[] Erstes Kapitel

Jetzt nur noch die Speisekammer, rief Adele, von der Küche aus eine schmale, niedrige Thür nach einem winzigen Gelaß öffnend, das durch ein viereckiges, vergittertes Fensterchen spärlich erhellt wurde.

Bewunderungswürdig, sagte Klotilde mit einem gelangweilten Blick über die Schulter der Freundin.

Nicht wahr? erwiderte Adele, sich so schnell wendend, daß Klotilde eben nur noch ihr Gähnen verbergen konnte. Zwölf Fuß im Quadrat – nicht mehr – Elimar hat es ausgemessen. Und alles darin untergebracht – selbst die zwanzig Einmachebüchsen, die mir die gute Mama gestern geschickt hat! Aber Eure Berliner Baumeister habe ich doch auf dem Strich. Alles für den äußeren Schein: Keine Spur von einem Verständnis für das, was eine Hausfrau braucht. Na! nun wollen wir wieder nach vorn gehen. Das heißt, erst mußt Du mein Kleid für heute abend sehen. Bei der Gelegenheit kann ich Dir gleich auch noch unser Schlafzimmer zeigen. Elimar mag das zwar nicht. Er findet es undelikat. Ich weiß nicht, warum. Dabei ist doch nichts Schlimmes. Meinst Du nicht auch?

Gewiß nicht, sagte Klotilde, honni soit qui mal y pense.

[] Nicht wahr? Besonders wenn wir Frauen unter uns sind. Und nun gar wir beide! Lieber Gott, wir haben doch keine Geheimnisse vor einander! Ach, Klotilde, wenn ich Dich nicht hier hätte in diesem gräßlichen Berlin! Freust Du Dich nicht auch, daß wir nun wieder beisammen sind?

Ob ich mich freue! Also das ist Euer Schlafzimmer?

Das ist unser Schlafzimmer! Klein, aber furchtbar nett. Findest Du nicht? Und Morgensonne, sagt der Wirt, haben wir auch. Na, in den acht Tagen, daß wir hier sind, hat noch keine geschienen; und Elimar ist zweifelhaft, ob sie, wenn sie mal scheint, bis zu uns kommt – im Hochsommer, meint er, wäre es möglich. Abwarten, sage ich. Na, wie findest Du es? Das Kleid, meine ich.

Dein Brautkleid!

Also doch!

Also was?

Ich dachte, Du würdest es nicht wiedererkennen. Ich habe es nämlich während der zwei Jahre schon sechsmal angehabt – zuletzt auf dem Kommandanturball – und jedesmal ein bißchen verändert. Das heißt: diesmal nicht – ich hatte keine Zeit. Meinst Du, daß es noch geht?

Die Damen standen vor dem Bett, über welches das Kleid gebreitet war.

Das heißt: es muß gehen, fuhr Adele eifrig fort, während Klotilde hier und da einen Zipfel musternd aufhob; ich habe kein anderes.

Dann ist die Sache ja erledigt, sagte Klotilde lächelnd.

[] Ganz meine Ansicht! rief Adele. Mein Gott, von einer armen Hauptmannsfrau kann man doch nicht verlangen, daß sie wie eine Prinzessin ausstaffiert ist, besonders wenn man eben einen kostspieligen Umzug durchgemacht hat. Ich deutete so etwas gegen Frau Sudenburg an, und weißt Du, was sie erwiderte: Die Tochter meiner besten Freundin ist mir in jedem Kleide willkommen. War das nicht furchtbar nett von ihr. Was wirst Du denn anziehen?

Meine Auswahl ist nicht viel größer, als Deine: arme Hauptmanns- und arme Assessorenfrauen – c'est toute la même chose.

Ich denke, Dein Viktor steht dicht vor dem Regierungsrat?

Dann haben wir was Rechtes. Aber Kind, es ist Zeit, daß ich nach Hause komme.

Eile doch nicht so! Ich habe mich die ganzen gräßlichen acht Tage auf diese Stunde gefreut. Und bin Dir so dankbar, daß Du gleich heute morgen angetreten bist, nach der langen Nachtfahrt.

Es war nicht so schlimm, bloß schauderhaft langweilig.

Habt Ihr Euch gut amüsiert?

Amüsiert? In dem miserablen Ostseenest? Vier Wochen lang dieselben Alltagsgesichter: shopkeepers, Weiber aus Berlin O., und, wenn es hoch kam, eine pommersche oder mecklenburgische dicke Gutsbesitzerfrau.

Das wird für Viktor auch nicht gerade etwas gewesen sein.

Viktor? Er hat mich bloß hingebracht und wieder abgeholt. Die ganze übrige Zeit in Kopenhagen, Stockholm, [] und ich weiß nicht wo. Du kennst ihn doch. Die Rosinen in dem Kuchen kommen immer auf sein Teil.

Aber den Kindern ist es doch gut bekommen?

Hoffentlich.

Ich freue mich so furchtbar darauf, sie endlich einmal zu sehen. Nach den Photographien, die Du mir geschickt hast, müssen es wahre Engel sein.

Ich kann es nicht finden. Du wirst Dich ja morgen überzeugen. Ich muß jetzt wirklich fort. Viktor kommt um vier Uhr aus dem Amt.

Elimar schon um Drei. Er muß gleich hier sein. Er wird mir es nicht vergeben, wenn ich Dich fortgelassen habe – seine alte Flamme!

Warum hat er dann Dich geheiratet?

Du hattest es gar so eilig, unter die Haube zu kommen. Weißt Du übrigens, daß Kurt Platow nun doch die Comtesse Gardewitz heiraten wird?

Ich wüßte nichts, was mir gleichgültiger wäre.

Hast recht, Schatz! Schwamm drüber! Ganz meine Maxime. Wenn mir irgend was gegen den Strich gegangen ist – Schwamm drüber! Das konserviert die gute Laune.

Und die glänzenden Augen und die rosigen Backen. Sieh mich einmal an! Wahrhaftig, ich sehe zehn Jahre älter aus als Du.

Sie standen vor dem hohen Stellspiegel – dem einzigen, einigermaßen prunkhaften Möbel in dem sonst bis zur Nüchternheit bescheidenen Gemach – und betrachteten prüfend ihre Bilder: Klotilde ernst, mit einem Fältchen zwischen den dunklen, scharf gezeichneten Brauen; Adele [] lachend, daß die weißen Zähne durch die vollen, roten Lippen blitzten.

Zehnmal vornehmer, ja! rief sie. Kunststück! Du mit Deiner hohen, schlanken Gestalt! Ich glaube, Du bist in der Ehe noch gewachsen! Beinahe einen Kopf größer als ich! Sag' mal, Schatz! Du richtest wohl jetzt noch fürchterlichere Verwüstungen in der Männerwelt an, als schon damals?

Du bist nicht gescheit! sagte Klotilde, den Arm, welchen die andere um ihre schlanke Taille gelegt hatte, zurückschiebend.

Ich habe es nicht bös gemeint.

Und ich es Dir nicht übelgenommen. Komm! Meine Sachen liegen, glaube ich, in Deinem Zimmer.

Die Damen waren nach Adelens Zimmer zurückgekehrt; Adele half Klotilden in den Paletot.

Es ist kalt draußen?

Für den ersten Oktober schauderhaft. Zieh' Dich nur heute abend warm an!

Weißt Du, Klotilde, ich fürchte mich ordentlich vor heute abend. Du nicht noch zur rechten Zeit gekommen wärest, ich glaube, ich hätte noch in der letzten Stunde abgesagt.

Als ob es die erste Gesellschaft wäre, die Du mitmachst!

Aber die erste in Berlin!

Wo es genau so ist, wie in Magdeburg und überall: Assessoren, Regierungsräte, Geheimräte und so weiter; Lieutenants, Hauptleute, Obristen und so weiter – immer dieselben stereotypen Gesichter; immer dieselben stereotypen Redensarten. Es ist zum Verrücktwerden. Was machst Du so ein kleines, dümmliches Gesicht?

[] Daß ich Dich so reden höre! Und ich denke, Du schwimmst hier in Glück!

Um Klotildens feine Lippen zuckte ein bittres Lächeln.

Sei Du erst vier Jahre verheiratet, sagte sie, Adelens volle Wange leicht berührend, dann wollen wir uns wieder sprechen.

Und wenn wir hundert Jahre verheiratet wären, würden wir höchstens noch hundertmal glücklicher sein; bloß daß es nicht möglich ist.

Ja, Du und Dein Elimar!

Du meinst, wir könnten nicht die Ansprüche machen?

Das habe ich weder gesagt, noch gedacht. Es wäre auch sehr dumm, wenn ich es gedacht hätte. Ich wüßte nicht, welche Ansprüche ich vor Dir voraus geltend machen könnte, oder Viktor vor Deinem Manne; besonders jetzt, wo er in das Kriegsministerium berufen ist und zweifellos eine glänzende Carriere machen wird.

Die Damen standen in der geöffneten Thür, Klotilde bereits halb auf dem schmalen, dunklen Flur. Aber sie machte keine Anstalt zum Gehen, sondern blieb unbeweglich, nachdenklich vor sich nieder blickend. In Adelens Herzen regte sich eine peinliche Empfindung. Sie hatte nie anders geglaubt, als daß ihre Cousine in der glücklichsten Ehe lebte. Aber ihre letzten Worte klangen nicht danach; ihre düstre Miene war nicht danach – schon während des ganzen Besuches und nun eben jetzt!

Nicht, als ob wir, Elimar und ich, immer d'accord wären, sagte sie gutmütig schnell. Gar nicht! Wir zanken uns oft ganz fürchterlich. Das ist in der Ehe mal so. Nicht wahr?

[] Je nachdem, erwiderte Klotilde mit demselben starren, nachdenklichen Blick. Viktor und ich zanken uns nie.

Na, da siehst Du es! rief Adele triumphierend.

Aus einem sehr triftigen Grunde, fuhr Klotilde fort, die Augen langsam erhebend, aber an Adele vorüber in das Zimmer sehend: er geht seinen Weg; ich gehe den meinen. Da ist denn dafür gesorgt, daß wir nicht karambolieren.

Das ist doch nicht Dein Ernst, sagte Adele ganz verblüfft.

Weshalb nicht? erwiderte Klotilde. Du glaubst gar nicht, wie gut es sich lebt, wenn jeder seine Interessen verfolgt. Was ja nicht ausschließt, daß die Interessen gelegentlich zusammenfallen. Im Gegenteil! Ich habe zum Beispiel ein großes Interesse daran, daß Viktor in seiner Carriere schnell vorwärts kommt, und helfe ihm dabei, wo und wie ich kann.

Aber was kann man dabei groß helfen? fragte Adele verwundert.

Klotilde wurde die Antwort erspart. In der Flurthür wurde ein Schlüssel gedreht; eine hohe männliche Gestalt trat schnell herein und kam mit langen Schritten auf die Damen zu.

Elimar! rief Adele, ihrem Gatten entgegenlaufend. Rate, wer mich besucht!

Da ist nicht groß zu raten, Närrchen; erwiderte Elimar, an Klotilden herantretend und die Hand, die sie ihm reichte, küssend. Aber blieb, sehr lieb ist es von Ihnen, daß Sie so schnell gekommen sind, sich meiner Kleinen in ihren tausend Nöten anzunehmen. Wollen wir nicht in das Zimmer treten? Die wichtigen Dinge,[] welche die Damen zwischen Thür und Angel zu erledigen pflegen, müßten da freilich vertagt werden.

Nur einen Augenblick, sagte Klotilde; nur um mich zu überzeugen, ob es wahr ist, daß der Mensch mit seinen größern Zwecken wächst.

Das sollte mir bei meinen sechs Fuß und darüber doch schwer werden, erwiderte der Hauptmann lächelnd.

Aber Klotilde ist noch gewachsen, rief Adele. Jetzt sehe ich er erst recht, wo Ihr nebeneinander steht. Findest Du nicht auch?

Ich finde Deine Cousine nur so schön und schlank und elegant wie immer, seitdem ich das Glück habe, sie zu kennen.

Mit welchem Kompliment ich mich denn ganz gehorsamst verabschieden will, sagte Klotilde, sich ironisch tief verbeugend. Also, adieu, Schatz, bis heute abend! Au revoir, Herr Hauptmann! Und, wenn ich Ihnen raten darf, gehen Sie heute abend mit Ihren Galanterien etwas sparsamer um: die Konkurrenz ist zu groß.

Wenn alle Damen mir durch ihre Liebenswürdigkeit die Galanterie so leicht machten!

Adele, Dein Mann ist positiv gemeingefährlich. Du mußt ihn kürzer in den Zügel nehmen!

Ist schlechterdings unmöglich, gnädige Frau.

So sagt Ihr Männer stets. Übrigens das »gnädige Frau« darf ich mir wohl verbitten. Ich denke, wir nennen uns einfach bei unsern Vornamen, wenn wir unter uns, und meinetwegen: lieber Cousin und liebe Cousine, wenn wir unter Leuten sind.

Seien Sie versichert, daß ich diese Erlaubnis wie einen höchsten Orden tragen werde.

[] Nun mach aber, daß Du fortkommst! rief Adele, Du verdrehst mir ihm ja völlig den Kopf.

Aber Schatz, von Zeit zu Zeit einem Manne den Kopf zu verdrehen, das ist doch noch der einzige Spaß, den wir im Leben haben.

Sie war zur Flurthür hinausgeschlüpft, Adele hatte sich in den Arm ihres Gatten gehängt, während sie über den dunklen Korridor nach dem Wohnzimmer gingen.

Sie meint es gewiß nicht so, sagte Adele, den untergefaßten Arm zärtlich drückend.

Ich weiß nicht, erwiderte Elimar; ihre Augen schienen mir das Programm zu bestätigen.

Ja, was ist das nur mit ihren Augen? rief Adele. Es ist mir auch aufgefallen. Die sind gar nicht mehr wie vor vier Jahren. Hast Du nicht auch die Empfindung, daß sie in ihrer Ehe nicht glücklich ist?

Möglich wäre es schon. In der Ehe, wie überall, stoßen gleichnamige Pole einander ab.

Was heißt das: gleichnamige Pole?

Das heißt erstens, daß Du mein höchst ungleichnamiger Pol bist; und zweitens, daß ich in Ohnmacht falle, wenn nicht in fünf Minuten die Suppe auf dem Tisch steht.

Mit Dir ist doch kein vernünftiges Wort zu sprechen, Du Ungeheuer! Wenn ich nur wüßte, weshalb ich Schaf das Ungeheuer so lieb habe!

Sie hatte, sich auf die Zehen stellend, Elimar ein paar herzhafte Küsse auf die Lippen gedrückt und war zu Thür hinaus.

Elimar war aus dem Wohnzimmer in sein kleines Arbeitskabinett nebenan getreten, legte die Mütze und [] eine dünne schwarze Mappe, die er noch immer unter dem linken Arme geklemmt hielt, auf den Tisch, schnallte seinen Säbel ab, den er in die Ecke stellte, und begann, langsam die Handschuhe ausziehend, nachdenklich auf und ab zu gehen.

Ja, ich habe sie sehr geliebt, das schöne, schlanke, braunäugige Mädchen. Und sie hat es gewußt! Wann wüßte ein Mädchen das nicht! Aber damals spielte die Geschichte mit Baron Platow, der dann abschnappte. Und dann heiratet man Hals über Kopf den ersten Besten, der einem in den Weg läuft und macht sich Zeit seines Lebens unglücklich. – Pah!

Er warf die ausgezogenen Handschuhe in die Mütze.

Unglücklich! Wer ist denn glücklich? Wer zu resignieren gelernt hat. Niemand sonst!

Elimar! rief Adelens helle Stimme aus dem Speisezimmerchen neben der Wohnstube.

Ich komme, Kind! rief Elimar zurück.

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Zweites Kapitel

Klotilde schritt die Mauerstraße, in welcher die Wohnung der Meerheims lag, nach der Leipziger Straße zu. In dem Putzladen an der Ecke hatte sie nach einem Fächer zu fragen, der repariert werden sollte. Der Fächer war noch nicht fertig. Während sie vor dem Ladentische wartend saß und eine der Verkäuferinnen die gnädige Frau zu unterhalten sich bemühte, dachte sie an Adelens Kleid für heute abend. Sie hätte ihr doch eigentlich sagen sollen, daß das Kleid für die große Gesellschaft unmöglich war. Sie wird darum doch riesig gefallen. Ich kenne das. Eine neue Erscheinung – danach schnappen sie alle. Und die lachenden Augen, die weißen Zähne, die frischen, roten Lippen – Furore wird sie machen. Daß in dem kleinen, hohlen Schädel auch nicht ein einziger Gedanke steckt – was thut denn das? Wer fragt danach?

Der Fächer wurde gebracht. Klotilde griff nach dem Portemonnaie.

Aber gnädige Frau, lassen Sie doch! sagte die Verkäuferin. Wir schreiben es zu dem übrigen.

Wie Sie wollen.

Der Pferdebahnwagen nach dem Lützowplatz kam nicht gleich. An der Ecke standen nur Droschken zweiter [] Klasse, die sie grundsätzlich nicht benutzte. So fing sie an, die Leipziger Straße hinabzugehen, die im Laden angesponnene Gedankenkette weiter spinnend.

Wie er sie nur hat heiraten können! Ein so geistvoller Mensch! Darüber ist doch nur eine Stimme. Sie hätten ihn auch sicher sonst nicht in das Kriegsministerium genommen! Und dieses Gänschen! Diese richtige Gans! Ihre paar Groschen können es auch nicht gewesen sein – die hätte er bei mir ebenfalls gehabt. Und was kann ihm der Schwiegerpapa-Oberst a.D. für seine Carriere nützen? Also das hübsche Mäskchen und die Langweile – die grauenhafte Magdeburger Langeweile! Ein bißchen amüsanter ist es hier doch. Doch wenigstens die Möglichkeit einer interessanten Begegnung, eines pikanten Zufalls.

Klotilde war bis zur nächsten Haltestelle, gekommen, gerade als der erwartete Wagen sie einholte. Sie stieg ein. Der Wagen war nur mäßig besetzt, was sie durchaus in der Ordnung fand: ein sehr gefüllter erschien ihr stets als eine persönliche Beleidigung. Wer mag denn mit Krethi und Plethi in dem engen Kasten eingepfercht sein!

Nichtsdestoweniger musterten ihre scharfen Augen gewohnheitsmäßig die Insassen und blieben auf einem Herrn in der entferntesten Ecke der gegenüberstehenden Bank haften. Da war ja so etwas von einem pikanten Zufall! Wenigstens begegnete einem ein so hübscher Mann nicht alle Tage. Man hätte ihn vielleicht sogar schön nennen können, mit seiner geraden Nase und dem offenbar sorgfältig gepflegten, rötlichen Vollbart. Ein Offizier in Civil? Möglich! Nur daß der Anzug dafür [] vielleicht zu elegant war und vor allem zu gut saß. Auch pflegen Offiziere unterwegs nicht in einem Buche zu lesen. Wenn er doch mit dem dummen Lesen aufhören wollte, daß man wenigstens seine Augen sehen könnte!

In dem Momente senkte der Herr das zusammengeklappte Buch zwischen den behandschuhten Händen auf die Kniee; steckte es dann in die Seitentasche seines Paletots; ließ seine Blicke durch den Wagen schweifen und sah mit der Miene eines, der sich tödlich langweilt, seitwärts zum Wagenfenster hinaus auf die Straße.

Klotilde war empört. Sie hatte, als der Herr sie erhob, seine Augen sehr deutlich gesehen: ganz ungewöhnlich große, ausdrucksvolle, blaue Augen; und förmlich körperlich gefühlt, daß diese Augen, im Vorüberstreifen des Blicks, ein paar Sekunden auf ihr geruht hatten. Und konnten jetzt durch das Fenster nach der wimmelnden Menge auf dem Trottoir starren, als ob es hier im Wagen schlechterdings nichts zu sehen gäbe!

Ich habe mich geirrt, sagte sie bei sich; er gehört nicht zur Gesellschaft.

Während der Wagen in vollem Fahren war, hatte sich ein Herr auf den Hinterperron geschwungen, einen Blick in den Wagen geworfen, mit freudig erregter Miene vor Klotilde tief den Hut gezogen und stand jetzt, die Thür eilig aufschiebend, vor ihr, auf den leeren Sitz neben ihr deutend.

Darf ich, gnädige Frau?

Aber, lieber Fernau, was könnte mir angenehmer sein?

Sie sind die Güte selbst, rief der junge Mann, Klotildens dargebotene Hand feurig drückend, während er ihr zur Seite Platz nahm. Seitdem ich weiß, daß [] gnädige Frau Pferdebahn fahren, werde ich mich nie eines andern, als dieses mir so verhaßten Vehikels bedienen.

Ja, lieber Freund, wir armen Assessorenfrauen –

Wer denkt an arme Assessorenfrauen, wenn er Sie sieht! Wer kann Sie sich anders vorstellen, als in einem goldnen, von Tauben gezogenen Wagen!

Den ich mir sofort anschaffen werde, sobald ich Ihnen in einem Muschelkahn begegnet bin, vor den ein Schwan gespannt ist.

Gnädige Frau waren gestern im Lohengrin?

Ich habe mit Bedauern bemerkt, daß Sie fehlten.

Sehr gütig! Aber, offen gestanden, seit ich im Sommer in Baireuth die Musteraufführung gesehen habe, kann ich mich nicht entschließen, mir den kolossalen Eindruck durch unsern landläufigen Schlendrian hier zu verleiden.

Aber ein Schwanenritter im seidenen Wams, das denke ich mir schrecklich.

Ich versichere, gnädige Frau – das heißt: ich war auch stupéfait; aber nur im ersten Augenblick. Dann ging mir sofort das rechte Licht auf. Und nun gar Sie, mit Ihrer für alles Großartige so empfänglichen Seele – Sie würden entzückt sein.

Klotilde hatte das leise Gespräch mit ihrem Bewunderer eifriger geführt, als sie es sonst vielleicht gethan hätte; aber ihre Absicht, die Aufmerksamkeit des Herrn da drüben zu erwecken, erreichte sie nicht: er blickte jetzt zwar nicht mehr zum Fenster hinaus, aber gerade vor sich nieder, nach dem ernsten Ausdruck seiner Miene in wenig erfreuliche Gedanken versunken.

[] Kennen Sie den Herrn dort? fragte Klotilde, ihren eifrigen Begleiter mitten in einem angefangenen Satze unterbrechend.

Welchen Herrn?

Klotilde winkte mit den Augen nach dem Nachdenklichen in der Ecke.

Legationsrat von Fernau klemmte das Lorgnon in das Auge, blickte in die von der Dame angedeutete Richtung und erwiderte:

Nein. Warum?

Wofür halten Sie den Herrn?

Das Lorgnon, welches bereits fallen gelassen war, mußte abermals seine Dienste thun, diesmal länger als das erste Mal.

Nun?

Für einen Plebejer, der sich furchtbare Mühe giebt, wie ein Gentleman zu erscheinen.

Der pure Brotneid!

Aber gnädige Frau, Sie können doch unmöglich anderer Meinung sein!

Vielleicht doch!

Dann werde ich mir von morgen an einen Vollbart stehen lassen und mir Mühe geben, wie ein Schulmeister auszusehen.

Und das wäre kein Brotneid?

Ja, bei Gott, er ist es; furchtbarer Neid auf jeden, der nur an den Saum Ihres Kleides rührt; nur in Ihre Nähe kommt; nur –

Bitte, halten! sagte Klotilde zu dem Schaffner, der eben gerade durch den Wagen ging.

Gleich, meine Dame, sagte der Schaffner.

[] Klotilde saß in ihre Ecke zurückgelehnt; ihr Gesicht war lebhaft gerötet. Fernau erschrak; offenbar war er zu weit gegangen und hatte die schöne Frau ernsthaft beleidigt.

Aber das war es nicht. Es war nur, daß gerade in dem Moment, als der junge Mann, soweit es die Schicklichkeit irgend erlaubte, sich zu ihr hinabbeugend, leidenschaftlich hastig die letzten Worte flüsterte, der Herr drüben den Kopf gewandt und sie, wie ihr schien, scharf ins Auge gefaßt hatte. Sie sagte sich sofort, daß es nur zufällig gewesen sein könne; überdies hatte sie vom ersten Augenblick etwas der Art gewünscht, die kleine Komödie wesentlich deshalb gespielt und fühlte sich jetzt beschämt wie ein Schulmädchen, das der Lehrer an der Straßenecke im têtê-à-tête mit dem hübschen Primaner ertappt.

Sie zürnen mir, gnädige Frau, sagte der junge Mann bedrückt.

Ach, lieber Freund, da hätte man viel zu thun, wenn man Euch Kindern so oft zürnen wollte, wie Ihr es verdient. Wir sehen uns doch heute abend bei Sudenburgs?

Gewiß, gnädige Frau.

Dann also au revoir!

Darf ich bitten, mich dem Herrn Gemahl zu empfehlen?

Wenn ich's nicht vergesse!

Der Wagen hielt. Fernau wäre für sein Leben gern mit der schönen Frau ausgestiegen; aber er wagte es nicht. Dafür warf er, während der Wagen weiter fuhr, dem Herrn in der Ecke mehr als einen wütenden Blick zu, welchen dieser, der wieder vor sich nieder sah, glücklicherweise nicht bemerkte.

[]

Das ist doch seltsam, sagte Klotilde bei sich, während sie in der Querstraße auf ihre Wohnung zuschritt. Was war das nur eigentlich mit dem Herrn? Er war nicht einmal so schön wie Fernau; und Fernau hatte recht: trotz seiner Eleganz sah er doch eigentlich wie ein Spießbürger aus. Dennoch – wunderlich! ich glaube wahrhaftig, das Herz hat mir ordentlich geschlagen. Es ist nur die wahnsinnige Langweile. Es ist nur, weil –

Sie brach ihr Selbstgespräch jäh ab. Auf der andern Seite der Straße, um ein weniges ihr voraus, ging ihr Mann. Sie hätte ihn mit ein paar Schritten einholen, auf der fast menschenleeren Straße leichtlich mit einem halblauten: Viktor! abrufen können. Wozu? Er würde sich nicht freuen, sie zu sehen; und sie brannte nicht darauf, sein gleichgültiges: Ach, sieh da, Klotilde! zu hören. Wenn ihr doch ein Mensch sagen könnte, weshalb sie diesen, gerade diesen geheiratet hatte! Und weshalb Menschen, die sich nicht mehr lieben, vielleicht einander nie geliebt haben, nun so miteinander weiter leben müssen!

Ein bittres Lächeln zuckte um ihre Lippen. Wie hatte sie zu Adele gesagt: er geht seinen Weg, ich den meinen! Nun ja: da ging er; und sie ging hier!

Viktor war an dem Hause angelangt. Er hatte geschellt, blickte, auf das Öffnen der Thür wartend, sich zufällig um und sah seine Frau über den Straßendamm kommen.

Ach, sieh da, Klotilde! Aus der Stadt?

Ja. Ich muß an Dir vorübergefahren sein.

[]

Drittes Kapitel

Die schönen Räume der Wohnung des Ministerialdirektors Sudenburg hatten seit einer halben Stunde angefangen, sich mit den eingeladenen Gästen zu füllen. Die ersten waren, wie stets, die jungen, unverheirateten Offiziere gewesen, die mit dem Glockenschlage acht sich einfanden – Kameraden, zumeist der beiden älteren Söhne des Hauses, Fritz und Franz, Sekondelieutenants: Fritz in der Artillerie, Franz in der Infanterie. Zum Glück für Stephanie, die kaum noch wußte, was sie mit dem uniformierten, wenig ausgiebigen Schwarm beginnen sollte, waren dann auch bald, beinahe gleichzeitig, ihre liebste Freundin Klotilde mit Viktor, und Adele mit ihrem Gatten gekommen, und sie mußte vorerst einmal Adele, welche ganz neu in diesen Kreis trat, »ein wenig lancieren«. Adele hatte es ihr nicht schwer gemacht. Von der Furcht, die sie heute vormittag angesichts ihres Debüts in der Berliner Gesellschaft gehabt haben wollte, war schlechterdings nichts zu bemerken. Jeder der ihr Vorgestellten, gleichviel, ob Herr oder Dame, schien für sie eine intime Bekanntschaft zu sein, deren Anfang bis in ihre Kinderjahre zurück datierte. Eine entzückende kleine Person, sagte Hauptmann von Luckow [] zu ein paar jüngeren Kameraden. Diese lachen den, blauen Augen, diese lustig blitzenden, weißen Zähne, dies fröhliche Geplauder – wahrhaftig, das wirkt wie eine Oase auf den verschmachtenden Wanderer in der Wüste.

Das Wort machte die Runde. Es dauerte nicht lange, bis – mindestens unter den jüngeren Herren – keiner von Adele anders, als von der »Oase« sprach.

