Erstes Kapitel

»Sie wird nicht weinen, nein, sie wird nicht weinen,« sagte Arnold von Herebrecht vor sich hin und legte die Faust schwer auf das vor ihm ausgebreitete Schriftstück. Dies trug ein kaiserliches Siegel und die Unterschrift des Marineministers. Der Inhalt des Schreibens kam übrigens dem Empfänger nicht unerwartet; längst wußte man, daß die Korvette »Maria« im Herbst eine zweijährige Reise anzutreten habe, um die neuen Kolonien zu besuchen, und dort vielleicht so Schutz wie Besitzvermehrung bewirken solle. Auch daß ihn, den Kapitän zur See von Herebrecht, diesmal der Ruf treffen würde, unter den das Schiff begleitenden Offizieren zu sein, hatte er wohl vermutet, aber kein Wort von dieser Voraussicht war ihm seinem Weibe gegenüber von den Lippen gegangen. Jetzt jedoch mußte er ihr die Berufung, der schon nach acht Tagen die Trennung zu folgen hatte, jetzt mußte er sie ihr mitteilen. Er stand langsam [] auf, das Papier knitterte unter seiner Faust, die er wie zur Stütze beim Erheben auf Schriftstück und Tischplatte belassen. Er besann sich, wie er es ihr sagen solle und was sie antworten würde.

»Sie mag es lesen,« entschied er sich endlich. Er fühlte es wohl, daß ihr dann Zeit bleibe, eine höfliche, ja vielleicht eine gütige Antwort zu finden, während dem gesprochenen, raschen Wort »Ich gehe« ebenso rasch ein froher Ruf folgen konnte.

Die Thür, welche von dem Arbeitszimmer des Kapitäns in das Wohngemach seiner Frau führte, ging langsam auf, Adrienne, die am Fenster saß und nähte, hob nicht einmal die tief auf die Arbeit geneigte Stirn. Herebrecht stand, am Thürpfosten gelehnt, eine Weile still und überschaute das Bild, das ihm sein Weib, sein Kind und sein Heim so boten.

Die Stube hatte zwei Fenster, welche auf eine der engen und überaus geräuschvollen Straßen Kiels sahen; Sonnenschein fand hier keinen Eingang, denn wenn das Zimmer auch nicht nach Norden gelegen hätte, würde die gegenüberliegende nahe Flucht der hohen Häuser doch jeden Sonnenstrahl abgewehrt haben. Die Möbel, welche durch Form und Ueberzug verrieten, daß sie höchstens zwei Jahre alt sein mochten, waren ebenso weit von Eleganz wie von Dürftigkeit entfernt und zeigten in ihrer ganzen Anordnung jenen erschrecklichen Allerweltsgeschmack, der es verbietet, aus dem Gepräge eines Wohngemachs auf die Liebhabereien [] der Bewohner zu schließen. An der Hauptwand befand sich ein Sofa, davor auf mäßig großem Teppich ein Tisch mit Decke und epheuumkränzter Alabasterschale, über dem Sofa ein Bild der Königin Luise von Richter; rechts und links vom Tisch standen zwei nie benützte Lehnstühle; dann an der einen Wand ein verschlossenes Piano und an der andern ein Damenschreibtisch, dessen Platte jedoch von peinlich symmetrisch geordneten Nippes besetzt war. Die Zwischenräume an den Wänden waren von Stühlen ausgefüllt, die so von allen vier Seiten ihre Sitze und Vorderbeine steif von der Mauer dem Stubeninnern zukehrten wie in einem Wartesaal, weniger zum Sitzen einladend, als ihr vorschriftsmäßiges Dasein zeigend. Auf den beiden Fensterbrettern standen einige blütenlose Topfgewächse; vor dem einen Fenster, zwischen den weißen Gardinen, saß die junge Frau an einem Nähtischchen und nähte, die Hand wie eine bezahlte Nähterin mit unermüdlicher Gleichmäßigkeit hebend und senkend.

Dieses Bild, in immer derselben Färbung des sonnenlosen Lichts auf den graubraunen Möbeln, dem dunklen Frauengewand und dem rötlichen Weiberkopf, sah Arnold von Herebrecht so schon seit zwei Jahren, er mochte eintreten, zu welcher Tageszeit er wollte. Nur einmal hatte es sich verändert: da fehlte die nähende Frau vier Wochen an ihrem Fensterplatz, und als sie ihn wieder einnahm, stand neben ihr eine Wiege mit dem schlummernden Söhnchen. Das war jetzt ein Vierteljahr her.

[] Nun, da ihm dies einförmige Gemälde eines regelmäßigen Frauendaseins vielleicht zum letztenmal vor Augen trat, da vor seinem geistigen Auge schon das farbenspielende Meer und die glühende Tropenwelt aufstiegen, sagte er sich plötzlich: »Es ist wahr, ihre Tage waren unendlich gleichtönig.«

»Adrienne,« sprach er, »Du hast so oft eine Veränderung unseres Lebens ersehnt, hier die Kunde einer sehr bedeutungsvollen.«

Er trat zu ihr und reichte ihr den Einberufungsbefehl. Sie nahm und las. In ihr feines weißes Gesicht stieg ein Erröten. Es war das einzige Zeichen einer innern Bewegung, denn mit einem ruhigen Aufblick ihrer dunklen Augen reichte sie ihm das Papier zurück. Sie schwieg. Sein männliches Gesicht, das durch einen großen Bart und peinlich straff aus der Stirn gebürstetes Haar ohnehin einen Eindruck von Strenge machte, wurde noch herber, seine kurzsichtigen, scharfen Augen kniffen sich zusammen, wie es seine Art war, wenn er jemand durchdringend ansehen wollte.

»Du hast kein Wort?«

»Was soll ich dazu sagen?« fragte sie entgegen. »Dein Kaiser ruft, es ist Deine Pflicht und Dein Beruf, zu gehorchen.«

»Freust Du Dich, daß ich gehe?« sagte er wider Willen halblaut und mit einem gewissen Drängen in der Stimme. Sie sah ihn traurig an.

»Nein,« antwortete sie, »ich freue mich nicht. Wie[] sollte ich auch? Während Du hier warst, konnte ich doch hoffen, daß irgend ein Zufall, irgend eine dienstliche oder andere Veränderung in Deinem Dasein auch das meine mit freundlicher gestalten könne. Nun Du gehst, wird meine Abgeschiedenheit vollends zur Klausur werden.«

»Liebes Kind,« sagte er mit Milde, »ich will Dir nicht wiederholen, was wir schon bis zum Ueberdruß besprochen haben, daß es nämlich durchaus unnötig, ja, daß es geradezu eigensinnig von Dir war, auf all die kleinen Freuden des Lebens verbittert zu verzichten, die doch auch andere Menschen in gleich unseren bescheidenen oder noch bescheideneren Verhältnissen finden. Eine Aenderung von außen erhoffen, hieße ein Wunder vom Himmel erwarten.«

»Ja,« rief sie, während allmälich zwei rote Fleckchen auf ihren Wangen entbrannten, »ja, es war ein Wahnsinn, dergleichen zu hoffen. Unabänderlich – unabänderlich! Das ist das krächzende Wort, das mir jeder Tag zuschreit. Du wirst in Deiner Berufslaufbahn den Schneckengang, den üblichen, vorwärts gehen, trotz allem Ernst, trotz aller Fähigkeit. Während wir noch jung sind, während wir genießen könnten, heißt es, mit der kleinen Gage reichen und noch davon zu erübrigen, um Deinem Bruder Zuschüsse zu gewähren. Du bist arm, ich bin arm, und von keiner Seite haben wir Erbschaften zu erwarten. Nein, Arnold, ich wollte die kleinen, kargen, lügnerischen, mühselig ersparten Vergnügungen nicht, mit denen[] andere in solcher Lage das Dunkel ihres Daseins erleuchten wie mit Talglichtern. Ich will ein ganzes, ein helles, großes Glück.«

Sie brach in Thränen aus und legte die Stirn auf die Fensterbank. Arnold trat zu ihr und streichelte ihr mitleidig das Haar.

»Armes Kind,« sagte er mit seiner tiefen Stimme, »armes, irrendes Kind! Du liebst mich nicht, deshalb kann Dich auch meine Liebe nicht reich machen.«

»Du liebst mich?« rief Adrienne mit bitterem Auflachen. »Seltsame Art, mir das zu zeigen. Fürwahr, ein strenger, nie befriedigter Erzieher warst Du mir; von Liebe, von jener heißen, nie ermüdenden Liebe, die ich geträumt habe und in deren Glanz ich auch mit trockenem Brot hätte zufrieden sein wollen, von jener Liebe, die im andern den Gegenstand höchster Anbetung sieht, habe ich nie etwas bemerkt.«

»Weshalb hätte ich Dich denn aber zur Gattin gewählt?« fragte er mit mehr Sanftmut, als ihm sonst bei solchen Scenen eigen war.

»Weil Du ein großmütiger Mensch bist und das arme junge Ding Dich dauerte, welches bei Deinem Vorgesetzten die unartigen Kinder beaufsichtigen mußte und sich ihr karges Brot selbst zu verdienen hatte, was ihr auch nicht an der Wiege gesungen worden war. Und diese Deine Großmut blendete mich, ich sah in Dir einen Helden und Gott ... bis ... ja, bis ich in der schnell geschlossenen Ehe erkannte, daß Du ein [] Pedant bist ... was sag' ich, ein Pedant? eine Statue ohne Wärme, schön und mannhaft anzuschauen, aber kalt!« sprach die junge Frau.

»Die Liebe eines Mannes, ich habe es Dir oft gesagt, kann sich nicht in steten Versicherungen und Schwüren, nicht in immer neuen Huldigungen und Umwerbungen äußern. Sieh, in unserer eisernen Zeit, in der Ueberfülle von Existenzen, wo immer eine die andere verdrängen möchte, weil ihrer zu viele sind für die Aufgaben der Menschheit, in unserer Zeit der Arbeit ist nur wenigen Männern die Muße vergönnt, die Ritterlichkeit, die auch in ihrer Liebe wohnt, dem Weibe so unermüdlich zu zeigen, wie ihr Geschlecht mit natürlichem Wunsch zu begehren gewohnt ist. Der Mann von heute muß von dem Weib von heute mehr Vertrauen fordern, als unsere Vorfahren zu beanspruchen brauchten. Ihr müßt uns auch ohne immerwährende Beweise glauben, und wir können von euch leichter verraten werden. Bedenke die Einrichtungen des modernen Lebens und gib mir Recht. Ich hatte in meinem angestrengten Dienst und meinen außerdienstlichen wissenschaftlichen Arbeiten keine Zeit, mit Dir zu tändeln, ich mußte auf Dein Vertrauen zu meiner Liebe rechnen. Du aber mußt hinwieder auf mein Vertrauen zu Deiner Liebe zählen, nun, da ich fern bin und Du mir weder Liebe noch Treue augenfällig beweisen kannst. So, Hand in Hand, Vertrauen fest an Vertrauen gefügt, so ist die Liebe der Menschen [] von heute, so sollte sie sein, und im Getümmel des Daseinskampfes genügt ihr ein treuer Blick als Verständigung.«

Auf seinem Gesicht lag ein feierlicher Ernst. Sein Weib neigte das Haupt. Was sollte sie ihm antworten? Daß er in der Zeit, wo er ihr diese und ähnliche lange, ohne Zweifel kluge und wahre Reden gehalten hatte, sie lieber hätte herzlich küssen und mit ihr scherzen sollen? Scherzen? Arnold? Undenkbare Vorstellung! Kaum daß sein Ernst je einmal durch ein Lächeln unterbrochen wurde.

»Und daß ich Dich häufig tadelte,« fuhr er liebevoll fort, »das, mein Kind, wirst Du mir danken, wenn die ser da, der sein Leben vorderhand noch verschläft, ein erziehungsbedürftiger Mensch wird. Du hattest keine Mutter gehabt seit Deinem zehnten Jahr, Du wuchsest in einer Pension auf, die Dein älterer, reicher Stiefbruder aus Gnade bezahlte, denn auch Dein Vater war verarmt, noch ehe er starb, und das große Vermögen seiner ersten Frau ging auf deren einzigen Sohn über. Das verbitterte schon Deine Kinderseele. Und als dann auch Dein Stiefbruder starb, wolltest Du von seiner Witwe, die ihn beerbte, keinen Heller mehr nehmen. Du, selbst noch unerzogen, gingst schon in die Welt, andere zu erziehen. So fehlten Deinem Wesen überall die letzten weiblichen Abrundungen. Es war meine Pflicht, Dich darauf aufmerksam zu machen.«

[] »Ja,« sagte Adrienne mit jener plötzlichen Selbsterniedrigung, die zuweilen weiblichem Trotz folgt und niemals wahrhaftig gemeint ist, »ja, ich bin viel zu dumm und zu jung für Dich, und undankbar obenein.«

Er schüttelte wie in Ungeduld verzagend den Kopf.

»Vielleicht wird Dir in der langen Trennung begreiflich,« sprach er, »daß wir doch besser für einander passen und glücklicher mit einander sein können, als es jetzt scheinen will.«

Beide Gatten schwiegen einige Minuten, dann fragte Adrienne mit ermüdeter und gleichgiltiger Stimme, bis wann Arnold sein Gepäck an Bord haben müsse und ob Joachim vorher noch kommen solle.

»Nein,« entschied der Kapitän nach kurzem Bedenken, »abgesehen davon, daß wir in diesem Augenblick unnütze Ausgaben vermeiden müssen, weil ich für Dich und das Kind Umsiedlungspläne habe, zu denen Du Geld brauchst, abgesehen also davon, würde dem guten Jungen nur das Herz schwer werden, wenn er ...«

Es wollte nicht heraus, dies: »Wenn er sähe, wie frostig mein Weib mich eine Reise um die Erde antreten läßt.«

Adrienne verstand aber die unausgesprochenen Gedanken ihres Gatten. Sie wußte, daß Arnold an seinem jüngeren Bruder mit großer Liebe hing, die dieser mit abgöttischer Verehrung erwiderte. Demütig sagte sie:

[] »Du solltest ihn doch kommen lassen. Wenn Du fort bist, kann ich mich leicht noch mehr einschränken und so das Geld, was die Reise kosten wird, schnell wieder sparen.«

»Nein,« meinte der Kapitän bedrückt, »lassen wir das! Es ist mein Wunsch, daß Du während meiner Abwesenheit etwas mehr vom Leben siehst, als es bisher geschehen konnte. Du wirst meine Gage wie jetzt regelmäßig empfangen, die Kommandozulagen, welche wir auf Reisen beziehen, werden für meine Bedürfnisse genügen, Dir bleibt also, nach dem üblichen Abzug für Joachim, mein ganzer Gehalt, was sonst für mich, Dich und Baby reichen mußte, für euch allein, Du kannst Dich einigermaßen rühren.«

»O Arnold,« sagte sie traurig, »dann wollen wir doch lieber das, was jetzt weniger gebraucht wird, für Baby zurücklegen.«

»Wie Du willst,« sprach er gütig, »aber erinnere Dich, wenn Dir Wünsche erwachen, meiner Einwilligung.«

Adrienne brach zum zweitenmal in Thränen aus. »Mir sind ja doch keine Freuden bestimmt,« sagte diese heftige Thränenflut.

Arnold glaubte alles gesagt zu haben, was in dieser neuen Wendung ihres Lebens ihren Sinn zufrieden und gerecht machen konnte, und mit einem Seufzer verließ er das Zimmer. Er nahm wieder seinen vorherigen Platz an seinem Schreibtisch ein, legte sich Briefpapier zurecht und begann mit der [] Unverzüglichkeit, welche vielschreibenden Leuten eigen ist, einen Brief an seinen Bruder; kaum daß er die Unterschrift darunter gesetzt, schob er den Bogen zurück und setzte die sichere, rasche Feder auf ein zweites Blatt, zu der Anrede »Hochverehrte Frau!« Der Brief an seinen Bruder lautete:

»Mein guter Joachim!

Was wir seit einiger Zeit erwarteten, wird Thatsache werden: in acht Tagen gehe ich mit der ›Maria‹ nach den neuen Kolonien, wahrscheinlich auf zwei Jahre. Ich lade Dich nicht ein, vorher um Urlaub zu bitten, so sehr ich auch wünschte, persönlich von Dir Abschied nehmen zu können. Du verstehst meine Gründe ohne weiteres, wenn ich Dir sage, es ist mein Wunsch, daß Adrienne eine Reise mache. Leider Gottes, mein Junge, haben wir von Jugend auf gelernt, lernen müssen, uns in alles zu finden, was unsere Armut uns verbot. Freilich weigert Adrienne sich vorderhand und zeigt Neigung, in ihrer einem gewissen Trotz gegen die Verhältnisse entsprungenen Apathie zu verharren. Aber dennoch hoffe ich, daß sie, wenn nicht früher, im kommenden Sommer Fanny Förster aufsuchen wird. Du weißt, ich habe die Stiefschwägerin meiner Frau nur ein einzigesmal, gelegentlich meiner Hochzeit, gesehen, allein einen so bleibenden und bedeutenden Eindruck von ihr empfangen, daß ich von dem Verkehr mit dieser Frau eine tiefgehende Wirkung auf Adrienne erhoffe. Um Dir die [] Wahrheit zu sagen, ist meine Frau nach der Geburt unseres Jungen etwas trübselig geblieben; Blutarmut und Nervosität haben die ohnehin an ihrem Gemüt hängenden Schwergewichte noch herabziehender gemacht, und ich bin sicherlich zu ernst und zu beschäftigt, um einer so jungen, gedrückten Frauenseele die Munterkeit zurück zu geben. Ich lasse sie so allein zurück, daß mir bangt. Was kannst Du ihr schließlich sein? Ich bitte Dich wenigstens, schreibe ihr jede Woche und wirke auf sie ein, daß sie zu Fanny Förster geht, der ich noch heute in dieser Angelegenheit schreibe. Ohne allen Zweifel würde, wenn Adrienne nach Mittelbach geht, Fanny Förster Dich einladen, Deinen sonst bei uns zugebrachten Urlaub bei ihr zu verleben. Nimm das ohne Zögern an, Du kannst es, denn auf Mittelbach wird eine so große Gastfreundschaft geübt, daß ein Besuch mehr oder weniger im Jahr nicht ins Gewicht fällt. Adrienne hat in ihrem Herzen jene unpersönliche und doch so persönlich wirkende Verstimmung gegen Fanny Förster, wie arme Verwandte es so oft gegen die nächste Familie hegen, wenn diese reich ist. Kämpfe damit, besiege das, steh ihr im Geiste bei gegen sie selbst.

Adrienne wird Dir Deinen Monatszuschuß, wie gewohnt, an jedem ersten schicken. Sollte ihr oder unserem Kind etwas ankommen, nimmst Du Urlaub und eilst zu ihr. Zu diesem Zweck lege ich hier eine längst dafür ersparte Summe bei.

[] Leb wohl, mein Junge! Ob wir uns wiedersehen, weiß Gott allein. Aber denke nur an mich in Liebe und Freudigkeit, Joachim, denn das kannst Du. Hier zum Abschied will ich's Dir sagen, daß ich es voll anerkenne und achte, wie Du Dich durch Dein junges Leben wacker geschlagen hast und tapfer an den Versuchungen rechts und links vorbeigingst. Das ist nicht leicht, ich weiß es, denn ich habe es auch durchbeißen müssen. Oft habe ich es bereut, daß ich Dich Landwirt werden ließ, denn bei unserer Vermögenslosigkeit ist keine Aussicht, daß Du zu Eigenem kommst, außer durch eine reiche Heirat, und diese, wenn sie nicht durch tiefste Herzensneigung bestimmt ist, widerrate ich Dir ernstlich. Bleibe, was Du warst: ein Herebrecht, das heißt ein Mann von Ehre. Und wenn ich nicht mehr heimkomme, mache meinen kleinen Joachim auch dazu. Hab mein Weib, Deine Schwester, immer lieb, wenn nicht aus eigener Wahl, so doch um meinetwillen. Im Leben und im Tod Dein Arnold.«

Und an Fanny Förster hatte er dann folgendes geschrieben:

»Hochverehrte Frau!

Obschon unser ganzer Verkehr sich auf den Austausch von Glückwünschen beim Jahreswechsel und Geburtstagen beschränkte, ein lockerer Verkehr, der nur etwas lebhafter wurde durch die herzliche Teilnahme, welche Sie meiner Frau nach der Geburt des kleinen Joachim bezeigten, richte ich doch eine Bitte an Sie. [] Nicht weil Sie die einzige Verwandte meiner Frau sind, sondern weil ich erkannt zu haben glaube, daß Sie mehr Verständnis für Situationen und Charaktere haben, als andere Frauen aufzubringen vermögen, bitte ich Sie, nehmen Sie Adrienne für die Zeit meiner Abwesenheit in Ihren Lebenskreis auf. Ich gehe mit der ›Maria‹ nach den Kolonien, es kann zwei Jahre dauern. Sie wissen, daß Adrienne sich innerlich dagegen auflehnte, Ihren verstorbenen Gatten oder Sie zu lieben. Sie wollte nicht dankbar sein. Aber nun, da Adrienne, wenn auch nur die Gattin eines armen Kapitäns, doch immerhin selbständig ist, nun mögen sich leichter freundliche Beziehungen zwischen Ihnen anbahnen. Keineswegs möchte ich Ihnen das Wagnis zumuten, Adrienne in Ihr Haus aufzunehmen; meine Frau würde eine so lang dauernde Gastlichkeit doch wieder als Almosen empfinden. Aber ich denke, in der Nähe Ihres Gutes mag es irgendwo ein Häuschen oder in einem Pfarrhause ein paar Zimmer geben, wo mein Weib sich mit Kind und Dienerin einmieten kann. So ist sie doch in Ihrem Kreise und wird Ihrem Wesen nahe kommen. Vielleicht auch ergründen Sie, hochverehrte Frau, was es ist, an dem Adriennens Gemüt krankt. Ihnen will ich nicht verhehlen, daß sie von einer Unzufriedenheit niedergedrückt ist, die unmöglich allein aus dem Umstand kommt, daß wir in höchster Sparsamkeit leben müssen. Ich übergebe Ihnen mein Weib in dieser ernsten Stunde. Wenn [] irgend ein mal in unvorherzusehenden Angelegenheiten Adriennens ein männlicher Rat und Beistand nötig sein sollte, so ist es mein Bruder Joachim, der für sie eintritt.

In acht Tagen reise ich; ich weiß, es wird mit der Erleichterung sein, daß ich vorher Ihre Zusage erhielt. Oder wenn Umstände, die ich respektiren würde, auch ohne daß Sie mir dieselben erklären, Ihnen Adriennens Aufenthalt in Mittelbach nicht ratsam scheinen lassen, so werden Sie mir doch einen bessern Rat, als ich mir selbst wüßte, in Bezug auf Adrienne zu geben wissen. Ich grüße Sie in tiefer Verehrung als Ihr ergebener

Arnold von Herebrecht.«

Der Kapitän fühlte eine gewisse Erleichterung, nachdem er die beiden Briefe zur Post getragen hatte. Seine Gedanken, die beinahe nur verstohlen bei der Reise selbst zu verweilen gewagt hatten und sich bisher ausschließlich mit den Zurückbleibenden beschäftigten, eilten froh vorwärts. Herebrecht war seinem Beruf mit einer ernsten Leidenschaft ergeben; er empfand diesen Reisebefehl als freudige Auszeichnung und gehörte überhaupt zu den Menschen, die von einem Unmut gegen sich und die Welt befallen werden, so lange sie einen Teil ihrer Kräfte nicht bis zur höchsten Leistungsfähigkeit anspannen dürfen. Jede neue Aufgabe bringt solchen Naturen eine ihnen sonst nicht eigene Art der Jugendfreudigkeit; Adrienne, die im sinkenden Februarabend noch an ihrem Fensterplatz saß, [] über trostlosen Gedanken brütend, war nicht wenig erstaunt, den Gatten bei seiner Rückkehr ein bekanntes Seemannslied vor sich hinpfeifen zu hören. Es war das erstemal, daß sich eine innere Fröhlichkeit bei ihm laut äußerte.

Adrienne wollte eine bittere Bemerkung machen, aber ihr Herz schlug in schmerzlicher Aufwallung so heftig, daß ihr die Worte versagten.

»So, mein liebes Kind,« sagte er, sich in eine Sofaecke setzend, »an Joachim und Fanny Förster habe ich geschrieben.«

»Warum denn an Fanny?«

»Komm hierher. Wir werden nicht lange mehr beisammen sitzen, laß uns ein Wort vernünftig sprechen,« bat der Kapitän mit einem gemütlichen Tonfall der Rede, der ihr auch neu war; aber die Wendung, »ein Wort vernünftig sprechen«, kannte sie bis zum Ueberdruß, es hieß für sie »eine Strafpredigt«.

»Wenn man seine Frau auf zwei Jahre verläßt,« dachte Adrienne, ihre Augen dem Stückchen bleigrauen Himmels zuwendend das oben über den Nachbarhäusern zu sehen war, »wenn man geht, vielleicht auf Nimmerwiederkehr, spricht man von Jammer, von Verzweiflung, aber gewiß nicht ein ›vernünftiges‹ Wort.«

»Du antwortest nicht? Du kommst nicht?« fragte er sanft.

»Laß nur,« murmelte sie, »ich höre ja auch hier.«

»Seltsames Weib!« dachte er; »eine andere würde[] sich jammernd an ihren Gatten schmiegen. Sie bleibt steif und stumm am Fenster sitzen.«

»Warum nimmt er mich nicht in seine Arme und zieht mich so mit Gewalt an seine Seite?« dachte sie; »ach, ihm liegt nichts daran.«

Nach der Pause von Minuten, während welcher der schnell hereinbrechende Abend alles im Zimmer schwarzgrau umdüsterte, fragte Adrienne:

»Nun – Du wolltest ja ein vernünftiges Wort mit mir sprechen?«

»Ja, ich wollte Dir die Vorteile für Dich auseinandersetzen, die Dir eine Uebersiedlung nach Mittelbach, in Fannys Nähe brächte.«

Das Mädchen trat mit der Lampe ein, stellte sie auf den Tisch und sagte, während sie die Alabasterschale zum Piano trug:

»Der Kleine schreit, soll ich ihm noch einmal die Flasche geben?«

»Laß nur,« antwortete die junge Frau, »ich thu' es selbst.«

Sie erhob sich. Ihre mittelgroße, überschlanke Gestalt bewegte sich in schlechter Haltung, wie die jemandes, der sehr ermüdet und ganz widerstandsunfähig ist. In der Thür wandte sie sich halb um und sagte über die Schulter weg:

»Mache Dir keine Mühe; ich gehe nicht zu Fanny.«

Das war nicht der Ton, in dem eine Frau widerspricht, die sich streiten will. Es war der [] Ton, den nur innere Unmöglichkeit findet. Herebrecht seufzte.

»Die Apathie ist die Willensform der Schwachen,« murmelte er vor sich hin, »sie ist schwerer zu brechen als alle Heftigkeit des Denkens und Handelns.«

Er beschloß, lieber nicht mehr auf diesen Punkt zurückzukommen, sondern der Einsamkeit und den Briefen Joachims und Fannys überredende Kraft zuzutrauen.

Nach drei Tagen kam von Fanny Förster eine Antwort, sie mußte unverzüglich abgefaßt sein, denn das Gut Mittelbach lag in der Mark Brandenburg, zwei Stunden von der nächsten Eisenbahnstation entfernt; die Postbeförderung geschah nur einmal täglich, so brauchte jeder Brief, wie Arnold aus Erfahrung wußte, anderthalb Tage. Die Schnelligkeit der Antwort erfreute ihn, die Kürze derselben, als er dann das Couvert öffnete, befremdete ihn aber.

»Lieber Herebrecht, ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. Schicken Sie mir nur Adrienne, wann und so lange sie will.

Ihre Fanny Förster.«

Das war alles. Herebrecht ging an seinen Schreibtisch, in dem auch seine Frau die wenigen Briefe verwahrte, die sie in ihrem Leben überhaupt bekommen hatte oder noch bekam. Da waren die Briefe Försters, des verstorbenen Stiefbruders, so wenige an der Zahl, daß man wohl sah, Förster hatte nur an die kleine Stiefschwester geschrieben, wenn vierteljährlich das Pensionsgeld eingezahlt werden mußte. Da waren auch Fannys [] Briefe – ein ganzes Paket. Herebrecht löste das umschließende Band und nahm Brief um Brief in die Hand.

Die ersten, sehr langen Briefe, von der damals achtzehnjährigen Braut Försters an dessen elfjährige Schwester gerichtet, waren inhaltlich viel zu hochgespannt, verworren und phantastisch für das empfangende Kind gewesen, strömten aber von dem leidenschaftlichen Wunsch über, die Kleine in Liebe zu gewinnen. Jahr um Jahr ging die Korrespondenz fort, Brief um Brief ward klarer, gefaßter, kürzer. Diese Briefe brachten Arnold, der durchaus nicht die Neigung zu bildlichen Vergleichen hatte, dennoch auf eine seltsame Vorstellung: ihm war's, als sähe er eine ganze Schar verschiedener Gestalten auf einer schnurgeraden Allee dahinwandern und sich in der wachsenden, perspektivischen Entfernung mälich zu einer einzigen verschmelzen. Und obschon Fanny Förster in diesen Briefen niemals ein Wort von ihrem Innenleben verlor, soweit wenigstens es von Freuden oder Schmerzen etwa berührt gewesen sein mochte, so ließ sich doch aus all den schriftlichen Aeußerungen ein Schluß auf eine selten gesunde, kraftvolle und zielsichere Charakterabrundung machen. Und so erschien, da seit Jahren Fanny niemals ein Wort mehr als das Wesentlichste geschrieben, auch dieses letzte kurze Briefchen nicht mehr befremdend.

»Die Frau sieht auch nicht aus, als ob sie viel weine oder viel grüble; sie sieht nach Thaten aus,«[] dachte der Kapitän und blätterte sich in einem Album das Bild Fannys auf, um es lange zu betrachten.

Beim Mittagessen dieses Tages legte er seiner Frau schweigend das Briefchen hin. Diese las es, ohne eine neuerliche widerstrebende Bemerkung zu machen; daß Fanny nicht viel bat und überredete, war ihr eine beruhigende Empfindung.

Und so kam der Tag der Abreise heran. Das Leben im Hause zwischen den Gatten war bis zur letzten Stunde das gewohnte, schweigsam bedrückte gewesen. Der Kapitän war obenein in erhöhter Weise beschäftigt, teils dienstlich auf der sich zur Afrikareise rüstenden Korvette, teils mit der Ordnung seiner Papiere und seinen literarischen Beziehungen. Er suchte und fand ein großes Blatt, dem er Reisebriefe senden konnte. Diese Nebenbeschäftigung des rastlos thätigen Mannes galt der Sorge für sein Kind, für dessen Erziehung er schon jetzt alles zusammenzusparen begann, was seine Feder ihm einbrachte. Adrienne bemerkte auch, daß ihr Gatte jetzt öfter sinnend an der Wiege des kleinen Weltbürgers stand, schweren Ernst im Gesicht. Sie zwang sich, keine Notiz davon zu nehmen. Aber einmal, es war am vorletzten Tag, als der Kapitän lange stand und in die dunklen, schönen und gleichwohl des lichtesbewußten Ausdrucks noch entbehrenden Kinderaugen sah, schaute Adrienne doch zu ihm hinüber.

Arnold hatte seine Hand sorgfältig auf das haarlose [] Köpfchen gelegt. Er seufzte tief. In seinen Augen war ein feuchter Schimmer. Es war das erstemal, daß Adrienne in diesen ernsten Augen Rührung sah. Ihr Blick verdunkelte sich, ihr Herz klopfte.

»Mein Sohn!« sagte Arnold leise. Und dann wie zu sich selbst lauter: »Kinder brauchen viel Herzenswärme.«

Dann ging er schnell hinaus. Sein Weib verstand, was die Betonung auf »Kinder« sagen sollte – es hieß: sie können sich nicht wie ein Mann ohne Herzenswärme behelfen. Ein Vorwurf, wieder ein Vorwurf, immer Vorwürfe und nie die Erkenntnis, daß er kein Echo verlangen könne, wo er keinen Ruf ergehen ließ. Sie weinte – es waren die selbstbetrügerischen Thränen einer sich verkannt und nicht geliebt glaubenden Frau.

»Nun, so lebe denn wohl,« sagte der Kapitän am nächsten Morgen, »die Stunde ist da, ich gehe. Gott beschütze euch mir, daß ich Dich und unser Kind wiederfinde, wenn ich heimkehre.«

Er war sehr bleich und drückte die Hand seiner Frau mit schmerzhafter Festigkeit. Adrienne war keines Wortes mächtig.

»Und wenn er sprechen lernt ... lehr ihn auch Papa sagen,« flüsterte er.

Sie nickte heftig. Er umfaßte sie lange, innig. Auf ihre Stirn rann die Thräne eines Mannes. Sie erschauderte. Eine unendliche, fassungslose Bewegung ergriff sie, ihre Lippen lallten. Aber erst. als er schon, sich hastig dieser Qual entreißend, an [] der Thür stand, kam der Ruf »Arnold!« aus ihrem Munde. Es war ein Ruf höchster Angst. Er eilte zu ihr zurück, er umfaßte sie noch einmal, und sein Gesicht an ihr Haar drückend, flüsterte er:

»Versuche, daß Du mich doch noch lieben kannst.« Dann riß er sich wieder los. Eine Thür fiel ins Schloß, ein Schritt verklang im Korridor, und alles war stumm. Adrienne stand erstarrt. Thränen rannen ihr unbewußt aus ihren weit geöffneten Augen, dabei hatte sie das Gefühl, als könne sie nicht weinen.

»Ich will an die Landungsbrücke gehen,« murmelte sie vor sich hin.

Langsam kleidete sie sich für den Ausgang an. Durch den kühlen Februarmorgen schritt sie dem Quai zu; je näher sie dem Hafen kam, um so mehr fand sie sich im Gedränge von Menschen, die dem gleichen Ziele zustrebten. An der Landungsbrücke zeigte es sich, daß diese gesperrt war, da von ihr aus noch durch eine kleine Dampfbarkasse ein letzter Verkehr mit der Korvette stattfand. Adrienne dachte nicht daran, sich als Offiziersgattin bei den wachthabenden Leuten zu melden, um auf der Brücke, wo schon einige andere Damen standen, gleichfalls einen Platz zu finden. Sie blieb im Gedränge eingekeilt stehen; ein dicker alter Mann hinter ihr, der um jeden Preis vorn am Quairand stehen wollte, weil er einen Sohn dabei habe, wie er jedermann erzählte, drängte und drängte und stieß Adrienne dergestalt mit sich fort, daß sie sich [] endlich neben dem pustenden und schimpfenden Alten hart am Eisengitter des Quais befand.

Zu ihren Füßen schob sich glitzernd Welle um Welle vorbei. Die weite Fläche der Meeresbucht, die sich am Ende der Stadt zum Hafen abrundet, war von zahllosen Fahrzeugen belebt; kleine Dampfer schossen vom Kieler Ufer nach den Schiffswerften von Gaarden und nach dem Fischerdorf Ellerbeck hinüber. Schwarze Kähne mit geblähten rostbraunen Segeln kreuzten meerwärts; zwischen den Kolossen der Kriegsschiffe verkehrten Boote und Barkassen, mit Matrosen bemannt; weit aus der Stirn trugen diese die dunkelblauen Mützen mit dem breiten Randreifen, darauf zu lesen stand: »Kaiserliche Marine«; von ihrem tief entblößten braunen Halse fiel der blaue, weiß umsäumte Kragen. Und mitten in dem eiligen Leben auf der stahlblau schimmernden Fläche lag die Korvette. Von ihrem Hauptmast wehte das Heimatwimpel, aus ihren Schloten wölkte sich schwarzbrauner Rauch auf, den ein Windstoß zuweilen mit widrigem Kohlendunst landwärts über den menschenbesäten Quai niedersenkte. Hüben und drüben lagen die hügelartig ansteigenden Ufer im kühlen Lichtglanz der Sonne, und dort links hinunter sah das Auge eine blaue, uferlose Ferne sich in einem blauen, leicht umdunsteten Horizont verlieren.

Nun scholl von Schiff zu Schiff ein Kommandosignal, Dampfpfeifen kreischten auf. In den Raaen [] der stationirten Kriegsschiffe ward es lebendig wie in einem Spinnennest. Unzählige schwarze Gestalten kletterten darin umher, bis plötzlich auf ein neues Kommando Mann an Mann dort auf den Tauen in strammer Linie stand, als wäre der feste Boden unter ihren Füßen. So, im lebendigen Ehrenschmuck der Matrosenreihen in ihrem Tauwerk, erwarteten die Schiffe die Abfahrt der Maria. Wieder zerriß ein hohler, langgedehnter Pfiff die Luft – ein Ton, der die Menge am Ufer verstummen machte und für tausend Herzen wie ein Weheruf erklang.

Die Korvette schien sich zu bewegen. Atemlose Spannung erfaßte die Menschen, die zuschauend standen. Da sank, langsam wie in wehmutsvollem Hinscheiden, das Heimatwimpel von seiner stolzen Höhe herab; noch einmal wellte sich der lange Stoffstreifen in der Luft aus, dann glitt er, im Fall sich ballend, am Seil hernieder. Und zugleich sauste stolz, frei die deutsche Flagge empor, und nach scharfem Blitz vom Nachbarschiff donnerten die Salutschüsse über die Bucht, von Ufer zu Ufer widerhallend. Das hohle Krachen verschlang die Abschiedspfiffe der Maria. Langsam und groß fuhr das Schiff davon. Die Matrosen in den zurückbleibenden Schiffen, das Volk am Ufer – alles schwenkte Hüte, Mützen, Tücher. Aus thränengepreßten Kehlen schrieen Tausende Hurra und vermischten das Geschrei mit den Klängen der Nationalhymne, die eine Militärkapelle am Ufer spielte. Ein [] unermeßlicher Lärm erfüllte eine Minute lang die Lüfte, das Leid, die Freude, den Stolz, die Angst des Einzelnen verschlingend und sich doch vermählend zu einem Ruf, der ins Weltmeer und über alle Lande hinausdonnerte, den die deutsche Flagge da auf dem Ozean predigen wollte: »Mit Gott für König und Vaterland!«

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Zweites Kapitel

Adrienne war zum erstenmal in ihrem Leben einsam. Ihre frühe Jugend war in einer geräuschvollen Pension verflossen; inmitten der lärmenden Gefährtinnen hatte sie sich allein gefühlt. Ihre jungen Mädchenjahre verlebte sie in vornehmen Häusern als Gesellschafterin oder Erzieherin; auch da umgab sie sich mit einer unsichtbaren Mauer und glaubte sich allein, wie sie denn auch fortfuhr, ihr Wesen abzuschließen, sogar noch in der Ehe. Diese Art selbstgeschaffener Einsamkeit, die sie aus Trotz künstlich sich aufrecht erhielt, war ganz verschieden von dem ungestörten Alleinsein, zu dem sie sich jetzt gezwungen sah. Sie konnte ihre Bitterkeit nicht damit sättigen, daß sich der nebenan arbeitende Gatte nicht um sie bekümmerte. Sie konnte niemand auf eine etwaige freundliche Bitte antworten: »Ich danke, ich mag nicht unter so viele Menschen gehen;« es forderte sie eben niemand zu einem Spaziergang, einem Theaterbesuch, einer Ausfahrt auf. Sie brauchte ihr innerliches Alleinsein von keiner Umgebung mehr abzutrotzen.

[] Die Magd, eine gutmütige, beschränkte Person, waltete ihres Amtes als Köchin und Kindswärterin zugleich in tadelloser Gewissenhaftigkeit. Das Kind lebte sein junges Pflanzendasein in gesunder Regelmäßigkeit weiter, das heißt, es schlief mehr als den halben Tag und ließ sich in seinen wachen Stunden umhertragen, wobei es sich die Welt mit ganz verständnislosen Augen ansah. Neben dieser geringen Arbeit war die sehr vereinfachte Küche bald besorgt. Auch schien es den beiden Frauen nicht der Mühe wert, für sich, in Abwesenheit des Herrn, viel zu kochen. Adrienne fing an sehr schlecht zu leben und der Magd die ganzen Küchenbestimmungen zu überlassen, welche diese nach ihren dörflichen Heimatgewohnheiten traf.

Adrienne versuchte es, sich mit dem Kinde zu beschäftigen. Es war ein Vierteljahr alt und begann eben erst zu lächeln, ein Lächeln, welches natürlich bloß physischem Behagen entsprang. Adrienne hatte es sich anders gedacht, »ein Kind zu haben«. Die schönen Redensarten, welche sie in Büchern gelesen und von Frauen gehört, die mit der Mutterliebe kokettirten, von dem ausfüllenden, entzückenden Glück, welches der Besitz eines Kindes gibt, schienen ihr erlogen. Dieses kleine Menschenwesen bedurfte nur einer rein körperlichen Pflege, das Kind hatte seine Mutter, die Mutter hatte das Kind noch nicht in geistigen Besitz genommen, und dieser allein ist es, der Seelenfreuden und Seelensorgen gibt. Wohl ergriff auch ihr[] Herz bange Furcht, wenn das Kind je zuweilen unruhig oder fieberhaft war, das aber sind die mütterlichen Instinkte, die auch dem Tier nicht fehlen. Manchmal träumte sie sich voraus, in die Zeiten, wo aus dem schlummernden Bündelchen ein denkender Mensch, ein Mann geworden sein würde. Dann ward ihr Herz ergriffen von den bangen und seligen Ahnungen der Mutterlasten. Sie erschauerte unter dem Bewußtsein der tödlich ernsten Pflichten, die ihr denkendes Kind ihr auferlegen würde; sie sah ihren Sohn im voraus als guten, bedeutenden Menschen oder als mißratene Frucht am Baum des Lebens. Sie schlief nächtelang nicht aus Sorge um ihres Kindes Zukunft; sie kämpfte mit ihrem Sohn, sie lobte ihn, sie weinte um ihn, fühlte allen Stolz einer glücklichen, alle Schmach einer unglücklichen Mutter.

Und dann hielt ihr die Gegenwart nichts entgegen als ein kleines, dummes, unerwachtes Lebewesen, das sich in den Armen der sorglichen, mit Kindern vielgewandten Magd behaglicher fühlte als in den zarten, unsicheren Händen der Mutter.

»Nein,« sagte sie sich dann, »das Schönfärben hilft hier nichts: ein so kleines Kind ist nur eine Versprechung auf die Zukunft, und mit Versprechungen füllt man ein einsames Herz nicht aus.«

Adrienne war an eine rastlose Thätigkeit gewöhnt. Sie hatte immer fleißig sein müssen, in der Pension, bei fremden Leuten, in ihrer Ehe, denn Arnold sprach[] viel von dem sittlichen Wert aller Arbeit, auch der Frauenarbeit, was Adrienne als Mahnung zur Unermüdlichkeit aufzufassen sich verpflichtet glaubte. Weil nun so ihre Thätigkeit immer einem gewissen Zwang entsprossen war, hatte sie sich schon von Kindheit an gewöhnt, alle Erholung heimlich zu suchen. In der Pension hatte sie gleich den anderen Mitschülerinnen heimlich gelesen; in ihrer dienenden Stellung verbarg sie ebenfalls die Neigung; als Frau hatte sie verstohlen in ein Buch geguckt, wenn Arnold und die Magd ausgegangen waren. Nun hörte mit dem Zwang allmälich auch die Thätigkeit auf. Die immer fleißige Nadel wurde seltener und seltener eingefädelt, aber da niemand ein Verbot oder nur eine Frage über das Lesen an Adrienne richtete, nahm sie auch kein Buch mehr zur Hand.

Die Inhaltlosigkeit der Tage und die geringe Nahrung steigerten die Nervenerschlaffung der jungen Frau bis zur brütenden Schwermut.

»Ich möchte sterben,« sagte sie eines Abends laut vor sich hin.

Der einzige Tag, der neues Leben brachte, war der Sonntag. An diesem traf, seit Arnolds Abreise, regelmäßig ein Brief von Joachim und einer von Fanny Förster ein. Joachim war kein Federheld; seine Briefe erzählten in einem ungeschminkten, etwas bummeligen Ton allerlei kleine Erlebnisse aus seinem gesellig bewegten Landleben, von denen er immer die Befürchtung aussprach, daß sie Adrienne langweilen[] möchten. In der That hatte sie auch keinerlei Teilnahme für seine Berichte als die des Neides, der die reicheren Lebenserscheinungen in einem andern Dasein gegen die Armut derselben im eigenen hält.

Für diejenigen, welche der Welt absterben, ist Neid der letzte Faden des Zusammenhaltens, der erste, um wieder anzuknüpfen.

Fanny Förster schrieb nur immer kurz: »Wann kommst Du? – Was macht Dein Kind? – Schreibt Dein Mann, und was?« Auf diese immer verschieden, aber immer knapp eingekleideten Fragen antwortete Adrienne zuerst: »Vielleicht – im Sommer – oder zum nächsten Winter,« und endlich – es waren inzwischen acht Wochen seit Arnolds Abreise vergangen – »ich komme nicht, ich tauge nicht unter Menschen.«

Darauf schrieb Fanny Förster nicht mehr. Aber das bemerkte Adrienne nur am ersten Sonntag. In ihre Verlassenheitsekstase war eine neue Wendung getreten. Ein Brief von Arnold, der erste, lange Brief, war die unmittelbare Veranlassung dazu geworden. Der Kapitän beschrieb die Reise des Schiffes, welches zur Zeit, da er den Brief verfaßte, in Alexandrien vor der Rhede lag. Er erzählte so klar, gefällig und doch gründlich, als sei der Bericht für eine Zeitung bestimmt. Als er von sich und seiner Reise alles Bemerkenswerte mitgeteilt, ging er zu Adrienne und ihrer Einsamkeit über. Er war zu nüchtern und einsichtsvoll, um die Tage seines Weibes durch das [] Mutterglück ausgefüllt zu denken; alles, was in dieser Richtung jetzt in Adrienne unter schweren Grübeleien vorging, war für ihn, den Mann, eine einfache und selbstverständliche Thatsache. Er berührte diesen Punkt, ohne zu ahnen, daß er ihr schon zu denken gegeben; er berührte ihn, um sie auf ihre Pflicht zu verweisen, sich schon jetzt für die Zukunft vorzubereiten.

»Man muß seinen Kindern so viel geben, als man im Vermögen hat. Wir können unserem Sohn sehr viel mehr geben, als tausend andere, an Gütern Reichere im stande sind. Wir besitzen eine Bildung des Geistes, die uns gestattet, auch unserem lernenden und erkennenden Sohn noch überlegen zu bleiben. Die fortschreitende Zeit wird freilich auch uns nicht den traurigen Augenblick ersparen, wo wir unser Kind reifer, gebildeter und vielleicht anspruchsvoller sehen, als wir es selbst sind; aber diesen Augenblick weit, weit hinaus zu schieben und ihn dann von der pietätvollen Erinnerung unseres Sohnes, daß er uns auch geistig alle Fundamente danke, übergoldet zu sehen, das sei unser Bestreben. Werde Du seine erste Lehrerin; ich rüste mich, sein Mentor zu werden, wenn er Deinem Anschauungskreise entwächst. Zu dem Zweck bitte ich Dich, alle Disziplinen, welche Du in Deinem Lehrerinnenberuf üben mußtest, fortzubilden, Dir das Neue anzueignen, wo es gut ist, Dich auch insbesondere mit den modernen Sprachen zu beschäftigen. Dieses wird zugleich Deine einsamen Tage [] nützlich und sittlich ausfüllen und Dir innere Zufriedenheit geben.«

Adrienne lächelte herbe. Anstatt von Sehnsucht nach Weib und Kind zu sprechen, sandte er ihr vom Bord des Schiffes aus noch Ermahnungen. Das war so seine Art. Aber der stumpfe Gehorsam war Adrienne zur Gewohnheit geworden. Und in der Wollust, aus dem Beschäftigungsrat ihres Gatten eine Quälerei für sich zu gestalten, suchte sie sich zur Uebung dasjenige aus, was ihr in der Schule und als Lehrerin die größten Mühen und Aergernisse gemacht, nämlich das Französische. Sie hatte kein Sprachtalent, und obwohl sie mit einem sich oft bis zur Verzweiflung steigernden Fleiß vollkommen die grammatische Seite der Sprache beherrschen gelernt hatte und fließend las, war ihr das Sprechen und Lehren doch immer eine unendliche Schwierigkeit gewesen.

Sie beschloß, sich einige französische Bücher laut zu lesen und zu übersetzen. In Arnolds Bibliothek fanden sich keine vor. Sie schickte die Magd mit einem Zettel zur nächsten Buchhandlung.

Als die Magd mit dem Baby auf dem Arm im Laden den Zettel abgab, in welchem Frau Kapitän von Herebrecht einige neue französische Bücher forderte, sagte sich der Commis, daß eine junge Offiziersdame mit dem »neu« ohne Zweifel »pikant« gemeint habe, und packte einige Bücher von Belot, Gyp und Guy de Maupasant ein, nicht ohne auf der begleitenden Nota den [] Vermerk zu setzen, daß die neue wohlfeile Ausgabe von Zola, oeuvres complètes, durch sie zu beziehen sei.

So kam Adrienne zu Büchern, zu einer Lektüre, von deren Dasein sie bisher keine Ahnung gehabt. So schlugen zum erstenmal die Laute aus einer verruchten, zerfallenden Kultur an ihre streng verschlossen gewesenen Ohren. Kein Warner war zugegen, der ihr das erste Staunen, das erste Erröten hätte deuten und ihr sagen können: »Das ist die durch Neugier gemilderte Entrüstung – erkenne dies Gefühl und laß von diesen Büchern ab.«

Die peinliche, schamhafte Neugier wandelte sich schnell in ein Gefühl brennender, fast schmerzlicher Spannung. Die Begier, immer weiter sich die Schleier heben zu sehen von Seiten des Lebens, bis zu denen sich nicht einmal ihre Phantasie verirrt gehabt hatte, ergriff ihre ganze Seele. Sie las und las. Bis zum Morgen brannte das Licht vor ihrem Bette. Das Geschrei des Kindes, die Fragen der Magd wurden zu Störungen.

Die Dezenz des Lasters erscheint den Lasterhaften als der Ersatz für wohlanständige Formen, für die verlorene Sittlichkeit – die Phantasien eines Unschuldigen und bisher auch Unwissenden gehen in das Riesengroße, Unfaßliche und suchen hinter dem, was ihm bekannt wird, noch immer Schrecklicheres.

Adrienne zitterte, als seien die Sünden der Welt auf sie gefallen. Sie krankte an der Furcht, daß dies [] alles Wahrheit sei, und an der Gier, zu erfahren, ob hinter der Wahrheit noch eine andere, noch unmenschlichere sich verberge.

Von den durchlesenen Nächten, von steter Spannung aller Nerven wurden ihre Wangen noch schmäler, ihre Augen leuchtender. Kaum nahm sie sich Zeit, sich sorgsam anzukleiden, ja, sie scheute vor dem Spiegel zurück, denn einmal, als sie, ihr schönes Haar kämmend, den zarten weißen Arm erhob, dachte sie: »Wer freut sich daran?« und bebte vor Scham wegen dieses Gedankens.

Einmal an einem der ersten Tage des Mai, der sich mit einer üppigen Schönheit über den deutschen Norden ausbreitete, wie man ihn in dieser Zone selten genießt, einmal versuchte Adrienne, den Folterqualen zu entrinnen, unter denen ihr Wesen bebte. Sie warf das Buch von sich und eilte in die Natur, um in ihre erhitzte Brust reine, frische, weite Atemzüge zu ziehen. Ihr Auge war scheu, ihr Fuß unsicher, sie kam sich vor wie aus einer Haft entlassen und doch noch nicht genug gestraft.

Am Ufer der Kieler Bucht standen jetzt die Buchen des Gehölzes von Düsternbrook im jungen Laube. Der Sonnenschein rann durch das noch gelbliche und undichte Blattwerk, so daß die Wege von Licht- und Schattenflecken unruhig gemustert schienen. Rechts vom Wege, vor der steil abfallenden Uferböschung und zum Teil sich an dieser terrassenförmig niedersenkend, [] befanden sich Gärten und vorn an der Straße in diesen weiße Landhäuser. Das Wasser blitzte in der Tiefe auf. Es war eine Wonne und eine Pracht in dem Bild und in der von Syringenduft durchsättigten Luft, daß Adrienne sich von den Wundern des Frühlings wie betäubt fühlte. Wie selig mußten heute die Menschen sein, die liebten und mit einem frohen Genossen den Durst ihrer Herzen ganz stillen konnten. – Ein Bataillon kam mit klingendem Spiel die Wald-und Villenstraße herabgezogen. Vorauf zahllose Jungen, zu seiten mitmarschirende, lachende Menschen. Adrienne stand auf dem Bürgerstiege still.

Die Trompeten schmetterten, die Trommel dröhnte, vom Glockenspiel, das, mit rot-weißem Pferdehaarbusch geschmückt, hinter dem Tambourmajor getragen wurde, fielen einzelne Silbertöne wie Schmuckperlen in die Flut der Töne. Die Militärmusik spielte einen bekannten, sehr flotten, sehr übermütigen Marsch. Die geheimnisvolle Macht, die eine schmetternde, frohe Weise über ein wundes Herz hat, zeigte sich auch hier wieder. Da werden plötzlich tausend unbestimmte Wünsche wach, da fließt jede ungestillte Sehnsucht der Seele in einer unendlichen Wehmut zusammen, da durchwallt das müde Blut ein Bedürfnis nach ungewohnten, berauschenden Freuden. Zu viel, zu viel! Adrienne fühlte ihr Herz zerreißen. Sie stand und horchte gierig den verhallenden Klängen nach und floh dann durch die Straßen heim.

[] Das Leben war ihr verschlossen – so wollte sie wenigstens ihr Gehirn mit den Erzählungen aus demselben betäuben. Zurück zu den Büchern!

Zu Hause lag ein Brief von Joachim auf dem Tisch. Sie schob ihn fort – er machte ihr Unbehagen. Sie dachte daran, daß auch Joachim ein Mann sei, und schauderte in krankhafter Abneigung.

Es war Mittagszeit. Adrienne setzte sich und löffelte mit der Rechten ihre schlechte Wassersuppe aus, während ihre Linke einen französischen Roman hielt, auf dessen Seiten sie eben die frivole Beschreibung eines Champagnerdiners las. Ihre Wangen glühten. In ihrer Seele regte sich, tief, dunkel, wie in gesunde Menschenseelen sich die Sünde schleicht, eine fürchterliche Empfindung: die des Neides auf jene Weiber, von denen sie las. Und dabei dehnte eine unermeßliche Angst ihre Brust. Alle ihre Nerven waren angespannt wie zu einer Katastrophe.

In diesem schwülen Augenblick trat die Magd ein. Adrienne erschrak so, daß sie krampfhaft aufschrie.

»Draußen ist eine Dame,« sagte die Magd.

Adrienne starrte sie mit offenem Mund an. Da erhob sich im Korridor eine sonore, frohe Stimme und rief:

»Ich bin es!«

Adrienne kannte die wohltönende Altstimme nicht, aber sie schrie zum zweitenmal auf, als die Dame nun in der Thür erschien.

[] Es war Fanny Förster. Und es war, als hätte jemand in einer dunklen Stube plötzlich Licht gemacht.

Fanny breitete die Arme aus, und die unglückliche Frau rettete sich hinein wie in einen Hafen, schmiegte sich an Fanny, als stände hinter ihr jemand, der sie wieder in einen häßlichen Sumpf zurückreißen wolle.

»Armes Kind!« sagte Fanny; »ich dachte mir so was.«

Dabei ging ihr Auge über die Wassersuppe und das sonnenlose Zimmer hin.

Adrienne bebte so heftig, daß Fanny sie liebevoll zum Sofa führte, wo sie sich in eine Ecke warf, das Gesicht an den Polstern verbergend. Fanny hob unterdes den herabgefallenen französischen Roman auf, sah hinein, blickte kopfschüttelnd auf Adrienne und klappte das Buch zu. Dann trat Fanny vor den Pfeilerspiegel und nahm ihren schleierumwundenen Reisefilzhut ab.

Sie strich mit ihren weißen, wohlgeformten Händen den welligen Scheitel hinunter, doch erwies sich die Bemühung, das glanzlose, lockere Blondhaar zu glätten, als nutzlos; es war immer ein wenig rauh bis in den dicken Knoten, der in klassischer Weise über dem schlanken Nacken saß. Fanny Förster hatte ein Gesicht mit großen Zügen: eine gebogene Nase, eine breite Stirn, einen großen Mund mit herrlich gezeichneten Lippen und wundervollen Zähnen und ein hellbraunes Auge unter dunklen Brauen, mit einem raschen, klaren [] Blick. Diesen großen, regelmäßigen Zügen wurde eben durch diesen Blick und ein besonderes Lächeln jede Härte genommen, und wer Fanny Förster zum erstenmal sah, empfing stets den Eindruck, einer sehr schönen und ohne Zweifel bedeutenden Frau gegenüber zu stehen. Ihre Kleidung war von jener ausgesuchten Einfachheit, die bei englischen Herrenschneidern sehr teuer erkauft wird. Trotzdem Fanny geradenwegs von der Bahn und von einer weiten Reise kam, waren ihre Farben frisch, ihr Lächeln munter, ihre Kleider sauber.

Sie trat zurück an den Tisch.

»Höre, Kind,« sagte sie mit dem unbefangensten Ton von der Welt, »ich habe Hunger, aber trotzdem keinen Appetit auf Wassersuppe. Sei gastlich, lade mich ein, mit Dir irgendwo zu speisen, wo die Sonne uns in die Weingläser funkeln kann.«

Adrienne hob ihren Kopf. Hatte Fanny denn kein Auge oder kein Gefühl für ihre sichtliche Verstörtheit? Desto besser, desto bequemer!

»Wo könnten wir ... wir beiden Frauen ...« stotterte sie.

»Wo wir beiden Frauen ohne männlichen Schutz in ein Wirtshaus gehen könnten?« lachte Fanny. »Ueberall dahin, wo wir uns ladylike benehmen. Setze Dir einen Hut auf, wir nehmen einen Wagen und fahren nach Bellevue. Aber schließe zuvor das Buch da weg. Wie kommst Du auf die Lektüre?«

[] »Durch Zufall ... ich wollte Französisch üben ...« sagte die junge Frau, am ganzen Leibe zitternd.

»Pfui Teufel!« sprach Fanny mit kräftiger Betonung; »sich seine Phantasie beschmutzen, ist eine größere Unreinlichkeit, als im Feuer der Leidenschaft einen Sündenfleck auf seine Seele machen.«

Adrienne verbarg das unglückliche Buch und schlich hinaus, sich ihren Hut zu holen. Unterdes besah Fanny sich alles im Zimmer auf das genaueste. Hiebei entging ihr nicht der verschlossene Brief auf dem Tisch; sie hielt ihn prüfend zwischen den Fingern, als Adrienne wieder eintrat.

»Ist das Deines Schwagers Joachim Handschrift? Ich sehe das Herebrechtwappen auf dem Couvert. Eine angenehme, schön fließende Schrift. Du scheinst nicht sehr neugierig auf den Inhalt.«

»Wir wollen den Brief mitnehmen. In der That interessirt es mich nicht übermäßig, was Joachim mir von seinem Leben erzählt. Wenn es Dich interessirt, kannst Du auch Arnolds letzten Brief lesen,« sagte Adrienne.

»Mich interessirt alles,« antwortete Fanny.

»Wie kann das nur?« fragte Adrienne erstaunt; »mich läßt das Wohl und Wehe fremder Menschen kalt, und trotz unserer Verwandtschaft sind doch wir Dir fremd.«

Fanny sah sinnend vor sich hin; es war ein Blick, wie ihn Menschen zuweilen in ihre reichbewegte [] Vergangenheit zurückthun. Alles, was gewesen ist, erscheint wie ein Gemälde, nicht in uns, sondern außer uns, und wir, die wir durch die Zeit die richtige Standferne eingenommen haben, betrachten das Gemälde kritisch.

»Welche Oede würde mein Leben sein,« sprach sie endlich langsam, »wenn ich mir nicht einen Kreis, einen weiten Kreis von Pflichten zurecht gemacht hätte! Gott sei Dank, in mir liegen keine Kräfte brach, ich lebe ein gesundes, arbeitsames Leben.« Und heiterer setzte sie rasch hinzu: »Aber daß Du nicht denkst, ich bin eine sentimentale Närrin, voll Welt-, respektive Nächstenbeglückungsduselei. Weißt Du, für Heidenkinder in Afrika stricke ich keine Socken, und wenn irgendwo in Spanien oder Italien ein Unglück passirt, bleibt mein Herz zwar nicht kalt, aber meine Börse zu. Dafür aber gibt's in meinem Dorfe keine Not und kein Leid außer dem, was der Tod schafft. Ich meine immer, man solle mit seinen Händen nicht weiter greifen wollen, als die Länge der Arme erlaubt.«

In Adrienne ging etwas Seltsames vor. Sie umarmte Fanny heftig und rief:

»Ich beneide Dich!«

»Um Gottes willen,« sagte Fanny erschreckt, »mich! Und weshalb? Mich, die sich erst künstlich schaffen muß, was Du vom Schicksal schon empfingst: liebe Pflichten!? Du hast ein Kind, einen Gatten und obenein einen klugen, guten.«

[] »Aber Du brauchst Dich nicht bevormunden zu lassen, Du kennst das Leben, die Welt, Du bist frei,« rief die junge Frau voll Leidenschaft.

»Nun,« antwortete die andere, »Du wirst mein Leben kennen lernen und mir erst später sagen, ob Du es mir neidest. Denn Dich zu holen, ist der einzige Zweck meiner Reise. Jetzt komm ins Freie. Nur zuvor einen Blick in die Kinderstube.«

In der Kinderstube besah Fanny sich den kleinen Joachim und meinte, ob man von ihr erwarte, daß sie ihn hübsch fände, andernfalls würde sie sich die Freiheit nehmen, zu sagen, er sähe ebenso aus wie alle Babies von sechzehn Wochen.

Dann fuhren sie zusammen denselben Weg, den Adrienne vor einigen Stunden in düsterer Stimmung gemacht. Wie anders war ihr jetzt zu Mute: an der Seite einer Frau, die eine sorglose Heiterkeit entweder wirklich besaß oder doch mit unendlicher Anmut zur Schau trug, in einem bequemen Wagen an den Fußgängern vorbei, mit denen sie vorhin selbst im Staube gewandert, in der Gewißheit, ein feines Diner mit interessanten Gesprächen zu genießen. Selbstverständlich beging Adrienne den Irrtum, diesen ganzen Wechsel dem Umstand zuzuschreiben, daß Fanny als reiche Frau sich jede Stunde angenehm machen könne. Aber wenigstens verführte diese Betrachtung sie heute nicht zum Neid.

Oben auf der Höhe von Düsternbrook liegt die [] Seebadeanstalt Bellevue; der Blick beherrscht von hier aus die Bucht, die Fortifikationen und weit draußen das Meer. Hier saßen die Frauen, und wie Fanny es gewünscht hatte, stahl sich durch die Krone der Linde, unter welcher sie speisten, ein Sonnenstrahl in ihr bernsteinfarbiges Glas, darin Moselwein perlte.

Fanny hatte in den Pausen zwischen den Schüsseln Arnolds Brief gelesen und reichte ihn jetzt der jungen Frau zurück.

»Das ist ein Mann,« sagte sie aufatmend, »ja, Du kannst glücklich sein.«

Voll Widerspruchsgeist bemerkte Adrienne mit einem herben Zug im Gesicht:

»Von Liebe steht nicht viel darin.«

Fanny ließ die Gabel sinken, die sie eben zum Munde führen wollte, und sah ihr Gegenüber ebenso erstaunt als traurig an.

»O,« sagte sie schmerzlich, »das verstehst Du nicht herauszulesen? Du fühlst nicht, wie Du und die Sorge um Dich ihn ganz beschäftigen? Armer Arnold!«

Bei diesem Bedauern regte sich in Adriennens Brust ein Gefühl von heftigem Zorn gegen ihren Gatten. Und Fanny, die das auf dem zarten Gesicht kommen und gehen sah wie Wolkenschatten über ein sonniges Blachfeld, Fanny bereute ihre Aeußerung. Sie war zu klug, um nicht zu wissen, daß sie nicht offen auf Arnolds Seite stehen dürfe, wenn sie das [] ungesunde Gemüt dieser Frau sich erschließen und heilen wollte.

»Nun wollen wir aber sehen, was Dein Schwager schreibt!« sagte sie ablenkend; »Du siehst, ich bin neugierig wie ein Kind. Darf ich auch lesen?«

»Nur zu!« sprach Adrienne gleichgiltig; »Du wirst die Beschreibung einiger Festlichkeiten finden, die auf jenem Gut in ununterbrochener Reihenfolge vor sich zu gehen scheinen, und dann wird Dir der Name Elly zehnmal begegnen – so heißt die Tochter des Hauses – und schließlich wird eine Ermahnung darin stehen, heiter zu sein und Arnold oft zu schreiben.«

»Was soll so ein junger Mensch denn auch anderes schreiben,« lachte Fanny gutmütig; »die soziale Frage kann er nicht mit Dir lösen. Also da ist eine Elly, deren Namen wir auf jeder Seite finden? Schau, schau!«

»Er ist immer verliebt,« bemerkte Adrienne, eine Mandel zerbrechend.

»Liebe Schwägerin,« las Fanny halblaut, »seit meinem letzten Brief – unglaublich eigentlich, daß es erst acht Tage sind – hat sich sehr viel ereignet. Das Wichtigste sei gleich gesagt: Fräulein Elly hat sich verlobt mit einem unausstehlichen Krautjunker, welcher Ellys Papa das Gut abkauft. Natürlich hört damit meine Stellung als Volontär auf, die mir auch ohne den Gutsverkauf sehr verleidet ist. Fräulein Elly sieht nicht sehr glücklich aus. Arme Kleine! Joachim [] Herebrecht ist aber ein armer Schlucker, er konnte dir nicht helfen. Nun, liebe Adrienne, gilt es, eine neue Stellung suchen, und zwar endlich eine, wo ich verdiene. Getrost könnte ich auf Grund meiner Kenntnisse die Bewirtschaftung eines großen Gutes selbständig übernehmen; es fragt sich nur, ob ich einen unserer Standesherren bereit finde, mir eine solche Stellung anzuvertrauen. Mache Dir aber keine Sorgen, schreibe auch Arnold nichts. Ich kann hier bleiben, bis ich etwas anderes habe. Du hast mir lange nicht geschrieben; laß mich wissen, wie es Dir und dem Kleinen geht und ob Du kürzlich Nachrichten von Arnold hattest. Mit den innigsten Grüßen, Dein Joachim. Frage doch 'mal bei Fanny Förster an, vielleicht weiß die eine Vakanz, wo ich einrücken könnte.«

Fanny lachte.

