siezte.
Johann Jakob Leuthy von Stäfa“', lautete die selbstbewußte Auskunft.
Ich muß bekennen“, gestand Hirzel, ich habe Ihren Namen bis zur Stunde nie gehört; wenigstens entsinne ich mich nicht, elwas aus Ihrer Feder ge-lesen zu haben.“
Bas glaub ich wohl“, erwiderke Leuthy nicht ohne Bitterkeit. In Zürich gilt kein Poet, wenn er nicht aus einem alten Geschlecht stammt und dazu nicht noch einen gestopften Sack voll Latein aufgeschnappt hat. Verwichenes Jahr habe ich einen klei-3 []nen Band Gedichte derbffentucht Er fand viel Anklang, und Hunderte haben subskribiert, namenklich im Kanton St. Gallen und am See. In Zürich natürlich höchstens ein halbes Duhzend.“
«Was behandeln denn diese Gedichte?“ erkundigke sich Hirzel.
.Was der Tilel sagt: Scherz und Ernstꝰ. Seit-her aber habe ich inich hauptsächlich aufss vakerländische Genre geworfen, da solches der heutigen Zeit und dem Herzen des Volkes vor allem ent spricht. Diese Schöpfungen sind aber meistenteils noch nicht gedruckt, obwohl reifer als die frühern und der Entfaltung meines Geistes mehr ent sprechend.
Hirzel fühlte ihm an, er begehrte zum Vortrag aufgefordert zu werden, und richtete daher die Frage an ihn:
Möchten Sie uns hier unkerwegs nicht elwas mitkeilen, damit wir einen Begriff bekommen?*
Leuthy schmunzelte errötend Ich habe kürzlich ein Lied begonnen für die heutige Jersenose und zwar nach der Melodie: Seht, wie die Sonne schon sinkel“. Aber eigentlich ferlig davon ist nur der zweite Vers:O wie mit heiligen Trieben,Herlende Tränen im Blick,
Alle das Vaterland lieben,Hoffend auf dauerndes Glück!Stimmen ertönen, sie fordern ihr Recht:Freies, o freies Geschlecht!Schühze dein heiliges Recht!“
Das ist lebhaft“, rühmte Hirzel, nicht unvertraut mit den Leiden und Kränkungen, die am Wege eines jungen Lyrikers blühen. Sie werden“, *er fort, nichts Fertiges, nichts Ganzes auswendig wissen, so daß wir doch einen Gesamlüberblick, so zusagen, erhielten?
16 []O freilich“, bejahte der Dichter, ich weiß alle meine Gedichte auswendig, auch die noch nicht fertig gezimmerken und noch aißt glatt gehobelten. Und da möchte ich Ihnen zuvörderst den ersten Vers eines solchen vorbringen, dem ich die Überschrift zudenke:Schweizer Kriegslied am Morgen“. Es geht nach der Melodie: Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd,3 Pferd“, ist aber ganz nach Schweizersinn und Schweizersitke zugeschnitten.“ Er begann:Auf, auf, Kameraden, wir das Licht!Trompeten und Trommeln erschallen.
Die Söhne der Tellen, sie fürchten sich nicht,Die Pfade der Tugend zu wallen.
Vichts hindert den raschen, den feurigen Gang,Wir eilen, die Brüste hebt heiliger Drang.“Auch recht lebhaft', nickte Hirzel, der die vorher gebrauchte Formel des Lobes als eine bequeme und unverfängliche wiederholte. Nur befremdet mich die Mehrzahl Brüste einigermaßen.“
Ich fand im Gegenleil“, verteidigte sich Leuthy,sie erziele den Eindruck, daß man hier nicht einen Einzelnen, sondern ein ganzes Heer, und zwar tapfere Schweizer vor sic habe. Und dann paßt Brüste ganz besonders qof zur Melodie.“
Haben Sie nichts Erzählendes, ich meine, eine Ballade oder etwas derartiges?“ Bluntschli.
Die Stärke meines Geistes“”, bekannte Leuthy,erstreckt sich weniger auf dieses Gebiet. Immerhin habe ich eine Tellskapelle bei Flüelen auf dem Am-bos, um auch hier meinem innern valerländischen Drang und Bedürfnis Genüge zu leisten. Es man-gelt noch die Vollendung, die ich dem Gedicht zu gewinnen hoffe, wenn ich mein Gemüt aus den stürmi-schen Wellen dieser Tage herauszuziehen und in gröherer Stille ganz auf ein Ziel zu lenken imstande bin. Also hören Sie:
Frey, Bernhard Hirzel []Seht diese heilige Seekapell!
Sie ist geweiht zu jener Stell,
Wo Teu durch kühnen Sprung ans Land Der Sklavenfessel sich entwand.Es brauste laut der wilde Stkurm!
An Geßlers Herze nagt der Wurm,Drum band er Tell, den Starken, los,Damit er wirke frei und groöß.Der Wensch ist freigeschaffen, frei,Ob er geborn in Kekten sei;Das zeugte Vater Wilhelm Tell,
Das zeugt uns noch die Seekapell.Sie haben recht“, rief Hirzel, um ein Lob verlegen, dieser Sache wird die Feile vorzügliche Dienste kun!“
Sie müssen in Anschlag bringen“, entschuldigte sich der Dichter, daß mir nur die Elementarschule vergönnt war, weswegen meine Verse zuweilen an der Logik leiden, wenigstens im ersten Entwurf,wenn mich die Begeisterung hinreißt. Dann tröste ich mich wieder damit, daß eben doch das Gefühl die Hauptsache seit“
Hirzel brachte es nicht ferlig, ein Lachen zu unterdrücken.
Der Dichter spürke, daß er mit seinem Musen-rößlein nicht vor die rechte Schmiede gekommen war. Er ging noch eine kurze Weile schweigend nehen den Beiden her und empfahl sich dann kurz, da keiner mehr das Wort an ihn richtete. Er müsse,sagle er, einen raschern Gang anschlagen, sofern et Uster noch rechtzeitig erreichen wolle, weil er vorher in Greifensee noch mit einem Bekannten ein Wort zu reden habe.
Da siehst du?, sagte Bluntschli, indem er dem kräftig Ausholenden nachblickte der forlschritklich 18 []gesinnke Landdichter ist haargleich empfindlich wie der vornehme Salonpoet, wenn es ihm an seine Gedichte geht.“
Zur Rechten lachte der Greifensee auf. Silbern,sehnsüchtig lauschte der gewaltige Glärnisch über die seg der blauen Vorberge von Südosten herein auf die unbewegte, blaue, vom Föhn ein wenig bleiern angehauchte Flut, in der sich die bis nah an den Strand vorgeschobenen Bäume des waldigen Höhen-zuges, den die Freunde soeben herabgeschritten waren, so farbig und greifbar spiegelten, daß im Wasser die lichten Flügel einer Wildtaube sichtbar wur-den, die zwischen dem schwarzgrünen Tannengeäst aufflatterle. In dieses dunkle Waldgebiet, das hin und wieder herbstrote Buchengruppen wie lodernde Fackeln erhellten, blickte vom jenseiligen Ufer das graue Schlößchen mit seinen Wimpergen, unter deaendet Landvogt Salomon Landolt vor Zeiten geaust.
Als die beiden um die nordöstliche Seeecke her-umbogen und dem Schlößchen mit seiner Handvoll Häuser nahe gekommen waren, rollte ein ansehn-licher Leilerwagen hinter ihnen daher, mit vier stalt-lichen, glänzend gestriegelten Braunen bespannt, mit einigen Tannenreisern und beidseitig mit einem weißblauen Fähnchen besteckt. Auf den querüber-gelegten Bretkern saßen Männer, junge und bejahrte,alle sonnkäglich angetan, ein bunkes Zweiglein oder einen Nelken-oder Rosenspäkling auf dem Hut oder im Knopfloch. Das Fuhrwerk war durch eine Schaar von etwa zwei Duhend ebenfalls festkäglich geklei-deten Männern hindurchgefahren, die, Gruß und Zuruf freundlich erwidernd, auf beide Straßenborde auseinandergetrelten waren, nun aber die Reihen schlossen und, indem sie ihren Warsch forksetzten, das damals in allen Erdteilen eingewurzelte Lied anstimmten Freut euch des Lebens!“
Die Freunde hafken sich ein paar Schritke von
19 []der Straße weg unker ein Scheunendach gestellt, um den abe unte Nachdem der Gesang verklungen war und sie sich wieder aufgemacht hatten,agte Hirzel:gte girdel derbart Hundert und hundertmal habe ich das Lied allein gesungen und mitgesungen. Und immer kam es mir als ein küchtiges vor und als eines, das zur Freude auffordert. Jetzt aber ist mir,wenn ich den altersgrauen Turm ansehe, ich höre die liefe Stimme der Vergänglichkeit heimlich mit-tönen. Noch sind keine vierzig Jahre her, und noch leben tausende, die es mi ihren Augen sahen,so regierte hier, wie anderswo auch, der Landvogt,hielt Gericht, ritt auf die Jagd, empfing Herren und Damen aus der Stadt und aus der sonstigen Umge-bung zu Besuch, und die ganze Gesellschaft führte ein ungesorgtes Herrenleben, nicht zum wenigsten auch der Pfarrer, der im schwarzen Dreispitz am goldknopfigen Meerrohr dahergestiegen kam. Ja,vor einem halben Jahrhunderk, das wäre die richtige Zeit für mich gewesen! Aber heutzutage? Ich kann und kann mich nicht zurechtfinden.“
„Was willst du?“, entgegnete Bluntschli. Es geht uns Städkern so ziemlich allen gleich. In unsrer Epoche sind die Leute wieder daran, zu demokrati-sieren und zu radikalisieren. Dabei geht immer ein Stück Herrlichkeit der Wellt in die Brüche, d. h. für diejenigen, die diese Herrlichkeit innegehabt haben.Da gilt es eben, sich nach der Decke strecken, die Augen offen behalten und retten, was noch zu retten ist. Allzuviel wird's wohl nicht sein!“
Vor der steinernen Freitreppe des unweit dem Schlosse gelegenen Wirkshauses hielt Hirzel an. Das zugehörige Gärtchen auf der andern Straßenseite bezauberte ihn. An einer halbverwetterlen Bogenlaube glühten noch einige Wildrebenblälter, und da und dort drängten sich Häuflein Astern zusammen mit blauen, schüchternen Kinderaugen. Eben irug ein 20 []Mädchen eine ansehnliche, mit dem krüb bernsteinfarbigen Sauser gefüllte Flasche aus der Wirtschaft über die Straße in ein Vachbarhaus.
Hör einmall“, rief Hirzel und klopfte seinem Freund auf die Schulter. Wir postieren uns hier in das Gärkchen und lassen es uns wohl sein beim Sauser und warmen Schüblingen oder Bauernschin-ken! Dann nehmen wir ein Schifflein und sahren ein Stündlein oder zwei auf dem See herum, daß es nie ein Landvogt besser gehabt hat. Wir wären doch ausgemachte Torenbuben, wenn wir nach Uster hinübertrampten und die Schnurrpfeifereien anhörkten,die man uns in den Zeitungen so oft aufgetischt hat,daß sie uns zum Halse heraushangen.“
Gerade darum müssen wir hin!“ erklärte Blunk-schli entschieden. Die Radikalen haben ihre Lehren hundertfältig als das Alleinseligmachende ausgeirommelt und ausposaunt. Heute sollen wir sie nun endlich in der Praxis sehen. Heute wird sich eine unbekannte Größe in eine bekannte verwandeln,und wir werden dann erkennen, was des Pudels Kern ist. Also en avant! Du kommst noch oft zu Sauser und Schüblingen, aber vielleicht nie mehr zu einem Volkstag.“
Hirzel fügte sich. Er fühlte wohl, sein Freund würde nicht locker lassen. Und nun entwickelte ihm dieser auf dem vom schimmernden See begleiteken Wege nach dem eine halbe Stunde enktfernken Uster seine Gedanken über die politischen Verhältnisse und ihre mutmaßliche Umbildung so klar, als ob er hell-seherisch das Schachbrett der Zukunft überblicke, so bestimmt, wie es nur der Dokkrinär vermag, der unbeirrt durch das Mögliche und unberechenbare Wirk-liche seinem Ziele zustrebt. Mit sichern Strichen umriß er die besondere Gestalt einer WMiltel-partei, die zwischen dem abgewirtschafketen Alken,das nicht mehr zu kräftigem Leben zu bringen war,und dem ungeberdig ins Kraut schießenden Ra
2 []dikalismus in der Mitte stehen und nicht nur in kantonalen, sondern selbst in eidgenösfischen poli-tischen Dingen ein schweres, ja das entscheidende Gewicht in die Wagschale werfen sollte. Er verhehlte nicht, daß er selbst diese Partei, die mit dem heutigen Tage, dem Vaterlande sozusagen nötig werde wie Wasser und Brot, zu gründen, zu mehren und durch alle Fährnisse zu Kämpf und Sieg zu führen hoffe. Er habe bereils Alles durchgedacht, das Zweckdienliche vorbereitet, einiges schon eingefädelk,so z. B. die Verbindung mit der Allgemeinen Augs-burger Zeitung. Auch seien ihm aus dem Studium der Geschichte und des Rechtslebens des Kantons wichtige Einsichten aufgegangen, die manches früher schon Erkannte unerwartket bestätigt hätten.
Er begann eben die Formationen, die Sktand-lager, die Ekappen, die Feldzüge und Triumphe seiner erträumten Armee auszumalen, als ein rasch daherziehender Haufe die Freunde einholte und die lebhafte Rede unkerdrückte. Ein Mann, der in der Rähe geharrt, trat, ohne die Beiden weiter zu beachken, auf die Ankömmlinge zu und vertkeilte einige gedruckte Zettel unter sie, die allen Teilnehmern an der Volksversammlung Ordnung, Ruhe und Mäßi-gung als eines Republikaners würdige und zumal für diesen ungewöhnlichen Tag und Anlaß unerläß-liche Tugenden ans Herz legken.
Glauben die denn“, entrüstete sich ein stämmiger Graubart, das Blättchen möglichst weit von den weitsichtigen Augen wegstreckend, sie brauchten uns das auf die Vase zu streichen? Wir sind doch kein Keßlerpack und wissen elwa, was sich gehört; aber das Maul lassen wir uns nicht verbinden! das ist gut sicher!“
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[7]Auf der Dorfstraße Niederusters bewegten sich Einzelne und ganze Gruppen, alle nach dem näm-lichen Ziel, nach der Kirche, wohin die Tagung angesagt war.
Hie Freunde beschleunigten ihre Schritte, um vor dem Beginn der Versammlung noch irgend eine Herzstärkung zu erlangen. Sie steuerten dem ange-sehensten Wirtshaus der Ortschaft zu, dem unweit der Kirche gelegenen Kreuz, von den einen freund-lich, von den andern befremdet angesehen, da unker diefen fast ausschließlich ländlich Gekleidelen das städtische Gewand und die herausfordernd steife Haltung Bluntschlis hervorstachen.
Es ist sehr wahrscheinlich, ja sicher', rechnete Bluntschli deni Freunde vor, daß die Obersten und Häuptlinge des heutigen Tages nebst Anhängsel und Leibgarde im Kreuz zusammensitzen. Schlimmsten-falls schlagen sie uns die Türe vor der Vase zu, im besten aber und auf den glaube ich zählen zu dürfen ergattern wir nicht nur einen anständi-gen Schluck und einen ehrlichen Schübling, sondern erfahren noch allerhand.“
Sie stiegen, am überfüllten, lärmigen Erdgeschoß vorbei, die Treppe hinauf zu den obern Räumen, wo gewöhnlich die bessere Kundschaft einzukehren pflegle und jetzt die Führer des Volkes ralschlagten.
WBeil er hinter mehreren Türen Slimmen hörke,stand Bluntschli einen Augenblick unschlüssig, auf welche Klinke er die Hand legen sollte. Da wurde die nächste heftig aufgerissen, und heraus krat ein
2 []hochgewachsener Vierziger, dessen blaue Augen un8 8 von einem dichten Schopf blonder Haare halbverdeckten Stirne zornig blihten. Das war der Doktor Johannes Hegetschwiler von Skäfa, weit in die Runde der geschätzteste Arzt, ein für seine Zeit waghalsiger Alpengänger und vor allem ein sehr gelehrler Botaniker, der manches von ihm erst entdecktle Pflänzlein getauft, manches schon bekannte behend umgelauft haktke. Die freisinnigen Führer waren sofort auf den angesehenen und leulseligen Mann verfallen, als sie einen Redner für den heutigen Tag suchten. Vicht ohne Zaudern und Schwanken hatte er sich unkerzogen, da er zwar im wesent-lichen mit den Männern sich einig wußte, doch der Politik, jeder Vorversammlung, jedem Ratkschlag fern geblieben war. Jetzt war eben ein Zwist aus ehrhen sodaß er sich unwillig aus dem Zimmer egab.
Sein ärgerliches Gesicht glättete sich, und er schüttelte Bluntschli die Hand wie einem alken Bekannten, krotzdem sie sich nur ein einziges Mal flüch-tig gesprochen und nur zuweilen worklos grüßend auf der Straße aneinander vorbeigegangen waren.Beim Anblick nämlich der unerwärlet Aufgekauch len schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf, den auch der kluge Bluntschli nicht zu ahnen vermochte:er beschloß, die Beiden als eine Ark Schutzgarde mitzunehmen, und sagte daher laut und vergnüglich,nachdem ihm Hirzel vorgestellt worden war:“n E fui mir in der Seele wohl, daß Sie den Weg nach Uster unter die Füße genommen haben und so das kleine Häuflein aus der Stadt verstärken. Das ist Ihnen um so höher anzurechnen, als mancher ausblieb, auf den man mit Sicherheit glaubte zählen zu dürfen.Da drinnen sitzen die Vertrauensnanner' des Bol kes. Sie sind gestern Abend hier eingerückt wie ich auch, um noch allerlei zu besprechen. Es wird auch sie freuen, Sie zu sehen.24 []Er warkete keine Ankwork ab, sondern öffnete die Türe und nötigte die Beiden herein.
Hier bringe ich Ihnen“, sagte er nachdrücklich,unvermutet zwei junge Freunde aus der Stadt, den zerrn dr. na und den Herrn Pfarrer Hirzel.Sie sind unserer Sache aufrichtig zugetan. Es ist darum meine Freude und geradezu mein Wunsch,daß sie nicht nur an der Versammlung teilnehmen,sondern auch vernehmen, was hier das Mark des Vaterlandes, um mit dem großen Dichter und Vaturforscher Albrecht von Haller zu reden, zu dieser ernsten Stunde beschließt.“
In dem ziemlich niedrigen, bis zur halben Höhe gekäferten Zimmer, an dessen einer Wand in schmalen schwarzen Rahmen die in Kupfer gestochenen Bildnisse Napoleons und seiner Gemahlin hingen,saßen reichlich ein Dutzend Männer, keine gährenden Milchbärke, kein auflüpfisch Blut, keine phrasendre-schenden katilinarischen Schnapphähne, die durch eine Verfassungsänderung von einem dürren auf einen grünen Zweig zu kommen hofften, sondern gesetzte Leute, die, wie das Aussehen anzeigke, in guten Schuhen staken und sich auf sicherem Lebensgrund bewegten; die Hälfte waren Landärzte, die vom Lande stammten.
Sie verbargen das Mißfallen über die unversehens Eingeführten, betrachtketen sie ruhig, fast gleich-gültig und ließen sich nicht anmerken, daß sie einen Schachzug Hegetschwilers dahinter witterken, dessen Zweck sie freilich nicht sofort gewahrten. Vur einer,den das fahrige, vibrierende Gehaben von der gemessenen Art der Übrigen absonderkte, hob die spitze Nase in die Luft, strich sich mit den langen Fingern der knochigen Rechten vom Wirbel nach der Stirn langsam über die glattanliegenden Haare bis zum Toupet, wobei er den Zeigefinger abspreizte, und bemerkte äthzend:
Wenn man auch für nötig erachtete, uns nicht
258 []nur zwei Mann, sondern eine ganze Rotte ich hier herein zu applisiseren, so muß ich jetzt doch darauf dringen, daß ind der Herr Doklot ein für allemal rund und deut-lich erkläre, ob er reden will oder nicht, ob wir von ihm an der Vase herumgeführt worden sind oder nicht. Ich denke, es ist hoch an der Zeit.
Ein breitschultriger Mann mit entschiedener Hakennase und dunklen Augen, der Doktor Brunner von Küßnacht, erwiderte unverzüglich:
Herr Sleffan, ich muß mich abermals nachdrück-lich segen den Ton verwahren, den Sie sich gegen meinen lieben Freund und Kollegen Hegetschwiler herausnehmen.“
Was Ton?“, krähte Steffan, das brauche ich mir von niemand bieten zu lassen. Ich bin in Paris gewesen.“
Es war schon Wancher auf der Löffelschleife,er ist ungehobelt heimgekehrt', versetzte Brunner trocken.
Ich frage“, fuhr Steffan unbeirrt fortk, ist es eine Manier oder ist es keine, wie man mit uns umspringt? Erst verspricht uns der Doktor Hegetschwiler vor dem Volk zu reden, nachdem man ihn fast kniefällig gebeten hatte. Kaum hat er seine Zusage herausgewürgt, so wird er reuig, läßt anspannen und rösselt nach Zürich. Was geschieht dort? Ein alter Fuchs salbt ihn ein und macht ihm die Hölle heiß. Das Herz fällt ihm in die Hosen oder soll ich sagen pantalons, Herr Doktor Brunner? und wie er hier im Kreuz absteigt, so braucht er Ausflüchte: er müsse sich's doch erst noch reiflich überlegen, die Dinge hätten sich geändertl, man könne nicht wissen und dergleichen Schneckentänze mehr,daß man nicht dahinter kommt, ist es gehauen oder gestochen. Darum sage ich: heraus mit der Katze aus dem Sack!“
Hegelschwiler sprang zornrot auf:26 []Ich will runden und klaren Bescheid geben: auf olche Frechheiten hin red' ich nicht!“
Die Männer gerieken nicht übel in Bewegung und erhoben sich.
Lieber Freund!“ rief Brunner und streckte die Hände beschwörend nach ihm aus.
Hegelschwiler schüttelle den Kopf: Am Krankenbett und bei den lieben Pflanzen in Gottes freier Ratur, da ist der Platz, der mir geordnet ist. Da habe ich die Gnade von Gott, elwas wirken zu kön-nen. Von der Politik habe ich immer die Finger gelassen. Drum kam's mich auch hart an, Ihr Begehren zu erfüllen. Ich kat es nur, weil mir ausdrücklich versichert wurde, das ganze Volk sozusagen werde herbeiströmen. Was geschieht aber jehßt? Es ist fast niemand da, als die hungrigen Weber und die verlumpten Spinner aus der nächsten Gegend und ein MWaulheld' er machte eine nachlässige Handbewegung nach Steffan hin.
So? dehnte dieser höhnisch. Sie vergessen die beiden Stadtherren, die von Ihnen so elegant hereingeschneit worden sind, als ob Sie ihnen vorher einen Ring durch die Vase gezogen hätken und jetzt nur ein bischen am Schnürchen zu ziehen brauchten.“
Er brach in schallendes Gelächter aus und blickte triumphierend um sich, während er das magere bür-stenförmige Kinnbärtchen streichelte.
Hirzel juckte von seinem Sitz auf. Aber Blunht-schli zupste ihn unter dem Tisch am Rock. Der Jurist in ihm begann sich in das Spiel hineinzuschnüffeln und fuote sich ein Bündel ungeschriebener Aklen zurecht.
Keiner der Männer verzog eine Miene, und es blieb eine Weile still, bis sich ein Jüngerer mit heller Stirn und nußbraunen Augen an Hegetschwiler wandte, Müller Heinrich Güyer von Bauma, im Land herum nur der gescheite Müller oder der Mühleheiri genannt, ein kluger Geschäftsmann, ein
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7 []umgänglicher, aufrechter und zuverlässiger Geselle,eine nachdenkliche Natur, die sich an die Stillen im Lande angeschlossen und sich gerne hinter die Bücher zurückzog, um die bescheidene Bildung zu ergänzen und über dieses und jenes zu sinniren.
Herr Doklor“, bat er, weisen Sie das doch nicht so weit von sich und überlegen Sie sich's noch einmal! Es hangtk zu viel dran. Wir wollen und können Sie nicht entbehren. Ich bin kein Studierter wie Sie und andere der Anwesenden und habe nie3 öffentlich geredet. Und dennoch will ich dran in!
Hegelschwiler hob die Arme ein wenig vom Leib weg und ließ sie dann wieder sinken zum Zeichen des bedauernden Unvermögens.
Jetzt stand Einer auf und blickte durchs Fenster.Freudestrahlend drehte er sich um und rief:
Die Sache hat Faden! da seht einmal her! Alles schwarz auf dem Platz und der Straße! Das sind nicht nur die Hiesigen, nicht nur Weber und Spinner!“
Die Übrigen eilten herzu.
Es ist keine Rede davon, daß die Leute in der Kirche Platz haben. Es muß sofort für eine Redner.bühne gesorgt werden, wie man schon in Aussicht genommen für den Fall, daß man ins Freie müsfe.zer entfernle sich sofort, um das Rötige anzuordnen..Nun, lieber Freund“, wandte sich Doktor Brunner an Hegetschwiler und legte ihm die Hand auf die Schulter, was meinst du setzi? Ich denke, jetz hat die Sache ein ander Gesicht
Ja', räumte Hegetschwiler zögernd ein, ich muß gestehn aber wenn nut nicht etwa die Hiesigen das UÜbergewicht haben und alles verderbes und geschänden.“
Er hatte kaum geendet, so pochte es kräftig an 28 []der Türe, und herein krakt, ohne die Einladung erst abzuwarken, Johann Jakob Leuthy.
Ihr Herren“, rief er laut, der Streit ist gewonnen! Der Ausluger auf dem Kirchturm meldet soeben, daß sie kommen wie die weißen Wellen im Sturm, von allen Seiten, vor allem aber von Winterthur her.“
Er warf einen verwunderten Blick auf Blunt-schli und Hirzel und entfernte sich dann langsam, da ihn Niemand bleiben hieß.
Hegetschwiler richtete sich auf:
Wenn Sie mich denn wollen ich bin bereit!“
Vakürlich“, höhnke Ziefsan halblaut. Die Andern schüttelten ihm die Hand.
Wan verfügte sich auf die Plätze zurück, und der Obmann klingelte ans Glas:
Weine Herren! ich bin voll und ganz überzeugt,daß ich aus Ihrem Herzen rede, wenn ich unserm verehrken Herrn Doktor Hegetschwiler unsern wärmsten Dank ausspreche. Wir werden ihm seinen Entschluß nicht vergessen, und der Dank aller Freiheits-freunde ist ihm sicher. Ebenso warm danke ich Herrn GBuyer für sein Einstehen. Damit sind unsre Trak-tanden bereinigt. Es bleibt also gemäß unserm Beschlufz dabei, daß erst Herr Guyer und dann Herr Hegeischwiler spricht. Hat Niemand mehr ekwas vorzubringen, so erkläre ich die Sitzung für geschlossen.“
Ich protestiere!“ belferte Steffan. Das wäre Ihnen ein gemähtes Wieslein, mich nur so im Hand-umdrehen abzuschnüren. Vorher, wie der Doktor nicht ans Brett wollte, verstand es sich per se von selber, daß ich dran mußke. Jetzt, wo er sich herbei-jäßt, wirfi man mich weg wie einen alten Schuh. So haben wir nicht gewettel! Ich habe mich immer an die Sache der Freiheit hingegeben und habe dafür gewirkt und geweibelt, und jedes Kind kann's mit Händen greifen, daß ich viel freisinniger bin als 20 []z. B. der Doktor- Hegelschwiler. Ich habe ein Recht so gut ästimirt zu werden wie er.
Es handelt sich hier nicht um ästimiren und nichtästimiren. Sondern sobald man an eine Versammlung dachte, faßte man auch den Herrn Doktor Hegetschwiler ins Auge und wandte sich unverzüglich an ihn. Er hat sich nicht herzugedrängt, man hat ihn gesucht. Und mehr als zwei Redner sollten es nicht sein.“
„Sol und ist es recht, dafz Stäfa und das Oberland vertreten sind und das linke Seeufer nicht!Richterswil, Wädenswil, Horgen, Thalwil nicht?
Wan sieht auf das Pferd, nicht auf den Stall entgegnete Brunner krocken.
Excusez! und mit Verlaub! Hat Herr Guyer jemals öffenklich gesprochen? Ich wüßte nicht, wo er die Courage dazu hergenommen hätte. Mikt Bauern und mit Kornjuden hat er herumdiskutiert. Und hat sich der Herr Doktor Hegetschwiler jemals vor den Leuten aufs Seil gewagt? Können vor Lachen! Bei den Kranken tut er schöne Sprüche, beschaut jungen Weibern und alken Krachern das Wasser, fährt mitk einer Schachtel voll Brunzgläsern herum und macht sich landauf landab lieb Kind. Zum Exempel, wenn im Kloster Einsiedeln ein Räuchlein aufsteigt, wer sitzt am Tisch und läßt sich mit dem hochwürdigen Abt einen feißen Braken schmecken? Der Doktor Hegelschwiler natürlich! Und links und rechts drückt er das Händlein. Ich im Kunträri bin eminent radikal, und meine maximes sind wie ein Fels. Vor allem aber muß ich hervorheben, daß ich schon häufig geredet habe und es den Leuten zu tkreffen weiß, so wohl im Ernsten als besonders im Heitern. Ich weiß das zu bringen, was zieht. Und das ist die XRC sache. Darum habe ich das erste Anrecht, heute zu reden. Es erwarten es Viele nit Bestimmtheu.
Ich wiederhole', erwiderte der Obmann, daß unser Beschluß von ferne nicht gegen Sie gerichten 30 []sondern von den Umständen erfordert und darum wohlerwogen ist. Wünscht sonst Niemand auf den Gegenstand zurückzukommen, so erkläre ich die Sihung für geschlossen. UÜbrigens rückt die Zeit. Wir e bald dran hin. Sonst werden die Leute ungeuldig.“
So laß ich mich nicht an die Wand drückenl“schrie Steffan und schlug mit der Hand auf den Tisch. Sie sollen erfahren, daß ich noch Trümpfe im Sack habe.“
Schon war er aufgesprungen und aus dem Zimmer. Die Übrigen kranken gelassen aus und erhoben sich. Hegetschwiler drückte Bluntschli und Hirzel die Händ. Die Andern nickten leicht beim Abgehn.
Nachdem sie sich enktfernt hatten, sagte Hirzel, in dem er sich und dem Freunde den Rest des Sausers einschenkte:
Es geht ja unker diesen Bannerkrägern der ewi-gen“ Freiheit und Gerechtigkeit zu wie unker den berstaublen Zöpfen. Einer wird an allen Haaren zum Reden herangeschleppt, der Andere wird kalt-gestellt, so sehr er brennt.“
Ja', fügte Bluntschli hinzu, es fehlen ihnen ebeü zügige Redner. Hegeischwiler, ohne den sie's nicht machen können, hat eigentlich wider Willen zugesagk. Er ist weder Iuh noch Vogel und gehört ndesiens so sehr zu den Alten wie zu den Radialen.“
Er rief nach der Kellnerin, beglich sein Betreff-nis an der Zeche, bat Hirzel, vor dem Hause auf ihn zu warken, und verließ das Zimmer. Während der Zurückgebliebene an seiner langen, grüngestrickten Vörse den Verschlußring zurückstreifte und etwas Kleingeld hervorschültete, kam die Kellnerin an den Tisch heran, an dem er saß, schlank und ebenmäßig,geschmeidig, noch halb ein Kind, das strotzende rot-blonde Häar in einem Flechtenkrönchen über der biülenweißen Stirn aufgebunden, die vollen, koral
31 []lenroten, halbgeöffneten Lippen durch feine, doch bestimmte listige Winkel begrenzk. Sie schoß gaus ihren flackernden dunkelblauen Augen einen Blick auf Hirzel, der ihn sellsam durchdrang. Er fragkte, indem er langsam bezahlte:
Woher sind Sie, schönes Jüngferchen?
Nicht weit von hier aus dem Oberland.
Sind Sie schon lange hier im Kreuz?“
Wenig über ein Halbjahr.“
Da haben Sie gewiß einen Schatz?
Was fällt Ihnen ein? Dazu bin ich noch viel zu jung und übrigens habe ich das Männervolk nie ausstehen können.“
Unter einem erneuten Ansturm ihres Blickes, der die dunklen Augen des Mannes suchte, verbündeten sich in seinem entzündlichen Geblüt plötzlich die Geis-ter des nächtlichen Zunftweines und des Sausers,dessen letzten Schluck er eben getrunken. Er sprang auf und suchte das Mädchen zu fassen.
Aber jeht machen Sie eine Ausnahme und geben mir einen Kuß.“
Sie stemmte die weiße Linke abwehrend gegen seine Brust und hielt den Rücken der Rechten schirmend vor den Mund, während sie das Gesicht abwandte und ihn aus den Augenecken schräg, halb erschreckt, halb schelmisch anblickte.
.Wo denken Sie hin?“ rief sie. Ich habe noch nie einem Mann einen Kuß gegeben! Ich weiß gat nicht, wie man das macht! Und jetzt hätte ich auch gar keine Zeit zu solchem Narrenwerk. Unten ist die Gaststube schwarz von Leuten, und ich habe alle Ande voll zu tun! Ich muß gehen! lassen Sie mich os!Sie rang sich los und schlüpfte wie ein Wiesel durch die Türe, die Blunlschli nicht ins Schloß geklinkt hatte.
Mit dröhnenden Schwüngen schlugen die Zimmerleute die einfache Rednerdühne fertig, auf dem 32 []sogenannten Fene einem niedern, sanftgebogenen Erdschild nahe dem Kreuz. Vorn und zu beiden Seiten bis hinan zur Reönerbühne war das Hügelchen bedeckt von Männern. Es war ein Heerbann des Freisinns, eine Landsgemeinde des Republika-nismus, wie der Kanton Zürich nie gesehen, wohl zehntausend oder mehr. Auf manchem Gesicht blühte das Vertrauen auf gedeihliche Wendung der Dinge,die Zuversicht, daß man an der MWark einer freiern Zeit stehe, und die Hoffnung, daß der Tag den Leα und den Künfkigen zum Segen ausschlagen werde.
Voch standen die Wiesen grün. Die fernblauen Berge und die Schneehäupter leuchteten in der Sonne.
Immer noch stießen einzelne Nachzügler zu dem Gewalthaufen, unter ihnen Bluntschli und Hirzel.
A sie und die Ubrigen gewärligten, oben auf der Rednerbühne etwas ereignete, sondern hinter ihnen.Denn eben bewegte sich uuß dem Weg vom nahen Kreuz her ein wunderlicher Zug. Ein halbes Dutzend ärmlich gekleideter Weber aus der Umgegend eröff-neten ihn, kräftig ausschreitend und die Arme schlen-kernd, wie denn ihre Bewegungen und die geröteten Gesichter verrieten, daß sie ihren Durst schon recht-schaffen gelöscht haktten. Hinker ihnen stolzierte her-ausfordernd Steffan. Er hatte die Angströhre schräg auf den Hinterkopf zurückgeschoben und den Rock aufgeknöpft, sodaß die Sonne sich an der dicken goldenen Uhrkette und dem Büschel der daran baumelnden Berlocken erlustiren konnte. Besonders stach ein mächtiger Eberzahn hervor, worauf ein rotes, von einem blauen Pfeil durchbohrtes Herz gemalt war.
Nun stgrften vier Zung heran, die, wie alttestamentliche Helden die Bundeslade, einen braunangestrichenen Wirtstisch trugen; jeder umklammerte
33 []ein Bein des auf ihren Schultern tronenden Tisches,während die ute Hand den Hut hielt. Ein Knabe folgte, der einen Stuhl auf dem Kopf krug, die lannenen Beine nach oben; eine dunkelroke Velke glänzte in seinem Munde, eine helle hinterm Ohr;er lachte zwischen der Lehne durch, die er mit beiden Händen gefaßt hatte. Ein Häuflein Weber und Spinner beschloß den Zug.
Excusezt Platz für Steffan! Platz für unsern Herrn Steffan!“ rief die Vorhut und machte mit den Armen Schwimmbewegungen. Verwundert und kopfschüttelnd gaben die Anwesenden Raum, und langsam drang die Prozession hügelan.
Aber bereits in dem Augenblick, wo sie aufgebrochen war, hatte sie einer der Männer wahrgenommen, die sich zur Aufgabe gemacht hatten, Augen und Ohren womöglich überall zu haben und kunlichst zu verhüten, daß irgend ein Makel das Gewand des Freiheilstages beflecke. Er eilte am äußern Rande,wo die Teilnehmer weniger dicht standen, zur Tribüne empor und machte die Leiker auf das Geschehnis aufmerksam. Sofort drangen diese den Aufftei-genden entgegen, sodaß die beiden Häuflein zusam-menprallten.
Hegetschwiler fragke drohend:
Was soll das heißen?“
„Das soll heißen*, entgegnete Steffan heftig,daß, wenn Sie Ihr Waul derreißen, ich das meine auch verreißzen will. Sie haben mir Ihre Tribüne versperrt. Also bringe ich mir selber eine mit. Ich will doch sehen, wer mich hindern soll, hier zu reden.So gut, wie Sie bringe ich das auch noch zustande.“
Schämen Sie sich wirklich nicht, durch solch him-melkrauriges Benehmen den Volkstag zu schänden?
Was schänden? Ich mache dem Volkstag soeg Schande wie Sie. Der ganze Unterschied zwischen uns beiden besteht nur darin, daß ich mich selber auf diesem Tisch über den Boden bringen 44 []will, wogegen Sie mit Ihren Mixturen und Salben andere unker den Boden bringen.“
Seine Mitläufer und sonst einige lachten aus vollem Halse, während andere über diese In murrten oder doch finster blickten, sodaß Partkeiung und Zwist plöhlich gewitterig aufwölkten. Jetzt er-griff Heinrich Gujer das Wort:
Ihr Herren“, sagte er ruhig und freundlich,wir sehen nunmehr ein, was wir vorher nicht wußken, auch nicht wissen konnten, daß nämlich viele vom linken Seeufer einen besondern Redner begehren, und zwar in der Person des Herrn Steffan.Meine Herren, wir sind den wackern Männern von Wädenswil und derenden, die immer so kapfer dem Fähnlein der Freiheit gefolgt, schuldig, diesen Wunsch zu erfüllen. Ich bin Ihrer Zustimmung sicher, wenn ich als dritten Redner den Herrn Steffan vorschlage. Und zwar räumen wir ihm die Tribüne ein, die zu Ehren des ganzen Volkes errichtet steht, damit er nicht auf einem Wirtstisch spreche,an dem schon mancher gottsträfliche Rausch getrunken wurde.“
Die Führer fühlten sich festgepflöckt. Es blieb ihnen, wollten sie sich aus der lächerlichen Klemme lösen, nichts anderes übrig, als vor dem Usurpator der Volksrede zu kapitulieren und ihn als drilten Sprecher zuzulassen. Sie nickten unmerklich. Keiner sprach ein Work. Er aber zog den Hut, machte eine Verbeungung, wandte sich und streckte den Arm ge gegen seine Begleiter aus:
Schafft den Tisch wieder an seinen Ort! Es soll nicht euer Schaden sein!“
Sie machten verdutzt kehrt und zogen ab wie ein geschlagenes Heer.
Steffan marschierte strahlend mit den Komitee-herren zur Tribüne hinauf. Oben angelangt, gab Doktor Brunner ein Zeichen, worauf die Miiglieder
35 []des Sängervereins vom See und vom Limmattal das volle Lied anstimmten:
Geist der edlen Ahnen,
Steig in unsern Kreis,
Ernst uns hier zu mahnen
An der Ahnen Preis!
Sieh die Enkel stehen
Vor der Väter Grab!
Höre unser Flehen,
Schweb auf uns herab!
Kaum waren die Liederstimmen verklungen, so betrat Heinrich Guyer die Tribüne, ruhig und unbefangen, beinahe behaglich, wie wenn er in seine Geschäftsstube käme. Schier wie einen Rechenschafts-bericht verlas er seine Rede von seinen beschriebenen Papieren, die er mit der einen Hand umdrehte, während er die andere nicht mehr aus der Hosentasche zog, bis er geendet hatte. Laut und deutlich brachte er die Begehren vor, die, von Zeitungen und Flugblättern hunderkfältig aufgeweht und aufgeworfelt, wie flüchtiges Herbstlaub übers Land eien So viele Forderungen, so viele Klagen über die ungleiche Elle, womit seit Ur-vätlerzeilen her der Stadtbürger die Landschaft mißt! Spricht es nicht jeglicher Billigkeit Hohn,wenn heute noch, vier Jahrzehnte nach der großen Revolution, die Stadt mit ihren zehnkausend Einwohnern das Regiment ausüht über die an Kopf-zahl zwanzigmal stärkere pdscaie Kein Herrscher als das Volk! Bachab alle Vorrechte der Städt,Zunftzwang und Warktzwang, womit sie dem Bauer den Rahm von der Milch nimmt! Fork mit den von der Regierung eingesetzten Oberämtern,die, um kein Haar besser als die Landvögte tyrannischer Jahrhunderte, das Urteil nicht nur fällen,sondern auch vollstrecken! Fürderhin dden die Vertreter des Volkes, also der Große Rat, ausschließ36 []lich die Regierung, die Richter, die Verwalkung beWen und die Gemeinden fordern das Recht, ihre eamten selber zu wählen, auch den Pfarrer. Und kurz und bündig, der Bauer ist nicht nur guk zum Zahlen, wie bisher, er will auch etwas zu sagen haben! Vor Wochen schon haben hier im Kreuz zu Uster mehr als ein Dutzend Großräte seinen Wil-len in einer Denkschrift niedergelegt zu Handen des Großen Rates, der sie einer hiezu besonders ernannken Kommission zur Begutachtung überwies. Da diese noch weniger als halbe Arbeit gemacht hak und sich an den Hauptforderungen vorbeidrückte, so bleibt kein anderer Weg, als ungeschminkt zu sagen, was auf dem Land und im Land die Uhr geschlagen hal!Da die oben die Reform nicht zustande bringen, so bringen sie die unten zustande.“
Er streute auf seine männlich festen Sähze einige spärliche Scheine trockener Laune, mied jedoch jeden leidenschaftlichen Ausfall und rührte auch an keine Person. Am Ende mahnte er zu Geduld und warnte vor gesetzwidrigem Gebahren, vor Ausschreitung und Gewallkat.
Kräftiger Feisen pflichtete ihm bei, als er abtrat.
Der Anblick der zehnkausend Enltschlossenen beschwingte Seele und beflügelte seine Rede, sodaß er das mitgebrachte Manuskript unentfaltet in der Linken behielt. Seine hochgewachsene Gestalt, die leichten, nakürlichen Bewegungen der Arme und Hände, die leuchtenden Augen und das gütige, mit magistralem Bewußtksein gemischte Wesen muteten den weiten Kreis sofork an. Er begann,indem er mit wohlkuender, weittragender Stimme Schillers Strophe sprach:Der Wensch ist freigeschaffen, ist frei,Und würd' er in Ketten geboren.
Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei,Nicht den Mißbrauch rasender Toren.
37 []Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,Vor dem freien Menschen erzittere nicht!Der heroische Orgelklang der prophetisch klingen ·den Verse hob mit einem Schlag die Anwesenden aus den Niederungen des leidenschaftlichen Begehrens und des beschränkten Verlangens auf eine hö-here Staffel und machte sie bereit, den ernsten Gedankengängen des Redners zu folgen und seine An-sichten willig zu empfangen. Er führle aus, daß nur derjenige frei sei und frei zu sein verdiene,der sich selbst zügelt und bezwingt, und daß die Frei-heit bald zugrunde geht, die nicht beschirmt und behütet wird von einem Volke, das durch Maß und Selbstzucht ihrer würdig ist. Nachdem er ausmalend bei diesen Ideen verweilt, streifte er kurz die Gebrechen der gegenwärligen Verfassung und betonte die Notwendigkeit, ihnen abzuhelfen. Doch ging er hier behutsam. Denn er war nicht als Eiferer und Aufstifter gekommen, sondern als ein Apostel der Ruhe und des Gesetzes. Stäödtische Parteifreunde,erfahrene Politiker, hatten ihm zu bedenken gegeben, wie ein gewaltsames Wesen die guke Sache fraglos ernstlich gefährde. Und er selbst erkannte nur zu wohl, wie übrigens die meisten der Tages-leiter, den Bodensatz, der jeden Augenblick aufzu8 und den reinen Kelch der IWenn zu krüben drohte, die hungrigen Spinner und Weber im Zürcher Oberland, denen die Maschinen der gerade m Uster kürzlich errichteten Fabriken den ohnehin kargen Unterhalt geraubt hatten, sodaß sie in ihrem Elend nach Brod schrieen und sich mit ausschweifenden Hoffnungen an den nahen Umschwung der Inge klammerken, der allein ihnen Hilfe zu bringen ien.
Die Weltwahrheit machte sich wieder einmal geltend, daß der Großteil des Volkes, wenn es a tischer Freiheit nachzujagen glaubt, wesentlich die 38 []Besserung seiner wirlschaftlichen Lage anstrebt und im Grunde gegen Staatsform und Bürgerrechte weit gleichgültiger ist, als seine Beglücker meistens denken, daß aber eben darum die Besitzenden und Gebildeten, so sehr sie dem Forlschritf zuneigen, beim Alten zu verharren veranlaßt werden.
Noch rauschte der Beifall, als sich Steffan anschickte, mit einem Satze die Tribüne zu gewinnen.Da packte ihn Doktor Brunner am Arm:
Herr Steffan, wir zählen darauf, wie wenn wir's schriftlich auf Stempelpapier hätten, daß Sie e X die Schnur hauen und bedenken, wo Sie tehen!“Verlassen Sie sich darauf! Ich bringe heute etwas Gediegenes, etwas, das zieht! Ich habe die Sache verflucht studiert. Ich d behaupten, ich bin in der Geschichte beschlagen. Und Sie wissen, meine principes sind inébranlables, wie sie zu Paris sagen.Ich werde Ehre einlegen. Es ist der schönste Tag meines Lebens.“
Sein Vertrauen ergoß sich nicht W die Andern.Sie wußten, reden war seine Leidenschaft, und seit der Gedanke an eine Volksversammlung aufgetaucht war, zielte seine Sehnsucht Tag und Vacht danach,sich endlich einmal vor einem großen und, wie er nun gewahrke, vor einem in der Schweiz unerhört großen Kreise vernehmen zu lassen. Unbeschwert von den Sorgen und Bedenken, die Hegetschwiler und Guyer beunruhigken, fand er am heutigen Tag seine Rechnung wie keiner.
Er känzelte auf die Tribüne. Die gezierke, gecken-hafte Erscheinung, das schmunzelnde Gesicht mit dem schalkhaft eingekniffenen Mund, das zwinkernde Auge und das Wiegen in den Hüften, Alles zusammen erschien als der verkörperte Weeee Witz, als die Fleisch und Blut gewordene Anekdote. Sofort war die gemessene Stimmung weg, die Hegetschwi
3*[]lers Ernst zurückgelassen. Wie berauscht legte Stef fan die Hände auf die Brüstung und bog den Kopf zurück, sodaß die Sonne durch die geblählen Flügel seiner spihen Nase und seine abstehenden Ohren leuchtete, dere And wie 8 aussahen.Mit hoher, gedehnter Stimme fing er an:GSöhne * Vaterlandes! Söhne der Freiheit!Einst hat hier die Tyrannenbrut der Landvogle, der Schloßherren und Gerichtsherren unerbitklich den Stab geschwungen über dem Landbewohner und sich von seinem rdet Ausgelöscht war der letzte Schimmer der alten Freiheiten und Rechte, die einst als heiligstes Kleinod auf Schweizererde geglänzt. Tod und Verbannung war das Los derjenigen, welche wie Winkelried die Waffen Zgriffen rr diese Rechte! So arbeitete sich das System der Aristokratie und der Vorrechtlerei empor. Und auf dem großen Kongresse zu Wien bliesen die Fürsten, Minister und Diplomaten Europas wieder zum Rückzug, proklamierten statt der urheiligen Menschen- und Volksrechte neuerdings die dsen und Herrenrechte und kraten die Idee der Freiheit und Gleichheit, der Aufklärung und Volkswohlfahrt mit den Füßen der Verachtung. In ganz Europa war wieder Rückschrikt, Despotie ünd Schlendrian Trumpf. Auch in der Schweiz kam wieder wie eine Seuche der agristokratisch-herrische Ton ans Ruder,und die Angst vor Freiheit, und das Mißtrauen gegen Volkswünsche und Volksbewegung machte sich krölenbreit! Aber schon erhoben sich hüben und drüben unentwegte Volksfreunde, die mit ihren Blät-tern und Schriften in die Glut bliesen, um sie in Flammen umzusetzen. Und was im Schoß der ewigen Berge vor fünf Jahrhunderten unser Hirkenvolk ausgeführt, das kat unlängst eine wahrhäft große Ration in ihrer Hauplstadt Paris: sie zertrak der willkürlichen Gewalt den Kopf und stellte den Urzustand alles Volkslebens wieder her, nämlich Gleich10 []heit vor dem Seleß Freiheit im Dasein und Würde des Menschen. Aber auch wir haben den rauschenden Flügelschlag der Freiheit vernommen! Auch an uns ist der Ruf Agangen und widerhallt mächtig an unsern Alpenfelsen und in unsern Felsentglern. Wir zählen 18801 Miltternacht ist vorbei, der Tag bricht an! Die lichtscheue Eule mit der Perrücke flieht äch-zend in die Finsternis des Waldes! Und der Mensch erwacht und eo mit Wonneschauer die aufge-hende Sonne der Freiheit. Auch wir begrüßen sie,und unsre Grüße sollen an den Marmorwänden von Paris und Wien ein gewaltiges Echo finden. Die Herren Guyer und Hegetschwiler haben euch mil republikanischer Einfachheit und mit mannhafter Stimme unsere Begehren kund getan. Und ich?Mein Herz, das warm fürs Volk schlägt, verlangt noch mehr für euch. Und mir ist das herrliche Loos gefallen, diese weilern Forderungen hier auszu-sprechen!“
Er hielt einen Augenblick inne.
Bravo! bravo!“ scholl es.
Guyer stimmte händeklatschend in das Bravo ein.Er bettat, wie wenn er dem Redner seinen Beifall noch ganz besonders bemerklich machen wollte, unauffällig die geräumige Tribüne und lehnte sich schräg hinten an die Brüstung. Er wollte als Redewärtel auf dem Sprung stehn, um nöltigenfalls einzugreifen. Jetzt, wo Steffan, nachdem er den Vor-ral der an Wegen und Wirtksbänken wuchernden und daher mühelos zusammengerafften Phrasen ver-tan, sich hinker die vorwürfigen Fragen machte, jetzt drohte er Schaden anzurichten, sei es, daß seine schmähsüchtige Zunge ällzuheftig nach der Regie-rung ftach, sei es, daß er zu irgend welchen Ungesetzüchkeiten aufftiflesise. Wußte man doch immer noch nicht, ob die Regierung, krotzdem sie sich bis zur Stunde nicht Hfrühet nicht doch noch die Volks-führer belangte. Und nun wollte er, soweit an ihm 41 []lag, verhindern, daß den Regenten Vorwand und Händhabe zum Einschreiten geboten wurde.
Söhne des Vaterlandes“, nahm Steffan nach kurzer Pause wieder das Wort, wie dürften wir den heutigen Tag wieder verstreichen lassen, ohne vom Kriegswesen zu reden, wir, die Enkel Tells und Winkelrieds? Da verlang ich denn zuvörderst, daß die Mauern und Schanzen der Stadt beseitigi werden.“
Fort mit ihnen!“ hieß es.
„Denn wozu sind diese Befestigungen da?“ fuhr er forl. Etwa gegen äußere Feinde? Bewahre!Gegen uns, wenn wir es für zweckdienlich erachten sollten, mit den gnädigen Herren ein zartes Wört-lein zu sprechen und sie mit dem Dreschflegel zu streicheln.
Er machte die Bewegung des Ohrfeigens und wippte vor Vergnügen auf den Fußspitzen
«Sodann meine ich, die Kanonen sollen aus den Zeughäusern heraus aufs Land, in jedes Amt ein halbes Dutzend! dann ist dafür gesorgt, daß sie nicht etwa gegen uns losgehen.“
Jalꝰ scholl es, heraus mit ihnen aufs Land!“
An die frische Luft!“ schrie Steffan.
.Vatürlich“, brummte Doktor Brunner ärger-lich, neben jeden Kuhstall eine!“
Und zum dritken sage ich“, zeterte Steffan, her wieder mit dem wackern Dorftrüllmeister und fort mit dem Kasernendienst in der Stadt!
Fort mit ihm!“ widerhallte es gewaltig.
Ich frage: haben die alten Schweizer, die Sieger von Morgarten und MWurten, eiwas gewußt dom Kasernendienst? Den Teufel haben siel Wenn aber der Feind ins Land kam, so haben sie ihre Shwer ker und Hellebarten gepackt und verflucht dreinge daß die gottvergessenen Soldknechte das ufstehen vergaßen 12 []Und die Zuchtstiere wollen wir weg haben und das meineidige Zuchtstiergesetz!“ schrie einer.goat klang es in die Runde, die müssen auch wegl!“
Jetzt trat Guyer vor:
Das ist allbereits in die Denkschrift aufgenommen worden!“
Steffan F ihm einen unzufriedenen Blick zu und dyre dann fort:
Auch sollten künftighin zwei oder drei Zeitungs-schreiber oder so elwas den Sitzungen des Großen Rates beiwohnen und die Ohren und Federn spithzen!So können sie uns dann berichten, was eigentlich getrieben wird, und man lernt Freunde und Feinde des Volkes besser kennen.'
Nachdem er ein wenig gewartet, erhob er beide Hände:
Es soll beförderlich ein Gesetz erlassen werden,daß der Zehnken leichter abgelöft werden kann.“sh * ablösen!“ schrie einer. Aufheben, abaffen!“h griff der Beifall um sich.s Das ist auch schon vorgemerkl!“ beschwichtigte uyer.
Nun begann ein Sturm von Wünschen an die Tribüne emporzubranden:
Fort mit dem kleinen Zehnten! Fort mit dem Hirsezehnten! und mit dem Hühnergeld! und mit der Voglfteuer! und mit dem Stroh- und Obstzehnten!mit dem Gerstenzehnken! mit dem Bohnenzehnten!mit dem Wachsgelö! mit dem Weingeld! mit dem Neugrützzehnten‘ mit dem Ristenzehnten! weg das Säugeld fort mit der Rauch- und Raubzeugsteuer!“
Kach eingetretener Ruhe stellte sich Steffan wieder in Positur:
Der Zinsfuß soll herabgesetzt werden!
Ja! beim Eid! vier vom Hundert allerhöchstens!“klang es da und dort.43 []Und eine Vermögenssteuer muß her!“ schrie einer. w
Unverzüglich!“ behändigte Steffan das Leitseil.Jawohl! Und zwar eine für die Reichen! Die sol-len gehörig Haare lassen; so können die Armen entlastet werden und wieder schnaufen!
Der lärmende Beifall bewies, daß er ins richtige Fahrwasser geraten war. Kaum war der Lärm etwas gestillt, so erlönte der zornige Ruf;
Hinweg mit den Webereien! Fort mit den Spinnereien!“
Durch den auftosenden Beifall gellte eine Stimme:
Fort mit allen Maschinen! oder der rote Hahn fliegt den Fabriken aufs Dach!“
Wie ein Flugfeuer zuckte und züngelte die Drohung an zwanzig Stellen auf.
Jetzt stellle ich Guyer entschieden und hochauf-gerichket hervor:
Nakürlich wird das mit den Waschinen auch sehr ernstlich und gründlich in Betracht gezogen.Verlaßt euch draufl St * wandte sich halblaut. aber fast heflig an effan:
Jetzt machen Sie, daß Sie im Augenblick lan-den! oder ich besorge es! kein Widerspruch!
Steffan fühlte, daß ihm nichts übrig blieb, als sich zu fügen. Er hob wie segnend die Hände auf:
So habt ihr denn, Söhne des Vaterlands, euer Herz ausgeschüttet und den unerschütterlichen Willen kund getan unker Gollkes freiem Himmel, daß wir nicht wieder in den Sumpf der Ariflokralie ge kreten werden. Von nun an wird durch eure Mann-haftigkeit immer das Volk das erste Wort haben.Doamit aber die Herren das merken so seid ihr aufgefordert, zum Kreuz hinüberzugehen und dort die nit zu unkerzeichnen! Keiner soll zurück
44 []Doklor Brunner winkte den Sängern, um jede Außerung bösen Begehrens und aufrührerischer Lust abzuschneiden. Und sofort erhoben sie den Gesang:Stehe fest, o Vaterland!
Schweizer Herz und Schweizer Hand,Halte hest am Rechten!
Wo's die alte Freiheit gilt,
Sei dir selber Hort und Schild,Freiheit zu verfechten!Die Festen und bedächtig Gesinnken, die hier in der Überzahl auf dem Ziemiker gekagt, und vor allem die Männer vom Komitee akmeten auf. Selbst das Satyrspiel Steffans war glimpflich und unschädlich abgelaufen. Der Volkstag, dem sie mit Sorgen und Bedenken aller Art entgegengeblickt,dünkte sie wie ein Abglanz des seltenen Spätherbst-tages, der in seiner leisen Herrlichkeit eher wie ein Herold des Frühlings als wie ein Ansager des Win-ters ze r Alles war größer, schöner, weiter, als sie zu hoffen gewagkt. Sie genossen das erhebende,unsagbare Gefühl, das Jahrhunderten versagt sein kann: eine leichtere, lebendigere Zeit heranziehen zu sehen, die manches Ungute beseitigt und begräbt.
Ein Schimmer der Rührung lag auf Hegetsch-wilers bleichem Gesicht. Er bekannte und bereute im Sktillen, dem Kleinmut Raum gegeben zu haben.
Heinrich Guyer bückle sich nach einer verspäteten roten Kleeblüte, die dicht neben der Tribüne leuch-tete, und steckte sie an sein helles Müllergewand, das er auch an diesem Tag nicht abgelegt.
Die Menge begann nach allen Seiten abzuwandern, die Großzahl nach dem nahen Kreuz. Einzelne aber stiegen zu den Führern empor. um ihnen die Hand zu drücken.
Ihr Herren“, sagke Doktor Brunner, nachdem er mit der Hand zwei, dreimal auf die Brüstung ge-schlagen, da wir jetzt noch beisammen sind und die
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8 []Sachlage zu überblicken vermögen, so wird es ange zeigt sein, das Nächste und Notwendigste zu erwäA früher eins geworden, dem gesprochenen Wort mit dem gedruckken nachfahren, und zwar sobald als möglich. Es ist Gefahr im Verzug. Das Erste ist das Geld; das Andere erledigen wir unten im Kreuz. Ich zeichne 2000.
Die Übrigen blieben nicht zurück.
So“, schloß Brunner, jetzt wollen wir auch hinunter zu einem Schoppen und das Nähere zu Faden schlagen. Gut wär's auf alle Fälle, wenn die erste Nummer schon in einer Woche herauskäme. Man muß das Eisen schmieden, so lange es warm ist.“
Den wichtigen Gegenstand lebhaft erörkernd und zuweilen im Gespräch stehen bleibend, rückten sie gemächlich dem Kreuz zu.
Bluntschli und Hirzel hatten üch noch ehe Steffan ausgeredet, eben dahin begeben, um den Heim-weg nicht ohne Erfrischung ankreten zu müssen.
Im Hof, zwischen dem Wirtshaus und den Stallungen, waren eine Menge Tische aufagestelit. Auf den zwei ersten lagen Papierbogen, zwischen denen mit Federn standen.
Hier spazierte Johann Jakob Leuthy gravitkätisch auf und ab, ein Bündel Federkiele in der Hand.Er grüßte die beiden mit leichtem Kopfnicken,da er fand, daß ein Mehreres überflüssig sei, weil infolge des gloriosen Verlaufs der Versammlung sein Weizen nunmehr blühe; denn er halke schon die Mitteilung erhalten, daß er zum Redaktor des eben gegründeten Blattes ersehen sei. Er erwartete, von ihnen angeredet zu werden. Allein sie begaben sich rasch ins Innere des Hauses und sehten sich ans Fenster der Gaststube, das einen ungehinderten Blick in den Hof, erlaubte.
Sie hatten kaum die ersten Stücke Bauernbrod und Schinken in den Mund gesteckt, so rollte es dun46 []kel und lärmig vom Ziemiker in den Hof herein.Leuthy forderte zur Unferschrift auf und gab bekannt,daß im 8 selbst sich in einem eigens zum Schreiben hergerichteten Zimmer weitere Gelegenheit bieke.Die meisten warfen ihren Namen stehend hin. Nur einige Wenige, fur die das Anfertigen ihres Namenszuges eine kleine Handarbeit darstellte, setztken svi während hunderte warkeken, bis die Reihe an ie kam.
Plötzlich stimmke einer Freut euch des Lebens“an; sofort quollen Hof und Haus, Weg und Wiese von den heilern Tönen. In ihrem Takte begannen sich einige zu wiegen; und um anzudeuten, daß noch Tinke darin sei, überreichte mehr als einer von denen, die eben ausgeschrieben, dem Vachfolger die Feder mit der fröhlichen Aufforderung:Freut euch des Lebens,
Weil noch das Lämpchen glüht,Pflücket die Rose,
Eh sie verblüht!Aus dem Keller hauchte räuschig und verführerisch der Duft des jungen Weines; durch die offenen Küchenfenster sangen und jubilierten die Pfannen und sandten allerlei liebsame Gerüchlein aus. Die Tauben blickten verwundert und unruhig vom Dach herunter, und der Hahn hatte schon mit seinen Hennen den gewohnten Tummelplatz geräumt. Wagen,die man vormitkags eingestellt, wurden aus dem Schopf gezogen, bespannt und bestiegen. Denn Viele,die hier kein Unterkommen mehr fanden, beschlossen,ihren Festschoppen unkerwegs zu deadeeh
Endͤlich langten die Führer an, zuvor vi Steffan, der schon lange gern vorausgeeilt wäre, hätte er dann nicht die Ehre drangeben müssen, mit den Häuptern vor allem Volk añzumarschieren. Sogleich stürzle er auf einen Bekannten zu:
*
*[]He, den verfluchten Aristokraten habe ich's aber gesagld, nicht? Denen werden die Ohren aber nicht schlecht geläutet haben.
So siach er Verschiedene nach einem Springquell des Lobes an und nur ungern riß er sich los, als es galt, mit den Komiteeherren sich in ein reserviertes Zimmer zu begeben.
Die beiden Zürcher brachen bald auf, um nicht allzusehr in die Nacht hineinzugeraten. Bunton klärle sich, indem er sich in langen Auseinander-setzungen erging und rasch und sicher die vielfachen Eindrücke in die verschiedenen Schubladen einräumte, in die er Leben und Wissenschaft eec bringen pflegte. Hirzel wanderkle dumpf und unbehaglich neben her. Was er heute erlebt, lag noch vor ihm, wie ein dunkler Berg, über den nur zuweilen de schlanke Kellnerin mit dem Haarkrönchen känzelte.
Als sie die Bergwange über dem Greifensee anstiegen, lagerten an den aegen und Waldrändern schon zarke, träumerische Nebel. Und da und dort erklang Gesang aus dem flachen Lande.
So blühte der denkwürdige, erhebende Tag in Liedern aus.
48 []III.
Der Usterkag war das letzte Lächeln des scheidenden Herbstes im Zürichbiet. Es folgte ein unstäter,mißmutiger, wenn auch ziemlich gelinder Winter, der alle Augenblicke mit Nebeln, Regen und vorüberhuschenden Schneeschauern daherfuhr und nur ug einen hastigen Sonnenblick dazwischenzwickte. Nasse Füße, Schnupfen und Fieber standen auf der Tagesordnung, und das ganze Land räusperke und hustete.
Die Pfarrer vor allem schienen diesen Plagen zum Opfer zu fallen. Da hustete einer, daß das ganze Haus von oben bis unten erdröhnke; ein anderer hatke ein halbes Dutzend Taschentücher am warmen Ofen zum Trocknen hangen, womit er seinem unbändig rinnenden Schnupfen Einhalt zu tun krachtele; einem dritken verwehrte der heisere Hals jedes laute Wort, und dem vierten halte sich der Hexenschuß so gründlich ins Kreuz gebohrt, daß er so wenig auf die Kanzel zu gelangen vermochte, als Woses ins geloble Land.
Da zugleich ein oder zwei Pfarrhelfer von der Heimsuchung mitbetroffen und zufällig damals gerade weniger Anwärker auf geistliche Stellen vorhanden waren als gewöhnlich, so kraf es Bernhard Hirzel,ein Wal um das andere einzuspringen, bald zu Füß,bald mit dem Landpöstchen sich in die nähere oder fernere Umgebung der Stadti zu verfügen, um aushilfsweise zu predigen und mit andern seelsorgerlichen Handreichungen am Ort zu sein.
Von einem solchen Gang heimgekehrt, saß er an einem Februarabend, nachdem er die kropfnassen Kleider gewechselt, in seinem Zimmer und streckke
54 X []behaglich die Füßze von sich, die er in die aus Filz enden geflochtenen Hausschuhe gesteckt hatte. Er sehle die lange Pfeife in Brand und blies den ersten würzigen Ringei gegen den Walfisch auf der bemallen Vfenkachel, der, wie ein Mörser die Bombe, den Propheten Jonas ausspie, wobei er das linke Auge ein bißchen zukniff, als wollte er sagen: Gelt, du Schwerendter, jetzt habe ich dich doch rausgekriegtl Ddafür sperrte er die Vasenlöcher um so mächtiger auf.
Jeht klopfte es kurz, und Blunlschli krat herein.
Ich bin halb tot nach einer vierstündigen, mords-langweiligen Sihzung“, klagte er nach dem Gruß. Da hast du's doch gut in deiner stillen Budel“
Du hast eine Ahnung“', erwiderte Hirzel und stopfte mit dem flachen Daumen den ersten Anflug der Pfeifenasche etwas nieder. Es ist keine halbe Stunde her, so bin ich von Schlieren her durch das Geflüder heimgestampft, so naß, sage ich dir, ich hätte nicht nafser sein können, wenn ich mit den egyptischen Heerschaaren hinter den Juden her durchs rote Meer geschwadert wäre. Draußen in der Küche triefen mein Mantel und meine Schuhe. Die verlieren ein paar Tage ihre Flüssigkeit sowenig, wie das Olkrüglein der Witwe zu Sarepta.“
Bluntschli, der es in seiner gradlinigen Frim migkeit nicht liebbe, wenn man alle alltäglichen Lagen und Geschehnisse mit Worten der heiligen Schrift verbrämte und austapezierte, heftete seine Blicke a die dampfende Pfeife, die ihm, als einem Nichtraucher, mißfiel, und bemerkte nicht ohne VNachdruck:
Wan merkt deinen Sprüchen an, daß du eifrig hinker deinem Handwerk her bist. Da du nun gerade so famos im Zug bist, so ziehst du vielleicht noch schnell eine Stelle vom Brandopfer an.“
Hirzel schwieg, entschlossen, in diesem Punkt so wenig wie früher nachzugeben.30 []‚Sag einmal, begann Bluntschli wieder, schon zufrieden, seine Meinung an Mann gebracht zu haben, ‚wie gefällt's dir eigentlich in deinem neuen Wesen?“
Hm“, gab Hirzel etwas bedächtig Bescheid, das Predigen geht mir ziemlich leicht vonstatken. Ich ver-mag, wenn ich erst im Zug bin, ohne Mühe ein ordentliches Stück aus dem Stegreif einzuflicken. Eigentlich noch besser sagt mir der Konfirmandenunterricht zu. Da hat man die Herzen in der Hand wie in der Predigt. Hingegen die Krankenbesuche, es waren zwar bis jeht nur ganz wenige, fallen mir schwer, und ich habe jedenfalls dabei nicht die beste Figur gemacht. Und was nun gar die Mechanik des Verkehrs mit den Leuten bekrifft, namentlich mit den Stillständen (Kirchenpflege), weißt du, da bin ich sicher nicht auf der Höhe und werde auch kaum jemals hinaufkommen.“ibß du dir auch das nötige Ansehen und die nötige Würde?“ forschte Bluntschli, überzeugt, daß es sein Freund daran fehlen lasse.
Ja, was willst du da mit Würde und Ansehen?Ein Psarter wie der andere klagt dir, daß es seit dem Ustertag damit hapert und ein böser Geist in die Bauern gefahren ist, wenigstens in viele.Sie werden auflüpfisch, trumpfen unversehens auf,und geben unverblümt zu verstehen, daß sie binnen kurzem die neue Versasuns im Sack und damit das Heft in den Händen haben werden.“
Bluntschli zuckte die Schultern.
Es wird wohl noch dazu kommen, vielleicht noch eh der Kuckuck schreit. Rund drei Jahrhunderke hat die Stadt der Gemeinde den Pfarrer gesetzt und damit nicht nur manchem Untauglichen zu Kanzel und Brot verholfen, sondern auch die Landsöhne vom geistlichen Studium abgehalten, für die durchschnitt-lich nur ein Zwölftel aller Stellen übrigblieb und begreiflicherwelse nicht die fettesten, da die Bürgers
51 []kinder den Vorlkrikt halten. Jetzt will das Land auch an den Tijsch, unter den es die allen Vorrechte wischt.Aber schließlich ob dich die Regierung wählt oder die Gemeinde, groß wird der Unlerschied nicht sein,und das Amt bleibt einem ein lebenslänglicher Brotkorb wie früher, wenn er nicht allzusehr vom Pfad der Rechtgläubigkeit und Tugend abweicht.
Ohal da frag einmal unsere Pfarrer! Es ist Heulen und Zähneklappern unker ihnen! Sie rech-nen: sind wir von der Regierung gewähllt, so haben wir vielleicht einem Mann Rücksicht zu kragen, der stundenweil weg in der Stadt wohnk. Wählt uns aber die Gemeinde, so sind wir dem halben Dorf unkertan oder gar zwei Dörfern.“
Nun ja! aber auch drei Dörfer können dich nicht absetzen, wenn sie dich einmal gewählt haben.“'
Aber das Leben verbittern, versauen und ver-hunzen können sie mir! Du stellst dir nicht vor, was die Pfarrer jammern und schimpfen über die schmierige Kleinlichkeit und die hartherzige Geldsucht der Bauern. Es ist nicht zu glauben.“
Warum nicht?“, enkgegnete Bluntschli gelassen.Man muß es eben von vornherein glauben und sich darnach richten.“
Jetzt bitt ich dich: wenn ich auf meiner Studierstube sitßze und mich in einem Buch ergehe und es stänkert derweilen ein Dorffuchs und zettelt gegen mich oder einen andern irgend etwas an, wie soll ich mich da vorsehen?“unter die Leute gehen! für Kundschaft sorgenl die Augen aufkun und offen behalten! und nicht zu viel hinter den Büchern sitzen!“
Ich kann doch nicht mit den Bauern ins Wirks-haus laufen und im Stall die Kühe kältscheln. Ich bin nun einmal von Vatur ein Gelehrker! Und das will und muzz ich bleiben. Und im Frühling, was du noch gar nicht weißt, hoffe ich nach Berlin zu können. Ich glaube, ich habs jetzt beim Vater endlich erstritten.
32 []Und dann laß ich mich nicht mehr blicken daheim,bevor ich den Doktorhut in orientalischen Spraächen erobert habe.“
Er erhob sich und streckte die Arme aus wie einer, der an Kerkergittern rüttelt.
Das Gespräch sprang auf die Hochschulen Berlin und Paris über, die er zu beziehen gedachte, wobei ihm Bluntschli, der eben dort seine Skudien betrieben und beendet, manchen nützlichen Wink zu erkeilen wußke. Hirzel malte sich mit üppigen Farben aus,was er zu Füßen gefeierter Lehrer hören, in den mit Spezialwerken und Handschriften fürstlich bedachten Bibliotheken finden, was für Arbeiten er schreiben, was er an Anregung und Verkehr gewinnen würde.
Bluntschli, der die Luftschlösser anderer scharf-äugig musterte, so sehr ihm die eigenen, wenigstens die politischen, auf wirklichem Grunde zu stehen schienen, ließ ihn eine Weile gewähren. Dann mahnte er ihn aus seinen Himmeln zurück:
Es wird sich niemand mehr freuen als ich, wenn sich dir das alles erfüllt, woran ich nicht zweifle, und wenn ich dich mit Hut und Diplom eines wohlbestallten Doktors wiedersehe, hier in deiner Vater-stadt. Denn darüber brauchen wir nicht zu reden: du kommst wieder an die Limmat zurück und wirst da-her über deinen Studien und allem Übrigen nicht aus den Augen lassen, daß du im Lande deiner Väter ein Diener am Wort werden wirst, hochgelahrt und hochgeehrt.”
Hirzel stöhnte:
Wär ich doch auf der Schule ein fauler Strick und Nichtsnuß gewesen! Was hab ich jetzt davon,daß ich im Lakeinischen und Griechischen und besonders im Hebräischen euch alle überflügelte? Ein Pfaff bin ich geworden!”
Nimm Vernunft an!“' suchte Bluntschli zu be53 []ruhigen. Was hättest du denn sonst werden sollen und wollen?“
Was? ein Sprachgelehrter! ein Orientalist und nichts anderes! Hätlen sich nicht die Scholarchen, die Bremi, die Fäsi und kuktti quanti, die zum Ruhm Zürichs und der Zwinglischen Lehre ein gelehrtes Kirchenlicht aus mir zu machen wünschten, hinter den Zater geftecit, ich wäre es auch geworden. Aber ann
Was in aller Well willst du bei uns als Orientalistd Und auf einer ruhigen, nicht allzu anstren-genden Pfründe kannst du ein Gutteil der Jeit dich dinter die Bücher verschanzen und neue pflanzen, so viel du magst und kannst.“
Herr Jurist, gibst du mir das schwarz auf weiß?In mehr als einem Pfarrhaus machte man mir die Ohren voll, die Bauern seien dem Bücherwurm unter den Pfarrern nicht grün und meinen, er verstehe nichts vom praktischen Leben und wisse nicht, wo die Leute der Schuh drücke.“
Es macht dir sonst', hielt ihm Bluntschli nachdrücklich enkgegen, weder warm noch kalt, was die Leute sagen. Wenn dich aber in der Stadt das Gerede nicht beißt, was kümmerks dich, was vielleicht irgend einmal ein Bäuerlein hinker seinem Wist kräht?
Und wenn dieser Irgendein ein Dorfmagnat ist,der mir den Hund anheßt und die ganze Gemeinde gegen mich in Harnisch bringt?“
Wark's doch erst einmal ab!“ lachte Blunischli.
Und wo soll ich draußen auf dem Dorf die kost-baren Hilfswerke hernehmen? Und denkst du vielleicht, ich begehre ewig auf dem Lande zu sihzen und zu vergrauen?“
Er war aufgeregt und leidenschaftlich geworden.
Kommt Zeit, kommt VRall', tröstete Bluntschli.
Du bist ein Hans im Glück und redest wie ein solcher! Du hast daheim und draußen die erlesensten 54 []Lehrer gehabt, die es überhaupt gegenwärtig gibt, und steckst jetzt hier in einem Eröreich, wie es für deine praktischen und deine wissenschaftlichen Gaben sich gar nicht fetter denken läßt. Eine herzige Braut noch als Zugabe! Dagegen ich? Nur wenig Wonate jünger als du, soll ich erst jetzt das Richtige anfangen zu studieren, während du schon bald ein Jahr aus den Hörsälen zurück bist und schon da sitzest wie der Herrgott in Frankreich, so daß die alten Herren den Hut vor dir ziehen bis auf den Boden hinab. Was du gelernt hast, das kannst du alle Fingerslang brauchen; was ich aber bis jetzt studiert habe, das mag und will ich nicht brauchen! Und was ich nun zu studieren vorhabe, das werd ich nicht brauchen können! Ich bin und bleibe ein Unstern zeitlebens,und du wirst sehen, es kommt nicht gut mit mir! es kommt nicht gut!ꝰ
Er begrub die Stirn in die Hände und starrke mit aufgestützken Ellenbogen auf den Tisch.
Die irüben Ausblicke, die leidenschaftlichen Klagen des Freundes ergriffen Bluntschli. Die Trost-gründe, die er vorbrachke, schienen ihm selbst ohne Kraft und Überzeugung und blieben ihm halbwegs im Halse stecken. Er verabschiedete sich, froh, einen Besuch bei der Braut vorzuschützen.
Der Regen hatte aufgehört. Ein leiser grauer Duft rieselte über Stadt und Limmat. In den spär-lich beleuchteten Gassen und in den Schenken ging AXnen oder marschierken in lebhaftem Gespräch.llenthalben gab es erregte Blicke und Gebärden.Triumphierende oder höhnende Anrufe erklangen.Einzelne beriltene oder laufende Boten kauchten auf und riefen aus ihrer Orkschaft oder ihrem Bezirk die Kunde des denkwürdigen Geschehnisses aus.
An diesem Tage nämlich hatte das Volk des Freistaates Zürich abgestimmt über die neue Verfassung, die das Haupibegehren der Ustermänner
858 []verkörperle. Vierzig Tausend halten ja, wenig mehr als ein Tausend nein gesagt. Von nun an sandte die Landschaft in die oberste Landesbehörde, den Großen Rat, wei Drittel, die Stadt nur noch ein Driltel.Ihr jährhunderkaltes Vorrecht war gebrochen und lag auferstehungslos am Boden.
Unlen bei der Limmat angelangt, blieb Bluntschli einen Augenblick stehen. Es fuhr ihm plötzlich durch den Sinn, daß auf dem Dach des Rathauses,dessen Mauer er mit der Hand berühren konnte, so nahe stand er dabei, in allen Zeiten das Banner der Stadt aufgesteckt wurde, um die waffenpflichtige 33 zu Heerzügen und Feldstreiten aufzuieten.
Die Kriegsfahne flattert wieder auf dem Rakhausfirst', murmelte er. Der heultige Sieg wird noch manchen Kampf gebären. Landauf, landab weiß keiner der Radikalen und Freisinnigen zu sagen, von den Anhängern und Freunden des Alken zu schweigen, was ihm aus dieseg Umschwung erblüht. Jedenfalls konnte einer früher, wo alles auf alle Dauer gegründet schien, mit ganz anderm Vertrauen in die Zukunft blicken und auf die Flut der Staatlswogen hinaussteuern.“
Ihm war, er sehe in den über der Limmat webenden Nebeldüften Heerschaaren durch den Stück-rauch gegeneinanderstürmen. Ihm war, er höre die Harsthörner versunkener Zeiken. Und die herausfordernden Trompeten seiner Tage schmetterten darein.
Und was auf einmal aus den grauen Höhen niederdrängte, war das nicht der Frühling, der, nur angesagt von unerschrockenen Finkenschlägen, bis jetzk sich verborgen gehalten hatte? Und was da droben hing, waren das verhüllte Gewitter, die der Sommergott aus feurigen Fäusten niedersenden wollte?
Er fühlte, wie er die Brücke verließ und den Weinplatz betrat, ein unmerkliches Schüttern. War 56 []es ein Erdbeben? War es die dämonische Frühlings-kraft, die ihn ahnungsvoll berührke?
Er wußte es nicht und dachte nicht weiter daran.Denn eben fiel ihm Bernhard Hirzel wieder ein. Zu ihm kehrten, nachdem er das Haus der Braut verlassen und seiner Wohnung zuwanderte, seine Gedanken harknäckig zurück.
Wie sollte der leicht Schwankende und über das Ziel Schießende bestehen in der gährenden, bran-denden Zeit? Fühlte er nicht selbst, daß seine Aspekte drohend blickten, besonders wenn ihm kein anderer Ausweg blieb, als in den geistlichen Rock zu schlüpfen?
Er brachte die schweren, unbestimmten Gedanken den ganzen Abend nicht aus dem Sinn und blies die Kerze auf seinem Vachttisch mit einem Seufzer aus.
57 []WVW.
Ein lichtblauer Lenzhimmel spiegelte sich und eine keilförmig gestaffelte Herde Wigch Wolkenschäfchen im ane den der laue Föhnhimmel überhauchte, ohne ihn zu kräuseln. Die Albiskekte stand in violettem deg von Frühlingsahnung umFie und über die Vorberge kräumkten die Firne erein.
Auf der rechten Ie fuhr von der Stadt her,deren graue Türme nachdenklich dem Frühling entgegenblickten, ein Schiffchen und schleifte im unbewegten Wasser einen langen 35 hinter sich her.Der weißköpfige, krausbärtige Schiffmann war aus dem Rock geschlüpft und hatte ihn samt dem Hut auf die Bank gelegt, um die Stehruder ungehemmt zu handhaben und sich von der Sonne küchtig anstrahlen zu lassen. Er zwinkerte zuweilen mit den Schelmenaugen und verzog die Lippen ein wenig,es war nicht auszumachen, ob wegen des Zweigleins, das er im Mundwinkel hielt, oder weil ihn der junge, schwarzgewandete Herr lächerte, der vor ihm saß, sorgfältig frisiert und herausgeputzt, den Hut auf den Knien und in der Hand einen von Seidenpapier umwickelten Strauß Blumen, die er in einem Treibhaus aufgetrieben haben mochte.
Der Insasse des Schiffchens war Bernhard Hirzel. Er hatke an der Verlobung seines Freundes Bluntschli eine junge Zürcherin khennen gelernt, die es ihm im Sturme antat. Es war ihm seilher geglückt, weil sie es ihm fühlbar leicht gemacht halte,ihr ein paarmal zu begegnen. Und jeßt war er da58 []ran, sie nach regelrecht getroffener Abrede in ihrem väterlichen Hause & besuchen. Sein Herz geriet in Aufruhr, als das Schiffchen der schmalen, mik Büschen bestandenen Bucht zusteuerke und an dem Stein-kreppchen landete, das ins Wasser führte. Nachdem er, mit der Zulage eines staktlichen Trinkgeldes, den Fährmann äbgelohnt, ergriff er hastig mit der Lin-fen die Blumen, mit der Rechten den Hut und kat vom Schiffsrand einen kühnen Sprung auf die oberste Stufe des Treppchens, befeuert durch den Anblick der Angebeketen, die eben jetzt aus dem nahe gele-legenen Hause heraustrat. Doch er stolperte und DDDSchritte willenlos vorwärks, indem er die Hände,ohne Hut und Blumen fahren zu lassen, schräg vor sich hinstreckte, während die langen Rockschöße einen Augenblick wagrecht in der Luft zappelten wie ein zuchkendes Steuer. Nach zwei, drei Sekunden ka-men Kopf und Genick wieder obenauf, und der Sturz war abgewendet.
Der Schiffmann lachte eine derbe Scholle. Jedoch das Fräulein, das dem Ankömmling entgegenschritt,tat nicht das Geringste dergleichen, obgleich sie das possierliche Mißgeschick genau wahrgenommen, und gönnte den feingeschnikkenen Lippen ihres roten Mundes kein anderes Lächeln als das eines freundlichen und unbefangenen Willkomms. Hirzels Arger und Verwirrung löͤsten sich rasch, als er die weiße, zum Gruß gebokene Hand in der seinen fühlte,und sein vom Schrecken erbleichtes Gesicht rötete sich freudig. Bevor er sich indessen noch völlig zurechtgefunden und adjustiert hatte, stand er schon auf dem farbigen fremdländischen Teppich eines gemüt-lichen Zimmers zu ebener Erde, das zur halben Höhe mit weißgestrichenem Getäfer ausgekleidet und mit alten Familienbildern in Goldrahmen geschmückt war. Auf dem kleinen Klavier aus MWahagoniholz war ein Liederheft aufgeschlagen, und aus einer 722 *[]Ecke schimmerte eine 5 an deren Querbalken eine himmelblaue Allasschleife hing.
Er saß noch kein Viertelstündchen unker dem Bann des behaglichen Raumes und des liebenswür-digen Gegenübers, so öffnete sich die Türe, und herein ktrat eine junge Dame.
Meine Schwester Betty“, stellte die Angebetete lächelnd vor. Damit Sie uns nicht verwechseln,muß ich Ihnen den Namen sagen! Daß ich Charlotte heiße, das wissen Sie gewiß schon.“
Beide Schwestern waren gleich stattlich gewach-sen, einen halben Kopf höher als Hirzel. Beide trugen das üppige Blondhaar in der Miltte gescheitelt und eine auf die Schulter niederfallende Schläfenlocke. Aus den weißen, regelmäßigen Gesichtern blickken weitgeöffnetle blaue Augen, deren untere Lider nach außen merklich ausgebuchtet waren, was den Eindruck des großzügig Unkernehmenden erweckte. Beide waren in helle, blaubeblümte halbsommerliche Gewänder mit puffigen Oberärmeln gekleidet, und über dem Busenschlitz hing ihnen an goldenem Ketkchen ein Medaillon in Herzgestalt.
Verwunderk ließ Hirzel seine Blicke von der einen zur ˖ andern wandern und fand nicht gleich Worte. Denn obgleich ihn das Weibliche rasch entzündetle und in Schwung brachte, so geriet er doch leicht in Verlegenheit als Einer, der daheim wenig Umgangsformen und Schliff empfangen und immer über den Büchern gesessen hatte.
Charlotte ergriff das Skeuer:
„Sie denken gewiß, wir seien Zwillinge und es hätte, da Zürich nicht so unerhört groß ist, Ihnen von uns, d. h. von unserer Ahnlichkeit, schon eiwas zu Ohren kommen müssen, weil so etwas nicht alle Tage vorfällt und man sich meistens darüber wundern muß, wie verschieden Kinder gleicher Eltern sind. Aber die Sache ist, daß meine Schwester, die fünsfzehn Monate weniger zählt als ich, sich Jahr 50 []und Tag bei einer Tante in St. Gallen aufhielt, um in allem auszuhelfen, und daß sie mir erst in dieser Zeit so kurios ähnlich geworden ist. Sie begreifen,daß die Elkern wie Verwandte und Bekannte vor Erstaunen die Hände üherm Kopf zusammenschlu-gen, als sie endlich vor kurzem wieder in ihr altes liebes Nestlein zurückflog. In unserm Heimweh nach ihr bedeuiete es uns einen rechten Trost, daß sie in St. Gallen das Kochen und die Hausgeschäfke durchs Band weg aus dem Fundament gelernk hak. Es war eine rauhe, aber vortreffliche Schule, die ihr zeit-lebens zustakken kommen wird. Und dem langen Fernsein zum Trotz sind wir beide einander auch an Sinn und Gemüt ähnlicher geworden, sodaß es zwischen uns prächtig zusammengeigt, mehr als in un-sern Kinderzeiken, wo wir es doch auch gut zusam-men konnten. So soll es nun weiker geschehen! Und wir lassen dich nicht wieder von uns!“
Sie legke den Arm um Betty und blickle sie und hierauf Hirzel zärtlich an, sodaß es ihn mik einem-mal beglůckend durchorang, sie umfasse die Schwester und ihn mit demselben Gefühl.
Ja“, erwiderte Betty fast tkraurig und krotzig,aich bleibe künftighin bei euch, und mit sieben Ros-sen bringt man mich nicht wieder fork!“
Ein charmanter Vorsatz'“, lobte Charlotke. Und jetzt einen Vorschlag! Der Herr Pfarrer verschmäht es hoffenklich nicht, mit uns Weltkindern ein Täß-chen Kaffee zu trinken! Bis es soweit ist, gehe ich mit ihm noch ein paar Schritkte im Garken hin und her, d. h. per se, wenn er Lust hat. Sonst ist er du bist gewiß einverstanden sehpast eingeladen,dir Gesellschaft zu leisten, während du den Tisch deckst. Denn daß du das kust, wollke ich dir belieben.“
Bettys Gesicht überschaltete sich kaum merklich.
Man kann ja, wenn du meinst'“, warf sie hin.
Schön“, erwiderte Charlotte freundlich, wies
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3 []aber die Schwester, doch so, daß Hirzel es nicht bemerken konnte, mit ernstem Blick zurecht.
Betty versuchte, sich Iächelnd danach zu richten.
Geht nur gekroft! Ich werde mich anstrengen,daß ihr mit mir zufrieden seidd
Sie kraten ins Freie. Es dünkle Hirzel, er wandle an der Seite einer Göttin in einem Tempel-hain, und die Empfindung überströmte ihn, so reine und helle Augenblicke oft ersehnt, niemals jedoch erlebt zu haben.
Die blaue Seeflut leuchtete zwischen den grauen Stämmen, der Himmel strömte durch die noch leeren Baumkronen hernieder. Aus dem Rasen des bescheidenen Rondells blickte zukunlich ein Trüpplein Maßliebchen, die den Winter überdauerk hakken,und da ünd dort stachen leidenschaftlich sehnsüchtig pereinzelte violektte und weiße Crocus aus dem Grund empor. Schimmernder Epheu umklammerte den Sockel eines Sandsteinadoranten, der, in den schäferlichen Tagen eines Salomon Geßner geschafq mitten im Rondell seinen Platz gefunden und ie Unbilden der Witterung nicht zum besten erkragen hatte. Er hatte die Vase zur Hälfte und eine der ausgestreckken Hände völlig eingebüßt. Eben flog eine Amsel auf die erhaltene und jauchzte den Frühling aus allen Kräften an.