Inzwischen hatte sich Elimar ebenfalls sein Terrain erobert, ohne daß man von ihm, so wenig wie von Adele, sagen konnte, er habe es darauf abgesehen gehabt. Aber seine gehaltene, gegen Höher- und Niedrigerstehende gleich liebenswürdige Freundlichkeit; seine große Unterhaltungsgabe, der jedes Thema genehm, und die doch niemals nach Beifall und Bewunderung zu haschen schien; die Melodie selbst seiner immer nur halblauten und immer gleich verständlichen Stimme – es wäre nicht erst nötig gewesen, daß der Kriegsminister, der eben erschienen war, ihn, sobald er nur erst die Wirte begrüßt, sofort durch ein längeres, augenscheinlich sehr intimes Gespräch auszeichnete, um die Gesellschaft von der Bedeutenheit des Mannes zu überzeugen.

Die Gesellschaft war jetzt beinahe vollzählig; es schien sogar ein wenig an Raum zu fehlen, aber nur, weil in der langen Flucht der Zimmer einige so gut wie leer blieben, während die Herrschaften sich in einigen wenigen zusammendrängten.

Mama hat gut reden, sagte Fritz zu Franz, sich heimlich den Schweiß von der Stirn wischend; ich kann sie nicht auseinander bringen; sie stehen wie die Mauern.

Wenn man die kleine Meerheim da loseisen könnte! Es laufen dann gleich ein Dutzend nach.

[] Wird sich kaum noch der Mühe verlohnen. Endlich müssen wir doch einmal zum Souper kommen. Bist Du mit der Tischordnung fertig?

Hat sich was mit Tischordnung, wenn Stephanie mir die ganze Geschichte wieder umkrempelt. Sagt, ich hätte lauter dummes Zeug gemacht!

Wirst Du auch, alter Sohn!

Meinetwegen. Ich bekümmere mich nicht mehr darum. –

An einen Schwarm von Herren, der Klotilde umringte, trat Viktor eilfertig heran.

Verzeihung, Ihr Herren! Ich möchte meiner Frau –

Bitte! bitte!

Was giebt's? fragte Klotilde.

Hast Du mit Excellenz schon gesprochen?

Welcher? Es sind ein halbes Dutzend hier.

Mein Gott, mit unsrer natürlich.

Ich weiß noch gar nicht, daß sie hier sind.

Schon seit einer Viertelstunde. Er ist allein da und hat mich schon nach Dir gefragt. Bitte, komm' gleich mit!

Er hatte ihr den Arm geboten, den sie ihm willig reichte. Excellenz war einer ihrer wärmsten Verehrer, und von Excellenz allein hing es ab, ob Viktors Ernennung zum Regierungsrat bereits zu Neujahr, oder erst zu Ostern erfolgte.

Du kannst ihm auch sagen, flüsterte Viktor, während sie sich durch die Menge drängten, daß ich die halben Nächte über den Akten sitze.

Laß mich nur machen, flüsterte Klotilde zurück, und bei sich sagte sie: meinetwegen die ganzen.

[] Es mußte für diesmal bei ihrem guten Willen bleiben. Als sie endlich bis in die Nähe des allmächtigen Mannes gelangten, fanden sie ihn in einer, wie es schien, sehr eifrigen Unterhaltung mit dem Kollegen vom Kriegsministerium, einem andern hohen Offizier und dem Wirt des Hauses. Für den Augenblick war an eine Annäherung nicht zu denken.

Dann aber unter allen Umständen nach Tisch, sagte Viktor ärgerlich. Wirst Du tanzen?

Sonderbare Frage!

Ich wollte nur sagen: richte es so ein, daß Du für einen, oder ein paar Tänze frei bleibst. Nach Tisch ist er immer am zugänglichsten.

Nachgerade weiß ich wirklich, was ich zu thun habe.

Ich wäre der Letzte, der daran zweifelte.

Also! – Wollten Sie etwas von mir, liebe Stephanie?

Etwas sehr Dringendes. Bitte, Herr von Sorbitz!

Viktor war mit einer Verbeugung zurückgetreten; Stephanie hatte die Freundin unter den Arm gefaßt und ein paar Schritte seitwärts aus dem Schwarm in eine leere Fensternische geführt.

Um was handelt es sich? fragte Klotilde.

Liebes Herz, Du kannst mir aus einer großen Verlegenheit helfen. Wie ich eben die Tische revidiere, sehe ich, daß Franz neben anderm Unsinn – man kann dem Jungen wirklich nichts überlassen – einen Gast, den wir heute zum erstenmale hier haben, ganz falsch placiert hat.

Meinen Cousin Meerheim?

Den habe ich für mich genommen. Nein! Aber Klotilde, nun kannst Du einmal wirklich zeigen, daß Du mich lieb hast.

[] Mein Gott, das klingt ja ganz feierlich.

Feierliches ist nun schon gar nicht dabei. Aber Franz hatte Dir Fernau gegeben, und ich weiß, daß Du ihn gern hast.

In allen Ehren.

Aber, Schatz, das versteht sich doch von selbst! Er soll jetzt Deine Cousine führen. Ich habe eben Franz zu ihm geschickt: er habe Euch beide verwechselt.

Fernau wird entzückt sein.

Das gerade nicht, obgleich die kleine Dame wirklich ganz allerliebst ist, trotz ihres mindestens dreimal neu garnierten Kleides. Für Dich nur, Du armes Opferlamm –

Ich bin auf alles gefaßt.

Das heißt: so schrecklich ist er gar nicht – im Gegenteil! ich kann mir denken, daß es Damen giebt, die für ihn schwärmen, ebenso wie seine Jungen. Gott sei Dank! nun ist es heraus! Es ist also der Ordinarius von Oskars Klasse, der sich Oskars sehr annimmt. Und Papa, der sehr große Stücke auf ihn hält – was Du ja schon daraus sehen kannst, daß er heute abend eingeladen ist – hat mir auf die Seele gebunden, ihn auf irgend eine Weise auszuzeichnen. Nun, Schatz, wie könnte ich das besser, als wenn Du die kolossale Liebenswürdigkeit hättest –

Ich habe die kolossale Liebenswürdigkeit. Her mit dem Mann! Wo ist er?

Er ist eben erst gekommen – diese Leute denken, es ist vornehm, wenn man spät kommt – und spricht – oder sprach vorhin nebenan mit Mama. Ich hole ihn Dir.

Noch eins! Wie heißt er?

[] Winter. Doktor Winter, oder Professor. Ich weiß nicht. Finde ich Dich hier wieder?

Stephanie war davongeeilt.

Adieu! te quitter c'est mourir, sagte hinter Klotilde, nicht eben weit von ihrem Ohr, eine leise Stimme.

Aber es muß doch nicht gleich sein, rief Klotilde, sich lachend wendend.

Auf der Stelle, erwiderte Fernau. Hélas, madame!

– un présage terrible

Doit livrer mon coeur à l'effroi:

J'ai cru voir dans un songe horrible

Un échafaud dressé pour moi.

Sollte das nicht etwas zu spät kommen? Mir scheint, Sie haben Ihren Kopf bereits verloren.

Wer ihn über gewisse Dinge nicht verliert, hat keinen zu verlieren. Also:

Adieu, charmant pays de France!

Adieu, Sie Unverbesserlicher! Sie –

Klotilde kam nicht weiter; die Stimme versagte ihr und das Blut schoß ihr in die Wangen: neben ihr stand Stephanie mit einem Herrn, der sich eben tief verbeugte, und in welchem sie trotz der veränderten Kleidung und der andern Beleuchtung sofort jenen Passagier in der entgegengesetzten Ecke des Pferdebahnwagens erkannte.

Hier, liebe Klotilde, bringe ich Dir Herrn Professor Albrecht Winter, der glücklich ist, Deine Bekanntschaft zu machen. Herr Professor Winter – Herr Legationsrat von Fernau.

Ich habe die Reisebriefe des Herrn Legationsrats durch die südlichen Provinzen Frankreichs mit Entzücken gelesen, sagte Albrecht verbindlich.

[] Sehr obligiert, Herr Professor. Die Tage des seligen Thümnel mit ihrem sentimentalen Posthornschall und lustigem Peitschenknall sind leider vorüber.

Was wir an Sentimentalität und Humor verloren, haben wir an der scharfen Beobachtung von Land und Leuten reichlich gewonnen.

Und so weiter – nach Tisch! rief Stephanie. Herr Professor, Sie wissen, daß Ihnen das große Los zugefallen ist, die gnädige Frau zu führen. Da kommen die älteren Herrschaften schon. Schließen Sie sich, bitte, hernach an! Machen Sie, daß Sie zu Ihrer Dame gelangen, Herr von Fernau! Ich muß auch nach meinem Herrn sehen.

Stephanie hatte Fernau mit sich genommen.

Da das große Los nun einmal auf mich Unwürdigen gefallen – sagte Albrecht, Klotilde den Arm bietend.

Ich glaube, ich bin verrückt, sagte Klotilde bei sich, als sie fühlte, daß die Hand, die sie auf ihres Begleiters Arm legte, zitterte.

Sie hörte auch kaum etwas von dem, was der Professor sagte, während sie so auf den Moment warteten, wo sie sich dem paarweisen Zuge, der aus den Nebenzimmern nach dem Speisesaale strömte, anschließen konnten. Das Geschwirr der Stimmen, welches vorhin die Räume sinnverwirrend erfüllt hatte, konnte nicht schuld daran sein: es herrschte eben jetzt eine fast lautlose Stille. Aber auf ihrer Seele lag es wie eine Betäubung, die ihr sonst völlig fremd war, und für die sie vergebens nach einer Erklärung suchte. Diese so unerwartete Wiederbegegnung noch an demselben Tage war ja überraschend, nur daß sie für Überraschungen eine große Vorliebe hatte; [] und die verblüffte Miene von Fernau bei der Vorstellung dessen, der ihn aus dem »charmant pays« verdrängte – das war eigentlich furchtbar komisch gewesen. Weshalb dann also dies alberne Herzklopfen und diese bängliche Empfindung, wie vor einer hereindrohenden Gefahr? Es war positiv lächerlich, und der Herr Professor mußte wirklich glauben, sie sei ein Gänschen von Buchenau, das zum erstenmal von Sterne und sentimental yourney reden hörte. Sie wollte, wenn sie erst einmal saßen, schnell ein Glas Sekt trinken. Das würde ihr den Kopf schon wieder in Ordnung bringen.

Als die letzten der jüngeren Herrschaften, zu denen Klotilde und ihr Begleiter gehörten, den Speisesaal betraten, hatten die älteren bereits in dessen kleinerem, nur durch ein paar Säulen von dem größeren vorderen getrennten Teil ihre Plätze eingenommen. Der gewaltige, von dem blendenden Licht der Kronenleuchter und der zahlreichen Wandkandelaber durchflutete Raum bot einen zauberhaften Anblick, zumal als alle nun in ihren schmucken Uniformen, tadellosen Gesellschaftstoiletten, lichten Gewändern, um die vielen, reich servierten, blumengeschmückten Tische gruppiert, lachend und plaudernd saßen, und die Menge der Diener in schmuckhaften Livreen lautlos geschäftig die Schüsseln präsentierte und die Gläser füllte.

Albrechts Herz schwoll. Da war doch einmal einer seiner Träume zur Wirklichkeit geworden! Er in diesem fürstlichen Saal, inmitten der besten Gesellschaft der Residenz, an der Seite einer schönen Frau! Da würden ja vielleicht auch die andern nicht immer Träume bleiben! sich ihm die Pforten des königlichen Schauspielhauses [] öffnen, an die er nun bereits seit zwei Jahren vergebens ungeduldig pochte! Und die kaiserliche Loge, in die ihn der General-Intendant führte, huldreiche Worte über sein gelungenes Werk aus allerhöchstem Munde zu vernehmen! Evoe, Bakche! evoe! rief es in ihm, während er den Schaum von seinem Champagnerglase schlürfte und dabei in die prachtvollen Augen seiner reizenden Nachbarin blickte.

[]

Viertes Kapitel

Klotilde hatte gefürchtet, sie würde mit dem Herrn Professor ein schauderhaft gelehrtes Gespräch zu führen haben, und sah sich aufs angenehmste überrascht, als ihr diese Pein durchaus erspart blieb. Nicht, daß von den Lippen des Herrn nicht hin und wieder eine Anspielung auf irgend einen wissenschaftlichen Gegenstand, oder etwas, das ihr wenigstens so erschien, gekommen wäre! Aber immer doch nur eine Anspielung, die seiner Unterhaltung sogar einen gewissen originellen Reiz gab und ihr schmeichelte, da er doch jedenfalls annahm, daß sie für diese Winke nach höheren Regionen das volle Verständnis besaß. Im übrigen war, was er vorbrachte – und er brachte viel, sehr viel vor – er schien unerschöpflich – doch nur eine Plauderei, die ihr allerdings um einen beträchtlichen Grad geistreicher schien als die, an welche sie in ihrer Gesellschaft gewöhnt war. Zu der er, wollte sie ihn nur nach seinen Manieren und seinem Aeußeren beurteilen, am Ende auch gehörte. Einer eleganteren Toilette konnte sich keiner der Herren in Civil rühmen; Frack und Weste waren nach dem neuesten Schnitt, das feine Vorhemd von blendender Weiße, die Krawatte saß tadellos. War [] ihr doch schon heute nachmittag in dem Pferdebahnwagen die Sorgfalt, mit der er sich kleidete, aufgefallen! Und jetzt in seiner unmittelbaren Nähe konnte sie sich überzeugen, daß sie auch sonst seine Erscheinung richtig taxiert hatte. Mit seinen regelmäßigen Zügen, der feingewölbten Stirn, den großen, ausdrucksvollen blauen Augen, dem prächtigen blonden Vollbart, der stattlichen, breitschulterigen, hochbrustigen Figur, mußte sie ihn wirklich für einen schönen Mann gelten lassen, trotzdem sie eigentlich an Blondins nicht leicht Geschmack fand, und in Fernau mit seinem blauschwarzen Haar und Bart und dem südlichen Oliventeint ihr Ideal sah. Das Einzige, was ihr an dem schönen Manne unangenehm auffiel, waren seine großen, knochigen, allzu roten Hände. In den Augen der Dame aus uralt freiherrlichem Geschlecht durfte ein Mann, den sie als ihresgleichen nehmen sollte, solche Hände nicht haben.

Las der Mann in ihren heimlichen Gedanken?

Sie waren auf die landwirtschaftlichen Reize der deutschen Mittelgebirge, zuletzt auf die des Harzes zu sprechen gekommen.

Aber Sie kennen den Harz wohl nicht? sagte sie, als sie bemerkte, daß er stiller geworden war und sie schließlich nur noch allein sprach.

Meine Heimat! erwiderte er mit einem melancholischen Lächeln.

Da wären wir ja Landsleute! rief Klotilde und nannte das Städtchen am Fuß eines der Ausläufer des Gebirges, in dessen Nähe das Stammgut ihrer Familie lag.

Ich bin in der Wahl meines Geburtsortes weniger vorsichtig gewesen, sagte er mit demselben trüben Ausdruck. [] Es ist ein armseliges, hoch oben zwischen kahlen Bergen eingeklemmtes Dorf. Meine Eltern waren blutarme Bergleute. Der Vater wurde, als ich sechs Jahre zählte, in einem zusammenstürzenden Schacht verschüttet; meine Mutter starb ein Jahr darauf. Die Gemeinde, der ich zur Last gefallen war, machte mich zu ihrem Gänsejungen, von dem ich zum Schafhirten avancierte; und ich hätte es sicher bei meiner entschiedenen Veranlagung zu dem Berufe noch zum Kuhhirten gebracht, nur daß sich der alte, kinderlose Pastor unseres Dorfes meiner annahm. Er hatte in der Konfirmationsstunde Wohlgefallen an mir gefunden; glaubte ein zukünftiges Kirchenlicht entdeckt zu haben; ließ mich studieren, adoptierte mich später sogar und vermachte mir, als er starb, sein bißchen Hab und Gut. Nun, ich Undankbarer habe die Hoffnungen des guten Mannes nicht erfüllt; es nicht einmal über den Schafhirten hinausgebracht, als der sich so ein armseliger Schulmeister, wenn die Jungen einmal wieder durchaus nichts begreifen können, oft genug vorkommt.

Die kleine, in halb elegischem, halb satirischen Ton vorgetragene Geschichte, hatte einen starken Eindruck auf Klotilde gemacht; und während der Professor mit seinem Gegenüber, dem Hauptmann von Luckow, in ein Gespräch geraten war, hatte sie Muße, sich diesen Eindruck zurecht zu legen. Ein Gänsejunge da oben auf den Bergen, der es immerhin so weit bringt – das war doch einmal etwas anderes als das ewige Einerlei der Offizier- und Beamtencarriere; das war doch sehr interessant, sehr romantisch! Und wie hübsch von ihm, daß er sich frank und frei zu seiner plebejischen Herkunft bekannte, die [] Leute der Art sonst nach Möglichkeit zu verschleiern suchen! Und je tiefer er geboren war, um so großartiger war es doch von ihr, wenn sie sich zu ihm herabließ! Adieu, plaisant pays de France! Maria Stuart und Rizzio! Gewiß war Rizzio auch ein armer Junge gewesen, der sich von den sonnigen Gassen irgend einer italienischen Stadt bis nach Schottland und in die königlichen Hallen und in das Herz der schönen Königin gesungen hatte. Mein Gott, so ein bißchen unschuldige Liebelei muß doch einer gelangweilten Königin erlaubt sein, wenn auch Graf Boswell-Fernau drüben am dritten Tische fortwährend wütende Blicke herüberschleudert. Das macht die Geschichte nur pikanter. Welche denn? Eine Episode, die ein paar Abendstunden währt und dann definitiv zu Ende geht, ist doch noch lange keine Geschichte, wie sie das Verhältnis mit Fernau allerdings bereits zu werden drohte. Hier war nach keiner Seite auch nur die mindeste Gefahr.

Und während diese Gedanken durch ihr erregtes Gehirn zuckten, überlegte sie schon, wie es wohl aufzufangen sein möchte, daß die Episode keine Episode bliebe; wie der interessante Mann wohl in ihren Kreis einzuführen, in ihrem Kreise festzuhalten wäre. Viktor mit seiner hochmütigen Verachtung alles Plebejischen und aller Plebejer mußte schon aus der Rechnung fallen. Aber das wäre nicht das erste Mal gewesen! Adele! sie war so grundgutmütig und hing an ihrer Schleppe. Es würde ihr ein Leichtes sein, Adele für den Professor zu begeistern. Und Elimar – natürlich! Er war ein halber Gelehrter. Wie sollte der nicht Geschmack an ihm finden! Und Luckow da drüben, der eben in seiner Eigenschaft als [] Lehrer an der Kadettenschule ihn seinen Kollegen nannte! Der Hauptmann war freilich Junggesell, aber, als Intimer des Kreises, immerhin ein Stein mehr im Brett. Hier im Hause erschien der Professor, so wie so, völlig akkreditiert. Die Sache würde sich machen, mußte sich machen. Sie hatte schon schwierigere Dinge siegreich zustande gebracht.

Da, in dem Moment, als der Professor sich aus der Unterhaltung mit Luckow wieder zu ihr wandte, wurde die Tafel aufgehoben. Bereits kamen die Excellenzen und andere Hochwürdenträger mit ihren Damen durch den Saal; die jüngeren Herrschaften standen nur noch an ihren Plätzen, jene vorüberzulassen und sich ihnen dann anzuschließen. Der Professor hatte ihr wieder den Arm gereicht. Ihre Hand zitterte jetzt nicht mehr; eine freudig sieghafte Empfindung füllte ihr Herz und ließ sie mit einem ihrer vollen Blicke, deren Gewalt über Männerherzen sie nun schon so oft erprobt hatte, zu ihrem Begleiter aufschauen und die Lider nicht senken vor dem Feuer der Bewunderung, das aus seinen großen Augen auf sie herabflammte.

Gott segne Sie, gnädige Frau, für die selige Stunde, die Sie einem Unglücklichen bereitet haben; sagte er so leise, daß nur eben sie es verstehen konnte.

Es war eben auch für mich eine liebe Stunde, gab sie ebenso leise zurück. Und Sie thun unrecht, mir die freundliche Erinnerung durch solche schmerzlichen Worte zu trüben.

Wenn ich das Glück hätte, näher von Ihnen gekannt zu sein, würden Sie in Ihrem schönen Herzen nicht mehr den Mut finden, mir den Titel eines Unglücklichen zu bestreiten.

[] Es klang in dem Flüstertone so herzbeklemmend – Klotilde mußte nun doch die Wimpern niederschlagen, aber nur, weil sie fühlte, daß ihre Augen brannten, und fürchtete, sie könnte die unsägliche Thorheit begehen und in Thränen ausbrechen.

Ich bin positiv verrückt, sagte sie bei sich.

Man war in die Vorderzimmer gelangt. Er hatte sich mit einer tiefen Verbeugung von ihr verabschiedet und war alsbald in dem Gedränge verschwunden, das jetzt noch größer war als vor Tisch. In dem Lärm der durcheinander schwirrenden, weinlauten Stimmen konnte man das eigene Wort kaum noch verstehen. Klotilde kam es gelegen; sie war sich bewußt, zu den Herren, die sie umringten und alle zugleich auf sie einsprachen, ganz tolles Zeug zu reden. Denn urplötzlich hatte sie im stärksten Grade eine jener übermütigen Launen gepackt, die man an ihr kannte und in diesen Kreisen entzückend fand. In witzigen und neckischen Wendungen verteidigte sie gegen den Ansturm von einem halben Dutzend Aspiranten die beiden freien Tänze, die sie noch auf ihrer Karte hatte. Sie habe, während man diese Tänze tanze, eine hohe diplomatische Mission zu erfüllen; sie müsse unterdessen den Staat retten. Dabei war ihre freudige Hoffnung, die »Courschneiderei« bei Excellenz, zu der sie ihr Mann verpflichtet, werde nur ein paar Minuten dauern und sie so wenigstens einen Tanz für den Professor herausbringen, der ja unmittelbar vor dem Souper gekommen war, und sich sicher in diesem ihm fremden Kreise nicht engagiert hatte. Vorausgesetzt, daß er überhaupt tanzte. Aber warum sollte er nicht? Er tanzte sogar zweifellos vorzüglich.

[] Ein lustiges Wort, das sie eben dem Hauptmann von Luckow erwidern wollte, erstarb ihr auf den Lippen. Sie sah den Professor auf sich zukommen mit einer Dame am Arm, die sie nicht kannte – einer kleinen untersetzten Dame, deren unmodische Frisur und einfache dunkle Toilette so gar nicht in diesen Kreis paßten, daß ihr erster Gedanke war: »wie um Himmelswillen kommt denn die hierher?« Zu einem zweiten Gedanken blieb ihr keine Zeit, denn jetzt war, während die anderen Herren etwas zurückwichen, der Professor an sie herangetreten und sagte, die Dame vom Arm lassend:

Ich wollte nicht aus der Gesellschaft scheiden, ohne der gnädigen Frau meine Frau vorgestellt zu haben.

Klotilde war aufs heftigste erschrocken; kaum daß sie die etwas linkische Verneigung der Frau Professor mit dem nötigen gesellschaftlichen Anstand erwidern konnte. Das Blut mußte ihr aus den Wangen geschwunden sein – sie fühlte es deutlich, und wie es im nächsten Moment gewaltsam zurückschoß. Dann aber hatte sie die angewohnte Selbstbeherrschung zurückgewonnen.

Aber wie unrecht, gnädige Frau, sagte sie mit einem Lächeln, das vielleicht noch etwas gewaltsam war; so spät kommen und die Gesellschaft dann, wenn ich Ihren Herrn Gemahl recht verstanden habe, so früh verlassen wollen!

Ich habe drei Kinder zu Haus, erwiderte die Dame, und das jüngste ist erst acht Wochen alt. Da hat man nicht viel Zeit für Gesellschaften übrig.

Nein, gewiß nicht, sagte Klotilde höflich.

Besonders wenn man selbst stillt, fügte die Dame hinzu.

[] Dann besonders nicht, sagte Klotilde.

Ihr Blick hatte unwillkürlich den Professor gestreift; sie hätte beinahe laut aufgelacht. Welch ein verlegen albernes Gesicht der Mann machte!

Er mochte es selber empfinden, denn er sagte mit hörbarer Ungeduld:

Wir dürfen die gnädige Frau der Gesellschaft nicht länger entziehen, liebe Klara. Gnädige Frau, meine gehorsamste Empfehlung.

Es hat mich sehr gefreut, sagte Klotilde, der Frau Professor die Hand reichend, während der Professor sich mit einem gnädigen Kpofnicken begnügen mußte. Dann hatte sie sich schnell zu den andern Herren gewandt, die sofort wieder herangetreten waren, die meisten mit lächelnden Mienen.

Um Himmelswillen, gnädige Frau, rief der Lieutenant von Sperber; wer war denn diese höchst eigentümliche Erscheinung?

Darüber kann ich genaue Auskunft geben, erwiderte anstatt Klotildes der Assessor von Visselbach. Mir ward die völlig unverdiente Ehre, die Dame zu Tisch zu führen. Bei Gott! nach zehn Minuten hätte ich glauben können, mich in einer Kleinkinderbewahranstalt zu befinden.

Schade! sagte der Hauptmann von Luckow. Der Professor ist wirklich ein sehr unterrichteter, sehr charmanter Mann. Habe ich nicht recht, gnädige Frau?

Klotilde brauchte nicht zu antworten: Viktor kam, sie zu seinem hohen Chef zu führen, der aufbrechen wollte. Es war keine Minute zu verlieren.

Sie hätte nicht sagen können, was sie dann mit seiner Excellenz gesprochen. Aber sie mußte wohl das Rechte [] getroffen haben; Excellenz waren die Liebenswürdigkeit und Güte selbst gewesen; Viktor, der in decenter Nähe dabei gestanden, hatte wiederholt zufrieden gelächelt und sagte, als die Unterredung zu Ende war, ihren Arm in den seinen nehmend und ordentlich zärtlich drückend: Das hast Du einmal wieder superb gedeichselt, Klotilde! In so etwas ist Dir doch keine über. – Und in allem andern auch nicht, hatte er mit schneller Höflichkeit hinzugefügt.

Frau Ministerial-Direktor war gewohnt, daß man ihre Gesellschaften reizend fand. So oft wie an diesem Abend war es ihr noch nicht gesagt worden. Es war nur eine Stimme darüber. Und ebenso über das zweite, daß die Königin des Festes die entzückende Frau von Sorbitz sei. Einige wollten freilich die Fahne der neuesten Acquisition aufwerfen; aber wenn auch jetzt noch »die Oase« nicht nur gelten ließ, sondern sie »ganz charmant« fand, und daß sie »ein fideler Kamerad« und ein »höllisch netter Käfer« sei, – gegen ihre prachtvolle Cousine komme sie doch nicht auf, und sie ihr gar vorziehen wollen, sei »einfach lachhaft«.

Er wurde für Klotilde in ihrem an Triumphen derart nicht armen Leben der glänzendste, den sie bis jetzt gefeiert hatte. Unter der Menge der Bettler um eine Extratour kam es manchmal fast zu unliebsamen Scenen; in dem Blumenwalzer häuften sich die Bouquets um sie zu Bergen. Und mit vollen Zügen sog sie den berauschenden Duft dieser Huldigungen ein. Ihre großen, blaugrauen Augen strahlten, während um die halbgeöffneten feinen Lippen beständig ein Lächeln schwebte, das, wie zauberhaft immer, doch stolz, ja hochmütig war und sagen [] zu wollen schien: dies alles kommt mir von rechtswegen zu! mir, eurer Königin!

Als die unermüdlichen Wirte ihre Intimen, die sie nach dem Balle noch zu einem Plauderstündchen beisammen behalten hatten, endlich entließen und Viktor mit Klotilden nach Hause fahren konnte, war es drei Uhr geworden. Viktor war über den Sieg seiner Gattin so entzückt, als hätte er ihn selbst erfochten. Mit leuchtenden Farben malte er sich ihre beiderseitige Zukunft aus.

Mit einer solchen Frau zur Seite, rief er, in einer Aufwallung von Stolz und Zärtlichkeit den Arm um ihre Schulter legend.

Und wenn man selbst so Hervorragendes leistet, sekundierte Klotilde gefällig.

Müßte es doch sonderbar zugehen –

Brächte man es nicht zum Minister.

Seit manchen Wochen war die Einigkeit zwischen den beiden Gatten nicht so groß gewesen.

[]

Fünftes Kapitel

Für Albrecht Winter rollten die nächsten Tage in dem gewohnten ausgefahrenen Geleise eben so fort. Lektionen abhalten, griechische, lateinische Exercitia, deutsche Aufsätze korrigieren, sich von seinen Sekundanern anstaunen lassen, mit den Kollegen in den Zwischenviertelstunden und in den Konferenzen »fachsimpeln« – die alte Leier, deren hohler Ton ihn manchmal zur Verzweiflung bringen wollte, mochte er andern noch so wohlgefällig in das anspruchslose Ohr klingen!