»Weshalb lachst Du?« fragte Adrienne; »ich finde es nicht sehr heiter, daß Joachim ohne Stelle ist. Arnold hätte ihn nicht Landwirt werden lassen dürfen; es ist so aussichtslos.«

»Ich lache,« sagte Fanny belustigt, »weil ich mir aus diesem herzlich unbedeutenden Brief doch den ganzen guten, liebenswürdigen und vielleicht ein bisserl leichtsinnigen Jungen zusammenkonstruire. Dieser Zwischenruf ›arme Kleine!‹ ist köstlich. Und dann lache ich, weil ihm im Postskriptum Fanny Förster einfällt und weil diese eminent praktische Frau natürlich Rat weiß.«

»Wie, Du wüßtest eine Stelle?«

[] »Ich schaffe ihm eine. Meine beiden Güter Mittelbach und Driesa habe ich bislang von Mittelbach aus selbst verwaltet, mit Hilfe meines alten Freundes, des Baron Lanzenau. Mancherlei Umstände, von denen Du schon in Mittelbach Kenntnis erhalten wirst, machen es wünschenswert, daß Lanzenau nach Driesa übersiedelt und sich so wenig wie möglich um Mittelbach kümmert. Weshalb soll ich mir nicht die Bequemlichkeit gönnen, einen Verwalter zu nehmen? Ich werde an Joachim schreiben. Er kennt mich zwar nicht, aber da Arnold eine gute Meinung von mir hat, hoffe ich, Kredit bei Joachim zu besitzen. Zugleich hast Du ihn, Deinen nächsten Verwandten, dann um Dich,« setzte Fanny voll Eifer auseinander.

»Jedes Geschäftsverhältnis zwischen Familienmitgliedern trägt den Keim von Unfrieden in sich,« sagte Adrienne zweifelnd.

»O,« sprach Fanny, den Kopf schüttelnd, »ich bin ganz rücksichtslos, immer und überall, denn das ist am bequemsten für andere und mich.«

»Daß Du für Joachim erst eine Stellung schaffst, gibt der Sache den Stempel einer Wohlthat,« grollte Adrienne.

»Keineswegs,« versicherte Fanny, der alsbald nach dem schnellen Entschluß schon hunderterlei Vorteile der neuen Ordnung einfielen. »Meine Wirtschafterin geht ohnedies, ich nehme keine neue, und anstatt wie bisher immer in den Feldern umherzureiten, finde ich im [] Hause neue Aufgaben. Ich glaube auch, es wird sparsamer für mein Budget sein.«

Fanny verstummte plötzlich, und man sah es ihr unschwer an, daß ihr geschäftiger Geist mit Plänen, Zahlen, Einteilungen eifrig arbeitete.

»Wie kann eine Frau,« dachte Adrienne voll Staunen, »die vermöge ihres Reichtums und ihrer Schönheit in der Welt glänzen könnte, sich in einem Leben gefallen, das nicht mehr und nicht weniger ist, als ein Krautjunkertum ins Weibliche übersetzt.« Und sie stand nicht an, mit dem lehrhaften Unfehlbarkeitsgeist, der noch von ihren Erzieherinjahren in ihr lebte, etwas hochmütig auf Fanny herabzublicken. Doch Fanny fuhr mit einer schnellen Frage aus ihren Grübeleien auf, mitten hinein in die überhebenden Gedanken der Schwägerin.

»Treibt Joachim irgend eine Kunst?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, er singt, aber weit her wird es wohl nicht sein. Warum?«

»Nun, ich liebe Menschen, die ihre Mußestunden schön auszufüllen verstehen. Ich mag, wenn das Reitkleid und die Wirtschaftsschürze ausgezogen sind, nichts mehr von Rübsaatpreisen und Wollkonjekturen hören. Lanzenau ist musikalisch, ich male etwas, der Pastor und seine Frau haben literarische Interessen, jeder sucht teil an den Freuden des andern zu nehmen.«

»So werde ich mich nicht bei Dir langweilen,« sagte Adrienne, eine kleine Beschämung niederkämpfend.

[] »Ich hoffe, nein. Doch das liegt durchaus in und an Dir selbst. Die Fähigkeit zur Langeweile ist Naturanlage: mit Menschen, wie immer sie auch sein mögen, langweile ich mich sehr selten, in der Natur nie; nur wenn ich im Zimmer lange auf mich ganz allein angewiesen bin; und das ist auch, glaube ich, mehr Ungeduld zur Bethätigung meines Seins, als gerade Langeweile. Du findest nur Durchschnittsmenschen, aber diese in leidlich harmonischem Seelenleben.«

»Wann reisen wir?« fragte Adrienne glücklich. All ihr inneres Widerstreben war schon in der Sekunde erstorben, als Fannys stolze Gestalt heiter über ihre Schwelle trat.

»Morgen,« sagte Fanny, »mit dem ersten Zug, dann sind wir mit Einbruch der Nacht in Mittelbach.«

Die beiden Frauen stießen fröhlich zusammen an. Und am späten Abend saß Fanny, deren Nerven offenbar keine Ermüdung kannten, noch im Gasthofzimmer am Tisch, um einen ihrer bündigen Briefe zu schreiben.

»Mein lieber Kapitän,« schrieb sie, »ich bin in Kiel, um Ihre Frau nach Mittelbach zu holen. An was Adrienne krankt, ist nicht schwer zu sagen. Sie hat in ihrem Leben nur die Arbeit, den Ernst, die Tugend kennen gelernt und sie ist neugierig auf die Kehrseite der Medaille; sie will den Genuß, den Jugendübermut, die Sünde kennen. Allmutter Eva [] wird in ihr wach, aber das wird sie in jeder Frau einmal. Ihr Weib ist bei mir, Sie können ruhig sein. Geht solche Krisis gesund aus, kann der Mann nur dabei gewinnen.

Ihre Fanny Förster.«

Der Inhalt dieser kurzen Zeilen erschien dieser Frau vollkommen genügend, um sie über das Weltmeer zu senden. Jede andere Frau hätte hier acht und mehr Seiten voll geschrieben. Aber Fanny ging mit dem beruhigten Gefühl zu Bett, sich vollständig ausgesprochen zu haben.

[]

Drittes Kapitel

Auf der Strecke, die der Jagdzug von Hamburg nach Berlin alltäglich mehrmals durchrast, jagt er in stolzer Eile an kleinen Stationen vorbei. Diese, wie Lazarus am Tisch des Reichen, fangen nur die Brosamen vom Weltverkehr auf, und nur die Lokal- und Bummelzüge schleppen Menschen und Güter den Knotenpunkten zu, wo sich die Linien der eisernen Erdstraßen kunstvoll verknüpfen. Hier schüttet ein Zug seinen Inhalt in den andern aus; hier zerstiebt in alle Windrichtungen, was meilenlang von einem pustenden Dampfroß gemeinsam vorwärts gezogen wurde; hier rennen Menschen wie Flüchtlinge auseinander, die eben stundenlang eifrig und angenehm zusammen plauderten, sich die Fahrt verkürzend; hier schlingen ausgehungerte und verdurstete Männer und Frauen heiße, fettig riechende Bahnhofskost, brühheißen Kaffee, schäumendes, überlaufendes Bier hinein; hier ist ein Rufen, Läuten, Schreien sondergleichen, das Geld klappert auf dem blechernen Wechselbrett der Buffetière; Qualmgewölk [] ballt sich unter dem Schutzdach des Perrons. Und wenn endlich der schrille Abschiedspfiff des fertigen Zugs durch die Luft klagt, setzt alles sich erschöpft und befriedigt in seine Coupéecken fest, der Inspektor sieht der dunklen Schlange nach, die mit ihren Gliedern auf dem Geleise dahingleitet, bis sie sich draußen, fern vom Bahnhof, in schwindelnde Eile setzt – dann ist eine Weile Ruhe, bis von der andern Seite der feuerspeiende Kopf einer andern Zugschlange sich in den Perron schiebt. So lärmt und jagt die Menschheit auf ihrem jetzigen Gefährt durch die Lande.

Aber die kleinen Stationen stehen an den großen Bahnen wie verschüchtert neugierige Kinder. Von ihnen aus schauen noch sehnsüchtige oder bange Augen auf die Fenster der vorüberfliegenden Eilzugwaggons. Da ist jeder Ankommende oder Abreisende noch ein Ereignis, das in Ursache und Wirkung besprochen wird, und der Wartesaal mit seinem bescheidenen Bierausschank und dem Buffet, wo einige Käsebrote unter einer Glasglocke trocknen, ersetzt den Bewohnern des nahen Städtchens, Fleckens oder Dorfes das Café und die Börse der Großstädter. Die Ankunft eines Zuges zu erwarten, ist Ziel für manchen Erholungsspaziergang.

Auf dem Perron einer solchen kleinen Station, die auf sonniger Fläche inmitten märkischen Sandes lag, wanderte ein junges Mädchen hin und her. Die Mittagssonne verkleinerte durch ihren hohen Stand den Schatten, den sonst das rote Backsteingebäude warf,[] bis zu einem schmalen Strich. In diesem Schattenstrich an der Mauer saß der Bahnhofsinspektor auf der Bank und trocknete eben den innern Rand seiner roten Mütze aus. Die Glasthür, die in den Wartesaal führte, war innen mit einer Filetgardine geschmückt; zwischen ihr und dem Glas surrten große Brummer auf und ab. Rechts und links vom Gebäude befanden sich in jungen Gebüschanpflanzungen die zum Bahnhof gehörenden Nebenräumlichkeiten; zwischen diesem Gebüsch und der Mauer des Haupthauses führten die Wege nach hinten, wo die Landstraße zu vermuten war. Wenn das auf und ab wandelnde Mädchen vorbeikam, sah sie immer da hinaus, wo wie im Ausschnitt das Bruchstück einer Equipage zu sehen war. Die Vorderleiber der Pferde verbarg das Haus, die Hinterräder des Wagens das Gebüsch; man sah den auf seinem Bock schlummernden Kutscher und die Pferdeschweife, die zuweilen aufschlugen, um Fliegen zu verjagen, und hinter dem allem eine endlose Fläche und einen zitternden Dunst unter grell blauem Himmel.

Endlich drang durch die Stille des Mittags ein zweitöniges Glockensignal. Der Inspektor sprang auf; um die Hausecke kam, krummbuckelig, mit müden Knieen, der Perrondiener; die Wartesaalthür öffnete sich, und die Restaurationsfrau erschien in derselben, auf dem Arm ihr Kind, dem sie gerade das Näschen schneuzte.

»Ob die gnädige Frau heute wohl kommt?« [] fragte der Inspektor, auf das junge Mädchen zutretend. »Sie sind nun schon zum drittenmal hier, Fräulein, und ich fürchte, wieder vergebens, denn eine Depesche haben wir bislang nicht befördert, und Sie wissen doch, wenn Frau Förster von Reisen heimkehrt, telegraphirt sie stets vorher an den Baron Lanzenau.«

Der Bahnhofsinspektor hatte zugleich das Amt des Telegraphisten inne und war somit genau über den Depeschenverkehr der Umgegend unterrichtet.

Das Mädchen sagte darauf etwas unfreundlich im Ton:

»Nun, das Unglück, die Fahrt einigemale vergebens zu machen, ist ja nicht so groß.«

Damit wandte sie sich um und setzte ihr Wandern fort, deutlichst zeigend, daß ihr keinerlei Unterhaltung erwünscht sei. Der Inspektor wechselte darauf einen Blick mit der Frau in der Thür, einen Blick, mit dem sie sich darüber verständigten, daß man ein so unhöfliches Benehmen von Fräulein Severina eben gewöhnt sei.

Diese ging an das äußerste Ende des Perrons und starrte vor sich hin. Sie sah auf die im Sonnenschein gleißenden Schienen, auf den gelben, grobkörnigen Kies, der zwischen den Schienen die Holzschwellen kaum deckte, und dachte, mit welchen Worten sie Fanny Förster am leichtesten sagen könne, was doch gesagt werden mußte.

Severina war ein Mädchen, das niemals durch [] ihre Schönheit, aber immer durch ihre Gestalt auffallen konnte, die, von mittlerer Größe, Linien von vollendetem Ebenmaß aufwies. Ein reizender Fuß zeigte sich unter dem kurzen Kleid, eine schöne Hand hielt herabhängend ein Paar Handschuhe. Das Gesicht zeigte die Negerlippen eines breiten Mundes. Darüber stand ein aufgestülptes Näschen. Unter der niedrigen weißen Stirn leuchtete ein dunkles, großes Augenpaar; dunkelbraunes Haar war mit wenig Sorgfalt lose um den kleinen Kopf geordnet; die starken Backenknochen, die breiten Kiefer gaben dem Gesicht beinahe etwas Tierisches. Die unruhigen Augen sahen nun dem Zug entgegen, der jetzt endlich in großer Kurve sich dem Perron näherte.

Richtig, da beugte sich ein Kopf aus einem Coupé, und gleich darauf streckte sich eine Hand heraus und winkte mit dem weißen Taschentuch.

Severina lief neben dem Coupé her, bis der Zug endlich stand, gerade am andern Ende des Perrons. Dabei wurde sie seltsam blaß.

»So warte doch, so warte doch,« rief Fanny Förster aus dem Fenster.

Der Inspektor eilte auch herbei und riß die Thür auf, der Fanny nun rasch entstieg.

»Wir haben die gnädige Frau schon gestern abend erwartet,« bemerkte der Inspektor.

»Ja,« lachte Fanny, »meine Schwägerin hat nicht meine Nerven. Wir mußten in Hamburg Aufenthalt[] nehmen. – Gib mir erst das Kind heraus, Adrienne. – Guten Tag, Very. Nun, wo kommst Du denn her? Ist der Baron gestern abend hier gewesen? Wie sieht's in Mittelbach aus, Mädchen? Deine Eltern wohl?«

Dabei ergriff sie mit der Rechten das Bündel von Tüchern und Schleiern, in welchem der kleine Joachim stak, preßte es gegen sich und reichte die Linke Adrienne hinauf. Diese, überaus blaß und von Hitze ermattet, kletterte herab, die Magd mit sehr vielem Handgepäck folgte, und mit dumpfem Krach flog die Coupéthür wieder zu.

Da stand die kleine Gesellschaft nun im Sonnenschein, Adrienne verzagt über die flache, schattenlose Gegend, Fanny ungeduldig, neue Nachrichten von ihrem Heim zu hören, das sie seit fünf Tagen verlassen.

»Hier ist Severina, die Pflegetochter unserer Pastorsleute. – Meine Schwägerin, Frau von Herebrecht. Aber nun sage, Very, wie kommt es, daß Du mich abholst?«

»Meine Eltern haben Ihre Rückkunft mit großer Sehnsucht erwartet,« sagte Severina, mit ihren dunklen Augen einen so flehenden, bedeutungsvollen Blick auf Fanny richtend, daß diese augenblicklich fühlte, es sei etwas geschehen, wobei man ihrer bedürfe. Sie drückte Severina stark die Hand.

»Gestern abend,« fuhr Severina fort, »fuhr ich [] mit Ihrem Wagen her; Sie kamen nicht. Auch der Baron war vergebens hier. Er beschloß, eine Depesche abzuwarten, aber ich bin, Ihre Verzeihung voraussetzend, heute wieder mit Ihrem Wagen gekommen.«

»Und das ist ein Glück,« meinte Fanny freundlich, »da wir nun gleich heimfahren können und keinen Wagen aus Mühlen brauchen. Die arme Adrienne hätte auch vielleicht geglaubt, ihre letzte Stunde sei gekommen, wenn sie auf einem Mühlener Bauernwagen durchschüttelt worden wäre.«

Mühlen war ein zu Fannys Gütern gehöriges Dörfchen, welches in unmittelbarer Nähe der Station lag.

»Komm,« sprach Fanny, den Arm des jungen Mädchens ergreifend, »meine kleine Kalenderheilige muß erst beichten. – Wir nennen Very manchmal so, weil sie einen so furchtbar nach Weihrauch duftenden Namen hat,« erklärte sie Adrienne. »Besteige Du einstweilen den Wagen und installire Dich mit Baby. – Guten Tag, Christian,« grüßte sie den Kutscher.

Da Severina schwieg und neben Fanny mit sichtlichem Zögern einherschritt, so fragte Fanny mit einigem Nachdruck:

»Nun? Was ist geschehen?«

»Magnus ...«

»Hat Dummheiten gemacht!« setzte Fanny bestimmt dem von der andern zögernd ausgesprochenen Namen hinzu.

[] »Leider gleich zwei auf einmal,« sagte Severina finster, »und Mama und Papa geben nun einander schuld; Jedes behauptet, der andere habe ihn falsch erzogen.«

»Nun,« meinte Fanny, »in dieser Behauptung ist das Recht auf Seite des Vaters. Aber was hat denn unser Doktor Magnus Hesselbarth angestiftet?«

»Er hat – gespielt und dann, es mag in der Leidenschaft des Verlierens oder des Weinrausches gewesen sein, dann hat er ein Duell provozirt und ausgefochten, welches seinem Gegner eine Stirnwunde und ihm einen Schuß im linken Arm einbrachte. Nun ist er heimgekommen wie ein Flüchtling. Die Wunde will die Pflege der Mutter schon ausheilen, aber die Spielschuld kann die Cassa des Vaters nicht decken,« berichtete das Mädchen.

»O weh,« rief Fanny, »das mag stürmische Zeit bei euch gegeben haben!«

»Ich bin ja da, alles auszubaden,« sagte Severina mit großer Bitterkeit.

»Pfui, Very!« schalt Fanny, über deren Gesicht sich die Schatten sorgenvoller Gedanken gebreitet hatten, »in solchen Tagen sucht der Sorgende sich eben gern einen Blitzableiter für die üble Laune. Das ist menschlich, das solltest Du verzeihen.«

»So?« fragte das Mädchen. »Diese Menschlichkeit passirt doch nicht allen Menschen. Als im vorigen Frühling die Elbe austrat und Ihnen die mühsam [] kultivirten Fichtenschonungen verschlammte und versandete, Ihnen die Mühe und Kosten von Jahren zerstörend, da hat kein Mensch ein ungeduldiges Wort von Ihnen gehört. Aber freilich, meine Pflegemutter ist auch eine fromme Christin, sie muß in jedem Unglück das Strafgericht Gottes oder die Versuchung Satans beklagen.«

»Was die Natur uns zufügt, zwingt uns unsere Ohnmacht, mit Geduld zu tragen. Geduld mit Menschen haben, ist tausendmal schwerer,« sprach Fanny milde. »Aber nun komm, mein Kind, laß meine Schwägerin nichts von irgendwelcher Verstimmung merken. Sie bedarf der Heiterkeit und soll nicht gleich herausfinden, daß wir in Mittelbach so wenig gegen Sorge und Leid versichert sind wie die Menschen anderswo.«

Sie schritten beide auf den Wagen zu, in dessen einer Ecke Adrienne schon lag, den aufgespannten Sonnenschirm über sich, die müden Augen auf den fernen Horizont gerichtet, zu dessen blauender Waldlinie eine endlose, pappeleingefaßte Chaussee lief.

»Müssen wir bis dahin fahren?« fragte sie.

»Gewiß, meine Welt liegt, wie die Königreiche im Märchen, hinterm Wald. Diese Roggen- und Hafergefilde, welche Dir ohne Zweifel sehr eintönig vorkommen, sind Driesaer Grund und Boden, die Gruppe von Häusern und Baumkronen da rechts am Ende der Sehweite ist Dorf und Schloß Driesa. Mein Mittelbach fängt hinter dem Wald an und geht bis an die [] Elbeufer. Mein Reich ist nicht klein. Joachim wird zu thun bekommen.«

Der Wagen setzte sich in Bewegung; Adrienne war zu erschöpft, Severina nicht gewohnt zu sprechen; die Magd surrte ein Schlummerlied mit geschlossenen Lippen und wiegte dabei das Kind im Arm. Lautlos gingen die Räder im Sande; Lerchen stiegen mit zwitscherndem Gesang in die Höhe.

Fanny, die lange still nachdachte, fuhr plötzlich wie erwachend empor, sah Severina an, nickte ihr heiter zu und begann mit dem Kutscher ein Gespräch, welches sich zum Entsetzen Adriennens um das Befinden einer zum Kalben stehenden Kuh und eines krank gewesenen Pferdes drehte.

Eine Fahrt von zwei Stunden, davon die letzte halbe Stunde sie durch einen schönen Eichenwald führte, brachte sie nach Mittelbach. Adrienne war noch nie auf dem Lande gewesen, sonst würde ihr die Sauberkeit und Behäbigkeit aufgefallen sein, welche selbst die kleinsten Anwesen hier umgaben.

Das Dorf gruppirte sich um eine Kirche, die aus einem von blühendem Hollunder und breitkronigen Linden überschatteten Kirchhof aufragte. Nahe dem Kirchhof befand sich im bunt blühenden Garten das Pastorenhaus. Nur ein weißer Spitz stand hinter der hölzernen Gitterpforte und bellte durch die Trallen den vorüberfahrenden Wagen an. Sonst schien das Haus von Bewohnern verlassen.

[] Neben dem Pastorengarten bog eine tiefschattige Ulmenallee von der Dorfstraße ab und führte geradewegs in fünf Minuten auf das Schloß zu. Das Schloß verdiente im Grunde diesen stolze Baulichkeiten versprechenden Namen keineswegs. Es war ein großes, breites Haus, das über dem Parterre ein Stockwerk und einen zweifensterigen Erker trug. Vor der grün angestrichenen Hausthür befanden sich ein Beischlag, dessen Bänke je von einer Linde überschattet waren, die wie zwei Schildwachen rechts und links vor der grau getünchten Hausmauer standen.

»Schön ist er nicht, der alte Kasten,« sagte Fanny mit einem Seufzer, »und ich liebe so die Schönheit. Aber um das Idealschlößchen herzubauen, von welchem ich träume, fehlt mir immer das Geld.«

Adrienne lächelte; sie glaubte nicht anders, als daß dieser Seufzer ein gewisses Kokettiren mit Sparsamkeit sei, denn daß eine reiche Frau wie Fanny ihren Wünschen Grenzen ziehen müsse, schien ihr undenkbar.

»Da ist die ganze Gesellschaft,« sprach Severina.

Auf den Bänken im Beischlag saßen drei Männer und eine Frau. Sie sprangen auf, als der Wagen hielt, und wollten alle zugleich den Schlag öffnen. Der großen, übermäßig mageren Frau gelang es, die erste zu sein. Sie ergriff mit ihren starkknochigen Händen Fannys Rechte und sagte:

»Nein, so konnte Gott uns auch nicht strafen, er durfte Sie nicht länger fernhalten!«

[] »Liebe Frau Pastorin,« sprach Fanny, ihr die mageren Wangen streichelnd, die aus einer unter dem Kinn geschlossenen schwarzen Tüllhaube hervorsahen, »liebe Frau Pastorin, ich bin zum Glück ja noch zur rechten Zeit gekommen, Ihnen Ihre Sorgen abzunehmen. – Grüß Gott, Herr Pastor. Ah, da ist ja auch unser junger Doktor Magnus. – Und Sie, Lanzenau, Sie sagen gar nichts?«

»Kann ich denn dazu kommen, die liebe Hand zu küssen?« fragte der Baron Lanzenau lächelnd.

Adrienne saß unterdessen ruhig im Wagen und beobachtete diese Menschen, mit denen sie nun leben sollte. Vor allem fiel ihr der Baron Lanzenau ins Auge, ein Mann, der seine Hünengestalt in ein enges Tricotjaquet und ganz enge Beinkleider gesteckt hatte. Um seinen auffallend hohen und blendend weißen Halskragen schlang sich eine blauweiß getupfte Krawatte, die in breiten Flatterenden über dem dunklen Jaquet herabhing. Sein Diplomatengesicht trug die Zier eines spitz gedrehten Schnurrbartes, sein dunkles Haar war äußerst glatt und auf jene altmodische Art frisirt, welche in die Schläfen gesichtwärts je eine Haarlocke vorschiebt.

»Das ist also der Mann, welcher seit meines Bruders Tod Fannys rechte Hand war? Merkwürdig, er scheint doch noch in den Jahren, wo eine Heirat mit Fanny ihm natürlich sein mußte!« dachte Adrienne.

[] Die hagere Pastorin mit den Leichenbittermienen und dem tragischen Blick, der rundliche, weißhaarige Pastor mit dem rosigen Gesicht, schienen Adrienne nicht sehr bemerkenswert, wohl aber blieb ihr Auge auf dem jungen Doktor Magnus Hesselbarth, dem Pastorensohn, haften. Dieser hielt sich sehr im Hintergrund und schaute sich seinerseits Adrienne neugierig an. Er hatte die Figur und Züge seiner mageren dunklen Mutter; was jedoch bei ihr grob erschien, wurde bei ihm zur männlichen Schönheit. Vor seinen dunklen Augen saß ein Kneifer ohne Band, sein schwarzes Haar war kurz geschoren und stand wie eine Bürste über der Stirn auf, in welche es in einer Schneppe hineinwuchs.

Erst als Fanny alle begrüßt hatte, machte sie Adrienne mit ihren Freunden bekannt. Jeder sagte ihr ein Wort des Willkommens.

»Ich freue mich, daß Fanny endlich einmal die Nähe eines Familienmitgliedes genießt, und hoffe, Sie werden sich lieb haben,« sagte Lanzenau.

»Der Herr war mit Ihnen, als Sie den Entschluß faßten, den Versuchungen der Welt zu entfliehen und hieher zu kommen. Denn einer geht umher wie ein brüllender Löwe und suchet, wen er verschlinge,« sprach die Pastorin mit einem Seitenblick auf ihren Sohn.

Dieser Sohn begnügte sich, Adrienne die Hand zu küssen, sich zu verneigen und zu versichern:

»Sehr erfreut, gnädige Frau!«

[] Der alte Pastor aber drückte ihr fest die Hand und sprach:

»Willkommen, herzlich willkommen!«

»Ach,« rief Fanny, »wie ist das Heimkehren schön, und dabei habe ich nicht einmal Mann noch Kind! Was muß Arnold empfinden, wenn er von der Stunde seiner Heimkehr träumt?«

Adrienne fühlte sich immer unangenehm berührt, wenn ihr Gatte von Fanny erwähnt wurde. Sie sah stets eine Mahnung, einen Vorwurf darin. Und der Ausdruck von Verstimmung, der deswegen über ihre Züge kam, entging in diesem Augenblick dem jungen Doktor nicht, der die bleiche Frau fest im Auge behalten hatte.

»Deine Zimmer sind bereit, ich werde Dich hinbringen; aber ehe ich dann die meinigen aufsuche, möchte ich mit Ihnen, Pastor, und Ihrer Frau sprechen,« sagte Fanny, erst zu ihrer Schwägerin und dann zu dem Ehepaar gewandt.

»Alle Verhandlungen werden bis nach Tisch verschoben,« bestimmte Lanzenau; »wir wünschen vorerst die Festtafel gewürdigt zu sehen, die wir vorbereiteten. Wenn die Damen Toilette machen wollen, finden Sie uns nachher im Speisesaal.«

»Fügen wir uns,« sagte Fanny heiter und nahm die junge Frau bei der Hand, um sie in ihr Haus zu führen.

»Die Freude, Dich wieder zu haben, leuchtet selbst[] von den Gesichtern Deiner Dienstboten,« bemerkte Adrienne, als sie an Fannys Arm die Treppe hinauf und den langen Korridor entlang schritt; »wie hast Du es angefangen, so geliebt zu werden, und wie glücklich mußt Du in dieser Liebe sein!«

»Stille!« gebot Fanny hastig; »wie ich es anfing und ob ich glücklich darin bin, das ist die Geschichte meines Daseins, und das bespricht sich nicht zwischen Thür und Angel. Hier ist Dein Reich. Lebe zufrieden darin, das ist mein einziger Wunsch.«

Die Frauen umarmten einander voll Herzlichkeit. Eine scheinbar grundlose Rührung übermannte beide.

»Und Du, kleiner Schelm,« sagte Fanny, dem Kinde, das die Magd ihnen nachgetragen, in die Backen kneifend, »Du schreie mir die Wände aus keiner andern Veranlassung an, als um Lungengymnastik zu treiben.«

»Wie schön es hier ist!« rief Adrienne, die drei Zimmer durchschreitend, welche Fannys Güte ihr auf das wohnlichste geschmückt. Das Wohnzimmer war offenbar ganz neu eingerichtet; es zeigte dunkelblaue Farben und in allen Möbelstücken strenge, geradlinige Formen; eine Unzahl von kleinen, bunten Nippes und Luxusgegenständen übergoldete den ernsten Charakter des Gemaches mit dem Zauber der Behaglichkeit. Eine breite Glasthür führte auf einen Balkon, der, an der Rückseite des Hauses gelegen, einen weiten Ausblick über Park und Gegend gewährte.

[] »Ich dachte mir so, daß zu der blassen, rothaarigen Frau ein Zimmer im Renaissancegeschmack gehöre,« scherzte Fanny und eilte hinaus, sich dem Dank zu entziehen.

Adrienne trat auf den Balkon.

Zu ihm hinauf ragten weitästige Lindenkronen, von rechts und links hemmte dunkles Baumgewipfel den Blick, geradeaus schweifte das Auge über weite Rasenflächen, die von einem Weiher unterbrochen wurden. Und jenseits des Parkes, der im englischen Geschmack angelegt war, blinkte ein breites, stahlglitzerndes Band auf, das sich hinauf und hinab in sanften Windungen durch goldgelbe Saatbreiten zog, so weit das Auge reichte. Es war die Elbe, die da ihre mächtige Straße, vom Riesengebirge kommend, meerwärts zog. Die friedvolle und reiche Landschaft, überzittert von der Mittagsglut eines verfrühten Sommertages, verführte zum Träumen, und Adrienne stand so lange gedankenlos dort, bis die dumpfen Schläge des Tam-Tam sie weckten. Es war das Signal zum Mittagessen.

Aber der unmusikalische, lang nachdröhnende Ton dieses asiatischen Signalinstrumentes erinnerte sie plötzlich auch an Arnold: er hatte Fanny Förster das von früheren Reisen mitgebrachte Ding geschenkt. Immer er, auf allen Wegen er, kein Gedanke ohne ihn – setzte sich die Abhängigkeit von ihrem Herrn und Erzieher denn ewig fort?

Mit finsterem Gesicht ging sie hinab, wo in dem großen Saal, der gerade unter ihren Zimmern lag [] und sich auf eine Terrasse parkwärts öffnete, schon die ganze Gesellschaft versammelt war. Fanny sah mit mißbilligendem Erstaunen, daß ihre junge Schwägerin nicht die mindeste Bemühung gemacht hatte, ihr schlecht sitzendes, zerdrücktes Reisekleid zu wechseln oder ein wenig aufzuputzen.

»Sie ist ganz apathisch,« sagte sie leise zu Lanzenau, »wir müssen ihre Jugend aufwecken.«

Das Mahl verlief so heiter, als befänden sich hier nicht Menschen, deren Existenz auf dem Spiel stand. Die Pastorsleute fühlten sich ihrer Sorgen ganz ledig: Fanny war da und hatte Hilfe versprochen. Doktor Hesselbarth fühlte sich nicht im mindesten vor Fanny genirt: sie kannte die Welt und verzieh wohl eine schwache Stunde. Selbst Severina, die im Wagen schweigsam und verbittert erschienen war, antwortete auf die jeweiligen Neckereien des Barons mit jäh aufsprühendem, schlagfertigem Witz, versank aber freilich ebenso rasch wieder in ihre Stummheit, wenn ein Blick aus den großen Augen der Pastorin sie traf.

Lanzenau hielt sogar eine Rede, eine wohlgesetzte, etwas umständliche Rede, die Fannys Wiederkehr und die neue Hausgenossin feierte. Man trank das Wohl der beiden Damen in Sekt, Fanny rief über das Gläserklingen hinweg:

»Aber daß wir auch des fernen Gatten nicht vergessen: Der Kapitän lebe hoch!«

Der Doktor, sich an Adriennens mißbehagliches[] Gesicht erinnernd, welches sie vorhin bei der Erwähnung Arnolds gemacht, streifte mit schnellem Blick die junge Frau, und unangenehmerweise bemerkte sie es. Ein helles Rot stieg ihr rasch ins Gesicht.

Das reichliche Mahl von vielen Schüsseln, der starke Wein, die Aufwartung durch die beiden weißbehandschuhten Bedienten, dies alles drückte Adrienne nieder, und sie dachte an die Wassersuppe, bei welcher Fanny sie getroffen. Schließlich bemerkte sie auch, daß sie noch einfacher angezogen war als selbst Severina, deren dunkelblaues Perkalkleid wenigstens durch den tadellosen Sitz und die äußerste Sauberkeit schmuck aussah. Auch hatte das Mädchen in den Gürtel, der ihre wundervolle Taille eng umspannte, einen frischen Rosenstrauß gesteckt.

Adrienne hätte weinen mögen. »Fanny wird sich meiner schämen,« dachte sie verzweifelt. Sie beschloß, sich nach Tisch zurückzuziehen und aus sich noch zu machen, was ihr Kleidervorrat irgend gestattete. Dieser Entschluß, sich zurückziehen zu wollen, paßte in die Hausordnung, die Fanny alsbald verkündete.

»Nach Tische,« sagte sie, »bin ich in meinem Arbeitszimmer; wenn jemand mich zu sprechen wünscht, findet er mich dort. Im übrigen: allgemeine Siesta.«

Lanzenau wußte, daß dies für die Pastorenfamilie gesagt war, und begab sich alsbald auf die Terrasse, wo er in einem Schaukelstuhl zwischen einer Epheuwand und einer Palmengruppe sein Schläfchen zu halten [] pflegte. Severina kehrte in das Pfarrhaus zurück, nicht ohne daß Fanny ihr nachgerufen hätte, sie werde zum Abend wieder hier erwartet, und so sah die Hausherrin sich mit der Familie Hesselbarth allein, die ihr in der komischen Gefolgschaft des Gänsemarsches, eines hinter dem andern, ins Arbeitszimmer folgte.

Dieses Zimmer, nach vorn hinaus gelegen, war von den an der Hausfront stehenden Linden so tief verschattet, daß allezeit ein grünes Dämmerlicht herrschte. An den vier Wänden, die einen großen, ganz quadratischen Raum umschlossen, standen Bücherregale und Schränke. Nahe dem einen Fenster befand sich der Schreibtisch, ein vierbeiniger, schmuckloser Tisch, mit einem Riesentintenfaß, einer Schreibmappe und einem Haufen Haushaltungsbücher belastet. Vor dem andern Fenster auch ein Tisch, auf dem allerlei Säckchen und Schälchen mit Getreide- und Hülsenfruchtproben standen. Außerdem gab es noch ein halbes Dutzend Rohrstühle in der Stube, darin der weiße Fußboden mit Sand bestreut war.

Fanny nahm auf ihrem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz, die drei Hesselbarths setzten sich im Halbkreis ihr zur Seite. Der Pastor faltete seine Hände über dem Bäuchlein; ach, nach einem so guten Essen und nach einem so ausgezeichneten Bordeaux war es wahrlich schwer, sich die ganze Sündenfälligkeit des leichtsinnigen Sohnes ins Gedächtnis zu rufen.

Die Pastorin hatte auf den gelben Wangen rote[] Flecke. Ihre Gedanken jagten wie ein Wirbelwind in ihrem Kopf umher, sie zürnte dem Sohn, dem sie diese schwere Stunde verdankte. Sie wollte Fanny beweisen, daß der Sohn eigentlich bloß das Opferlamm eines Mächtigeren sei, sie wollte dem Gatten nochmals zu Gewissen bringen, daß seine Erziehung an allem schuld sei. Aber aus ihrem von Gedanken kreisenden Kopf gebar sich kein gesammeltes Wort; der Sohn hob statt ihrer an, Fanny geradeaus ansehend:

»Severina wird Ihnen das Geschehene angedeutet haben, Frau Förster. Ich sitze nicht hier, um mich zu entschuldigen, und die Hilfe, die wir von Ihnen erbitten wollen, denke ich nicht dadurch zu erschleichen, daß ich mich als Opfer unglücklicher Verkettungen darstelle. Ich habe gefehlt; jugendlich, verzeihlich vielleicht, würde man sagen, wenn ich einen reichen Vater hätte, der die paartausend Mark Spielverlust ohne Empfindlichkeit zahlen könnte. Aber da ich wußte und immer dessen hätte eingedenk bleiben sollen, daß mein Vater nicht im stande ist, mir dergleichen Schulden zu bezahlen, so wäre mein Vergehen unverzeihlich, wenn ich nicht den Willen und die Fähigkeit hätte, den pekuniären Schaden und den, welchen ich in Ihrer Achtung erlitt, gut zu machen.«

Der Pastor seufzte zustimmend. Die Pastorin, die ihre Hände im Schoß gefaltet hielt, sagte schnell:

»Gewiß, Magnus, Du hast gefehlt wider besseres Erkennen und Wollen. Der Versucher kam über Dich, [] und Du mußtest ihm gehorchen. Das ist der Fluch, der seit dem ersten Sündenfall auf uns allen ruht. Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den ...«

»Liebe Pastorin,« sagte Fanny mit feinem Lächeln, »Sie hörten, Magnus lehnt es von vornherein ab, unter dem Druck jener mysteriösen force majeur gehandelt zu haben, die Sie seit seinen Knabenjahren immer als Entschuldigung für alle seine Thorheiten citirten. Wir haben schon an den alltäglichen kleinen menschlichen Unvollkommenheiten unserer Charaktere genug Stoff, um Adam und Eva verantwortlich zu machen; suchen wir mit den Hauptnummern unseres Sündenregisters niemand zu belasten als unsere eigene Willensschwäche.«

Magnus lächelte Fanny an. Der Pastor seufzte zum zweitenmal zustimmend.

»Es war am Abend meines Doktorschmauses,« begann Magnus; »wir hatten stark getrunken, erst so stark, wie es solche Gelegenheit in studentischen Kreisen mit sich bringt, und dann noch stärker, als mitten in unsere Fröhlichkeit hinein mir ein Brief der großen X.schen Verlagsbuchhandlung kam, die mit mir fest kontrahirt über eine von mir zu liefernde Uebersetzung und Bearbeitung mehrerer griechischen Autoren zum Zweck einer Volksausgabe. Dies Ereignis ...«

»Magnus,« rief die Pastorin fieberhaft, »und [] davon hast Du bislang geschwiegen?! Diesen Trost, diese Entschuldigung uns vorenthalten! Was hab' ich immer gesagt; wer hat nun recht?«

»Dieser Umstand hätte Dich vielleicht dahingeführt, liebe Mutter, mein Vergehen als Verdienst aufzufassen, und das ging doch angesichts des Umstandes nicht an, daß Frau Förster uns helfen muß, soll kein Unglück, kein Skandal geschehen,« sprach Magnus mit jener liebevollen Lehrhaftigkeit, die erwachsene Männer den Schwächen der Mutter gegenüber annehmen.

Die roten Flecken auf den Wangen der Pastorin wurden dunkler. Ihr Herz schlug heftig. Der Ton – der Ton von ihrem Magnus! Und von und mit Fanny sprach er so voll Ehrfurcht! O, wenn sie doch unermeßlich reich wäre, um alle Sorgen selbst dem Sohn aus dem Weg zu schaffen, ihm alle Freuden der Welt zu ermöglichen! Diese Wonne Fanny überlassen zu müssen!«

»Und weiter?« fragte Fanny.

»Meine Fröhlichkeit wurde Uebermut; ich sah mich schon berühmt als unerreichten Uebersetzer, ich sah mich schon im Besitz der als Honorar für die in zwei Jahren zu liefernde Arbeit bedungenen fünftausend Mark. Als die Freunde Bank auflegten, verschmähte ich zum erstenmal nicht, daran teilzunehmen. Mein Verlust wuchs, meine Besinnung schwand. Endlich gab es Streit. Am andern Mittag hatte ich die Wunde im Arm und fünftausend Mark Spielschulden.«

[] »Ach,« sagte die Pastorin und sah ihren Sohn bewundernd an, »was mögen das für Aufregungen gewesen sein!«

»Wenn Sie uns, teure Frau, die Summe vorstrecken wollen und sie mir allmälich am Gehalt abziehen ...«, begann der Pastor, der mit einer unüberwindlichen Sehnsucht nach seinem Lehnstuhl kämpfte.

»Halt,« rief Fanny, »Magnus soll sich allein aus der Klemme ziehen, in die er sich hineingebracht. Er erhält die fragliche Summe von mir und verschreibt mir dafür sein Honorar. Und damit er nicht durch abermalige schwache Stunden in noch Aergeres gerät, schlage ich vor, daß er seine Arbeit im Elternhause vornimmt; da wird er billiger und ruhiger leben als in Berlin.«

»Bravo!« rief der Pastor erleichtert, weil die Sorge und die Unterredung bald ein Ende hatten.

Magnus ergriff die Hand Fannys und drückte sie mit wortloser Dankbarkeit. Im Herzen der Mutter wallte neben der Freude, den Sohn bei sich zu behalten, schnell der eifersüchtige Gedanke auf, daß Fanny am Ende ein besonderes Interesse für Magnus habe. Daß die Dinge etwa anders werden konnten, als wie Fanny sie ordnete, fiel überhaupt niemand ein. Was sie sagte, geschah immer.

Hier trat ein Diener ein und meldete, daß Wenzel und Riggers bäten, vorgelassen zu werden.

[] »Ah,« sagte Fanny, »da soll ich wohl den Schiedsrichter spielen wegen der strittigen Wiese?«

»Die Bauern bitten darum,« antwortete der Diener; »und hier, diese Depesche ist eingelaufen.«

Fanny nahm die Depesche vom Tablet, erbrach und las sie, lächelte, wandte sich zum Diener und sagte:

»Die Bauern können gleich vor. Ich rufe.«

»Schnell, Magnus,« mahnte sie dann, »ich schreibe Ihnen einen Check für mein Berliner Bankhaus, morgen fahren Sie hin, ordnen Ihre Sachen und kehren übermorgen zurück. Ist vom Duell etwas ruchbar geworden?«

»Nein.«

»Um so besser. Hier unterschreiben Sie den Schein.«

Magnus unterschrieb ein Papier, auf welchem Fanny Förster sich das Honorar zueignete, das er von der Firma Soundso erhalten solle. Dagegen empfing er einen Check, lautend auf fünftausend Mark.

Unmittelbar nachdem die Familie Fannys Zimmer verließ, drängten sich die zwei Bauern hinein, und auf dem Flur warteten noch weitere Leute.

»Ja, ja, die Frau ist ein Segen,« murmelte der Pastor.

»Leider fehlt es ihr an der rechten Frömmigkeit,« sagte die Pastorin klagend. Als sie sah, daß Magnus vom Zeugständer auf dem Flur seinen Hut nahm, [] fragte sie hastig: »Wo willst Du hin? Wir sind eingeladen, den Tag hier zu bleiben.«

»Nur dies zu Hause in meine Kommode schließen und mir ein Buch holen.«

»Laß nur. Ich gehe eben,« rief die Pastorin, der einfiel, daß Magnus gestern geäußert habe, Severina besitze jene eigentümliche, temperamentvolle Häßlichkeit, die gefährlicher sei als manche Schönheit. Und Severina war allein in der Pfarre.

So ging sie denn, und Vater und Sohn gesellten sich dem Baron auf der Terrasse zu.

[]

Viertes Kapitel

Es war am Abend dieses Tages. Adrienne saß mit einem Buch in der Hand auf der Terrasse, wo Fanny mit dem Pastorenehepaar und Lanzenau schon seit sieben Uhr Whist spielte. Die junge Frau begriff Fannys Geduld nicht; sie ihrerseits fühlte sich schon nach einer Stunde so nervös vom Zusehen, daß ihr das Aufstoßen der Karten auf die Tischplatte, wenn die Spieler ihre Stiche zusammennahmen, jedesmal einen leichten Schreck verursachte. Und diese im Text sich ewig gleichenden Bemerkungen der Spieler über Bilder, Renoncen, Tricks und Rubber!

Adrienne schielte zuweilen über ihr Buch hinweg zum jungen Doktor Hesselbarth hinüber, der am andern Ende der Terrasse lesend saß. Doch schien diesen das einförmige Geräusch nicht zu stören. Er las mit einer Vertiefung, als befände er sich etwa allein in seinem Studirzimmer.

Jedermann schien überhaupt in diesem Hause die unbegrenztesten Freiheiten zu genießen, mit Ausnahme [] von Fanny, die offenbar ihre Aufgabe darin fand, sich von den anderen ausnützen zu lassen. Nun, die Gründe für diese unbegreifliche Lebensgestaltung würden sich ihr schon allmälich enthüllen, dachte Adrienne und erhob sich endlich, als sie fühlte, daß ihre Ungeduld über die Ausdauer der Spieler sich bis zum Aerger darüber steigerte, daß niemand sich um sie bekümmerte. Wenn doch wenigstens Severina dagewesen wäre, allein diese war von der Pastorin mit dem Bedeuten weggeschickt, sie müsse zu Hause einhüten, weil die Magd einen Abendurlaub erbeten.

Als Adrienne am Kartentisch vorbei ins Haus ging, nickte Fanny ihr zu und fragte ausspielend:

»Willst Du nach Baby sehen? Küß es zur Nacht von mir.«

In der That hatte Adrienne ihr Kind aufsuchen und zusehen wollen, ob es schlafe. Eine dunkle Sehnsucht war in ihr Herz gekommen, das Wesen zu liebkosen, das einzige, welches ihr zu eigen gehörte. In Fannys Frage fand sie aber den Vorwurf, daß sie sich den ganzen Tag nicht um den Kleinen bekümmert habe, und ging nun trotzig nicht hinauf, sondern durch den Saal über den Flur, vorn hinaus und setzte sich da in den Beischlag. Aber sie fand es bald langweilig, auf den nun am Abend ganz unbelebten Hof zu sehen oder die dunkle Ulmenallee entlang zu gucken, wo sich doch nichts Lebendes zeigte. Die Bauern lieben nach der sauren Tagesarbeit im Freien, sich in Stube[] und Tenne auszuruhen. Spazierengehen in würziger Abendluft gehört für sie zu den unbegriffenen Luxusbedürfnissen des Städters.

Adrienne ging um das Haus und durch schmale Seitenwege parkeinwärts. Der Abend fing an, sich grau unter Stämmen und Buschwerk auszubreiten; als Adrienne, schon fern vom Hause, einen das Rasenparterre durchschneidenden Pfad verfolgte, sah sie auf der Terrasse Windlichter aufblitzen: offenbar setzten die Kartenspieler ihre öde Thätigkeit nun bei Beleuchtung fort.

Die junge Frau hatte von der Ausdehnung des Parks und der Verschlungenheit seiner Wege keine rechte Vorstellung. Sie glaubte, daß alle Wege sie wieder dem Hause zuführen müßten, und ging langsam weiter und weiter. Plötzlich sah sie nahe vor sich das Gebüsch breit auseinander weichen, der Weg trat in ein Halbrund ein, und dieses war abgeschnitten durch ein breites Wasser. Nahe am Ufer, das von jungem Röhricht eingefaßt war, stand ein Holztisch und davor zwei Bänke; Tisch und Bänke von jener einfachsten Art, die auf vier dünne Baumstämmchen ein paar dürftig behobelte Bretter nagelt. Adrienne ging durch das feuchte Gras und setzte sich auf eine Bank, die Ellenbogen auf den Tisch, das Kinn auf die gefalteten Hände stützend.

Die flache, weite Gegend war nun ganz verschattet, rings um den Horizont stand es wie eine Dunstmauer.[] Die Elbe schob Welle um Welle in sanfter Bewegung vorwärts, im Schilfrohr am Ufer raschelte es zuweilen, ein Frosch sprang auf und plumpste ins Wasser, sonst waren alle Töne des Lebens nah und fern erstorben. Adrienne war von namenloser Furcht ergriffen. Hinter ihr der Park stand zwischen ihr und der Welt wie eine schwarze Mauer, die zu durchbrechen sie sich um keinen Preis getraut hätte. Vor ihr hemmte der breite Strom die Flucht. Das gegenüberliegende Ufer, am Tag ein harmloses Rapsfeld, erschien jetzt wie ein düsteres Land, aus dem jede Minute unbekannte Schrecknisse hervorbrechen konnten.

Nun erschien dort rechts hinauf über dem Horizont, dessen Grenze übrigens schon längst mit dem Lande in einer schwarzen, untrennbaren Finsternis sich vermengt hatte, ein breiter roter Schein; – kein Schein eigentlich, denn die kupferglänzende, schräg abgeflachte Scheibe, die da gespenstisch schnell emporrückte, warf keine Strahlen. Wie ein umqualmter Feuerbrand ging der Mond am schwarzen Himmel empor. Er erschien der geängsteten Frau wie ein großes, strafendes Auge, ausschließlich auf sie gerichtet. Sie fürchtete sich wie ein kleines Kind allein im Dunkeln und schrie gell auf, als plötzlich ein fester, rascher Schritt ihr nahe schon ertönte.

»Hallo – ist da jemand?« fragte eine Stimme, welche Adrienne, erlöst aufatmend, für die von Magnus erkannte.

[] »Ich bin es,« sagte sie schüchtern.

Aber auch der Doktor hatte, näher kommend, an dem hellen Gewand und den schmalen Umrissen Fannys Gast erkannt.

»Bewundern Sie auch den Mondaufgang, gnädige Frau?« fragte er.

»Ach nein,« sprach sie weinerlich, »ich habe mich nur hieher verirrt. Bitte, bringen Sie mich zurück.«

»Ich rate Ihnen, noch eine Viertelstunde auszuhalten. Wie der strahlenlose Feuerball sich allmälich in lauter Silberglanz wandelt, das ist ein überherrliches Schauspiel.«

Er setzte sich Adrienne gegenüber; es war klar, er war hergekommen, dies Schauspiel zu genießen, und ängstlich blieb die junge Frau sitzen. Sie war nicht gewohnt, die Natur zu beobachten und zu genießen, und jene hundertfältigen Schönheiten blieben ihr verborgen, die geschulte, schauensfreudige Augen sehen, die gesammelte Sinne empfinden. Sie merkte jetzt nur, daß es feucht aus dem Rasen aufstieg und daß es kühl wurde.

Er aber sah auf dem dunkeltönigen Bilde, das mälich von weißlichen Lichtern überhellt wurde, ein junges, schönes Weib, welches in seiner überzarten Erscheinung wie die passendste Staffage in die Mondnacht gesetzt war. Der Mondschein spielte um ein weißes Gesicht, aus dem ein Paar großer Augen unsäglich trostlos himmelwärts schauten. Ueber dem[] Flußbett schwebten weißliche Nebel, die dampfend von der Wasserfläche aufstiegen. Auf dem feuchten Rasen, auf dem Laub der nächsten Büsche lag jener kalte Glanz, den das Nachtgestirn um sich verbreitet, und in Schatten flog es zuweilen wie ein Demantschimmer schnell vorüber: Johanniswürmchen begannen da ihre Nachtlust.

»Nicht wahr,« sagte Magnus, »es ist schön?«

Sie nickte nur.

»Die Schönheiten unserer Gegend sind wie die Schönheiten eines tiefsinnigen Werkes: man erfaßt sie erst durch Studium,« sagte er.

»Ja,« antwortete sie.

»O weh,« dachte Magnus, »das schöne Bild deckt eine Oede zu! Ich habe den ganzen Tag kein Wort gehört, das auch nur auf die notdürftigste Gedankenvegetation schließen ließe. Hinter der weißen Stirn und dem rötlichen Haar scheint steriler Boden.«

Dabei sah er unwillkürlich sein Gegenüber ungenirt forschend an. Dieser Blick war Adrienne unbehaglich, sie sagte mit einer gewissen Schärfe:

»Ich bin kein tiefsinniges Werk.«

So schnippisch kann nur eine unreife und unerfahrene Frau sein, deshalb freute er sich der Antwort, denn ihm wohnte, wie den meisten jungen Gelehrten, den Frauen gegenüber ein Gefühl der Ueberlegenheit, um nicht zu sagen Ueberhebung, inne.

»Verzeihen Sie,« sprach er lächelnd, »aber ich [] bin kurzsichtig, und da erscheint mein Blick gleich unbescheiden, wenn ich jemand nahe ansehe.«

»Haben Sie jetzt den Mond genug bewundert?«

Er sprang auf.

»Sie wünschen heimzukehren? Ich stehe zu Befehl!«

Adrienne ging hastig voran, aber kaum traten von rechts und links die dichten Baumschläge an den engen Weg, als sie sich in so offenbarer Furcht nach Magnus umwandte, daß dieser ihr den Arm anbot.

»Ob wir Fanny noch bei dem schrecklichen Whist finden?« sagte Adrienne.

»Pünktlich um halb zehn hört er auf. Fanny verliert immer ihr Geld, nie ihre Geduld dabei; man spielt um ein Geringes, aber Lanzenau und meine Mutter sind verstimmt, wenn sie verlieren. Ihnen ist dies Spielchen Erholung, Vergnügen, mein Vater und Fanny bringen ein Opfer.«

»Ums Himmels willen, Fanny scheint aller Welt Opfer zu bringen!« rief Adrienne. Dann zuckte sie zusammen: im Gebüsch hatte es geraschelt. Magnus zog ihren Arm zur Beruhigung fest an sich.

»Fanny? Ich weiß nicht, ob man Thaten, die einem seelischen Bedürfnis entspringen, noch Opfer nennen kann. Freilich, das Kartenspiel ist ein kleines – aber sie bringt es Lanzenau,« sagte Magnus.

»Lanzenau? Das sagen Sie mit einer Betonung, als wäre er für Fanny der Gegenstand höchster Güte,« bemerkte Adrienne; »man sieht es nicht im freundlichen[] Verkehr zwischen beiden. Aber dennoch frage ich mich, weshalb heiraten sie einander nicht, und ist es möglich, daß Fanny, so in ihren besten Jahren, niemals den Wunsch haben sollte ... ich meine ... ich wollte sagen ... warum sie wohl Witwe bleibt?«

»Da fragen Sie mich zu viel. Seit ich ein Junge von zwölf Jahren bin, war ich von der Schule, dann von der Universität immer nur zum Besuch hier. Herrn Försters erinnere ich mich kaum, doch Sie wissen, man gewinnt mit der Zeit so was wie ein retrospektives Verständnis, und so verstehe ich auch jetzt, daß mit den Jahren die Lebensbilder, die ich hier im Ausschnitt sah, immer heiterer und friedlicher wurden. Lanzenau war schon immer eine stehende Figur darin, auch zu Försters Zeiten. Damals gehörte ihm Driesa.«

»Ah,« sagte Adrienne mit dem Ausdruck unaussprechlichen Verlangens in Stimme und Antlitz, »wenn ich Fanny wäre, lebte ich anders.«

»Wie denn?« fragte Magnus, der von diesem Ausdruck gepackt wurde.

»Ich weiß nicht, wie,« flüsterte sie, »nur müßte jeder Tag eine neue Wonne, ein anderer Genuß sein.«

Magnus schwieg mit einigem Herzklopfen. Das also, das stand hinter der weißen Stirn! Die schönen Lippen waren nur so schweigsam, weil der Durst sie zusammenpreßte!

Es fiel Adrienne nicht auf, daß er ganz verstummte. Sie hatte so viel zu denken, daß sie seiner [] Unterhaltung nicht bedurfte. So kamen sie vor der Terrasse an.

Dort räumte gerade ein Diener den Kartentisch ab, aus dem Gartensaal brach ein Lichtstrom, man sah mitten in demselben Fanny und Lanzenau stehen, Lanzenau schien aus einem Zeitungsblatt eine Notiz zu lesen. Magnus' Eltern waren nicht mehr da.

»Ich habe mich schon vorhin von Fanny verabschiedet und gehe nicht mehr hinein. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!« sagte Adrienne und legte ihre kalte Hand in seine warme.

Sie standen am Fuße der wenigen Stufen, die zur Terrasse emporführten; im Schein des Lichts, das vom Hause kam, sah Adrienne die braunen Augen Magnus' mit jenem zudringlichen feurigen Blick auf sich gerichtet, den Männer schnell für eine schöne Frau haben, die ein Bedürfnis oder den Wunsch nach »Trost« gezeigt hat, – dem Blick, den Wegelagerer auf eine scheinbar wenig verteidigte Beute richten.

Adrienne erzitterte – so hatte sie noch kein Mensch angesehen, und ihr blieb auch alles Unbescheidene in dem Blick verborgen, sie bemerkte nur das Feuer, und das genügte, sie fliehen zu lassen.

Mit eilenden Füßen lief sie über Treppe und Terrasse in den Gartensaal.

»Gute Nacht, Fanny!« sagte sie und wollte ihr im Vorübergehen die Hand reichen. Fanny hielt sie fest, zog eine Depesche aus der Tasche, gab sie Adrienne und machte:

[] »Pst! Lesen, aber nichts sagen.«

Adrienne las, was da der Blaustift des Bahnhofinspektors auf das Depeschenformular hingeschrieben:

»Ich komme an dem gewünschten Tag.

Joachim von Herebrecht.«

»Ein Geheimnis vor mir?« fragte Lanzenau, scherzhaft drohend.

»Ja,« sagte Fanny, »das Geheimnis einer Verschwörung. Aber nun geh schlafen, armes Kind, Du siehst ganz bleich und übernächtig aus. Ich bin auch müde, aber ich habe noch einiges mit Lanzenau zu besprechen, wozu der Tag uns keine Muße gab.«

Adrienne murmelte etwas davon, daß sie in der That sehr abgespannt sei, und war froh, sich von beiden verabschieden zu können.

»Kommen Sie,« sprach Fanny; »was wir uns zu sagen haben, können wir uns draußen sagen. Die Nacht ist so wohlig kühl.«

Sie ging auf die Terrasse hinaus und setzte sich in einen leichten Schaukelstuhl; sie stemmte die Arme auf seine Seitenlehnen und die gekreuzten Füße auf einen Schemel. Den Kopf weit zurücklegend gegen die Holzeinfassung der rohrgeflochtenen Lehne, schaute sie zu dem neben ihr stehenden Lanzenau empor und fragte:

»Nun?«

Lanzenau, der die Rechte sehr nahe an Fannys Kopf auf die Stuhllehne gelegt hatte, strich mit der Linken seine Haarlocke gesichtwärts glatt. Fanny wußte [] ganz genau, daß das bei ihm nervöse Aufregung bedeutete.

»Wollen Sie nicht rauchen?« fragte sie.

»Also ich werde eines Beruhigungsmittels bedürfen?« fragte er mit einem schwachen Lächeln entgegen. »Nein, Fanny, ich will keines, sondern ich will meinem Henker – wenn er wirklich als solcher vor mir sitzt – fest in die Augen sehen; in diese grausamen, schönen Augen, die immer klar bleiben wie ein Himmel, über den nie ein Gewitter zieht.«

Er schob das Windlicht auf dem Tisch neben Fannys Stuhl etwas weiter fort, nahm sich einen Sessel und setzte sich Fanny so nahe gegenüber, als es ihre jeweiligen schaukelnden Bewegungen nur irgend erlaubten. Mit vorgebeugtem Oberkörper faltete er seine Hände zwischen seinen Knieen, sah Fanny eindringlich an und sagte:

»Dreimal, liebe Fanny, haben Sie seit dem Tode Ihres Gatten meine Werbung um Ihre Hand abschlägig beschieden, aber jedesmal hat die Art der Abweisung, hat Ihre liebevolle Güte nachher neue Hoffnung in mir genährt. Die Jahre sind darüber hingegangen, ich habe keine mehr zu verlieren in dem Kampf um Glück; jetzt muß es mein werden oder ich muß für immer verzichten.«

»Ja,« seufzte Fanny, »wir sind darüber alt geworden.«

»Nicht Sie, nicht Sie! Sie sehen aus, als zählten Sie fünfundzwanzig Jahre.«

[] »Sie wissen doch, Lanzenau, wenn man einer Frau von dreißig und darüber sagt, sie sähe aus wie fünfundzwanzig, so involvirt das Kompliment das Geständnis, daß ihre dreißig Jahre ein Verbrechen sind.«

»Fanny,« sagte er ungeduldig, »Sie wissen, diese Spitzfindigkeit ist mir gegenüber nicht am Platz.«

»Sie sagen mir im Tone des Vorwurfs,« knüpfte sie mit plötzlichem Ernst an seine Eingangsworte an, »daß mein Wesen Ihnen immer neue Hoffnung gegeben. Wie, sollte es immer die bittere Folge eines abgewiesenen Antrags sein, daß man einen lieben, unentbehrlichen Freund aus seinem Leben verliert? Könnten Sie mich je, könnte ich je Sie entbehren, so wie unser Dasein sich nun einmal gestaltet hat? Lieber Lanzenau, als Sie das erstemal um mich warben, war Ihre Aussicht die größte; ich schwankte. Und heute ist sie die geringste, denn heute wird mein ›Nein!‹ ein ganz bestimmtes sein. Ich hätte es Ihnen schon vor meiner Abreise geben können, aber Sie selbst baten um Antwort erst nach der Rückkehr. Glaubten Sie wirklich, ich hätte der fünftägigen Ueberlegung bedurft?«

»Darf ich Sie bitten, mir klar zu machen, wie unsere gegenseitige Unentbehrlichkeit mit Ihrer Abneigung, mich zu heiraten, in Einklang zu bringen ist?« fragte der Baron mit einer traurigen, mutlosen Stimme.

[] »Da es doch eine Zeit gab, wo keinerlei Abneigung bestand?« setzte Fanny leise hinzu. »Ja, so hätten Sie vollenden dürfen; daß Sie den Gedanken, die peinliche Mahnung verschwiegen, ritterlich und großmütig wie immer, das legt mir die Pflicht auf, selbst daran zu rühren.«

Er machte eine abwehrende Handbewegung.

»Nein,« sagte sie hastig, »einmal, einmal muß alles vom Herzen herunter.«

Ihre Augen bohrten sich in das nächtige Dunkel des Parkes, und sie sprach, in Unbeweglichkeit verharrend, langsam und leise in die Nacht hinein, als säße kein Zuhörer ihr nahe gegenüber, der mit scharfen, klugen Augen ihr jedes Wort von den Lippen las.

»Ich weiß es noch wie heute, als Sie zuerst dies Haus betraten. Es war nach dem Tode Ihres Vaters, der Ihnen Driesa in höchster Unordnung hinterlassen. Sie waren aus einem glänzenden, arbeitslosen Kavalierleben hieher geeilt, um Ihr Erbe zu ordnen. Es fand sich, daß der einzige Weg dazu der Verkauf des Familiengutes war. Mein Mann wollte es erwerben, aber Ihr Wunsch, das geringe Vermögen, welches Ihnen blieb, als Hypothek auf Driesa sicher zu stellen, scheiterte an dem Eigensinn meines Mannes, der in diesem Ihrem Wunsch die geheime Hoffnung Ihrerseits fand, eines Tages wieder Besitzer werden zu können. Ich verstand, daß Sie sich bloß fürchteten, Ihr Restchen Eigentum in wenig Jahren [] zu vergeuden und daß Sie den eigenen Grandseigneurangewohnheiten einen gewaltsamen Zügel anlegen wollten; denn eine unkündbare Hypothek sicherte Ihnen zeitlebens einen kleinen Zins, genügend für ein bescheidenes Junggesellenleben, aber sie verbot Ihnen jede Verschwendung.«

»Und dies Ihr Verstehen führte uns zuerst zusammen. Ich sehe die junge Priesterin der Vernunft noch vor mir, wie sie mir mit leuchtenden Augen und beredten Lippen meinen Vorsatz lobte, wie sie mir versprach, bei dem Gatten für mich zu wirken,« setzte Lanzenau warm hinzu.