Nachdem Charlotte und Hirzel eifrig sprechend elwa ein Dutzend mal rundum gegangen wäaren,wagte er den Vorschlag, fich auf die Steinbank niederzulassen, die einige Schritte vom äußern Weg rand entfernt stand und jetzt vom vollen Sonnen-schein übergossen war, da die dicht dabei gepflanzten Schattenstämmchen kaum ein Schimmer SVlaftwerk angehaucht hatte.„1. Es währte nicht lange, so ging Hirzel das Herz über, und er vermochte sein Inneres nicht mehr zu verbergen. Die schöne Hand der Begleiterin ergreifend, sagte er:
52 []Wie herrlich! hier möchte ich mit Ihnen sitzen,nicht nur jetzt für einen Augenblick, nein, mein ganzes Leben langl“
Sie entzog ihm die Hand sanft, indem sie, während ihre blauen Augen schalkhaft blitzten, mit geheucheltem Entsetzen erwiderke:
Aber, Herr Pfarrer! da sieht man wieder die Herren Gelehrten und Studierten, die immer in den Bohnen sind und ihre Gedanken spazieren lassen, in den Mond oder Goltt weiß, wohin sonst. Bei der haben Sie nicht gemerkt, daß es gestern ordent-lich geregnet hat? möchte ich keine zwei Minuken auf der kalten Bank verbringen, geschweige denn ein ganzes Leben. Da hätke ich gleich einen Schnupfen am Hals oder irgend etwas anderes zum Kräch-zen. Und darum, wenn ich Ihnen gut zum Rate bin,marschieren Sie noch so lang mit mir, bis der Kaffee das Licht der Welt erblickt hat.“
Sie schritt weiter. Hirzel gesellte sich wieder zu ihr, verblüfft und schmerzlich betroffen, da er aus ihren Worten und selbhstsichern Liebeswürdigkeiten nicht klug wurde und dennoch Unheil witterte. Er ging etliche Schrikke wortlos neben ihr her. Ihm manñgelte die Gewandtheit, rasch in die dunkle Lage hineinzuzünden. Sie sah genau, was in ihm arbeitete und was er im Schilde führke, zumal er mit seinen Gefühlen und Absichten wenig hinter dem Berge gehalten. Sie beschloß, ihm einen weitern Anlauf zu verbauen, einen Korb zu ersparen und zugleich einen Plan, der nicht erst von heute stammte, ins Werk zu setzen. Sie ließ ihm keine Frist, den Faden aufzunehmen, sondern begann:
Erst vor wenigen Augenblicken haben Sie mir ein Licht darüber ausgategt J Ihre Gefühle für mich mehr als freunöschaftliche sind, wenn ich mich nicht käusche.“
Sie käauschen sich nicht“, rief er, so ist es!
53 []Ihr Bekennlnis“, fuhr, sie ruhig fort, entreißzt mir mein Geheimnis, das ich bis jetzt strenge gehütet habe und worum nicht einmal die Eltern wissen: ich bin seit bald einem Jahre heimlich verlobt und versprochen.“
Hirzel stietz einen dumpfen Laut aus und ließ vernichtet Kopf und Arme hängen. Göttin und Tempel schienen ihm mit eins versunken.
Sie dürfen mir glauben', nahm sie von neuem das Wort, ich habe gegen Sie nicht das Mindeste einzuwenden, und ich würde, wäre ich frei, auf einen Antrag von Ihnen nicht mik nein ankworken.“
Es kann Sie Keiner lieben wie ich', rief Hirzel leidenschaftlich.
Sie lehnte freundlich, doch bestimmt ab:
Sie wissen selber gar wohl, Herr Pfarrer, das ist eine Frage, die wir, wie die Dinge nun einmal liegen, besser nicht erörkern und ergründen.“
Er starrte bleich und entgeistert vor sich hin, die starken schwarzen Augenbrauen zusammengezogen und die vollen Lippen aufeinandergepreßt.
Herr Pfarrer“, mahnte sie, indem sie ihm flüch-tig die Hand auf die Schulter legte, sehen Sie die Sache nicht schlimmer an, als sie ist!
Nicht schlimmer, als sie ist!“ fuhr er auf. Was en das heißen? für mich könnte sie nicht heilloser ein.“
Er sah sie mit einem Blicke an, als wolltke er sagen: KRede, was du willst! mir hilft nichts mehr!
Ich muß Ihnen nämlich“, fuhr sie unbeirrt fort,Zum ersten Geheimnis noch ein zweites anbertrauen. Wachen Sie nur ein Gesicht wie der ungläubige Thomas! Nämlich, Sie haben bei mir weniger Liebe gefunden, als Sie suchten; dafür finden Sie mehr, als Sie denken, bei einer andern, würdigern. Und es könnte Ihnen leicht geschehen, wie Saul, dem Sohn des Kis, der auszog, eine Eselin zu suchen, und der ein Königreich fand“54 []Allem Elend zum Trotz lächerte es Hirzel, daß das kluge und bildhübsche Fräulein sich selbst mu einem Esel verglich. Er enkgegnele bitter:
Ich meinen Ortks würde mit freier Wahl nach der Eselin greifen und den Königskron der Juden mit Freuden einem Andern überlassen.“
And ich, Herr Pfarrer“, lächelte sie, würde doch das Königreich erst ein bischen beaugenscheini-gen, bevor ich es rundweg von der Hand wiese. Die Mühe wäre gering. Denn das Reich ist nahe.“
Ich verstehe von allen Ihren Reden keinen Kabis“, brummte Hirzel unwirsch.
So hören Sie denn! Sie ae, soviel ich sehe,meiner Schwester durchaus nicht gleichgültig. Das ist das Geheimnis.“
Hirzel machte große Augen:
Ihrer Schwester? Wie käme ich dazu? Wir habz 8 doch vorhin das erstemal in unserm Leben gesehen.“
Ja und nein! Die Augen unserer Betty sind halt Sperberaugen! Sie hat Sie schon mehrmals erspäht, wenn Sie hinter Ihrer Brille durch die Gassen träumten. Und also: ich wiederhole: sie hat Sie gern gesehen. Und da wir Schwestern in allem sozusagen gleich sind, so meinte ich“ sie stockte. Da ruft man ja eben zum Kaffee.“
Ein unvermutet eingetroffener Dasessissrennd verhinderte den Vater, dessen Kontor sich in der Stadt befand, am Erscheinen. Die stille und freundliche Mutker verschwand bald wieder, nachdem sie eine dse gekrunken, um eine erkrankte Freundin zu besuchen. Auch nach ihrem Weggang wollte das Gespräch anfänglich nicht recht in Fluß geraten, so gewandt und eifrig Charlotte das Gespräch lenkte.Betky ging wenig aus sich heraus. Sie betrachtete von Zeit zu Zeit ihre wohlgepflegten Fingernägel,warf einen Blick auf ihren wohlgebildeten Busen,um sich zu vergewissern, ob das goldene Medaillon
5 Frey, Bernharb Hirzel
5 V []noch genau in der Mitte hing, und strich dann und deehe Fällchen glatt, das sich in der Tischdecke zeigte. *28 Niel fühlte sich wie in einem schmerzlich süßen Traume, in dem er sich nicht zurecht fand und aus dem er sich eigentlich auch nicht los zu machen wünschte. Sellsam rang das Weh um die Ver-lorene mit dem ihm immer noch nicht völlig faßlichen Gedanken, daß die Schwester zum Ersatz bereit sor Von Frauenschönheit leicht und stark berührt, mußte er einräumen, daß sie die schönere war, weil sie bei gleich untadeligen Wuchs das regelmäßigere Gesicht und einen eigentümlichen Reiz der Vornehmheit besaß. Freilich über ihren Zügen lag etwas Starres,waährend es über den Charloktens immerzu leuchtete wie ein stilles ewiges Licht. Betty lachte nur halbunterdrückt, mit kaum geöffnetem Mund und einem Laut, der aus der Ferne zu kommen schien. Beim Antworken lehnte sie sich stets ein wenig zurück, sodaß es wie ee Abweisung aussah, doch ohne irgend einen Eindruck des Hochmütigen. Und ihren Lidern fehlten die langen, weichen Wimpern Charlottens.Während Hirzel wieder, was er im Grunde in einem fort kat, die beiden anmutigen Geschöpfe im Stillen mit einander verglich und zugleich die Bitternis der Einbuße mit der dämmernden Hoffnung eines Liebeserwerbes kostete, fiel sein Blick auf die zierliche Kaffeekanne, die Charlotte, nachdem sie sich eingeschenkt, eben wieder auf den Tisch oder vielmehr auf den Untersatz gestellt hatte. Nün erfuhr er von ihr, das ganze Porzellanservice, um das er sich bis jetzt nicht gekümmert, sei ein Familienerbstück,das nur bei ganz besondern Anläßen hervorgeholt werde, und entstamme der vor Zeiten berühmten,aber ungt eingegangenen im Schoren bei Kilchberg am Zürichsee, an der kein Geringerer als der Idyllendichter Salomon Geßner sich mit seinem Pinsel und, zu seinem schweren Schäden,86 []auch mit seinem Beufel beteiligt habe. Er habe laut dem angebrachten Monogramm das graziöse und allerliebste Bildchen auf der Kaffeekanne eigenhändig gemalt: ein Schäfer steht zwischen zwei Hirt-innen, von denen die eine, der er sich Gonee zuwen ·det, sich entschieden abkehrt, indessen die andere seine freie Rechte mit beiden Händen umklammert.
Das bist Du, leibhaftig gemalt! Nur scheint dem Schäfer mit seinen Rosenbändern ein Erkleckliches leichter zu Mute zu sein!“ fuhr es Hirzel durch den Kopf, und ein halb schmerzliches, halb spöttisches Lächeln kräufelte seine Lippen.
Ich will Gott danken“, bemerkte Betty, wenn das kostliche Zeug wieder heil und ganz im Kasten ist. Ich entsinne mich noch ganz deutlich, wie es mich ärgerte, als ein Besucher sich so ungeschickt benahm,daß er eine von diesen Tassen vom Tisch in Scherben schlug. Jedesmal, wenn ich ihn sehe, raucht es wieder in mir auf. Überhaupt dünkt es mich eine sne Idee, Geschirr anzumalen, das man in Gehrauch nimmt. Man gäbe das Geld viel vernünftliger für einen Ring oder eine Kelke aus.“
Da sieht und hört man wieder das vernünftige Hausmülterchen“, lachte Charlokttke. Aber wir wollen dich von deiner Angst erlösen und noch einen Lauf im Garken kun, bis abgetischt ist.“
Keine Rede!' eiferte Betty. Das Geschirr kommt mir der Magd nicht unter die Klauen! Geht Fr nur! ich rufe dann schon, wenn ich's versorgt abe.“Man erhob sich. Als Hirzel seinen Stuhl zurück-schob, riß er die Tischdecke ein wenig gegen sich, von der eine Franse sich an einem seiner Rockknöpfe verhäkeltl hatte. Wie ein Habicht zufahrend, ver-mochte Charlotte noch eine Tasse zu erhaschen, als sie sich eben über die Isente neigte. Um eine andere aber war es geschehen. Sie zerschmetlerte
21 538 []zwar nicht, da sie auf den Teppich fiel. Allein der Sturz drückte ihr den zarken Henkel ab, dessen weiße Bruchflächen nun kläglich emporblickken.
Verstört und erschreckt hatte sich Hirzel gebückt und aufs Knie gelassen, ohne freilich etwas anderes zu erreichen, als daß er den Schaden aus nächster Nähe belrachtete. Es eilte ihm nicht, sich wieder aufzurichten. Denn Betty stieß einen unwilligen Laut aus und stampfte vernehinlich mit dem Fuße. Char-lotte jedoch rief hinunter:
„Stehn Sie auf, Herr Pfarrer! Sie bringen uns Glück! Der Papa hal schon manchmal nachdrücklich versichert, er habe mit dem Besuch, der vor Jahr und Tag eines dieser wehleidigen Porzellänchen in seine Bestandteile zerlegte, sozusagen von Stund an geschäftlich Seide gesponnen. Also gieb dich zufrieden und nimm das Gute daraus!Sie kätschelte die Schwester auf die Schulter und half der Laune und der Unterhaltung bald wieder in die Höhe. Man erging sich * im Garten, in den Himmel, See und Gebirge ihren Schimmer hereinschütteten. Sdehst Bekty kaute auf und sah nun,da sie ein heller Schein anflog, erst recht und immer mehr der Schwester ähnlich.Als man von dem kleinen Rundgang im Garken ins Haus zurückgekehrt war, ließ sie sich leicht zum Singen bewegen. Mit leidlich geschulter, doch etwas herber und dünner Stimme trug sie erst Schuberts wundersames Lied vor, das gleich einem Hirten-feuer aus schwelenden Herbstnebeln aufleuchtel: Ich komme vom Gebirge her!“ Hirzel fühlie sich bewegt,obgleich die Seele der Sängerin die schwebenden Hauche, die schicksalsdunkeln Schauer der Tondichkung nicht einfing. Besser gelang ihr eine senlimen tale Weise zu einem Text, den sich irgend ein frecher Reimschuster zum nördischen Hausgebrauch aus Goethes ewigen Wortken zurechtgeflickt halte:58 []Kennst du das Land, wo stets die Veilchen blühn,Am grünen Bach die Rosen ewig glühn?Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,Der Obstbaum reich und hoch die Rebe steht?Kennst du es wohl?dahin, dahin Möcht ich mit Dir, geliebte Freundin, ziehn!Hausbacken und ohne rechte Freude sang sie darauf das damals beliebte:
Wer wollte sich mit Grillen plagen?“
Sie machte Miene, das Klavier zu schließen.Aber Charlotte bat:
Gib uns doch noch die Blümchen zum Sie stehn dir so gut! Sie passen so zu dir!“
Bekty ließ sich erbitten:Ein Blümchen lacht im Frühlingstal,Umglänzt vom Worgensonnenstrahl,Ein Kind der Blütenzeit;
Ist rosenfarb und weiß und blau,Der schönste Schmelz verjüngter Au:Sein Nam ist Artigkeit!Am Schlusse jeder Strophe prangte eine andere begehrenswerie Tugend, nämlich Siltsamkeit, Heiter-keit, Empfindsamkeit, Bescheidenheit, easenhen Häuslichkeit und Beständigkeit. Diesen Katalog von Vvorzügen krönke der Wunsch des Dichters, alle die 23 in einem Strauß vereinigt zu finden.Jedesmal, wenn das bezeichnende Wort erklang,nickte Charlotte dem andächtig lauschenden Pfarrer zu und winkle mit dem Kinn unmerklich gegen die Sängerin, als möchte sie sagen:
Das hat sie! Just diesen Vorzug besitzt sie!“die Schwestern geleiteten den Scheidenden bis zur Garkentüre. Dort verharrken sie alle drei eine Weile schweigend, die Augen auf das im Abendrot 69 []strahlende Schneegebirge geheftel. Sie spürken, daß sie sich nicht trennten, wie sie vor Stunden zusammengekommen waren; sie fühlten das Ungewisse und Ungereifte der Dinge. Das eben verwehrtke ihnen ein andeutendes oder klärendes Wort, nur daß X zur Wiederholung des Besuches aufforerte.
Vachdenklich schritt Hirzel, unweit dem Seeufer,die Straße dahin, die der Stadt zuführt und an der damals erst einige Häuser standen. Zuweilen hielt er kopfschüttelnd an, fuhr sich mit der Hand über die Slirn und murmelte vor sich hin.
„Müssen nicht die Seelen in zwei so ähnlichen Leibern im Grunde ähnlich sein? Kann die Züngere sich nicht noch entfalten, wie die Ältere sich entfältet hat? Wäre nicht denkbar, daß ihr zurückhaltendes Wesen nur aus Bescheidenheit erwüchse? Birgt am Ende die weniger glatte und weniger angenehme Schale nicht gar einen werkvollern Kern?“
So rätselke er. Einsilbig, zerstreut, voll Unrast am Tage, verbrachte er ruhelose Nächte, in denen er, mehrmals aufstand, um das Fenster zu öffnen.Schmerzlich vermißte er Zwiesprache und Ratschlag eines Freundes, weil seiner Natur versagt war, auf Grund allseiltiger und andauernder Erwägung zu entscheiden. Der Einzige, dem er sich hälte aus-ften mögen, Bluntschli, befand sich auf einer eise.hif einmal ertappte er sich darauf, daß ihm eigenllich das Fernsein Bluntschlis willkommen war. Wenn er mir am Ende widerriete?“ schoß es ihm durch den Kopf, und er empfand bei dieser Vorstellung eine wahre Abneigung gegen den Freund.
So tief hatte sich Bettys Bild schon eingegraben.„‚Selbst ist der Mann!“ ermutigte'er fich. Es hilft dir keiner! Tu die Augen auf und fieh zu deiner Sache! Betty prüfen! Dich selbst prüfen! Nur nichks verstrudeln! Laß dir Zeit!“70 []Doch seine Zeit in gtgich war schon so gut wie um. Mitte April verließ er die Vakerstadt, um seinen sehnlichen Wunsch zu erfüllen und auf ausländischen Hochschulen orienkalische Sprachen zu studieren.
Er band sich, ehe er in die Fremde zogg.
Ein anscheinend beiläufiges Wort Charloltes halkle ihm angedeutet, daß ein anderer Bewerber auf den Plan getreten sei.
Da fühlte er die Unmöglichkeit zu ent
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[4]Beinahe auf den Tag zwei Jahre nach seiner Abreise kehrte Bernhard Hirzel wieder in die Vaterstadt zurück. Er hatte in Berlin und Paris eifrige Studien betrieben und schließlich in Göͤllingen den wohlverdienten Doktorhut erobert.
Keine zwei Wochen nach seiner Ankunft und erst notdürftig wieder in die heimatliche Enge eingezwängt, erlebte er eine Feier, wie das sesirie Zürich niemals eine würdigere ins Werk gesetzt hatte. Am 29. April 1833 nämlich wurde die Stifkung der eben gegründeten Hochschule festlich begangen, acht Tage, nachdem sie ihre Tore erstmals aufgetan.
Schon über ein halbes Jahrtausend hatken die Wissenschaften an der Limmat Unterftand und Fürsorge gefunden, bald mehr, bald weniger. Aber die Ark der Förderung, die man ihnen von Staatswegen angedeihen ließ, hatte sich überlebt, und die ihnen zugewiesenen Gelasse waren eng. In diese Dinge beschlossen die freisinnigen Männer, die ein Viertel-jahr nach dem Ustertag ans Ruder gelangt waren,Wandel zu bringen. Von der Erkenninis durch drungen, daß polnische Freiheit der Bildung bedarf,und vom Wunsche beseelt, der allgemeinen Bildung aufzuhelfen, schufen sie ein Unterrichtsgeseh, das die Volksschule von Grund aus umbauie, errichteten in Küßznacht eine Lehrerbildungsanstalt, gestaltekten das tlausendjährige Chorherrenstüft in ein zeilgemäßes Vymnasium um und sehten mit einer Hochschule dem Ganzen die Krone äuf. Bei diesem Unterneh72 []men, das in den kleinen Verhältnissen kein geringes Wagnis bedeutete, kam ihnen zustatten, daß die erforderlichen Mittel nicht erst aufzuvringen waren,sondern schon in den Truhen des ausgehonenen oreee lagen, und daß man der frohen Zuversicht leble, die neue Schöpfung werde binnen kurzem als eidgenössische Hochschule erklärt und da-mit dem Kankon eine bekrächtliche Last abgenom-men werden. Von vornherein mußte man darauf verzichten, die alma mater unker eigenem First und wie eine Fürstin in einem Palast zu behausen, der ihr ausschließlich zugehörte; sondern sie mußte sich gleich einer unbemittelten Bürgersfrau kümmerlich beheifen. Denn sie sah sich genöligt, die wenigen und recht bescheidenen gongene auf Jahre hinaus in drei alten Gebäuden zu suchen. Und erst im folgenden Jahrhundert führten die Enkel jener hoffnungs-freudigen Stifter sie in ein würdiges Haus.
Allein der Hauptwurf war getan: der Lehrkör-per war een und zählte eine Reihe vorkrefflicher Kräfte. Und schon hatten sich zum vielversprechen-den Anfang über hundert Studenten eingefunden.Gehobenen Sinnes blickte man der Zukunft entgegen, überzeugt, daß für das Geistesleben der Sladt ein neuer, wichtiger Abschnitt angebrochen sei.
Schon im ersten Schein des Igtigges begann es zu fummen und rumoren. Haarkünstlerinnen und Haarkünstler eilten leise und doch wie von Furien gepeitscht durch die Gassen, um stolze Lockengebäude aufzutürmen. Frischgeglättete lichte Kleider schwebten an hochgehobenen Armen gleich den abgeschiedenen Seelen osane Helden daher und dersanken hinter den Hausküren wie ins Schathen-reich. Manchenorts befestigte man noch Kränze oder hing Fahnen heraus. Denn alles te mit möglichstem Pomp in Szene gesetzt werden, weil just die eidgenössischen Tagsahßungsherren in der Stadt weilten, die natürlich wie Viemand sonst ge
73 []eignet waren, das Lob Limmatathens durch die Lande schallen zu lassen.
Zunächst kat der Himmel das Seine, indem er ungetrübten Glanz auf Berg und Tal niederstrahlte und den Städtern wie der herbeigeströmten Land-bepölkerung die Laune vergoldete. Vom Ralthaus,dagg graue Mauern die grünen Fluten des Flusses bespühlen, die schmale, kurze Warktgasse hinauf und rechts an der Post vorüber bis zum Haupteinang des Großmünsters war zu beiden Straßen-* Mililär aufgestellt. Die Infanterie trug den ohen, schwarzen, messingbeschlagenen Tschako mit geschuppter Wessingsturmkette und rotkem Pompon,dunkelblauen Waffenrock, Kragen und Aufschläge rot, die Beinkleider wie der VRock. Die Schützen unterschied von den Ührigen die dunkelgrüne Farbe des Rockes. Den Ausbund der militärischen Pracht bildeten ein par esce mit ihrer Mannschaft; sie trugen dunkelgrünes Kleid wie die Schüz-zen, doch mit goldnen Knöpfen und auf dem mes-singbeschlagenen Helm eine mächtige kohlschwarze Raupe, die Sturmkelle geschuppt und spiegelblank wie die glänzenden Epauletten. Die Pferde hatten se daheim lassen müssen, da in den engen Gassen ein Raum für sie war.
Schlag zehn AUhr erscholl das Geläute des Groß-münsters, des Fraumünsters und am St. Peter.Dazwischen donnerten vierundzwanzig Kanonenschüsse. Beim Rathaus hatken sich die Behorden versammelt. Hier bildete sich der Festzug, die Reihe zu zwei Wann, denn mehr verttugen die Gassen nicht; von hier setzte er sich, die Marktgasse hinauf,in Bewegung, eröffnet von einer Abkenung Schuzzen. Voran schritken sämtliche Weibel der Stadt und der Regierung in der Standesfarbe, blau und weiß. Hinker ihnen ging sehr würdig ein Beamter der Staalskanzlei, der ein schwarzsammtnes Kissen vor sich herktrug wie ein schlafendes Wickelkind, das
4 []nicht geweckt werden darf. Darauf prangkte die mit dem großen Staatssiegel versehene pergamentene Stiftungsurkunde der Anoehint und der Kantonsschule. Ihm folgten die drei Staatsschreiber und die oberste Landesbehörde, der Regierungsrat. Dann rückkle der Gewalthaufe der Gerechtigkeit heran, das Obergericht, der Staatsanwalt, der Verbhörrichter nebst Kriminalgericht, sämtliche mit den zugeord-neten Schreibegeistern; und ebenso der Kirchenrat.Jetzt nahte der Erziehungsrat mit einigen markanten und ungewöhnlichen Gestalten. Um Haupkeslänge überragte alle der Präsident, der Bürgermeister Melchior Hirzel, von seinen Mitbürgern der lange Mitmensch geheißen. Aus klaren grauen Augen blickkle heiter Prosessor Kaspar von Orelli, ein verdienter Philologe, der seine Liebe besonders dem Horaz zugewanöt hatte. Wenn Einer, so verdiente er, sich zufrieden und vergnügt am festlichen Zuge zu beteiligen. Denn seinen Bemühungen, seiner uneigennützigen Hingabe vor allem verdankte die Hochschule ihr Zustandekommen. Zu sorg Linken ging reserviert und aufrecht ein schlanker Mann in der Mitte der Dreißig. Aus dem schmalen, blassen Gesicht mit der feingebogenen Nase und dem feinen Münde blickten zwei große blaue Augen. Das war der Professor am Eymnasium, Dr. Ferdinand Meyer, der wegen Meinungsverschiedenheiten unlängst aus dem Regierungsrat ausgeschieden war.Der helle, fast serene Schein der bleichen Züge erhöhte sich, als er kopfnickend den Gruß seiner anmutigen Frau Betsy erwiderte, die gerade da, wo die Münstergasse auf den Münsterhof einmündet,aus der vordersten Zuschauerreihe ge seinen Na-men gerufen und ihn aus den dunklen Heimwehaugen überaus freundlich angeblickt hatte. Ihre weiße Hand hielt die ihres ungefähr achtjährigen Sohnes, der aus seinen gewölbten blauen Augen den Vater stolz und freudig anleuchtele.75 []Ein halbes Jahrhundert später, als seine dunkel-blonden, leichtgewellten Haare ergraut waren,drückte die Hochschule, um derentwillen an diesem Tage Zürich feierte und flaggte, den Doktorhut darauf, um den Dichter des Jürg Jenalsch und des englischen Heiligen zu ehren.
Ferdinand Meyer grüßte mit leichter Verneiung auch einen hagern, hochgewachsenen, neben g Betsy stehenden Sechziger von 3 chen soldatischer Haltung, die zu dem länglichen,fast weiblich sinnenden und schwermütig weichen Gesicht nicht recht stimmte. Er trug einen mausgrauen steifen Seidenhut mit aufgebogenen Rän-dern, eine zitronengelbe, peinlich geknüpfte Hals-binde, einen braunen, langen Rock und stemmte die RBRX Rechte auf den goldnen Knopf eines spanischen Rohrs, das er vor sich hingestellt hatte. Das war der wylressume Zeichner, Maler und Schrifksteller David Heß, dessen erlesenstes Werk, obgleich schen über ein Jahrzehnt vollendet,damals noch völlig unbekannt im Pulte lag.
So nahe bei ihm, daß sie halblaute Bemerkungen auszutauschen vermochten, hatte der beinahe zwanzig Jahre jüngere Maler Ludwig Vogel Posto gefaßt, ein munteres, bewegliches Männuchen mit einer Gewaltshakennase im glattrasierten Gesicht,aber eine Bildnerkraft ganz andern Kalibers als David Heß. Auf ihm ruhie wahrhaftig ein gut Teil vom Geiste eines Thorwaldsen und eines Cornelius, in deren Werkstätten er verweilt hatte. An starkem, kiefem Hauch, an Größe und Würde der A reichen wenig Geschichtsbilder an jene Schöpfung heran, die den Schmerz der Eidgenossen um den koten Winkelried darstellt.
Schon war indessen der Zürcher geboren, der alle, die vor ihm an der Limmat den Pinsel in Farbe getunkt, an Können und Vollenden überbieten sollkle, wenn er auch vorwiegend nur Tiere mit
16 []Landschaften malte. Wenige Schritte hinter Vogel und Heß saß ein fünfjähriges Büblein auf dem Arme seiner Mutter Maria Ursula Koller, der Ehefrau des Metzgers und Adlerwirts; und das Büblein war Rudolf Koller und verwandte keinen Blick von den Herrlichkeiten, die es hier zu sehen gab.
Den erziehungsrätlichen Trupp beschloß ein wunderliches Paar: der Eine, der Hans Georg NRägeli, kurz und gedrungen und etwas verwildert, blickte kindlich selbstbewußt, ja heraus-fordernd um sich, wohl wissend, daß, seine Lieder und namenklich seine Lehrmittel für den Gesangs-unterricht seinen Namen in viele Lande krugen. Der Andere mit dem länglichen, eckigen Gesicht und der derbstangigen Silberbrille über der kräftigen Nase war der treffliche Pädagoge Ignaz Thomas Scherr,der Leiter der Lehrerbildungsanstalt in Küßnacht,der Abgott seiner Schüler, krotzdem er seine schwä-bische Herkunft in nichts verläugnete.
Jetzi folgke die zweite Hälfle des Zuges, der schwarzgewandete Heerbann der Wissenschaft, die nach Fakultäten geordneten Lehrer der Hochschule,hierauf diejenigen der Kantonsschule. Da schritt zuerst hinker dem Pedellen und seinen beiden Gehilfen der Rektor der Universität, der Naturphilosoph Laurentius Oken, ein kleiner, magerer Mann von dunkler Gesichtsfarbe, liefschwarzen, an den Schläfen schon angegraulen Haaren und dunklen, blitzen-den Augen. So bolzgerade, wie er sich hielt, hätte man eher auf einen Soldaten geraten. Er hatte freilich drei Jahrzehnte herber und unerschrocken durchgefochtener Kämpfe draußen im Reich hinter fich da ihm seine politlische Gesinnung Kränkung und Unbilden die Menge ntragen Nun aber umwilterte ihn das erhebende und beruhigende Gefühl, endlich den Boden gefunden zu haben, wo er angestört und im Frieden aimen, lehren und sterben urfte.77 []Unter den ausländischen re 58 nächst dem Reklor die größte Neugierde der Zuschauer der Mediziner Johann Lukas Schönlein, von dem es hieß, er sei ein unvergleichlicher Arzt und Pisen schafller und von einer solchen Grobheit, daß er darin jedem Schweizer den Rang ablaufe.
Den Slolz der staats wissenchaftu hen Fakultät bildete Ludwig Ferdinand Keller, mit vierunddreißig Jahren 8 Ordinarius, Präsident des Obergerichts und ganz eigenktlich der ungekrönte Herrscher von Zürich, da er bald nach dem Ustertage die Führung der Freisinnigen an sich gerissen hatte,gleich hervorragend als Richter wie als Gelehrker.Seine nußbraunen Augen wanderken freundlich umher; ein gewinnendes, zuweilen leicht sarkastisches Lächeln umschwebte seine feingeschnittenen Lippen.Niemand hätte denken können, wenn es nicht schon bekannt gewesen wäre, daß diesen genialen Juriften,dem in den Landen deulscher Zunge im ganzen Jahr-hundert kaum ein halbes Duhend gleichkamen und den kaum einer überragte, daß diesen wahrhaft überlegenen Geist unfaßliche wucherische Habsucht besudelte.
Durch seine Jugend stach unker den Hochschul-lehrern Johann Kaspar Blüntschli hervor, der an der Seite seines ehemaligen Lehrers Keller einherging; fast den nämlichen Tag hatte der Fünf-undzwanzigjährige die Würde eines Professors und die eines Rechlskonsulenken der Stadt empfangen.
Soldaten beschlossen den Zug. Als er sich dem ndeeee näherte, begann die de auf·gestellte Militkärmusik kräftig in ihre Bleche zu stoßen. Dicht bei ihr und unweit vom Eingang halte sich Johann Jakob Leuthy breilspurig aufgepflanzt und musterte die Vorübherziehenden, woben er dem lich Zeichen der Zufriedenheit oder des Mißfallens von sich gab. Zuweilen bewegte er die Lippen, als ob er etwas kofte, und krihelle dann und vanntel 78 []was in sein Notizbuch. Als der letzte Mann im Münster verschwunden war, schoh Leuthy den Bleistift in die Schlaufe des Notizbuches und äußerte zu einem der Umstehenden:
Es ist ewig recht, daß wir endlich eine Universitat haben. Für die Republik und die Volksbil-ung kann man beim Eid nie genug kun. Ich habe diesen Standpunkt immer unentwegt vertreken.Aber es ist mir bei mir selber noch nicht ausgemacht, wie ich mich in meinem Blatt zu dem heutigen Fest stellen will. Es sind zu viele unker diesen gelehrten Herren da, die machen Schnauzen, als ob sie alle Weisheit aufgeschnappt hätten. Die ästimi-ren beim ewigen Hagel das Volk zu wenig! Da könnt Ihr Gift darauf nehmen! Übrigens muß ich sagen“ und er reckte sich bedeutsam ‚so das alte Haus voll gelehrtem Wissenskram und hier draußen das Vosk unter Gottes Sonne: das wär ein gefundenes Fressen für einen Poeten, heißt das,wenn es ihm eben einfiele. Aber da liegt der Haas im Pfeffer! Das gäbe ein Gedicht! aber ich habe keine Zeit mehr! das ewige Denken und Schreiben für die Freiheit des Volkes das höhlt mich aus!es ist beim Eid schade! Da haben's die verfluchten A nichts! sauber nichts! Da mangelt ihnen das Kurasche und der Geist!“
Die ins 33 Eingetretenen sahen einen Teil des Kirchengestühls schon gefüllt von den Tagsatz-ungsgesandten, den Kantonsräten, den Studieren-den und den Kantonsschülern, die sich, ergangener 2 gemäß, schon vorher in die Kirche verfügt atten.
Der kleinste und schmächtigste unter ihnen war Goltfried Keller. Er zählte beinahe vierzehn Jahre,sah aber fast um ein Drittkel jünger aus. Auf dem unentwickelkten Körper saß ein großer, ber Kopf.Verträumt betrachtete er den einrückenden Zug.
79 []Doch der feierliche und würdige Tag, der für ihn die Feier des Eintrittes in eine neue Schule bedeutete,die übrigens seine letzte sein sollte, scheint sich seiner jungen Seele, die Erlebnisse der Kindheik und des heranwachsenden Jünglings mit wundersamer Treue aufnahm und spiegelke, nicht eingeprägt zu haben.Kein Hauch von ihr lebt in dem strahlenden Buche seiner Jugend, das heimische und fremde Feste farbig und greifbar wiederzaubert.
Nun wurde im ällen Golteshause, nachdem die Instrumentalmusik sich hakke vernehmen lassen, der üppige Kranz der Reden und Gegenreden gewunden und reichlich mit Gesängen des Knabenchors durchflochten, die fast alle im Gartken Hans Georg Rägelis aufgeblüht waren. Nämlich auf dem Felde der, Kunst behauptete sich das Eigengewächs, während man bei der Bestellung des Lehrkörpers sich gehütet halte, Lichter von lediglich lokalem Schein auf die Katheder zu stecken, sondern weitherzig und weitsichtig sich Leuchten jenseits der Grenze holte n nen Ausländer gleich das Rekkorai anverraute.
In der Ordnung und auf dem Wege des Anmar-sches und wieder unter dem Donner der Geschütze kehrte der Zug aus dem Großmünster zum Rathaus zurück, nur daß jetzt an Stelle des Staalsschreibers der Pedell die Stiftungsurkunde trug.
Es war ein Fest von innen heraus; es war eine Feier des Geistes. Eben halle die Stadt das Regi-gient über die Landschaft verloren. Doch in dem Augenblick, wo sie das Szepter der Gewölt meder legke, ergriff sie das des Geistes. Denn die Hochschule war ganz ausschließlich ihre Schöpfung. Ihre Bürger haklen sie erstrebt und errichtetl, aus ihren Mitkeln ward sie bestrilken. Und sie unkernahm das Werk nur in der Gewißheit, die Wehrzahl der Lehrstühle mit eigenen Kräften besetzen zu können.Zu der stattlichen Anzahl ungewöhnlicher Männer,80 []deren sie sich an diesem Tag bereits erfreute, hakte ihr das Geschick, was sich damals den Blicken noch entzog, zwei unsterbliche Dichter bescheert.
Einige Stunden nach der Auflösung des Festzuges versammelte der Staat im Kasinod alle dabei bekeiligt Gewesenen und die ins Wünster geladenen eidgenössischen und kankonalen Würdenkräger zu einem Festmahl, wo sich die Laune des Tages in rauschende Sturzbäche volltönenden Lobes und pro-phetischer Aspekte ergoß und die Gläser mit Schall erklangen.
Bluntschli fühlte sich unbehaglich, obgleich der Tag gerade ihm voll eingeschenkt hatte, wie denn Männer von Stadt und Land an ihn herankraten und ihn, der noch aussah wie ein Student, händeschüttelnd beglückwünschken.
Bald kauchte, von einer Weinwelle emporge-spühlt, vor ihm das Bild Bernhard Hirzels auf, an den er im Lauf des Festes schon mehrmals hatte denken müssen. Er hatke ihn gestern auf der Skraße dnes begegnet, aber, in der Unkerhaltung mit zwei egierungsräten begriffen, nicht Kregen können.Er war ihm bleich und verstört erschienen. Er wußte um das Leid, das den Freund belastete. Allein er mutmaßte, es möchte sich ein neues angehäuft haben.Jetzt begann er sich zurechtzulegen, wie es möglich wäre, noch heute mit ihm zu reden.
Nunmehr schob sich schwer und gewichtig der freisinnige Luzerner Schulheiß Pfyffer in den Ring der Tischredner, um der Hochschule der Schwester-republik seine Glückwünsche zu entbieten. Langsam und bedeutend nahm er den rechten Arm in die Höhe, als ob er einen Zentnerstein höbe, und schöpfte ansehnlich Atem:
Wenn wir, ehrfurchtgebielende Versammlung,durch blumige Fluren wandern oder die höhern Gebirge unseres Vaterlandes besteigen oder endlich
3 Frey, Bernhard Hirzel
81 []auf dem unermeßlichen Weltmeer segeln, so staunen wir bewundernd ð ff * stele Kellet halb
Dazß du nicht ersoffen bist', spotkete Keller halblaut, deh zum Ergötzen der i Sitzenden zu den gelragenen, iangsamen Worten des Schultheißen ab un u auf giftliger Saite ein gedämpftes Pizzicato zupfte.
Doch noch höher“, ließ sich der Redner weiler vernehmen, steigt unsre Bewunderung, wenn wir des Wenschen Wesen und Werke näher betrachten.“
Aber nicht die deinen“, spottete Keller.
Wie viel Schönes und Erhabenes haben nicht die Menschen von Woses dis Johannes von Wüller,von Homer bis Klopstock, von Sophokles bis Schiller gedacht, gesprochen, geschrieben, vollbracht!“
Herrgott', flüsterte Keller, er vergißt sich selber!“
Wie erfreuend“, scholl es weiter, ist nicht das Ereignis der Universikätsstiftung! wem pocht nicht höher das Herz, wem kriltt nicht eine unwillkürliche Freudenträne ins Augel“
Wir, wenn du ferlig bist!“ höhnte Keller.
Als die Rede endlich abgehaspelt war und mancher durch die Beifallsbrandung zu dem angesehenen Redner hinruderte, um ihm zu danken und seinen Glückwunsch anzubringen, ersah Bluntschli die Gelegenheit, sich mit guter Manier davonzumachen.Er schwenkte beim Kasino auf den Barfüßerplatz ein, ging die untern Zäune entlang bis zur Spiegel-gasse, von ihr schräg über die Münstergasse in die Narbegahe, am Rathaus vorbei über die Brücke und die Strehlgasse hinauf in den Rennweg, wo Hirzels väterliches Haus stand.
Er fand ihn übernächtig und verhärmt. Er stak im alkten Hausrock, und die schwarzen Haare hingen ihm unordentlich in die bleiche Sürn.
Was fehlt dir?“ erkundigte sich Bluntschli.82 []Mir?“ seufzke Hirzel und wandte sich ab. Dann brach er auf einmal leidenschaftlich aus:
Ich sitze hier in der Asche wie Hiob, und meine Schwären brennen mich!“
Bluntschli kannte dieses üÜberranntsein vom Leide an seinem Freunde von lange her nur zu wohl und richtete sich jetzt danach ein.
Hör, Bäni“, scherzte er, du hast weder sieben Söhne noch sieben Töchter gezeugt; du besitzest weder septansend Schafe noch dreitausend Kameele, wie der fromme Mann im Lande Uz. Auch mangelst du zoug der fünfhundert Joch Rinder und der fünfhundert Eselinnen. Ergo spare dir den alten Großherdenbesitzer für deine Predigten auf und laß ihn bei deinen Privatangelegenheiten aus dem Spiel! Also, was ist los?“
Hirzel, der sich so manierlich in die Schuhe gestellt sah, raffte sich zusammen und entgegnete:
Mein bunftiger Schwiegervater steht dicht vor dem unabwendbaren Konkurs.“
So“, sagte Bluntschli gedehnt und strich wie-derholt einige aufrührerische Härchen seines Seiden-hutes glatt, um sich die Dinge zurechtzurücken. Die Verlobung seines Freundes halte ihm gründlich mißfallen. Er hätte sie widerraten, wäre er nicht erst durch einen Brief Hirzels aus Berlin vor die Taltsache gestellt worden. Er wußtke, daß das etwas sellsame und launische hübsche Fräulein zu Verwandten nach St. Gallen gebrachk worden war, um den Zürchern für geraume Zeit aus den Augen zu kommen und womöglich sein unwirsches Wesen in der fremden Umgebung abzuschleifen; und er arg-wöhnte immer mehr, sein Freund sei in ein Netz gegangen. In den Briefen der beiden Freunde war die heikle Angelegenheit nicht weiter und auch jüngsthin beim ersten Wiedersehn kurz nach Hirzels Heimkehr nur flüchtig berührt worden. Jetzk däm
2*[]merte Bluntschli die Möglichkeit auf, das seines Bedünkens unheilvolle Band zu lösen.
Seit wann weißt du das?“* fragte er.
Seit gestern abend“, ankworkete Hirzel tonlos.
Läßt 8 ungefähr ermessen, wie viel aus dem Zusämmenbruch gerettet wird?ꝛ
ZIch fürchte, so wie der Bericht lautet, wenig oder nichts. Der Alte hat sich mit dem Frauengut über Waffer zu halken gesucht, und jetzt ist auch das dahin, sodaß meine Braut wohl nichts milbringt,als was sie auf dem Leibe trägt.“
Hm, da seid ihr ja auf dem besten Wege, ewige Bräuileute zu werden', warf Bluntschli anschei-nend gleichgültig hin.
Du hast einfach kein Herz, Chäppi“, brauste Hirzel auf. Du sitzest dick in der Wolle. Drum fühst du eben nicht, wie's mir zu Mute ist.“
O ja, das kann ich mir ganz gut denken“, ent gegnete Bluntschli gleichmütig.
Aber ich lasse nicht locker! Ich warke und harre aus, und wenn ich grau werde!“ rief Hirzel erregt.Es soll mir keiner kommen und sagen, ich hätte meine Braut im Stiche gelassen, weil sie um ihre Sache kam!“
MVatürlich“, nickte Bluntschli. Aber sag mir,wo wird deine Braut Unterstand finden, wenn die Dinge sich zum Schlimmsten wenden sollten?“
Das weiß ich nicht und sie auch nicht“, jam-merke Hirzel, dessen dürftige Fassung eben wieder in die Brüche zu gehen drohte. Aber gerade darum 6 ich bald, möglichst bald eine Skelle haben,um heiraten zu können! Du solltest dich für mich an den Laden legen und etwas für mich tun! Und andere auch! Man ist mir etwas schuldig! Es gibt in der ganzen Schweiz keinen Sanskritisten, wie ich einer bin! Es stünde der Universität Zürich wohl an, vielmehr es wäre ihre Pflicht und Schuldigkeit,mir einen Lehrstuhl zu geben. Es ist eine himmel
84 []schreiende Ungerechtigkeit, daß man Ausländer haufenweise heranschleppt und mich nebendraußen sithen läßt. Jeder Kanonenschuß heute war mir ein Schlag aufs Herz, und das Festgeläut klang mir wie Grabgeläut. Jetzt, dachte ich, ziehen sie stolz einher,und ich bin nicht besser als ein alter Fehen, den man auf den Mist geworfen hat!“ Er war den Tränen nahe.
Bluntschli entgegnete ruhig und bestimmt:
Erinnere dich: ich habe dir mehrfach nach Göttingen gemeldet, daß ich an allen möglichen Orken alle möglichen Schrüte für dich kat! Immer wieder bat ich dich, doch ja in Erwägung zu ziehen, wie wenig weit mein Einfluß reicht. Hätte man einen Sanskritisten haben wollen, so hätte man dich genommen und keinen andern. Aber die Verhältnisse auch das habe ich dir geschrieben, alles mit mehrerem verbieten eben einen besondern Lehrstuhl für Sanskrit. Überlege doch, wie steht es eigentlich mit der Hochschule? Wir haben sie heute mit Geschützdonner, mit wehenden Fahnen, mit schmettern-dem Blech und mit allem obligaten Klingklang Gloria inauguriert weiß eine Menschenseele, ob nicht übers Jahr oder über zwei die ganze Herr-lichkeit zusammenrumpelt? Du weißt oder vielleicht weißt du auch nicht, daß man in den entscheidenden Kreisen, in den Kreisen der ‚Regenten“, wie es heute in einer Festrede hieß, sich allen Ernstes überlegte, ob man nicht, um gewisse Leute und Elemente nicht von vornherein zu reizen, von der Bezeichnung Universikät oder Hochschule absehen und die neue Schöpfung nur Fakultätsanstalt nennen sollte. Du zählst dir an den Fingern ab, daß man unter soka-nen Umständen auf jeden Lehrstuhl verzichtet, der nicht vonnöten ist. Vergiß nicht: die Stadt berappt zwar die Hochschule aus dem uralten Säckel der Chorherrn. Allein hier heißt es nicht: wer zahlt,befiehlt; sondern befehlen kun die Kantonsräte vom 85 []Land. Es braucht nur irgend einer einem Zuchtstierhalker vom Land einen Floh hinkers Ohr zu Aen so geht der Teufel los, und im Kantonsrat watzt einer, der kaum seinen Namen richtig zu reiben imstande ist, über eine eit dem Ustertag ist die Stadt eben an die Wand gedrückl,und wenn jahrhundertelang das Land nichkts zu sagen hatte, so hat jetzt die Stadt nichts mehr zu sagen.Das ist nun einmal nicht anders, wenn die Stim-men gezählt und nicht gewogen werden. Und was nun noch deine Sache anbelangt, so halt man mir an mehr als einem Orke, wo ich für dich anklopfte,vorgehalten, dein Talent und deine Kenntnisse seien 5 unanfechtbar; aber es lägen eben doch noch eine Publikationen vor, womit man in der Lage wäre, entschieden aufzutrumpfen.“
Ja“, klagke Hirzel, das ist eben mein ewiges Pech. Es verfolgt mich uüͤberall und in allem. Ganz nakürlich habe ich jetzt noch keine wissenschaftliche Arbeit vorzuweisen, weil ich erst so spät zum Studium kam ohne meine Schuld, wie du weißt.Vor mehr als einem Halbjahr habe ich in Paris meine Übersetzung R von der ich hoffte,sie würde mich bei den Behörden und bei den Fachleuten legitimieren. Und heute, ausgerechnet heute,erhalte ich den ersten Korrekturbogen! Dal“
Er raffte auf seinem verwilderten Schreibtisch aus einem Verhau von Kielfedern, Bleistiften,Fidibussen, Zeitungen und Büchern ein paar Blätter zusammen und überreichte e Bluntschli. Da stand; Sakunktala oder der Erkennungsring. Ein indisches Drama von Kalidasa. Aus dem Sanskrit und Prakrit übersetzt von Bernhard Hirzel'. Als Blunkschli den Titel umschlug, stieß er auf eine Widmung an die Braut, die allerdings nur mit den ersten Buchstaben ihres Mädchennamens bezeichnet war.
Ich weise in der Vorrede“, nahm Hirzel wieder das Wort, ‚ausdrücklich darauf hin, daß ich der 86 []allererste bin, der das Wagnis unternahm, das herr-liche Werk vorwiegend in die Versmaße des Origi-nals zu überkragen, und daß ich auch die übrigen indischen Schauspiele gleicherweise zu verdeutschen gedenke, mit einem davon auch begonnen habe. Fer-ner unterließ ich nicht, zu bemerken, daß eine rein philologische Arbeit über die beiden Kalidasischen Stücke von mir zu erwarken steht. auf Neusahr hätte das Büchlein mit diesen Winken gedruckt sein können! Vielleicht hälte es doch den Stein ein wenig ins Rollen gebracht!“A * Blätker einblickte. Als dieser aufsah, fuhr er ort:Erinnerst du dich noch unseres Weges nach Uster vor zweieinhalb Jahren? Wie haben sich seither alle deine Träͤume erfüllt! Von den meinen nur der eine, daß ich dieses königliche Gedicht in das Gewand der Muttersprache huüllen und meine Studien zum Ziel führen durfte. Und damit, ja damit hat es bei mir schon ein Ende! Es ist nicht guk und wird auch nicht gut mit mir!“Er ne sich am Schreibtisch nieder und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
.Wan könnte meinen“, bemerkte Blunlschli,ohne eine Miene zu verziehen, dir sitze der Kater im Kopf, den morgen beim Aufwachen mancher mit Schrecken als ein Souvenir an das heutige Fest spüren wird.“Ich entnehme schon daraus, Chäppi“, rief Hirzel ditker, wie übel es um mich bestellt ist, daß du mich nicht mehr ernst nimmst! So sage mir wenig-stens. warum und seit wann?“Du bist nicht bei Trost und nebelst ins Blaue hinein! Sonst würdest du mir nicht solche Ungereimt-heilen an den Kopf werfen, mir, der letzthin für dich
7 J []von Pontius zu Pilatus lief. Wie kommst du auf solche verrückte Einfälle?“
Hirzel sprang auf und ergriff die Hand des Freundes:Sei wieder gut! Aber sieh! es übernimmt mich eben! Seit ich aus der Fremde zurück bin, schlägt es mich einmal um das andere zu Boden. Erst jeht gehn mir die Augen auf über unsere Familie,über meine Lage und was weiß ich alles! Und nach der gestrigen Hiobsbokschaft habe ich sozusagen die ganze Nacht kein Auge zugetan und mir alles wieder durch den Kopf gehen lassen. Eines besonders schüttelte mich und brannte sich wie das mene tekel upharsin mit feurigen Buchstaben an die Wand und in meine Brust. Das ist der Niedergang unserer Familie, der auch mich in die Tiefe reißen wird!“
Ich glaube“, äußerte Bluntschli nach einer Pause gleichmütig, du bist wieder am Buch Hiob!“
Rein, ich bin am Buch meines Schicksals, und es ist mein bitterer Ernst, was ich sage. Die Bluntschli sind lange Zeit ein stilles Geschlecht gewesen und mit dem großen Haufen gewandert. Jetzt auf einmal kommst du! So jung du noch bist, darüber herrscht nur eine Stimme und Meinung, der Name und Same Bluntschli wird durch dich wiederum ergrünen. Hingegen wir Hirzel! Im Lauf der Jahr-hunderte haben wir manchen wackern Mann ins Feld und in den Rat gestellt. Es waren fast lauter Kriegsleute, die sich auf vielen Schlachtfeldern tummelten, und es waren Staatsmänner, die dem Lande wohl anstanden. Krämer und Handwerker waren wenig dabei. Der Sinn der Hirzel zielke auf andere Dinge. Freilich seit die fremöen Kriegsdienste weg-gewischt nd die französischen zumal, ist ihnen die kriegerische Ader unkerbunden und das alie, freie,weite Feld versperrt. In unserm Familienzweig ist eine unguke Wendung schon viel früher eingekreten.88 []Du weißt vielleicht was geschah und geschieht in Zürich, was dir verborgen bleibf? daß mein Großvater Johann Heinrich (ich vermag mich noch wohl an ihn zu erinnern, er ist just vor zwanzig Jahren gestorben) um des Geldes willen eine mehrere Jahre ältere Frau geheiratet hat, die leider außer ihrem Geld nicht viel Gukes ihr eigen nannte;und diese Frau, meine Großmutter, hat den Hirzelstamm verderbt. Denn sie hat ihre üblen Eigenschaften auf meinen Valer vererbt. Es ist dir bekannk, er geht dem Geschäft schlecht und recht nach und hält das Geld zusammen. Aber seit Jahr-zehnken hat er kein Buch angesehen. Nach dem VRachtessen läuft er zum Wein und zum Spiel.Hat er Glück mit den Kartkten, so stampft er beim Heimkommen johlend die Treppen hinauf;verliert er, so brüllt und donnert er durch's Haus, als ob der jüngste Tag anbräche. Als ich jüngst einmal bei Tisch von Tugend sprach, da machte er mit den Fingern die Gebärde des Geldzählens und lachte höhnisch: das ist Tugend!“ Über meine Mutter will ich schweigen. Sie ist wohl eine gutherzige Frau; aber wie sie aus gleichen Kreisen stammt wie meine Großmutter, so ist sie nicht viel andern Geblüts. Und bei der Heirat meiner Eltern fiel das Geld mehr in die Wagschale wie die Liebe.Kurz, der Stern unserer Familie eilt zum Nieder-gang! Ich selbst, ich habe als Erbteil zu viel Schlim-mes überkommen! Der Herr wird die Sünden meiner Väter an mir strafen. Die Rute ist mir schon gebunden. Sie hat mich auch schon getroffen!“
Warum nicht gar!“ rief Bluntschli.
Du siehst doch, wie mich das Unglück schlägt:meine Brauft büßk ihr Vermögen ein, und ich, der ich mich doch redlich und, hoff ich, nicht ohne Erfolg bemühte, etwas zu lernen, stehe mit sechsundzwanzig Jahren auf dem Warkt wie ein Knecht, den niemand dingen will!“
89 []Blunltschlis Zureden fruchtete geng was er auch ins Feld führte. Er verließ den Freund erst mit anbrechender Dämmerung. Als er auf die Straße trai, kam ein Trüppchen Studenten der neuen Universität daher und sprudelte ein schallen-des Gaudeamus igitur in die Gassen.
90 []VI.
Hirzels Verlöbnis und bevorstehende Heirat la-gen Bluntschli schwer an. In den kurzen Augen-ölicken, wo er zwischen den Amtsgeschäfken und den Vorbereitungen zur eigenen Verehelichung gelegent-lich Atem schöpfte, erwog er zuweilen bekümmert,wie die beiden Brautleuie schicklich und möglichst unauffällig auseinander zu bringen wären. Mit ihm argwöhnte seine Braut uünd mehrere Bekannte, daß die gemütslose Kälte und die oft seltsame Unfreund-lichkeit Bettys kein erfreuliches Ehelos in Aussicht stellten, zumal sie in Verhältnissen und mit Ansprü-chen aufgewachsen war, die bei ihrer nunmehrigen Mitltellosigkeit und Hirzels vorläufig unsicherer und auch wohl fragwürdiger Laufbahn unerfüllt bleiben mußten.
Hier setzte er bei seinem Freunde mehrfach den Hebel an und verhehlte ihm seine Bedenken nicht.
Laß doch nicht aus den Augen“, warnte er, daß dein Vater, solange er einen Schnauf kun kann, fest auf seiner Sache sitzen bleibt und nicht mit einem roken Heller herausrückt, auch wenn du Weib und Kind zu erhalten hast.“
Imn großzen und ganzen magst du ja wohl recht haben“, räumte Hirzel ein, indem er sich in den Stuhl zurücklehnte und mit weitausholendem Arm sich den schwarzen Haarbusch aus der Stirne strich. .Allein du weißt auch, wie schön der Dichter sagt:Raum ist in der kleinsten Hütke Für ein glücklich liebend Paar.
91 []Auch kann es sicher nicht lange anstehen, so müssen sich meine Verhältnisse bessern. Weine Arbei-ten und Übersetzungen müssen die Wand durch-stoßen und mir einen Weg bahnen. Es kann sich auf diesem Felde schon heute keiner in der Schweiz mit mir messen. Ich darf geradezu behaupten, ich habe hier eine Mission zu erfüllen. Mein Rame wird binnen kurzem derark wachsen, daß er sich eine Professur erzwingt.“
Bluntschli schwieg. Mehr als ein mißlungener Versuch hatte ihn belehrt, daß er die utschlosser seines selbstbewußten Freundes nicht zu brechen vermochte.
Auch das steht mir fest', fuhr Hirzel gehobener fort, ‚mir ist neben dem literarischen Amt noch ein sitlliches zugedacht.“
Er hielk inne, und Bluntschli richtete einen fragenden Blick auf ihn.
Ich meine“, erklärke Hirzel, Alles rennt und stürmt auf Geld los. Unsere jungen Leute verlieren vorsichtigerweise ihr Herz nur da, wo sie auf Schätze von Gold und Silber stoßen. Ich aber möchte durch mein Beispiel beweisen, daß bei Verlobung und Eheschließung das Geld keine Rolle spielen soll.Gesellt sich dann, wie ich hoffe, der literarische Erfolg hinzu, so wird, wenigstens in gewissen Kreisen,mein Verfahren Gutes wirken.“
Ja, jaꝰ, erwiderte Bluntschli bedächtig, andere haben das Beispiel auch schon gegeben, wenn schon nicht gerade mit Sanskrit garniert. Die Hauptsache wäre doch, daß dir an deinem Herd und in deiner Haut wohl ist, damit du deinen Acker kräftig und freudig bestellen kannst. Ich frage mich und weiß mich darin mit andern eins, ob er zögerte ein wenig und suchte eine möglichst unverfängliche Wendung ob deine Künftige gerade dazu angetan a nach der vielleicht etwas kurzen Decke zu recken.
92 []Kleingläubiger!“ rief Hirzel. Die Liebe krägl alles, die Liebe duldet alles!“
Bluntschli blickte steif vor sich hin, als ob er sich auf etwas besänne. Er schwieg und behielt weitere Bedenken bei sich. Er war nicht recht dahinter gekommen, ob Hirzel wirklich an die Vorzüge seiner Braut glaubte oder sie sich und andern nur einredete,weil er in die hübsche Figur verliebt war.
Betty's Lage gestaltete sich täglich mißlicher. Die Mutter, schon lange kränkelnd, war schon vor dem völligen Zusammenbruch des Hauses gestorben, und der Vater hatte im Geschäft eines Jugendfreundes ein Pöstchen erhalten. Betty fand zunächst Unter-kunfi bei Charlotte. Da sie sich aber mit ihrem Schwager überwarf, der selber nicht besonders in der Wolle saß, so zog sie zu einer kränkelnden Freundin der verstorbenen Wutter. Sie fühlte sich hier nicht allein höchst unbehaglich, man gab ihr auch, erst verblümt, dann unverblümt zu verstehen,daß ihr Scheiden erwünschter sei als ihr Bleiben.Von jeder weilern Zuflucht abgesperrt, drang sie flehentlich in ihren Bräutigam, ihr eine Stätke zu bereiten.
Auch in dieser Zuspitzung der Dinge erblickte er einen besondern Fingerzeig von oben, der Vater-stadt vorzuleuchten. Er führte Betty heim ins elterliche Haus, wo ihm der Valer ein paar bescheidene Zimmer und Platz am Mittags- und Abendtisch zugesichert hatte.
HDer Rausch des Blutes und die geistliche Selbst-emporschraubung hielten nicht lange stand. Die junge Frau dankte es ihm nicht, daß er sie aus kläglichem Zustande erlöst hatte; sie warf ihm vor, daß er sie in eine drückende Lage gepfercht habe. Ihr unzufriedener Sinn fand stündlich Anlaß zum Tadel. Sie stieß sich an den niedrigen, kleinen Wohnräumen,am altväterischen, vernühten Hausrat, an dem, wie sie behauptete, unsorgfältig zubereiteten, unschmack-
93 []haften Essen und am ungebildeten, ja gröhlichen Ton des Schwiegervaters, der über Tisch dem Wein kräftig zusptach und seine Worke nicht abwog.
Bäld griffen ihre Beschwerden weiter. Sie rich-tete immer wieder die vorwurfsvolle Klage an den Wann, die er zarter gefaßt schon in Briefen und mündlich vor der Heirak zu hören bekommen hatte:
Wozu bist du eigentlich Pfarrer und Dokkor und hast soviel studiert und gekostet, wie der Vater sagt,und mußt ihm doch 2 die Beine unter den Tisch strecken und dich hudeln lassen, wie ich leider Goltkes auch? Ich brauche nicht zu verschweigen, ich habe mir das anders vorgestellt. Es langt ja nicht einmal zu einem neuen, anständigen Kleid und Hut.Sieh nur einmal, wie die Döde Schultheß daher-stolziert, und er ist doch auch nur Pfarrhelfer, und sie haben beide von Haus aus nichts oder so gut wie nichts. Es ist nur gut, daß ich von daheim noch etwas Weniges mitgebracht habe. Wenn das geschlissen ist, so darf ich mich ja auf der Gasse gar nicht mehr blicken lassen! Hast du mir auch nur das geringste Bröschlein oder Kettlein gekramt? Zum Glück habe ich noch etwas im anlsken Gout von der Mama her. Sonst wagte ich mich rechten Leuten nicht unter die Augen. Sie müßten doch denken, du und die Deinen hielten mich unwert und ästimierten mich nicht!ꝰ
Wir haben doch das Nötigste und mehr als dasꝰ, sae er zu beschwichtigen. Gedulde dich nur ein bißchen! Von heukt auf morgen kann mir meine Sakuntala einen Ruf zuziehen. Und die Aussichten steigen, sobald ich nächstens mit etwas Neuem heraus kann.“
Ja, ja'“, krumpfte sie naserümpfend, du hast mir schon in deinen Briefen aus Paris und aus dem Deulschen goldene Berge versprochen. Bis jeht wenigstens merke ich nichts davon.'
Ihre Gereiztheit und Schärfe wuchsen, als sie sich 94 []Mutter fühlte. Kaum ein Tag ging ins Land, daß sie ihrem Mann nicht aufs Brot strich, er habe ihr das Jawort nur abgenommen, weil er ihr Dinge vorgespiegelt, von denen er wohl gewußt habe, daß er sie zu leisten außerstande sein würde.
Sie wiederholte diesen Vorwurf so oft, daß sie ihn schließlich mehr oder weniger selbst glaubte. Es war ihr entschwunden, wie ihre Schwester und sie mit die Angel namenktlich deshalb nach ihm ausge-worfen hatten, weil er das Kind einer alten und vor allem wohlhabenden Familie war, dem ein ansehn-liches Erbteil winkte eine wichtige Erwägung bei der, wie ene Charlokte wußle, damals schon schwankenden Lage des väterlichen Geschäftes.
Bernhard Hirzel zuckte und blutete in der Dornhecke diefer und ähnscher Beschwerden und Anklagen. Die nie abreißenden Seufzer, die ungerechten und, wie er nach und nach erkannte, krankhaften Vorwürfe schmerzten ihn weniger, als das kallte,unliebenswürdige und sheleniee Wesen und das unverdeckte Bestreben, sich von ihm zurückzuziehen und seinen Armen auszuweichen.
Zuweilen, wenn ruhiges, heiteres Licht die groß-geschniltenen, blauen Augen aute und kein zänkischer Gram das vornehme, fast edle Gesicht ent-stellte, kam ihm der tröstliche Gedanke, der Dämon,der sein Wesen mit ihr krieb, sei ihr nicht angeboren und lasse sich wohl versöhnen oder verscheuchen.Behaglichere Wohnung, anderer Umgang, xeichere Mittel! seufzte er. Immer mehr erwarkete er Wunder von der Geburt eines Kindes. Sie wird selbst wie neugeboren, sie wird eine andere sein! Darauf zählte er.
Er entwarf Plan über Plan, aus dem Zwinger herauszukommen, und unkernahm manchen Gang.klopfte an manche Türe. Guten Willen kraf er wohl,doch zugleich die engen Schranken, denen jeder ohnmächtig gegenüber stand. Vor zehn Jahren, wo die 35 []Zürcher Stadtherren noch das Heft in Händen hiel-len und den Kuchen zerkeilten, da wäre eher etwas zu machen gewesen. Äber heute! Schließlich schanzle man ihm den Posten eines Inspektors der mit Sti-pendien bedachten Studenten zu, der infolge Ab·lebens des Inhabers frei geworden war. Wenige streckten die Hand danach aus, weil er noch weniger eintrug, als er Mühe verursachte.
Nün sah er sich in der Gloriole eines Ehemär-tyrers, der mit einem Herzen voll Liebe und unter Hintansetzung irdischen Gutes zum Allar getreken und dennoch irr gegangen war. An dieser Vorstel-lung richtete sich sein Mut wieder auf. Und da er sich immer mehr als einen vom Himmel zu besondern Aufgaben Erlesenen betrachtete, so glaubte er in der Fügung einen Wink zu erkennen, sich von der Welt und ihren Freuden abzukehren und ungeteilt und unverweilt den wissenschaftlichen Zielen zuzustreben.
Indem er, wie er schon mit der Sakuntala getan,Schöpfungen altindischer Poesie genau in ihren ursprünglichen Versmaßen verdeutischte, hoffte er,mehr geleitet von gelehrter Philologenlust als von wirklicher Kenntnis und ästhetischer Einsicht in das,was die großen deutschen Poeten geschaffen, den Acker der deutschen Dichtung tief und segensreich zu schürfen und zu befruchten. Jene kunstreichen Gebilde eines längst versunkenen Geschlechtes schienen ihm einen feinen, eölen Geist zu atmen, den er an den deutschen Dichterwerken, auch den hervorragendsten, vermißte und den er der germanischen Seele einzuimpfen wünschte, eben durch seine Ubertragungen; er schätzte und überschätzte sie nach Maßgabe der Mühsale, welche die Erlernung der wundersamen Sprache und das Wortverständ-nis der in sie geprägten Werte erheischten. Es ent-ging ihm, daß unter ihnen nur der Sakunkala eine magisch weiterzeugende Kraft innewohnte und daß sie diese Kraft schon auf den Größten, auf Goethe,96 []ausgeströmt hatte. Auch betrog ihn als einen, der stets zur Selbstüberschätzung neigke, die Annahme,seine Übersetungen würden und müßten ihm auf einen Lehrstuhl verhelfen.
Da Hirzel in absehbarer Frist, wie er allmählich einsah, eine Professur an der Hochschule des Vaterlandes nicht erhoffen durfte, so erwarb er, was ohne den geringsten Anstand vonstatten ging, die Würde eines Privatdozenten. Er bereitete sich jedesmal gründlich vor und las mit Ankeil und Eifer, fand aber kaum soviel Hörer, um ein Kolleg zustande zu bringen, was in Anbetracht der kaum anderthalb hundert Studenten, die Zürich damals zählte, niemand überraschte als ihn, dem es nicht recht einwollte, daß andere seinen Wissenszweig mit den namen Früchten weniger schmackhaft fanden als er.
Wehr noch und ganz besonders kränkken ihn das Verfahren und die Gepflogenheiten der Verleger. 5 Pläne zu Büchern, die er an die OÖffentlichkeit zu bringen wünschte, lehnten sie meistens rundweg ab und schickten die Manuskripte zurück oder verlangten Deckung der Druckkosten.Dann brannte er auf und ballte die Fäuste: KrämerFrieg sind sie, dreckige! Halsabschneider sind sie,ie sich vom Blut der Schriftsteller mästen! Würgengel sind sie, die dem Falter den Flug ans Licht,der Blume das Blühen verunmöglichen!“
Vach solchen Erlebnissen pflegke er sich verwundet und verstimmt in Schweigen zu hüllen. Aber die gewöhnliche Zuversicht und Hoffnungsfreude gewannen immer wieder Raum.
Eines Tages gelangte das Ansuchen an ihn, für einen plößlich erkrankten Landpfarrer einzuspringen und zu predigen. Er willfahrte, mehr aus Gefällig-keit als aus Freude am Werk. Die Genesung verzögerte sich, sodaß er etliche Sonntkage hintereinander die Kanzel zu besteigen hatte. Hernach wurden ihm
7 Frey, Bernhard Hirzel
[]zwei, drei Aufträge dieser Art angesonnen. Er nahm ohne Zaudern an, weil er nun ein Wittel ent-deckt hatte, der drückenden häuslichen Luft zu entfliehen, die beklemmend auch in das Studierzimmer des Orientalisten drang.
Es war ihm oft wunderlich zu Muke bei seinen geistlichen Verrichtungen und während der Fahrken vom und zum Bestimmungsork. Mit seltsamen Gefühlen erinnerte er sich seiner Helferzeiken, wo er oftmals durch Nebel, Regen und Gestöber hindurch-gemußt hatte, von der stäten Angst gepeinigt, in schwarzen Habit stecken und abgesperrt zu bleiben von den Quellen der ersehnken Wissenschaft.Jetzt, nachdem er in vollen Zügen daraus getrunken,o wie anders gestaltete sich nun alles, als er sich's gekträumt! Wenn ihn jetzt die glatten Postpferde zwischen nickenden Spalieren wogender Kornfelder,vorüber an behäbigen Kartoffeläckern und saftigen Wiesen des Sommerlandes der dörflichen Sonn-tkagsstille entgegenführten, so berührte ihn fast ein friedliches Behagen. Es fehlte ihm wirklich ekwas,als diese seine Tätigkeit zu Ende ging, weil der Seelenhirt, den er vertreten, wieder auf den Beinen stand und seine Obliegenheiten wieder verrichtete.
Mit Bluntschli erörlerle er auch diese Wendung seines Gestirnes.
Hm“, meinte der Rechtsgelehrte, erst Diener am Wort, dann Orienktalist und schließlich beides mit-einander, das ent mir eine gesunde Mischung,wie sie jenseits des Gotthard die Weinberge mit Reben und Pfirsichbäumen bepflanzen. Vielueicht wäre eine noch gleichmäßigere Mischung das Förderlichste,halb und halb. Behalt das im Auge und denk: wenn die Apfel nicht geraten, so geraten die Birnen!“
Wieder hatte Hirzel einen solchen Aushilfsdienst zu erledigen, und zwär in dem auf der Südseite des Greifensees gelegenen Dörfchen Maur. Er packte seine Reisekasche, unberaken von der Frau, die sich 98 []um solche Dinge wenig kümmerke, und wanderte über den Kreuzplatz der Forch zu, den uralten sanf-ten Steig, der vom Zürichsee über die Höhe weg nach dem Greifensee führk. Die kristallenen Lüfte spülten über das stille Land, das die ersten Herbst vorhuten mit leisem Goldduft angehaucht hatten.Auf der Höhe der Rehalp rastete er am Wegrand und weidete die Blicke an Stadt, See und Gebirge.Der Mund wurde ihm bitter über den vielen Hoff-nungen, die gescheitert dadrunken lagen. Allein der Friede nah und weit, die Wiesen im erlöschenden Sommerflor, die träumerischen Wälder und versonnenen Höfe nahmen ihn gefangen, und gelassen erreichte er die wenigen Häuser zu Waltikon. Hier schwenkle er linker Hand von der Landstraße ab und edese durch Malten und Baumgruppen auf die Nordseite des weichgeschwungenen Höhenzuges, bis er, aus dem dünnstämmigen Gegitter eines lichten Gehölzes entlassen, nach einigen hundert Schritken den sogenannten Wasberg erreichte.
Da bezauberte ihn ein Landschafksbild ohneglei-chen, wie ihn bedünkte. Er hatte es anläßlich eines Ausfluges mit andern Gymnasiasten gesehen und,weil er damals keinen sonderlichen Eindruck emp-fangen, nie wieder danach begehrt. Jetzt aber, in den strahlenden Herbstglanz getaucht, ergriff es seine Seele, über die inzwischen so manches Leid gegan-gen, wie ein aus himmlischen Gefilden auf die Erde herabgesunkenes Gesicht. Am wolkenlosen Horizont standen die hohen Berge des Zürcher Oberlandes,neben dem Schauberg und Schnebelhorn das zugespitzte Hörnchen und die Sturmhaube des Bachtel.Hinter ihnen ragte der weißmankelige Säntis empor als der Höchste, der das lehte Work zu sagen hatte in diesen Regionen. Von den Säulen der Berge her ebbte die gruůne Landflut, mit weißglänzenden Dör-fern und dunklen Waldkämmen geschmückt, bis zum Gestade des Greifensees heran, über dessen schimuu []mernde Bläue das Schloß Greifensee herüberwinkte.Unken, am diesseiligen Ufer, dem Beschauer zu Füßen, lagerte das Hörfchen Maur. Eben läutete der Abendgruß vom grauen Turm, und die Kreuze des goiedhoss sonnten sich einsam mit ihren Blumen und ihrem bescheidenen Grün.
Immer wieder heflete Hirzel die Blicke auf ein blaues Licht, das gegen Vorden sehnsüchtig aus den Landen aufzitterte.
Es war der Pfäffikersee.
Als er am Abend des nächsten Tages heimkehrke, lag auf seinem Schreibtisch eine Nummer des kantonalen Amksblattes. Bluntschli hatte sie geschickt und eine Stelle darin mit Rotstift angestrichen:die Gemeinde Pfäffikon suchte einen Pfarrer, da der bisherige resignierte.
Ein Wink von den Sternen!“ rief Hirzel.
Tags darauf hielt er mit Bluntschli Rücksprache.Dann reiste er nach um das Nähere zu erkunden und in Augenschein zu nehmen.
Vach kurzer Frist erwählte ihn die Gemeinde zu ihrem Seelsorger.
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Der weißhaarige, bresthafte Amltsvorgänger schied schwer von der Seelsorge, die er über ein halbes Jahrhundert versehen hafte, noch schwerer vom pfäffiker Pfarrhaus. Reichlich ein Menschenalter halke er unker dem Dach gelebt, unter dem er so gerne die Augen geschlossen hätte. Klagend und saumselig und erst nach wiederholten Mahnungen der Kirchenpflege bequemte er sich zum Auszug. Seit dem langeher erfolgten Tod seiner Frau hatke eine betagte Magd mit ihm gehaust, die wie er jegliches beim Alten belassen und die dringlichsten Repara-turen abgewiesen oder hinausgezögerk hatte. Betrübt, fast feindselig bektrachtete er seinen Nachfolger und empfing ihn wie einen hartherzigen und unberechtigten Eindringling, der ihn aus seinem angestammten Reich vertrieb. Als Hirzel gar mit Frau Betty anrückté, ließ er sich nur ganz kurz sehen,während die Magd völlig verborgen blieb.
Die junge Frau Pfarrer schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen angesichts der verstaubten und verlotterten Räume, in denen sie sich bequemen und behagen sollte. Namentlich die zerfetzten, schmutzigen und vom Tabakrauch gebräunkten Vorhänge des Vorgängers erregten ihren Abscheu, und sie beschloß, hier glanzvoll Wandel zu schaffen. So gerne fie dem schwiegerväterlichen Hause entrann und allem, was drum und dran hing, sie vertauschte doch nur widerstrebend die Stadt mit dem Land, schon weil ihr die Bauern unangenehm waren, mit denen ihre siei Unliebenswürdigkeit nichts anzufangen wußte. Sie ergoß sich unerschöpflich in Klagen und
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*[]Beschwerden, ihr sei augenscheinlich niemals ver-sonnt in eine Wohnung zu gelangen, die ihrem Herommen und ihrer Erziehüng anstehe. Sie verwahrte sich heftig gegen eine Üersiedelung, ehe neue Vorhänge an den Stangen hingen, und verabredete ng Maßnahme und Zuschnitkes mit einer Räherin Tag und Stunde einer Fahrt nach Pfäffikon.Allein am Morgen der anberaumten Reise weigerte sie sich, ohne ersichtlichen Grund, sondern von irgend einer ihrer verdrießlichen Launen erfaßt, das Haus zu verlassen. Da augenblicklich sonst Niemand zur Hand war, so mußte Hirzel wohl oder übel mit der Näherin die Post besteigen, um an Ork und Stelle zum Rechten zu sehen, so weit er das unter Zuhilfenahme der empfangenen Instruktionen imstande war.Als er fröstelnd und müde vor dem Pfarrhaus anlangte und die steifgewordenen Glieder streckle,beinelke eben, ein Päckchen unter dem Arm, durch die lichten Maschen eines Schneegestöbers, das der Novemberwind hertrieb, der alte Pfarrer davon. Er mochte noch irgend elwas Vergessenes aus irgend einem Winkel hervorgekramt haben. Er blieb stehen,wandte sich, bewegle die Hanö abwehrend und verneinend und schüttelle den Kopf dazu. Dann verschwand er schaltenhaft hinter dei Geflock.
Das berührte Hirzel so seltsam, wie eine Drohung oder Absage.
Frierend zog er im ausgeräumten Zimmer den Wantel enger um den Leib und starrte eine Weile wie abwesend auf den Zettel in seiner Hand, auf dem er die Anweisungen seiner Frau vermerkt halte.
Endlich, in der ersten Dezemberhälfte, rückte der Wagen mit den Büchern und dem Hausrat an, worunter manches neue statkliche Stüdꝛ. Frau Betty hattke nämlich aus einem Erbteilchen, das ihr von einem entfernten Verwandten zugefailen, Verschiedenes ageschaftt anschaffen müssen, da sie sich bis jetzt wesentlich nur mit den Möbeln des schwieger102 []väterlichen Hauses, nicht mit eigenen beholfen haklte.
Hirzel hatte seine Frau kaum je so aufgeräumt gesehen. Behaglich und zufrieden wandelte sie zwischen der blankpolierten Fahrhabe herum, shee mit dem Schlüsselbund, öffnete und schloß Schubschaute zwischen den staatsmäßigen Vorhängen auf die Sträße hinunker. Dann schritt sie, den dreijährigen Arnold an der Hand, würdig und selbstbewußt zu Krämer und Bäcker und machtke Bestellungen.Sogar in den Pfarrgarten begab sie sich, ohne erst einen Sonnenstrahl oder einen milden Tag abzuwarten.
Hirzel ordnete seine Bücher und Pop in die Gestelle und Schränke. Er nahm sich dabei gegen seine Gepflogenheit nicht einmal Zeit, in irgend einem zu blättern. Nach dem Nachlessen steckte er seine lange Pfeife an und spann seine Träume und Pläne in das blaue Ringelgewölk. Nachdem er aus-geraucht hakte, öffnete er das Fenster, um den Dampf herauszulassen. Dorf, Strand und See schauerken im Sternenschein. Er streckte die Arme empor und ballte die Fäuste wie einer, der einen Gegner zum Kampf heraussordert. Er war inne geworden, daß es in dem Weinberg, zu dem er nunmehr bestellt war, Arbeit in Hülle und Fülle gab. Und er war entschlossen, sich wacker zu fummeln und kräftig zu-zugreifen. Das eiiggte lag schon hinter ihm, und mmer halte er sich in der Vaterstadt gehemmt und zurückgebunden gesehen. Ich bin“, sagte er sich,wie ein Säcklein voll Apfel. Da und dort halt bis setzt aus einem Riß des Säckleins dieser oder jener herausgeguckt; man hat auch wohl den einen oder ändern herausgeklaubt. Jetzi aber wird die Schnur J3 und der ganze Haufen rollt auf den isch!
Ddas Elend der Armen und Bedürftigen in seiner Gemeinde schrie ihn an. Der vielfach sumpfige und t
*[]korfige Boden nährte seine Kinder kärglich, sodaß sich unter manchem First der Hunger mit vom Tisch erhob. Viele Spinner und Weber halten durch die vor einem Jahrzehnt im benachbarten Uster errichteten Fabriken ihr Brot eingebüßt, weil die Hausarbeit vor den Waschinen nicht standhielt. Auf den Tag zwei Jahre nach der Landsgemeinde auf dem Ziemiker bei Uer hatte sich der Zorn, der damals “a vor der Rednerbühne gegrollt und gedräut atte, in einem Auflauf Luft gemacht, und ein Haufen verblendeter und mißleiteter Hungerleider halte die Fabriken in Brand gesteckt. Die Rädelsführer und Haupttäter, gegen die der Staat mit Strenge eingeschritten, wurden zwar später begnadigt. Allein Unwillen und Verbüterung glommen immer noch,weil der Hunger immer noch nagte.
Da galt es, der Not und ihrem Gefolge zu wehren und womöglich vorzubauen, dem Schlendrian und dem Stumpfsinn einen Riegel zu Ißen Es gab an allen Ecken und Enden zu tun. Denn der ale,müde Amtsvorgänger hatte diesen Dingen meistens hilflos zugesehen und ihnen den Lauf gelassen. Bei Hirzel aber trat nun ein gut Teil warmherziger Tüchtigkeit und Hilfsbereitschaft ins Spiel, die bis jehzt ohne seine Schuld brach gelegen. Er scheute keinen Gang und keine Mühe, und es erbiterke und ernüchtkerte ihn nicht, wenn meistens der Erfolg seinem guten Willen nicht entsprach. Er schrieb oft an einem Tag in Armensachen zwei Dutzend Briefe und mehr.Fast stündlich klopften Bittsteller mit irgend einem Ansuchen am Pfarrhaus an, so daß manchmal einet dem andern die Türklinke in die Zand gab. Daneben versäumte der Eifrige die Krankenbesuche nicht,kümmerte sich um die Schule und erteilte den Religionsunterricht, ohne eine Bezahlung zu fordern. Er nahm sich vor, um so recht in das Wesen der Bauern hineinzukommen, selber mit Schaufel und Hacke zu arbeiten, was überdies ein heilsames 4114 []Mittel gegen sein vieles Sitzen bilden sollte, und erWVBrunweit dem Pfarrgarken. Erst nach abgeschlossenem Kauf wurde er belehrt, daß es sich zum vorhabenden Zweck wenig eignete, da es moorig war. Und er bemerkte, daß ihn der Verkäufer übers Ohr gehauen latte iewohl er jeden Sonntag in der ße vorn ran saß.
Für seine Predigten scheute er keine Mühe. Er trug sie eifrig und lebhaft vor, von seinem Temperament zuwellen nicht nur beflügelt, sondern hingerissen zu schmerzlichen Klagen und zürnenden Ausfällen. In solchen Augenblicken dünkte er sich einen Propheten des alten Bundes, berufen und auserwählt, das Volk aus der Sünde und namenklich aus der Gleichgültigkeit gegen die christliche Heilslehre herauszureißen. Gemäß der bald leiser, bald vernehmlicher sich regenden Vorstellung, zu etwas Besonderm auserlesen zu sein, wiegte er sich in dem Gedanken, durch sein Wort und Werk über die Grenze seiner Gemeinde ins Land hinaus zu wirken und immer weiltere Kreise zu ziehen. Solche Hoff-nungen und Träume rankten an den Wänden seines Studierzimmers um so üppiger empor, als er vom Verkehr mit Gleichgebildeten und Gleichbegabten fast gänzlich abgeschnitten war und nicht häufig nach dem stundenweit entfernten Zürich gelangte. Denn für seine angekündigte Vorlesung, die ihn regel-mäßig dorthin geführt hätkte, fand sich nicht die nökige Zahl von Hörern zusammen, weder im Winter seines Amtsantritkes, noch im darauffolgenden Som «mer. Das hätte ihn früher geschmerzt. Jetzt aber focht es ihn wenig an, da ihm würdiger und wichtiger schien, einem Volke ans Herz zu reden, anstatt einen oder zwei Studenten in der lotbosbekränzten Wiege orienkalischer Dichtung zu schaukeln. Einem Volke sagte er sich, nicht: einer Gemeinde. Denn es schwebte ihm Hinübergreifen und Erfolg ins Weite vor.
10 3 []Er glaubke nur die Stimmen seines Innern zu hören, nur ihnen zu folgen. Ebenso sehr und mehr,als er wußte, folgle er den Stimmen der Parteifreunde und der Losung der Parteiblätter. Diese klangen immer schärfer und aufreizender. Und immer mehr beseelte sie der Zorn.
Die vom Geist des Usterkages getragene und erfüllte Verfassung gab der Landschäft gleiches Recht wie der Stat. Allein die in ihrem Behältnis niedergelegten Grundsätze sahen in der Ausführung anders aus als auf den Gesetzesrollen. Die Landschaft kriumphierte, die Stadt trauerte. Sie verlor auf einen Schlag die jahrhundertalten Vorrechte und tauschte keinen neuen Gewinn ein. Die vornehmen Familien büßten das Regiment ein, das sie kalsächlich geführt. Sie halten sich in Amkern und Würden 38 und mühelos manchen goldnen Groschen eingesackt. Jetzt hatte der Junker ältesten Geblükes vor dem schähigsten Schuldenbäuerlein nichts mehr vor aus. Auch den ührigen Stadtbürgern, den Handwerkern, Metzgern, Wirken und all den Zünfligen war früher hunderkfältig elwas Gutes in den Garken gewachsen an Einkünften und Stellen, schon weil alles Handwerk und Gewerbe dem Skädket vorbehalten war und die Landschaft bei ihm kaufen mußte Daß das, nun alles ein Ende nahm, daß der nächfte Beste kreiben konnte, wozu er Lust und Vermögen besaß minwochte sich kagtäglich auf Schriktk und Trüi ühlbar.
Aber die Städt war nicht nur ihrer Vorrechte,sie war selbst der Gleichberechtigung beraubt. Wer nigstens empfand sie Und es kam auch wirklich darauf hingus, wenn die Geschwader der Konservativen im Großen Rak vom radikalen Gewallhaufen der ländlichen Vertreler an die Wand gedrückt und niedergestimmt wurden. Keine Gründe, keine Beredsamkeit, kein Widerstand fruchtete gegen die Uberzahl, die auf ein Augenzwinkern Ludwig Kel106 []lers einschwenktke. Zornig sah es mancher Zürcher mit an, wie einem Großratsbeschluß zufolge die Pfor-ten und Tore weggebrochen, die Mauern geschleift,die Schanzen abgefragen und so die alte Feftung zur offenen Stadt gemacht wurde.
Indessen war die Stadt selbst durchaus nicht einträchtig, sondern seit dem Usterkag in zwei Lager ge-spalten. Es verschärfte den Streit, daß in vielen Familien einzelne Angehörige sich auf beide Lager verteilten. Gerade die Workführer und Häupklinge des Forkschrikkes stammten aus alten Geschlechtern.Es setzte sie mancher Unbill aus, daß sie mit ihrem Anhang in der Städt die Minderheit bildeten. Es blieb nicht bei den vergifleten Pfeilen, die aus den Tagesblättern herüber und hinüber schwirrten. Man betrachtete und behandelte den politischen Gegner als persönlichen Feind.
Hirzel almete auf, als ihn die Schicksalswelle aus all den galligen Zänkereien und rasselnden gängen, in denen er jahrelang gesteckt, an den Strand von Pfäffikon hinausschwang. Aber darum entrann er dem Parkteiteufel nicht. Dafür sorgte die Leiden-schaft der Zeitungen, seine gelegenklichen Fahrken nach der Stadt und die Besuche von dorther 8 die Amtsbrüder, vor allem aber die Verhältnisse im Dorf und Umgelände selbst. Den Bauern freilich war wohler in ihrer Haut, seit sie Frucht und Lebware verhandeln konnten, wohin und an wen sie wollken.Allein den Hungerschluckern von Webern und Spin-nern füllte die Gleichberechtigung und Freiheit von Handel und Wandel die leeren Töpfe nicht. Sie maßen der neuen Verfassung, von der sie früher ihr Heu gewärtigt, und den Hütern derselben ihr Elend zu. Mißmut und Groll waren an der Tagesordnung und lauerten nur auf einen Anlaß, um auszubrechen.Landauf, landab gärte es wegen der Steuerschraube,die infolge der Ausgaben für Schulhäuser und Lehrer immer schärfer angezogen wurde.
108 []In Pfäffikon amtete ein Parteigänger der freisinnigen Zürcher Gewalthaber, nämlich der Lehrer Ludi Mürggeli. Ein Vierkeljahr nach Hirzel war er frisch vom Seminar blutjung ins Dorf gekommen, vollgesogen von den Lehranschauungen seines verehrlen Lehrers Scherr, aber auch angesteckt von seinem überheblichen, unverträglichen Wesen. Das Hütchen verwegen schief auf die strohgelben, halblangen Haare gedrückt und aus den grauen Augen überlegen durch die Brillengläser bohrend,su er in eckigem Wiegegang selbstbewußt die Dorftraße daher, wobei die großen Hände vordringlich aus den Ärmeln des etwas verwachsenen Rockes herausguckten. Unter der spitzigen Vase wollte ihm noch nichks gedeihen. Sein Kinn hingegen zierke ein zar-tes Bocksbärktchen, an dem er häufig zupfte, um es zu entschiedenerem Erscheinen zu veranlaßen. Er haite sich in ein Bauernhaus einquarktiert, das ein wenig erhöht unweit der Straße lag. In dem dazugehörigen Blumengarten hielt er sich so t auf, als es Zeit und Welter gestatteten, und blickte, in bedeutendes Nachdenken versunken, über die Rosen, Lepkoien und Astern hinweg. Er nahm bald die Gelegenheit wahr, seinen Ruheort ansehnlich herauszuputzen, als er hinter dem Hause in einem Schöpfchen zufällig eine verstaubte und etwas angewitterte Gipsfigur entdeckte. Er lietß sie aus dem dunklen Verschlag heraus an den der Straße zugekehrten Garkenrand schleppen. Ein italienischer Stükkatieur und Dekora-tionsmaler, den die Renovation der Kirche und ein Neubau monatelang in Pfäffikon festgehäalkten, hatte sich die unschmackhafte Dorfeinsamkeit mit dem Werk versüßt und dabei zugleich seiner Bildhauersehnsucht eine Genüge gekan. Die Figur sollte eine sihende, gekrönte Liberkas oder sonft etwas göttlich-fürstliches vorstellen, sah aber eher einem aufgedunsenen Höckerweib ähnlich. Die mächtigen Zacken der Krone, denen der Künstler seine besondere Kraft und 108 []Liebe zugewandt, empörken Ludi Mürggelis republi-kanischen Sinn, und er beschloß, diesen unzweideutig zu bekunden. Er schüttete Erde auf den Kopf der Libertas und säte Kressensamen darauf, der bald lustig aufwucherte. In den breiten Stirnreif grub er die Worte:
Ludovicus Mürggelius in tirannos und färbte sie mit der roten Tinke, deren er sich zur Korrektur der Schulhefte bediente. Neben das wunderliche Gipsgebilde stellle er eine kleine Holzbank.Hier pflegte er zu lesen, namentlich den Neuen Republikaner“, das Organ der Freisinnigen zu Stadt und Land, das er herausfordernd vor sich hinzustre-cken oder auf den Knien zu enkfalten liebte. Ging etwa Hirzel vorbei, so ermangelke der Schulmeister suen ihm eine Schlappe oder einen zopfigen Streich er Alkgesinnten unter die Nase zu reiben, was dann meistens mehr oder weniger mit Ausfällen gespickte Wortwechsel nach sich zog, ktrohdem Hirzel id immer wieder vornahm, die Anzüglichkeiten Mürggelis an sich ablaufen zu lassen. Es ärgerte den Pfarrer,J sich der Lehrer mit ihm auf gleiche Stufe stellte und sich unverblümt jede Einmischung in Schuldinge verbat, wie sie mancherorts praktiziert wurde, obgleich die neue Verfassung die Schule von der Kirche unabhängig gemacht hatte. Noch mehr brachte sein Geblüt in Wallung eine fühlbare Respektlosigkeit, womit ihm der grüne Schnaufer begegnete. Dieser ließ sich freilich nie zuviel auf den If hinaus. Denn er halke es ordentlich hinter den ren.
Eines Tages erharrte er wiederum den Pfarrer w seinem Lesebänklein, wie Tell den Geßler in der hohlen Gasse. Er hatte heute ein besonders spitzes Geschoß auf ihn abzuschnellen. In einem Vachbar-dorf hatte sich ein beinahe Achtzigjähriger erhängt.Umsonst erschienen drei Mitglieder der hoöchsten Lan
4100 []desbehörde, um ihm ein ehrliches Begräbnis im Friedhof zu exwirken. Die tobende Bevölkerung erzwang es, daß er nebenaus in einem eigens zu diesem 83 gekauften Fleck Erde verscharrt wurde.