An den Abend bei dem Ministerial-Direktor dachte er mit sehr gemischten Gefühlen. Wenn er es recht überlegte, waren die Hoffnungen, in denen er sich während jener paar Stunden gewiegt, bunte Seifenblasen gewesen. Weshalb hatte man ihn eingeladen? Doch um seiner selbst willen wahrhaftig nicht. Doch nur, damit er sich des faulen Schlingels, des Oskar Sudenburg, annehme, der, die richtige Berliner Treibhauspflanze, eines Mentors freilich auch sehr dringend bedurfte. Man würde ihn sich in derselben Absicht noch ein- oder zweimal kommen lassen – natürlich nur zu den großen routs, wo er in der Menge verschwinden konnte – bis [] er den Jungen nach Prima gelotst hatte, wo denn anstatt seiner der Kollege in Prima an die Reihe kam. Was war man denn diesen Aristokraten anderes als ein Werkzeug! Hatte es seinen Dienst gethan, warf man es zu dem alten Eisen. Die Socialdemokraten hatten ganz recht: jedes Zugeständnis, das sie unsereinem machen, wird ihnen durch die Not und die Furcht abgepreßt. Ganz vergebene Mühe, ihnen zu schmeicheln, um ihre Gunst zu buhlen! Den Fuß muß man ihnen auf den steifen Nacken setzen; ihre Herrlichkeit vor die Füße werfen – ihre freche, zusammengelogene und gestohlene, brutale Herrlichkeit! Ah, ein Luther! ein Luther! Nicht der Reformator der Kirche, die doch zerbröckelt und an der nichts mehr zu halten ist! Nein, der die eisernen Fessel sprengt, mit denen die Junker und ihre Spießgesellen ein mündig gewordenes Volk noch immer einzwängen! die schandbaren Fessel, an welchen sie in den Bauernkriegen schon gerüttelt haben, die Armen und Elenden – meine Ahnen! Deren Söhnen einzig und allein noch frisches, kraftvolles Blut durch die Adern rollt! einzig und allein noch der Funke der Freiheit die Herzen erglühen macht!

Und während Albrecht so in der Phantasie die Welt in Trümmer schlug, raunte ihm eine leise Stimme ins Ohr: möchte sie doch bestehen und bleiben, wie sie ist, könntest Du einmal, nur einmal von ihren Lippen die Worte hören: ich liebe Dich!

Er durfte sich sagen, und sagte es sich diese Tage wieder und wieder, daß er es für seine Verhältnisse erfreulich weit in seinem Berufe gebracht habe, und nach menschlicher Berechnung noch ein gut Stück weiter bringen werde. Und hatte sich auch der Lorbeer des Dichters [] noch immer nicht auf seine Stirn senken wollen, über kurz oder lang mußte es doch geschehen: nannte man die besten Namen, würde man auch den seinen nennen. Aber die Anerkennung des Gelehrten, den Ruhm des Dichters und alles hätte er freudig hingegeben für die Erfüllung des großen Traumes seines Lebens: geliebt zu werden von einer Frau, wie – wie – nun ja, beim Himmel! wie die, an deren Seite er an jenem Abend gesessen hatte! Das wäre sein Adelsdiplom gewesen! Die Bürgschaft dafür, daß er, der arme Bergmannssohn, ebenbürtig war den Hoch- und Höchstgeborenen! Daß nicht, was er mit andern teilte: sein bißchen Wissen und Können, ihm zum Siege verholfen bei des Lebens olympischen Spielen, sondern das Beste, was der Mensch ist und hat und das er mit niemand teilen kann und worauf er für sein Teil deshalb von jeher den höchsten, ja, einzig und allein Wert gelegt hatte: seine Persönlichkeit.

Eine Stunde lang hatte er sich in diesem holden Traum gewiegt. Sein Ideal, das nur immer, eine goldene Morgen- und Abendwolke, in unerreichbarer Ferne vor seines Geistes Aug' dahingeschwebt war – hier hatte es in wonnesamster Leibhaftigkeit vor ihm gestanden: die hohe, schlanke Gestalt, die feinen, aristokratischen Züge, die großen, stolzen Augen, das reiche, weiche, dunkle Haar, der königliche Anstand, die lässige Anmut jeder, auch der kleinsten Bewegung, die etwas tiefe, metallische Stimme selbst – er hatte sich in jener seligen Stunde immer wieder gefragt: ist es denn möglich? kann es denn sein? hat denn wirklich endlich der Himmel Barmherzigkeit geübt und will den brennenden Durst löschen des Verschmachtenden in der Wüste?

[] Und er hatte an dem labenden Quell getrunken mit vollen, gierigen Zügen! ihr holdseliges Wesen in sich gesogen mit dem süßen Duft, der von ihrem Haar auszuströmen schien und sie umwitterte wie eine köstliche Sommergartenblume! ihr hoheitsvolles Bild eingegraben in sein Gedächtnis, daß es dastand in leuchtender Schöne, wie von eines Raphael, eines Tizian Hand gemalt, tagsüber, wo er ging und stand, im Dunkel der Nacht selbst, wenn er das schlummerlose tief in die Kissen drückte, damit Klara, die nebenan mit den Kindern schlief, sein verzweifeltes Stöhnen nicht hörte!

Die gute Klara, die nicht ahnte, was Furchtbares das unselige Weib in seinem Herzen angerichtet hatte! Und daß, wenn er sich von dem Graus lösen konnte – und er war jetzt sicher, er zu können – er es ihr und ihr allein verdankte! Denn an dem Empfang, den die hochmütige Aristokratin seiner Gattin zu bereiten gewagt hatte, war er zur Besinnung gekommen. Ah! dies verächtliche Zucken der Nasenflügel! Dies hohnvolle Lächeln! Diese demütigende Herablassung, mit der sie der Ärmsten dann schließlich doch die Hand gereicht – oder waren es nur ein paar Finger? – Wenn er ihr das vergaß – und daß er selbst in dem Moment für sie Luft gewesen – verflucht wollte er sein in diesem Leben und in jenem, wenn es eines gab!

Nun ja, er hätte die Vorstellung unterlassen können. Wenn er es nicht gethan, die sich Sträubende fast zu dem Schritt gezwungen hatte, so war es doch aus einem Gefühl heraus gewesen, dessen er sich nicht zu schämen brauchte. Er wollte durch diese Gesellschaft nicht als ein Komödiant gegangen sein, der, mit einer Frau hinter [] sich, die Rolle des flotten Junggesellen spielt. Und ihr, der er gesagt hatte, daß er ärmster Bergleute Sohn sei, weshalb ihr die Dorfschulmeistertochter unterschlagen, mit der er da oben auf den Bergen gespielt und Vogelnester gesucht und sich verlobt, als er auf die Universität ging; und der er Treue bewahrt die langen, langen Jahre unendlicher Arbeit durch Hunger und Kummer, bis er sie endlich als sein eheliches Weib heimführen konnte.

Hatte er es denn je zu bereuen gehabt?

Nein, und tausendmal nein!

Wie einfach und unscheinbar sie sein mochte, – das war für ihn Axiom: es gab keine bravere Frau, keine sorgsamere Mutter; keine, die ihn inniger liebte, es so treu und ehrlich mit ihm meinte, wenn auch manchmal ihre Formen zu wünschen ließen und ihre Rede hätte gewählter sein können. Was brauchte sie, der es stets ernst war mit dem, was sie sagte, Worten nachzujagen? Traf sie darum nicht doch immer den Nagel auf den Kopf? Hatte sie es nicht wieder diesmal gethan, als sie für sich die Einladung zu dem Ball nicht annehmen wollte und sagte: wenn Du es den Leuten schuldig zu sein glaubst und Du Dir etwas von dem Verkehr in dem Hause versprichst, – obgleich ich nicht recht sehen kann, was, und mit großen Herren ein für allemal schlecht Kirchen pflücken ist – nun, so gehe in Gottes Namen hin; aber mich laß zu Haus! Ich passe nicht dahin. Wenn Du eine Frau wolltest, mit der Du Staat machen konntest, hättest Du eine andere heiraten müssen. Ich gehöre ins Haus und in die Kinderstube. Unter all den feinen und geputzten Leuten werde ich eine traurige Rolle spielen und Dir nur im Wege stehen, wenn Du [] auch meinst, Du könntest mich so mit durchschleppen, und man würde mich Dir Deinethalben abnehmen.

Ja, das hatte er gemeint, wenn er sich auch weislich gehütet hatte, es zu sagen. Er hatte gemeint: man wird es Dir in den Kreisen zur Ehre anrechnen, daß Du, der Du zu ganz andern Ansprüchen berechtigt bist, treu zu der kleinen, unscheinbaren Frau hältst. Es ist wahr: während der Stunde bei Tisch hatte er sie in dem Taumel seines Entzückens vergessen, bis die Rede auf seine Abstammung kam, er vielmehr die Rede darauf brachte, um nun von seinem bescheidenen Lehrerhaushalt zu sprechen und dem Vivitur parvo bene des Horaz und seiner guten, kleinen Frau. Und gerade da mußte die Tafel aufgehoben werden! Gerade in dem Moment, als das aristokratische Eisen zu glühen begann, es nur vielleicht noch eines geschickten Schlages bedurft hätte, daß der Funke heraussprang: ich muß Ihre Frau kennen lernen! Die Frau eines Mannes, wie Sie, kann nicht anders als eine Elite-Natur sein, die ich zu meiner Freundin machen, die ich lieben werde!

O, des Thoren, der er gewesen war! des jämmerlichen Thoren, der sich eine volle Stunde lang am Narrenseil hatte führen lassen, um – dahin geschickt zu werden, wohin die Narren gehören!

Gut! es war ihm eine Lehre gewesen, die er nicht wieder vergessen würde. Von Stund an wollte er nur seinem Berufe leben.

Und wenn er auch das Träumen nicht würde lassen können – wer kann dem Seidenwurm verbieten zu spinnen! – er wollte fürder nie wieder in diese Schwäche verfallen; sich immer bewußt bleiben, daß die Wirklichkeit [] Wirklichkeit ist und die Träume Träume sind! Und nur ein unklarer Kopf beide durcheinander mischt!

Er war kein unklarer Kopf – er nicht! –

Es war inmitten eines solcher Selbstgespräche, die Albrecht in diesen Tagen endlos hielt, daß Auguste, der Familie Mädchen für alles, ihm ein Briefchen brachte, dessen Aufschrift von unbekannter, offenbar weiblicher Hand sein Herz schlagen machte. Bereute sie die kalte Grausamkeit, mit der sie ihn verabschiedet hatte? wollte sie Abbitte leisten? Sollte er ihr verzeihen?

Mit bebenden Händen erbrach er das Billet, hastig nach der Unterschrift blickend: Stephanie Sudenburg!

Also nur eine neue Einladung! Mit Dank abgelehnt! Selbstverständlich!

Nur daß der Brief für eine bloße Einladung ein wenig lang war!

Was also will man von mir?

Hochgeehrter Herr Professor!

Darf eine Gesellschaft junger Leute, die eben in strengster Heimlichkeit unter meinem Vorsitz bei uns tagt, sich in ihrer Rat- und Hilflosigkeit an Ihre bewährte Güte wenden und Sie bitten, Ihren Geist über ihr leuchten zu lassen! Ich will Sie und mich nicht lange mit der Vorrede aufhalten und gleich zur Sache kommen.

Heute über vierzehn Tage ist Papas – nebenbei sechzigster – Geburtstag. Es ist der lebhafteste Wunsch von uns Kindern und unsern Freunden, den Tag durch eine Festlichkeit zu feiern, von der wir annehmen dürfen, daß sie Papa ein Vergnügen bereiten wird. So weit sind wir alle einig; aber es scheint, wir kommen ohne die Beihilfe eines superioren Geistes darüber nicht hinaus. [] Deshalb unser – wiederum einmütiger und einstimmiger – Appell an Sie. Raten Sie, helfen Sie uns! Daß Sie es können, wissen wir alle; daß Sie es wollen, daran zweifelt niemand. Wir geben uns ganz in Ihre Hand; Sie werden an uns eine willige, gehorsame Gefolgschaft finden.

Noch eines! Da der liebe Papa in seiner grenzenlosen Bescheidenheit dergleiche Ovationen – so sehr er sich nachträglich daran freut – grundsätzlich ablehnt, sind wir willens, vielmehr gezwungen, wenigstens so lange als möglich unser Vorhaben vor ihm geheim zu halten. Ein häufiges Zusammenkommen der Verschworenen – das doch jedenfalls nötig sein wird, und ja auch eigentlich der Hauptspaß bei der Sache ist – würde ihm zweifellos auffallen. In dieser Verlegenheit hat sich Frau Hauptmann von Meerheim (Mauerstraße 8 part.) freundlichst erboten, uns bei sich aufzunehmen. Wie ich von der liebenswürdigen Dame erfahre, haben Sie, hochgeehrter Herr Professor, so wohl ihre als auch des Herrn Hauptmanns, wenn auch nur flüchtige, Bekanntschaft neulich auf unserm rout gemacht. Sie beide freuen sich sehr, Sie bei sich zu sehen und bitten mich, Ihnen ausdrücklich zu sagen, daß Sie von einer vorhergehenden Visite dispensiert sind. Wie hochwillkommen uns Ihre verehrte Frau Gemahlin wäre, im Falle sie an unsern Kindereien Geschmack fände, bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung.

Unsere nächste Zusammenkunft ist auf morgen (Sonnabend), 8 Uhr, abends anberaumt.

Wir hoffen zuversichtlich auf Ihr gütiges Erscheinen; speciell bitte ich um eine möglich umgehende Zeile, die uns unsere Zuversicht bestätigt.

[] Die ich mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung und Bitte um Empfehlung an Ihre verehrte Frau Gemahlin bin

Ihre

ergebenste

Stephanie Sudenburg.

P.S. Frau von Sorbitz, die mir fortwährend über die Schulter sieht, verlangt die Hinzufügung, daß sie mit dem Inhalt dieser Kritzelei nicht nur völlig einverstanden sei, sondern das Verdienst beansprucht, als die erste in unserer Versammlung Ihren Namen genannt uns auf die absolute Notwendigkeit, uns Ihrer Hilfe zu versichern, hingewiesen zu haben. Als ob das nötig gewesen wäre! Indessen will ich hiermit der Schmeichlerin, da sie gar so schön bittet, den Gefallen gethan haben.

D.O.

Albrecht hatte den in einer zierlichen Handschrift geschriebenen Brief in atemloser Hast durchflogen, bei dem Postskript hatten die Hände, die den Brief hielten, heftig gezittert.

Also doch!

Er ließ das Blatt auf den Odyssee-Kommentar fallen, in welchem er, als das Mädchen eintrat, eine Notiz für die Lektion heute gesucht hatte; sprang auf; fing an, mit großen Schritten in dem kleinen Zimmer hin und her zu gehen; blieb vor dem Spiegel stehen, um ein paar Momente höchst aufmerksam sein Gesicht zu betrachten und dann abermals seine Wanderung zu beginnen.

Also doch! Keine bunten Seifenblasen! keine täuschenden Träume! Was er in den großen stolzen Augen zu sehen geglaubt hatte, es war wirklich der Wiederschein [] des Feuers gewesen, das in seiner Seele brannte! Denn von ihr allein ging dies aus – die Nachschrift, die köstliche Nachschrift bewies es ja deutlich! Nicht für ein Königreich hätte er diese Nachschrift hingegeben! Kein Mensch würde an ihn gedacht haben; aber sie, sie hatte mit ihrer schönen, kühlen, weißen Hand die Gelegenheit bei der Stirnlocke ergriffen – die Gelegenheit, mit ihm wieder zusammen zu kommen, mit ihm wieder beisammen zu sein, nicht einmal! wiederholt, eine vorläufig unabsehbare Reihe von Malen – man weiß ja, wie es bei dergleichen herzugehen pflegt! wie unersättlich die Leute nach Proben und immer wieder Proben sind!

Eine kleine, weinende Stimme, die aus dem zweiten Zimmer neben dem seinen kam, ließ ihn den schon erhobenen Fuß wieder niedersetzen und verstört um sich blicken.

Klara! Wie sollte er ihr das beibringen? plausibel machen! Sie würde ihn auslachen! Nein, auslachen nicht! Sie nahm ja alles ernsthaft – Gott sei es geklagt! Aber um so schlimmer! Die gründliche Beweisführung, daß er ein Narr sei, wenn er sich darauf einließ, und den vornehmen Herrschaften abermals nach der Pfeife tanzte! Er konnte ihr doch nicht sagen: nein, Schatz, diesmal liegt die Sache anders. Diesmal handelt es sich um – ja, großer Gott, um was denn?

Ja, um das! Um das einzig und allein!

Darum, mir den Beweis zu führen, daß ich kein thörichter Knabe bin, der sich durch ein paar heuchlerisch gütige Blicke aus schönen Augen, ein paar schmeichelhafte Worte von Sirenenlippen um sein bißchen Verstand bringen läßt. Ja, Du tapferer Griechenheld, Du sollst [] mein Vorbild sein! Würden die Menschen noch heute von Dir singen und sagen, wärest Du daheim in Deinem kleinen Ithaka geblieben, mit dem Vater Laertes Reben planzend und dem göttlichen Sauhirten Wirtschaftsfragen erörternd, anstatt Dich durch die Welt zu schlagen, vieler Menschen Städte und Sinn kennen lernend, ja, und auch viele Leiden erduldend in Deiner Seele? Die vor allem! Ohne Leiden keine Leidenschaft! Ohne Leidenschaft keine Größe! keine Erfolge! kein Ruhm bei dem kommenden Geschlecht! Jacta est alea!

Er setzte sich an den Arbeitstisch, schob den Odyssee-Kommentar auf die Seite und schrieb mit fliegender Feder an Stephanie, daß er es sich zur Ehre schätze, dem verehrten Sudenburgschen Hause seine schwache Kraft zur Verfügung zu stellen. Zu der auf morgen abend anberaumten Zusammenkunft werde er sich pünktlich einfinden.

Sollte er Klara gleich jetzt von der Sache benachrichtigen? Es war besser, wenn er ihr mit einem fait accompli gegenüber trat. Mochte sie dann ihre Philippika halten; an der Sache war nichts mehr zu ändern.

Er mußte in die Schule. Angezogen war er bereits – nur noch den Überzieher und Hut und Handschuh. Noch heute morgen hatte er sich in seiner zerknirschten Stimmung gesagt, daß mit dem neuen Leben, welches er beginnen wolle, auch der Kleiderluxus – der einzige freilich, dessen er sich schuldig machte – aufhören müsse. Nun kam ihm doch die gewohnte Sorgfalt seiner Toilette zu statten. Er konnte nach dem Schluß der Schule um zwei Uhr, wie er ging und stand, seinen Besuch bei den Meerheims machen. Der Besuch war ihm freilich erlassen. [] Aber diesen Aristokraten gegenüber muß man in der Beobachtung der Form lieber ein wenig zu viel thun als zu wenig.

Als er das Haus verließ, sah er, noch einmal emporblickend, Klara mit dem Baby am Fenster stehen. Er winkte mit der Hand hinauf; Klara ließ zur Antwort Baby auf dem Arm tanzen.

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Sechstes Kapitel

Ich komme Dir zu früh, sagte Klotilde, als sie in der Dämmerstunde des nächsten Abends bei Adele eintrat.

Niemals, rief Adele, ihrer Cousine Hut und Mantel abnehmend. Gott, Herz, was für ein reizendes Kleid! natürlich funkelnagelneu!

Funkelnagelneu aus einem Ausverkauf bei Gerson.

Und wie das sitzt! rief Adele, Klotilden wie eine Modellpuppe herumdrehend. Ja, wer so gewachsen ist! Kunststück! Du, was hat denn das gekostet?

Wenn ich es Dir sage, ist es mit Deiner Bewunderung vorbei. So lächerlich billig! Aber kann ich Dir nicht helfen? Ich bin eigens deshalb gekommen.

In dem Kleide? das fehlte noch! Übrigens bin ich gleich fertig. Viel Umstände werden bei uns nicht gemacht, weißt Du.

Das war die Bedingung. Was ich fragen wollte: wird die Frau Professor Winter auch kommen? Er hat in seiner Antwort an Stephanie nur von sich gesprochen.

Hier ist sein Brief, sagte Adele, an ihren kleinen Schreibtisch laufend und in einem Kasten kramend. Er hat uns gestern mittag doch seinen Besuch gemacht. [] Elimar war zufällig zu Hause. Die Herren führten eine schauderhaft gelehrte Unterhaltung, von der ich kein Wort verstanden habe. Er sagte, er könne noch nichts über seine Frau bestimmen; wollte heute – na, wo ist denn – da! Lies selbst! das heißt: ich kann es Dir in drei Worten sagen: sie kommt nicht – die Kinder nehmen sie zu sehr in Anspruch – und so weiter!

Sie hatte den Brief wieder in den offen gebliebenen Kasten geworfen und sich zu Klotilden gewandt.

Na, ehrlich gestanden, ich habe die Frau Professor nur ganz flüchtig gesehen – würde sie auf der Straße nicht einmal wieder kennen – aber ich glaube, viel verlieren wir nicht an ihr. Oder, glaubst Du?

Nein, keineswegs. Aber es wäre vielleicht doch gut gewesen – um des Professors willen.

Ach, weißt Du, der sieht mir gar nicht so aus, als ob er an der Schürze seiner Frau besonders fest hängt.

Er gefällt Dir nicht?

Nicht besonders. Ich mag diese geschniegelten Männer nicht. Nur –

Nur was?

Warum hast Du eigentlich darauf bestanden, daß er eingeladen wurde? Wir wissen doch noch gar nicht, was wir wollen.

Das soll er uns eben sagen.

Aber dazu hatten wir doch schon die beiden Künstler.

Gott sei es geklagt. Was haben sie denn bisher gethan, als sich zanken? Das werden sie heute wieder thun. Damit kommen wir nicht weiter.

Meinetwegen. Mir ist alles recht. Aber Herz, nun mußt Du mich wirklich für ein paar Minuten entschuldigen. [] Du siehst, ich bin noch in der Küchenschürze. Nur ein paar Minuten! Mach' es Dir unterdessen bequem!

Hab' keine Sorge! Und übereile Dich nicht!

Adele war aus dem Zimmer; Klotilde hatte sich in einen Fauteuil sinken lassen und richtete sich wieder auf, als Adele den Kopf zur Thür hereinsteckte.

Du, kommt Viktor nicht?

Nein. Er bittet um Entschuldigung. Hat zu viel zu thun.

Diese Männer sind schrecklich.

Die Thür wurde abermals geschlossen; Klotilde lehnte sich wieder zurück, richtete sich von neuem auf, horchte nach dem Geräusch, welches über den Flur von der Küche her zu kommen schien, erhob sich und war mit ein paar schnellen Schritten an Adelens Schreibtisch.

Ich muß doch sehen, wie er schreibt, murmelte sie. Sie hatte den Brief aus dem Kasten genommen; auf dem Schreibtisch brannten bereits die beiden Lichter; sie konnte bequem lesen.

Es gab nicht viel zu lesen: fünf Zeilen. Und es stand auch nichts darin, als was sie durch Adele bereits wußte. Dennoch starrte sie mit zusammengezogenen Brauen auf das Blatt, als gäbe es da ein Geheimnis zu entziffern. Die Hand, in der sie es hielt, fing an zu zittern. Ärgerlich ließ sie es in den Kasten fallen.

Ich weiß nicht, was das ist, murmelte sie. Das ist mir im Leben noch nicht begegnet. Im Leben hat mich noch nicht nach einem Menschen so gedürstet. Es ist positiv lächerlich.

Aber sie lachte nicht. Die Brauen zogen sich nur noch düsterer zusammen, während sie, den Blick auf den [] Teppich geheftet, in dem Zimmer hin und wieder zu gehen begann.

Und ich glaubte ihn mir ganz aus dem Sinne geschlagen zu haben – hatte es auch – drei oder vier Tage lang – da kam es wieder – mir that es so leid, daß ich ihn vor seiner Frau brüskiert hatte – die Frau selbst – eine grundehrliche Person, wie es schien, mit dem breiten Munde und der Stumpfnase – die reine Köchin – glaub's, daß er sich bei der unglücklich fühlt – seine Hände freilich – die stimmen zu der Köchin. Wenn der Mensch nur nicht so wunderschöne Augen hätte! O, mon dieu, diese Augen! Es ist ein Glanz drin, ein Feuer! Eine Liebesglut – eine verhaltene! Eine, die noch nie hat herauslodern können! – Das ist gerade das Anziehende! Diese anderen – Fernau – Viktor – wie oft hat das da schon gebrannt! – alles Asche! – Und das quält sich denn ab, uns glauben zu machen, es brenne lichterloh! pah! – Aber so eine taufrische, jungfräuliche Liebe – ach! ihn nur einmal, ein einziges Mal –

Sie hatte es, immer hastiger schreitend, bald leiser, bald lauter vor sich hingemurmelt und blieb jetzt erschrocken stehen vor einem Geräusch aus dem Nebenzimmer. Elimars! Er konnte doch nichts gehört haben?

Die Thür that sich auf, Elimar stand auf der Schwelle.

Ach, gnädige Frau – Verzeihung! ich sollte mich ja einer vertraulicheren Anrede bedienen. Ich hörte vorhin sprechen, konnte aber die Stimme nicht erkennen. Wo ist denn Adele?

Sie macht Toilette.

[] Das pflegt bei ihr nicht lange zu dauern. Nun, und wir wollen heute abend endlich die Quadratur des Zirkels finden?

Ich setze meine Hoffnung auf den Professor Winter.

Wenigstens scheint es, daß wir mit unserem Latein zu Ende sind. Ich glaube, es war ein Fehler von Fräulein Stephanie, zwei Kunstlöwen auf einmal in die Schranken zu fordern. Man hätte voraussehen können, daß sie sich einander auffressen würden.

Ich habe mich halb tot gelacht.

Es war lächerlich genug, obgleich doch im Grunde dieser völlig blinde Haß hinüber und herüber im Interesse der Kunst tief bedauerlich ist.

Daran denkt unsereine nicht.

Als ob Sie so, mir nichts, dir nichts, »unsereine« wären!

Was denn sonst?

Der Hauptmann zuckte lächelnd die Achseln.

Bitte, bitte! so kommen Sie nicht fort! Ich will wissen, wie ich in Ihren Augen dastehe; wofür Sie mich eigentlich halten?

Elimar war einen Schritt näher getreten und blickte aus seiner Höhe lächelnd auf sie hinab.

Wie Sie in meinen Augen dastehen? Nun, ich glaube einen lebhaften Sinn für Frauenschönheit zu haben; da würde es vielleicht Ihre Bescheidenheit verletzen, wenn ich es sagte. Und wofür ich Sie halte? Wollen Sie es wirklich wissen?

Ich bestehe darauf.

Nun denn! Für eine Frau, die mit ihren herrlichen Gaben des Geistes und auch des Herzens eine [] für Menschen ganz seltene Anwartschaft auf Glücklichsein hätte, wenn ihr nicht eines fehlte –

Das ist?

Genügsamkeit.

Was verstehen Sie darunter?

Die Einsicht, daß uns Menschen Vollkommenes nun einmal nicht wird und werden kann; wir überall und zu jeder Zeit auf einen mehr oder weniger peinlichen Erdenrest gefaßt sein müssen und auf Kompromisse, die wir machen dürfen, ohne unserer Würde etwas zu vergeben.

Das sagen Sie, weil Sie alles besitzen, was Sie wünschen.

Umgekehrt: ich besitze alles, weil ich nichts wünsche.

Auch nicht, in noch sehr absehbarer Zeit es bis zur Excellenz zu bringen?

Um ihre Lippen spielte ein so malitiöses Lächeln, aus den halb zugekniffenen Augen, die zu ihm aufblinzelten, flimmerte ein so drolliger Ausdruck – Elimar mußte lächeln, wie ernst es ihm auch zu Sinn war.

Sie unverbesserliches Weltkind, Sie! sagte er. Wer kann Ihnen bös sein!

Die Thür wurde aufgerissen; Adele stürzte herein.

Kinder, es hat geklingelt! Gott sei Dank, daß ich noch fertig geworden bin!

Bis auf die Schleife, die entschieden an eine andere Stelle gehört, sagte Klotilde, an ihrem Anzug nestelnd.

Meinst Du? Na, stecke sie hin, wo Du willst!

Der Hauptmann von Luckow und der Landschafter Christian Wollberg waren zugleich gekommen; dann erschien Stephanie in Begleitung ihrer beiden Brüder; [] nach einer kleinen Weile der Legationsrat von Fernau mit dem Historienmaler Professor Hederich; als der letzte, Albrecht. Klotilde war so in ein Gespräch mit dem Legationsrat vertieft – Adele mußte sie erst auf den Nachzügler aufmerksam machen.

Ah, sagte sie, ihm die Hand reichend, wie lieb von Ihnen, daß Sie gekommen sind!