»Ja, ich ereiferte mich für Sie und Ihre Sache. In meinen inhaltslosen Tagen war es der erste Gegenstand, für den ich wirken konnte. Sie gaben mir zu thun, und Sie, aus dem rauschenden Leben in diese unerträgliche Stille versetzt, Sie fühlten es als Ihr Herrenrecht, der jungen, ungestümen Frau – die Cour zu machen. Wir kokettirten mit einander, ohne das allergeringste für einander zu fühlen, – nur so faute de mieux.«

»O Fanny, wie hart!«

»Ja,« sagte sie herbe, »wir wollen ganz wahr sein. Gott sei Dank, daß wir es können, und daß, wenn wir uns die Masken vom Gesicht nehmen, nur menschliche Irrtümer, menschliche Flecken zu sehen sind, keine teuflischen Häßlichkeiten. Wir redeten uns ein, in einander verliebt zu sein, und das kam so: Ich [] war ein Kind, als ich Förster heiratete, ein unfertiges Kind, das Herz voll überspannter Gefühle, den Kopf voll übertriebener Ideen. Ich wollte lieben und geliebt sein wie eine Julia, ich wollte arbeiten und schaffen als die gleichberechtigte Genossin meines Mannes. Für den ernsten, älteren, vielbeschäftigten Förster sollte ich aber nur das liebenswürdige Aufheiterungsmittel der Erholungsstunden sein. Das war mir zu wenig. Ich war überzeugt, eine Frau werde entmündigt, wenn man sie nicht als Wirkerin und Richterin in den großen Fragen der Zeit heranzöge. Den Wust von ungeordneten Gedanken, der hinter meiner achtzehnjährigen Stirn umherwühlte, nahm ich für das Zeugnis bedeutender Anlagen, die zu erkennen Förster nicht im stande sei. Manch wirklich vernünftiger Wunsch erschien ihm thöricht, weil die Form, in welcher ich ihn vortrug, zu anspruchsvoll war. Vielleicht daß ihm in der That die Fähigkeit oder die Geduld abging, mich zu erziehen, zu verstehen – kurz, ich war bald ein Musterexemplar von jener Gattung, die man ›unverstandene Frauen‹ nennt, also ein unnützliches, unausstehliches Geschöpf. Für solche Frauen sollte im Strafgesetzbuch ein besonderer Paragraph stehen. Denn sehen Sie, bin ich, die ich hier sitze – eine ziemlich vernünftige Frau, die in mannigfachen Pflichten heiter ist und das Unvollkommene, das jegliches Dasein schließlich hat, gleichmütig erträgt – bin ich nicht dieselbe Fanny, die auch damals hätte schon Freude am Leben haben können und auch [] anderen hätte zu machen vermögen? Das bißchen Vernunft, das heute zu Wort gekommen ist, saß doch schon immer in mir, weshalb hatte ich es damals nicht ausgegraben?«

»Liebste Fanny,« sprach Lanzenau, »der Wahn, nicht verstanden zu sein, ist bei den jungen Frauen ein Durchgangsstadium, wie bei den Kindern das Ausfallen der Milchzähne. Zum Durchbeißen der härteren Lebenskost wächst dann ein neues Gebiß.«

»Mag sein. Nur hat der arme Förster gewiß viel zu leiden gehabt. Mißverstehen Sie mich nicht, ich verliere mich nicht in falsche Reue, denn mit ehrlichem Herzen habe ich auch damals ihn glücklich machen wollen; daß ich in den Wegen dazu irrte, ist Jugend schuld gewesen. Mangel an Erkenntnis entlastet vor jedem Richter. Aber dann kamen Sie. Die unverstandene Frau bekam ihr naturnotwendiges Attribut: den Tröster. Es mag eine Komödie zum Lachen gewesen sein mit uns beiden, Lanzenau. Sie langweilten sich in Driesa zum Sterben; der kleinen, temperamentvollen Nachbarin einen Roman zu schaffen, erschien eine standesgemäße Abwechslung. Ich bespiegelte mein Selbst wohlgefällig in den kleinen, tugendhaft bestandenen Versuchungen und redete mir in schlaflosen Nächten ein, daß Sie der Mann seien, der mich ›verstehe‹. Förster, der kluge, wachsame, mag, wie ich jetzt zurückdenkend die Situation sehe, uns ausgelacht haben in seiner schönen Sicherheit, daß er immer der Herr bleibe. [] Genug – Förster starb plötzlich, als unsere – Flirtation einem Gipfelpunkt zutrieb. Ich erwachte und begriff, was ich verloren. In ernster Einsamkeit begann ich an mir zu arbeiten. Ach, warum warten so viele Frauen und Männer erst auf Katastrophen, um ihre Selbsterziehung zu beginnen! Es gäbe mehr glückliche Ehen, wenn das anders wäre, und auch Förster und ich hätten glücklicher sein können. Ein Jahr nach Försters Tod boten Sie mir Ihre Hand. Sie waren in meiner Nähe geblieben, aber die Erschütterung, welche auch Sie über Försters Tod empfanden, hatte Sie den Ton der Ehrfurcht und Bescheidenheit mir gegenüber gelehrt. Ich lehnte Ihren Antrag voll innerer Zweifel ab. Warum?«

»Nun – warum?« fragte Lanzenau gespannt.

»Weil ich mir damals nicht klar war, ob mein Spiel mit Ihnen zu Försters Lebzeiten mich von Ihnen trennte oder mich zu Ihnen zwang. Deshalb sagte ich damals: ›Noch nicht!‹ Heute aber weiß ich längst, daß mich das weder an Sie bindet noch von Ihnen trennt. Solche Gefühle für Wechsel anzusehen, die man in der Zukunft einlösen muß, hieße mit Bewußtsein den Irrtum als Lebensbestimmer anerkennen und die reife Einsicht unter die Jugendthorheit stellen.«

»Und weshalb wurde mein zweiter, mein dritter Antrag abgelehnt?« fragte er.

Fanny stand auf. Sie ging im spielenden Licht der Kerze hin und her, die Bewegung ihrer Gestalt [] versetzte die Flamme hinter dem Glascylinder ins Schwanken. Auch Lanzenau stand auf. Plötzlich blieb Fanny vor ihm stehen, faßte mit ihren beiden Händen an seine herabhängenden Arme und sah ihn an, daß er über den veränderten, leidenschaftlichen Ausdruck in ihrem Gesicht fast erschrak.

»Wie wir so neben einander herlebten, uns unwillkürlich, fast unmerklich, zusammen zurechtfindend in den tausend Lasten und Pflichten, die Försters Tod auf mich warf und an denen Sie teilnahmen, als gehöre sich das so, da fand es sich nach und nach, daß wir an einander Eigenschaften entdeckten, die wir mit ruhigem Herzen achten konnten. Lanzenau, wie waren wir reich: anstatt ein Spiel des Leichtsinns mit einem Fall in die Tiefe und dem nachfolgenden Ekel zu beenden, blieb uns das schönere Los, uns als Menschen zu erkennen, die gemeinsam das Höchste zu leisten vermögen, was Menschenwille überall leisten kann. Wir arbeiteten zusammen in langen, segens- und mühevollen Jahren und sahen um uns in dem Kreise, so weit unsere Pflichten und unsere Kräfte reichen, Wohlstand, Frieden und Glück erblühen. Und, Gott sei Dank, Anforderung und Leistungsvermögen standen immer im Einklang. Wenn wir abberufen werden, dürfen wir uns zufrieden zur ewigen Ruhe begeben: jung waren wir Thoren, aber als wir zu Verstand gekommen waren, suchten wir die höchste Sittlichkeit in der Arbeit.«

[] In ihren Augen standen Thränen. Sie ließ ihn los.

»Aber, Fanny,« rief er erschüttert, »teure Fanny, dies alles darf ein Grund mehr sein, mir Ihre liebe Hand zu geben. Aus der Achtung ist die Liebe erwachsen, sie hat das schönste Fundament. Und in den gemeinsamen Aufgaben ruht die Garantie zukünftigen Glücks.«

»Nein,« rief sie leidenschaftlich, »nein, mein Freund! Nichts in mir zwingt mich, diese schöne Genossenschaft der Arbeit in eine andere Genossenschaft umzuwandeln. In all diesen Jahren hat mich nie ein leidenschaftlicher Wunsch zu Ihnen gezogen. Sie werden mir sagen: was die Vernunft anbietet, kann die Vernunft ruhig annehmen, von Leidenschaft soll ja überhaupt keine Rede sein. Aber das ist es: in dem gesunden, schönen Leben, das wir uns gestaltet, ist meine Seele immer freier und jünger, immer glücksfähiger und glücksdurstiger geworden, und nicht immer, mein Freund, habe ich mir unaufhörlich neue Pflichten gesucht, um mein Arbeitspfund zu verwalten ... nein, ich habe mich auch oft – betäuben wollen. Sehen Sie,« setzte sie mit schmerzlichem Lächeln hinzu, »die Unvollkommenheit, die Ungestilltheit ist noch in mir wie damals; aber ich weiß, daß das gemeinmenschliches Los ist, ich erkenne, daß man sich keine Zeit geben darf, darüber zu klagen, und nur in Stunden wie diese zwischen uns darf man daran rühren.«

Sie stand am Geländer der Terrasse und preßte [] die geballten Hände an ihre Augen. Lanzenau trat zu ihr, nahm ihr sanft die Hände vom Gesicht und legte den Arm um ihre Schulter.

»Und ich,« sagte er, sich zärtlich zu ihr beugend, »ich kann durch meine Liebe nicht das nützliche, zufriedene Leben zu einem glückseligen verschönern? Ich, Fanny, habe mehr und mehr mit leidenschaftlichen Wünschen an Sie gedacht, es ist nicht die Vernunft, die um Sie wirbt, sondern die Liebe.«

Sie sah mit nassen Augen zu ihm empor. Ein unbeschreiblicher Ausdruck von Schelmerei, Rührung und Zärtlichkeit vergoldete ihr Gesicht.

»Es ist eine Lächerlichkeit, Lanzenau,« sagte sie errötend, »aber ich ... ich ... meine zuweilen ... Sie wären zu alt für mich. Ich sehe das Alter bei Ihnen, Sie sehen es vielleicht auch bei mir. Das thut die Liebe nicht. Sehen Sie ... Ihre Schläfenlocken geniren mich. Eine andere Generation, eine, die vor mir war, redet daraus. Ich bin eine Närrin.«

Sie mußten beide aus der Rührung lachen. Und dabei wallte in seinem Herzen die Hoffnung nur stärker auf. Sie wies ihn ab – ja, aber aus ihren Geständnissen nahm er ihr unbegrenztes Vertrauen und zugleich die Gewißheit, daß keine andere Liebe ihr Herz beherrschte.

»Die Schläfenlocken können fallen,« sagte er heiter.

»O nein!« rief sie wie erschreckt. Und dann ernst:[] »Ich glaube, Sie verwechseln Ihre Gewohnheit mit Ihrer Neigung. Jeder Tag sieht uns vom Morgen bis zum Abend zusammen, wir sind eine Familie. Sie haben vergessen, ob und wie man ohne mich noch lebt und leben kann. Vielleicht haben Ihre Wünsche sich auf mich gerichtet, weil meine stete Gegenwart Sie hinderte, andere Frauen zu bemerken.«

»So senden Sie mich fort, und ich will vom Ende der Welt zurückkommen mit dem Bekenntnis: ›Fanny, ich liebe Dich!‹«

»Nicht so weit sollen Sie, sondern bloß nach Driesa,« sagte Fanny, ihr altes Gleichgewicht wiederfindend.

Schnell von seiner Bereitwilligkeit, die Welt zu umschiffen, ernüchtert, fragte Lanzenau finster:

»Es ist Ihr Ernst? Und was soll in Mittelbach geschehen?«

»Erstens sind Sie eingeladen, jeden Tag zum Speisen hieher zu kommen, was ja für Sie kaum einen Unterschied macht, da Sie jetzt jeden Vormittag nach Driesa reiten; zweitens nehme ich einen Administrator für Mittelbach,« erklärte Fanny und zog wieder die Depesche aus der Tasche. »Da,« sagte sie, »so heißt er.«

»Joachim von Herebrecht,« fragte er, »der junge Schwager Adriennens? Und das war so eilig, daß es per Draht abgemacht werden mußte?«

Sie hörte wohl die Bitterkeit in seiner Stimme, antwortete aber ruhig:

[] »Es galt, dem jungen Mann, der stellenlos und auf eigenen Erwerb angewiesen ist, einen Wirkungskreis zu schaffen, der ihm, wenn er von hier weiter strebt, als Empfehlung dienen kann. Seiner Jugend wird man, so lange seine Fähigkeiten kein Versuchsfeld hatten, kaum einen verantwortlichen Posten anvertrauen. Hat er sich auf Mittelbach bewährt, wird leicht ein weiterer Weg gefunden. So habe ich erwogen, und wenn ich finde, daß das, was ich will, gut ist, scheint mir immer die rascheste Entscheidung die beste.«

Lanzenau küßte Fanny die Hand.

»Daran erkenne ich wieder meine Fanny. Mit raschem, klarem Handeln greift sie wieder in eine Existenz und öffnet dieser sichere Bahnen. Nun denn, wenn auch diesmal ich darunter zu leiden habe, kann ich Ihre Bestimmungen nur billigen und werde morgen früh meine Schlafstätte aus dem Mittelbacher Pastorenhause nach dem Driesaer Schloß verlegen. Ich thue das in der Hoffnung, daß unser kargeres Beisammensein auch Ihnen, Fanny, den Gedanken wecken und festigen soll, daß eine Trennung zwischen uns eine Unmöglichkeit ist, daß eine Heirat zwischen uns nur eine logische Entwicklung der Thatsachen bedeutet.«

Fanny schüttelte lächelnd den Kopf, wie man bei der Thorheit eines Kindes thut, die man mißbilligt, aber doch nicht strafbar findet.

»Sie begannen das Gespräch, indem Sie mir sozusagen ein Ultimatum stellten: heute oder nie mehr![] Und Sie endigen es mit dem Bekenntnis neuer Hoffnung.«

»Ich kann nicht anders,« sprach Lanzenau, »ich fühle, daß die Hoffnung aufgeben, einfach das Leben oder doch die bisherige Daseinsform aufgeben heißt, und das bedeutet für Menschen in einem gewissen Alter einen tödlichen Schlag. Eine Erschütterung des Gemüts kann einen Zwanzigjährigen reifer und kraftvoller machen – uns würde sie in Greise wandeln. Gute Nacht, Fanny, ich gehe heiter, denn mein Glaube, daß Sie mein sind, steht fest wie die Sonne am Himmel!«

Fanny schüttelte ihm die Hand. Er nahm seinen Hut, der auf dem Tische neben dem Windlicht lag, und ging die Stufen hinab in den Park, wo er nach wenigen Schritten in der Dunkelheit verschwand; dennoch blieb Fanny stehen, als sähe sie ihm nach. Vor ihrem geistigen Auge schritt er dahin in seinem engen Wams, mit seinem spitzen Schnurrbart, dem Monocle im linken Auge und dem hohen Hut auf dem Kopfe. Sie sah seinen vorsichtigen, etwas steifbeinigen Gang, die zierliche Art, wie er zwei Finger der Linken zwischen die Knöpfe und die ganze Rechte außer dem Daumen in die Seitentasche des Jaquets steckte, – eine Gestalt, die auf dem Boulevard einer Weltstadt charakteristisch gewesen wäre, die aber in der Ländlichkeit von Mittelbach allezeit ein klein wenig an den alternden Bonvivant der Bühne erinnerte. Dabei verhütete ein [] gewisses aristokratisches Etwas jeden Eindruck von Lächerlichkeit.

Fanny sah das alles ganz lebhaft vor sich und dachte zugleich mit dankerfülltem Herzen daran, wie hundertfach sie diesem Mann verpflichtet war, wie sie ihn verehrte, liebte – ja liebte, etwa wie einen Vater oder älteren Bruder. Aber das war ja wieder lächerlich von ihr. Sie nahm das Licht, ging hinein, schloß hinter sich zu und schritt geradewegs auf den Spiegel los, der an der einen Schmalwand des Saales zwischen zwei Sofas stand.

Hier sah sie sich fest ins Gesicht.

»Fanny, du bist selbst eine alte Frau!« sagte sie laut.

Dann ging sie, ein lustig Lied auf den Lippen, dessen Töne sie zum Summen dämpfte, mit heiterer Stirn in ihr Schlafgemach, um wie immer traumlos und fest zu schlafen.

[]

Fünftes Kapitel

»Was, der Zug hält nicht an der Station?« fragte Joachim von Herebrecht am Billetschalter eines Berliner Bahnhofes.

»Nein, nur die Lokalzüge.«

»Und wann geht der nächste?«

»Morgen früh um sechs Uhr,« sagte der Beamte und wandte sich von dem erledigten Fall seinen anderen Obliegenheiten zu.

Joachim stand eine Weile unbeweglich und störend im Menschengewühl des Bahnhoftumultes, wie jemand, der für den Augenblick ganz verdummt ist.

»Den Teufel auch,« dachte er verdutzt, »da trete ich mit einer Unpünktlichkeit in den neuen Wirkungskreis. So was macht immer einen schlechten Eindruck. Aber die Frauenzimmer hätten doch auch in den Briefen, die der Depesche folgten, ein Wort davon einfließen lassen können, daß man nur mit dem edlen Beförderungsmittel der Bummelzüge in die Försterschen Gefilde gelangen kann. Na, wo Frauen regieren, kann [] man am Ende solche Vergeßlichkeit nicht befremdlich finden und kann auch wohl darauf rechnen, daß Unpünktlichkeit nicht als Untugend angesehen wird.«

Damit beruhigte er sich, suchte ein Hotel in unmittelbarer Bahnhofsnähe auf und ließ sein Gepäck gleich an der Eisenbahn. Der andere Morgen sah ihn sehr übellaunig im Coupé des ersten Zuges, der mit viel Geräusch und wenig Eile durch den märkischen Sand fuhr. Joachim, von Berufswegen zum steten Frühaufstehen gezwungen, haßte dasselbe doch gründlich und liebte an den Tagen, wo der Zwang wegfiel, ein verlängertes Verweilen im Bett, bis zur Mittagsstunde womöglich. Und natürlich würde nun kein Wagen an der Station sein und er konnte das Vergnügen genießen, ein paar Stunden durch den sonnigen Morgen zu Fuß zu laufen.

Diese Befürchtung bestätigte sich, denn der Inspektor teilte an der Station dem jungen Herrn mit, daß gestern zum letzten Zug – zum letzten Bummelzug, schaltete Joachim ein – der Wagen hier gewesen sei und daß die fremde Dame, die neuerdings auf Mittelbach wohne und Frau Försters Schwägerin sein solle, darin gesessen habe.

»Frau von Herebrecht?« fragte Joachim unglücklich. »Auch das noch!«

»Ich weiß nicht, wie die Dame heißt; sie ist jung, sehr schlank und trug ein weißes Kleid und einen großen weißen Hut.«

[] »Natürlich – Adrienne!«

Joachim sagte, daß man sein Gepäck holen werde, und machte sich auf den Weg.

Es mochte gegen zehn Uhr sein, und der Junimorgen lag mit blendendem Sonnenschein über den Feldern. Die lang aufgeschossenen Pappeln warfen weitläufige Gitterschatten über die Chaussee, deren Fahrdamm wie von silbergrauem Staubpulver überschüttet war. Von rechts und links drängte sich das wogende Getreide an die Straße, ein erfrischender Wind fuhr über die bläulich aufschimmernden Aehren des Sommerkorns. Joachim nahm den Hut ab, daß der Wind ihm die Stirn kühle, und spannte einen blauleinenen Sonnenschirm, den er bisher als Stock benützte, über sich auf. Das Wandern durch die reichtragenden Felder ward ihm schnell zum Vergnügen, er pfiff den Fledermauswalzer vor sich hin und dachte nach, in einem abwechslungsreichen Durcheinander bald über die Verlobung der »kleinen Elly«, bald über die Qualitäten des Mittelbacher Bodens, bald über die Operette, die er vorgestern in Berlin gesehen hatte, und über die Menschen, die er in Mittelbach finden würde. Viel Sorgen machte er sich um das alles nicht.

Sein aschblondes Haar, leicht über der Stirn gelockt und ziemlich kurz gehalten, krönte ein junges, offenes, frohes Männergesicht. Die blauen Augen schauten hell um sich, die fein gebogene Nase – die Herebrechtsche Familiennase – stand über frischen,[] feinen Lippen, die ein blondes Schnurrbärtchen zierte. Die Linie des Wangenprofils, die Form des festen Kinns, die Art, wie der Kopf getragen wurde, gaben dem jungen Antlitz den Ausdruck von Stolz und Adel. Dazu die sehr geschmeidige, mittelgroße Figur – man mußte gestehen, Joachim konnte mit dem Gepräge zufrieden sein, das die Natur ihm gegeben.

Er näherte sich, rüstig ausschreitend, dem Wald, an dessen Saum ein Landweg zwischen Knicken sich hinzog. Joachim sah da etwas, das seine Aufmerksamkeit fesselte, und der Walzer auf seinen Lippen – er hatte inzwischen eine Repertoireveränderung vorgenommen und war eben bei dem unsterblichen Coakeswalzer – endete mit einem charakteristischen Pfiff. Der Pfiff hieß in die Sprache übersetzt: »Paß auf, mein Junge!«

Nach dieser Selbstmahnung bestieg er den Meilenstein neben der nächsten Pappel und sah dann auch genauer, daß es eine reitende Frau sein mußte, die zwischen den Knicken entlang kam. Die sich hebende und senkende Bewegung eines Kopfes mit schleierumwundenem Cylinderhut, konnte nur davon kommen, daß die dazu gehörige Person auf einem Pferde saß und Trab ritt. Und jetzt ein helles Aufwiehern des Rosses.

Joachim, der auf alles Weibliche eine ungemeine Neugier besaß, eilte vorwärts, um womöglich da, wo Chaussee und Landweg sich schnitten, mit der Reiterin zusammenzutreffen. Das wäre nun selbst seinem[] schnellsten Gang nicht möglich gewesen, aber die Reiterin sah, als sie die Chaussee überschreiten wollte, den Herrn mit dem Sonnenschirm daherkommen. Sie hielt ihr Pferd an und schaute dem Kommenden entgegen; eine so kultivirte Männererscheinung in elegantem grauem Straßenanzug, mit einem Schirm über der Schulter, mochte wohl zu auffällig um diese Zeit, auf dieser Straße, und vor allen Dingen als Fußwanderer, sein.

»Aha,« dachte Joachim, »das ist natürlich Fanny Förster. Donnerwetter! Ich dachte sie mir überhaupt älter.«

»Herr von Herebrecht?« rief Fanny ihm schon fragend entgegen. Sie hätte sein Gesicht überall wiedererkannt, nach dem Bilde, das Adrienne von ihm hatte.

»Zu dienen, meine Gnädigste. Und daß ich gleich mit einer Bitte um Entschuldigung beginnen muß, ist nicht sehr angenehm. Indes hatte ich keine Ahnung von der Eisenbahnverbindung,« sagte Joachim.

»Das dachten wir uns, es ist unsere Schuld. Daß Sie aber nun zu Fuß daher marschiren, ist wieder Ihre Schuld, denn eine Depesche hätte den Wagen an die Station gerufen,« sprach Fanny, ihn mit herzlicher Freundlichkeit so unverhohlen betrachtend, als wäre ihr ein lieber Verwandter nach langer Trennung wiedergekehrt.

»Gegen die Depeschenbeförderung über Land habe [] ich ein in üblen Erfahrungen wurzelndes Mißtrauen,« antwortete er.

Sie standen im kühlen Schatten des Waldsaumes, und die Sonnenstrahlen hatten hier noch nicht den Tau aus der Rasennarbe weglecken können. Es rauschte durch die Kronen wie Meeresbrandung; der wohlige Gegensatz zur langen, heißen Wanderung war so groß, daß Joachim tief befriedigt aufseufzte.

»Geht es immer durch den Wald?«

»Bis beinahe zum Dorfe. Sie können nicht fehl gehen, die Chaussee schneidet schnurgerade durch den Wald, und dann sehen Sie Mittelbach. Adrienne werden Sie im Park mit ihrem Kleinen finden, vor einer Stunde habe ich sie da verlassen. Ich würde Sie begleiten, allein erstens ist es ein ungemütliches Zusammengehen – einer zu Fuß, der andere zu Pferd; sodann muß ich zu den Wiesen hin; die Leute fangen heute beim Heuen an. Die Wiesen liegen da hinaus« – sie zeigte mit der Reitgerte rechts am Wald entlang – »und bilden eine Art Scheide zwischen Driesa und Mittelbach; das Flüßchen in der Mitte, das zur Elbe geht, bildet die Grenze. Das zeige ich Ihnen alles morgen. Für heute widmen Sie sich nur ganz Ihrer Schwägerin. Adrienne kann Ihnen inzwischen Ihre Zimmer anweisen. Also – auf Wiedersehen!«

Sie neigte sich und reichte ihm die mit einem Stulphandschuh bekleidete Rechte, mit der Linken so lange Zügel und Gerte zusammenfassend. Joachim[] empfing den freundschaftlichen Händedruck, klopfte noch dem Pferd den Hals, sagte: »Ein schönes Tier!« und verneigte sich, Abschied nehmend. Fanny nickte noch einmal.

Er sah ihr eine Weile nach.

»Wie elastisch und stolz zugleich sie sich hält. Famos! Sehr formell und schwierig scheint sie nicht. Merkwürdig, mir ist es, als kenne ich sie schon lange. Und wie schön ihr Auge und ihr Lächeln ist!«

So dachte Joachim mit einer Art von objektiver Bewunderung, als stände er etwa einem schönen Bilde gegenüber, das er anstaunte, aber das ihn weiter nichts anging.

Noch froher schritt er fürbaß. Fannys Emanzipation war wenigstens nicht in unweibliche Manieren gekleidet. Joachim hatte merkwürdigerweise die vorgefaßte Meinung, daß Fanny eine selbstherrliche, emanzipationseifrige Person sei. Mochte das, was er so beiläufig dann und wann von ihrem selbständigen Wirken, von ihrem zielsichern Wesen gehört, ihm unmerklich diese Ansicht beigebracht haben – genug, er hatte das Vorurteil und war mit dem Vorsatz gekommen, sich nicht in den Bereich ihrer Weltverbesserungsideen ziehen zu lassen und überall ihr gegenüber seine Selbständigkeit zu bewahren. Es schien aber doch so, dem Gesamteindruck des ersten Augenblicks nach, daß sich werde mit ihr leben lassen.

Da war das Dorf, die Kirche, die Pfarre. Er [] brauchte niemand um den Weg zu fragen, die Ulmenallee wies diesen von selbst. Doch besann er sich, daß seines Bruders Frau mit seinem kleinen Neffen und Patchen im Park sein sollte. Kecklich bog er gleich seitwärts um das Haus, mochte der Hofhund, der vorn an der Kette lag, gleich in wütendem Gebell die Frechheit des Fremden bekläffen.

Ah, hinten sah das vornehmer aus als vorn, wo der altmodische Beischlag, die düsteren Linden, das hohe Ziegeldach des Hauses und rechts und links am Hofe die langgestreckten Scheunen dem Ganzen einen ernsten, unschönen Charakter gaben. Hinten aber öffnete sich der prächtige Park, lud die mit gärtnerischem Schmuck umzierte Terrasse ein. Joachim folgte aufs Geratewohl einem Wege, der sich durch Gebüsch zur Parktiefe wand. Nicht lange, und ein weißes Gewand schimmerte durch das Grün. Nun hob er den Fuß mit Vorsicht. Er wollte mit dem Uebermut seiner fünfundzwanzig Jahre die Schwägerin erschrecken. War er doch der einzige, mit dem Adrienne je lachte, denn seiner unverwüstlichen Frohnatur widerstand ihre Teilnahmlosigkeit nicht.

Der Weg öffnete sich zu einer kleinen Rundung, in deren Mitte eine Riesenfichte himmelan strebte. Eine Bank stand unter dem Baum, doch an der andern Seite, so daß die darauf Sitzende Joachim den Rücken oder vielmehr in einer halben Wendung den Seitenumriß ihrer Gestalt zeigte. Das Gesicht und Haar, [] die man bei dieser Stellung auch in den Profilinien hätte sehen müssen, waren unter einem jener mächtigen Gartenhüte aus weißem Musselin verborgen, die man Helgoländer nennt und die mit ihrem niederfallenden Stoffteil selbst noch den Nacken decken. Die Dame hatte ihre Ellenbogen auf den Rand des vor ihr stehenden Kinderwagens gestemmt und drehte in den zusammen emporgehaltenen Händen mechanisch eine Rose. Es war ein hübsches Bild; durch die Baumverzweigungen fielen einzelne Lichtflecke auf das im Schatten stehende weiße Gewand.

Joachim stand einige Sekunden und freute sich daran. Seine Gedanken flogen nach dem fernen Weltteil zum geliebten Bruder. Was der für eine Freude hätte, wenn er jetzt hier so lauschen könnte! Und wie voll und rund Adrienne geworden war bei aller Schlankheit! Daß sie eine so wunderbare Figur, so entzückende Händchen habe, war Joachim nie aufgefallen.

Er schlich näher, und über die Schultern der vor ihm Sitzenden hinweg plötzlich ihre Hände fassend, küßte er sie mit kühner Wendung über das Hutungeheuer hinweg auf den Mund. In der Sekunde oder vielmehr in dem Bruchteil der Sekunde, welcher verstrich von da an, daß Joachims Augen das Gesicht unter der weißen Umrahmung erfaßten, bis er auch schon seine Lippen auf den Frauenmund preßte, war es blitzgleich ihm gewesen, als sei's ein fremdes Gesicht. Aber Geberde und Lust zum Kusse waren in der [] winzigen Zeitspanne eines Herzschlags nicht mehr aufzuhalten. Auch war Joachim nicht der Mann, seine Lippen zu schließen, wenn ein Frauenmund nicht weiter von ihnen war als kaum eines Fingers Breite. So, halb im Irrtum, es sei Adrienne, halb im jähen Schreck, sie sei es nicht, küßte Joachim einen heißen, blühenden Mund und starrte dann in zwei dunkle, entsetzte Augen.

In der Stummheit einer halben Minute, die zwischen den beiden sich verdutzt Anschauenden brütete, war Joachim von dem angenehmen Bewußtsein erfüllt, daß er für die Verwechslung nicht verantwortlich und gar nicht strafbar sei. Ja, er schaute mit begreiflichem Interesse auf das Gesicht, das – er mußte es sich zugeben – nicht schön, aber unglaublich interessant war.

»Meine Gnädigste,« begann er endlich mit aller Mühe, sehr ernst auszusehen, »ich bitte um Vergebung. Aber Frau Förster sagte mir, Adrienne sei mit meinem Neffen im Park, und da ich Gründe hatte, mir Adrienne in Weiß gekleidet vorzustellen, so war die Ueberrumpelung gewiß verzeihlich.«

»Also Herr von Herebrecht?« fragte sie, ihn immer noch groß ansehend.

»Allerdings! Und soll ich auf die Gegenwart der Hausherrin warten, um in feierlicher Vorstellung auch Ihren Namen, meine Gnädigste, zu erfahren?« fragte Joachim in seinem flottesten Ton entgegen.

»Ich heiße Severina,« sagte sie und errötete tief.

[] »Merkwürdig – hat sie keinen weitern Namen? Ums Himmels willen, sollte es am Ende eine Bonne oder so was sein? Dann könnte ich gleich noch einmal ... aber nein, dazu ist sie zu ... ja ... wie denn? – zu apart,« dachte Joachim.

»Ich gehöre ins Pfarrhaus und habe Frau von Herebrecht Gesellschaft geleistet, die eben gegangen ist, sich zum Essen anzukleiden,« fuhr Severina fort.

»Also das Pastorentöchterlein!« rief Joachim lachend; »da muß ich mit erhöhter Eindringlichkeit um meines Ueberfalls willen Vergebung erflehen; denn meine Begrüßung als fromme Gewohnheit werkeifriger Nächstenliebe aufzufassen, dürfte ...«

»Dürfte selbst einem Landpastor die Herzenseinfalt fehlen,« fiel Severina ihm in die Rede, ebenfalls lachend, aber wie ihn däuchte, in etwas erregtem Tonfall.

Er sah ihr in die sprühenden Augen und hielt ihr die Hand hin.

»Schlagen Sie ein, darauf, daß dieser kleine Vorfall unter uns bleibe und unserem Verkehr – auf den wir doch wohl angewiesen sind – nichts von seiner Harmlosigkeit nimmt.«

Sie legte ihre Hand in die seine.

Er sah auf die kühlen Finger nieder und unterdrückte mühsam die Bemerkung, daß es die schönste Hand sei, die er je gesehen. Severina sah aber den Blick der Bewunderung, erglühend zog sie ihre Hand zurück.

[] In diesem Augenblick schrie das Kind im Wagen kurz auf.

»O, ich Rabenonkel!« rief Joachim; »ich vergesse über schönen Augen und heißen Lippen unsern Herebrechtschen Stammhalter.«

Das entfuhr ihm so, er schien überhaupt Severina ganz vergessen zu haben, stand über dem Wägelchen gebückt und plauderte dem Kleinen das unglaublichste dumme Zeug vor. Das Kind sah mit großen, wundernden Augen zu dem fremden Mann empor. Die liebevolle, wohllautende Stimme war ihm ein unterhaltendes Geräusch, es blieb ganz stumm.

Severina sah dem drolligen Bild zu. Joachim war entzückt, mehr als das, er war stolz, in dem Kleinen ein so klugäugiges, rundbackiges Wesen zu finden, und erging sich in Ausdrücken der unbegrenzten Bewunderung. Schließlich war es ja natürlich – Arnolds Sohn konnte kein Alltagskind sein. Und wie der Bengel Arnold ähnlich sah! Die ganze unendliche Liebe zum Bruder brach in leuchtender Wärme aus dem fast kindischen Gebahren.

»Wie muß er ihn lieben!« dachte Severina. »Wer auch einen Bruder hätte – auch so geliebt würde!« fügte sie bitter für sich hinzu. Ihre Augen hafteten dabei mit einem seltsamen Gemisch von Teilnahme und Neid auf Joachim, der die kleinen Fingerchen seines Neffen einzeln küßte. Und plötzlich begegnete er diesem Blick.

[] Er schnellte in die Höhe.

»Was ist hier denn für ein Lärm ... Joachim ... Joachim!« rief Adrienne. Es war das erstemal, daß Severina die Stimme dieser Frau lebhaft erschallen hörte. Mit einem Freudenruf sprang Joachim auf sie zu und fiel ihr um den Hals.

»Nun haben wir beide uns doch, da ist's leichter zu tragen, daß Arnold weg ist,« sprach er.

»Du guter Junge! Und wie Du wohl aussiehst!«

Adrienne küßte ihn. Dabei sah Joachim an ihrem Haupt vorbei auf Severina, so übermütig, als wollte er sagen: »Das haben wir schon abgemacht.«

»Hat Arnold kürzlich geschrieben?«

»Nein.«

»Kann der Junge schon Onkel sagen?«

»Wo denkst Du hin! Noch nichts. Er ist ja noch kein halbes Jahr.«

»Ich verstehe nichts von Babies.«

So ging das schnelle Reden hin und her. Severina fühlte sich namenlos überflüssig und ging schnell davon. Es sah wie eine Flucht aus, und ihr Herz klopfte dabei.

»Er sieht aus wie das Glück und die Freude selbst,« dachte sie, und ein Zittern lief durch ihre Glieder.

»Warum geht sie?« fragte Joachim.

»Sie denkt zu stören.«

»Für eine Pastorentochter sieht sie recht wenig zahm aus,« sagte Joachim, der Gestalt mit dem graziösen Gang eifrig nachsehend.

[] »Sie ist ein Pflegekind. Eine Verwandte der Frau Pastorin hatte das Unglück, bei der Geburt einer Tochter zu sterben, ohne kundgethan zu haben, wer der Vater sei. Severina, das Mädchen mit dem ernsten Kalendernamen, ist nun von der Pastorin auferzogen und ausersehen, als Büßerin durchs Leben zu wandern. Aber was von Natur einmal darin steckt: die Energie, die Liebe zum Schönen und Anmutigen, der selbständige Geist, das bringt kein fortwährendes Predigen heraus,« erzählte Adrienne.

»Armes Mädchen!« rief Joachim, von starker Teilnahme ergriffen.

»Dank Fannys Eingreifen, dem die Pastorsleute nicht widerstreben können, ist Severinas Bestimmung, eine asketische Betschwester zu werden, immer noch ihrer Erfüllung sehr fern. Fanny zieht das Mädchen viel in ihre Nähe, kleidet sie ganz und gar, wenn auch einfach, so doch, wie Du siehst, sehr anmutig, und wenn sie ausfährt, ja sogar auf Reisen nimmt sie Severina mit. Dafür betet diese natürlich Fanny an, als sei sie kein Weib, sondern ihr Gott.«

»Das begreift sich.«

»Aber nun komm ins Haus, in Deine Stuben.«

Joachim ließ es sich nicht nehmen, den Kinderwagen zu schieben, Adrienne ging neben ihm her.

»Langweilen werde ich mich hier nicht,« dachte er zufrieden, »so viel nette Frauen! Erstens meine Schwägerin, sodann die Hausfrau, die offenbar ebenso [] gütig als verständig ist, und endlich das Mädchen mit dem Gesicht, das aussieht, als könne aus Augen und Mund ein Flammenstrom sich ergießen ... du bist ein Glückspilz.«

An der Terrasse kam ihnen die Magd entgegen, die den Kinderwagen an sich zog. Joachim und Adrienne schritten durch den Saal, über den Flur in die Zimmer, welche für den neuen Hausgenossen fertiggestellt waren. Sie lagen vorn, nach dem Gutshof hinaus.

»Hier aus Deiner Wohnstube führt die Thür links in Dein Schlafkabinet, rechts in die sogenannte Amtsstube, welche Fannys Audienz- und Arbeitszimmer ist. Ihre Privatzimmer liegen gerade über den Deinen,« erklärte Adrienne.

»So ist es recht,« scherzte er, »das Auge der Regentin und ihres ersten Ministers muß das Arbeitsreich jederzeit im Auge haben.«

Behaglich sah er sich in den einfachen, wohnlichen Räumen um. Als er dann über dem Sofa ein kleines, hübsch eingerahmtes Bild seines Bruders fand, drückte er der Schwägerin gerührt die Hand.

»An so etwas denkt nur eine Frau. Wie liebevoll ersonnen! Und ein Epheukränzchen ist darum.«

»Ich that das nicht,« sagte Adrienne verlegen; »Fanny weiß, daß Du Arnold so lieb hast.«

Joachim wollte alle Briefe lesen, die bislang von Arnold eingetroffen seien, Adrienne holte sie herbei, man las und plauderte zusammen, dann wollte Joachim auch ihre Wohnung sehen.

[] »Donnerwetter,« sagte er oben, »Fanny muß ebensoviel Geld als Gutmütigkeit haben.«

Der gewisse Respekt, den wohlangewendeter Reichtum immer einflößt, erfüllte schon Joachims Seele.

So wurde es Mittag, und erst kurz vor der Essensstunde, die auf Mittelbach um vier Uhr anberaumt war, konnte Joachim Fanny begrüßen. Sie hieß ihn nochmals mit gütigen Worten willkommen und stellte ihn dem eben von Driesa herübergekommenen Lanzenau vor, der seinerseits dem jungen Mann mit väterlichem Wohlwollen die Hand schüttelte.

»Wo ist denn das interessante Fräulein, das ich heute morgen im Park sah?« fragte Joachim.

Lanzenau und Fanny lächelten über die unbefangene Art, sogleich nach dem einzigen jungen Mädchen des Ortes sich zu erkundigen.

»Severina ist nach Hause gegangen, kommt aber mit der ganzen Familie heute nachmittag her. Zur Feier Ihrer Ankunft muß unser kleiner Kreis sich doch vereinen,« sagte Fanny.

Adrienne wurde rot. Der Gedanke, daß Joachim mit dem jungen Doktor Magnus Hesselbarth bekannt werden würde, sich vielleicht gar mit ihm befreunden könne, war ihr seltsam unbehaglich.

Während des Speisens mußte Joachim von dem Gut und der Familie erzählen, wo er bisher als Oekonomievolontär gelebt. Er that es mit heiterem Freimut. Fanny neckte ihn sogar ein wenig mit der [] »kleinen Elly«, die in seinem Brief eine so große Rolle gespielt habe, und Lanzenau schenkte ihm allemal sein Glas voll, wenn er es leergetrunken. Es war eine Art zärtlicher Protektion, mit der ihn alle hier behandelten. Joachim empfand es angenehm, aber nicht auffallend; er war es eben gewöhnt, daß alle Welt herzlich und fröhlich mit ihm verkehrte. Gott mochte wissen, woher das kam; er war innerlichst davon überzeugt, soweit ein ganz ehrenhafter, braver Junge zu sein, aber was Bedeutendes hatte er nie geleistet noch an sich gehabt, noch würde er je dergleichen vollbringen. So war's denn seine Pflicht, allen Menschen für das gütige Entgegenkommen durch ein möglichst lustiges und bescheidenes Wesen zu danken.

»Ein zu lieber, netter junger Mensch,« sagte Fanny nach Tisch vergnügt zu Lanzenau.

»Ja, er ist das, was man einen liebenswürdigen Jungen nennt. Eins von den Sonntagskindern, die einem das Herz erfreuen schon durch ihr bloßes Dasein,« meinte Lanzenau.

Als Fanny dann in ihrem Arbeitszimmer mit den Dorfbewohnern – davon täglich der eine oder die andere erschien – deren Weh und Ach überlegte und verbesserte, war es ihr eine angenehme Empfindung, nebenan jemand rumoren und pfeifen zu hören. Joachim packte seine eben angekommenen Sachen aus. Als er damit fertig war, klopfte er an und trat von seiner Wohnstube aus ein.

[] »Wir haben, meine gnädigste Frau,« begann er, »mein Hieherkommen durch einen Depeschenwechsel abgemacht. Vielleicht haben Sie selbst schon daran gedacht, daß es doch noch einige Punkte zu erledigen gibt, deren wichtigster wohl der ist, den Umfang meiner Thätigkeit zu bestimmen.«

Fanny, die eben den letzten Bittsteller entlassen, drehte sich auf ihrem Stuhl Joachim zu, steckte die Feder hinter das Ohr, trommelte mit den Fingern der Rechten auf den Tisch, während sie die Linke in ihrem Schoß ruhen ließ, und sagte eifrig:

»Natürlich, natürlich. Auch Ihr Gehalt ...«

»Bitte, das ist vorerst nebensächlich. Das sag' ich aber nicht, weil ich in lächerlichem Hochmut es peinlich empfände, vom Geld als dem Lohn meiner Arbeit zu sprechen, sondern weil die Arbeit selbst mir meiner Lage nach zunächst das Wichtigste ist. Was mir notthut, um meine Laufbahn gut zu beginnen, ist ein großes und verantwortliches Thätigkeitsfeld. Wenn Sie mir dies nicht anweisen können, Frau Förster, so wäre mein Hiersein herzlich überflüssig. Ich bin gekommen, gleich und freudig, weil ich mir dachte, wenn Sie mir nicht schaffen können, was ich fordern muß, so werden Sie Adriennens Schwager gewiß ein paar Wochen als Gast behalten, bis er eine Stellung gefunden. Mich bei Ihnen, verehrte Frau, in einer Zwitterstellung als Gast und Verwandter einerseits und Gutsinspektor andererseits auf die faule Seite zu legen, [] wäre eine – eine – ja, eine Unanständigkeit, die ich weder vor Arnold noch vor mir selbst verantworten könnte.«

Fanny sah mit ihren großen, klugen Augen in sein Gesicht, das in diesem Augenblick von männlichem Stolz durchleuchtet war.

»Ich habe vor wenig Tagen meinen Verwalter von Driesa entlassen müssen, weil jener sich ein Gütchen im Mecklenburgischen gepachtet. Anstatt wieder für Driesa jemand zu suchen, ist Lanzenau hinübergesiedelt, ich reite jeden Morgen dahin. Sie, mein lieber Joachim, sollen alleiniger Administrator von Mittelbach sein,« sagte Fanny herzlich. »Sie werden eine Ueberfülle von Obliegenheiten finden. Daß Sie, wenn dieselben erledigt sind, als Familienmitglied sich in meinem Heim zu Hause fühlen mögen, ist natürlich mein Wunsch.«

»Weshalb haben Sie mir nicht Driesa zugewiesen?« fragte Joachim. »Es wäre bequemer für Sie gewesen.«

»Gewiß – ja,« sagte Fanny etwas befangen. »Aber da Lanzenau früher Eigentümer von Driesa war und noch sein Vermögen darin stehen hat, so werden Sie begreifen – daß ein besonderes Interesse Lanzenaus ...«

Sie stockte. Das Lügen ging ihr nicht von der Zunge.

Joachim war zufrieden. Als alleiniger Verwalter des großen Gutes fühlte er sich vollkommen beruhigt wegen seiner Stellung. Fanny nannte ihm die Summe, die sie sich als seinen Gehalt gedacht. Diese war durchaus in den Grenzen der für solche Stellung natürlichen [] Besoldung. Als Joachim in der ersten Sekunde über die Höhe derselben erschrecken wollte, erinnerte er sich in der zweiten, daß sein Freund Soundso, der das Gut des Grafen Soundso verwaltete, einen ähnlichen Gehalt bekomme. Die bei einer Frau so seltene Unbefangenheit, mit der Fanny auch diesen Punkt erläuterte, berührte ihn sehr angenehm. Wahrlich, es schien, als stehe sie allezeit über den Dingen.

»Es fährt ein Wagen in den Hof,« bemerkte Joachim, zum Fenster hinsehend.

»Der Jagdwagen des Grafen Taiß!« rief Fanny und sprang auf. Geschwind schloß sie Bücher und Geldnapf in die Schublade ihres Schreibtisches, aber noch ehe sie damit zu Ende war, öffnete der Diener schon die Thür vom Flur her und meldete:

»Der Herr Graf!«

Taiß folgte augenblicklich, Fanny streckte dem hohen, bärtigen Mann beide Hände entgegen.

»Haben Sie einen Platz für mich an Ihrem Abendtisch, teure Frau, und eine Stätte für mein Haupt zur Nacht?«

»Beides. Fritz,« rief sie dem Diener nach, »das Zimmer für den Herrn Grafen!«

Der Graf, eine stolze Erscheinung, gut gewachsen und tadellos gekleidet, mit jener Eleganz, die der letzten Mode zu folgen weiß und doch das Geckenhafte vermeidet, hatte ein sonnenverbranntes Gesicht, dessen untere Hälfte sich in einem kurz gehaltenen dunklen [] Vollbart verbarg, über den die flatternden Enden des viel hellern Schnurrbarts hingen. Aus den nicht schönen, aber angenehmen Zügen traten eine wohlproportionirte Nase und ein helles, adlerscharfes Augenpaar hervor.

Dies streifte jetzt Joachim, den Fanny alsbald vorstellte.

»Ich bin auf einer Rundtour. Weshalb? – später. Für jetzt bin ich nur froh, daß Sie daheim sind und nicht alle Fremdenstuben voll haben!« rief Graf Taiß.

»Sie wissen, ich lebe immer still für mich weg. Nur im September ist es lebendig hier.«

»Meine Frau und meine Schwester senden tausend Grüße – sie werden sich wie alljährlich im September einfinden,« sagte der Graf. »Leonore hatte die größte Lust, mich heute zu begleiten, aber das mochte ich nicht wagen, Sie gleich mit der Gattin zu überfallen.«

»Sie hätten es nur thun sollen. Frau von Herebrecht ist auch hier. Bitte, lieber Joachim, benachrichtigen Sie Adrienne. Herr Graf wird sich in seinem Zimmer vom Staub der Landstraße befreien wollen – Pastors werden auch inzwischen kommen – also: Rendezvous auf der Terrasse!«

Taiß küßte Fanny die Hand und ging hinaus. Joachim sah dem eleganten Mann mit dem langen rehfarbigen Paletot nach.

»Ist das der bekannte Konservative?« fragte Joachim.

[]

»Ja. Aber, bitte, sagen Sie Adrienne Bescheid.«

Zwei Stunden später saß die ganze Gesellschaft um den Theetisch auf der Terrasse. Der Samowar stand vor Severina, die den Thee einschenkte. Joachim saß neben ihr und sah es als sein Recht und seine Pflicht an, ihr zu helfen, wie er sich denn überhaupt immer unwillkürlich zu ihr gesellte, kraft der Zusammengehörigkeit der Jugend. Die Pastorin strickte mit rasender Geschwindigkeit. Adrienne lag in den Schaukelstuhl zurückgelehnt und hatte die zarten Hände im Schoß gefaltet. Fanny nähte an einem Flanelljäckchen. Die Herren rauchten Cigarretten, mit Ausnahme des Pastors, der nur Erlaubnis tagsüber zu zwei Pfeifen hatte. Magnus sah von Zeit zu Zeit flüchtig über Adrienne hin, schien aber sonst ganz beschäftigt, respektvoll dem Gespräch zuzuhören, das Graf Taiß und Lanzenau leiteten.

Es hatte sich sehr lange und lebhaft mit den neuen Kolonien beschäftigt, wozu Arnolds Reise die natürlichste Veranlassung gegeben. Adrienne konnte den Binnenlandsbewohnern manche kleinen Dinge aus dem Leben der Marineoffiziere erzählen, die neu und interessant waren. Aber seit Graf Taiß erzählt hatte und durch eine Notiz aus der Kreuzzeitung zu belegen wußte, daß das Kommando der Offiziere und Besatzung der »Maria« schon klimatischer Verhältnisse wegen nach einem Jahr abgelöst werden würde, seit dem war sie in Schweigen [] versunken, ein Schweigen, das sowohl Fanny als Magnus auffiel.

»Sie scheint nicht glücklich darüber,« dachten beide. Und Magnus sah sie darauf öfters an.

Die Pastorin warf, je angeregter Taiß im Gespräch wurde, um so häufiger einen Seitenblick auf den Whisttisch, der am andern Ende der Terrasse aufgerichtet war.

»Wissen Sie,« sagte Taiß, »daß unser bisheriger Vertreter im Reichstag, der alte von Behren, sein Mandat wegen Altersschwächlichkeit niederlegt und daß wir an eine Neuwahl denken müssen?«

Fanny sah ihn sehr mißtrauisch an.

»Sind Sie deshalb gekommen?« Taiß nickte. »O weh,« sagte sie, »mir wird bange!«

»Vor der Politik – das kennen wir,« meinte Lanzenau, »aber vielleicht ist Taiß nur gekommen, uns zu sagen, daß er selbst das seit fünfzehn Jahren von Behren innegehabte Mandat übernimmt.«

»Keineswegs,« erklärte Taiß; »ich werde meinem bisherigen Wählerkreis nicht untreu. Schmettow will für uns kandidiren, aber es ist ein sozialdemokratischer Gegenkandidat zu fürchten, der bekannte Schneider Mülding.«

»Wie schade!« seufzte Fanny; »ehedem erbte es sich von Periode zu Periode als Selbstverständlichkeit fort, daß Behren gewählt wurde. Nun gibt es Wühlereien, die Leute bekommen mir Raupen im Kopf, der Wirt verdient. Unser Idyll ist zerstört. So kann [] der Frömmste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.«

»Alle dem können Sie für Driesa, Mittelbach und Ihre Vorwerke vorbeugen, teure Frau, wenn Sie meinem Plan zustimmen. Versammeln Sie morgen Ihre Bauern, halten Sie ihnen eine Rede und sagen Sie den Leuten, daß sie unsern Kandidaten wählen sollen. Bei der blinden Verehrung, welche man Ihnen zollt, werden uns die hundertunddrei Stimmen Ihres Reiches bedingungslos zufallen.«

»Ich,« rief Fanny mit blitzenden Augen, »ich sollte mich mit Politik befassen? Niemals! Die Rede, welche ich den Leuten halten würde, möchte ein Unikum sein und Ihnen für immer Stoff zum Lachen geben.«

»Aber eine Frau muß doch Stellung nehmen zu den großen Fragen der Zeit!« rief Taiß entgegen.

»Die großen Fragen der Zeit, das sind für jede Partei nur ihre Prinzipienreitereien.«

»So wollen Sie uns patriotische Ziele und ehrliche Bemühungen absprechen?«

»Keineswegs; aber ihr alle, von welcher Farbe ihr auch sein mögt, ihr kommt mir oft vor wie Menschen, die einer Kugel nachschieben, die ohnehin schon rollt. Viel unnützer Aufwand ist dabei,« sagte Fanny.

»So haben Sie gar keine politische Ueberzeugung? So ist Ihnen die innere und äußere Entwicklung des Vaterlandes gleichgiltig? So wollen Sie, eine Frau von hervorragender Intelligenz, teilnahmslos zusehen? [] Was soll man dann von den minder Begabten, den minder Selbständigen erwarten? Und überall sieht man doch die Frauen aus den bisherigen Grenzen hinausstreben,« sprach Graf Taiß lebhaft.

»Das sind viele Fragen auf einmal,« sagte Fanny ruhig, »aber ich will sie Ihnen kurz beantworten. Ob die Kürze auch Bündigkeit ist, bleibe dahingestellt. Ich halte mich gern an den Ursprung der Dinge, um sie recht zu verstehen. Da die Natur nun einmal von Anfang an die große Teilung der Daseinsaufgaben vorgenommen und Mann und Weib je eine besondere Hälfte zugewiesen, so beuge ich mich kritik- und willenlos vor der großen Meisterin. Gewiß ist, daß im Laufe der Kulturentwicklung die Grenzen erweitert worden sind, die Wirkungs- und Ideenkreis der Frau einschlossen – er ist gewachsen mit dem des Mannes, der seinerseits, als die Frau sich mit Linnenweben und Kindertränken begnügte, auch bloß der Jagd und den primitivsten Staatsgeschäften, dem brutalsten Verteidigungskrieg oblag. Heute nimmt er an den grandiosen Formen des Weltverkehrs, des politischen Lebens, der wunderbarsten Erfindungen, der tausendfältigen Erwerbsthätigkeit als Mitwirkender oder Nutznießer oder wenigstens als kritischer Zuschauer teil. Soll das Weib ihm wie einst Gefährtin sein, so muß auch sie die Vorgänge der Zeit verstehen, wie sie ohne Zweifel damals verstehend zuhörte, wenn der Gatte vom Bärenfang, von wilder Schlacht erzählte. Die Mehranforderung [] verführt nun viele, die natürlichen Grenzen zu vergessen, und die Pflicht, zu begreifen, mit der Pflicht, zuzugreifen, zu verwechseln. Das heißt aber gegen ewige Gesetze sündigen.«

Lanzenau nickte, er kannte Fannys Glaubensbekenntnis wohl. Die Pastorin nickte auch, dachte aber, daß Fanny nur einfach hätte sagen sollen, es stehe schon in der Bibel, und alles andere sei Teufelsversuchung.

»So ordnen Sie das Weib dem Manne unter?« fragte Magnus, in der Hoffnung, ein Ja zu hören.

»Keineswegs,« sprach Fanny, ungestört an ihrem Jäckchen weiternähend; »das ist, wenn es geschieht, eine ebenso große Lächerlichkeit, als wollte man beispielsweise sagen: Der Kaufmann ist wichtiger als der Landwirt, die Bildhauerei höher als die Musik, die Luft nötiger als Wasser. Die Verschiedenheit der Dinge gibt noch keine verschiedene Rangordnung. Jeder steht vollfähig und unentbehrlich an seinem Platz. Aber daß nur nicht die Plätze verwechselt werden! Daraus entsteht Unheil.«

Joachim, der mit wachsendem Staunen den Aeußerungen der Frau zuhörte, die er für emanzipirt gehalten, rief hier: »Aber Sie, verehrte Frau, Sie beweisen doch durch Ihr eigenes Leben, daß eine Frau ganz den Platz eines Mannes ausfüllen kann!«

Fanny, die gerade mit dem Fingerhut eine Naht auf dem Tisch glatt strich, sah auf und über den Tisch zu ihm hin.

[] »Beweisen? Ich?« sagte sie. »Gott bewahre, ich will nichts beweisen. Ich lebe so, wie meine Individualität es heischt, ich erfülle meine Pflichten, zwischen denen freilich manche sind, die sonst der Hausherr trägt; aber meine Kräfte reichen.«

»Aber wenn Förster lebte, was hätten Sie dann bei minderer Beschäftigung mit dem Ueberschuß Ihrer Fähigkeiten angefangen?« fragte Graf Taiß, der im Grunde von Fannys Ansichten entzückt war und nur für seine augenblicklichen Zwecke gern ein teilweises Zugeständnis vernommen hätte.

»Ich weiß nicht. Hoffentlich wäre ich so gescheit gewesen, mir in der Armenpflege und in der Ausübung meines bißchen Maltalentes Beschäftigung zu machen. Sicherlich ist das Leben von Frauen, die mehr Leistungsfähigkeit haben, als ihre Stellung in ihrem besondern Dasein von ihnen fordert, immer ein gefahrvolles. Wenn sie durch Selbsterziehung oder durch einen liebevollen Gatten dahin geleitet werden, ihren Pflichtenkreis gesund zu erweitern, sind sie gerettet, andernfalls liefern sie einen starken Bruchteil zu den ›unverstandenen‹ und somit auf abschüssigen Pfaden wandelnden Frauen. Gehen die Fähigkeiten aber sehr weit ins Männliche hinüber – die Natur liebte zu allen Zeiten solche Spielarten – so muß die Frau eben ihren Ausnahmeweg gehen. Aber glauben Sie mir, die George Elliot, die Angelika Kauffmann, George Sand, Maria Theresia, und wie die großen Frauen auf den [] verschiedenen Gebieten heißen, entbehrten das stille, reine Glück des Weibes. Sie hatten auch das Glück, aber es trug das Antlitz einer Sphinx, es hatte glühende, drohende Augen und ein bitteres Lächeln um den Mund.«

Fanny war erregt geworden, und eine leichte Blässe lag über ihrem Gesicht.

»Das rechte Glück kommt nur durch Glauben und Demut,« murmelte die Pastorin, auf Severina blickend, die mit großen Augen und gespannten Mienen zuhörte.

»Auch wird jede Frau,« fuhr Fanny, zum Ausgangspunkt des Gesprächs zurückkehrend, fort, »wenn sie durch Verhältnisse gezwungen und durch Anlage befähigt ist, aus der Stille des Hauses herauszutreten, immer zuletzt irgendwo scheitern, und zwar nicht an Mangel von Verstand, sondern an Ueberschuß von Gefühl. Es kommt immer einmal eine Stunde, wo das Herz sie blind und ungerecht macht.«

»Das ist bei Ihnen nicht zu fürchten,« bemerkte Lanzenau etwas bitter. Fanny sah ihn vorwurfsvoll an, lächelte aber sogleich wieder und scherzte:

»Wer weiß! Niemand soll die Ruhe seines Herzens vor seinem Lebensabend loben.«

»Und das Ende vom Lied ist,« sagte Graf Taiß seufzend, »daß Sie ablehnen, in die Wahlagitation für unsern Kandidaten Ihr unentbehrliches Gewicht zu werfen.«

»Allerdings,« sprach Fanny lachend, »mein Patriotismus ist der eines Frauenzimmers. Ich liebe meinen[] Kaiser und sein Haus; hätte ich Söhne, würde ich sie stolz im Rock unseres Heeres sehen; meine Kasse ist allezeit offen für Zwecke, die der allgemeinen Wohlfahrt dienen. Und wenn Deutschland kleiner würde, möchte ich nicht mehr leben; aber die Regierungsgeschäfte von irgend einem Standpunkt rechts oder links zu bekritteln und zu verbessern, fühle ich mich nicht berufen.«

»So gestatten Sie mir, in einiger Zeit mit einigen Mitgliedern des Wahlkomites wieder zu kommen, damit wir eine Versammlung abhalten können.«

»Meinetwegen, lieber Taiß!«

»Unsere gute Pastorin sieht den Kartentisch mit einer gewissen Schwermut an!« rief Lanzenau. »Was meinen Sie, Herr Pastor, wollen wir anfangen? Sie sind von der Partie, Graf?«

»Mit Vergnügen!«

»Ich trete aus,« sagte der Pastor mit nicht allzu schwerem Herzen, denn er kannte Taiß als scharfen Spieler; auch stieß die Gegenwart von Gästen immer ihre billige Spieltaxe um.

»Bitte, nicht, Papachen,« bat Fanny schmeichelnd, »das Jäckchen muß noch fertig werden; Sie wissen, die Klassen ist noch zu schwach, selbst zu nähen, und das Kind hat nichts anzuziehen – ich kann nicht spielen.«

Ihr eine Bitte abzuschlagen, war der Pastor nie im stande. Er setzte sich mit dem Märtyrerbewußtsein,[] daß die Geschichte ihn einen halben Thaler oder mehr kosten könne.

Adrienne und Magnus gingen langsam in den Park hinaus. Die Pastorin sah ihnen unruhig nach.

»Nun geht er wieder mit Frau von Herebrecht,« flüsterte sie ihrem Manne zu.

»So lasse ihn doch. Er kann doch nicht wie ein kleiner Junge immer an Deiner Schürze hängen,« sagte der Pastor.

»Was haben Sie morgen für ein Thema?« fragte Taiß. »Ich denke in die Kirche zu kommen.«

»Sehr freundlich!« sprach die Pastorin beglückt. Sie sah es immer als persönliche Höflichkeit an, wenn man zu ihrem Gatten in die Kirche kam.

»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich wie ein tönendes Erz und eine klingende Schelle,« sagte der Pastor.

»Das schönste Thema! Lanzenau, wollen Sie eigentlich noch geben?« fragte Taiß.

Severina stand hinter Lanzenaus Stuhl, Joachim hinter dem des Pastors, ihr gegenüber.

»Ja, ein schönes Thema,« sagte auch Joachim und sah das Mädchen an. Ihre Augen schlossen sich halb, ihre Hände umgriffen klammernd die Stuhllehne.

»Wollen wir nicht Adrienne und Ihrem Bruder folgen?« fragte Joachim.

»Ach ja,« sagte die Pastorin, den ersten Stich einnehmend, »thut das.«

[] Sie gingen in den Park und dachten nicht daran, die beiden anderen einzuholen. Joachim wollte Severina einmal ein bißchen »auf den Zahn fühlen«, das heißt, sie zu Mitteilungen über sich und ihr Leben veranlassen. Daß sie in seinem Interesse mehr als eben nur ein solches durch das nahe Beieinander der hiesigen Existenzen genugsam erklärtes sehen könne, fiel ihm nicht ein, und daß er ihr zuweilen in die Augen sah und überhaupt ihr ein wenig die Cour machte, war nach seiner Meinung das naturgemäße und selbstverständliche Verkehren zwischen zwei lebensfrohen jungen Menschen.

»Sie haben es wohl nicht allzu leicht im Pfarrhause?« fragte er.

»Alle meinen es gut mit mir; aber Sie wissen, auch die Hexenverbrenner meinten es gut,« sagte sie mit ihrem herben Lächeln. »Mama wittert in mir die schrecklichste Sündhaftigkeit und sieht bei allem meinem Thun Fallstricke des Teufels. Das Ermahnen hört nie auf. Papa hat Mitleid, er ist sehr gut. Das kommt eben, Mama glaubt an Beelzebub und Papa an den lieben, gütigen Gott.«

»Da würde Frau Pastorin es auch als Beelzebubs Werk ansehen, daß ich Sie küßte!« rief er lachend.

»O, sprechen Sie nicht davon!« flehte Severina erglühend.

»Warum nicht? War es so schrecklich?« fragte [] er leichtsinnig. Sie trat an einen Busch, der von wilden Rosen wie übersät war, und riß einige Blüten ab. Er sah, wie ihre Hände dabei zitterten.

»Wenn Fanny nicht wäre,« fuhr Severina dann mit etwas heiserer Stimme fort, »lebte ich vielleicht nicht mehr; ich wäre verdurstet vor Sehnsucht nach Sonnenschein. Aber sie – sie versteht, was meine Seele füllt und daß ich bis an das Ende der Welt fliegen möchte, um ...«

»Um was?« fragte Joachim, sich zu ihr beugend.

Nein, wie konnte sie das sagen, wie nur schon so viel mit dem Manne sprechen, den sie so wenig kannte; ihre Lippen schwiegen. Ja, bis an das Ende der Welt möchte sie fliegen, um das lachende, ganze, sättigende Glück zu finden, um zu erfahren, was das Glück denn eigentlich sei. Wie sie am Herzen zehrte, diese gegenstandslose, unermessene Sehnsucht. Ihre Lippen schwiegen – aber ihr Auge, das dunkle Feuerauge schlug sie voll zu Joachim auf.

Der Blick rann ihm wie Flammenzüngeln durch alle Adern.

Er schwieg ein Weilchen, dann begann er von alltäglichen Dingen zu reden, dachte aber dabei mit einem schaurigen Behagen: »Das ist ja der reine Dynamit.«

Unterdes wanderten Adrienne und Magnus mit langsamen Schritten unter allerlei konventionellen Gesprächen weiter. Ganz im Gegensatz zu den beiden [] jungen Menschen, die, sich selbst zu bewachen nicht gewohnt, schon nach den ersten paar Worten Persönliches und Vertrauliches zu verhandeln das Bedürfnis hatten, unterhielt Adrienne sich mit dem jungen Doktor über seine Arbeiten und den Gang seiner Studien. Er sprach viel Gelehrtes, das sie nur halb verstand, und sie machte Zwischenbemerkungen, deren Mangel an Logik ihm nicht weiter auffiel. Dennoch waren beiden Unterhaltung und Spaziergang von hohem Interesse. Schließlich kamen sie auf die moderne Literatur zu sprechen, und Magnus fragte nach diesem und jenem. Es fand sich, daß Adrienne diejenige Kenntnis der modernen deutschen Literatur hatte, welche ihr als Gouvernante nötig gewesen; eine Kenntnis also, die sich in ziemlich einseitiger Richtung bewegte.

Magnus bat um die Erlaubnis, den Damen zuweilen etwas vorlesen zu dürfen.

»Wenn Fanny dabei ist,« meinte Adrienne.

»Wir wollen sie nachher fragen.«

Das geschah beim Abendtisch, und Fanny fand den Vorschlag köstlich.

»Ohnehin fing ich an, mich zu vernachlässigen. Wir wollen zwei Nachmittage in der Woche festsetzen und diese ordentlich ausnützen, so zwar, daß ich, während Magnus liest, meine Staffelei nehme und nach einander für Arnold seine Lieben porträtire: erst Adrienne, dann Joachim, zuletzt, wenn ich dergestalt in Uebung bin, auch Baby.«

[] »Eine Zeitausnützung, die Fanny ähnlich sieht,« sagte Lanzenau.

Fanny setzte gleich, da morgen, als am Sonntag, nicht daran zu denken sei, Montag für diese Stunden fest.

Als sie am Abend dieses Tages, nachdem Graf Taiß sich zurückgezogen und auch Lanzenau fortgeritten war, sich in ihr Zimmer begab, trat sie noch an das Fenster. Durch die Lindenwipfel raunte der Nachtwind, sternenlos drohte die wolkenschwere Finsternis. Sie dachte an das Heu auf ihren Wiesen und sah mit dem Licht nach dem Barometer, das innerhalb des Fensters an der Holzverschalung der Mauer angebracht war.

»Gefallen!« murmelte sie.

Plötzlich klang eine weiche und doch männliche Tenorstimme in die Nacht hinaus.

Fanny bückte sich vor. Unter ihr aus dem offenen Fenster brach ein Lichtstrom und lag auf Lindenstamm und Hof als trauliches Zeugnis, daß da unten jetzt jemand hause. Dem Licht, das aus Menschenwohnungen in die Nacht fällt, haftet immer ein eigener Zauber an. Es war Fanny unendlich behaglich, hineinzusehen.

Und wie Joachim sang – richtig – Adrienne hatte ja davon gesprochen. Er aber dachte offenbar nicht daran, daß vorn hinaus noch jemand schlafe und er also vielleicht mit seinem Gesang störe.