Es scheint, wir stechen noch im schwärzesten Miftelalter“, rief Ludi Mürggeli. Kein Strahl der Aufklärung dringt durch die Finsternis! Und warum nicht? Die Pfaffen verhindern es, anstatt dem Volk über den Graben zu helfen! Es ist eine Schande in unserer Zeit, wo der Hauch der Freiheit durch ganz Europa zittert!“
Der Hauch der Freiheit?“ rief Hirzel zündrot.Ich verbitte mir ein für allemal, daß Sie reforseete Gegsliche, meine werten Amtsbrüder, Pfaffen impfen!“
Ludi Mürggeli schwang seinen Neuen Republi-kaner wie eine Fahne in der Luft. Hier! Der Republikaner sagt's, 7* vor allem Volk! Übrigens“,besann er sich, ich habe keinen Namen genannk.Auch halt ich insbesondere Sie nicht für einen Pfaffen, sondern für einen Pfarrer! Sie würden so etwas niemals kun, wie der da drüben, anderthalb Stunden von hier! Sie würden es auch nicht billigen!“
Die Bibel verdammt den Selbstmord“, wehrte sich Hirzel. Golt schenkt uns das Leben, und wir sollen es behalten und behüten, bis er es uns ab Doch wir dürfen es nicht selbst von uns werfen.“
Aber es können doch Fälle eintreten, wo “
Für den wahren Christen kreten solche Fälle eben nicht ein“, fiel ihm Hirzel heftig ins Wort.Das weiß der Gläubige. Aber es mangelt unserer Zeit und insbesondere unsern Radikalen, die am liebsten das Christenktum mit Stumpf und Sltiel aus-rotten möchten, am rechten Glauben, am Glauben!Daran liegt es!“
So“, erwiderle Ludi Mürggeli gedehnt. Der arme alle Tropf, den sie da drüben in Bauma hin1146 []abgeschaufelt haben wie einen Hund, er ist bis vor kurzem bei jedem Wetter einen Sonntag wie den andern zur Kirche gehumpelt, obgleich ihn seine e eshan wassersůchtigen Beine kaum mehr rugen.“
Hirzel befreite sich mit gewaltsamem Ruck aus der Klemme, in die ihn der Lehrer gebracht hatte:
Das Volksempfinden, auf das ihr Herren Radikalen euch immer beruft, dieses Volksempfinden hat gesprochen, klar und unmißverständlich gespro-chen. Es fühlt richtiger, sieht kiefer als die feinnäsigen Herren Advokaten in Zürich. Es wird eines Tages mit euch unchristlichen Allesbesserwissern ins Gericht gehen und euch von euerm angemaßtken Thron herunterstoßen. Sie haben, scheinks, Ihren guten Ohren zum Trotz noch nicht vernommen, was im Wehntal sich zugetragen hat. Die Bauern dork,die den neuen Bildungsschwindel bis zum Hals hinauf satk haben, wollten sich auch einmal ihr Schulhaus inwendig ansehen und haben bei diesem Anlaß die neumodigen nichtsnutzigen Lehrmiktkel und das Bildnis des Lehrergötzen aus dem Fenster hin-ausgefuhrwerkt. Ich sege Ihnen: der Sturm ist nicht mehr ferne! Es wetterleuchtet im Lande! Wer Auger vut zu sehen, der sehe! Wer Ohren hat zu hören,er höre!“
Er schrilt hastig dem Pfarrhaus zu.
Ludi Mürggeli sah ihm schmunzelnd nach und rieb sich die Hände:
So, so. Die Herren gedenken also wieder obenauf zu kommen. Gute Nacht, Herr Pfarrer! Das gibts nicht! Die Säulen der Freiheit stehen fest gegründet im Zürichbiet!“
117 []VIII.Bernhard Hirzel hakke sich nicht gekäuscht: Sturm brütete über dem Lande zwischen Rhein und Reuß.Seine Gesinnungsgenossen wußten es, und viele unter den gemäßigt Fortschrittlichen wußten es auch.Nur die Radikalen, die eigenklichen Führer und Bannerträger, stürmten verblendet weiter und achteten nicht auf das Mene Tekel, das immer wahrnehmbarer über den Brauen der Skädter und Bauern zuckte. Sie halten Bresche auf Bresche gelegt und einen neuen Staat auf dem Boden des alten aufgeführt, indem sie Gesetze und Erlaße in reicher Fülle und überrascher Folge allerdings nicht Ausgeburten unduldsamer Parteisucht und chiIxx Beglückerwahns, sondern ausgereifte Früchke eines gesunden, kräftigen Forkschritis. Sie konntken in esam kurzer Zeit so vieles ertrotzen und erstürmen, weil es noch keine Volksabstimmung gab:ein Ankrag, ein Beschluß des Parkeikonventikels wurde fast durchgängig durch die Volksvertretung zum Gesetz erhoben. Die Führer fühlten dem Volk nicht den Puls, sie kannten es nicht. Sie zielten auf sein Wohl. Also wiegten sie sich im Glauben, daß es ihnen freudig und dankbar folge.
Aber sie 7 es erleben, daß es ihnen nicht nur die Fesog aft versagte, sondern ihnen sogar in den Rücken schoß.
Es ragte eine Burg im Lande, an die sich der Freisinn bis jetzt kaum gewagt hatte: die Kirche.Man hätte ihr freilich die Herrschgewalt über die Schule abgenommen, sonst aber sich wenig mit ihr befaßt, zumal es eigentlich ins Pflichtenheft eines 112 []Radikalen gehörtke, sich nichts aus ihr zu machen,außer wo man ihren Übergriffen wehtte.
Nun legten die Reformer auch hier Hand an.Darüber kamen sie zu Fall.
Hirzel saß wenig über ein Jahr an seinem kleinen,blauen See, so * der Zürcher Erziehungsrat gegen Wunsch und Willen der theologischen Fakul-tät auf den erledigten Lehrstuhl für christliche Glaubenslehre und Kirchengeschichte David Friedrich Strauß vor, den seine Landeskirche ausgestoßen hatte. Schon zwei Tage später legte der Kirchenrat Verwahrung ein gegen den Vorschlag. Diese Kunde züngelte wie ein Flugfeuer durchs Land und zündete namentlich in den Pfarrhäusern. Vier Wochen darauf wies der Große Rat das Begehren des Kirchenrates, bei der Berufung von Theologieprofessoren greden, nach neunstündigem Redekampf von der and.
An einem sonnigen Nachmilkkag eingangs Februar holte Ludi Mürggeli kräftig dusschreikend den Pfarrer Hirzel ein und lüpfte leicht das Hütchen, das er, wie es den Pfarrer bedünken wollfke, feit dem Ausbruch des Straußenhandels wieder ganz besonders schief trug.
Es gewinnt srenn pewpaen äußerke er anzüglich, immer mehr den Anschein, daß Licht und Freiheit siegen und daß der Strauß kommt.“
Er kommt nicht', rief Hirzel gereizt. Der Strauß gehört in die Wüste! Da soll er seine Satanseier legen! Aber er gehört nicht unter ein christ-liches Volk. Nur Zuchthäuslern kann es einfällen,just einen derarkligen gespuckten Gotkesläugner zu uns herzuschleppen, damit er den Schalk mache und seinen Tücken fröhne. Das Geschöpf hälkkte man den Schwaben lassen sollen. Die wären schon mit ihm abgefahren!
Ludi Mürggeli warf sich in die Brust:
Draußen im Reich ist die Religion weiter nichts
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Freyh, Bernhard Hirzel
13 []als eine Polizeianstalt, womit man die Unterkanen im Zügel hält. Man gibt sich dort zufrieden, wenn sie Äberhaupt etwas glauben. Wir aber sind frei,Herr Pfarrer! Bei uns hat die Religion eine höhere Siellung! Das ist ein Glück, das, wie es scheint, noch nicht jedermann zu schätzen weißl!“
Ja, jaꝰ, höhnke Hirzel, den Kohl haben die radikalen Indianerhäuptlinge im Großen Rat aufge-lischt; und jetzt wird er aufgewärmt. Schleiermacher und Hegel und andere haben bis an ihr Ende in Deutschland in Amt und Würden gelebt und gelehrt.Kein Mensch hat ihnen wegen ihrer Ansichten ein Haar gekrümmt oder das Maul verbunden. Dage-gen unsere Räuberhauptmänner führen die Freiheit der Religion im MWunde, um sie desto ungescheuter unterdrücken zu können.“
Herr einige der Herren auf den Regierungsstühlen halten es allerdings nicht für not-wendig, sich die Schuhsohlen abzulaufen, um einer Predigt nachzusteigen. Aber es sind lauter Christen,getaufte Christen, und nicht einer von ihnen hat das Geringste gegen unsere Religion unternommen!“
Aber gleichgültig sind sie, sogar die besten unker ihnen. Und mit der Gleichgültigkeit fängt das Verderben an. Herr Lehrer, Sie kennen das Wort oder vielleicht, Sie kennen es auch nicht: ich will die Lauen aus meinem Munde ausspeien.
Die Herren haben gar nicht im Sinn, die Reli-gion gleichgültig zu behandeln oder gar zu schädigen.Im Gegentkeil, sie begehren, sie zu heben.“
Da ist der Bock zum Gärktner gemacht!“
Es ist nicht zu bestreilen, die Regierung begün-stigk und fördert die freie Forschung nach der Wahr-heit. Sie wünscht eine neue Reformation, eine Verjüngung und Auffrischung unseres Glaubens. Die Reformation ging einst auf die Bibel zurück. Man schreitet in ihrem Geist und Sinn fork, wenn man von der Bibel auf Christus selbst zurückgeht. Und
114 []das eben hat Strauß getan. Wenn er nicht überall Recht haben sollte, so wird er Widerspruch erregen und durch den Widerspruch anregen.“
O Mürggeli“, lachte Hirzel scharf, auch Sie sind einer der Gimpel, die diesen Gauklern auf den Leim gekrochen sind. Sie möchten den Glauben zu einer Art Philosophie herunterhunzen, um die d dann um so leichter in den Sack zu stecken. Die Religion unseres Erlösers soll erset werden durch die Hirngespinnste des Herrn Strauß. Da liegt s! Aber was Christus aus seiner von gölilichem Geist durcheenen Seele schöpfte, das hat eine höhere Glaubwürdigkeit anzusprechen als die kühnsten Philosopheme.“
Die echte Freiheit hat keinen Fortschritt auf dem Felde der Wahrheit zu scheuen. Im Gegentkeil.sie begrüßt sie“, enkgegnekte Ludi Mürggeli siolz.
Sauberer Forkschritt!“ rief Hirzel. Man will dem gemeinen Mann das Heiligsie räuben, den Glauben. Die drei heiligen Sterne, Gott, Unsterblichkeit und Erlössung, sollen ausgelöscht werden, da-mit das stinkige Unschlittstümpfchen des Herrn Strauß leuchte. Und welche Folgen zieht das nach sich? Jetzt schon meinen Viele, durch Straußens Lehre einen Freibrief zu sündlichem und lasterhaftem Leben zu haben, wie mehrere der radikalen Partei-hengste. Wie wird das vollends kommen, wenn diese dehre gewissermaßen von Staalswegen sanklioniert ist? Wenn man dem Volke den Glauben raubt, so raubt man ihm die festeste Stütze seines Daseins.Was soll ihm dann den gestörten Seelenfrieden ersetzen? Was soll ihm Trost spenden in allen Dräng-nissen und Nöten?“
„Der Trost bleibt ihm! Denn das Christentum bleibt! Nur daß die Wahrheit einen Schrilt vorwärts kut und ihm die Schlacken abstreift“, erwiderte Ludi Mürggeli bestimmt.
Ein Kabis!“ rief Hirzel zornig. Ein französi-13 []geschmiert und rechnet ihm darin zum Höchsten an,daß er dem leidigen Christentum den Rest gegeben habe! Wörklich! Und da soll das Christentum bei üns durch Strauß und ähnliches Gelichter in die Höhe gebracht werden! Die christliche Lehre soll zu voden gedrückt werden und ihre Verkündiger eben falls! Der Pfarrer soll nur noch eine willenlose Puppe sein in den Händen der Regenten! Das beabsichtigen die Herren! Gegen diese Üherhebung fruchten keine Gründe mehr! Da muß die Mist-gabel her und der Dreschflegell“
Der Schulmeister kat eben den Mund auf zu einem geharnischten Widerwort, als die Post um die Straßenecke klingelle und der Postillon kräftig knallte. Die beiden Streitenden hefteten die Augen erwarkungsvoll auf den Wagen, um vielleicht etwas Neues aus der Skadt zu erfahren. Wirklich streckte einer der Insassen den Kopf heraus und rief:
Jetzt hak der Strauß ein Vest in Zürich, wo der Teufel feine Eier drein legen kann! Die Regierung hat ihn heute gewählt!“
Hirzel erbleichte, während Ludi Mürggeli vergnüglich und siegesgewiß lächelte.
Jetzt wird das Wort des Herrn in Erfüllung gehen: Ich will dir einen Ring an die Vase legen und ein Gebiß in dein Maul! Es ist wahrlich die Zeit dazu gekommen!“
Mit diesen Worten eilte Hirzel dem Pfarrhause zu, ohne den Lehrer noch eines Blickes zu würdigen.
Der Zorn gegen die Wahlherren des gottlosen Gottesmannes Strauß und gegen ihre Mitläufer streckte binnen eines Tages und einer Vacht kausend Fäuste aus dem Boden und organisierte sich unter einem Volke, dessen Pulse seit einem Jahrzehnt unzählige Male vom politischen Fieber aufgehetzt worden waren, im Sturm. Das rechte Seeufer hatte 1830 den Weg zur Usterer Landsgemeinde gebahnt. Jethzt
15 []warf es wiederum zuerst die Fahne des Widerstandes auf, aber diesmal zugunsten des Alten, und das linke folgke unverzüglich. Eine Protestversammlung löste die andere ab. Es waren nicht verbitterte Kampf-hähne, nicht Streber und Wühler, denen der poli-VNarrenstreich der Regierung die Arena auf-schloß, wo sie ihr Mülchen kühlen, ihre Geschäfte besorgen, ihre Stimme vor der Wellt erschallen lassen konnten. Hier kraten vielmehr aufrechte,ehrenfeste Männer in den Ring, denen es nicht darum zu tun war, der Regierung einen Bengel zwischen die Beine zu werfen oder sie vom Stuhl herunterzustoßen, sondern die zum Rechten sehen wollten.
Noch waren seit der Wahl keine zwei Wochen verstrichen, so geschah das Entscheidende in Wädens-wil. Eine flüchtige, nur mit B. gezeichnete Zeile Blunkschlis, in dessen Hand viele Fäden zusammen-liefen, hatte den Freund zur Teilnahme an der Ta-gung aufgefordert. Freudig folgte Hirzel dem Ruf.Er brannke vor Begierde, in den Kampf einzugreifen und sich hervorzukun.
In dem geräumigen Tanzsaal des Wirkshauses,worin man sich versammelte, machten seine Amks-brüder, von denen ihm einige persönlich, andere wenigstens dem Namen nach bekannt waren, ungefähr ein Viertel aller Anwesenden aus. Die übrigen waren meistens ausgesprochene Freisinnige,ja Radikale, die im Straußenhandel der Regierung keine Heerfolge leisteten, sondern ihr rundweg den Sack vor die Füße warfen. Sie gaben den Ton an,hiellen während der Verhandlung das Heft in den Händen, beschnitten oder knickten, soweit es anging,üppige Redeschößlinge und drängken unverrückt dem Ziel zu. Man merkle, daß sie in den erregten und zähen Debalten des Großen Rates die gelernt und sich die parlamentarischen Handgriffe angeeignet hatten. Sie flochten an diesem Februar117 []tage ein Netz, das den ganzen Freistaat Zürich über-spannte und unker ihre und ihrer Gleichgesinnten Botmäßigkeit brachte: In jeder Kirchgemeinde des Kantons, so wurde oen sollen sich zwölf Mann zusammentun und aus ihrer MWilke zwei in einen Verein entsenden, der den Bezirk verkrilt;diese Bezirksvereine, elf nach der Zahl der Bezirke,oronen ihrerseits je zwei Mitglieder in das Zentralkomitee ab, das d zweiundzwanzig Köpfe zählt.Das war das Glaubenskomitee, wie es bald bei Jung und Alt hieß; das waren die sogenannten Zweiundzwanziger. Sie sollten alles Zweckdienliche vor kehren, um Strauß vom Lehrstuhl der Hochschule fernzuhallen. Anscheinend waren ihnen dabei die Hände ziemlich gebunden, da die Verfassung keim anderes Mittel erlaubte als eine Aber sie hakken eine Waffe. Das war der Kampf-verband der gestaffellen und gegliederten Vereine.
Das Sellsamste war, daß diese Männer aufrichtig und in guten Treuen glaublen, mit ihrem Vorgehen nicht einen Schritt vom Rechtsboden abgewichen zu sein. Nur einer unker den zu Wädens-wil Anwesenden durchschaute die Dinge. Das war der Sängerfreund und Pfarrer Johann Jakob Sprüngli zu Thalwil, der mit seinem Erscheinen mehr dem Wunsch seiner Gemeinde als eigenem Bedürfnis nachgab. Er erhob sich, nachdem die Besunse angenommen waren, klaubte eine Prise aus einem goldenen Döschen, strahltle die Versammlung aus on blauen Augen freundlich an und sagke:
KNVichts für ungut, wenn ich ein Unkräutlein in den Weizen säe, der jetzt eben so nett blüht. Ich bin durchaus dafür, daß man sich mit Bauch und Rücken gegen den Strauß wehrkt. Meinetwegen könnte er sein, wo der Pfeffer wächst oder noch ein paar Schuh weiter. Aber es will mir nicht eingehen,wie wir uns gegen die Regierung herauslassen. Wie führen wir uns auf, bei Licht besehend Wir sind wie 118 []ein Betkler, der mit der einen Hand ehrerbietig die Kappe upse mit der andern eine geladene Pistole vorstreckt. Wir haben lang gut sagen: unser Weg ist ein gesetzlicher, unser Vorgehen ein religiöses und hat mit Politik nichts zu schaffen. Es hak in Gottes Namen doch mit ihr zu schaffen. Und wollen wir das Kind geradenwegs beim Namen nennen, so heißt es ganz einfach Revolution. Was werden die Folgen unseres Tuns sein? Unzufriedenheit, Entzweiung,Zwietracht. Wir können unser Ziel erreichen, guch dhne daß wir so sprützig und auflüpfisch ins Zeug gehn. So lang's im Frieden möglich ist, so lang soll mean's im Frieden versuchen: Das ist meine wohlgemeinte Ansicht.“
Die Hörer halken es gerne gesehen, als er sich zum Worte meldete. Denn er war ein unterhalt-samer und darum weithin gesuchter Redner. Aber sie erst die Köpfe zu seinen Auslassungen,ann murrken sie. Und als er von Revolution sprach,schwirrten unwillige Zurufe auf, und einige scharrtken und trampelten. Er hatte die goldene Schnupfdose in der Hand behalten, um sich nach beendigtem Red chen mit einer Prise zu belohnen. Jetzt steckte er sie wieder ein, ohne sein Vorhaben ausgeführt zu haben,und eilte schnurstracks ins Freie, wo ihn der ver 3 Sonnenstrahl des Vorfrühlingstages und as Geschmetter der Finken willkommen hießen, die eben auch ein Revolutiönchen gegen den Winter in Szene sehzten. Er nahm, den See entlang, den Heimweg untker die Füße und wanderte seinen Büchern und Singheften und seinem Frieden zp
Beinahe zuletzt in der Versammlung eingekrof-fen, geriei Hirzel bald in einen Taumel, daß er sich kaum erinnerke, Ahnliches erlebt zu haben. Ihm war,er sei bis zum heutigen Tage auf schmalem, engem Feld gelaufen, jetzt jedoch lue sich ein weites auf.An die hundert Mann waren hier beisammen, Vertreter von mancher Gemeinde; und hinter mehr als
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29 []einem von ihnen standen, das wußte man, hundert und aberhundert. Da fehlte nichts von der verstaub-ten Sladtperrücke bis zum ungebändigten Bauern-yeß Aber alle erfüllte ein Sinn und ein Wille.nd ihr Wille war der Wille des Volkes. Wer hier ein Echo fand, der fand ein Echo im ganzen Lande.Wer hier führte, der führle das Volk. Ein zündendes Wort 5 nicht an dieser Stätte. Es sprang über die Schwelle und loderte draußen hundertfältig. Denn die hier lauschten, waren nicht ärmliche Dörfler, sondern durchweg gemachte Männer von Ansehen und Stellung. Heute war die Stunde,heute war endlich einmal der Anlaß, auszuschütten den Zorn über das Gebahren der Radikalen und ihr frevelhafles Wagnis mit Strauß.
Voch raunke und brummelle der Arger über Sprüngli im Saal, so schnellte Hirzel auf und begann mit flammenden Augen und hastigen, eckigen Geberden:
Nachgiebigkeit! Frieden! klang es eben unker uns, ich weiß nicht, ob aus übelverstandener Milde oder gar aus geheimer Furcht vor den Wächtigen.Was uns jedoch Rot lut, das ist unerschrockener Kampf. Ich sage mit Jesaia: Machet Bahn, machet Bahn, räumet den Weg hebet die Anstöße aus dem Wege meines Volkes! Wir kennen ihn alle, den Anstoß: es ist der falsche Prophet aus der Fremde und sein Anhang. Unö wir erinnern uns an das Work des Herrn: Ich will die Propheken und unreinen aeez aus dem Lande treiben!“” Ein falscher Prophet, ein Baalspfaffe soll unter uns mit Hosianna aufgenommen werden, damit er den Glauben besudle und zerstöre, darin unsere Väter lebten und starben und, darin auch wir und unfer ganzes Volk leben und sterben wollen. Wir verdlenken den Ehrennamen eines Christen und Mannes nicht, wenn wir nicht das Letzte daran rückten, einen solchen unerhörten Frevel abzuwehren. König Josia, der im 19 120 []Segen des Herrn regierke, hat die Haine und Phen bilder Baals und alle Werke der Abgötterei abgebrochen und zu Staub gemacht. So sollen auch wir z Räucherer Baals abkun und mit eisernem Szepter zerschlagen. Unsere Zahl ist Legion! rufen sie. Aber sie sind nur ein geringer Haufe. Sie wollen uns glauben machen, sie hätten so viel Alläre, als Mandeln auf dem Felde e Aber es ist Blendwerk.Laßt euch nicht täuschen durch die ede die sie zur Schau kragen, und durch ihre eherne Stirn! Sie,die kein Recht achten und unsere heiligsten Gefühle mit Füßen kreten, sie werden schreien über Unrecht und Gewalttat. Kehrt euch nicht daran! schlagt zu! Fragt auch nicht: Wächter, ist die Vacht bald hin? Sie ist dahin! Es kommt der Tag, es kommt die Stunde, wo wir das Joch zerbrechen,das sie uns im Namen der Freiheit auferlegt.Wenn wir die Stunde versäumen, sie kehrt nicht wieder. Darum rüstet euch mit der Stärke des Glaubens und mit der Zuversicht des Gottesstreiters! und werdet nicht laß im Kampf! Uns liegk nicht nur ob, ihren Ansturm abzuwehren; wir müssen sie auch mit der Schärfe des Schwerkes treffen, daß sie ihr freches Haupt nicht wieder erheben und wir für die kommende Zeit Bürgschaft erlangen, daß in negp Polke der Glaube unangetastet sein wird für und für!“
Der Redner pflegt willkommen zu sein, der Geschäfte, die man eben erledigt, warm und schwungvoll in ein höheres Licht zu rücken vermag, indem er ihnen die Arbeitsmühe, die sie gekostet, und den Dunst irdischer Leidenschaft abstreift. Hirzel erntete starken Beifall. Der alttestamentliche Zorngeist befremdete wenige, er ergriff die 33 Wan merkte sich den Mann! Wan prägte sich sein Gesicht ein, seine Haltung, sein Wesen. Man empfand ihn als starken Ton, der mit dem Chor der Handelnden übereinklang und doch eine besondere Farbe besaß.
121 []Der Tagespräsident, der Richterswiler Fabrikant Hürlimann-Landis, ein mittelgroßer, hagerer.XXXE gen im bleichen Gesicht, hakte vorgebeugt und,um seinem schwachen Gehör nachzuhelfen, die Hände hinter den Ohrmuscheln, gelauschk und kein Auge von Hirzel verwendet. Er war angesehen, unankastbar und ein leidenschaftlicher Antistraußianer, und darum hatte ihn die Versammlung zum Leiter auser-koren. Aber er war von heut auf morgen als verworrener, verwölkter Fanatiker n Vorschein gekommen, der auf das Stichwort Religionsgefahr in die Gegner hineinsurrke wie die Hummel ins Woos,sodaß er, der von Hause aus Freisinnige, der nur seinem Geschäft und gemeinnützigen Werken gelebt hatte, im Straußenhandel zum rabiaten Glaubenscondottiere gedieh.
Das ist mein Waffenbruder“, dachte er, als er Hirzel reden hörte, den er vorher kaum dem Namen nach gekannt hatte. Und er behielt ihn in gutem Gedächtnis.
Vachdem Hirzel seine Worke beendet, brodelte und kochte es noch eine Zeit lang in ihm weiter, wie ein Topf, den man vom Feuer weggeschoben, noch eine Weile fortrumort. Seine Rede erschien ihm als plötzliche Eingebung, als Wink, daß er zum Glaubensstreiter und Führer berufen sei. Der Gedanke beherrschte ihn völlig und ließ ihn vergessen, wie oft er fast sämtliche Wendungen und Begriffe in seinen Predigken und im Gespräch mit Bekannten schon gebraucht hakke, sodaß er nun ohne weiteres aus dem Vollen halte schöpfen können.Da ihn der Heimweg über Zürich führke, so suchke er hier gleich Bluntschli auf und berichlete ihm aus-führlich über das Vorgegangene. Der Freund hörte aufmerksam zu, warf auch hin und wieder eine Frage dazwischen.
122 []Hirzel nahm wahr, wie genau er Zescheid wußte und wie sehr ihm die Dinge am Herzen lagen. VerB drückle er über des Freundes Verhalten eine Freude aus und sagte beim Abschied:
VRoch einmal du hast dich wie ein Mann gehalten! Es ist gut, daß du das Schwert eines Strei-iers Gottes umgegürtet hast. Unser Land und unser Glaube zählen auf dich in den ernsten Stunden, die vielleicht näher sind als wir denken.“
TA
123 []X.
Dem Winker wurde der Talboden zu warm. Er flüchtete in die Berge und blickte säuerlich in die Lande, wo der Lenz seine Zelte aufschlug und mit Seidelbast, Schlehenblust und Huflattich schmückte.
Ludi Mürggeli hatte kein Auge mehr für die anbrechende Herrlichkeit, kein Ohr für Amselruf und I so sehr er es sonst liebte, wie er nachdrücklich zu betonen pflegke, seine Andacht unter Gottes een Himmel zu verrichten. Er fand es auch nicht rätlich, die aufblühende Natur im Gärtchen seiner Wohnung zu betrachten oder sich auf dem Bänklein daselbst von der Märzensonne den Rücken bescheinen zu lassen. Denn er mußke jeden Augenblick gewärtigen, daß Vorübergehende ihm Schmä-hungen oder Hohnworke zuschleuüderken, denen er um seiner Hausleute willen aus dem Wege zu gehen wünschte. Sie hakken ihm nämlich, obgleich er pünkt-lich zinste und sich ordentlich hielt, schon mit Kündi-gung gedroht, weil er ein hartnäckiger Regierungs-freund und Straußianer war. Noch widriger waren ihm die hämischen oder ehrenrührigen Zulagen der Vorbeigehenden wegen des hübschen, vollbusigen Vachbarkindes, das ihm über den Hag weg seit etlicher Zeit Augen zu machen begonnen hatke und nicht verbarg, daß sie sich solche von ihm auch machen lasse. Nun aber war sie seit zwei Wochen kaum mehr zum Vorschein gekommen und wich ihm ersichtlich aus, ob aus frejen Stücken oder weil die Alten dahinter steckten, brachte er nicht ins Reine. Das ging ihm im Kopf herum.174 []Er beschloß einen Spaziergang ins Freie und eröffnete das Vorhaben damit, daß er in verlangsam-tem Parademarsch die Fenster des Nachbarhauses gründlich abguckte, freilich ohne Erfolg. Er war noch nicht weit gelangt, so stieß er auf, ein Rudel Dorfbuben, die einem einzelnen, der sich an einen Zaun geflüchtet, mit Püffen und Fußtritten zusetzlen,Schelte und Schimpfworte nicht mitgerechnet.
Ludi Mürggeli fuhr unker sie.
Was gibts da?“ herrschte er sie an.
Die el stoben nicht auseinander, und keiner drückte nß wie das sonst wohl geschehen wäre.
Die Hände in den Hosentaschen maulte der Rä-delsführer frech und breitbeinig, indem er mit dem Kinn auf den Belagerten hinwies:
Das ist auch so ein kaiben Strauß! Dem wollen wir's werden lassen!“
Jetzt hob Ludi Mürggeli den Stecken, worauf die Roktte wohlweislich den Finkenstrich nahm. Er geleitele den Mißhandelten, den Sohn eines rechtschaffenen Mannes, einige Schritte gegen das väterliche Haus hin, bis er aus dem Bereich allfälliger seiner Kameraden heraus war. Zornig und nachdenk-lich setzte er seinen Weg fort. Er wußte, es gor seit Wochen in der Schule, und auf den Bänken schoß die täglich üppiger ins Kraut, weil die Alten dahinter standen und schürten und es nicht bei bösen Blicken bewenden ließen, wenn sie ihm auf der Straße begegneten, sondern ihn gelegentlich urchig anließen oder ihm gar die Fäuste unter die Nase streckien, obgleich sie an seiner Lehrtätigkeit wenig auszusetzen wußken.
In seinem unmuligen Wandel und Hinbrüten schreckten ihn draußen vor dem Dorf Schritte auf.Es war Pfarrer Hirzel, der, von einem Krankenbesuch zurück, eben aus dem kahlen Erlengebüsch eines Seitenweges herausbog, sodaß sie beinahe mit den Vasen aufeinanderstießen.
125 []Hirzel grüßle etwas herablassend und wollte wei-ter. Denn seit dem Wädenswiler Tag ging er stolzer als vordem im 33 und derenden herum und behandelle den Lehrer fühlbar von oben herab. Ludi Mürg-geli wich ihm aus, seit der Parteiwagen immer tiefer in den Sumpf geget Jetzt aber beschloß er, gehörig auszukehren und dem Pfarrer aufs Brot zu streichen,was ihn wurmte. Mit fliegenden Worken erzählke er,was er eben unter den Schulhuben erlebt, und schloß:
So weit ist es anfangs bei uns gekommen, daß die unschuldigen Schulkinder leiden und herhalten müssen für die Parteistellung des Vaters! so weit landauf, landab, nicht nur hier! so weit durch die Hetzereien gewisser Leute!“
Ich bedauere naltürlich solche Vorgänge, obgleich sie in der Natur der Sache liegen“, erwiderte Hirzel leichthin und anscheinend gleichgültig. Ich bin unschuldig daran.“
Unschuldig?“ fuhr Ludi Mürggeli auf. VNaktür-lich unschuldig wie ein Neugeborenes! Man weiß,wie Sie in Wädenswil in die Trompete stießen! Die konservativen und schwarzen Blättlein haben nicht genug jubilieren können! Und man weiß, wie es schon Lorher und namentlich hier in unserer Kirche ang!“
Hirzel bog den Kopf etwas zurück und spreizte die Finger der Rechten, wobei er demonstrierenderweise die Spitze des Zeigefingers auf den Daumen drückte.
Gestatken Sie mir, lieber Herr Lehrer, eine Bemerkung meine Worke in Wädenswil und meine Worte hier mögen ekwas lebhafter, elwas kräftiger,etwas eindrücklicher gewesen sein als die manches andern. Darüber zu reden, steht mir nicht wohl an.Aber das ist n sie haben nichts in unser Volk hineingetragen, sie haben nur das zum Ausdruck gebracht, was in unserm Volke, in feinem Innersten lebt. Ich serviere Ihnen einen Beweis, den Sie 126 []schwerlich anzweifeln werden: Die Petition, die das
Glaubenskomitee in Ausführung der Wädenswiler
Beschlüsse ins Land sandte, hat, wie Sie ja auch wis-sen, de weplen Ja auf sich vereinigt gegen ein-
Wen ein. Ich denke: Volkes Stimme, Gokkes imme!“Gottes Stimme? Gokttesmänner Stimme!“ höhnke Ludi Mürggeli. Von den Kanzeln herunter wurde ewettert und 28 und der Teufel im größten * an die Wand gemalt, daß die Leute eine Gänsehaut kriegten und ihnen der Kopf rauchte.“Das Salz der Schulmeister ist blöde geworden“,erwiderte Hirzel überlegen und ruhig. Auch das will ich Ihnen beweisen: in notorisch freisinnigen Gemeinden mit ebenfalls notorisch regierungsfreund-lichen Geistlichen wurde die Petition gegen Strauß eumahe lauter Ja, kaum mit wenigen Nein beeckt.Ludi Mürggeli schwang sich hurtig auf einen andern Zweig:
Wollen Sie mir vielleicht auch behaupten und beweisen, daß nicht in unerhörter Weise gehetzt wurde und käglich, stündlich noch wird? Es hagelt Lieder, Sprüche und andere Gedichte, sogar Theakerstüche kommen angerückt! Pamphlete, Brochüren,Sendschreiben, Predigten, gereimt und ungereimt,gibt es mehr als in einer Kaserne Flöhe! Alles gegen und die Freigesinnten! und in was für einem Strohhagelmordiotons Neben dem frömmelnden Augenverdreher und Pommadehengst aus der Stadt sieht ein Stallknecht vom Dorf noch aus wie ein geschniegeller und verzuckerter Lakai und Zierbengel an Fürstenhöfen.“
Was die Feinheit des Tons anbelangt', lächelte Hirzel ironisch, so kann ich Ihnen ausgezeichnet dienen. Heute morgen brachte mir die Post Folgendes.“Er griff in die Brusttasche und zog ein Flugblatt her7 []aus. Da ist die Rede von orkhodoxen Ochsen.Schauer-AuerOchsen.
Ha“, wehrte sich Mürggeli, wenn die Zöpfe und Altgläubigen kun wie die Wildsäue, so werden die Freisinnigen auch noch ein bischen Krambol machen dürfen! Und dann: wie man in den Wald hineinruft,so schallt's heraus. Nur mit einem Unterschied: Ihre Partei bewirft mit Kot, unsre mit Witz. Es könnte am Himmel gemalt stehen, was die frommen Zeitungen und Flugblätter und die Wühler und Maulwürfe an Gemeinheit und Verläumdung zutage fördern.Unser harmloses Volk wird planmäßig zum Fanatismus aufgestachelt. Dazu ist Ihren Gesinnungsbrüdern jedes Mittel und Miltelchen recht, wenn es nur wirkt. Eine ausgemachte Schreckensherrschaft ist über uns hereingebrochen. Ganze Gemeinden heulen im keuflischen Chor mit, g um von den Nachbargemeinden nicht als straußisch verschrien und in Acht und Bann gelan zu werden. Man kauft vom Bäcker,wenn er zu den Straußen hält, keinen Weck mehr,vom Meßtzger keinen Schweinsfuß, vom Krämert nicht das elendeste Päcklein Cichorie. Und lieber läßt sich mancher den Bart bis zum Vabel herunter wachsen, eh er einem straußischen Haarkünstler in die Bude kritt. In und außerhalb der Schule, wie ich eben erlebt habe, werden die Kinder eines Strauhßen verbrüllt und verprügelt. In Zürich sind fromm-gesinnte Leute in die Druckerei des Neuen Republikaners eingedrungen und haben den Besttzer sowie den Redaktor mit Schlägen traktiert.“*X zuckte die Achseln und bemerkte gering-
ätzig:
Dem Leuthy ist eine Tracht Prügel gesund für die vielen elenden Verse, die er verbrochen hat.“
Nun“, gab Mürggeli nachdrücklich zurück,«wenn man jedem die Haut vollschlagen wollle oder müßte, der geringe Verse zusammengereimt hat, so kriegte auch ein gewisser Jemand in Pfäffikon, den 2*[]ich nicht bei Namen nennen will, Sie kennen ihn schon eine ordentliche Ladung ab. Und er kniff boshaft ein Auge zu und sah Hirzel stgf ins Gesicht.Er sah, der Schuß saß. Hirzel halte sich kürzlich zum erstenmal als Dichter vor die Sffenilichkeit gewagk,indem er bei einem Schulfestchen feine Rede mu einer ansehnlichen Reihe selbstverferliglker Strophen garnierte, was ihm Beifall eintrug, Ludi Mürggeli aber ärgerte, weil seines Bedünnens das Poem überheblich und frömmelnd klang und nichts taugle.
In diesem Augenblick, wo Hirzel sich zur kräftigen Abwehr in Positur setzte, wurden die Beiden pon einem alten Hausierweiblein angesprochen, dessen Herannahen sie nicht beachtet halien.
«ch, ihr Herren, kauft doch um Tausendgottswillen einer alten Frau etwas ab! Ich habe es schrechlich nötig. Meine Tochter hat fünf unerzogene Kinder das jüngste ist erst anderthalbmonatig und ihr Mann ist ne und kann nicht dem Verdienst nach. Und i selber habe anfangs einen so engen Alkem und werde es nicht mehr lang kreiben. Wenn ich meinem Kind nicht noch ein wenig helfen könnte, so möchte ich lieber heut als morgen unter den Boden, das möcht ich, sicher und gewiß!“
Sie zog das Tuch von ihrem Korb weg:
Ich hätte ausgezeichnete Schuhnestel, im ganzen Kanton hat Niemand bessere! Und Hosenkräger,echle Winkelriedhosenträger, das Feinsie und Haltbarste, was es gibt! die vornehmsten Herren in der Stadt tragen sie! und spoltbillig!“
Hirzel winkte ihr mit einer Handbewegung ab.
Ach, lieber Vaker im Himmel', jammerte sie,‚die Welt wird immer schlechter und verderbter.Drum kauft man einer armen, alten, ehrlichen Frau nichts mehr ab, die es so nötig hätte.In Zürich liegen die großen Herren und Regenten
Frey, Bernhard Hirzel
329 []Tag und Vacht im Wirtshaus und hängen sich an“ die schlechten Weiber, die ich mit keinem Skecken anrühren möchte, und drücken den armen Witwen und Waislein das Geld ab und saufen und fressen sich aus ihrem Gute voll. Die armen Leute werden niederträchtiger behandelt als die Hunde,und man nimmt ihnen das letzte Hemd vom Leibel Und die Stadt Zürich wird zu einem Sodom und Gomoria gemacht, und unser heiliger Glauben wird in den Kol gezerrt und dann abgeschafft. Sie haben einen aus dem Deutschland verschrieben, der das besorgen muß. O du lieber Vater im Himmel droben, die haben es gut, die vorher ins Kirchengräblein liegen dürfen und das nicht mehr zu erleben brauchen!“
Sie warf noch einen Blick nach den Händen der Beiden. Da aber keiner Miene machte, nach dem Geldbeutel zu langen, so humpelte sie brummend dem Dorf zu.
Sie halte kaum den Platz geräumt, so rückke ein bäumiger Metzgerknecht auf, dessen Gegröhl man schon von weitlem vernommen halte. Die Pelzkappe über die weinrote Stirn zurückgeschoben und einen langen Knokenstecken in der fleischigen Rechten,schleppte er ein Kalb an einem Skrick hinken nach.Er blieb stehen, fuhr zum Gruß mit dem Stecken ein bißchen nach dem Kopf und grätschte die Beine;
Einen guten, ihr Herren! schön Welter heule!beim Eid! s8' macht schon ein wenig warm und Durst! Das kaiben Umeinanderlaufen dem Vieh nach! Schön still und ruhig haben Sie's hier draußen zuf dem Lande, das muß ich sagen gegenüber dem Lebtag in der Stadt! Und denken Sie nur an mich,es dauerk nicht lange, so geht dork alles drunter und drüber, und der Teufel an allen Ecken und Enden los. Rämlich, es ist Ihnen gewiß auch schon zu Ohren gekommen, daß die Radikalen den Goltes-lästerer Strauß auf's Universum berufen haben, da-130 []mit er die Religion zu Boden mache. Draußen im Schwäbischen, wo er her ist, haben sie den Hagel schon verflucht unter den Fingern gehabt und ihm Rad und Galgen auf den Buckel gebrannt. Und damit läuft er nun herum, bis ihn der Teufel holt.Auch soll er vergeldstagt sein. Ein paar Uneheliche wird er wohl auch haben. Und so einen verfluchten Kaib wollen die Himmelhunde aufs Universum!Aber wir sind auch noch da! Er soll nur kommen!Ich schlage meiner Seel dem verreckten Hagel beide Beine ab! und das tu ich!“
Ein Fink schmelterte, als wollte er sich ausschütten vor Übermut, und die Weide, worauf er saß,schaukelte ihre Kätzchen im warmen Wind wie ein Büschel Sterne.
„Bravo, bravo!“ rief Ludi Mürggeli laukt und schnalzte mit den Fingern der erhobenen Rechten.
Der Mehger stuthzte. Trot seiner Weinseligkeit ging ihm ein Licht auf, daß er mit seiner Lifanei vor die unrechte Schmiede geraten sei.
Ihr könnt mich lieb haben, ihr Herrgotksdon-nern!“ schrie er erbost, riß das Kalb mik einem Ruck nach sich, daß es beinahe umpurzelte, und stapfte weitausholend davon.
Ludi Mürggeli überlief die Galle.
So, das ist jetzt wie von den Tauben zusammen-getragen! Aber gelt, Herr Pfarrer, die Beiden sind Ihnen ungesinnt gekommen wie der Hagel in die Bohnen! Hausierweiber und über Land fahrende Metzgerburschen, diese Kreuzspinnen und Stink-käfer, sind die Sendlinge und Apostel des Glaubens-komites und seiner Gefolgschaft! Die speien Gift unter die Leute! Vatürlich sind die Beiden nicht die Einzigen; es sind ein paar von Hundertken, und noch lange nicht die gefährlichsten! Was wird alles an den Tag kommen, wenn man den Heuchlern und Frömmlern vom Glaubenskomitee und ihrem Anhang einmal den Spinat erliest! Dazu gesellen sich
31 []dann die Herren auf den Kanzeln. Wie wär's, Herr
Pfarrer, wenn Sie sich mit diesem Hausierweiblein und dem Metzergesellen zusammen abmalen ließen?
Das wären dann neue odrei Eidgenossen auf dem
F Das Kalb könnte ja nach Belieben dazu oder avon!“*Hirzel war zornig geworden, gerade weil er die Wahrheit hinter den Stachelzäunen des Schulmeisters nicht abstreilen konnte.
Sie sind ein unverschämter Mistmacher!“ rief er, drehte sich auf dem Absatz um und ließ seinen ungefügen Widersacher stehen. Dieser blickte ihm eine Weile vergnüglich nach. Dann aber setzte er seinen Weg nachdenklich fork, um einem Plan nach-zuhangen, der ihm vor einigen Tagen aufgetaucht war. Sein Liebestempel wankte bedenklich oder lag vielleicht gar schon in Trümmern; das widrige Benehmen der Dörfler und der Schüler hatte ihm den Beruf wenigstens vorübergehend etwas verleidet.Und so erwog er, der früher an derlei kaum gedacht,ob er sich nicht in diesen Tagen, wo so mancher ein Bündel Verse in den Strudel der Meinungen schleuderte, der Kohorte der valerländischen Sänger ebenfalls angliedern, ob er nicht ein ausgesprochener Dichter der Freiheit werden sollte. Die wohlige Wärme der Lenzsonne, die Amseln und Drosseln im Wald, die Finken auf dem Felde ermuligten entschieden dazu. Er blieb stehen, das Kinn mit dem Bocksbärkchen in die Linke gestützt, während die Rechte auf dem Hakenstock ruhte. Endlich fiel ihm ein verheißender Anfang ein:
Die Freiheit regt sich sehr in meinem Innern.“
Er fühlte ein Räuschchen über diesem Fund und beschloß, da die Quelle zunächst sich sträubte, weiterzufließen, das Seeufer aufzusuchen, daß ihm vielleicht das Spiel der Wellen über die mangelnde uUbung hinweghülfe.
Allein jetzt erscholl Geschrei und Gekrampel hin 132 []ter ihm. Ein Rudel halbwüchsiger Buben und Mädchen schleiften ein aus Lumpen zusammengeflickkes Unding daher, das halbwegs einer Puppe ähnlich sah.
.Was ist denn los?“ erkundigte sich Ludi Mürg-geli, als sie herangelärmt waren.
Das ist der Skrauß“, ankworkete ein Junge und wies mit der Hand an die Fetzen.
Ja“, schrie ein anderer, der Kaib muß im See ersaufen!“
Ein kraushaariges Bübchen keuchte hinkerdrein,streckte die Palschhände in die Höhe und rief, so oft sein erdbeerfarbenes Karpfenmäulchen genügend Luft e
Der Truß, der Truß!“ denn es vermochte den Namen des Gotteslästerers noch nicht auszusprechen.
Sie tobtken davon.
Ludi Mürggeli zweigte in einen andern Weg ab und blieb für den Rest des Tages hinterm Schilf des Pfäffiker Sees verschollen.
Der Unmut über den schulmeisterlichen Vorstoß begann bei Hirzel auf dem Heimweg, wo er von Pfarrkindern ein paarmal angehalten wurde, zu verrauchen und verflog, als er, seiner Wohnung zuwandernd, seinen fünfjährigen Arnold erblickte. Er saß der untersten Treppenstufe des Pfarrhauses im Schaltken. Unweit von ihm lag in der andern Stufenecke sein mit roten und blauen Tuchstücken übernähter Ball, um den sich eben ein hereinlangen-der Schweif der Vachmittagssonne ringelte.
Beim Räherkommen wurde dem Vater eng ums Herz. Der Kleine, der freilich von je zart und hinter seinen Jahren zurückgeblieben war, sah bleich und müde aus. Es wird die Frühlingsmüdigkeit sein“,tröstete sich Hirzel. Im Lenz rennen und springen die Kinder eben anders als in den übrigen Jahres-zeiken.“ Dann bekümmerte ihn doch wieder, daß der Kleine so ganz einsam, ohne Gespielen und Kamerädlein dasaß, so still und verloren.
133 []Er hob ihn auf den Arm. F
Tut dir etwas weh, lieber Noldi?“ fragke er zärklich.
Der Sohn anrelte halb freundlich, halb wehmütig den Kopf.
Hat dir jemand etwas getan?“
Der Kleine verneinte wieder worktlos und legke dann dem Vater plötzlich die Armchen um den Hals.Hirzel drücktle ihm einen Kuß auf die Stirn und stellte ihn langsam nieder. Erst jetzt, wo er sich wieder auf das Kind herunterbückte, gewahrke er eigent-lich, wie ungepflegt und vernachlässigt es war. Der Unmut quoll in ihm auf, und es schoß ihm durch den Kopf, den Kleinen vor Frau Betty hinaufzuführen und sie seines Aussehens wegen zur Verantworiung zu ziehen. Allein er gab es gleich wieder auf. Es fruchtele doch alles nichts. Es geschah immer häufiger, daß sie stundenlang ig und teilnahmslos dasaß, sich um das Hauswesen kaum und um den Sohn wenig bekümmerke und der Wann noch froh sein mußte, wenn sie nicht jammerte und zankte.Und nach den unmißverständlichen Auskünflen des Arzles war eine Wendung ausschließlich zum Schlim.mern zu gewärkigen.
All das fiel jezt Hirzel wieder aufs Herz. Er zog vor, anstalt, wie er vorgehabt, sich droben an die Arbeit zu setzen, in der Frühlingssonne vor dem Haufe ein wenig hin und her zu spazieren.
Ich muß fort von hier! ich muß weg! aus der Gegend und dem Nest! So nahe den Bergen, wie wir sind, ist es zu rauh für das Büblein. Im Handkehrum ist es schulpflichtig, und da kaugt mancher andere Ork im Kanton besser, wenn ich schon nicht glaube, daß der Ludi Mürggeli sein radikales Gift an ihm ausließe. Und auch ich muß mit meinen Talenten und Bedürfnissen aus diefer Welltabgeschiedenheit heraus. In Liner anfehnlicheren Ortschaft oder in einer Stadt müßte sich doch meine Frau um 134 []das Hauswesen mehr annehmen, weil sie sich mehr
0 ra Hier aber kommen wir auf keinen grünen we g.“
Wieder frischte er, wie fast käglich, die Hoffnungen auf, die Wädenswil in ihm erweckt. Das ganze Land steht hinkter uns. Der Sieg kann nicht fehlen.Und dann muß man mich bei der ersten Gelegenheit an die Stelle bringen, wo ich Kraft meiner Gaben und Leistungen hingehöre.“
Rasche Schritte klangen in seine Gedanken. Es war ein Bekannter, der von der Post hereilte.
Haben Sie's schon vernommen, Herr Pfarrer?Der Sieg ist erstrikten! Der Große Rat hat heute dem Regierungsrat zugestimmt: der Strauß ist pen
Hirzel stand überrascht. Das Herz schlug ihm.Er blichte in eine bedeutende Zukunft.tä Aeht kommt die Welle, die mich in die Höhe rägt!“
135 []X.
Schmalziges Frohlocken wälzke sich durchs Zürichbiet: für alle Jeiten war der räudige Strauß verbannt von den Hürden der Frommen, ausgeschlossen vom Tabernakel des hehren, christlichen Zürchervol.kes, wie das Haupt des Glaubenskomites sich ausdrückte. Allein die Sieger fühlten beim Fanfarenblasen ein Haar auf der Zunge. Wohl war die Vegierung unterlegen. Aber sie boß noch am Ruder und machte keine Miene abzudanken. Noch volle drei Jahre mußten ablaufen, ehe fie in die Wiederwahl fiel. Bis dahin konnke das Unwetter längst verdampft und über den Strauß dichtes Gras gewachsen sein. Also mußte man ihr jetzt das Leben sauer machen und ihr vom Stuhl herunterhelfen.Unaufhörliche Zeilungsbombenwürfe sollten fie germürben, Kundgebungen und Proklomationen 'an das Volk sie entwürzeln, vierzigkaufend geballte Fäuste sie einschüchtern.
Hirzel wirkte und wühlte unermüdlich in seinem Bezirk. Es ging ihm alles zu langsam, es reifte ihm alles nicht rasch genug. Auf seine Leute durfte er krauen und bauen. Sie erwarteken den Ruf ungeduldig wie er.
An einem Samstag abend Ende April man hatte eben abgetischt, und er stechte im Sltudierzimmer zwei Kerzen an erdröhnte der eherne Klopfer an der Hauslüre. Die Magd führte einen mittel großen, städtisch gekleidelen Mann herauf, der, den hohen Kragen des hechtgrauen Sommerüberziehers aufgeschlagen und den herabgekrämpten Hut kief in 136 []die Slirne gedrückt, in kurzes Lachen ausbrach, als ihn der Pfarrer beim spärlichen Licht unsicher betrachtete und zu erkennen suchte.
Es war A
Enlschuldige den Überfall! Ich habe mich nicht angemeldet, weil ich mir vorstellte, du werdest am Samstag Abend an einer deiner fulminanten Predigten feuerwerken und also daheim oder doch nicht weit von daheim sein. Ich wußte auch ein Vierkel-stündchen vor dem Aufbruch nicht, ob ich los käme.Man läuft mir das Haus ab, und ich ertrinke in den Affairen. Item, es geriet mir, zu entwischen. Erst ging ich ein Stück zu Fuß, dann nahm ich ein Fuhr-werk und versorgte gerade ein eel bis angespannt war. Morgen früh muß ich wieder weg.Ich kann nicht einmal deine Predigt hören. Wir haben also nur ein Stündlein, bevor wir uns in die Kiste legen.“
Hirzel vermutete gleich einen Auftrag oder eine Basung Der Freund rückte auch bald heraus,nachdem er sich kurz nach Frau und Kind und nach dem Befinden des Hausherrn erkundigt.
Vor einigen Tagen haben das Glaubenskomitee und die zugewandten Orte den Feldzug beraten und die Sache vorläufig zu Faden geschlagen.“
Hoffentlich“, fuhr Hirzel dazwischen, jagt man das Gesindel bald zum Teufel! Meine Leule hier sind dabei, heute lieber als morgen!“
Rur Geduld! Zeit bringt Rosen!“ lächelte Blunlschli.
Ja, den Schnapphähnen im Regierungstempel!de pflücken die Rosen weiter in Form ihrer Besolungen.“
NRun“, erwiderte Bluntschli ktrocken, die Vachfolger werden ihren Posten auch nicht um einen Holz-hackerlohn oder gar gratis versehen! Ubrigens wird und muß ja unser nächstes und hauptsächlichstes Geschäft darin bestehen, daß wir ihnen für Vächfolger
27 13 []saten und sie etwas handgreiflich von ihren Sen erunterkoniplimentieren, wenn sie nicht von selber sich herunterbemühen!“
Nur los!“ rief Hirzel. Wir warken auf das gahe Er schlug mit der Hand kampflustig auf en Tisch.
Ja“, nickte Bluntschli, ihr hier im Oberland seid uns sichere Kunden. Allein die Stimmung ist nicht durchweg im Kanton von gleicher Güke. Es hat mancher gegen den Strauß einen Spieß in den Kampf gekragen, der deswegen nicht auch zugleich gegen die Regierung mitmacht. So auch ganze Genden Kurz, es braucht Zeit, Ausdauer und Voricht.“
„Und wenn dann über dem allzulangen Warken das Feuer erlischt?“ warf Hirzel ein.
Es erlischt nicht, dafür kann man sorgen; man legt eben fleißig ein bißchen Holz nach!“
Wohl, wohl“, lachte Hirzel. Das wird hierorts besorgt! verlaß dich drauf!‘ Aber ich meine doch,man ie gleich jetzt frisch an die Sache hin!“
Ich sage dir nochmals: Zuwartken!“ wehrte Bluntschli. Die Dinge iegen nicht so einfach, wie es dir in deiner Dorfstislse vorkommt..NRämlich:schlägt ein Teil früh los und die andern bleiben dahinten, dann sind wir übler dran als vorher, und die Regierung wird nicht ermangeln, uns am Kopf zu nehmen. Sodann vergiß doch nicht: wir können dem Regierungsrat nicht direkt an den Hals. Daran denken nur rüde, ungekämmte Brüllhuber; wir können nur indirekt an ihn. Wenn wir oe mit kausend Männlein vor das Zegernngegeraun e rücken und schreien und lamentieren: abdanken! abdanken! so werden sie uns auf ihren Stühlen einfach eine lange Vase machen und sagen, sie seien lediglich vom en Rat gewählt und also nur ihm Rechenschaft schuldig. Nur er könne sie abseßen. d. h. nicht wiederwählen. Also ergibt sich klipp und klat: wir 138 []müssen hinter den Großen Ralt! der r von uns, vom Volk, gewählt; und wenn er das Volk nicht mehr im
Rücken hat, so muß er weg. Nun haben wir uns da so gedacht: bei der Sihung eingangs Septem-er
Das ist lang“ seufzte Hirzel.
Bluntschli zuckte die Achsel und fuhr fort:
Also zu seiner Sitzung im September marschieren ein paar kausend Mann in die Stadt und veranstalten mit uns Städtleuten zusammen eine Volks-persammlung, die sich sehen lassen darf. Da wird dann rund herausgesagt, was Trumpf ist. Sofort nach eröffneker Sihung wird von stattlicher Mitglie-derzahl der Antrag gestellt, der Große Rat möge sich selbst auflösen, da er in seiner jeßigen Zusammen-sehung einen Widerspruch bilde zum Willen des Zürcher Volkes. Hierauf werden möglichst bald Neuwahlen angeordnet. Und dann, dann wird die Regierung ihre Wiederwahl nicht abwarken, Weege die Türfalle in die Hand nehmen, wenn sie sie nicht schon vorher gefunden hat.“
Gut!“ rief Hirzel. Aber warum nicht schon bei der nächsten Sihung im Sommer? Warum soll man die Kerle noch ein Vierteljahr unnötigerweise an der Krippe lassen?“
Sehr 8 Der Große Rat wird unsre alten Begehren nach christlichen Lehrern am Seminar, nach christlichen Lesebüchern u. s. w. schlankweg unter den Tisch wischen.“jUnd das soll man sich noch einmal bieten lassen?Gewiß! das steigert den Zorn im Land und führt uns tausend Unschlüssige zu.“
Zugegeben! Aber wenn wir uns so lange besinnen, so geht am Ende der Schuß doch hinten hin-aus, und die Hageln finden Zeit, irgend etwas Abgefeimtes auszuhecken.“
139 []Laß sie hecken!“ beruhigte Bluntschli. Und vergiß eines nicht: bei Licht besehen, ist das, was wir vorhaben, Revolution. Die widerstrebt den jahrhundertlang gehaltenen Grundsätzen von uns alten Stadtzurchern. Daher müssen wir, wenn wir auch mit dem Holzschlägel winken, und mehr als nur winken, wenigstens den Schein wahren!
Ach was“, rief Hirzel, ‚man hilft Leuten nicht nh genug vom Amt, in das sie nicht hineinge-
ören. Da braucht man keinen Schein zu wahren!“
Blunktschli zuckte wieder nur die Schultern und fuhr .
Lassen wir die Dinge sich entwickeln! Dazu gehört auch, daß jetzt schon mehr als einer der Regie-rungsräte auf unserer Seite steht. Es werden noch mehr herüberrutschen. Und dann: die rohen Wassen organisieren! Und schließlich, was du als Land-pfarrer am besten weißʒt: lassen wir den Bauer ruhig Heu und Frucht einbringen! Ehe er soweit ist, läuf er ungern von der Feldarbeit in die Stadt. Hat er sein Wärchen in der Scheuer, so hat er eher Jeit,den Herren die Faust unter die Rase zu halken. Etgo:nichts übers Knie brechen! nichts verderben!“
Er lippte ihm, um seine Mahnworke zu unterstreichen, auf die Achsel und erkundigte sich dann einläßlich nach Noldi. Nach Frau Betty, die sich nicht zeiglke und um seine Anwesenheit nicht einmal wußte, fragte er nicht weiler. Hirzei hatte sie davon nicht benachrichtigt, wohl wissend, daß sie für seinen Freund so wenig übrig hatte, wie dieser für sie und daß sie aus ihrer Abneigung kaum ein Hehl ju machen gegte wenn sich ein Zusammenkreffen nicht vermeiden ließ.
Blunltschli verlangte bald zu schlafen. Als er in aller Frühe vor dem Dorfwirtshaus in das Chais chen stieg und der Braune eben anzog, trug er dem sezund der ihn begleitete, einen Gruß an die Hausrau auf.
440 []Die Sommerkage dieses Jahres 1839 zeigten den Stempel unruhiger Erwartung. Hirzel bekete mit sei-nen Pfäffikern und hielt das Pulver krocken. Die Amtsgeschäfte erledigke er pflichtgemäß; doch mit schwindendem Anteil. Seine Gedanken weillen nicht bei den alltäglichen Werken des Friedens und der Nächstenliebe. Ihm schien bald Größzeres aufgetra-gen zu sein. Mehrmals, wenn er im Talar aus dem Pfarrhause zur Kirche hinüberschritt, erfaßte ihn der Wunsch, die Glocken, die jetzt die Gemeinde zum Gottesdienst luden, möchten Sturm läuten. Immer wieder sah er sich im Geist einem lawinenmäßig an-schwellenden Haufen voranziehen, der die radikale Regierung und ihre Anhänger wegfegte. Der freundliche See, die ernsten Berge des Oberlandes sagten ihm wenig mehr, seit er nach einem größern Schau-platz strebte. Juweilen trällerle er das Liedchen gus Schillers Wilhelm Tell vor sich hin, den er in der Jugend auswendig gewußt:Ihr Malten, lebt wohl,Ihr sonnigen Weiden.Unvermulet meldeten sich einige Studenken, die einen Sanskritkurs wünschten, den außer ihm niemand an der Hochschule erteille. Er griff freudig zu,schon weil er dadurch in die Lage kam, manches BeVD jene Hand zu schütkeln, die ertragreiche politische Saatkörner auswarf. Er versäumte selten, bei Blunijchli vorzusprechen, obgleich, wie ihn bedünkte, fast jeder dieser Besuche mit einer kleinen Enttäuschung endigte. Denn der Freund, der hinter den Kulissen zu einem der Führer und Berater der konservativen Partei herangedieh, begann einen spürbaren Anflug gemessener Würde zu verralen und befliß sich einer Kürze, wenigstens nach Hirzels Eindruck, die nicht bloß durch die starke Inanspruchnahme seiner Zeit
141 []verursacht wurde. Er äußerte 88 etwas zurückhaltend und hüllte sich in hälbes Schweigen, ohne unfreundlich zu werden, wobei er eine Art zeigte, daß Hirzel sich nicht zu fragen getraute, ob er nicht mehr wisse oder nicht mehr sagen wolle. Besonders empfand er, wie der Freund die senkrecht vor sich hingehaltenen Handflächen zuweilen leicht zegen ihn bewegte, als ob er ihn fernzuhalten begehre, eine Gewohnheit, die er allmählich angenommen hatte,seit ihn Gesuche und Bittsteller unablässig behellig ten. Ungemindert der alte war er nur, wenn er dem Freund einschärfte, ja nichts zu verhaudern und zu und nicht auf eigene Faust ins Zeug zu gehen.
Zuweilen Wchn es, daß Hirzel das Heimweh nach der ruhevollen wissenschaftlichen Arbeit über die Schulter sah, wenn er seine Kollegienhefte durchmusterte. Dann griff er wohl nach einem Sanskritbuch oder zog aus der Schublade eine angefangene Ubersetzung oder unvollendet gebliebene Untersuchung.Aber es währte meistens nicht lang, so riß ihn der Dämon aus dem verkräumten Wärchenland in die von Zornrufen summenden Schanzgräben zürcherischen Parteihaders, wo man zum Siurm rüstele.
Ende Juli nahmen seine VBorlesungen und damit seine regelmäßigen Stadtfahrten ein Ende. Er brachte die Zuversicht heim, daß man endlich zum entscheidenden Schlage auszuholen gesonnen sei. Wenige Tage später geüte in seine Dorfeinsamkeit ein in tausend, und aberkausend Exemplaren erlaffenes ereheh des Glaubenskomites, dessen Geist und Inhalt ihm Bluntschli schon gezeichnel hatte.Es war ein in Fetzen frömmelnder Schlagwörtker gewickelter Fehdehandschuh. Die alten Begehren waren erneuert, die Einführung christlicher Schulbücher, die Wahl der Religionslehrer durch den Kirchenrat, die V Lehrerseminars in christlichem Sinne. Eure ünsche“, hieß es, hat 142 []der Große Rat verächtlich behandelt. Während alle,denen es mit dem christlichen Glauben ernst ist, mit gespannter Erwarkung auf den Forkgang eures Kam-pfes hinschauen, und mit und für euch zu Gott beten,er möge in euch und durch euch dem christlichen Glauben an die Erlösung durch Christo zum Sieg helfen,kennt eine gewisse Partei eurer Gegner keinen sehnlichern Wunsch, als Christum und die an ihn glauben und ihre Erlösfung von ihm erwarken, zum Schemel ihrer Füße zu mächen. Was euch Licht ist, nennen sie Finsternis, was ihr für euer größkes Heiligtum haltet, treten sie in den Kot; wofür ihr betet, das berhöhnen und verspotten sie; was euch ewiges Leben in Golt ist, ist ihnen Tod und Verderben.“
Der Tambour zog die Spannschrauben an! Man hörte ihn die Schlägel probieren!
Hirzel rieb sich aufatmend die Hände. Endlich eine handfeste Absage, eine robuste Kriegserklärung!Das ganze Land fühlte es mit ihm!
Has ist Revolution!“ wetterten die Radikalen aus einem Wunde.
Wenige Tage nach Einlauf des Sendschreibens rief eine Zeile Hirzel nach Zürich zu einer Beratung mii dem Glaubenskomitee. Denn nun war dieses zu einem von der Volksgunst gekrönten Fürsten schal-tete und waltete es, erließ Mandakte an die Mitbürger, wandte sich in ihrem Namen drohend an die Regierung, lud zu Versammlungen der Kirchgemeinden ein und gab üngescheut seine Wünsche kund über die Art und Weise der vorzunehmenden Abstimmungen.Ihm gehorchte man als dem eigentlichen Herrscher,wahrend der Regierungsrat wie ein schwindsüchtiger Schattenkönig sich auf der Bühne der HOffentlichkeit mehr verbarg als hervortat und die Zügel schleifen ließ, immer noch im Unklaren über Stimmung und Wunsch im Volk und durch Zwietracht gelähmt, da einige seiner Mitglieder zum Gegner hielten und ihm 143 []jedes Wort aus den Sitzungen brühwarm hinterbrachten. Aber jeht stellte ihn das MWanifest des Glaubenskomitees vor die unbarmherzige Erkenntnis,daß es ihm an Kopf und Kragen ging. Er gab sich einen Ruck und beankworkete es mit einem Verbot aller vom Glaubenskomitee veranstalketen Gemeinde versammlungen. Allein die 38 frommen Herren parierken den Hieb, indem sie das regierungsrätliche Schreiben, das infolge der durchlässigen Wände im Regierungsgebäude früher in ihre Hände kam als in die Staalsdruckerei, mit einem flammenden Protest garnierten, unverzüglich unter die Presse schoben und durch Eilboten ins Land hinaus warfen, wo es dem nachhinkenden rechtmäßigen Bruder einen bösen Empfang bereitete. Nun aber bekam der Staalsanwalt Wind von der Sache, machte sich auf die Socken,belegtle die noch nicht versandten Stücke mit Be schlag und erhob gegen die Häupter des Glaubens-komitees Anklage wegen Aufreizung zu Gewalttat.
Jetzt fuhren diese schweres Geschüh auf, um die Enkscheidung herbeizuzwingen. Sie vbröneten auf WMontag den 2. September eine Zusammenkunft aller Bezirkskomikees nach dem zwei Stunden von der Hauptstadt gelegenen Dorfe Kloten an.
Hirzel, als Präsident des Komilees in seinem Bezirke, weibelte fiebrig herum, vertrug Einladungen, bestarkte Willige, ermunkerte Zaudernde und steckte diesem und jenem ein Gelöstück zu, das er erhalten hatte, um Armern den Ausfall am Taglohn zu ersetzen.
Spät zu Bett und nach unruhigem Schlaf im Morgengrauen auf, trat er bald nad fünf Uhr mit einer über hundert zählenden Schar Gutgesinnter den stundenlangen Weg im Regen an, der wie die Nacht so den ganzen Tag ununterbrochen rieselte.Zuweilen verstärklen Zuzůger unkerwegs die Schar.Da und dort stiegen schwarze Regenschirmstriche aus den Gehölzfurchen nieder öder schoben trübselig die
A []Feldwege daher. Auch entdeckte man ekwa bei einer Straßenbiegung vor sich, einer Riesenhöckerschildkröte gleich, einen Regenschirmklumpen, der sich unbeholfen gespenstisch vorwärks bewegte.
Müde, hungrig und durchnäßt langken sie endlich in Kloten an. Eben schwenkte, den greisen Pfarrer an der Spitze, ein Trüpplein im Sonntagsgewand ein, Männer weither von der Zuger Grenze, die gestern einen langen Warsch gemacht und in Zürich genächtigt hakten. Bald rückte der Hauptharft an,die schier endlose Kolonne aus Städt und Ausgemeinden, den Unbilden der Witkerung zum Trotz alle sonnkäglich angetan. Gleichviel, daß das nasse Fahnentuch schlaff herabhing und an der Stange klebte,ihre Augen blitzten, und ihr Mut war gut'und entschieden. Denn welch ein Heerbann fand sich hier ein, im Ring zu kagen! Ein paar hundert halte man anfänglich erwartet, jetzt waren es zwanzigtausend.Auch diesem Heerkörper der Freien waren, wie allenthalben, Streber, Rechner und Wächler eingesprengt, namentlich Unzufriedene aus alten Stadt-geschlechtern, die hauptsächlich auf den Sturz des radikalen Regimenls und auf eine wenigstens teil-weise Wiederaufrichtung ihrer alten Vorrechte und Herrschaft zielten. Allein die erdrückende Überzahl suchte keinen Vorkeil dieser Welt, keine Besserung ihrer Lage. Sie wollten, verhetzt oder nicht, den alten Glauben schirmen und erhalten. Was hier lagte, das war meistens kernhaftes Volk aus allen Landesteilen, würdige Enkel lapferer Ahnen, die in Sturmhut und Brustkrebs für das lautere Work Leib und Leben drangegeben hätken.
Klang der Klotener Sag nach der blühenden Freiheitsouverlure zu Uster jedem freien Geiste wie ein dumpfes, schwersinniges Largo, gerade der gehaltene gn der einheitliche Wille gewährleistele hellere eiten.
Weithin plätscherken Gespräche unker den Regen
10 Frey, Bernhard Hirzel
J.
15 []schirmen, begleitet von unermüdlichem Regentremolo.Stadt und? Land, Handwerk und Beamltenwelt,Jungliberale und Allkonservative stapden da beisammen, und manche schüttelten sich die Hand, die sich seit 1830 nicht mehr, gegrüßl hatten.
Jetzt schnitt ein Ruf durch die Luft:
Der Herr Präsident! der Herr Präsident!“
Aller Augen richteten sich nach dem Balkon des Wirkshauses zum Löwen, auf dem vor einer Reihe gleichfalls schwarzgekleideter Männer Hürlimann-Landis erschien. Einen Augenblick sah er die unendliche Flut der dunklen Regenschirme, aus der hier und dort ein roter, blauer oder grüner aufglänzte.Dann klappten sie insgesamt zu und sanken. Manches Haupt entblößte sich, und es kräufelte auf die Haarwaudel frischer Jahrgänge wie auf die Glatzen mürber Ackergreise.
Vom Schirm eines hinter ihm Stehenden beschützt und das Manuskript seiner Rede in der Linken, trat der Präsident an die Zrustung des Balkons vor. Wie er eben die Rechte aus dem über der Brust geschlossenen Rocke zog und feierlich gegen die Anwesenden Wete schauerke ein dünnes,zerzupftes Nebelchen herbei, sodaß er nur noch schatlenhaft wahrzunehmen war und die Legionen der Männer in der Tiefe bloß noch durch einen Schleier erblickte. Im grauen Wanderdampf und in den zik ternden Regengespinnsten standen sie da wie am düstern Acheron harrende Heervölker.
Allein jetzt erklang die Stimme, etwas näselnd,doch hell, bestimmt und weittragend:
Im Ramen des Herrn, der das Wellall regiert,in dessen Hand die Schicksale der Völker, der Familien und der einzelnen Wesen sind, des Unsichtbaren und doch VNahefühlenden jedem gläubigen Gemüte, der Trost, gn und Retkung spendet dem darnach Lechzenden; der die Gewalligen der Erde erniedrigt, wenn sie von der Bahn des Rechten 16 []weichen, und die Niedrigen erhöht, wenn sie den Weg der Gerechtigkeit wandeln; vor dessen unaussprechlicher Weisheit der ausgezeichnetste mensch-liche Verstand in nichts zerfällt; und im Namen des uns zum Valer vorangegangenen göttlichen Erlösers und Heilands, der uns gegeben ward zur Erlösung von der Sünde und als das erhabenste Beispiel des reinsten Lebens, des unermüdetsten Wirkens und der unbedingtesten Hingebung für alle Zwecke des Menschenwohls, der sich dem schmerzvollsten Tode überantwortete zur Versöhnung Gokkes, damit wir Frieden hätten und im Glauben an ihn nie erkalketen begrüße ich Sie, zahlreich versammelte Freunde und Brüder, allhier feierlich vereinigt als Zeugen eines ganzen Volkes, das, für seine Religion entflammt, die Waffen des Geistes und des Gemükes ergriffen, um in jubelnder Übereinstim-mung den Unglauben zu bekämpfen, der seit bald einem Jahrhundert mächtiger als je sich ausgebreitet hat, in menschlichem Verstandesübermute, in Entsiktlichung und in unbegrenzter Genußsucht und Selbstsucht sich kund kukt.“ Er klagke dann die Regierung an, sie sei verstockt wie das Herz des Pharao. Jetzt aber, wo sie sich anschicke, das Glaubenskomite durch den Staatsanwall zu verfolgen,möge das versammelle Volk sein Einverständnis mit dem Redner und seinen Genossen öffentlich bekunden.
Einhelliges Ja brauste aus der Menge, die bis jetzt schweigend geharrt hatte.
Nun erfolgte die Mitteilung, daß sich die Bezirkskomitees zur Behandlung der Tagesfragen in die Kirche begäben. Man möge sich im Freien gedulden und von diesem Balkon aus die ergangenen Beschlüsse gewärkigen.
Die Glocken schlugen an. Hinter einer Fahne wandelten die Bezirksdelegierten in die Kirche, wo schon einige kausend Mann eingepfercht und einge
47 []tonnt standen. Die draußen spannken ihre VRegen-schirme von neuem auf und warteten der Dinge.Endlich, nach beinahe zwei Stunden, bekraten mehrere Herren den Balkon. Einer von ihnen stellte den Anwesenden den Pfarrer Or. Bernhard Hirzel von Pfäfsikon als einen warmen Freund der guten Sache vor, der ihr schon früher wiederholt und jetzt wieder bei den drüben in der Kirche ge-pflogenen Verhandlungen beträchtliche, höchst schaätzenswerte Dienste erwiesen habe und nunmehr aus-ersehen sei, die Rede, womit der Herr Präsident diese Beratung dort eben aufs schönste und würdigste eingelesitet, dem versammelten christlichen Volke zu Gehör zu bringen. Wie Jehova dem Woses die händigte er Hirzel die teuren Blätter mit bedeuktender Geberde ein.
Während der solennen Übermittelung schlüpfte ein beweglicher, modisch dunkel Gekleideter aus der Türe auf den Balkon, spannte plötzlich seinen Schirm auf und streckte ihn zur Überraschung der Umstehenden, die mit geschlossenen Regendächern verharrten, über Hirzel empor. Dieser Schirm war neu, dunkelgrün mit himbeerrotem Rande, und stand hinter der damals landesüblichen eeen Größe um ein merkliches zurück, wodurch er sich als Kind der allerneuesten Mode legitimierke. Der Inhaber des eleganten Gebildes war niemand anders als Steffan, der weiland Redner am Usterkag. Von der radikalen Regierung zum Sltaaklskassier gemacht,hatte er ihre Grundsähe und Schrikte wacker ver-fochten und bei passenden und unpassenden Anlässen, zu denen er sich hinzuzudrängen verstand, die Gegner mit derben Redensarten und Einfällen angefunkelt, bis er unversehens anläßlich des Straußenhandels sein gläubiges Herz entdeckte, wovon er bislang nichts gewußt, und nun auf die Satzungen und Tathandlungen des Glaubenskomites und der kommenden Männer schwur. Es war ihm gelungen.
22 []sich im Wirtshaus einen Platz, eine Wurst, eine Halbe Wagdkländer zu sichern, gerade bei der Balkontüre. Wie er nun, just als Hirzel mit seinen Begleitern aus der Kirche herüberkam, ihrem Gespräch entnahm, was im Tun war, versorgte er behend den restierenden Wurstzipfel und den letzten Schluck und trat in Aktion. Die Herren sahen den hereingeschneiten Schirmhalter verdußt an und machten Miene, Einspruch zu erheben, ohne daß einer, weil die Sache sich so rasch abgewickelt, ein Work *8 den hälte. Er tat keinen Wank und sagte lächelnd:
Der Herr Pfarrer und ich sind alte Bekannte vom Ustertag her! Es ist heute der schönste Augen-blick meines Lebens, daß ich unsrer guken Sache einen Dienst erweisen kann. Es war schon längst mein sehnlichster Wunsch! Noch kenne ich die Rede des Herrn Präsidenten nicht, da ich drüben keinen Platz mehr gefunden habe. Aber sie ist fraglos hochbedeutend.“
So ertrohte er sich den Plat wie vor Jahren zu Uster auf der Reonerbühne.
Während Hirzel laut und lebhaft las, entfalkete der hinker ihm ein Mienenspiel, manigfaltig und un-erschöpflich, aber immer zustimmend und z3weckent-sprechend. Mit der linken Hand illustrierke er zugleich die maßgebenden Stellen des schwülstigen Eldoborates, das in die Drohung auslief, der Regierungs-rat habe die Wahl, einzulenken oder abzudanken; ein Beharren auf der betretenen Bahn könnte verhäng-nisvoll werden. Hirzel fügte aus dem Eigenen kräf-tige, zündende Worke hinzu, daß man auf gesetzlichem Wege verharren werde, daß aber der Widerstand geheiligt sei, sobald von der Regierung die Verfas-sung verletzt oder das Glaubenskomitee oder die Ver-fechter der guken Sache ungerecht verfolgt würden.
Sleffan drückte ihm als der Erste die Hand, kräf-tig und lang. Zu Weiterm reichte die Zeit nicht.Denn eben kam Bericht, Hirzel sei drüben in der
*9 []Kirche als Sprecher der Depulalion an den Regie-rungsrak gewählt worden und möge sich zur unver-zügůchen Abfahrt bereit machen. Es sei schon angespannt.
So fuhr er in wichtigem Auftrag der Stadt zu.Er war sichtlich zu einem der Führer herangediehen.
Während die Wagen mit den Abgeoröneten der Hauptstadt zurollten, kagte man in Kloten weiter.Immer unverblümter sprach man sich dahin gus, das nächste Mal rücke man mit Sparren und Knütteln aus, und die Regierung, auch wenn sie klein beigebe, müsse weg.
150 []xi.
Die Klotener Deputation war freundlich empfangen worden. Allein die auf ihre Wünsche erkeilte Antwort fiel wesentllich ausweichend und schwankend aus. Sie konnte nicht wohl anders lauten, wenn der Regierungsrat entschlossen war, sich zu behaupten.Er stand zwischen Roß und Wand. Er hatke ein Bataillon aufgeboten, um gesichert zu sein, wenn die in Kloken aufgestaute Fluk sich etwa nach der Stadt ergietzen sollte. Doch die Mannschaft benahm sich so widerwillig und ungebärdig, daß man sie wohl oder übel wieder entließ, da die Gefahr drohte, daß sie im anstan mit den Aufrührern gemeinsame Sache machen würde.
Indessen wurde das Glaubenskomitee seines Erfolges nicht recht froh. Im letzten Augenblick noch konnte ihm ein dicker Strich durch die Rechnung gemacht werden, und zwar durch das Siebnerkonkordat. Das war ein Sonderbund der sieben freisinnigen Kantone, worunter Zürich, geschlossen zum Schutz und Beistand, selbst mik gewaffneter Hand, gegen allfällige Umsturzversuche der vom Ruder verdrängten Aristokraken. Insbesondere trug Bern dem Zürcher Regierungsrat seine Hilfe an. Der Regierungsrat fand freilich das Herz nicht, die dargestreckte Bärentatze zu ergreifen, da er sich gestand, daß die Stunde,wo dann Berns Bajonette abzögen, seinen Untergang für immer und ewig besiegle.
Das Glaubenskomite brachte die Angst nicht los,es möchte den Radikalen irgendwelche Hilfe von den Konkordätlern baseringen, obwohl es ihm nicht gelang, etwas Greifbares zu erfahren. Es schmiedete
151 []ungeheuerliche Kriegspläne und erwog eine Avant garde der christlichen Landesbewaffnung, die vom Land her zum Schutz der Sladt anmarschieren und die Konkordätler über den Haufen rennen sollte. Gleich-zeitig blies es unaufhörlich Alarm und dichtete den Gegnern in seinen käglich ausgegebenen Sendschreiben die Absicht des Bürgerkrieges und die schwärzesten Komplote an, um die Geister warmzu-halten und aufzustacheln. Seine zweideutigen und verhüllten Worke denn allzuklare hätten der Regierung Anlaß zum Einschreiken geboten zauberken kausend mit den tollsten und unheimlichsten Gerüchten hervor.
Im Bann dieser Lügen und Mären war es mög-lich, von heut auf morgen loszuschlagen und dadurch diegonkordatslente vor die vollendete Tatsache zu tellen.
Die Zürcher, seit einem Jahrzehnt ans Kannegießern und Politisieren gewöhnt und nach politi-schen Aufregungen lüstern wie der Teufel nach armen Seelen, flanirken in diesen Tagen auf Plätzen und Straßen und jagten in Wirkschaften und Zunfthäusern nach den herumfahrenden Räubergeschich-ten, die durcheinanderpurzelten wie Hasen auf einer Waldwiese.
Auch den Staaktskassier Steffan, der sonst seine Fureseden leidlich absaß, juckte und prickelte es in allen Gliedern auf seinem Schreibstuhl, bis er unversehens vor seinem Taschenspiegelein sein immer noch unkadeliges Toupet muslerte und den steifen Hut mit den geschweiften Rändern drüber stümte. Er stolzierte am eleganten Stöcklein nach em Kaffeehaus, um sich ein ordentlich früh angeseztes Schöppchen zu gönnen und dabei die Ohren nach Noten zu spitzen.
Kaum hältte er sich niedergelassen und seinen Neftenbacher bestellt, so bohrte ihn der Schneidermeister Jean Vötzli an:152 []Haben Sie das Veueste schon vernommen, Herr Staatskassier?“
Steffan sah ihn fragend an und schütkelke erwar-tungsvoll den Kopf.
Nämlich das mit der Prostitutionsliste?“
Der Herr Rötzli meint Proskriptionsliste“, er-klärte der Kanzlist Chueri Boller.
Ja“, fuhr Vötzli unbeirrt fort, das ist das neueste, was die Hagelshunde in der Regierung aus-studiert haben, nämlich eine Liste von denen, die ge-mordet oder lebenslang eingesperrt oder doch ums Vermögen gebracht werden sollen. Die besten und reichsten Leute stehen darauf. Es sei ein ewig langes Blatt voll.“
Per se“, mischte sich Henri Rollenbutz ein, 'sie werden nicht für nichts und abernichts einen Scharf-richter von Colmar und zwei Guillotinen neuester VI
Mit solchem Galgenmist bleib du das nächste Mal lieber bei deiner Alten daheim!“ machte der Agent Hans Spörri.
Was MWMist?“ brauste Rollenbutz auf. Ich habe es aus den besten Quellen. Ich habe Relationen und bin seriös, wie jeder weiß, der mich kennt. Du kannst Gift darauf nehmen.“
Einsehend, daß hier aus dem Gewäsch uneinge-weihter Kneipenhocker nichts zu holen war, krank Steffan aus und schwänzelte wieder seinem Büro zu, um vor dem Mittagessen noch einiges abzuwandeln. Er streckle eben die Hand nach der Klinke aus,als ihn ein Regierungsweibel mit der Aufforderung ansprach, den Regierungsrat Sulzer aufzusuchen, der,wie männiglich wußte, dem Glaubenskomikee mit Haut und Haar verschrieben war. Steffan ließ sich das nicht zweimal sagen.
Herr Staatskassier“, ließ sich der Magistrat vernehmen, ich habe Ihnen etwas mitzuteilen, was ich nicht jedem auf die Rase binden möchte, wie Sie sich
153 []denken können, sonst hätte ich nicht gerade Sie her-gebeten. Ich bemerke, daß Sie jeglichen Ihnen gut dünkenden Gebrauch von meinen Worken machen können, die einfach Tatsachen enthalkten. Nämlich:sagen Sie Ihren Freunden: es droht der guten Sache ein gefährliches Komplott! In vierundzwanzig Stun-den werden dreißigtausend Konkordätler gegen Zürich auf dem Marsch sein. In Bern und Basel-land stehen die Mannschaften unker dem Gewehr.Man warket dort nur auf Bericht von hier. Und diese Berichte sind allbereits abgegangen.“
Das war Gassengeschwätz und Inenentrauch so gut wie die vom Scharfrichter und den Guillotinen, und ihre Wiedergabe von amtklicher Stelle war ein gewisenueser Skreich, der bezweckte,die Kugel aus dem Rohr und das Glaubenskomitee zum Losbrennen zu bringen, um eine allenfalls von außen versuchte oder auch nur angedrohte Hilfe vor einen abgewischten Tisch zu bringen.
Sulzers Rechnung stimmke, nicht minder die andere, daß ihm in einer neuen Regierung um so eer ein Posten zufiel, je rascher die gegenwärtige
ürzte.
Steffan hatte sich seit dem Usterkag nie mehr so wichtig gedünkt wie heute, wo er den Funken ins Pulverfaß schleudern konnte. Er entsteckelte beschwingt, um seine Kunde zu verhausieren. Er kraf zwar den Vizepräsidenten des Glaubenskomites, den er zuerst aufsuchte, nicht zu Hause, den beliebten und ehrenwerten Arzt RahnEscher, der, weil er im Haus zur obern Schelle“ wohnte, allgemein der Schellenober hieß. An andern Orken war er glücklicher.
Von Leinigen Palienten zurück, faßte Rahn, als er den Bericht vernahm, ein kurzes Schreiben ab,das unverzüglich sämtliche Bezirkskomitees zur Warschbereilschaft aufforderte.
Ein paar Stunden schwelte dieser Aufruf nur unter den wenigen ins Verkrauen Gezogenen. Dann 154 []schoß er auf die Straßen und durchfunkelte die Stadt von einem Ende zum andern. Fast überall wurde er freudig bewillkommt. Denn weitaus der Wehrleil der Bürgerschaft war der Regierung feindlich gesinnt und dem Glaubenskomite zugetan. Zudem gewärtigte man zur Eröffnung der Großrakssitzung auf kommenden Montag den neunten September mindestens zehntausend Mann von der Landschaft her.Um von den Ereignissen nicht überrascht zu werden,ãäufneten die Bäcker ihren Mehlvorrat; die Wirke schönten und süßten ihre Krätzer und sauren Jahr-gänge; die Mehger lieferten notdürftige Schweine und betagte Kühe, die sie Hals über Kopf aufgekauft,ans Messer und wursleten dem Teufel ein Ohr ab.
Jung und alt freute sich auf die wackern Scharen von draußen. Man stieg auf die Estriche und durch-kramte die Rumpelkammern und alten Schränke nach verstaubten Schießgewehren und rostigen Sä-beln aus Väter- und Urväterzeiten, damit man, wenn die kräftigen, biedern Gestallen, bis an die Zähne bewaffnet, heranschritten, daß es eine Art hatke, auch etlichermaßen mit Ehren und Wehren dastand. Kein geringes Augenmerk wurde auf die Glocken wie auf diejenigen gerichtet, die im Noktfall Sturm läuten sollten. Manche kauften Pulver und Blei und gossen Kugeln. Vachdenklich betrachtete man jetzt die Zeughäuser, an denen man bisher meist achklos vorbei-geschlendert war, und erwog, ob man wohl Flinten und Patronen aus ihnen herausbekäme und ob ihre Kanonen wohl hervorgezogen würden und losdonnerken, wenn Gefahr im Verzug wäre. Schon hatte sich eine Bürgerwache gebildet, die nur das erste Zarmzeichen erharrte, um unter die Waffen zu reten.
Die Radikalen beschauten das Rüsten und Treiben bänglich und ingrimmig. Sie krugen ein gleich-gültig sicheres, ja herausforderndes Wesen zur Schau,was freilich dem Gegner wenig Eindruck machte. In
155 []den meisten Landgemeinden staken sie in noch schlimmern Schuhen als in der Stadt, weil sie sich dort noch mehr in der Minderzahl befanden und stündlich Gefahr liefen, zu den Schimpfworten auch noch Prügel einzuheimsen, gemäß dem handfesten rustikalen Verfahren. Der ganze Kanton glich einem mit ungebärdigem Wost gefüllten Fasse, worin es rumort und teufelt, sodaß man keinen Augenblick sicher ist, wann der Zapfen herausfährt.
In Bernhard Hirzel jagten sich kampflustige Zuversicht und beklemmende Unruhe. Auf einen Wink folgken ihm seit dem Klokener Tag kausende aus seinem Bezirk wie ein Mann. Sein Wort und seine Position waren gewichtig im kommenden GSireit,dessen Ausgang angesichts der herrschenden Volksstimmung für ihn außer Zweifel stand. Allein das wurde alles zunichte, wenn die Konkordätler anmarschiertken. Immerhin ging er selbstbewußter als früher durchs VNur fiel den Leuten sein hastiges Wesen, sein bleiches Gesicht und die fast fiebrigen Augen auf.
Nicht anders ging es zwei Cousinen aus der Stadt, die anläßlich eines Ausfluges sich Donners-tag den 5. September zum Mifllagessen angesagt hatten, um den plötzlich berühmt gewordenen geisi-lichen Velter in Augenschein zu nehmen. Er verabschiedete sich eben von ihnen, als raschen Schrittes vor dem Hause ein Eilboke auf ihn zukrat und ihm ein Briefchen einhändigte.
Er beantwortete, ohne nach ihnen hinzusehen, den Scheidegruß der Abziehenden mit einem Handwink,erbrach das rote Siegel, entfaltete das Blatt und fuhr zusammen.
Es war die Mahnung Rahn-Eschers.
Freunde, Brüder! Die Feinde wollen das Land mit fremden Truppen sm Bern und Basel-land rüsten. Ich ersuche Euch, schnell alles zum Skurm in Bereitschaft zu sehen, und wenn die Glocken los 156 []gehen, daß ein gukter Teil nach der Stadt komme, ein Teil aber zur Bewahrung des eigenen Herdes gerüstet bleibt für Gott und Vaterland!)
Hirzel schickte den Boten in die Küche, damit ihm eine Herzstärkung gereicht werde, und stieg in sein Zimmer hinauf. Sein Herz pochte, sein Kopf wirbelte,er zitkerte an allen Gliedern. Die Mühsale und Hetze des Klotener Tages, die gespannten, unsichern, mit Gerüchten und Erwarkungen gespickten Stunden seit-her hatten seiner so wie so leicht erschütterlen und aufgeregten Vatur zugesetzk und lagen ihm küchtig in den Gliedern.