Haben Sie daran gezweifelt, gnädige Frau?

Offen gestanden: ich fürchtete, wir würden einen Korb bekommen.

Weshalb?

Mein Gott, ein ernster Mann, wie Sie! und solche Allotria!

Wir sind hier alles ernste Männer, gnädige Frau, sagte der Legationsrat. – Ich weiß nicht, Herr Professor, ob ich noch die Ehre –

Schulmeister müssen ex officio ein gutes physiognomisches Gedächtnis haben. Gewisse Erscheinungen nicht zu vergessen, dazu gehört freilich weder Übung noch Kunst.

Die beiden Herren waren gegeneinander von ausgesuchter Höflichkeit. Aber Klotilde hatte, als sie sich zu Albrecht wandte, in Fernaus dunklen Augen einen eigentümlich lauernd aufmerksamen Blick bemerkt.

Ich werde sehr vorsichtig sein müssen, sagte sie bei sich.

Wir sind alle zur Stelle, gnädige Frau, meldete Fritz Sudenburg Adelen in militärischer Haltung, die Hacken zusammenschlagend.

Elimar! rief Adele mit hilfeheischender Stimme.

Meine Frau hat gemeint, es verschwört sich besser bei einer Tasse Thee. Darf ich die Herrschaften ersuchen, [] hier einzutreten, wo wir es nebenbei auch ein klein wenig weniger eng haben.

Elimar hatte die Flügelthüren zu dem größeren dritten und letzten Gemach geöffnet, das in dem bescheidenen Haushalt für etwaige gesellschaftliche Zwecke reserviert war, und wo jetzt ein länglicher, sauber gedeckter, mit den nötigen Theesachen, Kuchen und belegten Brötchen besetzter Tisch für die Gäste bereit stand.

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Siebentes Kapitel

Man hatte nach einigem Hinundherkomplimentieren Platz genommen; Klotilde hatte es so einzurichten gewußt, daß sie Albrecht schräg gegenüber, zwischen Elimar auf der einen, Stephanie auf der andern Seite zu sitzen kam. Auch daß die beiden Künstler durch die Länge des Tisches voneinander getrennt waren, mochte kein Zufall sein. Adele hinter ihrer Theemaschine füllte die Tassen, welche Elimars Bursche, ein gewandter, heute abend in einfacher, kleidsamer Livree steckender junger Mensch herumreichte. Bald hatte sich um den Tisch herum eine lebhafte Konversation angesponnen über alles Mögliche, nur nicht über das, was der Gegenstand des Abends sein sollte, bis der junge Maler Wollberg, von einem Konvolut Radierungen und Zeichnungen, in welchem er emsig gewühlt hatte, sein struppiges Haupt erhebend, mit einer lauten Stimme in wenig verbindlichem Tone sagte:

Ich dächte, meine Herrschaften, wir kämen endlich zur Sache. Viel Zeit habe ich so wie so nicht. Ich muß nachher noch in den Künstlerverein.

Sofort war eine halb komische, halb peinliche Stille entstanden. Fast aller Blicke hatten sich, wie instinktiv, [] auf Elimar gerichtet. Adele setzte die Tasse, die sie eben auf Johanns Präsentierteller stellen wollte, wieder auf den Tisch und faltete mit niedergeschlagenen Augen die Hände in dem Schoß.

Meine verehrten Damen und Herren, begann Elimar lächelnd –

Hört! hört! rief Hans von Luckow, sich in seinen Stuhl zurücklehnend.

Ich weiß wirklich nicht, wie ich zu der Ehre komme, fuhr Elimar fort. Es wäre denn, daß es schließlich einer von uns sein muß, der die Diskussion – nicht leitet, wozu ich keineswegs den Beruf in mir fühle – aber doch einleitet, was mit sehr wenigen Worten geschehen kann. Wir haben in unsrer letzten und bis jetzt einzigen Zusammenkunft – ich konstatiere das besonders im Interesse des Herrn Professor Winter, der nicht zugegen war – uns nach längerer Debatte dahin verständigt, daß das Stellen von einer Reihe sogenannter lebender Bilder unsern Zwecken am meisten und besten entsprechen würde, um so mehr, als wir uns bei diesem Vorhaben auf den maßgeblichen Rat und die sachkundige Führung zweier, gleich ausgezeichneter, dem verehrten Sudenburgschen Hause gleich wohlgesinnter und befreundeter Künstler verlassen können. Die Notwendigkeit, uns neben diesem künstlerischen Beirat auch eines litterarisch-poetischen zu versichern, wurde allgemein empfunden, und auf einen Antrag von geschätzter Seite dem Mangel abgeholfen durch Hinzuziehung einer Kraft, die uns jeder Sorge nach der beregten Seite überhebt. Doch wollen wir, wenn es den Herrschaften genehm ist, diesen Teil unsres Themas vorläufig in suspenso lassen und dafür [] die Herren Künstler ersuchen, uns die Vorschläge, über welche sie sich bis heute einigen wollten –

Ein dumpfes Oho! ertönte von dem Ende des Tisches, wo Herr Wollberg jetzt wieder seinen struppigen Kopf über die Kunstblätter gebeugt hatte, während von dem andern, wo Herr Professor Hederich in einem großen Album blätterte, ein sehr vernehmliches Räuspern kam.

So wenigstens habe ich die Herren verstanden, sagte Elimar, von einem zum andern blickend. Es sollte mir leid thun, wenn –

Darf ich um das Wort bitten, sagte mit sanfter Stimme der Professor Hederich, ohne die Augen von seinem Album zu erheben.

Ich ebenfalls! rief Herr Wollberg, den Kopf noch tiefer auf seine Blätter senkend.

Also Herr Professor! forderte Elimar freundlich den Akademiker auf.

Ich wollte nur bemerken, begann dieser, sich mit seiner langen, dürren Gestalt vom Sitze erhebend, daß der Herr Hauptmann, was mich betrifft, durchaus richtig verstanden hat. Ich hatte und habe den aufrichtigen Wunsch, in dieser Sache mit dem verehrten Kollegen Hand in zu gehen. Leider ist ein zweimaliger Versuch, ihn in seinem Atelier anzutreffen, resultatlos geblieben; und da der Herr Kollege seinerseits den analogen Versuch, der nebenbei keinesfalls resultatlos geblieben sein würde, anzustellen unterlassen hat –

Wüßte nicht, was dabei hätte herauskommen sollen! brummte Herr Wollberg.

Vielleicht eben die von der Gesellschaft gewünschte Einigung, bemerkte Elimar in versöhnlichem Ton.

[] An die im Leben nicht zu denken ist, rief Herr Wollberg. Mir deucht, das hätte den verehrten Herrschaften schon neulich einleuchten müssen. Ich stelle den Antrag, daß Herr Professor Hederich seine Vorschläge macht; ich werde dann meine Vorschläge machen.

Die wir doch aber, wenn es angeht – und es wird gewiß angehen – kombinieren dürfen? schaltete Elimar ein.

Auch dagegen muß ich auf das entschiedenste protestieren! rief Herr Wollberg. Ein solches Durcheinanderrühren der Stile ist schon das Kunstwidrigste, was es giebt. Jeder für sich und Gott für uns alle. Die Gesellschaft kann ja dann ihre Wahl treffen.

Und wer die Wahl hat, hat die Qual, sagte Elimar. Indessen, Herr Wollberg, ich hoffe, daß dies noch nicht Ihr letztes Wort ist. Nun aber, meine Herrschaften, werden wir, um weiter zu kommen, wohl oder übel auf den Antrag des Herrn Wollberg eingehen müssen. Wollen Sie also, Herr Professor, die Güte haben, uns Ihre Vorschläge mitzuteilen!

Ich möchte denn doch gehorsamst bitten, sagte der Professor, sich abermals erhebend, diese Aufforderung zuerst an den zu richten, von dem der Antrag ausgegangen ist.

Also, Herr Wollberg, bat Elimar.

Ich werde mich hüten, mir zuerst die Finger zu verbrennen, murrte Herr Wollberg.

Ja, aber, meine Herren, sagte Elimar, sie werden mir zugeben, daß wir so nicht von der Stelle kommen.

Na, meinetwegen! rief Herr Wollberg. Man soll wenigstens nicht sagen können, ich bin ein Spielverderber, [] wenn ich auch zum voraus weiß, daß – na, es wird sich ja gleich zeigen. Also, meine Herrschaften, ich habe hier einen ganzen Packen Blätter, wie Sie sehen – alles Reproduktionen von Gemälden aus unsern letzten Kunstausstellungen. Die habe ich gewählt, weil sie noch in Erinnerung von aller Welt sind, oder doch sein sollten. Und ich habe immer gefunden, die Leute sind nicht dankbarer, als wenn man ihnen Sachen zeigt, die sie kennen. Darin sind sie wie die Kinder. Ich werde die Blätter, eines nach dem andern, herumgehen lassen; die Herrschaften können sich dann selbst überzeugen. Also! Hier ist zuerst die Blinde von Piglhein. Ein Wort zum Lobe dieses ausgezeichneten Bildes zu sagen, ist wohl überflüssig. Ich darf also annehmen, daß die Blinde acceptiert ist.

Hier erhob sich Professor Hederich:

Mir scheint die Annahme denn doch etwas gewagt. Der Herr Kollege selbst hat eben erst jedes Kompromiß von der Hand gewiesen und der Gesellschaft nur die Wahl zwischen ihm und mir gelassen.

Zwischen meinen und Ihren Vorschlägen, wollen Sie sagen! rief Herr Wollberg höhnisch.

Das dürfte auf dasselbe herauskommen, erwiderte der Professor, jetzt schon sichtlich gereizt. Übrigens unterbreche ich Sie nicht, wenn Sie das Wort haben, und darf mir wohl vice versa dasselbe von Ihnen erbitten. – Nun ist es aber ohne weiteres klar, es kann unter diesen Umständen von der Annahme eines einzelnen Bildes nicht die Rede sein, sondern nur von der ganzen Serie; notabene, nachdem ich vorher ebenso meine Vorschläge gemacht habe und der Gesellschaft das ganze beiderseitige [] Material unterbreitet ist. Was speciell das Piglheinsche Bild betrifft, darf ich denn doch die Bemerkung nicht unterdrücken, daß es mir für unsere Zwecke völlig ungeeignet scheint.

Nun hört aber verschiedenes auf! rief Herr Wollberg.

Denn, meine Herrschaften, fuhr der Professor fort, diesmal ohne auf die Unterbrechung zu achten; der – nebenbei für meinen Geschmack stark gesuchte und raffinierte – Reiz des Bildes liegt in der die Nerven des Beschauers pickelnden, respektive auf seine Thränendrüsen berechneten Grausamkeit, mit welcher hier die hilflose Blindheit in schärfsten Gegensatz gebracht ist zu einer in allen Farben prangenden Welt um sie her. Nehmen Sie ein Glied des Gegensatzes weg, so ist es mit der Wirkung vorbei. Ich möchte aber wissen, wie Herr Wollberg es zustande bringen will, in seinem lebenden Bilde die Gestalt mit der hier völlig unentbehrlichen Landschaft zu umgeben.

Das würde ja dann wohl meine Sache sein, sagte Herr Wollberg höhnisch.

Meine gewiß nicht, gab der Professor nicht minder höhnisch zurück.

Wir dürfen wohl annehmen, fiel hier Elimar begütigend ein, daß Herr Wollberg sich seine Vorschläge, auch hinsichtlich ihrer Ausführbarkeit, reiflich überlegt hat. Ich möchte ihn also bitten, fortzufahren.

Schön! sagte Herr Wollberg. Die beiden nächsten Blätter also, welche während der Rede des Herrn Professors Zeit genug gehabt haben, die Runde zu machen, sind die beiden pietá von Klinger und Stuck. Die Damen haben eine verwunderte Miene gemacht; einige Herren [] die Köpfe geschüttelt, einige, offenbar nur aus Höflichkeit nicht gelacht. Ich habe es nicht anders erwartet. Die große Kunst ist eben noch nicht salonfähig, aber sie muß es werden; die Welt will zur Anerkennung des wahrhaft Schönen allemal gezwungen sein. Gott sei Dank werden die Bänke, auf denen die Spötter sitzen, schon mit jedem Tage kürzer. Übrigens will ich zur Beruhigung der zarten Seelen doch bemerken, daß ich mir in dem lebenden Bilde den Leichnam des Herrn gemalt denke. Bis wir uns so weit aufgeschwungen haben, in dem in dem lebendigen, nackten Menschenleib ein für allemal das Meisterwerk der Schöpfung zu sehen und zu bewundern, wird wohl noch viel Wasser bergab fließen müssen.

Nach dem Wagnis mit den beiden pietá hatte der junge Künstler für seine übrigen Vorschläge freie Bahn. Thoma's Versuchung Christi, Looschen's Luna und Abendstern, Skarbina's die Mansardentreppe hinabsteigender Blusenmann, Uhde's Schauspieler – man ließ die Blätter cirkulieren, ohne seinen Empfindungen, welcher Art sie auch waren, durch Worte oder Mienen einen Ausdruck zu geben. Es kam die Reihe an den Professor Hederich, nun seinerseits die Gesellschaft mit seinen Vorschlägen bekannt zu machen.

Wie immer, wenn er sprechen wollte, erhob er sich von seinem Sitz, diesmal mit besonders langsamer Feierlichkeit.

Meine verehrten Damen und Herren! Was ich Ihnen ohne jede Anmaßlichkeit der Unfehlbarkeit zu proponieren die Ehre habe, wird sich Ihnen vielleicht durch seine große Einfachheit einigermaßen empfehlen. Sie alle wissen – und die hier anwesenden Kinder der Familie werden es mir bestätigen – daß unser hochverehrter, [] zu feiernder Freund und Gönner, wie alle Männer von wahrhaft klassischer Bildung, ein enthusiastischer Bewunderer des Genius unseres größten Dichters ist; wir infolgedessen ihm, seiner Gemahlin und ihren im Geist des Hauses sympathisch mitlebenden Gästen nicht leicht eine größere Freude bereiten können, als wenn wir die Vorwürfe zu den lebenden Bildern aus der Wunderwelt selbst unsers Dichterheroen entnehmen. Wenn Sie, wie ich mir schmeichle, so weit mit mir eines Sinnes sind, ahnen Sie auch bereits, daß ich in meinen Händen hier ein Exemplar der Prachtausgabe des Bruckmannschen Albums der Goetheschen Frauengestalten meines unsterblichen Meisters und Lehrers Wilhelm von Kaulbach –

Hier wurde der Redner durch ein seltsam unheimliches Geräusch unterbrochen, das wie ein mühsam unterdrücktes, krampfhaftes Lachen klang und von dem andern Ende des Tisches kam, wo Herr Wollberg sein sommersprossiges Gesicht so tief in seine Blätter begraben hatte, daß man nur den massiven Schädel mit der üppigen Fülle seiner verwirrten krausen, roten Haare sah. Die Gesellschaft wollte offenbar nichts gehört haben; nur Fritz Sudenburg mußte schnell sein Taschentuch ziehen und sich dessen mit einigem Geräusch bedienen, für welche Indiskretion er von seinem Bruder Franz, der neben ihm saß, unter dem Tisch mit einem gelinden Fußtritt bestraft wurde. Der Professor, dessen immer blutarmes Gesicht der Zorn völlig fahl gemacht hatte, fuhr mit bebender Stimme fort:

Daß meinem Vorschlag von einer gewissen Seite, auf der Pietät und Rücksicht sinnlose Worte sind, mit Spott [] und Hohn begegnen würde, habe ich vorausgesehen. Es läßt mich völlig kalt. Darf ich doch überzeugt sein: eine Gesellschaft, wie diese – eine Gesellschaft feinfühliger, edler Damen, großgesinnter, hochgebildeter Männer – hält mit mir die heilige Fahne des Idealismus hoch gegen den wüsten Ansturm von des Gassenvolkes Windsbraut; will mit mir lieber silberne Früchte aus goldenen Schalen nehmen, als sich an widerwärtigen, von Sudelköchen bereiteten Speisen Hand und Seele beschmutzen; sich gern mit mir erheben in Regionen, in denen aus gottbegnadeter Dichter-Künstlerphantasie entsprossene, gesteigerte Gestalten ihr unsterbliches Leben führen; wird mit Freuden –

Der Redner kam nicht weiter; an dem entgegengesetzten Ende des Tisches war Herr Wollberg aufgesprungen, hatte mit geballter Faust auf seine Kunstblätter geschlagen und rief:

Ich will mich nicht länger beleidigen lassen von jemand, dem ich jedes Verständnis für die wahre Kunst abspreche! Und dazu muß ich erklären: bei aller schuldigen Achtung vor den Damen und – mit einer einzigen Ausnahme – der ganzen hier versammelten Gesellschaft – wenn Sie es fertig bringen, einen Vorschlag ruhig anzuhören, bei dem unsereinem die Haare zu Berge stehen; nur einen Augenblick daran denken können, die affenschändlichen Produkte eines durch und durch manierierten, durch und durch verlogenen, eitlen Windmachers und Charlatans, wie dieser Kaulbach, ernsthaft zu nehmen – dann muß ich gestehen, bin ich hier vollständig überflüssig. Und glaube es mir schuldig zu sein und Ihnen einen Gefallen zu erweisen, wenn ich Sie von meiner [] nutzlosen Gegenwart befreie. Ich habe die Ehre, mich den Herrschaften ganz gehorsamst zu empfehlen.

Der junge Mann hatte seine Blätter zusammengerafft und war zur Thür hinaus, während der Gesellschaft der Schrecken über den wilden Ausbruch noch lähmend in den Gliedern lag, und bevor selbst Elimar, der in der Nähe des Wütenden saß, eine Bewegung, ihn zurückzuhalten, hatte ausführen können. Die Damen hatten bleiche, starre Gesichter, die Herren blickten einander kopfschüttelnd an; nur der Akademiker lächelte verächtlich, in den Stuhl zurückgelehnt, mit seiner goldenen Uhrkette spielend.

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Achtes Kapitel

Nach einer kleinen Weile hatte sich die Spannung denn doch gelöst. Der Brausekopf! Nun ja, sein Betragen war in unerhörter Weise unschicklich gewesen; aber, mein Gott, er war eben ein Künstler! einer von den jungen, die, extravagant zu sein, als ihr gutes Recht betrachteten! Und, wenn man billig sein wollte: der Professor hatte ihn schwer gereizt. Gassenvolk – Sudelköche – das waren am Ende keine schmeichelhaften Ausdrücke, deren sich gerade der ältere Mann hätte enthalten sollen. Und dann: die peinliche Scene hatte denn doch ihr sehr Drolliges gehabt! Nachträglich mußte man doch darüber lachen!

Und man lachte ganz ungeniert zum Entsetzen des Akademikers, der sich durch das frivole Betragen einer sonst so formvollen Gesellschaft aufs tiefste beleidigt fühlte. Anstatt, wie es in der Ordnung gewesen wäre, ihn zu bedauern, daß er sich den Insulten dieses Grünschnabels, dieses Frechlings ohne jegliche, weder große, noch kleine, goldene Medaille hatte aussetzen müssen, Zweifel an der Korrektheit seines Betragens! ja, offenbare Parteinahme für den Frechling! Und hatte er denn seine fulminante [] Rede in die leere Luft gehalten? Es schien sich ja kein Mensch mehr um ihn und seinen genialen Vorschlag zu kümmern!

In der That hatte man sich, nach der tragi-komischen Scene einer Aussprache bedürftig, von dem Theetisch erhoben und stand, in kleinen Gruppen eifrig plaudernd, so herum; fing bereits auch an, durch die kleinen Gemächer zu promenieren bis in das dritte, kleinste: das Arbeitskabinett des Hauptmanns. Hier aber hatten die Gebrüder Sudenburg ein Tischchen mit Cigarren- und Cigaretten- Kästen und -Kästchen entdeckt und der Versuchung, sich für die endlosen Kunstdebatten durch ein paar kräftige Züge zu entschädigen, nicht widerstehen können – selbstverständlich nach pflichtschuldigem: wenn der Herr Hauptmann es gütigst verstatten! Die Damen würden nichts dagegen haben. Im Gegenteil! Stephanie beehre sie zu Hause nicht selten auf ihren Zimmern, nur um mit ihnen in der Wette zu rauchen, und Frau von Sorbitz habe gar nichts gegen eine gelegentliche Cigarette; die Frau Gemahlin werde ja auch wohl Gnade für Recht ergehen lassen!

Elimar verließ die Rauchlustigen, zu denen sich nun auch noch der Legationsrat gesellt hatte, um in den Salon nebenan zu gehen, wo inzwischen an dem runden Tisch unter der Hängelampe ein Teil der Gesellschaft sich um den Professor Hederich versammelt hatte, der, das Kaulbach-Album vor sich, eifrig Blatt um Blatt wendend, seine Absichten des näheren auseinandersetzte.

Sie sehen, meine Herrschaften, wir haben eine überreiche Auswahl. Von dem Titelbilde will ich Abstand nehmen: der schwebende »Genius der Wahrheit« mit der [] Dichtung Schleier in der einen, dem Lorbeerkranz des Siegers in der andern Hand, dürfte in der Darstellung seine Schwierigkeit haben. – Auch von dem folgenden: dem köstlichen »Lotte-Bild« – wir möchten am Ende so viele Kinder nicht zusammenbringen. – »Dorothea und die Auswanderer« überschlage ich – das Ochsengespann, der Wagen mit der – ehem! das geht natürlich in einem lebenden Bilde nicht, so wundervoll es auch hier im Original ist. – »Gretchen vor der mater dolorosa« – ich muß mich immer der Thränen erwehren, so oft ist das herrliche Blatt ansehe. Indessen – der Gegenstand – ich fürchte, meine Herrschaften, wir müssen darauf verzichten. – Ebenso wie auch die sich umfangenden »Faust und Helena«. Wagner hat uns ja allerdings in Lohengrin und gar in Tristan und Isolde – indessen – und dann der Euphorion, der doch notwendig dazu gehört und der sich in seiner kühnen Stellung – eine Wolke, die in der Luft verflattert – mit einem Worte: ich fürchte, es geht nicht. – Bei »Mädchen im Walde« bin ich zweifelhaft. Die Gestalt des getreuen Eckart – wunderbar! die Gruppe der sich ängstlich zusammendrängenden Mädchen – zauberhaft! Aber Frau Holle da hinten mit ihrem Gefolge! Der Meister ist da etwas stark ins Dämonische geraten. Da blieben wir doch am Ende zu weit hinter dem Urbilde zurück.

Verzeihen Sie, Herr Professor, sagte der Hauptmann von Luckow, der eifrig dem Vortrage gefolgt war, ich möchte mir die gehorsamste Bemerkung verstatten – wenn das so fort geht, werden wir für unsere Zwecke verzweifelt wenig übrig behalten. Denn nun kommt noch »Lili's Park«, mit dem wegen der Unmasse von [] gackernden Hühnern und schnatternden Gänsen – honni soit qui mal y pense! – gar nichts anzufangen ist, so wenig wie mit dem »Heidenröslein«, wo sich wieder niemand zu den blökenden Schafen und meckernden Böcken wird hergeben wollen. – Für den schlittschuhlaufenden jungen »Wolfgang« finden wir vielleicht unter den jüngeren Herren einen besonders schneidigen Turner mit der Devise: »Nur Mut, es wird schon schief gehen!« was man auch der lieben »Ottilie« mit dem ertrunkenen Kinde auf dem Schoß in ihrem Kippelkahn zurufen möchte. Und damit sind wir, glaube ich, am Ende angelangt.

Am Ende! rief der Akademiker, dessen Gesicht bei der lustigen Rede des Hauptmanns immer länger geworden war. Ja, aber, verehrtester Herr Hauptmann, meine geschätzten Damen, wir fangen ja erst an! Wir werden anfangen mit dem herrlichen »Tasso, der Prinzessin sein Opus überreichend«, das heißt: einem entzückenden Tabeleau von sechs interessanten Frauen gestalten und der des Dichterjünglings. Das wird auf unser empfängliches Publikum einen ungeheuren Eindruck machen. Wir werden folgen lassen das großartige »Klärchen, die Bürger zum Kampf aufrufend«, und mit ihr, ebenso wie mit der »sich zum Ball schmückenden Eugenie« einen rasenden Beifall erzielen. Wir werden –

Und der Professor, sich immer mehr in Eifer sprechend, fuhr fort, sein Projekt anzupreisen, dessen Ausführbarkeit er nach allen Seiten bis ins kleinste durchdacht habe, und von dessen ganz immensen Erfolg er überzeugt sei.

Aber so laut der Mann auch seine dünne Stimme erhob, zwei in der ihn umgebenden Gruppe vernahmen [] kein Wort von seiner begeisterten Rede: Klotilde und Albrecht.

Sie hatten nach den ersten begrüßenden Worten keine Silbe miteinander gewechselt. Auch war, da man sich alsbald in das Theezimmer begeben und an dem Tisch Platz genommen hatte, keine Zeit dazu gewesen. Aber auch als man sich jetzt bereits seit einer halben Stunde zwanglos durch die Zimmer bewegen konnte, hatte zwischen ihnen nicht einmal der Versuch einer Annäherung stattgefunden. Klotilde konversierte aufs eifrigste, erst mit dem Legationsrat, dann mit Stephanie und Adele; Albrecht war mit Elimar in ein lebhaftes Gespräch geraten, das erst abgebrochen wurde, als dieser sich in das Rauchzimmer begab, dort nach dem Rechten zu sehen. Albrecht blieb allein, sich nicht zum erstenmal an diesem Abend unmutig fragend: was er hier eigentlich solle, wo niemand seiner zu bedürfen schien, und die Hindeutung auf den litterarischen Beirat, den man von ihm erwarte, ganz augenscheinlich eine leere Phrase gewesen war und bleiben würde. Warum da nicht lieber seinen Hut nehmen und gehen? Er gehörte nun einmal nicht in diese Gesellschaft, so wenig wie der junge Künstler, der ihr mutig den Stuhl vor die Thür gesetzt hatte. Und auf ihre ganz besondere Veranlassung sollte er eingeladen sein, die über den Tisch herüber bei den endlosen Debatten nicht einen Blick für ihn gehabt, und für die er jetzt abermals Luft war? Welcher Lug war dies nun wieder? zu welchem Zweck? Sich so weiter über ihn lustig zu machen? Nein, meine Gnädigste! dazu giebt man sich in seiner Dummheit wohl einmal her; zu einem zweiten Male nicht.

[] Er suchte mit den Augen nach seinem Hut, ohne ihn entdecken zu können. Wahrscheinlich hatte ihn der Diener auf den Flur getragen. Er hatte sich mit dem Hut in der Hand seine Abschiedsverbeugung vor der Gesellschaft machen sehen; so, ohne Hut, mußte er auf eine andere Attitüde denken.

Und dann stand er in seiner Unentschlossenheit bei der kleinen Gruppe, welche dem am Tisch sitzenden, mit nervösen Fingern in dem Album bald vorwärts, bald zurück blätternden Professor über die Schultern sah.

So, den Kopf vornübergebeugt, mochte er eine halbe Minute lang verharrt haben, als er an seiner linken Schulter eine andere Schulter fühlte. Er wollte mit einem Pardon! seitwärts zucken und blieb, von freudigem Schrecken gelähmt, im Bann der ätherischen Wolke süßen Duftes, die zu ihm aufstieg – desselben süßen Duftes, in dessen Erinnerung sein Herz alle diese Tage wild geschlagen hatte. Wild, wie es jetzt wieder schlug, als wollte es ihm die Brust zersprengen. Denn dies war kein Zufall, konnte keiner sein. Hier war Raum genug, sich einer ungewollten Berührung sofort wieder zu entziehen. Aber der leichte Druck blieb, wurde nur noch stärker, wärmer, inniger. Und er stand regungslos mit dem rasenden Herzen in der atemlosen Brust, nur des einen Gedankens mächtig: so sterben! sterben im Vollgefühl dieser unaussprechlichen, götterhaften Wonne!

Da war der holde Druck von seiner Schulter geschwunden, der wonnige Traum ausgeträumt. Der Akademiker hatte sein Album zugeklappt, die Gruppe sich gelöst. Albrecht suchte ihren Blick und fand ihn nicht. Die langen, dunklen Wimpern waren tief gesenkt; aber um ihre feinen Lippen spielte ein Lächeln, als habe auch sie [] einen köstlichen Traum geträumt, den sie noch ein paar Sekunden festhalten wollte.

Nun, sind die Herrschaften einig? fragte Elimar, der jetzt herantrat.