Nein, er störte auch nicht. Es war Fanny ein [] sehr wohliges Gefühl, zu Bett zu gehen und dabei der schönen jungen Stimme zu lauschen, die, getragen und von offenbarer Lust an der eigenen Klangschönheit erfüllt, in die Nacht hinein das Scheffel-Hentschelsche Lied sang:

»Nun liegt die Welt umfangen
Von starrer Winternacht,
Was frommt's, daß am Kamin ich
Entschwund'ner Lieb' gedacht?
Das Feuer will erlöschen,
Das letzte Scheit verglüht,
Die Flammen werden Asche,
Das ist das End' vom Lied.
Das End' vom alten Liede,
Mir fällt kein neues ein,
Als Schweigen und Vergessen –
Und wann vergäß' ich dein?«
Fanny lauschte, lächelte und entschlummerte friedlich.
[]

Sechstes Kapitel

Einige Wochen waren vergangen, die Natur stand in den satten Farbentönen des Hochsommers. Auch auf Busch und Baum im Park hatten die langstieligen Schößlinge des Johannistriebes ihre gelbliche Farbe schon in so tiefes Grün verwandelt, daß man den neuen Zuwachs kaum noch vom ersten Laub unterschied. Auf den Beeten blühten Georginen und Astern, korallenrot leuchtete hier und da aus dem Gezweig die reife Vogelbeere. Erntewagen, hoch mit gelbem, schimmerndem Roggen beladen, fuhren vorn in den Hof; das Leben des Tages fing mit dem Sonnenaufgang an und endete mit dem Eintritt der Dunkelheit. Von Joachim bekamen die Damen wenig zu sehen, er zeigte sich bei dem Mittagsmahl und abends noch ein Stündchen. Schon morgens um vier Uhr hörte Fanny ihn pfeifend über den Hof gehen, mit den Leuten reden, zum Thore hinausreiten. Sie wachte regelmäßig davon auf, wenn er seine Fensterläden aufstieß, und horchte dann mit jenem Behagen, das man empfindet, wenn [] man, selbst in wohliger Ruhe verweilend, den Lebensäußerungen lieber Menschen lauscht.

Das Zusammenarbeiten mit Joachim war ihr geradezu ein Vergnügen. Was Lanzenau und sie sich mühsam mit der Zeit als Autodidakten in dem Beruf angeeignet hatten, war Joachim das einfachste Abc seiner landwirtschaftlichen Kenntnisse. Mit einer großen Schnelligkeit und Sicherheit seiner Entschlüsse verband er eine Art von Sorglosigkeit, die nur dem Bewußtsein entspringen konnte, daß er seinen Aufgaben gewachsen sei. Dabei hatte er ein merkwürdiges Talent, überall zu sein; auch die anfängliche Mißstimmung der Leute, die nur ungern Fannys persönliche Aufsicht entbehrten und sich stolz gefühlt hatten, daß ihre praktischen Ratschläge von der Herrin begehrt und gehört worden seien, auch die Mißstimmung hatte er spielend überwunden. Nicht daß er durch besondern Vorsatz leutseligen Wesens das erreicht hätte, bewahre, er hatte diese Mißstimmung überhaupt nicht bemerkt und sie ahnungslos durch sein immer gleich heiteres Wesen, durch seinen gutmütigen Verkehrston entwaffnet. Morgens war er der erste, abends der letzte, und Fanny bewunderte seine Elastizität, die ihm dann abends noch gestattete, die Damen auf allerlei harmlose Art, durch Anekdoten, Neckereien, zum Lachen zu bringen oder gar zu singen.

Lanzenau bemerkte zwar einigemale, daß jetzt mehr Musik auf Mittelbach gemacht würde als früher, wo Fanny nur gelegentlich sein in der That nicht [] gewöhnliches Klavierspiel begehrte; aber schließlich sah er selbst ein, daß die Menschenstimme, wenn sie so schön, so wohlgebildet und zu Herzen gehend wie die Joachims sei, doch die beste Seelenerquickung bleibe, und begleitete mit Freuden die Vorträge des auch von ihm wohlgelittenen jungen Mannes. Lanzenau war durch seinen neuen Wohnsitz nicht sehr gegen früher um Fannys Gesellschaft betrogen; seine Ankunft war täglich für ihn eine Freude, ward täglich freudig bewillkommt, und da er Fanny von einer wahrhaft strahlenden, ja, beinahe übermütigen Heiterkeit sah, fühlte er sich innerlichst hoffnungsfreudig und glücklich.

Adrienne hatte frischere Farben und eine leise Rundung der Wangen bekommen, zur Heiterkeit schien sie aber ein für allemal keine Anlage zu besitzen, ihre anfängliche Apathie war einer größern Beweglichkeit gewichen, doch hatte diese den Charakter einer nervösen Unrast. Tagelang sah sie den kleinen Joachim, welcher der Abgott seines Onkels und Fannys war, kaum an; dann kamen Tage, wo sie zu dem Kind eine fieberische Neigung zeigte. Von Arnold war beängstigend lange keine Nachricht mehr gekommen; aber nur Fanny oder Joachim stürzten auf den Postboten mit der Frage zu, ob er einen Brief aus Afrika habe.

Die Lesestunden mit Magnus fanden regelmäßig statt und waren wenigstens für drei der Beteiligten von so großem Reiz, daß es ihnen nicht auffiel, wie teilnahmslos Severina dabei saß. Fanny malte mit[] einem wahren Feuereifer; ihr technisches Können war aber keineswegs sicher genug, um ihr immer das Gelingen zu verbürgen. Sie war bereits bei dem dritten Bild Adriennens, und dieses endlich schien der Meinung aller nach zu gelingen. Adrienne saß ihr unbeweglich gegenüber, die Arme auf den Stuhllehnen, die Füße auf dem Schemel vorgestreckt, das Auge ins Blaue gerichtet, den rötlichen Kopf leicht an das Rückenpolster des Sessels gelegt. Magnus saß in einer Linie mit Fanny und las vor; Novellen von Storm oder Heyse, zuweilen auch Gedichte oder eine jener monumentalen Novellen von Konrad Ferdinand Meyer. Er hatte eine sonore Stimme und einen Vortrag, der ebenso fern von falschem Pathos als von Einförmigkeit war; auch verstand er die schwierige Kunst, jedem Werk eine vom Inhalt geforderte besondere Färbung zu geben durch ernstern oder leichtern Tonfall seines männlichen Organs.

Adrienne hörte weltvergessen zu. Manchmal huschte jäh durch ihr Gedächtnis die Erinnerung an die unseligen Stunden, wo sie allein unlauterer Lektüre fieberheiß oblag; dann ging ihr Auge scheu über Magnus hin; ihr war's, als müsse er auf ihrer Stirne lesen, und schnelles Erröten flog da wohl über ihre feinen Züge. Das sah Magnus und deutete es sich auf seine Weise; er richtete seinen Vortrag ausschließlich an sie, und sie fühlte es wohl; auch war die Auswahl der Lektüre, die man ihm überließ, [] immer so, daß Erzählung oder Lied von einsamen Frauenherzen und ihrem Erlöser sang. Aber das mochte Zufall sein, denn die Geschichte von der verbotenen Frucht ist die erste von aller Menschenkunde, sie wird die letzte sein, sie ist das urewige Thema der Poesie.

Zuweilen erschien es dem jungen Weibe dann traumhaft; da saß sie unbeweglich, dem Bild als Modell zu dienen, das den Gatten erfreuen sollte, und zugleich klang eines andern Mannes Stimme wie Tropfenfall, der einen Stein höhlt, in ihr Ohr und kündete von Liebe und berauschendem Glück; dann zitterten ihre Hände, und sie schloß sekundenlang die Augen.

Zuweilen ging Joachim an der Terrasse vorbei. Niemand als er selbst sah, daß Severina, die an dem Geländer nähend saß, dann erblaßte und unfähig war, seinen Gruß zu erwidern. Fanny nickte ihm herzlich zu und dachte wohl kurz daran, daß sie sich auf die Zeit freue, wo sie, nach der Ernte, sein hübsches Gesicht nachzubilden versuchen konnte.

Joachim sträubte sich zwar, wenn davon die Rede war. Er meinte, ihm fehle die Geduld, so lange zu sitzen; auch sei es ihm kein Vergnügen, bei Vorlesungen zuzuhören, gegen die er eine unüberwindliche Abneigung habe. Er begreife überhaupt nicht, daß eine so vortreffliche Frau wie Fanny ihre Nebenmenschen mit ihrer Kunst quälen könne. Diese liebenswürdig vorgebrachten Ungezogenheiten wurden von Fanny und Lanzenau [] herzlich belacht, und Lanzenau meinte, helfen würde es ihm nichts; in dem Punkt sei Fanny unerbittlich, wie sein im Salon hängendes Porträt beweise.

»O, auf dem Porträt ist das Monocle sehr ähnlich,« sagte Joachim, weshalb Fanny ihn mit dem Rosenstrauß, den sie in der Hand hielt, scherzend schlug. Joachim war der erste und einzige Mensch, den der Respekt nicht hinderte, Fanny zu necken; das erschien ihr so neu als reizend. Von seinen Vorurteilen war er mit jugendlicher Hitze in das Gegenteil, in die begeistertste Verehrung gefallen. Fanny erschien ihm als der Inbegriff aller weiblichen Vollkommenheit, Schönheit, Güte, aller Klugheit, aller Liebenswürdigkeit, und er schaute zu ihr auf wie zu einem höhern Wesen, natürlich auch aus der entsprechenden innern Entfernung; er fühlte sich auch in seiner Thätigkeit und im Hause sehr glücklich, um so mehr, als sein junges, leichtflammendes Herz sich angenehm durch Severina beschäftigt fühlte.

Das Leben der Schloßbewohner und der Pastorenfamilie war durch lange Jahre ein so gemeinsames geworden, daß kein Tag hinging, an dem man sich nicht sah. Insbesondere Severina hatte sogar im Schloß einige bestimmte Obliegenheiten im Hausstand, die freilich von Fanny nur deshalb erfunden waren, damit das gedrückte Mädchen aus der Nähe ihrer predigenden Erzieherin komme. Joachim begegnete ihr im Hause, auf dem Hofe, bei Fanny; aber er begegnete ihr auch im Wald und auf Feldwegen, wenn sie im Auftrage [] Fannys oder des Pastors Kranke besuchte oder nach eigener Neigung allein spazierte oder den kleinen Joachim im Wägelchen ausfuhr, was sie als Gunst von Adrienne neuerdings oft erbat.

Seltsamerweise, je häufiger sie sich trafen, je mehr hörte Joachim auf, ihr in Gegenwart der anderen, wie er anfangs eifrig gethan, den Hof zu machen; das fiel niemand auf, oder wenn doch, so dachte man höchstens, Joachim sei eben mit der Werkeltagsthätigkeit und dem täglichen Zusammenleben in den gewöhnlichen Familienverkehrston zurückgekehrt. Nicht daß bei diesen Begegnungen irgend etwas Besonderes gesprochen worden wäre, im Gegenteil wußten beide wenig zu sagen und schritten meist bloß eine Weile stumm neben einander, sich dann mit zögerndem Händedruck trennend. Es war eine stumme Spannung zwischen ihnen. Joachim dachte, daß diese Begegnung kein Zufall sei und ob das Mädchen ihn wohl wirklich liebe. Severina bebte innerlich vor Scham, daß sie sich nicht überwinden gekonnt und ihm in den Weg gegangen, und vor Angst, daß er irgend etwas sagen könne, was ihr diese schweigende Qual glück lich oder unglücklich enden würde.

Um die Wonne des Lebens, die er jeden Tag neu empfand, voll zu fühlen, gehörte für Joachim ein Liebesroman dazu; dieser entspann sich ihm so anmutig, so reizvoll; weshalb hätte er eilen sollen, den Zauber zu brechen, der in süßen Zweifeln, ahnungsvollen[] Blicken liegt? Er drückte Severinas Hand und suchte ihre Nähe und sagte nichts.

Aber eine Stunde kam, da schlugen die Flammen aus ihren Augen ganz über ihm zusammen.

Severina war mit dem Kind in den Wald gefahren, sie schob den leichten Wagen vor sich her, mit eintönig rüttelndem Geräusch drehten sich die Räder auf dem festen Boden der Wege, manchmal raschelten sie durch das vorjährige Buchenlaub. Da wurde das goldbraune Blättergehäuf auseinander gewühlt und zeigte die schwere Nässe vom Tau der Nacht, die unter der schon trockenen Oberfläche faulte. Nah und fern trillerten die Vögel im Walde; der Friede und die Kühle webten zwischen den grauweißen Stämmen.

Das Kind im Wagen schlief, ein bläulicher Schleier schützte das Gesichtchen gegen Fliegen. Severina schob gedankenlos weiter und weiter, bis sie an die Waldesgrenze kam, aus deren mit Schlehen-, Hasel-und Hollunderbüschen bewachsenem niederem Erdwall außer der durchschneidenden Chaussee noch vielfach schmale Wege ins freie Feld führten. In einer dieser kleinen Wegesöffnungen stand Severina und schaute auf das vor ihr sich ausbreitende Weizenfeld hin. Rechts und links ging die große Koppel mit dem wogenden Gold am Waldsaum entlang, hob sich geradeaus in sanfter Welle und schränkte so rings den Blick ein.

Severina setzte sich an den Rain, die Füße im schmalen, zur Zeit ganz ausgetrockneten Graben, der[] den Erdwall vom Fußpfad, vom Getreidefeld trennte. Sie saß im hohen Grase, fast schlug es über ihren Knieen zusammen. Vom Schlehengebüsch hinter ihr spielten im leisen Wind blühende Ranken des wilden Hopfens herab, der hier das Buschwerk üppig durchspann. Severina verschränkte die Arme auf den Knieen und starrte mit vorgeneigtem Leibe finster in die Aehrenfülle. Aus dem gelben Saum nickte da und dort eine glühende Mohnblüte heraus. Manchmal scholl der zweitönige Ruf der Wachtel aus dem Korn, oder ein Vogel flatterte mit kurzem, unsicherem Flug zwischen den Aehren auf und schoß wieder hinein.

Ach, so hatte Severina schon Jahr um Jahr an derselben Stelle dasselbe Bild der Welt, des Fleckchens Erde, das für sie die Welt bedeutete, gesehen; es war immer dasselbe gewesen, immer das Leben, das sich in gleichförmiger Thätigkeit abspann, immer zu Hause der gutmütige Vater, der Trost und milde Worte für alles, aber Hilfe für nichts hatte, immer die rasche, viel scheltende, besorgte und eifersüchtige Mutter, die alle Jugendfröhlichkeit als sündhaft verbot, die es verhinderte, daß Severina wenigstens an Magnus einen Freund, einen mitfühlenden Bruder gewann. Magnus durfte neben seiner Mutter niemand lieben, darüber wachte sie rastlos. Nun, das wird Magnus sich gefallen lassen, bis einmal eines andern Weibes Liebe ihm süßer ist als die seiner Mutter. Um Severinas willen hat er keinen Grund, die Tyrannei zu [] durchbrechen; er ist ihr immer freundlich, aber innerlichst gleichgiltig begegnet.

Wann wird sich dies Leben einmal ändern, wie kann es sich ändern? Severina ist jetzt zwanzig Jahre alt, und Fannys Güte ist das einzige gewesen, das freundliche Abwechslung in die Tage brachte, die sich sonst hätten eintönig in den Grenzmarken eines Dorfes abgespielt – die Güte einer Fremden! Jeder Zufall konnte ihr diese rauben oder wenigstens Fanny die Neigung nehmen, die Güte so vielfach zu bethätigen. Früher hatte Severina oft gewünscht, die Pflegeeltern möchten ihr erlauben, draußen selbst ihr Brot zu verdienen, aber das gab die Pastorin nie zu; ihre Ueberzeugung war, daß das Mädchen im Strudel der Welt untergehen werde und daß nur in einem Pfarrhause die für sie zuträgliche Luft sei. Heiraten? Der junge Pastor vom nächsten Gut, drüben über der Elbe, hatte ihr wohl zu verstehen gegeben, daß er bald in sein Haus ein christliches Weib führen müsse, und die Mutter hatte schon oft stundenlang über das Glück gesprochen, welches für die Tochter einer Verlorenen eigentlich ein unfaßliches Gnadengeschenk sei, wenn jener junge Geistliche wirklich als Werber käme. Severina, die den herzensguten und liebenswürdigen Mann achtete, wenn gleich sie den Gedanken, die Seine zu werden, unerträglich fand, hatte sich innerlich schon in dumpfer Verzweiflung dazu gerüstet.

Aber nun schrie alles in ihr nein! tausendmal [] nein! Unauslöschlich brannte auf ihrem Munde die Glut, welche die Lippen Joachims dort entzündet. Sein Gesicht, sein Lächeln, seine Stimme waren vor ihr Tag und Nacht. Alle Schönheit der Natur erblaßte, alle Offenbarung der Kunst ward Gestammel, die Weihe des Gottesdienstes ward inhaltlos gegen den brünstigen Gedanken an ihn, an ihn. Die Welt war ihr untergegangen in seinem Dasein. Nur mit ihm konnte sie die Freude daran, das Bewußtsein davon zurückerlangen.

Das war Wahnsinn, denn er ging eines Tages wieder aus ihrem Leben, in das er so plötzlich, mit so viel Uebermut getreten, und dann?

Severinas Augen wurden finster. O – wie lagen die kommenden Zeiten vor ihr! Wie ein Marsch durch eine schatten- und quellenlose Steppe.

Vielleicht, wenn nächstes Jahr der Weizen sich wieder goldete, befahl eines andern Stimme, die Sensen zu schleifen; dann konnte Severina über die Stoppeln gehen und an den denken, der die Saat beschafft.

Nein, das war nicht auszudenken. Das war der Tod!

Sie erbleichte und schlug beide Hände vor ihr Gesicht. Da schrie das Kind im Wagen. Severina sprang auf, riß es heraus und nahm es auf ihren Schoß. Das war wie ein Teil von ihm. Er liebte es. Die Liebe, die sie dem Kind erwies, freute ihn. Sie küßte das Kind, das ihr entgegenlachte, und preßte es an sich. Ihr Herz war zum Zerspringen voll von stummen, heißen Geständnissen. Dies kleine [] Menschenwesen, sein Liebling, umfing sie mit unermüdlichen Zärtlichkeiten.

»Madonna mit dem Kinde,« sagte Joachim. Er war am Waldsaum, der nah bei Severinas Sitz eine Biegung machte, daher gekommen, den Reifestand der Weizenkoppel zu prüfen.

Severina schrak zusammen und sah zu ihm empor. Das war kein Madonnenblick. Ihn durchrann es. Aber die schnelle Regung durch einen ebenso schnellen Vernunftgedanken bezwingend, setzte er sich mit fröhlichem Wort neben Severina in das hohe Gras. Das Kind, welches nun schon seine ganze Umgebung kannte, jauchzte ihm entgegen und strebte mit Händen und Füßen aus ihren Armen in die seinen.

»Wenn der Junge Sie sieht oder nur Ihre Stimme hört, ist er nicht mehr zu halten. Das kommt daher: Sie tollen am übermütigsten mit ihm herum und werden noch einen schönen Wildfang aus ihm machen,« sagte Severina lächelnd.

»Von Vater und Mutter her, fürchte ich, steckt ihm zu viel Ernst und Trübsinn im Blut; als mein Neffe aber muß er auch nach mir arten – lustig muß er sein, das bring' ich ihm beizeiten bei,« antwortete Joachim und hob das Kind mit einer schwenkenden Bewegung hoch über sich in die Luft. Der Kleine schrie vor Vergnügen auf.

»Ja, Adrienne hat kein Talent, sich am Leben zu freuen,« bemerkte Severina.

[] »Sie aber auch nicht. Wenn Fanny nicht noch ein bißchen Spaß verstände, wäre es ja vor Ernsthaftigkeit nicht mehr auszuhalten. Au – Junge – au – das ist mein neuer Strohhut und das ist meine Frisur! Willst Du loslassen!«

Der Kleine hatte Joachims Hut erfaßt und einfach weggeworfen, dann fuhr er mit seinen kleinen, rundlichen Fingerchen in Joachims blondes Haargelock und riß und wühlte und lachte vor Freude hell auf; dabei war der ganze kleine Körper so lebendig, daß Joachim ihn mit beiden Händen vor einem Fall bewahren mußte.

»Erretten Sie mich doch, können Sie so grausam zusehen, wenn der Junge mich zum Kahlkopf macht?«

Severina lachte. Sie erhob sich halb, kniete auf ihrem bisherigen Sitz, und da ihre Ellenbogen auf diese Weise in einer Höhe mit Joachims Kopf waren, machte sie sich mit ihren beiden Händen daran, die runden Fingerchen, die sich so fest in die Locken gekrallt hatten, auseinanderzubiegen.

Joachim hielt ganz still, und die kleinen Finger, die sich eben, der Gewalt gehorchend, öffnen mußten, schlossen sich immer wieder. Es war für das Kind ein Spiel. Severina war geduldig, ihre Hände aber zitterten ein wenig, und Joachim saß so ruhig, so atemlos, als belausche er mit allen seinen Sinnen die Empfindung, welche ihm das Wühlen der schönen Frauenhand in seinen Locken verursachte. Plötzlich [] ließ der Kleine los, ein großer Schmetterling schwebte lautlos nahe vorüber, nach ihm streckten sich die Händchen. Severinas Hände sanken bleischwer herab. Joachim setzte das Kind vorsichtig neben sich ins Gras, und alles blieb stumm und atemlos.

Dann sah er Severina an, sie schloß die Augen und verharrte in ihrer knieenden Stellung.

Er nahm die beiden Hände, die schlaff an ihrem Gewand niederhingen, und küßte jede wiederholt, zwischen jedem Kuß zu Severina aufblickend. Plötzlich drückte er sein Gesicht gegen ihr Kleid und schlang erschauernd seine Arme um ihre Hüften. So verharrte er wohl eine Minute lang, dann sprang er empor, fiel ihr um den Hals und küßte die zitternden Lippen, die sich ihm entgegen öffneten.

»Hast Du mich wirklich so lieb?« flüsterte er dazwischen. Und dann rief er übermütig: »Damals, der erste Kuß hat Dich verführt!«

Sie konnte nicht scherzen und nichts sagen; ihr Gesicht war sehr bleich, aus ihren dunklen Augen brach ein Glanz von unermeßlichem Glück, jeder Kuß schien ihr zu lau, jedes Wort zu armselig, um ihm zu sagen, wie sie ihn liebe. Die Wonne dieses Augenblicks überstieg die Fassungskraft eines Menschenherzens. Ein blödes Lächeln, von einem unartikulirten Laut begleitet, war Severinas einzige Aeußerung.

Das Kind, welches in den Graben hinabrollte, weckte wenigstens Joachim aus seinem Rausch. Er[] setzte sich wieder mit dem Kindchen auf dem Schoß und zog Severina neben sich.

»Das ist eine schöne Geschichte,« sagte er lustig, »wenn das Frau Pastorin wüßte. Du große Verführerin, Du hast Schuld!«

Severina lächelte traumbefangen.

»Im Grunde,« fuhr er ernsthafter fort, »sollte ich Dich sehr um Verzeihung bitten; ich bin ein armer und zurzeit noch aussichtsloser Teufel. Auf solche Küsse, wie wir eben gewechselt, sollte eine Verlobung folgen; ich müßte meinen Frack anziehen und zum Pastor gehen, Deine Hand zu erbitten, und das kann ich noch nicht.«

»O,« rief Severina mit heißem Ausdruck, »sprich nicht davon, denke nicht an die Welt und was in ihr Sitte ist; ich liebe Dich, ich glaube an Dich, ich warte! Wenn Du mich nur liebst, füllt das heimliche Glück mir die ganze Welt mit Sonnenschein!«

»Schwärmerin,« sagte er gerührt, »so viel Liebe verdiene ich gar nicht.«

Sie saßen und plauderten und lachten, wie nur Verliebte können; Joachim bewunderte alle Reize, die Severina vor anderen voraus hatte, und selbst ihr Gesicht mit den tatarischen Zügen erschien ihm von einer wilden und trunkenen Schönheit. Endlich aber stieg die Sonne über die Weizenkoppel und glühte zu der kleinen Gruppe am Waldsaum hinüber.

»Ich muß weiter,« rief Joachim, »das hat eine schöne Zeitversäumnis gegeben!«

[] Sie nahmen Abschied, als gälte es eine Trennung auf Wochen; dann ging er mit seinen hastigsten Schritten an der Koppel entlang, den Weg fortsetzend, den er dahergekommen, aber er schaute sich noch mehreremale um, der Lieben einen Gruß zu winken.

Und dann schob Severina ihren Kinderwagen in den Wald zurück; sie ging wie im Traum und erschrak, als sie sich zuletzt im Dorfe befand. Das Bewußtsein, daß Sammlung nötig sei, überkam sie peinlich; sie sah sich fremd um, ihr war wie einer Verirrten zu Mut.

Aber da stand schon der Pastor in der Gitterpforte vor seinem Hause und schaute nach ihr aus; man hatte auf sie gewartet. Er rauchte zwar seine lange Pfeife, aber er hatte seinen schwarzen Gehrock an und ein reines weißes Halstuch um, das bedeutete Außergewöhnliches. Severina atmete auf. Jedes Ereignis war willkommen – nur heute nicht der alltägliche Trott des Tagewerkes.

»Mein Kind,« sagte der Pfarrer, »Graf Taiß ist mit drei anderen Herren gekommen, es gibt ein Diner auf dem Schlosse, Fanny hat nach Dir geschickt; aber erst sollst Du der Mutter noch etwas helfen und Dich gleich auch umkleiden.«

Der ängstliche Tonfall in seiner Stimme verriet Severina, daß die Pastorin schon in Ungeduld vergehe; da gab es Schelte, viel Schelte, und das als erstes nach der seligen Stunde?

In Severina wallte es warm auf. Segen und [] Teilnahme konnte sie von niemand erbitten, aber ein gutes, ein liebevolles Wort mußte sie hören; sie legte ihr Haupt an ihres Pflegevaters Schulter und ihren Arm um seinen Nacken.

»Papachen,« sagte sie schmeichelnd, »nicht wahr, Du hast mich ein wenig lieb und möchtest, daß ich noch 'mal im Leben glücklich würde?«

»Natürlich, natürlich; aber wie kommst Du auf die Frage, mein Kind? Und was hast Du für rote Backen? Aengstigst Dich wohl schon vor Mama? Na, Du weißt, sie meint es nicht so, und mit mir schilt sie auch 'mal,« sagte der alte Herr gutmütig. »Siehst Du, schließlich haben wir's ja bei der Schelte besser als Magnus bei der Güte.«

Severina lächelte glücklich. Ja, der alte Mann hatte sie väterlich lieb. Er würde sich freuen – dann, dann, wenn alle Welt erst wissen durfte ...

»Severina!« rief eine heftige Stimme.

»Komme schon,« rief sie zurück, »ich will erst den Kleinen ins Schloß bringen!«

Die Magd, die in der Pfarrküche gewartet hatte, kam aber schon um die Hausecke und nahm den Kinderwagen.

Severina ging hinein. In der Vorderstube saß die Pastorin, mit einer Brille bewaffnet, und nähte mit der ihr eigenen rasenden Eile an einem schwarzen Kleid.

»Wo bleibst Du? Natürlich, unter dem Vorwand, das Kind spazieren zu fahren, wird gefaulenzt. [] Faulheit ist der Beginn aller Laster, das haben wir bei Deiner Mutter gesehen. Hier, der neue Stoß muß noch in das Kleid vor Mittag, ich ging ja schon zum Skandal damit.«

Severina nahm ihr Nähgeschirr und nähte darauf los; der Kleidersaum, an dem sie nun beide arbeiteten, schwebte in ellipsenförmiger Rundung zwischen ihnen, das dazu gehörige Gewand bauschte sich erdwärts zwischen ihren Füßen zusammen. Aber da hatte die Pastorin ein Handtuch hingebreitet, damit es nicht Schaden nähme.

»Was ziehst Du an?« fragte die Pastorin.

»Weiß.«

»Immer den besten Staat. Eitelkeit ist der Anfang aller Laster, das haben wir bei Deiner Mutter gesehen, und Du hast keinerlei Ursachen zur Eitelkeit, Gott sei Dank; er hat darüber gewacht, daß der Versucher Dir keine Schönheit als Teufelsangebinde gab.«

»Geliebte, Du hast die herrlichste Gestalt, die schönsten Hände, die reizendsten Füßchen,« hörte Severina nachklingend in ihrem Ohr seine Stimme sagen, und sie lächelte zu den bitteren Worten.

»Fanny liebt es, wenn ich in den Kleidern komme, die sie mir gab.«

Die Pastorin seufzte.

Und Joachim sah am Mittag wohl, daß Severina seinetwegen so festlich angethan war mit einem Kleid von schaumig weicher weißer Wolle, und daß sie [] seinetwegen eine Marschall-Nielrose an der Brust trug. Er liebte diese schweren, duftenden Rosen sehr, die ihr Haupt melancholisch neigen.

Sie hatten auch das Glück, neben einander zu sitzen, obgleich Joachim sich wohl gehütet hatte, ihr den Arm zu geben; das that einer der Begleiter des Grafen, und wenn sie auch nicht viel zusammen sprachen, so fand Joachim doch unter dem Tisch das zierliche Füßchen. Graf Taiß nahm seine äußerliche Aufmerksamkeit in Anspruch, er wollte von Lanzenau und Joachim wissen, wie man am besten für heute abend eine Versammlung berufe. Die Bauern seien ja mit ihrer Ernte fertig, und daß die Arbeit auf den Feldern Fannys etwas früher aufhöre, mußten beide Herren gestatten. Selbstverständlich wurde das zugestanden; der Pastor und Lanzenau wußten eine Menge Geschichten davon zu erzählen, wie stark der sozialdemokratische Kandidat inzwischen für sich gewühlt habe.

Joachim kürzte infolge dessen seine Mittagsstunde ab und war schon wieder verschwunden, als man auf der Terrasse den Kaffee nahm. Fanny entbehrte ihn und fragte, wo er sei.

»Herr von Herebrecht wünschte die Stunde zu gewinnen, die heute abend verloren geht,« antwortete Severina, die Fanny gerade ein Mokkatäßchen hinreichte.

Fanny nahm sich Zucker.

»Er ist übereifrig,« sagte sie verstimmt, »die Leute wären die Stunde lang auch ohne ihn fleißig gewesen.«

[] »O Frau Förster, Sie haben schon vier Stücke Zucker – die Tasse läuft über,« bemerkte das junge Mädchen.

Fanny lachte über ihre Gedankenlosigkeit.

»Der glückliche Herebrecht,« sprach Taiß, »er wird entbehrt.«

»Er ist das enfant gaté unserer Damen,« sagte Magnus scherzend, »und er gibt sich weniger Mühe ihretwegen, als unsereiner. Wenn ich zwei Stunden vorlese, bekomme ich nicht so viel Dank, als wenn Herebrecht ein Lied singt.«

Lanzenau hatte Fanny erstaunt und aufmerksam angesehen, als sie nach Joachim fragte.

Am Abend fand im Dorfkrug eine Versammlung statt. Graf Taiß steckte sich einige mit Kölnischem Wasser getränkte Tücher in die Tasche, bat Fanny, eine Flasche Cognac in den Krug zu senden, damit sie im Bedarfsfalle nicht vom Fusel des Wirtes angegiftet würden, und wanderte dann mit seinem Stab in das Lokal. Der im Wirtshaus eine Treppe hoch belegene Tanzsaal war ausersehen, mit seinen vier weißen Kalkwänden die Scene zu umschranken. Von dem geweißten Plafond hingen zwei doppelarmige Petroleumlampen herab, über ihren schwitzenden und mit Insekten beklebten Glasbehältern schwebten die blechernen Schirme, aus denen oben die kurzen Gläser mit der blackenden Flamme darin aufragten. Zum fettigen Petroleumdunst gesellte sich der Duft von Thranstiefeln und jenes [] undefinirbare, von Stoffwechsel und muffigen Kleidern erzeugte Ctwas, das man »Leutegeruch« nennt. Die Estrade, wo sonst die Musik spielte, war für die Herren als Rednerbühne und Vorstandsbureau aufbewahrt. Wenn der hohe Graf Taiß da an der grüngestrichenen Balustrade stand, ragte sein Scheitel genau bis zur Decke, und Kalkteilchen fielen zuweilen in sein sorgfältig geordnetes Haar. Lanzenau saß mit oben und betrachtete sich die enggedrängte Bauernschar, zuweilen sah er sich auch mit eingeklemmtem Monocle Taiß an; es belustigte ihn ungemein, diesen eingefleischten Aristokraten vor diesem Zuhörerkreis zu sehen, und er bedauerte, daß Fanny sich das Schauspiel versagt hatte. Joachim und der Pastor befanden sich zwischen den Zuhörern.

Graf Taiß fing seine Rede mit einem Hoch auf den Kaiser an, dann setzte er Lanzenau durch einige glückliche, volkstümliche Wendungen, welche den Beifall, ja, das wohlgefällige Gelächter der Leute erregten, in Erstaunen. Kaum aber ging er zu den Einzelheiten des Wahlprogramms über, kaum berührte er die Monopolfragen, das Armenbudget, die Kolonialpolitik, so erhitzte er sich an seinem eigenen Vortrag, vergaß seiner Zuhörer Bildungsstufe und hielt eine Rede, die im Parlament ohne Zweifel Aufsehen gemacht hätte wegen ihrer flüssigen Form und ihrer geistreichen Hiebe gegen die anderen Parteien. In den kurzen Kunstpausen nach den »Schlagern« sog Taiß jedesmal aus dem gegen Mund und Nase gepreßten Tuch den erquickenden Duft [] des Kölnischen Wassers ein und nahm einen Schluck Cognac und Wasser.

Der Schullehrer und der Dorfschulze, obschon sie auch nicht alles verstanden, nickten sich, ihres Ansehens als kluge Männer halber, mehrfach beifällig und verständnisvoll zu. Das Ende war, daß man – teils aus Respekt vor dem Grafen, der als leutseliger Herr und Frau Försters Freund bekannt war, teils infolge der unbewußten Reflexbewegung, die eine feurige Aeußerung, auch wenn sie unbegriffen bleibt, immer hervorruft – daß man in laute Hochs ausbrach. Taiß glaubte mit Erfolg gesprochen zu haben und setzte sich, sehr erhitzt, aber auch sehr zufrieden nieder.

Einer der Herren aus seiner Begleitung erhob sich und sagte zu den Leuten, wer etwas zu sagen oder zu fragen habe, möge getrost sich melden. Eine unruhige Bewegung entstand, man wechselte Flüsterreden.

»Nun?« fragte der Komiteherr aufmunternd.

Da sagte eine Stimme aus der Menge:

»Wat de Schneider Mühling uns segt hätt', wär ok nich von Papp'!«

Nämlich als vor vierzehn Tagen der Sozialdemokrat hier geredet hatte – es war dasselbe Bild gewesen, bis auf die Gestalt des Redners – jubelten die guten Mittelbacher diesem ebenso zu wie heute der Rede des Grafen. Die Wahlagitationsreden hatten für sie zunächst den Wert einer Unterhaltung, einer außerordentlichen Unterbrechung des Werktagseinerlei.

[] »Aber eure Urteilskraft, meine Freunde, wird unterscheiden können zwischen den Phrasen seiner und den thatsächlichen Daten meiner Rede!« rief Taiß.

Wieder murmelten die Leute unter einander, und endlich erhob sich das geflüsterte Bedenken, die heimliche Sorge zum lauten Wort. Der Name Fannys wurde gehört. Was sie von der Sache dächte, wollte man wissen. Graf Taiß geriet in keine geringe Verlegenheit, er kannte Fannys unbegrenzten Einfluß, er wußte, daß sie ein Ansehen genoß, wie kein Gutsherr weit und breit bei seinen Leuten.

Er antwortete, daß Frau Förster es abgelehnt habe, sich in dieser Sache zu äußern, weil ihr als Frau das nicht zustehe, er verwünschte innerlich die Gegenwart von Fannys Hausgenossen, ohne welche er wohl gewagt haben würde, Fannys Namen geschickt zu verwerten. Ob der Baron nicht sagen könne, wie die Herrin denke. Nein, auch Lanzenau wußte nichts zu sagen. Joachim, der plötzlich von dem Wunsch angestachelt war, zu sehen, wie Fanny sich aus der Affaire ziehen würde, flüsterte seinem Nebenmann zu, man solle doch hingehen und sie fragen.

Nach einer Minute war dies das laute Geschrei, niemand wußte, wer es zuerst gesagt, der Gedanke schien in allen entstanden. Joachim drängte sich durch die Menge und sprang, so schnell ihn seine Füße trugen, zum Schloß hinüber. Hier fiel er wie eine Bombe in die Gesellschaft der Frauen, die mit Magnus [] um den Tisch saßen. Magnus als Weltverbesserer und Philosoph, warm von der Universität, träumte von einem freien Zukunftsstaat, wie solcher allezeit nur in jungen Köpfen existirt, und hielt es demzufolge für unter seiner Würde, der »Volksverdummungs- und Verknechtungsrede« des Grafen zu lauschen; aber davon sagte Magnus wohlweislich nichts.

»Was ist?« rief Fanny erschreckt.

»Sie kommen, sie kommen!« sagte Joachim.

»Wer?«

»Die Leute! Sie sollen sagen, wer zu wählen sei, Graf Schmettow oder Schneider Mühling.«

Adrienne und Severina lachten, ebenso Magnus, die Pastorin faltete entsetzt die Hände.

Fanny erhob sich, den Ausdruck allergrößten Mißbehagens im Gesicht.

»Das ist stark. Gegen meinen bestimmten Willen!« sagte sie.

»Vox populi,« meinte Joachim lächelnd.

»Gnädige Frau,« rief der Diener, auf die Terrasse eilend, »gnädige Frau, der Hof ist voll von Leuten, man will Sie sprechen!«

»Ich bin nicht zu sprechen!« rief Fanny in höchstem Zorn.

»Aber, teure Frau, jeder Widerstand ist nutzlos, das ganze Dorf ist eben zu sehr gewöhnt, nichts ohne Ihr letztes Wort zu thun, Sie sind jahraus jahrein immer auf ihre Interessen eingegangen, aus der [] Gewohnheit ist ein Recht geworden, nun fordert man, was Sie ursprünglich nur schenkten – Ihr reiferes Urteil,« sprach Joachim zuredend.

»Aber in diesen Dingen will ich keins haben,« sagte Fanny verzweifelt, »wenigstens keins, das über den Kreis meiner Lebensgenossen hinausdringt.«

»Kommen Sie, Ihre Klugheit wird das rechte Wort finden.« Joachim nahm ihren Arm und legte ihn in den seinen. Er führte Fanny durch Saal und Flur nach vorn. Auf dem Beischlag ergab sich ein natürlicher Standpunkt für die unfreiwillige Heldin dieses seltsamen Vorganges. Vor dem Beischlag stand Taiß mit seinen Begleitern und lächelte Fanny zu – wie sie ihm später vorwarf – diabolisch schadenfroh. Hinter Fanny drängten sich Adrienne, die Pastorin, Magnus, Severina und Joachim.

Letzterer konnte heimlich die Hand des jungen Mädchens fassen. Warm fühlte er das Klopfen ihrer Pulse in seinen Fingern, und fester und fester umschlossen diese die kleine, heiße Hand, während sein Auge an Fannys Gestalt und Antlitz hing, welch letzteres ihm nie so stolz und bedeutend erschienen war als in diesem Augenblick.

Adrienne lehnte an der niedern Mauer des Beischlags. Mußte Magnus sich so zu ihr drängen, wenn er etwas sehen wollte? Sie zitterte und verharrte still. Der Pastorin jedoch entging es nicht, daß Magnus der blassen Frau zu nahe kam, sie zupfte ihn [] mahnend am Rock, worauf er einen verzweifelten Seufzer ausstieß.

Auf dem Hofe war es so dunkel, wie es an solchem Spätsommerabend nur irgend sein kann, aber vorn auf die Mauern des Beischlags stellte der Diener ungeheißen die schnell entzündeten zehnkerzigen Tafelleuchter, aus den Scheunen und Ställen rechts und links am Hofe trugen die Knechte schleunigst Stalllaternen herbei, die, hoch auf Heugabeln getragen, hin und her baumelten. So entstand eine phantastische Halbbeleuchtung, welche die versammelten paar Dutzend Menschen als eine unabsehbare Schar erscheinen ließ, nur Fanny stand im grellen Licht.

Ihr Gesicht war bleich, sie sah kühl über die Menge hin und fragte:

»Was wollt ihr? Was soll der Aufzug?«

Ihre Altstimme hallte über den nächtlichen Raum und wurde in den fernsten Ecken gehört.

»Wir wollen wissen, ob wir konservativ oder sozialdemokratisch wählen sollen!« schrieen einige.

Es wurde Fanny wahrhaftig schwer, nicht knappweg »konservativ« zu antworten. Die unglückliche Gegenüberstellung »sozialdemokratisch« verursachte die Aufwallung. Für ihr Frauengefühl lag in dem Wort die Verdammung und Umstürzung von allem, was sittlich und ästhetisch ist, aber sie bezwang sich und sprach:

»Seit wann sind Reichstagswahlen ein Weibergeschäft? Ihr seid Männer und müßt wissen, was [] ihr wollt. Mein Amt als Gutsherrin und Kirchenpatronin habe ich allezeit erfüllt ...«

»Hoch, Frau Förster!« schrie die Menge.

»Aber was darüber hinausgeht,« fuhr Fanny fort, nachdem sie die Unterbrechung, ohne eine Miene zu verziehen, angehört, »aber was darüber hinausgeht, ist vom Uebel.«

»Sehr verständig, eine seltene Frau!« sagte der Schulmeister zum Dorfschulzen.

»Aber Sie können doch sagen, ob wir dem Grafen Schmettow-Brunshagen oder dem Schneider Mühling mehr vertrauen sollen!« rief wieder eine Stimme.

»Wenn ihr mich fragt, was die bessere Sache sei, kann ich nicht antworten, aber wenn ihr wissen wollt, wer der bessere Mann ist, dann will ich euch dies sagen: der Schneider Mühling lebt von den Sammlungen, die seine Gesinnungsgenossen unter sich veranstalten, also von der Arbeit anderer; er zieht im Land umher, hält Reden, ißt und trinkt gut, sein Weib und seine Kinder leben in höchster Not in Berlin. Der Graf von Schmettow thut, wie ihr alle wohl vom Hörensagen lange wißt und ich euch bestätigen kann, für seine Brunshagener unendlich viel Gutes, er hält auf seine Kosten eine Schule und ein Krankenhaus, er ist ein milder und gerechter Herr gegen seine Leute. Nun urteilt selbst, wer der bessere Mann ist.«

»Hoch, Graf Schmettow! Hoch, Frau Förster!« [] riefen die befriedigten Leute und schoben, sich wendend, dem Hofthor zu.

Graf Taiß trat zu Fanny und küßte ihr die Hand.

»Ich dankte im stillen dem Zufall, der es fügt, daß nicht unser Kandidat ein flotter Lebemann und der Schneider ein katonischer Mustermensch ist, sonst hätten wir riskirt, den Schneider gelobt zu hören,« sagte er lachend.

Auch Fanny lachte, sie war mit sich zufrieden.

Die Gesellschaft kehrte auf die Terrasse zurück, ein merkwürdiger Uebermut ward in allen wach. Fanny beorderte Sekt und sagte, daß man ihr Debüt als Rednerin feiern müsse. Joachim bedauerte, daß so wenig Damen zugegen seien, sonst müsse man einen Ball improvisiren. Aber die drei Anwesenden genügten, meinte Magnus. Fanny ließ die Lichter der Krone im Saal anzünden.

Aber Lanzenau, der hätte spielen sollen, schien verstimmt und bestand darauf, mit Pastors und den Gästen zwei Whisttische zu arrangiren. Fanny war durchaus nicht aufgelegt. So setzten sich Lanzenau, Taiß und einer der Fremden zum Spiel mit dem Strohmann nieder, während das Ehepaar mit den anderen beiden Fremden den zweiten Tisch nahm.

Joachim aber bat und schmeichelte wie ein verzogener Knabe, daß Fanny nur einen, einen Walzer für sie spielen möge. Adrienne hatte rote Backen und [] war sehr vergnügt; als auch sie bat und hinzusetzte, daß sie fast noch nie getanzt, gab Fanny gutmütig nach, doch nicht ohne zu sagen, daß hier ja im September genug Gelegenheit sei.

So saß denn Fanny am Flügel, der an der einen Schmalwand des langen Saales stand, und spielte den Fledermauswalzer. Sie saß im Profil dem Saal zugewendet, und obschon ihre Blicke auf den Tasten lagen, bemerkte sie doch die beiden vorbeidrehenden Paare.

Was das für ein Zauber in so einem Straußschen Walzer ist, er weckt bacchantische Lust in denen, die seinem Rhythmus tanzend folgen, er umspinnt die Seelen derer, die ihn spielen und hören, zuweilen mit tiefster Melancholie.

Fanny wurde seltsam zu Mut, ganz traurig und verlassen, sie, die eben als Mittelpunkt, als Herrin der ganzen Gegend auf eine Weise gefeiert worden war, wie in der Form wenigstens noch nie eine Frau, sie saß als gute alte Tante hier am Klavier, um den anderen ein Vergnügen zu vermitteln. Fanny war gekränkt, sie hätte weinen können, und noch seltsamer, ihr Verstand kontrollirte dieses unlogische Gefühl und schalt es dumm, unverständig; niemand wollte sie kränken, am wenigsten die vier harmlos lustigen jungen Menschen und am allerwenigsten Joachim, das wußte sie; vielleicht dachte er in seiner großen Verehrung überhaupt nicht daran, daß man auch mit Fanny tanzen könne, und sie – sie bekam eine unbändige, [] unüberwindliche Lust, nur einmal mit Joachim herumzuwalzen. Weshalb er überhaupt nicht sein Bedauern darüber ausdrückte, daß es unmöglich sei? Und dabei spielte sie unaufhörlich die süßen, wiegenden Melodien, und dabei tanzte Joachim rastlos mit Severina.

Schließlich waren beide Teile ermattet, die Spielerin und die Tänzer. Da ergriff Joachim ein gefülltes Spitzglas mit Champagner und rief, es erhebend:

»Die gütigste und beste der Frauen, Fanny, die Einzige, soll leben!«

Er stieß in der Runde an, die Spieler gesellten sich lachend zur Gruppe. Fanny klang ihr Glas gegen das Joachims und sah ihm glücklich lächelnd in das offene, jetzt von Ausgelassenheit strahlende Gesicht, dann fand Joachim sich zu Severina, stieß mit ihr an, unbemerkt vertauschten sie die Gläser, und mit einem heißen Wechselblick trank jeder an der Stelle, die des andern Mund berührt.

[]

Siebentes Kapitel

Der Monat September war auf Mittelbach unweigerlich dem Vergnügen gewidmet. Die Ernte auf allen großen Gütern der Gegend war eingeheimst, der gesellige Verkehr, der im Sommer fast schlummerte, begann mit dem Besuch in Mittelbach. Graf Taiß mit seiner Gemahlin und deren Schwester wohnten dann einige Wochen bei Fanny, die eine entfernte Verwandte der beiden Damen war; ferner erschien als regelmäßiger Gast ein Herr von Dören mit seiner Gattin. Beide Familien wohnten zu entfernt, um nach etwaigen Festlichkeiten, wie die Gutsnachbarn pflegten, abends wieder heimfahren zu können.

Fanny erwies ihren Bekannten dann Gastfreundschaft im größten Stil. Bei aller Freiheit, welche die Hausordnung jedem einzelnen ließ, gestaltete sich das Zusammenleben bei ihr doch unwillkürlich etwas anders als zum Beispiel beim Grafen Taiß, wo man sich im November versammelte. Da ein Hausherr fehlte, nahm man erhöhte Rücksichten auf die Hausfrau [] und die Damen überhaupt. Anstatt ausgedehnter Billardpartien, langer Sitzungen im Rauchzimmer und dergleichen gab es für die Herren mehr Unterhaltung mit den Damen zusammen. Zwar gingen sie zuweilen früh morgens unter Joachims Führung auf die Jagd – Lanzenau mußte sich oft davon fern halten, weil ein feuchter Morgen ihm unfehlbar einen leisen Ischiasanfall brachte, doch war dies sein Geheimnis, und er gab vor, kein Vergnügen mehr an der Jagd zu finden – allein der übrige Tag sah sie mit den Damen bei Spazierfahrten, beim Lawntennies, am Schießstand, auf Kahnpartien. Zum Diner, das in dieser Zeit um sechs Uhr stattfand, machten die Damen besondere Toilette, wobei ein gewisser wetteifernder Luxus nicht fern blieb. Abends setzte sich zuweilen jemand an den Flügel, zum Tanz aufzuspielen, oder es gab ein Dilettantenkonzert, dessen Kosten Lanzenau, Joachim und die Schwester der Gräfin Taiß, das Fräulein von Grävenitz, trugen.

In diesen rauschenden Tagen erwachte Adrienne zu neuem Leben; das war eine Art zu sein, wie sie es geträumt hatte. Alles, was Sorge, Entbehrung, Unfreundlichkeit, Langeweile hieß, schien nicht zu existiren, man hatte keine Zeit, über seelische Zustände zu grübeln, hier war nicht von Pflichten, von Selbsterziehung, von Beschränkung die Rede, all die verschiedenen Charaktere lebten in heiterster Harmonie neben und mit einander, niemand schien irgend einen [] lieben Eigenwillen zu opfern, und doch hatte jeder neben dem andern Platz.

Seltsam, und sie und Arnold hatten nicht einmal in ihrer Einsamkeit zusammen Platz gehabt, das mußte unleugbar an Arnold gelegen haben, denn da sie hier gegen niemand anstieß, ja, im Gegenteil sich dem Kreis einfügte, als habe sie immer in demselben gelebt, so war damit erwiesen, daß ihm alle Schuld an ihrem kalten Verhältnis zuzuschreiben sei. Adrienne äußerte das einmal gegen Fanny, als diese ihre Freude aussprach, die Schwägerin so aufblühen zu sehen.

»Aber, mein Kind,« sagte Fanny ernst, »die Gemeinsamkeit in einem Vergnügen ist doch ein ander Ding als die Gemeinsamkeit in einer Ehe. Die Anforderungen für die erste sind die leichtesten, die an Menschen gestellt werden können, man braucht sich bloß von seiner vorteilhaftesten Seite zu zeigen, was jeder schon aus Eitelkeit thut. Die Anforderungen für die zweite sind die schwersten, die an uns ergehen können, da sollen wir just die unvorteilhafte Seite des andern mit Demut und Liebe ertragen, was natürlich nur nöglich ist, wenn wir uns vorstellen, daß der andere ja ebenso auch unsere Unerträglichkeiten geduldig trägt. Zum Glück ist in rechten Ehen diese Erkenntnis dann die Meisterin, sie bröckelt hier und dort Schroffen ab, bis beide Charaktere glatt zusammenpassen.«

Adrienne bereute sogleich, von Fanny eine solche Belehrung herausgefordert zu haben.

[] Sie besaß jetzt in Fräulein von Grävenitz eine bessere und verständnisvollere Freundin. Das Fräulein, noch jung genug, um von der Zukunft irgend etwas Besonderes zu erwarten, und doch zu alt, um sich zu Severina oder gar zu der lustigen kleinen Frau von Dören zu gesellen, hatte alsbald in Adrienne die geeignete Zuhörerin für ihre Erinnerungen und Phantasien erkannt, die sie laut vorzutragen liebte. Sie war in jungen Jahren verlobt gewesen, der Bräutigam wurde indes vom Grafen Taiß auf Wegen betroffen, die eine Verbindung mit Lucy von Grävenitz unmöglich machten. Lucy wollte selbst den Beweisen nicht glauben, daß ihr angebeteter Arthur nur mit ihrem Vermögen den Aufwand zu bestreiten dachte, den eine berüchtigte Tänzerin in der Residenz trieb. Mit einer Zähigkeit, die bis zur Unwürdigkeit ging, hielt sie an ihm fest. Glücklicher- oder unglücklicherweise fallirte damals der Bankier der alten Frau von Grävenitz und brachte sie um den größten Teil ihres Vermögens. Augenblicklich löste Arthur seine gegen den Willen der Familie noch heimlich unterhaltenen Beziehungen zu Lucy.

Diese, obschon anfangs wahrhaft trostlos, suchte später in der Literatur Trost; das gebrochene Herz blieb ihre Spezialität, sie schrieb Romane, in welchen viel von der Knechtung der Frau, der Notwendigkeit ihrer Befreiung und der Gleichberechtigung der Geschlechter die Rede war; jeder Held sah übrigens aus wie ihr bleicher Arthur mit dem schwarzen Vollbart;[] ihre Romane hatten zur Verzweiflung des Grafen Taiß, dank einer gewissen Ueberschwenglichkeit, Schönfärberei, lebendigen Phantasie und versteckten Sinnlichkeit, viel Erfolg.

Das Fräulein von Grävenitz also, die sich, nebenbei gesagt, auch zu Taiß' Verzweiflung nicht der Mode gemäß, sondern »individuell« kleidete, das heißt in rot- oder gelbseidenen Blusen und mit einer Goldspange im schwarzen Lockenhaar einherging, während ihren Unterkörper ein weißer oder schwarzer, faltiger Seidenrock umwallte – das Fräulein hatte sich an Adrienne geschlossen, ihr ihre Märtyrergeschichte der Vergangenheit und Gegenwart erzählt und Adrienne auf den Kopf zugesagt, daß sie mit einem Manne nicht glücklich sein könne, der die Barbarei habe, sein junges Weib zu verlassen. Die Zwangspflichten, die für einen tüchtigen Mann aus seinem Beruf entstammen können, erkannte das Fräulein nicht an, über so gemeine Fragen wie Broterwerb und die Nötigung, deshalb einen Beruf zu haben, dachte sie nicht nach; natürlich gab ihr Adrienne zu, daß ihrem Leben allerdings die rechte Wärme fehle, aber ein volles Geständnis ging ihr doch nicht über die Lippen.

Alle anwesenden Männer fand Lucy gräßlich, mit der einzigen Ausnahme von Magnus.

»Es sind alle Barbaren! Dieser alte Geck von Lanzenau mit seinem steifbeinigen Gang – ah, wie schritt mein Arthur stolz dahin! Dieser Herr von [] Dören – sieht er nicht mit seiner geraden, abgestumpften Nase, seinen Schlitzaugen und seinem auseinander gesträubten Schnurrbart aus wie ein Kater? Ach, Sie hätten Arthurs wundervollen Bart sehen sollen! Und dann Ihr Schwager! Pardon – aber diese blonden Jünglinge mit dem plebejischen Vergnügen am Dasein sind mir entsetzlich, wenn ich an die interessante Schwermut meines Arthurs denke! Haben Sie meinen Roman ›Erfrorene Herzen‹ gelesen? Darin habe ich ihm ein Denkmal gesetzt. Von Taiß spreche ich nicht erst, dieser Tyrann meiner Tage wäre meines Hasses würdig, wenn meine arme Schwester sich nicht einbildete, von ihm glücklich gemacht zu werden. Lassen wir ihr die Illusion, sie kennt nichts Besseres! Aber dieser junge Doktor Hesselbarth – ach, Adrienne, er hat so einen gewissen Augenaufblitz hinter seinem Lorgnon. Adrienne, er gilt Ihnen, dieser Aufblitz – Sie sind Magnus nicht gleichgiltig. Arme Freundin, dieser Mann wäre Ihrer würdig, er verstände Sie! Erwidern Sie sein Gefühl? O – Sie können mir vertrauen, ganz vertrauen, ich will Sie und ihn schützen gegen eine Welt von Philistern!«

»Aber wohin denken Sie,« stotterte Adrienne bestürzt, »ich bin verheiratet und – und – und liebe meinen Mann.«

Lucy schloß die Freundin in die Arme, in stummer Rührung über den Heldenmut des Herzens, das zu stolz war, Leiden zu gestehen.

[] Magnus hatte seinerseits das ihm von Lucy geschenkte Wohlwollen bald herausgefühlt und halb belustigt, halb, um diesen Typ eines Blaustrumpfs zu studiren, fand er sich immer in ihrer Nähe ein, wo natürlich auch Adrienne meist weilte.

Die kleine Frau von Dören spottete darüber und nannte sie »die drei Gebildeten«. Fanny sah indes diese Intimität mit heimlichem Unbehagen, ihr ein Ziel zu setzen, daran war nicht zu denken; die einzige Hoffnung blieb, daß der skeptische und vernünftige Magnus allezeit das Gegengewicht zu den überspannten Lebensanschauungen des Fräuleins hergeben werde.

Fanny war in dieser Zeit sehr glücklich.

»Ich weiß nicht,« sagte sie einmal zu Lanzenau, »wie das so kommen mag – seit vielen Jahren habe ich immer im September diese oder andere lieben Gäste gehabt, aber es hat mich nie so gefreut wie diesmal. Wie schön ist doch das Leben, wenn man es mit guten Menschen teilen darf!«

Lanzenau blickte ihr beunruhigt in die strahlenden Augen, das verhängnisvolle Fragewort: »Ist auch einer unter uns, von dem der neue Sonnenschein ausgeht?« kam ihm zum Glück nicht von den Lippen, er bezwang sich.

»Ja, es ist schön, liebe Fanny, und es ist am allerschönsten, daß Ihr Glücksgefühl der innern Zufriedenheit ihrer Seele und der äußern Klarheit Ihres Lebens entspringt; möge das so bleiben, und möge ich allezeit meinen alten Platz an Ihrer Seite behalten!«

[] »O gewiß, mein Freund, Sie sind mir der Nächste meinem Herzen. Sie wissen es ... bitte, bitte, Achim – ein Wort ...«

Joachim ging unfern mit Dören vorüber, er lief auf Fanny, Fanny auf ihn zu.

»Nur ein Wort ... sind die Schießstände in Ordnung?«

Dören, Joachim und sie besprachen die Einzelheiten des für den Nachmittag geplanten Wettschießens. Lanzenau stand vergessen von fern.

Lanzenau schloß die Augen, er war blaß geworden, langsam ging er tiefer in den Park hinein, seine Füße trugen ihn nicht weit, er stand an einer Buche still, legte die Handflächen gegen den Stamm und die Stirn gegen die Hände.

»Unmöglich,« dachte er, »unmöglich! Es kann nicht, es soll nicht sein! Vielleicht wird sie nicht erkennen, was jetzt in ihr keimt, es verdorrt im Beginn, gewiß, ganz gewiß, denn er ist ein unbefangener Jüngling, er wagte es nicht einmal, davon zu träumen, das sieht man wohl. Sie muß blind bleiben, sie muß!«

Er stöhnte schwer.

Nein, das nicht, nur das nicht! Sein Lebenlang neben Fanny hergehen, ohne sie zu besitzen – ja, aber sie einem andern überlassen – nie! Sechzehn Jahre in Treue einem Weibe gehören und dies Weib dann einem hübschen jungen Menschen geben müssen? – Lieber diesen niederschießen wie ein Stück Wild.

[] Aber wie – wenn der sie wieder liebte, wenn ein Tag käme, wo er ihre Neigung merkte und dann – schon aus Vorteilsgründen – sich erklärte? Aber nein, einer Berechnung war Joachim nicht fähig. Doch welcher junge Mann würde kalt und unempfindlich bleiben, wenn eine Fanny ihn liebte?

Lanzenau dachte an seine Jugend zurück, er lächelte schmerzlich. Joachim müßte kein Mensch von Fleisch und Blut, er müßte eine Puppe von Zeug und Hobelspänen sein, wenn er kalt bleiben sollte bei der Liebe einer schönen Frau.

Und gab all seine Treue ihm denn ein Recht, von Fanny etwas zu fordern? Seine Hand hatte sie mehrfach ausgeschlagen; durfte er erwarten, daß sie seinetwegen ihr Leben als Nonne beendigen würde?

»Sie muß blind bleiben,« dachte er, mit Gewalt sich zu vernünftiger Fassung zwingend, »aber ich muß hell sehen!«

An diesem Tage erschienen Gäste aus der Nachbarschaft zu dem Wettschießen, das Fanny anberaumt hatte. Die Schießstände lagen neben der Parkgrenze am Ufer der Elbe, man wanderte gemeinsam durch den Park dahin; es war bald nach dem zweiten Frühstück und die Damen noch alle in ihren Morgenkleidern.

»Du bist reizend,« flüsterte Joachim Severina zu, die er jetzt zu ihrer beider Qual immer nur in Gegenwart aller sehen konnte, höchstens gestattete ihnen abends der Tanz oder eine Promenade im Park einmal [] die Gelegenheit zu einem innigen Händedruck, der der einzige Dolmetscher ihrer Sehnsucht bleiben mußte.

»Still!« entgegnete Severina ebenso; »was wagst Du?«

Herr von Dören ging an ihrer andern Seite, plauderte aber lebhaft mit der Gräfin Taiß, die er führte und bei der er seit Jahren eine neckische Courmacherei anzubringen suchte, die sie mit Humor und Grazie ermunterte, um sie immer wieder zurückschlagen zu können. Joachim war deshalb unbesorgt.

»Ich vergehe,« flüsterte er weiter; »kann ich Dich denn nie einmal in Muße sehen?«

Severinas Kniee bebten. Wenn jemand ihr Geflüster bemerkte!

»Bitte?« fuhr er fort.

Ach, wie leidenschaftlich, wie unsäglich gern hätte auch sie ihm einmal wieder voll und heiß ins Auge geschaut.

»Wann soll – wann kann ich?«

»Heut abend, wenn im Pastorenhause alles schläft.«

»Nein, mein Zimmer liegt neben dem der Mutter, sie wacht bei jedem Laut.«

»Heut nach Tisch – im dunklen Park – an der Stelle, wo ich Dich zuerst gesehen. Schleiche Dich weg, es sind so viele Menschen da, man vermißt uns nicht.«

Severina nickte stumm, ein schneller Blick fuhr wie ein sengender Blitz zwischen ihnen hin und her.

[] Das Gespräch ward dann unter den vier Zusammenwandernden durch eine Frage Dörens ein allgemeines. Sie kamen zuletzt am Schießstand an.

»Natürlich,« sagte Frau von Dören lachend, »mein Mann war zu sehr mit den schönen Augen der Gräfin beschäftigt. Lieber Taiß, ich glaube, wir raffen uns doch noch zur Eifersucht auf.«

»Laßt das nur,« sprach Dören, sein Weibchen um die Taille fassend, »die Niederlagen bei der gnädigsten Gräfin sind mir als Gegengewicht Deiner zu großen Liebe sehr gesund, Du siehst, ich thue selbst das Möglichste, um mich vor Eitelkeit zu bewahren.«

»Auch eine Form der Selbsterziehung,« meinte Taiß heiter.

»An die Gewehre, meine Herrschaften, an die Gewehre!« mahnte Lanzenau.

Die Schießstände, es waren ihrer zwei, zeigten sich dem Bedürfnis der lustigen Gesellschaft angepaßt, an dem einen boten sich den Damen Ziele dar, wie man sie in Schießbuden auf Jahrmärkten sieht, an dem andern konnten die Herren ihre Zielsicherheit an einer Scheibe bewähren. Fanny hatte zwei Preise gestiftet, für die schußfertigste Dame lag ein kostbares Jagdgewehr, für den besten Schützen ein sehr wertvoller Spitzenfächer bereit.

»Man sieht,« sagte Fanny, »mich hat die ruchlose Absicht geleitet, die Sieger in peinlichste Verlegenheit zu bringen, denn sie sollen ihren Preis einer Dame [] respektive einem Herrn der Gesellschaft hier an Ort und Stelle verehren.«

»Paris' Verlegenheit war ein kleiner Embarras gegen die Wahlschwierigkeit des Fächergewinners,« sagte Herr von Dören; »zum Glück bin ich ein schlechter Schütze und komme somit gar nicht in Gefahr, mir durch eine Huldigung viele Feindinnen zu machen.«

»Und was mich anbetrifft,« rief Frau von Dören, »erkläre ich mich bei dem Fächer hors de concurrence, hoffe hingegen, über das Jagdgewehr verfügen zu dürfen!«

Auf dem Platz unter den alten Baumriesen, die zum Park gehörten, waren Stühle, Tische und ein kleines Buffet errichtet. Adrienne und Fräulein von Grävenitz setzten sich zusammen; die erstere hatte nicht allzu viel Interesse an dem Sport, die letztere fand Schießen eine kavaliermäßige Kunst, aber für Damen dünkte es sie selbst im Scherz abscheulich; jedesmal, wenn die Reihe, deren Folge man ausgelost hatte, an sie kam, drückte sie zitternd, erst nach langem Zureden und mit einem Schrei die harmlos geladene Flinte ab, natürlich mit geschlossenen Augen ins Blinde hinein.

Fanny und die Gräfin Taiß hatten keine ruhige Hand, Adrienne war überhaupt kurzsichtig. So stritten Severina und Frau von Dören um den Sieg. Die Herren sahen eifrigst interessirt zu, man lachte und wettete sogar.

Triumphirend behielt die kleine Frau den Sieg, den sie sich prophezeit.

[] »Das Gewehr – das Gewehr!«

»Erst sollen die Herren auch so weit sein,« bestimmte Fanny.

Es waren unter den Gästen aus der Nachbarschaft einige bekannte Schützen. Das Spiel, welches bisher nur Amusement gewesen, nahm sofort den Charakter eines leidenschaftlichen Sports an. Magnus und Herr von Dören traten alsbald freiwillig aus der Reihe. Mit Spannung, ja, mit einem fieberhaften Eifer wurden die Schüsse erwartet, beobachtet, notirt.

Und Joachim traf mit spielender Leichtigkeit, ohne langes Wägen, jedesmal den Kernpunkt.

Es war am Ende nicht etwas so Erstaunliches, in einer Kunst, die hauptsächlich Uebung, sichere Hand und scharfes Auge erfordert, zu glänzen, zumal für einen Mann von Joachims Erziehung und Beschäftigung; aber Fanny war sehr stolz auf seine Fertigkeit und konnte sich nicht genug thun, sie zu bewundern. Gewandtheit in solchen Künsten ist dem Mann in den Augen jeder Frau vorteilhaft.