Ubermüdet und benommen, wie er war, empfand er die Zeilen Rahns nicht als das, was sie waren, als Mahnung zur Wachsamkeit und Schlagbereitlschaft.Er empfand sie als Befehl zum Losbrechen. Aus dem Aufruhr seines Wesens heraus rief es:
Jetzt ist die Stunde! Jetzt los! Sturm läuten!“
Er setzte sich und überlegfe.
Er stützte: aber wann? man konnte doch nicht um Mitternacht in Zürich anlangen!
Es klopfte unten an der Hausküre, und bald krat ein Amtsbruder aus der fernern Vachbarschaft ein,namens Worf, den Hirzel im Lauf der Jahre nur wenigemale flüchtig gesehen und kaum richtig gesprochen hatte, ein braver, aufrichtiger Mann, aber ein Steckkopf, hölzern und ungeschickt, ein Trocken-bröller und dürrer Prediger. Er fuhr sich, nachdem er, Hirzels Einladung folgend, umständlich und ungelenk Platz genommen, zwei, dreimal über den fast kahlen, halbgrauen, dürftigen Schädel und das faltige, vom frischen Rasieren blutig gekratzte Gesicht,wobei er den Unterkiefer wie kauend bewegte, und begann dann beinahe stotkernd:
Ja .... ich wollte eigentlich schon lange zu Ihnen kommen. Ich wollkte Sie nämlich etwas fragen.“ Er stocktkte. Nämlich es nimmt mich und auch andere wunder, daß Sie, der doch im Zürcher
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7 []Mimisterium fast der Gelehrteste ist, so streng gegen den Strauß loszogen. Sie galten doch früher immer eher für freisinnig. Ich muß sagen, ich habe sein Leben Jesu studiert, so weit ich eben nachkomme, was nicht überall der Fall ist. Und wenn ich auch seinen Standpunkt nicht teile, ich ziehe doch den Hut vor ihm ab. Warum und das eben möchte ich Sie fragen ziehen sie den Hut vor ihm nicht auch ab,a Sie ihn doch unzweifelhaft besser würdigen und verstehen als ich?“
Hirzel ärgerte Frage und Frager, die just in eine solche Sturmstunde hineinplumpsten, besonders aber,weil Worf, der zu den Freisinnigen zählte, vielleicht etwas Verfängliches im Schilde führke. Ein Blick auf das ehrliche, schwere Gesicht verscheuchte diesen Verdacht.
Hirzel räusperte sich umständlich, während der Andere, die roten, knochigen Hände auf den Knien,die wasserblauen Augen ihm erwarkungsvoll auf die Lippen heftete, und gab dann ziemlich von oben herab in einem Tone Bescheid, der weiteres Zudringen von vornherein ablehnte.
Mein Verhältnis zur Wissenschaft im allgemeinen und zu Strauß im besondern steht auf einem Blatte für sich, und eine Erörterung darüber würde mich heute, wo meine Zeit leider sehr in Anspruch genommen ist, allzuweif führen. Nur viel kann ich Ihnen auch jetzt zu wissen kun, daß ich dem Fleiß,dem Geist und dem Wissen des Forschers Strauß meine Anerkennung nicht versage. Allein darum,wie schon bemerkt, handelt es sich hier nicht. Sondern darum: Die radikalen Führer und ihre Trabanten,denen die Religion gleichgültig oder gar verhaßt ist,benützen den Strauß als Sturmbock gegen unsern heiligen Glauben und vor allem gegen die Geistlichen. Sie wollen das lautere Wort und seine Diener zu Boden kreten, um die letzte Schranke zu beseitigen, die ihrer brukalen Herrschgier und ihter ge159 []
wissenlosen degugsuct widersteht. Erst haben sie es
wissenlosen degugsuct widersteht. Erst haben sie es durchgedrückt, daß wir vom Volk gewählt und also seine Diener sind. Dann wollen sie die Religion abschaffen, damit wir überflüssige Diener sind. Darum gehk es und um nichts anderes! Um unsere Sltellung,sja um unsere ganze Existenz! Deshalb sollen die Pfarrer vom ersten bis zum letzten wie ein Mann zusammenstehn und mit Händen und Füßen sich gegen die Radikalen wehren, sofern ihnen mit ihrem Amt ernst ist.“
Worf wiegte langsam den Kopf hin und her und rieb sich die Stirne.
Ja, aber der Strauß macht doch nichts gegen die Pfarrer.“
Nein, das nicht', räumte Hirzel ein. Aber er it das Werkzeug unsrer Feinde und aus diesem rund auch unser Feind.“
Worf besann sich wieder.
Ja, aber, er hat sich doch nicht selber zum Werkzeug gemacht. Darum sollte man auch nicht so gegen ihn ausschlagen.“
Das ist nun einmal so auf der Welt. Den Sack schlägt man und den Esel, d. h. die radikale Gesellschaft, meint man.“
Der andre besann sich wieder und kaukte:
Ja, aber, es will mir doch nicht eingehen, daß man derart mit ihm um sytingt da er doch ein rechter Mann ist und Sie selbst ihn auch als Gelehrten schätzen, und daß man ihn zu einem Feldgeschrei braucht für allerlei Sachen, die fast das Ansehen haben von Bürgerkrieg oder dergleichen.“
Hirzel wurde ungeduldig. Er stand auf und sagte länger, als Sie denken, jedenfalls zu lang für die kurze Zeit, die ich gerade heute zur Verfügung habe.Ich stehe, wenn wieder ruhigere Tage anbrechen,
1560 []gerne zu Ihrer Verfügung und rede gerne mit Ihnen über diese Dinge.“
Morf schüttelte ein, zweimal den Kopf, enltschuldigte sich stolkernd wegen verursachter Skörung und drůckte fich.
Hirzel war ruhiger geworden. Er ging nachdenklich im Zimmer auf und ab. Das Wort Bürgerkrieg, so oft es in den letzten Zeiten von hüben und drüben dem Gegner entgegengeschleudert wurde, halte sich ihm, wen es aus diesem Munde kam, selksam eingehakt.
Bürgerkrieg“, murmelte er stehen bleibend.Was wollen wir denn? Wir wollen eine verroktete Regierung wegputzen, die das ganze Volk gegen sich hat. Wenn man sie nur mit dem kleinen Finger anrührt, so rumpelt sie herunter wie ein überreifer,wurmstichiger Apfel vom Ast. Und das sollke Bürgerkrieg seind Es müßte sich schon jemand finden, der sich für diese Bande wehrte!“
Er öffnete das Fenster. Das reinste Septembergold rollte über Land und See. Von einem Acker her hörte er singen. Es war die alke Kleophea, eine harmlose Gestörte, die bei Feldarbeiten aushalf.Sie sang:D' Dorothe vo Griffesee Mit ihre lange Füeße Isch siebe Johr im Hummel gsi,Het wieder abe müeße.Hirzel lächelte: Die Regierung ist sogar neun Jahre im Regentenhimmel gewesen. Aber jetzt muß sie wieder herunter!“
Wieder ließ sich die schwermütige Stimme pernehmen:Im Himmel, im Himmel sind der Freuden so viel,Da singen die Engel zum goldenen Spiel.160 []Dorl hinten, dort hinlen bei der himmlischen Tür,
Dort steht eine arme Seele, schaut tkraurig herfür.Was kraurest, was weinest, du arme Seel?
Was sollt ich nicht trauren, mein gnädiger Herr?ArD
Ich hab übertreten die sieben Geböt.Hirzel schloß das Fenster, um seinen Gedanken ungestört nachzuhangen.
Bürgerkrieg“, murmelte er wieder. Dummes Zeug! wenn wir die infamen radikalen Hänswürste abschnüren, das ist eine Volksergötzlichkeit, eine Fastnachtschnurre, eine Kilbiposse. Weiter nichts!Freilich noch etwas: ein Gericht über die Ungläubigen und die Verworfenen! Für diese Leute rührt sich kaum eine Hand wenigstens in unserm Kanton nicht! Und wenn die Konkordätler kommen, so kommen sie zu spät. Liegt die Herrlichkeit erst ein-mal im Dreck, so drehen sie ihr Fähnchen und rutschen wieder heim zu.“azemeis schrikt er eine Weile nachdenklich auf und ab.
Aber wenn wir scheilern?“ erwog er. Wenn die Konkordätler doch anrücken? Die Berner haben harte Schädel! Wenn sie den Thron der Ungerechten wieder aufrichten?“
Klopfen schreckte ihn. Unwillig riß er die Türe auf. Eine aufgeschossene, schmale Gestalt stand da.Gewand und Aussehen bezeichneten den Geistlichen.Es war der blutjunge Pfarrverweser einer Vachbar-gemeinde.
Er lebhaft, fast leidenschaftlich Hirzels Hand und richtete seine dunkeln, glänzenden Augen dürch-dringend und feurig auf ihn.
Herr Pfarrer!“ rief er, es drängt mich, Sie in diesen Tagen, in diesen Stunden zu sehen, wo ungezählte Gukgesinnte an Sie denken und mit den Augen ihres Geistes Sie suchen, wo die Posaunen schauen 11 Freyh, Bernhard Hirzel 161 []werden, vor denen die Mauern Jerichos zusammen-stürzen, und wo die heilige Sache siegen wird. Ich muß Ihnen sagen: das christliche Zürcher Volk wartet auf Sie! Sie sind auserwählt, den Blitz hernieder zusenden F die Ungläubigen und Widerchristen aus der Wolke des Herrn!“
Warum soll gerade ich ausersehen und auser-wählt sein? fragte Hirzel geschmeichelt.
Es ist ein Glaubensstreik, und im Glaubensstreit muß ein Glaubensmann führen.“
Die Pfarrer im Zürichbiet zählen nach Hunerken.“
Keiner hat Ihr starkes Wort, keiner Ihr Ansehen! Als man Sie in Kloten zum Redner auserkor,erkor man Sie in Gedanken zugleich zum Handeln!“
In Kloten hatten sie für mich einen Auftrag für die bestimmte Minute. Jetzt habe ich keinen.“
Er ist in Ihre Hand gelegt! Versäumen Sie die Stunde nicht. Leicht könnke sie nicht wiederkehren!“
Wer Wind säkt, wird Sturm ernten. Wer zum Schwerkt greift, kommt durch das Schwert um.“
Der Pfarrer, der für den Glauben an unsern Herrn und Heiland streitet, der darf Menschenfurcht nicht kennen!“
Wer nennt mir die rechte Stunde? nicht zu früh und nicht zu spät?“
Herr Pfarrer, ich denke, Sie wissen, daß Bern und Baselland rüsten, ja schon gerüstet sind. Aber vielleicht wissen Sie noch nicht, daß die Liberalen in Winkerthur und Umgebung auf dem Sprung stehen,mit kausend Bewaffneten nach Zürich zu ziehen,wissen noch nicht, daß die Studenten einen Anschlag bereithalten auf die Zeughäuser, um die Rotten Gleichgesinnter zu bewaffnen und die Unsrigen von dort aus zu pescieder Darum sage ich Ihnen: was du tun willst, tue bald!“
Die Augen brannten in dem länglichen, bleichen Gesicht, das sich leicht gerötet hatte.16527 []Aufs äußerste bewegt, wandte sich Hirzel und kat ein paar Schrikke gegen das Fenster, wo er stehen blieb. Als er sich umdrehte, um dem odringlichen Mahner zu danken, war dieser verschwunden, lautlos, schatkenhaft.
Wunderlich berührt und gehoben, entschied sich Hirzel, den ersten Schritt auszuführen in Sachen, die er seit dem Klotener Zug mehrfach überlegt und auch beredet hatte. Er verfügte sich zum Siegrist hinüber und erteilte ihm die Weisung, durch ein paar feste,schon vorher bezeichnete und ins Verkrauen gezogene Männer den Eingang zur Kirche und damil zu den eensaen zu sichern. Dann sandte er Boten in die Vachbardörfer mit dem Bericht, wenn allenfalls die Pfäffikoner Glocken stürmten, so bedeute das keine Feuersbrunst, sondern etwas anderes.
Er war, als das Angeordnete unverzüglich ins Werk gesetzt wurde, in ernste Stimmung geraten und begab sich wieder auf sein Zimmer. Er halte gemeint,im Reinen zu sein. Jetzt fühlte er sich doch wieder von unsichtbarem Finger angestoßen und erschüttert.Niemand war da, der in dieser strengen Stunde Rat mit ihm pflegte.
Sollte er fortfahren? Sollte er innehalten? Noch war nichts geschehen, was ihn verstrickte; noch konnte er leicht zurück.
Eine Stichflamme durchschoß ihn.
Wenn's fehlschlägt, wessen werden sie mich anklagen? Es könnte mir an Leib und Leben gehn, obgleich so mancher milbeteiligt ist, daß sie sich wohl vorsehen werden mit Anklagen und Urteilen.“
Er dachte nach. Dann peinigke ihn etwas anderes:
Wenn Blut flöße? Bürgerblut! käme es über mich? Aber ich zwinge ja keinen zur Teilnahme, berede Keinen! Sie werden von selber aufstehen wie ein Mann. Allein sie folgen mir nach kraft meines sslichen Amtes ... Was soll ich tun? Himmel,ilf!“
163 []Er warf sich auf die Knie und betelke, inbrünstig,wie ihm schien, im Grunde aber aufgeregt und geängstigt.
Er hoffte auf ein Zeichen von oben. Allein es ereignete sich nichts.
Waährend er mit verschränkten Händen harrke,streckte Voldi schluchzend den Kopf zur Tür herein und wies den rechten Zeigefinger, den er irgendwo angeschürft hatte. Der Vater besah das Unheilchen,hauchte darüber und summte:Heilen, heilen Segen,
Drei Tag Regen,
Drei Tag Schnee,
Tut dem Noldi nicht mehr weh!worauf der Kleine schluckte und halbgetröstet wieder abzog.
Armer Schelm“, murmelte Hirzel, der ihn die Treppen hinunlerstaffeln hörte, die heutige Stunde bestimmt wohl auch deine Sterne.“
Diesem Gedanken nachhangend, vermochte er wieder zu keinem Entschluß zu gelangen und warf sich von neuem ins Gebet. Auch jetzt fand er keinen Ent scheid. Da sah er, die Augen erwartend nach oben gerichtet, wie die Sonne eben einen vollen Strahl auf einen kleinen Kupferstich blitzte, der in alkem, halberblaßtem Goldrähmchen auf seinem Schreibtisch stand. Es war das Bildnis des hochangesehenen Vorfahren Salomon Hirzel, der in seinem Brustharnisch kühn in die Well blickte und übrigens just vor anderthalb Jahrhunderten das Zeitliche gesegnet hatte. Darunter posaunten die rühmenden Verse:Der Weisheit rechter Sohn und Sonn War gwüßlich diger Salomon,Liebreich, freundlich über d'Maß.
In Frankreich war er Rittersg'noß.
164 []In einem großen Wettersturm Zersprang mit Schaden der Geißlurm“ *)Du hättest dich nicht besonnen!“ rief Hirzel, in-dem er an den Tisch herantrat, um den beleuchteten Ahnherrn näher zu beschauen.
Da dämpfte eine lichte Wolke, die vor die Sonne schwebte, den Glanz, sodaß das Bild den Vachkommen nur noch aus einem Halbschattenschimmer anblickte, zweideutig und rätselhaft.
Deutete der gemilderte, verschleierte Blick des Gestirns ja? deutete er nein?
Es währte nicht lange, so g wieder der ungebrochene Schein auf dem angegilbten Blatte.da“, rief der Nachfahr, ich will dir Ehre machen!Mutiges Herz haben die Hirzel früher im Busen getragen! es soll wieder so sein!“
Sein Enltschluß war gefaßt. Er machke sich daran,dieses und jenes noch zu rusten und für alle Fälle Vorkehren zu nesen ordnete und verbrannte ekliche Papiere und warf in Eile einen lehten Willen und zwei Briefchen hin.
Seit der Weisung an den Siegeit fingen Dorf und nächstes Umgelände sich an zu geberden wie ein Imb, der stoßen will. Da und dort standen Häufchen auf der Sträße und ergingen sich in Mutmaßungen über das Kommende. Die Arbeit in Haus und Feld lag brach. Dafür tischte man sich allenthalben wild-darig Mären auf, verwarf die Hände, schimpfte über die gottlose Regierung und hörke nicht, wie das vernachlässigte Vieh in den Ställen brüllte.
Ludi Mürggeli drückte sich an den Aufgeregten vorüber, als ging ihn alles nichts an, und legke schleunig den kurzen Weg von seiner Wohnung bis zum Schulhaus zurück, um, wie üblich, am Don-nerstag um sechs Uhr die Probe des Gemischten Chores Alpenröschen zu leiten, den er gegründet
* 1652 vom Blitz getroffen.
165 []hatte. Er atmete auf, als er die hölzerne Treppe hinanstieg und das größere Schulzimmer bekrat, wo er die Quellen des Gesanges zu fassen und zu läutlern pflegte. Er war froh, ohne eine Tracht Prügel das Feld seiner musikalischen Wirksamkeit erreicht zu haben, und zugleich entschlossen, auch künftighin sich mannhaftk zu zeigen. Er ergriff ein Stück Kreide neben der Wandtafel und rieh im Sinne seines mannhaften Wesens an die Türe des Kastens, worin Schulbücher, Singhefte, Kielfedern, Griffel, Tintenfässer u. dgl. aufbewahrt lagen, mit festen Zügen:Impadibum ferient urinae.Aus dem Munde seines verehrken Lehrers Thomas Scherr hatte er einst das eherne impavidum ferient ruinae gehört, das sich ihm, da er niemals Latein gelernt, im Lauf der Jahre wunderlich mißgestaltet hatte.
Er hatte eben die Anschriftk mit stolz gerolltem Schnörkelschwanz vollendet und krak ekwas zurück,um sich an ihrem Schwung zu weiden, da erschienen drei Pfäffikonerinnen, die drei wohlklingendsten Stimmen des Alpenröschens. Sie begaben sich gleich ans Fenster, um in die Dorfgasse zu vigilieren, wo heut ein Spekkakel das andere ablöste.
Trotzdem kein Zuzug mehr erschien, erklärte Ludi Mürggeli, die Probe dennoch abzuhalten.
„Wer das Herz am rechten Fleck hat'“, äußerke er nachdrücklich, und Sinn für edle Kunst, wie es sich für ein richtiges Mitglied unseres Alpenröschens gehört, der wird ihr auch heute seinen Tribut enticn wo es draußen elwas drunter und drüber geht.“
Er verleilte die Liederbüchlein, bezeichnete das Lied, woran man sich schon vor acht Tagen versucht,nämlich Han an em Ort es Blüemli gseh', nahm die Stimmgabel aus dem ziegelroken Päppfutteral,166 []gab den Ton an, Cng den Taklt und ließ beginnen.Rach der ersten Skrophe klopfte er kräftig ab:
Das O Blüemeli mi,d Blüemeli mi,
J möcht geng bi der siꝰ ist noch viel zu stark,viel zu holzbodenmäßig, viel zu wenig piano, zu wenig empfunden. Also noch einmal!“
Während des Gesanges drückte er fortwährend mit den flachausgestreckkten Händen dämpfend nach unten.
So ist es besser! aber noch zarter, gehauchter!Man sollte eigentlich gar nichts mehr hören! Das wäre das Idealste!“
Wieder gab er das Zeichen. Die drei ländlichen Philomelen wagten kaum mehr den leisesten Schnauf zu kun bdei dem O Blüemeli mi“, da der Chorleiter X mit Geberden und Mienen noch mehr Piano forderte.
Auf einmal, wie der Gipfel der Kunst glorreich erklommen schien, heulten die Glocken der nahen Kirche los und wetterken Sturm.
Aufkreischend warfen die drei Sängerinnen ihre Liederbüchlein weg und rannten hinunkter. Ohne langes Besinnen stürzte ihnen Ludi Mürggeli nach.Als er aber von einer der untersten Skufen der Holzkreppe wahrnahm, daß die Straße vollstand,machte er kehrt und begab sich wieder dahin, von wannen er gekommen war. Er überlegte sich, ob es rätlich sei, sich hinunkerzuschleichen und die von den davoneilenden Jungfern offen gelassene Haustüre zuzumachen. Da jedoch der Hausschlüssel schon seit einiger Zeit und ein Riegel überhaupt fehlte, so beschloß er, sich ruhig zu verhalten und weiteres ab-zuwarten. Die gleichfalls unverschließbare Stuben-lüre verbollwerkte er mit zwei herangeschleppten Schulbänken.
Es währte nicht lange, so begann es unten im Flur und auf der Treppe zu gröhlen und zu trampeln.
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7 []«Wo ist der Strahlhagelsschulmeister?“ züngelte eine hässige Fistel herausf. Sie gehörke, wie Ludi Mürggeli feststellte dem Kappenmacher Josua Schnurrenberger. Wir wollen ihm das Lederzeug nach Noken anstreichen!“
Ja“, rief ein anderer, wir wollen ihm die Kappe waschen, aber ohne Seife!“ Es war der Wagner Heiri Kienast.
Ich will hinauf“, hallegerte verheißungsvoll ein grobkörniger Baß, der dem Schaggi Bachofner gehörte, und dem Herrgottsdonner eins an das Straußenei geben, das ihm zwischen seinen Eselsohren angewachsen ist, daß ihm der Straußendotter ausläuft!*
Per se“, lachte Josua Schnurrenberger, das ist justament ein Aufgäbchen für einen 'so üder.manierlichen, seidigen Sidian, wie du einer bist.
Die Ritter der guken Sache wieherken dem Vorhaben Beifall zu. Jetzt hakke Ludi Mürggeli genug.Ohne weiter darauf zu hören, was drunten nod Freundnachbarliches ausgetauscht wurde, riß er ein paar Bretker aus dem Kasten, stellte sie hinker ihn,kroch hinein und schloß hinter sich ab.
Bald vernahm er unten eine unbekannte Stimme:
Wacht, daß ihr aus dem Schulhaus heraus kommt! Es schickt sich nicht, hier Krampol zu machen. Ihr habt morgen andere Dinge zu kun. Müdem Schulmeister können wir, wenn einmal das Geschäft bereinigt ist, immer noch abrechnen!
Sie zogen ab, und Ludi Mürggeli wurde leichter ums Herz. Er verharrte aber vdorläufig noch in seinem unbequemen Behälter, da nirgends geschrie ben stand, daß die Heimsuchung durch die Gulgesinn ·ten sich nicht wiederholte.
Die Sonne beschien freundlich die Kastenküre.Die Sonnengeisterchen kanzten ein scheimifches Menuett auf dem kühnen
Impadibum ferient urinae.
168 []Xxiũ.
Bald nachdem der Pfäffiker Turm laut geworden war, lösten die Rachbarkürme die ehernen Zungen, einer nach dem andern. Seit Jahrhunderten war ein solcher Sturm nicht ergangen. Das ganze Zürcher Oberland war ein einziger Glockenaufruhr.Bis beinahe hinunker zu den Gestaden des Zürcher Sees brandete die kosende Empörung.
Von den Klängen der Vachbargemeinden gemahnt und nun ernstlich aufgerufen von denen des Heimatdorfes, riß der Pflüger noch eine oder zwei Furchen. Dann spannte er die Zugtiere aus, ließ den Pflug im Acker stehen und krieb nach Hause.Wer draußen grub oder hackte, der lauschte wohl,an Karst oder Schaufel gelehnt, eine Weile. Dann hob er das Werkzeug auf die Schulter und wanderte heimzu. Aus den niedern Häusern des Dorfes und aus den einsamen, engen Gehöften krakten die Männer, Bauer und Knecht. Die Fabrikler verließen die maschinenrasselnden Räume vor Schluß der Arbeits-zeil und kamen daher, wie sie gingen und standen, in ihrem dürftigen Gewand, der Armut des Landes-teils entsprechend. Höchstens daß etwa einer in ein Paar festere Schuhe schlüpfte. Sie steckten ein Stück Brot und zwei, drei Apfel ein, wenn's hoch kam, ein Würstchen dazu oder einen Schinkenschnitz. Mit einem Stock versah sich jeder. Da und dort schulterte einer eine Heugabel oder eine Mistgabel oder eine an eine Stange gebundene Sense.
Es war schon über ein halbes Tausend, was auf der Straße herumstand oder am Wegrand saß und sich die Zeit wegschwatzte bis zum Aufbruch, den noch 279
44 []Niemand wußte, da keine Stunde bestimmt war.Immer noch stellten sich neue ein, und auf den Feld-wegen sah man da und dort noch manchen heranstreichen. Die Wirtschaft zum Sternen wimmelte von solchen, die einen Bahen dranrücken und sich noch einen uriß gönnen durften. Bekannte und Unbekannte sprachen sich an und grüßten sich. Man schalt über die Regierung und ließ kein gutes Haar an ihr. Dazwischen wurde etwa um ein Kalb oder eine Ziege gehandelt. Frauen und Kinder machten sich an älen Ecken und Enden herzu.
Vom Lärm und Gewühl aus ihrem Hindämmern aufgescheucht, humpelte auch die alte Cleophea herbei und staunte in das ungewohnte Treiben wie eine Eule ins Licht.
He, Chläfe“, fistelte sie Josua Schnurrenberger an, siehst du nichts? bläst dir der Geist nichts ein?“
Sie stand nämlich im Ruf des zweiten Gesichtes.
Sie schüttelte den müden Kopf, indem sie mit der Runzelhand eine losgegangene graue Strähne aus der faltigen Stirne strich.
Wirklich nicht?“ drang er wieder auf sie ein.Elwa ein Tier, z. B. einen Bären, der eine rote Zunge heraushängt wie einen Schuhbändel.“ Er meinte damit das Wappenlier und die Truppen Fern und blickte, stolz auf seinen Einfall, im Kreis erum.Sie schütkkelte wie vorher den Kopf.
‚Wit dir ist's beim Eid nichts!“ rief er. Vimm dich zusammen, dann siehst du meiner Seel ein Tier!“
Sie sah ihm steif ins Gesicht und nickte.
Ja“, erwiderte sie langsam und nachdenklich,ohne eine Miene zu verziehen, ‚eine Kuh.“
Die Runde brach in schallendes Gelächter aus,worüber er sich so erboste, daß er ihr gerne eins aus gewischt hätte. Ohne sich sonst zu rühren, streckte sie *270 []langsam den Arm aus und deuteke auf eine Kuh, die in einer nahen Wiese graste. Die Umstehenden jchütteltlen sich vor Lachen.
Plötzlich wurde Stille geboten. Die Kappen und Hüte gingen herunter. Hirzel krak unter sie.
Ich danke Euch von Herzen, liebe Freunde, im Namen des Glaubenskomites“, sagte er, daß ihr euch so zahlreich eingefunden habt und bereit seid, für die gute und heilige Sache zu kämpfen. Wie in Kloten so wird das Oberland morgen auch in Zürich den Preis davon tragen, dank eurer Opferwilligkeit.Ermüdet euch nicht zu sehr durch Herumstehn! Wir haben nicht nötig, vor Sonnenuntergang aufzubrechen. Wir können uns gemächlich Zeit nehmen und sind doch in Zürich, ehe der erste Hahn kräht.“
Durch Hornstoöße zusammengerufen, zogen sie mit dem letzken Tagesschein davon, den Pfarrer an der Spitze, ein ungeordneter, schwatzender Haufen. Den Nachblickenden schien es, als ob sie wie Schatkten in die Schatten hineinsänken. Zuweilen flimmerte noch eine Sense oder der Zinken einer Gabel. Dann war nichts mehr zu sehen und auch nichts mehr zu hören außer dem Schall der stürmenden Glocken in der Ferne. Die eigenen schwiegen seit dem Aufbruch.
Allmählich erloschen Geschwätz und Geplauder der Marschierenden, deren Art und Schlag überhaupt von alkersher eher zum Schweigen und Dahinbrüten neigt. Auch hatten viele schon den halben Nachmitfag ungewohnkerweise mit Reden verkan, und manchen wandelte Schläfrigkeit an. Um diese Stunde pflegten sie sich sonst zu legen. Bald da,bald dork blieb einer stehn und schlug mit dem Stahl Feuer, um die erloschene oder frisch gestopfte Pfeife anzuzunden. Das verursachte immer neue Stockun-gen, und der Zug lockerke und zerdehnte sich. Manchenorts stießen Zuzügler zu, die sich von der Kolonne einholen ließen.
Die Sterne waren hervorgetaucht und leuchteten 71 []über die Hügelkronen herunter. Der Wagen schimmerte im tiefen Blau. Zuweilen ritzte eine Sternschnuppe eine flüchtige Silberfurche ins Firmament.Am Weg und an den Hängen brannte in einzelnen Häusern, die sonst um diese Vachtzeit schwarz dazulegen pflegten, noch Licht, weil ein Insasse oder mehrere den Scharen sich anzuschließen bereit waren.
Man war reichlich an die anderthalb Stunden zugegangen, als man das Dorf Fehralldorf erreichte.Beim Anblick der Kirche und des davorgelagerken stimmte einer der Vordersten das ied an:
Staub bei Staube ruht ihr nun In dem friedevollen Grabe;Möchten wir wie ihr auch ruhn In dem friedevollen Grabe!
VNicht allein die hinter ihm fielen ein, vor ihm nahmen Hunderte in der Dunkelheit unsichtbar den ernsten Gesang auf. Feierlich orgelte die getragene,schwermütige Weise die Halden hinan und erlosch unter den Sternen. Ein Schauer berührte die Singenden, sodaß sie unwillkürlich den Gang verlang-samten und dann still standen, bis der letzte Laut verhallt war. Nachdem sie sich wieder in Bewegung gesetzt haktten und um einen Steinwurf weit vorgerückt waren, stach ihnen um eine Wegkrümme herum ein Windlicht in die Augen, das, in seiner Gabel schwankend, unruhige Lichker auf eine stattliche Schar von Männern warf, die hier den Anschluß erharrten und eben mitgesungen halten.
Bei den äußersten Häusern schwenkte man links ab und gelangte, nachdem man Gutenswil mit seinem Firstgrüppchen passiert, in abermals anderthalb Stunden nach Volkelswil. Die Kirche war erleuchtet.Auf der Straße bei ihrem Eingang und auf dem Friedhof bewegten sich Fackeln, deren qualmiger
52 []Schein Turm und Kirchenwand und die Gräberkreuze rökete. Wieder begann einer Staub bei Staube ruht ihr nunꝰ. Keine Kehle versagte sich, und Gesang überflukete weilhin das Land. Das Gotteshaus,dessen Türe weil offen stand, war dicht gefüllt mit Mannern, mit Fackeldampf und Fackelglut. Der blaffe, schianke, schmalbrüstige Geistliche, der diesen Rachmittag im Pfäffiker Pfarrhause vorgesprochen,streckte die weißen, länglichen Hände über die Versammlung aus und rief feierlich:
Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes zieht aus zum Kampf Ar die heilige Sache! Zieht aus und fürchtet euch nicht! Der Herr wird mit euch sein und die Wacht der Feinde Jerschmettern! Der Herr segne eure Waffen und uren Streit, euren Ausgang und euren Eingang!“
Kopf an Kopf gedrängt lauschten sie draußen auf der Straße, dann und wann von zuckenden Fackel-funken angesprüht. Das waren die Mannen aus dem Kellenland, von den rauhen Ufern der Töß, die vor Hirzel aufgebrochen und auf andern Wegen rascher gegangen waren, sowie die aus dem südlichsten Teil des Oberlandes. Es galt ihnen für selbstverständlich,daß fie sich sofort unter Hirzels Befehl stellten, obgleich sie an Zahl seinen Haufen übertrafen. Jetzt erst, nach diegen starken und, wie ihn däuchte, ent-scheidenden Zuwachs, erfülllte ihn das Gefühl des Gelingens, und er wünschte sich den Tag herbei, um die Mienen der mit ihm Gehenden mit Augen zu sehen und sich aus der Ungewißheit über das Bevor-stehende tunlichst loszuwinden.
Dder Weiterweg führte durch das Dörfchen Heg-nau, dem die Vachbarn von altersher den Ruhm eines zürcherischen Schilda zuschoben. Nirgends brannke ein Licht, keine Menschenseele ließ sich blichen, niemand begehrte am Zuge tkeilzunehmen.
Ja, ja, die Hegnauer“, a Josua Schnurren-berger, find immer die Gescheitesten und nicht 73 []schuld daran, daß die Frösche keine Schwänze haben! Darum lul keiner mit. Sie fürchten, man könnte sie in den Regierungsrat wählen, wenn sie nach Zürich hineinkriechen!“
Er krähte wie ein Hahn, um die Bewohner aufzuwecken und zu ärgern. Da und dort begann einer im Zug Lalenburgereien und Schildburgerstücklein zum besten zu geben.
Es war schon über Mitternacht hinaus, als man sich halbwegs Dübendorf befand. Da nahmen Hiczel,der nach wie vor darauf hielt, an der Spitze zu marschieren, und seine Begleiter weit draußen in den Sumpfwiesen die bläulichen Flämmchen der Irrlichter wahr, die hin und her huschten, aufhüpften und zerflossen. Unvermögenö, ein dunkles, unangenehmes Gefühl zu bemeistern, sah er weg. Es tauote ihm plößlich aus Knabentagen auf, daß der Anbüch von Irrwischen Unheil bedeute.
Schon von weitlem sahen sie auf der Glalkbrücke beim Dorfeingang ein Licht sich hin und her bewegen. Näher heranmarschiert, erkannten sie eine Laterne, darin eine Kerze und dahintker einen jungen Burschen, der sie krug. Überlaut schrie et dem schwarzen, heranschleppenden Zug entgegen:
Herr Pfarrer Hirzel! Herr Pfarrer Hirzell
Dieser krat auf ihn zu und nahm ein Briefchen in Empfang, riß es auf und las beim krüben Lalernenschein:
.An die Männer von Pfäffikon! Teure Freunde!Ich eile, euch zu bitten, ruhig zu bleiben. In der Sladt ist alles ruhig, aber bereil gegen die Radi kalen, die, wie es sich herausstellt, anen Handostreich im Sinne hatten, der aber durch euch glücklich abgewendet scheink. Ich bikle euch daher, entweder ruhig zu hleiben und nach Haufe zu gehen oder, wenn ihr nach der Stadt kommel, nichts anderes zu sagen,als ihr kommt, um zu wissen, ob der Aktar des 4 4 []Glaubenskomites und ich wohl seien. Mit Treue und Freundschaft euer Rahn-Escher.“
Hirzel hatke in dem Augenblick, wo er den Befehl zum Sturmläuten erteilte, einen Erpressen nach der Stadt und einen ans rechte Seeufer geschickt,um zur Teilnahme aufzufordern. Er hatte auf dige Zustimmung und jubelnden Empfang gerechnet.Jeßt erkannte er, daß er nicht willkommen war, daß das Glaubenskomitee ihn uñd seine Zweitausend lieber im Bette wußte als unterwegs. Er sah blaß aus, als er vom Blätt aufblickte. Es dünkte ihn, er fühie die Augen der Umstehenden auf der Stirne wie Fingerdrücke. Sie neiglen sich vor, einer über die Schultern des andern, erstaunt und befremdet.
Doch nichts Ungutes, Herr Pfarrer?“ erkundigte sich ein älterer Mann aus der Gemeinde, der Kirchenpfleger Jakob Dietliker.
Ein Brieflein vom Doktor Rahn“, erwiderke er halb verlegen, halb zögernd. Dann aber ermannte er sich und sagke entschieden:
Alch was, wir gehören ja zusammen! Es geht euch alle so gut an wie mich! ich les es euch vorl“
Und er kat es.
Es folgte ein längeres Schweigen. Darauf ent-rüstete sich Dietliker:
Was sind das für Schneckenkänze? Wir solltken zum Teil aus den hintersten Landeswinkeln hervor-gekrochen sein und die ganze Vacht durch laufen,um zu fragen, ob auch ja der Doktor Rahn im Strumpf ist! Es kommt ihm beim Eid wohl, daß ich ihn hier nicht just unker Händen habe! Sonst wollte sch ihm mit meinem Stecken eins an den Grind geben,däß er bald merkte, daß er nicht ganz wohl ist!“
Ja', rief ein anderer, das heißt die Leute in die Erdbeeren schicken! Aber wir lassen mit uns nicht Stecklein auf und Stecklein ab machen! Es ist hoch an der Zeit, daß wir der Stadt zuziehen und selber zum Rechten sehen! Vorwärks!“7 []Vorwärtks!“ krohzle es aus einem halben Hundert Kehlen.
Der Zug wanderke fürbaß durch die Nacht und wand sich am Fuß des Zürichberges gegen Schwamendingen hin. Der Wond stieg auf und umsilberke die Waldränder und 88 samt der Pnee ten Karawane, die mehr schlenderke als marschierte,weil Hirzel mit seinen Beratern fand, es sei zweck los, vor Tagesanbruch in Zürich anzulangen, und schwierig, die Mannschaft im Dunkein zusammen-zuhalten, sobald einmal der Warsch aufgehört habe.
Einsilbig, wie seine Begleiker auch geworden waren, schritt er dahin. Er empfand einen bitkern Geschmack von dem Brieflein, das er auf der Brust trug. Er hätte viel darum gegeben, zu wissen, wie sich eigentlich die Dinge in Zürich enkwickelt hatten.
Die Vacht glänzte noch ungebrochen, als die müden Kreuzrifkter, um die Vordabdachung des Zürichberges herumgebogen, auf dem iden sattel anlangten. Hier wurde Halt geboten mikt dem Bedeuten, für zwei, drei Stunden werde man wohl am Ort bleiben. Man wollte erst gewärkigen, was Feind und Freund aus der Stadt herauf berichteten.
Die Ankömmlinge setzken sich meistens an den Straßenrändern nieder und machten sich hinker ihre mitgebrachten Vorräte her. Andere warfen sich den langen Weg in die Wiesen, um noch eine Reige Schlaf zu erhaschen.
Der Wond ruhle voll und rein auf dem Uto, auf See und Skadl, als ob er einem friedlichen, heitern Tag entgegenträume. Aus einem Fenster des Gaft-hauses zur Linde, wo er eingekreken war und ein Zimmer für sich verlangt halte, da er voraussichtlich in die Lage kam, hier mit diesem oder jenem Haupt der Stadt oder des Kantons zu verhandeln, blickte Hirzel hinab. Sein müder Kopf schwirrte, sein Herz pochte. Es schmerzte und fröstelte ihn, als er die hohe,76 []vom silbrigen Seespiegel sich abzeichnende Baumgruppe neben dem Vaterhaus seiner Frau zu erkennen glaubte, das sich nun in fremden Händen befand. Es schnürke ihm den Hals zusammen, wenn er dachte, wie sehr er sich dadrunken seinem Herkommen, seiner Begabung und seinem Fleiß zum Trotz vergeblich um Raum und Amt gemüht, sodaß er Jahre draußen auf dem Land halte verleben müssen, die er doch wenigstens jetzt als halb verlorene empfand. Aber nun er reckte sich auf stand er gleichsam als Eroberer vor den Toren der Stadt. Und er war es heute wohl, der den Lauf der Dinge bestimmte. Freilich, zur Stunde konnte niemand wissen, wie die Augen der Würfel zu liegen kamen, die heute geworfen wurden!
Die Nacht begann zu erblassen. Der Mond stand kraftlos am Himmel wie einer, der nichts mehr zu sagen hat. Leben und Blut drang schüchtern in die Adern des Tages.
Uber den Gedanken und Erinnerungen war Hirzel auf seinem Stuhl ein wenig eingenickt, bis ihn ein kräftiges Klopfen weckte. In der jerfließenden Dämmerung begrüßten ihn zwei Männer, nämlich der Doktor Rahn und sein Begleiter, ein schlanker Dunkelblonder anfangs der Vierzig, mit Degen und weißer Binde, dem Abzeichen der die beiden eskortierenden Bürgerwache. Den einen Mundwinkel unmerklich spöltisch heruntergezogen, musterte er aus zuweilen schelmisch zwinkernden blauen Augen den über Vacht zum Feldherrn herangediehenen Landpfarrer. Das war der Militärschrifksteller und damalige Bankkassier, spätere Stadtsäckelmeister Wilhelm Meyer-Olt, der Oheim Conrä Ferdinand Meyers.
Ich hätte mir gestern“, bemerkte Doktor Rahn,‚als ich vor dem Mittagessen das Brieflein schrieb,nicht träumen lassen, dep Sie heute schon vor dem Morgenkaffee hier stehen und Zweitausend mit
12 5 re y, Bernhard Hirzel
7 []Ihnen. Auch habe ich das gar nicht, verlangt, von Ihnen nicht und von keinem andern.“
Ich habe“, erklärte Hirzel bestimmt, stunden-lang vor Gott im Gebet gelegen und habe mich zur Erkennknis durchgerungen, daß es meine Pflicht sei,unverzüglich einzugreifen, sollke unsere heilige Sache nicht unersetzlichen Schaden leiden.“
Schon recht!“ beharrte Doktor Rahn, aber ich wiederhole: ich hakte um Wachsamkeit und Bereil-schaft, nicht um Eingreifen gebeten!“
Sie schrieben von den fremden Truppen, die unser Land überfallen wollten. Gab es da etwas anderes als Eingreifen?
„Das Gerücht war falsch, so wahr es schien“,erwiderte Rahn bedauernd.
Jedenfalls konnten Sie in Zürich das besser beurteilen als ich in Pfäffikon, wo Füchse und Hasen sich guke Vacht sagen.
Trotzdem möchte ich wünschen, es hätke nicht so auf Sie gewirkt oder dann wenigstens nicht so auf Sie allein. Die andern Bezirke sind ganz oder doch zum größten Teil stumm geblieben.“
Sie werden schon noch kommen!“ versicherte Hirzel bestimmt.
„Woher wissen Sie das? Wir wenigstens besihen keinen solchen Bericht.“
Sie können uns nicht im Sliche lassen! Unser Unkergang ist ihr Unkergang, unser Sieg ist ihr Sieg!Einer mußte irgendwo am Glockenseil hangen!“
Ja, ja“, seufzte Rahn gedehnt, ‚wenn er nur nicht dran hangen bleibt und wir mit ihm!“
Nur Mutl“ ermuntertke Hirzel. Und vorläufig sag ich kurz und gut: J'y suis et j'y reste.“
Ich denke“, lächelte Rahn bitter, es wird Ihnen nichts bleiben als zu bleiben. Daß Sie mit ihrer Ware nicht wieder heim können, liegt auf der Hand.Wan bringt ein Voß leichter in die Sähe als in den Skall, wenn es aufgeregt ist!“ Er räusperte sich und
28 []fügte nach kurzer Pouse hinzu: Je nun, es ist jetzt,wie es ist! Jedenfalls verhalten Sie sich zunächst hier oben ruhig mit Ihren Leuten und achten sehr darauf, daß sie nicht auseinander laufen! Wir be-halken die Augen offen, geben Bericht, was läuft und geht, kehren das Erforderliche vor und wollen dafür besorgt sein, daß man Ihnen etwas Eßbares und Tranksame hinausschickt.“
Hirzel geleitete die Beiden bis unker die Haustüre, wo sie von der Eskorte, lauter respektabeln Städtbürgern mit weißen Armbinden, in Empfang genommen wurden, und begann dann mit verschiedenen seiner Leukte zu reden, die wie verlorene Schafe beumsanden und nicht wußten, was sie mit sich und der Zeit anfangen sollten. Viele hakten es aus der Einsamkeit des Oberlandes niemals bis Zürich gebracht.
Es entstand ein Rufen, Deuken und Bewegen unter dem Volke. Im vollen Ornat, den Zweispitz auf dem Kopf und den blauweißen MWankel umgeworfen, stieg der Standesweibel würdig und gemessen daher und hinker ihm, im üblichen Abstaänd, die schwarzgekleideten Regierungsräke Hegelschwiler und Eduard Sulzer. Da während des gestrigen Abends mehrfache Kunde vom Anrücken des Landsturms nach der Stadt gedrungen war, so hatte sich der Regierungsrat schon um vier Uhr in der Frühe versammelt und beschlossen, eine Deputation von zwei den Gegnern genehmen Milgliedern abzuordnen,nämlich Hegelschwiler, der das Radikale, soweit er überhaupt jemals darüber verfügt, so ziemlich abge-streift halte, und Eduard Sulzer. Dieser besah sich nachdenklich das Gewühl, wobei er nicht recht wußte,ob er F den Stockzähnen lachen sollte oder nicht,da er doch eigenklich durch seinen Auftrag an Steffan den Volkshasen aufgejagt hatte, während Heget-schwiler, der sich harinäckig und berechnend den Anschein gegeben, an keine Volkserhebung zu glauben,9 []jetzt verwundert und bestürzt dieses Dorfelend ansah,die schäbigen, dürftigen, schmutzigen und vielfach zerrissenen Kleider, die miserable Bewaffnung, in den blassen, magern, übernächtigen Gesichtern die starrenden Stoppelbärke, die, sest dem Sonnkag oder, da mancher der Träger in Kloten milgetagt, seit Sonn-abenod von keinem Scheermesser heimgesucht, nunmehr in reichentfalteter Wochenblüke prangken.
Die Leute kraten vor dem Weibel, den sie in seiner Pracht für einen vornehmen fremdländischen Offizier hielten, ehrerbietig zur Seite, wogegen sie die zwei schwarzgekleideten Herren hinter ihm kaum eines Blickes würdigten. Sie erstaunken nicht wenig,als Hirzel, herbeigerufen, die beiden höchst respekt-voll empfing und ins Haus komplimentierke, den Glänzenden aber unbegchtet stehen ließ. Ihre Verwunderung stieg, als dieser ein Andeß Zürich * zu hageln begann, voll Veröruß, weil man ihn heute so früh aus den Federn gejagt mit seinem schweren Kopf; denn er hatke bis in alle Vacht hinein gebechert.
Ein fürwitziger Pfäffiker fragte ihn:
Was sagen die Zürcher da unken in der Skadt über unser Anrücken und was machen sie?“
He“, erwiderte der Weibel, sie schimpfen.Sonst sind sie gesund.“
Droben begehrten die Beiden des Volkes Wünsche und Vorhaben zu vernehmen. Sie sagten Volk,meinten aber das Glaubenskomitee. Hirzel bot ihnen die zwei Stühle in seinem Zimmer an, blieb selber stehen, fuhr sich bedeutend durch seinen etwas feldmäßig gewordenen Haarbusch und erwiderte, indem er seine Worte mit feierlich ausladendem Hand-schwung begleitete:
Wir beabsichtigen nicht, die Stadt oder eine hohe Regierung zu beunruhigen. Der Zweck unseres Erscheinens geht bloß dahin, der Regierung
180 []unsre ehrerbietigen, aber festen Wünsche zu unterbreiten.“
Und die wären?“ erkundigte sich Sulzer.
Die Erfüllung de was man in Kloten forderke. Vor allem: die Regierung tritt vom Siebnerkonkordat zurück und weist jede sogenannte Hilfe,jede Einmischung von außen entschieden ab, damit der Kanton frei, ungehemmt und seiner würdig seine innern Angelegenheiten ordnen kann.“
‚Bis wann fordern Sie Ankwort?“
In zwei Stunden. So lange sehe ich den Dingen zu und enthalte mich, wenn man mich und die Meinen in Ruhe läßt.“
Das obrigkeitliche Dreigestirn wandelke mit seinem Bericht wieder stadtwärts und bald hinter ihnen her ganze Häufchen und Züge der Landstürmenden,denen Hirzel sür zwei Stunden Urlaub gewährte,sich in der Stadt umzukun und einzukehren, wer es vermöchte, worauf sie sich meistens in die Wirkshäuser und Kneipen zerstreuten, die ihnen von Märkten, Militärdiensten und andern Stadtanwesenheiten her bekannt waren.Ein kümmerliches Knechtlein eines abgelegenen Höfchens im Pfäffikerbezirk, das zu wenig im Beukel trug, um sich einen Schoppen mit Zubehör zu leisten, und das keiner der andern eingeladen hatke,geriet auf seiner Fahrt verwundert auf die untere oder Ratkhausbrücke, die heute, als am Warkttag,von Bauernweibern belebt war, die bei ihren Gemüsen und Herrlichkeilen saßen und standen und mit Hausfrauen und Köchinnen handelten. Fremd und verloren im Gewühl, wo sich keine Seele um ihn kümmerke, überlegte er sich eben das Umkehren,als mit starken Schrikken Johann Jakob Leuthy dahergeschriklken kam, einen alken Säbel umgebunden,dessen Scheide etwas schleppte und bedrohlich rasselke, und eine mächtige Pistole in den Gurt gesteckt.
181 []Guter Freund“, sagte er herablassend, W hört beim Eid zu den Helden von Pfäffikon, die her-8 sind, um die Regierung in die Schuhe zu ellen.“
Das Männchen schwieg, furchtsam die Hand belend die Leuthy auf den Pistolengriff gelegt atte.Im stolzen Gefühl, einem Feind Furcht einzu-flößen, reckte sich Leuthy noch mehr empor:
NRun sagt mir einmal, guter Freund, was kreibt Euch nach Zürich? was wünscht Ihr und die andern eigentlich?
He“, entgegnete das Männchen zaghaft, eine neue Regierung und dann was in Klokten geredet wurde. Mehr weiß ich nicht.“
Damit drehte er ab und beeilte sich, der gefährlichen Nähe des waffenstarrenden Heros zu ent-rinnen. Linkisch und des eerah ungewohnt,prallte er mit einem kleinen, schlanken, beweglichen,dunkelhaarigen Jüngling zusammen, der bestaubt und aufgeregt vom Rathaus herkam und aus seinen großen, dunklen Augen zornige Blicke auf das verblüfffte Hemmnis schoß.
Es war der zwanzigjährige Maler Goltkfried Keller. In Glattfelden zu Besuch, wie so oft, bei seinem Oheim, dem Doklkor Scheuchzer, war er mit diesem und den Angehörigen früh zum Emden aus-gezogen, als plötzlich in der Nähe die Glocken losstürmten. Er warf die Heugabel weg und machte sich, wie er ging und stand, und ohne einen Mund voll Brot auf den Weg nach Zürich, kaum noch den warnenden Ruf des Oheims vernehmend, er möchte durch Wälder und auf Seitenpfaden marschieren und die Landstraße meiden, sonst könnte er, als ein Sktrauß, von den zornigen Bauern totnechgen werden. Einem gehetzten Hirsch gleich und leichtfüßig, wie er damals war, lief er die einsamen Pfade durch Gehölz und Wiesen, die er so oft kräumerisch 82 []und von der noch schlummernden Schöpferkraft leise bedrängt, durchwandert hatte, wenn er die rauchige Stadt mit dem grünen Rheinwinkel vertkauschte.Jeht stürmte er, ohne erst bei seiner Mutter anzukehren, obgleich ihm das eigentlich am Wege lag,nach dem an der Ecke des nahen Weinplahtzes ge-legenen Café ltéraire, der Stammkneipe der Radinalen, um der bedrohten Regierung seine Hilfe anzubieten, sich in die dork aufgelegte Freiwilligen-liste einzukragen, eine Waffe zu fordern und irgendwo und wie auf einen Posten gestellt zu werden als ein leidenschaftlicher Parteigänger und Strauß.
Johann Zakob Leuthy stellte ihn, indem er leicht die Kappe lüftete.
Einen guten, Herr Kunstmaler!“
Anstalt den Gruß zu erwidern, schwang Keller die kleine Hand am Kopfe vorbei nach hinken, wie wenn er sie über die Schulter wegschleudern wollte,und rief zornig, indem er auf das Männchen wies:
‚Das 'ist beim Eid auch einer von den Hagels Flöhruedi, die von den Pfaffen zusammengepfiffen und zusammengetrommelt worden sind, um uns hier in Zürich die Wähen zu zerhauen und uns mit Mistgabein zu erleuchten! Ich bin da von Oberstraßz her in ganze Rester solcher Gesellen getreten, daß es mich an allen Ecken und Enden beißt. Und alle Fingerslang stößt man auf Mucker und Zöpfe, die im Saft stehen und mit dem weißen Bändel am Lirm als Hüter des Glaubens und der Gesetze her-umstolzieren. Aber von den unsrigen scheint Nieniand zur Hand, dem Wesen Widerstand zu leisten.Sie sind der erste und einzige, den ich in Waffen erblicke.“
Leuthy blähte die Rasenlöcher.
Ich würde gern einem Heer geübter Söldlinge trohen! Aber es ist bitter, so allein zu stehen!“
Kellers Gesicht verwölkte sich. Er konnte alles Aufblasen und Aufspielen in den Tod nicht leiden.
186*[]Ich will jetzz“, murrke er unwirsch, ins Litergire hinüber und sehen, was los ist. Es werden sich schon noch Leute finden, die ohne Aufhebens und ohne * Maul zu verreißen, gewillt sind, zum Rechten zu ehen!“
Ja“, pflichtete Leuthy bei, indem er die eine Hand auf den Säbelgriff, die andere auf die Pistole pflanzte, kun Sie das! Es ist schön, wenn der Vich.ter“ er nahm die Hand vom Pistolengriff und legke sie auf die Brust tund der Maler miteinander für die Freiheit fechten.“
Jetzt brach bei Keller die Zornflamme durch's Dach, da ihm Leuthy so wie so gegen den Strich ging:
Sie sind gar kein Dichter! Sie sind nur ein Versbrünzler!“ rief er und schnurrle nach dem Cafe litéraire ab.b
184 []XIII.
Schon halb acht trat der Regierungsrak zu einer zweiten Sitzung zusammen, um den bei Hirzel ein-geholten Bescheid zu erwägen. Es war ein trübseliges Sitzen. Die Mehrzahl fürchtete, noch vor Abend Amt und Würde einzubüßen.
VNoch schlimmer war den Herren des Glaubens-komites zu Mute, die gleichzeitig wie die Regierung berieten, nur wenige hundert Schrikte entfernt und durch die Limmat von ihr getrennt. Am vorhergehenden Vachmittag hatken sie am nämlichen Orke,im Zunfthaus zu Zimmerleuten, Sitzung gehalten und sich beim Abschled vergnüglich und zukunftsicher die Hände gerieben, weil sich d die Wage immer mehr zu ihren Gunsten neigte. Jetzt saßen sie da, wie wenn sie des Herrgotts IIl verschüttet hätten.Wenn die Regierung den Pfarrer von Pfäffikon dahin wünschte, wo der Pfeffer wächst, so wünschten ihn die frommen Herren kurzer Hand zum Teufel.Die Regierungsräke konnten ihre Sessel verlieren;den Mitgliedern des Glaubenskomites winklte nach dem Mißlingen des Unternehmens das Zuchthaus.
Da sie Hirzel weder abschütkeln noch heimschicken konnten, so griffen sie ihm unter die Arme, um ihn und sich herauszureißen. Sie jagten Sendboten durchs Land, einen nach dem andern. Einige der Herren fuhren selber den See hinauf, um die Uferbewohner zum Miltun zu bewegen, namentlich die ungeberdigen und auflüpfischen Mannen des rechten Strandes, mit denen nicht zu spassen war, weil sie als Rebbauern Wein und Mark in den Knochen
18t.[]und mehr Haar auf den Zähnen halten als die Hun-gerschlucker vom Hinterland.
Das Winon jedoch, was oson entschieden hätte, brachten sie allen Bitlken und Anläufen zum Trotz nicht zustande: sie gewannen die Stadt Zürich nicht zum sofortigen katsächlichen Anschluß an die Revolution.
Das hing am Stadlpräsidenten, dem Obersten Eduard Ziegler, einem aufrechten Wann, der übri-gens dreiundeinhalbes Jahrzehnt später eine seiner Töchter an Conrad Ferdinand Meyer verheiralete.Jede halbe Stunde pochte ein Mitglied des Glaubenskomites bei ihm an; denn von Zimmerleuten bis zum Stadthaus ist kein weiter Weg. Alle zogen sie mit langer Nase ab. Als schließlich auch der Dokktor Rahn vorsprach, sah ihn das schlanke, entschiedene Stadthaupt sehr ernst aus seinen großen,Farer Augen an und sagte, Wort für Work beonend:Muß ich es also auch Ihnen noch einmal auseinanderlegen? Die Radikalen und ihre Regierung erst recht sind mir gründlich zuwider, und ich habe von ihnen genug bis da hinauf.“ Er fuhr mit der Hand über den Hals. Aber das Erste, Herr Doktor, ist das Recht und das Gesetz. Die Bürgerwache zählt jetzt rund vierhundert Köpfe, und ich habe für sie, was Sie wahrscheinlich noch gar nicht wissen, von der Regierung jetzk Gewehre und Muniltion erhal-ten. Geb ich Befehl zum Losschlagen, so ist der ganze Handel in einer halben Stunde sauber und glatt erledigt; ich weiß es ganz genau. Aber das ist nicht meine Aufgabe. Meine Aufgabe ist, die Gemeinde, deren Präsident ich bin, vor Schaden zu behüten. Solange die Bauern nichts kun, als daß sie die Regierung über den Haufen werfen, die selber gewollt und gewählt haben, solange erwächst kein Schaden, wenigstens voraussichtlich nicht.Würde ich jetzt schon eingreifen, so würöe man über 186 []Parteilichkeit 538 Mit dem Augenblick, wo Gefahr und Schaden drohen, lasse ich Siurm läuken.Vorher nicht.“
Während unken an der Limmat die radikalen wie die gottesfürchtigen Lenker auf Kohlen saßen, wurde oben am Zürichberg auch dem Führer der ländlichen Heerscharen allmählich schwül und ungemütlich. Das Warten, Herumstehen und Herumlungern langweilte die ohnehin infolge der schlaflosen Nacht nicht zum besten Gelaunten. Die aus der Stadt Zurückgekehr-ten, von denen etliche merklich Öl an der Hulschnur hatten, fanden es drunten lustiger und unterhalten-der und begehrten wieder hinunker. Es zischte, es gurgelte. Vorwärkts!“ hießßz es. „Wir haben end-lich genug gewartet!“ Schon drückten sich hier und dort Einzelne und nahmen den Heimweg unter die Füße. Und eine Hanövoll Leute rotkteten sich ungescheut zusammen und rissen aus.
Nun befahl Hirzel den Abmarsch. Es handle sich darum, ließ er vernehmen, sich auf einem öffent-lichen Platz der Skadt zu' lagern, um den Maßnah-men der Feinde und Freunde näher zu sein uno eine Deputation an die Regierung zu schicken.
Jetzt muß mit Entschlossenheit gehandelt werden!“ rief er.
Von ihm geführk, marschierte der anderthalb-tausend Mann starke Haufe zu vieren, voran fünf Glieder Scharfschützen, dann etwa hundert mit Infanteriegewehren und Jagdflinten. Die andern schulterlen was sie halten, Slöcke und Bengel; einzelne trugen Hauen und Kärste, Bickel, Heugabeln und Mütgabeln, Heurupfer, an Stangen gebundene Sen5 und üxte, mit Rägeln beschlagene Trauben-tößel und sogar einzelne Unteroffizierskurzgewehre aus dem verflossenen Jahrhundert.
So gespickt und bewehrt rutschte der Tahelwurm das gröbgepflasterte Halseisen hinab, wie damals 187 []die Künstlergasse hießz, und krampelte von da in den Neumarkt. Hier stimmte er Gellerks Lied an:Das ist der Tag, den Gott gemacht,Sein werd in aller Welt gedacht!
Dann wälzte er sich aus dem Rindermarkt in die Warklgasse. Triumphierend schritt Hirzel ein-her. Es winkte und grüßke lachend und verwundert aus manchem Fenster. Hoch andere klirrten zu, und gedrückt und zornig schüttelten die dahinter Stehenden den Kopf daruber, daß diese armseligen Tröpfe wintzmer Skadt wie Zürich heute Meister sein ollten.
Am Ausgang der Wardktgasse stand Doklor Rahn wartend mit einem ergrautken Herrn, der sich so sech hielt, als hätte er einen Rebstecken verschluckt. Auf einen Wink Rahns gebot Hirzel Halt,worauf ihm der Aufrechte als ein Zürcher vorgestellt wurde, der jahrelang unter fremden Fahnen Aden vordern Teil über die Rathausbrüche und dann durch die Storchengasse auf den Fraumünfsterhof zu führen, den hintern aber über die Fraumunfterbrücke, so daß der Gegner genstigt fei fich an zwei Einbruchstellen zur Wehr zu sehen. Die Absicht war nämlich, über den Fraumünsterhof vorzustoßen und die dahinter gelegenen Zeughäuser zu nehmen, um dort die Hand über Waffen und Schießbedarf zu schlagen. Zugleich wollle man vor das nahegelegene Posthaus ziehen und der daselbst sihenden Regierung mit Gebrüll, Bengeln und Knütkeln die Wünsche des Volkes verdeuklichen. Da an Stelle der heutigen Bahnhofstraße noch ein tiefer Wassergraben fich hin zog, der Fröschengraben, den man auf den Gee hinaus und umgekehrk mit Kähnen befuhr, und nur ein schmaler Hölzsteg unweit dem heutigen Bahnhof einen Flußübergang erlaubke, außer den beiden 188 []Brücken, so war eine von Norden anrückende Truppe auf diese angewiesen.
Schulbuben und Schulmädchen, Köchinnen und Hausfrauen mit gefülltlten Gemüsekörben am Arm,Lehrlinge und Metzgerknechte, Marktweiber und alte Schöppleinstecher, die aus ihren Spelunken angewatschell kamen, begafften die Heerschar und den ülustren Kriegsrat beim Rathaus, wo die faltige Kriegsgurgel dem Doktor Rahn und Hirzel, der niemals weder einen Säbel noch ein Gewehr in den Händen gehabt, die militärische Weisheit eingeistete.Selbst ein Polizist von der nahen Hauptwache machte sich herzu und spitzte die Ohren. Indessen sangen die Kreuzfahrer den Choral:Gott ist mein Lied,Er ist ein Gott der Stärke.“Nun marschierke, während der Gesang in den Gassen aufquoll, Hirzel mit seiner Abkeilung auf die Rakhausbrücke vor, vermochte jedoch nur langsam durch das Marktgewühl und die Neugierigen durch-zubohren. Er selbst ging zwischen den Scharfschühzen und den übrigen Gewehrkragenden. Drüben auf dem Weinplatz stellte sich ein älterer Mn den niemand kannte, bekleidet mit der frühern hellblauen Uniform der Zürcher Truppen, den Degen in der Hand, neben das erste Glied der Scharfschüthen und blieb an diesem Ort bis auf den Fraumünsterhof.
Inzwischen begann die hintere Abteilung, Doktor Rahn an der Spitze, den Quai aufwärts zu ziehen.Dazu sang sie das fromme Lied:Kein Sperling, Herr, fällt ohne deinen Willen.“So nahten sie der Münsterbrücke, als Hirzel mit den Vordersten schon in der Storchengasse stak, die dem Fraumünsterhof zustrebt.
Seine Nachhut, die beinahe noch völlig die Rathausbrücke füllte, da die Vordern in der engen Gasse
9 []teilweise die Glieder brechen mußlen, begannen den zweiundzwanzigsten Psalm:Viel Ochsen jung und stark mich gar umringen,Die Ochsen fett von Basan auf mich dringen,Ob sie mich fressen möchten und verschlingen Ganz jämmerlich.Und wie ein Leu, reißend und hungerich,Vach einem Raub tul brüllen grimmiglich Also sie auch erschrecklich über mich Aufkun den Rachen.Die Tränen mich wie Wasser rinnend machen,MWeine Gelenk mir gar zerdehnet krachen,Wie Wachs mir tut zerschmelzen und verschmachten Mein Herz zaghaft.Kaum hatten sie geendet, so schwamm von der Münsterbrücke, gleichfalls in der damals noch nicht erloschenen Lobwasserschen Bearbeitung, der fech zigste Psalm auf den Wassern herunter
Die Woabiter über das
Ih halten will gleich einem Faß,Darinnen ich wäsch meine Füß,Des bin ich sicher und gewüß.
Und, wie ich gänzlich hoöffen tu,
Auf Edom werfen meine Schuh:Tuk ihr Philister jubilieren,
Denn ich werd herrlich triumphieren.
Darauf legte sich die Rathausbrücke wieder klangvoll ins e und zwar mit dem achtundsechzigsten Psalm:Verlilg die Rott der Ochsen Ausrolt der starken Kalbern Schar,Die Dir, Herr, widerstreben:
All die Aufrührer unkerdruck,Damit man sich nur vor Dir buck Und Dir Tribüt tut geben!190 []Josug Schnurrenberger, der als Flügelmann rechts als eines der hintersten Glieder in Hirzels Zug marschierle, wurde, vor Beginn dieses Gesanges,nachdem er an den Gebirgen von Kohl, weißem und rotem Kabis, an den Vorgebirgen von Pflaumen,Birnen, Tomaken und Zwekschgen und an den Hügeln der Zwiebeln, des Lauchs und der Pelersilie gleichgültig nodereheet von den lecker leuchkenden, duftigen Biberfladen eines Appenzellers ange-mutet, der, eine Chinesernelke hinter dem Ohr, im schwarzen Lederkäppchen, rotlen Rock, Kniehosen hervorlächelte. Sehnlicher ergriffen ihn, gerade in dem Augenblick, wo der Psalmist seine Zornworte gegen die Ochsen und Kälber schleuderte, die geräucherlen Rindszungen einer Metzgermarktauslage,die saftigen Schinken, die sauber Fspasien Kutkeln,die verkträumten Schweinsfüße, die wohlgestalten Schüblinge, die schlangenglatten Brakwürste und die gepreßten schwärzlichen Landjäger. Noch mehr aber fing ihn der Anblick des letzten Verkaufsstandes ein,wo zwischen fetten Butterbällchen die grünlichen Schabziegerstöcke ihren Kräuteratem ausstießen und ein halbmannshoher angeschnittener Emmentaler-keäse in den kleinen Löchern die würzige Feuchte erglänzen ließ wie Tau im Blumenkelch. Eben wog der Händler, eine weiße Schürze umgebunden, einem Käufer auf der blanken Messingwageé ein ordenkliches Sltück vor. Josua nahm mit den Augen noch einen Mund voll und zog dann weiter zu Kampf und Sieg.
Abermals schwoll denen auf der Zunsterbruce das Liederherz, und der leichte Föhn trug den zweiundneunzigsten Psalm flußniederwärts:Mein Haupt wird man mir schmieren,Lieblich mit frischem Ol,
Dann ob den Feinden soll
Mein Aug recht kriumphieren.102*[]Es werden meine Ohren Von denen, die mir Feind Und stets zuwider sind,Lustige Zeitung hören.
Jetzt schütterte das Sturmgeläute der Gemeinde Neumünster herein. Es forderte die Hilfe der Seeanwohner, die Hilfe für die Aufrührer.
Hirzels Leute wollen aus der Storchengasse auf den 3 hinaus; doch ein paar Dutzend Dragoner sperren ihn ab.
Zurück!“ ruft drohend ihr Kommandant, Wajor Ubel, ein schöner, rillerlicher Mann. Der Platz soll frei bleiben!“
Murren, Flüche und Zornrufe züngeln. Die Hintern drücken und drängen und rufen Vorwärks!“Die Vordersten legen die Stutzer auf die linke Hand und spannen den Hahn.
Hirzel springt vor die Scharfschützen und breitet beschwörend die Hände aus: Schießt nicht! schießt nicht, bevor zwei von uns am Böen liegen!“
Die Dragoner stemmen die Pferde gegen die gestaute und vorgewölbte Masse. Zornige Schelte und Schimpfwörter brodeln. Schon odroht mehr als ein Stutzer im Anschlag, und die Zeigefinger sfuchen den Stecher.
Hirzel wendet sich an Major Übel:
„Wir kommen aus keinem andern Grunde, als um unsre friedlichen Verhandlungen mit der Regierung fortzusetzen. Ich beschwöre Sie, beginnen Sie keinen Bürgerkrieg!“
Die Faust mit dem Säbel aut dem Sattel, reckte sich UÜbel noch aufrechter empor, bog den Kopf etwas zurück, zog die Mundwinkel herunker und wärf, ohne ein Wort zu äußern, Hirzel einen unsagbaren Biick zu. Dann sab er mit hochgezogenen Brauen in die Storchengafse, wo hinker hundert Gewehrläufen ein 92 []Wald von Prügeln starrte und ein Wetkerdunst von Flüchen schwelle.
Zurück!“ forderte er nochmals. Brachen die Landstürmer durch, so war er mit seinen Dragonern verloren, die überdies höchstens mit flacher Klinge schlagen sollten, und mußte sich vor der fünfzigfachen UÜbermacht auf eine der beiden kleinen Infanterie-abteilungen zurückziehen, welche die Zygange zu den Zeughäusern abriegelten, die eine, in dünner Posten-kelte, auf dem Fraumünsterhof, die andere drüben am Ende der Poststraße den rückwärtigen, vom Paradeplatz herführenden. Über weitere Waffentragende verfügte die Regierung nicht, da das geplante Freiwilligenkorps nichtf zustande gekommen war.
Ein Dragoner versuchte, dicht an ihn heranrei-kend, den vorgetretenen Hirzel zurückzudrängen. Ein halbes Dutzend Schüsse krachten gegen den Reiter,gingen aber alle zu hoch, weil sie über die Köpfe der Vordersten weggefeuert waren. Das Pferd stieg,stürzte und begrub den Mann unter sich.
Nun denn, in Gottes Namen vorwärks!“ kom-mandirt Hirzel. Der Strom braust auf den FrauA und schwemmt die Dragoner wie Hölzchen vor sich her. Der unwiderstehliche Stoß treibt Major UÜbel bis zur Fraumünsterkirche hinüber, wo der Bürgermeister Hans Waldmann begraben liegt, dem dreiundeinhalb Jahrhunderte früher ein Inan der Dger und Bauern den Kopf vor die Füße gelegt atte.
Eben flutet die Kolonne Rahn heran, die sich den Zugang von der Wünsterbrücke her erzwungen halt,und drückt in die Poststraße, die Dragoner vor sich hertreibend.
Hirzel schwenkt, ohne auf weitern Widerstand zu stoßen, gegen die Waggasse und damit gegen das daran liegende wichtigste zeghang Die schwache Infanteriekette hat 8 in die Zäuser geworfen, die den Eingang der Waggasse flankieren.13 Frey, Bernhard Hirzel
193 []Plötzlich speien die Jalousieläden dieser Häuser Feuer und Räuch, und eine Salve kracht. Links und rechts schlagen Leute hin und wälzen sich im Blut.
Einen Augenblick steht Hirzel kötlich erschreckt und betäubt. Er sieht die armen Gesellen sich im Blut winden, hört sie stöhnen. So wenig wie seine Leute halte er damit gerechnet, daß die Regierung der Gewalt Gewalt entgegensehen werde.
Er erlangte seine Fassung einigermaßen wieder,als er mit den Seinigen auf dem andern Limmatufer stang wohin der ganze Haufe über die I rücke geflohen war. Es zeigte sich kein Verfolger,und so verlangsamte sich der wirre Zug allmählich.Wie erwachend fuhr er sich über die Stirn und begann seinen Leuten zuzureden, sie zum Stehen und einigermaßen in Ordnung zu bringen.
Nur ungefähr zwei Minuten später halte die Kolonne Rahn ein ähnliches Geschick ereilt. Zuversicht-lich war sie, da sie, einmal am Fraumünster vorüber,weder sehen noch hören konnke, was sich auf dem Fraumünsterhof zutrug, durch die Poststraße gegen die am Ausgang zum Paradeplatz aufgestellten Soldaten zugetobt und wollten eben, das Halt! und Zurück! der Offiziere mißachtend, auf sie losbengeln.
Da krachte eine Salve, und ein Dutzend stürzte.
Eine Sekunde oder zwei standen sie versteinert.Dann machten sie ebenfalls kehrt, warfen die Waffen weg und rasten davon. Eben rillen ein paar Dragoner auf sie ein, freilich ohne einzuhauen.
Die Donnerhageln 2 ja! Das haben wir beim Eid nicht gemeint!“ schrieen sie und stürmten ebenfalls über die Münsterbrücke zurück.
Als sich der 8 vor dem Peloton auf-zog und die Flucht der Bauern begann, eille Regierungsrat Hegelschwiler, der, aus dem Sitzungszimmer seiner Kollegen heruntergekommen, bis jetzt unter der Türe der Post, ohne elwas Ernstliches oder Blutiges 1904 []zu befürchten, in das gefährliche Treiben geblickt hatte, die Treppe hinauf, ergriff den auf dem Regierungstisch liegenden Vesth zum Feucreinstellen,den keiner seiner Amtsgenossen und kein Angestellter herunterzutragen den Mut gefunden, ranntke damit treppab, ließ 9 das ae geschlossene Posttor öffnen, warf sich ins Gewühl, lief, das Papier hoch in der Rechten schwingend, einem Dragoneroffizier zu, händigte es ihm mit der Bitte ein, es weiter zu leiten, und ging zurück. Noch ehe er die schützende Posttüre erreichte, krachte ein Schuß aus dem Haufen der Fliehenden und tkraf ihn in den Kopf, sodaß er hinstürzte. Das bleiche, blutige Gesicht des ins Haus Geltragenen verschatkete ein schmerzlicher Zug,als wollte er klagen: wie viel glücklicher hätte ich ge-lebt, wäre ich, meiner eigensten Nakur und Ark getreu, bei meinen Kranken und bei meinen Blumen geblieben, während ich, ein schwanker Wohlwollen-d im Getriebe der Politik mich selbst wie oft verlor!
Der kückische, sinnlose Schuß, der letzte des sechs-ten Septembers, drückte dem gemeinen Tag das Siegel auf.
Hirzel drang und sprach eben auf seine Leute ein,den Einen, der davon wollte, am Armel, einen andern am langen Zwilchrockzipfel erwischend, als die erschreckten Rotten Rahns über die Münsterbrücke zurückstürmten und nun sofnet seine schwanken Getreuen auf dem schmalen Ufer in ihre verzweifelte Flucht mitrissen, sodaß der schwerfällige, mgefug daherschollernde Klumpen Niederlage, Furcht un Schrecken erst draußen in Stadelhofen zum Stehen gelangte. Die beiden Führer en die Köpfe hangen, besonders Hirzel, bei dem sich die ungeschla-fene Nacht geltend machte. Der Wunsch kam ihn an,eine Kugel möchte ihn erreicht haben, oder er könnte auf einem der Warttschiffe sitzen, die seeaufwärts eilten, und in irgend eine Stille untertauchen, wo er
178 []von allem nichts wüßzle. Nur Hürlimann-Landis, der wie andere Mitglieder des Glaubenskomitees sich eingefunden, blied zuversichtlich und flößle den andern Mut ein:
Woas ist denn weiter? Wir haben ein Schläpplein erlisten oder zwei! weiter nichts! Die Radikalen sind doch am Boden, und die Regierung hat keine Trümpfe mehr! Drum wagl sie auch keine Verfol-gung. Wartet nur, bis die Seebuben kommen und die Sache in ihre rauhen Hände nehmen!“
Er hatte kaum geendet, so erdröhnte der fürstliche Alt des Großmünsters; Sankt Peter, Fraumünster und Prediger fielen ein. Kein Kirchlein im Lande war so klein, es nahm den Schall auf und schwang ihn weiter. Die Glockenbrandung überschäumte das ganze Zürichbiet. Sie ktriumphierte: die Stadt hat sich duf die Seite der Revolution geschlagen!Städtpräsident Eduard ieger halte das Zeichen zum Läuten erteilt. Der Augenblick hatte gebracht,was er erwarktet und abgewartet: die Regierung war gestürzt und abgetreten. Ohne förmlich abzudanken,ohne sich eigentlich aufzulssen, war sie unrühmlich auseinandergegangen.
Im schwarzen Frack, den Militärhut auf dem Kopf, den Degen umgegürtet, kam der Sladtpräsi-dent vom Stadthaus hetgeschritten, hinter ihm der Kommandant der Bürgerwache und dann unter Trommelschlag diese selbst, meistens ältere Herren,von denen man mehr als einem ansah, daß er unter fremden Fahnen zweierlei Tuch gekragen. Sie marschierlen in festem, leichtem Taktschritt, der anmukend abstach gegen das Herdentiergetrampel der Landstürmer. Da und dort stießen neue Trüpplein herzu,die von ihren Standorten herkamen. Mancher su um ein Dutzend Jahre jünger und beinahe glücklich aus wie im Gedenken an holde Jugendliebe. Denn die Waffe verjüngt den MWann, der einst unter 106 []Fahnen ging, mehr als die Träume ewigen Wellkfriedens.
Die an Zahl überhaupt schwachen Regierungs-truppen splitterten rasch ab und verschwanden. Vach-dem die Regierung sich aufgegeben, blieb ihnen bloß noch, sich vor der bestimmt zu gewärligenden Wieder-kehr der Landstürmer in Sicherheit a bringen.
Bevor die Zürcher den Löffel in die schnittlauch-bestreute Fleischsuppe kauchten und das einiger-maßen sturmgektäuselte Gemüt am gesottenen Rind-fleisch nebst Beilagen beruhigten, genossen die Genugtuung, wieder eine Regierung über sich zu wissen, wenigstens eine provisorische. Das dankken sie Eduard Ziegler, der, ein abgesagter Feind alles Ungeordneten und Ungesetzlichen, mit einem Kreis Verkrauter das dere sofort einrenkle.
Die Ursächer und Bannerkräger der Insurreklion richteten sich auf und jubelten. Her Sieg war gewiß und weitere Gesahr ausgeschlossen. Noch eben hatten sie geglaubt, die Faust des Staatsanwalts im Racken zu spüren. Jetzt fühlten sie freudig die Hand des Herrn, die nach kurzer, harker Prüfung den Sieg der guten Sache herbeigeführt und das Regimenk der Gotlklosen zerkrümmert haktte.
Aus lähmendem Schreck und dumpfer Bekäubung sah sich Hirzel emporgerissen in die Gloriole des Gotlesstreiters und Führers, den der Herr durch den Ausgang des Kampfes als seinen Auserwählken vor allen andern bezeichnete.
Wenn ich nicht“, sagte er sich, am Glockenstrang hätte reißen lassen, so stände das Reich der Radikalen noch in voller Blüte.“
Neue Landstürmerhaufen strömten heran, zuerst die zunächst Wohnenden, die vom rechten Seeufer,von Zollikon, Küßnacht, Erlenbach, Herrliberg, besser bewaffnet und bekleidet als die armen Oberländer,aber auch rabiater und aufgelegt, alles Radikale radikal kurz und klein zu schlagen, ergrimmt über 9 []Hegelschwilers Ende, das sie jetzk erfuhren. Viele von ihnen hatten den freundlichen und vielbegehrken Arzt gekannt, der stundenweit seeab Trost und Hilfe in manches Haus gebracht, ehe sich die Regierungsfrohn seiner bemächtigte. Mit Stolz rech-neten die rauhkantigen Seebuben den liebenswürdigen Mann, obgleich er aus anderm Kantonsteil stammkte, zu den Ihrigen. Er war der Wagistrat nach dem Herzen des Volkes: wohlwollend und gut-mütig, leutselig und würdig zugleich, wohlredend, aus Wallungen und Stimmungen die Gesetze ofkmals lässig handhabend, heute ein Auge zudrückend, mor-gen das andere, dabei immer erfüllt und geleitet von einem leichtherzigen Optimismus, der eigentlch Ij staatsmännische Fähigkeit und Festigkeit ausschloß und ihm die ee schon gründlich verleidet halte, so daß er enischlossen war, sie abzuwerfen, ehe der Tod sie ihm abwälzte.
Daß die Radikalen diesen Mann, wie allgemein die Rede ging, hinterrücks erschossen hatten, das wollken ihnen die vom See her eben angerückten Landstürmer nach Noten heimzahlen, so daß die Herren vom Glaubenskomitee da und dork begüligend und abwehrend zuspringen mußtken. Auch sonst verursachten die Gäste, deren Zuwandern und Zureisen bis in die Vachk hinein andauerte, allerhand Sor-gen, zumal ihre Zahl ungefähr die eines Drittels aller Stadteinwohner erreichte. Da sie keinen Feind in die Flucht zu schlagen fanden, so marschierten sie in den Sosen herum, sangen und krommellten und reckten drohend und schimpfend die Fäuste gegen die Behausungen radikaler Häuptlinge, ohne freilich eine einzige Scheibe zu zertrümmern oder ein Stück Brot sich unrechtmäßig anzueignen. Am liebsten hälle man sie umgedreht und mit oder ohne Bibelspruch in die ländlichen Gefilde zurückbefördert, nachdem man ihr Erscheinen als Zeugnis für den Anhang der Gut-gesinnten im Kanton gebucht hakte.
98 []Selbstbewußter und langsamer als sonst schrilt Hirzel einher. Alte Herren lüpften ehrerbietig die Hüte vor ihm. Mancher bot ihm die Hand, der früher sord oder gleichgültig an ihm vorübergegangen war.nd es kat ihm unendlich wohl, wie es allenthalben tuschelnd hinter ihm hirzelte. Jetzt endlich bedeukete er etwas in seiner Vakerstadt!
Freilich unterm elterlichen Dach, wo er zu Mittag aß, wehte noch die Luft von ehedem. Die völlig unterdrückte Muklter strahlte still im Erfolg und Ruhm des Sohnes. Der Valter meinte:
Es ist ewig recht, daß die kaiben Straußen und Radikalen dem Teufel zu sind. Aber was die Steuern anbelangt und alles, was ae einem sonst abzwacken, wollte ich, glaub ich, zwischen ihnen und den Neuen, die jetzt obenauf kommen, nicht die Hand umdrehen. Ubrigens wird es sich noch fragen, ob das nicht noch Prozesse und Scherereien abseht wegen der Pfäffiker Lauspelze, denen heut vormittag eins aufgebrannt wurde. Das sag ich dir gleich, damit du es weißt und ad notam nimmst: wenn du sr die Kerle, für die es sicher kein Schade ist, etwa blechen mußt, auf mich rechne keinenfalls! Ich habe mich nicht mein Lebtag abgerackert, um für Toren-bubereien aufzukommen!“
Der Sohn leerte sein Glas, um den bitker nöligen Schlaf zu suchen. Nach ein paar Stunden erhob er sich gekräftigl und ausgeglichen und machte sich auf den Weg zu Freund Bluntschli, dessen Urteile und Ausblicke er hoch anschlug, weil sie aus einer Kennknis der Dinge und der nunmehr maßgebenden Per-sonen e die wenige besaßen, abgesehen davon, daß er eben selbst eine gewichtige Stimme ein-zuwerfen hatte.
Er schellle und warkete vor dem Haus zum Skein-böckli an der Schipfe, wo Bluntschli unker dem glei-chen Dache mit feinem Vater wohnte, den die Zürcher um seines Gewerbes willen er war Kerzen10090 []zieher den Vater der Lichter nannken. Da schwenkte der Gesuchte unvermutet um eine nahe Ecke, die weiße Binde der Bürgerwache am Arm und einen Degen umgeschnallt, einen leibhaftigen Degen, den ersten seines Lebens, den er ungefähr so trug, wie einer die erste Zigarre im Mund hält.
Also auch Du an unserm schönen Tage unkter den Waffen!“ rief Hirzel pastorlich anerkennend und schüttelte ihm die Hand.
Ja“, erwiderte Blunlschli halb verdrießlich, ‚und zwar dank deinen ländlichen Fußkroaten und unberillenen Panduren.“
‚Wie soll ich das verstehen?“ frug Hirzel etwas betreken.
Sehr einfach. Die Offiziere der Bürgerwache,die ohne Augenzwinkern tambour battant ins Feuer gehen würden manche unler ihnen haben früher ordentlich Pulverdampf gerochen weigern sich durchs Band weg, eure Landstürmer einzukeilen und zu den Unterkunftsräumen zu führen. Ihr Verlangen,erklären sie sehr unverhohlen, stehe durchaus nicht darnach, solches Volk zu befehligen, das nicht viel mehr sei als Gesindel. Was wollte man da anfangen?Es blieb dem Stadtpräsidenten nichts übrig, als auf uns arme Zivilisten zu greifen. So bin ich von einer Sekunde zur andern Kasernenkommandant geworden. Bis morgen A wo ihr hoffentlich den Staub von den Füßen schütkeln werdet, liluliert man mich Herr Oberst, und ich habe allerhöchstens vierhundert Landstürmer und allermindestens vierkausend Flöhe unter mir.“
Droben in seinem Studierzimmer, wo die Ordnung sich förmlich brüstete auf Schreibtisch und Vhertelleg brach Hirzel, während sein Freund etwas umständlich sich der Waffe entledigte, in gereizte Klagen aus:
Es ist mir tiefschmerzlich, dich an diesem erhebenöen Tage auf der Bank der Spölter zu sehen! Und 20
VX[]mit wem zusammen? Mit aufgeblasenen, insipiden Kriegsknechten, die über unser frommes Volk die Nase rümpfen und schlechte Witze reißen. Wie magst du mit diesen eingebildeten Säbelraßlern ins gleiche Horn soeßen Du vergißt, daß dies fromme Volk es ist, das auch dir die Türe auftut zu den höchsten Amtern unsrer Republik.“
Er streckte prophetisch die Hand aus:
Es hat die radikalen Göten in den Staub gestrecktt Niemand anders! O wie recht hat doch der Dichter, wenn er singt:Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen Und das Erhabne in den Staub zu ziehn.“Bluntschli machte ein spöttisches Gesicht:
Wer deine Oberländer Heerscharen gesehen und gerochen hat und das blüht mir gegenwartg reichuch in der Kaserne der wird die erlesenen Dichter-worte doch lieber auf elwas anderes beziehen. Aber im Ernst: die Verdienste des Landsturms werden nicht vergessen werden, so wenig wie die deinigen,obgleich ich mit andern die Bemerkung nicht unter-drůcken möchte, du hätkest besser getan, meine Zusprüche zu Geduld und Vorsicht mehr zu beherzigen.Gelt, du verübelst mir das nicht, so wenig wie wenn ich dich jetzt bitte, mich zu entschuldigen. Wir haben ja bald wieder Gelegenheit zum Plaudern. Jetzt aber muß ich unverzüglich für die Allgemeine Augsburerin ein paar Zeilen über den heutigen Tag zu
Soe bringen, sonst wird es für die Post zu spät.Die Redaktion würde es mir nicht verzeihen, wenn ich, nachdem ich nun fast sechs Jahre als ihr Korrespondent geamtet, über das heute Vorgefallene nicht rechtzestig Meldung käte, sodaß sie die Dinge von anderer Seite erführe.“
Hirzel verabschiedete sich rasch und gern. Wenn irgeñdwoher, haite er aus dem Munde des Freundes
20
*[]Lob erhofft. Daß es ausblieb, dünkte ihn Unrecht und Undank zugleich, weil es unkter Wissenden für ausgemacht galt, daß Bluntschli nunmehr in die Regierung eintreten und somit den bis jetzt innegehabten Einfluß vor allem Volke tragen und betätigen werde.
Es trieb ihn auf die dag und unter die Leute,sich am heuktigen fogede aben und sich in der von ihm herbeigeführten Wende der Dinge zu spiegeln,die des Staates und, wie er fühlte, auch seine Gestirne verrückte.
Es lärmke, trommelte und krampelte allerorken.Wie er beim Zeughaus anlangte, dessen Einnahme ihm heute versagt geblieben war, schlurfte eben ein Landstürmerhaufen daher, den der führende Offizier,nachdem er halt geboten, nicht ohne Mühe auf zwei Glieder aufstellte. Sie lieferten dem Zeugwart ihre Prügel und Bengel und sonstigen Waffen ab und empfingen dafür jeder ein Gewehr und ein halbes en 3 die sie mangels einer Patron-tasche im Hosensack oder in der Rocktasche versorgken.Bajonetlte händigte man ihnen nicht ein, damu sie sich nicht gegenseitig anspießten, was bei der Wasen unverkrautheil und der Weinlaune mancher nicht so gar abseits lag. Bewaffnet wurden sie aber infolge des hartnäckigen, doch völlig grundlosen Gerüchtes,daß eine Roktke radikaler Freiwilliger oder so eiwas von Westen heranrücke, von der sich die Strakegen des Glaubenskomitees nicht überrumpeln laffen wollten.
WMan erhob sich am väterlichen Tisch eben vom Vachtessen, als Doktor Rahn hereinkrat und sich von Hirzel einen kleinen Dienst erbat.
Herr Pfarrer, ungefähr dreihundert Land-stürmer sind in der Predigerkirche unkergebracht,annähernd eben so viele im Sankt Peter und eine beträchtlichere Zahl je im Fraumünster und Groß-münster, der Rest, über kausend, in Privatquat-tieren. Nun hat man, weil das Volk das heftig 2 2142 []forderte, die Gefallenen vom Spital in die Predigerkirche hinübergeschafft. Und jetzt komme ich mit meinem Anliegen, nämlich: Sie möchten an die Toten und Lebendigen daselbst ein paar Worte richten, und zwar gleich jetzt. Denn morgen wird schwerlich mehr Zeit dazu bleiben, weil man, sofern sich kein Feind mehr zeigt ich glaube ganz und gar nicht, daß auch nur ein feindliches Bein zum Vorschein kommt , frühzeitig mit der Rückgabe der Gewehre und dem Heimmärsch beginnen will.“
Durch die engen Gassen wandernd, in die ein beruhigter Sternenhimmel niederschien, erreichten sie bald die Predigerkirche. Davor standen bei den zu-sammengestellten Gewehren zwei Schildwachen,während Wilhelm Meyer-Ott, der das Kommando über die in der Kirche nächtigenden Landstürmer führke, nachdenklich und müde hin und her schritt.Jeht aber kehrten alle drei die lächerigen Gesichter einem jungen Sprenzel von Kaminfeger zu, der,verbeiständet von einer ältlichen, elwas hexenhaften Jungfer, die ein Laternchen krug, an das vorspringende Portal eine Leiter anstellte, um eine Katze herunterzuholen, die, von einem der dicht an der kirche stehenden Bäume auf ihr Dach gesprungen,kläglich schrie, da sie nicht mehr hinab wußte.
Komm, liebes Wörli, komm!“ flötete die Jung-fer und hob das Laternchen in die Höhe, während der Kaminfeger die Hand nach dem Geschöpf auskrallte. Allein es schreckte vor dem schwarzen Retker zurück, so hold die Töne unten schmeichelten.