Der Akademiker erhob sich von seinem Stuhl und sagte erbost:

Da ist schwer zu einer Einigung zu gelangen, wenn die eine Hälfte der Gesellschaft umherpromeniert und ich von der andern, anstatt der freudigen Zustimmung, auf die ich gerechnet, nur Widerspruch zu befahren habe. Jetzt eben noch den letzten von seiten des Herrn Hauptmanns von Luckow: wie ich auf meinem Schlußtableau: »Goethes Huldigung im Park von Ettersburg« für die bartlosen Männer des vorigen Jahrhunderts: Carl August, Goethe selbst, Herder, Musäus, Merck – unter unsern bärtigen Herrn die Repräsentanten finden will! Ja, meine Herrschaften, auf derartige Einwände, die denn doch, es mild auszudrücken, recht lieblos sind – will sagen: wenig Liebe zur Sache zeigen – die Herren brauchten sich ja nur die Bärte abschneiden zu lassen – bin ich allerdings nicht gefaßt gewesen.

Der aufgeregte Herr hatte seine dünne Stimme bis zu den höchsten Fisteltönen hinaufgeschraubt, daß selbst die Herren aus dem Rauchzimmer herbeigelockt waren und jetzt in der Thür standen, leider mit lachenden Gesichtern, die den nur noch mühsam, verhaltenen Grimm des Beleidigten zum Überfließen brachten. Er raffte sein Album vom Tisch, preßte es unter den linken Arm, erhob gegen Elimar und Adele, die sich ihm in den Weg stellen wollten, abwehrend die Rechte, und hatte im nächsten Augenblick das Zimmer verlassen.

[] Die Zurückgebliebenen blickten einander betreten an.

Sie haben uns da eine nette Suppe eingebrockt, sagte der Lagationsrat leise zu Herrn von Luckow.

Was wollen Sie! erwiderte dieser laut. Danken wir Gott, daß wir endlich unter uns sind. »Nur unter dem Streben der eigenen Hand erblühet des Glückes vollendeter Stand«.

Er hatte es mit so drolligem Pathos gesagt; alle lachten, so wenig lächerlich auch den meisten zu Mute war.

Nun sind wir uns aber schuldig, etwas ganz besonders Hübsches zustande zu bringen, sagte Elimar.

Indessen schien das leichter gesagt, als gethan. Man riet hin und her, bis Klotilde plötzlich rief:

Ich hab's! Komödie müssen wir spielen.

Sie sprechen ein großes Wort gelassen aus, gnädige Frau; sagte Luckow.

Was sollte daran so Großes sein, sagte Klotilde. Ich bin überzeugt, der Herr Professor hier kann uns sofort ein passendes Stück vorschlagen, wenn er nicht selbst eines in petto hat.

Das wäre herrlich, Herr Professor, wandte sich Elimar zu Albrecht. Das würde denn freilich den Prolog und den verbindenden Text, die wir uns von Ihrer Güte erbitten wollten, noch weit übertreffen.

Albrecht empfand nichts mehr von der trüben Stimmung, in die seine Seele den ganzen hindurch bis zu jenem köstlichen Augenblick eingesponnen gewesen war wie in einen grauen Schleier. Als hätte eine göttliche Macht ihn angehaucht, fühlte er sein Herz von Mut geschwellt; mit einer Welt würde er es aufgenommen haben. Er erwiderte, ohne sich eine Sekunde zu besinnen:

[] In der That liegen bei mir zu Hause im Kasten ein paar Versuche, die sich bereits seit mehreren Jahren nach dem Lampenlicht sehnen. Ob sie es werden aushalten können, ist freilich eine andere Frage; jedenfalls steht Ihnen meine schwache Kunst von ganzem Herzen zu Diensten.

Ich hoffe, daß eine Rolle für mich abfällt; sagte Lieutenant Franz.

Und für mich, rief Lieutenant Fritz.

Und für mich! und für mich! erschallte es rings aus der Gesellschaft.

Ich denke, es sollen sämtliche Herrschaften zufrieden sein, erwiderte Albrecht. Nötigenfalls lassen wir einem etwas längeren Einakter, den ich im Sinn habe, einen ganz kurzen, nur aus ein paar Scenen bestehenden folgen oder vorangehen. Aber eine Bedingung, meine Herrschaften! Sie dürfen mir meine Ware nicht abnehmen, ohne sie vorher geprüft zu haben! Sie müssen mir erlauben, Ihnen die Sächelchen, die natürlich noch nicht gedruckt sind, vorzulesen!

Darüber dürfte zu viel Zeit verloren gehen, wandte von Luckow ein. Ich schlage vor, der Herr Professor läßt die Rollen sogleich ausschreiben und verteilt sie nach seinem Ermessen. Wir können dann sofort an die Leseprobe gehen.

Ich würde damit eine Verantwortung auf mich nehmen, die zu tragen ich nicht imstande bin, erklärte Albrecht entschieden.

Ich möchte mir einen Kompromißvorschlag erlauben, sagte Elimar. Der Herr Professor hat die Güte, uns die beiden Stücke in den Umrissen zu skizzieren und sich [] so unserer – für mich und Sie alle bereits jetzt zweifellosen – Zustimmung zu versichern. Ich bin überzeugt, daß er dann dem Vorschlag Herrn von Luckow's gern Folge geben wird.

Ja, bitte, erzählen Sie uns die Stücke!

Der Ruf war von verschiedenen Seiten gekommen – von Klotilde nicht. Aber in ihren großen Augen, die er fest auf sich gerichtet sah, glänzte ein Lächeln, das zu sagen schien: mir zuliebe! Was hätte er für dies Lächeln nicht gethan!

[]

Neuntes Kapitel

Während die Gesellschaft sich auf Sofa, Stühlen und Sesseln um ihn gruppiert hatte, war er stehen geblieben, den rechten Arm auf ein niedriges Schränkchen ihm zur Seite stützend, mit der freien Hand während des Sprechens den blonden Vollbart gelegentlich sinnend streichelnd:

Was ich den werten Damen und Herren jetzt zu skizzieren versuchen werde, ist die Dramatisierung einer Novelle, die ich vor ein paar Jahren veröffentlichte, und von der ich nicht sagen kann, daß sie ein großes Publikum gefunden hat. Seltsamerweise aber ist der Stoff schon wiederholt Bühnenschriftstellern anziehend genug erschienen, den Versuch zu wagen, ihn zu einem Drama umzugestalten. Diese Versuche sind leider sämtlich mißglückt. Ich glaubte, zu sehen, weshalb sie mißglücken mußten, und traute mir das Geschick zu, den dramatischen Kern rein aus der novellistischen Hülle herausschälen zu können und so die Klippe zu vermeiden, an der meine Vorgänger gescheitert waren.

Nun gab er in kecken Umrissen kein kleines Drama, in welchem es sich um die bittere Verlegenheit eines jungen, eben mit der Gattin von der Hochzeitsreise heimgekehrten [] Mannes handelt, der nicht den Mut gehabt hat, den vornehmen Schwiegereltern und der Braut rechtzeitig einzugestehen, daß er in seinem reichen Kaufmannshause nebenbei einen durch die Tradition seiner Vorfahren und testamentarische Bestimmungen geheiligten, offenen Laden hält. Indem er seine kindische Geheimniskrämerei hartnäckig weiter treibt und ein humoristischer Freund durch krauses Eingreifen die einfache Sache immer mehr verwickelt, gerät er zuletzt sogar in den Verdacht, ein Verbrechen begangen zu haben, bis sich alles in der harmlosesten Weise aufklärt; der Polizeichef, welcher seine Beute bereits sicher zu haben glaubte, beschämt davonschleicht, und über dem reuigen Sünder, dem die mutige, junge Frau gern verzeiht, und den jubelnden Glückwünschen der Angestellten des Hauses der Vorhang fällt.

Albrecht hatte, ohne zu stocken, in dem anmutig leichten Erzählerton gesprochen, für den er bei seinen Schülern und selbst unter den Kollegen berühmt war. Nun erscholl es: bravo! bravissimo! aus der Gesellschaft; die Damen klatschten in die Hände; Albrecht, den Arm von dem Schränkchen nehmend, verbeugte sich.

Klotilde, Sie müssen die junge Frau spielen! rief Stephanie. Die Rolle ist wie für Sie geschrieben.

Und ich habe während der ganzen Zeit nur immer Sie vor mir gesehen, erwiderte Klotilde. Da sind mit unter ganz pathetische Töne anzuschlagen. Das ist nicht mein Fall.

Ich dachte, meine Damen, sagte Elimar, wir wollten die Verteilung der Rollen dem Dichter anheimstellen. Oder, wenn er dazu zu bescheiden ist, werden wir uns doch bei der Leseprobe leicht einigen. Wichtiger scheint [] mir die Frage, ob unsere kleine Gesellschaft zur Besetzung sämtlicher Rollen ausreichen wird.

Es paßt ausgezeichnet, rief Luckow. Ich habe genau gezählt, es sind neun Rollen, drei Damen- und sechs Herrenrollen. Wir sind hier ebenfalls neun in genau derselben Verteilung: drei Damen, sechs Herren.

Und die große Komparserie des schließlich erscheinenden Geschäftspersonals? warf Elimar ein.

Die kriegen wir schon! rief Franz. Ich stelle ein halbes Dutzend Kameraden.

Ich trommle eben so viele zusammen! rief Fritz.

Darf ich mir noch ein Bedenken zu äußern erlauben, Herr Professor? fragte Fernau.

Aber ich bitte Sie, Herr Legationsrat, wenn ich selbst so schwere Bedenken habe! erwiderte Albrecht höflich.

Ich wollte nur dies bemerkten, sagte Fernau. Das vortreffliche Stück weist eine einzige jugendliche Damenrolle auf: die junge Frau. Wer von unsern Damen sie auch spielen wird – es ist mir ein schmerzlicher Gedanke, die Huldgestalten der beiden anderen in den Masken der alten Haushälterin und der Schwiegermama – welche letztere ich mir nebenbei etwas korpulent vorstellte – verschwinden zu sehen.

Darüber muß man erhaben sein, wenn man Komödie spielen will; rief Klotilde pathetisch.

Du hast gut reden, sagte Adele treuherzig; Du kriegst sie ja doch.

Nein, Stephanie! rief Klotilde.

Nein, Sie! rief Stephanie.

Meine Damen, sagte Elimar lächelnd; erneuern wir nicht den Streit um das prächtige Bärenfell! Überdies, [] der Herr Professor hatte von einem zweiten, kleineren Stücke gesprochen. Vielleicht, daß uns das noch eine oder die andere jugendliche Damenrolle bringt.

Ach, ja! das zweite Stück! bitte, bitte, das zweite Stück!

Herzlich gern, meine Damen; sagte Albrecht, wenn Ihre Geduld denn wirklich noch nicht erschöpft ist. Ich muß aber befürworten: es kann von einem eigentlichen Stück diesmal noch weniger die Rede sein, keinesfalls von einem Lustspiel; höchstens von einem Schwank, einer Farce –

Desto besser! rief Luckow.

Nun denn! sagte Albrecht.

Er hatte sich nicht wieder an den Vertikow gestellt, sondern auf einem Sessel Platz genommen, von dem aus er, wie vorhin, Klotilde im Auge behalten konnte, sich an ihrem glänzenden Blick und freudig zustimmenden Lächeln immer neuen Mut für seine Erzähleraufgabe zu trinken.

Ein schönes, junges Mädchen aus bester Familie – nennen wir sie Erna – erwartet ihren Verlobten, einen jungen Offizier –

Bravo! rief Fritz Sudenburg. Wie heißt er?

Sagen wir: Udo – zu der gewohnten Besuchsstunde. Da der Erwartete für ihre sehnende Ungeduld zu lange ausbleibt, tritt sie an das Fenster und sieht ihn über den Platz auf das Haus zukommen, zu ihrem maßlosen Erstaunen in Begleitung einer ihr völlig unbekannten, jungen, sehr eleganten Dame. Sie sieht weiter, wie Udo sich an der Hausthür von der Dame verabschiedet, nicht ohne ihr, wie es scheint, verschiedenes Wichtige [] mitzuteilen, worauf er sich langsam über den Platz entfernt. Während sie vergebens nach der Erklärung eines so seltsamen Vorganges sucht und sich, trotzdem sie wohl die Thorheit empfindet, einer Regung von Eifersucht nicht erwehren kann, bringt der Diener eine Karte: Miß Jane Stephenson! Es ist eine junge Amerikanerin, die Tochter einer der Mutter eng befreundeten Familie, welche nach Berlin gekommen ist, ihre musikalischen Studien zu vollenden. Sie kann haute erst eingetroffen sein; als man sich gestern in dem vorausbestimmten Hotel nach ihr erkundigte, erwartete man ihre Ankunft stündlich. Erna geht der Fremden entgegen; natürlich ist es dieselbe, die ihr Verlobter bis an die Hausthür begleitet hat.

Das ist was für Sie, Stephanie, flüsterte Klotilde halblaut der Freundin zu; Sie sprechen so wundervoll englisch.

Ich nehme allerdings an, daß Miß Jane das Deutsche nur unvollkommen spricht und auch wohl versteht; sagte Albrecht. Doch ist hier für die Darstellerin ein weiter Spielraum gelassen.

Bitte, bitte, fortfahren!

Erna, immer noch unter dem Druck ihrer eifersüchtigen Regung, empfängt die Dame mit einiger Reserve, erhält aber alsbald eine Lösung des Rätsels. Miß Jane, als echte Amerikanerin, hat sich zugetraut, bewaffnet mit einem Plan der Stadt, die ja doch nur ein Dorf im Vergleich zu Newyork sei, allein den Weg von dem Hotel zu dem gesuchten Hause zu finden. Auf dem Platz, nachdem sie sich, um sich zu orientieren, ein paarmal umgedreht, sei sie, kurz vor ihrem Ziele, denn doch aus der Richtung gekommen. In ihrem Reisehandbuch habe [] sie gelesen, daß man sich in einem solchen Falle vertrauensvoll an einen »Constable« zu wenden habe, die auf jedem Platze, an jeder Straßenecke zu finden, an ihrer Uniform, Helm und Säbel leicht erkenntlich und die Zuvorkommenheit und Liebenswürdigkeit selbst seien. Gerade in dem Moment sei einer an ihr vorübergegangen, der natürlich sofort die Fremde in ihr erkannt habe, dann er habe sie sehr scharf fixiert; sei auch auf ihren Anruf: heigh, Constable! sogleich stehen geblieben. Nun müsse sie sagen: ihr Grundsatz sei, sich über nichts in der Welt zu wundern; aber, wie groß auch ihre Erwartungen von der Dienstwilligkeit der Berliner Konstabler gewesen – der hübsche, junge Mann habe sie weit übertroffen. Mit der größten Courtoisie habe er sich sofort erboten, sie bis zu dem gesuchten Hause, das übrigens ganz in der Nähe sei, zu begleiten, was er denn nun gethan, während der ganzen Zeit ein perfektes Englisch fließend sprechend. Sie würde, hätte sie dies nicht selbst erlebt, es für unmöglich gehalten haben. Ein gewöhnlicher Constabel, der durch seinen feinen Anstand, seine ritterliche Höflichkeit die most accomplished gentlemen ihres Heimatlandes beschäme!

Erna, die einen ausgeprägten Sinn für Humor besitzt, hat bei dieser völlig ernsthaft vorgetragenen Erzählung tausend Mühe gehabt, nicht in Lachen auszubrechen. Die Erklärung liegt ja auf der Hand: Udo hat die Dame nur bis an das Haus, nicht in das Haus begleitet, um seiner improvisierten Schutzmannsrolle treu zu bleiben. Natürlich wird er alsbald in Person erscheinen. Sie findet den Spaß zu gut, als daß sie nicht wünschen sollte, ihn noch ein wenig fortzusetzen. Die [] Berliner Konstabler, die man übrigens im Deutschen sehr bezeichnend »Schutzmänner« nenne, seien allerdings ein Elitecorps, alle ohne Ausnahme feingebildete, gentlemanlike Leute. Das sei aber freilich auch höchst nötig, denn die Unsicherheit in Berlin sei so groß; jede anständige Familie in Berlin habe ihren Hauskonstabler, vulgo Schutzmann, der als ein Glied der Familie betrachtet werde und auf diesem Fuße ungeniert mit ihr verkehre. Das kommt nun doch der Miß, die erklärt hat, sich über nichts in der Welt zu wundern, ein wenig wunderbar vor; sie deutet an, daß die neue Freundin hier ihrer Unkenntnis von Land und Leuten spotten wolle. Eine derartige Insinuation weist Erna, als fast beleidigend, zurück. Miß Jane müsse ihr verstatten, den Beweis ihrer Wahrhaftigkeit sofort führen und den Privat-Schutzmann der Familie herbeiholen zu dürfen. In diesem Moment öffnet sich die Thür und Erna's Bruder, ein Kamerad Udo's von demselben Regiment, tritt, zum Ausgehen gerüstet, ein, den Säbel an der Seite, auf dem Kopfe den Helm, den er beim Erblicken der schönen Fremden bestürzt abnimmt!

Hier ist er! ruft Erna und läuft davon, unter dem Vorwand, die Mutter benachrichtigen zu müssen, nachdem sie zuvor den Namen der Fremden genannt, auf deren Kommen übrigens der junge Offizier, eben so wie die anderen Mitglieder der Familie, vorbereitet ist.

Also, Sie sind der Schutzmann der Familie, beginnt Miß Jane die Unterhaltung. Arnulf – kann er so heißen?

Warum nicht! rief Franz Sudenburg. Wir haben drei Arnulfs im Re'ment.

[] Arnulf ist über den »Schutzmann« ein wenig verwundert; aber warum sollte Erna ihn, als einzigen Haussohn und Vertreter des verstorbenen Vaters, der Dame nicht als Beschützer der Familie bezeichnet haben, woraus denn diese in ihrer mangelhaften Kenntnis der Sprache einen Schutzmann gemacht hat? Nun entwickelt sich zwischen den beiden eine drollige Unterhaltung, in welcher die Fremde den »Schutzmann« buchstäblich und Arnulf allegorisch nimmt, bis die Widersprüche und Unmöglichkeiten sich so häufen, daß eine Erklärung stattfinden muß. Miß Jane ist empört, so arg gehänselt worden zu sein; Arnulf, der sich mit jeder Minute heftiger in das junge Mädchen verliebt –

Die Rolle spiele ich! rief Fritz.

– hält dafür, sie müsse eine eklatante Revanche nehmen. Miß Jane, in ihrer Erregung auf und ab gehend, ist an das Fenster getreten und sieht den Offizier, der sich ihr vorhin für einen Schutzmann ausgegeben und so die ganze lächerliche Geschichte eingefädelt hat, auf das Haus zukommen. Arnulf, der ihr gefolgt ist und über die Schulter blickt, ruft: das ist mein zukünftiger Schwager, der Verlobte meiner Schwester! Er wird sogleich hier sein, ebenso wie meine Schwester, nebenbei ohne die Mama, die gar nicht zu Haus ist. Hätten Sie Mut zu einem tollen Scherz, Miß Jane?

Ich habe Mut für alles, erklärt Miß Jane entschieden.

Geben wir uns den beiden Verlobten ebenfalls für Verlobte aus!

Was ist geben aus? fragt Miß Jane.

Stellen wir uns ihnen als Verlobte vor!

[] Dann wir werden thun müssen wie Verlobte, sagt Miß Jane nachdenklich.

Da Sie Mut für alles haben –

Well, wir werden thun wie Verlobte, sagt Miß Jane.

Sie nehmen vorn auf dem Sofa Platz in einer Vertraulichkeit, die man Verlobten gern gestattet. –

Du, Fritz, sagt hier Franz Sudenburg, den Kameraden überläßt Du mir!

Ich habe zuerst auf ihn abonniert, entgegnete Fritz.

Es tritt sofort noch der zweite auf, fuhr Albrecht lächelnd fort: Udo, dem Erna aus der Thür, durch welche sie vorhin verschwunden, entgegeneilt. Udo küßt seiner Braut zärtlich die Hand –

Na, Franz, fragte hier Fritz.

Abwarten, alter Sohn! entgegnete Franz.

Jetzt muß ich die beiden Ruhestörer aber wirklich zur Ordnung rufen, sagte Elimar mit freundlichem Ernst.

Die beiden jungen Offiziere verbeugten sich und Albrecht fuhr fort:

– küßt also seiner Braut die Hand, was Arnulf sofort auch bei Miß Jane thut, die diese Huldigung als etwas scheinbar Selbstverständliches hinnimmt und auch sonst in dieser Scene ihrem Wort von dem »Mut für alles« volle Rechnung trägt. Auf den Gesichtern Udo's und Erna's prägt sich tiefstes Erstaunen aus über das, was sie sehen müssen; sie treten an die beiden auf dem Sofa, die in eine, wie es scheint, intimste Unterhaltung versunken, gar keine Notiz von ihnen nehmen, heran, und Erna stellt Udo als ihren Verlobten vor, der sich ungemein freue, die auf der Straße angeknüpfte Bekanntschaft fortsetzen [] zu können, und für den kleinen Scherz, den er sich erlaubt habe, um Verzeihung bitte.

Miß Jane, ohne Arnulfs Hand zu lassen, erklärt: sie wisse nicht, was der »Herr Constable« unter dem Scherz, den er sich erlaubt haben wolle, verstehe; freue sich aber, ihm und seiner Braut mitteilen zu können, daß sie sich eben mit seinem »comrade« dem »private constable of the family«, verlobt habe. Was dann Udo durch feurige Küsse auf ihre Hand bestätigt.

Aber, Miß Jane, ruft Erna, die ihren Sinnen kaum noch traut; es ist ja mein Bruder!

Haben Sie etwas dagegen, daß ich Ihren Bruder heirate?

Und ein Constabel schon gar nicht, sondern Offizier! ruft Erna.

Wie Ihr Verlobter?

Wie mein Verlobter.

Da können wir uns beide nur gegenseitig gratulieren. Wenn bei Euch zu Lande die Schutzleute so liebenswürdig sind, wie sehr müssen es dann die Offiziere sein.

Bravo! riefen hier Fritz und Franz wie aus einem Munde.

Nun, und? und? fragten die Damen.

Der Rest versteht sich von selbst, meine Damen, sagte Albrecht. Miß Jane beweist, daß sie unter anderm den Mut hat, aus einem Scherz veritablen Ernst zu machen; die Mama kommt hinzu und segnet einen Bund, durch den ihr Sohn zum glücklichen Gatten einer nicht nur reizenden, sondern auch – wie sie sehr wohl weiß – steinreichen Frau wird. –

[] Und damit, meine Damen und Herren, schloß Albrecht, bin ich mit meiner schwachen Kunst zu Ende. Wenn Sie glauben, daß die harmlosen Scherze Ihren Zwecken genügen –

Aber daran kann doch gar kein Zweifel sein, sagte Elimar. Das ist ja gerade, was wir brauchen. Ich bin überzeugt, dies im Namen der ganzen Gesellschaft auszusprechen.

Der ganzen Gesellschaft! – Freilich! – Selbstverständlich! kam es von allen Seiten.

So werde ich die Rollen sogleich ausschreiben lassen, sagte Albrecht. Das kann in zwei Tagen spätestens geschehen sein. Wir müßten dann sofort an die Leseprobe und die Verteilung der Rollen gehen.

Man war mit allem einverstanden. Auch wollte man vorläufig mit dem Heranziehen anderer Kräfte warten, bis sich herausgestellt haben würde, wie weit man mit den vorhandenen auskommen werde.

Inzwischen war es spät geworden; man durfte die Nachsicht der liebenswürdigen Wirte nicht länger in Anspruch nehmen. Doch ging der Aufbruch nicht so schnell von statten. Man war von dem Gehörten zu aufgeregt; es gab für die nächsten Tage noch so vieles zu erwägen, festzustellen. Daß die eigentlichen Proben in den etwas engen Meerheim'schen Räumen nicht würden abgehalten werden können, leuchtete allen ein. Stephanie schlug vor, in das elterliche Haus überzusiedeln; es komme am Ende nicht darauf an, ob der Papa ein wenig früher oder später von ihrem Vorhaben Kenntnis erhalte. Man gab das zu; aber die Leseprobe, verlangte Adele, müsse jedenfalls noch bei ihr stattfinden.

[] Das alles wurde auf dem engen Flur verhandelt, während die Damen ihre Mäntel umgelegt bekamen und die Herren sich ihre Paletots und Überröcke anzogen, wobei es denn ohne einige Verwirrung und die obligaten: »Pardon!« nicht abging. Albrecht sah sich in seiner Hoffnung, noch ein Wort mit Klotilde wechseln zu können, getäuscht. Sie sollte von den Sudenburgs, deren Equipage bereits seit einer Stunde vor der Thür hielt, nach Hause gebracht werden; die beiden Lieutenants wichen ihr nicht von der Seite; er mußte sich mit einem: Gute Nacht, Herr Professor! und einem Händedruck begnügen, der ihm eine wenig flüchtig deuchte.

Dann stand er mit den Herren von Fernau und von Luckow auf der Straße. Fernau, der noch auf einen Ball mußte – er war am Abend in voller Gesellschaftstoilette mit einem Ordensband im Knopfloch erschienen – rief eine vorüberfahrende Droschke an; der Hauptmann, der für eine Strecke denselben Weg hatte, stieg mit ein; man trennte sich mit den höflichsten Grüßen und seitens des Hauptmanns der Versicherung, daß er dem Herrn Professor einen ganz ungewöhnlich genußreichen Abend verdanke.

Dafür hatte sich denn die Wagenthür kaum hinter den Eingestiegenen geschlossen, als Fernau in erregtem Tone rief:

Aber, bester Luckow, wie können Sie so dem albernen Menschen noch mehr den Kopf verdrehen, als es unsere Damen, Gott sei es geklagt, schon gethan haben! Das kann doch gar nicht Ihre wahre Meinung sein! Das war ja positiver Blödsinn, was der Mensch da vorgebracht hat! Bei Gott, ich habe mich ordentlich geschämt, [] aus purer Höflichkeit den Nonsens über mich ergehen lassen zu müssen!

Sollte hier nicht etwas wie Eifersucht mit im Spiel sein? fragte lächelnd Luckow, der die Leidenschaft Fernaus für Klotilde wohl kannte.

Der Legationsrat brauste auf:

Nehmen Sie mir es nicht übel, Luckow, das ist beinahe eine Beleidigung. Ich eifersüchtig auf den Menschen! Da könnte ich mit mehr Recht sagen: Sie protegieren ihn nur, weil Ihnen die Gelegenheit, mit Fräulein Stephanie möglichst oft zusammenzukommen, zu verführerisch erscheint.

Was ich gar nicht in Abrede stelle, erwiderte der Hauptmann trocken.

Aber weshalb dazu diesen Menschen in unsere Gesellschaft ziehen, der nun einmal schlechterdings nicht dahin gehört! Diesen aufgeblasenen, geckenhaften, vor Eitelkeit schier übergeschnappten Plebejer! Es ist heute das letzte Mal gewesen, daß ich mich zu dieser lächerlichen Farce hergegeben habe.

Der Hauptmann drückte auf den Gummiknopf im Wagen:

Ich muß hier aussteigen. Gute Nacht. Ich denke, Fernau, Sie überlegen sich die Sache noch einmal. –

Unterdessen war Albrecht durch die Straßen gestürmt, achtlos des sprühenden, kalten Regens, der eingesetzt hatte. An Nachhausegehen dachte er nicht. Was sollte er in seinem engen Hause bei seiner guten kleinen, langweiligen Frau mit diesem Sturm der Gefühle im Herzen! mit dem Bilde der Zauberin im Herzen! Ja, sie war eine Zauberin, die aus den Menschen machen konnte, [] was sie wollte: aus einem armseligen Schulmeister, der, in der elenden Frohnde seines Berufes hinkeuchend, sein Dasein so oft verwünscht hatte, einen Göttersohn! Die letzte Berührung der kleinen Hand! Nun ja, sie hätte von ihrer Seite wärmer sein können, länger währen können! Aber dann die Späherblicke rings umher! Dieser Legationsrat mit den stechendem schwarzen Kalmückenaugen, dem bei all seiner glatten Höflichkeit nicht über den Weg zu trauen war! Und hatte ihn auch die Hand nur flüchtig berührt – eine Frau, eine Dame der feinsten Gesellschaft, die – ach, er konnte nicht zweifeln: sie liebte ihn!

Und: sie liebt mich! sie liebt mich! verzückt vor sich hinmurmelnd, rannte er weiter durch die leeren, dunklen, verregneten Straßen. –

Als die Flurthür sich hinter ihren Gästen geschlossen hatte und sie sich wieder im Wohnzimmer befanden, war Elimar, seine längst vermißte Cigarre rauchend, schweigend auf und ab gegangen, während Adele, in die Sofaecke gelehnt, die Ereignisse des Abends rekapitulierend, jetzt zu der Verteilung der Rollen gelangt war, mit der sie nicht zurecht kommen konnte, da sie die Personen der beiden Stücke beständig durcheinander mischte. Aber darüber sei sie mit sich im reinen, daß sie die Haushälterin in dem zweiten – nein, in dem ersten – Stück spielen müsse, mit einer ungeheuren Haube auf dem Kopfe und einem kolossalen Schlüsselbunde am Gürtel. Ob Elimar nicht auch meine, sie werde sich so ganz vorzüglich ausnehmen?