Joachim sagte zuletzt, als die ganze Gesellschaft sich schon bewundernd um ihn und einen der heutigen Nachmittagsgäste drängte, während die anderen Herren sich für besiegt erklärten, daß man so nie zur Entscheidung kommen werde und ob sie nicht ein anderes Ziel nehmen wollten.

Taiß schlug vor, eine Visitenkarte auf einen hohen Stecken zu befestigen und diesen im Felde weit hinter[] der Scheibe aufzupflanzen. Als man noch, aufgeregt wie über eine wichtige Sache, darüber debattirte, flog eine Krähe aus den Gipfeln der Parkbäume in hohem Fluge schräg über den Fluß.

»Aufgepaßt!« sagte Joachim, zielte – alles hielt den Atem an – und drückte ab.

Schwer schoß das Tier durch die Luft herab in den breiten Strom.

»Ich ergebe mich,« sprach Joachims Konkurrent, »das wäre ich nicht im stande.«

»Es ist nicht viel dabei,« meinte Joachim.

»Das hab' ich mir gedacht,« sagte Fanny triumphirend; »Sie sind allen überlegen.«

Lanzenau, der das hörte, lächelte bitter.

»Aber nun die Preise!« rief Frau von Dören. Sie erhielt das Gewehr und sprach zu ihrem Gatten: »Du meinst natürlich, meine Schwäche für Dich gehe so weit, daß ich Dir und keinem andern dies Geschenk mache, aber die Stunde ist gekommen, mich zu rächen; Graf Taiß, empfangen Sie dies als Zeichen meiner besondern Gunst.«

»Meine Gnädigste, ich werde mich bestreben, sie zu verdienen, und nehme dies pränumerando als Lohn,« sagte der Graf mit einer übertrieben tiefen Verneigung.

Während dieses kleinen Vorgangs konnte Joachim sich entscheiden, welcher Dame er den Fächer geben wolle, den Adrienne gerade in der Hand hielt und verlangend besah, aber seiner Schwägerin konnte er [] doch unmöglich das Geschenk überreichen; es hätte sich wohl geschickt, ihn Fanny, seiner gütigen Herrin, als Huldigung zu Füßen zu legen, aber er fand, daß es im Grund ein Unsinn wäre, Fanny den Fächer zurückzugeben, den sie selbst angeschafft, obenein, da sie, wie er zufällig wußte, einen reichhaltigen Vorrat von Fächern in allen Formen und Stoffen besaß, und in Severinas Seele brannte das Verlangen, von seiner Hand vor allen Anwesenden ausgezeichnet zu werden, das wußte er, obschon er sie mit keinem Blick ansah.

Man bemerkte die Zweifel auf seinem Gesicht und lachte ihn aus.

Darauf trat er an Fanny heran und fragte leise:

»Fände unsere gnädige Königin es nicht am taktvollsten, wenn ich den Fächer der einzigen Dame im Kreise schenke, die nicht im stande ist, sich einen solchen zu kaufen?«

»Das ist ein hübscher Gedanke,« sagte Fanny, von seinem Zartgefühl entzückt, »sie wird ebenso überrascht als beglückt sein.«

Und Joachim überreichte der erglühenden Severina den Fächer mit einer so förmlichen Verbeugung, als sei sie ihm wildfremd. Das wäre nun niemand aufgefallen und jeder hätte die Förmlichkeit für die komisch-feierliche Betonung des Vorgangs genommen, wenn nicht Lanzenau allein, seit einiger Zeit Joachim gegenüber immer auf dem Beobachterposten, das fremd-höfliche Gesicht des jungen Mannes um so sonderbarer gefunden hätte, je [] mehr ihm vorher ein rascher Blick aufgefallen war, mit dem Joachim und Severina sich begegneten.

Er beschloß, fortan auch das Mädchen im Auge zu behalten, eine unbestimmte, freudige Hoffnung beschlich ihn. Wenn diese beiden im Begriff wären, sich zu finden oder wohl gar schon sich gefunden hätten ... dann zog die Gefahr an ihm vorüber und über Fannys Haupt dahin wie eine Wetterwolke, die mit fernem Blitzgeleuchte droht, aber ihre Flammen nicht über uns entladet.

Der Zufall war ihm günstig. Noch am selben Abend, als die Gesellschaft sich im Saal, auf der Terrasse und im Spielzimmer zwanglos verteilt hatte und Lanzenau suchend von einem Raum in den andern ging, sagte man ihm im Saal, Fräulein Severina sei auf der Terrasse, und auf der Terrasse, sie sei im Saal. Nach Joachim, der auch fehlte, fragte er nicht, er ging ohne weiteres in den Park.

Es war stockdunkel, der Mond sollte erst später aufgehen, Lanzenau verirrte sich mit seinen sorgsam vorwärts tastenden Füßen mehrmals auf einen Rasensaum oder ein Blumenbeet, einmal geriet er auch in einen großen, wilden Rosenbusch, die stacheligen Zweige, die wider seine Brust schlugen, verwickelten sich in die Schnur seines Monocles. Ingrimmig versuchte er loszukommen, er riß und riß und hatte nur den Erfolg, daß die Schnur entzwei ging und am Busche mitsamt dem Augenglas hängen blieb.

[] Plötzlich hörte er in unmittelbarer Nähe Stimmen. Er erinnerte sich, daß das Gebüsch von wilden Rosen dicht bei der großen Tanne mit der Rundbank sich befand; aber die, denen die Stimmen gehörten, mußten eben erst von der andern Seite ankommen, sonst hätten sie das Geräusch in den Zweigen gehört, das seine greifenden Hände gemacht.

Worte konnte Lanzenau nicht verstehen, Gestalten nicht einmal in den Umrissen erkennen, nur das ward ihm alsbald aus den Lauten, die sein Ohr vernahm, sehr deutlich, daß ein Liebespaar dort saß. Aber wer sagte ihm, daß es nicht jemand aus dem Dorf oder jemand von den Dienstboten sei? Er zog sich zurück und näherte sich auf dem direkten Weg dem Hause. Hier, wo das Licht den Platz unter den Linden matt erhellte, lehnte er sich an einen Stamm und rauchte geduldig eine Cigarrette. Wenn die, welche sich dort küßten, ins Haus gehörten, mußten sie den Lichtkreis durchschreiten oder doch an seiner Grenze hinhuschen. Und richtig – da floh ein weibliches Wesen in weißem Kleid vorbei und um das Haus herum, wahrscheinlich, um vorn einzutreten. Severina allein trug heute weiß; und da kam auch Joachim, ganz gemächlich, eine Cigarrette im Munde, schritt er mitten durch den hellsten Lichtschein gerade auf die Terrasse zu.

Lanzenau atmete tief auf, ein Alp fiel von seiner Brust. Daß die jungen Leutchen ihre Liebe noch geheim hielten, war ja bei Joachims Vermögenslage[] ganz natürlich, und daß Fanny von dieser Liebe ganz allmälich Kenntnis bekam, so vorsichtig, daß ihre Gedanken sich daran gewöhnten, ehe ihre Seele voll für Joachim aufflammte, das sollte seine, Lanzenaus, Sorge sein, auch nahm er sich vor, all seine Verbindungen bis zur äußersten auszunützen, um für Joachim eine Administratorenstellung zu suchen, die diesen in den Stand setzte, Severina zu heiraten. Vielleicht fand Fannys sichtliche Schwäche für Joachim voll Befriedigung und Freude, wenn sie mütterlich für ihn und seine Braut sorgen durfte. Bei Fanny war kein Ding unmöglich, wenn ihre Gefühle für Joachim vielleicht nur jenes Gemisch von Mütterlichkeit und weiblicher Zärtlichkeit waren, dessen Grundton wunschlose Resignation ist, dann wollte Lanzenau ihr beistehen, dies Gefühl ganz zu sättigen, und ihr helfen, ihn sehr glücklich zu machen.

Mit freudigem Herzen kehrte er in die Gesellschaft zurück.

Alsbald, da er dort seine Meinung über eine neue Photographie der Gräfin Taiß abgeben sollte, vermißte er sein Monocle. Jedermann half suchen, bis Lanzenau sagte, es sei unnütz, er habe es im Freien verloren.

Am andern Morgen entdeckte Severina es am Rosenbusch, ein unnennbarer Schreck überwältigte sie einen Augenblick, gegen Mittag fand sie Gelegenheit, Joachim davon zu sagen, auch diesem war der Gedanke nicht sehr rosig, daß Lanzenau sie belauscht haben könne.

[] »Wenn er es Fanny sagt,« meinte Severina zitternd.

»O, Fanny – das macht nichts, die hält viel von mir, das merke ich wohl, sie geht reizend mit mir um – wenn sie mich so ›Achim‹ nennt, denke ich immer, meine Mutter könnte es nicht gütiger gesagt haben,« sprach Joachim mit nachdenklichem Gesicht; »aber es ist mir um Dich – wegen des Gezeters, das die Pastorin dann ohne Zweifel anfängt, und es ist wegen Arnold, dem Adrienne es schriebe, er hat schon so viel Opfer und Sorgen für mich gehabt im Leben und ich bin ihm deshalb Gehorsam schuldig, er aber hat mir oft aus Herz gelegt, mich nie zu binden, ehe ich nicht eine Frau ernähren kann, damit stürzte ich nur zwei Familien in Sorgen und trübte meine und eines Mädchens Jugendfreude.«

»Du bist nicht gebunden,« rief sie heftig, »ich will Dir und niemand eine Last sein, habe mich nur eine Weile lieb, nachher sei frei – geh und laß mich sterben!«

»Aber, Närrchen,« flüsterte er, neu von ihrer Leidenschaftlichkeit entzückt, »wer spricht von solchen Dingen! Uebrigens ist es ja noch gar nicht ausgemacht, daß Lanzenau gerade am Rosenbusch stand, wie wir unter der Tanne saßen. Gib mir das Augenglas, wenn ich es ihm überreiche, soll die Situation zwischen ihm und mir wenigstens klar werden.«

»Herr Baron,« sagte Joachim, als man bei einander stand, des Dieners Meldung, daß servirt sei, [] erwartend, »Sie haben Ihr Glas gestern abend am Rosenbusch verloren, hier ist es.«

Dabei sah er ihn herausfordernd an. Lanzenau zwinkerte mit den Augen sehr lustig und sehr wohlwollend.

»Hat Severina suchen helfen?« fragte er, und klopfte Joachim auf die Schulter.

»Wenn sie es gethan hätte,« sagte Joachim halblaut, mit einem herzlichen Bittton in der Stimme, »dann würden Sie gewiß nicht die Indiskretion haben, es irgend jemand zu erzählen.«

»Gewiß nicht, gewiß nicht, mein Lieber, ausgenommen, es wäre zu eurem Glück. Junge Leute in eurer Lebenslage können oft einen deus ex machina brauchen.«

»Wenn Sie den Beruf in sich fühlen, diesen für uns zu spielen,« erwiderte Joachim heiter, »werde ich der letzte sein, es Ihnen zu verbieten; aber selbst in diesem Falle muß ich ernstlich bitten, immer nur mir die Mitteilung einer Thatsache zu überlassen, die mein Bruder durchaus von mir und durchaus an einem geeigneten Zeitpunkt erfahren muß, soll sie ihn nicht verstimmen.«

Was blieb Lanzenau übrig, als sein Wort zu geben; aber diese Fessel ließ ihm immer noch die Freiheit, dem jungen Paar der fördernde Schutzgeist zu sein und auch Fanny unauffällig und indirekt zur Erkenntnis zu leiten.

[]

Achtes Kapitel

Die Zeit der Unruhe im Schloß war auch für die Pastorenfamilie eine Unterbrechung der gewohnten stillen Thätigkeit. Die Tagesordnung ward verschoben und begann noch früher als sonst, denn jeder mußte die Nachmittagsstunden, die an der Geselligkeit verloren gingen, einholen. Der Pastor arbeitete in der Morgenfrühe an seinen Predigten, die er das ganze Jahr nicht mit so viel Eifer und Fürsorge verfaßte als jetzt, wo des Sonntags einige arge Weltkinder unter seinen Zuhörern saßen, in deren Herzen das Licht religiöser Humanität zu entzünden sein heiliges Bemühen war. In der That hatte er wenigstens den Erfolg, daß Herr und Frau von Dören, die behaupteten, die Kirchenluft sonst nicht vertragen zu können, ihm gestanden, daß seine gütige Art, die ethischen Lehren der Bibel zu erklären, sie wirklich fessele, ja ergreife. Der kleine, stille Mann lächelte dazu, im Leben durfte er sonst nicht viel sagen, hatte auch keine Neigung dafür; aber auf der Kanzel konnte seine Frau [] nicht dreinreden – da konnte sie seine Milde nicht mit apokalyptischen Dunkelheiten aufmischen.

Die Pastorin verdoppelte in dieser Zeit ihre ohnehin zähe Arbeitskraft, da Severina überhaupt nur morgens und abends noch in der Pfarre gesehen wurde, sonst aber auf Fannys Befehl im Schloß blieb; sie arbeitete der Magd alles noch einmal nach, was diese schon mit besten Kräften gethan, sie nähte und strickte und flickte Kleider und Sachen, die alle hätten bis zum Herbst liegen können, da niemand ihrer benötigte; aber es war ihr Bedürfnis, ja, ihre Wollust, mittags abgearbeitet, außer Atem, über die Lasten ihres Daseins klagen zu können; doch in der tiefsten Arbeitsraserei fand sie immer noch eine Minute, hinaufzuschleichen und bei Magnus einzutreten.

Dieser fuhr dann unwillig und in seiner besten Arbeitsstimmung gestört, mit dem Kopf in die Höhe und fragte barsch, was es gäbe. Sie wolle nur nachsehen, ob er auch ein Gläschen Wein oder ein Brötchen wolle, ob er auch nicht zu viel arbeite, ob er die Rouleaux herabgelassen, damit ihm die Sonne nicht auf das Papier scheine, was seinen kurzsichtigen Augen nicht zuträglich. Magnus seufzte tief, zwang sich zur Geduld mit dieser quälenden Mutterliebe und dankte mit den liebevollsten Worten, die er finden konnte, für ihre Bemühung.

Aber auch am Nachmittag, in Fannys Kreis, verfolgte ihn die Aufsicht der Mutter, eine Aufsicht, die ebenso sehr Eifersucht wie Sorge war.

[] An kühlen Abenden machte es Magnus wütend, die Mahnung zu hören – vor so viel jungen Damen – er solle den Rockkragen hoch schlagen. An heißen Nachmittagen rief die Mutter ihn aus dem Sonnenschein hinweg, in dem er auf dem Rasen mit den Damen Crocket oder dergleichen spielte; bei Tisch ließ sie ihn, der immer möglichst weit von ihr weg saß, durch den Diener bitten, keinen Gurkensalat zu essen.

Ging er mit einer der Damen allein, konnte er sicher sein, daß seine Mutter ihm nachkam, zumal, wenn diese Dame etwa die lustige Frau von Dören oder Adrienne war; der erstern traute sie zu, daß sie ihr Magnus verführen möchte, die zweite war ihr ganz und gar unsympathisch. Eine Frau, die in der Abwesenheit ihres Mannes tanzt, anstatt in Werken des Kirchendienstes den Panzer zu suchen gegen die Anfechtungen der Welt – entsetzlich! Aber das sah Fanny ähnlich, dergleichen zu dulden. Nie, selbst gegen ihren Gatten nicht, wagte die Pastorin ein Wort über Fanny, aber in ihrem Herzen, ganz heimlich gestand sie sich, daß Fanny keineswegs so vollkommen sei, als jedermann sie pries; es war unleugbar ihre, der Pastorin, Pflicht als Mutter, Magnus gegen diese weltlichen Einflüsse zu schützen.

Wenn Fanny diese kleinen Scenen beobachtete, in denen die ungemäßigte Mutterliebe den jungen Gelehrten quälte, wechselte sie wohl mit dem seufzenden Magnus einen Blick.

[] »Ja,« sagte Magnus einmal, »leicht ist die Buße nicht, die ich für meinen Leichtsinn trage.«

»Sie wird auch nicht ewig dauern,« tröstete Fanny, »das sehe ich wohl ein, blieben Sie lange beisammen, verlören Sie die kindliche Geduld mit den Schwächen Ihrer Mutter.«

»Es ist ein bißchen zu viel Liebe, die sie mir schenkt,« klagte Magnus.

»Euch Männern ist der Grad einer Frauenliebe nie recht, er ist euch immer zu niedrig oder zu hoch,« scherzte Fanny.

Fräulein von Grävenitz kam zu diesem Gespräch, das Thema, welches Fanny mit ihrer Aeußerung anschlug, war zu interessant für das Fräulein, als daß sie es nicht hätte noch mit Magnus fortspinnen sollen, nachdem Fanny von der eben im Saal erscheinenden Gräfin angerufen worden war.

Fräulein von Grävenitz, die heute eine gelbe Bluse und einen weißen Rock trug, lehnte in malerischer Pose am Flügel, faltete ihre weißen Hände auf der glänzenden Ebenholzplatte desselben und neigte ihr Haupt mit der Goldspange.

»Ach,« sagte sie, »wie klingt es absonderlich in Fannys Mund, das hohe, das eine Wort; in ihrem Herzen, dem vielbegehrten, haben die Männer gewiß immer nur den geringsten Grad von Liebe gefunden, sie ist nicht geschaffen, einem Glück zu geben, sie geht in der Allgemeinheit auf – vor lauter Humanität[] kann sie keinen Mann lieben, wenn ich dagegen das tiefinnerliche Duldergemüt meiner Adrienne ansehe! Welch ein Schatz von Empfindungen! Wie viel Feuer verbirgt diese sanfte Melancholie!«

»Warum mir das?« dachte Magnus, etwas beunruhigt, denn er war sich wohl bewußt, Adrienne ein wenig »sondirt« zu haben, das heißt, in allerlei Gesprächen über philosophische Sentenzen und poetische Konflikte erforscht zu haben, ob sie in ihrer Ehe unglücklich und auf der Suche nach jemand sei, der sie dafür entschädigen solle.

»Und zu denken,« fuhr das Fräulein schwärmerisch fort, »daß diese zarte Frauenblume am Rande eines Gletschers vegetiren muß!«

Die Pastorin zeigte sich in der Thür.

»Still,« flüsterte Lucy sich selbst zu, denn nur sie hatte gesprochen, »Ihre Mutter! Aber in Ihren Augen lese ich, daß Sie noch gern mehr gehört hätten, suchen Sie heute nachmittag die Gelegenheit, es drängt mich, offen gegen Sie zu sein.«

Magnus hatte ein wenig Herzklopfen, das Fräulein wollte ihn so heimlich und wichtig sprechen? Sie war Adriennens Freundin? Was wollten die Frauen von ihm? Er dachte nach, ob er sich irgendwie in Blick und Ton zu weit vorgewagt und ob er nun eine Strafpredigt empfangen solle. Nein, zu einer Zurückweisung hatte er keine Veranlassung gegeben, er wußte bei alledem, was er Frau von Herebrecht schuldig war.

[] Eine begreifliche Neugier quälte ihn und veranlaßte ihn, an diesem Tage mehr als sonst Adriennens Nähe zu suchen.

Man hatte eine Ruderpartie beschlossen, die im Abendschein beginnen und beim Mondesleuchten endigen sollte. Der selten schöne Frühherbst lud ein, noch alle Reize zu genießen, die er in diesem Jahr verschwenderisch bot.

Paarweise ging man durch den Park zum Stromufer hinab. Magnus hatte Adrienne den Arm geboten; seit einer Viertelstunde suchte seine Mutter, die mit Taiß ganz zuletzt ging, ihn einmal anzurufen. Der Graf, der wie alle ihre Schwäche kannte und in den Aeußerungen derselben sie zu stören ein Vergnügen fand, ließ sie nicht dazu kommen, bis sie endlich ausrief, sie müsse Magnus etwas von höchster Wichtigkeit mitteilen.

»Magnus – Magnus!«

Unwillig schaute er zurück, trat aus der Reihe und überließ Taiß, der herzueilte, den Arm seiner Dame.

»Was willst Du, Mutter?«

»Ich bitte Dich, Magnus – was hast Du nur den ganzen Tag mit der langweiligen Frau?«

»Also das war die Wichtigkeit, die Du mir mitzuteilen hattest?« rief er mit kaum unterdrückter Heftigkeit; »Du erniedrigst mich vor der ganzen Gesellschaft zum Schulbuben, Mutter, das erträgt kein Mann! [] Du siehst, daß auch andere Männer sich den Damen gesellen – soll mir denn verwehrt sein, was der einfachste Brauch ist? Soll ich etwa wie ein Junge von drei Jahren immer nur Deinen Kleiderzipfel fassen?«

»Ich kann die Frau nicht leiden!« sagte die Pastorin ebenso heftig.

»Natürlich – anstatt vernünftiger Gründe eine persönliche Abneigung als Motiv des Verbotes – das ist rechte Weiberart,« sprach er bitter. »Welcher von den Damen zu huldigen erlaubst Du mir denn?«

Seinen Hohn bemerkte sie gar nicht, sondern antwortete eifrig:

»Von den anwesenden keiner, sie sind allzumal Sünderinnen und mangeln des Ruhms, den ...«

»Nun ist's genug,« fiel Magnus ihr in die Rede; »die Frau existirt überhaupt nicht, der Du meine Aufmerksamkeit gönntest! Du reizest mich so lange, bis ich Dir einmal aus purem Trotz eine Schwiegertochter zuführe, vor der Du Dich bekreuzigst.«

»Magnus, Magnus!« flehte sie angstvoll hinter ihm her, aber er ging sehr rasch, um die Gesellschaft wieder einzuholen, die Pastorin gab es auf und schlich betrübt hinterdrein.

In der allerhöchsten und trotzigsten Erregung, in welcher Magnus sich befand, schlug er nun erst recht einen Ton feuriger Huldigung Adrienne gegenüber an. Wahrhaftig, er bedauerte aufrichtig, daß sie verheiratet sei, sonst hätte er sie, ohne darüber nachzudenken, ob [] er sie liebe oder nicht, sofort um ihre Hand gebeten, nur um seiner Mutter zu beweisen, daß ein Weib einen Mann in gewissen Dingen nicht bevormunden darf, und sei's gleich die eigene, sonst wahrhaft verehrte Mutter.

Adrienne war im stärksten Grade dadurch beunruhigt, sie sah mehreremale ihre Freundin hilfesuchend an, Lucy Grävenitz drückte ihr dann verständnisinnig die Hand, die drei waren natürlich in dasselbe Boot geraten, in welchem außer ihnen noch Graf Taiß, Frau von Dören und Severina saßen, auch Joachim wollte mit einsteigen, allein Fanny berief ihn zu sich in das andere Boot. Magnus' Eltern blieben zurück, sie hatten die Herrschaften nur bis an das Ufer begleitet.

Fräulein von Grävenitz brannte auf den Augenblick, wo sie Magnus werde unbeachtet sprechen können; sie, die sonst den Mondaufgang laut angeseufzt haben würde, hatte heute keine Augen für die Zauber der Beleuchtung, die schnell vom violetten Dämmerschein zur schwarzen Nacht überging; ja, als dann der rote Vollmond aufging, als zöge eine unsichtbare Hand eine glühende Kupferscheibe in die Höhe, auch da bemerkte die Dame nur tiefsinnig:

»Was sind alle Wunder der Natur gegen die Rätsel einer Menschenbrust?«

Als man endlich wieder landete und Adrienne erleichtert aufatmete, daß sie von dem nahen Beieinander mit Magnus erlöst sei, hielt es Lucy nicht mehr, sie [] ergriff Magnus' Arm, zog ihn förmlich mit sich fort und schlug einen andern Weg mit ihm ein, als den die übrigen wählten.

»Mein Freund,« begann sie mit bewegter Stimme, »Sie sind erregt, darf ich ahnen, weshalb?«

Magnus fühlte eine innere Wut in sich aufsteigen; wenn die Frauenzimmer doch die Indiskretion lassen wollten, sich mit seinen Gefühlen zu beschäftigen! Erst seine Mutter – nun dieses altjungferliche Fräulein mit dem keuschen Augenniederschlag – zum Henker auch – es schien, als sei Adrienne von Drachen bewacht, seinetwegen von einem ganzen Dutzend; wenn das bißchen Courmacherei ihm zu einem Kardinalverbrechen angerechnet werden sollte, mochte Frau von Herebrecht ihrem Gatten nur gleich nachreisen, dahin, wo der Pfeffer wächst, so sehr ihn die arme, kleine, tyrannisirte Frau auch dauerte.

Da Magnus auf die innige Frage nur etwas Unverständliches murmelte, fuhr das Fräulein fort:

»Teurer Magnus – Sie gestatten in dieser vertrauten Stunde die Anrede – teurer Freund, mäßigen Sie Ihre Verzweiflung, Sie sind geliebt, ich weiß es! Und schon aus schwierigeren Verhältnissen ist die Blume eines wahren Glücks erblüht.«

»Ich – ich – bin geliebt?« stotterte Magnus, von einer unheimlichen Furcht befallen, daß am Ende Lucy selbst ...

»Ja – von ihr – der zarten, holden Adrienne.«

[] Fräulein Lucy stand im Mondenschein still, hob die dunklen Schwärmeraugen zum Himmel und reichte beide Hände dem fassungslosen Magnus.

Dem war, als sei er verrückt geworden, er war geliebt – von Adrienne – und sie ließ es ihm sagen? Natürlich – von selbst, aus eigenem Sinn hätte er das nie zu fassen gewagt. Wie – so war sie doch eine schöne, trostbedürftige Sünderin? Er verlor den Kopf, welcher junge Mensch an seiner Stelle hätte das nicht gethan?

»Geben Sie ihr das Glück, das sie in ihrer Ehe nicht finden kann – nie finden wird,« sagte Lucy, seine Hände drückend, »in allem Kampf werde ich mit flammendem Schwert euch zur Seite stehen!«

Was wußte Magnus davon, daß es für Fräulein Lucy ein Bedürfnis war, wenn sie nicht selbst etwas erleben konnte – was ja unter den Augen ihres Schwagers ein für allemal ausgeschlossen – wenigstens einen Roman für andere einzufädeln und, als Zuschauer teilnehmend, Kämpfe, Leid, Thränen, Wonne mit zu genießen; er hatte Lucy und Adrienne im vertraulichsten Verkehr gesehen und durfte es glauben, wenn die eine ihm sagte, daß die andere ihn liebe.

»O – ich – mir schwindelt!« stotterte Magnus.

»Fassung, mein Freund, Fassung!« mahnte Lucy milde.

Stumm schritten sie weiter unter der Leitung des Fräuleins, die ihm nur dann und wann die [] Hand drückte und übrigens wieder dem Hauptweg zustrebte.

Dort fanden sie aber nicht mehr die Gesellschaft, die, durch keinerlei romantische Zwiegespräche aufgehalten, dem Schlosse zugeeilt war, wo jeder in seinem Zimmer noch Gewand und Hände von den etwaigen Spuren der Kahnfahrt befreite. Wenigstens waren Terrasse und Saal vollkommen menschenleer.

Lucy trennte sich von Magnus, dieser ging, noch vollkommen betäubt, unter den Linden einigemale auf und ab, sein Auge suchte Adriennens Fenster, die Thür aus ihrem Wohngemach nach dem Balkon stand auf, es war oben Licht.

Ein toller Gedanke faßte ihn. Wie, wenn sie wüßte, daß Lucy ihm heute abend von ihrer Liebe gesprochen – wenn sie nun wartete auf die Antwort, die er darauf zu geben habe? Der Rausch in ihm stieg.

Zum Unglück hörte er irgendwo aus dem Dunkel die Stimme seiner Mutter »Magnus, Magnus!« rufen, wie auf der Flucht rannte er ins Haus, die Treppe hinauf und klopfte an Adriennens Thür. Niemand war ihm begegnet. Adrienne, die glaubte, daß Lucy komme, rief herein.

Magnus kam über die Schwelle und zog die Thür hinter sich zu.

Adrienne saß in einem der tiefen, hochlehnigen dunkelblauen Stühle, der Schein der Lampe fiel voll auf ihr Gesicht, durch die offene Balkonthür und aus[] der gleichfalls geöffneten Thür des Schlafzimmers gähnte Dunkelheit.

Sekundenlang starrten sich beide fassungslos an, dann kam der Mann näher, nicht wie ein jubelnder Sieger, sondern wie ein Besinnungsloser.

Er stand vor Adrienne, die wie gelähmt seinem unbegreiflichen Erscheinen und Beginnen zusah; er nahm ihre Hand und murmelte:

»Ist es wahr, ist es wahr?« Dann setzte er sich auf die Lehne des Stuhles, neigte sein Gesicht auf ihr Haar und flüsterte: »Wie verdien' ich das?«

Adrienne schauderte, bog sich zur Seite und fragte mühsam:

»Was – was – beginnen Sie – wie kommen Sie hieher?«

»Ich – ich weiß nicht ... ich wollte ...« und dann kniete er plötzlich neben ihr und sah ihr trunken in die Augen, der Kneifer war ihm entfallen und sein braunes Auge, ohne den Schutz des Glases, hatte einen zudringlichen Blick, der verwirrte wie der Anblick von etwas Nacktem – »Liebe heischen und Liebe geben.«

Sie sprang empor, ein Schrei blieb ihr in der Kehle stecken, sie streckte beide Arme abwehrend aus, ihre Augen wurden unnatürlich groß, sie sahen in das Medusenantlitz der Sünde.

Ein Chaos von Gedanken wirbelte in ihrem Kopf auf; alles, was sie damals in der unglücklichen Zeit ihrer Einsamkeit in fieberdunstigen Büchern von der[] Süßigkeit der Sünde gelesen, ward in ihr wach, alles, was sie von dem Fluch der Sünde ihr früheres Leben lang gehört und gedacht, erhob sich drohend vor ihr.

Zugleich fühlte sie dieselbe Spannung des Herzens, dieselbe aus Furcht und Stolz gemischte Unruhe, die sie damals empfunden, als Arnold ihr sagte, daß er sie liebe.

Der größte Reichtum aller Lebensempfindungen überwältigt die Frau, wenn sie hört, daß sie geliebt wird, dieser Augenblick erhebt sie zur Königin der Schöpfung und reicht ihr immer wieder die Krone der Jungfräulichkeit zurück.

Adrienne zitterte, aber sie stieß den Mann zurück, der, nicht wissend, was er that, aufs neue in sie eindrang.

Er sprach zu ihr. Was? Sie wußten es beide später nicht mehr.

Sie hatte ihr Angesicht mit den Händen bedeckt und hörte nicht und dachte nicht, aber sie fühlte – fühlte die teuflische Neugier, zu wissen, wie die Sünde schmecke.

Und ob das Leben, das graue, nüchterne, nachher wohl reichern Inhalt habe.

Bleischwer legte es sich auf ihre Seele, daß die Erkenntnis, einmal gewonnen, nicht mit dem Preis des ganzen Daseins wieder rückgängig gemacht werden könne. Und dann kam wieder das schreckliche Gelüst ... sie war ihr so bequem nahe, die reizende Zauberin, [] die Tausenden und Abertausenden das Leben zum bunten, schimmernden Fest machte, sie brauchte bloß die Hand auszustrecken und die Schleier zu heben.

O, die Neugier, die brennende, dämonische Neugier.

»Adrienne!« beschwor Magnus' Stimme; »Lucy hat es mir ja verraten – sonst hätte ich nie den Mut gefunden.«

Adrienne stand entgeistert, sie fühlte ihr Schicksal auf ihren Lippen, ein Wort, und es würde entschieden sein; ihr war's, als habe sich ihre Seele von ihrem Körper getrennt, ihre Seele floh den Versucher und wußte, daß sie sprechen wollte und sprechen mußte: »Hinweg!« Aber daneben ging in seltsamem Doppelbewußtsein die Gewißheit, daß ihre Lippen, wenn die stummen sich erschlössen, dem flehenden Mann Gewähr sprechen würden.

»Adrienne!« flüsterte er, sich an ihrer äußern Marmorruhe immer toller erhitzend.

Da bewegten sich ihre Lippen, da wollte das Flüsterwort des Verderbens laut werden, und da regte sich's nebenan. Ein lallender Ton – wie ihn Kinder im Schlaf ausstoßen ...

Adrienne schrie auf.

»Mein Kind – Arnold!«

Und mit der Plötzlichkeit, die dem Sprung einer Tigerin glich, stürzte sie auf das Kinderbett zu.

Sie zerrte es heraus, das kleine, schlaftrunkene Wesen, sie trug es zum Licht, legte es in den Stuhl,[] wo sie selbst vorhin gesessen, kniete vor ihm nieder und las mit gierigen Augen in dem kleinen Gesicht.

Sie sah nicht, daß Magnus erst wie betäubt stand, dann erwachend, vernichtet, reuevoll sich neben sie drängte und ihres Kindes kleine, warme Hand küßte, daß er dann fast taumelnd hinausfloh.

Sie tastete an dem Körper ihres Kindes, ob es auch wirklich sei, sie fuhr mit ihren Fingern über die rundlichen Wangen. Was sie nie gesehen, offenbarte sich ihr plötzlich, Arnolds Züge wiederholten sich in jedem Zug dieses kleinen Gesichtes. Und zum erstenmal seit seinem Abschied stieg, einer jähen Flamme gleich, riesengroß der Wunsch in ihr auf, ihn hier zu haben, jetzt, in diesem Augenblick, seine Verzeihung zu erlangen und von ihm zu hören, daß er sie liebe.

O, welche unbeschreibliche Wohlthat müßte das sein, und ihm dann auch sagen zu dürfen: »Arnold, ich liebe Dich!«

Ihre Lippen sprachen nach, was ihre Brust fast zersprengte. Das nie gesagte, das von Arnold vergebens ersehnte, hörten jetzt die stillen Wände:

»Arnold, ich liebe Dich!«

Und sie erschrak über sich, als hätte sie Irrsinniges gethan, sah bang das Kind an, und mit einemmale löste sich die brennende Unruhe in einem unermeßlichen Thränenstrom. Sie legte ihr Haupt neben dem Kind auf das Polster und weinte und weinte eine ungemessene Zeit.

[] Und diese Thränen flossen als unüberbrückbarer Strom zwischen ihrem frühern und ihrem neuen Sein.

»Adrienne!« rief eine Stimme – eine tiefe, wohllautende Stimme.

Adrienne sprang auf und warf sich an Fannys Brust, wieder kam ihr Fanny als Erlöserin.

»Was hast Du?« fragte Fanny tief besorgt; sie hatte die junge Frau unten vermißt und kam, sie zu suchen.

»O, wäre Arnold hier!« klagte Adrienne weinend.

»Dieser Wunsch macht mich glücklich, ich höre ihn zum erstenmal!« sprach Fanny.

Die Weinende drückte sich fester an sie.

»Ist irgend etwas vorgegangen, das Dich zur Erkenntnis führte, er sei Dein Stab und Deine Stütze?« fragte Fanny weiter.

Stärkeres Weinen war die Antwort.

Plötzlich erinnerte sich Fanny, daß unten Magnus aller Welt durch seine Leichenblässe aufgefallen war, aber Fragen nach seinem Befinden mit erzwungener Heiterkeit abwehrte. Und hatten nicht die Grävenitz, Magnus und Adrienne immer zusammengesteckt?

Kaum entstand der Verdacht, daß die Erregung Adriennens von dieser Seite angefacht sei, so hatte Fanny schon einen Entschluß gefaßt, der armen jungen Frau in der Krisis beizustehen, ohne sie durch zudringliche Fragen zu beschämen.

»Nun, Herzchen,« sagte sie im leichtesten Ton,[] »beruhige Dich; das beste Mittel gegen Heimweh ist dies: schreibe Deinem Mann einen langen, langen Brief und schütte ihm Dein Herz aus, er liebt Dich so sehr – freilich, er sagt es nicht – aber Du weißt es ja doch; schreibe ihm und bleibe heute abend oben.«

Fanny wußte doch immer das rechte Wort zu sagen. Dankbar, in Liebe zu ihr aufwallend, umarmte Adrienne die Schwägerin.

Fanny ging sehr ernst und langsam hinunter, trat dann aber völlig wie sonst in den Saal ein und sagte, daß Frau von Herebrecht nicht wohl sei; später nahm sie Magnus beiseite.

»Apropos, Magnus, Sie erinnern sich doch, daß Sie sich mir sozusagen mit Leib und Seele verkauft haben?«

Magnus wußte nicht, was er von diesem Scherz denken sollte, denn er zitterte seit dem Augenblick, wo Fanny zu Adrienne gegangen war.

»Allerdings,« sagte er, mühsam ebenfalls einen scherzenden Ton findend, »ich bin Ihr Schuldgefangener; der Turm, in den Sie mich sperrten, ist weit genug, aber heimliche Ketten sind doch darin. Wäre nur erst der Augenblick da, wo ich meine Arbeit vollendet und das Honorar habe, um den Schein aus Ihrer Hand zu lösen.«

»Was denken Sie,« sprach Fanny, ihn lustig ansehend, »wenn ich so wenig Wert auf Ihre Gegenwart in Mittelbach lege, daß ich Ihnen jetzt den Schein schenke unter der Bedingung, daß Sie morgen reisen? [] Unhöflich – was? Aber ich meine, hier haben Sie zu viel Abhaltung von der Arbeit.«

»Hat Frau von Herebrecht meine Entfernung gewünscht?« fuhr es Magnus heraus, der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn.

»Also richtig!« dachte Fanny. »Adrienne? Nein,« sagte sie unbefangen, verwundert; »was hätte sie, die an allen meinen Freunden leider nur zu teilnahmlos vorübergeht, an Ihrem Bleiben oder Reisen für ein Interesse? Nun, was denken Sie? Sie sind beleidigt, daß ich Sie hier entbehrlich finde?«

»Ich denke,« sprach Magnus, aufatmend und Fanny voll in das kluge Gesicht sehend, »daß Sie mit Menschen umherschieben wie ein Theaterdiener mit Dekorationsstücken, aber Sie verstehen die Kunst, und es scheint, Sie haben immer recht und wissen immer alles, wenn Sie es gleich nicht gestehen. Ich gehe, wohin ich soll, ich nehme meinen Schuldschein zurück, wenn Sie es so wollen, das sind, ich weiß es, für Sie kleinliche Nebensachen; machen Sie meinen Eltern meine Reise und die Notwendigkeit dazu klar. Und ich habe ein Neidwort für Sie – es möchte ein weniger Aufrichtiger in einen Segenswunsch zum Abschied kleiden: Sie sind so klug und klar für andere, beneidenswerte Frau, und haben für sich selbst kein Klugsein nötig, bleibe Ihnen das!«

Fanny fühlte sich durch seine letzten Worte sehr bewegt und konnte sich das nicht erklären.

[] Adrienne aber saß und schrieb bis tief in die Nacht hinein einen Brief an ihren Gatten, und dabei erging es ihr seltsam. Arnold, der ernste Mann, der sie allezeit mit seinen »vernünftigen Worten« geplagt, verschwand vor ihr wie ein Schatten, die plötzlich geborene Sehnsucht hatte ihr in unbestimmten Umrissen einen Mann vorgezaubert, der so gütig war, alles zu verstehen, und so stark, alles zu verzeihen, und so liebevoll, ihr ganzes, begehrliches, ungesättigtes Herz zu füllen. Das Bedürfnis ihrer Seele, in dieser Stunde der Gefahr ganz in einer andern, vollkommenen Seele aufzugehen, um sich blind zu machen gegen Neugier und Versuchung, dies Bedürfnis war der Schöpfer ihrer jäh erwachten Liebe zum fernen Gatten.

Ein Gefühl, so trügerisch und haltlos wie ein Irrlicht und dennoch ein Licht in der Nacht.

So war alles, was sie schrieb und was aus ihrem Innern sich unwiderstehlich herausdrängte, eigentlich nicht an Arnold gerichtet, es war ein Selbstgespräch oder eine Phantasie an ein Trugbild.

Und doch, wenn die Fieberspannung dieser Stunden gewichen sein wird und die Blätter mit den heißen Geständnissen hinfliegen über den Ozean, dann wird als Erinnerung das Bewußtsein bleiben, wie die Aussprache zu ihm alle Not beendigte, und das Flackerfeuer der plötzlichen Liebessehnsucht wird doch tief im Herzen Funken zurücklassen, und mälich, mälich wird [] sich daran die wahre, unauslöschliche Flamme echter Liebe entzünden.

Denn der jungen Frau ist es ergangen wie dem Ungläubigen, der in der Stunde der Todesnot zu Gott betet: seitdem weiß er, daß bei ihm und in ihm aller Trost ist, und er sucht ihn nachher von freien Stücken.

[]

Neuntes Kapitel

So glücklich Fanny durch die Gegenwart ihrer Gäste gewesen, fühlte sie zu ihrer eigenen Verwunderung dennoch eine erhöhte Freude, als in den ersten Oktobertagen ihr Haus wieder leer war.

Auch die Einladung der Gräfin Taiß, wie immer den Monat November auf der Taißburg zu verleben, lehnte Fanny ab. Erst als der Graf ihr vorstellte, daß es doch seit manchem Jahr bei ihnen Sitte gewesen sei, Fannys und ihrer Cousine, der Gräfin, Geburtstage, die auf dasselbe Datum, den 20. November, fielen, zusammen zu feiern, erst da versprach sie, für drei Tage zu kommen. Natürlich hörte Lanzenau dies mit dem größten Unbehagen, denn für ihn, der ebenfalls seit Jahren der regelmäßige Novembergast des Grafen war, blieb ein Ablehnen unmöglich, wollte er sich nicht lächerlich machen, oder Fanny nicht kompromittiren. Und zu seiner noch größeren Verstimmung erhielt Joachim von Herebrecht nur eine Einladung für dieselben drei [] Tage, an denen auch Fanny nach der Taißburg kommen wollte.

Er sann und sann, wie er seinen Aufenthalt dort abkürzen könne, ohne auffällig zu werden, und fand endlich, daß Fanny alle ihre Bekannten zu einer großen Jagd einladen müsse, da der Wildstand überhand nehme und den Rübenfeldern Schaden bringe. Fanny ließ sich arglos bereden, und ehe die gräfliche Familie abreiste, war bestimmt worden, daß alsbald nach dem doppelten Geburtstagsfest alle Gäste aus der Taißburg für zwei Tage nach Mittelbach übersiedeln sollten, um eine Treibjagd abzuhalten. Fannys Haus würde zwar nicht ausreichen, um alle zu beherbergen, allein eine Anzahl von Kavalieren konnte ganz gut im nahen Dreisa bei Lanzenau wohnen. Nach dieser Jagd war es selbstverständlich, daß der Baron dann nicht erst wieder nach Taißburg zurückkehrte.

Also das Haus war für jetzt von Gästen leer. Man konnte sich für den Winter rüsten. Der große Saal ward zugeschlossen, die Terrasse sah kahl aus, die Kübel mit den Lorbeer- und Orangenbäumen standen im Warmhause, das sich hinter den Scheunen im Nutzgarten befand. Der Flügel war in das eine von den drei Zimmern geschoben, die jetzt bewohnt wurden und davon das eine neben dem Saal parkwärts, das andere an der Seitenwand des Hauses, das dritte vorn, dem Hofe zu, belegen war. Die Räume gingen ineinander, [] das vordere Gemach diente zum Speisen, das mittlere der Musik, und in dem Zimmer, von wo das Auge über den sturmdurchtosten Park schweifen konnte, versammelte Fanny am liebsten ihre Freunde um sich.

Die Lese- und Malstunden hatten ihr zu sehr gefallen, um sie jetzt aufzugeben, wo die Winterruhe in Feld und Haus ihr viel mehr freie Zeit ließ. Magnus, der treffliche Recitator, war nach der Residenz übersiedelt, zum großen Jammer der Pastorin, die steif und fest glaubte, er habe sich ihrer Bevormundung entziehen wollen und sich deshalb hinter Fanny gesteckt. Fanny ließ sie bei diesem heilsamen Glauben, in der Hoffnung, sie werde sich künftig zusammennehmen; denn alles, was Magnus je an Leichtfertigkeit beging, hatte stets seine tiefsten Wurzelfasern im Trotz gegen das ewige Bewachen, Ermahnen und Befehlen.

Es galt, einen Ersatz für Magnus zu finden. Lanzenau als Vorleser zu denken, war lächerlich, auch pflegte dieser der Mittagsruhe, wenn man lesen hören wollte, und just diese Stunde mußte es sein, weil Fanny das Licht zum Malen brauchte. Joachim sagte, wenn er vorlesen solle, würde er vorziehen, auszuwandern. So mußte Severina denn lesen, und es ging sehr gut.

Jeden Mittag sah das große, helle Zimmer das gleiche Bild zwischen seinen Wänden. Fanny saß, mit einer enormen Schürze und Malärmeln umkleidet, eifrig vor ihrer Staffelei, die an dem einen Fenster [] stand. Am andern saß ihr »Opfer«, wie er sich nannte, Joachim, und hielt nie still.

Adrienne und Severina saßen in Joachims Nähe an einem Tischchen, erstere machte Handarbeit. Und wie früher Magnus für Adrienne gelesen, so las jetzt Severina für Joachim.

Diese Gelegenheit, ihm die glühendsten Geständnisse zu machen, ward ihre Lehrmeisterin; sie las oft mit solchem Schwunge, mit so tiefinnerster Erregung, daß Fanny den Pinsel ruhen ließ und fortgerissen zuhörte. Die melodische Stimme tönte durch den Raum, in dem auch alles bereitet schien, einer weihevollen, der Poesie gewidmeten Stunde den rechten Rahmen zu geben. Reichtum und Verständnis hatten ihn mit einer gewissen, zurückhaltenden Pracht geschmückt. Die reichgefüllten Blumentische, in denen Frühlingsblumen unter Fächerpalmen blühten, fügten der Pracht die Anmut hinzu.

Lanzenau meinte einmal im Scherz, Fanny sei da unvorsichtig und zettle etwas an, wofür sie dann die Verantwortung trage. Das Hineinlesen in die Herzen sei seit Francesca und Paolo da Rimini eine bekannte Form des Verliebens, und wenn Severina und Joachim sich verliebten, müsse Fanny als die Veranstalterin auch für das weitere sorgen. Dabei hatte er Fanny scharf angesehen. Aber sie sagte mit der größten Ruhe:

»Ach – Unsinn! Joachim muß eine reiche Frau [] und Severina einen reichen Mann haben. Joachim ist ja viel zu vernünftig und sie auch – dergleichen fällt ihnen nicht ein.«

Es fiel nämlich Fanny nicht ein, an solche Möglichkeit zu denken. Die Aeußerung glitt an ihrer Ahnungslosigkeit so ab, daß sie nicht einmal bei der nächsten Vorlesung mehr daran dachte.

Joachim fühlte sich ungeheuer wohl bei der Sache. So dazusitzen und ungefährdet, durch das Medium irgend eines Poeten, sich von Severina in allen Tonarten sagen zu lassen, daß er unendlich geliebt sei, und das in Gegenwart der beiden anderen Frauen hatte jedenfalls einen pikanten Reiz. Und das konnte noch eine gute Weile so fortgehen, denn Fanny traf immer und immer nicht die Züge, in denen sie mit der größten Vertiefung las. Wenn Joachim nicht zugegen war, schien es ihr, als wisse sie sein Gesicht auswendig, und wenn er dann so vor ihr saß, entdeckte sie jeden Tag etwas Neues in seinen Zügen, und jeder Zug erschien ihr von vollkommener Schönheit.

Das erste Porträt ward von allen für so unendlich geschmeichelt und deshalb nicht ganz ähnlich erklärt, daß sie ein zweites sogleich begann.

So endete der Oktober und Lanzenau rüstete sich mit schwerem Herzen zur Fahrt nach der Taißburg. Freilich, verändert hatte sich hier nichts, Fanny war noch ebenso unbefangen, fast naiv in den Aeußerungen [] ihres Wohlgefallens für Joachim, und diesen hatte er mehr wie einmal bei Zeichen heimlichen Einverständnisses mit Severina ertappt. Auch verhießen seine Bemühungen, für Joachim eine auskömmliche Stellung zu finden, Erfolg. Er hatte durch den Grafen Taiß erfahren, daß die gräflich Itzelburgischen Güter wahrscheinlich in Administration kommen würden, weil der Graf – ein einstiger Regimentskamerad Lanzenaus bei den Gardes du Corps, wo beide bis zum Premier dienten – plötzlich verstorben sei, die Erben aber erst in zehn Jahren majorenn würden. Lanzenau knüpfte sofort die längst erkalteten oder eingeschlafenen Beziehungen zu der Familie des Verstorbenen wieder an und war gewillt, im Notfall selbst nach Pommern zu reisen, um an Ort und Stelle für seinen Schützling zu wirken. Wenn Joachim die Administration bekam, konnte er alsbald heiraten und sah sich bei vernünftiger Wirtschaft nach zehn Jahren im Besitz eines Kapitals, welches ihm gestattete, dann eine Pachtung anzufassen.

Trotz all dieser Gründe zur Ruhe war Lanzenau dennoch von dumpfen Ahnungen erfüllt und reiste mit einem so sichtlichen Schmerz ab, daß Fanny fast peinlich davon berührt wurde.

Sie stand noch eine Weile in dem Beischlag vor ihrem Hause und schaute seinem davonrollenden Wagen nach, dann ging sie lange im Park spazieren, eng in das große weiße Wolltuch gewickelt, das sie um die [] Schultern geschlagen, als sie Lanzenau an den Wagen begleitete. Ihre Fußspitzen stießen raschelnd die feuchten gelben Blätter empor, sie ging, wie Kinder wohl im welken Laube gehen – das Aufwühlen des melancholischen Herbstniederschlages gab ihr eine Beschäftigung, bei der sich gut nachdenken ließ.

Nachdenken? Worüber? Ueber den neuen Umstand, daß ihr Lanzenaus Abreise fast eine Erleichterung schien? Welch ein Unrecht gegen den Treuen und wie unbegründet auch! Denn sein Benehmen gegen sie wa doch dasselbe gewesen, wie in all den vielen, vielen Jahren, wo ihr seine unermüdliche Freundschaft Wärme und Inhalt in das einsame Leben getragen. Was hatte sich denn verändert? Fanny fühlte ganz, daß auch in ihrem Herzen die dankbare Anhänglichkeit für den Freund ihrer Jugend, den Genossen ihrer Irrtümer und ihrer als recht erkannten Lebensaufgaben, unvermindert fortlebte, ja, um einen Ton wärmer geworden war durch eine Art Mitleidsgefühl – und doch eine Veränderung?

Durch die kahlen Baumwipfel sauste der Novemberwind. Sonnenstrahlen, gelb und blank wie Messingglanz und so ohne Wärme, lagen auf dem braunfeuchten Blattgehäuf zu Fannys Füßen und ließen darin bläuliche Tinten aufschimmern. Auf dem grünen, von welkem Laub überfleckten Rasen standen da und dort kleine Holzkästen – sie bargen die empfindlichen Coniferen gegen den Winterfrost. Wie unlustig das [] aussah, und in der Pappel dort saß es schwarz voll und hob sich jetzt wie ein auseinander flatterndes, vom Winde getragenes Laken in die Luft: ein Schwarm Krähen, der gegen den hellblauen Himmel flog.

Fanny fror; sie kehrte eilig zurück. Nahe dem Hause überflog ein helles Freudenrot ihr Gesicht. Am Fenster stand Joachim mit seinem kleinen Neffen, den er sich auf die linke Schulter gesetzt. Der Kleine schlug mit den Patschhändchen gegen die Scheiben, daß es bumste, Joachim lachte und nickte.

Wie schnell war Fanny drinnen!

»Aber nun muß er fort,« sagte Joachim, denn gleich nach Fannys Eintritt meldete der Diener, daß das zweite Frühstück servirt sei.

»Unser Kind« – Fanny und Joachim nannten den Kleinen immer »unser Kind« – »kann hier bleiben,« bestimmte Fanny.

»Er ist zu lebhaft, und wenn er schreit ...« sagte Adrienne bedenklich.

»Was schadet's – Lanzenau ist ja fort, wir sind unter uns,« sprach Fanny heiter.

Sie dachte nicht daran, daß dieses »unter uns« Lanzenau, mit dem sie viele Jahre gelebt, als Fremden von einer Gemeinsamkeit ausschloß, in der sie sich erst seit wenig Monaten mit Adrienne und Joachim befand. Wäre ihr selbst oder den beiden das aufgefallen, würde sie sich wahrscheinlich mit der Erklärung geholfen haben, daß ja Adrienne und Joachim ihre Verwandten seien.

[] Für jetzt freuten sie sich harmlos, daß sie einmal den Kleinen selbst füttern durften. Natürlich zerschlug er eine Tasse und sein Kleidchen wurde mit Eigelb betröpfelt. Aber sie hatten noch nie so vergnügt gefrühstückt wie heute. Lanzenau freilich, der konnte den Kinderlärm nicht ertragen.

Nach dem Frühstück kam Severina zum Vorlesen. Magnus hatte neue Bücher geschickt, neue für diese Gesellschaft, die, wie so viele Leser, das Neueste kannten, aber die Perlen unbeachtet ließen, die schon vor einem halben oder gar ganzen Menschenalter von Berufenen dem Volk geschenkt waren.

Severina begann heute »Ginevra und Lanzelot« von Hertz vorzulesen.

Das hohe Lied der Leidenschaft hätte von keinen heißeren Lippen vorgetragen werden können. Severina vergaß sich und die Welt, sie las nicht mehr für den einen Geliebten. Die Naturgewalt der Liebe erstand vor ihr als etwas so Uebermächtiges, daß sie sich und ihre friedliche, stillglühende Neigung vergaß und vor der Gottheit erbebte. So vergessen wir ob gewaltiger Naturereignisse die Erschütterungen eigenen Seins, so erscheint unser Leben nichts gegen die Ewigkeit. Das eine Kleine geht im Großen auf.

Sie saßen alle und lauschten atemlos. Fannys Augen hingen groß und leuchtend an Severinas Lippen; Adrienne hatte die Hand über ihre Augen gelegt; selbst Joachim fühlte sich von dem Gedicht ergriffen. Die [] ritterlich kühne und doch so sündige Leidenschaft Lanzelots für Ginevra, das Weib seines Königs, entflammte ihn zum Mitgefühl; er sah Ginevra, das glühende, schöne, an den alten Artus vermählte Weib, vor sich – sie mußte ausgesehen haben wie Fanny. So hoch, so frauenhaft, so milde und das blonde Haupt so frei und königlich. Severina las von Mordreds Warnung, von des Königs scheinbarer Jagdfahrt, von der Zusammenkunft, die Ginevra und Lanzelot für diesen Fall verabreden und zu dem eine rote Rose das glückverheißende Zeichen sein soll. Sie las von dieser wilden Nacht.

Und dann heischte die Stunde für heute ein Ende. Sie bedauerten es alle und fanden lange noch nicht den heiteren Ton wieder. Fieberheiß hatte sich ihnen das Nachempfinden in die Adern gegossen.

Freilich riefen die kleinen Obliegenheiten des Tages den einen an diese, den andern an jene Beschäftigung und das nahm allmälich der Erregung das persönlich Ergreifende. Aber als Severina gegen Abend schied, ward sie ermahnt, ja andern Tags recht zeitig zu kommen.

Joachim brachte sie nach Haus. Das hatte sich so als Brauch eingeschlichen, seit die Abende früh das Land deckten. Sie gingen immer auf einem Umweg. Seltsamerweise war ihnen das Glück dabei so günstig, daß noch niemand sie dabei ertappte. Joachim drückte Severinas Arm zärtlich an sich und sagte:

[] »Wie Du heute schön gelesen hast! – Wenn mir das jemand prophezeit hätte, daß ich noch einmal ganz spießbürgerlich und gebildet beim Vorlesen zuhören würde wie ein Pensionsmädchen in der Literaturstunde! In meinen anderen Stellungen bin ich in den Mußestunden in die benachbarten Garnisonen geritten oder habe mit dem Gutsherrn Billard gespielt, gejagt oder dergleichen.«

»Ist es nicht hübscher so?« fragte Severina.

»Freilich – weil Du dabei bist. Und wenn man so von all den verrückten Menschen hört, die die Liebe so tragisch nehmen und sich und anderen das Leben damit sauer machen, freut man sich der eigenen, modernen Vernünftigkeit,« sagte Joachim behaglich.

»Die ganze ›Vernünftigkeit‹, die Du manchmal in diesem Punkt an Dir rühmst,« bemerkte Severina mit einem zärtlichen Lächeln, »ist weiter nichts als Dein ruhiges Glücksgefühl. Wenn Du früher zu lieben glaubtest, fandest Du fast immer Entgegenkommen; stellte es sich dann heraus, daß es bloß eine beiderseitige Täuschung gewesen war, tröstetest Du Dich aus dieser Erkenntnis sehr schnell.«

»Die Liebe liebt das Wandern,
Gott hat sie so gemacht,
Von einer zu der andern,
Fein's Liebchen, gute Nacht!«

sang Joachim halblaut.

»Und jetzt,« fuhr Severina eifrig fort, »wo Du [] zum erstenmal wirklich liebst, mich, findest Du grenzenlose Gegenliebe. Du hast also gar keine Gelegenheit zur ›Unvernunft‹! Aber das ist gewiß, daß auch ein stilles Glück, ein vernünftiges Glück durch einen Querstrich ins übermenschlich Traurige umschlagen kann. Wenn ich Dir untreu würde, Du ertrügst es nicht. Und ich – ich stürbe, wenn Du mich verrietest.«

Sie hing leidenschaftlich an ihm.

»Aber, Kindchen,« sagte er mißmutig, »Du weißt, ich kann die überspannten Redensarten nicht leiden. Ob ich Dir treu bleibe – Du mir – wer kann's beschwören? Aber wir wollen es hoffen. Wenn wir erst verheiratet sind, macht sich das von selbst.«

Severina zitterte. O, über seinen leichten Ton! Aber gewiß, es war nur der Ton.

»Lanzenau sagt mir,« erzählte Joachim, »daß er Aussichten für mich hat. In drei Wochen kann es sich entscheiden. Dann soll Fanny aber die erste sein, die es erfährt, vor ihr schäme ich mich der Heimlichkeit am meisten. Wie sie sich wohl freut, sie ist so teilnehmend. Weißt Du, bei der Geschichte mußte ich immer denken, daß Ginevra gewiß ebenso ausgesehen hat wie Fanny – es ist so das heldenhafte Genre.«

»Nein, bei all ihrer Schönheit finde ich dafür Fanny nicht ideal genug. Sie ist viel zu klug und energisch, als daß man sie sich als Type für eine Ginevra denken könnte.«

Sie sprachen noch einige Augenblicke von Fanny[] voll Anhänglichkeit und Verehrung, wie sie immer thaten, und dann schieden sie. Joachim ging in der angenehmsten Stimmung denselben Weg zurück. Dieser führte ihn durch den Nutzgarten, im Warmhause sah er Licht. Der Gärtner war dort, der die Oefen zuschraubte und die Thüren verschloß. Joachim trat ein. Der Schein der Stalllaterne, die der Mann an den Ast eines Orangenbaumes gehängt hatte, lag ungewiß auf dem glänzenden Dunkelgrün der Lorbeeren und Orangen. Auf den Borden an der schräg aufsteigenden, von Eisenstäben durchkreuzten Glaswand stand Topf an Topf Rosen, Kamelien und der keimende Frühlingsflor der Hyazinthen und Maiblumen. Von dort her leuchteten zwei helle Rosenblüten, der Stolz des Gärtners, der seiner Herrin gestern noch die so künstlich gezeitigten Knospen gezeigt. Ohne Bedenken ging Joachim darauf zu und schnitt sie mit seinem Taschenmesser ab. Er lachte den entsetzten Gärtner aus und versicherte, daß es der Rosen würdiger sei, im Zimmer der Herrin zu welken, als hier still zu blühen.

»Ich wollte ihr morgen den Topf in den Blumentisch stellen,« klagte der Mann.

»Es sind noch fünf Knospen daran, gute Nacht!« Pfeifend ging Joachim dem Hause zu und trat in das Speisezimmer. Die Frauen waren nicht anwesend. Er legte auf ihre Servietten je eine Rose und wartete.

Fanny und Adrienne, als sie erschienen, freuten[] sich des Blumengrußes sehr. Daß er nur durch einen Raub in Fannys Gewächshaus ermöglicht war, nahm ihm nichts von seinem Reiz. Man setzte sich heiter zusammen, Fanny befestigte die La france-Rose in ihrem Knopfloch. Die Lampe brannte auf dem Tisch, rings war die totenhafte Stille eines ländlichen Winterabends.

Das Glücksgefühl, welches Fanny den ganzen Tag darüber gehabt, daß sie unter sich seien, steigerte sich beinahe bis zum jubelnden Uebermut. Die Dienerschaft auf Mittelbach hatte noch nie ein so vergnügtes Lachen aus den Zimmern der Herrschaft gehört. Joachim spielte sich gewaltig als alleinigen Beschützer und Hausherrn auf, und das stand ihm reizend. Endlich setzte er sich an den Flügel und sang und sang, als wollte er sein ganzes Herz ausschütten: all die ungemessene Jugendlust, alle Liebesfreude, alles Ahnen tieferen Empfindens, das er in Gedanken gern von sich wies, alles strömte er in Liedern aus. Bunt ging es durch einander, Lustiges und Trauriges.

Aber die Musik ist eine eigene Zauberin. Mit Schmeichelei fängt sie die Seelen und faßt sie dann mit ihrem Pathos. Der Uebermut entschlüpfte unversehens so dem Sänger wie den Hörern, und Joachim reihte Lied an Lied von Schumann, Brahms und Jensen.

Und als er, sich selbst berauschend am Text und der Melodie, das Lied von Jensen gesungen:

[]
»Lehn deine Wang' an meine Wang',
Dann fließen die Thränen zusammen!
Und an mein Herz drück fest dein Herz,
Dann schlagen zusammen die Flammen.
Und wenn in die große Flamme fließt,
Der Strom von unsern Thränen,
Und wenn dich mein Arm gewaltig umschließt –
Sterb' ich vor Liebessehnen!«

Da erschauerte Fanny. Die ganze Menschenohnmacht, die mit den heißesten Wünschen vergebens strebt, ein vollkommen gesättigtes Glück zu genießen oder auszudrücken, spricht sich in diesem Liede aus. Es ist der Notschrei des Titanen, der Göttlichstes empfindet und verlangt und nie ganz auskosten kann.

Als der letzte Ton verhallte, sagte sie mit bleichen Wangen:

»Heute nichts mehr!«

Joachim fühlte, daß er so gut gesungen habe wie noch nie und daß er mit seinem Gesang Fanny erschütterte. Es freute ihn sehr, daß er, der sich ihr gegenüber stets als unbedeutender junger Mensch fühlte, doch etwas könne, das ihr eine Stunde ausfülle.

Auch Adrienne war tief ergriffen und verließ das Zimmer sogleich. Die anderen sollten sie nicht weinen sehen – sie würden erraten haben, daß Adrienne von einem unbestimmten Heimweh erfaßt sei. Von Heimweh? – nach ihrer sonnenlosen grauen Stube in Kiel, oder nach dem Klang einer ruhigen, ernsten Stimme,[] in welcher doch ein Ton mitbebte, der Joachims Sang so ähnlich war?

Fanny und Joachim blieben aber nicht mehr beisammen, während er den Flügel schloß und die Noten ordnete, sagte sie ihm gute Nacht. Aber er lief in heiterer Galanterie voraus, um ihr die Thür zu öffnen. Während sie an ihm vorbei schritt, entfiel ihr die Rose. Er nahm sie auf und deklamirte in einer unwillkürlichen Gedankenverbindung:

»Ginevra, im Vorüberwallen,
Ließ eine rote Rose fallen.«

Fanny lachte, ließ ihm die Rose und ging in ihr Zim mer. Die Erregungen des Tages bebten in ihr nach und ließen sie lange nicht schlafen.

Lanzenaus Abreise, das schöne Gedicht von Ginevra und Lanzelot, Joachims Gesang – alles kam zurück und forderte seinen Teil abschließender Betrachtung. Und zuletzt hafteten ihre Gedanken auch bei Joachims Citat, als ihr die Rose entfiel.

»Ginevra, im Vorüberwallen,
Ließ eine rote Rose fallen.«

Ja, das that Ginevra – als Zeichen, daß der Geliebte in der Nacht kommen dürfe. Wie unbedacht, wie leichtsinnig, ja wie unpassend war es von Joachim gewesen, das zu citiren. Aber natürlich, das waren in jenem Augenblick nur Worte ohne Sinn gewesen, [] und er hatte gar nicht daran gedacht, welche Bedeutung sie im Gedicht haben. Sie lächelte in ihre Kissen hinein.

Wie reich doch jetzt die Tage waren! Neben der Arbeit und Aufsichtsführung in Haus und Feld und Scheunen blieben genug Stunden, dem frohen Beisammensein gewidmet. Was war doch früher in diesen Stunden geschehen? Fanny erinnerte sich nicht. Es schien, als habe es früher gar keine Erholungsstunden gegeben.

Das Licht flackerte auf und schreckte Fanny von den Grenzen des Halbschlummers zurück. Sie erhob sich halb und löschte es, fiel zurück und schlief ein.

Ganz gegen ihre Gewohnheit träumte sie – buntes, sinnloses Zeug. Aber endlich siegten die beiden Eindrücke, die heute am mächtigsten gewesen: Fanny träumte, sie sei Ginevra und Lanzelot säße zu ihren Füßen und sänge: »Lehn deine Wang' an meine Wang'«. Ein unendliches Glücksgefühl überwältigte sie. Das Lied aus seinem Mund, der flehende Liebesblick aus seinem Auge bezwang sie ohne Widerstreben. Sie sank in die Arme, die sich ihr entgegen öffneten und vermählte sich dem geliebten Mann. Vom Uebermaße der Wonne erschrak ihr Herz und in diesem Schrecken erwachte sie.

Lanzelot war im Traum eins mit Joachim gewesen. Sie begriff mit wachem Geiste, daß sie im Traum sich Joachim ergeben.

[] Fanny erkannte, daß ihr Leib und Seele in Liebe zu Joachim entbrannt seien.