Die eine Schilöwache lachte: Die Katze ist beim Eid der Strauß, der auf kein Kirchendach hinauf-gehört! Und der Schwarze, der ihn holk, wie recht ünd billig, ist der Teufel!“
Jetzt erwischte der Kaminfeger, nachdem er sich eine Weile lauernd nicht gerührt, das Tier raschen Griffes und begann mit ihm die Leiter hinab zu turnen, sodaß die Jungfer über den glückhaften Um203 []rung der dng frohlockte wie eine aus dem egefeuer erlöste Seele. Doch plötzlich verdunkelken sich ihre 88 wieder. Schwere, beinahe randvolle Bottiche auf dem Rücken, stapften zwei stämmige Küfer daher, um aus dem Städlkeller, dem der stürmische sechste September annähernd hundert Saum, wenn auch nicht just die feinsten Sorken, abzapfte, den Landstürmern frische Tranksame zu bringen. Die dicken Lederschürzen schlugen bei jedem Schritt gegen die Küferbeine, was die geängstigte Katze von neuem erschreckte. Sie vermochte sich peamoen glitt jedoch, als der Kaminfeger sie wieder zu packen versuchte, von der Leiter ab und purzelte gerade in den Boltich des vordern Küfers, der eben die Hand ausstreckte, die Kirchentüre zu öffnen. Aalgleich schnellte das Tier aus dem Wein auf und schoß über den erstaunten Mann hinab und davon, worauf der Schwarze mit seiner Leiter und die Jungfer mit ihrem Lakernchen wie in den Orkus in ein Gäßchen einkauchten.
Potz vone lachte die Schildwache, die drinnen saufen das haargleich und noch so gern!“
‚Wie gehts drinnen?“ fragte Doktor Rahn seinen guten Bekannken MWeyer-Ott.
Sie sind alle voll', lautete die trockene Ankwortk.
Und der Gehorsam?“
ß bt übel! Die drinnen befehlen, und ich georche.“
Durch die offene Kirchentüre sahen sie, wie erst der eine Küfer, dann der andere sich seitwärts neigken und den Wein aus dem Bolktich in eine mächtige Tanse leerten, um die die Leute herumstanden.
Niemand nahm von den beiden eintretenden Herren Notiz. Denn es kobte eben ein hitziges Wortgefecht, welches das Rauschen und Brausen des von den Küfern eingeschütleten Weines nur für kurze Augenblicke unterbrach. Ein stämmiger, gebräunker 2134 []Seebube faustete gegen das andere Lager, Leute aus dem Wehntal:
Faule, unverschämte Hageln seid ihr, daß ihr's nur wißßzt! Als wir mit unsern Stuhzen und Gewehren angereist sind, da haben die Straußen den Schwanz eingezogen und sich gedrückt. Und wo wart ihr unterdessen? Daheim seid ihr gehockt und habt,wenn's hoch kam, angefangen, die Schuhe anzulegen.Aber jetzt, wo's zum Guthaben geht, da habt ihr per se die Schnörre vorne dran. Die eine Hälfte von euch ist voll, die andere halbvoll. Hingegen wir, die wir den Kopf herhielten, wir müssen Durst leiden,weil ihr alles wegsauft. Aber wir wollen uns das nicht gefallen lassen und euch schon noch die Küsse aus der Kappe schütteln!“
Zu saftiger Widerrede gerüstet, krat eben ein Wehntaler einen Schritt vor, als Doktor Rahn ver -nehmlich sich räusperke und sagte:
Gott grüß euch, christliche Irouder die Nächsien blicklen hin, ohne sich weiter an die Herren zu kehren.
Wir kommen vom Glaubenskomitee', ließ sich Doktor Rahn jetzt laut vernehmen.
Kappen und Hüte fuhren im Nu von den Schä-deln, und die in die Kirchenstühle Hingeflegelten erhoben sich wie am Schnürchen.
Wir haben“, ergriff Rahn wieder das Wort,einen schönen Tag erlebt, liebe Freunde. Die geechte Sache hat gesiegt; und diesen Sieg verdanken wir nächst Gott eurer Mannhafkigkeit und eurem christlichen Mute. Schön habt ihr diesen Tag begonnen und schön gedenkt ihr ihn zu endigen, wozu auch schon der Aufenthalt an heiliger Stätfke und die Rähe der für ihren Glauben Gefallenen ermahnen wong Ich denke, man wird es an Speise und Trank auch nicht haben mangeln lassen. Ganz gewiß ist,daß so wackere Streiter wie ihr immer das gehörige Maß beobachten, besonders im Trinken.“I []Langsamen Schriltes trat jetzt ein vierschrötiger Kerl vor den Doktor, sah ihm nach Art der Trunkenen steif ins Gesicht und meinte:
Das ist es gerade, was ich sagen wollte! Der Wein macht lose Leute, und stark Getränk macht wilde. Wer das tut, ist nimmer weise. Also zu lesen in den Sprüchen Salomonis.“
Steifbeinig schritt er wieder zu seinem Kirchenstuhl zurück.
Doktor Rahn verkündete laut, indem er auf Hirzel wies:
Hier Wohlehrwürden, Herr Pfarrer Hirzel von Pfäffikon, gedenkt, in freundlicher Weise dem Wunsche des Glaubenskomites nachlebend, ein Gebet über die Gefallenen zu sprechen.“
Die Häupter entblößten, die Hände falleten sich.Hirzel kat einige Schrilke gegen den Chor hin, wo die heute Umgekommenen lagen, einige auf Stroh, andere in offenen Särgen, alle blutig und ungewaschen,in ihren beschmutzten Gewändern.
Er wollte eben sein Vorhaben ins Werk sehen,als die Türe knarrte und zwei Träger auf einer Bahre einen von der Schußwunde eben Dahingeraffften brachten und vorn im Chor in seinem 9*nen Sarg vielenn wo er nun seinen Pfarrer mit glasigen Blicken anstarrke, da ihm bei der durch die heutigen Unruhen im Spital verursachten Hetze niemand die Augen zugedrückt hatte.
Es war Josua Schnurrenberger.
Sofort stimmte einer das Geilert'sche Lied an:
Meine Lebenszeit verstreicht,Skündlich eil 9 zu dem Grabe,in das sämtliche einstimmten.Hirzel spann seine stolze und zugleich wehmütige Klage aus den Worken Samuelis;
206 []Du, Herr, hilfst! Mit Dir stelle ich mich in die Schlacht, mit meinem Golt springe ich über die Mauer hinein ... Wie sind die Helden also im Streit gefallen! Jonakhan ist auf Deinen Höhen erschlagen. Wie sind die Helden gefallen und die aricgawaten verloren!
Ein Vaterunser beschloß die kurze Predigt.
Beim Amen rutschte der angelehnte Sargdeckel I und dröhnte wie ein Schuß durch den hohen aum.
Rasch verließen Hirzel und sein Begleiter die Kirche. Kaum hätten sie die Türe hinter sich zugezogen und Wilhelm Meyer-Ott, der draußen geblieben war, die Hand gereicht, so sprudelte drinnen aus hundert Kehlen der Gesang:In des Waldes tiefsten Gründen,In den Höhlen tief vee inß der Räuber allerkühnster,Bis ihn seine Rosa weckt.“Hirzel kat einen langen, aber unruhigen Schlaf.Josua Schnurrenberger drang in seinen Traum, rich-kete * langsam im Sarge auf, streckte ihm 8X die Zunge heraus und drückte ihm einen Strohwisch auf den Kopf.
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7 [] Zweites Buch [] XIV.
Das Versammlungsreislaufen und Herumkesseln,das Rumoren und Zusammenrolten war der Zürcher Bauersame rasch ins Geblüt gegangen. Schon drei Tage nach dem Zürichputsch strömie sie, wie das Glaubenskomitee es gewünscht, zu Taunenden wieder stadtwärts. Sie kamen diesmal im Festgewand,um einen ansehnlicheren Eindruck zu erzielen als eine halbe Woche vorher, wo sich die Slädter namentlich an der verfetzten Armseligkeit der Oberländer gestoßen hallen. Auch krugen sie keine Waffen, da sie sicher waren, nicht auf erond zu stoßen. Sie beteiligten sich erst an einer kurzen Versammlung des Glaubenskomilees im Fraumünster, wo man ihnen die erforderlichen Lichker aufsteckke und Hand-winke zukommen ließ, soweit das noch vonnöten war.Dann losten sie über die Münsterbrücke und erkrotz ten mit Schultern, Ellbogen und Flüchen von den Wachen, die sich übrigens, einem ZJeichen von oben gehorsamend, kaum zur Wehr seßten, den Zutritt ins Großmünster. Hier nämlich ktagte ungewohnterweise der Große Rat. Die neuen Machthaber, der provpisorische Regierungsrat, hatten die Sißung nicht in den Raklssaal, sondern in die vornehmste und älteste Kirche der Stadt verlegt, um dieser öffentlichen Handlung, der auch die Tagsatzungsherren beiwohnten, ein christliches Gepräge aufzudrücken, vor allem jedoch mit der Absicht, in dem weithalligen Golteshaus einer reichlich bemessenen Menge der herbeigeeilten Landleute Platz zu bieten. Diese die Treppe hinauf und polterten in die
Frey, Bernhard Hirzel. IU.[]Empore und die Galerie, von wo sie Beifall und Mißvergnügen herunterböllerten.
Der ganze Vorgang war eine hanogreifliche Posse, worin der Heid, der gerne noch länger gelebt hätte, gezwungen wurde, sein eigenes Todesurkeil auszusprechen und unverzüglich zu vollstrecken. Ein Regierungsrat nämlich stellle dem Großen Rat den Ankrag, die riee Regierung zu bestätigen und dann, nachdem er diesen Dienst geleistet, sich unverzüglich selber aufzulösen, da er den Willen des Volkes nicht mehr repräsentiere. Das wurde mit allen gegen eine Stimme zum Beschluß erhoben, dem auch die Radikalen beipflichteken, die sich von vornherein in der Minderheit befanden, weil die Führer und Hauptredner ihrer Parkei sich fern gehalten hatten. Die Empore überschüttete den isches mit unbändigem Jubel.
Wenige Slunden später verkündigte ein Regierungsmanifest die ergangenen Bes dunß e und ordnete auf kommenden Sonntag Neuwahlen für den Großen Rat an. Das Glaubenskomitee stieß mit vollen Backen in die Wahltrompete: Lasset bei der Prüfung der Wahlfähigen nicht die eigenen, een Gotkes Gedanken walten! Lassen wir uns nicht blenden durch die krügerischen Leuchten stolzer Wissen-schaft und glänzender Beredsamkeit, sondern achten wir auf die vorhandene Stärke des Geistes Goltes,der Weisheit, der Gnade und des Glaubens an Jesum Christum!“
Befruchtend, erleuchtend und erleichternd ergoß sich mit diesen Posaunenstößen ein Regen gedruckter Wahlzettel übers Land. So geschah es, beß die Radikalen auf der Wahlstatt blieben, die Schützlinge des Glaubenskomitees aber aen aus der Urne sprangen. Der neue Große Rat, dem die Frommen einen wahrhaft puritanischen Charakter nachrühm-ten, eröffneke seine Tätigkeit mit Verfassungsbrüchen und Rechltsverletzungen, indem er, um die radikale
2 []Spreu vom christlichen Weizen zu sondern, sämkliche richterlichen Behörden sowie den Erziehungsrat und den Kirchenrat auflöste und einer Wiederwahl unler.warf, wobei den millen in der Amksperiode ohne Urteil und Gericht Abgesetzlen jede Besoldung oder Entschädigung grundsähzlich verweigert wurde. Hierauf erfolgke die Wahl des neuen Regierungsrates, der neben der Überzahl stumpfer Parteistiere Männer zählte, wie der gestürzte keine besessen halke, so vor allem Bluntschli und den versöhnlichen, feinen, mehr nach innen gewandten Ferdinand Meyer, den freilich der Tod vor Ablauf eines Jahres aus Amt und Leben riß.
Doch gerade Blunkschli saß der Parkeidämon im Vacken. Er, der hellsichtig Satzung, Weislkum und Rechtsgang enktschwundener Zeiten bekrachtete und liebevosl anschaulich beschrieb und an gesehbildender Kraft alle schweizerischen Millebenden überkraf, er warf sich leidenschatue zum starren Verfechter rechtswidriger und gehässiger Maßregeln gegen mißliebige Beamte und zumal gegen Lehrer auf.
Die Mucker standen im Saft und schmunzelken im Schatten ihrer Feigenbäume. Dazwischen gürteten sie sich, um die Gottlosen zu drangsalieren und kräftig auszumustern, wogegen nian die Gutgesinnten zu Ehren zog und mit Amt und Würden bedachte. So wurde Hirzel zum Erziehungsrat erhoben, in welcher Stellung er zum Vorgehen gegen Geistliche und Lehrer gewichtige Worke mitzureden hattke. Allwöchentlich fuhr er nach Zürich zu den Sihungen und brachte fast jedesmal einen stattlichen Faszurel Akken mit heim, womit er bedeutsam der Post ent-stieg und die kurze Strecke der Dorfgasse ansehnlich durchwandelte.
Eines Tages stieß er mit Ludi Mürggeli zusammen, der, aus einem Hause heraustrekend, nicht mehr ausweichen konnke, was er sonst seit einem Halbjahr zu praklizieren pflegte. Hirzel beschloß, ihn
3 []seine amtliche Überlegenheit und Würde fühlen zu jassen. Man hatte ihm nämlich zugetragen, Mürggeli dürfte der Verfasser einer kürzlich im Veuen Repu-blikaner erschienenen Einsendung sein, die Kenntnis der Pfäffiker Verhältnisse und zwischen den Zeilen verriel, daß der Schreiber noch mehr zu sagen in der Lage und gelegenklich auch willens sei. Jetzt war Hirzel nicht sofort im Reinen, ob er ihm die Feder eher durch Entgegenkommen oder durch Schärfe ent-winden sollte.
Herr Mürggeli“, begann er wichtig, indem er ihm das verschnürkte Aklenbündel unter die Nase streckte, wie viel Unmuße uns im Erziehungsrat die Schulmeister machen!“
Ja, ja“, replizierte Mürggeli trocken, weniger wäre mehr. Wer Arbeit sucht, der findet sie. Und gesucht wird sie.“
Sie haben eine Ahnung!“ ärgerke sich Hirzel.Die Fälle kugeln uns ganz eigentlich auf den Kopf!Und warum? Weil es von Schulmeistern wimmelt,die sich gegen die neuen Vorschriften und Reglemente sträuben und ganz nach dem Geiste ihres Lehrers und Verführers Scherr unchristlichen Anschauungen huldigen. Und man muß doch alles genau prüfen und überlegen, um der Gerechtigkeit genug zu tun!“
Gerechtigkeit!“ fuhr Mürggeli auf. Gewalt,bare Gewalt, nicht Recht hakt die alte Regierung gestürzt. Unrecht ist's, himmelschreiendes Unrecht,wie man mit Direktor Scherr verfährt! Ohne Rich-terspruch, auf die bloße unerwiesene, weil nicht unker suchte Anklage des Ünglaubens hin hat man ihn, abgesetzt und verrammelt ihm jeden Rechtsweg. Und mancher Andere weiß ein gleiches Liedlein zu singen.Aus dem Obergericht, das doch auf Staatsgeschäfte,Kirche und Schule keinen Einfluß ausübt, hat man alte, erprobbe Männer hinausgefuhrwerkt und gläubige hinein Rllangt Und was Ar welche? Unter den eee glänzt jetzt der Matador von Zumi
4 []kon, der jüngst im Großen Rat ein Gesetz und eine zzehguingeit er meinte Rechtsgleichheit verlangke! Der Mann, der nicht drei Worte richtig hintereinander schreiben kann und sich unterschreibt,daß sich die ABC-Schützen vor Lachen den Bauch alten!“
Er zog eine Nummer des Republikaners und einen Bleistift hervor, schrieb auf den leeren Rand ober Reichter“ und hielt Hirzel das Blatt vor die Augen. Zum Wistzekteln mag so einer zu brauchen sein, zum Aktenlesen nicht.“
Herr Mürggeli“, belehrte Hirzel würdig und scharf, neumodische Schulmeister voll Demagogie,Dünkel und Wühlerei, angesteckt von pädagogisch-religiöspolitischem Revolutionsfieber, die wissen nicht, was ein gerader, biederer Sinn und ein christ-liches Herz im Leben bedeuten, zumal beim richterlichen Ermessen.“
Nein, das weiß ich allerdings nicht“, trotzte der Lehrer. Ich sehe nur, daß unker dem neuen Regi-ment Unrecht und Willkür an allen Ecken und Enden Trumpf sind, daß die Schule geknebelt und der freie Geist unterdrückt wird.“
Das Volk hat gesprochen. Es will eine christ-liche Regierung und eine christliche Schule. Haben Sie das immer noch nicht begriffen, Sie siebenmal Weiser? Übrigens hat der Lehrer von ferne nichts zu befürchten, der seinen Pflichten obliegt und nicht Dinge tut oder schreibt, die sich nicht gehören.“
Er sprach das Wort „schreibt' gedehnt und beziehungsreich aus und blickke Mürggeli durchdringend an, um die Autorschaft zu entschleiern. Allein der Schulmeister verzog keine Miene, sondern zupfte an seinem Bocksbärtichen, dem die umstürzlerische Epoche ersichtlich gut angeschlagen haftte.
Ja, ja“, warf er anscheinend gleichgültig und unberührt hin, ‚es ist eben im Grunde doch abgesehen auf Knebelung der Schule. Allein die Lehrer und
5 []tausend andere werden sich mit Bauch und Rücken wehren! Und über kurz oder lang nimmt die Herrlichkeit ein Ende, glauben Sie mir!“
Wenn je eine Regierung“, lächelte Hirzel überlegen, so ist die neue auf Fels gegründet. Sie haben doch die Begeisterung des Volkes gesehen?“
Herr Pfarrer“, entgegnete Mürggeli ernst, Tau und Abertausende hielten sich aus Furcht vor ißhandlungen still. Es kommt die Zeit, da werden diese wieder reden. Und Tausenden, die in guten Treuen mitgemacht, sind seit dem sechsten September die Augen aufgegangen. Glauben Sie mir überdies: Volksstimmungen lassen sich nicht auf Flaschen ziehen. Man meint, man kellere einen füffigen,halkbaren Tropfen ein; sieht man wieder nach, so hat er einen Stich oder ist lind.“
Hirzel verharrkte in lächelnder Würde:
Zählen Sie ganz ruhig darauf: der Jahrgang 1839 hält!“
Würggeli zuckke die Achseln:
Wir wollen es abwarten, bis er getrunken wird.Er könnte ja auch nach dem Zapfen schmecken.“
Er wird gehörig verkorkt. Die richtigen Küfer sind am Werk.“
Meinetwegen mögen sie ihn noch mit dem köst lichsten Siegellack pelschieren. Er ist und bleibt ein ordinärer Purlegiger!“” rief Mürggeli.
Er wird ein Fest- und Ehrenwein sein, noch für kommende Geschlechter!“ beharrte Hirzel prophetisch.
Ausschütten und ausspucken wird man ihn!“höhnke Mürggeli.
Ich möchte bloß wissen, woher Sie Ihre Blicke in die Zukunft beziehen', sagte Hirzel scharf. Er packte nücht fester zu, weil 7 zwischen den Worken Mürggelis die spihze Feder des Arlikelschreibers doch nicht deutlich genug hervorzugucken schien. Nach kurzem Besinnen antwortkete dieser:
5 []Die gegenwärtkig die Macht in Händen halten,haben das Volk dazu gebracht, eine Regierung, deren bedeutende Verdienste sie selber nicht zu bestreiten wagen, wegzuschmeißen, wie man ein Paar alke, aus-getretene Schuhe auf den Mist schleuderk. Glauben Sie nur: das Beispiel wird böse Früchte zeitigen für diejenigen, die es gegeben haben. Sobald die Leute der neue Schuh drückt, werden sie ihn wegwerfen.Das Rezept besitzen sie jetzt dazu.“
Hirzel lachte: Das werden Sie nicht erleben,salomonischer Herr Mürggelil“
Eines habe ich im Lauf der verflossenen Wochen mehrfach erlebt, daß nämlich Leute von einer gelegentlichen neuen Regierung sprachen als von efwas ganz Selbstverständlichem. Nicht etwa Radikale und Strauße, bewahre! Die Septemberporgange haben dem Respekt vor der Obrigkeit und obrigkeitlichen Personen, nicht nur vor den jetzigen, sondern überhaupt, einen kötlichen Stoß verseht. Das pflanzt sich fort auf Kind und Kindeskind!“
Er grüßte kurz und ging.
O, rief ihm Hirzel nach, den Mord am Respekt besorgen am gründlichsten die radikalen Wühl-mäuse und Zeiktungsgiftmolche!“
Er wurde nicht klug daraus, ob dieser Pfeil den gleichmäßig Davonschreitenden erreicht hatte und ob er ihn spürte. Argerlich über sich selbst, daß es ihm aus Mangel an Geschicklichkeit fehlgeschlagen, hin-sichtlich des Zeitungsarlikels etwas herauszuklauben,fühlte er sich zum erstenmal gedrungen, über den Schulmeister nachzugrübeln, der ihm bis jetzt als aufgeblähter Besserwisser und unverfrorener Rechthaber vorgekommen war, nunmehr aber nicht nur vorsich-tiger, sondern auch gemessener und reifer erschien.Wirklich hatte der Fall der Regierung, der er anhing, die Absetzung seines verehrken Lehrers Scherr,die Schelkreden und Flüche, die er hatte einstecken müssen, die Prügel, die ungesucht am Wege lagen,7 []wenn sie ihn auch nie krafen, ihm den spatzenhaften Dünkel einigermaßen abgefummelt und der durch die Verhältnisse gesteigerle Verkehr und engere Zusam-menschluß mit Berufsgenoser ihn ernster gemacht,sodaß er anfing, nicht mehr bloß Schlagworke wie eine Lämmerherde vor sich herzutreiben.
Als Hirzel am nächsten Vormittag seine meistens unerfreulichen und unergiebigen Akten ackerte,sprach Pfarrer Worf vor.
Da ich in der Rähe Geschäftliches abzuwickeln habe“, enkschuldigte er sich so dachte ich: du versuchst es wieder, ob du diesmal weniger ungelegen kommst mit deiner Frage nach Strauß und was Sie von ihm halten.“
Hirzel maß ihn mißtrauisch. Sollte er schon etwas haben läuten hören?“ fragte er sich. Doch der gutmütige Ausdruck seines Gegenübers widersprach dieser Annahme.
Er wischte das Ansinnen seines Amlsbruders unter den Tisch:
Sie kommen mir nicht ungelegen. Im Gegenteil. Sie ersparen mir einen Brief, den ich Ihnen Wasengegemü heute zu schreiben beabsichligte.Nämlich der hohe Kirchenrat hat mir den Aufkrag erteilt, Sie zu mir zu bescheiden und Ihnen in nem Namen zu eröffnen, daß er Ihnen einen Vikar angestellt haf, und zwar auf Ihre Kosten, und daß er Ihnen ernstlich die Absetzung androht, sofern Sie weiterhin Ihre Amtspflichten verletzen und fort-fahren, öffentliches Argernis zu erregen.“
Worf öffnete langsam den Mund und starrke Hirzel eine Weile aus großen Augen an, ehe er ein Wort fand.
Ich ich“, würgte er endlich heraus und drückte die roken, zitternden, knochigen Hände gegen die Brust, ich Amksverletßung und Erregung öffentlichen Argernisses? Gott ist mein Zeuge, daß 8 []ich es mit meinem Amt allezeit Ins genommen und mich eines rechten Wandels beflissen habe.“
Hirzel setzte eine strenge Miene auf:
Sie haben jüngst in einer Rede am Sängerfest und früher schon mehrfach in Ihren Predigten das Recht der freien Vernunftprüfung, auch der Heils-wahrheiten, gefordert und gefeiert. Sie bezeich-neten diese Prüfung als das alleinige Mittel, den Glauben rein zu erhalten, forlzuentwickeln und sich wirklich anzueignen. Sie haben ferner die biblischen als dihesche Dokumente bezeichnet, die gleichfalls einer solchen Prüfung bedürfen.“
Ist das Amktsverletzung und Ärgernis?“ fragke More halb traurig, halb empörk.
Allerdings! Sie haben durch Ihre Außerungen fromme, gläubige Seelen verletzt und erbitkert. Sie wissen, daß das der Aufgabe eines Geistlichen schnurstracks zuwiderläuft. Übrigens hat eine Erörterung dieser Dinge hier keinen Zweck. Sie könnten wissen, daß das Zürcher Volk ein christ-liches Volk ist und bleiben will. Der Kirchenrat gibt Ihnen sein Mißfallen durch mich zu erkennen und empfiehlt Ihnen dringlich, sofern Sie nicht Gefahr der Absetzung laufen wollen, die Bibel gründlich zu studieren, andere in ihrem Glauben nicht zu stören, sondern zu befestigen und Gott um Demut zu bitten.“
Worf schüttelte den Kopf, fuhr mit der Hand über die Stirn und rang nach Worken.
WMeine Aufsichtsbehörden haben seit bald einem Vierteljahrhunderk niemals einen Tadel über mich ausgesprochen! niemals! Und jetzt auf einmal das!Und wovon soll ich leben, wenn der Vikar, den man mir setzt, aus meiner Tasche bezahlt wird? Meine Tochter ist kränklich, und mein Sohn studiert noch.“
Hirzel zuckte bedauernd die Achseln:
WMein Auftrag ist ausgerichtet. Ich wüßke nichts beizufügen.“9 []Morf blieb, nachdem er sich erhoben, noch eine Weile stehen, wie wenn er noch etwas äußern wollte. Allein es gelang ihm nicht. Er warf Hirzel einen mehr traurigen als unwilligen Blick zu und entfernte sich ohne Gruß.
Hirzel spürte einen widrigen Geschmack, den er bis zum Abend nicht überwand. Der Kirchenrat hatte gewünscht, seinen Enlscheid, bevor er im Amisblatt erschien, mit kräftigem Zuspruch verbrämt, Worf durch einen angesehenen Geistlichen zu übermitteln, und sich deshalb an Hirzel gewandͤt, der ohne weiteres Besinnen annahm, da es ihm schmei-chelte, als Vertrauensmann der obersten kirchlichen Kantonsbehörde zu verfahren. Er ahnte nicht, daß man ihm die unangenehme Aufgabe zugeschoben,angeblich, weil er im nämlichen Bezirk wohne wie MWorf und also gleichsam sein Vachbar sei, in Tat und Wahrheit aber, weil keines der geistlichen Mitglieder des Kirchenrates sich ihr unterziehen wollte.Jetzt, nach vollbrachter Wission, staken ihm die trüben Blicke aus dem faltkigen, müden Gesicht mit Widerhaken im Busen. Er sah im Geist den schon betagten Mann durch Wind und Wetter noch zwei 8 Wegstunden seiner Pfarrei zuwandern und die Jammerbotschaft den Seinen heimbringen.Das Schlimmste jedoch wurde ihm erst klar, nachdem er den Spruch formuliert und an Mann gebracht hatte: der Entscheid des Kirchenrales war zu hart, war eine Ungerechtigkeit. Die weltlichen Glieder der Behörde hatten ihn durchgedrückt, die weni-ger wußten, wie es im Pfarrhaus draußen auf dem Lande und im Dasein des Geistlichen aussieht, als ein Pfarrer es weiß. Er halte dem scharfen Dreinfahren der Frommen und Frömmler gerne beigepflichtet,vor allem in der Meinung, daraus erwachse nicht allein eine Mehrung des religiösen Sinnes, sondern auch des pfarrherrlichen Ansehens. Nun, da diese Dinge einmal dicht an ihn heranrückten, fühlte er,10 []der wohl fanatisch aufgeflammt, doch niemals eng-herzig gewesen war, das begangene Unrecht.
An diesem Unrecht“, raunte es ihm zu, hast du durch die Ubernahme des Auftrags mitgesponnen.“
Umsonst versuchte er mit einem kurzen Ach was!” 'und mit einem leichten Handschwung das Schlänglein wegzuschleudern.
Am nächsten Morgen war der Drang nach Einkehr in sich selbst verflogen. Wächtig rührte sich vielmehr das Gefühl, daß doch er, ganz eigentlich als ein Werkzeug Gotkes, die neue Wendung der Dinge in die Wege geleitet habe, die besondere Geiftesrichtung, die hehre Bewegung, wie die Zöpfe und Frommen das Wesen tauften, um die neue Ara von der überwundenen, gottlosen gebührend abzugrenzen. Zugleich aber quoll es ihm, wie oft seii Wochen, bitter auf, daß zur Stunde, vier Monate seit dem Umschwung, ein seinen Verdiensten und seinem Werk angemessener Lohn noch völlig ausstand. Freilich saß er im Erziehungsrat; aber die Stelle war unbesoldet. Es wurmte ihn, daß ihm kürzlich eine, wie er meinte, ziemlich sichere Pfarrei unweil der Hauptstadt entgangen war, offenbar nur darum, weil die Freunde und Parteigenossen sich zu wenig für ihn an den Laden gelegt hatken. Was half es ihm, daß sein Vame jedem Kinde geläufig war, daß ihn jüngst ein fliegendes Blatt angesungen hatte? Er summte, wie schon häufig, die eine Strophe vor sich hin:Pfarrer Hirzel kommt auch hergezogen Mit dem kühnen Volk von Pfäffikon;Der verkündet Gott und seinen Sohn,Goltes Geist hat ihn dazu bewogen,Daß er an der Spigtze sie begleitet,
Für das Heiligste mit ihnen streitet.
11 []Die Regenten in der Stadt lebten herrlich wie der Herrgoti in Frankreich! Aber Dankbarkeit und Gedächtnis für empfangene Dienste war entschieden nicht ihre starke Seite! Sie hakten ihn ganz einfach schnöderweise vergessen! Da half nur eines: sich rühren und sich in empfehlende Erinnerung bringen!Bei der nächsten Stadtfahrt mußte es Blunlschli aufs Brot gestrichen bekommen! Er, dem es schon lange wohl angestanden hätte, etwas Entscheidendes für ihn zu kun!
Als er seinen Besuch im Regierungsgebäude ausführke, mutete es ihn eigen und befremdlich an,daß er, obwohl vorsichtshalber schon Tags zuvor angemeldet, über eine t im Vorzimmer warken mußte. Endlich ging die Tür auf und Bluntschli empfing ihn, immer noch der alte und doch nicht mehr der altke, weil ihn, wie Hirzel dünkte, ein merklicher Amtswürdendunst umwob.
Du entschuldigst', bat er, indem er zum Sitzen einlud, ein unabweisliches, dringliches Geschäft!Ich weiß wirklich zuweilen nicht mehr, wo mir der Iei steht: der Staatskarren, die Professur, an der ich bereits Abstriche vornehmen mußte, die wissenschaftliche Frohn und so manches daneben du begreifst es vielleicht nicht ganz, da du so sehr Herr deimer Zeit bist.“
Hirzel packte WDehe an:
Zeit hätt' ich schon. Allein mir fehllt der richtige Boden und das richtige Amt. Offen und kurz gestanden: es hat mir in der Seele weh gekan, als jüngsthin bei der Pfarrwahl du und deinesgleichen mich stecken ließen und nichts dergleichen kaken, wie wenn ich irgenö einer wäre, der euch keinen Kabis angeht.“
Zieh doch gefälligst in Betracht, was ein Pfar-rer seit Johr und Tag im Kanton Zürich am besten weiß: die Gemeinde wählt, nicht die Regierung!Was sollten wir Städtleute bei der Pfarrwahl in 12 []einer Landgemeinde vermögen, wo überdies der radikale een heillos eingewurzelt ist.
Wenn man äauch nur den lausenösten Teil dessen, was man gegen Strauß vorkehrte, für mich an und aufgewendeti hätte, die Sache wäre anders verlaufen. Von der Leber weg geredet: etwas Seriöses hätte man schon unkternehmen können, ohne sich deshalb in Unkosten zu stürzen! Ich darf sagen,ohne unbescheiden zu sein: ich beanspruche obenan zu stehen auf der Liste derjenigen, an die dem neuen Regiment eine Dankesschuld abzutragen bleibt!“
Bluntschli lehnte sich in seinen Lederfauteuil zurück, zog die Augenbrauen hoch und sah an die Decke hinauf, als ob er dort etwas entziffern sollte. Schließ lich bemerkte er nachdrücklich:
Obenan ist häufig nicht der beste Platz!“
Eine saubere Theorie!“ rief Hirzel erbilkert.Ist das mehr als eine Ausflucht, mich abzuschnüren und abzuschüsseln?“
Bluntschli entgegnete sehr bestimmt:
Bevor du urkeilst, bringe doch gefälligst in An-schlag, daß ich in nsern engen Verhältnissen auf Schritt und Tritt gehemmt und außerstande bin,elwas aus dem Boden zu stampfen! Veriß doch zuallervorderst nicht: wir sind unser neunzehn Regierungsräte! unser neunzehn! ein Unsinn! saber es ist Um davon die Wehrheit unter einen Hut zu ringen, das kostet oft mehr Mühe, als um eine Geiß herumzulüpfen!“
Hirzel versteifte sich störrisch:
Sag einmal: hat mir geträumt oder ist es Wahr-heit, du Schritte kust, Jakob Grimm an unsre Universität zu bringen?“
Das ist ganz richtig. Und gelingt mir der Streich,so habe ich allen Grund, mir ein wenig darauf ein-zubilden.“
Hirzel klagte verdrießlich:
Ausländer lootsest Ou mit Anstrengung und Un-
18 []kosten herbei! Für deinen Freund und Landsmann hast du nichts übrig, wie mir allmählich klar wird.“
Aha“, spöttelte Bluntschli, die Pfäffiker Glocke läutet wieder Sturm! Aber im Ernst: gib dir ein bißchen Mühe und brauch den Verstand! Grimm,der schon lange Jahre als Ordinarius gelesen hat,würde in die erledigte Professur an der lurituche Fakultät einrücken. Er ist absolvierker Jurist und obendrein der erste Zechtah sterwer Deutschlands.Darüber erlaube ich mir ein Urteil! Dazu ist er das anerkannte Haupt der Germanisten, also eine Zierde zweier Fakultäten. Es wäre ein Fang sondergleichen!
Ich begreife: du willst mir zu verstehen geben,daß ich kein Fang wäre für unfsre Hochschule und daß ich, um an so etwas zu denken, mich nicht hinreichend ausgewiesen habe, obgleich in der Schweiz peruch ein Zweiter über meine Spezialkenntnisse gebietet.“Daran habe ich nun gerade nicht gedacht! Aber da du es bist, der das aufs Tapet bringt, so gestatte die Bemerkung, daß du zwar etliche Semester gelenenen Übersetzung nichts mehr veröffentlicht hast.Das reicht nicht.“
Es gibt Leute an der Hochschule, die nicht mehr publizierk haben.“
„Es kann nicht meines Orkes sein, die Herren Kollegen mit ihren dicken oder schmächtigen Schriften vor mein Tribunal zu zerren. Ich unterstreiche nur Eines: sie lesen nolwendige Fächer! Hörst du? not-wendige Fächer!“
Sanskrit erscheint dir also immer noch als kein notwendiges Fach?“
Bluntschli schüttelte verneinend den blondbuschigen xeh ohne etwas zu sagen, worauf Hirzel spihig emerkte:
14 []Es gibt hier mehr als einen Ordinarius, der zuweilen weniger Hörer zählt als ich, der Privatdozent eines unnötigen Faches! Zudem' er bewegte den Mund wie wenn er ein Haar auf der Zunge spürte „es bleibt mir in Gotkes Namen nichts anderes übrig, als zu wiederholen, daß mir an der heutigen Konsunktur der Gestirne im Kanton Zürich ein Verdienst zufällt, dessen sich weder ein Ordinarius, noch ein Privatdozent rühmen kann.“
Bluntschli schrikt unruhig im Zimmer auf und ab,zupfte an der Halsbinde und knöpfte sich den schwar-zen, langschößigen Rock zu, wie wenn er sich panzern wollte. Dann krat er dicht vor Hirzel hin und sagke langsam und bestimmt:
Gerade darum dürfen wir jedem andern eher als dir einen Lehrstuhl für Sanskrit oder für was immer zimmern.“
Hirzel sprang auf. Erdfahl und fassungslos starrtke er seinen Freund an. Dann schrie er heiser:
Man ist mir zu Dank verbunden, wie keinem Zweiten, und ich übertreffe die Schweizer Mitbewerber an Wissen und Befähigung und krotzdem könnt ihr irgend einen andern eher wählen als mich?Entweder bist du nicht mehr bei Trost oder ich bin's nicht mehr.“
Bluntschli bewahrte seine Ruhe:
Ich wohll! Du gewiß auch bald wieder, wenn du mich anhören magst.“
Kede!l“ preßtke Hirzel ere
Unsre Hochschule“, begann Bluntschli eindrück-lich, ist heuke noch, was sie von Anbeginn war, näm-lich ein zartes und sehr gefährdetes Pflänzchen.Will's der Unstern, so kann's jeden Augenblick geschehen, daß eine Bauernfaust es abrupft oder ein Vagelschuh vom Land es zosgmenstamest Das weißt du so gut wie ich. Nun zählen wir auch in unsern Reihen nicht wenige, denen die Hochschule ein Dorn im Auge ist, als eine Stätte des Unglaubens,
5 []sodaßz wir ringsum zu wehren haben. Denn auch in der Regierung sitzt mehr als einer von dieser Sorte.Gesetzt nun, wir errichten dir einen Lehrstuhl, was passiert dann? Die Radikalen, die so wie so schon überall stänkern und teufelmäßig minieren und pül-vern, stehen wie ein Mann auf. Dann liegt die HochAber ein kurzes mathematisch sicher am oden!
Zornig und erschüttkert ließ sich Hirzel im Lederfauteuil nieder und brütete vor sich hin. Bluntschli fuhr nach einer Weile fort:
Ein Weiteres glaube ich dir nicht vorenthalten zu dürfen, wovon du wohl schon Lunte gerochen hast:du bist beim engern und weitern Kreis des Glaubens-komitees nicht besonders angeschrieben. Sie behaupten und meines Erachtens nicht völlig ohne Grund , dein Dreinstürmen habe den Schild der guten Sache mit Blut befleckt, und 9 liege ein Makel auf ihrem Sieg, der ohne dein Zufahren rein gewesen wäre.“
Undankbare Bande!“ knirschke Hirzel.
Ich stelle mir vor“, nahm Bluntschli unbeirrk wieder das Wort, du siehst draußen auf dem Land wenig Zeitungen. Andernfalls würdest du die Herren eher begreifen. Kein Tag vergeht, daß die radikalen Blätter des Kantons und der übrigen Schweiz nicht auf den sechsten September, auf das Glaubenskomitee, auf die Regierung und nicht zum mindesten auf dich Feuer und Schwefel regnen. Das bringt dich ihren Herzen nicht näher, selbstverständlich!Summa summarum: du wärest mir und andern durchaus genehm, aber du bir unker den obwaltenden Umständen einfach unmöglich.“
Ist dagegen kein Kraut gewachsen?“ fragte Hirzel nach einigem Vachdenken kleinlaut. Bluntschli zuckte die Achseln.
Vorläufig schwerlich. Wenn einmal die krüben Wasser sich gesetzt haben, dann vielleicht.“16 []Ich selber kann nichts kun?“ fragte Hirzel.
Wan lut gut, nicht zu viel zu doktern. Warke getreulich deiner Seelsorge und spanne dich in Mußestunden vor deinen Sanskrikpflug! Andert sich die Zeit, so bist du gewappnet und gerüstet. Und dann sind wir hoffentlich auch noch da.
Es klopfte. Ein Weibel streckte den Kopf herein und nannke einen Namen.
Du entschuldigst mich! du siehst: so bin ich gehetzt.Ein andermal hoffe ich, mit besserm Bescheid zur Hand zu sein.“
2 Frey, Bernhard Hirzel. U.
17 []XV.Vom Regierungsgebäude weg hastete Bernhard Hirzel nach berstrag hinauf, um daselbst im Wirts-haus die Post nach dem Oberland abzuwarten. Er blickte weder links noch rechts, sondern eilte schnur stracks die Stadt empor, murmelnd, mit sich selber redend und zuweilen die Hand verwarsend. wie wenn er einen vor sich hätke. Droben auf der Höhe blieb er einen Augenblick stehen und verschnaufte. Er wünschte, der Zorn des Himmels möchte das Nest zu seinen Füßen, diesen Sitz der Rotte Korah, in Grunderöboden hineinschlagen.
In eine Ecke des Postwagens gedrückt, den heute sent niemand beanspruchte, begann er einen stache-igen Brief an Bluntschli zu schmieden. Die Zornflammen sprühten und züngelten um den Ambos. Es sollte dem Freund und seinen Parteibrüdern nichlts,aber auch gar nichts geschenkt und ihre schäbige Undankbarkeit teufelmähig gebrandmarkt werden.
Uber dem Zurechtdenken und Formen müde und elwas ruhiger geworden, wiederholte er sich, nachdem er mit dem F Wurf zu Rande gekommen war,den Eingang Satz für Satz. Er ermunterte und berauschte sich an der jagenden Sturmtruppe der Vor-halke und Vorwürfe.
Das heiß ich einem etwas eintränken! Das wird er nicht hinter den Spiegel stecken!“ rief er befrie-digk. Doch allmählich ebbke die Freude am Werk zu-rück, und er schüttelte den Kopf.
Das sieht ja einem Absagebrief se ähnlich wie ein Ei dem andern“, gestand er sich schließlich, kratzte sich hinker den Ohren und gab das Vorhaben auf.
18 []Nun entschloß er sich zu einem ironischen Schrift einem wahren Bündel feingeschliffener Dolche,as am Ende noch stärker kraf als eine vulkanische Philippika. Allein der Plan gedieh nicht über die ersten Anfänge, da eine solche Schreibart, die Auf-gabe, etwas Abgezirkelles und Ausgerechnetes zu-sammenzuschweißen, seinem Geist und Wesen widersprach, das eher dem Lebhaften, Warmen und Lei-denschaftlichen zuneigte als kühler Überlegung.
Jetzt erst, wo er sich nicht mehr ausschütten, wo er nicht mehr verklagen durfte, wo er gewahrke, daß ihm das Wort abgeschnitten war, daß er selber sich's abschneiden mußte, jetzt brach der Jammer über ihm zusammen. Er schlug die Hände vors Gesicht und stöhntke. Seine Schläfen brannken. Es wurde ihm wind und weh in dem engen, dumpfen Postbehältnis,und er fand keinen Atem mehr. In Fehraltdorf, wo der Postillon zur Zeit des Lichteranzündens halt machke, kappten die Scheine der Ollämpchen ünd Kerzen aus den 5 wie freche Hände zu ihm herein. Beim letzten Hause stieg er aus, um die übrige Wegstunde zu Fuß zurückzulegen. Ihm graute vor seiner Schwelle. Er wollte die Heimkunft hinauszögern, seine heiße Stirne verkühlen, die wirren Geister sammeln und ordnen.
Gewölk wanderte am sternenlosen Himmel. Im Süden erblaßte, kaum mehr wahrnehmbar, ein fahler Streifen. Der Wind sprang ruckweis an, stieß gegen die Buchenbüsche, die in den Hägen und an den Gehölzrändern standen, rupfte ihnen von den welken Blätkern weg und schleifte seinen Raub auf der trockenen Straße. Es hauchte und huschte hinker dem nächtlichen Wanderer, ein Haufen schlurfender Lemuren, sodaß Hirzel, mehrmals aufgeschreckt, fiebrig zurückblickte.
Eine lange, hagere Gestalt in schwarzem, schleppendem Wanthkel schrilt hinter ihm her. Heiser gedämpft sang sie:
19 []Wie wanderst du nach Hause?Wie nahst du deiner Klause?Dann raunte sie ihm über die Schulter:
Noch ist kein halbes Jahr herum, so bist du diese Sträße daherstolziert, Tausende und hochfahrende Hoffnungen mit dir. Wo sind die Hoffnungen?Sie liegen in Scherben. Du warst ein zweckdienliches Werkzeug. Sobald die andern hatten, was sie begehrten, so schoben sie dich beiseite. Ja, es wäre ihnen gedient, du wärest gar nicht da! Wappne dich für die Einsamkeit, der du gewaltsam entrinnen wolltest! Mach dich gefaßt, auf deiner Landpfarrei angeschmiedet zu dulden wie Prometheus auf dem öden Felsgebirge! Nicht ein Adler wird dir die Leber zerhacken, sondern eine Brut lausiger Zeitungsspatzen wird auf dich lospicken, daß du deines Lebens nicht mehr froh wirst. Ja, wenn du den Frieden hättest in deinen Wänden und die Liebe in deiner Kammer!“
Wieder sang die heisere Stimme:Wie wanderst du nach Hause?Wie nahst du deiner Klause?Bekäubt und schwankend erreichte Hirzel endlich die Pfarrwohnung. Als er die Haustüre aufschloß,wanöte er sich noch einmal zurück. Der dunkle Rau-ner, dünkte ihn, hatte sich auf die Garkenbank gesetzt und hielt ein Schwert, das bläuliche Flämmchen umzückten, wagrecht auf den Knieen wie der höchste Richter, wie Kaiser Karl hoch oben am ragenden Münster über der Limmat zu Zürich.
Nach quälender Fiebernacht wurde der Arzt geholt. Er fand nichts, sWwineee ziemlich ratlos den Kopf und empfahl Ruhe; insbesondere sollte sich der Leidende vor Gemütsaufregung hüten. Er zählte eben zum zweitenmal die Pulsschläge, als Befity in vernachlässigtem Morgenkleid daher kam und un-20 []freundlich gleichgüllig sich nach dem Befund erkundigte.
Ach was“, warf sie gereizt hin, eer wird ganz einfach gestern ein oe Glas Wein erwischt oder gar eins über den Durst genommen haben. Deswegen hätte es den Doktor nicht gebraucht.“
Du weißt so gut wie alle, die mich kennen“,wehrte sich Hirzel, daß ich nicht ktrinke, schon weil ich den Wein nicht verkrage.“
Ja bewahre“, pflichtete der Arzk bei, eindringlich zuf Frau Betty einredend, da steckt kein Schoppen dahinter; da nehme ich Gift darauf. Eher ein Herzeleid oder so etwas Kukucks.“
Er blickte ihr scharf und bezeichnend ins Gesicht,wohl wissend, daß mit ihr übel hausen war. Sie verzog den schönen Mund:
Ja, ja, es ist einer schon ein leider Gesell, wenn er keine Ausreoe weiß. Und die Studierten meinen bald einmal, sie könnken unsereinem eine Nuß vom Baum berunter chwatzen. Aber damit kommt man bei mir an die Unrechte. Und trägt der Wein nicht die Schuld, daß mein Mann nicht im Strumpf ist, so ist es das ewige Postfahren und Chaislen in die Stadt und wieder retour. Sie sehen es eben nur nicht.“
Der Arzt antworkete nur mit kaum merklichem Achselzucken, da er keine Neigung verspürte, mit dem hassigen Wesen anzubinden, dessen Element der Unfrieden war.
Und dann“, zerrte sie wieder das Wort an sich,laß ich mir's nicht nehmen und ausreden: es ist rauh und ungesund hier in Pfäffikon! Es stinkt überall,was für das Herz und Gemüt schädlich ist. In der ganzen Welt gibk es nirgends so viele Misthaufen und Jauchelöcher wie gerade hier. Ich werde auch noch krank, ich merke es ganz gut. Drum mach einmal“, wandte sie sich an ihren Mann, ‚daß wir hier wegkommen! Wie oft muß ich das noch sagen? Ich habe es satt hier draußen, wo es gar keine rechten
21 []Leute gibt! Du weißt, ich bin für andere Gesellschaft erzogen. Und geräde jetzt, wo meine Cousine zu Besuch kommen will, legst du dich ins Bett! Ungeschickter nig du's nicht einrichten können. eaiuꝙ weiß der Doktor etwas, was dich bald wieder auf die Beine bringt!“
Sie verließ das Zimmer ohne Gruß. Unwohlsein und Krankheit der Ihrigen oder der Dienstboten empfand sie stets als ihr äααν zugefügte Kränkung oder doch als Rücksichtslosigkeit, weswegen sie sich auch wenig mil Plege und Warkung befaßte.
Lange Tage lag und seufzte Hirzel in elendem Zustand, gebrochen und gedrückt, wenn auch ohne Schmerzen. Der Frühling kam mit Vogelschlag,Sonnenschein und Frühblumen vor iy Haus. Allein er lockte und erhellte ihn nicht, sondern stimmte ihn noch wehmüliger.
Er fand gerade die Ruhe nicht, die ihm der Arzt so dringlich ans Herz gelegt haktte. Es war das Wenigere, daß Frau Betith Türen zuschmelkkerte, mit der Magd und mit Noldi keifte und häufig, wenn ihr etwas über die Leber lief, unwirsch vor seinem Bett sich erging, nicht ohne mehr oder minder verblümt anzumerken, daß es nun hoch an der Zeit wäre, aufzu-stehn und die Amtsgeschäfte an die Hand zu nehmen.Aber nachts mied ihn der Schlaf oder bräch plötzlich ab. Dann dröhnten die Septemberpuktschglocken her-ein, die 28 der kausend und abertausend Landstürmer erschollen, und Schüsse knallten. Dann schlug die helle, bestimmte Stimme Bluntschlis das Getöse nieder und schnitt ihm ins Herz. Schließlich schwebte der Dunkle heran, setzte sich, das Schwert über den Oberschenkeln, auf den Stuhl beim Bett und spann seine düstern und mitleidlos melancholischen Reden.Aufatmend begrüßte der Leidende das Frühlicht,worin der Schemen zerfloß.
„Der Arzt hatte ihm von den Büchern, wonach ihn übrigens kaum verlangtke, ernstlich abgeraten, die
22 []Zeitungen streng verboken. Toest und Labsal blieb hm einzig Noldi, der sich nach der Schule zum Plaudern herbeiverfügte und freilich den Vater durch d stilles, hilfloses Wesen und sein vernachlässigtes Gewand oft kraurig anmutete.Eines Tages brachte er, in ein Sträußchen gebun-den, die ersten Anemonen und Schlüsselblümchen und legte sie leuchtenden Auges auf die Betldecke.Er bedang sich das gewöhnliche Geschenk aus, daß ihm nämlich der Valer eiwas auf die Schiefertafel zeichne, ohne die er das Krankenzimmer selten beirak. Venn obgleich ihm selber die Zeichnergabe abging und er außer den Buchstaben kaum etwas uärihelte, so sah er doch mil immer neuem Vergnügen zu, wie der Vater, der freilich so wenig wie der Sohn ein Hexenmeister war, den Griffel führte und etwas entstehen ließ, das dem Kind schön erschien,so fragwürdig es einen andern bedünken mußte.
Ja, was möchtest du denn?“ fragte Hirzel.Etwa ein Tier? z. B. ein Kameel oder gar einen Osterhasen? Du weißt, in ein paar Wochen kommt er.“
Er gedachte nämlich, durch die Höcker des einen und die langen Ohren des andern, wie schon öfter,sich leichter aus der Verlegenheit zu ziehen.
Der Kleine schütkelte langsam, doch ernsthaft den Kopf.
Nein“, lehnte er sich mit einer gewissen Bestimmtheit auf, die den Vater überraschte, ich möchte den Herrn Mürggeli.“
Den Herrn Mürggeli? Nicht lieber ein Kameel?“
Noldi verzog weinerlich ein bißchen das blasse Gesicht. Dann überlegte er eine Weile:
Ach nein, am Ende doch um liebsten den Herrn Mürggeli.“
Aber warum soll es nun Mürggeli sein?“der
24 [] du, er ist immer so nett zu uns und macht so hübsche Spiele mit uns. Und du mußt ihn gerade zeichnen, wie er uns eine ganz lustige Gedicht erzählt und dann sagt: jeht gehen wir in en Wald ee
Seufzend enltschloß sich Hirzel zum Schöpfungs-akt, dessen Frucht dem Vorbild unheimlich wenig ähnlich sah. Das hindertke nicht, daß Voldi ihre mühseligen Ansätze und ihr saumseliges Ausreifen Gone und erstaunt verfolgte und sich still hielt wie die Maus am Brol.
Wöchtest du ein Waler werden, der recht viel schöne Bilder macht?“ fragte Hirzel.
Noldi sann ein paar Augenblicke nach. Nein“,sagte er dann.
Was möchtest du denn werden?“
Roldi studierte. Schüeßlich entschied er:
Weißt du, Valer, ich will werden, was du meinst oder dann, was Herr Mürggeli meint.“
Wie Woses vom Sinai herunter die Gesetzes tafeln, so wollte er eben erhobenen Hauptes die Schiefertafel aus der Krankenstube seines Vaters tragen, als die Türe aufgerissen wurde und Frau Bekty schalt:
Du fauler, liederlicher Torenbub! ech du wieder hier? Immer, wenn man dich braucht, bist du nicht zur Hand, sondern hälkst irgendwo Maulaffen s du Nichtsnuß! Warsch, du mußt mir Brot olen!
Sie packte ihn am Arm und Iszpoh ihn weg.
Hirzel drehte sich gegen die Wand und wischte sich eine Träne vom Auge.
«Voch ein paar Jährchen“, erwog er, dann muß der Bub in die Stadt aufs Gymnasium, und ich hause da draußzen. Was wird bei seiner weichen Langsamkeit aus ihm, wenn ich ihn nicht mehr leiten kann? Aber freilich, was hat er daheim? Bei einer solchen Mutter?“24 []Langehin haftete ihm, nachdem er das Belkt verlassen, eine fühlbare Schwäche an, die zunächst durch die erschlaffende Frühlingsmüdigkeit noch gesteigert wurde. Die alte rasche Kraft kehrke nicht wieder,und öfter wandelte er ernst die Gräber zwischen Pfarrhaus und Kirche auf und ab.
Zu Sommeranfang merblich erstarkt, steckte er sich, nachdem er neuerdings mit Bluntschli Rückprache gepflogen, ernstlich das Ziel, jeden Tag womöglich eine oder zwei Stunden für seine gelehrten Arbeiten sich abzumüßigen. Er kam sich vor wie ein Schiffer, der, verstürmt und umgestrudelt, endlich einem geschirmten Hafen zusteuert. Doch es erging ihm sellsam. Die Sanskritbuchstaben, deren Schönheit er früher über die aller andern Schriften gestellt, muteten ihn wunderlich, fast abweisend an wie die steife Reihe starrer Hierodulen. Sein Unternehmen rückte wenig vom Fleck und stockte nach einem Dutzend Tage ganzuch sodaß er seufzend die Feder ausspritzte und die wenigen beschriebenen Blätter in die Schublade warf. Schrittweise gelangte er zu der, wenn auch nicht völlig neuen, so dennoch bitteren Einsicht, wie weit es ihn aus der strömenden Flut der von den Fachgenossen geleisteten Studien und Forschungen abgektrieben hatte an einen versandeten Alktlauf, wohin für ihn nur selten noch eine lebendige Welle roltshene Er vermochte, das sah er gleichfalls ein, nicht mehr in die neueste Forschung und ihre Literatur hineinzu-kommen, weil die Zürcher Bibliotheken nicht über die benrgfanden Fachzeitschriften und Werke verfügten. Und am Ende dieser Dinge blickte ihn, wenn auch einigermaßen verhüllt und verschleiert, die schmerzliche Erkenntnis an, daß ihm wohl eine ziemlich vollblütige Philologenader schlug, daß ihm jedoch das Vermögen des schöpferischen Gelehrten mangelte. So beendele er denn, der eigentlichen Wissen-schaft entsagend und frühere Gepflogenheit wieder
25 []aufnehmend, eine Übersetzung des hohen Liedes und staffierte sie mit Anmerkungen aus.
Es fehlle viel, daß er aus diesen Versuchen und Arbeiten den erhofften Frieden geschöpft hätte.Kaum eine halbe Woche verstrich, dag ihm nicht ein Zeitungsblatt ins Haus flatterte, das Hohn und Zorn ausschüttete über den Zürichpuksch und den Pfarrer von Pfäffikon, die Schatten der Gefallenen empor-schrie aus dem ewigen Dunkel und Rache heischte an den Gewalllätern und Gesetzbrechern, die jetzt am Ruder saßen.
So derb nämlich der Volksenkscheid die Radi-kalen gebodigt hatte, sie waren keineswegs gebrochen, sie nahmen vom ersten Tag an den Kampf gegen die Sieger auf, einen e Kampf. Mit allen Stimmen der Leidenschaft bestürmten sie die Vernunft des irregeleiteten Volkes, nicht Gine Leidenschaft. Sie predigten den Sturz der Regieren-den, nicht den Sturz durch Gewalt, sondern durch die Stimmurne. Sie geboten über die gelesensten Blät-ter, über die schärfsten, findigsten, unermüdlichsten Kampffedern. Sie durften qut Erfolg rechnen, weil von lange her fast alle Gebildeten und Begüterten des Kanlons in ihren Reihen standen und weil diese Reihen sich käglich verstärkten. Manche waren während des Straußenhandels in guten Treuen vom fortschritktlichen Banner abgerückt; jetzt schwenkten sie wieder ein, nachdem ihnen die Augen aufgegan-gen waren, wie man im Schulwesen zurückkrebste,freisinnige Männer, Verdienst hin, Verdienst her.drangsalierte und schuhriegelte und vom Kanzelbrett herunter wühlte und hetzte. Es schämte sie an, daß der Zürcher Ehrenschild besudelt war vor den übrigen Eidgenossen und daß sie selber kurzsichtig genug gewesen waren, dazu Hand zu bieten. Mit ihnen shamte sich der besere Volksteil fast insgesamt, und as eben verlieh dem Kampf das Berechtigte, das Ernste, Uberzeugte und zugleich ein gewisses Maß,26 []obgleich man den Gegner, der mit Bengeln odreingeschlagen, und Hirzel zumal, wahrlich nicht mit Sammthandschuhen anfaßte.
Vorne dran fochten unker der Sturmfahne als die unerschütterlichen Kern- und Stoßtruppen die Lehrer, die sich freilich zu allermeist der Haut zu wehren hatten. Sie beinahe 38 leiteten die ländlichen Männerchöre, wo sie nicht bloß mit der Stimmgabel den Ton angaben, Weß auf diesen Feldaltären neben der Flamme des Liedes auch die der Freiheit loderte. Hier war ihnen eine Zuflucht aufgetan. Hier grünten die Hoffnungen auf bessere Zeit; hier durften sie frei von der Leber weg singen,frei von der Leber weg reden, während sie in der Schulstube und vor der Hffentlichkeit häufig wohl katen, die Faust nur im Sack zu machen, wollten sie nicht gemaßregelt oder gar an die Luft geseht werden. Denn die 253 Regenten und ihre Tra-banten standen fortwährend auf der Lauer, jegliches Unkraut in ihrem christlich angesäten Garken quszuraufen. Sie hatten freilich zu tun wie die Braut im Bäd, je länger, je mehr. Sproßte es nicht hier, so sproßte es dort.
Von den Anhieben und Anwürfen im Kampf fiel Hirzel ein gerütteltes Maß zu. Wenn ein Zei mit seiner Donnerbüchse aus dem freisinnigen Lager auszog und es lief ihm just kein Wild an, das der Lärm des Tages und die Parteitreiber aufgetan hattken, so stand immer schußgerecht der Pfarrer von Pfäffikon da, scharf sich abzeichnend im langen schwarzen Rock. Andere hatten emsiger geschürt als er, unbedenklicher dem Streit gerufen,häufiger zum gewaltsamen Umsturz gekrommelt.Allein er, der Geistliche, hatte zuerst Sturm geläutet zum Bürgerkrieg. Er, der Seelsorger, war seiner Gemeinde in den Kampf vorangezogen. Die in Vnge Gestalt vereinten Gegensätze zwischen dem Land-pfarrer und dem Landsftürmer schossen zum handgreif-27 []lichen Zerrbild zusammen, das, von der Phantasie rasch erfafzt und rasch vergrößert, vom Parteizorn und Parteibedürfnis zum Symbol des Zürichputsches und der frömmelnden Reaktion gestempelt wurde.So geschah es, daß der Psarter von Pfäffikon weit über die Kantonsgrenzen hinaus den spitzen Federn der Zeitungsschreiber und den scharfen Stiften der Karrskaturenzeichner anheimfiel.
Er redete sich ein, das berühre ihn nicht; er redete sich ein, er gehe achtlos daran vorbei. Freilich umsonst. Es vergällte ihm die Tage und VRächte und zermürbte ihn um so mehr, als er den im Vorfrühling erhaltenen Stoß nicht völlig überwand. Auch den Parkeiangehörigen wurde es alsgemach über,Woche für Woche den Pfarrer und seine Herde auf die Stirn gehämmert zu bekommen, dessen Dreinschießen ihnen das Konzept verrückt und beklextk hatte. Zuweilen fühlten sie selber ein kleines heim-liches Pläsier, wenn er einen saftigen Tätsch abbekommen hatte. Als aber die ersten bedrohlichen Wolken am Himmel ihrer Herrscherherrlichkeit sich ballten, da wurden sie maßleidig und wünschten den Hirzel ins Pfefferland.
Das Gewölk kürmke sich Ende 1840. Zu Bassers-dorf, unweit Kloten, traken an die fünftausend Freisinnige zusammen, feierten Tag und Tagung als Wiedergeburt der in Uster gewonnenen Freiheu und ihrer Partei, geißelten das herrschende System und legten neben ihrem brandmarkenden Zorn die Wünsche des greispuien Volkes in einer Adresse nieder, die sich, allem en von oben zum Trotz, binnen kurzem mit annähernd zwanzigtausend Unterschriflen bedeckte. Die Gegner rümpften die Nase und erprotzlen siegesgewiß die Probe des Gegenmehrs, steckten aber ihre Pfeifen beklommen ein,als eine Ergebenheitsadresse an die Regierung nur halb so viel Unterzeichner erzielte. Zur Stiunde saßen sie noch groß und hoch am Brekt. Aber wie lange 28 []noch, wenn die Dinge in solcher Weise sich weiter gestalteten?
Das bedachte kaum einer so nachdenklich wie Bernhard Hirzel. Schwangen die Radikalen obenauf, so zahlten sie ihm mit Zins und In zzznsen heim und sperrken ihn von einer felteren Pfründe ab,so daß er auf seiner Landpfarrei versauern und ver-grauen konnte und kein Hahn mehr nach ihm krähte.And ebenso gewiß riegelten sie ihm den Zugang zur Hochschule ab. Ihr Ubelwollen und ihre Rache, war alles, was ihm an Stelle der Hoffnungen blieb,worein ihn der brausende Schall der Sturmglocken gewirbelt.
Sorge und Kümmernis drückten ihn um so mehr,als die GBesundheit und das immer unerkräglichere Benehmen der Frau ihm Ausgaben aufzuzwingen drohten, von denen er nicht wußte, wie er sie erschwingen sollte. Sie versäumte das Hauswesen bei-nähe völlig und ließ ihrer Mißlaune ohne irgend weiches Ansehen der Person dermaßen die Zügel schiefzen, daß der Arzt schliezlich aussprach, was Hir-zel im Stillen schon mehrfach erwogen halle.
Sie werden“, äußerke er nachdenklich und zö-gernd, alsgemach an den Gedanken herankreken müssen, ob sich nicht Mittel und Wege finden ließen,die Frau Pfarrer für kürzere oder längere Zeit außer Haus und aus der gewohnken Umgebung zu bringen,Fern es besser mit ihr werden soll. Besser, sage ich.Ob es wieder gut wird, das steht in Gotles Hand und auf einem andern Blatt. Diese Anderung empfiehlt sich auch für Sie est und nicht minder für den Noldi. Ich brauche mich darüber ja nicht weiter aus-zulassen.“
Hirzel jubelte der Freiheit, der Ruhe, dem Frieden entgegen. Aber die Furcht vor der Ausgabe krallte ihn an. Sie überwucherke den Rest von Liebe und Miktleid, die für Betty noch in ihm lebten. Er hakte zu lange zuviel durchgemacht und ausgestanden.19 []Das Schwanke und Brüchige seines Daseins überwältigte ihn immer mehr. Jetzt endlich wurde er so recht inne, wie verbaut seine Wege waren:hier die Gleichgesinnken, die keine Hand für ihn rührten, dort die Feinde, die ihm geladen hatten;dazu die kranke Frau, von der kein Glück mehr zu gewärligen war. Er sah die scharfen Schosse, aus denen die Rute gebunden war, die ihn kraf und noch härter zu treffen drohte. Lange Tage ging er verzweifelt und mullos herum und wußte sich keinen Trost. Er fühlte, daß sich alles zum Schlimmeren gewendet und daß jeht, wo er sich stellen und bäumen sollte, Mut und Spannkraft kränkelken und selbst aus dem Gebet kaum mehr Stärkung zogen.
Aber langsam federke er wieder empor.Sein Selbstbewußtsein erwachte und erklärte ihm seine Leiden als Prüfung, wie sie jedem zu bedeutenden Dingen Erkorenen verhängt sei. Er sah, er war der Verkannte, der Hintangesetzte, der Märkyrer, berufen, eines Tages vor allem Volk strahlend aus der Trübsal hervorzugehen und den selbsftsüchtigen Parteiklüngel großmütig zu L der ihm kůhl berechnend Vorschub und Hanöreichung verweigerte.
Da ihm das aus morgenländischen in die Muttersprache Uberkragene auf keinen grünen Zweig geholfen hatte, so entschloß er sich nunmehr, als Dichter hervorzutreten; und zwar sollte nicht dieser allein, sondern eine geharnischte Trias, nämlich der Poel, der Sprachgelehrte und der Parkeimann zugleich, zu Worte kommen und alle drei mileinander die gebührenden Plätze erobern.
Aber grade hier lag er mehr als je in den Banden der Zelpsstuschung, Unvermögend, im leicht kennktlichen, ui seinen Wuchs zugeschnittenen Gewand einherzugehen und im landesüblichen,wenn auch einigermaßen gehobenen Ton zu reden,warf er den 3 und abgeschossenen Mantel eines Apokalyptikers um und drakelte schwülstig 36 []und verblasen wie ein due Prophet. Gericht des Todesboten über den Erdkreis, ein hebräisches Gedicht“, kaufte er das Elaborätchen, das er als eine Ubersetzung aus dem Hebräischen ausgab. Es war eine verwäschene Strafspredigt gegen die Radikalen und Freigeister Zürichs und der Schweiz, ja der ganzen Welt, in Kurzzeilen, auf kleinem Formalt ge-druckt, um das dürftig Dünnleibige zu verschleiern.Zugleich war es eine Apotheose des Zürichpulsches.Der Übersehzer des nachstehenden hebräischen Gedichtes fand dasselbe auf gerade an dem Tage, als die Zürcherische Regierung ihrem Volke anstatt des christlichen Glaubens eineñn philosophischen Wechsel-balg unterschieben wollte, im Monat August des Jahres 1839. Wo aber und wie er es fand, vermag er nicht nur jetzt nicht zu sagen, sondern er wußke es damals nicht, als dasselbe zum erstenmal vor ihm lag.“
Die Autoreneitelkeit kitzelle ihn jedoch, die vorgebundene Maske zu lüften und im Vachwort zu prahlen:
So zeige denn mein Gedicht wenigstens die Stimmung, aus welcher der sechste September hervorging, und den wissenschaftlichen und geistigen Standpunkt dessen, der damals zum Wakabi“, das ist Hämmerer“, sich berufen
Selbstbewußt flakterte die dem Chor der magern Versreihen vorangetragene Standarke:Auf, mein Knecht,
Rimm der Vergeltung Tafel!Schreibe darauf
Die Folge der Zeiten,
Du Bote des Verderbens!Dich hab ich erlesen
Vor Hundertkten,Vor Tausenden dir eg Den Ernst meines Willens.“
31 []VNeben der Poetenmuskulatur sollten die geschmeidigen Sprachgelenke des eren gehörig ins Lichk gerückt werden; zu diesem Be u war jeder Seite des deutschen Textes der gleichfalls von Hirzel gedichtete hebräische gegenübergedruckt. Um schließlich die Schale auf die Höhe des geistigen Kerns zu bringen, zwackte er gpe erschrockenen Beutel einige Suberunne ab, damit auf dem liefblauen Umschlag von Glanzpapier der Titel in Rot und Gold gegeben und mit Gold umrahmt werden konnte.
Das erste Exemplar des zierlichen Büchleins schickte er Bluntschli. Nachdem er das Päcklein verschnürt und versiegelt, trat er unter das Fenster, um die Kerze, woran er den Siegellack geschmolzen, ins Freie auszublasen. Da hörte und sah er ein Schwarz-blätkchen, das auf einer vom lebhaften Westwind geschaukelten Birke klangvoll sprudelte und übersprudelte, wie wenn es fes und ruhig säße.
Da sing ich doch um Einiges angein lächelte er zufrieden. Er fühlte nicht, daß das graue Geschöpfchen auf silbernem Birkenzweig, das die aus der Tiefe aufströmende Strophe kaum zu bändigen vermochte, so viel mehr Sänger und Dichker war als er.
Zwei, drei Wochen erfolgte keine Anktwort vom Sitz der Gewalt. Da unternahm er einen Besuch bei seinem Freunde.
Ach“, rief dieser nach der Begrüßung, du mußt entschuldigen! Ou weißt: meine verkrüppelte Zeit! Ich habe es verbummelt, dir für dein reizendes Reuestes Dank zu erstatken. Allerliebst herausgeputzt mit scharmantem Röcklein! Offen gestanden, ich hätke dir so viel Geschmack nicht zugetraut. Mein Kompliment!ꝰ
Ja“, tastete Hirzel, als weiter nichts erfolgte,«aber was sagst du denn zum Inhalt? Der ist doch schließzlich die Hauptsache!“
Vatürlich, natürlich“, stimmte Bluntschli merk-
32 []lich kühler bei und blickte kurz vor sich nieder, wie wenn er sich besänne. Ganz artig! soweit ganz artigl und das Hebräische hast du geschickt eingeschmuggelt, ganz geschickt!“
Ich glaube, es war wirklich nicht das Dümmste“,sagte Hirzel geschmeichelt, die nämlichen Gedanken hebräisch und deutsch aufzutischen. Den Vꝛg wirft mir in der Schweiz nicht leicht ein Zweiter nach; oder sagen wir direkt: kein Zweiter! Ich hoffe, man an-erkennt das und läßt meiner poetischen Tat Gerechtigkeit widerfahren!“
Bluntschli nickte bloß.
Runmehr verspürte Hirzel ein Krabbeln in den Händen.
Ich bitke dich, pack einmal aus!“
Bluntschli sah ihn an, als ob er nicht verstände.
Ich meine“, verlangte Hirzel nachdrücklich, sage mir: was hältst du von meinem poetischen Versuch?Andpas denkst du, daß ich mir davon versprechen arf?“
Die Augenbrauen hochgezogen, überlegte Bluntschli ein wenig und erwiderte dann: Ich wiederhole:ganz artig! nur stellenweise aber du weißt, ich bin nicht Fachmann vielleicht etwas zu hoch, ektwas zu entlegen!“
Ja“, fragke Hirzel, schmerzlich berührt, fühlst du wirklich nicht, daß ich eine bestimmkte, sagen wir ge-radewegs vornehme Haltung bewahre, daß ich mich nicht zu den Klopffechtern à la Leuthy und Konsorken in die Arena erniedrigen wollte? Gerade darauf,offen gestanden, bin ich stolzl“
Schon recht! Aber wenn man in solchen Dingen etwas ausrichten will bei den Leuten und dafür verspritzt man doch wohl Tinke , so muß man ihnen mit dem Holzschlägel winken.“
Ich wollke eben meine Schleuder von hoher Warte schwingen“, beharrte Hirzel bedeutend.
Von deinen Versen laß ich das meinetwegen 3 Freyh, Bernhard Hirzel. I.
*.[]gelten, von deiner Vorrede und Vachrede nicht. Da bist du ordentlich handgemein drauf los. Das wird den Radikalen ein gemähtes Wieslein sein! Ich habe schon etwas läuten hören.“
Seine Stimme nahm plötßlich einen scharfen Klang an. Du wirst deine Heiligen schon noch erleben!“
Hirzel warf sich in die Brust:
F g stehe zu meiner Überzeugung! Ich kenne keine urcht!“
Du gerätltst schon noch in die Lage, deine soge-nannte Furchtlosigkeit zu brauchen. Paß nur auf!Aber, guter Freund, zieh doch beförderlich in Betracht, daß du nicht nur die eigene Haut, sondern auch die der Partei zu Warkte trägst!“
Hirzel riß die Augen auf.
Wie 8 Ein Bekenntnis, daß man und kreu zu seiner Partei, ihren Grundsätzen und Talen steht,das soll der Partei schaden?“
Heut und bei uns wohl“, entgegnete Bluntschli trochen und fest. Da Hirzel mit einer Geberde des Nichtverstehens die Schulkern zuckte, so fuhr er fort:
Unbestreitbbar erobern die Gegner Tag für Tag Boden. Das zwingt uns, ob es schmeckt oder nicht,zu Das ewige Schlacht-geheul, das Huronengebrüll und die lederstrumpfigen Triumphlieder auf die erbeuteten Skalpe sollten endlich verstummen zugunsten eines gemeinsamen Zusammenarbeitens. Die schärfsten Spitzen sollten gebrochen, die ärgsten Gegensätze ausgemerzt werden.Sonst gerät der Staatskarren auf den Holzweg und wir unker seine Räder. Bevor es soweit kommt,* man die Hand zum Frieden oder doch zum Waf-enstillstand bieten.“
Hirzel höhnte entrüstet:
So weit reicht also eure Regentkenweisheit, daß ihr dem Todfeind, der euch lieber heut als erst morgen die Gurgel zerdrücken möchte, das Pfötlchen ent-gegenstreckt, mich aber da draußen zwischen den
34 []Misthaufen hocken laßt, mich, der euch die Kastanien aus dem Feuer geholt hat!“
Er war aufgesprungen. Bluntschli erhob die Hand und bewegle sie, als ob er ihn dämpfen und auf den Sitz herunterdrücken wollte:
Allerdings sagst du: die Kastanien aus dem Feuer gehölt. Aber bevor sie weich waren! Darum müssen wir uns jetzt an der harlen Ware die Zähne ausbeißen und verderben uns den Magen daran. Wärst du nicht so unsinnig ins Zeug geschossen, so hätten wir die Radikalen mit dem Stimmzettel an die Wand gedrückt, und sie müßten jetzt aufs Maul sitzen. So aber streichen sie uns jeden Herrgottentag das Blut der Gefallenen, Verfassungsbruch und Rechtksbruch und nicht zum mindesten den Pfarrer Hirzel von Pfäffikon äufs Brot, bis wir daran erstichen. Und jetzt weißt du beim Eid nichts Gescheiteres, als mit deinem Büchlein den alten Wust wieder aufzurühren und sie noch mehr zu reizen!“
So! so!“ rief Hirzel bleich und bitter. Alles darf nach Lust und Leibeskräften auf mich losprügeln, und ich soll mich nicht einmal mucksen! Ihr pascht eure Hände in Unschuld! Ich bin der Sünden-bock, den man in die Wüste stößt oder doch in der Wüste verkommen in
Bluntschli fuhr sich über die Stirn und schwieg ein paar Aktemzüge lang. Es fiel ihm schwer, dem Freund zu sagen, was er sich schon seit geraumer Zeit vorgenommen hatte:
Die Dinge mögen ein Gesicht kriegen, was für eins sie wollen, schweig und halt dich still! Je weniger sie dich sehen und vernehmen, desto weniger haben sie Anaß und Gelegenheit, nach dir zu schlagen und zu stechen! Vernimm meinen wohlgemeinten Rat! es ist der Rat des alten Freundes: nimm den Rücktritt als Großrat und Erziehungsrat!“
Er legte ihm die Hand auf die Schulter. Aber Hirzel wandte sich unwillig und verließ das Zimmer.
35 []XVI.Hirzel wälzte Bluntschlis ungefüges Ansinnen unter zornigen und schmerzlichen Seufzern hin und her. Schließlich würgte er sich zum Troft durch, seine Partei werde ihn, nach Ablauf dieser Drangsale und Prüfungen, wieder an den Ehrenort erheben, von dem sie ihn jetzt in kläglichem Kleinmut herunterwünsche. Unerschütterlich verktraute er dem Fortbestand und Weitergedeihen der frommen Sache,dem dauernden Regiment der Gutgesinnten, wie sie sich immer noch nannten. Das Aufbrausen und Anschwellen der freisinnigen Flut beirrte ihn nicht.Dieser Glaube erleichterte ihm den von Bluntschli angesonnenen Rückkrikt. So warf er sein Großrakts-mandat sogar mit einer gewissen Leichtigkeit hin und reichte, einmal im Zuge, am nämlichen Tage seine Entlassung aus dem Erziehungsrat ein.
Vun kam er freilich, seit er sich aus dem Ringe der Volksverkreter gelöst, den Leuten weniger in die Mäuler und geriet nicht mehr in die Lage, dem frei-sinnigen Kälblein von Amtswegen ins Auge zu langen, was er bisher häufig hafte kun müssen, da die Wighumgoranuhe Traktandenliste mit auflüpfi-RD Strenggläubigkeit gespickt war, die man sich bemühte, zu Paaren zu treiben. Allein die Zeitungsschreiber fielen nach wie vor johlend und zetkernd über ihn her und ließen erst fühlbar von ihm ab, als sich ihnen ein neuer Jagdgrund öffnete, der gleich von ganzen Rudeln Wild wimmelte.
Dieser Jagdgrund war die ganze Eidgenossen-schaft. Nämlich am Tag des Zürichputsches war der 46 []ene aufgeflogen und hatte alles Land zwischen Rhone und Rhein überstäubt. Allerorten gedieh die Saat. Ihre Frucht war ade der Sonderbundskrieg. In denjenigen katholischen Kantonen,wo die Radikalen am Ruder saßen, begannen die Ultramontanen den Kampf gegen ihre freisinnige Regierung. Die Soutanen rauschten und bauschten. Die Priester und Mönche hant ihren Schildträgern und Spießgesellen steckten die Köpfe zusammen, tuschelten und kalkulierten: wenn im Zürichbiet, am Herd der aghen Lehre und des Freisinns, ehrenfeste und unbestreitbar fortschrittlich denkende Män-ner Hand boken zum Sturz der radikalen Regierung und diese wie ein 5 Brosamen unkter den Tisch gewischt wird, solllen wir das in unserem gut katholischen Land nicht auch fertig bringen?
Im Luzernischen gelang es dem Stimmzeltel fehl; die Regierung unterdrückke einen Aufstand und hob die Klöster auf, die ihn angestiftet. Der eine Teil der Eidgenossenschaft schüttete vor den geschlossenen Klosterpforlen zornige Vorwürfe und fangd-tische Wehrufe aus, der andere stieß sie leidenschaft-lich zurück. Es Igurte die Erbitterung, als Luzern sich anschickte, die Jesuiten zu berufen, und Regierungen protestantischer Kantone, Zürich voran, sich gegen die Klosteraufhebungen erklärten, nicht nur den Radikalen zu Leide, sondern weil man das Recht der Aufhebung in guten Treuen bezweifeln konnke.
Je länger Hirzel in den Streit hineinlauschte,desto ungukter wurde ihm zu Mute. Bis jetzt hatte er Hieb und Stich gegen die Widersacher in Ordnung gefunden, Recht hin, Recht her. Nun aber beklemmte es ihn, daß Bluntschli und Anhang sich mit giftigen Hetzkaplänen und fanatischen Mönchen zusammenschirrtlten. Der Zwinglianer rührte sich in ihm. Auch erwog er bilker, wie die Partei ihm immer noch nachtrug, daß er zuerst das Sturm
37 []Gi ezogen und mit seinen Oberländern zu den W gegriffen hatte; jetzt stand sie ier bereit,den Horden Beistand zu leisten, an deren Spitze schmußige Kuttenträger krampelten, die kaum ihren Namen richtig zu kritzeln vermochten.
Dann dämpfte seinen Groll wieder die Zuversicht, im Grunde sei er's und kein andrer, der den Kampf gegen den Radikalismus zuerst angehoben habe: Mag es werden und enden, wie es will',richtete er sich auf, die vaterländische Chronik kann an mir nicht vorübergehn.“
Nur gut seinen häuslichen Kummer wuchs kein Kraut. Frau Bettys gereiztes Gebahren steigerte sich ins Unleidliche, um dann für Tage und selbst Wochen beinahe völliger Dumpfheit Platz zu machen. Es blieb nichts übrig, als das längst Erwogene auszuführen und sie nach auswärks zu ver-bringen.
Sie sah unbewegt zu, wie man auf ihre Abreise hin das Gepäck richtete. Erst kurz vor dem Ein-steigen ins Gefährt erging sie sich unwillig in der Meinung, man wolle ihr verwehren, ihren schönsten Huft aufzusetzen. Kaum daß es beim Abschied in ihren starren Augen flüchtig aufzuschimmern schien. Noldi, den man früh geweckt, reichte ihr betrübt die Hand, doch ohne Tränen, die er sonst leicht zuvorderst halte. Nur Hirzel war vergrämt und ergriffen. Wie viel Glück hakte er einst von dieser Frau erhofft, die er jetzt als lästigen Quäl-geift und immer beschwerlichere Überlast von seinem Herd enkfernen mußte.
Auf der Heimreise von einem Pfarrhause nahe der östlichen Schweizergrenze, wo er die Kranke hingeleilet und zu ihrer leichtern Eingewöhnung einige Tage verweilt hatte, kehrke er in seiner Vaterstadk an, um die trüben Eindrücke der letzten Wochen etwas abzustreifen. Der Stadtbibliothek zuwandernd,in deren Büchern und Zeiftschriften er einiges zu
38 []e munqie, stieß er unvermutet auf Bluntschli, der sich auf dem Weg zum Regierungs-gebäude befand, und klagte ihm sein Eheleid.Bluntschli nahm aufrichtig teil. Allerdings seufzte es jeise durch: Wie ofk habe ich gewarnt! Aber du hast es nicht anders haben wollen!“
Im Lauf des Gespräches warf er hin:
Du hast aus dem Fahnenrauschen und Bom-bardonschmettern schon herausdividiert, daß wieder eiwas Großes um den Weg ist: Schützenfest! Die Radikalinski werden mit Zündsätzen und Brand-raketen hankieren, daß es eine Ark hat. Dann wer-den sie in den Zeiktungen herumtrompeten, daß einem Hören und Sehen vergeht. Da wäre es nicht unangebracht, wenn sich einer von den Unsrigen,der zu reden versteht, gegebenen Falles ans Brett legke und ihnen übers Maul führe.“
Er blickie Hirzel bezeichnend an. Dieser flammte auf:
So! Dafür wäre ich jetzt gut genug! Und vor-her Taugke ich in keinen Schuh mehr hinein!“
Bluntschli zuckte kühl die Schultern:
Ganz wie du willst! Ich möchte keinen Druck ausüben auf dich. Ich dachte nur, weil du just hiesig bist. Und dann weißt du ja, daß unser Zucherpapier heillos abgeschlagen hat. Gerade während deines Reischens hat Hürlimann-Landis im Vamen und Auftrag des Glaubenskomitees in Wahlangelegen-heilen einen Wahlaufruf erlassen, rein für die Katze, sag ich dir. So siehls bei uns aus! Da muß sich eben jeder an seinem Ort wehren! Du auch!Und bift du mit uns nicht zufrieden, so denk in Gottes Ramen, daß wirs auch mit dir nicht völlig sind! Das hebt sich gegenseilig auf. Und schließlich:du fährst immer noch besser mit uns als mit den Radikalen, die nichts unversucht lassen werden,dich abzusägen.“
Nach kurzem Hin und Wider unterzog sich Hir
40 []zel. Ja, seine weitsprüngige Einbildungskraft stei-gerte sofort den Eindruck a Worte, die er sich vornahm, zu einem Rednererfolg wie in Kloten.Er versank dermaßen in die Ausmalung dieser nahen Trophäen, daß er es als unliebsame Siörung empfand, als ihn ein ehemaliger Klassenka-merad einholte und anredete, der seinem Durst und dem Schühzenkampf mit einem Becherlupf beizuspringen vorhatte.
In den Schießständen knatterte und rauchte es unaufhörlich. Der Schützenzudrang war derart, daß viele warken mußten, bis die Reihe an sie kam.Aber es fehlte pielerorts die Heiterkeit, die solche Feste zu umblühen pflegte. Wancher gereiste Wann, in dessen Barkt schon der Silberstift gezeichnet, harrte, zielte und drückte mit ernstem Gesicht ab. Ihn bewegten weniger Kranz und Ehrenbecher als der Gedanke, man tue wohl daran, auf seine vertraute Waffe neuerdings eingeschossen zu sein,wenn die fanatisch verhetzken Innerfschweizer fort führen, Gewalt und Bürgerkrieg anzudrohen.
Die Festhütte stand noch ziemlich leer, da das Mittagessen mit dem Schwarzen vorüber, die Schühen zur Arbeit abgerückt und die Festbummler erst in mäßiger Zahl aufgetaucht waren. Hinker der Fahnenburg, deren Banner im Luftzug der offenen Halle schnippten, schwänzellen und scharwenzelken krohß einem Altjungfernkaffeekränzchen reckle sich wie ein mächtiger Frosch die mit grünen Zweigen umkleidete Rednerbühne; der Golöpokal auf dem Rednerbrett gleißte gleich einer goldschimmernden Fliege im breiten Froschmaul.
Sonst war vorderhand das Auffallendste Jo-hann Jakob Leuthy, der, gemessen und nach links und rechts blickend und zuweilen stehen bleibend,bedeutend und nachdrücklich den breilen Mittelgang zwischen den Tannentischen einherschritt. Die im verflossenen Jahr fühlbar angeschwollene Abon
4104 []nentenzahl seines Blattes gestattete ihm einen dunkelgrauen steifen Hut und einen feinen, pflaumenblauen, in die Hüften geschniltenen Rock, d Schöße bis in die Kniekehlen absanken. Zu jeder Seite ging ihm ein Bekannter. Sie trugen den aus-giebigen, spiegelblank geputzten Feuerwehrhelm.Sie waren, von emem geringfügigen Brandaus-bruch weg, direkt zur Festhütte geeilt, um durch ihre Ausrüstung ihre bürgerliche Tüchtigkeit zu erhärten.
Leuthy musterte die von Guirlanden zwischen den Holzpfosten gehaltenen Inschriften. Er haltte es einzufädeln verstanden, daß man ihm für sämtliche den Auftrag zugeschustert. Eine lauteke:Jesuitenfreund ist Schweizerfeind!Er sah, indem er mit der Hand darauf wies, erst den zur Rechten, dann den zur Linken schmunzelnd an. Vach ein paar Schritten begrüßte er selbstzufrieden eine andere:Jesuitenbund der Höllenschlund.“Nunmehr gelangte er zu einem Glanzstück:s nächste mal Kugeln in Sack Für's Jesuitenpack!“Er blieb stehen, stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete wohlgefällig seines Geistes leuch-tende Ausgeburt.
Schade“, bemerkte er ärgerlich, es hängt etwas schief. Das schadet dem poetischen Eindruck!“
Bei der nächsten hellte sich seine Miene auf:Treu zu schirmen, jeder whr.Unsre Freiheit, unsre Ehr!
41 []„Hm“, bemerkte er, „es ist vielleicht nicht “ausgeschafft, nicht so geleckt, wie die gristokratisch Verslinge und Zuckerbäcke ihre Sächlein polieren.dafür steckt etwas Körniges darin.“
Zum Schluß, nahe beim Ausgang, kam der Haupttrumpf:Fletscht auch die Knechtschaft Zahn um Zahn,Wir wallen kühn die Heldenbahn!Ich glaube fast“, lächelte der glückliche Dichter,ich habe mich hier selbst übertroffen. Da spürt man das freie Schweizer Mark!“
Ein Ausländer, der den würdig Schreitenden für einen hochmögenden Wagistraten hielt, wandte sich an einen der Begleiter, indem er den strahlenden Helm ins Auge faßte:
Ach, sagen Sie mal: welcher Waffengattung gehören Sie an?“
Schweizer Bergkürassierl!“ protzte der Gefragte, reckke sich und wandelte fürbaß, stolz wie ein Stückhauptmann.
Hirzel setzte sich mit seinem Kameraden an einen beinahe noch leeren Tisch, dicht an der Juderen der Festhütke, über deren halbmannshohe Brüstung man bequem den Blick ins Freie genoß, über Wiesen hinweg zu Baumgärken, hinter denen sich der grüne Berg erhob. Der andere befahl eine Flasche,schenkle ein und plauderte unaufhörlich von den Schuljahren, von seinen Studien, von Frau und Kindern und geriet vom Hundertsten ins Tausendste.Hirzel lauschte nur mit halbem Ohr, pflichtete inhalksgemäß bei oder brummelte einsilbig etwas Ernstes oder unwillig Erstauntes, je nachdem. Er ugn Iig Gedanken zusammenzuhalten, um an einer Rede zu spintisieren und zu drpen obgleich er wohl wußle, daß er das Meiste dem Augenblick anheimstellen und überbinden mußte, da ja für ihn
142 []chied, was die Vorredner sagen würden. Immer der zwang es ihn, über die hinweg e Augen auf den goldnen Redͤnerbecher zu heften,dessen Schimmer ihn reizte und anszuerte während das Gesumm und Geschwirr unker dem weiten Dach ihn einzuschläfern drohte.
Immer häufiger fanden sich Einzelne und, ganze Trüppiein ein, und der Lärm wuchs, sodaß der an die iandliche Stille Gewöhnke, der nur selten sich an bescheidenen Bezirksfesten beteiligt, fast befangen in das immer stärker wimmelnde Treiben blickte.
Plötzlich erscholl draußen auf der Landstraße,keine hundert Schrikte von der Festhütte weg, aus kräftig geschmeidigen Kehlen das Lied: Bemooster 38 zieh ich aus“. Eine stalkliche Studenten-schar in farbigen Mützen und Bändern sang es.In ihrer Mitte fuhr im Schritt eine von zwei Rap-pen gezogene Chaise. Darm saß der Mann und Ldehrer, dem sie das Ehrengeleile gaben, nämlich Ludwig Keller. Ohne Bedauern verließ er die Vaterstadi, von deren polilischen Händeln und Wirren er sich seit dem Zürichputsch döllig fern gehalten hatte, und folgte dem Ruf an eine preußische Hoch-schule, wohin er eben jetzt die Reise antrat, deren ersten Teil seine Hörer, bis über das städtische Weichbild hinaus mitmachten. Die meisten Festbesucher erhoben sich und viele verließen ihre Sitze,um den hellen, klingenden Zug besser zu sehen. Nun kehrten sie, nachdem er entschwunden, an ihre Tische zurück, worauf die hundert und aberhundert Flämm-chen der Unterhaltung wieder emporzüngelten.