Was soll ich meinen? fragte Elimar, stehen bleibend.

Mein Gott, Eli, wie zerstreut Du bist! Was hast Du nur?

[] Mir geht die fatale Sache mit den beiden Künstlern durch den Kopf, sagte Elimar. Es ist recht unangenehm, daß das gerade bei uns passieren mußte.

Ja, aber was können denn wir dafür! rief Adele. Dafür ist doch Fräulein Stephanie verantwortlich, die sich die beiden Zankhähne ausgesucht und uns ins Haus geschickt hat. Meinst Du nicht auch?

Freilich, sagte Elimar.

Er hatte gar nicht an die närrischen Künstler gedacht, sondern an Klotilde und den Professor. Als er, aus dem Rauchzimmer kommend, an die Gruppe trat, welche am Tisch um den Akademiker herumstand, hatte er zu seinem maßlosen Erstaunen die beiden gesehen, Schulter eng an Schulter geschmiegt. Er hätte sich einreden können, das Opfer einer Sinnestäuschung gewesen zu sein, denn in der That hatte seine seltsame Beobachtung, da sich die Gruppe alsbald löste, nur ein paar Sekunden gewährt. Aber, die beiden im weiteren Verlauf des Abends scharf beobachtend, waren ihm die höchst verdächtigen Blicke nicht entgangen, welche sie wiederholt in Momenten, die sie für sicher halten mochten, miteinander austauschten. Handelte es sich noch nicht um Liebe, so zweifellos um eine bereits recht vorgeschrittene Liebelei, die ihm schwere Sorge machte! Kannte er doch Klotildens lebhaftes Temperament! ihre Neigung, mit Männerherzen zu spielen! die Leere, welche ihr eine sicher nicht sehr beglückte Ehe im eigenen Herzen ließ, auf diese gefährliche Weise auszufüllen! Hatte er das alles doch vor fünf Jahren an sich selbst erfahren und seine ganze Festigkeit und Klugheit aufbieten müssen, sich aus der Gefahr zu retten!

[] Und diese Festigkeit und Klugheit – dem Professor mit seinen großen, lebenshungrigen Augen traute er sie schon gar nicht zu. Dergleichen Leute, besonders wenn sie aus niedern Kreisen stammen, sind in den weißen Händen einer gefallsüchtigen, keineswegs übrig gewissenhaften aristokratischen Dame weiches Wachs. Sie würde das Wachs schon zu kneten wissen! sie! Der arme Teufel mochte an das Heil seiner Seele denken! Und an das seines Leibes dazu! Viktor ließ seine Frau frei gewähren – zu frei vielleicht. Aber an seine Ehre durfte man dem alten Korpsburschen und Reservelieutenant nicht rühren! und mit dem Schulmeister würde er verzweifelt kurzen Prozeß machen!

Vielleicht waren das alles nur kassandrische, schwarze Träume.

Nur wäre es nicht das erste Mal gewesen, daß sein böses Geträume sich erfüllt hätte!

Jedenfalls wollte er die Augen offen behalten. Wenn Klotilde auf einen Menschen hörte, durfte er sich schmeicheln, daß er es sei.

[]

Zehntes Kapitel

In seinem Gymnasium war man gewohnt, Albrecht Winter mit stolz erhobenem Haupt und erfolgbewußt leuchtenden Augen zu sehen, offen bewundert von seinen für ihn schwärmenden Schülern, heimlich sogar von denen seiner Kollegen, welche ihm sein stattlichschönes Äußere, die Vielseitigkeit seines Wissens, den leichten Fluß der Rede und die Erfolge in seinen verhältnismäßig jungen Jahren beneideten. Aber seit einiger Zeit schien er nicht mehr derselbe. In den Lehrstunden war er nicht selten zerstreut; vergebens harrten die jungen Leute auf eine jener begeisterten Improvisationen, mit denen er sie sonst wohl entzückte, gerade wenn die trockensten Gegenstände behandelt wurden; und er, dem früher niemals ein hartes Wort entschlüpfte, konnte bei geringfügigen Veranlassungen heftig und unduldsam werden. Die Kollegen sahen den freundlich gesprächigen Mann in einen Kopfhänger verwandelt, der sein Schweigen nur unterbrach, um eine bitter sarkastische Bemerkung in die Debatte zu werfen. Dann wieder eines Morgens erschien »Siegfried«, wie ihn der Schulwitz getauft hatte, strahlender als je, um bereits am nächsten Tage abermals die Beute seiner seltsamen Mißstimmung und Melancholie zu sein.

[] Niemand wußte sich diese Wunderlichkeiten zu erklären; er selbst freilich mußte sich heimlich eingestehen, daß seine Seele nur noch der Spielball der Leidenschaft war, die ihn für die schöne Frau von Sorbitz mit einer Gewalt ergriffen hatte, gegen welche er in sich keinen Widerstand fand. Das ganze Dasein drehte sich für ihn um die Frage: erwidert sie meine Liebe? Glaubte er sie mit ja beantworten zu dürfen, schien ihm der herbstlich graue Himmel von rosigem Licht verklärt. Mußte er – und das war der weitaus häufigere Fall – an ihrer Gegenliebe zweifeln, sah er sich am sonnigsten Tag umgeben von den Schrecken des arktischen Eises unter einem Himmel, von dem der letzte Hoffnungsstern verschwunden war.

Unterdessen hatten die theatralischen Angelegenheiten den erfreulichsten Fortgang genommen. Die Rollen der beiden Stücke, welche jetzt offiziell: »Das Schild« und »Der Schutzmann« genannt wurden, waren in kürzester Frist ausgeschrieben worden und bei der nächsten Zusammenkunft in Adeles kleinem Salon zur Verteilung gekommen. Hier hatte Albrecht eine erste schmerzliche Enttäuschung erfahren. Ein wie reiches Lob er auch für seine dichterische Leistung einerntete, und mit welcher Einhelligkeit man ihm die Rolle des Helden im »Schild« zuerkannte, seine stille Hoffnung, die angebetete Frau dann zur Partnerin zu haben, ging nicht in Erfüllung. Klotilde, die sein bittendes Augenspiel nicht zu verstehen, oder verstehen zu wollen schien, erklärte mit aller Entschiedenheit, eine Rolle nicht übernehmen zu können, bei der die Darstellerin auch tragische Töne in der Gewalt haben müsse. Das sei Stephanies Sache. Dagegen [] glaube sie, mit der resoluten Miß Jane des zweiten Stücks wohl fertig zu werden, wenn sie auch keine so perfekte Engländerin wie Stephanie sei, die mit ihren großen, dunklen, feuchtschimmernden Augen als geängstete junge Kaufmannsfrau brillieren werde. Und da Stephanie, der es vor allem um das Zustandekommen des Unternehmens zu thun war, sich damit einverstanden erklärte, wurde Klotildens Vorschlag zum Beschluß erhoben, zur besonderen Freude Luckows, der den ärztlichen Freund des Helden im »Schild« übernehmen sollte und sich so mit dem Gegenstand seiner stillen Verehrung in dem Rahmen eines und desselben Stückes umschlossen sah.

Ein paar andere Rollen fanden leicht ihre Liebhaber. Für den Mann der Polizei schien der Legationsrat, der Luckows Rat, »sich die Sache noch einmal zu überlegen«, beherzigt hatte und am zweiten Abend pünktlich erschienen war, mit seinem Oliventeint und dem durchbohrenden Blick ganz der geeignete Repräsentant. Adele schwärmte für die Haushälterin; Elimar erklärte, daß seine Schauspielkunst über den alten Diener Balthasar, der nur wenige Worte zu sprechen hatte, nicht hinausreiche. Für das kommerzienrätliche Elternpaar sollten zwei Befreundete des Sudenburg'schen Hauses: ein älteres, behagliches, von aller Welt Tante Julie genanntes Fräulein, und ein jovialer Rittmeister von den zweiten Dragonern, Herr von Rotenburg, engagiert werden. Den durchtriebenen Ladenjüngling Fridolin zu übernehmen, erklärte sich der behende Lieutenant von Sperber gern bereit, zum großen Trost für Fritz und Franz Sudenburg, die als Offiziere im »Schutzmann« zu glänzen hofften und deren Hünengestalten sich für den windigen Schalk auch [] wenig schickten. Schwester Erna in der kleinen Posse würde bei Fräulein von Breitenbach, einem schönen, sanften Mädchen, vortrefflich aufgehoben sein. Zu der Komparserie in der Schlußscene des »Schilds« war der Andrang der Kameraden so groß, daß Fritz und Franz nur abzuwehren hatten.

Dies alles war entweder schon auf der Leseprobe bei Meerheims festgestellt worden, oder, was man da noch nicht endgiltig machen konnte, auf der folgenden, welche bereits in der großen Sudenburg'schen Wohnung stattfand, nachdem der Direktor erklärt hatte, gegen das Treiben der jungen Leute blind und taub sein zu wollen.

Was denn freilich beides recht wünschenswert schien in Anbetracht des fortwährenden Kommens und Gehens der Theaterleute, welches die folgenden Tage brachten, und des nicht unbedeutenden Lärmens, den sie bei ihren Proben vollführten. Wollte doch des fröhlichen Lachens und lustigen Schwätzens kein Ende nehmen – Albrecht mußte nicht selten seine ganze Autorität aufbieten, den Übermut zu zügeln und die Herrschaften daran zu erinnern, daß man ja wohl zusammengekommen sei, um Komödie zu spielen.

Das Amt eines Regisseurs war ihm als etwas Selbstverständliches zugefallen. Einmal schien es dem Dichter zu gebühren, und dann stellte sich auch bald heraus, daß er von theatralischen Dingen ein gut Teil mehr verstand als die übrigen Herrschaften, die nur immer von ihren Logenplätzen aus den Schaum des Trankes abgeschlürft hatten. Schon dem Studenten war das Theater eine Leidenschaft gewesen; der Traum, dermaleinst als Schauspieler oder Dichter von der Bühne herab zu glänzen, [] hatte ihn unablässig verfolgt. Weit lieber, als mit seinen Kommilitonen, hatte er mit Schauspielern verkehrt und in ihrem Umgang die rauhen Manieren des Bergmannssohnes abzuschleifen versucht mit einem Erfolg, der für naivere Augen und Gemüter ein vollkommener war. Wie oft hatte er, als ein gern gesehener Zaungast, hinter den Coulissen gestanden, mit brennenden Augen und gespannten Ohren die Darstellung irgend einer Paraderolle irgend eines berühmten Mimen einsaugend, so daß er jeden Ton und jede Geste des Wundermannes mit verblüffender Treue kopieren konnte! Wie oft hatte er mit der Vorführung solcher Künste der Heiterkeit eines Studentengelages, einer kollegialischen Tischgesellschaft erhöht!

Das alles kam ihm jetzt herrlich zu statten und ließ ihn unter diesen Dilettanten als ein durchgebildeter Künstler erscheinen, dessen Anordnungen man sich willig fügte, dessen Kritik und Korrekturen man sich gern gefallen ließ. Verehrter Herr Professor, kann ich das so machen? – Lieber Herr Professor, meinen Sie, daß es so geht? kamen die Fragen von allen Seiten; und der Herr Professor war nie um eine entscheidende Antwort verlegen, wußte sofort die nötige Wendung, die obligate Stellung anzugeben; sprach die betreffenden Worte in richtigem Ton und Tonfall mit so überzeugender Wahrheit, daß man schlechterdings nichts Besseres thun konnte, als ihm, so gut es gehen wollte, nachzuahmen.

Das waren denn freilich Stunden, die seinem Selbstgefühl schmeicheln mußten und ihm ungemischte Freude gebracht hätten, nur daß den Sonnenglanz eine dunkle Wolke trübte, nur daß in seiner erregten Seele die eine Frage unbeantwortet blieb, von deren Lösung, mochte [] sie nun gut, oder schlimm sein, – das war seine Überzeugung – das Glück oder Unglück seines Lebens abhing.

Er fühlte, daß seine Nerven es nicht lange mehr ertrügen; er wollte Gewißheit um jeden Preis, und wenn sie ihn zerschmetterte, wie den Jüngling von Sais der Anblick der unverschleierten Göttin. Und es gab Momente, wo sich der Schleier heben zu wollen und ihm der Glanz der höchsten Himmel entgegen zu schimmern schien: ein wärmerer und immer verstohlener Blick aus ihren mächtigen Augen; ein herzlicheres und immer geflüstertes Wort; ein festerer und immer schnell wieder gelöster Druck der schlanken, kühlen Hand. Was aber verbürgte ihm, daß dies alles nicht Zufall, gesellschaftliche Höflichkeit, salonläufige Koketterie war, wenn dann wieder Tage kamen, an denen er sich auch nicht des geringsten Vorzugs vor den anderen Herren rühmen durfte, ja, er zu bemerken glaubte, daß sie ihn kühler behandelte als jene und einmal wieder die vornehme Dame herauskehrte, die den Abstand zwischen sich und dem Roturier nur zu vergessen schien, wenn ihr die Laune danach stand, oder es in ihre Absichten paßte?

In solchen verzweifelten Momenten hätte er das schöne Weib, das so zum Zeitvertreib ihre Circekünste an ihm übte, an dem weißen Hals packen und erwürgen, dieser vornehmen Gesellschaft, die in ihm nur ihren Tanzmeister sah, sein Regiebuch vor die Füße schleudern mögen.

Und hatte er sich dann aus dieser Gesellschaft verabschiedet, verbindlich lächelnd die ihm von allen Seiten entgegengebrachten Danksagungen für seine Nachsicht und Geduld bescheiden ablehnend, stürmte er durch die nächtlichen [] Straßen nach Hause, in sich hinein wütend, mit allen heiligsten Eiden sich gelobend, diesen Tanz um das goldene Kalb der Eitelkeit zum letztenmale getanzt zu haben.

Ein Trost blieb ihm, und er wiederholte ihn sich beständig: in all dem Sturm und Drang seiner Leidenschaft, in diesem Chaos durcheinander wirbelnder, sich wild befehdender Empfindungen – von seinen Berufs- und häuslichen Pflichten hatte er keine einzige verletzt. Mochten seine Schüler den gütigen Lehrer ungern vermissen, der strengere war ihnen vielleicht der bessere; und seine Gattin, seine Kinder, so verstört ihm auch oft der Kopf, und wie weh es ihm ums Herz war, sie sollten noch das erste unfreundliche Wort aus seinem Munde hören. Ja, es dünkte ihm seltsam und ein psychologisches Rätsel, daß er sich, mit der wahnsinnigen Liebe für die andere im Herzen, von Klara nicht entfremdet fühlte, ja, mehr noch denn sonst zu ihr hingezogen als zu einer befreundeten Seele, von der er Rat in seiner Ratlosigkeit, Hilfe in seiner Hilflosigkeit mit Sicherheit erwarten durfte. Sollte er vor ihr hinknieen, den Kopf in ihren Schoß drücken und der Treuen, Guten, Verständigen alles, alles sagen? Mehr als einmal stand er vor dem Entschlusse so nah, daß nur noch eines Haares Breite fehlte. Dann fädelte sie gerade eine Nadel ein, oder aus ihrem Munde kam ein Alltagswort: über Karlchen, der wieder sein Höschen zerrissen hatte, über Frau Doktor Müller, bei der morgen das sechste Dienstmädchen binnen Jahresfrist anzog – und der mutige Entschluß kroch feig zum Herzen zurück. Nein! sie würde ihn nicht verstehen! Und wie konnte sie ihm verzeihen, wenn sie ihn nicht verstand!

[] Ihn, der sonst, als ein gesunder Mann, sich eines soliden Schlafes alle Zeit erfreut hatte, plagte jetzt eine hartnäckige Schlaflosigkeit. Klara über den wahren Grund seines Leidens wegzutäuschen und sich selbst die qualvollen Stunden zu verkürzen, studierte und schrieb er die halben Nächte hindurch an einer großen gelehrten Arbeit, die ihn schon seit längerer Zeit beschäftigt hatte und auf deren Fertigstellung der Verleger jetzt dringe. Klara, die ihr Leben dafür gelassen haben würde, daß kein unwahres Wort aus seinem Munde gehen könne, hatte dessen kein Arg. Wie aber ein verständiger Mensch, wenn ihm das Feuer auf die Nägel brenne, es über sich gewinne, vier, fünf Abende in der Woche mit diesem albernen Komödienspiel zu vertrödeln, gehe über ihren Horizont. Und wenn er glaube, sich, weil er sich für sie opfere, den Dank dieser vornehmen Herrschaften zu verdienen, irre er gewaltig. Die Sorte habe es an sich, den Leuten Komplimente zu machen, solange sie sie brauchten, und sie dann wegzuwerfen, wie ausgequetschte Citronen.

Worauf denn Albrecht etwas murmelte von der Notwendigkeit, B zu sagen, nachdem man die Thorheit begangen, sich auf das A einzulassen; und daß ja, Gott sei Dank, der leidige Spaß nun bald ein Ende haben werde.

Versprich mir wenigstens, Albrecht, sagte Klara, daß er dann auch wirklich ein Ende hat!

Aber wie sollte er denn nicht? entgegnete Albrecht.

Ich weiß nicht, sagte Klara. Ich habe nur immer gefunden: wenn man erst mal Unordnung in seine Wirtschaft kommen läßt, hernach ist es schwer, sie wieder[] hinauszubringen. Du bist doch sonst ein so ordentlicher Mann.

Und Du eine verständige Frau, die nicht gleich in jedem Schatten an der Wand ein Gespenst sieht. Geh zu Bett, Kind! Ich werde heute nicht so lange aufbleiben!

[]

Elftes Kapitel

Wenn Albrecht nicht wußte, ob Klotilde ihn liebe, Klotilde selbst hätte es ihm nicht sagen können.

Es war da etwas Sonderbares, für das sie keine Erklärung fand.

Fern von ihm konnte sie an ihn denken, sich seine Erscheinung in allen Einzelheiten ausmalen, ohne die geringste Wallung in ihrem Herzen zu verspüren. Mehr noch! sie sah dann mit unheimlicher Klarheit seine Schwächen: seine Eitelkeit und Selbstgefälligkeit; seine pompöse Weise, zu gehen und zu stehen, durch die doch immer der pedantische Schulmeister blickte; sein krampfhaftes Bemühen, durch nichts an seine plebejische Abkunft zu erinnern, um gerade das Gegenteil von dem hervorzubringen, was er erzielte. War es nicht beschämend, geschmacklos und grenzenlos lächerlich, sich für einen solchen Mann zu interessieren? zu enthusiasmieren sogar? Würde nicht die seine Stephanie, würden nicht, wenn sie es wüßten, ihre sämtlichen Bekanntinnen sie auslachen? Mit Fug und Recht sie eine sentimentale Närrin nennen, die schleunigst in ihre Pension zurückkehren möge, für den Litteraturlehrer so weiter zu schwärmen?

Sie hätte sich die Ohren zuhalten mögen, so deutlich hörte sie das höhnische Gelächter.

[]

Und dann brauchte sie nur wieder in seine Nähe zu kommen, um von neuem zu spüren, wie ein Zittern durch ihre Nerven rieselte; das Blut sich ihr zum Herzen drängte, atemraubend; zum Kopf, ihr das Gehirn umnebelnd; wie ihr der Mund trocken wurde und ihr die Lippen brannten nach einem Kuß von seinen Lippen!

In solchen Momenten hatte sie auch Empfindung und Verständnis für seine geistige Bedeutenheit, in der er die andern Männer ihres Kreises um Haupteslänge zu überragen schien. Mit einziger Ausnahme Elimars! Aber Elimar war ihr stets inkommensurabel und ein Gegenstand geheimer Furcht gewesen in dem unerschütterlichen Gleichmaß seines Temperaments und der krystallenen Klarheit seines Denkens. So hatte sie auch damals seiner stillen Werbung keinerlei Vorschub geleistet und wunderte sich jetzt auch nicht mehr darüber, daß er ihre unbedeutende Cousine geheiratet hatte. Von seiner Höhe aus gesehen, welch großer Unterschied konnte da zwischen den Weibern sein! Aber die Menge der Übrigen! dieser Herdentiere, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen; alle dieselben Manieren hatten! dieselben abgebrauchten Phrasen gedankenlos herunterplapperten! und von denen keiner einen Schritt wagte, es wäre denn irgend ein Leithammel vorausgesprungen, worauf sie sämtlich in stupider Hast nach derselben Seite drängten!

Selbst Fernau, den sie in letzter Zeit ziemlich stark bevorzugt hatte, weil er unter diesen Nullen noch der einzige Zähler schien, wie weit blieb er hinter Albrecht Winter zurück! Sie hatte seine »Reisebriefe« wieder hervorgesucht. In ihren Kreisen galt das Buch als ein Wunder von Geschmack, Geist und Witz; ihr selbst war [] es noch vor einem Jahr so erschienen. Wo aber hatte sie dann ihre Augen, ihren Verstand gehabt! Wie trocken, trival, hausbacken war dies alles! Und wenn der Mann sich einmal zu etwas aufschwingen wollte, was er vermutlich für poetisch hielt, – wie mußte er sich recken und strecken, wütend die Flanken peitschen, und wie kläglich war das Resultat!

Albrecht Winter! Wie leicht und anmutig floß die Rede von seinen Lippen! wie hatte er für alles den rechten, den treffenden Ausdruck, ohne daß er jemals danach zu suchen brauchte! Und sie hatte doch auch ihre Mädchenträume gehabt und ihren Geibel, ihren Heine mit Herzklopfen in holden Stunden gelesen, die längst verklungen waren! Und jetzt wieder herangeschwebt kamen, wenn sie nur den Ton seiner Stimme hörte und in seine Augen blickte, die verklärt schienen von dem Licht, das ihr Leben einmal ahnungsvoll gestreift hatte!

Ein schöner Traum, der kam, sobald er in die Thür trat, und gegangen war, wenn sie sich hinter ihm schloß. Dann war sie wieder, die sie gewesen: die Weltdame, »die sich mit ihrem faible für den Schulmeister einfach ridikül vorkam.«

Und sich weiter so vorkommen würde, wollte sie das Leben nicht nehmen, leicht, wie alle Welt um sie herum es nahm. Man brauchte ja deshalb nicht die Kappe über die Dächer zu werfen! Hatte sie es denn je gethan? Daß sie ihren Mann nicht liebte, dafür konnte sie doch nichts. Wenn man mit neunzehn Jahren heiratet aus Ärger, daß einem die einzig wünschenswerte Partie entgangen ist, man sie sich in seiner Dummheit hat entgehen lassen – mein Gott, der Ärger macht blind! Und so [] ganz vorbeigegriffen hatte sie in ihrer Blindheit doch auch nicht. Viktor war nicht schlechter und nicht besser, als die übrigen. Eher noch ein bißchen besser. Jedenfalls hatte er sich die Hörner vorher abgelaufen – was man nicht von allen sagen konnte – und wenn er ein wütender Aktentiger und rücksichtsloser Streber war, so trug das zu seiner Unterhaltsamkeit nicht gerade bei, aber es waren doch die rechten Eigenschaften für den Sohn eines armen Generals a.D., welcher die Tochter eines Gutsbesitzers geheiratet hatte, der beständig erklärte, nicht zu wissen, wie er sich, Frau und sechs Kinder weiter so durch die Welt bringen sollte.

Nein! sie hatte die Kappe nicht über die Dächer geworfen. Flirtations! Nun ja! Wer unter den ihr bekannten Damen hätte denn keine gehabt? Auch sie, die keineswegs jung und nichts weniger als schön waren! Und bei denen es nicht einmal immer mit der Flirtation als abgethan galt in den Augen derer, die es besser wußten! Konnte in diesem Kreise mit der wunderbaren Akustik und seinen hundert gierigen Späheraugen jemand gegen sie auftreten und ihr nachsagen, sie sei zu weit gegangen? War in dem Techtelmechtel mit Fernau einer zu weit gegangen, so war es Fernau, nicht sie. Hatte Viktor an dem Manne einen Narren gefressen, schien er ohne ihn nicht mehr leben zu können und riß alle Thüren seines Hauses geschäftig für ihn auf – sollte sie ihm den Staar stechen! Er sah doch sonst, wenn man ihm glaubte, durch die dicksten Wände und hörte das Gras wachsen! Und hatte sie nicht ein Übriges gethan und Fernau zu verstehen gegeben, daß sie seine Avancen kompromittierend fände für eine ehrbare Frau, und er [] sich in Zukunft eines gesetzteren Vertragens befleißigen möge?

Vielleicht war das eine Dummheit gewesen. Ist es doch vielmehr ein Gebot der Klugheit, die alten Liebhaber nicht vor den Kopf zu stoßen, will man sich des neuen in Sicherheit erfreuen. Und es bedurfte keines besonderen Scharfblicks, um zu sehen, daß Fernau vor Eifersucht auf den Professor beinahe toll war. Trotzdem sie sich doch wahrlich von Anfang an die erdenklichste Mühe gegeben hatte und bis zu diesem Augenblicke gab, ihre närrische Leidenschaft für den Schulmeister vor aller Welt zu verbergen. Aber freilich, Leidenschaft versteht sich auf Leidenschaft, kennt all ihre Winkelzüge und Schleichwege, ihren Augenaufschlag, den leisesten Ton ihrer Stimme. Es war kein Zweifel: Fernau hatte mehr gehört und gesehen, als er hätte hören und sehen dürfen.

Und er war Viktors Intimus!

Hier mußte einer drohenden Gefahr kühn die Spitze abgebrochen werden.

So fragte sie denn am Morgen, als Viktor im Begriff stand, auf sein Bureau zu gehen, in lässigem Tone:

Du kommst heut nicht so spät nach Haus?

Warum?

Ich habe den Professor Winter gebeten, Dir einen Besuch zu machen, und möchte natürlich gern, daß er Dich zu Haus fände.

Viktor ließ den Thürgriff, den er bereits in der Hand hielt, wieder los.

Du hast den Mann gebeten, mir einen Besuch zu machen?

[] »Uns« wäre richtiger gewesen, obgleich mir hauptsächlich daran gelegen ist, daß Du ihn empfängst. Ich sehe ihn ja beinahe alle Tage.

Ich beneide Dich nicht darum; aber was soll ich mit dem Menschen?

Viktor war zu ihr an den Kaffeetisch zurück ge kommen mit dem finstern Blick, wenn ihm etwas gegen den Willen ging, und den sie in diesem Falle erwartet hatte.

So sah sie denn freundlich von ihrer Tasse zu ihm empor und sagte ruhig, trotzdem ihr das Herz heftig schlug:

Ich kann Dich versichern, ich hätte es sehr viel lieber nicht gethan. Aber – setz' Dich doch noch ein wenig hin! es ist gut, wenn wir uns darüber aussprechen – es ging nicht anders. Ich bin mit dem Mann bei Sudenburgs jetzt so oft zusammen; er ist wirklich für einen Menschen seines Standes so übel nicht; und wenn ich mit meiner Rolle reüssiere – woran Dir denn doch auch gelegen ist – verdanke ich es nur, oder doch beinahe nur ihm. Wir verdanken ihm alle viel und geben uns natürlich Mühe, höflich und artig gegen ihn zu sein. Bei Sudenburgs geht er aus und ein; während der ersten Proben ist er zweimal bei Meerheims gewesen; und Frau von Breitenbach – ich sagte Dir ja wohl schon, daß Lotte Breitenbach in dem zweiten Stück mitspielt – hat ihn sofort gebeten, einen Besuch bei ihnen zu machen; und Du weißt, daß gerade Breitenbachs sehr wählerisch sind. Nur bei uns ist er noch nicht gewesen, und gerade da wäre es am nötigsten, weil Du an unsern Abenden nicht zugegen bist.

Ich habe auch wahrhaftig Besseres zu thun.

[]

Gewiß! und so bin ich nicht weiter in Dich gedrungen, was mich nachträglich sehr gereut, denn Du hättest es doch wohl mir zuliebe gethan, und ich wäre aus der Verlegenheit. Es ist und bleibt eine für eine Dame, wenn sie dergleichen Geschichten mitmacht, ohne von ihrem Mann, oder wenigstens einem Bruder, einer Schwester oder Mutter begleitet zu sein. Alle die andern sind in der glücklichen Lage: Stephanie, Adele, Lotte Breitenbach, alle, nur ich nicht. Es sieht immer so aus, als ob man seinem Manne weggelaufen und unter die Komödianten gegangen ist. Das mag ich nicht.

Wenn ich nur einsehen könnte, was dadurch besser wird, daß der Mann mich, meinetwegen uns besucht!

Du bist doch sonst in solchen Dingen so feinfühlig! Dadurch, daß Du ihn in Deinem Hause empfängt, giebst Du mir die Legitimation, mit ihm in andern Häusern zu verkehren, die ich ohne das nicht habe.

Aber der Mensch ist mir gründlich fatal!

Du hast ihn ja nur einmal gesehen.

Mir war das gerade genug. Und was ich von Fernau über ihn gehört habe –

Was kannst Du gehört haben?