Sie barg ihr Angesicht im Kissen ihres Lagers und weinte. Sie fühlte, daß in dieser Stunde all ihr dunkles Glückssehnen, von dem sie einmal zum Freunde gesprochen, zielbewußt geworden. Sie fühlte, daß ihr Leben in diesem Augenblick einen neuen, einen einzigen Inhalt bekommen habe: Joachim!

Und mit freudigem Stolz gestand sie sich, daß alles, was sie zu geben habe, des besten Mannes nicht unwert sei. Alles, was ihre unermüdliche Kraft sich in den vergangenen Jahren geschaffen, das arbeitsreiche, gesunde Leben, die eigentümliche und so viel verehrte Herrscherstellung, die sie in der Gegend einnahm, die treue Anhänglichkeit ihrer nächsten Untergebenen, der Reichtum, den das Schicksal ihr in den Schoß geschüttet und den sie weise und wohlthätig zugleich verwaltet, alles, alles hatte nun dadurch erst rechten Wert und Bestimmung erhalten, daß sie es dem geliebten Mann zu Füßen legen konnte.

Ein frommes Gebet entstieg ihrer Brust. Sie dankte Gott, daß sie sich dieser Stunde reinen Herzens freuen könne, daß sie ihr Glück ohne Bangen empfangen dürfe, denn es treffe ihre Seele nicht im Uebermut, es habe sie gefunden nach langen Jahren ehrlicher Selbstbezwingung.

Und dann streckte sie sich wieder und lag ganz still. Nicht um zu schlafen – nein, um in glücklichem[] Wachen an alles zu denken, was nun kommen könne, kommen müsse.

Auch nicht von fern streifte ihre Seele die Furcht, daß Joachim nicht ganz dasselbe fühle wie sie. Mit der Erkenntnis, daß sie ihn liebe, war wie ein Himmelswunder die zweifelsfreieste Gewißheit in ihr Herz gekommen, daß er schon lange harre, das Glück aus ihrer Hand zu empfangen. O, und es sollte ihm werden, reich und königlich, wie nur sie es ihm geben konnte.

[]

Zehntes Kapitel

Was sind die kühnsten und seligsten Entschlüsse der Nacht gegen die nüchternen Wirklichkeiten des Tages!

Als Fanny am nächsten Morgen Joachim sah, zitterten ihr die Kniee, die Stimme schien ihr versiegt, Flammenglut deckte ihr Antlitz. Aber er war unbefangen heiter wie immer.

Und unter der Dienerschaft des Hauses war großes Erstaunen: Frau Förster gab verkehrte Befehle! Frau Förster vergaß oft, was sie vor einer Viertelstunde angeordnet! Wenn man sie anredete, fuhr sie erschreckt auf! Und sie ritt allein bei regnerischem Windwetter aus! Und die Pastorsleute waren neulich abgewiesen worden – zum ersten, unerhört Aufsehen erregenden mal – weil Frau Förster Kopfweh habe! Was bedeutete das?

»Was bedeutet das?« fragte sich auch Severina, als Fanny beim Vorlesen nicht mehr malen konnte, überhaupt nicht mehr stillsitzen zu können schien. Was[] bedeutete das, daß Fanny sie nicht immer aufforderte: »Komm morgen wieder!« War das Gedankenlosigkeit? Und warum dann diese Gedankenlosigkeit? Was beschäftigte sie so ganz? Oder wollte sie Severina nicht mehr so oft mit Joachim zusammenkommen lassen? Hatte sie das heimliche Verlöbnis entdeckt und billigte es nicht? Aber dann entsprach es Fannys Art, dies offen zu sagen und Severina sowie Joachim eine Vernunftrede zu halten. Was bedeutete das also?

Mit dem Instinkt des liebenden Weibes, das im tiefsten Herzen weiß, der Geliebte sei kein Fels, sondern ein unergründliches Meer mit veränderlichem Wogenschlag, mit dem Instinkt, der sich an der Sorge schärft, fühlte Severina plötzlich, daß es bedeuten könne, Fanny liebe Joachim.

Sie hatte nicht die Klugheit Lanzenaus, der sich gesagt, »daran rühren, heißt Flammen schüren«; sie hatte die eifersüchtige Todesangst ihrer Jugend und ihres Temperaments.

»Joachim,« sagte sie eines Tages, als sie sich in Adriennens Wohnzimmer befanden, während die junge Frau nebenan das schreiende Kind besänftigte, »Joachim, merkst Du nicht, daß Fanny ganz verändert ist?«

»Wieso verändert?«

»Nun, sie wird immer dunkelrot, wenn Du eintrittst.«

In diesem Augenblick kam Adrienne herein, holte aus einem Schrank ein frisches Kleidchen und sprach[] dabei von den Schmerzen, die der arme Schelm von den Zähnen habe.

Währenddessen standen die beiden mit pochendem Herzen am Fenster.

Severina fühlte ihres bis zum Halse hinauf schlagen. Was wird Joachim antworten? Hat er es auch schon bemerkt? Hat es Eindruck gemacht?

Die Eifersucht, die immer ihre Schläge zurückführt gegen diejenigen, welche sie auszuteilen meinen, hatte Severina zu einer fürchterlichen Unvorsichtigkeit fortgerissen, von deren Tragweite freilich in diesem Augenblick nichts zu spüren war.

Kaum hatte Adrienne das Zimmer wieder verlassen, so wiederholte Severina ihre Frage:

»Nun – hast Du nichts bemerkt?«

Joachim schwieg noch einen Herzschlag lang.

»Ach – Unsinn!« sagte er dann mit einem fast ärgerlichen Gesicht.

Wenn man einen Funken vor sich niederfallen sieht, erschrickt man immer.

Von dieser Stunde an bemerkte auch Joachim, daß Fanny sich ganz verändert habe. Die natürlichste Rückwirkung dieser Veränderung war, daß Joachim etwas Unfreies bekam. Wie sollte ihn die Frage nicht beschäftigen, weshalb Fanny zuweilen bei seinem Eintritt erglühte, und wie sollte das Grübeln darüber ihn nicht verhindern, mit Severina den alten Ton einer Zärtlichkeit anzuschlagen, die [] alle Gedanken ausschließlich auf die Eine, Geliebte gerichtet gehalten.

Mit steigender Unruhe bemerkte Severina eine ganz neue Zerstreutheit an ihm, sah auch, daß er beflissener um Fanny war als vordem. Anstatt die Neugier in seiner jungen und ungefesteten Seele unberührt zu lassen, – denn eine natürliche, von Eitelkeit und von Verehrung für Fanny gesteigerte Neugier war es, die Joachim zunächst erfaßt hatte – anstatt also die unberührt zu lassen, beging sie die Thorheit, Joachim durch Vorwürfe und Fragen zu beunruhigen, ja, ihn geradezu zu verstimmen. Es gab kleine Scenen zwischen den heimlich Verlobten, die Joachim anfangs dadurch zu beendigen suchte, daß er heftig erklärte, wenn Fanny ihm denn ein wärmeres Interesse schenke, habe er nur dankbar dafür zu sein und es durch erhöhte Verehrung zu vergelten. Später aber ging er von der Heftigkeit, mit der er das Recht der Neigung und ehrfurchtsvollen Gegenneigung zu beweisen suchte, zu der schroffen Behauptung über, alles bestände nur in Severinas Einbildung, Fanny sei gar nicht verändert. Und eben in dem Maße, wie diese Veränderung offenbarer wurde, bestritt er sie mehr und mehr. Und Joachim, ohne sich dessen bewußt zu sein, halb aus Trotz gegen Severina, halb aus noch unerkanntem Verlangen, Fannys aufleuchtendes Auge zu sehen, fing an, alle seine Zeit Fanny zu widmen, und das war im November so ziemlich der ganze Tag.

[] Fannys Wesen war in dieser Zeit von dem Sonnenschein eines unaussprechlichen Glückes durchglüht. Die Gewißheit, daß sie geliebt werde, ward ihr nie erschüttert. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um Severinas bleiche Wangen und unruhige Augen zu bemerken.

So kam der Tag heran, an dem Fanny und Joachim nach der Taißburg fahren sollten. Ein Tag, an den Severina mit allen Qualen eines eifersüchtigen Herzens dachte, denn dann würden Joachim und Fanny allein viele Stunden im Wagen zusammensitzen, und Adrienne wollte durchaus nicht mit.

»Mir ist nicht nach Festen ums Herz. Wenn ich erst einen Brief von Arnold habe, finde ich vielleicht die innere Freiheit, heiter zu sein. Laßt mich still bei meinem Kinde,« bat sie, und dagegen etwas zu sagen, wäre Fanny die letzte gewesen.

Severina mußte für die wenigen Nächte im Herrenhause schlafen; der Pastor und seine Frau sollten am Tage bei den einsamen Frauen sein. So glaubte Fanny alles auf das beste bestellt zu haben.

Zwei Tage vor ihrer Abfahrt hüllte sich die Welt in einen frühen Winterschnee, der so andauernd und so dicht auf die leicht gefrorene Erde fiel, daß es offenbar ward, aus der Wagenreise würde eine lustige Schlittenfahrt werden. Das machte Fanny Spaß.

»Es gibt eine lustige Fuhre,« sagte sie, »voran Achim und ich im Schlitten mit den Juckern, hinterher [] der Kartoffelschlitten mit den Braunen als Gepäckdroschke.«

Joachim staunte über den Riesenkoffer, den Fanny in den Flur schaffen ließ.

»Soll alles, was da drin ist, in drei Tagen angezogen werden?« fragte er.

»Natürlich,« sagte Fanny, »ich gehe darauf aus, mit einigen Gersonschen Kleiderwundern Erfolg zu haben.«

Sie, die Einfache, nie Geputzte, hatte sich in die Mühe des Nachdenkens gestürzt, was ihr am schönsten stände. Severinas Hände zitterten, als sie Fanny beim Einpacken half, und ihr Herz klopfte, als sie jetzt Joachim darüber scherzen hörte. O, es war nur seinetwegen, nur um ihm zu gefallen.

Und sie war wieder so verblendet, ihm das zu sagen, ihm daraus einen Vorwurf zu machen – einen blinden, ungerechten Vorwurf. Die letzte, hastige Minute, die ihnen ein Zufall zum unbeachteten Abschied gönnte, ward ihr und ihm dadurch verbittert. Er fühlte Severinas Liebe gleich einer Tyrannei auf sich lasten, und sie litt unter seiner Unfreundlichkeit in einem unbeschreiblichen Grade.

Die ganze Hausbewohnerschaft, die Pastorsleute, Adrienne und Severina standen im Flur und auf dem Beischlag, als die »lustige Fuhre« abging.

Die Jucker, die Joachim selbst lenkte, trugen stolze schwarzweiße Roßhaarbüschel auf den nickenden Köpfen [] und eine schwarzweiß gestreifte Decke, die sich an den Schlitten schloß, in der Fahrt sich wie ein Segel blähte und die Schlitteninsassen vor umherspritzender Erde oder aufgestiebtem Schnee beschützte.

Joachim hatte eine Pelzmütze auf dem Blondhaar und einen mächtigen Pelz an. Seine Hände staken in pelzgefütterten Fahrhandschuhen. Fannys Gesicht guckte gleichfalls aus dem hochgeschlagenen Kragen ihres Wagenpelzes; auf ihrem Kopf saß ein Sealskinbaret. Sie sahen, als sie nun auch das Pantherfell über ihre Kniee gedeckt hatten, gerade aus, als wollten sie direkt nach Sibirien fahren.

Trotzdem gab die Pastorin noch tausend Ratschläge und trotzdem lief Adrienne noch nach einem Cognacfläschchen. Severina hörte den lachenden Abschied mit stummer Verzweiflung an. Wie diese unnützen Reden vom glücklichen Hinkommen, vielmals Grüßen, nicht Erkälten, keinen Wind schlucken, wie sie ihre Ungeduld erregten! Wie gleichgiltig, wie alltäglich, wie fade war das alles! Unerträglich! Die eine Warnung, die einzige, rief ihnen niemand zu!

Und alles andere war so verächtlich daneben. Da fuhren sie hin. Sie winkten lachend zurück. Die Glöckchen an den Roßhaarbüschen klingelten silbern. Die Decke blähte sich. Da fuhren sie und hinterher glitt das häßliche Lastgespann. Es war, als ob zwei auf Nimmerwiederkehr auszögen und gleich ihren Hausrat mitnähmen. Fort – da – und da – noch ein[] letztes Winken. Und Severinas Glück fuhr auf gleitendem Schlitten, auf glatter Bahn in die Welt hinein. Kam es ihr wieder? Sie ging mit stummen Lippen und in schweigender Qual, in der Einsamkeit den Mut zur Hoffnung zu suchen.

Wer kennt nicht die Schönheit der Welt, wenn sie in üppiger Sommerschwüle farbenprächtig ihre Reize enthüllt? Wer kennt nicht die zarten Zauber der Natur, wenn sie in der Frühlingsjugend ihre ersten grünen Schleier über die Fluren hinbreitet? Ueberall ist die Schönheit zu Hause: sie thront unter den Palmen Siziliens und schaut aus glühenden Augen über das blaue südliche Meer; sie sitzt auf den grauen Felsenschroffen der Alpen und sieht mit ehernem Antlitz zum nahen Gewölk empor; sie wandelt mit stillen, freundlichen Blicken unter den Buchenwäldern des Nordens, am schilfbesäumten Ufer langsam fließender Flüsse entlang. Aber nie ist sie so unbegreiflich, so geisterhaft schweigsam, als wenn sie über den unermeßlichen Schneegefilden der norddeutschen Ebene schwebt. Da ist ihr Wesen Majestät, aber es ist nicht die stolze Majestät des Lebens, es ist die erhabene der Ruhe.

Weit und breit kein Farbenton als der silberweiße. Selbst dort am Horizont der Waldsaum, der sonst bläulich schimmert, ist von frischen Schneelasten weiß beschüttet. Die Knicke, welche die Landstraße einfassen, gleichen niedrigen weißen Mauern.

Lautlos schlagen die raschen Pferdehufe auf die[] schneegepolsterte Straße, lautlos gleiten die Schlitten in der Spur. Das lustige Klingkling der Glöckchen ist der einzige Ton, der laut wird. Der andere Schlitten, auf dem die Jungfer bei den Koffern sitzt und mit dem Kutscher schwatzt, ist längst zurückgeblieben.

Jetzt nähern sie sich einem Dorf. Der Rauch wölkt sich weißlich gegen den blauen Himmel; die Schornsteine, denen er entsteigt, haben da, wo sie im Dache wurzeln, einen kleinen dunklen Kreis um sich, den die Wärme in den Schnee getaut. Der Schnee liegt locker, dick und weiß auf den schräg abfallenden Dächern; die der Straße zugewandten Häuserseiten gucken mit ihren Fenstern aus dem Schneerahmen wie alte Frauengesichter aus weißen Tüllmützen. Aus den Pappeln fliegen Raben auf. Ein Bauernwagen mit dampfenden Pferden zieht langsam vorbei. Das eintönige Geräusch des Dreschflegels klingt aus einer Scheune und aus dem Schulhause der plärrende Gesang der Kinder. Der Schulmeister, der zum Fenster hinaussieht, grüßt – er hat die »Mittelbacher« erkannt.

Vorüber! Und wieder das weite, stumme, geisterhafte Land.

Und Fanny und Joachim haben noch kein Wort zu sammen gesprochen, kein einziges. Ihr ist es lange nicht aufgefallen, und er hat geschwiegen in Verlegenheit, was er sagen soll, wie er am besten den unbefangen lustigen Ton trifft, der sonst zwischen ihnen üblich ist. Dann ist ihr das Schweigen wie eine [] süße Beängstigung auf die Seele gefallen, und zuweilen hat sie mit schnellem Auge das liebe Angesicht gestreift. Er hat den Blick gefühlt – jedesmal. Und das Schweigen ist auch ihm immer beklemmender geworden. Er weiß, er fühlt es, daß das Weib an seiner Seite ihn liebt. Dies Bewußtsein klopft in seinen Pulsen, schnürt ihm die Kehle zu – er weiß, wenn er jetzt spricht, das Alltäglichste, das Einfachste, wird der Ton, sein Ton, über den er keine Herrschaft mehr hat, auch ihr seine Erregung verraten. Und von Minute zu Minute wird es schwerer, das Schweigen zu brechen.

In der hellen Einöde ringsum sind sie so allein. Das Schweigen wird zur Qual. Er weiß, daß er mit einem Blick, mit einem Wort ein Geständnis hervorrufen kann, und er hat nicht mehr die Kraft, dies zu wollen oder nicht zu wollen. Alles ist aus seinen Gedanken wie gelöscht, außer der Spannung, die ihn ganz beherrscht: was wird geschehen, was wird das erste Wort sein, das Fanny spricht?

Wer will ihn verdammen? Die Spannung wird unerträglich. Irgend etwas soll und muß geschehen. Wenn er so noch drei Stunden neben der schönen Frau sitzen soll, so nahe, daß ihr Gewand seine Füße deckt, daß ihr Ellenbogen zuweilen den seinen streift, daß ihr Parfüm ihn umduftet, und immer dazu dies gewitterschwüle Schweigen, dann, so ist ihm, dann könnte er wahnsinnig werden.

[] Er will ein Ende machen und lustig schwatzen, damit sie sieht, daß er kein solcher Narr ist, zu denken, eine Fanny könne ihm, dem Unbedeutenden, ihr Herz geben. Sie soll meinen, daß ihm so etwas im Traum nicht einfällt. Auch durchzuckt es ihn flüchtig, daß er Severina das schuldig sei.

Er wendet sich zu ihr. Sekundenlang bleibt ihm noch jeder Laut in der Kehle stecken. Dann kommt eine leere Frage heraus, aber in zitterndem Ton.

»Sind Sie auch kalt, Fanny?«

Sie erhebt die Augen zu ihm und sieht ihn an. Seine Worte hat sie gar nicht verstanden, aber der langsame, zärtlich eindringliche Tonfall seiner Stimme macht, daß ihr der Atem stockt. Sie lächelt mit feuchten Augen.

Er schlingt die Zügel um den linken Arm, fährt aus seinen riesigen Handschuhen, sucht unter dem Pantherfell ihre Hand, streift auch dieser den Handschuh ab und sagt, ihre kalten Finger zwischen seine warmen nehmend, mit derselben bedeckten, unbeherrschten Stimme:

»Sie haben so kalte Hände, Fanny.«

Ihre Finger zittern in den seinen. Ihr Auge sucht hilflos seinen Blick.

»Fanny ...«

Er stockt. Es wird dunkel vor seinen Augen; ihm ist, als ob alles Blut ihm in die Pupillen träte.

»Fanny, was ist Ihnen?« murmelt er.

[] Sie schüttelt den Kopf lächelnd, mit nassen Blicken und faßt seine Hände fester.

»Haben Sie mich lieb, Fanny?«

Sie antwortet nichts. Aber sie neigt ihren Kopf gegen seine Schulter und legt ihre Arme um seinen Hals.

Dabei hat es an den Zügeln einen heftigen Ruck gegeben und die Pferde stehen.

»Fanny!« ruft er, die Welt vergessend.

Er küßt ihren Mund.

Und da springt die Flamme aus ihrem Herzen hervor und sie sagt es ihm mit tausend beredten Worten, wie sie ihn liebt, wie sie bereit ist, ihm alles zu geben, ihre Gegenwart und ihre Zukunft.

Das Gebäude eines unfaßlichen Glücks steigt vor Joachim auf. Sein rasches Blut wallt in heißen Wünschen Fanny entgegen. Dankbarkeit, überwältigte Eitelkeit vielleicht und seine überschäumende Jugendkraft rauben ihm alle Besinnung. Kein flüchtigster Gedanke führt ihn jetzt zu Severina zurück. Er glaubt, daß alles, was er je empfand, ein Irrtum war und daß der Inhalt dieser Stunde die Wahrheit ist. –

Unterdes kam der andere Schlitten der Herrschaft nach; das Läuten der Glöckchen, deren auch die beiden Braunen trugen, schreckte die Glücklichen auf.

Joachim ergriff die Zügel, Fanny schmiegte sich an ihn und weiter ging die sausende Fahrt. Aber nicht mehr so schweigsam wie zuvor.

[] Welche Thorheiten sind thöricht genug, um von den Lippen verschmäht zu werden, die sich eben im Küssen geübt; welche Worte sind zu groß, um nicht von Herzen gewählt zu werden, die sich eben dem Glück erschlossen?! Fanny und Joachim plauderten und lachten in dem Vollrausch ihrer neuen Zusammengehörigkeit.

Als sie endlich die Taißburg erblickten, sagte Fanny:

»Eins, Geliebter, verzeihe mir: daß ich Dich nicht schon heute der ganzen Gesellschaft als meinen künftigen Gatten vorstelle. Freilich, es wird mir unmöglich sein, mein Glück zu verbergen; mögen sie denken, was sie wollen. Aber die Rücksicht auf Lanzenau verbietet mir, eine Verlobung zu verkündigen, die einen herben Schmerz für ihn bedeutet.«

In Joachims Gesicht ergoß sich jäh dunkle Röte. Lanzenau, der von seiner Beziehung zu Severina wußte – Severina – o Gott, wenn Fanny das erfuhr! Und wenn Severina erfuhr – eine große Angst beklemmte sein Herz.

»Was ist Dir?« fragte Fanny angstvoll. Und einen ganz verkehrten Schluß auf den Grund seiner sichtlichen Bestürzung machend, fuhr sie im Ton einer heiligen Versicherung fort:

»Sei gewiß, daß Lanzenau niemals von mir die mindeste Hoffnung empfing, mich je die Seine zu nennen. Wenn dies auch nur im entferntesten der Fall wäre, kannst Du sicher sein, mein Achim, daß [] ich lieber auf alles Glück verzichtet hätte, ehe ich ihn durch einen Wortbruch gekränkt haben würde.«

Diese Worte vermehrten Joachims Verwirrung. Gewaltsam faßte er sich und sagte:

»Ich war von anderen Gedanken bestürzt. Später will ich sie Dir vielleicht gestehen. Aber wird Dir niemand Deine Wahl verargen? Fanny Förster und der junge, unbedeutende, arme Schlucker, der Dir nichts bringt als seinen schönen alten Namen! Und auch auf diesen legst Du kaum Wert, denn ich weiß, Du schätzest den Adel gering; man bot ihn Dir schon an und Du schlugst ihn ab.«

»Ah,« dachte Fanny, wieder in neuen Irrtum fallend, »das war's, seine Armut fiel ihm ein und daß vielleicht gar Krämerseelen denken könnten ...«

Deshalb ging sie liebevoll auf seine Schlußbemerkung ein, die er nur gemacht, um irgend eine Ablenkung zu finden.

»Du irrst, mein Herz,« sagte sie; »ich schätze einen schönen alten Namen sehr. Allein den modernen Adel finde ich abgeschmackt. Wenn sich heute jemand auszeichnet durch wissenschaftliche oder künstlerische Thaten oder durch Leistungen auf staatlichem, wirtschaftlichem oder humanem Gebiet, dann adelt ihn diese Leistung mehr und hebt ihn stolzer aus der Masse des Volkes hervor, wie jedes ›von‹ oder jede Baronisirung könnte. Die Aristokratie der Thaten ist in der Geschichte der Kulturvölker immer die allererste. Aber ich verachte [] deshalb den alten Geburtsadel nicht; im Gegenteil finde ich es sehr schön, wenn einem von Geburt her schon das Bewußtsein überkommt: ›Mein Geschlecht war seit Jahrhunderten gut erzogen, gut ernährt.‹«

»Die reine Darwinistin!« warf Joachim scherzend dazwischen.

»Aber dasselbe Bewußtsein kann sich in vornehmen Bürgerfamilien entwickeln, zumal wenn einzelne Glieder derselben sich in der vorhin erwähnten Weise auszeichneten. In der Försterschen Familie war es seit Generationen heimisch; ich bin eine von Grävenitz, weißt Du, allein ich habe immer das Gefühl gehabt, daß Fanny Förster ein Name sei, der ebenso – ja, ehrlich gesagt – imponirender klänge als Fanny von Grävenitz.«

»Du hast ihm den höchsten Glanz gegeben,« sagte Joachim, ihre Hand drückend.

»Siehst Du, Dein Arnold denkt wie ich. Er begnügt sich nicht mit dem ererbten Namen Herebrecht, er will diesem neuen Glanz hinzufügen,« sprach Fanny weiter.

»Nur ich als Krautjunker von Profession,« scherzte Joachim, »muß so ruhig im Dunkeln weiter wurzeln.«

»O,« rief Fanny erglühend, »Du sollst sehen, was wir noch alles zusammen Segensreiches wirken werden. Graf Taiß ist in unserem ganzen Bezirk der angesehenste, mächtigste und thätigste, auch erfolgreichste Landwirt und Patron; er pflegte bisher zu scherzen, daß ich allein seine Rivalin sei. Du und ich zusammen [] müssen dasselbe, müssen mehr leisten als er. Sie sollen alle einmal begreifen, daß ich meinen zweiten Lebensgefährten klug wählte. Ja, auch das thörichte Herz kann klug wählen.« Und dabei sah sie ihn stolz und voll Liebe an.

»Mag kommen, was will,« dachte Joachim mit dem blinden Mute jemandes, der sich in ein brennendes Haus gestürzt hat, »so vieler Liebe gegenüber bleibe ein Felsen hart!«

Das letzte Gespräch hatte ihnen beiden wenigstens die äußere Ruhe zurückgegeben, als sie in den Hof der Taißburg einfuhren, sahen sie scheinbar mit ihren gewöhnlichen heiteren Gesichtern in die Welt.

[]

Elftes Kapitel

Die Taißburg war ein massiver alter Bau, der mit seinen beiden niedrigen, runden Türmen, die den breiten Mittelbau flankirten, gewaltig aus dem flachen Lande aufstieg. Er war in einer Zeit gebaut, da die brutale Kraft herrschte, moderne Nachkommen des alten Geschlechtes hatten ihm mit großem Aufwand seinen barbarischen Charakter erhalten. Doch blinkten jetzt aus der riesigen Mittelfront, anstatt der einstigen Schießscharten und Luftklappen, zahlreiche Fenster aus romanischer Bogenwölbung. Von den zackigen Zinnen der beiden Zwingertürme wehten Fahnen; eine in den Landesfarben, die anderen mit dem Taißwappen.

Das Portal, an dem eine Anfahrt vorbeiführte, befand sich im Mittelbau. Man mußte um einen Weiher herumfahren, der sich vor dem Schloß ausbreitete. Jetzt deckte ihn eine dünne Eisschicht und die Gruppe der Trauerweiden, die an seiner einen Seite stand, senkte ihre kahlen Zweige so tief herab, daß einige davon im Eise mit fest gefroren waren. [] Rechts und links schränkten den Blick hohe Tannen ein, die wie eine Mauer standen und ihre breiten, schneebeladenen Zweige bis zum Boden niederlegten.

Ein düsteres, majestätisches Bild in den Farben des Winters und des Todes.

Schon als Fannys Schlitten den Halbkreis um den Weiher machte, erschienen im Portal Gestalten. Ein Durcheinander von Stimmen empfing sie, ein Dutzend Hände streckten sich Fanny entgegen. Joachim fühlte sich jäh aus der Zweiseligkeit herausgerissen – nun stand er wieder daneben, als untergeordnete, jüngere und keinerlei ungewöhnliche Aufmerksamkeit erfordernde Persönlichkeit.

Der Gedanke durchfuhr ihn, wenn Fanny ihn jetzt als ihren künftigen Gatten nannte – der herzliche, aber immerhin flüchtige Händedruck des Grafen würde sich schnell in die größte Beachtung verwandeln. Ein heimlicher Stolz schwellte sein Herz. Fanny liebte ihn – hatte in Demut – in der natürlichen Demut des liebenden Weibes vor dem Geliebten – zu ihm aufgesehen. Er durfte sich allen überlegen fühlen.

Lanzenau war mit einer an ihm ganz seltenen Beweglichkeit um Fanny bemüht – er war glücklich, sie unverändert, mit freiem Blick, mit liebevollem Lächeln zu sehen. Ihm war's, als müßte sie ganz verändert sein, wenn inzwischen sich etwas ereignet hätte – er verfiel in der Wiedersehensfreude in die thörichte Logik, daß, weil sie ihr selbes Lächeln [] habe, sie auch noch ihr unbefangenes Herz haben müsse.

Graf Taiß führte Fanny auf ihr Zimmer, wo die Gräfin und Lucy von Grävenitz ihrer warteten; Joachim sah sich von einem jungen Vetter des Grafen in Beschlag gelegt. Die ganze Halle wimmelte von Menschen, es mochten gegen zwanzig Gäste in der Taißburg sein. Und die Halle, in deren Tiefe in einem Riesenkamin den ganzen Tag Holzklötze flammten, diente allen wie den Gästen eines Hotels zum Rendezvous und Geschäftsplatz. Hier war der Briefkasten, hier traf man den Hausmeister, wenn man von ihm etwas wollte, hier gingen die Herren rauchend auf und ab, wenn das Wetter eine Promenade im Freien verbot, hier schäkerten die jungen Damen miteinander, wenn sie ihren Uebermut in Gegenwart der zarten Gräfin oder der alten Mutter des Grafen nicht genug auslassen konnten.

Joachim übersah sogleich, daß bei dem Hinundher von Menschen in diesem Hause Fanny ihm so gut wie verloren sei. Nur mit einem einzigen Blick konnten sie sich darüber verständigen – er sah, daß auch Fanny unter dem Gedanken litt.

In dem Turme rechts waren die Fremdenzimmer für die Damen, in demjenigen links für die Herren. In den wenigen, aber geräumigen Gastzimmern, die im Mittelbau noch neben den Schlafräumen der gräflichen Familie übrig waren, hatte man die Ehepaare [] untergebracht. Diese, auf der Taißburg schon lange übliche Einteilung rief alljährlich einige wohlfeile Witze über diese Scheidung und die bekannte beim jüngsten Gericht hervor, die auch Joachim hören und belachen mußte, als der Vetter ihn nach dem Zimmer brachte, wo er wohnen sollte.

Dann unterhielt ihn der »Vetter Heini«, wie alle Welt diesen nannte, noch von den jungen Damen, sagte ihm, daß die beiden Comtessen Sieburg »kalberig« seien, insbesondere Lulu mit den Sommersprossen und den wässerigen Augen, während Fifi noch manchmal ein vernünftiges Wort rede; daß Fräulein von Meerheim eine verteufelte Hexe sei, ein pikanter, kleiner, schwarzhaariger Mops, und daß ... Joachim hörte noch allerlei Namen und noch allerlei Unterweisungen, dankte aber seinem Schöpfer, als Vetter Heini ging. Vetter Heini ging in seinen großen englischen Schuhen – er trat natürlich mit den Hacken zuerst auf – und seinem nachlässig eleganten Gang, die Hand in der Hosentasche, zu den jungen Damen hinab, um ihnen zu sagen, daß Herr von Herebrecht ein liebenswürdiger Mensch scheine. Vetter Heini hatte einen steifen Halskragen von ungewöhnlicher Höhe um, trug einen weißseidenen Plastron, kurz geschorenes Haar und zwei »Landwehrstrippen« – jene schreckliche Bartform, welche für einen Gommeux unerläßlich ist. In dieser Zustutzung, die er für seine magere weißblonde Erscheinung unwiderstehlich vorteilhaft glaubte, spielte er immer [] inmitten der Damen den Unentbehrlichen, Vielgeliebten, aber philosophisch Abgehärteten. Er hatte es für seine Pflicht gehalten, Joachim das fühlen zu lassen.

Joachim aber hatte nur die Störung empfunden. Eine rasende Ungeduld bemächtigte sich seiner, als er allein war. Alles in ihm drängte zu Fanny hin. Welch erbärmliches Dasein, dieses Leben in der Konvention der Gesellschaft! Ob Fanny sich nicht auch nach ihm sehnte? Wenn sie doch hätten weiter durch die stillen Lande fahren können – so wie vorhin. Immer weiter und die Welt und alle Erinnerungen vergessen und die süße Gegenwart ganz, ganz auskosten. Nicht voraus denken – nicht fragen: »Was kommt morgen?« Heute nur, heute die schönsten Augen liebevoll auf sich ruhen fühlen, heute nur an dem gewährenden Munde hängen.

Wenn sie, anstatt nach der Taißburg zu den vielen Menschen, lieber nach Berlin gefahren wären, dort im Gewühl unterzutauchen, und, einsam mitten im Lärm, selige Tage verlebt hätten? Warum war ihm der Gedanke nicht im Schlitten gekommen? Fanny hätte eingewilligt – sie hatte ja niemand von ihrem Kommen und Gehen Rechenschaft zu geben.

Diese Vorstellung ergriff ihn wie ein Fieber. Gewiß, in dem ungestörten Beisammensein hätte er auch die Stunde und den Mut gefunden, ihr von Severina zu beichten, und alles wäre klar gewesen, ehe sie nach Mittelbach zurückkehrten. Fanny hätte entscheiden [] können, welcher von beiden er gehören solle. Nun däuchte er sich ein Opfer der Verhältnisse. Hier konnte er Fanny nichts beichten; hier mußte er froh sein, wenn sich überhaupt nur eine heimliche Stunde für sie beide fand.

Plötzlich hörte er nebenan laut sprechen; es war Lanzenaus Stimme. Die Wände waren dünn, man hatte sie in dem großen Raum aufgeführt, um kleine Gemächer aus dem gewaltigen Turmrund zu schaffen.

»Fragen Sie, ob die gnädige Frau mich empfangen will,« hörte er Lanzenau sagen.

Joachim horchte gespannt. Nach einer ganzen Weile, die genügt haben mochte, daß ein Diener vom linken zum rechten Turm hin und her ging, trat jemand bei Lanzenau ein und eine höfliche Domestikenstimme sagte:

»Die gnädige Frau bedauert. Sie wünschen bis zum Déjeuner zu ruhen.«

Ohne Zweifel, die Frage war an Fanny ergangen, die Antwort kam von ihr.

Armer Lanzenau! Meinetwegen wirst Du nicht empfangen, dachte Joachim mit unsäglichem Triumphgefühl.

»War Frau Förster allein?« fragte Lanzenau wieder.

»Nein, die Jungfer kramte im Schlafzimmer der Gnädigen den Koffer aus und Fräulein von Grävenitz war bei Frau Förster im Salon.«

»Es ist gut, Sie können gehen.«

[] »Ah,« dachte Joachim glücklich, »man hat Fanny ein besseres Logis gegeben« – er sah sich in seinem einfachen Zimmer um – »sie hat einen Salon, sie erteilt dort Audienzen, man kann zu ihr gehen.«

Dabei fiel ihm ein, daß er ihr Etui mit ihrem Brillantencollier in der Brusttasche seines Pelzes hergebracht habe, weil Fanny es nie in ihrem Koffer zu transportiren pflegte.

»Das werde ich ihr bringen,« dachte er, »es wird sich schon eine Zeit dazu finden heute.«

Und in der That, sie fand sich.

Vorerst aber wechselte Joachim seine Kleider und ging in die Halle hinab, wo Vetter Heini ihn mit den jungen Damen bekannt machte. Vetter Heini war bisher der »Einzige« gewesen; zu den Tanzfesten kamen von dem Nachbarstädtchen die Offiziere des dort garnisonirenden Regiments, in den anderen Zeiten mußte er allein die jungen Mädchen unterhalten. Kein Wunder, daß der Zuwachs an Herrengesellschaft sehr willkommen war und Joachim von den ihm günstigen Umständen Vorteil hatte. Als die Glocke in der Halle zum Frühstück läutete, war er schon bon camarad mit allen, insbesondere aber mit der kleinen Meerheim, die bloß auf Joachim gewartet hatte, um den – heimlich von ihr zum Gatten ausersehenen Heini – eifersüchtig zu machen. Als Fanny die Treppe herab kam, sah sie mit Vergnügen, daß Joachim mit der Jugend schon auf bestem Fuß stand.

[] Die Hausordnung in der Taißburg forderte, daß alle Gäste sich um halb zwei zum gemeinsamen Frühstück versammelten. Nachher stand es in jedermanns Belieben, seine Zeit bis zum Mittagessen um sechs Uhr zu verbringen, wie er wollte. Es war heute von einer Schlittenfahrt die Rede, aber es schien, als sollten die jungen Damen nur Herrn und Frau von Dören, sowie den Hausherrn dazu bereit finden. Fanny und Joachim hatten ja von früh um acht Uhr bis um zwölf des Mittags im Schlitten gesessen. Die Gräfin und ihre Schwester mußten für den morgigen Doppelgeburtstag viel vorbereiten. Die Herren zeigten keine Lust.

Joachim bemerkte, daß Lanzenau an Fanny die Bitte richtete, ihr dann vor Tisch ein Stündchen zu schenken, aber Fanny sagte, daß sie ganz schläferig von der langen Schlittenfahrt sei. Lanzenau war davon sichtlich verstimmt, als er nach dem Frühstück mit Joachim den Korridor entlang ging. Auch Joachim sagte, daß er schlafen wolle.

Der Baron warf sich in seinem Zimmer auf die Chaiselongue, daß es krachte. Er deckte sich die Schlafdecke über die Beine, wickelte dasjenige, in welchem ihn die Ischias zuweilen plagte, besonders ein und nahm ein Buch. Aber die »hypochondrischen Plaudereien« von Amyntor, an denen er sich sonst mit einer Art grimmigem Behagen sättigte, konnten ihn heute nicht fassen. Von unten her klang Pferdewiehern, Glöckchenklang, [] Stimmenruf, dann läutete die kleine Reihe der Schlitten davon. Die Gesellschaft hatte in der That ihren Plan ausgeführt.

Bald nachher ging nebenan die Thür. Lanzenau horchte: war jemand zu Joachim gekommen, oder war dieser gegangen? Alles still! Wo konnte er hingegangen sein? – Er hatte doch von Müdigkeit gesprochen.

Lanzenau schrak zusammen. Zu Fanny? Ach, Unsinn! Zu Fanny, mit der er heute viele Stunden im Schlitten gesessen, die er auf Mittelbach jeden Tag so oft und so lange er gewollt sprechen konnte? Wohin denn? Schließlich – was ging es ihn an?

Lanzenau zündete sich eine Cigarrette an und las weiter. Es ging nicht, die unbegreifliche Unruhe verzehrte ihn. Dann fiel ihm etwas ein. Natürlich – so war es: der Rittmeister von Meerheim, der martialische Vater des »pikanten, schwarzhaarigen Mopses« war ein fanatischer Skatspieler – der hatte sich ohne Zweifel Heini und Joachim gepreßt und sie saßen zu dritt in Heinis oder in des Rittmeisters Zimmer.

Eine Weile hielt Lanzenau das aus. Es dunkelte – alle Geister der Ungeduld erhoben sich von neuem. Da kamen auch die Schlitten zurück; also mehr wie eine Stunde war vergangen. Es wurde laut in den Korridoren, alle Welt ging, um auszuruhen, oder sich zu Tisch anzukleiden.

Durch die Thürspalte fiel Licht; ein leiser Schritt[] ging draußen vorbei: der Diener hatte die Lampen in den Korridoren entzündet. In Lanzenaus Gemach war jene tiefe Dämmerung, die vom Schnee draußen einen letzten trügerischen grauen Schein borgt, ehe sie zur schwarzen Nacht versinkt. Wenn in Fannys Zimmer auch diese Dunkelheit herrschte – wenn dort im Schatten zwei flüsterten – zwei Augenpaare sich nahe, ganz nahe anblitzten? ... Lanzenau fühlte, daß ein kalter Ohnmachtsschweiß an seinem Körper hinab ging.

Er ertrug es nicht mehr, er sprang auf. Die Glieder gehorchten der jugendlichen Hitze des Kopfes nicht so leicht; ein Schmerzgefühl riß durch sein Bein.

Er ging nach Heinis Stube. Niemand rief: »Herein!« alles war still. Der Rittmeister wohnte ein Stockwerk höher.

Ah – schon auf der Treppe hörte Lanzenau die rauhe Stimme lachen und eine andere dazu. Er klopfte an, trat ein; da saß der Rittmeister mit Heini beim dampfenden Grog, den er wunderbarerweise zu allen Tageszeiten und zwischen allen Getränken vertrug. Der Rittmeister auf einem Ledersofa, die Ellenbogen auf dem Tisch, die eine Hand an der riesigen pfeifenkopfartigen Cigarrenspitze, die andere am grauen Schnauzbart. Heini ihm gegenüber rittlings auf einem Rohrstuhl, auf dessen Lehne er die Arme verschränkte.

Der Rittmeister hielt in seinem Bericht eines unglaublichen Kriegserlebnisses inne und rief Lanzenau entgegen:

[] »Ein dritter Mann! Vous êtes le bienvenu, monsieur le baron! Heini, die Karten! Wollen Sie einen Grog, Lanzenau?«

Lanzenau war recht nach Grogtrinken und Skatspielen zu Mute. Aber wenn er's auch abwies, mußte er doch erst niedersitzen und wenigstens die Geschichte hören, die der Rittmeister wieder von vorn anfing und die Vetter Heini heute zum zehntenmal mit schallendem Gelächter belohnte, bloß dem »Mops« zu liebe. Der Rittmeister fühlte sich dadurch so angeregt, daß er Lanzenau, als dieser dann gehen wollte, noch am Rockknopf festhielt, damit der sich erst erzählen lasse, wie es mit der Reiterattake da und da gewesen.

Wäre nicht endlich Herr von Dören erschienen, um zu sehen, ob er sich hier bei einem gemütlichen Skat von der Unterhaltung mit den Comtessen Sieburg erholen könne, die im Schlitten zu führen sein Los gewesen, so hätte die Erlösung für Lanzenau nie geschlagen. Er ging wieder in den ersten Stock hinab, durchschritt den endlosen Korridor und stand mit Herzklopfen vor Fannys Thür.

»Nur herein!« rief Fanny, und als er schon auf der Schwelle stand: »Alle Welt gibt sich in meinem Zimmer Rendezvous.«

Fannys Zimmer war von einer großen Lampe sehr hell beleuchtet; die Herrin saß auf dem Sofa, neben ihr Frau von Dören; die Gräfin, Lucy und Joachim standen am Tisch und betrachteten Adriennens [] Bild, welches Fanny der Gräfin mitgebracht. Also doch Joachim! Aber nicht allein, in der zahlreichsten Gesellschaft, ganz wie es hier üblich war, wo die Gäste um diese Zeit sich wohl in dem Zimmer der einen oder des andern einfanden. Lanzenau atmete auf.

»Ich bin ein Narr,« sagte er sich, während seine Pulse sich rasch ebneten.

Den Blick voll schwärmerischen Mitleids sah er nicht, den Lucy auf ihn richtete, und wenn er ihn gesehen, hätte er ihn sich kaum zu deuten gewußt. Und die Deutung war doch diese: als Lucy vor einer Viertelstunde das Zimmer betreten, nach ihrer zerstreuten Art ohne anzuklopfen, mußte es ihr klar werden, daß sie störend und überraschend kam. Fanny war ihr stürmisch um den Hals gefallen und hatte sie gebeten, zu schweigen, hatte ihr gesagt, daß aus »bekannten Rücksichten« sie noch der Gesellschaft ihre Verlobung mit Joachim nicht mitteilen könne.

Lucy war entzückt, ein romantisches Geheimnis zu wissen, bedang sich aus, nachher erzählen zu dürfen, daß sie die Vertraute gewesen, und fand es besonders interessant bei dieser Liebe, daß Fanny älter sei als Joachim.

So hatte Joachim denn auch für seine Liebe zu Fanny einen Mitwisser, wie Lanzenau die zu Severina kannte. Das hämmerte ihm in den Schläfen und machte ihn ganz ratlos.

Gleich nach Lucy traten dann die Gräfin und Frau[] von Dören ein und halfen unbewußt, ein harmloses Bild zu stellen, das für heute wieder Lanzenaus tiefe Sorge übertäubte.

Bei Tische wurde viel geflüstert und gekichert. Die Jugend sollte am Abend rasch ein Festspiel einstudiren, das Lucy zu Ehren ihrer Schwester und Fannys gedichtet. Dies Festspiel paßte zwar nicht mehr auf die Situation, denn es stellte Fanny als selbstherrliches, freies, die Liebe und Mannesknechtschaft verschmähendes Weib in Gegensatz mit der zarten, liebenden Gräfin, die als Gattin und Mutter ihren Wirkungskreis begrenze; hiebei fiel auf Fanny alle Glorie und auf die Gräfin nur einiges notgedrungene Lob. Aber einstudirt mußte es werden und die Veränderung war – so tröstete sich Lucy – ja niemand weiter bekannt. Joachim mußte mitwirken.

So kam es, daß die älteren Glieder der Gesellschaft sich diesen Abend von der Jugend absonderten und in ruhigen Gesprächen um den Theetisch saßen. Fanny zeigte sich seltsam zerstreut, und wie Lanzenau ihr so gegenüber sie prüfend betrachtete, fiel es ihm auf, daß sie doch – doch verändert sei. War es inzwischen geschehen, oder war's ihm heute früh entgangen?

Das Licht eines großen, geheimnisvollen Glücks strahlte aus ihren träumerischen Augen, diesen Augen, die sonst durch ihren raschen, gesammelten Blick gebietend wirkten. Und um ihren Mund lag ein Zug – ein nie gesehener, unerklärlicher.

[] Die Thür vom Salon der Gräfin nach dem großen Saal stand auf. Die junge Welt erschien dort, begnügte sich aber, herein zu nicken und etablirte sich um den großen runden Tisch unter dem Kronleuchter zu irgend einem Spiel.

Fanny fühlte es wie einen Schmerz, daß Joachim zwischen den jungen Mädchen blieb. Aber natürlich – wie konnte er anders, er mußte thun, was Vetter Heini that. Und wie lustig er mit der kleinen Meerheim war und schon so vertraut.

Auch die anderen richteten ihre Beobachtungen auf das Bild, welches sich im Rahmen der Thür anmutig genug bot.

»Der junge Herebrecht ist ein selten liebenswürdiger Mensch,« sagte Graf Taiß, »insbesondere die Herzen der jungen Damen scheinen ihm nur so zuzufliegen. Ina Meerheim ist ja ganz aus dem Häuschen.«

»Natürlich,« sprach Lanzenau, während er sein Augenglas einklemmte, um auch seinerseits hinzusehen, »natürlich, dieser außerordentliche junge Mann reitet wie der Teufel, schießt wie ein Freischütz und tanzt wie ein Lieutenant – erhabene Eigenschaften genug, um alle Weiber verrückt zu machen.«

Der bittere, ja, fast gehässige Spott in diesen Worten war so auffallend, daß alle sekundenlang schwiegen. Graf Taiß klopfte Lanzenau lächelnd auf die Schulter.

»Und nebstbei, mein Lieber, ist er fünfundzwanzig[] Jahre alt, während wir die Ziffer in wenig Jahren umgekehrt haben. Das muß uns nicht neidisch machen.«

Diese gutmütige Zwischenbemerkung ward von Lanzenau nicht vernommen. Er sah in Fannys Gesicht; das war ganz bleich und ihm mit starren Augen zugewandt. Und jetzt sagte sie, scharf, herbe, mit dem Ausdruck jäh erwachter Feindseligkeit gegen Lanzenau:

»Sie vergessen, hinzuzufügen, daß Herr von Herebrecht der pflichtgetreueste und thätigste Arbeiter in seinem Beruf, daß er der zärtlichste und dankbarste Bruder ist und daß er es bis heute verstanden hat, sich von allen Verschwendungen fern zu halten, zu denen junge Leute unseres Standes sonst tausendfach verführt werden.«

Ihre Blicke wurzelten ineinander, drohend, fest. Lanzenau begriff, daß Fanny ihrer Liebe zu Joachim sich bewußt geworden und daß auch Joachim darum wisse, daß sie ihn verteidigte, weil sie zu ihm gehörte.

Er erhob sich. Dunkle Röte stieg langsam in sein Gesicht. Ihm schwindelte – er mußte sich wieder setzen, aber nur einige Sekunden; dann stand er auf und ging hinaus.

»Was war das?« fragte die Gräfin betroffen.

»Ich weiß es nicht,« antwortete Fanny mit blassen Lippen, »jedenfalls eine Thorheit.«

Die Gesellschaft, obgleich oder vielleicht weil sie ohne Ausnahme die Sache durchschaute, ging rasch zu [] einem andern Gespräch über. Beim Abendtisch, zu dem Lanzenau sich entschuldigen ließ, setzte die Gräfin Joachim neben Fanny.

Als Joachim nach Lanzenau fragte, sagte Fanny leise, daß sie sich seinetwegen mit dem Baron scharf gestreift. Eine erneute Angst überfiel Joachim. Gott – wenn Lanzenau ihn verriete! Fanny müßte ihn verachten, und doch ... er konnte nicht anders, ihm war's, als habe er einer Macht gehorcht, die stärker war als sein Gegenwille.

Die tiefe Sorge, die ihn befallen, kam in tausendfach verstärkter Gewalt wieder, als er zur Nacht allein in seinem Zimmer war. Und er, der in seinem ganzen Leben nur Briefe geschrieben, wenn eine Zwangslage ihn nötigte, er setzte sich hin und schrieb an Severina.

Alles war still im weiten Schloß. Die Lampe brannte vor Joachim auf dem Tisch, die behagliche Wärme, die aus den heißen Luftröhren durch das Kamingitter strömte, hielt jedes Nachtfrösteln fern. Von nebenan klang ein tiefer, sägender Ton – Vetter Heini schlief da den Schlaf des Gerechten, an der andern Seite war Totenstille. Dort wachte vielleicht Lanzenau auf ruhelosem Lager.

Dieser Gedanke übermannte Joachim plötzlich; er legte sein Gesicht in seine Hände und seufzte tief. Seinetwegen hatte Fanny mit dem treuesten aller Freunde scharfe Worte gewechselt. Seinetwegen ... o, es war nicht auszudenken. Das Gefühl seiner [] Unwürdigkeit durchschütterte ihn; und doch fand er keinen Ausweg.

Endlich faßte er sich und schrieb:

»Schreiben Sie an Adrienne oder an Severina, daß wir nicht, wie es seit Wochen geplant war, am Tage nach meinem Geburtstag nach Mittelbach zurückkehren. Der starke Schnee verhindert die beabsichtigte Jagd; da aber heute abend alle Anzeichen von Tauwetter vorhanden sind, schlägt Taiß vor, daß wir dasselbe abwarten. Somit bitte ich, daß alle Vorbereitungen zur Aufnahme der Gäste wie zum Jagddiner um einige Tage hinausgeschoben werden. – Das war die Bestellung, welche Fanny mir beim Abendtisch gab nach den gemeinsam gepflogenen Beratungen. Ich richte sie Dir aus, Severina, weil ich noch mehreres hinzuzufügen habe.«

Joachim hielt inne und lächelte in bitterer Selbstverspottung über den Ausdruck: »weil ich noch mehreres hinzuzufügen habe.« Als wenn es sich etwa um das Menü handelte, welches es beim Jagdessen geben sollte.

»Wenn Du diese Zeilen zu Ende gelesen haben wirst, bist Du vielleicht nicht mehr im stande, mich zu lieben. Aber mein Herz ist so beunruhigt, daß ich wenigstens versuchen will, es Dir gegenüber zu erleichtern. Liebe Severina, ich sagte Dir immer, daß ich Deine heftige Neigung nicht verdiene. Ich kann nicht treu sein, so gern ich möchte. Ich liebe Dich, [] bei Gott, es ist keine Lüge; aber sage mir, kann man zwei Frauen zugleich lieben? Gewiß, wirst Du sagen, aber auf verschiedene Art. Aber das ist es eben, ich kann keinen Unterschied entdecken. Wenn ich an Dich denke, zerreißt es mein Herz wie Vorwurf und Sehnsucht, und wenn ich an sie denke ... ach, ich wage kaum auszudenken. Severina, hilf mir; was soll ich thun? Ich werde noch an diesem Dualismus zu Grunde gehen. Wie konnte das nur alles so kommen, und wie konnte ich, der ich bisher allezeit dem strengen Auge meines Arnold frei zu begegnen vermochte, wie konnte ich etwas thun, das er heftig verdammen würde? Und doch, es mag Dir wie Verblendung klingen, doch ist es nur namenloser Zweifel, der mich erfüllt, aber kein Schuldbewußtsein.

Schreibe mir umgehend wieder. Vielleicht kannst Du mir den Schlüssel zu alle dem geben.

Dein unselig-seliger Joachim.«

Etwas erleichtert legte er sich schlafen.

Wer kann in die letzten Falten einer Menschenseele blicken. Regte sich da bei Joachim vielleicht die Hoffnung, daß Severina ihn frei gäbe?

Seine Gedanken suchten nach Beispielen, die ihn entlasten und seine Herzensgeteiltheit als nicht so etwas Unerhörtes darstellen sollten. Ihm fiel Schiller ein, der ebenfalls in Doppelliebe für zwei Schwestern entbrannte. Während er sich zu vergegenwärtigen suchte, was er darüber schon alles gelesen und daß Schiller [] die unbedeutendere Schwester geheiratet, beruhigte er sich vollends.

Und die Gegenwärtigen haben immer recht. Fanny erstand vor ihm und die Stunde, die er heute mit ihr verlebt, bis Lucy kam. Fanny hatte jetzt Rechte – alle Rechte an ihn; das Schicksal und Fanny hatten entschieden.

Selig erschauernd stammelte er ihren Namen.

[]

Zwölftes Kapitel

Das war ein Leben am andern Tag! Fanny und die Gräfin standen im Mittelpunkt desselben. Liebe und Verehrung kam von allen Seiten, in hundertfältigen Beweisen auf beide eingestürmt. Es war natürlich, daß die Gräfin als Gutsherrin und Schloßfrau auch mannigfachen Pflichten zu genügen hatte, Deputationen aus dem Dorfe, die Schulkinder, die Dienstboten und dergleichen zu empfangen verpflichtet war, während Fanny auch einige stillere Stunden hatte, wo sie sich in ihrem Zimmer der eingehenden Betrachtung ihrer Geschenke widmen konnte.

Ihr Gemach glich einem Blumengarten. Die Gäste des Schlosses hatten zum Teil aus Berlin ungeheure Blumengebäude kommen lassen. Von Mittelbach war ein Schlitten angelangt, der dort schon in der Nacht weggefahren sein mußte; er brachte Briefe, Grüße und Blumen von daheim. Lucy von Grävenitz hatte Fanny ein Gedicht gemacht; die Gräfin gab Fanny jedes Jahr eine größere Geldsumme zu dem [] »Feierabendhaus«, das Fanny auf Mittelbach für alte Tagelöhner bauen wollte; Fanny erwiderte dies Geschenk stets mit einem Gemälde irgend eines modernen Meisters für die Galerie des gräflichen Schlosses. Lanzenau brachte Fanny immer ein förmliches Magazin von kleinen Luxusgegenständen für ihre Person und ihre Zimmer dar. Auch diesmal war er vorher in Berlin gewesen, dergleichen zu besorgen.

Er reichte Fanny zum Glückwunsch still bewegt die Hand, und sie, ergriffen von seinem gealterten Gesicht, sagte mit thränenden Augen:

»Unter allen Umständen – in allen Lebenslagen – ich bin und bleibe Ihre schwesterliche Freundin!«

Lanzenau schwieg. Aber sein heftiger Händedruck war Antwort genug.

Nein, heute nicht – heute nicht ihr den Dolch in das freudige, glückvertrauende Herz stoßen. Er konnte es nicht, obgleich er sich in der langen, bangen Nacht vorgenommen, ihr zu sagen, daß der, den sie liebe, nicht mehr frei sei.

Vielleicht gab es sogar noch einen Weg, ihr jeden heftigen Stoß zu ersparen. Wenn er mit Joachim spräche, wenn es noch gar nicht zu Erklärungen gekommen wäre? Würde sie den Verlust eines Mannes nicht leichter ertragen, den sie nur erst in ihren Hoffnungen, nicht in Wirklichkeit besessen? Gewiß – Lanzenau wollte mit Joachim reden.

Da begegnete er ihm im Korridor, er wollte ohne[] Zweifel auch Fanny gratuliren gehen, denselben Weg, den Lanzenau eben gemacht.

»Auf ein Wort, Herebrecht!«

»Ich bitte,« sagte Joachim, »nachher. Erst will ich Fanny zum Geburtstag Glück wünschen.«

Joachim hatte eben dem Mittelbacher Schlitten den Brief an Severina zur Besorgung gegeben und war ganz froh.

Er sagte »Fanny«; das fiel Lanzenau schmerzlich auf. Aber dann besann er sich; das war schon lange geschehen; sie waren ja sozusagen verwandt durch Adrienne.

»Gut,« antwortete Lanzenau, »ich bin in der Bibliothek und erwarte Sie.«

So legte er Joachim den Zwang auf, nicht zu lange bei Fanny zu bleiben. Das fühlte dieser wohl und von neuem wollte Unruhe durch seine Adern schleichen.

Aber die entfloh wie Nebel vor dem Sturm, als er Fanny sah, wie sie dastand, umgeben von der Blumenpracht, und ihm entgegenlächelte, befangen fast wie ein Mädchen und doch mit dem Glutblitz des Weibes in den Augen.

»Fanny,« sagte er tief bewegt, »ich bringe Dir nichts als meinen heißen Wunsch, daß ...«

Er stockte. Er ihr Glück wünschen, er, um den sie weinen und leiden würde, wenn sie wüßte ...

Fanny ergriff seine Hände.

[] »Du hast Dich mir gegeben, Deinen ganzen Menschen,« sprach sie feierlich, ihn mit leuchtenden Augen ansehend, »das ist das Gnadengeschenk, welches das Schicksal mir noch schuldete.«

»Geliebte!« sagte er mit zitternder Stimme und küßte ihren Scheitel.

»Ja,« fuhr sie mit dem Pathos höchster Leidenschaft fort, »ja, es war mir das schuldig. Die Welt glaubte, ich sei glücklich, weil alle meine Kräfte froh und mit Segen sich bethätigen konnten. Die Welt glaubte, nur mein Verstand, nicht mein Herz brauche Beschäftigung. Aber ich fühlte tief innen immer, daß mir die Krone des Weibes fehlte. Ich hatte noch niemals geliebt. In meiner Ehe mit Förster hat die erschöpfende, die alles duldende Liebe gefehlt, was sonst wie ein Traum an Sehnsucht durch mein Herz zog und sich äußerte, war Selbstbetrug. Du bist meine Wahrheit, mein Leben, mein Glück.«

»Fanny,« sagte Joachim – seine Augen waren naß und er drückte ihre Hand dagegen – »Fanny, und doch war Deine Wahl eine Verirrung.«

»Nein,« rief sie flammend, »tausendmal nein! Ich habe nicht gewählt, Du bist mir gegeben. Es gibt keine Wahl, wo ein gewaltiges Naturereignis alles in uns und um uns erschüttert. Ich mußte Dich lieben! Da gibt es keine Fragen nach Alter, nach Stand, nach Gaben, nach Vermögen – selbst nicht nach Güte, nach Herz. Man liebt – und wenn es sein muß, [] erhebt die Liebe den Geliebten aus dem Staub und lehrt ihn, würdig und groß zu sein. Dafür ist sie die Gottheit, welche die Welt beherrscht.«

Joachim war außer sich. Er sank vor ihr nieder und barg sein Gesicht in den Falten ihres Kleides, während seine Arme ihre Hüften umschlangen.

Heiße Dankbarkeit hatte ihn überwältigt, und die Erkenntnis, daß dieses große Herz ihn auch geliebt haben würde, wenn es alles gewußt hätte, ihn noch lieben würde, wenn es die Wahrheit erführe.

»Ich aber,« fuhr Fanny fort, während ihre triumphirende Sprache sich zu liebevollem Flüstern senkte, »ich aber brauche Dich nicht zu mir zu erheben. Du bist jung und rein und gut.«

Sie legte ihre Hände zärtlich auf sein blondes Haar. So blieben sie lange, und so klang die hohe Erregung in sanften Schwingungen aus.

Ein frommes, schönes Gefühl im Herzen, ging Joachim dann in die Bibliothek hinab. Was auch immer der Baron ihm sagen wollte, nach dieser Stunde hatte er den Mut, alles zu verteidigen, was er gethan.

Lanzenau saß in einem der tiefen grünen Polsterstühle am Zeitungstisch und schien in der »Revue des deux mondes« zu lesen. Sonst war niemand in dem viereckigen, ganz von Bücherregalen umschrankten Raum anwesend. Durch das einzige gardinenlose Fenster sahen die kahlen Aeste der Parkbäume herein.

Lanzenau deutete schweigend auf den Stuhl ihm[] gegenüber. Joachim setzte sich und faltete die Hände auf den Zeitungen vor ihm.

Lanzenau suchte erst mit einiger Umständlichkeit aus seiner Brusttasche ein Papier heraus. Als er es hatte, legte er es sorgsam vor sich auf die Revue, klemmte sein Augenglas wieder ein, das ihm bei Joachims Eintritt entfallen, und begann hüstelnd:

»Sie werden sich erinnern, lieber Herebrecht, daß ich Ihnen versprach, für Sie nach einer auskömmlichen Stellung Umschau zu halten, damit Sie Ihr kleines Bräutchen baldigst vor der Welt als solches verkündigen und heimführen könnten.«

»Allerdings,« sagte Joachim sehr ruhig und mit sehr festem Blick, »allein ich weiß nicht, ob Fräulein Severina zur Stunde noch gestatten würde, daß Sie sie meine ›Braut‹ nennen.«

Lanzenau wußte nicht recht, was er aus der Antwort machen sollte.

»Hm,« sprach er mit erkünstelter Scherzhaftigkeit, »kleine Zwistigkeiten zwischen Liebenden, das kommt vor. Das gleicht sich aus. Jedenfalls wollte ich Ihnen sagen, daß meine Bemühungen nicht erfolglos waren; ich bekam heute die Nachricht, daß Ihnen hier,« dabei überreichte er Joachim das Papier, »hier die Administration der Itzelburgischen Güter angetragen wird. Sie ersehen aus der Zuschrift, daß die pekuniären Vorteile für Sie außerordentlich sind und die Thätigkeit Ihren Ehrgeiz befriedigen muß. Man erwartet [] in vierzehn Tagen Ihren Entschluß und dann so bald als möglich Ihren Antritt. Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß es für Sie hier kein Besinnen gibt und daß Sie nicht zögern werden, der Gesellschaft, sowie insbesondere Frau Förster Ihre neue Stellung und Ihre Verlobung zu verkündigen.«

Da war Fannys Name heraus und der Zweck der langen Rede verraten.

Joachim verneigte sich artig gegen Lanzenau.

»Nehmen Sie meinen Dank, Herr Baron. Dieses Resultat Ihrer Bemühungen für mich ist wahrhaft überraschend. Aber in einem Punkt irren Sie sich. Ich bin keineswegs in der Lage, sogleich meine Entscheidung zu treffen, und also auch nicht im stande, mich schon der Gesellschaft als Administrator des Itzelburgischen Güterkomplexes vorzustellen.«

Lanzenau tupfte sich mit seinem weißseidenen Taschentuch die Stirn.

»Nun denn, wenn auch nicht der Gesellschaft, so doch Frau Förster,« sagte er mit beginnender Ungeduld.

»Gerade Frau Förster braucht am wenigsten von einer Sache zu erfahren, die ihr Veränderungen in der eigenen Oekonomie in Aussicht stellen. Hier soll sie ihre Gedanken von Wirtschaftssorgen frei halten,« sprach Joachim mit einer Unbefangenheit, über die er sich selbst wunderte.

»Nun denn,« sagte Lanzenau und erhob sich steif, »wenn Sie mich durchaus nicht verstehen wollen, sei[] es gerade herausgesagt: Ich finde, daß es Ihre Pflicht ist, Frau Förster von Severina zu sprechen.«

Auch Joachim stand auf. Eine Minute lang sah er nachdenklich vor sich nieder. Es ging ihm durch den Kopf, daß der Mann da Fanny liebte und ein Recht zu haben glaubte, über ihr Glück zu wachen, daß er ihr viele Jahre mehr wie ein Vater oder ein Bruder gewesen. Und wieder dachte er, daß es für sie alle vielleicht am besten sein würde, wenn er jetzt sein Herz vor Lanzenau ausschütte. Zur Selbstlosigkeit des alternden Mannes hatte der junge Sieger alles Vertrauen. Aber diese Erwägungen, die aus seinem kindlich-ehrlichen Herzen kamen, wichen einem verderblich aufwallenden Trotz. Er that das Verkehrteste und sagte mit erhobenem Haupt:

»Bei allem Dank, welchen ich Ihnen schulde, Herr Baron, kann ich nicht umhin, zu finden, daß Ihre Teilnahme an meinem Geschick den Charakter der Zudringlichkeit annimmt.«

Lanzenau schrak zurück, als habe er eine Ohrfeige bekommen.

Das ihm! Das seinem Herzen voll banger Sorge! Während er nach einem Worte rang, das Joachim treffen sollte, ohne dies Gespräch in einen peinlichen Streit ausarten zu lassen – denn Lanzenau verlor auch in diesem Augenblick seine Besonnenheit nicht – fuhr Joachim fort:

»Sie haben mir damals Ihr Wort gegeben, Herr[] Baron, nicht eher über die Sache zu sprechen, als bis ich selbst es Ihnen gestatte. Ich erwarte, daß Sie Ihr Wort halten, das Wort eines Edelmannes.«

»Sie scheinen dem Prinzip zu huldigen, daß das Worthalten immer für andere bindend ist und nicht für Sie selbst. Denn Sie, so scheint es mir, sind auf dem Weg oder des Willens, Fräulein Severina Ihr Wort zu brechen,« sprach Lanzenau mit bitterem Lächeln.

Einer unglücklichen Eingebung folgend, die ihre Rettung in einer erbärmlichen Wortklauberei vorspiegelte, sagte Joachim schnell:

»Sie irren, Severina hat mein Wort nicht; ich habe ihr im Gegenteil einmal ausdrücklich gesagt, daß ich noch nicht um sie werben könne.«

Lanzenau sah ihn stumm, geradezu entsetzt an.