Hirzel überfiel eine schmerzliche Bitterkeit. Seit Jahten streckte er fruchtlos die Hände nach einem Lehramt an der Univerfität aus, während der Scheidende, der das seine mit einem leichten Scherzwork hingeworfen halle, eben jetzt den Fuß in eine glän-jende Laufbahn setzle, wie man annahm.
Untker den schrülen Klängen zweier Querflöten 43 []langte ein kleiner Berner Schützenverein an, dessen Bannerkräger in ein Bärenfell gekleidet war. Ein mit weißblauer Armbinde und ebensolcher Rosette geschmückter Komiteeherr bewillkommte die Fahne und ihre Leute weitausholend und schwülstig als den einzigen Gastverein. Der Berner Präsident, der in Zürich einen einkräglichen Käshandel dringlich abzuwickeln und, ohne dergleichen zu kun, den Verein mitzulootsen verstanden hatte, erwidertle kurz und treffend, sein Vereinchen sei ein Müsterchen der vielen kausend Männer im Bernbiet und gekom-men, zu versichern, daß, wenn es losgehe gegen Jesuiten und Jesuitenknechte, der Berner Müh Büchsenfeuer speien und seine Tatzen zeigen werde. Bei diesen Worten hob der neben der Rednerbühne dere Fahnenbär seine Pratzen in die Höhe, die nnenseiten mit den Krallen nach vorn, was bei der Uberzahl der Anwesenden eine Springflut von Hallos und Bravos enkfesselte, die Zischen und Widerspruch Einzelner hinwegspülte.
Der Lärm flaute eben ab, als die Studenken, die inzwischen Ludwig Keller Valet gesagt und mit ihm den lehzlen Handͤschlag getauscht, eng pusgescesen die Hütte betraten und stracks auf einen noch wenig besehten Tisch in Hirzels Nähe zumarschierken, wie denn ihr Gebahren deutlich verriet, daß sie heute schon eine Volle gespielt hakten und abermals eine zu spielen gedachten. Sie eroberten auch sofort die allgemeine Aufmerksamkeit, indem sie, einem mehrfach geäußerten Wunsch Folge leistend, den Bemoosten Burschen zum besten gaben.
Die wehmütigen, von der die ihnen zugefallen war, geadelten Ausblicke und Rückblicke des Liedes besänftigten und erhellten vorübergehend die gereizte, schwüle Atmosphäre. Hirzel fühlte zu den Hochschuljahren Zurn agefübrt nicht zu liederfrohen Zechrunden und zu Ulk und Krakeel mit ledernen Philistern und bockbeinigen Polizisten,44 []sondern zu emsigen Studien, zu hochgeschraubken Gelehrtenwünschen und zum Heimweh nach der Braut. Eines war ihm in Erfüllung gegangen, die Heimführung der Geliebten. Sie hatte ihm zum Unheil eeti Das Übrige war zerronnen.
Ein Mitglied des Festkomites, ein angesehener konservativgesinntker Stadtbürger aus altem Hause,wagte sich bei der nunmehr glattern und friedlichern See hinaus mit einer wohlgemeinten Rede, worin er das Lob der alten Schweizer sang, der Geschichte zuwider ihre dauernde Einkracht rühmte, ihrer Gotkesfurcht ein Kränzchen wand und den Vachfahren dringlich ans Herz legte, je und je auf den Pfaden der glorreichen Ahnen zu beharren, an ihrer kind-lichen Frömmigkeit festzuhalten und hüben und drüben verträglichen Brudersinn zu pflegen, beson-ders aber auf der Hut zu sein vor dem gefährlichen Geist der Neuerung, der in der Welt rumore und an den Grundfesten der altken enenedet rüttle, indem er manchen Bürger verführe, den Eid-genossen der Innerkantone zu verübeln, daß sie leidenschaftlich danach strebben, dem Väterglauben kreu zu bleiben.
Die vermäntelte Inschußnahme der Jesuiten solug bei den heißsppornigen Studenten dem Faß den Boden aus. Ungeberdig schmekterken sie los:Hussal! hussa! die Hatz geht los!
Es kommt gerilten Klein und dieß
Der springk und purzelt gar behenö,
Der kreischt und zetert ohne End:Sie kommen, die Jesuiten!Da reiten sie auf Schlängelein
Und hintennach auf Drach und Schwein:
Was das für munkre Bursche sind!
Wohl graut im Mutterleib dem Kind:Sie kommen, die Jesuiten!
18 []Von Kreuz und Fahne angeführt,
Den EGiftsack hinten IA
Der Fangatismus als Profoß,
Die Dummheit folgt als Bettellroß:Sie kommen, die Jesuiten!O Schweizerland, du schöne Braut,
Du wirst dem Teufel angetraut!
Ja, weine nur, du armes Kind!
Vom Gotthard weht ein schlimmer Wind:Sie kommen, die Jesuiten!Das stürmische Zornlied war das erste gedruckte Gedicht Gottfried Kellers, mit einer Zeichnung des genialen Markin Disteli wenige Monate vorher als Beilage eines freifinnigen Blattes erschienen und nun, nachdem man ihm das klingende Gewand eines andern volksmäßigen Liedes geborgt, kurze Tage vor dem Schützenfest unter Zürcher Studenken auf-A Zischen und grimmige Rufe stemmten sich ihm entgegen, vermochten aber gegen tapferes Händeklat-schen und zähen Beifall das Feld nicht zu behaupten.
Johann Jakob Leuthy verließ samt seinen messinghelmigen Dioskuren den bisherigen Plath, schritt hochaufgerichtet zu den Studenken und bat um die Ehre, bei ihnen zu sitzen, was ihm gerne gewährt wurde. Steffan, der, in Ermanglung einer strahlenderen Sonne, schon vorher in seiner Vähe gesessen,schloß sich ihm an und garnierke nunmehr zusammen mit dem Trio die Bank. Gleich beim Niedersitzen erblickte er am Tisch gegenüber Hirzel und dieser ihn. Beide sahen sich an wie Wildfremde. Leuthy bemerkte es und hänselte:
Kennen Sie den Schwarzrock dadrüben nicht mehr, Herr R Sie haben doch, um den Schirm über ihn zu halten, Ihr feines Gewändlein verregnen lassen!“
16 []Hm“, lächelte Steffan, es war ein flüchtiger Glanzfleck auf meinem Leben. Dem da drüben zuliebe würde ich schon lange nicht mehr die Kappe lüpfen. Die Stalllaterne ist mir aufgegangen, seit ich gewahr wurde, was er und seine Leute uns eingebrockt haben und noch einbrocken. Sie wissen, ich habe mich seit Jahr und Tag wieder zum Freisinn heimgefunden. Drum sitze ich neben dem Sänger d orkampfer der Freiheit, neben Johann Jakob euthy.
Leuthy schmunzelte und spiegelte sich, den Kopf leicht drehend, im Helm seines Vachbars, um sich zu ãA daß seine lichtgrüne Kravatte noch richtig saß.
kraten zwei jüngere Männer an den Tisch heran. Der längliche, blonde, war der Zeichner und Maler Salomon Hegi, der kurze mit den dunkeln Augen im bleichen Gesicht und dem noch nicht völlig ausgereiften schwarzen Vollbart war Golkfried Keller. Er trug einen braunen Walersammetflaus,über den die Stürme der Zeit nicht minder hinweg-Pegen waren, als über das Barett von gleicher arbe.Ihr Herren“, ergriff Hegi etwas schüchtern das Wort, ‚hier bringe ich ihnen den Kunstmaler und Dichter Gottfried Keller, der das famose Gedicht von den Jesuiten gemacht hat. Er kommt wir haben da drüben gesessen Ihnen für den famosen Gesang seinen Dank auszudrücken.“
Ja“, fügte Keller bei, ich komme, zu danken.“
Die Studenten sprangen auf und schütkelten einer nach dem andern den Beiden die Hand. Dann luden sie sie ein, unter ihnen Platz zu nehmen, und rückten etwas zusammen. Goltfried Keller kam just Johann Jakob Leuthy gegenüber zu sitßzen. Der tat nicht dergleichen, sondern blickte, sich zurücklehnend,über den kurzbeinigen Nebenbuhler am Parnaß hinweg. Ein Schatten huschte über Kellers Züge, ver[]XEdaß ihm die Kellnerin Flasche und Glas gebracht,ihm rüstig zuzutrinken begannen, was er geziemend und unverweilt erwiderte, da er während seiner Münchener Walerzeiten ordenklich in den Komment hineingewachsen war. Der Wein kaute ihn auf und löste ihm die Zunge.
Ihr flotter Vorkrag meines Gedichtes“, bemerkte er, bildet für mich eine größere Freude und Genugtuung, als Sie sich denken können. Denn wenn das Geschöpf auch nicht viel kaugt, so erging es ihm doch so miserabel, wie wohl nicht manchem Erstling. Nämlich eine konserpative Vachbarin, die in unsrer Stube saß, als das Blatt, worin es stand,zum Erstaunen der Frauen gebracht wurde, spuckte beim Vorlesen der gräulichen Verse darauf und lief davon. Nun haben Sie, meine Herren, mit Ihrem frischen, fröhlichen Singen die dem Gedicht durch eine blöde Zopfin angeschmierte Niedertracht weggewischt und ihm zu einer Ehre verholfen, die ich mir nicht kräumen ließ. Ich hoffe, später durch bessere Erzeugnisse meiner Feder mich dieser Ehre würdig zu erweisen.“
Sie haben gewiß noch manches Gediegenes auf Lager! Ich denke z. B. an den jüngst gedruckten Pietistenwalzer“, rief einer.
Hm'“, erwiderte Keller fast unwirsch, man machk eben, was man kann. Das Vorrätige ist nicht just von Belang. Ich habe den Zöpfen und Pfaffen wüst gesagt da und dort; dann habe ich meiner unmaßgeblichen Freude über Wahlsiege Ausdruck verliehen und zu Versammlungen aufgerufen und was dergleichen mehr ist.“
WMöchten Sie nicht“, fragte ein anderer, einige davon da droben zum besten geben?“ und er wies auf die Tribüne.
Vein“, wehrte Keller grimmig ab. Ich gehöre nicht da hinauf! Das ist Sache derjenigen, die den
18 []fürs Allgemeine sicherer und packender handaben!“Jetzt räusperle sich Leuthy vernehmlich und zudringlich. Keller funkelte ihn an, fuhr aber fort:Und dann scheint mir: wenn auch gegenwärkig und vielleicht noch für längere Dauer ein scharfes Fechten und Streiten vonnöten und darum wohl-angebracht ist so soll doch der Poet nicht in Kampf und Kampfleidenschaft Ianen bleiben und untergehen, sondern womöglich versöhnlich in eine heitere Zukunft seines Landes und Volkes blicken, ohne immer mit Säbel und Flinke zu rasseln und vom Blut der Feinde zu kriefen. Es schwebt mir etwas vor“ er besann sich einen Augenblick und trug sodann mit wohllautender Stimme vor:So oft die Sonne aufersteht,Erneuert sich mein Hoffen
Und bleibet, bis sie unkergeht,Wie eine Blume offen.
Dann schlummert es ermaltetk,Geduldig mit ihr ein:
Doch fröhlich wacht es wieder auf Mit ihrem ersten Schein.Das ist die Kraft, die nimmer stirbt Und immer wieder streitet,
Das gute Blut, das nie verdirbt,Geheimnisvoll verbreitet.
Solang noch Worgenwinde
Voran der Sonne wehn,
Wird nie der Freiheit Priesterschar In Nacht und Schlaf vergehn.Die Studenten klatschten Beifall. Der Präses kommandierte:
„in honorem Godofredi Kelleri poetae mander fiatl salamander fitl“sala
Freyh, Bernhard Hirzel. M.
49 []Die Kehlen schluckten, die Gläser wirbelten und klappten. Die Rechte am Glas, überlegte sich der überraschte Dichter eine Antwort. Jetzt liit es Leuthy nicht länger, daß in diesem Kreise alles dem gescheiterten Mäler höfelte, der erst ein paar Gedichte zum Druck gebracht hatte, während kein Schnauf geschah, daß er, Johann Jakob Leuthy, auch noch da war. Er räusperte sich aus tiefer Gurgel und bemerkte nachdrücklich:
Meine Herren! Gestatken Sie einem alken und erprobten Vorkämpfer der Freiheit, einem rude Champion der Demokratie, wie ich mich ohne Uber.hebung nennen darf, ein Mahnwort: Ich bin wahrlich der Erste, der es voll und ganz begrüßt, wenn die Jugend ihr Lied schleudert gegen die Feinde des hehren Idols der Freiheit. Denn ich selbst kue das,man sagt, nicht ohne Erfolg, seit zwei Jahrzehnten.Allein die Hauptsache ist; unentwegt bei der Fahne bleiben und nicht nachlassen im Kampf. Denn ein solches Vachlasfen gefährdet die edle Sache und leistet dem Feind geradezu Vorschub. Ich darf das sagen, der ich schon beinahe ein Viertelsahrhundert die Leyer
Weiter kam er nicht. Denn plötlich schrie Goltfried Keller, den der Wein so wie so schon zornmütig gemacht: Schubiak!“, bog sich blitzschnell über den Tisch und schlug ihm mit der Faust den staalsmäßigen steifen Hut, daß er ihm bis au den Mund herunterrulschke.
Das geschah so rasch und unvermutet, daß einen Augenblick alles verblüfft blieb. Dann sprang der ganze Tisch auf. Einige vermochten das Lachen nicht völlig zu bemeistern, denn es machte einen zu spaßigen Eindruck, wie Leuthy sich bemühte, den Hut üüber das Nasenvorgebirge hinaufzuschieben. Keller stand mit blißenden Augen und gebällten Fäusten a, bereit, jeden Angriff abzuwehren, wozu namentlich die beiden Behelmien Miene machten. Allein 50 []der Tisch trennte sie von dem zornigen Gesellen, mit dem, wie sie sahen, nicht zu spaßen war.
Der Präsident der Studenten wußke Rat, da damals Holzereien der Musensöhne und zugewandten Orte auf Weg und Steg wuchertken. Er klopfte mit dem Schläger auf den Tisch und gebot Silenkium.
Steigt subito das Terzett Der Vensten walzer“, gesungen von Kabis, Schnaps und Wickell“
Die drei begannen sofort in schleppendem, süß-lich näselndem Ton:Nun stimmet die Harfen und salbet die Geigen!Nun reicht euch die Händlein zum himmlischen
Ein Weiblein, ein Wännlein, Reigen!Ein Hühnlein, ein Hähnlein!
Je zwei und zwei, wie's am besten sich schickt,Und wie man am frömmsten zu Herzen sich drückt!O süßes Geschmatz in dem heimlichen Dunkel!Begehrliches Tappen und Liebesgemunkel!Mich fasset der Schwindel!
Paradiesisch Gesindel!
O heilige, himmlische Windbeutelei Hinschmelz ich und sied ich im seligsten Breil“Den geschändeten Staatshut in der Hand, zog Leuthy bei den ersten Tönen wie ein verwundeter Löwe mit seinen Begleitern ab. Vom Wein und Hohn des Liedes gestachelt, erhob sich Hirzel und verlangte vom Festleitenden das Wort. Dieser sah ihn nachdenklich an:
Wirklich? haben Sie sich das überlegt?“
Hirzel schnitt bestimmt ab:
Ich hab es mir wohl überlegt.“
Von der Tribüne scholl es:
Herr Doktor Bernhard Hirzel, Pfarrer von Pfäfsikon, hat das Wort!“51 []Kaum war Hirzel oben, so gellle eine Stimme:
Was? Der Blut-Bäni?“
Und von manchen Bänken knurrte und polterte es drohend. Uneingeschüchtert trat Hirzel vor,streckte den Arm aus und fing kräftig und weittragend an:
Iestgenohen! WMilbürger!“
Zwischen den Studenten sauste der Schläger nieder. Sofort erscholl es schlachtgesangmäßig:Schöner, weißer, ledriger Tubaksäckel,Schöner, weißer, ledriger Tubaksack!“Zischen, Pfuirufen und das Begehren nach Stille für den Redͤner mußten sich ducken und erstarben schließlich vor der dröhnend immer wieder einsetzen-den Wiederholung des Zweizeilers, der alles niederwalzte. Näselnd, breitspurig, schleppend, erbarmungs-los, immer von neuem, immer höhnischer, immer herausfordernder, immer siegesgewisser scholl es.Immer mehr Sänger fielen ein. Vom Boden bis zu We unter die Dachsparren gröhlte, grollte,sohlte, schnurrte, schnarrke, knurrte, fauchte, brummte,krawalite, brüllte die Festhütte. Jede Wiederholung schnitt keuflischer, mörderischer ein.
Totenbleich starrte Hirzel in das Getöse. Dann eilte er die Treppe hinab und stürmte unker den Geißeln der Furien ins Freie. Hinter ihm scholl der Höllenchor:Schöner, weißer, ledriger Tubaksäckel,Schöner, weißer, ledriger Tubaksack!“
52 []XVII.
Ohne weiter zu überlegen, nur vom Verlangen erfülli, den Leuten aus den Augen und in die Stille zu kommen, stürmte Hirzel davon und zwischen den traulichen Baumgärken und einzelnen einsamen Häusern dem Ütliberg zu, der wie eine mächtige Feste des Friedens und der Ruhe aufragte und die vom Som-merduft umwobenen Dedroen in den blauen Himmel aufwölbte. Da und dort war etwas Feldarbeit im Gänge. Aber auf dem Wege selbst traf er keine Menschenseele, sodeg er sich allmählig beruhigte und seine Schritte verlangsamte. Einem schmalen, von Hahnenfüßen und Dotkerblumen begleitelen Bergwässerchen folgend, gelangte er hinker den Waldrand. Eine von Buchen umspannte Lichtung erschloß sich. Da stand unweit dem Weg, woran das Wässerchen vorüberstrudelte, eine kleine Steinbank mit hölzerner Lehne. Hirzel, dem es erst jeht bleischwer in die Glieder fiel, wo er sich von der Welt geschieden und vor ihren Gewaltkaten gesichert fühlte, setzte sich und sah sich aufalmend in der grünlich dämmernden Waldkammer um.
Fon drüben, kaum zwanzig Schritte entfernt,träumte der Steilhang mit seinen Bäumen und ihren ieilweise entblößlen Wurzelwirrnissen dunkel zum ge Wasserläufchen nieder, das ihm den Juß bespulte. Dem Ruhenden gegenüber preßzke aus dem schwärzlichen Grunde eine dürftige Quelle, der das untenliegende Gestein den ungehemmten Ausbruch verwehrte, ihre Silbertropfen und kugelte sie über eine graue, zarkbemooste Felsbraue in eine becken-artige Vertiefung hinab, die sie sich in langen Zeiten 57 []ausgewaschen hatte. Da dieser Felsstreifen oie aus dem Erdreich hervortrat, mit der tiefer liegenden Ecke kaum zwei Handbreiten über der Schale, mit der höhern jedoch ein Klafter, so glich das unaufhör-lich zuchkende und leise aufklatschende ran der fallenden Tropfen einer Harfe, die von selber erklang und der nichts mangelte als die Waldnymphe, die ihr Lied dazu sang
Zur Rechten des einsamen Mannes drang über eine niedere Erdwelle, durch die sich das Bäächlein einen Weg gesägt, die schon ziemlich tiefstehende Sonne und legte zwischen zwei auseinanderstehende Stämme einen goldenen Schild, zwischen zwei dicht zusammengerücht einen goldenen Speer herein. UÜber en Wipfeln kreiste ein Weih, ein Eichhörnchen schoß zwischen den Buchen von Zweig zu Zweig und flitzte zuweilen stammauf und ab. Ein Waldfink sos zur sa netzte die Brust, schüttelte das Gefieder,daß es sprühte, und schmetterte nach dem flüchtigen Bad seinen übermütigen Ruf in die Runde.
Für den sinnenden Lauscher auf der Bank fiel vom Trost des Waldfriedens kaum das kümmerlichste Teilchen ab. Erbarmungslos einkönig plätscherte ihm die Wasserharfe sein zerstörtes Leben vor: fruchtlose Anläufe, klägliches Straucheln, erloschene Träume,verwüstete Hoffnungen, die höhnische Volksfehme,die vor einer Stunde über ihn hereingebrochen war.Immer wieder hackte ihm die Sorge die Klauen ins Herz: was soll aus dir werden? Morgen kreischten es die Parteiblätter höhnisch und gistig ins Land,daß man ihn wie den Sündenbock in die Wüste gestoßen hatkte. Dann ging die Hatz erst recht wieder los, bis er aus seiner Pfarrei heraus war und irgendwo in einem Winkel lag. Der Stoß von heute,das fühlte er, übertraf an Kraft und Wirkung alle die hundert Püffe und Stiche der Zeitungsschreiber.Diese erlahmten und verflatterlen wenigstens einiger-maßen mit dem Tag und mit dem Papierfehen.
*24 []Aber was ihn heute betroffen das haltken tausend Augen gesehen und tausend Ohren gehört, und an zehntausend Ohren wurde es weitergegeben und walzte sich vergröbert und verwildert weiter durch die Wochen unnd Monate und blieb mit seinem Namen so unheilvoll verknüpft wie der Zurichput. Die hatten ihm immer wieder das Blut der Gefallenen vorgehalten und angerechnet. Allein heute war ihm zuerst der Name aufgebrannt worden,den ihm nichts mehr abwusch: Blutbäni! Mit diesem Kainszeichen lief er herum!
In seinen Gram gröhlte unversehens eine schmalzige, wacklige Stimme:
Der Mai ist gekommen,Die Bäume schlagen aus!Da bleibe, wer Lust hat,Mit Sorgen zu Haus!
Ein windiger, windschiefer Schneidergeselle schritt wie ein erster Heldentenor dem Wasserläufchen ent-lang den Bergweg her, wobei er mit seinem brest-haften Meerröhrlein fuchtelte und einige verwegene Lufthiebe schlug. Seinen Gesang einstellend, steuerte er stracks der Bank zu, indem er wiederholt einen freundlichen Handwink voraussandke, als ob er einen Bekannten begrüße.
Ist's erlaubt?*, fragte er und pflanzte sich breit hin, ohne eine Anktwort abzuwarten. Sofort begann er:
Herr Schweizer, Sie sind gewiß ein Schwei-zer! ich nehme Gift darauf! Ich hab's Ihnen schon von weitem angesehen Sie haben ein schönes Vaterland, das muß ich sagen! eee bin ich in Zürich angekommen. Da hab ich mir heut morgen gedenkt:heut sahst du dir noch keine Kondition, sondern siehst dir die schöne Gegend noch ein wenig an! Das ist dir
55 []bekömmlich, das tut dir gut! so hab ich mir gedenkt.Ra, ich muß schon sagen, es lohnt sich der Mühe: Die hohen Berge und der See und dann wieder die Häuser, die so nett rumstehn. Das ist eine Pracht! Und dann die köstliche Luft der Freiheit, die man so deutlich spürt. Davon ist draußen bei uns nix, sondern lauter Gensdarmen und Tyrannenbüttel! Und alle Schweizer sind frei und mehr oder weniger Brüder.Sie zum Exempel, wenn Sie so daherkommen, da freut sich jeder, Sie zu sehen, und denkt: das ist auch ein rechter Schweizer!“
Hirzel seufzte und sah zur Seite. Der andere fuhr fort:
Das eben ist hier lobenswert, daß einer dem andern wohl will. Ingegen was zu wünschen übrig läßt, das ist das Bier; ünd man darf erst kein Wörtchen sagen und keinen Mund verziehn, oder man nimmt's einem übel. Sonst aber: Hut ab vor den Schweizern! Und da muß ich Ihnen schon zu wissen tun: vor wem ich diesen meinen Hut ziehe, der kann sich schon was einbilöen!“
Er nahm ihn vom Kopfe und hielt ihn Hirzel vors Gesicht. So einen hal nicht jeder, ja, hat in der ganzen Well wahrscheinlich kein zweiter. Passen Sie auf! Das ist eine Geschichte, die Sie nicht alle Tage hören und auf die ich stolz bin. Nämlich vor eltwa vierzehn Tagen morgen sind's genau vier-zehn Tage ehe ich das Pflaster von München mit meiner Gegenwart verließ, besuchte ich noch das Wachsfigurenkabinelt an der Wadximiliansstraße;DF Sie, ich habe nämlich immer so ein Genie gehabt für die Kunst und hab immer was drauf gehalten, daß ich was zu erzählen weiß, wo ich herkomm und man meine Bildung erkennt. Jetzt also,wie ich da hinaufgestiegen bin in das Kabineit, wer steht da vorne dran? Ver famose Räuberhauptinann Rinaldo Rinaldini und hat einen Hut auf, ich sage Ihnen, der war nicht von schlechten Eltern. Kein
56 []sterblicher Denso ist rum; ich probier mir den Hut.Stellen Sie sich vor: er sitßt mir! Dem Rinaldo Rinaldini sein Hut sitzt mir wie angegossen. Also ich set dem Räuber meinen Deckel auf, den die Zeit schon ein bißchen arg berührt hatte, und galoppiere runter. Und wenn 4 jetzt so mit diesem Hut in der freien Schweiz daher gehe, so müssen mir die Schwei-zer gut sein. Sie können gar nicht anders! ich fühl's!Wie gut müssen Sie's erst haben, wo Sie ein rich-tiger Schweizer sind!“
Hirzel warf flüchtig einen schiefen Blick auf die verwaschene Fratze mit dem Anflug eines semmel-blonden Bärfchens, stand wortlos auf und machte sich raschen Schrikkes davon. Es fiel ihm aufs Herz,daß der landfahrende Schnipfel, für den der Polizei-gewahrsam eher angezeigt schien als der Wald, un-beeinträchtigt seiner Wege ging, während sich ihm selbst tausend Ubelwollende entgegenstemmten und ihn zu enkwurzeln und zu fällen krachteten, ohne daß er sich dagegen wehren konnte.
Solche Gedanken hin und her wälzend und wä-gend, wanderte er wieder stadtwärts. Mitunkter hielt er an, lehnte sich etwa an einen Baum oder setzle sich an einen grünen Rain, um zu überlegen, ob es nicht richtiger wäre, die Rückkehr unter die Milbürger bis zum Einbruch der Dunkelheit zu verschieben.Ach was“, raffte er sich schließlich zusammen,eich habe nichts Böses begangen, sondern nur erütten und vermag doch nicht durch die Lüfte davonzureiten.“Er beschloß, bloß die Nähe der Festhütte zu meiden, die vermutlich jeden Augenblick Zeugen seiner heutigen Achtung enlsenden konnte, denen er nicht in die Hände zu laufen wünschte.
Die Sonne stand schon ziemlich ktief, als er in eine Vorstadt gelangte, deren Häuser, bescheidene
5 *[]Gärken neben und hinter sich, beinahe insgesamt jedes n sib gebaut waren und daher lichte und genh stille Straßen bildeten. Langsam und nachenklich dahinschreilend, wurde er plötzlich veran-laßzt, aufzublicken, weil ihm jemand von oben sacht auf den Hut kippte. Es war der Schwenkel einer an einer Querskange über den Dachrand niederhangenden blauweißen Fahne, die der Inhaber des Hauses dem Schützenfest zu Ehren ausgesteckt hatte.
Aber gelt, die Festhütte!“ schmuppte der Schwenkel schnöd und vollführte einen schadenfrohen Luft-sprung. Hirzel gab es einen Slich ins Herz, sodaß er im Gehen ein wenig innehielt.
In diesem Augenblick bog eine schlanke Frauengestalt um die nahe Ecke und trat in die volle, rotgoldene Lichtflut, die das sinkende Tagesgestirn über die Bergkanke weg aus seiner magischen Laterne in die Straß hinuntersandke. Von ihrem Sktrahl übergossen, schien die unversehens Aufgetauchte aus einem Wärchengarken herauszuktreken oder aus einem Bilde jenes niederländischen Meisters, der mit dem Lichte zauberte wie keiner.
Gleich einem Jäger oder Soldaten trug sie über der rechten Schulter einen Stutzen umgehängt, an dessen blankem, sechseckigem und bronziertem Lauf ein von weißblauer Schleife gebundener Lorbeerkranz hing. Das braune, saubere, beinah dürftige Kleid schloß oben ein kurzer, derbgestickter Kragen,der den zarken Hals freuieß. Dem schmalen, fast überschlanken Körper enksprach das längliche Gesicht mit der leichtgebogenen Nase und dem feinen Munö.Das Schönste waren die dunkelbraunen, langwimp-rigen Augen, gütig und schwermütig zugleich, überhöht vom edlen Schwunge schwarzer Brauen.
Obgleich ohne eigentůche Menschenkennknis und vpon geringer Erfahrung in solchen Dingen, fühlte sich Hirzel doch von einer Ahnüng angeweht, daß hier eines jener feinen Wesen aus einem Gusse vor 58 []ihm stand, die auch unker engen und ärmlichen Verhältnissen die königliche Schöpferin Vatur zu bilden sich vorbehält.
Die Unbekannte erleichterte ihm die Anknüpfung,indem sie, leicht nickend und leicht errötend, leise grüßte:
Grüezi, Herr Pfarrer!“
Freudig erstaunt fragte er:
Kennen Sie mich denn? und woher, wenn ich fragen darf?“
Von anno 39 her. Ich war gerade drüben in Stadelhofen, für meinen Vater selig einen Auftrag auszurichten, und wolltke wieder der Brücke und heim zu, als man mir Sie zeigte. Sie standen außer-halb der Wasserkirche und waren eben daran, Ihre Leute, auf die man geschossen hatte, wieder in Ord-nung zu bringen. Ich weiß noch ganz deutlich, wie bleich Sie aussahen. Das dauerte mich. Und später traf ich Sie noch einmal beim Rennweg. Da sahen Sie auch kraurig aus.“
Sie sagte das so teilnehmend, daß ihm warm ums Herz wurde.
Und wo wollen Sie denn mit Ihrem Word-gewehr hin?“ lachte er.
Ich mußte für meinen Bruder eine Rechnung bezahlen und einen pressanken Bericht holen. Das ging länger, als er gemeint. Wie ich heimkomme,ist er fork und hat den Bescheid hinterlassen, er sei schießen gegangen. So stiefelte ich ihm also in die Festhütte nach, da die Sache, wie mich dünkte, keinen Verzug erlitt, und nahm ihm dann gleich den Stutzen und den Kranz mit heim, den er neesen So kann er ruhig beim Schoppen bleiben, bei dem er,wenn er einmal dazu kommt, leicht ein wenig seßhaft wird. Das verdient er wohl und ist ihm zu gön-nen. Denn er ist ein Guter und Fleißiger.“
Ihre Augen leuchteten.
59 []Wie weit wollen Sie denn noch mit Ihrem Kriegsgerät?“
Nur noch zwanzig Schritt! bis da droben! das zweike Haus unterhälb der Ecke; Sie müssen dran vorbeigekommen sein.“
„Das nimmt mich jetzt doch wunder, wo Sie dahein sind. So weit darf ich doch noch mit, nicht wahr?“Ja, gerne“, nickte sie freundlich.
Sie gelangten bald zu dem niedrigen Haus. Es war eine Schmiede mit schmaler, durch zwei Holz-pfosten gestützter Vorhalle. Ein paar Eisenringe staken in ihrer Mauer, woran man beim Padlagen die Pferde anband. Von den Seitenwänden her schwoll Wildrebengerank nach vorn und überfluktete halbwegs den Schild mit der Inschrift Hans Welti.
Also Welti heißen Sie?“
Ja, MWaria Welti.“
Er hätte gerne noch weiter geredet und gefragt.Aber er fühlle sich befangen. Er brachte nicht heraus, was ihm auf der Zunge brannte, nämlich ob er sie nicht wieder sehen könne. Ohne es zu wissen,blickte er sie verlangend und bittend an, wobei er ein wenig die Hände bewegte, als ob er sie zurückhalten möchte.
Trotz ihrer Unerfahrenheit fühlte sie, was in ihm vorging, und kam ihm zu Hilfe.
Möchten Sie nicht noch ein Augenblicklein meine Blumen sehen? Ich will nur noch schnell den Suen versorgen. Gehen Sie nur da am Haus vorbei!“Sie stieg eine J& Seitentreppe hinauf und erschien gleich wieder. Mit glücklichem Sltolz führke sie ihn zwischen den bescheidenen Herrlichkeiten des sorgfältig gepflegken Gärichens herum, indem sie ihn baid auf eine Blüte, bald auf ein Blatt aufmerksam machte.
650 []Sie haben wohl Blumen sehr gern?“ fragte er,dem Blumen ziemlich gleichgültig waren.
O ja“, bestätigke sie, die Hände falkend. Ich weiß nicht, was ich auf der Welt sollte ohne Blumen.Wäre ich reich, ich gäbe wenig auf Kleider, Gemach und schöne Einrichtung. Aber Blumen wollte ich haben, schöne und viele, vom ersten Frühlings- bis zum letzten Und an Treibhäusern follle es mir auch nicht fehlen. Da die Pfarrer so häufig zu Kranken kommen, so haben Sie gewiß oftmals bemerkt, was für ein Glück man solchen mit einem Strauß bereitet, und wäre es nur die einfachste Feldblume, die man im Vorübergehen pflückt und mit einem Grashalm bindet.“
Er nickte und wagte nicht zu bekennen, daß ihm das eigentlich niemals zu Sinn gekommen war und daß auch weder seine Eltern noch seine Frau sich je um Blumen gekümmert hätken. Wenigstens erin-nerte er sich an nichts dergleichen.
Herz und Mund gingen ihr auf, weil sie sich in ihrein Bereich fühlte und über ihre Lieblinge reden durfte. Sie fuhr fort, ohne eine Ankwort zu erwarten:
„Sehen Sie hier die Kapuziner! Das dunkle,köstliche Rot! Und wie sie herrschelig und heraus-fordernd blicken! Sie sind wie Menschen, die nur darnach krachten, sich recht herauszuputzen und in die Brust zu werfen, um ja zu denken, was die Leute von ihnen sagen. Da sind die Rosen eine andere Zunft: sie duften und lachen und leuchten und freuen sich, daß sie blühen und Sonnenschein, Tau und Regen genießen dürfen. Sie sind ein Lob- und Danklied für den Schöpfer, der sie in seiner Güte werden ließ. Hinwiederum die Malven treiben ihr verschiedenes, besonderes Wesen: zufolge ihrer Länge blicken sie über alle andern Blumen hinweg.Aber sie werden nicht hochfahrend und überheben sich nicht. Sondern wie jemand, der weiter sieht als die
61 []übrigen und alles richtiger beurteilt, besitzen sie etwas ernstes und überlegenes und beschauen mit ihren großen, sanflen Augen die Dinge weit herum. Wäre ihnen Sprache verliehen, sie wüßten manches zu sagen und manchen klugen Wink zu erkeilen. Auch scheint es zuweilen, als ahnten sie, daß es schließlich aufs Verblühen und Verwelken hinausläuft, wäh-rend die andern Blumen nur so in den Tag hineinleben und sich nicht träumen lassen, wie bald alles ein Ende nimmt. Die Astern hingegen haben das Eigene an sich, daß sie das vom Ende und Sterben ganz genau wissen. Sie erleben es auch. Sie sehen ihre uhenen und Kamerädlein im Garken und draußen in Feld und Wald insgesamt vor sich vergehen und abscheiden. Aus diesem Grunde sind sie voll von Wehmut, so lustige Farben sie auch an sich tragen mögen.“
Das redete sie mehr so vor sich hin. Es waren Einfälle und Gefühle, die sie ungestaltet mit sich herumgetragen, für die sie bei niemand Veppene erhoffen durfte. Jetzt, vor Hirzel, dessen Nähe sie seltsam berührte und dem sie Mitempfinden und Einsicht zutraute, war ihr auf einmal das Herz auf-gegangen, und sie hakte unversehens Form und Worte gefunden, sodaß sie wie aus einem Traum erwachend sprach. Dabei war sie fortwährend kätig,indem sie sich da und dort bückte, um ein welkes Blatt zu brechen, eine Schnecke abzulesen oder sonst einen gärtnerischen Hilfsdienst zu verrichten.
Hälte Hirzel derlei Gedanken aus dem Munde einer indischen Wärchenprinzessin vernommen, er hätte sie als köstlichen Fund gewürdigt, sorgsam bekrachtet und nach allen Seiten gewendet. Jetzt aber fühlte er die Seele kaum, die sich eben, von Blumen tkräumend, blütengleich erschloß. Seiner beflissenen Versdrechselei und Ausschnüffelung orientalischer Dichterschönheiten zum Trotz war er eben doch mehr Gelehrker als Poet. Er vermutete, die schlanke Gärk-62 []nerin, der das anscheinend sehr bescheidene Herkommen und das enge ee schwerlich Bildung erlaubte, tische ihm Widerklänge aus irgend einem Erbauungsbuch auf.d Sie gren gewiß eine gute Schülerin?“ erkun-igte er sich.
Sie schüttelte unmerklich den Kopf:
„Ach, es war in der Schule mit mir eben nicht weit her, wenigstens nicht im Rechnen. Fleißig war ich wohl und ging auch gern. Doch in den ersten Zeiten sah es in meinem Kopf eher aus wie in einem Marktkorb.“
Jaꝰ, fragte er belustigt, wie sieht's denn in einem Marklkorb aus?“
Alles durcheinander, wie man eben einkauft und A
Gut“, rief er, und dann?“
Später wurde es besser. Aber als mir der Knopf aufgegangen war, da hat man mich heraus genommen. Und das kostete mich Tränen. Ich hätle so gerne mehr gelernt.“
Sie lesen gewiß gern und häufig?“
Mit tausend Freuden, wenn ich dazu käme. Wo svi ich Bücher und Zeit hernehmen? Aüch ist meiner utter das Lesen gar zuwider. So bleib ich leider stehen, wo ich bin, da mich niemand über die Mauer lupft und ich Frs nicht hinüberzuspringen vermag.“
Wie denken Sie sich's denn, wenn Sie geschulter wären?“
.So genau bin ich nicht imstande, das zu sagen.Nur das eine puß ich: ich gäbe einen Finger von der Hand, wenn ich Lehrerin werden könnte. Leider ist es unmöglich, ich sehe es wohl ein. Aber ich finde mich so schwer darein! Ich verwinde es nicht. und I
Sie blickte tkraurig vor sich hin und streifte eine Träne von der Wimper.
.Das Lehrerglück“, suchte Hirzel zu trösten, ist
53 []nicht so weit her, wie Sie sich's einbilden. Es ist kein Schleck, ungeberdige und unbegabte Kinder zu hirken.Sind auch nicht alle so, so verderben sie einem doch oft die Freude an den bessern. Gehtes mit den Kin-dern gut, so haben sie selbst und die Eltern das Verdienst daran. Gehl's schief, so trägt der Lehrer die Schuld. Ein alles Lied!“
Ja schon, Herr Pfarrer. Ich erinnere mich auch gar wohl an die Säukinder in meiner Klasse, die dem Lehrer zu Leid werkten, wo sie nur konnten. Ich hälte sie manchesmal erhaaren mögen! Doch Unge-schulte schulen und Unerzogene ziehen, ist köstlich Werk, ist Nächstenhilfe und darum so schön und gottgefällig. Und dann ist noch etwas anderes“ sie sliockte und kastete ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken und das anbringen soll. Etwa so:nämlich wenn ein reicher Zinsleinpicker seinen Säckel auftut und spendet, so wird er dadurch, wie mich dünkt, nicht besser, weil ja auch gar keine Mühe und Arbeit dabei ist. Sondern solche Leute überheben sich erst noch mehr und meinen wunders, was sie voll-bracht hätten, wiewohl sie doch nichts weiker kun,als daß sie von ihrem Überfluß abladen. Hingegen wenn man sich ordentlich an den Laden legt, die Menschen aus dem Gröobsten herauszuziehen und ihrer Seele aufzuhelfen, so, meine ich, wird man besser und kommt aus dem käglichen Gerümpel heraus. Das ist mehr als die ewigen Staublumpen und Kochhäfen, woran man schließlich kleben bleibt und versauert. Ich weiß nicht, wie schwer oder leicht es mich einst ankommt, von diger Welt abzuscheiden.Aber das weiß ich: wenn ich einem Menschen so recht geholfen hätte, es ginge mir leichter, und ich dürfte mit besserem Mut drüben die Augen auftun.“
Sie hatte sich warm geredet, obgleich sie sich mehr an einen unsichtbaren Hörer als an Hirzel gewendet hatte. Jetzt überfloß ihr bleiches Gesicht ein zarkes,verlegenes Rok.64 []Nichts für ungut, Herr Pfarrer, daß ich so ungeniert drauflos rudere! Es hat mich halt übernommen!“
Er hatte zuletzt kaum mehr auf das Einzelne gehört. Er stand in ihren Anblick versunken. Die warme Seele überströmte ihn wie Sonnenschein. Erst in diesem Augenblick wurde ihm eigentlich völlig bewußt, daß er zehn Jahre lang an der Seite seiner Frau gefroren hatte. Er faßle ihre schmale, läng-siche Hand, die sie ihm, vor Schrecken leicht zuckend,doch ohne Widerstand überließ.
8 hätte nie gedacht, daß Sie so kühle Hände aben.“Kühle Hände, warmes Herz', lächelte sie halb schelmisch, halb schwermütig, enizog ihm die Hand,bückte sich, brach eine Rosenknospe und steckie sie sich an den Gürkel. Er nahm einen galanten Anlauf:
Es wäre doch herzig, wenn Sie das Röslein stait Ihnen mir angesteckt hätten. Sie sind ja selber wie eine Blume und haben darum keine nötig.“
Sie schütteltle langsam den Kopf:
So gehe ich mit meinen Blumen nicht um. Bis vor ungefähr einer halben Stunde haben Sie von mir nicht das geringste Bißchen gewußk. Und jetzt begehren Sie schon eine Rose von mir! Zudein, Herr Pfarrer, Sie kragen einen Ring am Finger! Sie sind also versprochen oder verheiratet.“
Ja freilich“, räumke er bilker ein. In gedrängten * erzählte er ihr die Leidensgeschichte seiner e.Drüben am Zürichberg verglühte der letzte Abendschein. Hier, auf der linken Seeseite, begann sich schon die Dämmerung fühlbar zu machen, als Hirzel seinen Bericht endigte. Es fröstelke ihn und es wandelte ihn heimlich an, sich zu fragen, wo und wer er eigentlich sei, daß er einer Fremden, Unbekannten, die ihn im Grunde so wenig anging, als er sie,zusammenhangend sein Leid berichtete, wie er es
5
Frey, Bernhard Hirzel. II.
65 []eigentlich noch keiner Menschenseele berichlet hakte.
Das Weh der Vereinsamung überkam ihn. Sein
28X dünkte ihn in diesem Augenblick doppell wer.
Die Hörerin fuhr über die Augen. Die in feinen Frauenseelen übermächtige Ighb das Mitleid, hatte ihr sein Bild beim ersten Anblick angepragt Jetßt soht es sie noch stärker, da sie in sein Elend hineinickte.
Wortklos nahm sie die Rose aus dem Gürtel und überreichte sie ihm.
Ein Fenster klang und eine scharfe Stimme rief:
Warie, kochen!“
Die Mutter!“ erklärte sie. Wie habe ich mich versäumt! Gute Vacht, Herr Pfarrer!“
Das Herz wurde ihm eng.
Darf ich Sie wiedersehen?“ drängte er. Sie besann sich einen Augenblick. Dann nickte sie.
Darf ich Ihnen schreiben?“
Sie bejahte kaum hörbar und enlkeilte.
Es bedünkte ihn, als er nachdenklich und auf Umwegen dem väterlichen Hause zuwanderte, er sei heute ausgestoßen und ein mächliges Tor donnernd hinter ihm zugeworfen worden, jetzt aber öffne sich heimlich ein Pförtchen des Paradieses.
56 []XVIII.
Die Eltern hatken sich mit einem betagten Herrn,der zu Besuch gekommen war, und mit dem MWeister-gesellen zum Abendbrot gesetzt, als Bernhard Hirzel ins Zimmer trak und den gewohnten Platz einnahm.Kaum hatke die Mutter das Tischgebetchen beendigt,so polterle der Vater heraus, indem er die Ellbogen auf der Tischplatke aufgestemmt ließ, die knochigen Hände unterm Kinn, wie er sie zum Gebet verschränkt hatte.
Der Teufel hal's gesehen, was du für verwünschte Torenbubereien anstellst!“
Ich? Wieso?“ fragte der Sohn ruhig. Nicht daß ich wüßte.·
So, du weißt nichts! So will ich dirs sagen: aus der Festhütte haben sie dich hinausgefuhrwerkt vor allem Volk wie einen besoffenen Stierenkreiber! Eine berfluchte Schande das! Seit unsere Stadt Zürich steht, ist so etwas keinem anständigen Bürger pas-siert. Aber es gibt bale Leuke, die nichts aufs Puntenöri nehmen. Vatürlich werden morgen die radikalen Kesselflicker in die Hände speien und in ihren Blättern den Wist verzelteln, daß er zum Himmel stinkt. Jeder Lumpenhund wird meinen, er dürfe an mir seine dreckigen Schuhe abputzen, weil ich so einen Sohn habe. Jetzt blüht mir der Lohn dafür, daß ich dich studieren ließ! Sorge hat man dir gekragen wie einem Ei, das nicht gekocht ist. Und sehzt machst du derarlige Sachen! Es wäre besser ge-wesen, dich einmal handgreiflich in den Senkel zu stellen. Der Haufen Geld ist weggeschmissen! Es ist zum Umpurzeln!“
57 []Jetzt begann er die Suppe auszulöffeln, mit der die andern schon fertig waren. Uber dem Essen feuer-teufelte er noch eine Weile fort, bis die unwirsche Flamme in sich selbst zusammenprasselte. Der Sohn hütete sich, sie durch irgend welche Gegenrede zu nähren. Er wußkte aus tkausendfälliger Erfahrung,daß Schweigen das Beste war. Auch empfand er keine Lust, vor einem Fremden und dem Gesellen den Familienhader breitzutreten, um so weniger, als der Vater Geld und Geschäft noch fest in der Hand be aber nicht mehr für voll gerechnet werden urftke.
Er fühlte sich vom Tag, der ihn so unerwarket mit rauher Zange gepackt und ebenso unvermutet lieblich angelächelt, dermaßen gezaust und gerüttelt, daß er sich bald unter die Decke machte.
Kaum halte er nach ausgiebigem, wenn auch unruhigem Schlaf die Augen geöffnet, so schauerke und wölkte das Volksverdikt der Festhütte über ihn.Allein es währke nicht lange, bis die braunen Augen der Maria Welti durch die Schwaden strahlten und ihn aus dem Bett lockten. Noch vor dem Worgen-kaffee stieg er in die Bodenkammer und kramte aus altem Büchergerümpel, das er nicht nach Pfäf-fikon mitgeschleppt, eine Blütenlese andächtiger und gefühlsseliger Gedichte und eine Erbauungsschrift hervor. Er schlug ein graues Packpapier darum und verschnürte und versiegelte es eben so besugen als ungeschickt, sodaß das Päckchen klobig und unordentlich aussah. Nach dem Frühstück wanderke er damit der Post zu. Aber auf dem Wege dahin übernahm es ihn. Er steuerte nach der kleinen Vorstadt-schmiede, um der schlanken Insassin die Bücher einzuhändigen.
Sie blickte ihn abwechselnd überrascht, erschreckt und erfreut an; er wurde nicht sofort klar, welches am meisten. Sie erschien ihm übernächtig, bleicher und schmaler als gestern und um ein Jahr gealtert.68 []Fehlt Ihnen etwas? oder komme ich ungeschickt?Vielleicht in eine Wäsche?“ erkundigte er sich.
Sie verneinte, wobei sie die großen Augen weit öffnete, daß über und unker den dunkeln Sternen ein Streifen des Weißen schimmerke.
Aber es muß doch ekwas vörgefallen sein, irgend etwäs Ungerades“”, drängte er, daß Sie heute anders find als gestern. Sie kamen mur heiter und zufrieden vor, als ich von Ihnen Abschied nahm.Sue vielleicht Ihrem Bruder etwas zugestoßen ein?
O nein, er kam gut heim und ist im Strumpf.“
Oder ist mit Ihrer Mutter etwas?“ setzke er wieder an.
Sie schüllelte den Kopf und preßte die Lippen aufeinander.
Um einen neuen Anlauf verlegen, T er die Wände der engen Stube, enldeckte jedoch nichts als ein mit Schnörkelbuchstaben gedrucktes und von dünnen Holzleistchen umrahmkes Vaterunser.
Sie rührte sich nicht, sondern stand da, an den Tannentisch gelehnt, und blickte über ihr dürftiges,abgetragenes Hauskleid und auf die im Schoß gefalleten Hände. Er trat einen Schritt näher.
Jungfer Welli, ich merke es ganz deutlich, Sie drückt irgendwo der Schuh, und Sie haben etwas auf dem Herzen. Wollen Sie sich nicht mir anvertrauen? Von Amtswegen habe ich so manchen pfarrerlichen Zuspruch erkeilt, so manchen seelsorger-lichen Trost gespendet, so viele Tränen gekrocknetk,so manches Herz dne so manchen gesunkenen Mut aufgerichtel, daß ich hoffen darf, auch Ihnen möglicherweise eine geistliche Handreichung zu kun,zumal es hier nicht das Amt ist, was mich reden heißt,sdgn. mein Gefühl für Sie, meine Teilnahme
ür Sie.
Wiederum schüttelte sie den Kopf; dann entgeg-nete sie nach einigem Besinnen kraurig und stockend:
69 []Sie können mir nicht helfen, Herr Pfarrer. Sie vermögen ja sich selber nicht zu helfen, und Niemand vermag es.“Jetzt war das Kopfschütkteln an ihm.
Ums Himmelswillen“, bat er, ‚wie soll ich das verstehn?“
„Ganz einfach. Ich habe heute nacht so viel an Ihr häusliches Unglück denken müssen. Und in dieser Sache können Sie sich doch nicht helfen, sowenig ich A
Ihre Stimme zitterke. Eine Träne verbergend,wandte sie sich ab. Unter seinen Verwandten war keiner, dem er sein Hauskreuz klagen, unker seinen Freunden nicht einer, dem er rückhaltlos das Herz hätte ausschütten und sich erleichtern dürfen. Wie aus dem Munde Bluntschlis hörte er überall oder meinte zu hören richterliche Worke, die da sprachen:Dir ist recht geschehen! Du hast es nicht anders gewollt!“ Diese Fremde hingegen, die gestern zum erstenmal zufällig über seinen Weg gegangen, sie fragte nicht nach Fehle und Vergehen, sie forschte nicht nach Recht und Unrecht, sie ermaß nicht Umstände und Verhältnisse, aus ihnen ein Urtkeil zu schöpfen. Sie umfaßte sein Leid, sie beklagte sein zerstörtes Glück. Ihre Träne galt seinem verwüsteten Paradies, das sie so wenig gekannt wie ihn selbst.
Er fuhr hastig nach ihrer Hand. Da klopfte ihm,wie er sich bückte, das Bücherpäcklein, das er in die Tasche des langen Vockschoßes gesteckt, an den Schenkel. Obgleich es bestimmt war, ihm als Vor-wand zum Besuch zu dienen, so halke er es doch beim Eintreken vergessen, weil ihn das veränderke Aussehen und das unerwartete Benehmen Warias verblüfft und aus dem Konzept gebracht hatke. Jetzt grub er es hervor, nicht ohne Mühe, weil sich die Ecken im Taschenfutter verfangen hatten, und überreichte es ihr.70 []Tiefgründiges Aufleuchten ihrer Augen und jähes Erröten bis an die Schläfen dankten ihm.
Er klaubte sein Sackmesser zutage und wollte sich daran machen, die Schnüre zu zerschneiden und den Hort zu entblößen.
Ziicht, nicht!“ wehrte sie. Es wäre Sünde und Schäde um die schönen Schnüre! Die kann man wie-der brauchen in diesen keuern Zeiten!“
Sie brach die Siegel mit dem Hirzelwappen,einem Hirsch in offenem Zelt, und löste mittelst einer Haarnadel gewandt und geduldig, was er ungeschickt fusammengeknoket halte. Es währle nicht lange, so schlugen ihre schmalen Hände das graue Papier aus-einander und hoben den Schatz, den sie mit einem leisen Aufruf gerührkler Freude begrüßte.
Hirzel konnte sich nicht enthalten, die Slirn zu küssen, die sich über die Blütenlese neigte.
Rächmillags setztle er sich im die Post nach dem Oberland. NRiemals zuvor, bedünkte ihn, hatte er sich so wohlig in die Wagenecke gedrückt, so behag-lich die Beine von sich gestreckt. Es beschwerke ihn nicht, es erleichterte ihn, daß er einem verwaisten Hertde entgegenfuhr. Diesen Gedanken wie die zuhuschenden Geldsorgen verscheuchte er leicht. Auch schien ihm nun der Schlossensturm in der Festhütte nicht mehr die gesamte Lebensernte in Grund und Boden gewettert, fondern manchen keimenden Halm,manche Ahre verschont zu haben. Und immer wieder,immer heller und tröstlcher glänzten durch das an-scheinend leichtere und abziehende Gewölk die großen Augensterne Marias. Ihm war, sie sitze an seiner Seüe und rede mit ihm und er führe sie heim, dem Glück und dem Frieden enktgegen, die ihm Frau Betty nicht beschieden.
Als die blanken Postgäule den Hang des Zürich-berges hinabgetrabt waren und dem flachen Gelände zuklingelten, ließ Hirzel das Verdeck des Wagens zjurückschlagen, da niemand mitreiste. Nun steckle 71 []er erst recht seinen Träumen keine Grenze, sondern ließ d schweifen über die vom Segen beschwerten Fruchtbäume, hinweg nach den grünen Feldern und den blaudämmernden Waldrändern, die den Vorboten des Herbstes enktgegenlauschten. Ein Sprudel Reime rann über die Schwelle der kristallenen Lüfte und schläferte ihn klingend ein.
Hufschläge störten ihn auf. Ein Reiter überholtke die gemütlich und gemessen rollende Post und trabte ohne Gruß vorbei und fürbaß, dem keine zweihundert Schritt entfernten Fehraltdorf zu, dem letzten Dorf vor Pfäffikon.
Im untern Talboden hausten schon die Schatken,während die Sonne noch ihren rokgoldenen Mantei an den Hängen ausspreikete und, eben vom Dorf Abschied nehmend, den feurigen Finger auf den Gockelhahn des Kirchturms tupfte. Es war ringsum fried-lich und heimlich und außer den verhallenden Hufen nichts zu hören als Kuhgeläute von einer entlegenen Wiese her.
Die Post fuhr gerade ins Derß ein, und der Postillon knallte erklecklich, um sein Erscheinen kund zu tun, als einer einen stattlichen Leikerwagen, der vor dem Goldenen Lamm gestanden, quer aut die Straße hinausführte, das Händpferd eng am Zügel haltend. Er blieb vor den beiden Gäulen stehn, wie wenn er sie elwas zurückzustoßen gedächte, und tat nicht dergleichen, als ob er die schon dicht herangekommene Post im geringsten bemerke. Ein halbes Duhend Männer kraken aus dem Wirkshaus heraus,alle im bäurischen Sonntagsgewand, wie sich krotz dem schwindenden Licht erkennen ließ. Sie schwängen sich auf die quer über den Wagen gelegten Sihbrettler. Einer aber blieb, an den Wagen gelehnt,mitten auf der Straße stehen und blickte der Post entgegen.
Ein Knecht trat mit angezündeter Lakerne aus dem Hause und stellte sich neben ihn. Ein Madchen 72 []folgke, um dem Reiter, der sich eben wieder in den Saktel schwang, ein Glas Wein zu reichen. Als er,wenige Minufken vorher, in die Gaststube getreten war, hatke er beiläufig hingeworfen, Pfarrer Hirzel sihe in der Post und werde bald da sein.
Obgleich der Postillon an mehr als einer Station sich mik einem Schoppen aufgefrischt hatte und verduselt vor sich hin blickte, begriff er doch, daß es darauf angelegk war, ihm den Durchpaß zu sperren.Die Zügel anziehend, schrie er erbost:
Was ist das für eine verfluchte Sauordnung,daß der Wagen mitten in die Straße Wtent wird,wenn die Post durch will? Ich fahre schon lange,aber so elwas ist mir noch nicht passiert.“
Verreiß das Maul nicht so“, schnauzte ihn einer vom Wagen her an, ‚sonst wollen wir dir die Nähke schon eintun, daß du dein Lebtag daran denkst!“
Er zeigte im flackernden Lakernenschein ein Gesicht und ein paar Fäuste, die zu seiner Drohung paßten wie der Deckel zum Topf.
Hirzel traute dem Landfrieden nicht recht, vermochte sich aber nicht einzubilden, daß die unbekannten Bauern etwas anderes im Schilde führten als einen vom Wein eingegeisteten Varrenstreich. Er erhob sich vom Ledersiß und machte Miene aus-zusteigen.
Der am Wagen streckte beruhigend die Hand aus:
Bleiben Sie nur ganz unbesorgt auf Ihrem Plätzchen, Herr Pfarrers Es wird Ihnen kein Härchen gekrümmt, und Sie können im Augenblick weiter. Wir haben bloß gedacht, als wir vorhin erfuhren, daß Sie unkerwegs sind: am Ende nimmt es den Herrn Pfarrer doch ein wenig wunder, was wir heute verrichtet haben.“
Hirzel warf sich ärgerlich und rügend in Positur:
Es wäre schicklicher, Ihr würdet die Straße frei geben, anstatt die Leute zu behelligen, die Euch keinen
73 []Stein in den Weg legen, und sie ungebürlich zu versäumen, weil Ihr Euch offensichtlich beim Wein versäumt habt.“Gelassen und unberührt fuhr der Mann fort:
Heute früh bei Tagesanbruch sind wir unser sieben Mann aus Wildberg auf diesem Wagen weggefahren und sind zur Regierung nach Zürich hinein und haben ihr ausdrücklich zu wissen gekan: schaffl uns den Vikar weg und laßt unsern lieben alken Pfarrer Morf wieder ungehindert amten! und zwar von heut auf morgen! Tut ihr das nicht, so machen wir die Kirche zu und stehen euch gut dafür, daß dem Vikar kein Bein mehr hineingeht. So haben wir gesagt. Unser Pfarrer Morf ist der brävste und frömmste Mann im ganzen Zürichbiet, und einen bessern gibt's nicht, wenn er auch nicht so beschlagen in den Büchern ist wie andre. Sie, Herr Pfarrer Hirzel, haben ihn vor Zeiten bei der Regierung verklagt und ihm zu Leid gewerkt und ihm einen Bengel zwischen die Beine geworfen, daß man ihn im Amk eingestellt hat, worüber er sich schier das Herz aus dem Leib gegrämt hat. Das haben Sie gekan, Herr Pfarrer Hirzel, Sie, sein Amtsbruder! Das ist's,was wir Ihnen sagen wollten! Weiter nichts! So,jetzt vorwärts mit der Post!“
Von der Laterne, die ihnen Kinn, Vase, Brauen und den untern Hutrand anflammte, grell gerölket,hatten die Genossen während der kurzen Rede streng und zornig nach Hirzel geblickt, ohne einen Lauk zu äußern.
Sofort nach dem letzten Wort galoppierke der Reiter ab. Gleichzeitig stellte der bei der Deichsel den Wagen herum und hob die Wegsperre auf.Der Postillon hieb ein, zwei mal auf die Pferde ein,um die Versäumnis einzubringen und dem unheimlichen Engpaß zu entrinnen.
Die hinten krieben ihre Gäule ebenfalls an und 74 []sangen aus weinrauhen Kehlen in die aufsteigende Nacht:Hier sitßz ich auf Rosen,Von Beilchen bekränzkt;Hier will ich auch trinken,Hier will ich auch trinken Sis lächelnd vom Himmel Mir Häschpirus glänzt.Das menschliche Leben Eilt schneller dahin
Als Räder am Wagen;Drum will ich nicht sorgen,Wer weiß, ob ich morgen Am Leben noch bin.Hirzel ließ, nachdem er eine Strecke gefahren,das Wagenverdeck heraufziehen, da er den Anhauch der Kühle spürte und um seinen Gedanken nachzuhangen.
Geftern, in der Festhütte, hatte ihn die Faust des zornigen Volkes geschlagen. Heute, in der dämmerigen Dorfgasse, tastete ihn verläumderische Lüge an. Freilich, Amtsdünkel hatte ihn verleitet,dem Amksbruder Worf die harte behördliche Weisung wenig amtsbrüderlich und wenig keilnehmend zu übermilieln. Aber ihm zu Leide geredet, ihm zu Leide gearbeitet hatte er niemals. Die falsche Anklage war ihm so unversehens ins Gesicht gesprungen und halte ihn dermaßen angeekelt, das ganze Geschehnis hatte sich so rasch abgewickelt, daß er zu keinem Wort der Abwehr gelangt war. g ballte er hinterdrein die Fäuste und redete sich im dunkeln,rollenden Postzwinger den ersten Zorn vom Herzen. Dann grübelte er bitter und ktraurig:
Wo und wie kann ich solcher Beschuldigung die Spitze bieten?“
Nirgends und auf keine Ark“', entschied er 75 []dumpf. Einem widerborstigen oder unverschämten Zeitungsschmierer kann man den Anwurf in den Hals Zrucstozen Gegen die Giftspinne, die nicht auf die Reönerbühne oder auf den Zeitungsfetzen kriecht, gegen die vermag ich einfach nichts. Mit solchen Giftmicheleien und Hinterrückspraktiken werden sie mich allmählich absägen. Es ist himmelschreiend.“
Er wäre in diesem Augenblick gerne mit Feuer und Schwert dreingefahren. Es fiel ihm nicht ein,daß der Schein gegen ihn und daß der ländliche Ankläger überzeugt war, in der Wahrheit zu stehn.Er brachte nicht in Anschlag, daß seine eigene Parkei den radikalen Freisinn und dessen Anhänger unbedenklich und gewohnheitsgemäß aus den saf-tigsten Töpfen und Töpfchen beklexte und dieses Handwerk zur Stunde noch praklizierte, wo sie auch nur, noch das fadenscheinigste Gelegenheitchen am Zipfel erwischte.
Jetzt griff er zum Balsam, den er sich früher so gern aufgestrichen, sich nämlich als einen Märtyrer zu betrachten, zu dessen Los es gehöre, für die gute Sache Unrecht zu leiden. Er hätte sich mit diesem Trost über manches weggeholfen und blinzelnd oder gar mit geschlossenen Augen an unliebsamen Dingen vorbeigedrückt: Es wird sich schon machen, es wird schon wieder ins Geleise kommen; auf Regen folgt Sonnenschein“, pflegte er sich zu beschwichligen; „es ist ein Prüfstein für den zu Besonderem Erwählten!“
Aber nun versagte das oft erprobte Heiltum.Der Wettersturm der Festhütte hatte seine Kraft gebrochen. Es fröstelte ihn, als ob er ohne warmen Rock im Novemberwind ftände. Zugleich beschlich ihn das seltsame Gefühl, es falle elwas Ungehöriges von ihm ab. Er wurde nicht klar darüber. Argerlich und aufgeregt juckte er vor dem Dorf aus der Post,um unbemerkt und unbehelligt heim zu gelangen.76 []Wie Wärzluft nach zähem Winterfrost überrieselte es ihn, als er der Behausung zuschritt. Jetzt ist fie nicht wieder da und vielleicht nie wieder da,die so viele Jahre mit dir zusammen war! Die schmerz lich lächelnde Maria schwebte vor ihm und flüsterke ihn an. Die Hand auf der Türklinke, verharrte er ge einige Atemzüge regungslos, ehe er ins Haus rat.
Sein erster Ruf, und als keine Antkwort erfolgte, seine erste Frage galt Noldi.
Ja, berichtete die Magd, er ist noch nicht eingerückt. Da drüben haben die Buben ein Feuer an-gezündet; er wird mit ihnen drum herum indianern.Nämlich der Lehrer Würggeli hak heute Hochzeit.Deswegen haben die Buben frei und strolchen alle auf der Gasse, daß man keine Ordnung mehr in sie bringt und alles Zureden nichts fruchtet. Man könnte beim Eid meinen, es hälkte noch nie einer Hochzeit gehalten. Hören Sie nur: jetzt wird wieder geschossen!
Hirzel machte sich auf die Suche nach seinem Kind. Er fand es, wie es eben in den Gluten des Feuers herumstocherke, etwas verwildert und unbändig, aber voller Freude, den Vater zu sehn.
Henk“, erzählte der Wildling aufgeregt, wir haben in der Kirche dem Herrn Mürggeli gesungen und ein Glas Wein und einen Wurstweggen bekommen. Und er hat einen ganz neuen schwarzen Seidenhut angehabt wie ein Kaminfeger und einen schwarzen, vornehmen Bratenrock und einen mäch-tigen Bumenstraus daran. Man hat ihn fast nicht mehr gekannt. Und denk: er geht bald fort von hier nach Zürich. Dort macht er etwas in die Zeitung.“
So plauderke er an der väterlichen Hand. RVach der Multer erkundigte er sich nicht. Als ihm der Vater bemerkte, sie werde wohl für geraume Zeit nicht wiederkehren, schnellte er auf die Erlebnisse des abgelaufenen Tages zurück.77 []Sie standen eben im Begriff, ins Haus p kreten,sb gedämpfter Gesang in die sternhelle NRacht erhob:Ha an em Ort es Blüemli gseh,Es Blüemli rot und wiß.Das Blüemli gseh i nimmemeh,Drum kuet es mir im Härz so weh.O Blüemli mi, o Blüemli mi,Ich möcht gäng bi dir si!Es waren die Jungfrauen und Frauen vom Al-penrösli, die ihrem Gesangsleiter das Lied, das sie ihm nie zart und seelenvoll genug herauskriftallisiert,in die emporhauchten.
Die Wehmut der gekragenen Weise berührke den Lauscher sehnsüchtig und feuchtete ihm die Augen,er wußke nicht, warum.
Eine Sternschnuppe schleuderte den glitzerigen Speer durch das schwarzblaue Himmelsgewölbe.
Der Volksglaube durchzuckte ihn, daß man bei diesem Anblick einen Wunsch tun oder an ekwas Liebes denken müsse.
Er flüsterte: Maria!
Er wartete vor der Türe, bis der Gesang verdinngen war. Dann suchte er mit dem Sohn die uhe.
78 []XIX.
Am nächsten Morgen berührte es Hirzel seltsam,als nur zwei Tassen auf dem Frühstückstisch stan-den und 'er es war, der Noldi, der übrigens bald zur Schule abzog, einschenken mußte.
Es mangelle m die Zeit, darüber nachzugrübeln.Denn es hätte sich während seiner Abwesenheit eine ansehnliche Last Briefe und Amtsschreiben aufge-häuft, die er sich nun anschickte, zu erledigen, nach-dem er sich, was vormittags schon lange nicht mehr geschehen war, eine Pfeife angesteckt. Sie war schon Fiemlich heruntergebrannt und ein bekrächtliches Stück der Schreibepflichten abgetragen, so klingelte es unten und es wurde ihm eine Zeitung gebracht,der Neue Republikaner.
Er entfalkete das Blatk, ohne weiter elwas zu denken. Da fiel sein Blick auf die fettgedruckte Uberschrift der ersten Seile: Das Volksgericht über Ppfarrer Bernhard Hirzel'. Er las: Gestern hat das Zürcher Volk seinen Namen wieder mit feurigen Lektern in die goldenen Annalen des Forkschritts eingegraben. Es wogte ein reiches und frohes, echt eidgenössisches Leben in der Festhütte, die unter anderm ihren Schmuck auch durch die kernigen Insnslen eines ee bekannten Dichter empfangen ätte. Der Freiheit Banner wallten, die Schützen blickken nach dem Ziel, die blanken Stutzer knallten im frohen Waffenspiel. Die hellen Becher klangen,die Männer Reden A daß froh die Freien lauschten. Da trieb der finstere, pfäffische Geist den nur zu wohl bekannten und berüchtigten Pfarrer 79 []Bernhard Hirzel von Pfäffikon auf die Rednerbühne, gerade nachdem die wackern Freunde aus dem Kanton Bern uns Zürchern aus biederer Brust den Willkomm geboten hatken. Er hakle die Stirne,am vaterländischen Feste zu dem forlschrittlichen Zürcher Volke reden zu wollen. Aber die Schatlken der blutigen Opfer vom sechsssten September ngen mit ihm die Stufen hinauf und schütteten ihre Flüche über ihn aus. Das Volk sah diese Schatken und hörte diese Flüche. Es erblickte das Kainszeichen auf der Stirne des Gebrandmarkten und verwehrte ihm mit männlichem, edlem Unwillen das Wort. Es stieß ihn aus dem Tempel der Freiheit. Wie lange wird es ihn noch in seinem Amte dulden? Wie lange noch wird es zugeben, daß er der Freiheit die Seelen iende und vergiftet? Wir blicken verkrauend in die Zukunft.“
Der Drohfinger schreckte Hirzel wenig, den Leuthy aus dem Hinterkürchen seines stolz dekorierten Wortgebäudes emporstreckte. Vergeblich haktten sich die Gegner seit Jahr und Tag abgemüht,ihn aus dem Seelsorgeramt wegzuspicken. Sie konnten die Regierung stürzen, aber ihn nicht, solange die Mehrheit der Gemeinde zu ihm hielt. Einst hakke er gegen das radikale Regiment Sturm geläutet,weil es den Pfarrer allzusehr, wie ihn wenigstens bedünkke, in die Hand der Gemeinden gab. Jetzt lagen die Dinge so, daß er Gott danken mußte,wenn ihm seine Gemeinde den Rücken deckte gegen die freisinnigen Gewalthaber. Noch besaßen sie zwar die Wacht nicht. Allein sie lauerten von kausend 8 herunter, sich darauf zu stürzen. Das Haus der frommen und konservativen Zürcher zit-terke und krachte. Der Totenwurm lickte im Gebälke,und alle Augenblicke bröckelte ein Stück Verputz auf Feste der alten Eid chaft äch uch die Feste der alten Eidgenossenschaft ächzte und bebte. An I Erkern rütkelte der Sturm, und 20 []zuweilen überflammte ihren Iust ein greller, nordlichthafter Schein: das war der Bürgerkrieg. Die Luzerner hatten nämlich den Jesuitenorden ins Land gerufen und ihm Kirche und Schule überankwortet und warfen dann mit der Weigerung, den verhäng-nisvollen Schritt rückgängig zu machen, der freim nigen Schweiz den Fehdehandschuh hin. Ein Zug Freischaren hob ihn zunächst auf, der sich blutig zerstieß. Immer lauter rief man nach Waffen. Und immer deutlicher wurde: nur Gewalt vermochte den Streit zu ieen
Eifrig an der langröhrigen Pfeife ziehend, wälzle Hirzel, nachdem er die dringlichen Pepher erledigt oder doch eingesehen, diese Dinge, deren Ausgang,so oder so, nicht ohne Spur und Folge für den Insaßen des Pfäffikoner Pfarrhauses bleiben konnte.
Kräftiges Pochen zerriß ihm den Faden an seiner Gedankenspule. Herein krat Ludi Mürggeli,so hoch aufgerichlet, als es ihm sein Leibliches gestattete.
Herr Pfarrer', begann er, ohne elwas abzuwarten, ich komme, mich von Ihnen als dem Präsidenten der Schuipflege zu verabschieden. Ich habe Ihnen gemeldet, daß ich in diesen Tagen meine Stelle an der hiesigen Schule aufgab und bis zum Ablauf der Amksdauer einen Vertreler stelle,der das Seminar milt gutem Erfolg durchlaufen hat und auch sonst ausgewiesen ist.
Sie führen“, bemerkte Hirzel, indem er nach dem auf dem Tisch liegenden Abktenstück griff,keinen Grund Ihres Rücktrittes an.“
Dazu bin ich nicht verpflichtet', schnurrke Mürggeli.
And äußern sich nicht darüber, wohin Sie sich zu wenden, was Sie zu kun gedenken.“
Ich dachte, darüber zu reden oder zu schweigen,steht gleichfalls in meinem freien Ermessen.“
Das ist bodensicher. Ich frage auch nicht, um
3 Frey, Bernhard Hirzel. IL.41 []Ihnen von Ihren verbrieften Menschen- und Bür-gerrechten den geringsten Zinken herunkterzuschla-gen, sondern weil es mich, was Sie begreifen werden, wunder nimmt, welche Schule Sie an die uns rige kauschen.“
Gar keine.“
Hirzel blickte ihn erstaunt an.
Nämlich“, fuhr Mürggeli fort, ich lege den Bakel nieder und greife zur Feder!“
Was soll das heißen?“
Mürggeli bog den Kopf zurück, schob die Unkerlippe etwas vor, legte die Linke ans Bärkchen und * die Rechte in den Ausschnitk des geschlosenen Rockes:
Sehr einfach. Ich trete in die Redaktion des Veuen Republikaners ein und zwar schon in wenig Tagen.“
Sie?“ dehnte Hirzel.
Allerdings.“
Da müssen Sie aber schon einen meineidigen Kübel Tinte verspritzt haben, um dort anzukommen.“
Habe ich ungefähr auch, setze aber hinzu: unbeschadet meiner Lehrerpflichten.“
„So, so! Sie also haben das Oberland und mich heruntergerissen!“ Er sprang auf und schwenkte die Hand gegen den Lehrer.g Aeser schüttelte völlig ruhig unmerklich den opf.Gefehlt, Herr Pfarrer! weit gefehlt! Ich habe niemals gegen Sie vom Leder gezogen.“
.Das glaubt Ihnen, wer mag', rief Hirzel zornig.
„Glauben Sie's oder glauben Sie's nicht! Was sollte ich mich mit einem Bekenntnis genieren? Sie könnten mir nicht das kleinste Härlein krümmen.Ich wüßle nicht, wie. Ich wiederhole: ich habe es nicht gekan.“
Wer denn, wenn Sie nicht?“32 []„Das zu ergründen und ergrübeln, ist nicht meines Orts. Und wenn ich's wien ich behielte es für mich.“
Auf etwas Anderes“, fuhr Hirzel nach kurzer Pause fort, werden Sie mir dagegen genaue Auskunft erteilen können. Nämlich: was kommt Sie an, Ihr gesicherles und ich anerkenne es gerne gut verwaltetes Schulamt fahren zu lassen und unter die Zeitungsschreiber zu gehn?“
Ja, da ktraf Unkerschieduches zusammen. Unser rühmlichst bekannter Volksdichter, und Freiheilskämpfer Johann Jakob Leuthy gedenkt sich zu entlasten. Er beabsichtigt, die von allen unvporeingenommenen Kennern hochangeschlagene Geichte des Kantktons Zürich“ vom Beginne dieses ahrhunderts bis 1830 fortzusetzen, und zwar in einem besondern Bande, und damit eine Gedächtnischronik zu schaffen für Kind und Kindeskind.Er hat mit Bienenfleiß und Scharfsinn viel Stoff zusammengetragen und aufgespeichert, um die schöpferische Periode der dreißiger Jahre darzustellen, auf der sein Blick mit Erstaunen und Wohl-gefallen ruht. Seinem unbestechlichen Griffel ist die Schilderung der harmonischen Entwicklung der laupramin nach dem wahrhaft großen Tag von Uster vorbehalten. Da er sich nicht geringe Mühe gab, alle , Quellen aufzufinden und die Geschichte mit den umeeeee Akten-stücken zu bereichern und zu bewahrheiten, braucht er einen Helfer für sein Blatt, um so mehr, als er noch die Herausgabe einer Blütenlese von Gedichten in die Wege leitet, worin er die reinsten Perlen seiner Liedergabe unserm Volk zu epen legk. Das alles braucht Zeit! Man sah sich nach einer Stütze um für den verdienten Mann. Die Augen der Versierlen und Seriösen fielen D mich, und so rief man mich nach Zürich. Auch fällt in die Wagschale,obgleich nicht entscheidend, daß meine Frau keinen
83 []der Führenden ausgeschaltet und zurückgeschoben waren, daß man Sie hier draußen beließ, weit weg von der Anrichte, wo die andern ihre Schüsseln füllten und Ehren und fette Posten erschnappten.Wan munkelte nicht nur, man ging frei heraus, Sie seien von andern zu ihrem Zug montieri und dann abgesägt worden, weil Sie vorzeitig losgeschlagen.Ihre Volle sei ausgespielt, hießz es. VNatürlich versetzte man Ihnen doch bei jeder Gelegenheit eins.Den Sack unasanepeuh sus man, den Esel meinke man, das det eben die Parkei, die Sie gern abschüttelte, sofern sie könnte. Aber das kann sie eben nicht, und drum werden Sie den Buckel noch manchmal herhalten müssen, ohne von Ihren Gesinnungsgenossen honoriert zu werden. Und daß Ihnen der Freisinn Ihre Tal dauernd ankreidei.immer ankreiden muß, auch wenn Sie keinen Lohn dafür einsacken, das werden Sie begreifen. Also:ich meinen Orts habe nicht Tinke gegen Sie verDD und gegen die Säulen Ihrer Partei, welches Sie nicht sind.“
Er sah das pfarrherrliche Gesicht sich verdunkeln:Jetzt muß ich aber heim, Herr Pfarrer! Sonst kräht meine Frau!“
Hirzel zog an der über dem Gespräch rcenen Pfeife. Dann strich er sich zwei, dreimal über die Skirn und stützie den Kopf in die Hand.
So“, murmelte er gedrückt vor sich hin, also abgetakelt bin ich, zum alten Eisen geworfen! Das ee und Erkrag eines bald vierzigjährigen ebens!“
Schmerzlich berührte ihn namenklich, daß Mürg-geli, offensichtlich erweicht und aufgesüßt durch seine hochzeitlichen Freuden, gegen seine unverblümke und borstige Art schonende Ausdrücke angestrebt und mit seiner Meinung nicht, wie sich hätte erwarten lassen, höhnend und siegesfreudig herausgerückt war.86 []Er blickte dem Weggehenden durchs Fenster nach. Wieder regte sich in ihm etwas wie Teil-nahme und Interesse für den Schulmeister, der ihm früher lediglich ein halb lächerlicher, halb widerwär-tiger Rührmichnichtan gewesen und seit Jahr und Tag gleichgüllig geworden war, wiewohl er sich seinen pädbagogischen Gaben und Leistungen nicht verschlotz. Man ging sich aus dem Weg. Keiner traute dem andern recht. Man gewärtigte just nichts Böses oder Tückisches, aber man guckte sich ge-legentlich schief an oder wischte sich hurlig eins aus,dem Landfrieden zum Trotz. Eines Tages jedoch,das galt Hirzel für bombensicher, mußte der mäch-tige, der kosende Zusammenstoß, der homerische Endkampf erfolgen, vor dem Ring der versammelten Gemeinde, wo der Streiter Gottes den frechen Schulmeister in den Sand warf, daß er alle Viere von sich streckte und für alle Zeiten genug hakte.Manchen scharfen Speéer, manchen schön gebuckel-ten Schild hakte er sich zurechtgelegt für diesen Streit und oftmals im Hinblick darauf die Gloriole des christlichen Ritters über sich d Oft hatke er sich ausgemalt, wie er triumphierend auf der Walstatt zürückblieb, während der unbotmäßige Scholarch zerbläuk und zerbeult aus der Gemeinde shie um anderswo Brot und Unterstand zu uchen.
Jetzt rilt der andere unvermuket aus dem Felde ab, eher mit einer Geberde des Friedens als mit zornigem Fehderuf. Hirzel fühlte plötzlich eine Leere.Es fehlte ihm auf einmal der Gegenpol, ein Stoß-ziel; eine kräftige Tat, die ihm vorbestimmt, die er zu vollbringen schuldig war.
Was in ich eigentlich hier?“ fragte er, im Zim-mer auf und nieder wandernd. So gut der Schulmeister sein Bündel schnüren kann, so gut sollt' ich's eigentlich auch können. Indet er in Zürich einen Brokkorb und Dach und Fach, so sollte ich doch dort 27 []auch irgendwo unterschlüpfen können, selbst ohne die Hilfe der Herren Regierenden.“
Seit dem Zürichpulsch, seit er auf eine angenehmere, der Stadt nähergelegene Ifrende auf einen Lehrstuhl oder auf beides zugleich gerechnet,war er innerlich aus dem Pfäffiker Boden einigermaßen ausgewurzelt. Annähernd ein Jahr lang hatte er von der Post verheißende Anfragen oder günstige Berichte erharrt, daß da oder dork eine Türe sich auflue. Das Hinauskräumen,Hinauslauschen, Hinauswünschen haite ihn allmählich der Gemeinde enkfremdet, ohne daß er's eigentlich inne wurde und ohne daß er seine ÄAmtsobliegen-heiten reee, Allein wie oft ertappte er sich, daß seine Gedanken landaus, landein neten
Jetzt wurde ihm zumute, er möchte Flügel an sich nehmen und sich in seine Vaterstadt schwingen.Er redete sich halbwegs ein, Würggelis Beispiel stachle ihn an. Er wollke es nicht sofort Wort haben vor sich selber, daß es Waria Welti war, die ihn durch sieben Häge in die Ferne zog und ihm Iess kon auf einmal schier unleidlich machte. Denn sie irgendwie herbei oder in die Nähe zu bringen, war ausgeschlossen.
Eifrig hing er diesen dwgen nach, während er den Zest der Schreiben und Aktken mechanisch durchlief und erledigke, was sich in Kürze ablun ließ.Dann schob er, kaum im Gröbsten fertig, den Haüfen ungeduldig beiseite und e der holden Schlanken einen Brief. Er gedachte darin kurz seiner frostigen, durch die ewige Mißlaune und unwirschen Zänkereien seiner Frau getrübten und verwölkten Ehe, um dann Gefühl und Hoffen auszuströmen, das,schon durch ihren ersten Anblick erweckt, nunmehrt beinahe stündlich erstarke und Herrschafi über ihn gewinne. Schon flocht er andeutend ein, daß ihm der Gedanke aufdämmere, nach Zürich überzufiedeln und daß er alle Hebel anfetzen werde, einer laängern 88 []Trennung von ihr entgegenzuwirken. Er habe geglaubt, die Liebe zu kennen; erst jetzt jedoch, wo er gegen die Vierzig heranrücke, sei ihm ihr Zauber und kiefes Wesen aufgegangen
Alle Tage, alle Rächte sinnierte und bohrte er,wie von 38 wegzukommen und in Zürich ein Wiederanwachsen möglich wäre. Immer emsiger und eifriger baute er an Anen Luftschlössern, in deren Blütengärten seine Frau nun nicht hereinstürmte und hereinstöberte.
Eines Morgens kam ein Brieflein der Mutter,deren Handschrift er seit Jahren nicht mehr gesehen,und forderte sein ungesäumtes Erscheinen. Ein Schlag hatte den Vater niedergeworfen. Der Zustand sei bedenklich, der Arzt schüllle den Kopf. Auf alle Fälle sei erwünscht, daß der Sohn die Dinge in Augenschein nehme und der Mutter an die Hand gehe, da man den Verlauf der Sache nicht mit Sicherheit bestimmen könne.
Nicht ein Hauch von Teilnahme und Witgefühl für den widerwärtigen Wee und fühllosen Vater rührte Hirzel an, sondern ein glücklicher Schreck erfaßte ihn. Wenn Verblödung oder Tod die knochigen, habgierigen Hände vom Geld weg-rissen, dann war die Wand durchstoßen, dann war alles gewonnen.
Wie ungeberdige Pferde sprangen und flanierken seine Gedanken. Sie und immer wieder an die Fen-ster des Schlafzimmers anrollende Liederwellen ließen ihn lange nicht einschlafen. Nämlich das Alpenrösli feierle den Weggang Ludwig Würggelis.Es ging bis in alle Nacht hinein hoch her mit eng Reden und Becherlupf. Schließlich wurde es Hirzel allzu unlustig und schwül im Bett. Er rutschte her-aus und riß ein Fenster auf, um einen Schnauf frische Luft zu erwischen. Drüben im WMohren“standen die Fenster gleichfalls sperrangelweit offen,sodaß er im lichterhellen Saal alles so deutlich sah
R []wie am Tag. Und er tkraf es akkurak zur Haupht-Wort an den Gefeierken. Lieber Freund Mürggeli,deine Frau hat gestern aus der Hand Gottes den Mirtenkranz empfangen. So empfange du heute aus der Hand der Freundschaft und der Dankbar-keit den Lorbeer für deine unvergänglichen Verdienste um unser Alpenrösli, du, sein Gründer und langjähriger Leiter. Aber wir fügen ein Weiteres hinzu: wir verleihen dir die lebenslängliche Ehren-mitgliedschaft und die Würde eines Ehrendirektors,gleichfalls für die Dauer deines Lebens.“
Unbändiger Lärm durchtobte das Haus. Stür-misch drangen die Alpenrösler zu Ludi Mürggeli.
Als Hirzel am nächsten Morgen zu guter Stunde aufbrach, um die Post abzuwarken, wurde er gewahr.daß Ludwig Mürggeli abermals der Held des Tages oder wenigstens des Morgens war, der schon einen beträchtlichen Teil der Pfäffiker auf die Beine gebracht hakte. Wie ein germanischer Heerkönig aus den Zeiten der Völkerwanderung stand er mit der gleichfalls reisefertigen jungen Frau neben dem hochgetürmten, aber noch nicht bespannten Brautfuder,das heute nach Zürich fahren sollte. Nahe dabei waren, in zwei Chöre geteilt, die Schüler und Schülerinnen aufgestellt, und vor ihnen halkte der Stellverkreter und muktmaßliche Amksnachfolger des Scheidenden, Heinrich Tagelswanger, Posto gefaßt.Jeht streckte dieser den rechten Arm aus und bewegte zum Zeichen, daß er Stille begehre für seine nunmehr beginnende Rede, die Finger, wie wenn er Klavier spielte.
Lieber Freund“, hob er an, die republikanische Einfachheit, Einfachheit“ schon sah er sich genöligt,mit dem Zettel, den er in der Linken hinker dem Rücken hielt, unter die Nase zu fahren und Vorrat zu schöpfen, was er nun nach jedem dritken oder vierten Wort mußte, der wir huldigen, ver90 []bietet uns, erlaubt uns nicht, deine Verdienste um die Schule, Schule und das geistige Leben in Pfäffikon und derenden ins richtige Licht zu heben. Sondern, sondern, um dir unsere Gefühle kund zu geben, habe ich hat die Schule beschlossen den Beschluß gefaßt dir in Liedern,in Liedern ihre Gefühle auszudrücken, zu drücken sowohl, sowohl das Gefühl, das schmerzliche Gefühl wegen deinem Scheiden, als auch, auch die kräftige vaterländische Freude auf ein Wiedersehen, auf dein Wohlbefinden und deine Zukunft. Unser Ludwig Mürggeli lebe hoch!hoch! hoch!“
Der Redner wischte sich aufalmend den Schweiß von der Sltirne, steckte das hilfreiche Blatt in die Brusttasche und holte den Hausschlüssel hervor, der seinen Dirigentenstab vorstellte. Er winkte den pen die sich zart und schmelzend vernehmen ießen:Nimm, Robert, diesen Kuß zum Pfande,daß dich Elise nicht vergißt
Unö, kehrst du einst zum Valerlande,Sie treu und schuldlos dich umschließt.Nimm, was ich oft von dir empfangen,Dies Blümchen, das bedeuksam spricht Und, welkend mit Elisens Wangen,Noch bitten wird: vergiß mein nichtk!Jetzt tat der Gesangführer einen eckigen Ruck gegen die Knaben, die mutwillig loswetterten:Was brucht men i der Schwiz?
Was brucht men i dem Schwizerland?He o Vaterland!
Was brucht men i der Schwiz?
E guete alte Chäs
Dem Schwizerbur is Gfräß,
91 []Der Lib und Seel zusammenbindt Am jüngste Tag im Buch no findt Das brucht men i der Schwiz.Der Lehrer kehrte sich wieder den Mödchen zu.Wehmütig erscholl es aus ihrem Munde:Wenn Zauberbande dich umstricken,Denk an Elisens Tränenblick!
Wenn Schönere dir Blumen pflücken,Denk an die Dulderin zurück!
Nicht keilen sollst du ihre Leiden,
Nicht fühlen, was das Herz ihr bricht:Sei du umringt von tausend Freuden,VNur, vergiß mein nicht!Ungeduldig harrten die Knaben, bis die Reihe wieder an sie kam:Was brucht men i der Schwiz?
Was brucht men i dem Schwizerland?
He heißassa o Vaterland!
Was brucht men i der Schwiz?
E schöne chüele Wi,
E guete Fründ dabi,
Da ist me lustig mitenand
Und drückt enand e chli a d' Wand Das brucht me i der Schwiz!„Noldi krähte aus vollem Halse mit, vor Vergnügen stampfend, daß der Vater in der NRähe stand, ihn hörke und ihm zunickte.
Eben verhallten die lehten Töne, und die Kinder begannen Abschied winkend auf Ludi Würggeli zuzueilen, als die Post heranschellte. Die Pferde enten vor dem ungewohnten Lärm und Treiben,odaß der Postillon sie nur mühsam zurückhielt. Hirzel riß die Türe des Postwagens auf, legle seine 92 []Handtasche hinein und küßte Noldi auf die Stirn,der einen mächtigen Stolz fühlte, daß er einen Vater besaß, der mit der Post fuhr.
In diesem Augenblick rannte ein wild gewordener Stier gegen die Pferde heran. Sie bäumten und brannten durch. Hirzel, der schon einen Fuß in den Wagen gesetzt halte, wurde zurück auf die Straße geschleudert. Die wütende Bestie raste durch die aufkteischenden Kinder, direkt auf Tagelswanger zu und stieß ihn über den Haufen.
Es stellle sich heraus, nachdem der Wirrwar etwas abgeflaut war, daß der Schrecken den Scha-den überwog. Der Pfarrer brachte sich aus eigenem Vermögen auf die Beine, den Schulmeister kürmten hilfreiche Hände wieder in die Höhe. Böse Zungen behaupteten, das kolle Tier habe ihn überhaupt nicht umgestoßen, sondern er sei vor Stierenangst umgesunken, nachdem ihn die Rednerangst entkräftet und geknickt. Er war völlig unverletzt. Auch Hirzel war glimpflich davongekommen. Während er auf die all-mählich beruhigten und nun langsam zurückgeführten Postpferde wartete, säuberte er sich vom Straßen-staub mit einer aus dem nächsten Hause herbeige-brachten Bürste, von dem elwas ungelenken VNoldi mit mehr Eifer als Geschick unkterstützt.