Was ich lieber nicht wiederhole.

Und gerade deshalb muß ich darauf bestehen, daß Du es sagst. Übrigens, wenn Du nicht willst – ich kann es Dir sagen: der Professor erdreistet sich, mich schön zu finden.

Etwas der Art.

Worüber sich lustig zu machen, Fernau doch zu allerletzt ein Recht hätte. Wer in einem Glashause wohnt, soll nicht mit Steinen werfen.

[] Fernau ist mein bester Freund.

Als ob es nicht immer die besten Freunde wären, über deren Betragen die Ehemänner am sorgfältigsten wachen sollten!

Du willst doch nicht sagen –

Genau nicht mehr, als ich gesagt habe. Nur noch dies, da wir einmal bei dem Thema sind: gerade Fernaus wegen wünsche ich und muß ich wünschen, daß Du Herrn Professor Winter empfängst.

Du bist völlig lächerlich mit Deiner Furcht vor Fernau.

Ich fürchte mich vor Fernau nicht; aber ich habe ein Recht, von Dir zu verlangen, daß Du mich gegen seine Spöttereien und hämischen Insinuationen in Schutz nimmst. Du kannst es in diesem Falle leicht, wenn Du mir meine Bitte gewährst.

Schön! ich werde den Herrn empfangen.

Ich danke Dir im voraus.

Unter der Bedingung, daß die Sache keine weiteren Konsequenzen hat.

Ich wüßte nicht, welche. Mit seinem Besuche und einer Karte, die Du hinterher bei ihm abgiebst –

Auch das noch! Na, meinetwegen. Wann, hast Du ihm gesagt, daß ich zu Hause bin?

Vier Uhr – Deine gewöhnliche Zeit.

Also, adieu!

Adieu!

[]

Zwölftes Kapitel

Es fehlten nur noch wenige Minuten an vier, und er würde gewiß pünktlich kommen, während Viktor nicht wohl vor ein viertel fünf da sein konnte.

Sie saß in einem Fauteuil ihres Salons, auf dem Tischchen neben sich ein geöffnetes Buch, das sie in dem Augenblicke, wo es draußen klingelte, ergreifen konnte.

Noch kurz vorher war das Arrangement ein anderes gewesen. Sie hatte eine Näharbeit in der Hand gehabt, und vor ihr auf dem Teppich hatte Liesbeth, ihr »Zeigekind« gespielt. Aber sie fürchtete, man könnte die Absicht merken; oder die Bonne würde im ungeeigneten Moment hereinplatzen, Liesbeth zu holen; oder die Kleine möchte anfangen zu weinen – es war doch besser, wenn sie die Idylle fallen ließ und ihm ganz als Salondame erschien. So war Liesbeth in die Kinderstube zu Brüderchen zurückgeschickt worden.

Bereits mehrmals im Laufe des Vormittags hatte sie im Gedächtnis die Scene mit Viktor heute morgen rekapituliert und eben war sie wieder dabei. Es wollte ihr doch jetzt dünken, als habe sie ein sehr gewagtes Spiel gespielt, indem sie um des Professors willen Fernau [] so gut wie preisgab. Es war nicht ihre Absicht gewesen. Sie hatte, als sie Albrecht zu dem Besuche aufforderte, Fernau zeigen wollen: Sie sehen, daß ich ganz unbefangen bin; wäre ich es nicht, würde ich mich wohl hüten, Viktor in mein Spiel blicken zu lassen, sondern es ruhig für mich weiter spielen. Nun hatte ein Wort das andere gegeben und zuletzt war eine richtige Anklage daraus geworden gegen den einzigen ihrer Kurmacher, mit dem sich eine Flirtation verlohnte. Das Sprichwort von dem unreinen Wasser, das man nicht voreilig weggießen solle, fiel ihr ein. Über den blinden Eifer! Um das eine zu thun, brauchte man doch das andere nicht zu lassen! Oder den andern! Und Viktor würde nun nichts eiliger haben, als »seinen besten Freund« zur Rede zu stellen; und er, der hinter jedem Busch gestanden hatte, würde in ein höhnisches Gelächter ausbrechen: siehst Du denn nicht, Verehrtester, daß Dir Deine Frau ein X für ein U macht! Sand in die Augen, lieber Sohn! Den Sack schlägt man, und den Esel meint man! Ich hätte Dich für klüger gehalten!

Und wozu das alles? Wenn ich wenigstens wüßte, ob ich den Menschen liebte! Aber davon ist doch gar keine Rede. Es ist doch nur –

Auf dem Flur ertönte die Klingel. Klotilde zuckte zusammen, griff mit nervöser Hast nach dem Buch und lehnte sich scheinbar lässig in den Fauteuil zurück, während ihr das Herz gewaltsam klopfte.

Es war ihr nichts Neues mehr: sie hatte es jetzt jedesmal durchzumachen, wenn sich die Thür öffnete, durch die er eintreten sollte.

Das eben ergriffene Buch lag in ihrem Schoß; sie[] hatte dem Eintretenden gütig entgegengelächelt und, ohne sich zu erheben, ihn mit einer Handbewegung aufgefordert, auf einem Faulteil vor ihr Platz zu nehmen. Nun erst streckte sie ihm, sich vorüberbeugend, die Hand hin und sagte mit einer Stimme, deren leises Zittern ihm hoffentlich entging:

Wie lieb von Ihnen! Ich denke, mein Mann wird jeden Augenblick nach Hause kommen.

Und inzwischen habe ich Sie in Ihrer Lektüre gestört!

Sie wundern sich, daß unsereine auch mal ein Buch zur Hand nimmt.

Wenn ich dergleichen blasphemische Gedanken je gehegt hätte – was nicht der Fall gewesen ist – diese letzten Abende, in denen ich an den Damen Ihres Kreises ebensoviele Repräsentantinnen der feinsten Bildung, des exquisitesten Kunstsinnes bewundern durfte, hätten mich eines Besseren belehrt.

Sehr gütig! Und doch kann ich den Verdacht nicht los werden, daß Sie in uns ohne Ausnahme besten Falls nur dressierte Puppen sehen.

Welches Recht hätte ich zu einem so herben Urteil, der ich auf dem identischen Standpunkt der übrigen Herrschaften stehe: dem des Dilettanten.

Was versteht man eigentlich unter einem Dilettanten?

Ich glaube: jemand, der lebhafte Freude an der Kunst hat, sich auch wohl in ihr übt und es bis zu einem gewissen Grade der Fertigkeit bringt, ohne doch Künstler zu sein.

Und wie wird man Künstler?

Wenn man dazu geboren ist.

Das ist sehr bequem.

[] Nicht so ganz. Es gehört dazu, daß man von diesem seinem Geburtsrecht den rechten Gebrauch macht und den Nachweis seiner Legitimität führt.

Wodurch?

Durch unablässigen, unerschöpflichen Fleiß, dessen der geborene Dilettant niemals fähig ist.

Mein Gott, wie ist das schön!

Was, gnädige Frau?

Von einem klugen Manne sich so belehren zu lassen!

Es war ihr keine Phrase gewesen. Albrecht hatte das wohl herausgehört und sah es an dem Glanz ihrer großen Augen, der ihm bis ins tiefste Herz leuchtete. Noch nie war ihm die schöne Frau so schön erschienen; noch nie glaubte er, sie so geliebt zu haben. Aber auch bei Klotilde wirkte der Zauber, den die Gegenwart des Mannes stets auf sie übte, mit voller Kraft. Wie ertappte Verbrecher hatten sie beide gleichzeitig die flammenden Augen niedergeschlagen.

Klotilde hatte in ihrer Erregung das Buch von ihrem Schoß auf den Teppich gleiten lassen; Albrecht hob es auf. Indem sie unwillkürlich dieselbe Bewegung ausführte, hatten sich die greifenden Hände für einen Moment flüchtig berührt. Es war so unverfänglich! Keiner hatte die Absicht gehabt! Dennoch waren beide tief errötet; Klotilde strich über eine Falte ihres Kleides; Albrecht blätterte verlegen in dem Buch.

Verzeihen Sie die Indiskretion! Es ist so die leidige Gewohnheit von uns Büchermenschen, nach dem Titel zu sehen!

Das hätten Sie nun wirklich nicht bei mir gesucht.

[] Aufrichtig, gnädige Frau, nein! Aber ich freue mich, es hier gefunden zu haben.

Sie schwärmen für unsere neueste Litteratur?

Ich interessiere mich sehr für sie, wie für allen kühnen Experimente auf welchem Gebiete immer, von denen ich hoffen darf, die wenigstens die Möglichkeit gewähren, daß die Menschheit einen Schritt weiter kommt.

Mein Mann findet diese Sachen entsetzlich.

Ihr Herr Gemahl gehört zu der höchst ehrwürdigen Klasse von Staatsbürgern, denen es obliegt, das Bestehende zu konservieren und unsere fin-de-siècle-Menschen vor den Orgien einer kopf- und ziellosen Revolution zu bewahren.

Klotilde lachte.

Nein, wahrhaftig, rief sie, mein Mann ist kein Revolutionär. Aber ich fürchte, Sie sind einer.

Nein, gnädige Frau. Ich bin nur ein Mensch, der nichts dagegen hätte, wenn eines schönen Tages die vierte Dimension entdeckt würde; und, weil er weiß, sie wird nun und nimmer entdeckt werden, von Herzen dankbar ist für jede, auch die kleinste Erweiterung der drei, innerhalb derer wir Erdgeborenen uns in alle Ewigkeit zu bewegen haben.

Worin finden Sie eine derartige Erweiterung?

In jeder Entdeckung – Amerikas zum Beispiel, oder der Buchdruckerkunst, heutzutage der Dampfkraft, der Elektricität –

Des Koch'schen Komma-Bacillus und so weiter. Ich will zugeben, unser Leben wird durch diese und andere schöne Dinge erweitert, wie Sie es nennen. Bleibt es deshalb weniger langweilig?

[] Ich langweilte mich nie, gnädige Frau.

Ich immer – furchtbar. Es bringt mich oft an den Rand der Verzweiflung. Ich könnte ein Verbrechen begehen, wenn ich sicher wäre, es rettete mich auf ein paar Tage, ein paar Stunden nur aus diesem Sumpf, in dem ich ersticke. Ihr Männer freilich! O ja, ich glaube schon, daß Ihr Euch nicht langweilt! Da ist Euer Beruf, da ist der Sport, das Spiel, la femme! Da sind die Dummheiten, die Ihr ungestraft begehen könnt, oder meinetwegen auch gestraft, und die dann jedenfalls noch viel interessanter und pikanter werden. Aber wir! Puppen habe ich vorhin gesagt; und dabei bleibe ich: dressierte Puppen; dressiert von Euch und für Euch, die Ihr mit uns spielt und uns in den Winkel werft, wenn Ihr Euch satt gespielt habt.

Sie hatte sich in den Fauteuil zurückgelehnt; ihre sonst bleichen Wangen waren gerötet, die großen Augen halb geschlossen und wie gebrochen; durch die leise geöffneten Lippen blitzten die weißen Zähne. Albrecht saß da, vorübergebeugt, starren Blickes, in einem Rausch wahnsinnigen Entzückens. Ja, da war sie, die er sich geträumt hatte in seinen schönsten, kühnsten Träumen: das Weib, das empfand, wie er; dachte, wie er; diese schnöde Welt mit einer Spitze ihres Fußes verächtlich von sich stieß, wie er! Und die, wenn er sie fand, er lieben würde, lieben müßte, und kostete es ihm Leben und Seligkeit.

Ich höre aus dem allen nur eines heraus, sagte er mit dumpfer Stimme.

Was? fragte sie, ohne ihre Stellung zu verändern.

Daß Sie nie von Grund des Herzens aus geliebt haben.

[] Sie lachte ein kurzes, hohnvolles Lachen.

Das fehlte mir noch!

Ja! rief Albrecht, das fehlt Ihnen; und weil es Ihnen fehlt, sind Sie, was Sie sind: die unglückliche Frau, die mit allen ihren wundersamen Reizen des Leibes und der Seele, ihren herrlichen Eigenschaften des Herzens und Geistes tantalische Qualen duldet. Aus denen Wonnen werden würden, götterhafte Wonnen bei dem ersten Strahl wahrhafter Liebe, der Ihr Herz träfe. O, gnädige Frau, ich spreche aus Erfahrung! Auch ich bin durch eine steinige Wüste gewandert. Und der Himmel war ehern über mir. Und die Zunge dorrte mir im Munde, und das Herz verzagte mir in der Brust. Und ich verfluchte mein Dasein und bat den Dämon der Wüste, er möchte seinen glühendsten Samum schicken und eine Sandwelle häufen zum Grabhügel eines Verzweifelten! Und da, gnädige Frau – kein Dämon der Wüste, der Herr der Welten nahte sich mir; nicht im heulenden Sturm, sondern im Säuseln des Windes – im sanften und doch allgewaltigen Anhauch der Liebe. Denn siehe, er hatte mir Dich gesandt, Du schönste, herrlichste aller Frauen! Und mir gesagt: liebe sie von ganzer Seele! mit jeder Kraft Deines Herzens! mit jedem Tropfen Deines Blutes! mit jeder Fiber Deines Leibes! Und bete sie an, wie Du mich anbeten würdest!

Er war von dem Sessel hinabgeglitten zu ihren Füßen, die glühende Stirn auf ihre Kniee drückend.

In demselben Moment wurde, laut und schrill, die Flurglocke gezogen. Klotilde fuhr mit den Händen, die sie eben auf sein Haupt hatte legen wollen, zu rück.

Um Gottes willen –

[] Er war bereits aufgesprungen und hatte mit einer Geistesgegenwart, die sie ihm nicht zugetraut, raschen Griffs seinen Hut von dem Teppich neben seinem Stuhle aufgerafft.

Da betrat auch schon der junge Diener, der ihn vorhin angemeldet hatte, das Zimmer.

Eine Depesche, gnädige Frau!

Klotilde hatte von der ihr präsentierten Schale das Blatt genommen und erbrochen.

Ist vielleicht Rückantwort, gnädige Frau? Der Bote wartet noch.

Einen Augenblick! Nein, es ist keine Rückantwort. Der Herr kann erst um sechs zu Tisch kommen – sagen Sie es in der Küche!

Zu Befehl, gnädige Frau!

Der junge Diener war gegangen, während von der anderen Seite die Bonne mit Liesbeth kam. Liesbeth hatte das Klingeln gehört; gemeint, es sei der Papa; sich nicht halten lassen.

Gieb dem Herrn ein Händchen, Liesbeth! sagte Klotilde.

Die hübsche Kleine kam dreist auf ihn zugelaufen; er hob sie in die Höhe, küßte sie und sagte, indem er sie wieder niedersetzte:

Ich darf Sie nicht länger aufhalten, gnädige Frau. Wollen Sie die Güte haben, mich Ihrem Herrn Gemahl zu empfehlen.

Er wird sehr bedauern. Diese leidigen Plenarsitzungen, die alle Augenblicke unverhofft kommen! Haben wir heute Probe? Sei artig, Liesbeth!

Nein, aber morgen: die Generalprobe.

[] Das ist der Anfang des Endes.

Sie hatte es lachend gesagt und er hatte gelacht. Aber als er draußen war und die Treppe hinabstieg, lachte er nicht mehr. Seine Stirn war gefurcht und er murmelte durch die Zähne:

Oder war es schon das Ende selbst?

Klotilde saß wieder in ihrem Fauteuil; Liesbeth spielte zu ihren Füßen auf dem Teppich, ganz wie in der projektierten, hernach verworfenen Idylle.

Schade! Wir waren so gut im Zuge! Glaube wahrhaftig, ich hätte ihm im nächsten Augenblick einen Kuß gegeben. Die dumme Depesche! Aber so ist es immer!

[]

Dreizehntes Kapitel

In dem großen Freundes- und Bekanntenkreise des Sudenburg'schen Hauses war seit vierzehn Tagen beinahe nur von den theatralischen Aufführungen gesprochen, durch welche das sechzigjährige Geburtstagsfest des Direktors am fünfzehnten November gefeiert werden sollte. Zwar hatten die zunächst Beteiligten einander zugesagt, der profanen Menge nichts von ihren Künsten zu verraten. Aber von einzelnen mochte die Zusage nicht streng gehalten worden sein, oder die ab- und zugehenden Dienstboten hatten geplaudert – lange vor dem bestimmten Tage hatte sich ein Mythennebel um das kommende Ereignis gelagert. Es sollten ein paar ganz tolle Possen zur Aufführung gelangen, in deren einer über die shopkeepers, in der anderen gar über die Offiziere die blutigste Geißel der Satire geschwungen würde. Die Verständigeren widersprachen: eine derartige Ausschreitung sei in dem Hause eines Ministerialdirektors unmöglich, der genau wisse, welche Rücksichten er auf seine Stellung zu nehmen habe, von denen, welche er seiner Gattin, bekanntlich einer reichen Bankiertochter, und den Portepees seiner beiden Söhne schuldig sei, zu schweigen. Auch pflegten sich Gymnasialprofessoren[] – und der Verfasser der Stücke sei einer – auf der gleichen Extravaganzen nicht einzulassen. Viel eher stehe bei einer solchen Autorschaft zu fürchten, es werde sich um steifstellige, akademische, hochgradig langweilige dramatische Stilübungen handeln, und man thue gut, sich darauf gefaßt zu machen.

Wie immer dies Gerede hinüber und herüber sich zu der Wirklichkeit verhielt, die Erwartungen waren allerseits hochgespannt und man zeigte einander die erhaltenen Einladungskarten als einen Schatz, den man um vieles nicht weggegeben hätte.

Nun war der vielbesprochene Abend da. Vor dem Portal des Hauses, in welchem die Dienstwohnung des Direktors lag, war ein mächtiges Zelt errichtet; Teppichläufer erstreckten sich aus dem hellerleuchteten Flur über das breite Trottoir bis zu dem Fahrdamm. Auf welchem jetzt Wagen auf Wagen heranrollte, deren geputzte Insassen, nachdem der stattliche Portier den Schlag aufgerissen, eilig dem Hause zuschritten zwischen dem dichten Spalier sämtlicher Portierkinder der Straße und der sonst zusammengelaufenen Neugierigen. Daß die Damen so dicht verhüllt waren, und man nur eben ihre frisierten, blumengeschmückten Köpfe bewundern konnte, war freilich ein Jammer. Dafür entschädigte einigermaßen der Glanz der Orden, den die Mäntel und Paletots der Herren nicht immer verhüllten. Von den Herren, die zu Fuß kamen und sich nicht selten erst mit Hilfe der beiden Schutzmänner durch die Menge winden konnten, wurden höchstens noch die Offiziere beachtet.

Die höfliche Bitte der Einladungskarten um möglichst pünktliches Erscheinen wäre wohl kaum nötig gewesen: [] verstand es sich doch von selbst, daß man an einem solchen Abend die Wirte nicht warten lassen dürfe. So hatte sich denn auch binnen kaum einer halben Stunde die ganze Gesellschaft versammelt und den prächtigen Festsaal bis auf den letzten der aufgestellten dreihundert Stühle gefüllt, während in dem Nebensalon, den eine breite Schiebethür mit dem Saal verband, noch Kopf an Kopf eine beträchtliche Menge stand, der man beim besten Willen zu einem Sitzplatz nicht mehr verhelfen konnte. Glücklicherweise hatten die zwei Kameraden, welche an Stelle der verhinderten Haussöhne als Arrangeurs fungierten, noch sämtliche Damen im Saale selbst unterbringen können und baten nur den Himmel, daß jetzt keine mehr kommen möchten. Hatte es doch schon entsetzliche Mühe gekostet, die ersten Sesselreihen für die Minister und ihre Gemahlinnen frei zu halten, in deren Mitte auf Ehrensesseln der Gefeierte selbst und seine Gattin unmittelbar vor dem rotseidenen, golddurchwirkten Vorhang saßen, der, von der einen der Seitensäulen bis zur anderen ausgespannt, die in der kleineren Abteilung des Saales aufgebaute Bühne verdeckte.

Und das summte, schwirrte, wirrte nun in der großen erwartungsvollen, eifrig konversierenden Gesellschaft, daß es das Publikum der Première eines neuen Stückes aus der Feder des meistumworbenen, bestgehaßten Modeautors nicht anders zustande gebracht hätte.

Albrecht machte diese Bemerkung zu Elimar, mit dem er hinter dem Vorhang auf der noch leeren Bühne stand.

Glücklicherweise sind diese Herrschaften ein gut Teil naiver als das Premièrepublikum unserer Modetheater, entgegnete Elimar.

[] Glauben Sie?

Ganz gewiß. Schon deshalb, weil sie aus sehr triftigen ökonomischen Rücksichten die Theater sehr selten besuchen. Ich möchte darauf wetten, daß die meisten von ihnen überhaupt niemals einer Première beigewohnt haben.

Dann dürfte man wohl sagen: Iliacos intra muros et extra: wir hier auf der Bühne leisten doch auch an Naivetät das Menschenmögliche und taumeln sorglos an klaffenden Abgründen hin.

Das mag für uns gelten, nicht für Sie.

Ich prätendiere nicht, eine Ausnahme zu sein, und fühle mich in Rom ganz Römer: schließe die Augen und lasse es gehen, wie's Gott gefällt.

Ich habe immer gemeint: es gefällt Gott am besten, wenn sie, denen er Augen zum Sehen gab, sie möglichst weit aufthun. Glauben Sie mir, lieber Herr Professor, in einer Welt voll von Gebärdenspähern und Geschichtenträgern ist das dringend nötig.

Elimar hatte sich zu Adele gewandt, die aus dem Ankleideraum der Damen auf die Bühne gestürzt kam, sich in ihrer Haushälterinnen-Maske zu präsentieren. Und ob die Geschichte noch immer nicht losgehe?

Mit dem Glockenschlage neun, gnädige Frau, sagte Albrecht, die Uhr in der Hand. Es fehlen noch volle fünf Minuten.

Nun kam auch Stephanie in der vorgeschriebenen Reisetoilette. Die vier in der ersten Scene auftretenden Personen waren zur Stelle. Der Inspicient – ein wirklicher Schauspieler, den man zu diesem Zweck engagiert hatte – überzeugte sich, daß von den Requisiten[] keines fehle; der Souffleur – ebenfalls ein Mann von Fach – saß auf seinem Posten hinter der Säule, in dem Buche blätternd – man konnte jeden Augenblick beginnen und plauderte sich die bangen fünf Minuten weg, ohne recht zu wissen, was man sagte.

Jedenfalls wußte es Albrecht nicht.

Die letzten Worte Elimars klangen ihm im Ohr. Und die klugen Augen des Mannes hatten dabei einen so seltsamen Ausdruck gehabt. Gewiß! es war das eine Warnung gewesen! Vor wem? Hatte er nicht von Anfang an mit peinlicher Sorge über seine Mienen, seine Augen gewacht? nicht jedes in Gegenwart anderer gesprochene Worte genau abgewogen? Und dann! die Warnung kam zu spät. Seit vorgestern – seit der Scene bei ihr im Salon – war ja alles vorbei. Er hatte ihr seine Liebe gestanden, und sie – nun der Diener mit der Depesche, und Kind und Bonne, die hereinplatzten, hatten sie der Antwort überhoben. Die Antwort, die sie ihm gestern auf der Generalprobe und heute, als sie sich vorhin auf der Bühne trafen, dann doch gegeben: in ihrer souveränen Gleichmütigkeit, für die ein armer Erdenwurm, wie er, nicht existierte, oder dem man doch seine knabenhafte Schwärmerei mit königlicher Milde nachsehen wollte! Ach, er hatte vor einer Stunde beim Abschied seine gute Klara nicht umsonst so innig ans Herz gedrückt! Es hatte ein stummer Schwur sein sollen, den er halten wollte: ein Schwur der Absage dieser unsinnigen, entwürdigenden Leidenschaft und der erneuten Treue und Liebe für sie, die Lilie auf dem Felde, in ihrer keuschen Bescheidenheit herrlicher als die hoffärtigste Prunkblume mit ihrem Patschuliduft modischer Verderbtheit!

[] Herr Professor, wir müssen anfangen! Bitte, noch einen Schritt näher nach der Thür! Es muß aussehen, als ob Sie eben mit der Gnädigen eingetreten sind. So! – Vorhang auf!

Der Vorhang rauschte auseinander vor einem Publikum, in welchem das zuletzt fast betäubende Geschwirr der Stimmen urplötzlich einer lautlosen Stille gewichen war, die denn auch, während das Spiel vor sich ging, durch ein Kichern hier, durch ein schnell unterdrücktes Lachen dort selten unterbrochen wurde. Auf die beifallsbedürftigen Seelen einer wirklichen Künstlerschar hätte diese Stille sicher lähmend gewirkt. Hier war das nicht der Fall. Den Darstellern selbst bereitete ihr Treiben ein viel zu großes Vergnügen, und, wie Albrecht gesagt, von den Abgründen, an denen sie in ihrer dilettantischen Naivetät sorglos dahintaumelten, hatten sie keine Ahnung. An seinem Text fehlte keinem ein Wort – das war doch jedenfalls weitaus die Hauptsache. Höchstens fürchtete man noch, nicht laut genug zu sprechen. Nur in den ersten Minuten. Dann hatte man sich auch dieser Sorge entschlagen und sprach und spielte, im Frohgefühl seiner guten Absicht, munter darauf los, ohne viel zu fragen, ob die Zuschauer sich dabei langweilten, oder nicht.

Sie hatten sich nicht gelangweilt. Der Vorhang war zusammengerauscht über den jungen Gatten, die sich nun endgültig gefunden hatten, ihren teilnahmvollen Freunden und dem Geschäftspersonal – zwölf jungen Offizieren in nicht durchgängig modischen Fracks, aber tadellosen weißen Handschuhen und Krawatten, alle aus voller Brust das Festlied nach der Melodie: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen« unisono schmetternd. Nun für ein paar [] Augenblicke die vorherige Stille. Dann aber brauchten nur auf den ersten Reihen die Hände von ein paar Excellenzen und Excellenzdamen sich zu rühren, und das Klatschen pflanzte sich, immer kräftiger, lauter, durch den ganzen Saal fort bis zu den Stehplätzen des Nebensaales, wo es seinen Höhegrad erreichte. Und nun, da man zu seiner freudigen Überraschung entdeckt hatte, daß man nicht nur eine Meinung, sondern den Mut seiner Meinung habe, mußte die rotseidene Gardine sich wieder und wieder lüften und die glückliche Künstlerschar sich dankend verneigen.

Dann, als der Beifallssturm sich endlich gelegt hatte, wagte man sich, erst schüchtern, dann dreister an die Kritik, wobei eine überaus seltene erfreuliche Einhelligkeit des Urteils an den Tag zu treten schien. Das Stück war allerliebst, sehr unterhaltend, durchaus nicht böswillig, wie einige hatten wissen wollen; und die Herrschaften hatten ausnahmslos ganz überraschend famos gespielt. Der Preis gebührte natürlich Fräulein Stephanie, die jeden Augenblick die unvergeßliche Klara Meier ersetzen könne, der sie nebenbei auch merkwürdig ähnlich gesehen habe. Ganz überaus charmant war auch Frau von Meerheim als Haushälterin Dörthe gewesen, so unglaublich drollig! Und welche Selbstüberwindung, sich aus der anmutigen jungen Frau in die alte Hausunke zu travestieren! Das hätte die selige Frieb nicht besser machen können, oder jetzt die immer urkomische Schramm! Aber auch die Herren – alle Achtung! Der Herr Professor hatte sich in diesem ihm fremden Kreise wohl befangen gefühlt und war ein wenig steif und hölzern gewesen – natürlich! Herr von Meerheim, als alter Diener, –[] schade, daß seine Rolle nur aus ein paar Worten bestand! Dafür dann der Doktor Herrn von Luckows, der Polizeikommissar Herrn von Fernaus – vortrefflich! ich versichere Sie, Schönfeld und Reicher auf dem Lessingtheater bringen das nicht besser heraus! Und Herr von Sperber als Fridolin – das war ja der leibhaftige Vollmar vom königlichen Schauspielhause gewesen – geradezu stupend!

Man war noch im besten Zuge des Kritisierens, als der Vorhang wieder auseinander schwirrte: Fräulein Lotte von Breitenbach steht als Erna am Fenster des mütterlichen Salons, den Liebsten erwartend, der, zu ihrem großen Erstaunen, mit einer ihr unbekannten, eleganten jungen Dame über den Platz kommt, um sich von dieser an der Hausthür zu verabschieden nach einem augenscheinlich wichtigen Zwiegespräch. Die Fremde – Frau von Sorbitz – als schneidige amerikanische Miß, wird von dem Bedienten eingeführt – die kleine Komödie der Irrungen beginnt.