»Ah,« begann er dann, tief aufatmend, »ich sehe, Herr von Herebrecht, Sie sind aus einer andern Generation wie ich. Zu meinen Zeiten bedurfte es in solchen Dingen nicht solcher Hinterthüren. Nicht allein das Wort, auch das Thun und Lassen band uns. Wenn Sie nur einen feierlichen Ringwechsel und ein Eheversprechen vor Zeugen als bindend für Ihre Ehre und Ihr Herz betrachten, dann allerdings haben Sie einen so weiten Spielraum für Ihre Tändeleien, daß ich darauf verzichten muß, mich für den Verlauf derselben zu interessiren. Eins aber, eins hören Sie: Wenn Sie es sich sollten beikommen lassen, [] eine Frau in das Bereich dieser Ihrer Tändeleien zu ziehen, eine Frau, welche ich verehre – nicht wie eine Heilige, nein höher, wie den Inbegriff von aller menschlichen Frauengüte und Frauengröße, dann, mein Herr, würde ich Sie aus dem Weg dieser Frau zu entfernen wissen, und sollte ich Sie niederschießen wie ein fremdes Wild, das meinen Garten verwüstet.«

Mit einer Würde, die fern von jeder äußerlichen Leidenschaft war, aber dennoch in ihrer eisernen Festigkeit verriet, daß der Mann im stande sei, zu vollführen, was er drohte, kamen diese Worte von Lanzenaus Lippen. Und als er sie gesprochen, ging er hinaus, langsam, etwas steifbeinig, wie er immer ging.

Wie vom Donner gerührt blieb Joachim zurück. Sekundenlang stand er starr. Dann warf er sich in einen Lehnsessel und legte den Kopf auf seine Arme vor sich auf den Tisch.

Welcher Dämon hatte ihm denn all die abweisenden und frivolen Worte auf die Zunge gebracht? Was mußte Lanzenau von ihm denken, für welchen Schurken ihn halten?

Tausend Pläne durchjagten sein Gehirn. Wenn er Lanzenau forderte? Welch ein theatralischer Zug! Nein, vor seine unfehlbare Pistole durfte er Fannys Freund nicht stellen. Wenn er Lanzenau nacheilte und ihn zum Vertrauten machte? Jetzt, nach dieser Scene konnte der nur solches Vertrauen kalt zurückweisen[] und würde denken, die Angst habe es Joachim abgerungen.

O Fanny, Fanny! Seine Liebe stieg in all dieser Not!

Wenn Lanzenau doch trotz des gegebenen Wortes mit ihr spräche? Dann blieb Joachim nur eins übrig: eine Kugel in die Schläfen.

Schauer durchrannen ihn. Sein Arnold stand vor ihm. Der würde um ihn weinen. O, das schöne, das junge Leben lassen? Warum? Weil sein Herz, sein unverständliches, geteiltes Herz Fannys Liebe erwidern mußte wie vorher Severinas?

Welche Rätsel ein Menschenleben! Wenn einem Mann sein Weib wegstarb und er wählte sich die zweite Frau, die er vielleicht schon gesehen oder gekannt, da die erste noch lebte, dann war das ganz in der Ordnung. Und auch der hatte doch beide geliebt, wenn er ehrlich war, ein Gatte nach dem Gesetz und der Moral.

Entschuldigte, ja billigte denn bloß der zeitliche Zwischenraum die zwiefache Liebe? War das nicht im Grunde doch dasselbe?

Sein junger Kopf und sein gärendes Gemüt konnten nichts begreifen, nichts beurteilen. Dumpf fühlte er nur, daß aus den für ihn hergebrachten Ehrbegriffen heraus ihm nichts blieb als freiwilliger Tod. Er stöhnte laut und vergrub sein Gesicht tiefer.

Eine leichte Hand berührte seine Schulter. Er [] erschrak wie ein nervöses Frauenzimmer und wandte sein bleiches, hohläugiges Gesicht. Die kleine Meerheim stand hinter ihm, das magere, graziöse Figürchen vorgebeugt, wie jemand, der heimlich und wichtig etwas mitteilen will. Aber auch sie erschrak vor seinem Aussehen.

»Um Gottes willen, wie sehen Sie aus! Na, ich kann mir schon denken – gestern abend noch auf Heinis Stube spät getrunken – heute morgen gräßlichen ›Drehwurm‹. Ja, Heini muß heiraten. Ich werde mich noch aus reiner Nächstenliebe bequemen müssen.«

Joachim bemühte sich, zu lächeln, und fragte, was sie hergeführt.

»Lächeln Sie nicht,« sagte das zartgewachsene, aber sehr starksinnige Soldatenkind, »ein Lächeln auf einem so seekranken Gesicht erweckt in mir eine furchtbare Ideenverbindung mit der Milchpflaumensuppe in meiner Pension. Also, ich habe Sie gesucht, um Ihnen zu sagen, daß ich mich heute morgen mit Heini gestritten habe, was Sie wohl schon wissen.«

Nein, er wußte nichts.

»Das ganze Schloß spricht ja davon; ich bin mit Papa und ihm ausgeritten und allein wiedergekommen, weil Papa ihm beistand. Sie müssen mir heute furchtbar die Cour machen – ja, wollen Sie? Heini fordert Sie dann vielleicht, aber das schadet nichts, das ist sehr interessant, und ihr könnt an einander vorbeischießen.«

[] Nun mußte Joachim doch lachen. Aber es hatte einen eigenen, spöttischen Klang.

Was für eine Narrheit! Also der kleinen, schwarzhaarigen Person sollte er zum Schein die Cour machen, während in seinem Herzen Tod und Leben rangen? Und diese und ein Dutzend anderer thörichter Anforderungen konnten die nächsten Tage noch an ihn stellen. Mit Heini trinken, mit dem Rittmeister Skat spielen, der Tochter hofiren, der Gräfin höflich ergeben sein, Lucys vertrauliche Andeutungen ertragen, mit dem Grafen über Obstkulturen sprechen und bei alledem Lanzenaus Augen auf sich fühlen – zu viel, zu viel! Unmenschlich!

Fort von hier – in die Welt hinaus!

Er versprach mit heißem Gesicht dem übermütigen Fräulein, ihr so zu huldigen, daß Heini ihn noch vor Mitternacht mit allen möglichen Todesarten bedrohe. Dann lief er davon und pochte an Fannys Thür. Er wollte ihr gleich sagen, daß er fort müsse.

Die Jungfer kam und bedauerte, ihre Gnädige mache eben zum Diner Toilette.

Dadurch ward Joachim erst wieder daran erinnert, daß ja heute Fannys Geburtstag und ein großes Fest im Schlosse sei. Heute konnte er nicht fort, das war gewiß.

Nun galt es, sich sammeln und fassen. Vielleicht konnte er Fanny im Gewühl des Balles doch ein Wort sagen, daß er gern einige Tage nach Berlin wolle.

[] Das Schloß füllte sich mit Gästen. Wagen von den Nachbargütern und aus der nächsten Garnison kamen angefahren. Beim Diner, wo die Bestimmung der Gräfin ihm eine Comtesse Sieburg gesellt, sah er eine der glänzendsten und vornehmsten Gesellschaften, in die er je getreten war. Und, o Erstaunen, auch die »kleine Elly«, die Tochter seines vormaligen Chefs, war mit ihrem neuvermählten Gatten, dem »Krautjunker«, zugegen. Das Ehepaar war, wie er später erfuhr, auf einem Nachbargut bei Verwandten zum Besuch. Das hatte gerade noch gefehlt! Damals, als er bei ihrem Vater als Volontär lebte, hatten sie sehr für einander geschwärmt. Das konnte er vor sich nicht ableugnen.

Heute, als sie ihn von weitem erkannte, erglühte ihr Gesicht, aber er streifte sie mit kühlem Blick und bemerkte zum erstenmal, daß sie recht unbedeutend gewachsen sei. Wie anspruchslos, wie jung mußte er doch damals gewesen sein!

Oben am Tisch saß seine – seine Fanny! Die erste in dieser glänzenden Versammlung! Die am meisten Gefeierte! Ein Freund des Grafen hielt eine Rede auf die Gräfin; es war das landläufige Maß von Lob darin und mit dem landläufigen Maß von Begeisterung ward sie aufgenommen. Und dann hielt ein anderer eine Rede auf Fanny Förster, voll Entthusiasmus und voll Heiterkeit. Es ward von ihrem humanen Wirken gesprochen, von all den Gaben, die [] die Natur über sie ausgeschüttet, und von der weisen Klugheit, mit der sie selbst sich ihre Grenzen ziehe. Die »Wahlrede«, die sie damals gehalten, ward in ihrem offenen Eingeständnis von Frauenbescheidenheit als Muster für manchen klugredenden Parlamentarier aufgestellt. Frohes Lachen ging dazu um den Tisch, und nun stimmte alles jubelnd in Fannys Wohl ein.

Joachims Herz schwoll an. Und sie liebte ihn allein!

Nachher beim Tanze gelang es ihm, sie an seinen Arm zu bekommen. Er ließ sie nicht los, als der Tanz zu Ende war – ein Walzer, den sie weltvergessen getanzt. Er ging mit ihr durch den Saal und durchwandelte alle Räume. Einmal gab ein großer Spiegel ihnen ihre Gestalten zurück. Joachim sah die schöne Frauengestalt im Glase, wie sie, von silberschimmernder weißer Seide umflossen, das Haupt schmucklos, aber um den herrlichen Nacken eine Schnur funkelnder Steine, sich leicht an seinen Arm schmiegte.

»Wie Du schön bist!« flüsterte er; »und das alles ist ganz und schrankenlos mein.«

»Ich habe mich beinahe geschämt,« sagte sie, ihm in die Augen sehend, »all dies Gewoge von Spitzen und Atlas, zugestutzt nach den neuesten Modekünsten, um mich zu hängen. Aber ich war so kindisch – ich wollte sehr schön sein. Das ist nun die Frau, die sie vorhin so großartig anredeten.«

Es gibt Schwächen, welche einem Weibe besser[] stehen als starre Tugend. Von der eben eingestandenen fühlte Joachim sich fast zu Thränen gerührt.

»Fanny,« sagte er, »o Fanny, wie hab' ich Dich lieb!«

Es war der Laut eines unaussprechlichen, wahren Gefühls. Fanny sah ihn an; sie schwiegen.

In diesem Augenblick ging Lanzenau mit dem Rittmeister an ihnen vorüber und sah sie an. Joachim lief ein Frösteln über den Rücken.

»Liebe,« sagte er, Fanny weiter führend, »ich muß fort von hier. Laß mich, ich bitte Dich.«

»Fort? Wohin? Weshalb?«

Auf die hastig hervorgestoßenen Fragen erwiderte er:

»Ich ertrage es nicht, jetzt, wo mir das Herz von dem unaussprechlichsten Glück erfüllt ist, mit so vielen gleichgiltigen Menschen zusammen zu sein, vor ihnen meine Liebe zu verbergen.«

»So wollen wir sie verkünden.«

»O nein,« sagte er erschrocken, »nur das nicht! Laß uns in der Stille Deines Hauses sehen, wie wir Lanzenau vorbereiten. Und dort auch, Geliebte, habe ich Dir eine Beichte abzulegen, die vielleicht meinen Wert in Deinen Augen sehr herabmindert.«

Sie sah forschend, doch keineswegs beunruhigt in sein Gesicht, auf dem sich deutlich eine große, innere Unruhe widerspiegelte. Es war der kluge, überlegene und im voraus verzeihende Blick, mit dem eine Mutter das Schuldbekenntnis ihres Sohnes erwartet.

[] »Du Kind,« sprach sie, »als ob ich mir nicht denken könnte, welcher Art Deine Beichte sein wird. Ein junger Mann wird selten fünfundzwanzig Jahre alt, ohne einige Herzenstäuschungen durchgemacht zu haben. Wenn Du willst, so beichte, aber meinetwegen kannst Du auch schweigen. Ich habe erst Rechte an Dein Leben, seit Du mich geküßt. Aber sprich, wo willst Du denn hin?«

Sie waren bei ihrem Rundgang durch die Zimmer gekommen, wo die Kartenspieler saßen, und betraten nun wieder den Saal. Hier setzte Fanny sich auf einen Diwan zwischen zwei Thüren, um, wenn auch nicht ungesehen, so doch ungehört ihr Gespräch mit Joachim fortzuführen. Joachim blieb vor ihr stehen.

»Also, wohin?«

»Lanzenau hat mir die Administration der Itzelburgischen Güter verschaffen wollen. Er gab mir heute einen bezüglichen Antrag der Vormundschaft. Zum Schein ging ich auf die Offerte ein, da vierzehntägige Frist zum Entscheid vorbehalten ist. Ich könnte hinreisen, an Ort und Stelle alles einzusehen. Es wäre unter anderen Umständen ja wie der Gewinn des großen Loses gewesen, eine glänzende Existenzsicherung auf zehn Jahre.«

»Lanzenau war ja sehr besorgt, Dich von mir zu entfernen,« sagte Fanny traurig. »Reise – das wird ihm zunächst als Dank für seine Bemühungen [] wohlthun. Und dann kehre nach Mittelbach zurück, wenn auch wir dort eintreffen, also in fünf oder sechs Tagen. Aber ich werde zu jedermann davon sprechen; Du bist ja im Besitz dieser Stellung eine großartige Partie für die jungen Damen.«

Sie lachte. Aber er hatte das Gefühl, daß es ihr unbewußt doch lieb sei, ihn dergestalt als einen Mann hinstellen zu können, der auch ohne ihren Reichtum einer Frau wie Fanny eine würdige und auskömmliche Lebensstellung zu schaffen vermöge. Ein feines Rot stieg langsam in sein Gesicht.

»Wie Du meinst!« sprach er leise.

»Morgen früh kannst Du reisen. Heute bist Du noch mein,« flüsterte sie und sah ihn mit tief verheißendem Blick an.

»Fanny!«

Hier erscholl die Musik zu einem neuen Tanz, und von allen Seiten kehrten die Herren und Damen in den fast leer gewesenen Saal zurück.

Mit ihrem Alleinsein inmitten der Menge war es aus.

Noch bevor man auseinander ging, wurde Lanzenau von mehreren Seiten darauf angeredet, daß dem jungen Herebrecht die vielumworbene Administratorenstellung angeboten sei. Er hörte auch Fanny darüber sprechen, ruhig und voll freundlicher Anteilnahme an den Aussichten des jungen Mannes.

So hatte seine Mahnung doch genützt? Hatte [] Joachim doch gesprochen? Und Fanny war so ruhig? War denn alles, was Lanzenau beobachtet zu haben glaubte, eine Täuschung gewesen?

Jedenfalls konnte er wieder Hoffnung fassen und sah sich durch nichts gezwungen, sein Wort gegen Joachim zu brechen.

Joachim reiste ab, um die Gesellschaft erst in Mittelbach wieder zu treffen; Fanny war auch in seiner Abwesenheit ungemein heiter, doch konnte Lanzenau nicht verkennen, daß sie jedem längeren Gespräch mit ihm auswich. Auch beobachtete er, daß sie mit besonderer Ungeduld den täglichen Postboten erwartete, und sich aus der Halle mit einer leisen Enttäuschung, die sie jedoch zu verhehlen bestrebt war, aus dem Kreise der anderen Briefempfänger zurückzog; für sie war kein Brief gekommen. Joachim schrieb nicht.

Aber das war natürlich: Fanny getröstete sich dessen, indem sie sich sagte, daß sie keine Korrespondenz verabredet hatten.

Endlich – am letzten Tag! Ihre zitternden Finger erbrachen den Brief. Lanzenau beobachtete sie, es war ihr alles einerlei. Sie lehnte an einer der Karyatiden, welche den Sims des riesigen Kamins in der Halle trugen.

Was war das – schrieb so Joachim? In ihren Ohren brauste es. Kein Wort von Liebe, von Sehnsucht? Fremd alles, wie der erste Brief, den sie empfing, ehe sie ihn kannte?

[] »Was schreibt Herebrecht?« fragte Lanzenau etwas heiser neben ihr.

Sie reichte ihm den Brief. Lanzenau las zu seiner tiefinnersten Befriedigung:

»Hochzuverehrende, gnädige Frau! Das Reisen, allein, durch eine tauschmutzige norddeutsche Gegend, ist nicht inspirirend genug, um einen zur Berichterstattung anzufeuern. Meine Stimmung war melancholisch genug, als ich so, zwischen wildfremde, nach Pelz und Feuchtigkeit riechende Menschen eingepfercht, im Eisenbahnwagen saß. Die Lendemain-Stimmung nach dem unvergeßlichen Ball, werden Sie sagen. Mag sein, der Kontrast war gar groß. Ueber das, was ich in Itzelburg vorgefunden, berichte ich Ihnen und dem Herrn Baron von Lanzenau besser mündlich. Alles stellt sich sehr verlockend dar. Ich wollte nur heute pflichtschuldigst melden, daß ich am bestimmten Tag zurückkehre und es höchst wahrscheinlich so einrichten werde, Sie und die ganze Gesellschaft, die mit Ihnen fährt, unterwegs zu treffen. Auf Wiedersehen! Ihr treuergebener J. von Herebrecht.«

Während Lanzenau las, fand Fanny ihr Lächeln und ihre Glücksstimmung wieder.

»Er hat die Nachfrage Lanzenaus vorausgesehen,« dachte sie, »und deshalb so fremd geschrieben. Das war sehr klug.«

Ihre gläubige Seele ahnte nicht, daß Joachim hundertmal versucht hatte, »geliebte Fanny« zu schreiben, [] daß aber die Buchstaben ihn wie Gespenster, wie Lügen, wie etwas, das nicht von ihm kam, anstarrten und daß er endlich, trotzdem vom rasenden Wunsch erfüllt, zu ihr zu sprechen, in der kühlen Form der Verehrung einige banale Redensarten aufs Papier geworfen.

Und weiter irrte ihr Herz sich, wenn es freudig über seine Verheißung schlug, sie unterwegs zu treffen. »Er will zugleich mit mir wieder in mein Haus einziehen,« dachte sie.

Joachim aber bebte davor zurück, Severina allein wiederzusehen. Deshalb wollte er mit allen anderen ankommen.

[]

Dreizehntes Kapitel

Die beiden Frauen auf Mittelbach verlebten unterdes keine freudigen Tage. Beide verschlossen, beide wenig gesprächsbedürftig, wie sie waren, befanden sie sich in einer gewissen Verlegenheit einander gegenüber. Ihr Verkehr war bisher der freundlichste und friedfertigste gewesen, aber ihm hatte die Gelegenheit so zur Vertraulichkeit wie zur Reibung gefehlt. Severina hatte immer einen bescheidenen, entgegenkommenden Ton gegenüber Adrienne, denn diese war ihr beinahe als Arnolds, des älteren Bruders Joachims Frau, eine Respektsperson. Adrienne war dem jungen Mädchen dankbar für all die Mühe und Liebe, die sie an das Kind verwandte; im übrigen fiel es ihr nicht entfernt ein, in Severina mehr zu sehen als einen Schützling von Fannys, nach so vielen Seiten hin wirkender Großmut.

Das fühlte Severina wohl heraus und ihre herbe Seele verschmähte es, sich in dieser Zeit des Alleinseins Adriennen ins Herz zu schmeicheln, gerade weil sie ihr künftig verwandtschaftlich nahe zu treten hoffte.

[] So gingen sie denn still neben einander her. Höchstens beschäftigte Adrienne sich einmal so weit mit dem Mädchen, daß sie sie gegen die Pastorin in Schutz nahm. Diese benützte Fannys Abwesenheit, um Severina wieder mehr zur Lektüre frommer Bücher anzuhalten, sie mit tausend kleinen Quälereien in ruhelose Bewegung zu bringen.

Und Severina, durch jahrelanges Geduldüben längst gewohnt, mit stoischer Ruhe zuzuhören, Severina ertrug jetzt das Wesen ihrer Pflegemutter nicht.

Ihr Herz zitterte, ihre Nächte waren schlaflos vor Sorge um ihn. Daneben war ihr all der Kleinkram des Lebens unerträglich. Wenn die Pastorin so bei ihnen saß und endlose Beispiele erzählte von üblen Folgen, die Mangel an Demut, die Eitelkeit und Vergnügungssucht bei irgend welcher Trine oder Lise aus dem Pfarrsprengel gehabt, dann quoll in Severinas Herzen eine Ungeduld auf, ein Zorn, eine Raserei beinahe, daß sie sich hätte mit einem Schrei auf die monoton redende Frau werfen können, um ihr den Mund zuzuhalten.

Wenn sie, die Verwaiste, die Einsame doch ein Herz gehabt hätte, sich wild daran auszuweinen.

Und die Eine, die Gute, die ihrer darbenden Seele bisher das Brot der Güte und Teilnahme gereicht, die Eine war vielleicht gerade im Begriff, ihr, der Armen, das einzige Gut zu stehlen. Unbewußt zu stehlen – ganz gewiß, unbewußt.

[] Wenn Fanny hier wäre! Ohne Besinnen hätte Severina zu ihren Füßen gefleht, ihr den Geliebten nicht zu rauben. Und Fanny war nicht die Frau einem armen Mädchen weh zu thun. Was konnte ihr denn Joachim mehr sein als der Gegenstand flüchtigen Wohlwollens!

Und dann kam Joachims Brief.

Severina erhielt ihn vom Kutscher des Schlittens zugesteckt. Er solle ihn heimlich abliefern, sagte der Mann, der auch von Fanny den mündlichen Bescheid der veränderten Dispositionen mitbrachte. Sie trug ihn zwei Stunden in ihrer Kleidertasche umher, ehe sie die Einsamkeit fand, ihn zu lesen, die Einsamkeit ihrer Schlafstube.

Sie las. Sie verstand nicht. Ihr ganzes Wesen war wie gelähmt.

So lag sie eine lange, furchtbare Nacht unbeweglich, mit starren Augen ins Dunkle schauend, nicht im stande, etwas zu denken. Sie wußte nur, daß sie nicht ohne ihn leben könne.

Als sie am andern Morgen zum Vorschein kam, erschrak das ganze Haus. Severina hatte verzerrte Züge.

»Ich habe Kopfweh,« sagte sie. »Ich will spazieren gehen.«

Sie lief einige Stunden im Freien umher. Ihr Weg führte sie an der Hütte einer alten Taglöhnerfrau vorbei, die seit Jahren gelähmt war und von [] Fanny und der Pfarre aus unterhalten wurde. Sie hatte die Frau oft besucht und mit ihrem Leiden Mitleid gefühlt. Nun überkam sie eine seltsame Neugier, wie sich ihre eigene Not mit dem Elend der Alten messen lasse.

Die lag in ihrem sauberen Bett, im sauberen Stübchen, las in der Bibel und trank daneben einen kräftigen Haferschleim, den man ihr schon heute aus der Herrenküche geschickt. Die äußerste Zufriedenheit leuchtete von dem guten Gesicht der Alten.

»Wie geht es, Mutter Holten?«

»Gut, Frölein; immer so gut, wie unser Herrgott es irgend einrichten kann. Wie lieg' ich hier, bei dem tauigen Wetter, so warm und trocken und satt, und manch einer läuft mit bloßen Füßen auf der Landstraße umher.«

»Habt Ihr denn keine Schmerzen?« fragte das Mädchen.

»O ja. Aber das Reißen am Leibe hält man geduldig aus, wenn das Herz man seinen stillen Frieden hat,« sagte die Alte mit beschaulicher Ruhe im Faltengesicht.

Wenn nur das Herz seinen stillen Frieden hat! Am Bett der Alten niederknieend, legte Severina ihr Gesicht in das rotweiß gewürfelte Federbett. Eine seltsame Neidempfindung zog durch ihr Herz. Sie hätte lieber auch da liegen mögen, gelähmt, alt, arm, aber hinausgehoben über jeden heißen Wunsch.

[] Hinter ihr öffnete sich die Thür – der Pastor kam, um der Alten seinen täglichen Besuch zu machen. Befremdet sah er seine Pflegetochter hier in einer Stellung, die auf den ersten Blick eine vollkommene Fassungslosigkeit verriet.

»Severina,« rief er mit sanfter Mißbilligung. Sie sprang empor und warf sich an seine Brust. Da war doch noch eine treue, stille, liebevolle Seele, die allezeit Mitleid mit ihr gehabt. An dieser Brust war sie nicht bloß geduldet, hielt sie kein heißer Irrtum fest, da war ihr die Heimat.

Aufschluchzend klammerte sie sich dort an.

»Was ist Dir, mein Kind? Mutter Holten, was ist vorgefallen?« fragte der Pastor erschreckt.

»Ich weiß nicht,« sprach die Alte, nicht minder erstaunt, das Fräulein so fassungslos zu sehen, in deren Gesicht sie sonst nur eine gleichsam widerwillige Freundlichkeit oder mürrische Verschlossenheit gekannt.

»Nun, Severina – welchem Vorkommnis gelten Deine Thränen? Hat etwa die Mutter ...«

Severina richtete sich auf und strich die Haare aus dem heißen roten Gesicht.

»Nein,« sagte sie hastig, mit scheu abschweifendem Blick, »nein. Es ist nichts. Zuweilen überkommt es mich, daß ich nirgendwo in der Welt ein Recht zum Dasein habe und daß ich eines Tages auch die Heimat verlieren kann, die eure Güte mir gewährt. Und in solchen Stimmungen denke ich, daß Mutter Holten es [] besser hat als ich. Das Dach über ihrem Haupte ist ihr eigen, und ihr körperliches Elend klopft so laut an die Herzen der Mitmenschen, daß diese ihr nie Trost und Linderung vorenthalten werden. Das sind die heilbaren Schmerzen, die jeder sieht!«

Der Pastor sah ihr tief in die Augen, indem er mit seiner Hand unter ihr Kinn griff.

»Alle Schmerzen sind heilbar, meine Tochter, außer denen, welche den Nachwirkungen begangener Sünden entspringen, und davor bewahre Dich Gott!« sagte er ernst. »Grundlosen Trauerstimmungen sich hinzugeben, ist eine Schwäche, in die nur ein nicht gesundes Herz verfällt. Woran krankt das Deine?«

Severina faßte sich mit Gewalt.

»An Undankbarkeit,« sprach sie mit einem Versuch zu lächeln, »denn ich konnte vergessen, daß Deine Liebe mein armes Dasein immer gütig ertragen hat.«

Der Pastor drückte ihr die Hand. Er faßte diese Aeußerung als eine Hindeutung auf, daß Severinas »armes Dasein« von der Pastorin bekanntlich nie »gütig ertragen« werde und es war ihm zweifellos, daß seine Frau die Pflegetochter wieder durch irgend eine Bemerkung schwer gedemütigt habe. Natürlich war dann die Sache zu heikel, um dem Grund von Severinas Erregung näher nachzuforschen. Er begnügte sich mit einigen allgemeinen Beruhigungsworten.

Severina fühlte sein Mißverständnis heraus. Damit ward es ihrem Bewußtsein wieder lebendig, daß [] es eine Schranke zwischen ihr und dem guten alten Mann gab, die sie verhinderte, ihr gequältes Herz durch Vertrauen zu erleichtern. Sie konnte ihn nicht zum Mitwisser einer Sorge machen, von der die Pastorin keine Ahnung haben durfte.

Alle ihre Erregung erstarrte in plötzlichem Trotz gegen Gott und die Menschheit. Sie warf den Kopf zurück und ging hinaus, ohne selbst der Alten noch einmal zuzunicken.

Der Pastor seufzte. Ja, dieser jungen Seele war nicht zu helfen. Die Saat der Milde und Geduld, die er immer darin auszustreuen bemüht gewesen, konnte nicht aufgehen, wie ein scharfkantiger Pflug ackerte die Zunge der Pastorin das neubesäte Feld immer wieder um.

Severina aber ging ins Schloß zurück, von einem mechanischen Gedanken beherrscht, dessen selbstverachtende Bitterkeit ihre Lippen fast wie im Spotte hob und allen ihren Zügen einen in diesem Gedanken erstarrten Ausdruck gab.

»Was liegt an mir? Ich bin zum Elend geboren,« dachte sie.

Daß es vielleicht in ihrer Macht sei, durch liebevolle Worte, durch einen beredten Brief, in den sie ihre ganze Gefühlsgewalt hineinlegen könne, mahnend vor Joachim hinzutreten, fiel ihr gar nicht ein. Ihre Betäubung war so groß, daß sie sich nicht einmal wehrte. Ihr einziger Wunsch war, daß man sie ungestört lassen möge.

[] Aber das schien ihr wenigstens heute nicht beschieden. Kaum betrat sie die Schwelle, als Adrienne aus der nächsten Zimmerthür ihr entgegenstürzte.

»O, wie habe ich auf Sie gewartet! Bitte – der Kleine ist krank – es scheint so – ich bin außer mir. Aber vielleicht täuscht es mich. Sie kennen das.«

Severina fühlte zwei heiße, weiche Hände ihre eisige Rechte umklammern. Sekundenlang ging ihr ein befriedigendes Gefühl lösend durch das Herz. Das Kind krank? Joachims Abgott? Da war es ja, das große Unglück, das diesen dumpfen Zustand der Angst zerriß wie ein Blitzstrahl die Nacht. Willkommen, Krankheit und Tod! – Dann durchzuckte sie jähe Angst um das Kind. Die auflodernde Grausamkeit erlosch vor dem Schreckgedanken einer Gefahr für seinen Liebling.

»Wir wollen sehen,« sagte sie heiser.

Unten im Wohnzimmer saß die Kindsmagd und hatte den Kleinen auf dem Schoß. Schon kniete die vorauf geeilte junge Mutter wieder vor ihm und sah ihm bang in die Augen.

Diese waren groß und glasig, während die Bäckchen purpurn glühten. Das Kind lag ganz teilnahmslos und atmete kurz.

Während Severina über ihm gebeugt stand und es mit scharfen Augen betrachtete, fing es an, den Kopf hin und her zu drehen, die Hände zu ballen, die Beinchen kurz zusammenzuziehen.

[] »Das Kind hat Krämpfe,« sagte Severina kurz. Adrienne schrie auf.

»Zahnkrämpfe,« setzte die alte Magd hinzu, »da hilft nichts gegen als Sympathie. Vielleicht ist im Dorf jemand, der besprechen kann.«

»Unsinn,« sprach Severina finster, »Zahnkrämpfe gibt es nicht. Dies ist eine Kinderkrankheit wie andere auch. Wir wollen das Kind nach oben tragen. Holen Sie Schnee herein; es muß kalte Umschläge auf den Kopf bekommen.«

»Sollen wir die Pastorin nicht holen?« fragte Adrienne bang.

»Nein, nur die nicht,« sagte Severina hart. »Sie wird Ihnen vorrechnen, daß Sie kürzlich irgendwelche Sünde begangen haben müßten und daß dies die Strafe dafür sei. Sie wird auch die kalten Kompressen für ein unerlaubtes Eingreifen in das Strafgericht Gottes halten.«

Adrienne folgte zitternd, mit gesenktem Haupte dem Mädchen, welches auf starken Armen vorsichtig das zuckende Kind trug.

Und nach dem hastigen Hinundher der ersten Hilfsmaßnahmen, nachdem ein Knecht mit dem Jagdwagen zum Arzt gefahren war und ein Kübel mit Eisstücken und Schneewasser neben dem Kinderbett stand, saßen die beiden Frauen in totenhaftem Schweigen neben dem kleinen Kranken.

Severina brütete darüber, wie das Wiedersehen [] mit Joachim sein werde, wenn das Kind da in seiner stummen Qual vorher stirbt, und ob sein Herz dann lernen werde, wie schmerzlich es sei, zu verlieren, was man liebt.

Adrienne aber sah unverwandt auf ihr Kind. Der Anfall war vorüber, die sonst so weichen Züge des Kleinen trugen in scharfen Linien die Spuren der Erschütterung und machten es ganz alt. So hatte es eine merkwürdige Aehnlichkeit mit seinem Vater, und diese Aehnlichkeit steigerte die Angstgefühle im Herzen des jungen Weibes.

Wenn nur jemand da wäre, der aus tiefster Seele mit ihr sorgte, mit ihr bangte! Ach – so ganz, so mit allen Fibern konnte das nur einer, der Eine, der fern, weltfern war. Aber doch mußte es eine Wohlthat sein, Fannys kluges Auge mit an dem Bette wachen zu sehen, in Joachims Gesicht die große Sorge um den von ihm so geliebten Knaben zu lesen. Das Mädchen da an der andern Seite des Lagers saß wie ein Bild von Stein; auf ihren erstarrten Zügen war nichts zu lesen, weder Sorge noch Mitleid.

Eingeschüchtert, Adrienne wußte selbst nicht wo durch, wagte sie lange nicht, die Bitte an Severina zu richten: »Schreibe an Fanny.« Als sie es endlich doch gethan, erhob das Mädchen sich augenblicklich und ging in das Wohnzimmer nebenan.

Hier saß sie lange über einem Briefbogen brütend, die Feder verkehrt in der Hand.

[] Fanny rufen, das hieß Joachim rufen, die tödlichste Entscheidung herbeirufen.

Sie stand wieder auf, ging lange hin und her und sagte zuletzt, mit dem Auge scheu Adrienne vermeidend:

»Der Kleine wird gewiß morgen besser sein. Was sollen wir Fanny die Ferien stören, die sie sich so selten gönnt?«

Die junge Frau atmete auf. Ja, wenn Severina glaubte, daß er morgen besser sei ... sie konnte es beurteilen, sie war seit früher Jugend mit der Krankenpflege vertraut.

In der That kehrten die Anfälle nicht wieder. Der Arzt kam und zeigte sich ganz unbesorgt und mit den von Severina getroffenen Maßregeln einverstanden. Den ganzen folgenden und die nächsten beiden Tage schien es, als sei jede Angst thörichte Uebertreibung. Daß der Kleine nicht aß und so schnell abmagerte, wie nur so kleine Kinder pflegen, war wohl die natürlichste Folge der überstandenen Leiden.

Zuweilen ward Adrienne von jäher Unruhe ergriffen. »Wir wollen es doch Fanny schreiben,« meinte sie dann. Aber Severina wußte es ihr immer auszureden und endlich konnte man schon Tag und Stunde von Fannys Wiederkehr ausrechnen, da, so meinte selbst der Pastor, da wäre es ja doppelt alarmirend für Fanny gewesen, wenn man sie kurz vor ihrer ohnehin erfolgenden Heimkehr beriefe.

[] Während man sich im Hause rüstete für die zahlreichen Gäste, die nun folgenden Tags mit der Herrin einziehen sollten, wachte Adrienne, blaß und hohläugig, am Bett ihres Knaben, der an diesem Nachmittag einen schwachen erneuten Krampfanfall bestanden hatte. Alle mit Gewalt zurückgedrängte Angst kehrte, bis zu wahnsinniger Unruhe gesteigert, in ihr Herz zurück. Und niemand war bei ihr, diese Not zu teilen. Selbst Severina ging im Hause unermüdlich treppauf, treppab, mechanisch ihr Teil Pflichten an den Festvorbereitungen erledigend. Welch eine Vorstellung – morgen sollten alle Räume dieses Hauses von frohem Lärm widerhallen und hier rang ihr Kind zwischen Leben und Tod? Nein, das konnte Fannys Wille nicht sein. Und plötzlich erschien es Adrienne, als seien Severinas Weigerungen, zu schreiben, geflissentlich und von geheimen Gründen bestimmt gewesen. Eine ungeheure Aufregung bemächtigte sich ihrer, und in derselben wurde sie plötzlich wie hellsehend – von jener Art Hellseherei, welche wohl die Wahrheit, aber diese in falscher Beleuchtung sieht. Severina liebte Joachim, und sie wollte nicht, daß er kommen solle, um seinen Liebling sterben zu sehen, um an seinem Lager mit zu leiden – für Männer ist ein jäher Schlag immer erträglicher als langsames Hinquälen. So war es.

Wie eine Irre entfloh das junge Weib dem Zimmer und ließ das Kind allein. Sie lief zum Hause [] hinaus und über den abenddunklen Hof in die Ställe. Dort beschwor sie den Kutscher, noch heute, jetzt in dieser Minute einen Reitknecht nach der Taißburg zu schicken. – Das ginge nicht, der würde erst um zehn Uhr ankommen. – Nun, so möge er dort nächtigen. Nein, es ginge durchaus nicht, denn morgen früh um fünf müßten die Wagen hinüber, um die Frau und ihr Gepäck zu holen.

»So schicken Sie die Schlitten jetzt fort. Dann kann Frau Förster am frühen Morgen hier sein, sonst wird es Nachmittag. Und sagen Sie, daß mein Sohn so krank sei – so krank, daß er sterben könne.«

Der Kutscher versprach, daß er thun wolle, was möglich sei, bloß um die junge Frau zu beruhigen, denn für ihn war es oder schien es doch unmöglich, die Pferde noch anzuspannen, die heute schon Stroh nach der nächsten Garnisonstadt gefahren hatten.

Adrienne kehrte etwas gefaßter in ihre Zimmer zurück. Wann auch immer Fanny kam, Gäste würde sie nun keine mitbringen. Als sie wieder an das Bett trat, lag der Kleine in heftigen Zuckungen. Ihr Schreckensschrei gellte durch das Haus. Severina und die Dienstboten kamen herzugelaufen.

Alles umstand in schweigender Sorge das Bett, vor dem die Mutter auf den Knieen lag. Adrienne winkte heftig – sie wollte allein bleiben.

Sie wußte, daß ihres Kindes letzte Lebensstunden begonnen hatten. Man ließ ihr den Willen und [] entfernte sich, der Diener lief von selbst zum Pastor, Severina blieb im Wohnzimmer sitzen.

Eine bange Viertelstunde verstrich. Der Pastor und seine Frau traten ein. Der alte Mann streichelte mit seiner weichen Hand Adriennens Haar und sagte nichts; sie legte ihr Haupt an ihn, als sei sie müde, und verharrte knieend. Die Pastorin setzte sich an das Bett, nahm ihre Brille hervor und schlug das Gesangbuch auf, das sie aus der Tasche zog.

Mit ihrer harten, lauten Stimme begann sie zu lesen:

»So komm, geliebte Todesstund',
Komm, Ausgang meiner Leiden!
Ich seufze recht von Herzensgrund
Nach jenen Himmelsfreuden.
So komm, o Tod, nur bald heran,
Ich warte mit Verlangen,
Im weißen Kleide angethan,
Vor Gottes Thron zu prangen.«

Adrienne stand langsam auf. Ihre starren Augen waren mit einem Blick des Grauens auf die gleichmütig lesende Frau gerichtet. Sie hob die Hand gegen die Thür mit deutender Geberde.

»Ich – ich will das – nicht hören,« lallte sie.

Die Pastorin sah mit fassungslosem Entsetzen auf die junge Frau. Nach einer Weile sagte sie bestimmt:

»Wenn Sie sich der tröstlichen Spendung des Wortes unseres Herrn – Herrn entziehen wollen, ist [] es meine Pflicht, sie Ihnen aufzudrängen.« Und ohne weiteres fuhr sie fort:

»Herr Jesu, deine Liebe macht ...«

»Hinaus!« schrie Adrienne auf, »ich will allein mit der sterbenden Seele meines Kindes sein!«

»Herr, mein Gott,« betete die Pastorin mit gefaltet erhobenen Händen, »höre nicht auf dieses irrenden Schäfleins Wahngeschrei!«

Da geschah etwas ganz Unerwartetes. Der Pastor nahm seine Frau beim Arm und sagte halblaut:

»Du siehst, es ist nicht allen Herzen willkommen, Dich als Dolmetsch bei dem Höchsten zu haben. Mitfühlen ist hier mehr als vorbeten.«

Sie sah ihn an – beinahe wild, jedenfalls so empört, daß es ihr an Fassung gebrach, ihren Platz zu behaupten.

»Herr,« murmelte sie endlich, »mache nicht mich verantwortlich für seine Fahrlässigkeit im Glauben.«

»Geh heim,« sagte der Pastor, »und wenn Du willst, bete dort.«

Zorn im Herzen, Zorn in den erregten Mienen und überhastigen Geberden ging sie, aus der Not eine Tugend machend und sich sagend, daß ihre eigene Seele Gefahr laufe, wenn sie hier weile. Severina, die am Thürpfosten stand, ließ sie mit bitterem Lächeln vorbei.

»Soll ich auch gehen?« fragte der Pastor sanft.

Adrienne schüttelte den Kopf und ergriff seine[] Hand, um sie, gleichsam liebkosend, gegen ihre Wange zu drücken. Er nickte väterlich liebevoll, dann setzte er sich auf den Platz, den seine Frau innegehabt.

An wie vielen Totenbetten hatte er nicht schon so gesessen? Säuglinge, Kinder, Jünglinge, Frauen, Greise hatte er sterben sehen. Hundertmal hatte er dem Tode in das geheimnisvolle Gesicht geschaut. Seine Geheimnisse hatte auch er nicht enträtselt, aber seine Schrecken hatte ihre Macht verloren. Es war immer dasselbe Bild, immer thaten sich im Leben der Zurückbleibenden Lücken auf, die ewig unausfüllbar schienen, und immer schloß die Zeit diese Lücken lind und fest. Er hatte noch keine unheilbaren Schmerzen gesehen, darum waren ihm die Schmerzen keine Strafen von Gott, sondern Prüfungen, und darum griff er weder mit dräuendem, noch lehrendem, noch tröstendem Wort ein. Aber er weinte mit den Leidenden, denn er begriff immer, daß sie die Größe ihres Jammers überschätzen mußten, weil die Kenntnis des Trostes ihnen noch vorenthalten war. So saß der greise Mann auch hier und teilte mit ehrlichem Herzen den Jammer der jungen Frau. Er grübelte weder darüber, warum dies Leid gekommen, noch wozu es gut sei; er dachte nur daran, es ihr tragen zu helfen. Und Adrienne fühlte dieses fromme, menschliche Mitleid und empfand seine Nähe als Wohlthat.

Die Nacht ging weiter, das Kind röchelte schwer. Wider ihren Willen hatte es Severina herangezogen,[] sie stand am Fußende des Bettes und horchte auf den rasselnden, heiseren Atem.

Adrienne sah stumm und thränenlos auf das sterbende Kind.

Ihr ganzes Leben und das ihres Gatten zogen an ihr vorüber. Eine ähnliche Existenz, wie die ihre gewesen, wäre auch diesem Kinde geworden. War da denn so viel Grund zu jammern? Tag um Tag und Jahr um Jahr den Eigenwillen bezwingen, die angeborenen Wünsche und Daseinsbedürfnisse kasteien, jede Freude sich karg bemessen, jeden Herzschlag bang belauschen, ob er nicht über die Grenze des Erlaubten geht und bei all den tausendfachen, kleinen und durch ihre Unsumme ins zentnerschwere wachsenden Opfern, doch nichts erreichen als ein mittelmäßiges Dasein – mittelmäßig an äußeren Gütern, mittelmäßig an Stellung in den Ehrenabstufungen der menschlichen Gesellschaft, mittelmäßig an Befriedigung der Herzenssehnsucht, mittelmäßig sogar in dem landläufigen Maß verzeihbarer Sünden – war das alles wert, ein Leben zu wünschen? Und wenn wirklich dieses Kindes Laufbahn glanz- und freudevoller geworden wäre, als die seiner Eltern, selbst dann, was verlor es? Vielleicht nur wenige sorglose Jugendjahre, denn mit dem ersten unerfüllten Wunsch kommt der erste Stachel in die Menschenseele. Was verlor er sonst? Die Liebe? O, ihm blieb die Erfahrung erspart, daß es in der Liebe keine glückssonnigen Ewigkeiten gibt, daß sie in [] der Freiheit unter den Erschütterungen nie ganz gesättigter Leidenschaft qualvoll leidet, daß sie in den Fesseln der Ehe ihre Zauber verliert durch das Zwanggebot gedankenloser Treue. Die Ehre? Ihm blieb die Erfahrung erspart, daß man mit reinen Händen und Füßen zu langsam auf der schlüpfrigen Leiter des Erfolgs emporklimmt, und daß es das Gemüt verbittert, andere schneller oben zu sehen, die auf dem Wege ihre Seelen nicht mit dem Schwergewicht des Anstandes und der Gewissenhaftigkeit behängt hatten.

Und wenn eine gütige Laune des Geschicks ihm gleich von allen Reizen des Lebens die bestrickendsten immer dargeboten – eins, ein Schreckliches hätte ihm kein Gott nehmen können: das Altwerden, das Sterben im Leben. Die Grausamkeit wäre ihm nicht erspart worden, mit einem jungen, genußsüchtigen und genußfähigen Herzen, mit zitternden Gliedern und weißem Haar zuzusehen, wie andere, mit vielleicht ärmerem Herzen aber braunen Locken das Spiel des Lebens neu begannen, das für ihn vorbei war ...

Was verlor er?

Nur einige Morgenröten weniger sendeten ihre Strahlen auf sein Bett und diese, die sich eben fahlrot durch die Spalten der Fenstervorhänge schlich – diese war seine letzte.

Das Nachtlicht war erloschen. Winterkälte, verschärft durch das Frösteln, das durch unausgeruhte Glieder schleicht, durchrüttelte die junge Frau.

[] »Licht!« murmelte sie.

Severina ging zu den Fenstern und ließ das Licht des tagenden Wintermorgens herein.

Da sah das junge Weib wieder deutlich das Gesicht des sterbenden Kindes. Es sah noch wie sein Vater aus.

Adrienne stöhnte laut.

Sie hatte viele Stunden nicht an ihn gedacht. Wo war er? Fern, ahnungslos hatte er in schwüler Tropennacht vielleicht traumlos und tief geschlafen, und hier verging derweil in Staub sein einziges Glück. Ein Entsetzen ohnegleichen ergriff die Seele des Weibes. Wenn er heimkehrte und sein Kind von ihr verlangte! Ihr war's, als sei sie seine Mörderin. Und die Stunde fiel ihr ein, wo die Versuchung an sie trat, die Ehre des fernen Gatten zu verraten. Dies war die Strafe. Um ihrer Sünde willen mußte es sterben. Wenn Arnold heimkam und Gericht hielt!

Das Kind – sein Kind – seine Liebe – sein Lebenszweck tot? Was gab es dann noch in seinem harten Dasein, ihn zu erquicken, ihn zu trösten? Nichts – liebeleer, armselig, sonnenlos waren alle seine Stunden.

»Barmherziger Gott, laß meinem Kind das Leben!«

Ja, das Dasein lohnt sich, es ist reich, es ist ein Segen, jede Entsagung verkehrt sich zur Wonne, jede Arbeit zur Lust – wenn man für ein Kind, für ein Kind leben darf.

»Barmherziger Gott, laß meinem Kind das Leben!«

[] Wie schwer Arnold sich damals von ihm riß, wie sein männliches, ernstes Gesicht von Thränen naß war! Entsetzlich – wie würde er weinen, wenn er anstatt seines Kindes nur ein Grab fand? Und wo war die Liebe, die starke, mutige, selbstlose Liebe, die allein ihm Trost bringen konnte?

Adrienne warf sich in die Kniee. Sie betete, ihre Lippen aber lallten statt der Gebete: »Arnold – Arnold –« Und so immer fort wie eine Irre, und dabei hingen ihre Augen gierig am röchelnden Kindermund. Ein letzter Atem pfiff aus der kleinen Brust, die Glieder streckten sich lang und das Köpfchen sank mit offenem Mund und offenen Augen schwer zurück.

Da schrie das junge Weib noch einmal auf:

»Arnold – Arnold – ich – liebe – Dich.«

Und in schwerem, dumpfem Fall fiel sie bewußtlos zu Boden.

[]

Vierzehntes Kapitel

Auf der Landstraße fuhren in scharfem Trabe zwei Wagen hinter einander her. Der erste war Fannys Landauer, in dem zweiten saß ihre Jungfer neben den Koffern und sah mit dem traurigsten Gesicht in die Landschaft hinein. Sie hatte ihr Herz bei einem der Diener in der Taißburg zurückgelassen und vergegenwärtigte sich noch einmal, wie vornehm und gebildet der Geliebte erscheine, und hielt das Zeugnis seiner Bildung – Schillers Werke in einem Band, die er ihr als Andenken geschenkt – zwischen den gefalteten Händen wie ein Gesangbuch. Sie erinnerte sich auch, daß er ihr anempfohlen habe, in traurigen Stunden darin zu lesen, und schlug sich Don Carlos auf. Doch gleich die ersten Worte:

»Die schönen Tage von Aranjuez sind nun vorüber
Und Sie, mein Prinz, verlassen es nicht heiterer als zuvor,«

ergriffen sie so, daß sie sich in die Ecke setzte, um zu schluchzen.

[] Im Landauer saßen Fanny und Graf Taiß, ihnen gegenüber auf dem Rücksitz Lanzenau und Joachim. Taiß hatte darauf bestanden, seine Freunde nach Mittelbach zu begleiten, um sich gleich die genauesten Nachrichten über das Befinden des Kindes zu holen. Joachim war in demselben Augenblick in der Taißburg angelangt, als Fannys Wagen eintrafen und mit ihnen die Donnerkunde von der tödlichen Erkrankung des Kleinen. Eine Stunde später fuhr man ab, von der ganzen, teils enttäuschten, teils mitfühlenden Gesellschaft an den Wagen geleitet.

Die vier Gefährten sprachen wenig zusammen. Fanny saß, in ihren Pelzmantel gewickelt, in eine Ecke gedrückt und verfolgte mit den Augen die vorbeiziehenden Bäume oder Telegraphenstangen am Wege. Ihr Herz war so voll Sonnenschein und Glück, daß sie sich Mühe geben mußte, an die Kunde von Krankheit oder Tod zu glauben.

Joachim sah schlecht aus, überwacht und bleich, wie jemand, der viele Nächte durchtollt oder durchsorgt hat. Sein Gemüt war wie betäubt, eine Welt von Sorgen hatte sich auf seine Brust gewälzt: Fanny – Severina – das sterbende Kind – ihm war, als müßten die nächsten Stunden den Tod auch für ihn bringen.

Graf Taiß glaubte, daß es seine Pflicht sei, die von Angst gelähmten Geister seiner Freunde zu ermuntern; er fragte Joachim nach den Resultaten seiner[] Reise auf die Itzelburgischen Güter und ob er sich bei seinem zweimaligen Durchpassiren der Residenz in Berlin amüsirt habe. Darauf erzählte Joachim, daß er eine kleine Frist zur Entscheidung über die Annahme der Stellung sich vorbehalten, um nicht den Schein zu erwecken, er sei in der Lage, mit beiden Händen zugreifen zu müssen. In Berlin habe er sich vortrefflich amüsirt.

So floß mühsam ein Gespräch bald mit Joachim, bald mit Lanzenau hin wie eine Quelle, die sich nur schwer durch Gestrüpp ihren Weg bahnt. Und der Tag draußen, den sie durch die Wagenfenster sahen, war auch nicht darnach angethan, verstimmte Seelen zu erhellen.

Ueber der schneefreien, leichtgefrorenen Erde stand ein gleichmäßig hellgrauer Himmel, vollkommen sonnenlos und doch von jener blendenden Schärfe des Lichts, wie ihn nur der Norden kennt. An den dürren Knicken saß das braune Laub der Hainbuchen, der Wind rasselte darin; an den dünnästigen Kronen der Ebereschen saßen zum Teil noch die roten Beeren am blätterlosen Gezweig. Ueber die endlosen Stoppelbreiten rechts und links von den Wegen ging hie und da ein Pflug; dazwischen schoben sich Felder, welche die keimende Wintersaat schon mit leisem Grün überschleiert hatte.

»Ein vorzügliches Jagdwetter,« bemerkte Taiß, »schade um den zerstörten Plan.«

[] »O,« sagte Fanny und sah Joachim trostreich an, »ich hoffe, daß die Kunde, die uns ward, erst von der Angst Adriennens und dann vom Kutscher noch übertrieben ward und daß der Kleine schon bald so wohl ist, daß wir nach Herzenslust jagen können.«

»Gewiß,« meinte auch Lanzenau, »wenn der liebe Junge ernstlich krank wäre und in der That, wie der Kutscher erzählte, seit beinahe acht Tagen zu Besorgnissen Veranlassung gab, hätte doch Severina oder der Pastor geschrieben. Oder hatten Sie inzwischen irgendwelche Nachrichten von Fräulein Severina?«

»Ich – nein. Wie sollte ich?« sagte Joachim verwirrt.

»Wie sonderbar!« dachte Fanny befremdet und sah Lanzenau fragend an; »wie sollte Severina dazu kommen, an Joachim ... wie kann Lanzenau das voraussetzen?«

Und zu ihrer noch größeren Befremdung sah sie Joachims Gesicht in Glut aufflammen. Was bedeutete dies Erröten?

Eine Unruhe, ein Gefühl kam über sie, das noch kein Gedanke, keine Vermutung war, sondern nur eine dunkle, lähmende Empfindung.

Da fuhren sie auch schon in den Hof des Herrenhauses ein, da hielt der Wagen schon vor der Thür. Sekundenlang war ihnen allen, als seien ihnen die Füße zu schwer, um auszusteigen. Ein gewisses Etwas im Gesicht jenes Knechtes dort, der stillstand, um der [] Herrschaft zuzusehen; das Gesicht des Dieners, der das Hausthor öffnete; die verhängten Fenster, die man trotz der erwarteten Rückkunft der Hausbewohner zu lüften vergessen – dies alles gab ihnen jäh die schaurige Empfindung, die jeden befällt, der ein Haus des Todes betritt.

Fanny war die erste, die herauskam.

»Nun?« rief sie.

Der Diener trat zurück, um sie vorbei zu lassen, und senkte schweigend den Kopf.

»Das Kind – das Kind?« fragte sie mit stockendem Herzschlag. Sie hatte begriffen und fragte doch. Schon stand auch Joachim neben ihr, und da ihnen wieder keine Antwort wurde, wußten sie alles.

In der nächsten Minute riß Fanny oben die Thür auf und hielt die arme junge Mutter in ihren Armen. Joachim stürzte mit einem Jammerruf neben der kleinen Leiche nieder, die schon feierlich zugerichtet, mit allen Blumen, die das Treibhaus nur gegeben, umkränzt, mitten im Zimmer aufgebahrt stand.

Adrienne weinte leidenschaftlich, ihr Schmerz hatte Thränen und Worte, und sie klagte in Fannys Armen von den Stunden der Angst, die sie erlitten, von der namenlosen Sehnsucht, die ihr Herz nach dem Gatten, dem Ahnungslosen, Geliebten ergriffen habe. Ja, sie wandte sich, neu erschüttert, dem jungen Mann zu, der, das Gesicht in beiden Händen verborgen, heftig schluchzte.

[]

Sich an ihn lehnend, ihn mit beiden Armen umschlingend, flüsterte sie unter Thränen:

»Was wird unser Arnold sagen!? Er wird noch heute, noch morgen und viele Wochen von seinem Liebling träumen und nicht wissen, daß wir ihn verloren haben.«

»Warum hast Du mich nicht gerufen, damit ich bei Dir und ihm sein konnte? Nun kann ich Arnold nichts von der letzten Stunde seines Kindes sagen. Ich war fern – o Gott – vielleicht gerade in einem leichtsinnigen Vergnügen verstrickt!« klagte Joachim.

»Kommt,« sagte Fanny weinend, »quält euch nicht so. Wir wollen nicht an das Unabänderliche, Gewesene denken, sondern voraus, an unsern armen Arnold.«

Sie hatte gefühlt, daß endlich in dem Herzen der jungen Frau die rechte Gattenliebe erwacht war, und wußte, daß die Sehnsucht nach ihrem Manne der gesundeste Begleiter des natürlichen Kummers sein werde. – Adrienne antwortete auf Joachims Frage:

»Severina verhinderte mich, euch zu rufen.«

Joachim erschrak so, daß er zitterte; er hielt sich an dem Rand des kleinen Sarges fest und sah starr auf das stumme Kind hernieder.

So hatte er seine Pflicht erfüllt, seines Bruders Weib und Kind mannhaft beizustehen, dafern Leid und Not sie treffen sollte. In der schrecklichsten, bangsten Stunde ihres Lebens waren sie ohne den Halt [] und Trost seiner Liebe gewesen. In den letzten, erstickenden Minuten der Todesnot hatte er nicht als Wächter am Bette des Kindes gesessen, und warum nicht?

Severina hatte nicht den Mut gehabt, ihn zu sehen. Wegen seiner wankelmütigen Liebeständeleien hatte er dem geliebten und gefürchteten Bruder gegenüber sich diese Schuld, diese nie verzeihbare Unterlassungssünde aufgeladen.

Er blieb wie versteinert.

Fanny, nachdem sie noch lange liebevoll mit Adrienne gesprochen, zog sich zurück, nicht ohne mit leiser Hand Joachims Rechte geliebkost zu haben. Doch er schien diese ihre Berührung nicht zu bemerken.

Lanzenau hatte unterdes seine Anordnungen getroffen, nicht nach Driesa weiterzufahren, sondern mit Taiß hierzubleiben. Beiden schien es klüger, in der steten Nähe der Trauernden zu sein und diese durch ihre Gegenwart vor allzu heftiger Hingabe an den Kummer zu bewahren, denn sie wußten beide, daß Fanny alles mitfühlen würde, als sei ihr selbst ein Kind gestorben.

Lanzenau sprach auch mit Severina einige liebevolle Worte, er sagte ihr, daß Joachim in wenig Tagen der Inhaber einer vielbeneideten Stellung sein würde und daß man dann, wenn nur erst der frische Gram Adriennens ein bißchen verwunden sei, an Verlobung und Hochzeit denken könne. Er wunderte [] sich, daß Severina dies mit dem Gesicht einer Sphinx anhörte, steinern und rätselhaft im Ausdruck.

Dann zog er sich mit Taiß in ihre Zimmer zurück, wo beide Herren allein ihr Mahl nahmen und sich die Zeit mit Schachspiel kürzten.

Nachdem Fanny sich ein wenig besonnen und erfrischt hatte, kehrte sie zu Adrienne zurück, schickte Joachim fort, damit er mit dem Pastor das Nötige wegen der Beerdigung verabrede, die sie auf den nächsten Abend bestimmte, und versuchte ihr möglichstes, die junge Frau zu überreden, daß sie sich ein wenig zu Bett lege.

»Komm in mein Zimmer, das Mädchen kann so lange den Kleinen bewachen. Du mußt jetzt Deine Gesundheit doppelt schonen, denn wenn Arnold heimkehrt, soll zu dem Kummer über sein Kind nicht die Sorge für sein Weib kommen.«

Endlich halfen diese in allen Formen wiederholten und veränderten Vorstellungen, und Adrienne, die in der That vom Wachen und Weinen ganz entkräftet war, ließ sich in Fannys Bett legen, worauf Fanny dann ging, um endlich, endlich ein Wort mit »Achim« reden zu können.

Dieser war, nach schnell beendetem Geschäft beim Pastor, ins Haus zurückgekehrt und saß in jenem Wohnzimmer, wo Fanny ihn porträtirte und wo Severina ihnen das wilde Lied von Ginevra und Lanzelot gelesen. Er starrte zum Fenster hinaus in [] den winterlichen Park, in dessen Wegen kleine Wirbel welker Blätter entlang tanzten, und dachte, ob es nicht ein Traum gewesen, daß vor wenig Tagen noch Fanny, schön, vielgefeiert und geehrt, sich ihm zu eigen gegeben.

So fand ihn Severina, die ihn seit seiner Ankunft noch nicht gesehen. Langsam kam sie auf ihn zu, ihre Augen wurzelten ineinander. Sie konnten beide nicht sprechen, den beiden schlug das Herz bis zum Halse hinauf, und die heiße Erregung der Angst schnürte ihnen die Kehle zu. Jeder fürchtete, vom andern sein Todesurteil zu hören, Joachim, daß sie sagen würde: »Ich verachte Dich,« und sein ganzes Wesen wallte doch auf im Wunsche, sie zu küssen, Severina, daß er sagen könne: »Ich liebe Fanny allein,« und doch hätte sie ihr Leben dafür gegeben, noch einmal an seinen Lippen zu hängen.

»Severina,« murmelte er endlich, »kannst Du mir verzeihen? Bei Gott, es ist keine Lüge, ich liebe Dich!«

Severina atmete tief; es klang wie ein Seufzer. Eine seltsame Härte breitete sich plötzlich über ihre Züge.

»Du wirst Fanny die Wahrheit sagen,« sprach sie hart, »die Wahrheit, daß Du mein bist.«

»Wie kann ich das?« sagte er verzweifelt; »Fanny einen Schmerz zufügen – Fanny, der ich so vielen Dank schulde?«

»Das hättest Du Dir ins Gedächtnis rufen sollen, ehe Du ihr Herz betrogst.«

»Es ist kein Betrug.«

[] Severina zuckte die Achseln.

»Was soll denn werden?« fragte sie.

»Habe nur Geduld, ich muß ja einen Ausweg finden.«

Hier trat Fanny ein. Dasselbe unbestimmte Gefühl von Angst, das sie im Wagen schon empfunden, kehrte zurück, als sie die beiden allein mit Spuren tiefer Erregung im Gesicht fand. Es stieg, als Severina rasch, ohne ein Wort oder Blick an sie zu richten, hinausging.

»Was hat Severina?« fragte sie.

»Nichts. Was sollte sie haben?« fragte er befangen entgegen.

Fanny trat zu ihm, legte ihm beide Hände auf die Schultern und sah ihn tief an.

»Ich hatte Severina gefragt, wie alles gekommen und verlaufen sei mit der Krankheit des Kleinen,« antwortete er, errötend auf diesen Blick.

»Nein,« dachte Fanny, »das wäre zu schlecht – lügen – mir Aug' in Auge. Das kann er nicht.«

Aber sie sprach doch noch – all ihre Liebe lag in den schmeichelnden Lauten ihrer Stimme – sie sprach doch noch:

»Nicht wahr, Du hast Vertrauen zu mir, Du weißt, daß meine Liebe so groß ist, Dir alles zu verzeihen, nur das Verbrechen der Unwahrheit nicht?«

Ihn wandelte das Gelüst an, ein befreiendes Geständnis abzulegen, er fühlte beinahe gewiß, daß sie[] vergeben werde und doch sein guter Engel bleiben würde. Aber seine Liebe – nein, die würde sie dann nicht mehr annehmen. Und wie ein Blitzstrahl fiel die Erinnerung an die erlebten göttlichen Stunden entzückend in sein Blut.

»Fanny,« flüsterte er aufwallend, »ich liebe Dich.«

Das war ihr Antwort und Gelübde genug. Die Wahrheit sprach aus seinen aufblitzenden Augen.

Sie senkte den Blick, der sich von Glücksthränen trübte, und legte ihren Kopf gegen seine Schulter. Sie bedachten nicht, daß sie am Fenster standen und daß, wer draußen ging, sie so sehen konnte.

Draußen aber gingen Taiß und Lanzenau, die noch vor der nahen Dämmerung einen Spaziergang machen wollten, da der Baron von der langen Wagenfahrt am Morgen ganz steif zu sein behauptete. Sie sprachen gerade von der Möglichkeit, unter den ostelbischen Grundbesitzern ein gemeinsames Vorgehen bezüglich der notwendigen Flußkorrektion anzuregen, und Taiß hielt in dem ihm eigenen wohlgerundeten Periodenbau einen Vortrag über die Frage, als habe er den ganzen Kreistag vor sich, als Lanzenau einen eigentümlichen Ausruf that.

Ein gurgelnder, halberstickter Laut kam von seinen Lippen. Taiß sah ihn entsetzt an und dachte, der Baron bekäme einen Schlag. Sein farbloses Gesicht war bläulich geworden, sein Mund stand auf, die Augen waren starr.

[] »Was ist Ihnen, Lanzenau? Hören Sie doch!« Taiß legte den Arm um ihn.

Lanzenau atmete schwer, wollte weiter gehen, doch knickten ihm die Kniee ein.

»Das ist ja ein Unglückstag. Lanzenau – was ist Ihnen?«

»Nichts,« lallte er.

»O – da sehe ich zum Glück Fanny und Herebrecht am Fenster – sie sind auf uns aufmerksam geworden,« sagte Taiß erleichtert.

Alsbald kam Joachim durch den Saal über die Terrasse herbeigelaufen. Doch als er Lanzenau mit stützen wollte, fand dieser in übermenschlicher Bezwingung seine Kräfte wieder und wehrte dem jungen Mann mit einem solchen Blick des Hasses, daß selbst Taiß davor erschrak.

»Der arme Lanzenau,« dachte der Graf, während, auf seinen Arm gestützt, dieser mit ihm dem Haus zuschritt und Joachim, blaß und scheu, folgte, »der arme Kerl – leidet an Ischias, an schlagartigen Blutstockungen und an allen möglichen anderen mementi mori und plagt sich noch obenein mit Eifersucht.«

Fanny eilte dem Freunde schon besorgt entgegen und geleitete ihn in das Wohnzimmer, wo er sich auf die Ottomane legen mußte und von ihr mit starken Weinen, kalten Kompressen und dergleichen gepflegt wurde.

[] Der Anfall ging schnell vorüber, aber Lanzenau gönnte sich die schmerzliche Wollust, von ihr so sorgfältig bewacht zu werden. Er lag still und lang ausgestreckt; seine Gestalt war bis zur Brusthöhe mit Fannys türkischem Shawl bedeckt, sein Monocle hing an der schwarzen Schnur seitwärts herab, in dem kleinen runden Glas, das an dem bunten Stoff lag, blinkte der Lampenschein vom Tisch her wider. Lanzenau sah mit halbgeschlossenen Augen hinüber, wo Fanny mit Taiß still Zeitungen las. Das zeitweilige knitternde Umschlagen der großen Papierfläche der »Kölnischen« war der einzige Ton, der durch das ruhige Zimmer ging. Sehr oft hob Fanny das Auge und sah aufmerksam zu dem Leidenden hinüber. Der beobachtete jeden dieser liebevollen Blicke und erregte sich immer schmerzlicher davon.

So gut, so selbstvergessen war sie in der Freundschaft, welche unermeßliche Schrankenlosigkeit mußte ihr Gefühl in der Liebe haben! Und das alles hatte sie weggeworfen an diesen flatterhaften Jüngling.

Lanzenau glaubte sich wieder ganz wohl, ganz kühl und klar; und doch irrten seine Gedanken fiebernd umher. Bald dachte er grollend an Joachim, der oben bei seiner Schwägerin saß und an den fernen Bruder schrieb, bald stellte er sich vor, was Fanny sagen würde, wenn sie von dem Verrat erfuhr. Es würde sie töten – gewiß, das würde es. Nichts würde sie so schwer treffen, nicht einmal, wenn Joachim plötzlich [] stürbe, als sich belogen zu sehen. Immer fieberischer dachte Lanzenau darüber nach, auf welche Weise man Joachim von Fanny trennen könne, ohne daß sie erführe, warum.