Es fehlte eine halbe Minute, so konnke er einsteigen. Da beinellte, einen Neuen Republikaner in der Rechten schwingend, der alke Posthalter herzu und entfaltete das Blatt vor Mürggeli, mit dem Deseshtechten Zeigefinger auf die richtige Stelle weisend.
Ein Kreis Neugieriger kristallisierle sich im Nu um den Lesenden, der aber bald auf Hirzel zusteuerke.
Da, Herr Pfarrer“, tieß er, vor Freuden rok,eine bäumige Reuigkeit! Die konservative Herr-sichkeit ist aus, ihre Masorität aus dem Leim. Der Rädikale Zehnder ist Bluntschli vorgekommen und
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3 []Bürgermeister geworden, der erste Nichtstadtzürcher,die Städt steht! Minutenlanger tosender Beiall der Tribüne begrüßte das
Hirzel zuckte bloß die Achseln und stieg, ohne ein Wort, leicht grüßend in die Post.
Mit offenem Munde stand Ludi Mürggeli da.Darauf wußte er sich keinen Vers zu machen.
94 []XXx.Wie ist sie doch binnen spezu gealtert und verfallen“, dachte Hirzel, als ihn die Mutker empfing.5 sIhrie ihn ins Schlafzimmer, wo sich der Vater efand.
Der liebe Bäni ist da und wünscht nach dir zu bn sagte sie zum Kranken, der mit geschlossenen ugen dalag.
Hirzel wußte nicht, war ein unmerkliches Zucken über das blasse, zerfallene Gesicht weggeglitten oder nicht. Auch jetzt, vor dem Anblick des Gefällten,Hilflosen, faßte ihn kein Schmerz, nicht einmal ein Bedauern, sondern bloß der Wunsch, es möchte bald ein Ende sein.
Er öffnete das Fenster, der stickigen Luft Abzug, dem Licht bessern Eingang zu verschaffen.
Das Gärkchen drunten blickte I zu ihm herauf, und er fragte sich, ob er wirklich als Kind darin gespielt, in Schüler- und Studentenzeiten mit Büchern und Heften darin gesessen habe. Es schien ihm zwischen den schmalen Beeten, über den lauschenden nhchen und Bäumen ein seltsames Licht,wunderlich fernes, verschollenes Wesen zu walten.
Von Garken und Fenster sich abwendend, geriet sein Blick zufällig auf den kleinen Spiegel, der im berblaßlen Rähnichen über dem Waschtisch hing.Er stußte. Noch nie war ihm eigenklich richtig aufgefallen, daß es ihm merklich die Schläfe beschneit hatte und daß bereits ein leiser Silberschein auf den über der Stirn aufgebauschten Haaren zitterte.948 []Er beugte sich über die ledergebundene Hausbibel, die aufgeschlagen auf dem Tische lag:
Bist du in den Grund des Meeres gekommen?und bist du in den Fußstapfen der Tiefe gewandelt?Haben sich dir des Todes Tore je aufgetan? Oder hast du gesehen die Tore der Finsternis?“
Schütternd warf der nahe Sankt Peter seine Glockenschläge heraus.
Schier ärgerlich richtete sich Hirzel auf, nicht gestimmt und gewillt, den menschlichen Schranken nachzugrübeln, die in den mäkelnden altkestamentlichen Worten bezeichnet sind.
Ihn verlangte von dem Halbsterbenden weg nach n frijchen. vollen Leben. Es trieb ihn zu Maria elti.Einen Geschäftsgang vorschützend, stand er eben auf dem Sprung, sich aus dem Elternhaus forkzubegeben, als ihn die Mutter bedeutete, Doklior Rahn, den sie besendet, habe zurückgemeldet, er werde baldigst zur Stelle sein. So saß er eine ordentliche Weile gespannt und immer unruhiger, ehe der Erwartete erschien. Rahn zuckte die vorgeschobene Unterlippe und die Schultern, zögerke und schwankle:gut sähen die Dinge nicht aus, das Schlimmste dürfte schwerlich jemand überraschen; immerhin halte er Vorsicht im Urkeil für angebracht; eine noch jahrelange Erstreckung der Lebensdauer bß mit ziem ·lich unverminderkem Gebrauch der Glieder und des Geistes sei, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, so doch keineswegs ausgeschlossen, so rie Anblick und Befinden des Kranken dem Laien diese Annahme glaublich erscheinen ließen. Mehr als ein solcher den er erlebt, habe ihm ein Licht aufgesteckt, daß man mit der Diagnose nicht hihig ins Zeug und vor Ablauf einer gewissen Zeit nichts Bestimmtes sagen dürfe.
Hirzel behielt seine Einwände bei sich, schon um 96 []den Arzk und damit sich selber nicht länger zu versäumen. Ihm war es ausgemacht, daß der Vater,der nun gegen die Siebzig heranrückte, diesen Angriff nicht überhauen werde und man ihm bald das Maß zum Sarg nehmen müsse.
Er geleitete den Doktor bis unker die Hausküre,setzte sich dann, nachdem er sie geschlossen, den Hut auf und wartete ein Weilchen auf freien Weg. Er streckte eben die Hand nach der Klinke aus, als es bene Wie er offnete, stand müde und schweißedeckt ein Expreßbokte aus Pfäffikon da und über-reichte ihm ein Briefchen. Nichts Gutes ahnend,riß er es auf. Der Arzt berichtete in kurzen Worten, Noldi habe einen ordentlichen Schreck erlebt,und wenn auch nichts Bedrohliches vorliege, so käte es dem armen Schelm doch wohl, wenn er den Vater recht bald sehen könne, nach dem ihn sehr verlange.
Er zog die Uhr. Es langte noch auf die Post.Einen Augenblick schwankte er, ob er doch noch den Gang zu MWaria unternehmen und dann mit einem Fuhrwerk heimfahren sollte. So bitter es ihn ankam, er entschied sich für die Post und machte sich unverzüglich auf, nachdem er der Mutter einen käg-lichen Krankenbericht abverlangt und an Waria, der er seinen Besuch in Aussicht gestellt, eine Zeile hingeworfen hatte, die sein Nichterscheinen erklärte.
Hin und hergetrieben zwischen rern Selbstzuspruch und jagenden Angsten, von denen ihm jede wieder ein anderes Bild des leidenden Kindes vormalte, fühlte er sich eng elend und halb krank und fiel den trübsten Ausblichen und Rückblicken zur Beute. Er gedachte der Heimkehr jüngsthin, wo er aus dem brodelnden Gebräude der Festhütte dem stillen Herd entgegeneilte.
Jetztꝰ, er bitker, wo ich, wenn auch nicht das Glück, so doch den Frieden unkerm Dache hätte,jetzt naht das Unheil und trifft den einzigen Segen der Liebe, der mir daheim geblieben ist. Wenn er
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Frey, Bernhard Hirzel. NM.
97 []stirbt, was habe ich noch zu verlieren? Ja, sie noch,die eine! Aber ich werde sie entweder verlieren oder in das Unglück hineinreißen, das sich mir allenthalben an die Fersen heftet. Das sehe ich voraus! Und doch, und doch es kann alles noch gut werden!“
Die Fahrt streckte sich endlos. Er atmele gauf und erschrack zugleich, als er den Arzt vor der Post stehen und, wie er sofort wußte, auf ihn warken sah.
Was hat's gegeben? Was ist?“ rief er schon beim Aussteigen.
Das weiß ich selber nicht so recht, Herr Pfarrer!Er ist da drüben beim Spiel mit andern Buben von einem ganz niedern Wäuerchen gestürzt. Er hat nichts gebrochen, nichts verletzt; wenigstens finde ich nichts außer einer leichten Beule. Aber er ist offenbar sehr erschrocken, weil allem Anschein nach ein mürber Sktein unter seinem Fuß losbrach. Schrecken und eine leichte Hirnerschütterung, weiter nichts,aber bei einem so zart gesponnenen, empfindlichen Geschöpf genug, um unliebsame und quälende Zustände zu verursachen. Er geriet von einer Übelkeit in die andere und v ängstlich immer wieder nach Ihnen. So konnte ich nicht umhin, Sie zu unterrichten. Es kann morgen schon gut sein, vielleicht aber auch nicht. Ich möchte nichts gesagt haben.“
Die Magd erteilte Auskunft über Noldis Benehmen und Befinden. Seit ungefähr einem Skündchen, berichtete sie, habe er Ruhe; er rufe nicht mehr und habe dem Ansehen nach Schlaf gefunden,wenigstens halbwegs.
Sie schlichen auf den Zehen herein. Ein feuchter Leinwandbausch deckte die Stirne des müden, bleichen Gesichtes. Der Mund, leise verzogen wie zur Klage, ließ die Zähne durchschimmern und schien sich zum Reden öffnen zu wollen. Allein er fand die Kraft dazu nicht.
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Es regte sich in den Mundwinkeln, und von 98 []ihnen aus wanderte ein geheimes Leuchten durch die blassen Züge. Er ne langsam die Augen auf und blickte verwirrt und hilflos um sich. Jeht füllten sie sich mit selig schmerzlicher Freude.
Er erkannte den Vater.
Es waren die schönen, blauen Augen der Mutker,doch voll Seele und Liebenswürdigkeit.
Gerührt und erstaunt fragte sich der Valer:
„War er früher schon so, und habe ich es bloß nicht gesehen? Oder hat ihn das Leiden so umge wandelt?“Heute erst entdeckte er sein Kind, ein gutgeartetes, anhängliches Kind, von feinem Wesen, eiwas wehrlos gegen Welt und Schmerzen, etwas ungeschickt, doch empfänglich und erkenntlich für jede Aufmerksamkeit und Liebe. Er war ihm allezeit ein wohlmeinender, freundlicher und nachfichtiger Vater gewesen. Aber er war ihm nicht nachgegangen und hatte nicht daran gedacht, es an sich zu ziehen und es aufzunehmen in sein Reich Tag und Nacht.
Jetzt tat er es, in der Stunde, wo ihm dieser Schatz zu versinken drohte.
Denn gegen zwei Wochen lang kam er nicht aus der Angst, da sich das quälende übel immer wieder einstellte, bald stärker, bald schwächer, ohne daß es sich vor dem Erscheinen ankündigte, ohne daß man seiner eigentlichen Quelle auf den Grund kam.
Mehr als einmal ereignete es sich, daß Hirzel den versprochenermaßen käglich von Zürich einlaufenden Krankenbericht am Bette seines Kinder emp-fing: dort wie hier ein kaum merkliches Schwanken der Wage, ein Stocken und Zaudern.
Er schüttelte den Kopf.
‚Wie seltsam', murmelte er, ich wünsche dem Valker den Tod und erflehe im nämlichen Alemzuge für den Sohn die Genesung. Wer weiß, vielleicht straft mich der Himmel, weil ich für den einen das Grabscheit, für den andern das Leben begehre, weil
99 []ich an dem einen mit ganzer Seele und käglich mehr hange, am andern immer gleich wenig, das heißt gar nicht.“Er kniete neben dem Bekt nieder und bekeke für sein Kind. Kopfschütkelnd gestand er sich, daß er sich seit Jahr und Tag nicht mehr an den Himmel gewandt, außer im Amk.
Wenn er an Waria dachte und er dachte fast immer an sie so drängte sich häufig der Wunsch herbei, sie möchte die Mutter seines Kindes werden,das nun doch von der Multtlerseite so gut wie verwaist war. Und obgleich er sich das Unerfüllbare dieser seiner Sehnsucht stels von neuem eingestand,so malte er sich doch immer wieder insgeheim aus,wie gut VNoldi, den das Leben um den Einbund mütterlicher Zärtlichkeit verkürzt, bei der Warmherzigen und Liebenswürdigen aufgehoben und behütet wäre.
So vertiefte und adelte sich in seiner Brust ihr Bild und die Liebe zu ihr.
Endlich blieben die widrigen Rückfälle aus, sodaß Hirzel, nachdem er noch einen Tag beobachtend zugewartet, die Fahrt nach der Stadt wieder wagte.Im Elternhaus tkraf er so ziemlich alles beim alken.Die Furchen im väterlichen Gesicht hatten sich elwas tiefer eingerissen. Der weiße Stoppelbark und die grauen, keils gesträubten, keils in die Sltirne gewirrken Haarbüschel verliehen ihm einen beinadhe drohenden Ausdruck. Er heftete den blöden Blick verftändnislos auf den Sohn, der den ärztlichen Befund, der auf leise Besserung lautete, kaum ins Ohr faßzke, da er ihm kein Gewicht beimaß.
Im Lauf des Vachmittags gelang es ihm, sich freizumachen und Waria aufzusuchen. So sehr sie aufleuchtete, die Spuren des Grams, die Heimweh und Sehnsucht ihr aufgeprägt, waren unverkennbar.Es war ihnen nur eine flüchtige Aussprache ver-gönnt, weil eine entffernte Verwandte der Mutter,109 []die sich zum e eingefunden, nun gleich auch zum Vachtessen blieb, dessen Zurüstung der Tochter oblag. Sie verabredeten einen Spazier-gang für den nächsten Morgen und machten ab,schon bald nach Sonnenaufgang aufzubrechen, was Maria die Hausgeschäfte erlaubten, da sie alle Werktage schon früh auf dem Posten sein und den Morgenimbiß für den Bruder und seinen Gesellen bereithalten mußte.
Ihre scharfen Augen erspähten ihn schon von weitem, als er in der Frühe des folgenden Tages dem Stelldichein zuwandelte. Im Glück, den geliebten und verehrten Mann endlich stundenlang sehen und haben zu dürfen, vermochte sie den Schalk, dem in ihrer Seele, so ernst und leicht verschatket sie war.dennoch zuweilen ein Kämmerchen eingeräumt war,nicht völlig abzuweisen. Sie versteckte sich hinker einer Staude, ehe er sie wahrgenommen, und weidete sich an seiner uung und wie er, bereils etwas verspätet, enttäuscht auf die Uhr schaute, sie ans Ohr hielt, ob sie nicht etwa stehen geblieben sei, und wie er ch ach allen Seiten umsah, bis sie plötzlich hervortrat.
Sie wanderten die sanfte Woränenerdwelle hinan, die sich zwischen dem linken Seeufer und der Sihl langgestreckt lagert. Sie blickten von der bescheidenen Höhe in zwei Wellen, je nachdem der Weg mehr zur Linken oder zur Rechten abbog: hier das Amphitheater der alten, grauen Stadt, die ansteigenden, in ihrem Segen paradiesisch lachenden GBestade mit Rebhalden, Wiesen und Landhäusern;der See, dessen glänzende Bahn eben das enyß schiff furchte, Geist und Atem der Wellstraße, die hier durchgeht und südwärts zieht, wo hinter den blauen ee der Vorberge die gepanzerken Firnerecken die Schneestandarken in die schimmernden Lüfte aufstreckten; dort das weltentrückte Tal-gelände des untern Sihllaufs, auf dessen einsamen 101 []Frieden die bewaldete Wand des Albis mit seinen Märchenhorken niederkräumt.
Maria wandtke die strahlenden Augen kaum mehr zur Landschaft. Sie hingen an den Lippen des Mannes. Sie konnle sich nicht ersättigen in Fragen nach Voldi, seiner Krankheit, seiner Genesung, ne Wesen, seinem Aussehen. Aus der Liebe, die sie seinem Kinde entgegentrug, von dem sie kaum gehört, fühlte Hirzel, was er selbst ihrem Herzen war.Auch von sich mußte er erzählen, von seinem Tun und Treiben, von seiner Vergangenheit und seinen Ausblicken. Einmal ziktkerte die Furcht durch, er möchte jetzt, wo sein Herz verwaist sei, von vornehmen und feinen Fräulein und Frauen umschwärmt und von irgend einer mit Beschlag belegt werden, sodaß für das arme, ungebildete Mädchen von geringer Herkunft kein Raum mehr bleihe. Sie ließ sich nicht leicht überzeugen oder sich doch nahe bringen, daß er ein Vereinsamter oder schon seiner äußern Lage zufolge ein wenig Begehrter, weil wenig Begehrenswerter sei.
Kiemand darf mir abstreiten und durchtun“,wandte sie ein, daß die Aristokraten und ihre Fa-milien, wenn schon alle Vorrechte bachab geschickt sind, sich besser dünken als andere Leute, alle Türlein zumachen und sich absondern, andererseits aber unter sich zusammenhangen wie Kletten. Sind sie auch keines Nagels groß mehr wert als unsereins und überhaupt die Untern, so sind sie doch Stolz-güggel und sehen auf andere herab und geben's shnen zu merken, wo sie nur können, wenigstens die meisten. Und eine von dieser Sortke, hat sie auch an Leib und Seele weiß Gott wie wenig übrig, ist natürlich jedes Augenblicklein bereit, an einer Alleruntersten und Geringsten, wie ich eine bin, die Schuhe abzupuhzen. Es wird auch nicht lange anstehn,so marschiert so ein gepuhztes und aufgedonnertes Dämchen heran und macht dem Herrn Pfarrer 62 []Honigmäulchen und Zuckeräuglein, bis sie ihn sauber im Garn hat. Dann kann die arme Maria sehen,wo sie bleibt.“
Sie brach plöhlich in heftiges Schluchzen aus,bemeisterte sich aber rasch und wischte die Tränen ab.
Das zornige Auflodern um einen Wahn, um ein Nichts erstaunke ihn. Gerade ihre liebenswürdige, aus dem liefsten Seelengrund aufgrünende van hatte ihn angemuket. Er faßte begütigend ihre and:
Liebe, wo denken Sie hin? Ein Landpfarrer ohne Vermögen, mit einer kranken, versorgten Frau und einem Kind, dazu seit Jahren das Herumgeschlepptwerden in den Zeilungen rechnen Sie das zusammen! Das ist gewiß nichts Anmächeliges,Herkommen hin, Herkommen her! Das ließe sich an den Fingern abzählen.“
Ja, schon. Aber der Stolz aufs Familienwappen und der Hochmut auf die vornehme Sippschaft kommt doch eines Tages zum Vorschein. Man kann einer Geiß den Bart ausreißen, sie macht doch mäh! Und ist's so weit, dann gilk ein armes Geschöpf wie ich,das von nirgends her ist, nichts mehr!“
Sie reden jetzt schon zum zweitenmal von Ihrer geringen Herkunft oder wie Sie das ausdrücken.Was wollen Sie damit sagen? Glauben Sie viel-leicht, Sie wären mir mehr, wenn Ihre Vorfahren mit güldenen Gnadenkeltten um den Hals im Rat gesessen wären, stalt daß sie einfache Leute waren und unbescholken mit dem großen Haufen gingen?“
Ja, schöne einfache Leute das!“ rief sie bitker.
Er blickte sie fragend und verwundert an.
Es war ein Fehler von mir“, erklärte sie, daß ich's Ihnen nicht gleich in der allerersten Stunde gesagt habe: meine Eltern waren Heimaktlose und sind ich war schon auf der Welt erst vor ungefähr zwanzig Jahren in Zollikon eingebürgerk wor193 []den. Heimatlose sind aufgewachsen sozusagen wie Heidenkinder unker Dornen und Disteln, ohne Schulunterricht und christliche Glaubensunterweisung, sie haben gelebt in Wäldern und entlegenen Hülten, sie sind durchs Land gefahren ohne Herd und Recht, gehetzt und gejagt, ein unglücklich Volk. Das ist meine Abkunft! Hälte nicht der Staat eingegriffen und das Unrecht gukgemacht, so weit es sich gutmachen ließ:ich wäre jehßt wohl auch eine solche Landfahrerin,all dem gusgelzyt und preisgegeben, dem ein solches pyin cyupstes enschenkind preisgegeben zu sein pflegt.“
Über ihrer Stirn und ihren Brauen lag ein Schat-ten der Wälder, in denen ihre Ahnen so manchmal Zuflucht gsucht. und um ihre NRüstern witkerte ein leidenschaftlicher Hauch, ein Erbteil des den staat-lichen Sittken und Satzungen häufig ungebunden ent-rückten Geblütes.
Zu Hirzels Obliegenheiten gehörte hin und wieder die Mithilfe bei der Einbürgerung Heimalloser,die man aufgriff und von Gesetzeswegen zu beheimaten und zu behausen krachteke. Denn noch weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein pflegken die Kantone diese Fahrenden durch förmliche Treibjagden aufzustöbern und über die Nachbargrenze abzuschieben, worauf sie gewöhnlich kurzer Hand zurückbefördert oder einem andern Kanton aufgeladen wurden. So verwildert und zerfahren anfänglich die Mehrzahl dieser nunmehr seßhaft Gemachten war,sie wurzelten durchschnittlich unschwer im neuen Boden ein, im Zürichbiet besonders. Die Bevölkerung des Landes, das einen Pestalozzi geboren und zwei Menschenalter später die Heilung sozialer Gebrechen stürmisch erzwungen hatte, kam den Aus-gestoßenen und endlich Aufgenommenen einigermaßen entgegen. Sodann lebte in manchen dieser in den Außenwerken der Gesikkung und Ordnung aufgewilderten Gesellen und ihren Angehörigen,De []wenn auch verdunkelt und verkümmert, ein besserer Kern als vielfach in verstaubten Pfahlbürgerseelen.Ihre Vorfahren nämlich, die zuerst der Heimat verlustig gegangen, waren meistens nicht etwa Bettler oder sonst Abgehauste und Übeltäter, sondern solche,die bei Glaubensumstürzen am Alten festhielten und darum Verbannung erlitken halten, in evangelischen Kantonen Katholiken und umgekehrt. VNatürlich hatte, was im Ansen der Sache lag, auch der Tüch-tige und Gutgewillte unter ihnen vor den Alteinge-sessenen häufig einen harten Stand, und Zurücksetzung und Kränkung blieb ihnen nicht erspart.
Deutlich zeigte der Verlauf des Gesprächs, das Hirzel mehrfach auf eine andere Bahn zu leiten sich bemühte, wie manchen scharfen Stachel Maria über dem Bestreben, in Reih und Glied zu kommen und aufrecht zu bleiben, in ihrer Brust empfangen, wie vieles sie von Nachbarn und Bekannten auszustehen hatte, wie sie keine Seele besaß, der sie sich aufschließen durfte. Sie klagte, auch daheim entbehre sie Halt und Verständnis. Die Mutter sei eine entsee scharfe Ir bei der sich das Landtreicherische von ehedem noch geltend mache im Widerwillen gegen jegliche Bildung, wie sie denn durchaus Bücher- und Lesefreude der Tochler verfolge. Der Bruder, fleißig und gutmütig, gucke zu-weillen ins Gläschen und habe nur seine Schmiede im Kopf und eine Heirat, die ihm einen ordenktlichen Haufen Geld eintrage. Er und die Mutter würden es nicht ungern sehen, wenn sie einem jungen und reichen Engländer von vornehmer Geburk Gehör schenkte, der ihr schon geraume Zeit nachstelle und zudringliche Ankräge gemacht habe.Das alles enthüllte sie bonend und andeutungs-weise. Es war wohl zu erkennen, daß sie es darauf anlegte, ihre Lage zů schildern und der Wahrheit die Ehre zu geben, ohne die Angehörigen allzusehr 105 []eeen t doch wahrnehmbar genug schrie das Weh einer Seele auf, die sich vereinsamt und unverstanden weiß.
Wie oft und oft wng ich bei Tag und Vacht an meinen Vater selig denken! Ich weiß nicht, womit ich mich versündigtk habe, daß ihn mir der Himmel so früh weggenommen hat. Er war nur ein armer,einfacher Mann, nur ein Korber, aber von Grund aus die Liebe und Güte selbst. Er hat mich verstanden, er einzig und allein, und o, wie sehr geie *Bald rechts, bald links vom Höhenweg in schmale Pfade einbiegend und wieder zurücklenkend, waren sie schon eine ansehnliche Zeit gewandert, als beim Anblick einer Häusergruppe, die an einer Weg-krümme auftauchte, Maria den Vorschlag machte,umzukehren, um den schwathaften, verleumderischen Insassen nicht unker die Augen und in die Mäuler zu kommen. Er pflichkete ihr bei, nur“, meinte er,wollen wir noch bis zu jenem statklichen Baum links gehen! Dort muß die Aussicht ausnehmend schön sein!“An der bezeichneten Stelle angelangt, sagke sie traurig:
Jetzt ist der dumme Baum auch schon dal“
Er lachte.Aber du wolltest doch nicht weiter als bis hierer?Verständiger ist es schon“, räumte sie ein, ‚aber . gnge eben mit Ihnen lieber bis ans Ende der eslt!“Sie waren noch nicht lange auf dem Heimweg begriffen, als rechts unken auf der Straße zwischen ihnen und dem See von Zürich her eine 8X8 Schaar anmarschierte. Rach der Weise: Wohlauf 106 []zum fröhlichen Jagen“ stimmte sie eben ein kräftiges Lied an:Auf, ladet eure Büchsen
Mit Pulver und mit Blei!Wir wollen jagen und suchen,Wo unsre Freiheit seil Wir wollen einmal spazieren Im schönen Valerland;
Und wer uns dran will hindern,Muß fallen von unsrer Hand!Allauf und über die Berge,Durch Wälder und über die Seen!Hei, wie so frisch und hneidig Die Schweizerlüfte wehn!Wie steigen die Silberhörner Noch immer zum Himmel auf!Es wallen die Silberlüfte Noch immer den alten Lauf.Vom Jura bis zum Splügen,Vom Rhodan bis zum Rhein Muß doch noch wo zu finden Die alte Freiheit sein!
Kaum hatte sich drunken der erste Ton aufge-schwungen, kaum hatte Maria die ersten Marschreihen wahrgenommen, so zog sie ihren Begleiter hastig mit sich zurück: Forkl fort! zurück! es ist besser, die da drunten sehen Sie nicht!“
Sie eilte mit ihm unker eine rückwärts stehende Baumgruppe, unter deren ausladenden Asten man bequem den Hang abwärks blickte, ohne selbst wahrgenommen oder doch leicht erkannt zu werden.
Es waren Freischärler aus der Stadt Zürich, die 1
7 []über den Albis ins Luzernische wollten, um mit den dortigen Freisinnigen die Jesuiten samt der ulkramontanen Regierung über den Haufen zu stoßen.Sie hatten sich unweit der Stelle besammelt, wo Maria auf Hirzel geharrt, und sich dann ziemlich verspätet und kleinsaut in Bewegung geseht, weil sich statt der erwarteten tausend Mann wenig über ein halbes Hundert eingefunden hatte, sodaß, wenn sie unkterwegs nicht ansehnlichen Zuschub gewannen,ihr Unternehmen von vornherein übel aussah.
Durchgehends waren es jüngere Leute, Handwerker, Lehrer, auch etliche Maler und Rechts-anwälte. Man sah den meisten an, daß sie niemals zweierlei Tuch getragen und unbeeinträchtigt von soldatischem Drill unker 8 schritten.
In ihrer Mitke befand sich der Dichter des Liedes, das eben verhallke. Das war Goltffried Keller,fast um eines Hauptes kleiner als die andern. Mit schwarzem Schlapphut und Hirschfänger herausstaffiert und die Flinte umgehängt, dampfte er aus einer klobigen und marschierte nach beendigtem Gesang still und ernsthaft daher.
„Was ist mit dir, Golkfried?“ erkundigte sich sein Nebenmann Hegi. Drechselst du wieder Verse?“
Verse?“ erwiderte er mürrisch. Das fehlte mir gerade! Ich habe gestern mit Follen und Hoffmann von Fallersleben in alle Vacht hinein gebürstet und getabakt und spüre jetzt ein Spinnweb RX Schädel. Da vergehen einem die Hagels-verse!“
Nu'“, lachte der andere, es ist nicht das erste!Da wird dir das Warschieren in frischer Luft gut tun und deinen Geist wieder einrenken.“
Ich weiß nicht“, klang es nachdenklich zurück.Es ist eigenklich eine e Sache, so über Land zu strolchen, um sich totschießen zu lassen; dafür bin ich doch eigentlich zu arm.'
Zu arm?“ wunderte sich Hegi. Ich glaube, es 108 []hat keiner von all denen, die da milschuhen, viel mehr als du und ich, nämlich nichts. Da wären wir eigentlich vom Ersken bis zum Letzten alle zu arm zum Tokschießen. Aber ich meine, es ist gerade umgekehrt: je weniger man hat, desto leichter reist man aus der Well, wohingegen die Zinsleinpicker und die in der Wolle sitzen, am Leben kleben wie der Schuster am Pech.“
Der Dichker schütkelte den bleichen Kopf und nahm die Pfeife aus dem Mund:
Das Leben ist keine Lumperei und kein Pfänder-spiell Wenn Einer auf die Welt kommt, so erwächst ihm die Pflicht, etwas Rechtes zu haffen, was immer es sei, bevor er wieder abschiebt.“
He“, warf Hegi ein, ich meine, das gilt für arm und reich g
AV
Der Reiche hat sein Pläsier an Geld und Gül-ten. Muß er abkratzen, so hat er seine Freude gehabt, eben am Gut und am Wohlleben. Der arme Teufel aber hat keine Freude als die, ekwas Rechtes zustande zu bringen. Muß er davon, ehe er das erreicht, so ist er eben um seine Freude bekrogen.“
üch begreife deine Philosophie nicht. Es geht mir wie einem Hund, der hinter einer Chaise drein-rennt und doch nicht recht nachkommt. Und deine Ideen und dein Tun passen zusammen wie Karren-salbe und Rosoli. Du kannst doch mit deinem Schießz -hbrügel daheim bleiben, kannst in den Wald und die Blümlein ansehen oder einen festen Schoppen aus-stechen, das heißt erst, wenn du dir für deinen Kahenjammer ein saures Leberlein zu Gemüt geführt hast.“
Hegi, du bist ein Kuhschwanz!“ brannte der Dichter duf. Kann denn ein Mann, der noch etwas auf sich hält, länger zusehen, wie die verfluchten,verdammien Kreuzerdenhimmeldonnerwelter Jesuiten und Kapuziner in der Innerschweiz wirkschaften, ohne 109 []daß er aus der Haut fährt? Da will ich mich doch zehnmal lieber kotschiefzen lassen! Die verfluchten,maledeiten Lauspelze! Auf den Schindanger gehören sie, die “
Er war eben daran, noch ein zierliches Körbchen faustdiche helvetische Krafttilel und hanebüchene Benediklionen über die Luzerner Regierung und die Jünger Loyolas auszuschütken, als ein langgezogenes Halt erscholl.
Das e der Eidgenossen blieb stehen und spitzte die Ohren. Man wolle, hieß es, ein bißchen auf die zwei Lehrer warken, die man zurückgelafsen,um verspätete Nachzügler in Empfang zu nehmen.Man hätte sie mit diesem Auftrag'betraut, weil sie doch, wie ein Spaßvogel meinte, von Amkswegen Zurückgebliebene naächbringen müßtken. Es währlke nicht lange, so rückten sie guten Schrittes um eine Wegbiegung heran. Einen Bewaffneten führken sie nicht mit sich, wohl aber ein hübsches Frauenzimmer.
Die Kriegsmannen fingen an zu lachen und schlechte Witze zu reißen. Gottfried Keller fagte:
Die Himmelhünd! Wo haben die jeht in der Schnelligkeit das Weibsbildchen aufgegabelt? Es geht nichts über einen Schulmeister, wenn er im Saft steht, geschweige denn über zwei!
Nur Einer verhielt sich still, nämlich Ludi Mürg geli. Er hatte in der entschlossen Herannahenden seine Frau erkannt und begriff sofort, was sie im Schilde führte.
Mit den Begleitern rüstig Schritt haltkend, erreichte sie den Zug, steuerte auf ihren Mann los und rief, die Linke in der Hüfte, die Rechte samt dem Zeigefinger herrschend ausgestreckt:
Ludi, was ist das eine Art, wie ein Dieb in der Vacht let en und am heiterhellen Tag mit einem geladenen Gewehr, das losgehen könnte,herumzustreichen! Du kommsi sofort heinmt 10 []Unterdrücktes und lautes Gelächter erhob sich.Mehr als einer dachte, wenn er eine so hübsche,handfeste Frau zu Hause hätte, er hälte den Schießprügel stehen gelassen, wo er stand.
Ludi Mürggeli hatte sich in der Tat aus Furcht vor seiner reglersamen Hausehre heimlich davongemacht, nachdem er überm Becher die Teilnahme am Zug feierlich gelobt.
Jetzi fühlte er, ze es galt. Gab er nach, so verfiel er dem Gespött für sen ganzes Leben und verfiel der Gewaltherrschaft seiner Frau rettungslos.Er richtete sich auf und drückte den Hut mit kräf-tigem Ruck fester in die Stirn:
Ich habe je und je für die Freiheit und gegen ihre Unkerdrücker gekämpft! Also tue ich es auch heute. Damit bastal“
Er wußte nicht recht, stärkten ihm die genossen den Rücken oder bezog er die der Frau gegenüber ungewohnte Festigkeit aus sich selbst.Jedenfalls erlifkt ihr Regiment den ersten Stoß. Sie fühlte es, büßtle ihre Sicherheit einigermaßen ein und wehklagke:
„Wären wir doch in Pfäffikon geblieben! Da hältest du folche Torenbubereien unterwege gelassen!“
‚„Du hast in die Stadt gewollt! Punktum! ich mache müt
Die Männer machten lächerige Gesichter. Das brachte sie in Harnisch:
.Wart nur, bis sie daheim wieder metzgen!Ich will dafür sorgen, daß du die Blut- und Leberwürste gesehen hast!“
Die Gesellschaft brach über den ohnmächtigen Zorn in derbes Lachen aus, sodaß sie wort- und rat-los dastand.
Gottfried Keller gefiel die junge Frau in ihrem schmerzlichen Unwillen sowie der mutige Mann.Mit der Pfeife auf diesen weisend, lachle er:101 []Der steht vor dem dreißigjährigen Krieg! Da ist es ihm ganz zuträglich, wenn er erst eine VNase voll Pulper riechtl
Sie wandlte sich entrüstet und räumte spornstreichs das Feld. Ludi Mürggeli, der die Walstatt behauptel, blickte mit einer wahren impavidum ferient ruinae-Miene gradaus und stolzierte sehr aufrecht einher, obgleich es ihn im Grunde hart ankam, ais Vorwärts kommandiert wurde.
Der Vormarsch war noch nicht weit gediehen, so quecksilberte aus einem der wenigen Häusfer der Seeseite ein zappeliges Männchen heraus, eilte auf einen der Bewaffneten zu, streckte ihm die Hand hin und piepste ihn an:
Adie, Herr Waier, 's frait mi unghir, Sie wieder emole z'gseh!“
Der Angeredete riß verblüfft die Augen auf,völlig ungewiß, in welchem Stall er das WRößlein unterbringen solle. Der andere sprudelte unbeirrt und gleich freundlich weiter:
Kenne Sie mi wirgglig ganz nimme? Me soktk's nit dängge!“
Der Kriegsmann verneinte kopfschülkelnd.
Hieronymus Bappedipfi im Totegäßli z'Basel.Mege Sie sich nimmen erinnere? Vor siebenehalb Johre het is mi Frind Aigen Rusterholz i ha ebe mit siner Frau ör Worgekafe krungge , in Ziri bim Großminster vorgstellt. Jetz gang i e Bligg ĩ d'Bändelfabrigg go wärfe, wo'n er do oben elablierk het. Wisse Sie, s isch mer en unghiri Fraid, daß i's grad zu Ihrem Freischaarezug kriff. 's hek mi als g'furt, daß i so eppis nie z'gseh iberko ha. So eppis git's in Basel ganz nit. Das isch ganz nit grings,wieni jetz mergg. Es wird starggen Effäkt mache,wenn i in der Skärnezunft und bi Verwandte und Frinde dervo verzelle. Nämlig Sie miend wisse,die Bappedipfi sind in Basel en altigsässe und verbraitet Gschlächt. Zwai drus sind scho Hundsstupfer 112 []am gsi, und aine wär fast Birgermaister worde!ꝰ
ARD Fabrik des Freundes abschwenken mußte. Er zog höflich den Hut:
Läbe Sie wohl, ihr Here! 's isch mir e großi Ehr gsi! Gueli Verrichtigl“
In Goltkfried Kellers Gesicht halte es mehrfach gezuckt. Das Wesen des Männchens und die hohe Stimme, die wie die eines Kindes klang, gingen ihm auf die Nerven. Indessen hatte er sich damit begnügt, einmal schief über die Schulter nach dem puhigen Figürchen zurückzublicken. Jetzt rief er ihm nach:Wenn Sie wieder nach Zürich kommen, so nehmen Sie das Kindsmädchen mit!“
Der Zug marschierke weiter und verschwand um eine Ecke.Unter seinem Apfellaubgitter hervor sah Hirzel die Freischärler kommen, halten und abziehen. Die Erinnerung drängte sich heran und wisperte:zPeißt du noch? Vor einem halben Dutzend Jahre? Sturmglockenschwall in die aufgescheuchte VNacht! Pfamentlang und Widerklang unkerm Glitzernetz der silbernen Gestirne? Der Zug durch das träumende, fiebrig auflauschende Land, an den Hügeln vorbei, von denen die Wälder so scheu und eigen niederschauerten? Vorüber an dunklen Gottes-äckern und ernsten Kirchtürmen! Die hinsinkende Dämmerung! der aufleuchtende Tag! Der Sturz der gottlosen Gewalthaber! Die hochfahrenden Hoff-nungen! die begehrlichen Träume!“
Und jetzt, wo waren die Früchte jener hochgemuten und hochgeschürzten Skunden? Sie faulken.Und er selbst, der weiland Freischaarenführer, der Tausenden vorangeschritten, er konnte jeden Tag
3 Freh, Bernhard Hirzel. U.
113 []stutzen wie der vom Wurmfraß heimgesuchte Apfel,er sich über seinem Haupt eben vom Aste löste und dumpf ins Gras polterte.
Beklommen und einsilbig ging er neben Maria her, die den Umschlag spürte und endlich schwieg,da er abgerissen und wie geistesabwesend antwortete.Sie hielt es aber nicht lange aus und erhob halb traurig, halb schalkhafft den Vorwurf:
Jetzt haben Sie mir noch gar kein einziges Wörklein gesagt über mein neues Gewand, das ich extra für Sie habe machen lassen, weil ich Ihnen doch gerne ein wenig gefallen möchte. Am Ende haben Sie's überhaupt noch gar nicht gemerkt, wie ich neu herausgeputzt bin.“
Allmählich ue er auf und fand sich wieder in das Glück, das ihm zur Seite wandelte. Er verabredete mit ihr ein Wiedersehn nach eingetretener Dämmerung.
Unter dem elterlichen Dache nahm er RückWgepe mit einem gewissen Meger, einem bestanenen Manne, der eine Reihe von Vermögens-verwaltungen besorgte und sich, niemand wußte, wie und wodurch, nach und nach ins Verktrauen des Vaters eingenistet hakte, wie denn kaum ein Tag verfloßz, ohne daß die beiden sich sahen. Hirzel erbai von diesem Mann Auskunft über den Sland des väterlichen Geschäfls und Vermögens und verhehlte nicht, daß er möglichst umgehend eine gewisse Summe zu erhalten wünsche.
Der andere strich sich mit der Hand langsam über das graugelbe, magere Gesicht, in dem die blaßblauen Augen nur wie zwei halb erloschene Scheine ruhelos hin und herflackerten:
.Wir fehlt“, sagte er, der Einblick in den Vermögensstand. Den besitzt vielleicht nicht einmal Ihr Valer vollständig. Ich weiß nicht, wie viel er besißt,8 oft ich mit ihm verkehre, weiß, einige wenige osten abgerechnet, auch nicht, wo und wie er an114 []gelegt hat. Es kann sein, es findet sich unter seinen Papieren von diesen Dingen elwas aufgezeichnet;kann auch nicht sein.“
Für Sie muß es doch kein Hexenwerk sein, den Jahresertrag aus dem Geschäft zu berechnen. Ich meine: nur so im allergröbsten. Und daraus den Vermögenszuwachs.“
Zur Not, ja. Jedoch die Haupltsache weiß ich eben nicht: was er mit den jährlichen Überschüssen anstellt, angestellt hat.“
Immerhin, denk ich, spürt es das Geschäft nicht,wenn ich tausend Gulden herausziehe.“
Wag sein, daß das Geschäft das erleidet, aber der Rechtsboden nicht.“
Kechtsboden? Ich denke, da der Vater aus dem Spiel fällt, so haben die Mutter und ich freie Hand.“
Der Valer fällt nicht aus dem Spiel, wenigstens vorläufig nicht.“
Er ist unzurechnungsfähig.“
Unzurechnungsfähig, nicht bevormundet. Und der Doktor meint, eine Besserung, ja ziemliche Wiederherstellung sei nicht ausgeschlossen.“
Aber golenae dieser elende Zustand andauert,müssen doch die Nächsten, müssen die Mutter und ich verfügen können!“hi Wenn Sie die Prokura haben, ja, sonst eben nicht.“
„Es muß doch jemand da sein, der den Vater verkritt und an seiner Statt das Nötige vorkehrt.“
Meger zog bedächtig die Brieftasche hervor, ent-nahm ihr ein mit dem Zürcher gekeilten Schild ge-stempeltes Blatt und überreichte es Hirzel. Darauf stand von des Vaters Hand, daß, I er plötzlich erkranken müßlte, Meger seine Interessen wahrnehmen und die nötigen Vorkehren kreffen sollte.
Worklos starrte Hirzel auf das Dokument. Über-zeugt, daß der Schleicher es dem alten Mann abgeluxt, frägte er:
115 []„Wie kommen Sie dazu, Sie, die gar nicht in unserm Geschäft sind, niemals darin waren und behaupten, in des Vaters Vermögensverhältnisse nicht eingeweiht zu sein?“
Sie wissen, Ihren Großvater hat seinerzeit der Schlag gerührt. Er erholte sich nur sehr kümmerlich und siechte ziemlich lang dahin bis zur endlichen Erlösung. Ihr Vater, der die verhängnisvolle Anlage überkommen zu haben glaubte und in den letzken Zeiten Warnzeichen spürke, baute vor und stellte dies Blatt aus. Er meinte, Ihre Mutter, der er niemals einen Einblick weder ins Geschäft, noch ins Vermögen gewährtk, sei wenig wie Sie in der Lage, zweckdienlich, das heißt mit Sachkennknis zu verfahren. Auch will ich Ihnen nicht verbergen, daß ihn die Sorge plagte, Sie möchten bei erster Gelegen-heit die Hand über sein Geld schlagen und ins Guttuch schneiden.“
Mit andern Worken“, rief Hirzel zornig, Sie haben den Auftrag übernommen, wenn nicht gar gesucht, mir mein Erbe so lang wie nogg zu hinker halten! Ich fechte Ihren Fetzen gerichklich an!“
Tun Sie das! Ich will Ihnen auch gleich voraussagen, was mutmaßlich geschieht: entweder ergrünk Ihr Vater i wieder innerhalb gewisser Frist, dann fällt mein Mandat dahin. Oder er bleibt dahinten: dann wird der Richter einen Beistand bestellen und ihm Prokura erkeilen; vielleicht Ihnen, vielleicht Irrer Mutter warum nicht? Aber so weit ist es eben noch nicht.“
Ich werde den Handel unverzüglich meinem Freunde, dem Regierungsrat Blunfschli, unterbreiten! heute noch! Ich bin doch begierig, was er dazu äußert.“
Die X den andern nicht aus dem Gleichgewicht. Nur die Augen schienen etwas unruhiger zu flirren.116 []Nach dem Mitltagessen vollführte Hirzel sein Vorhaben.
NVNakürlich“, rief Blunkschli, muß von Amtswegen ein Beistand her und Meger das Blatt aberkannt werden. Freilich bleibt dem freien Ermessen des RKichters anheimgestellt, wie hoch er den ärzllichen Befund einschätzt, ob und in welchem Maße der Kranke sich wiederfindet. Das kann Zeit brauchen.“
Nach Abwandlung des Gegenstandes ließ Hirzel die Bemerkung fallen, er gedenke seine Pfarrstelle in Pfäffikon aufzugeben und in die Vaterstadt zurüchzukehren, wo er sich um so eher über Wasser zu halten wos als ja aus dem nahen Erbe ein Erkleck-liches zu hoffen sei.
Das Amt', schloß er, ‚ist mir nicht eigenklich verleidel, aber der Ori. Ich muß näher an Bildung und Verkehr heran. Auch werden die Radikalen neuerdings gegen mich loskesseln!“
ERO Weile,gedenke mich zu verändern. Ich krete nächstens von der Regierung zurück. Wenn mir die Gegner auch an der Hochschule nichts anhaben werden, ich finde den Boden im VBaterland nicht mehr. Ich mache dir kein Hehl daraus, daß ich mit einer deultschen Reguns wegen eines Lehrstuhls in Unterhandlung stehe.“
Du willst fort?“ rief Hirzel erschrocken.
Warum nicht? Keller ist auch gegangen und befindet sich in der Fremde wohler als daheim.“
Wenn du auch noch gehst, dann habe ich gar keine Hilfe mehr', seufzte Hirzel.
Hilfe, sagst du? Hilfe?“ rief Bluntschli, halb schmerzuch, halb spöttisch. Ich habe Mühe, mich meiner Haui zu wehren. Da soll ich noch helfen können! Die Radikalen hauen auf mich los wie auf dich. Wir konnen nichts machen, rein nichts. Es ist besser, man nimmt die Türklinke in die Hand, bevor 17 []man hinausgeworfen und die Treppe hinunkergeschmissen wird.“
Gedrückt und wehmütig nahm Hirzel Abschied.Er fühlte, Bluntschli löste sich vom Vaterlande, löste sich von ihm, halke sich schon von ihm gelöst.
Trotzdem hielt er unken an der Treppe an und erwog, ob er wieder umkehren sollte. Es reute ihn nämlich, daß er dem Freunde seine Geldnöte verschwiegen hatte. Kleinere Posten waren aufgelaufen,und Frau Belty verursachte fühlbare Auslagen. Er hatte nach seiner Art, und nicht zum erstenmal, die Sache auf die leichte Schulter genommen und verleiert der Zustand des Vaters gewährleiflete ja ein baldiges Abschütteln sämtlicher Verpflichtungen!Jetzt war die Forderung plöhlich da, scheinbar unversehens gaus dem Boden gewachsen, latsächlich jedoch Schritt für Schritt herañgerückt. Nur daß er nicht gerechnet und nicht zugesehen hatte.
Die Mutter erklärte ihm, lediglich über soviel zu verfügen, um auf acht Tage den Haushalt zu beenen Er verwarf den Gedanken, sich añ eine ank zu wenden, weil diese Informakionen einziehen und das Geschäft nicht seinen Wünschen und Bedürfnissen enlsprechend rasch abwickeln würde. So vertraute er sich den Händen eines Menschen an, der schon mehrfach das Zuchthaus mit dem Armel gestreift, freilich auch dem Kichter zu entwischen verstanden hakte. Die Bedingungen waren halsabschneiderisch, die Frist kurz. Allein Hirzel erhielt das Geld blank auf die Hand gezahlt. Er strich die Summe leichter Dinge ein und machte sich weiter keine Gedanken. Vielleicht schon in zwei Wochen war die Schuld beglichen, sodaß der bohe Zins wenig bedeutete.
Unverzüglich verfügte er sich zur Post und enkWonge sich durch eine Senöung der eeden Forderung. Das erleichterte sein Sorgenbündel. Der Rest davon verflog in die Sternenlüfte, als er mit 18 []Maria, zu der er sich nach eingebrochener Dämmerung begeben, die einsamen Wege wieder ging,die sie am Vormittag beschritken.
Ich bin“, flüsterte sie an seinem Arm, vor Sehnsucht faft gestorben und wußte nicht, was ich anfangen müßzte, wenn Sie nicht mehr kämen!“
In ihrem Busen flutete die Seligkeit, deren nur die liefe Seele durch die ungebrochene Leidenschaft teilhaflig wird.
Verwundert, gerührt, dankbar sah er es. Er ahnte das Glück, das ihre Brust füllte. Aber ihm war versagt, es in gleicher Stärke zu empfinden.
Als sie, im Begriff, sich zu trennen, vor ihrem Hause standen, hielt in geringer Entfernung ein Leiterwagen auf der dem Seéè entlang führenden Hauptsträze. Beim dürfligen Latkernenschimmer sliegen ein paar Männer aus und gingen auf der andern Straßenseite still an den beiden vorbei, die Gewehre eng angedrückt wie Jäger, die nichts geschossen haben. Das waren Golkfried Keller und etliche Genossen. Sie kehrlen unverrichteter Dinge heim, da der Zürcherische Regierungsstatthalter dem Häuflein, das keinen Zuzug mehr erfahren, nah an der Grenze den Weitermarsch verwehrt hatte. Sie hatten das Zwielicht abgewartet, um, müde und kleinlaut, wie sie waren, ungesehen und unbeschrien nach ihrer ruhmlos gescheikerten Fahrt ihre vier Wände aufzusuchen.
119 []XxI.Ein am nächsten Worgen, vor Hirzels Fadeche nach Pfäffikon, dünkte die Liebenden nicht kunlich, da ein solches das Gewisper und Getratsch der Pfahlbürger, uünter denen er aufgewachsen und eingewoben war, nur zu leicht in For brachte. Allein weil sie wenigstens dauf ein stummes Wiedersehen nicht verzichten wollten, so machten sie ab, daß Maria zur Stunde des Postabgangs wie zuIon, und ohne Gruß langsam vorübergeschritten
äme und sich überhaupt 6 einrichte, daß sie bei ewaiger Verzögerung der Abfahrt in der Nähe fei.So geschah es. Er müßle sich wundern, wie fein und unauffällig sie vorbeizügehen wußte, wenn sie auch freilich einem gelinden, unbotmäßigen Errbtken micht zu gebieten vermochte. Sie blickte ihn, nachdem sie sich der obwaltenden Dinge und der Umgebung vergewissert und sich unbeachtet wähnte, aus schrägen Augenwinkeln an. Alles Verlangen, alle Sehnsucht rütkelte der eine Blick in ihm wach. Ihre Leidenschaft und Güte lag darin eingezjauberk.
Sie kauchte, als die Post eine Strecke weil gefahren, unvermutet aus einer ieae abermals auf und ging ihm mit warmem ugengruß entgegen und vorüber.
Daheim fand er Voldi bleich und kümmerlich,doch heitern Sinnes. Benn die störenden Anfälle waren völlig ausgeblieben.
Es wird ihm gut kun“, dachte er, wenn er in die Stadt kommt, wo er mehr Umgang und Anschluß findet als hier draußen. Es ist an der Zeit, daß ich 120 []mit ihm mein ländliches Gezelt abbreche und von dannen fahre.“
Er fragte:
Was hast du denn gekan und getrieben, während ich fort war?“
Roldi machte ein nachdenkliches Gesicht und blickke den Vater aus den blauen Wegwarteaugen freundlich an:
Ha', erwiderte er, weißt du, ich habe halt gewartet, bis du wieder kämest!“
Dann wurde er rnnhneh hob sich auf die Zehen und zog den Vafer zu sich herunter:
And denk nur, ich habe einen großen, großen Vogel gezeichnet und die Tafel extra nicht abgewischt, damit du ihn sehen könnest.“
Triumphierend holte er seine neueste Schöpfung.Der Vater kargte nicht mit Lob, mußte sich jedoch gestehen, daß dieses Gebilde eine verzweifelte Un-ähnlichkeit geigte mit allen ihm bekannten Vögeln.
FJa“, fügte Voldi wichtig bei, wenn ich größer bin und ein großes Blatkt Heler bekomme, dann mache ich einen noch viel schönern Vogel und schicke ihn dem Herrn Müürggeli, damit er auch etwas hat in der Sladt drinnen. Und wenn ich dann noch größer bin und du mir eine Farbschachtel schenkst,dann mal ich einen noch schönern, weißt du, wo man alle Federn daran siehl. Und den darfst du dann für dich behalten.“
Das Unentwickelkte, Zurückgebliebene seines Sohnes bekümmerte Hirzel, so sehr ihn das harmlos Gütige freute. Ein Grund mehr für ihn, dem Dorf bald den Rücken zu kehren.
Nur mühsam machte er sich wieder in die Amtsgeschäfte hinein und mußte sich häufig ermahnen,DHinge nicht lässig zu nehmen, die er ehedem ernst usgesagt und angefaßzt. Es war ihm schon zur Gewohnheit geworden, daß ihn Sehnsucht und Liebes-verlangen jeden Augenblick in seinen seelsorgerlichen 121 []Angelegenheiten anriefen und über Berg und Tal enkführken.
Annähernd zwei Wochen derark hinkräumend,rüstete er allmählich zu einer Zürichfahri, zu der ihm die Krankheit des Vaters hinreichend äußern Anlaß bot, als ihn eine von Bluntschlis Hand adressierke des Neuen Republikaners in die Sähe rachte.
Da war neues, gefährliches Geschütz gegen ihn aufgefahren. Seine zerrütkeken Familienverhältnifse wurden zum Vorwand genommen, ihn aus dem ANut zu kreiben:
Wir wissen“, hieß es, daß in den Despotien und Monarchien der Unmoral die Arena nur zu weit geöffnet ist, desto mehr, je höher hinauf es geht. Aber den echten Republikaner zeichnet ein untädeliges,vorwurffreies Leben aus. Unser Volk würde es nicht anders dulden! Das Volk kann es nie und nimmet verstehen, daß diejenigen, denen es sein edles Vertrauen schent, vom Pfade der Tugend abirren sollten. Sind etwa unsre Ahnen auf dem Wütli mit befleckter Toga esapegetelen Ihr reiner Ruhm strahll durch die Jahrhunderke zu uns Enkeln her über und fordert uns auf, dieser Tugend eingedenk zu sein und uns der nämlichen Vorzüge zu befleißen.Das gilt vor allem für diejenigen, die das Volkmit den höchsten Ehrevselen bekleidet; noch mehr für diejenigen, deren Obhuk die Seelen der Kinder und der Gläubigen anverkraut sind. Wir meinen die Lehrer und die Geistlichen!“ Wie vermöchten ins besondere die Pfarrer ihres hohen Amtes zu wallen,sofern sie nicht mit untadeligem Wande der Gemeinde voranleuchten, sofern sie nicht das exemplarisch leben, was sie lehren? Was sollen wir denken, was sollen wir sagen, wenn wir sehen müssen,daß ein Geistlicher, ein Glied des Zürcher Ministeriums, das die Augen aller fortschrifilich Gesinntken unliebsam auf sich gelenkt hat, das, was ihm nicht
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*[]vergessen wird, sich auf einem dunklen Blatke der Zürcher Geschichke eingetragen hat, daß, wiederholen wir, ein solcher Geistlicher den Frieden in seiner Häuslichkeit so wenig zu wahren versteht, daß seine Ehefrau anderswo zu leben enotigt ist? Uns will bedünken, hier sei Ärbeit für den Kirchenrat, der in lehzter Zeit freier und verjüngt worden ist! Und wir rufen ihm aus aufrichtig besorgter Schweizerbrust zu:Hütet euch am Worgarten!“
Hirzel schlug zornig auf den Tisch:
So schreibt man Geschichte im Lager des Freisinns! An allen Straßenecken schlägt man die goldenen Tafeln des Rechts und des Biedersinns an und reißt gleichzeitig vor der Hffentlichkeik einen Mann herunter, der dg nicht wehren kann! Wo das gewachsen ist, da wächst noch mehr! Das ist sicher bestellte Arbeil! Wunderlich übrigens, daß jetzk ein-mal die Absichten des Gegners miß meinen Wünschen übereinkommen! Wenn die wüßten!“
Seine Vermutung, daß etwas Abgekartetes im Tun sei und dem ersten Skreich bald ein zweiter folgen werde, erhärkete sich nach wenig Tagen. Nämlich es lief ein Schreiben des ein, in welchem man die Säulen der Juchstandighoir durch freisinnige Ecksteine ersetzt hatte. Das Schriftstück lautete kurz und ohne Share es sei ruchbar geworden, daß Hirzel von seiner Frau getrennt lebe, und es gewinne den Anschein, als ob sie gar nicht mehr oder doch kaum in absehbarer Zeit zu ihm heimkehren werde, weshalb die Behörde pflicht und orönungsgemäß Vernehmlassung und Bericht über Verlauf und Stand der Angelegenheit einfordere,schon um böse Wäuler zu stopfen, die sich nicht nur in der Gemeinde Pfäffikon und derenden aufkläten,sondern auch in Zürich, und denen man ohne akten-mäßige, einwandfreie Belege wehrlos gegenüberstehe.
Auch in Zürich“, wiederholte Hirzel, die Stelle nochmals betrachtend. Auch in Zürich? Das heißt 123 []doch nichts anderes als: man hat dich mit MWaria zusammen gesehen, und du bist mit ihr bereits im Gerede. Hier liegt der Haas im Pfeffer! Das hat die Veugier der Herren in Bewegung gesetzt. Aber die können mir gestohlen werden mit ihrem hochnotpein-lichen Brimborium und auf Ankwork warken, bis sie vergrauen!“
Er ging im Zimmer auf und nieder.
Nein“, enkschied er nach einer Weile, das will ich ihnen auf der Stelle einkränken! Sie müssen nicht glauben, daß ich über ihre Hintergedanken und Schneckentkänze im Unklaren bin!“
Er setzte sich hin und strudelle aufgeregt und ungerecht eine vorläufige Ankwort hin:
Tit.! Ihrem Gesuch gemäß werde ich mich s. 3.über die von Ihnen aufgeworfene Frage vernehmen lassen unter Beifügung der betreffenden Akkenstücke. Jetzt möchte ich mich ganz kurz nur dahin außern, daß es mich, um ganz offen zu sein, seltsam berührt hat, wie die höchste kirchliche Behörde des Kanlons auf bloße Gerüchte hin gleich Partei wider mich ergreift und mich gleichsam vor den Richter-stuhl schleppt, ehe sie auch nur von ferne einen Blick in die Akten gekan hat, ja überhaupt nur die gering-sten Akten vorliegen.“
Beim Niederschreiben dieser Kette ungerechter Vorwürfe ihm nicht ein, was er und seine Kollegen vor Zeiten im Erziehungsrat für Gesichter gemacht, was sie vorgekehrt hätken gegen ein solch auf-geknöpftes, sprütziges Wesen.
„Gut gegeben! Das werden die Herren nicht hinter den Spiegel stecken!“ frohlockte er, nachdem er die Zeilen nochmals überflogen und die Feder ausgespritzt halte. Dann schoß ihm durch den Kopf:
.Das muß der Bluntschli sehen! Es wird ihn freuen, zu erfahren, wie ich mit den neuen freifin-nigen Kirchengrößen exerziere!“15 []Er packte das amtliche Schreiben zusammen mit 8 Antwort ein und trug beides auf die Post inüber.
Zwei Tage später langte der Bescheid des Freunes an:
Seit Jugendgedenken bin ich an dir, dich von Unordentlichkeiten zurückzuhalten, die ich, wie du weißt, nicht ausstehen kann. Und die Frucht meiner Bemühungen seit einem Vierteljahrhundert? Daß du wieder drauf und dran bist, etwas Unordentliches loszubrennen, das einem dummen Streich oder,wenn du lieber willst, einer Ungezogenheit so ähnlich sieht wie ein Ei dem andern. Was kostet dich eigent-lich eine artige, gesikttete Ankwort? Eine Seite oder zwei. Und was hangt daran? Viel. Jedenfalls mehr,als du denkst! Du trittst aus einer Bahn, worin du lang gewandelt, und kust einen Schritt ins Ungewisse,um nicht zu sagen: ins Leere. Da gehört es sich, daß dieser Wechsel und Umschwung sich in unkadeliger Form vollzieht. Es ist vielleicht einmal gar nicht so ganz gleichgültig, in welchem Ton dir die Behörde die Entlafsung gewährt, die du ja doch nächstens nachzusuchen willens bist. Also richte dich danach!Wie du in den kirchenrätlichen Wald hineinkrähst,so wird es zu dir zurückschallen.“
Also ein Verweis, mit ein paar Ohrfeigen gar-niert“, knurrte Hirzel, indem er die einfachen, rasch hingeworfenen, aber von lichten Zwischenräumen geirennten Zeilen nochmals durchlief. So gerne er sich aufgelehnf hätte, er mußle beipflichten.
Nun machte er sich hinker eine neue Antwork her,die er schlankweg zu erledigen hoffte. Allein er stieß sofort auf Hindernisse, kauke an der Feder, legte sie jeden Augenblick wieder weg strich und setzte zu.So leicht ihm die Rede vom Munde floß, namenklich vor der Gemeinde, so mühsam rückte er meistens auf dem Papier voran. Die knifflichen ÜUbertragungen aus den mannigfaltig und künstlich gebundenen 125 []Sanskritdichtungen hatten ihm ein Gefühl für Eigenart und Gepräge des einzelnen Workes anerzogen,boußz er wählke, auslas und verwarf. Das machte ihm das Schreiben hausig zur unlustigen Sache, weil ihn meistens, wenn er den Kiel zur Hand nahm, der Gedanke befiel, es sollte und könnke alles besser sein,während ihm die bescheidene Schriftstellergabe ein beträchtliches Bessermachen doch nicht erlaubte.
Jetzt kam es ihn sauer an, seine Ehezerwürfnisse zu erzählen oder auch nur zu berühren, ohne sich und Frau Betty auzuhebt bloßzustellen und ohne in die üble Rolle eines Anklägers zu verfallen. Wendung um Wendung, Ausdruck um Ausdruck kilgtke er be sorglicher Uberlegung wieder. Er, der sich viel darauf zugute kat, die Sakuntala formstrenger als irgend ein anderer übesett zu haben, er, der mit zündender Rede Tausende hingerissen hatte, jetzt saß er da und ree wie ein Schulknabe über einer Aufgabe,ie fester, stäter Sinn und ein Herz ganz auf dem rechken Fleck bewältigt hätten. ß gewahrte er ein zweckdienliches und zugleich einwanöfreies Schlupfloch: er verlangte Bericht und Gukachten vom Arzt, den er dadurch ins Vordertreffen schob, indessen er sich selbst mit einigen mehr oder weniger farblosen Worken im Hinkergrund hielt.
Der Verktehr mit der Oberbehörde lenkte seinen Blick nun erst recht auf die nahe Lebenswende, rückte ihm den Verzicht aufs Amt dicht vor die Augen und nötigte ihn, manches noch einmal durchzudennen, soweit der fahrige, flüchtige Geist ein regelrechies Durchackern, Furche für Pege gönnte.
Eben kam ein Brief aus Zürich und meldete,nach kurzer Besserung stehe es mit dem Vater beim alten, und ein sehnsüchtiger Marias.
Nun beschloß er, nicht länger zuzuwarten, sondern das Tischtuch entzwei zu schneiden.
War er bei der Schilderung seiner Ehewirrnisse 126 []nicht zu Gang und Streich gekommen, wohl, 9 wollte er sich entladen und ausbreiten! Der offizielle Verzicht auf sein Amt sollte ein Dokument sein, an dem man nicht achtlos vorüber kam! Jetzt entsann er sich wieder, daß er eine geschichtliche Figur war im Kanton Zürich, daß er unter den Geistlichen ins-gesamt eine Sonderstellung beanspruchte. Es war immerhin ein Ereignis, wenn Bernhard Hirzel das geistliche Gewand auszog! Und dieses Ereignis sollte sich spiegeln in dem tasteseten das seinen Platz fand bei den Aktenstücken für Kind und Kindeskind! Er schrieb, sein ssen dränge ihn nicht nur, die jetzt innehabende Stelle eines Pfarrers zu Pfäffikon niederzulegen, sondern überhaupt aus dem geistlichen Stand und dem Zürcher Ministerium aus-zuktreten. So ruhig und so 7 im Reinen er sei hinichtlich der Septembergeschehnisse des Jahres 1839,o wohl wisse er, daß die unaufhörliche Wühlarbeit der Gegner ihn wenigstens in der letzten Zeit in seiner Gemeinde, wenn nicht entwurzelt, so doch gelockert habe, sodaß ihm ein ersprießliches Weiterwirken fraglich erscheinen müsse. Nicht durch inneres,sondern durch äußeres Bedürfnis zur Seelsorge geführt, habe er am sechsten September mitgemacht,weil er es für Frevel gehalten und noch halte, dem Volke den Glauben zu nehmen oder doch zu schmälern. Da ihn reifliches Nachdenken zur Überzeugung gebracht, daß die prokestankische Kirche voller Schäden sei und innern Haltes und Zusammenhanges entbehre, so könne er nicht mehr ihr Diener sein.Dann benachrichtigte er die Kirchenpflege von seinem Schritt. Ebenso rückte er ins Bezirksblatt ein Eingesandt ein des Inhalts, er gedenke sein geistliches Gewand auszuziehen, um sich käünftig seinen gelehrten Studien zu widmen, denen ene Neigung immer mehr gegollen habe als seinem pfarr-herrlichen Werk. Durch diese Schritte gedachke er den Gegnern den Wind aus dem Segel zu nehmen,127 []die sonst, wenn sie seinen Verzicht auf Amt und Stand erst auf offiziellem Wege erführen, für ihre Glossen freies Feld gefunden hälten.
Valkürlich blieben ihm Randbemerkungen namentlich über den abgestreiften Pfarrrock nicht ersparl. Aber das Zugemüse zur lakonischen Votiz der Taksache seines Ausscheidens aus dem geistlichen Stand fiel meistens mager aus. Er fühlte fast Heimweh nach jenen Zeiten, wo die Zeiktungsdach-lraufen vollschnauzig auf ihn niederspien. Unverblümt klang es ihm entgegen: Endlich also! es war an der Zeit! man erwarkete es schon lange!“ und wieder: Im Grunde liegt ja gar nichts daran! er ist langeher ein abgetaner und erledigter Geselle!“
Eigen und wehmütig berührken ihn die Schreiben des Gemeinderates, der Schulpflege und der Kirchenpflege, womit sie von ihm nahmen und ihren Dank bezeugken für all das, was er der Gemeinde gewesen und getan. Sie dankten mit Fug und Recht, und mehr als eines seiner Pfarrkinder legte sich die Frage vor, ob der Amksnachfolger das Gleiche leisten werde, zumal für den Unferricht,dessen sich Hirzel besonders liebreich angenommen hatte. Allein es bemühle ihn, daß in der Zahl der Unterzeichner außer zwei, drei, die sich von Amts-wegen nicht zu entziehen vermocht, nicht ein einziger gebildeter Mann sich befand. Es waren lauter ungefüge, ungeschickte Buchstaben schwieliger Bauern. und Arbeiterhände, die hundertmal naäch Karst,Haue und Axt langten, ehe sie zur Feder griffen.
Die kirchenrätliche Entlassungsurkunde beschränkte sich auf die knappen, hergebrachten Sähze,nicht anders, als wie sie einem blutjungen Vikar gegenüber gehandhabt wurden. Es wurmte ihn nicht, daß nicht ein einziger der Gründe, die ihm den weitern Dienst am heiligen Wort verwehrken, auch nur mit einer Silbe gewürdigt wurde, wohl aber,daß man keinen Wunsch äußerte, seine Amtsdauer 170 9 []auch nur um ein Kurzes zu eer sondern ihn auf den nahen Termin verabschiedete, den er selbst bezeichnet haktte.
Es fröstelte ihn, als er nach Durchlesung der wenigen Zeilen den mit Schnörkeln und Sanngen üppig ausladenden lithographierten Kopf des Dokumenkes mechanisch betrachtete. Ihn bedünkte, man habe ihm den Kern aus dem Leben herausgeklaubt,sodaß er nun wie ein leeres Schalengehäuse in der Luft hange. Zimmer und Wohnung schienen ihm auf einmal unsäglich leer und vereinsamt. Er blickte auf die Uhr, ob Noldi nicht bald aus der Schule heimkäme. Die sreudiesen Jahre grinsten aus Ecken und Winkeln und raunken von Decken und Wänden.
Es würgkte ihn aus den vier Pfählen ins Freie hinaus. Er ging auf und ab zwischen den Gräbern,auf die der leichte Wind von der nahen Linde zuweilen ein gelbes Blatt zukreiselte. Dadrunten streckte sich mancher, dem er während der lehzten Krankheit Trost zugesprochen, dem er auf Sarg und Gruft gebetet und Nachruf gehalten. Einige der Gräber, die sich in den ersten Zeiten seiner hiesigen Seelsorge geschlossen, waren schon eingesunken und angewittert,andere verwildert. Es kostele ihn Mühe, sich auf diesen oder jenen der hier Bestatteten, dessen Vamen das Grabkreuz meldete, zu besinnen. Und die Lebenden? Er durftke sich das Zeugnis ausstellen, daß sein Religions- und Konfirmandenunterricht, den er als Herzenssache nahm und bekrieb, manches gute Sa-menkorn in junge Seelen gesuernt daß seine Predigten viele auferbaut, sein Zureden ss Weh und Schmerz gelindert habe. Aber Anschluß, inneres Einvernehmen war ihm kaum beschieden. Ob es der Zufall so fügte oder die Armut der Landesgegend,wo der harte Brotkerwerb die Menschen früh und völlig mit Beschlag belegte, er hakte sich's nicht selten gragt und keine Antwort gefunden. Daran ließ nücht rütteln: er zog an Freundschaft und Liebe
9 Frey, Bernhard Hirzel. II.
22 129 []nicht reicher von Pfäffikon ab, als er vor Jahren eingezogen war.
Der Luftzug schleifte klagende, abgebrochene,unordentliche Töne heran. Es war die greise, an Kindesstatt gekommene Chlephe, die draußen im Feld sang, allerhand Liederbrocken durcheinanderwürfelnd:Und wenn ich wohl ainst gestorben bin,So kut man mich begraben
Wohl unter einen schönen Feige- Feigebaum,Der rote Waldröseli tut tragen.
Es wollt ein Jägerli jagen
Drei Stündeli vor dem Tag,
Es Hirscheli oder es Reh.
Wo düre isch üsi schwarzbruni Chue?Sie isch gege Unterwalde zue.Tannhauser isch jetzt nimme hie,Tannhauser isch 5
Tannhauser isch in Frau Frenis Berg,Wott Goltes Gnad erwarke.
Das Wektter ändert bald“, rief der Siegrist aus seinem Haus herüber. Das ist jedesmal, wenn die Chlephe so kräht. Das ist ein sicherer Welkkervogel.“
Hirzel begann seine Papiere zusammenzulesen und die Bücher zu packen. Dann verzog er sich von den Kisten und Körben und von den Stapeln des planlos verkramten und zerwühlten Hausrats weg nr zwei ag nach Zürich, um vor dem Anzus mit er Mutter dieses und jenes zu bereden. Es erleichlerte seine Ubersiedelung, daß er keine Wohnung zu suchen und mieten brauchte, spndern unter dem väterlichen Dach Unterstand fand.
Auf ein Wiedersehen mit Maria mußte er verzichten, da sie, wie eine Zeile berichtete, krank lag.
Zur Steuer der Hilflosigkeit erschien, von der Mutkter besorgt, in den lehten Tagen vor der Abfahrt 130 []von Pfäffikon eine ältliche Jungfer aus der Verwandkschaft. Sie brachte die Sache ins Blei, machte mit den Hilfskräften ab, entlöhnte sie und blieb,nachdem Hirzel und Noldi abgefahren, noch zurück,um das gründliche Ausfegen der pfarrherrlichen Wohnräume anzuordnen und den zwei Putzfrauen auf die Eisen zu gehen.
Da und dort war die Bemerkung gefallen, es schicke sich, mit dem Pfarrer noch zusammenzukom-men und vor seinem Weggang zu seinen Ehren etwas zu veranstalten. Die Sache gedieh aber lediglich zu einem Abendsitz im Wirkshaus mit den Kirchenpflegern, die vollzählig antrakien. Es war eine frostige und verlegene Sache und Hirzel froh, sein Glas auszutrinken und mit guter Art sich heimzumachen.
Abschied nahm er von der Gemeinde in seiner letzten Predigt. Die Kirche war so gefüllt, daß sie kaum alle faßte. Namentlich Frauen und Mädchen hatten sich zahlreich eingefunden. Er sprach lebhaft und mit innerer Anteilnahme, wie geraume Zeit nicht mehr. Die Wehmut der Trennung drang durch,da und dort auch ein bittrer Laut.
Er mußte, als er die Kirchentüre erreicht hatte,unwillkürlich noch zurück- und hinaufblicken an den Ort, wo er eben gestanden.
Das ist die leßte Kanzel, die du in deinem Leben 35 sagke er sich, die letzte Predigt, die du gehalten.“
Draußen vor dem Golteshaus schütkelklen ihm noch mañche die Hand, drückten ihren Dank aus und wünschten ihm Glück auf den fernern Lebens-weg.
Währenddem schlurfte die Chlephe aus der Kirche vorüber. Als er, noch im Gespräch, ihr zunickte und die Hand hinhielt, schüttelte sie den zerfallenen Kopf,wich einen Schriti zurück und begann kläglich zu lallen, indem sie die Arme abwehrend ausstreckte.
133
*71 []Dann humpelte sie davon, wie wenn der Böse hinter ihr drein wäre.
Erinnerung schmiegte sich beklemmend an ihn,als er endlich mit Noldi im Postwagen der Stadt zurollte. Er fuhr Vone mit der Hand an sich herunter, wie um Widriges wegzustoßen.
Heimmarsch aus verlorenem Feldzug“', seufzte er. Aber“, tröstete er sich nach einer Weile, wenn auch ein Stück des Lebens verpfuscht ist, der Rest kann besser geraten und Vieles wieder gut machen.Nur erst in andres Erdreich, wo die Maulwürfe nicht mehr unter mir graben und ich pflanzen kann,was mich freut!
Allmählich gewann er das Gleichgewicht wieder und sogar Zuversicht: jeder Rädschwung verringerte die Entfernung zwischen ihm und Waria! Künftig-hin war ihm ein dauernder Aufenthalt in ihrer Nähe beschieden!
Die Mutter begrüßte ihn und namenklich den Enkel, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen, mit zärklicher Freude, obgleich sie den Kummer auch setzt noch nicht völlig verdeckte, daß der Sohn aus dem geistlichen Kleid geschlüpff und nunmehr ohne Würde und Auskommen sei.
Was macht der Vakter?“ erkundigte er sich, die gedämpfte mükterliche Klage scheinbar überhörend.
Sie schlug die Augen nieder, wie wenn sie elwas Ungutes einzugestehen hätke.
Es geht ihm besser seit einigen Tagen“, ank-workete sie, eher gedrückt als erfreut, weil sie, wenn er auch nur einigermaßen genas, Widerständen,Fieprisen und unliebsamen Aufkritten entgegen-ickte.
Der Kranke stierke an die Decke, ohne die Eingetretenen und ihre Workte zu beachten.
Schau“, sagte die Frau, der Noldi ist auch da und freut sich, den lieben Großvalter zu sehn.“
1327 []Schwer und langsam wie mit kurzen Rucken drehten sich die harlen, blaugrauen Augen in die Liderwinkel. Dann gingen sie eben so schwer und langsam wieder zurück. Sonst bewegte sich nichts in dem magern, zerfurchten Gesicht.
Noldi juckte erschrocken zurück und duckte sich hinter die Großmutter.
Jetzt begann es um den gefältellen Mund des Kranken zu zittern, zu schlängeln und zu zucken. Man fah deutlich er strengte sich an, zu reden. Schon schien seine Mühe fruchtlos zu bleiben, als er mit letztem Aufwand leise, doch vernehmlich herauswürgte:
Betty!
Hirzel ging ein Stich durchs Herz. Er mußte sich mit einer Hand am Kopfbrett der Betkstakt stützen,so wankten ihm die Knie. Das eine Wort von den welken Lippen, der Name seiner Frau, warf ein scharfes Licht auf seine Lage; gelähmt war der Vater, doch gestört war er nicht oder nur keilweise;ersichtiich begann er sich die durch den Schlag zer-rissenen Fäden wieder zusammenzuknüpfen. Denn ofsenbar begriff er, daß Sohn und Enkel unker seinem Dache Herberge nahmen, nicht aber, was hm mißfiel, die Schwiegertochter. Er, hatte sich namlich von Anbeginn hart und störrisch dagegen gestemmi, Frau Betty auswärts zu versorgen, und zornig verlangt, daß sie an ihrem Herde verbleibe,da er befürchlete, für die nicht unbeträchtlichen Aus-lagen ihres Aufenthaltes mit seinem Beutel beispringen zu waen wenn, wie zu gewärkigen, der magere des Sohnes versage. errut hakte er,sobald er irgend aufkam, an dieser Stelle ein; und das eine, mühsam herausgepreßzte Betty sagte Unfrieden an, verkündete Widerstand und Streit.
Und nach Aufkommen, nach Genesen sah es aus!Denn jehl, nachdem ihm der Tod wochenlang ver-geblich zugeseht, stand es besser um ihn als vorher!417*
3 []In zwei Wochen soll ich bezahlen! Wo das Geld hernehmen?“ dachte Hirzel vernichtet.
Er sank auf einen Stuhl. Noldi, der sich immer noch vor dem Großvater fürchtete und sich fremd fühlte in Zimmer und Haus, kam herbei und schmiegte sich an ihn.
Der Kranke rührke sich nicht mehr, machte auch weiler keinen Versuch zu sprechen.
Vielleicht', suchte sich Hirzel einzureden, ‚ein leztes Aufflackern! Es geht doch mit ihm zu Endel“
Aber er glaubte selber nicht recht an den Trost.
Der erste Gang nach seiner Ankunft war Maria zugedacht gewesen, deren Freude und Glück über das Näherrücken er sich in mancher sien Sltunde ausgemalt hatte. Jeht verging ihm der Mut, ihr unker die Augen zu kreten. Er schmeckte nur die mörderische Bitternis des giftigen Tropfens, den ihm die Stunde des Einzugs in den Becher gekräufelt hatte.
Es lenkte ihn etwas ab, als die Fuhre mit Haus-rat und Büchern anlangte und er zur Unterbringung der einzelnen Stücke und Kisten mit der Mutter Rücksprache nehmen mußte. Beim Nachtessen brachte er kaum einen Bissen herunter und blieb verstört und einsilbig, was die Mutter den Mühsalen der lehten Tage beimaß.
Voll Heimweh nach dem heimeligen Landpfarr-haus und seinem frohmütigen, unbegrenzten Umgelände, in die eingezwängte, fremde Stadtklause mit unbekannten Menschen gepreßt, zudem verschüchtert und geängstigt durch das ungewohnte Schweigen und das fsinstere, kraurige Gesicht des Vaters, seufzte VNoldi und schluckte eine Zeit lang,bis er plötzlich in unstillbare Tränen ausbrach und nach dem Bekt verlangte.
Hirzel sprach das Rachtgebet mit ihm wie immer seit Bettys Abreise. Schon glaubte er, der arme Schelm sei beruhigt und im Begriff einzuschlafen,9 34 []als dieser sich aufrichtete und, neuerdings von Schluchzen überwältigt, flehenklich bat:
Gelt, wir wollen bald wieder nach Pfäffikon?Ich will gewiß nun alle Tage artig sein und folgen Börtchen und meine Aufgaben recht brav ernen!
Hirzel hatte nicht lange seine Not mit Beschwich-tigen und Versprechen. Der Schlaf machte bald feine Rechte gellend an dem jungen Geschöpf, wäh-ge er den Vater weit über Mitkernacht hinaus oh.
Nach dem Aufstehen galt seine erste Frage dem Befinden des Kranken. Er habe eine ovrdentliche Racht gehabt, lautete der Bericht, und es gehe ihm 5 wie gestern. Ein oder zweimal habe er zu sprechen versucht, es sei ihm aber nicht geraten.
Aber Kümmernis und Sorgen half Hirzel vorerst das Vffnen der Bücherkisten weg, das Einstellen und Einorönen der Bände in die Regale, das Auf-schnüren, Ordnen und Versorgen der Hefte und Handschriftenbündel.
Von den Büchern und Blättern streiften seine Gedanken nach den Hörsälen der Wgarhe Ihr und der Wissenschaft gedachte er seine künftig un-geschmälerke Zeit zu widmen und vornehmlich ver schiedene Übertragungen aus dem Sanskrit, die im Sirudel und Verlauf der Jahre unvollendet geblie-ben, ernstlich wieder an die Hand zu nehmen, da er doch, wie ihn bedünkte, ein Jahrzehnk zuvor mit einer solchen sich verheißend und glücklich eingeführt.
Uber derlei Träumen und Vorhaben vergaß er sich ein Stündchen. Dann stand unversehens die Sorge wieder da, strich sich die grauen Haare aus der Stirn und raunte ihn an. Sie scheuchte ihn auf die Straße, wo sie mit ihm ging und, wenn sie ihn für Augenblichke derliefz, ihn gleich wieder erhaschte.
Die Vaterstadt berührke ihn eigen wie nie zuvor.Er wußke nicht, warum. Hier war er geboren, hier 136 []aufgediehn, hier hatte er über zwei Drittel seines Daseins verlebt. Jeden Namen auf dem Türsturz der Häuser kannte er, jedes Mäuerchen, jede Wetterfahne auf Firsten und Toren. Es war noch immer um und an das graue, enge, winklige, rauchige Nest von ehedem. VNoch strich auf den Gassen und Plätzen der Geist der alken Zeit herum als der richlige Stadtwärtel und pries ruhmredig die mehr wundet-lichen als bedeutsamen Vorfälle der Bergangen-heit. Und doch es war das alte Zürich nicht mehr.Nicht bloß, weil es die Mauern abgeworfen, die Gräben verebnet und die Schanzen heruntergewischt hatte. Sondern draußen am Rande der Vorstädtie winkkten neuerstandene Häuser, in der Skadt tauchten neue Gesichter auf, die man nicht kannke, und Handel und Wandel kummelten sich stärker als fruher.
Der frische Luftzug, der über die schimmelige Muffigkeit dahinblies, ohne das verjährte Gemütliche zu zerstören, machte ihm die Valkerstadt noch lieber und werter und erweckte zugleich den lebhaften Wunsch, sich darin gehörig hervor zuum und sich auf dem Katheder auszuzeichnen, nachöem er der Kanzel für immer Valet gesagt.
Ehe er sich's recht versah, hatte ihn sein Dahinschlendern vor die niedere Vorstadtschmiede geführt.Die großen Augen Warias, die erst vorgestern das Bett verlassen hatte, sagcten aus dem bleichen,abgemagerten Gesicht, größer und dunkler, und ihre Lippen und Hände zikkerken noch.
Es währke nicht lange, so sagte sie ernst:
Jetzt muß ich Ihnen aber ein Bekenntnis ablegen, das ich nicht so lange hätte bei mir behalken sollen, da es selbst für andere Leute kein Geheimnis ist: ich bete nicht Unser Vater, sondern Vater unser.e Vorfahr, der Zimmermann Jakob Welti von Zollikon, ist zu Zwinglis Zeiten unker die Heimat-losen gWe weil er seinem angestammten Glauben unverbrüchlich anhing.“
136 []„Das krifft sich ja wie von den Tauben zusam-mengetragen', erwiderte er. In dem Augenblick,wo du dich als Katholikin enthülsest, muß ich dir das nee tun, daß ich den evangelischen Predigt-rock ein für allemal von mir abgeschüttelt habe.“
Und nun erzählte er ihr diesen Schritt, den er ihr brieflich verschwiegen hatte.
Schon bei seinem Eintreten haltke sie ihm oge wittert, worin sie jetzt der Ton seines Berichtes bestärkte, daß es irgendwie mit ihm nicht gut stehe,daß ihn irgend etwas bedrücke. Sie blickte ihn, nach-dem er geendet, sinnend, beinahe ängstlich an, ohne einen Laut zu äußern.
Was machst du so ernsthafte Augen?“ fragte er.Hast du mir noch ein Geheimnis anzuvertrauen?“
Sie überlegte und wand sich ein wenig. Sie fürchtete, zudringlich zu erscheinen. Schließlich brachte sie leise, doch bestimmt heraus:
Ich Ihnen nicht! Aber Sie mir! Ich argwöhne,Sie haben noch etwas auf dem Herzen, was Maria wissen sollte. Sie waren kaum recht zur Türe her8 da wußte ich schon, Sie bringen etwas Ungutes mit.“
Er schüttelte den Kopf und versuchte zu lachen:
Wo denkst du hin? Das hast du gekträumt.“
Sie rührte sich nicht, sondern heftete die Augen unverwandt und starr auf ihn, als ob sie seine Außerung überhört hätte. Dann bemerkte sie langsam und traurig:
Vermag ich auch nicht zu helfen, so muß ich es doch wissen. Wenn Sie's mir nicht sagen, wen haben Sie denn sonst, dem Sie eher oder eben so gut als mir das Herz öffnen?“
Ein kurzes, heftiges Schluchzen zerriß ihre lehten Worke. Dann preßte sie die 5 zusammen,schloß die Lider, schüttelte mit entschiedenem Kopf-ruck die an den Wimpern hangenden Tränen ab 37 []und fuhr mit dem Handrücken über die Augen. Darauf sah sie ihn abermals schweigend an, unsägliches Mitgefühl und die ängstige Üerzeugung in den Blicken, daß er im Unglück stecke.
Als sie nach seinem Geheimnis zu lauschen und tasten anfing, nahm er sich vor, zu schweigen und zu verschleiern. Ihr Leid, ihre Seufzer, ihre Tränen stürzlen seine Vorsätze um. Leichthin und behuksam andeutend, wie er meinte, zeichnete er seinen Unstern mit schwanken, verschwommenen Strichen. Dabei widerfuhr ihm aber aller Vorsorge zum Trotz mehrfach, daß sein zweitler Satz den ersten halbwegs zurückholen mußke, um ihn irgendwie zurechtzuhobeln und zu glätken.
Die Hände im Schoß verschränkt, den Kopf geneigk, verharrke Maria reglos auf ihrem Stuhl. Sie brachte es nicht über sich, ihm ins Gesicht zu sehen,solange er seinen ungeschickten Eierkanz aufführte.Obgleich sie wohl fühlte, daß er nur, um sie zu schonen, nicht von der Leber weg sprach, so mukete es sie doch schmerzlich und wie ein Mangel an Vertrauen an, wie er die Dinge bog und zurechtlstutzte.Von Kindsbeinen auf durch die Schule der Entbehrung und der Lebensnöte gegangen, erriet sie,was hinter seinen Workdraperien stand. Sie begriff sofort das Gefährliche, ja Verzweifelte seiner Lage.Zugleich wurde ihr deutlich, was ihr schon früher aufgedämmertk, daß er nicht mit nötiger Vorsicht und Uberlegung gehandelt, seine Einnahmen ungenügend A in erforderlichem Maße überwacht habe. Doch gab sie jeßzt diesen Gedanken weiter keine Statt, da sie begriff, dafz eine Erörlerung das Bestehende in e Weise ändern und in bessere Geleise bringen würde.
Sondern als eine hilfreiche und wohlwollende Vatur fragle sie, nachdem er geendet:
Und Ihre Verwanötschaft? Ist denn in Ihrer 139 []ganzen, großen Familie niemand, der Ihnen beispringt? Es müßte doch für mehr als einen ein Leichkes sein. Unsereiner Leute gehn zugrund, weil ihnen die Verwandten, wenn überhaupt welche vorhanden sind, nicht helfen können, da sie selber nichts besitzen. Aber bei alten, hochangesehenen Geschlech-tern liegt das doch ganz anders. Ich denke, mehr als eine Türe kut sich Ihnen auf, wenn Sie nur ernst-lich anklopfen.“
Hirzel lachte kurz und verächtlich:
Das bildet sich deine Unschuld ein. In Wahtheit zeigt die Sache ein anderes Gesicht, wie überall in der Welt. Ein jeder haust und hamsterk und rackerk,was läßt, aber nur für sich und die Allernächsten.Für die Fernern rührt er keinen Finger und klaubt keinen Schilling hervor, wenn für ihn selbst oder für die Seinigen nicht irgend ein Profit heraus-schaut. Und für wen sollte bei mir ein Profit heraus-schauen?“
„Und ist denn gar kein Freund um den Weg?“
Hirzel zuckte die Achseln.
And Ihr Jugendgespan, der Herr Regierungsrat Bluntschli? Der vermöchte doch manches, wenn er seine Hand hineinlegte.“
Er wird sich hüten! Ehe ein Halbjahr herum ist,schüttelt er den Zürcher Staub von den Füßen,gärniert draußßen im Deultschen einen Lehrstuhl und geheimrätelt, daß er darin den ausstudiertesten Höf-ling überbieiet. Dann ist ihm die Schweiz so kurz wie lang, um die Vaterstadt schert er sich keine Bohne mehr, und die Teilnahme am Jugendfreund ist an einem kleinen Ortlein beieinander. Verlaß dich heilig darauf! Auch plagt ihn immer die Angst, er aönnte früh sterben und müßte seine Familie un-genügend versorgt zurücklassen, obgleich sein Schwie-gervaler ordentlich in der Wolle sitzt.“
Maria preßte die Hände vor die Stirn und erhob sich, schwankte und sank in die Knie, legte die Arme
4 158 []auf das Stuhlbrett und drückte aufschreiend den dobh hinem, von einem heftigen Weinkrampf geütkelt.
Hirzel versuchte sie zu beruhigen. Er hätte sich die Zunge abbeißen mögen, daß er nicht geschwiegen.
Vachdem der erste Schmerz verlobt halkte, richteke sich Maria langsam auf und setzte sich auf die Stuhlkante. Sie wehrte seine Zusprüche mit leisen Handbewegungen ab, zuweilen aufwimmernd, und blichte wie verstört ins Weite.
Sie sah den Engel mit dem flammenden Schwerke X der sie aus dem Paradies der Liebe trieb.
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140 []XXII.
Dumpf und mühselig schlurften die Tage vorbei.Einer wie der andere förderke krohz gelegentlicher Schwankung und unerheblicher Rückschläge den sranken Vater, sodaß er, wenn auch nicht sehr merklich, die Glieder ein wenig bewegen und, mit zwei, drei Wörtern sich nolkdürftig verständlich zu machen lernte.
Stolz auf seine Vorhersage rieb sich Doktor Rahn die Hände:
Habe ich's nicht gesagt? Er ist über den Berg!“
And ich verloren!? dröhnte es in Hirzel.