Joachim mußte sterben, das stand zuletzt für Lanzenau fest. Aber wie? Ihn zum Duell fordern? Der junge Mann war der bessere Schütze, und da es um Leben und Tod ging, würde er den Gegner einfach niederschießen. Aber sterben mußte er – sterben. Um seinen Tod durfte Fanny weinen, nicht um seinen Verrat.

Er stöhnte. Sofort erhob Fanny sich und erneute den kalten Umschlag auf seiner Stirn.

»Lieber Lanzenau,« sagte sie mit ihrer zärtlichsten Betonung, »Ihre Stirn brennt, Sie sollten lieber ins Bett gehen.«

»Ja – ja,« stotterte er und versuchte mühsam, sich zu erheben.

Taiß sprang herzu und stützte ihn.

»Morgen wird es besser sein,« sagte Lanzenau heiser.

In der That schien er am nächsten Tag für den oberflächlichen Blick ganz wie sonst. Er war bei all den traurigen Vorgängen gegenwärtig, die ein Begräbnis mit sich bringt, ja, gab noch selbst Anordnungen, um die Feierlichkeit desselben zu erhöhen.

An diesem Tage traf auch, der erste seit vielen, vielen Wochen, ein Brief von Arnold ein. Es erschien[] allen wie eine barmherzige Fügung des Zufalls, und Adrienne begrüßte es ekstatisch wie ein Zeichen von Gott; sie vergaß, daß sie sich allesamt schon lange ausgerechnet hatten, es müsse um den ersten Dezember herum ein Brief kommen.

Die junge Frau las die teure Botschaft in Fannys Gegenwart, und diese beobachtete schweigend die dunkle Glut höchster Erregung, die in Adriennens Gesicht beim Lesen stieg.

»Mein geliebtes Weib,« schrieb der Kapitän, »Du wirst bis jetzt drei Briefe von mir empfangen haben. Ich schrieb sie alle voll von Liebe und Sehnsucht nach Dir und unserem süßen Knaben. Aber sieh, seit kurzem faßt mich oft ein seltsames Bangen. Habe ich für diese Liebe denn auch so deutliche Worte gefunden, daß sie Dir offenbar ward? Habe ich nicht da mals, als wir noch zusammen sein konnten, auch gefehlt, indem ich zu sehr in mich verschloß, was doch mein ganzes Wesen füllte? Ich forderte von Dir, Du solltest meine Art vertrauend verstehen, aber um das zu fordern, hätte ich erst in Deiner Sprache mit Dir reden sollen, begreifen müssen, daß das Herz eines jungen Weibes reichlicher und ausführlicher der Neigung des Gatten versichert sein will.

Wie mir diese Erkenntnis so kam? Du erwartest vielleicht, daß ich Dir irgend ein romantisches oder gefahrvolles Erlebnis berichte, das an meiner Seele also rüttelte. Nichts dergleichen! Du weißt, es liegt[] nicht in meiner Natur, äußere Vorgänge auf mich einwirken zu lassen, es muß sich alles von innen heraus mir entwickeln und sich mir aus meiner Erkenntnis als Wahrheit aufdrängen. So wuchs mir auch aus dem Kern des unbefriedigten Wunsches, nur einmal Dein rötliches Haar und Dein liebes blasses Gesicht zu sehen, mit tausend Zweigen die fortrankende Sehnsucht hervor. Und dann kam der Gedanke, ob Dir eine schmerzlich-liebe Ahnung wohl von meinem Sehnen etwas sage. Unser Abschied fiel mir ein. Jede herbe, sonnenlose Stunde ward wach, die wir schon erlebt. Nein – ich fühlte, meine Sehnsucht konntest Du nicht erraten, denn Du glaubtest nicht an meine Liebe.

So wuchs es weiter. Einmal sagte ich mir: ›Der Prediger auf der Kanzel wird nicht müde, den Glauben zu verkünden; der Lehrer in der Schule hat die nimmerlästige Geduld, Unwissende zu belehren; tausendfältig müssen wir in unserem Beruf oder in unseren Verpflichtungen als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft gleichgiltige Dinge wieder und wieder sagen, und ich war zu stolz, Dir das Wichtigste, das Heiligste so lange zu wiederholen, bis Du es glaubtest?!‹

Mein Weib – ich liebe Dich; und wenn ich erst bei Dir bin, werden auch meine Lippen die rechten Worte finden, es Dir zu verkünden. Früher, als wir scheidend dachten, kehre ich heim. Im Frühling wird die Besatzung abgelöst. In den beifolgenden Tagebuchblättern findest Du alles Wissenswerte über unsern [] hiesigen Aufenthalt; sie sind zum Mitteilen für Fanny Förster und meinen Joachim bestimmt, den ich mit Freuden bei euch weiß. Mein kleiner Joachim kann noch nichts von mir empfangen, weder Mitteilung noch Gruß; aber Du, mein Weib, Du drücke ihn an Dein Herz und liebe ihn doppelt.

Meine Adrienne – wirst Du mir glauben, mich verstehen? Noch einmal sage ich Dir: Ich liebe Dich.«

Dieses Blatt kam aus Sansibar und trug das Datum des 27. September. Es war an demselben Tag geschrieben, an welchem damals Adrienne ihren leidenschaftlichen Brief mit dem Ruf der Liebe und Reue an ihn gerichtet hatte, und dieser Brief mochte auch gerade in diesen Tagen in seine Hände gekommen sein.

Weinend wiederholte Adrienne die Weisung ihres Gatten, das Kind an ihr Herz zu drücken, und Fanny hatte alle Mühe, sie zu beruhigen.

Der Kummer und die Thränen der jungen Frau ängstigten Fanny aber nicht, es war eine gesunde und natürliche Art, den Gram zu äußern. Und unter den Thränen sah Fanny schon die Morgenröte eines künftigen, wirklichen und dauernden Glücks für Adrienne und Arnold von Herebrecht.

[]

Fünfzehntes Kapitel

»Wenn Sie mich noch haben wollen,« sagte Graf Taiß am Tage nach dem Begräbnis des Kindes, »so bleibe ich noch. Um die Wahrheit zu sagen: Lanzenau macht mir den Eindruck eines Menschen, der nicht alle seine fünf Sinne richtig beisammen hat. Ich kann kein Gespräch vernünftig mehr mit ihm zu Ende führen, er ist wie ein Berauschter, der keinen logischen Gedankengang hat, sondern irgend einer thörichten Idee nachbrütet.«

»Wir wollen nach dem Arzt schicken,« sprach Fanny erschreckt, »wenn Lanzenau nur keinen Schlaganfall oder dergleichen bekommt.«

»Bewegung im Freien möchte ihm besser sein als alle Medizin. Wie wäre es, wenn wir einen kleinen Streifzug unternähmen, um für unsern Tisch einen Rehrücken zu erjagen?« schlug der Graf vor, der aus der eigenen Lust an der Jagd die Meinung faßte, es müsse für jedermann die beste Erholung sein.

»Wir können Lanzenau ja fragen, doch bezweifle[] ich bei seiner Anlage zur Ischias, daß er zustimmt,« meinte sie bedenklich.

»Ich bitte Sie – bei dem herrlichen Jagdwetter!«

Das herrliche Jagdwetter war ein nebelgrauer Tag, an dem weder Wind noch Sonne die dichten Dunstschleier zwischen den Bäumen zerstreute, die am frühen Morgen im Rauhreif standen und ihren Schmuck zusehends verstärkten.

Zu Fannys Erstaunen ergriff Lanzenau den Vorschlag mit Hast. Es war selbstverständlich, daß Joachim bei der Partie sein mußte, und zu Taiß' unendlicher Befriedigung zogen die drei im winterlichen Jägerschmuck eine Stunde später waldwärts.

Fanny sah ihnen lächelnd nach und dachte, daß weniger die Sorge um Lanzenau den Grafen zum Bleiben bewogen als die Unmöglichkeit, eine so gute Jagd ungejagt zu lassen. Auch beruhigte sie der Umstand sehr, daß Lanzenau, der dies Vergnügen so gar nicht liebte, sich auschloß. Trotzdem schickte sie einen reitenden Boten zum Arzt.

Die drei Jäger fanden den Wald wie eine ungeheure, auf die Erde gelagerte weißgraue Wolke mit schwarzen, senkrechten Streifen durchschossen. Das weißbereifte Gewipfel hob sich kaum von dem Nebeldunst ab. Das welke Laub am Boden war an der Oberfläche von leichtem Frost gekraust, wenn der schreitende Fuß in diesen Winterteppich hineinstieß, zeigte sich [] das braune Blattwerk von Nässe schwer. Der Atem dampfte vor den Lippen der Männer und bereifte ihre Bärte.

Lanzenau hatte die Hände in seinem Jagdmuff eng zusammengefaltet und ging steifbeiniger denn je; ihn fror entsetzlich, auch konnte er dem raschen Schritt des Grafen kaum folgen. Ihn ärgerte die lustige Jagdgeschichte, die Taiß erzählte; alles in der Welt erschien ihm unbedeutend und nebensächlich. Er dachte nur an eines, an das Schwert, das an einem Haar über Fannys Haupt hing. Joachim hörte wenigstens mit der Miene leidlichen Interesses zu, aber er sah düster und gedrückt drein.

Endlich kamen sie an die Stelle, wo der Rehbock, auf den sie fahndeten, zu wechseln pflegte, und Joachim wies den beiden anderen ihre Stände an.

Lanzenau stand an dem Stamm einer riesigen Buche. Rings umgab ihn das dichte Unterholz, aus dem er mit halbem Leibe ragte. Die feierliche Stille und das weiße Licht im bereiften Wald legten sich wie eine Beklemmung um seine Brust, auch blendete ihn die stechende, helle Luft, die hell ohne Klarheit war. In sein Gehirn kam jene seltsame Gedankenlosigkeit, die einen befallen kann, wenn lange Zeit eine schreckliche Idee über Verstand und Gemüt herrschte und beide bis zur Unfähigkeit der Empfindung betäubte. Mitten hinein in diese Minuten des bloß mechanischen Daseins fiel ihm eine [] Erinnerung – ein Wort nur – er wußte nicht, woher es ihm kam.

»Ein Stoß, und er verstummt.«

Es gehörte auch Musik zu den Worten – er hörte sie deutlich singen. Frost lief ihm über den Rücken hinunter. »Ha, welch ein Augenblick!« Richtig, das sang Pizarro in »Fidelio«. Er erinnerte sich, daß ihm jedesmal, wenn er diese Arie im Theater gehört hatte oder am Klavier vernahm, derselbe Frost den Rücken hinunter gelaufen war. Was für ein Unsinn, daß ihm hier und jetzt die dämonische Musik einfiel.

Es knackte in den Zweigen. Er schrak zusammen und lauschte wieder auf das Wild.

Dabei summte es in ihm: »Ein Stoß, und er verstummt!« Unerträglich!

Wieder ein leises Krachen, wie vom leichten Tritt des grazilen Tieres auf dürrem Astwerk. Und da – das Graubraune dort – wie der Rücken eines lagernden Rehes. Er legte an und schoß. Der Rauch wölkte auf und verzog sich. Lanzenau ging, sich mühsam bahnbrechend durch verschränktes Gezweig auf die Stelle zu. Da lag, anstatt eines erlegten Wildes ein großer Feldstein. Lanzenau stieg das Blut ins Gesicht: was war das denn mit seinen Augen?! Und nun, vom Aerger, begann das Flimmern in der Luft vor ihm erst recht arg zu werden.

Aber da – da wurde es laut. Es brach durchs [] Unterholz, nun sah er's gewiß und konnte den jammervollen, unglaublichen Schuß von eben auswetzen. Die Büchse an der Wange – die zitternde Hand am Hahn – es blitzt – das bläuliche Wölkchen flockt sich empor. Aber zugleich ein Schrei – kein Schrei aus dem Rachen eines verendenden Tieres, nicht dieser unsäglich wehvolle Laut, der sich dem sonst stummen Geschöpf als letzter Schrei der Lebensnot entringt – nein, ein Schrei wie aus einer Männerkehle.

Lanzenau steht entgeistert – wankt – packt mit der Faust in das nächste Buschwerk. Er will hingehen, seine Füße heben sich nicht. Er will rufen, seine Lippen lallen.

Da kommt es von der andern Seite. Taiß wird sichtbar, die hohe Gestalt nähert sich rasch unter den weißen Baumkronen.

Lanzenau bebt, daß seine Zähne auf einander schlagen. »Er wird mir sagen, daß ich ihn erschoß!« denkt er und sieht dem Grafen mit entsetzten Augen entgegen. Doch der hemmt plötzlich den eiligen Fuß, er bückt sich, er kniet nieder und ruft etwas Erschrecktes.

Da bezwingt Lanzenau sich und schreitet hin mit eingeknickten Knieen, den Fuß bei jedem Tritt hoch aufhebend.

Und nun steht er Taiß gegenüber, zwischen ihnen liegt Joachim am Boden.

Taiß hebt den Blick und sieht Lanzenau an. Ihre[] Augen wurzeln fest und lange in einander. Wie einer Macht gehorchend, die ihn zwingt, murmelt Lanzenau:

»Was Sie denken, ist nicht wahr; der Schuß war ein unglücklicher Zufall.« Und dabei hört er es laut singen: »Ein Stoß, und er verstummt!«

Taiß wendet noch immer nicht den Blick.

»Bei Ihrer Ehre?«

»Bei Gott und meiner Ehre – ja!«

An Joachims Schulter färbt sich die graue Joppe dunkel, man sieht, eine Flüssigkeit saugt sich im rauhen Wollstoff weiter und weiter.

»Schnelle Hilfe thut not,« sagt Taiß, »ich eile ins Dorf, ein paar Leute zu holen. In zwanzig Minuten kann ich zurück sein.«

So blieb Lanzenau allein mit dem Verwundeten. Er nahm seinen Jagdmuff, den er an einer Schnur um den Hals trug, und schob ihn vorsichtig unter den blonden Kopf. Dann stützte er sich auf seine Büchse und blickte stehend auf sein Opfer nieder.

Dieselbe Gedankenlosigkeit von vorhin kam wieder mit ihrer totenhaften Leere über ihn, und immer hörte er dabei die entsetzlichen Worte mit der düstern Melodie.

Plötzlich erschrak er, daß seine Pulse stockten. Joachim schlug die Augen auf. Sie sahen sich stumm an. Die Lider sanken ihm nieder. Mühsam hob er sie zum zweitenmal.

[] »Taiß oder Sie?« murmelte Joachim.

»Ich!« sagte Lanzenau.

Joachim schloß die Augen und blieb unbeweglich. Es schien, als wollte ihn zum zweitenmal Bewußtlosigkeit übermannen. Lanzenau beugte sich zu ihm und sagte:

»Es wird sofort Hilfe kommen. Wie ist Ihnen?«

»Die Schulter,« murmelte er, »es brennt.«

Nach einigen weiteren stummen Minuten kam der Graf, atemlos vom Laufen. Er hatte vier Tagelöhner aus dem Dorf mit, die eine breite Heuleiter trugen, auf der ein blauweiß gewürfeltes Stück Bettzeug lag. Man hob Joachim auf diese seltsame Tragbahre, und im Schritt ging es zurück.

Taiß berichtete, daß er einen Jungen, der ihm gerade in den Wurf gekommen, beauftragt habe, Fanny zu benachrichtigen, da selbst ins Herrenhaus Kunde zu bringen und von da die Hilfe zu holen eine Verzögerung bedeutet hätte.

Wohl hatte der Junge den Auftrag ausgeführt, aber er konnte den erschreckten Frauen nicht sagen, wen ein Unfall betroffen habe und welcher Art dieser gewesen. Fanny und Severina fragten hin und her; sie begriffen, daß es Taiß gewesen sein mußte, der den Jungen geschickt, denn die abgefragte Personalbeschreibung paßte nur auf diesen. Also war Lanzenau im Wald erkrankt.

O, das war auch wohl zu denken gewesen; wie[] konnte er überhaupt nach seinem vorgestrigen Befinden solches Unternehmen wagen?!

»Warum habe ich ihm nicht abgeraten!« klagte Fanny.

Aber sie war nicht die Frau, sich in thatenlosen Jammerreden zu ergehen; sie trieb die Dienerschaft zu Vorbereitungen an und eilte selbst, mit Severina im Wohnzimmer Platz zu schaffen für ein Bett, da es ihr nicht geraten schien, den Kranken die Treppe hinauf tragen zu lassen.

»Wir müssen uns sehr eilen, sie können in einer halben Stunde hier sein,« sagte sie, die Zeit nach der Ankunft des Boten ungefähr berechnend. Aber was sie nicht mit berechnen konnte, waren die zehn Minuten, die der Junge gebraucht hatte, um die von Taiß zur Anspornung des Eifers erhaltenen Groschen beim Krämer in Bonbons umzusetzen und einige davon zu verzehren.

So geschah es, daß der traurige Zug über den Hof daher kam, ohne daß schon jemand ausschaute, und das Haus betrat, ohne daß die im hinteren Wohnzimmer eifrig hantirenden Frauen aufmerksam wurden. Die Dienerschaft, die herzulief, war nicht wenig erstaunt, daß der Herr Baron, den man vom Schlage gerührt wähnte, aufrecht neben der Bahre schritt, auf welcher – o, wie betrübend! – der »junge Herr« lag. Was würde Frau Förster für einen Schreck bekommen! Man wies die Träger nach dem Wohnzimmer, wohin [] sie durch den Gartensaal gelangten, und alles drängte sich mit jenem Instinkt nach, der aus Mitleid und Neugierde zusammengesetzt ist.

Lanzenau hatte bis hieher die Kraft gehabt, sicher einherzugehen; nun er vor Fannys Angesicht erscheinen sollte, schwindelte ihm; er lehnte sich neben der Thür an die Wand und barg das Gesicht in der Hand. Die Thür that sich auf, Fanny und Severina standen sekundenlang in der Regungslosigkeit, mit welcher man auf eine schmerzliche, schon halb geahnte Wahrheit wartet. Wenn Lanzenau tot wäre ... Graf Taiß sah so ernst, so bleich aus – Fanny zitterte.

Die Träger ließen ihre Bahre vorsichtig nieder. Da wurden vier Augen starr und weit – unter dem Tuch, welches das Gesicht und die Gestalt des Liegenden verbarg, stahl sich ein blonder Haarschopf hervor – Fanny bewegte sich vorwärts, auf die Bahre zu – blaß wie der Tod – langsam – langsam.

Und da gellte ein Schrei durch das Zimmer. Severina hatte ihn ausgestoßen. Sie stürzte neben der Bahre nieder, sie riß das Tuch von seinem Angesicht, sie warf sich über ihn.

»Joachim – Joachim!«

Sie schüttelt ihn. Er stöhnt leise.

»Stirb mir nicht!«

Er schlägt die Augen auf – ihr Angesicht ist über dem seinen.

»Sei ruhig, mein Herz – es – ist – nicht [] schlimm!« Und von der ungeheuren Anstrengung dieser Worte fällt er wieder in die Müdigkeit zurück, die bis an die Grenze der Bewußtlosigkeit geht.

Eine fürchterliche Stummheit legt sich über all die vielen Menschen.

Taiß denkt, daß es seine Pflicht ist, zu Fanny zu treten und seinen Arm schützend um sie zu legen. Aber er wagt es nicht, sein Herz erschrickt vor ihrem Angesicht.

Die Dienerschaft starrt bang die geliebte Herrin an; sie hat es von der Jungfer vernommen, die mit in der Taißburg war, daß der »junge Herr« wohl bald überhaupt »der Herr« sein werde, und sie hat sich seitdem heftig unter einander gestritten, denn einige von ihnen haben den jungen Herrn mit dem Fräulein gesehen! Die Jungfer weint und möchte hinlaufen, um ihrer gütigen Frau die Hand zu küssen. Sie wagt es nicht, denn die steht da wie ein Bild von Stein.

Wie lange die Stummheit dauert, niemand kann es sagen.

Da bewegt Fanny Förster sich. Sie schreitet vorwärts, alles weicht vor ihr zurück, sie aber sieht niemand. Und niemand wagt ein Wort an sie, nicht einmal Taiß. Die Majestät des Unglücks hat sie auf unerreichbare Gletscherhöhen gehoben. Ihr Gesicht ist wie der Tod und das Licht in ihren Augen erloschen.

[] So schreitet sie auch an Lanzenau vorüber, er aber sieht ihr nach mit gramvollen Blicken; er weiß, daß jetzt das Schwert in ihrem Herzen sitzt.

Fanny ging in ihr Zimmer; ihre Füße trugen sie aus Gewohnheit die Treppe hinauf. Sie setzte sich auf das Sofa und faltete ihre Hände auf den Knieen. In sich zusammengesunken saß sie so und sah vor sich hin. Keine Thräne kam aus ihren Augen. Stunden verrannen. Kein Laut drang aus den anderen Räumen hieher, die Ruhe des Todes herrschte. Wer draußen auf dem Korridor vorüber mußte, schlich wie an einem Schlafenden behutsam vorbei.

Die Dämmerung kam, das Tageslicht wich zurück, das Geäst der Lindenkronen vor dem Fenster verfrühte im Gemache noch die Dunkelheit.

Leise öffnete sich die Thür, Fanny merkte es nicht. Erst als Lanzenau vor ihr stand und halblaut sagte: »Fanny!«, erst da hob sie ihr Gesicht zu ihm, ein weißes, ausdrucksloses Gesicht.

»Fanny, ich möchte mit Ihnen sprechen,« sagte er bittend.

»Wer hat mir noch etwas zu sagen?« fragte sie.

Waren diese tonlosen, rauhen Laute Fannys Stimme? Er setzte sich neben Fanny; er dachte ihre Hand in die seine zu nehmen, aber ihre Hände lagen unbeweglich, gefaltet auf ihren Knieen.

[] Er suchte nach Worten. Was zuerst und wie am zartesten sollte er zu ihr sprechen? Da fragte sie:

»Ist er tot?«

Es überlief ihn wie ein Schauder. Sie hatte gefragt, als wenn sie etwa sagte: »Regnet es?«

»Ist er tot?« Noch einmal so.

»Nein,« sagte Lanzenau langsam; »der Arzt, der für mich berufen worden war, kam und fand den unerwarteten Patienten nur vom Blutverlust sehr geschwächt; die Kugel ließ sich leicht aus dem Fleische des Oberarms entfernen, die Wunde wird sich schnell schließen, ein Knochen ist nicht verletzt. Taiß und Adrienne teilen sich in die Pflege; es sind keine Veranstaltungen nötig gewesen, als ein antiseptischer Verband und Eis auf den Kopf. Adrienne wollte zu Ihnen, ich habe es verhindert.«

Er konnte aus keiner Bewegung entnehmen, ob Fanny ihm zuhörte.

»Sie fragen nicht, teure Fanny, wie das Unglück geschah!«

Fanny schwieg.

»Ihnen das zu sagen bin ich gekommen,« fuhr er fort; »ich wartete die Dämmerung ab, weil ich nicht den Mut hatte, im Tageslicht Ihr Gesicht zu sehen. – Ich, Fanny, ich habe auf ihn geschossen.«

Nach einer kurzen Pause sagte sie mit derselben fremden, unnatürlichen Stimme:

»Sie haben recht daran gethan!«

[]

Er erschrak so sehr, daß ihm eine Weile die Stimme versagte.

»Fanny,« begann er, sich bezwingend, »ich muß Ihnen etwas Schreckliches gestehen: ich haßte diesen Mann, seit ich wußte, daß Sie ihn mit Ihrer Liebe beglückten. Ich sah Sie und ihn vorgestern am Fenster, und er küßte Sie. Er aber, ich wußte es lange, hatte auch mit dem Mädchen von Liebe gesprochen. Da kam es über mich – es war nicht so klar wie ein bestimmter Plan, nicht einmal ein Gedanke – es kam wie ein dunkler Wunsch in meine Seele, daß er sterben möge, damit Sie lieber seinen Tod als seinen Verrat beweinen möchten. Ich weiß gewiß, daß ich in diesem dunklen Wunsch den Vorschlag zur Jagd annahm. Alle Unglücksfälle, die bei solchen Gelegenheiten vorgekommen, fielen mir ein: wenn Taiß sich irrte – wenn Joachims Büchse ihm in der Hand platzte – lauter sonderbare, unwahrscheinliche Sachen. Ich dachte auch nach über alles, was nach solchem Unglücksfall geschehen konnte. Und als ich allein im Walde stand, da kam's mir plötzlich: wie, wenn meine Hand ihn niederstreckte unter der Maske des Zufalls? Es war ein fiebernder Gedanke, kein Entschluß – bei Gott, noch kein Entschluß! Und als mein getrübtes Auge, meine zitternde Hand erst einen Stein, dann Joachims graubraunen Jagdrock für das Tier, das wir jagten, genommen, da – da begriff ich, daß ich in Ge danken ein Mörder gewesen, daß die [] Gedankensünde mir als That angerechnet werden müsse, weil ein Zufall sie wahr gemacht. Nicht vor anderen Menschen – nicht vor Taiß, der mich darum befragte – nein, aber vor Ihnen, Fanny, vor Ihnen bin ich schuldig, denn ich wollte Ihnen das Liebste töten, das die Erde für Sie trägt, und ich bedachte nicht, daß auch an seiner Leiche der Verrat noch offenbar werden würde, wie er an seiner Wunde offenbar geworden. Verzeihen Sie mir?«

Sein Ton war matt geworden, die lange Erzählung hatte ihn sehr gemartert.

»Nein,« sagte Fanny vor sich hin, »nein, ich verzeihe Ihnen nicht, daß Sie ihn nicht in sein Herz geschossen haben.«

»Fanny, teure Fanny, seine unbedachte Jugend verdient nicht die Wucht Ihres Hasses,« rief Lanzenau entsetzt. »Sie werden diesen Schmerz überwinden. Was konnte Ihnen der junge, unbedeutende Mann sein? Eine ästhetische Aufwallung! Sie werden ihn vergessen.«

Sie schwieg.

»Fanny,« sagte er leise, »o Fanny, wie habe ich Dich lieb!«

Es war der Trost, den sein Herz ihr zu bieten hatte, ihr das zu sagen. Sie aber löste ihre Glieder aus der erstarrten Ruhe, sie fuhr zusammen. Wie widerwärtig ihr das klang – und einst dasselbe, ganz dasselbe Wort aus Joachims Mund so süß.

[] Wie leer sind Liebesworte! Nur in dem Mund, aus dem sie gehen, wohnt der Zauber.

Fanny warf sich zu Boden und legte ihr Gesicht auf die Kissen des Sofas.

»Haben Sie ihn so sehr geliebt, Fanny?« fragte Lanzenau erschüttert. »Was fanden Sie an ihm?«

Sie erhob ihr Gesicht; es war so dunkel, daß man es nur weiß schimmern sah, ohne ihre Züge zu erkennen.

»Was er mir war? Wie ich ihn erkor?« fragte sie leise, als richte sie an keinen Menschen, sondern an ein unsichtbares Wesen das Wort, »warum gerade ihn – vor so vielen, vielen, die der höchsten Liebe, der höchsten Bewunderung wert waren? Ich weiß es nicht. Wunder kann man nicht erklären. Ich mußte. In ihm fühlte ich mich vollkommen als Weib, ihm glückselig unterthan. Die Vergangenheit mit ihrem ganzen Inhalt an Arbeit und Freude, die Zukunft mit ihrem ganzen Inhalt an Gram ist nichts. Ich habe nicht gelebt außer in den Stunden, wo ich mit ihm war. Sein Wert? Dagegen der meine? Handelt die Liebe mit Werten?«

»Fanny,« flüsterte er, »so können, so werden Sie ihm verzeihen. Severina muß entsagen.«

All sein Haß, seine wahnsinnige Eifersucht erstarb in der wachsenden Angst, sie zu Grunde gehen zu sehen.

»Nein,« sagte Fanny mit eisernem Ausdruck, »ich hasse ihn!«

[] Er schwieg. Was konnte er noch sagen? Er fühlte, ihr Herz glich erstarrter Lava. Worte konnten sie nicht wieder schmelzen.

Lange saß er stumm, während sie neben ihm kniete. Endlich erhob sie sich und schritt an das Fenster.

Er wollte sich unhörbar entfernen; Einsamkeit, dachte er, sei ihr das willkommenste. Aber sie vernahm ihn doch und fragte, als er schon die Thürklinke faßte, ohne sich zu wenden:

»Weiß sie es?«

Er verstand – ob Severina von dem Doppelspiel wisse?

»Noch nicht – so viel ich weiß.«

»Laßt ihr den Glauben,« sagte Fanny mit erstickter Stimme. Aber es war doch der alte, milde, erbarmende Ton darin, der verkündete, daß die Fanny von ehedem nicht ganz gestorben sei. Lanzenau fühlte, daß seine Augen naß wurden.

Er ging. Fanny blieb am Fenster stehen. Nach einer Weile klopfte es, und gleich darauf trat die Jungfer herein, stellte eine Lampe und Thee auf den Tisch mitten im Zimmer. Lanzenau hatte sie geschickt und ihr befohlen, kein Wort zu sprechen, sowie sich sofort und schweigend zu entfernen. Das treue Mädchen folgte dem Befehl, nicht ohne auf die regungslose Gestalt der Herrin einen Blick tiefer Sorge zu werfen.

Als sie hinaus war, wandte Fanny sich um und ging an den Tisch.

[] Ihr Gaumen brannte, ihre Lippen waren trocken; sie schenkte sich eine Tasse Thee ein und führte dieselbe, sie wie ein henkelloses Gefäß mit den Fingern umspannend, zum Munde. Sie fühlte nicht, daß die heiße Brühe durch das dünne Sèvresporzellan brannte.

Plötzlich ward die Thür aufgerissen, Severina kam herein.

Fannys Finger krampften sich zusammen, die feine Tasse zerdrückend, und mit den Scherben goß sich der glühende Trank an Fannys Gewand herab.

»Er schläft endlich,« sagte Severina, dicht an Fanny herantretend; »nun ließ es mich nicht länger. Ich muß Sie fragen, ob Sie ihn mir wirklich nehmen wollen?«

Die glanzlosen, müden Augen Fannys hafteten auf dem Gesicht des Mädchens.

Das also war sie, die er vor ihr geliebt. Fannys Seele hatte alle Energie verloren, sie wunderte sich nicht einmal.

»Er schrieb es mir,« fuhr Severina fort, mit funkelnden Blicken Fanny messend, »er klagte mir, ob es denn möglich sei, daß ein Herz zugleich zwei Frauen umfassen könne, er legte in meine Hände die Entscheidung. Er rechnete vielleicht auf meinen Edelmut, ich sollte ihn freigeben, damit er der Gatte der reichsten und angesehensten Frau werden könne.«

Da regte sich etwas in Fannys Herzen; durch die Erstarrung ging es wie ein Riß. Sie fühlte ganz [] deutlich, daß dieses Mädchen ihn nicht so tief, so grenzenlos blind liebte, wie sie selbst es gethan. Es war niedrig von ihr, Joachim der Berechnung zu verdächtigen, und – das fühlte Fanny auch – solche Art Unlauterkeit hatte nie in Joachims adeligem Sinn Platz gehabt.

»Severina,« sagte Fanny leise, »ist denn an mir nur Geld und Stellung liebenswert?«

Das Mädchen erschrak und verfiel von der auftrotzenden Zornesstimmung unvermittelt in den größten Jammer. Fannys Ton hatte sie tief erschüttert. Sie fiel ihr aufweinend um den Hals. Fanny stand wie eine Statue.

»Lassen Sie ihn mir. Er ist so schwach. Er wird thun, was Sie befehlen. Sie haben so viel in der Welt. Ich habe nichts als ihn.«

Dieses Mädchens ganze Jugend, von ihren frühen Kinderjahren her, wäre freudlos und liebearm gewesen, wenn Fannys Güte ihr nicht alles, alles ersetzt hätte, was sonst ein geduldiges Mutterherz einem Mädchen geben kann. Hundertmal war das Gelöbnis ewiger Dankbarkeit von ihren Lippen gegangen, die Versicherung der anhänglichsten Liebe, der Wunsch, daß einmal eine Gelegenheit kommen möge, diese Liebe zu bethätigen.

Um Fannys Lippen schlich ein Lächeln. Nun kam auch nicht einmal in leisester Aufwallung der Gedanke in Severinas Herz, um Fannys willen zu entsagen,[] nicht einmal ein Gedanke des Mitleids kam, daß doch auch Fanny leide.

»Laß mich allein,« sagte sie, das Mädchen von sich wehrend, »morgen ist auch ein Tag und morgen ...«

»Morgen?« drängte Severina fragend, als Fanny stockte.

»Morgen will ich mit ihm sprechen,« flüsterte sie, und dabei ging ein sonderbares Licht in ihren Augen auf.

[]

Sechzehntes Kapitel

Joachim lag auf dem für Lanzenau im Wohnzimmer hergerichtet gewesenen Lager. Er fühlte sich, abgesehen von einer natürlichen Mattigkeit infolge des Blutverlustes, ganz wohl. Irgend jemand leistete ihm immer Gesellschaft. Lanzenau erschien am frühen Morgen und setzte sich zu ihm. Der ältere Mann hatte dem jüngeren dasselbe unumwundene Geständnis abgelegt wie Fanny. Joachim versteckte dabei sein Gesicht in den Kissen und murmelte nachher, des Barons Hände drückend:

»Ich allein – ich bin an allem schuld.«

Während dann Lanzenau an dem Bette saß und es überdachte, was seit Monaten um ihn geschehen, in ihm vorgegangen, vollzog sich die Wandlung vollends, die gestern in seinem Herzen begonnen, als er in Fannys schrecklich verwandeltes Gesicht gesehen. All seine eifersüchtige Liebe verklärte sich zu dem selbstlosen, einzigen Wunsch, Fanny glücklich zu sehen. Wenn er sein Alter dann auch [] nur an ihrer Freundschaft wärmen durfte, das war ihm genug.

»Lieber Herebrecht,« sagte er einmal, »könnte sich nicht alles so lösen, daß aus Ihnen und Fanny ein Paar würde? Severina mit ihren zweiundzwanzig Jahren wird überwinden. Aber sie – aber sie?! O, ich kenne sie, die späte Leidenschaft wird sie töten.«

»Sie haben mir beide ihr Herz entzogen,« sprach Joachim schwach, »ich fühle es. Severina ging gestern stumm und drohend um mein Lager – und sie ist noch gar nicht hier gewesen.«

Er wagte nicht einmal Fannys Namen zu nennen.

»Sie wird nachher kommen. Sie hat es Severina gestern abend gesagt.«

Adrienne und Graf Taiß kamen, um nach dem Patienten zu sehen. Die junge Frau hatte nun auch alles erfahren, und ihr Blick war ernst, fast kühl. Joachim fühlte es mit Scham. Taiß, dessen lebhafte Natur sich nicht in die allgemeine gedrückte Stimmung finden konnte, scherzte mit dem Verwundeten. Severina kam mit ihrem Pflegevater dazu; die lebhafte Teilnahme, die der Pastor zeigte, gab Severina die Gelegenheit, sich in die fernste Zimmerecke zurückzuziehen, ohne Joachim zu begrüßen.

Aber ihre Augen hingen unausgesetzt an ihm, der bei ihrem Eintritt stark errötete.

In das menschengefüllte Zimmer trat nun Fanny. Wie mit einem Schlag erstarb jedes Gespräch. War [] es möglich – konnte eine Nacht voll Gram eine Frau, die in der Vollblüte ihrer Schönheit geprangt, so altern? Die Züge scharf, die Farben gelbgrau, die Augen hohl machen?

Joachim schloß die Augen.

»Ich bitte,« sagte Fanny laut und ganz sicher, »daß der Leidende nicht von so vielen Personen auf einmal besucht wird. Lieber Herr Pastor, warten Sie vorn, es ist möglich, daß Herr von Herebrecht Ihnen nachher etwas zu sagen hat. Lanzenau, Sie bleiben wohl.«

Das hieß doch ohne Zweifel, daß alle bis auf den Baron das Zimmer verlassen sollten. Taiß hatte Erbarmen mit Severina und führte sie.

Joachim lag da mit wachsbleichem Gesicht; er wagte nicht die Augen zu öffnen, denn er fühlte, daß sie neben seinem Lager stand und ihn betrachtete. Ja, mit den brennenden Augen, die noch keine Thräne geweint, stand sie und sah ihn an.

»Joachim!«

Er erschrak vor dem Anruf und schlug den Blick zu ihr auf.

»Fanny,« stammelte er, »Fanny, vergib mir! Ich war Deiner Liebe nicht wert, das habe ich Dir immer gesagt. Ich bin schlecht und undankbar. Aber ich weiß nicht – ich konnte nicht anders – ich liebte Dich auch –«

»Und Severina auch,« schloß sie mit bitterem [] Lächeln. »Sage, wie es kam, daß Du ihr von Liebe sprachst.«

»Ich – ich sah,« stotterte er, »ich sah, daß sie mich liebte ...«

»Und da war ich nicht im stande, ihr Gegenliebe zu versagen! Und Du sahst, daß ich Dich liebte ... und so hast Du es schon früher bei einem Dutzend gesehen und wirst es noch bei einem Dutzend sehen und immer wieder lieben. So ist Dein Herz kein Herz, es ist nur ein Echo!« rief sie, endlich der stummen Qual Befreiung in harten Worten gebend.

»Fanny!« mahnte Lanzenau.

»Gut,« sagte sie, schon wieder zusammensinkend, »ich habe nichts zu fragen als dies: die Stunde der Entscheidung ist gekommen; welche von uns beiden wird Dein Weib sein?«

»Fanny!« rief Lanzenau entsetzt.

Joachim sah Fanny an. Ihre Blicke brannten ineinander. Man hörte keinen Atemzug. Lanzenau, der dicht neben Fanny stand, beobachtete diese ineinander wurzelnden Blicke. Er las etwas darin – etwas, vor dem er zitterte. Es war, als ob in diesem bangen Schweigen der uralte Kampf Mann gegen Weib ausgefochten würde. Es war, als flammte die Verachtung des Weibes aus ihren Blicken, das alles hingegeben und für ihren höchsten Besitz nichts eingetauscht als die Kenntnis, wie Strohfeuer brennt [] und erlischt. Es war, als trotzte aus seinen Augen das Mannesrecht.

»Vielleicht,« sprach sie endlich mit grausamer Härte, »ist für Dein schwankendes Herz die Entscheidung heute noch ein zu bitterer Kelch, den Du lieber nicht tränkest. Aber ich will ihn Dir doch reichen.«

Sie richtete sich höher auf und legte ihren Arm in den Lanzenaus, als solle der sie in der nächsten Minute fortführen.

»Lieber Freund,« sagte sie, »Sie haben die Güte, nachher an die Vormundschaft der jungen Grafen Itzelburg zu schreiben, daß Herr von Herebrecht die ihm angebotene Administratorstelle annimmt und daselbst eintreffen wird, sobald nur irgend der Zustand einer kleinen Verwundung, die er bei der Jagd erhalten, ihm zu reisen gestatte. Auch bitte ich Sie, unsern Herrn Pastor darauf vorzubereiten, daß Herr von Herebrecht noch heute um die Hand seiner Pflegetochter anhalten wird. Der Pastorin mag man sagen, daß ich mein früher gegebenes Versprechen, Severina auszusteuern, selbstverständlich so glänzend erfüllen werde, als es mir nur irgend möglich ist; habe ich doch das Vergnügen, sie in den Kreis meiner Verwandten treten zu sehen.«

Sie sprach, als sei Joachim nicht zugegen; sie ging, als höre sie nicht seinen jähen Verzweiflungsruf:

»Fanny – Fanny!«

Er blieb allein in der maßlosesten Erregung, [] unfähig, aus Bett gefesselt. Und ihm war es in diesem schrecklichen Augenblick, als habe er nur Fanny allein geliebt, als könne er ohne sie nicht leben. Sie aber war gegangen, Verachtung im Herzen, und nie – das fühlte er, nie würde sie ihn wieder vor ihr Angesicht lassen. Er wollte sich erheben – ihr nach – ihr nach. Allein die von der Aufregung gesteigerte Schwäche warf ihn ohnmächtig zurück.

Lanzenau führte die teure Freundin seines Lebens schweigend in ihr Zimmer zurück. O, wie sie ihm dies Schweigen dankte! Von Schritt zu Schritt fühlte er ihre Hand sich schwerer auf ihn stützen. Oben endlich fiel sie bleich und kraftlos in ihre Sofaecke.

Er stand vor ihr und sah sie mit tiefstem Mitleid an.

»Mußte es sein?« fragte er. »Wird Severina ihn so glücklich machen, als Sie es gethan hätten?«

»Nein,« sagte sie, »nein; das ist die Rache, die mich sättigt. Ganz glücklich wird er niemals sein. Immer und überall wird der Gedanke an mich zwischen ihm und seinem Weibe stehen.«

»Ist das unsere edelsinnige Fanny?« rief er.

»Ich bin ein Weib, nur ein Weib,« sprach sie vor sich hin; »wäre ich es noch, wenn ich mich in dieser Stunde mit großrednerischem Pathos über mein Leid erheben könnte? Ist es eine grenzenlose Schwäche oder eine schreckliche Kraft – die Kraft, mit jeder Faser echt zu empfinden – genug, ich fühle, daß dieser Schlag die Wurzel meines Lebens getroffen hat.«

[] Sie sagte das alles so eintönig, als spräche sie nur, um ihn nicht durch Schweigen so sehr zu ängstigen.

»Nein, Fanny,« sagte er, einen Entschluß fassend, »das darf nicht sein. Sie beurteilen das ganze Geschehnis hart, so hart, wie Frauen immer über Männer urteilen, weil sie nicht verstehen, die ausgleichende Versöhnung zwischen den natürlichen Rechten beider Geschlechter zu finden. Charakter, Ehre, Herz, alles hat Joachim in Ihren Augen verloren, weil sein noch junges Blut, seine noch nicht ausgetobten Jahre nicht die Kraft hatten, die Liebe zu verschmähen, die ihm von zwei Seiten zugleich entgegengebracht wurde.«

»Sie nehmen ihn in Schutz – Sie, sein voriger Feind? Bloß vielleicht, weil Sie meinen, es gilt hier, Ihr ganzes Geschlecht zu verteidigen für das, was ja alle Tage vorkommt?« bemerkte Fanny herbe.

»Ja, alle Tage! Sollte das nicht ein wenig für die Entschuldbarkeit sprechen? Lassen Sie sich sagen, daß es tausend und abertausend Männer gibt wie Joachim, liebenswürdig, berufstüchtig, und die sehr erstaunt wären, wenn man ihnen sagte: ›Sie haben ehrlos gehandelt, weil Sie nicht aufrichtig waren.‹ Diese hegen den selbstverständlichen Begriff von der Liebe, daß sie sich ihrer überall freuen dürfen, so lange sie ihre Jahre des ›Austobens‹ haben. Sie werden niemals eine Lüge aussprechen, niemals mit einem Herzen spielen, das heißt also, niemals Gefühle heucheln. Aber ihre Liebesversicherungen sind nur die [] momentanen Wahrheiten der auflodernden Sinne. Der natürliche Egoismus verhindert es, daß sie sich einen rechten Begriff davon machen können, wie die bei ihnen erloschene Flamme noch schmerzlich im Herzen des Weibes fortbrennen könne. Die Treue ist ihnen ein Zukunftsbegriff, in dem sie aber einmal leben werden, denn er bedeutet ihnen das Gesetz, ›wenn Du erst einmal verheiratet bist, hört dies Getändel auf.‹ Sie werden die besten, liebevollsten Ehemänner und tragen ihre Frauen auf Händen, schon des bloßen Umstandes wegen, weil sie ihnen nur durch die Heirat erreichbar waren. Deshalb dürfen Sie Joachim verzeihen, daß er Severina vor Ihnen liebte, daß ihr Bild noch nicht ganz aus seinem Herzen entwich, als das Ihre hineintrat. Denn Sie sind die Unerreichbare, Sie wird er treu anbeten, wenn Sie vermählt sind. Darum, teure Fanny, rauben Sie sich nicht trotzig das Glück, auf das Sie so lange warteten.«

Fanny erhob sich langsam. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und sah ihn gramvoll an.

»Treuer, großmütiger Mann,« sagte sie, »nun versteh' ich Deine Beredsamkeit; Du sprichst für ihn, nur damit ich glücklich werde.« Sie schloß die Augen. Einen Herzschlag lang setzten ihre Pulse aus, dann sprach sie, es ging nur wie ein Hauch an des Freundes Ohr vorüber: »Es ist hoffnungslos. Es ist Severina, die ihm noch alles zu geben hat – nicht – ich – ich nicht.«

[] Unwillkürlich, als müsse er sie retten und schützen, faßte er sie in seine Arme. Sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter, und Thränen, die ersten Thränen stürzten aus ihren Augen.

»Fanny,« sagte er mit zitternder Stimme, »teure Fanny, bedenke Dein ganzes Leben, all Dein nützliches Wirken und wie Deine Augen über so viele sonnenlose Existenzen Licht verbreiten. Laß uns nicht allein – lebe für uns. Wir wollen Dich alle doppelt lieben.«

Sie weinte heftiger.

»Ich weiß nicht, ob ich das Leben noch tragen kann.«

[]

Siebenzehntes Kapitel

Der Winter war vergangen, langsam, als sei er nicht vier Monate, als sei er vier Jahre lang gewesen.

Joachim hatte sich längst in seiner neuen Heimat eingelebt und rüstete sich nun, zu seiner Hochzeit nach Mittelbach zurückzukehren, nach demselben Mittelbach, das er anfangs Dezember, kaum genesen, verlassen und seitdem nicht wiedergesehen. Aber Severinas Briefe unterrichteten ihn mit der peinlichsten Genauigkeit von allen Vorgängen dort. Er wußte, daß die Pastorin von der Stunde an, daß Severina die Braut eines Edelmannes war und für ihr künftiges Leben die Aussicht auf auskömmliche Verhältnisse hatte, ihre Pflegetochter mit anderen Augen ansah, ihre demütigenden Sittenpredigten nicht mehr hielt und diese glückliche Geschickswendung als eine Belohnung ansah, die der liebe Gott ihr, der opferfreudigen Pflegemutter, geschickt. Er erfuhr auch, daß Magnus durch einige wissenschaftliche Aufsätze viel [] Erfolg gehabt habe, Weihnacht zu Hause gewesen sei und von Adrienne mit einer besonderen, ernsten Auszeichnung behandelt worden wäre, was Magnus durch die höchste Ehrfurcht im Benehmen erwidert habe. Lanzenau sei sehr kränklich, man spreche von Teplitz und für nächsten Winter vom Süden.

Wie ihm das alles gleichgiltig war! Seine Augen suchten in Severinas Zeilen immer nur nach einem Namen! Und wenn dieser genannt war, ärgerte er sich über alles, was in Verknüpfung damit berichtet wurde. Er fehlte nie, dieser eine Name.

Fanny habe mit verschwenderischer Hand eine Aussteuer beschafft, die für ein gräfliches Haus genügen würde, aber Fanny habe nichts selbst ausgesucht, nichts geprüft. Entgegen ihren sonstigen vernünftigen und geschickt wachsamen Gewohnheiten beim Einkaufen habe sie alles unbesehen beordert und nachher auch kaum einen gleichgiltigen Blick dafür gehabt. Fanny fahre nicht mehr aus; wenn die Familie Taiß käme, was ungewöhnlich oft geschehe, bleibe sie freudlos und gleichgiltig. Weder lese, noch musizire, noch male man mehr im Schlosse. Die Tage gingen so öde hin, Fanny habe nur unendliche Fürsorge für Lanzenau, andere Menschen schienen für sie nicht vorhanden. Fanny sei sehr gealtert, Fanny sei sehr elend – und so immer Fanny und Fanny.

Eine dämonische Verwandlung ging in der Brust des jungen Mannes vor. Mit bedrücktem Gewissen[] war er abgereist, lange peinigte ihn der unerfüllt gebliebene Wunsch, Fanny noch einmal zu sehen, einen vergebenden Blick von ihr zu erhalten. Dann fing ein leiser Groll über ihre Unerbittlichkeit an, sich in ihm zu regen. Weiter wurde schon ein Vorwurf daraus, daß Fanny eine solche Sache so tragisch nehme und sich das Leben damit vergifte. Beinahe fand er es geschmacklos von einer Frau mit Fannys Verstand. Dann glaubte er, daß sie sich so gebrochen zeige, sei wie ein steter Hinweis auf seinen Leichtsinn, und fand ihre Haltung nicht im Verhältnis zu dem Geschehenen. Wenn alle Frauen und alle Männer einen vorübergehenden Glücksrausch nachher mit einer solchen Lebensjeremiade bezahlen wollten oder sollten, müßte die Erde ja einem Trauerhause gleichen. Und endlich war es ihm, als ob er sie hasse; und mit immer größerer Gier suchte er in Severinas Briefen ihren Namen und eine Bemerkung, die ihm immer wieder das Recht gab, ihr zu zürnen, sich über sie zu ärgern.

Der Gedanke an sie wurde ihm ganz zuwider. Eine fürchterliche Grausamkeit gegen sie erfüllte sein ganzes Herz.

Wenn er daran dachte, daß er sie bei der Hochzeit sehen werde, peinigte ihn brennende Neugier, wie sie sich dabei benehmen werde.

In manchen Stunden ergriff ihn eine Art sentimentales Bedauern; wenn Fanny mit der Welterkenntnis einer großen Dame, mit dem weiten Blick einer [] klugerfahrenen Frau ihren gewiß natürlichen Schmerz niedergedrückt und versucht hätte, zu verzeihen, wie gut Freund hätte man da bleiben können – gewiß, gut Freund fürs Leben. Das war so schade und lediglich Fannys Schuld, daß man nun getrennt war wie durch einen heißfließenden Lavastrom.

Aber immer verstummten alle diese angewiderten oder bedauernden Empfindungen sehr schnell. Sie wurden eben nur gelegentlich der Briefe hervorgerufen; im übrigen war Joachim guter Dinge. Alle seine Wünsche und Pläne waren nur auf das Weib gerichtet, das er im Frühling sein nennen würde.

Und Fanny?

Was Severina von ihr schrieb, waren die Resultate dessen, was Fannys Umgebung an ihr beobachtet. In Fannys Herz konnte niemand sehen; daß sie in den langen Winternächten eine alte Frau geworden war, schien ihr selbst nicht bewußt zu sein. Sie äußerte sich nie über ihr verändertes Aussehen und gab nie durch Klagen über ihr Befinden zu der Vermutung Anlaß, als sei etwa ein körperliches Leiden die Last, an der sie schleppe. Adrienne und Severina hatten ihr alle Pflichten der über Haus und Hof wachenden Herrin abgenommen, ohne daß Fanny es bemerkt zu haben schien. Ihren Bauern erteilte sie keine Audienzen mehr, Vorgänge in den Familien der Dorfbewohner, selbst die leidvollsten, erweckten ihr keine Teilnahme. Wie und womit sie eigentlich ihre [] Zeit ausfüllte, wußte niemand zu sagen, Fanny selbst am wenigsten.

Lanzenau, der in der That ernstlich kränkelte, trug sich mit schweren Sorgen. Wie sollte das enden? Und was sollte eines Tages aus Fanny werden, wenn er davonginge? Er erwartete irgend eine Katastrophe vom Tage der Hochzeit, und so sehr er sie anfangs gefürchtet, so sehr riet er endlich dazu, die Rückkehr des Kapitäns von Herebrecht nicht abzuwarten. Er wußte Adriennens Widerstreben zu beschwichtigen, denn diese hatte Joachim das Versprechen abgenommen, mit der Heirat zu warten, bis Arnold heimkäme, was Ende Mai geschehen sollte. Sie selbst sah ein, daß jede Entscheidung wohlthätiger für Fanny sein werde, als dies stumme Erstarren in undurchdringlicher Gedankenverlorenheit. So wurde das Fest denn auf die Mitte des April festgesetzt.

Man sprach in Fannys Gegenwart erst zaghaft und dann, als sie kein Anteilszeichen gab, lebhafter davon, in welcher Art die Hochzeit stattzufinden habe. Zuletzt hatte Lanzenau den Mut, Fanny geradeaus zu fragen, ob sie wünsche, daß Adrienne, die Pastorsleute und vielleicht er selbst mit der Braut nach Joachims Wohnsitz reisen, um daselbst die Trauung vorzunehmen.

»Nein,« sagte Fanny mit ihrer so müde gewordenen Stimme, aber mit unbewegtem Gesicht, »nein. Ich will, daß die Trauung hier in der Kirche sei und daß dann ein Mahl im Pastorenhause statthabe.«

[] Von da an schien wieder etwas Leben in Fannys Brust zu kommen. Sie wies Severinas schüchterne, dankbare Liebkosungen nicht mehr herbe zurück, sondern sah ihr manchmal mit einem sonderbaren Ausdruck des Mitleids ins Gesicht. Sie zeigte auch dem alten Freunde eine erhöhte Teilnahme, die mit einer schmerzlichen Zärtlichkeit gemischt war, wie man vor einem nahen Abschied sie noch zeigt.

So kam der Tag heran, an dem Fanny und Joachim sich wiedersehen mußten. Joachim traf erst am Abend zuvor ein, nahm das ihm bereitete Quartier im Pfarrhause und zeigte eine fröhliche, vollkommen unbefangene Bräutigamsmiene. Jedermann war zu taktvoll, ihm von Fanny zu reden, und weil er nicht nach ihr fragte, so schien es, als existire sie gar nicht für diesen Kreis von Menschen, die ihr ohne Ausnahme so viel verdankten.

Severina hatte wohl den Mut gehabt, in Briefen an der Sache zu rühren, darüber zu sprechen, hier in Fannys Nähe fehlte ihr die Unbefangenheit, denn ihr Herz war von einer verzehrenden Unruhe erfüllt, daß Fannys Anblick genüge, Joachims Herz abermals in Zwiespalt zu bringen. »Wenn er erst mein Gatte ist,« gelobte sie sich mit der finsteren Entschlossenheit ihrer eifersüchtigen Natur, »werde ich über ihn wachen.«

Wie eine Erlösung kam ihr denn auch die Botschaft von Fanny, daß diese »wegen eines Unwohlseins«[] nicht an der Vorfeier im Pfarrhause teilnehmen könne, auch aus dem gleichen Grund auf das morgige Festmahl verzichten müsse und nur bei der Trauung zugegen sein könne. Bei der Trauung – dann war Joachim schon ihr Gatte, dann hatte schon der Schullehrer von Mittelbach in seiner Eigenschaft als Standesbeamter sie zusammengegeben.

Während im Pfarrhause alles von fröhlicher Unruhe war, saß Fanny allein in ihrem Zimmer am Fenster. Ihre Jungfer hatte gefragt, was für ein Kleid sie bereiten solle. Dasselbe, antwortete ihr Fanny, was sie in der Taißburg an ihrem Geburtstag getragen. Das Mädchen wagte keine Einwendungen, wenngleich es ihr unbegreiflich war, wie die Herrin bei der einfachen Trauung in der Dorfkirche eine so prächtige Ballkleidung tragen mochte. Fanny lächelte, als das Mädchen gegangen war.

Sie fühlte ganz klar, daß es kindisch und kleinlich war, ihn durch ihr Gewand an jenen Tag erinnern zu wollen, da er ihr gesagt: Fanny, wie habe ich Dich lieb.

Sie fühlte sich aber so erniedrigt, daß ihr Geist mit krankhaftem Bemühen hundert verschiedene Pläne ausbrütete, wie sie ihm für alle Zeiten sein Leben vergällen könne. Und in diesem monatelangen Grübeln war endlich immer wieder die Vorstellung in ihr erstanden, daß ihr Tod, in den sie seinetwegen gegangen, ihm als Vorwurf auf der Seele lasten werde, [] so lange er atme. Endlich war in ihrem kranken Gemüt diese Vorstellung zur fixen Idee geworden. Ihre Gedanken waren davon gesättigt und beruhigt. Sie wartete auf seinen Hochzeitstag wie auf den Tag der Befreiung.

Nun saß sie hier und harrte der Stunde. Adrienne und Lanzenau waren auf ihren Wunsch im Pfarrhause. Sie wollte allein in die Kirche gehen. Die Morgenstunden schlichen entsetzlich langsam.

Fanny dachte plötzlich an jenen ersten Abend, an welchem Joachim unter ihr in die Nacht hinaussang und sie oben lauschte.

»Die Flammen werden Asche,
Das ist das End' vom Lied,
Das End vom alten Liede,
Mir fällt kein neues ein,
Als Schweigen und Vergessen –
Und wann vergäß' ich dein?«

Mit peinvoller Deutlichkeit erinnerte Fanny sich an seine Stimme, deren Klang sie lange in ihrem Gedächtnis vergebens gesucht. Jetzt, mit den Worten des Liedes, das er damals gesungen, ward der Nachhall in ihrem Ohr lebendig, so lebendig, als stände Joachim vor ihr und spräche zu ihr mit seiner lieben, lustigen Stimme. Vor Schrecken stockten ihre Pulse; ein Schauder durchrann sie.

So neu, als wäre alles erst in dieser Stunde geschehen, stand das Rätsel, das unfaßbare, dieser Art Mannesliebe wieder vor ihr.

[] Das Mädchen kam mit dem Festkleid. Fanny ließ sich schmücken, ohne weiter auf das acht zu geben, was die leisen Hände der Jungfer mit ihr machten. Diese treue Person aber ging von dem Wunsche aus, daß ihre Herrin durch die Pracht ihrer Erscheinung dem »jungen Herrn« beweisen solle, was er verscherzt. Sie behängte Fanny mit so viel Diamanten, als diese nur irgend besaß, und ordnete ihr Haar mit großer Künstlichkeit.

Dann mußte sie Fanny in die Kirche begleiten. Der sonnige Apriltag beschien die festlichen Vorrichtungen, Tannenreiser hatte man auf den Weg vom Pastorenhause bis zum Kirchenportal gestreut, welches von Guirlanden umkränzt war.

Fanny trat gerade und aufrecht über die Schwelle. Ihre Schleppe fegte die Tannenreiser mit sich. Sie ging bis an den Altar und stellte sich dort neben den Sesseln auf, die für das Brautpaar bestimmt schienen. Sie sah weiß und kalt aus wie ein Steinbild.

Die Kirche war von den Dorfbewohnern gefüllt; von der Hochzeitsgesellschaft war noch niemand zugegen. Allmälich erschienen diese: benachbarte Pfarrerfamilien, einige Verwandte der Frau Pastorin, Lanzenau und Adrienne. Alle kannten Fanny, hatten von ihrem »Unwohlsein« gehört und wollten mit Flüsterfragen nach ihrem Befinden an sie herantreten. Aber sie stand und sah so unbeweglich gerade vor sich hin, daß man glaubte, sie wünsche hier an diesem geheiligten Ort keine profane Unterhaltung.

[] Die Orgel erbrauste. Fanny wandte ihr Gesicht langsam dem Eingange zu; sie wollte den Schreck auf seinem Gesicht lesen, wenn er sie erblickte.

Joachim und Severina traten Arm in Arm ein. Sie hatte ihr Haupt unter dem Schleier geneigt, ihr Gesicht war von vergossenen Thränen gerötet. Joachim trug den Kopf frei erhoben; er war etwas blaß, aber sein Auge blickte ruhig und fast gleichgiltig auf Fanny. Seine heftige Abneigung gegen sie war in diesem Augenblick nicht rege, denn alle seine Gedanken waren bei dem Weibe, das er besitzen sollte, nicht bei derjenigen, die schon sein gewesen.

Nur als er vor dem Altar stand und sich Fanny nahe gegenüber sah, dachte er mit einer Art Wohlwollen, daß es doch vernünftig von ihr sei, anstatt Scenen zu machen, ruhig als unbefangene Zeugin zu erscheinen. Daß sie das Gewand von »damals« trug, bemerkte er nicht, daß sie elend und gealtert aussah, erregte in seiner Brust eine flüchtige Empfindung, die man vielleicht hätte eine eitle nennen können.

Fanny stand erstarrt und sah auf ihn. Sein Anblick war ihr wie eine Offenbarung, sein junges, hübsches Gesicht, seine geschmeidige Figur, sein offener Blick – er selbst noch ganz er selbst, so wie sie ihn geliebt! Ihr wahnwitziger Haß war jäh erstorben; die künstlich großgezogene Unwahrheit entfloh vor seiner Gegenwart. Sie begriff, daß sie ihn noch liebte!

[] Fanny erzitterte. Wird er nicht noch einmal ihrem Blick begegnen? Der Pastor begann die Predigt. Joachim schien zuzuhören. Außer der milden Greisenstimme regte sich kein Laut in der Kirche. Durch die Bogenfenster hinter dem Altar brach der volle Sonnenschein. Die Tannenreiser dufteten harzig. Ein Hauch wie der eines unendlichen Friedens lag über dem Gotteshause und der Versammlung darin.

Fanny fühlte es, und es umschlich sie wie Wehmut; sie seufzte laut, ohne sich dessen bewußt zu sein. Darüber erhob Joachim erschreckt das Auge zu ihr, und ihre Blicke trafen sich. Der Seufzer hatte ihn geärgert, und sein Blick war feindselig.

Sie erkannte es – sie wankte, faßte sich und stand wie vorher.

Die liebevolle Stimme scholl predigend weiter. Fanny hatte ihre Hände gefaltet; sie sah langsam über die ganze Gemeinde hin; es fehlte niemand aus dem Dorfe. Fanny kannte jedes Gesicht. Alle Augen hatten schon dankbar und verehrungsvoll auf sie geschaut, und alle Augen würden weinen, wenn ... Ihr Blick ging über Adrienne. Die saß still gefaßt, ihr Schmerz um das Kind erstarb mehr und mehr in der Hoffnung auf den nahenden Gatten. Eine neue, blühende Kinderschar wird die beiden in wenig Jahren umspielen, froh und glücklich werden sie sein. Fannys Reichtum könnte ihnen das Leben erleichtern ... aber Fanny hat kein Testament gemacht, und ihr Geld [] geht an fremde, ferne Leute über, wenn sie heute ... Und da ist Lanzenau. Armer, treuer Freund, für alle Entsagung verdiente er wenigstens, daß seine letzten Lebensjahre von zärtlicher Fürsorge durchwärmt würden, und wie allein ist er in der Welt, wenn Fanny aus ihr geht. –

Sie hob den Kopf stolzer und stolzer. Ja, vielen war sie nützlich gewesen im Leben; sie hatte ihre Kräfte nicht vergraben, sondern ihr Pfund redlich verwaltet. Ihr Geschick hatte sie auf hervorragenden Platz gestellt, und sie hatte bewiesen, daß auch eine Frau die Aufgaben erfüllen kann, die sonst das Leben an Männer stellt.

Und nun fiel sie doch dem gemeinen Frauenlos zum Opfer. Es war einmal so in der Welt und blieb unabänderlich: bis an die Zähne bewaffnet kämpft Geschlecht gegen Geschlecht, und es ist die geheimnisvolle Laune der Natur, daß sie in diesem Kampf den Mann Sieger bleiben läßt. Einerlei, ob das Weib klüger, besser, nützlicher, wichtiger auf ihrem Platz ist als der Alltagsmann, dem sie unterliegt, sie unterliegt, bloß weil sie Weib ist, er siegt, bloß weil er Mann ist.

Eine Vision erstand vor Fannys Auge. Es war ihr, als stehe ein Cherub vor ihr, der in einer Wagschale ihr Dasein gegen das Joachims abwog. In ihre Schale fielen alle Dankesthränen, die man über ihrer arbeitsamen, segenspendenden Hand geweint, all ihr nützliches Wirken im Umkreis ihrer Pflichten, [] alle die selbstlosen Freundesthaten, die sie an den Ihrigen gethan, und all das deckte ganz die eine Schwäche ihres rasch und urteilslos entflammt gewesenen Herzens zu, und ihre Schale neigte sich schwergewichtig, die andere Schale aber flog leicht in die Höhe – nein, sie beide konnten nicht zusammen gewogen werden.

Thränen verdunkelten Fannys Augen. »Muß es denn sein?« fragte sie sich in stummer Qual, »muß ich denn unterliegen, bloß weil ich ein Weib bin?« Es regte sich etwas in ihr – etwas, das nach Befreiung, nach Erhebung schrie; etwas, das sich wild dagegen empörte, dem Mann den Sieg zu lassen; etwas, das ihr zuraunte, sie kämpfe für ihr Geschlecht, wenn sie für sich kämpfe.

Ihr Herz klopfte. Unvermittelt, wie ein Blitzstrahl, fiel ein Licht in Fannys Seele. Ein unnennbarer Stolz dehnte ihr ganzes Bewußtsein. Eine neue Kraft kam über sie – die Kraft, würdig zu leiden.

Sie fühlte, daß Joachim sich innerlich ganz von ihr gelöst hatte und daß sie nicht aufhören könne, ihn zu lieben, aber die Würde haben müsse, ihr Leben nicht unter das seine zu stellen.

Ihr Auge haftete wieder auf dem Geliebten, ruhig, groß, erhaben.

Die Predigt war zu Ende, Joachim und sein Weib knieten auf der Schwelle des Altars nieder, um den Segen zu empfangen.

[] Dann erklang die Orgel, und die hellen Knabenstimmen sangen vom Chor hernieder.

Ueber Fannys Angesicht lag ein Schein von unirdischer Größe. Sie sah dem Sonnenstrahl zu, der auf Joachims blondem Haupte lag; und als Joachim sich wieder erhob und ergriffen, doch in diesem Augenblick tief ergriffen, sich Fanny nahte, vielleicht um ein Wort der Vergebung zu stammeln, vielleicht um einen großmütigen Segenswunsch zu hören, da nahm sie seine Hand.

Ihre Lippen wollten sprechen, aber die Stimme fand nicht die Kraft zu lautem Ton. So sah sie ihn an, lange und tief, und dann ließ sie seine Hand fallen.

Sie trat von ihm hinweg, erfaßte die kalten Hände ihres alten Freundes und sagte, ihm groß ins Auge sehend:

»Ich will leben!«


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TextGrid Repository (2023). German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-deu). Fanny Förster : ELTeC ausgabe. Fanny Förster : ELTeC ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-3EE6-9