Rrwachte er des Morgens, so durchfuhr es ihn wie ein Schwerkstreich, datz der Alke den Platz an der Sonne nicht räumen woilte und mit seine wider·haarigen Zähigkeit den Sohn ins Ver erben stieß.
Er gewöhnke sich an, planlos durch die Stadt zu schweifen, da es ihn nicht bei der Arbeit litt, und er im Grunde auch keine hakte. Auf, einem solchen Gang ttaf er den Maler Johann Jakob Hri, den er von Jugendzeiten her kannte, seit Jahren aber nicht mehr gesehen halte.
Der um ein Vierteljahrhunderkt Ältere, ein über das Weichbild der Stadi hinaus gesuchter, anspruchs· Weile forschend, indem er den grauen Kopf sachte hin und ꝛ wiegte und das linke Auge zukniff, und sagte ann:
Da Sie ozht wieder hiesig sind und wohl ständig am Vrt dieiben werden, um noch manches Serisse ins Werk zu sehhen, wie wär's, wenn Sie mir ein 141 []bißchen säßen? Es sollke nicht lange dauern. Ich ziehe meine Sachen nicht in die Länge. Seit Sie mit Ihren Mannen vom Oberland hier eingeruckt sind und den gottlosen Demokratenkübel umgestoßen haben, ist es mein stilles Vorhaben, Sie einmal abhegen heißßt das, wenn Sie mir die Ehre und Freude gönnen, die Hühnerstiege in mein Werk.stätllein hinaufzukriechen, und sich darin elliche Stündchen ruhig verhälten. Wie gesagt, ich würde Ihre Zeit nicht ungebührlich beanspruchen und selbst verständlich kein Entgelt verlangen. Auch wäre natürlich das Bild, 38 es Ihnen nichtk mißfällt,Ihr Eigentum. Es dünkt mich nichts als recht und billig, einen solchen Mann wie Sie auf der Leinwand e
Der Vorschlag kat Hirzel wohl. Solche Stimmen klangen ihm selten in der Vaterftadt. Auch willigte er gerne ein, weil er wußte, daß es dem bescheidenen Künstler mit dem Verzicht auf Honorar vbllig ernst war. Erstalkete er doch, wie man sich lächelad erzählte, gelegentlich einem Besteller einen Teil der ausbedungenen Summe zurück, wenn die gelieferte Arbeit, die ihm meistens gar nicht übel geriet, feinem eigenen Urteil nichk genügte.
Hirzel hatte gehofft, im Atelier zu plaudern, von seinen dunklen Gedanken abgelenkt zu werden und seinen Sorgen dann und wann zu entrinnen. Das schlug ihm fehl. Die mit Feder oder Bleiflift, mit Tusche oder Rötel angeferligten Blätter, die farbigen Entwürfe und Studien, die sorgfältig aus-geführlen Sachen an den Wänden sagten ihm nichts,waren auch in jhrem schlichten, fast duürftigen Vesen nicht geartet, den Blick eines für die Kunft weder begabken noch irgendwie erzogenen Laien einzu·sangen. Seine Versuche, ein Gespräch in Fluß zu ringen, fruchtelen nichts. Gespannt und gesammelt hinter seiner Hornbrille verschanzt, verhartte der Waler schweigend oder einsilbig hinker dem [] Staffelei, Palette, Malstock und inse Hirzel schlug einen neuen Weg ein, um sich aus der Langeweile zu retten. Er fragke nach Bris russischen Erlebnissen. Dieser war nämlich als ein ausgehender Zwanziger nach Moskau gelangt, wo er leidliches Brot und Auskommen fand, auch allerhand Merkwürdiges und Interessantes aus dem dortigen Leben und Treiben mit Farbe und Stift festhielt, mußte sich aber nach dem Brande der Stadt mit der Vapoleonischen Armee flüchten, und ehe er die Heimat wieder erreichte, vergingen Jahre,während welcher er eine Menge schrecklicher Fährnisse erduldete, von denen er ungern sprach und über die er auch jetzt Auskunft verweigerte.
Herr Pfarrer“, lehnte er freundlich, aber bestimmt ab, zes gibt Dinge, die man nicht malt, und es gibt andere, die man nicht erzählt. Ich trage keine Brandmarke. Ich darf dem Himmel und den Menschen mein Herz und meine Hände zeigen.Allein das Schicksal hat mich so gedrillt und so rauh mit mir gefuhrwerkt, daß mir heute noch jedes Wort über diese Erlebnisse Qual bereitet. Danken Sie Gott dem Herrn, daß Sie, auch schuldlos, wie ich's von mir sagen darf, kein Stück Ihres Lebens zu beschweigen haben.“
So saß nun Hirzel auf seinem Strohsessel wie ein auf ein entlegenes Inselchen des Weltmeers Verbannter, zur Einkehr und Zwiesprache mit sich selbst angewiesen. Das kam ihm ungewohnt vor.Er hatte es eigentlich niemals fertig gebracht, die Stadien seines Lebens ernstlich durchzudenken, eine Tat, wenn er sie begann, sich in den einzelnen Teilen und möglichen Folgen zurechtzulegen, eine voll-brachte zu zergliedern und prüfend nachzurechnen.Da er sich bis vor Kurzem, bis an die Schwelle des Schwabenalters, für einen von der Vorsehung Bevorzugken und zu bedeutenden Dingen Auserlesenen
F
3 []gehalken, so halten ihm solche Rechenschaftsablagen und Buchführungen ferngelegen. Glaubte er doch seines Soldherrn und Fuührers über den Sternen sicher zu sein! Und umgekehrt, wie sich denn solche Mächke und Kräfte geheimnisvoll bedingen, anlocken und unlösbar verflechten, hatte er als ein dem Eindruck rasch Überankworteker, dem Augenblick leicht Anheimgegebener und darum dem strengen GBedankengang und besinnlichem Ausmessen AÄbholder sich nur zu gern dem Glauben an besondere Lose und Bestimmungen anvertraut.
Jeht, nachdem dieser Glaube in Trümmer gegangen war, gedieh Hirzel in der Stille der Malerstube, so sehr er sich bemühte, sich zusammenzunehmen, nicht viel weiter, als daß er den Vorsatz faßke,sich Bluntschli zu eröffnen, was freilich nahe genug lag, da ihm das Wasser in den Mund lief.
Er meldete sich auf dem Regierungsgebäude,ehe der Maler halbwegs ausgepinselt hatte.Schreck, Witleid und Unwillen stritkten in Bluntschli, sodaß er, der sich ganz eigentlich zur Auf-gabe gemacht hatke, womöglich immer über den Dingen und Situationen zu stehen, für einen Augenblick das Gleichgewicht einbüßke.
Berleufelt noch einmall“ rief er stirnrunzelnd,‚Das ist ja eine saubere Bescherung! Mußtest du denn gleich alle Brücken hinter dir abbrechen?Wenn du wenigstens den Pfarrrock nicht endgültig an den Vagel gehängt hättest! Daß du nicht warten konntest, bis der Alle unter dem Boden lag!AVV halten!“
Betroffen und geknickt, denn er hakke seinen Freund seit den Studentenjahren nie wieder so auf-geregt gesehen, ließ Hirzel den Ausbruch über sich ergehen. Er wußte ihm nichts entgegenzusetzen als schließlich die kleinlaute Bemerkung, das Aller und 144 []der Zustand des Vaters hälken ein baldiges Ende mehr als wahrscheinlich gemacht.
Ja“, räumte Bluntschli ein, der sich wieder zu finden begann, ‚es ist schon ein ganz gemeines Guignon!
ß ging im Zimmer auf und nieder und wiederolte:
Ein ganz gemeines Guignon! Aber“, riet er stehen bleibend, WMeditationen, Rückblicke, Jeremiaden und Redereien sind für die Katze! Also her mit der andern Seite der Medaille! Hast du irgend einen Gedanken oder einen Plan, wie es möglich wäre, aus dem Pech herauszusteigen? Weißk du gar niemand, der dir irgendwie unkter die Arme greifen könnte?“
Wenn ich Einen auf Lager wüßte, ich hätte mich längst auf ihn sen Das kannst du dir an den Fingern abzählen!“ rief Hirzel bitter.
9 in der ganzen weiten Verwandlschaft niemand?“ wiederholte Bluntschli.
Kein Bein!“
Auch sonst kein Ausweg?“
Keiner! Außer...“ Er stockte.
Nun?“ fragke Bluntschli.hi gẽ* wäre ... wenn die Partei mich über Wasser ieltke.“
Bluntschli straffte sich wie einer, der einen Hieb angen und unverzüglich nachzuschlagen geenkt.d zzdie Partei?“ stieß er hervor. Wie meinst du as?
Nun“, entgegnete Hirzel langsam, aber fest,ach bin doch sozusagen das Opfer unsrer Partei.lind da dürfte diese schon etwas für mich kun. Das wird jeder billig Denkende einräumen müssen.“
Gestalte mir', versetzte Bluntschli scharf und
10
Frey, Bernhard Hirzel. M.
X
7*1728 []ebenso langsam, die unumwundene und unmißver-ständliche Bemerkung, daß ich zu diesen nach deiner Meinung billig Denkenden nicht gehöre.“
Schmackhaäft und aufmuntkernd von einem alten Jugendfreund, mit dem man Schulter an Schulter gekämpft und dem dieser Kampf mehr abgeworfen hat als mir!“
Nun erst, wo Hirzel herb und heftig wurde,gewann Bluntschli die völlige Herrschaft und Sicherheit zurück. Er lächelte:
So, so! Gestatte mir nun auch meinerseits eine kurze, aber, wie ich hoffe, aufschlußreiche Rand-glosse! Du bezeichnest dich als Opfer unserer Parkei.Ich drehe den Spieß ganz einfach um: unsere Parkei ist ganz wesentlich das Opfer des Pfarrers Bernhard Hirzell“
So?“ꝰ lachte Hirzel laut.
Ja wohl! Es war, wie ich dir früher schon sagte, alles sauber eingerichtet, die Radikalen mit dem Stimmzettel niederzuschlagen. Dagegen hätten sie nachträglich nichts einwenden koönnen. Da fährst du dazwischen und prügelst sie mit Knütteln und Mistgabeln nieder. Dagegen schreien sie und werden schreien bis zum jüngsten Tag. Das geht uns guf Schritt und Tritt nach und das bringt uns zu Boden. Dich spickt es aus der Pfarre weg, mich aus dem Valerland. Noch ein halbes Jahr, und ich bin enetrheinisch. Damit schließe ich diese unerquicklichen Akten, die ich nicht wieder aufgeblättert hätlte ohne deinen mißbilligenden Seitenhieb, um mich nicht stärker auszudrücken.Und nun, pour revenir à nos moutons, du weißkt,daß mir meine Verhältnisse eine Hilfe leider verbieken. Ich habe viel eingebüßt. Ich will den Ver74 machen und an ein paar Türen für dich anlopfen. Vielleicht daß wir mit vereinten Kräften elwas erreichen. Aber versprechen kann ich nichts.Die Sache ich so unsicher als möglich. Vorläufig 146 []wird das Gegebene sein, daß du deinen hündischen Sedgeber zu geschweigen und Aufschub zu erlangen uchst.
Der saure Gang zum Geldverleiher war, als ein widerwärtiger, aber unausweichlicher Zwang, die Tage her Hirzels Vorsatz gewesen. Er hatke ihn hinausgeschoben und hinausgetrödelt. Jetzt nahm er das Herz in beide Hände und suchte um 33 erstreckung nach. Der Wann setzte eine bedenkliche Miene auf, sträubte und wehrte sich, mit einem ganzen Bündel von Wenn und Aber fuchtelnd, bis er, wozu er von Anfang entschlossen gewesen, den Rank gefunden hatte, ja zu sagen und zugleich die Schraube erklecklich anzuziehen.
Einmal aufgerüttelt und in Lauf gebracht, raffte sich Hirzel auf, ein weiteres mißliches Geschäft abzuwickeln. Er hatte nämlich schon vor Monaten den Verkauf des in der Nähe des Pfarrhauses gelegenen Grundstückes eingeleilet, das er bald nach dem Amtsantritt sich aufgehalst, um wie seine 8 kinder mit Schaufel und Hacke zu hantieren, hatte dann aber den Abschluß versäumt, ehe er Stelle und Stand aufgab. Kaum haätte der Käufer vom bevor-stehenden Abzug des Pfarrers Wind bekommen, so hufte er vor dem, wie Hirzel meinke, bereits sichern Abschlußß zurück, indem er sich ausrechnete, daß Hirzel, einmal aus der Gemeinde weg, das Grundflüch schließlich um einen Birnenstiel losschlagen werde, da ihn, wenn er es nicht unbebaut assen wolle, die Bearbeitung soviel kosten werde, als der Erkrag abwarf. und seelenruhig warkete er die Zeit ab, wo ihm die reife Frucht für das lächerlich schofle Angebot, das er insgeheim bei sich bestimmt, in den falle. Er ließz zwei Briefe unbeantwortet, sodaß Hirzel sich schüeßlich in die Post nach Pfaäffikon sehte, um das unedle Wild im Bau aufzustöbern.
Seine Hoffnung griff freilich nicht hoch.14*8 []Bittersüß guckte ihn an, was er mit dem Käufer während der ersten Pfäffiker Seelsorgerzeiten erlebt hatte. Eines Tages nämlich war dessen acht-jähriger Bub nach der Religionsstunde zurück-geblieben. Einen schönen Gruß vom Vater“, sagte er, ‚und ob er dem Herrn Pfarrer nicht ein Gitzi schenken dürfte.“ Hirzel schmeichelte sich, das sei nun die Frucht seiner Predigten und Zusprüche, und nahm dankend an, erstaunt und gerührk von solcher unbäuerlichen Schenkfreude. Als aber Tag für Tag verstrich, ohne daß das besagte g angerückt wäre, so erkundigte er sich bei dem Schüler nach dem Verbleib des Tierchens. Ja“', lauteke der verlegene Bescheid, das Gitzi ist halt jetzt wieder gesund!“
Er stieg draußen vor dem Dorf aus dem Wagen.Der Gedanke beklemmte ihn, dem Posthalter und seinen Angehörigen unker die Augen zu kreken als einer, der hier nichts mehr zu sagen hälke und nach dem Ermessen der Bauersame und der ländlichen Fabrikler wenig mehr galt, da er, ohne pon Itgem Gelde leben zu können, aus Amt und Würden geraten war.
Ein feiner, behutsamer Sprühregen rieselte aufs Land und kräufelte von den Dächern und den herbst lich gilbenden Baumkronen. Den Schirm lief her untergedrückt, schritt Hirzel die nasse Dorfstraße entlang, & während des kurzen Ganges keiner Menschenseele zu begegnen. Es dünktke ihn, er wandle durch eine Gräberstadt und Alles sei hier für ihn kot und vergangen. Nur das eine Gefühl beherrschte ihn: Du hast hier nichts mehr zu sagen,nichts mehr zu suchen! Du hättest niemals hierher kommen sollen!“ Nicht eim einziger lichter Schein wollte in dieser Stunde aus den annähernd dreitausend Tagen aufschimmern, die er hier verleblt.Verlorene Zeit, verlorenes Leben! flüsterkte der schläfrige Regen, einkönig, wehmülig, unablässig.12 18 []VDer Bauer, früher ein auffällig beluseper Kirchgänger und ein augendienerischer Anhänger des Herrn Pfarrers, nahm sich keine Mühe, zu verbergen, wie gleichgültig ihm dieser jetzt war und daß er sich nach seinem Vorieil und nach weiter nichts zu richten gedenke. Er machte keine Miene zu irgend einer Bewirtung. Nicht einmal ein Glas Wein bot er an, während er selbst, wie Hirzel ihm anroch, 7 am Vormittag dem Glase zugesprochen hatte. Die Frau kam nicht zum Vorschein, worüber er weder ein erklärendes, noch entschuldigendes Wort fallen ließ. Als er dann, nach ausglebigen Umschweifen und Umwegen, endlich wieder hinter das Geschäft ging, wußte er eine stattliche Wolke von Bedenken, Einwänden und Ausreden aufzu-wirbeln, in der er unverfroren und unverwundbar saß wie ein homerischer Kriegsheld. Bald schützte er vor, die beste Kuh im Stalle sei ihm umgestanden,sodaß er um eine neue aus müsse und sich, bei den heutigen unerschwinglichen Viehpreisen, nicht völlig von Geld eniblößen dürfe. Die Erfahrung lehre,daß ein solcher Unfall unter der Lebware gern einen zweiten nach sich niemand wisse zu sagen,warum, auch die ftudiertesten Doktoren nicht. Allein es sei erwiesenermaßen so. Dann wehklagte er,ausstehendes Geld, auf das er mit Sicherheit gerechnei, sei ausgebiieben und sein Eingang ungewiß.Auf Treu und Glauben sei heutzutage immer weniger zu rechnen und warum? Weil die Goltesfurcht und 'damit die Redlichkeit allenthalben abnehme.Schließlich behauptete er, der neue Herr Pfarrer er seiein besonders gescheiter und auch in Feld-arbeiten und Viehkrankheiten wohl beschlagen ,habe von Fachkundigen in Erfahrung gebracht, was man übrigens von bloßem Auge wahrzunehmen vermöge, der Wafferspiegel des Sees habe sich bekrächilich gehoben ünd werde, nach Maßstab der gegenwartig regierenden Gestirne, längere Zeit so 140 []bleiben, wenn nicht gar noch steigen, was den Wert der Strandländereien herabmindere, wo nicht völlig zunichte mache. Nur ein unüberlegter, ja leicht-sinniger Mensch stecke einen Haufen Geld in einen solchen Sumpf, den man vielleicht bald mit Schiffen befahre, wie ja infolge der wachsenden Veröerbt-heit der Welt eine allgemeine Zunahme aller Gewässer und somit eine neue Sündflut wahrscheinlich und gewiß verdient sei. Er werde sich wohl hüten,sich zu binden, eh und bevor diese Dinge mit dem Wasserstand abgeklärt seien. Er habe dem Vater selig noch auf dem Tolbette versprechen müssen, sich in keine unsichern Bürgschaflen, Abmachungen und Käufe einzulassen, wofür er ihm bis zur Stunde noch unter dem Boden Dank wisse.
Das alles brachte er breitspurig und mit mehrerem vor, seine Schnorrenwagnerei frech und auf-gebläht auskostend. Er lief bei dem Vergnügen keine Gefahr, da ihm Hirzel nichts mehr zu bieten und nichts mehr zu nehmen hatte. Dieser merkte bald, was die Uhr cbgen hatte, und daß ihm nichts weiter übrig büeb, als das Feld unverrichtkeker Dinge zu räumen.
Wie er das Haus verließ, fuhr ihm der ruppige Spitz kläffend an die Beine. Ein Vierkeljahr vorher hätte der Bauer sein ganzes erreichbares Besitztum an Enkschuldigungen herausgestürmt, hätte sein Leid-wesen und Bedauern gesprudelt und den bissigen Köter halb in den Erdboden hineingedroschen. Jetzk schien ihm ein gellender Pfiff durch die Finger und ein ungeschlachker Drohruf genügend.
Auf den Hügelkämmen und Bergwarten lagerken weiße Nebelschlangen, zum Zeichen, daß der Regen im Abzug begriffen sei. Vereinzelte Tropfen flim-merten noch aus dem gestiegenen Gewölk. Hirzel ging mit aufgespanntem Schirm, bis er das Dorf hinkter sich hatte. So sehr ihm Hunger und Durst zusehten, er brachte es nichk über sich, im Wirks-150 []haus einzukehren. Beim letzken Brunnen neigte er sich zur Röhre und labte sich mit einem Schluck.Unähnlich den Romfahrern, die scheidend anhalten und von jener erlauchten, weitschaligen Quelle trinken, um, wie der Glaube behauptek, das Heimweh nach der ewigen Stadt in sich zu saugen und, von ihm bewegt, dereinst zu ihr zurückzukehren, dachte er, als er sich die Lippen wischte:
Das ist so Gotk will, der lezte Trunk, den ich in diesem Neste kue, und das letzte Wal, daß ich den Fuß hierher setze!“
Er wanderke der nächsten Ortschaft zu, um daselbst hinter einem Schoppen mit Zubehör die Post zu erwarten.
Wie er so durch das graue, regenfeuchte Land dahinschritt, nach leiblicher Erquickung verlangend und vom Wunsch bewegt, wegzukommen aus der Gegend, wo er jahrelang gelebt und gewallet, fiel ihm beim Anblick der verregneten Sktraße plötzich ein:So naß war der Weg, so unfreundlich das Land,als wir nach Kloken marschierken. Aber wie freudig zogen wir dahin, stundenweit! Du und Hunderte mi dir, die dir vertrauten! Und dann der sechste September, wo Tausende mir folgten!“
Er sah sich um. Er glaubte die Schritte der Begleiter zu hören.
Trüb und verbittert wanderte er fürbaß.
8 Hohnisch krächzend stob eine Elster vom nahen aum.
Aufakmend verließ er in Oberstraß die Post und grüßte die Kirchtürme der Vaterstadt, die ein zarter,kofiger Schein aus dem aufhellenden, Abendhimmel anftrahlte. Einöde schienen ihm die ländlichen Bezirke, grüne Oase Zurich. Hier nur war seine wahre Heimall Welch ein Mißgeschick, welch ein Lebensirrsal, daß er fich jemals dahinaus begeben, daß er so lange Jahre dadraußen hatte verbringen müssen!157 []Kaum von Freude berührt, krampfte sich sein der ienme ie lange noch war ihm die Vaterstadt gegönnt?War nicht vielleicht, wenn keine Relkkung einkrat,eines Bleibens darin nicht mehr und eine Wiederehr fraglich, vielleicht für Jahre?
So sehr er es liebte, vor unbequemen Dingen die Augen zu schließen, Widerwärkiges kurzerhand weg-zuschaufeln, jeht versagten solche Hausmitkelchen,und die Taschenspielerkünste des Selbstbetrugs und der Selbsteinlullung vzgingen nicht mehr vor der Schicksalswende, die si räuend und unverhüllt vor ihm aufpflanzte. Jeht galt es unweigerlich, das Votwendige vorzukehren und die Finger in den Teig zu stecken, Bitternis hin, Bitternis her.
Also klopfte er in der nächsten Frühe wieder am Geschäftsraum des Geldverleihers an, wo erst ein magerer Schreibergehilfe auf einem Drehstühlchen hockte und verschlafen an der Feder kaute. Als der Prinzipal, den Huk mit den aufgeschweiften Krempen herausfordernd schief aufgestülpk und eine fette,goldene Uhrkette über dem ansehnlichen Bauch,hereinstolziert war und Hirzel gemessen herablassend begrüßte, hielt dieser um abermalige Fristverlängerung an, wobei er, der Wirklichkeit mit der Phankasie um einen kräftigen Schritt vorauseilend,ins Feld führte, daß er im Begriffe stehe, ein ansehnuches Slück Land in Pfäffikon an Mann zu ringen.
Hochgezogene Brauen, Achselzucken und eine unmißverständliche Handbewegung erläuterten und begleiteten den kurzen, kahlen Abschlag; er bedauere, er sei außerstande.
Allerdings war er, der Geriebene, an einen noch Geriebeneren geraten, der ihm einen runden Brokken seines Raubgutes weggeschluckt hatke.
Glauben Sie mir“, klagke er verblümt,es könnte schwarz gemalt am Himmel ftehn, und ich 12 42 []könnte ein dickes Buch darüber schreiben, wie mein Edelmut und mein kindlich harmloses Vertrauen in die Menschheit mir schlimme Früchte trägt. Ich gebe zu, daß nun auch Sie darunter leiden müssen. Allein ich vermag es nicht zu ändern.“
Er rieb sich mit der rechten Hand den linken Arm, als ob er an jener Stelle gerupft worden wäre. Dabei lächelte er unaufhörlich. Wegen dieser Gewohnheit, womit er seine schmierigen Geschäfte zu verschönen und beschönigen meinte, und weil er seine Opfer ohne Erbarmen betrieb, das heißt, seine Forderungen eintreibend, in den Konkurs stürzte,len ihn die Miltbürger den Lächler im Treibaus.Hirzels Gedanken tippten und klaubten ver-gebüch“ an der bligen Maske herum. Er hatte sich wohlweislich gehütet, weil er ged keinen roten Rappen erhalten hätte, von Meger und seinem Schein eine Silbe verlauten zu lassen. Das und der angeblich bevorstehende Viheeh der Pfäffiker Viesen schlugen ihm jetzt zum Unheil aus. Der Wucherer war trohz des jüngst erlitkenen Verlustes in der Lage und im Grundé auch bereit, die Frist hinauszurucken. Allein wie er von dem schwebenden und dem Abschluß nahen Handel mit dem Stück Land hörte, so rechnete er dege Gönne ich ihm Jeit und ziehe den Strick nicht rasch zu, so bringt er das Geld'duf und erholt sich und ich kann ihn nicht weiter fruklifizieren. Treibe ich ihn aber rasch zum Konkurs, so wird ihn der Vater und die Familie keinenfails stechen lassen. Dann, im äußersten Augenblick, wo es heißt: Vogel friß oder stirbl dann darf ich mit Bedingungen aufrücken die jetzt noch nicht rätlich ist, ans Tageslicht zu lassen.“
Was t mit Ihnen?“ fragte Hri, als er Hirzel über die Hornbrille weg iusterte. Sie sind zusammengegangen.“153 []Hirzel verbrachte die penigen Sitzungen, die der Maler noch benötigte, still und in sich gekehrt. Unaufhörlich bohrte er an der steilen Wand, die sich vor ihm auftürmke, und 5 einen Ausgang.
Hri anerbot sich, nachdem er den letzlen Strich getan, einen einfachen Rahmen zum Bild zu stiften.In odrei Tagen ist es krocken und alles fix und fertig.“ Sie vereinbarten die Stunde, wo Hirzel die Leinwand abholen sollte. Denn er wollte nicht, daß sie ins väterliche Haus geschickt werde.
Voch vor Verfluß des Tages gab ein Regierungsweibel in Bluntschlis Auftrag ein Päcklein ab.
Ich habe“, stand im Begleitbriefchen, zmit meinen Versuchen, dir in deinen schwierigen Umständen etwas Luft zu machen, wenig Anklang und nebe gefunden. Ich lege bei, was 9 er reicht.“Es war eine bescheidene Summe. Hirzel verwahrte sie sorgfältig, nicht ohne den Gedanken,Blunktschli möchte überhaupt keine Schrilte gekan,ndein lediglich in den eigenen Beuftel gegriffen aben und seine Hilfe nunmehr verschleiern.
Nun stand bloß noch ein Entscheid aus. Je nach-dem fielen die Schicksalswürfel. Er suchte Meger auf, den er seit der Unkerredung nicht wieder gesehen. Beide kamen sich gealtert und abgemagert vor, worüber sie sich indessen nicht äußerken. Hirzel beschrieb seine verzweifellte Lage und bat inständig um Hilfe.
NVoch kurze Zeit', schloß er, und ich stehe im Amtsblatt! Dann sind meine Hoffnungen auf die Hochschule vernichtet. Auch eine andere Stelle bleibt mir, wie Sie wohl wissen, verschlossen, sobald ich einmal vergeldstagt bin. Selbst wenn ich, was ich annehme, näch des Vaters Tod mich wieder auf-zurichten und zu rehabilitieren vermag, es bleibt immer elwas zurück! Es kann und kann doch nicht
434 t654 []des Vaters Wille sein, mich zu ruinieren! Als er das Blatt schrieb, dachte er nicht an eine Lage, wie die, in der ich mich heute befinde.“
Meger setzte allem Drängen und Stürmen un-erschütterlich die Weigerung entgegen:
Ich habe den Willen Ihres Valers nicht zu untersuchen und nicht zu beurkeilen. Ich habe ihm bloß nachzuleben!“
Alle Einwände und Gründe waren nutllos ver-tan, alle Bitten prallten ab. Das Blut schoß Hirzel zu Kopf und hetzte ihn, das Männchen an der Gurgel zu packen und an die Wand zu drücken. Doch seine Vatur widerstrebte dieser Tat, wie er auch seit Bubenjahren nie jemand im Zorn angefaßt sie Zugleich packte ihn das Gefühl des Verloren-seins, des Ausgeschaltetseins aus den Reihen der in Ehren und Rechten stehenden Bürger seiner Vater-stadt und beelendete ihn dermaßen, daß er wie F lähmt auf den Stuhl niedersank und dann worklos davonging.
Er sah bei Meger lediglich kückische Verstockt-heit und schnödes Ubelwollen. Er ahnte nicht, daß der Mann in nicht viel bessern Schuhen steckte als er selbst, dafßz er mit dem Geld und getuint au das Mändat des Valters, spekuliert und verloren hatte,sodaß er auch bei gukem Willen außerstande gewesen e den geforderlen Betrag auf den Tisch zu zählen.
Hirzel hastete verstört nach Hause und eilte auf sein Zimmer, wo er sich einschloß und aufs Beltt warf.“ Erschöpft und zermürbt von den Ungewiß heilen und Angsten der abgelaufenen Wochen, zerschlagen und gebrochen von den Viederlagen der letzten Tage, verfiel er in einen Weinkrampf wie nie wieder seit fernen Knabenzeiten.
Jetzt war er verloren, jeder Ausweg verbaut,nur eine Relkung noch denkbar: der Tod des Vaters.Allein seine Genesung machte von gestern auf heut *8
145 4 []Fortschritkte, wenn er auch immer noch das Belt hütele und sich nur mühsam bewegte und verständ-lich machte.
Jetzt blieb nur das eine: Vaterstadt und Vakerland räumen und irgendwo in der Fremde unter-schlüpfen und kümmetliches, unsicheres Brot suchen.Ja, wenn er ein schlichter, unbeschrieener, unbeschollener Landpfarrer wäre, den das Mißgeschick traf,das ihn zzgt erreichte, so dürfte er sich in einen Winkel ducken, des Milgefühls und freundlicher Handreichung der eier gewärkig und teilhaft, die den bürgerlichen Makel auf seinem Namen nur dem Unstern, nicht der Schuld zugeschrieben und Mittel und Wege ins Auge gefaßt hätten, seine Unbescholtenheit wieder herzustellen. Kein gebildeter und anständiger Mensch würde ihn um seines Unglücks willen schief ansehen. Aber er, Bernhard Hirzel, der anno neunundöreißig zuerst am Glockenstrang riß; er, der an der Spihße von Tausenden in ng einzog; er, der die Regierung über den Haufen warf und als Triumphator in der Stadt einherwandelte; er, dessen Name durch die ganze Eidgenossenschaft klang; er, den bis vor kurzem Zorn und Hohn der Gegner umwetterte er konnte nicht als Konkursit, unfähig, ein sennve Amt zu bekleiden, in den Gassen Jihe erumgehen, dem Naserümpfen und den Grimassen, den Anwürfen und Schofelworten jedes Schöppelers und Fötzels ausgesetzt! Nie! lieber im Elend verderben! Er konnte auch nicht im Lande bleiben, weil das zahl-reiche Geschlecht der Hirzel überwiegend im freisin-nigen Lager stand und also keineswegs den Schild über ihn *
Wenn er während der verwichenen Wochen,mehr kastend und blinzelnd als mit festem Griff und Blick, einen Zufluchtsort erwog, so y ihm ein Verbleiben in der Schweiz, wo der Freisinn seine Banner in den meisten Orien von Ansehn und BilF*[]dung immer und eer aufwarf, so gut wie ausgeschlossen, ein Unterkommen und Aus-kommen in deutschen Landen fraglich und schwer denkbar. Unker den Städten, die für einen Mann von seinem Wissen, * Neigungen und Fähig-keiten in Betracht fielen, stand Paris voran, in dessen Mauern ihn einst die Studien geführt, Paris,das ihm jetzt, so dachte er, wenn auch kein gastliches,so doch das am wenigsten unwirkliche Gesicht zeigte.Rauh und ungewiß ließen ach die Dinge auch dort auf alle Fälle an, und nach wie vor ankerte seine stärkste Hoffnung in der Stunde, wo man den Vater I
Das Weh, aus dem Lande der Väter unrühm-lich abzuwandern, um fern an der Seine unter Gescheiterten als aufzutauchen, wurde geschärft durch den Schmerz, sich von zwei lieben Menseß losreifzen zu müssen. Zwar Noldi halte eigent-ich schon Trost und gefunden: er schloß sich an die Großmutter an, die ihn ausgiebig hätschelte,und gewann auf der Schulbank Gespanen, die ihn minder handlich ankatzten und herumschoben als die Landbuben zu Pfäffikon, sodaß er nicht wieder nach dem ländlichen Pfarrhaus zurückjammerte und auch weniger nach dem Vater begehrke.
Aber Maria! Ihn schauderte, und seine Tränen brachen von neuem hervor. Die unstillbare Sehn-sucht nach dem Geliebten, das Sorgen und Bangen um ihn und das widrige Leben im Schmiedhause rieben sie auf! Er geloble sich, was er ihr schon zugeschworen, ihrem Flehen zu willfahren und sie in die Fremde nachzurufen, sobald er einigermaßen sesten Boden unker die Füße bekäme. Abschied und Fernsein von ihr, ihr beklagenswertes Dasein bei der häufig zänkischen und meistens unzufriedenen Mukier und ihre ungewisse, verhüllte Zukunft drück-len ihn nieder, um so mehr, als er jetzt und in ab ·sehbarer Zeit nichts zu ändern und lindern ver157 []mochte. Wie sie im Ungewissen zurückblieb, so eilte er dem Ungewissen entgegen.
Er raffte sich auf, wusch das Gesicht und machte sich zum Ausgang bereit. Er nahm das Bild unker den Arm, in Papier gepackt und mit einer Schnur umbunden, wie er es vom Waler miktgenommen. Er hatte es keiner Seele gezeigt und vor jedermann beschwiegen, selbst vor Maria.
Nun folgte sie begierig seinen Fingern, wie sie Schnur und Hülle entfernken. Sie erblickte das Bild mit einem leichten Schrei der Freude und wandte die Augen lange nicht davon.
Gefällt es dir?“ fragte er. Wir scheint es kenntlich und ähnlich.“
Äühnlich ist es schon“, se sahigze sie. Aber er hat Sie zu alt gemacht. Und dann sind Sie viel schöner.“Sie sah ihn verklärt an. Er lächelte gezwungen:
Ein alter Maler sieht eben Dinge und Menschen anders an als ein junger Schatz wie du. Begreiflich! Wenn es dich nur im ganzen wohlgelrof-fen und ähnlich dünkt das ist die Haupfsache.Denn“ er stockte und blickte schräg nieder ,es soll mich bei dir vertreten, bis uns der Himmel eine Wiedervereinigung schenkt!“
Sie fuhr erbleichend nach dem Herzen, bezwang sich jedoch, da ihr die Trennung krotz seiner wiederholten Beschwichtigungsversuche für unabwendͤbar galt seit jenem Tag, wo er seine Lage andeutend enthüllt hatte.
Ich darf es also eine Zeitlang behalten?“ fragle sie schmerzlich glücklich. Aber was werden die Ihrigen denken und sagen, wenn das Bild in die Hände der armen Maria kommt, wenn auch nur vorübergehend, statt zu den Ahnengemälden mit den Perücken und Ehrenkelten? Sie werden schmälen und es heimfordern zu sich.“
158 []Er schütkelte den Kopf:
Kein Mensch hat es gesehen, keiner weiß darum außer Hri, und der hält reinen Mund. Du hütest und bewahrst es, bis du aufbrichst zu meinem Herzen! Dann trägst du's zu Bluntschli, richkest ihm einen schönen Gruß von mir aus und bitkest ihn in meinem Namen, es in Obhut zu nehmen und darüber zu verfügen, bis mir die Rückkehr in die Heimat wieder vergönnt ist! Gutem Vernehmen nach scheint sich seine Abreise noch eine geraume Weile hinaus-zuzögern. Und sag ihm, es soll nicht in meine Familie kommen! Verweigert er die Annahme, was ich nicht denke, so vernichtest du's! Das versprichst du mir bei unsrer Liebe! Es wäre mir unleidlich, es in anderm Besitz zu wissen.“
Die Liebenden sahen sich wie bisher beinahe tag-täglich, soweit es sich immer bewerkstelligen ließ. Sie suchten sich zu trösten mit den Plänen auf Wiederzusammensein und mißachteten geflissentlich die bösen Mäuler, die ihre kleinstädtische Lust an ihnen büßten. Je wehlicher die Rufe des vor der Türe harrenden Abschiedes erklangen, desto leiden-schaftlicher schlürften sie die Neigen aus dem Becher des Glücks.
Nokgedrungen kraf Hirzel Vorkehren zur Reise,die er vor aller Welt verheimlichte. Nur der Mut-ter, deren Hilfe und Beisteuer zur Ausrüstung mit Wäsche, Kleidern und allerhand Kleinigkeiten er bedurfte, verkraute er sich an, indem er ihr vorgab.es handle sich um eine Arbeit, die seinem Fortkommen an der Hochschule sehr zustakken kommen würde. Das schien ihr unverfänglich. Daher wahrte sie das auferlegte Stillschweigen ohne Mühe,sodaß niemand Verdächt schöpfte oder Auffälliges argwöhnte. Unter der Hand machte er einige wertvolle Bücher und ein paar Schmuckstücke zu Geld,um das Reisegut zu äufnen.
In grauen, schwermütigen Spätherbstnebeln kam 9 16 []der Vortag der Abreise heran. Er sollte noch Maria gehören.
An dampfenden, von eingesprengten Tannen schwarz gesprenkelten Erlengruppen vorüber, leuchtenden Buchenschaaren entlang, von deren Goldkronen die Nebel kropften, vorbei an ernsten Föhren, durch deren finstere Dächer die lichtern Nebelschauer rauchten, zuweilen über welkabgeschiedene,vereinsamte Waldwiesen weg, wanderken sie die Steige zum Kamm des Ütliberges empor, oftmals ß, bleibend oder doch die Schritte verlangsamend.llmählich lockerte sich droben der Nebel, und selige Bläue lächelte nieder. Noch lagerten über den tiefern Gräten da und dork Nebeldrachenhorden, die ungefügen Köpfe und Schleppschweife über die Halden hängend. Aber auf den höhern Kamm schüttete die Sonne ihr strömendes Gold aus wolkenlosem Himmel.
Ein Eiland der Seligen kauchte die Bergkuppe mit den Liebenden aus dem Vebelmeer empor. Die Beiden standen stumm in den übermächtigen Anblick versunken, der Hirzel seit seiner Jugendzeit nicht mehr, Maria noch gar nie zuteil geworden war, da sie kaum je für einen halben Tag von ihrer häuslichen Drangsal und Aschenbrödelei los durfte.
Beinahe unter den Sohlen der Staunenden überbordete der Nebel die Täler und Höhen bis an die steinernen Brustbänder der Rigi und bis an das zerschluchtete Felsgestühl des Pilatus. Wie Schneehalden und Firnfelder erstreckke er sich und ließ dem Gedanken nicht Raum, daß da drunten Menschen atmeten und wandelten.
In strahlenden Talaren, mit schimmernden Firnhauben und Schneebaretten ragten, wie aus dem Firmament herausgeschnitten, die ewigen Standes-herren vom Säntis weg bis zu Mönch und Eiger,die als die gewaltigsten und, weil die fernsten, als 222 1614[]die blassesten den gigantischen Halbkreis zur Rech-ten endigken.
In einer Bergbucht unweit dem Pfad, den Bernhard und MWaria gegangen, begann, von einem Windstoß bewegt, die starre Fluk zu rücken und zu branden. Ein paar struppige Föhrenhäupter rangen sich frei und wiegten sich unwirsch im streichenden Luftzug, der bald die weiße Decke wieder über sie warf und einen Zipfel dabon über die Bergscheide hinüberschwippte. Da sich das Spiel neckisch und wechselnd erneute und vorübergehend in einer Erd-falte ein niederes Bauernhaus mit Baumgarken und Wiesengelände aufdeckte, so gelustete es die Liebenden, sich nach unten vor die Zauberschmiede zu ver-fügen, um der Geburt der Wärchen, dem Einschleiern und Ausschleiern beizuwohnen. Doch sie gewahrken,nachdem sie hingelangt, weiter nichts, sondern befanden sich im wehenden, wandernden Duft, der sie neckisch umschwebte und umspann, sodaß sie das Verlangen empfanden, wieder ins ungetrübte, warme Licht emporzusteigen. Sie ließen sich auf einem sonnenübergossenen Nagelfluhblock nieder und verzehrten behaglich, was Maria zierlich verpackt und mit den Asternspätlingen ihrer Beete geschmückt mitgenommen hattke.
Istt es nicht“, fragtke sie, wie wenn uns ein feuriger Wagen über die Erde emporgetragen und in den Himmel gehoben hätte, damit wir unser Glück noch einmal ungestört ganz für uns haben können?Müßte ich nur nicht wieder hinunter! Dürfle ich nur alles vergessen, was da drunten ist! Das Beste wäre, ich könnte hier zu Ihren Füßen vergehen, dort hinaufschweben zwischen den Buchenstämmen, wo das tiefste, reinste Blau leuchtet, und dann schwinden wie der Nebel unter uns, von dem man morgen nichts mehr wahrnimmt, ja nichts mehr weiß.“
Ja“, rief Hirzel bitter und hefug das Glück liegt vor uns ausgebreitet in Fülle und Herrlichkeit!
11 Frey, Bernhard Hirzel. U.
1651 []Unser Wesen, unsere Liebe sind so gearket, daß wir es mit voller Seele erkennen und genießen, wie nicht leicht jemand sein Glück erkennk und genießt.Allein wie geht es uns? Die Allernächsten, denen doch die Pflicht obläge, uns zu helfen und zu fördern,ausgerechnet die verderben uns das Glück und das Leben. Ich rede nicht davon, daß deine Mutker dir jede Freude vorenthält und dir in die wenigen, die dir zufallen, Wermut gießt; ich rede von meinem Vater, der sich gegen mich so aufführt und von jeher aufgeführt hat, daß ich ihn mit Vergnügen von hinnen fahren sähe.“
Er ist krank', seufzte Maria.
Er beachtete ihre Worte nicht, sondern sprang auf und ballte die Fäuste:
Und seit der verfluchte Hund, der Meger, dazu kam, ist alles noch übler und verleufelter. Aber das schwöre ich hier: bevor ich abreise, schlage ich ihm die Knochen entzwei und richte ihn so zu, daß er keine Lausbubereien mehr anzurichten imstande
Erschrocken und betrübt sah sie den Zorn des geliebten Mannes. Sie erhob sich gleichfalls und faßte seine Hand:
Wenn Sie's mir nicht zuliebe kun, so kun Sie's doch Noldi und sich selbst zulebe, daß Sie die Hand nicht an ihn legen und keine Gewalttat begehen!Richts, was wider das Gesetz ist! Glauben Sie: er wird seinen Richter finden! Her alte Gott lebt noch!Dem enktrinnt Keiner! Straft er nicht heute, so straft er morgen. Sie sollen sich nicht beflecken und besudeln und nicht dem Höchsten vorgreifen! Wir wol-len tragen, was er über uns verhängt, so rauh es uns ankommt, und wollen denken: auf Regen folgt Sonnenschein.“
VNur allmählich gelang es ihr, ihn zu besantigen und ihm sein Vorhaben auszureden. Sie drang in ihn, die schwindenden Stunden ihres vielleicht auf langehin lehten Zusammenseins nicht durch Groll 162 []und Unwillen zu krüben und hier oben im reinen Licht reines Vertrauen zu fassen zum Lenker aller Dinge und seiner Vaterhuld. Er umfieg sie mit erneuker Sehnsucht und Leidenschaft, so sehr Wehmut und Schmerz sich hinzudrängten und die holden Augenblicke des Glücks auf den leuchtenden Schalen der paradiesischen Einsamkeit vergällten.
Die Erstlinge der Abendrötke spielten über dem Vebelmeer, als die Beiden sich zum Abstieg anschickten.
Erstickt wimmerte die dürftige Kirchenglocke aus dem Reppischtal durch die Decke herauf.
Das ist ein letztes Lebewohl meines Pfarramts,das für immer begraben ist', dachte Hirzel fröstelnd.
Wehmütig und schweigend schieden sie vom Licht und ktauchten nieder in den Nebel wie Schatten in die Unterwelt.
163 []XxIII.Dem aus dem Valerlande Geflüchteten streckte sich am Seinestrand keine Hand entgegen. Eine einzige durfte er ergreifen, die er vor beinah anderthalb Jahrzehnten zuweilen geschüttelt. Er war nämlich während seiner Pariser Studienzeit, als er die Hörsäle besuchte und in der Bibliothek seltene und kostbare Sanskritwörkerbücher und Texkausgaben nachschlug, die sein Beutel nicht zu erschwingen vermochte, mit einem Fachgenossen aus der Welsch-schweiz bekannt geworden, der später in Paris eine Stelle und seine zweite Heimat fand. Dem stillen und freundlichen Manne halte er dann von Zürich aus seine Überkragung der Sakuntala zugesandt und dieses und jenes zukommen lassen, was er im Lauf der Jahre veröffentlicht, worauf eines Tages der Pfarrer zu Pfäffikon ein zierlich ausgefertigtes Diplom erhielt, das ihn zum Mitglied der Pariser asiatischen Gesellschafft ernannte und das eben auf Betreiben seines ehemaligen Mitstudierenden ausgestellt worden war.
Hirzel hatte vor der Wegreise in längerem Schreiben an ihn die Vötigung betont, für unbestimmte Zeit in der Fremde zu leben, und Rat und Hilfe erbeten. Sie war ihm zu seiner Freude umgehend und bereitwillig zugesagt worden. Allein in Paris angelangt, entdeckte er bald, daß der Mann selber in engen Verhältnissen stak, sodaß er gerade noch durchkam, mehr in emen Büchern als in der Welt bewandert war und wohl viel guten Willen besaß, Wege zu weisen und Türen aufzustoßen, jedoch wenig Vermögen dazu. So mußte Hirzel die 22164 []harten Steige nach Brot und Unterstand völlig ins Ungewisse und auf eigene Faust gehn und ablehnen-den Bescheid in allen Tönen schlucken, wobei er reichlich die einem Fremden gewöhnlich bestimmte Bitternis kostete, der nicht zu einem vorher vereinbarten Geschäft oder in abgemachtem Auftrag zu-reist. Was er konnte, das brauchte man nicht, und was man brauchte, das konnte er nicht. Seine mitgebrachten Mittel schmolzen erschreckend rasch zusammen. Denn er wußle weder hauszuhaltken, noch dem kausendgestaltigen Ausbeutergeist der Weltstadt auszuweichen; und als er einigermaßen gewitzigt war, wie ihn bedünkte, war sein Geldvorrat dermaßen auf die Neige gegangen, daß er sich außer-stande sah, die eroberte Erfahrung in die Tat umzusetzen. Frierend und hungrig begann er in der Dachkammer, wohin die Not ihn derschlagen, eine Erzählung zu schreiben, die Zustände und Geschicke der schweizerischen, insbesondere der Zürcher Heimatlosen darstellen sollte, die er im Verlauf seines pfarr-amtlichen Wirkens, vorwiegend aber aus Warias Berichten kennen gelernt. VNoch hatte er den Wahn,ein Dichter zu sein, nicht abgestreift, wie denn just während der letzten Pfäffiker Zeit seine Leidenschaft für die Geliebte sich mehrfach zum gebundenen Wortk gemeldet hatte. Den Beruf eines Erzählers hatte er allerdings nie gefühlt, Erzählerkräfte sich nie zugetraut. Zu dem unbekannten und verfänglichen Unterfangen bewog ihn lediglich der Wunsch eines deutschen Verlegers, dem er zufällig begegnete und der nach Bildern aus dem sogenannten Schweizer Volksleben fahndete, die damals von der Leserwelt wieder begehrt wurden. In seiner Kümmernis erwärmte 9 Hirzel für die Arbeit und schöpfte Trost aus ihr, den er aus keiner Quelle sonst schöpfen konnte. Sie ging ihm, nachdem er die ersten ungewohnten Schritte getan, ziemlich glatt von der Hand,zumal er keinerlei kuünstlerische Anforderungen 165 []stellte, weil er sie nicht kannte und, wenn er sie gekannk hätte, nicht zu erfüllen vermocht hätte. Indessen legte er doch, obwohl dem Ende schon nahe gerückt, den Faden mitten in einem Satze abreißend,gerne die Feder nieder, als er den sofort anzutrektenden Posten eines Privatlehrers erhielt, der ihn, frei-lich gegen bescheidenes Entgelt, zu Lateinunterricht verpflichtete. Er schob die Blätter beiseite und berührte sie nie wieder. Der Verleger, der sich erst sehr nöklich geberdet, hüllte sich in Schhweigen. Hirzels Gedanken kehrken gelegenklich zu dem Versuch zurück, und er nahm sich vor, in ruhigen und ungesorgten Zeiten ihn zu Ende zu führen und ihm die erforderliche Feile zu erkeilen, um ihn auf eine gewisse Höhe zu bringen, und ein Talent, das er erst so spät entdeckt, nicht sur immer brach liegen zu lassen. Das Flache, landläufig Dilekkankenhafte seiner Schöpfung blieb ihm völlig verborgen, sodaß zuweilen der Traum bei ihm Zutritt fand, ihm dürfte vielleicht der schlichte Zweig eines Volksschrift-stellers beschieden sein, der dann mit dem vollen Zweige des Übersetzers und Versbildners Bernhard Hirzel, den erst, so wähnte er, die Spätzeit nach seinem gebührenden Werk einschätzen werde, zum Kranze sich zusammenflöchte.
Die Amkbsobliegenheiten samt der Sorge um Maria verengten unö verlegten ehrgeizigem Spintisieren und Einbilden den Weg. Herz-zerreißend schrieen ihn die Briefe der Geliebten an und bestürmten ihn, sie von daheim fork und zu sich zu nehmen. Der Bruder, berichtete sie, hämmerke und blasbalgte und stieg daneben seinen Schöppen nach, ohne sich viel ums Hauswesen und die Angehörigen zu kümmern. Die Mutter war bettklägerig geworden, was ihre vorher schon üble Laune vollends zerrüttelte. Maria mußte die Vächte in der schlecht geheizten Kammer veh einer Makraze am Boden verbringen, um jeden Augenblick zur War166 []tung bereit zu sein, und das Hündchen Ami schmiegke sich, Wärme und Desehee suchend, an sie. Da durfte sie ihren heißen Tränen ungescheut den Lauf lassen und den Himmel inbrünstig anflehen, sie mit dem Geliebten zu vereinigen oder aber aus diesem Leben abzurufen, das ihr ohne ihn eine Hölle war.Trotz der hingebendsten, geduldigsten Pflege erhielt sie von der Mutter kein gutes Wort, vielmehr wie-derholte und steigerle diese die Vorwürfe, daß sie um Hirzels willen den reichen Engländer verschmähtk,dessen Geld ihnen so sehr zustatken käme. Die Nach-barn wiesen mit Fingern auf sie, machten Gesichter,schnitten Grimassen uünd sparken anzügliche Bemer-kungen und Schimpfrufe nicht.
Soll ich dich lassen“, schrieb sie, so bin ich gleich entschieden, zu sterben, lieber heut als morgen.“
Um sie nicht noch kiefer in und Jammer hineinzustoßen, verheimlichte er ihr, daß er längere Zeit auf dem Pflaster saß und schließlich so zienilich am Hungertuch nagte. Sie las aus seinen gewundenen und verschleierten Berichten heraus,daß es ihm nicht nach Wunsch erging. Sie sah ihn im Wirrsal und Wirbel der großstädtischen Aben-teuer, Gefährden, Verführungen und Verbrechen,von denen sie sich das eine ungeheuerlicher und V bei ihm sein und ihn wenigstens warnen und schühzen dürfke! Mehr wollte sie nicht verlangen!
Erst jetzt, unter soviel geheuchelter Naivetlät und schauspielerischer, berechnender Freundlichkeit der Fremöe, ging ihm allmählich ein Licht auf, was für einen Schatz an echter Liebe und Leidenschaft ihm draußen in der Zürcher Vorstadtschmiede zugefallen war. Jetzt, notdürftig geborgen, begann er zu über-legen und sich umzutun, wie ihre Reise nach Paris und ihr Aufenthalt zu bewerkstelligen wären. Ein Rabbiner, den er anläßlich einer Sitzung der asia-lischen Gesellschaft kennen gelernt und mit dem er 165 []hie und da wieder zusammentraf, um sich über hebräische Sprache und Dichtung zu unterhalten, verschaffle ihm die Adresse eines Lithographengehilfen und seiner Frau, die Maria in ihrer Wohnung Unterkunft zu gewähren bereit waren. Auch gelang es ihm durch die Vermitklung des gelehrten Juden und unter Hinweis auf seine Stellung und Einkommen,eine Summe aufzunehmen, die ihm erlaubte, Maria bis an die Schweizergrenze entgegenzureisen.
Vor der Abfahrt stand ihr noch ein rauher Gang bevor, der Gang mit Hirzels Bild zu Bluntschli. Er wußle um die Liebe der Beiden. Denn in dem engen Zürich stand keine Bierbank und kein Cafätisch,den nicht der Klaflsch mit seiner Schnauze beschnüffelte. Die regierungsrätliche, steifgebügelle Tugend reckte sich vor dem sündhaften Geschöpf bedeukend empor. Als sie aber, eines Workes zunächst unfähig,mit zilkernden Händen die Hülle vom Bildnis zurückschlug und es ihm hinhiell, indem sie die großen,feuchten, bis jetzt niedergeschlagenen Augen flehentlich auf ihn richtete, da faßte es ihn und schraubte ihn auf das menschliche Maß zurück. Und wie sie nun, den erhaltenen Auftrag ausrichtend, ihre Bitte stockend vorbrachte, fühlte er sich vom Schmerz des zerhärmten Gesichtes und dem einfachen, mädchen-haften Wesen entwaffnet.
Dessen ungeachtet wies er ihr Begehren zurück:
Die allernächste Zeit siedle ich ins Deutsche über. Da muß ich manches von alken lieben Sachen dahinten lassen und kann mir nicht noch Fremdes aufhalsen.“
MWaria unterdrückte den naheliegenden Einwand,daß ein kleines Bild weder auf der Reise noch im ben Gemach viel Platz beanspruche, und bemerkke oß:Aber Herr Pfarrer Hirzel hat mir ausdrücklich angedungen, das Porkrät in Ihre und sonst in keine 168 []Hand zu geben und es zu vernichten, wenn Sie es nicht wollten.“
Und wieder srece sie ihm das Bild entgegen.Er aber zuckte die Achseln und machte eine leicht verneinende Handbewegung, worauf sie sich schweigend entfernte. Er langte, nachdem sie die Türe geschlossen, unwillkürlich nach der Klinke, als ob er die Enteilende ss möchtke, ließ jedoch die Hand wieder sinken und blieb ein paar Atemzüge lang in der unangenehmen Verfassung stehen, wo der Mensch halb und halb inne wird, daß er eben etwas Ungeschicktes und Ungerechtes begangen und zugleich den Augenblick verpaßt hat, das Geschehene wieder gut zu machen. Sein Gefühl hatte ihn eigentlich gedrängt, den flehenden Zügen und Geberden nachzugeben. Aber unversehens entrüstete es ihn,daß Hirzel ein so feines und hübsches Menschenkind sicht angeeignet, das augenscheinlich sich mit allen Fasern an ihn klammerke, weil es entschlossen war,ihm in die Fremde nachzuziehen, ins Ungewisse mindestens, wahrscheinlich auch in die Nok.
Indessen war es nicht bloß, wie er meinke, sittlicher Unwillen, was ihn erregie, es war auch, was er freilich nicht erkannte, ein Teil Neid und das Gefühl, daß Hirzel so etwas im Grunde nicht verdiene.Nun brach durch, was seit geraumer Zeit in ihm gegohren hatte, und gab den Ausschlag. Hirzel war ihm nämlich allmählich innerlich fremd geworden.Er fühlte sich im Grunde mit ihm entzweit. Da sie sich die Jahre her weder häufig, noch bei ihren Zusammenkünften lange gesehen hatten, so war ihm dieser Wandel nur flüchtig aufgedämmert, zumal er,wie die Dinge nun einmal lagen, von seinem Freunde niemals etwas verlangt, sich niemals auf ihn angewiesen gesehen hatte. Die Entfremdung wurde ein Abrücken, als der Geldverleiher Schaden nahm.Dieser brachte, nachdem, gegen seine Voraussicht und Annahme, die Familie für Hirzel nicht in den Riß
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7 []getreken war, die Habseligkeiten des alt Pfarrers unker den Hammer. Allein der Ganterlös deckte seine Forderungen nicht. Wehklagend harfte er in der Stadt herum und gab das Lied von seinem getäuschten und mißbrauchten Vertrauen zum besten.Er machte sich auch an Bluntschli. Der schob ihn zwar mit einem spihen Handwink zur Seite und zur Türe hinaus. Er gönnte dem Blutsauger, daß er dergestalt zugerichtet war, daß ihm vielleicht künftig das Handwerk gelegt wurde. Allein den entschiedenen Liebhaber reiner Westen kränkte und ärgerte es,als Freund und Gönner Hirzels in das Geschwätz hineingewälzt und sogar um Beistand angegangen zu werden.
So geschah es, daß er das Bild von sich wies.
Maria ging heim, löste es aus dem Rahmen und warh es unker Tränen ins Feuer.as erzählte sie Hirzel, kaum recht bei ihm angelangt. So schwer es ihr fiel, so leicht schob er es hinter sich. Er stellte sich das Zeugnis aus, daß er seinem Freunde nie etwas zu leide gewerkt habe und einen solchen Umschlag nicht verdiene. Da Blunkschli zudem die Vaterstädt verließ, so war weitere Hilfe und Förderung von ihm kaum mehr zu gewärtigen.
Die Anwesenheit und der Besitz Marias drängte zunächst alles andere zurück. Sie war vom Lärm und Wesen der Welltstadt betäubt, vom Glück der Wiedervereinigung berauscht. Anfänglich griff sie sich an die Slirn und fragte sich, ob es wirklich und wahrhaftig war, daß sie keine zänkische Klage,Schelte und Vorwurf zu hören bekomme, sondern daß Liebe, Liebkosungen und zärtliche Worte ihr Teil waren. An die ewige Brandung der Geräusche,an das immer wieder heranschwimmende Gewühl,an die endlose Kette der Straßen gewöhnte sie sich rasch, fand sich auch so mühelos zurecht und erinnerte sich an jede Gasse, die sie gegangen, daß Hirzel sich 170 []wunderte. Es fiel ihm auf, wie helläugig sie das fremde Wesen und Treiben besah, wie bald durch den Schein hindurch das Wirkliche erspähte, fast mehr als er, der sich schon im Wahne wiegle, ein Pariser geworden zu sein. Selbst einige Sprach-brocken wußte sie behend herauszufischen. Schmerz-lich jedoch vermißte sie vor ihrer Wohnung und in der Umgebung das Frühlingsgrün, das sich beinahe gleichzeilig mu ihr an der Seine einstellte. Mancher stille Seufzer galt den Bäumen und Stauden des Schmiedgärtchens, wo die Vögel sangen. Da war es gut und heilsam, daß Hirzel, dem seine Stelle nicht sellen tagsüber Freistunden gönnte, sie häufig in den Loupregarten und auf andere grüne Plätze führke.
Saß sie auch häufig allein, sie saß nicht müßig.Schon bald eine Woche nach ihrer Ankunft war es ihr gelungen, unter Beihilfe der Mietfrau Strick-arbeit aufzutreiben, wobei ihr die flinken und gelenken Finger zustaktken kamen. Auch hatte sie beim ersten Wiedersehen an Hirzels Überzieher und Rock mehr als einen Knopf entdeckt, der fester anzunähen,mehr als einen Flecken, der wegzureiben, mehr als einen Schaden, der auszubessern war. Und was erst eine Musterung hing Wäsche ergab, das rührte ihre Galle gegen die Pariser Wäscherinnen auf und setzte ihre Scheere und RVadel in Bewegung, sodaß er binnen kurzem ordentlicher und fast wie neu aus-staffiert einherging. Dem eigenen Kleid verstand sie,indem sie den Pariserinnen im Ru allerhand abguckte und abfühlte, mit einem Nichts, mit einer Falte oder dergleichen aufzuhelfen, wie sie auch in Haltung und Geberde den Einheimischen sich unschwer anzupafsen und anzugleichen vermochtke, ohne das heimatliche gute Wesen abzustreifen oder zu verleugnen.
Der Sommeranfang verbesserte Hirzels Stellung und Einnahmen. Er fand nämlich einen Hauslehrer-posten bei einer wohlhabenden Familie Grenier,171 []deren beide Söhne er zu unkerrichten hatte. Allein da er laut Pflichtenhest den Zöglingen den ganzen Tag widmen mußte, so blieb das Zusammensein mit Maria beinah immer auf die Abende beschränkt.Sie verlebte häufig e schmerzliche Stunden.Es war weniger das Einsame, was sie bedrückte und dem sie durch beinahe unausgesetzte Tätigkeit begegnete; es war das oft wortkarge, unfrohe Benehmen Hirzels, sein ernstes Gesicht, seine zerstreute Arl, sein Kopfschütteln und Nachsinnen, sein Schweigen oder Ausweichen, wenn sie sich bemühte, ihm seine Sorgen und Geheimnisse abzugewinnen. Sie argwöhnte, daß ihn Geldnöte peinigken. Sie hatte bald genug heraus, daß er allen Erfahrungen zum Trotz noch nicht gelernt hatte, ein Soustück zweimal umzudrehen, bevor er es aus der Hand gab, daß er es überhaupt niemals lernen würde. Ihr Aufmerken und Achthaben schien er nicht zu gewahren, ihre schüchternen Winke beantkwortete er höchstens mit einem leichten Seufzer oder schlug sie, als hätke er nichts gehört, in den Wind.
Wenn er oft und, so bedünkte sie, immer häufiger und fühlbarer aus einem Schatten heraus blickte und redete, beschlich es sie wohl, seine Liebe möchke im Erlöschen und sie wohl anfangen, ihm eine Last zu sein. Eines Tages faßlte sie ein Herz und bat ihn weinend um Ausfschluß, da sie sein beklommen niederhlagenes Wesen jammerte. Ernst, schier streng gebot er ihr, solche Gedanken ein für allemal von sich zu weisen und ihn künftighin mit derartigen Andeutungen und Klagen zu verschonen, die zu nichks führ-ken, als ihm das Herz pwer zu machen. Wehrfach raunte ihr die Eifersucht zu, eine andere möchte es seinem entzündlichen Geblüt angetan haben. Werktke sie doch, was er nicht verbarg und nicht bestritt, wie sehr ihn das weibliche Leben und Treiben auf Sutaßen und öffentlichen Plätzen beschäftigte und esselle.
179 []Unversehens verschlimmerke sich ihre Lage. Hirzel mußte nämlich, wollte er seine Stelle nicht verlieren,der Familie seiner Schüler, die vor der hereinbor-denden Sommerhihe flüchtete, aufs Land folgen, ohne Mittel und Wöglichkeit, die Geliebte irgendwie hinkommen zu lassen und in der Nähe unkerzubringen.Sie verzehrte sich in sehnsüchtiger Verlassenheit und verbrachte dumpfe, schmerzliche Zeiten. Sie kam wenig mehr aus dem Hause, außer wenn sie an Sonnkagsausflügen des Ehepaars, bei dem sie wohnte,oder an dessen gelegentlichen Abendausgängen keil-nahm. Die bescheidenen und vom stäten Heimweh nach Bernhard verkümmerten Freuden vergällte ihr noch die Frau, die es empfand, daß die Augen der Männer die hübsche Begleiterin, nicht sie, suchten und verfolgten. Sie mied es tunlichst, sich allein auf die Straße zu begeben, da mehrere Flaneure und ppflasterreiter sie ausgewittert hatten und ihr nach-strichen, sobald sie ihrer ansichtig wurden. Sie hielt sich zur Arbeit, ließ den Tränen freien dan und rief den Himmel um Beistand an, Sie griff zur Feder, um dem fernen Geliebten Klage und Hoffen auszuschütken.
Gewiß'“, schrieb sie, geht es dir gut im Grünen und in der Stille, die dich an unsre schönen Spazier-gänge erinnern, und hast du ein heiteres Herz, ohne ZRacia zu vergessen. Wir ist alles tot, seit du fort bist. Ich habe auch fast vom Tag an meine roten Wangen verloren. Ich habe niemand, der meine Tranen sieht, mein Weinen hört. Ich hoffe, daß ich bald wieder zu dir komme, und weine, das ist mein Trost. Denkẽ immer: sie hat Heimweh nach dir, die arme Warial! Ach, wie oft denke ich, wenn du nur für einen Augenblick kommen könnlest, mich in meinem Sommerkleid anzuschauen, das dir so gefallen hat, das rote Halstuch, das du mir geschenkt hast,meine Agraffe darauf, weiße Spigepmanchaten X ich gemacht habe, meine schwarze Echarpe und meinen 173 []Sommerhut. Ich will Gott im Herzen haben und zu ihm beken, das hilft zueinander. Schreibe mir bald und trage Sorge zu dir! Tag und Vacht sind wie ein Jahr, seit du fort bist. Wenn ich nur nie, nie mehr von dir getrennt sein muß!“
Es dünkte sie eine Ewigkeit, bis die Pariser aus ihren Landhäusern und den Seebädern in die Skadt.gelasse zurückwanderten und Hirzel endlich wieder ihr Stübchen betrat. Er sah voller und gebräunt aus,und sie meinte, er ktrage Wiesenduft und Waldhauch daher und es leuchte noch ein Schimmer des sonnen berieselten Grüns um ihn. Allein sie erschrak über das veränderte Wesen, das sich rasch enthüllte. Er sprach nur kurz und freudlos von dem Landaufent-halt · und brach immer rasch wieder ab, sobald sie Einzelnes zu wissen begehrte und mit Fragen in ihn drang. Mißmutig und vergrämt gestand er, daß ihn seine Stelle drüche, daß er auf dem Land bei dem forkwährenden Zusammensein mit dem launischen und hochfahrenden Brotherrn, den er in Paris, wo er seinen Geschäften nachging, gewöhnlich nur über die Wahlzeiten sah, sich schuhriegeln lassen und manches habe schlucken müssen, das ihm, sofern es sich mehrfach wiederhole, auf die Dauer unleidlich fallen würde, sodaß ihm nichts anderes übrig bleibe, als mit Zeit und Gelegenheit eine Veränderung ins Auge zu fassen.
Der Pfarrer von Pfäffikon war innerhalb der Amtsschranken so ziemlich sein eigener Herr und Weister gewesen, der die Oberbehörde kaum je über sich gespurt hattle. Jetzt war er ein Diener, den man im Handumörehen vor die Türe stellen konnte, ohne sr oder andern die geringste Rechenschaft zu schulen.«Was ist das für ein Dasein“, grolltle er. Von früh bis spät muß ich für ein Stüch Brot die icg den Rangen aufziehn und unterrichten, während 174 []hundert Stunden weit daheim das eigene Blut von ungeschickten Händen gehirtet und betreut wird.“
Mit Bitten und Belken hielt ihm Waria an, still zu halten, sich ins Unumgängliche zu fügen und ja seden unvorsichtigen Schritt zu meiden. Sich selber brachte sie schon durch, achtsam, haushälterisch und anspruchslos, wie sie war, sodaß sie von ihrer Hände Arbeit lebte und kaum mehr etwas von ihm annahm. Es war der höchste, wenn auch, wie sie einsah, unerfüllbare Traum ihrer Tage und Vächte,soviel zu erraffen und zu besitzen, um dem Geliebten ein ungesorgtes Leben zu bieten. Was sollte aus ihm werden, wenn er seines Verdienstes verlustig ging? Sie schauderte, und ihres Kummers und ihrer Tränen war von neuem kein Ende. Sie hatke sich vorgestellt und sich dabei beruhigt, daß er auf Jahre hinaus geborgen sei. Jehzt erst gewährte sie recht,W wie schwankem Grunde ihr schwankes Glück ruhte.
Allmählich begann er von Heimat und Vergangenheit zu reden, die er früher vor ihr wenig berührt, von Jugendjahren und Studienzeiten, vom Pfäffiker Seelsorgeramt, von den Gestaden des Zürichsees, von den lauschigen Laubhängen darüber,vom hereinschimmernden Schneegebirg und besonders von Noldi. Dann pflegke er in Schweigen zu versinken und vor sich hinzusinnen, den Mund von herber Falkte umsäumt. Das stürzte Maria in bange Sorge. Sie gewahrte, woran sie früher nicht gedacht,daß ihn das Heimweh peinigte. Er alterte zusehends,sein Lebensmut zerbröckelte. Mehr noch als die Hauslehrerfron quälten ihn die verbauten, verrammelten Wege, die Verhaue nach allen Seiten. Nur als Lehrer in einer Familie oder in einem Institut durfte er hoffen, sich durchzubringen. Zu andern Verrichtungen war er in der Fremde ein unnützer Knecht, den niemand zu dingen gelüstete. Leid und Mühsal hatten ihm ein Licht aufgesteckt, wie schwer 175 []solche Stellen zu erangeln waren, wie viele Füße nach der einen Türe rannten, daß er wohl daran kat, den gegenwärligen Platz trotz aler Dornen und Nesseln zu behaupten und sich's dreimal zu überlegen, ehe er sich umbektete.
Es gab keine andere Lösung als den Tod des Vaters. So viele Jahre der ausblieb, so viele Jahre verzehrte sich der Sohn in würdeloser Knechtlschaft,ohne jede Aussicht, die besondern Gaben und Kennt-nisse zu verwerten, die ihm in Zürich neue Bahn gebrochen hätten.
Vielleicht, träumke er, krat noch bei Lebzeiten des Vaters ein Wandel, ein Umschwung ein, der die Heimfahrt erlaubte! Immer enger schmiegte er sich in diesen Traum. Vach langer Pause schrieb er wieder an die Mutter und erbak Auskunft über das Befinden der Ellern und Noldis. Die Antwort klang untröstlich. Voldi freilich, hieß es, gedeihe und mache Fortschriite in der Schule, wo er bei Lehrern und Gespanen wohl gelitten sei, und stelle infolge seines manierlichen und zutunlichen Verhaltens für die Großeltern ein wahres Labsal dar. Dessen seien sie dene gar sehr bedürftig. Sie, die Mutter, ver-spüre jeden Tag das Alter mehr und stecke in rauhen Sorgen, indem sie nicht wenig zu erdulden und aus-zustehen habe von dem hässigen und zornmütigen Geklage und Geschimpfe des Vaters, der wieder völlig aus dem Bett sei, doch einen üblen Lebtag habe. Nämlich Meger habe ihm den größten Teil seines Vermögens verliederlicht und verspekulierk,wie mehrern andern gleichfalls, deren Vermögens-verwaltung man ihm anverkraut, weshalb er am Schalten sithze und den Rest seines Lebens wohl hinter Schloß und Riegel verbringen werde. Voch liege nicht zukage, was man reflten und davonbringen könne. Aber auf alle Fälle werde ihnen das Wasser an den Mund gehn, sodaß sie sich kümmerlich ein-teilen und durchschlagen müßten. Diese unerfreu
1460 []lichen und verwickelten Dinge zu erlesen, habe das Gericht einen Beistand bestellt, da der Vaker ihnen nicht mehr nachzugehen vermöge.
Schwer dröhnte die Türe seines Kerkers hinker Hirzel ins Schloß, nach menschlichem Ermessen für immer.Was hälte er für einen Tropfen jenes Selbst-vertrauens und Hochsinns gegeben, der ihn einst erhobenen Hauptes über die Erde schreiten ließ als einen zu Ungewöhnlichem erlesenen Liebling des Geschicks! Die bloße Erinnerung daran erweckke ihm jetzt ein widriges Gefühl. Er sah ein, In Leben war verpfuscht und höchstens durch einen Zufall noch einzurenken. Allein er glaubte an keinen mehr,rechnete auf keinen. Der Glaube an den gütigen Vater im Himmel, den er von Amtswegen so oft gefeiert und empfohlen und den er gelegentlich angerufen in eigenen Nöten und Fährnissen, lag in Scherben, die er vergeblich in ernsten Augenblicken zusammenzumörteln versucht hatke.
Er besaß, nachdem Bluntschli das Bild von sich gewiesen und einen Brief nicht beantworket hatte,auf weiter Gotkeswelt keine Seele, der er sich auf-schließen durfle. Gerade vor Maria, die nach seinen Geheimnissen dürstete, mußle er schweigen. Sie ver-mochte ihm keinen Rat zu erkeilen, da ihm überhaupt nicht mehr zu raten war. Wozu ihre ÄAngste, ihr Bangen steigern? Ihr schwante Unheil. Nur woher und in welcher Gestalt es drohte, darüber wußle sie sich keine Rechenschaft abzulegen, kein Bild zu mächen. Die Wehrlosigkeit vor dem Ungewissen,Verhüllten würgte und markerte sie. Doch mißlang ihr, den Grund seiner Niedergeschlagenheit heraus-zurätseln. Denn er verheimlichte ihr den Brief der Mutller, damit sie die Pfade nach der Heimat nicht abgeschnitten sähe, die sie an seiner Seite zurück-zuwandern hoffte.
12 Frey, Bernhard Hirzel.i.
17 *b []Sie schrieb seinen Zustand schließlich körperlichen Gründen zu und lag ihm an, den Arzt zu beralten.orimind erklärte er, das werde alles vorübergehen.
Der Herbst leuchtete in den Landen und machte Miene zu scheiden, ohne einen Schimmer in die verwölkte Seele des Mannes geworfen zu haben.
Der Winter kündete sich früh mit kalten Winden und Regenschauern.
Eines Abends, als Maria in ihrem Zimmerchen saß und wie gewöhnlich guf Hirzel wartelke, hörte sie ihn früher als sonst die Treppe heraufkommen, aber mit schweren und langsamen Tritten, sodaß sie erschrocken aufsprang und zur Türe eilke.
Den Hut auf dem Kopf, den feuchten Regenschirm noch in der Hand, umarmte er sie leidenschafklich und hielt sie lange wortlos an sich gepreßi. Dann sank er schwer aktmend auf den Stuhl nieder.
Was fehlt dir?“ rief sie und griff nach seiner schlaff herabhangenden Hand.
Ich bin verloren!“
Verloren!“ schrie sie. Was willst du damit sagen?“Er bedeutete sie, sich gleichfalls zu setzen, strich sich ein paarmal über die Stirn und berichtete stok-kend mit bebenden Lippen:
„Du mußt wissen, daß ich Schulden habe aus jener Zeit, wo es mir übel erging und ich nirgends unterzukommen vermochte. Ich bin nie vor dir damit herausgerückt, um dich nicht zu bekümmern.Einen Teil habe ich abbezahlt, aber nur einen kleinen. Das dauerte dem Gläubiger zu lange.Gestern schrieb er mir einen Drohbrief, er werde gerichtliche Schritte veranlassen, sofern ich ihn nicht nächstens befriedige, und sich an Grenier wenden.In der Aufregung muß ich den Brief, den ich heut morgen bei Gremier erhielt, nicht recht eingesteckt 178 []haben, sodaß er mir unbemerkt aus der Tasche herausfiel. Vor dem Nachtessen stürzt Grenier auf mich los, hält mir schimpfend den Wie unter die
Rase: einen solchen ausgemachten Lumpen und
Schuldenmacher dulde er nicht länger unter seinem ee kündete mir auf der Stelle und wies mir die üre.“
Sie schluchzte auf, faßte sich jedoch bald:
Du wirst einen andern Platz finden, so gukt wie du den da gefunden hast!“
Er schütelte den Kopf:
Ich kann ein Paar doppelsöhlige Schuhe durch-laufen, ich stoße auf nichts. Man wird von dem Fremden Referenzen einfordern, man wird Erkun-digungen einziehen. Alsdann kommt das Geschehene zukage, und ich bin wieder gleich weitl. Hierauf kann der Dauerlauf wieder von vorn beginnen. Und wovon sollte ich während dieser Zeit leben?“
Ich habe“, erwiderte sie, schon ein ganz klein wenig etwas erspart. Ich will arbeiten und schaffen von früh bis späl. Wenn wir uns recht einschränken,geht es gewiß.“
Du vergißt eins“, wandte er ein, was mir den Riegel schiebt. Die angedrohten gerichtlichen Schritke werden sicher eingeleitet und seen Das Gerichtsurkeil wird dem Aufenthaltsschein eingestempelt werden. Du rechnest dir ohne Mühe aus, wie man sich um einen Menschen reißt, der einen solchen Fetzen präsentliert. Im schlimmern Fall aber und der ist gar nicht abwegs, denn die hiesigen Gerichte machen mit Landsfremden kurzen Prozeß wird mir der fernere Aufenthalt verweigert; man weist mich einfach aus und befördert mich auf dem Schub über die Grenze. Es wird ein erbauliches und erhebendes Spektakel sein, wenn an der Schweizergrenze ein französischer Polizist dem Schweizer Polizisten den Bernhard Hirzel aushändigt, den Führer von anno 1839.
179 []Er krat an das Dachfenster, um die hervorbrechenden Tränen zu verbergen, und starrte auf das unendliche Dächermeer von Paris, über dem sich die eilenden Wolken zerteilten und einzelne Sterne freigaben. Die zahllosen Schornsteine erschienen ihm wie aus dem RBoge ragende Maste gescheiterter Schiffe. In der Ferne hob sich verdämmert der schmale, zierliche Turm von St. Etienne du Mont.
Ihr Schluchzen bemeisternd, brach Waria endlich die dumpfe Stille:
Wie wäre es, Bernhard, wenn du es mit daheim versuchtest? Wenn er vernimmt, wie es um dich steht, so wird der Vater gewiß seinen harten Sinn brechen und dir aus dem Elend helfen!*
Es fragt sich'“, antwortete er langsam, ob er wollte. Aber sicher ist, daß er nicht kann. Die Mutter hat schon vor Wochen gemeldet, das Vermögen sei fast ganz hin, sodaß sie untendurch müß-ten. Ich verbarg es dir. Ich merkle, deine Sehnsucht richtete sich nach der Heimat, und du hingst am Gedanken, sie bald wiederzusehen.“
Waria knickte wie gelähmt zusammen und brükete vor sich hin.
Nach einer Pause nahm Hirzel wieder das Wort:
Du siehst, ich habe in der Fremde und daheim verspielt und habe an einem Ork sowenig zu suchen wie am andern. Wir bleibt nur noch die Reise nach dem Lande, wo es keine Schuldenboten und keine Gerichtsbüttel gibt und wo sie noch keinen ausgewiesen haben!“
KRed nicht so, lieber Bernhard!“ schrie sie. Du versündigst dich.“
KReden!“ entgegnete er finster und nachdrücklich.Jetzt ist nicht reden Fnh sondern handeln. Du wirst begreifen, daß ich das Leben, das jetzk auf mich lauert, nicht leben will und nicht leben kann. Es bleibt mir nichts übrig, als ein Ende zu machen. Und zwar bald, recht bald. Ich hielte es nicht aus, noch 180 []einmal als Bettler und Landstreicher in Paris herum-zufahren, um en in der Heimat als Almosengenbssiger aufzütauchen und mich hudeln und anspeien zu lassen.'
Er hatte jo höhnisch, trotzig und bitter gesprochen,daß Waria hilflos und erschüttert dasaß und ihn halb flehend, halb furchtsam ansah.
Er griff in die Tasche und holte daraus eine Handvoul Geld hervor, das er auf den Tisch warf.
Sier! das habe ich für meinen Siegelring und die doldne Uhr mit dem Hirzelwappen gelöst, die dir immer so gui gefiel. Ich brauche keine mehr. Für dich reicht's, um dich in nächster Zeit vor Not zu schützen, wenn du hier bleibst, oder dir die Heim-fahrt zu ermöglichen. Das ist das Bitterste und Härleste für mich, daß ich dich in mein Unglück hin-eingerissen habe. Verzeihe mir! Und möge dir der vergelten, was du an mir und für mich getan ast!“
Du hast mir nichts zu verzeihen, lieber Bernharöl Ich habe Tag und Vacht auf deinen Ruf geharrt wie eine arme Seele im Fegfeuer auf Er-lösung. Ich habe Alles gern und mit Freuden auf mich genommen und will mit dir Alles weiter kragen.Nur um eines flehe ich dich an: verzweifle nicht!Vertrau auf Gokl! Es kann sich wieder zum Bessern wenden!ꝰ
Du bist jung, du hast noch zu hoffen. Ich hin-gegen bin fertig und erledigt. Davon kein Wort mehr! Aber eben darum, weil du noch ein Leben vor dir hast und ich nicht mehr, darum trennen sich jetzt unsere Wege. Also nochmals von Herzen meinen Dank für deine unendliche Liebe und Güte!“
Das Herz krampfte sich ihr zusammen. Sie spürte den unabwendbaren Entschluß des Verzweifelten.Sie hatte in den vergangenen Wochen öfter, wenn sie ihn gedrückt und wortkkarg sah, an etwas Schreck-liches, Gewaltsames gedacht. Dennoch bäumte jetzk 121 []das warme, junge Leben schaudernd vor dem Grabe zurück, das ihm plötzlich enkgegengähnte. Sie drückte die Hände auf die Brust. Der Atem drohte ihr zu versagen. Dann richtete sie sich langsam auf und sagte gepreßt, doch sat
Bernhard, ich gehe den gleichen Weg wie du!“
Die Hand abwehrend ausgestreckt, trat er einen Schritt zurück:
KNein, Waria! unsere Wege tkrennen sich, wie ich schon sagte. Du bleibst, und ich gehe!“
Ich scheide mich nicht von dir!“ rief sie. Wenn ich nach 38 käme, was hätte ich? Sie zeigen mit Fingern nach mir und schimpfen mich Dirne, die einem verheirateten Mann nachgezogen sei. Aber selbst wenn das nicht wäre ich habe den Himmel tausendmal angefleht, mich vor dir sterben zu lassen.Ohne dich kann und will ich nicht mehr sein. Willst du von hinnen, so will ich mit! in dieser Stunde!“
Das lad ich nicht auf mich!“ rief er dumpf.
‚Willst du auf dich laden, daß ich, kaum hast du die Augen zugetan, verlassen und allein sterben muß? Bringst du's über dich, mir den einzigen Trost in der Bikkernis zu rauben, wenigstens mit dir und an deiner Seite das Leben zu verlassen?“
Seine dringlichen Vorstellungen und inständigen Bitten brachten ihren Vorsatz nicht ins Wanken.Schließlich sagte er in der Hoffnung, sie doch noch zu erschüttern:
RV0
Ich auch nicht!“ versetzte sie bestimmt.
Er schwieg eine Weile. Dann fragke er:
Erinnerst du dich an das gemükliche Wirkshaus mit den Kastanien und dem Springbrunnen, wo es dir so wohl gefiel?“
Sie nickte.
Dork möchte ich einschlafen“, sagte er langsam,wenn es dir recht ist.“
82 []Wir ist alles recht, was du willst“, antworkete sie.
So wollen wir aufbrechen!“
Gut!ꝰ pflichtete sie bei. Ich will mich nur erst ein wenig zurecht machen. Du hast mich so oft dein Bräutchen genannt, daß ich nicht wie ein Lumpen-maidlein aufziehen und sie stockte ein wenig und ihre Stimme ziltterte , ‚imit dir davongehen möchte!
Sie nahm noch während der letzten Worte ein Schlüsselchen aus der Tasche, öffnete damit den schmalen Schrank und holte daraus frische Wäsche und ihr Sonnkagskleid hervor, was alles sie nebeneinander aufs Bett breitete. Hinter die halbgeöffnete Kastentüre getreten, die sie freilich nur zum Teil verbarg, begann si sich unverweilt zu entkleiden und frisch anzuziehen, Stück für Stück.
Unselig beklommen, unvermögend, einen Laut auszustoßen oder sich zu bewegen, saß Hirzel da.Seine Dumpfheit ee ihm einen Augenblick,wozu die Geliebte sich rüstete. Erst als sie, nachdem A vorbeugend, nach dem frischen, auf dem Bette liegenden griff und das magere Kerzenlicht die wohlgeformten Schultern und die ienween Brüste bestrahlte, durchschoß ihn der Gedanke, daß morgen schon diese holde Hülle, die die sellene Seele umschloß, nicht mehr sein werde, um seinetwillen nicht mehr sein werde. Er starrte sie an aus lähmendem Fiebertraum heraus, indessen sie, als ob nichls besonderes wäre, ihren Anzug beendete. Sie setzte den schönern Hut auf, spannte sich das Silberketlchen mit dem Hpalherz um den schlanken Hals, das ihr Hirzel verehrt. Dann langte sie das in Schwarzleder gebundene Gebetbüchlein, gleichfalls ein Geschenk shres Freundes, aus dem Schrank. Sie schloß ihn und zog das Schlüsselchen heraus, um es zu sich zu nehmen. Doch sie steckte es wieder ins Schloß; ein eisiger Hauch sprühte sie an: Du krittst nie wieder 193 []an diesen Schrank!“ Nur einen Augenblick. Dann wandte sie sich gesaßt zu Hirzel:
Ich bin fertigl“
Ehe sie die Türe hinter sich einklinkte, warf sie über die Schulter noch einen halben Blick in das Zimmer zurück: Da setz ich den Fuß nie wieder hinein!“ꝰ sagte sie sich. Unten an der Treppe löschte sie die Kerze, womit sie die finsteren, steilen Stufen hinabgeleuchket, und stellte das messingene Licht-eicin in den gewohnten Winkel hinkler der Haus-üre.
Die Beiden durchschrikten den engen, dunklen Hof und sein schweres, altes Eichentor und bekraken die kümmerlich erleuchtete, grobgepflasterle Straße ohne Bürgersteig. Jedes überließ sich seinen Gedanken. Keines rührte an das letzie, ernste Vorhaben.So gingen sie fast wortlos neben einander her, am Pantheon und am Luxemburggarten vorbei, wo das Leben strömte, da der Himmel sich entwölkt hatke.
Unweit der Tuilerien mietete Hirzel eine Droschke.
Und nun ging es von Gasse zu Gasse, von Straße zu Straße, bis das Häusermeer zurückebbte und im Sternenschein vereinzelte Häuser und Gehöfte, Felder und Bäume schattig und ungewiß durchs Wagen-fenster hereinlauschten.
Jetzt erwachte Hirzel allmählich aus der schlaf-ähnlichen Betäubung. Er ergriff Marias Hand und beschwor sie, ihr Schicksal nicht an das seinige zu binden und zurückzubleiben. Sie lehnte alle seine Einsprüche, Gründe und Bitten mit Tränen und dem iesichen Willen ab, ohne ihn nicht eine Stunde zu leben.
Endlich hiellen die Pferde vor dem Wirkshause,das nahe dem Wald auf sanfter, anggezogener Erdwelle stand. Die Sterne funkelkten. Die Luft wehte herbstlich kühl. Ein leichter Windstoß löste vom Baum ein welkes Blatt, das im Schein der krüben 184 []Hauslakerne wie eine gelbe Mumienhand langsam zu Boden glitt.
Die Ankömmlinge ließen sich ein einfaches Vacht-essen nebst einer Flasche Roten auftragen. Auch Waria, die den Wein fast immer gemieden, goß sich einen Schluck ein, um mit dem Geliebten anzustoßen.
Die Gläser klangen. Die beiden schwiegen dazu.Sie blickten sich bloß ernst und innig an.
Hirzel forderte, nachdem der Tisch abgeräumt war, Papier, Tinte und Feder. Er schrieb ein kurzes Lebewohl an die Mutker und eine Willenskund-gebung, die bezweckte, Noldis Erbteil zu sichern, sowohl das wenige Vorhandene, als auch das, was ihm von der Mutter oder den Großeltern noch anheimfallen würde. Er drückte den Wunsch aus, der Sohn möchte, wenn er überhaupt eine gelehrte Laufbahn einschlage, sich zweimal bedenken, ehe er sich der Theologie zuwende.
Er faltete das Blatt, verschloß es mit einer Oblate, setzte die Adresse darauf und erkeilte den Aufkrag, es in der Frühe zur Post zu bringen, wofür er den Bektrag gleich erlegfe.
Unterdessen betele Maria still aus dem schwarzen Büchlein. Zuweilen aufblickend, wenn seine Feder stockte, sah er, wie sie die vom Lampenlicht beschie-nenen feinen Lippen leise regke, während Stirn und Augen von der Hand, in die sie den Kopf stützte,im Schatten lagen.
Sie begaben sich zur Ruhe.
Als der nächste Vormitkag schon weit vorgerückt und das fremde Paar noch nicht heruntergekommen war, auch nichts von sich vernehmen ließ, n die Wirtkin an die Türe, um zu ausen und nachzusehen. Sie meinte, deutlich ein Stöhnen zu hören,und öffnete die unverschlossene Türe, da ihr Klopfen unbeantwortket blieb.
Bernhard Hirzel lag entseelt in seinem Bett. Er hatte unbemerkt Gift genommen, das er schon, ohne J
*[]elwas zu verraten, am Abend vorher, als er Maria aufsuchte, in der Tasche mitgebracht hatte. Er hatte dann, wie er mit Waria vereinbart, vor dem Einschlafen den Kohlenofen geschlossen, insgeheim hof-fend, daß sie doch noch zu retten wäre, wenn viel-leicht die Wirtsleute noch rechtzeitig eindrängen.
Jeht wand sie sich im Todeskampf. Die Wirkin,die schon viele und allerlei Gäste beherbergt, hakke das feine, unverdorbene Wesen der Fremden schon am Abend wohlgefällig gewahrt. Sie faßte ihre kalte Hand und erbot sich zur Hilfe.
Ach, meine arme Mulker!“ flüsterte Maria und hauchte ihre Seele aus.
Durch das aufgerissene Fenster rauschte auf den Wogen der silbernen Herbstlüfte über die Felder und goldenen Baumkronen ein Requiem, das in der altersgrauen Kirche der Gegend für einen Großen dieser Erde eben gesungen wurde:Requiem aeternam dona defunctis,Domine, et lux perpetua luceat eis,Cum sanctis tuis, in aeternum,Domine, qui pius es. Amen.
Niemand gab Bernhard Hirzel, der einst Tausenden vorangeschrikken, und der armen Maria das Grabgeleite als der Likthograph und sein Weib, die p von dem jähen Ende der Beiden benachrichtigt atte.
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- TextGrid Repository (2023). Swiss German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-gsw). Bernhard Hirzel. Zürcher Roman: ELTeC Ausgabe. Bernhard Hirzel. Zürcher Roman: ELTeC Ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-46F9-A