Von der Zaghaftigkeit des Publikums während des ersten Stückes war jetzt nichts mehr zu spüren. Man war nun einmal in der Gebelaune und gab mit vollen Händen. Jede drolligere Situation, jede witzigere Wendung, jede kühnere Pose – alles wurde belacht, beklatscht, bejubelt. Es kamen Momente, wo die Spieler auf der Bühne pausieren mußten, weil sie von dem Beifallslärm, der ihnen entgegenschallte, ihre eigenen Worte nicht mehr verstanden. Das steigerte dann wieder den guten Mut, mit dem sie an ihre Aufgabe gegangen waren, zum Übermut; und hatten sie im Anfang manchmal vor dem Lachen der Zuhörer nicht weiter sprechen können, wurde es ihnen [] jetzt von Minute zu Minute schwerer, ihre Ernsthaftigkeit zu bewahren.

In solchen kritischen Momenten war es jedesmal die Geistesgegenwart Klotildens, die der drohenden Gefahr, das Ganze aus den Fugen gehen zu sehen, die Spitze abbrach, indem sie durch ihr geistreiches stummes Spiel, eine mit besonderer Verve vorgebrachte Phrase, im äußersten Falle durch eine kühne Improvisation die Aufmerksamkeit von den andern auf sich zu lenken wußte. Zur Bewunderung und zum Entzücken Albrechts, der neben dem Souffleur hinter der deckenden Säule stand und nun die Rettung seines, durch den Leichtsinn der andern bedrohten Stückes in der Hand der Frau sah, die er liebte. Die den Widerstrebenden immer wieder zur Liebe, zur Anbetung zwang. Mochte sie zuerst für ihre Person nach dem Beifall des Publikums die verlangenden schönen Hände strecken – sein Herz flüsterte ihm zu: sie hat dabei doch Dein nicht vergessen, trägt mit vorsichtiger Kraft dein Werk, wie ein kostbares Gefäß, durch den Wirrwar, in dem es zu zerschellen droht; und kann sie dich nicht von Herzen lieben um deiner selbst willen, hat sie doch Achtung vor deinem Talent. Ist das nicht viel? ist es nicht mehr als du verlangen kannst? Man liebt die Götter ja nicht, weil sie uns wieder lieben, sondern, weil sie so groß und herrlich sind, daß unsre Kniee sich beugen müssen, sie mögen nun wollen oder nicht. Wie meine Kniee sich beugen vor dir, du schönste, du einzige Frau!

Im Stück war die heimgekehrte Mama aufgetreten, hatte den so schnell geschlossenen Bund der jungen Herzen gesegnet; die seidene Gardine rauschte zusammen, und [] wieder und wieder auseinander und zusammen bei dem nicht endenwollenden Beifallsjubel der elektrisierten Gesellschaft.

Und jetzt hatten erst einzelne, dann viele Stimmen auf einmal energisch nach dem »Dichter« gerufen; Fräulein von Breitenbach und Frau von Sorbitz kamen zu der Stelle gelaufen, wo er, nun doch mit freudig klopfendem Herzen, stand, und zerrten und führten ihn auf die Bühne, wo er dann, die beiden Damen krampfhaft an den Händen haltend, seine Verbeugung machte.

Und – nun ohne Begleitung der Damen – noch wiederholt machen mußte, bis er sich endlich zu ein paar Worten entschloß, in welchen er die freundliche Anerkennung seiner schwachen Leistungen auf die Darsteller übertragen zu wollen bat, als auf das Licht, das, von innen seines armseligen Kirchleins heraus leuchtend, die verworrenen Farben der Fenster in so anmutendem Schein hätte erglänzen machen.

Laute Bravos, die noch andauerten, als der Vorhang nun wirklich zum letztenmal sich geschlossen hatte, kamen ihm aus dem Publikum zurück. Auf der Bühne schüttelten die von ihrem Erfolg berauschten Darsteller einander die Hände und stoben nach allen Seiten davon, als jetzt die geschlossene Coulisse förmlich auseinanderbrach vor den eifrigen Händen der Arbeiter unter Führung ihres Meisters. Binnen zehn Minuten müsse alles abgeräumt sein, sonst sehe es um das Abendessen der Herrschaften übel aus.

Vorgesehen! Vorgesehen!

Um Himmelswillen! rief Klotilde.

Ein paar Arbeiter, die ein großes Versatzstück schleppten, hätten sie beinahe umgerannt. Seitwärts springend, [] war sie in einen Winkel geraten, den zwei aneinander geschobene Coulissen bildeten, und in den sich Albrecht einen Moment vorher ebenso geflüchtet hatte. Plötzlich war die nach der Bühne zu freie Seite auch geschlossen: die Arbeiter hatten das Versatzstück vor die Öffnung geschoben, achtlos der beiden so Gefangenen, die in dem engen Raum Schulter an Schulter gedrängt standen.

Gnädige Frau! stammelte Albrecht.

Du liebster Mann! flüsterte Klotilde, ihn mit beiden Armen umschlingend und einen heißen Kuß auf seine Lippen drückend. In der nächsten Sekunde klaffte die Öffnung nach der Bühne wieder; Klotilde war davongeschlüpft, langsamer folgte Albrecht, betäubt von seinem ungeheuren Glück und der rasenden Kühnheit, mit welcher die geliebte Frau ihm ihre Gunst gewährt auf die Gefahr hin augenblicklicher fürchterlichster Entdeckung. War doch alles – ihr beiderseitiges Verschwinden, das Vorschieben, das Wegschieben des Versatzstückes – so blitzschnell vor sich gegangen – niemand hatte von der wundersamen Episode das mindeste bemerkt. Er sah es an der unbefangenen Miene der geschäftigen Arbeiter und der paar Damen und Herren, die noch auf der Bühne miteinander scherzten, um sich nun auch eiligst von der Trümmerstätte in die sicheren Garderobezimmer zu retten.

[]

Vierzehntes Kapitel

Als Albrecht eine Viertelstunde später mit Luckow und ein paar andern »Künstlern« in die überfüllten vorderen Gesellschaftsräume trat, kam alsbald der Wirt des Hauses auf ihn zu mit ausgestreckter Hand:

Lieber Herr Professor, Sie haben meine Frau und mich zu so großer Dankbarkeit verpflichtet! Wir sind ja ganz beschämt. Welcher Welt von Arbeit haben Sie sich unseretwillen entzogen! Aber wie herrlich ist auch alles gelungen! Nun müssen Sie zuerst mit zu meiner Frau und sich ihren Dank holen.

Albrecht wollte abwehren; der liebenswürdige Mann ließ ihn kaum zu Worte kommen und zog ihn mit sich durch die Menge fort in das nächste Gemach, wo sie die Frau Direktor fanden im Gespräch mit einem hochgewachsenen, sehr eleganten, ordengeschmückten Herrn, in welchem Albrecht, nicht ohne eine gelinde Empfindung von Schrecken, den General-Intendanten der königlichen Schauspiele erkannte. Die gütige Frau hatte ihren ehrlich gemeinten Dank hergesagt, um dann sofort von ihren anderweitigen wirtlichen Pflichten in Anspruch genommen zu werden, nicht ohne vorher »unsern trefflichen Hausdichter« Seiner Excellenz vorgestellt zu haben.

[] Excellenz hatte dem Vorgestellten höflich seine schlanke Hand gereicht.

Ich habe auch ein Haus, an welchem der treffliche Dichter wohl schon einmal hätte anklopfen sollen, sagte er mit verbindlichem Lächeln.

Ich that es – bereits vor zwei Jahren, erwiderte Albrecht mit schneller Entschlossenheit. Es wurde mir leider nicht aufgethan.

O! sagte Excellenz; ich erinnere mich nicht.

Ein so unbedeutender Fall wird schwerlich zur Kognition von Excellenz gelangt sein.

Um was handelte es sich?

Albrecht berichtete in kurzen Worten, daß er vor zwei Jahren ein historisches fünfaktiges Trauerspiel eingereicht, aber mit dem Bescheid zurückerhalten habe, man glaube es zur Aufführung bringen zu können, falls sich der Verfasser entschlösse, gewisse, näher bezeichnete Änderungen vorzunehmen. Er habe diese Änderungen vorgenommen; harre aber seitdem, seit anderthalb Jahren – vergebens auf Antwort.

Das thut mir ja recht leid, sagte Excellenz. Indessen, meine Herren sind wirklich über die Maßen beschäftigt – die vielen eingesandten Manuskripte – man macht sich draußen davon gar keine Vorstellung – und dann ein Trauerspiel – ein historisches – fünfaktiges – das ruft so viele Bedenken wach – schon was den Inhalt betrifft – und nun erst das D'rum und D'ran – neue Coulissen, – neue Kostüme sehr wahrscheinlich – eine große Komparserie jedenfalls – warum haben Sie es nicht mit den allerliebsten Sächelchen von heute abend versucht?

[] Ich habe es nicht gewagt, Excellenz.

Sehr mit Unrecht, mein Bester! Gerade so was will das Publikum – harmlos – ohne leidige Tendenz – dabei doch von kräftiger, drastischer Komik –

Excellenz sind zu gütig!

Ich habe wirklich ein paarmal herzlich lachen müssen – die Idee in dem ersten Stück mit dem geheimnisvollen Schrank – das ist sehr gut – ganz originell – auch die zweite Bluette – allerdings der Titel! – es schmeckt doch ein wenig nach Persiflage – der Polizeipräsident –

Vielleicht eine Änderung des Titels, Excellenz?

Würde allerdings zu überlegen sein. Und dann die beiden Offiziere in Uniform – hier im Privatkreise – als Söhne des Hauses – zum Wiegenfest des Vaters – à la bonne heure! Aber auf der königlichen Bühne – völlig unmöglich!

Wenn man fremdländische Uniformen nähme, Excellenz? Obgleich dann freilich der Humor –

Freilich, der Humor! Das ist wichtig – bin ein großer Freund von Humor. Nun, wir werden sehen. Jedenfalls bitte ich um die Manuskripte. Und – was ich sagen wollte- schicken Sie sei mir direkt – persönlich – es könnte sonst leicht wieder –

Wie Excellenz befehlen.

Also abgemacht! Hat mich sehr gut gefreut –

Albrecht war mit einem nochmaligen sanften Druck der schlanken Hand und obligatem verbindlichem Lächeln entlassen und hatte kaum seine Verbeugung gemacht, als der Direktor abermals eilig an ihn herantrat und ihm zuflüsterte:

[] Muß Sie nun auch unserer Excellenz vom Kultus vorstellen. Er wünscht, Sie zu sprechen.

Die Unterredung mit der zweiten Excellenz war kürzer als die erste, aber für Albrecht nicht minder schmeichelhaft und erfreulich. Excellenz sah es gern, wenn die Herren neben ihren Berufsarbeiten, die freilich vorgingen, eine freie Stunde für die Musen erübrigen könnten. Der schöne Bund von Dichtung und Gelehrsamkeit, wie er in der Goethe-Schiller-Zeit bestand und eifrig gepflegt wurde, sei freilich heute, wo eine konsequente Arbeitsteilung die conditio sine qua non, nicht länger aufrecht zu erhalten. Als Regel! Aber keine Regel – das wißt Ihr Schulmänner am besten – ohne Ausnahmen. Und ich für meinen Teil lasse die Ausnahmen gern gelten als eine freundliche Reminiscenz der klassischen Tage von Weimar und Jena. Sie, lieber Herr Professor, haben mich durch Wachrufen dieser Erinnerung heute abend zu Dank verpflichtet. Es soll mir lieb sein, wenn Sie mir Gelegenheit geben, diesen Dank durch die That zu beweisen.

So huldvoll verabschiedet, tauchte Albrecht wieder in das Gewühl zurück, das Herz geschwellt von einem Frohgefühl – er hätte hineinjauchzen mögen in diese geschminkte Maskerade der oberen Zehntausend, wie er es in der Einsamkeit seiner Berge als Junge gethan hatte, wenn die Welt hell sonnig um ihn wogte, unter ihm sich breitete. War er denn wirklich der arme Schulmeister von gestern, von heute vormittag noch, der sich in seiner Verzweiflung Odysee-Exemplar nicht an die hohlen Köpfe zu werfen! Aber »aus den Wolken muß es fallen, aus [] der Götter Schoß das Glück!« Und spenden sie einmal, die Unsterblichen, so thun sie es mit vollen Händen: den Kuß von den süßen Lippen der angebeteten Frau! die Gunst und Huld der Mächtigen dieser Erde, die den Schlüssel führen zu der Halle des Ruhms! Liebe und Ruhm! die beiden höchsten Sterne, an denen der sehnsuchtsvolle Blick des Knaben schon gehangen! Nun nicht mehr unerreichbar in unermeßlicher Höhe! Als holde Genien niedergeschwebt zu ihm, die glänzenden Fittige um ihn breitend, die finstere Gruft zum lichten Wolkenbette wandelnd, auf dem er gehoben wurde aufwärts zum Olymp, fortan zu speisen mit den Seligen von Ambrosia und Nektar!

So flutete es in mächtigen Wogen durch seine Seele, während er mit unzähligen Menschen sprach, Herren und Damen, die er nicht kannte, die ihm auch völlig gleichgültig waren, und die er doch, wie sie sich um ihn drängten und ihm huldigten, mit geistreichen Worten und Erwiderungen zu bezaubern nicht verschmähte. Mein Gott, ein Alexander auf seinem Eroberungszug, er annektiert auch die dürren Provinzen, steht ein königliches Herz gleich nach Indien mit seinen Lotosblumen und Palmenwäldern! Wie mein Herz nach dir, du Königin der Frauen! nach dem Moment, wo wir uns wieder Aug' in Auge blicken dürfen!

Er konnte sie nicht entdecken, so gierig seine Blicke auch in der wühlenden Menge nach ihr spähten. Aber das würde ja nicht lange mehr währen. Der Moment, wo man zu Tisch ging, mußte sie wieder vereinigen. Fräulein Stephanie hatte durch ihre Adjutanten herumsagen lassen, daß die »Künstler« auf dem Schauplatz [] ihrer Triumphe eine besondere Tafel bereit finden sollten. Sich von der erlauchten Runde auszuschließen, sei bei Strafe ihrer allerhöchsten Ungnade verboten.

Albrecht wußte: Klotilde würde sich nicht ausschließen.

Wie sie überzeugt war, daß er kommen würde.

In einem der anderen Gemächer, von einer dichten Schar Herren in Uniform und Civil umgeben, war sie inzwischen der Gegenstand ausschweifender Huldigungen gewesen. Hundertmal hatte sie zu hören bekommen, daß sie großartig, superb, magnifique gespielt habe, von ihrer Erscheinung, der kein Ausdruck gerecht werden könne, zu schweigen. Die Bernhardt und die Duse! Kunststück, wenn man jeden Abend, den Gott werden ließe, auf den Brettern stände! Aber so – aus dem Stegreif – aus dem Handgelenk – es sei einfach stupend!

Lächerliche Übertreibung! niemand wußte das besser als sie selbst, die beide große Künstlerinnen wiederholt gesehen und, nicht ohne ein starkes Gefühl des Neides, bewundert hatte. Aber sie war in der Stimmung, auch größeren Unsinn zu goutieren. Und dann fragte es sich noch sehr, ob die Theaterdamen auf dem Parkett des Salons das leisten könnten, was sie unter anderm heute abend fertig gebracht. Endlich einmal in der Welt, in der man sich langweilt, ein pikantes Abenteuer! Und das sie sich ganz allein verdankte! Der schüchterne Mensch! Wie lange sie wohl hätte warten müssen, bis er sich den Mut faßte! Und die Keckheit, mit der sie es ausgeführt! Ein Stück Tapete, das bloß umzufallen brauchte, und sie hielt vor aller Welt den heimlich Geliebten in den Armen! Es war unglaublich lächerlich!

[] Und Klotilde lachte und scherzte, tollte und neckte sich mit den jungen Herren und wünschte von Elimar, der eben herangetreten war, zu wissen, weshalb er unter all den fröhlichen Leuten ein so ernstes Gesicht mache wie der steinerne Gast im Don Juan?

Thue ich das? sagte Elimar. Es wäre freilich das möglichst Unpassende von einem, der mit der großen Bitte kommt, Sie zu Tisch führen zu dürfen.

Lieber Freund, da kommen Sie freilich zu spät, rief Klotilde. Ich habe meine arme Seele bereits unserm Dichter verschrieben; besser verschreiben müssen – auf Stephanies Befehl.

Das thut mir aufrichtig leid, sagte Elimar. Ich wäre für Sie ein gewiß weniger geistreicher, aber, ich glaube, weniger gefährlicher Nachbar gewesen.

Sie waren so weit von den andern weggetreten, daß es als ein Gespräch unter vier Augen gelten konnte.

Jetzt sich nichts merken lassen, sagte Klotilde bei sich und erwiderte lachend:

Sehr freundschaftlich-ritterlich! Aber ich gebe Ihnen mein Wort: der Professor ist der letzte, der mir gefährlich werden würde.

Was ja nicht ausschließt, daß Sie es ihm bereits geworden sind.

Das große Unglück!

Noch ist es, denke ich, keins. Aber aus einem kleinen Brande entwickelt sich leicht ein großer. Liebe Klotilde, ich will ohne Umschweif sprechen. Was mir aufgefallen ist, kann auch andern aufgefallen sein, die es aus diesem oder jenem Grunde weniger ruhig neh men und entschuldbar finden als ich. Mir würde es leid, sehr leid thun, [] sollten Ihnen daraus Ungelegenheiten erwachsen. Es ist eine undankbare Rolle, den treuen Eckart zu spielen – ich weiß es wohl. Aber um jemandes willen, den man aufrichtig lieb hat, übernimmt man auch einmal eine solche Rolle. Sollte ich Sie heute abend nicht wiedersehen, leben Sie wohl!

Aber Sie müssen ja mit an den Künstlertisch.

Meine Excellenz hat mir befohlen, wenn ich mich frei machen könnte, mich zu ihm zu setzen. Da ich nun frei bin –

Auf Klotildens Lippen schwebte das Wort: Elimar, führen Sie mich! Aber bereits hatte sich der Freund gewandt, und in demselben Augenblick kam Stephanie mit ihrer Schar, in der sich auch Albrecht befand, und rief:

Klotilde, wir haben keinen Augenblick zu verlieren. Sonst kommen wir durch das Gedränge nicht mehr zu unsern Plätzen!

[]

Fünfzehntes Kapitel

Das rauschende Fest hatte bis zwei Uhr gewährt und war dann, programmmäßig pünktlich, wie es angefangen, beschlossen worden. Vor dem Portale hatte es, da Dutzende von Dienerstimmen zugleich nach den Equipagen ihrer Herrschaften riefen, ein starkes Gedränge gegeben, durch welches die zu Fuß Erschienenen nicht leicht zu den auf der anderen Seite der Straße haltenden Droschken kommen konnten; indessen war alles ohne Unfall abgegangen und auch das Sorbitzsche Ehepaar rechtzeitig zu seinem Mietwagen gelangt.

In dessen Ecke gedrückt sie nun den langen Weg zu ihrer Wohnung machten, ohne daß ein Wort zwischen ihnen gewechselt wäre.

Sie hatten mit den eignen Gedanken genug zu thun.

Die Viktors waren schwarz wie die Novembernacht. Welch ein Dummkopf war er gewesen, als er – nach der Aufführung – dem Menschen in dem Gedränge begegnend, ihm ein lobendes Wort gegönnt hatte! So völlig gegen seine Überzeugung! Diese kläglichen Farcen! Die reinen Schülerarbeiten! Und sein Bedauern ausgesprochen hatte, ihn neulich bei seinem Besuche verfehlt [] zu haben! Er sollte sich nur wieder sehen lassen! Fernau hatte ganz recht: die Reitpeitsche für den Gecken, den aufgeblasenen Narren! Aber Fernau mochte auch der Teufel holen! Wenn er es schon neulich bei Tisch bemerkt haben wollte, um es bei jeder der Proben abermals und in verstärktem Maße bestätigt zu finden – weshalb da vierzehn Tage warten, bis man zu einem Freund kommt und sagt: Hör' mal! so und so! Erst heute abend mit der Sprache herausrücken, und auch nur, nachdem man ihn zur Rede gestellt, ihm das Messer an die Kehle gesetzt hat! Aber der Sache sollte bald ein Ende gemacht werden! Klotilde würde sich wundern!

In Klotildens Seele klang die Melodie von dem Walzer, nach dessen Takt sie in seinen Armen, an seiner Brust durch den Saal geflogen war. Des geliebten Mannes, der so gut walzen wie Komödienstücke schreiben konnte! Und dessen schönes Haupt sie an dem Künstlertisch mit dem Lorbeerkranz hatte schmücken dürfen, den Stephanie bereit gehalten! Die liebe Stephanie, die an Luckows Seite so glücklich gewesen war, wie sie an der ihres Albrechts! Ein gräßlicher Name! Er sagt, sie nennen ihn in der Schule Siegfried! Der eitle Mensch! Der herzige Narr! Die prächtigen Augen! Wie sie leuchteten, als er seine kleine Dankrede hielt – mit halber Stimme, damit sie es an den andern Tischen nicht hörten – vive la joie! vive l'amour! – lalala – lalala -la – la – la!

Und wieder summte durch ihren Kopf die Melodie des Straußschen Walzers.

Da hielt der Wagen! Schade! Es hatte sich so nett in der Ecke geträumt. Nun war noch das obligate[] Nach-Gesellschaftsgespräch durchzustehen mit den interessanten stereotypen, liebevollen Glossen über die gräßliche Toilette von der, der unglaublichen Frisur von der. Sie würde es heute kurz machen.

Es scheint, Du willst noch länger aufbleiben, sagte sie, als man oben angekommen war und das Mädchen auf dem Flur ihr Kapuze und Mantel abgenommen hatte. Ich werde zu Bett gehen. Ich bin schrecklich müde.

Wie nach Deiner Gesprächigkeit im Wagen zu vermuten stand.

Ich wüßte nicht, daß Du mitteilsamer gewesen wärest.

Vielleicht nicht, daß Du mitteilsamer gewesen wärest.

Vielleicht wünschte ich für die Mitteilungen, die ich Dir zu machen habe, eine geeignetere Zeit.

Dann ist diese gewiß die ungeeignetste. Also, gute Nacht!

Sie hatte aus dem Salon, in den sie eingetreten waren, die Wendung nach der Thür gemacht, durch die man in das Speisezimmer und weiter zu ihrem Schlafgemach gelangte. Er war ihr in den Weg getreten.

Dennoch muß ich bitten, daß Du mir noch einige Minuten schenkst.

Damit ich mich hier auf den Tod erkälte?

Ich werde Dich nicht lange in Anspruch nehmen. Ich wollte Dir nur sagen, daß ich Dein Benehmen heute abend – besonders bei Tisch – ich habe Dich von meinem Platze aus sehr gut beobachten können – unter der Kritik finde.

Dann würde ich es an Deiner Stelle nicht kritisieren.

Und ich den Herrn Professor, hätte er die Frechheit, sich hier wieder sehen zu lassen –

[] Wenn er meinen Geschmack teilt, wird er sich hüten.

– die Treppe hinunterwerfen werde.

Du bist ganz sicher, daß Du heute abend nicht zu viel getrunken hast?

Ich verbitte mir eine so anzügliche Bemerkung.

Ich wüßte nicht, daß sie für einen Mann anzüglicher wäre, als die Du eben Deiner Frau zu machen beliebt hast.

Wenn ich sie allein gemacht hätte!

Freilich! Herr von Fernau!

Und andre.

Die Du die Güte haben wirst, mir zu nennen.

Da müßte ich die halbe Gesellschaft herzählen. Ich habe keine Lust, zu warten, bis die andre Hälfte auch kommt.

Also, worauf sollen alle diese Liebenswürdigkeiten hinaus?

Ich habe es Dir bereits gesagt: darauf, daß ich eine Änderung, eine totale Änderung Deines Benehmens in der Gesellschaft wünsche.

Auch Deinem Herrn Minister gegenüber?

Ich weiß nicht, was das hier zu thun hat.

So will ich es Dir sagen: mein Benehmen in der Gesellschaft gefällt Dir ausnehmend, wenn es Dir für Deine Absichten förderlich scheint. Die einflußreichen Leute – und Du findest sie bekanntlich mit absoluter Sicherheit heraus – dürfen mir den Kopf machen, Deinetwegen bis zur Unverschämtheit. Dazu die guten Freunde, gegen die man ein für allemal blind ist. Wagt ein andrer, mich nicht zu übersehen, spielt man sich als Othello auf.

[] Ich dächte, ich hätte Dir jede Freiheit gelassen.

Ich danke für diese Sorte Freiheit, die weiter nichts ist als Sklavenarbeit im Dienst des klugen Herrn, der recht gut weiß, was in unsrer Gesellschaft eine junge Frau gilt, welche die Leute schön finden, und deren alter Adel für seinen von gestern so treffliches Relief abgiebt.

Von gestern?

Nun denn: von vor acht Jahren, als Dein Vater die Division bekam. Es hat nicht gehindert, daß er heute a.D. ist. Alte Generäle, besonders, wenn sie nicht reich sind, pflegen wenig Einfluß mehr zu haben.

Ich wüßte nicht, was ich Deiner Familie zu verdanken hätte. Es müßte denn sein, daß Du in ihr auf einem Fuß zu leben gelernt hast, der unsere Mittel weit übersteigt.

Ich bin Dir ja nie gut genug angezogen. Glaubst Du, daß Gerson mir meine Toiletten um meiner schönen Augen willen liefert?

Jedenfalls werde ich mir erlauben, auf seine Rechnungen und die Deiner andern Lieferanten ein schärferes Auge zu haben als bisher.

Das kann dann ja allerliebst werden. Ich möchte Dir einen andern Vorschlag machen. Wir haben jetzt über vier Jahre Zeit gehabt, einzusehen, daß wir schlechterdings nicht zu einander passen. Ich dächte, Du ließest mich meiner Wege gehen und versuchtest es mit einer, die für Deine Liebenswürdigkeiten empfänglicher ist.

Die entsprechende Wahl Deinerseits hättest Du wohl bald getroffen.

Da würde ja meine Sache sein.

[] Auf deutsch: Du wünschst eine Scheidung?

Ich glaube, mich deutlich genug ausgedrückt zu haben.

Und das ist kein schlechter Scherz?

Ich hielte ihn dann mindestens für einen sehr guten.

Schlecht, oder gut – ich würde mich unter keinen Umständen auf ihn einlassen. Ich habe keine Lust, meinen Namen, wenn er auch nicht so alt ist, wie der Deine, durch die Gerichte gezerrt zu sehen und mich zum Gespräche der Stadt zu machen.

Es könnte Dir in der Carriere schaden?

Deine Schnödeleien lassen mich völlig unberührt. Ich weiß, was ich mir schuldig bin. Und nebenbei unsern Kindern, an die Du gar nicht zu denken scheinst.

»Nebenbei« ist ausgezeichnet. Ich denke nebenbei, daß Kinder von Eltern, die ehrlich und mutig genug waren, sich zu trennen, als gegenseitige Abneigung ihnen ein anständiges Zusammenleben unmöglich gemacht hatte, besser daran sind, als von solchen, die sich nicht schämen, die miserable Lüge fortzusetzen. Wenn ich ein Mann wäre, ich brächte es nicht fertig, eine Frau zurückzuhalten, die ihm so deutlich gesagt hat, daß sie von ihm befreit sein will.

Als ob die Frauen immer wüßten, was sie in ihrer Heftigkeit so herausreden!

Ich bin durchaus nicht heftig, im Gegenteil vollkommen kühl. Ich habe es sogar empfindlich kalt und muß dringend bitten, dieser lieblichen Unterredung ein Ende zu machen.

Du wirst morgen ganz anders denken und reden.

Das werden wir ja sehen.

[]

Sie war von dem kleinen Sofa, auf welchem sie gesessen hatte, aufgestanden und, die lange Schleppe ihres Kleides zusammenraffend, mit ein paar großen Schritten bereits an der Thür, die nach dem Flur führte.

Wo willst Du hin? rief er.

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. Es war bleich bis in die Lippen, mit dunklen Rändern unter den starren, hohnvoll blickenden Augen.

Du glaubst doch nicht, daß dieser Streit dasselbe erbärmliche Ende nehmen soll, wie schon so mancher?

Sie war zur Thür hinaus. Er hörte ihren Schritt über den Flur nach dem kleinen Zimmer neben der Flurthür, in welchem sie ihre häufigen Logierbesuche unterzubringen pflegten und das immer zum Empfang der Gäste bereit stand. Sollte er ihr nachrennen? sie mit Gewalt zurückhalten? Aber sie würde vor keiner schlimmsten Scene zurückschrecken; und es war auch schon zu spät: da ging die Thür und der Schlüssel wurde umgedreht.

Er begann im Salon auf und ab zu schreiten, in seiner ratlosen Wut sich an den Möbeln vergreifend.

So weit hatte es nicht kommen sollen; keinen Augenblick hatte er gedacht, daß es so weit kommen könne. Sich scheiden lassen! Sie mußte verrückt sein! Wenn sich alle Leute scheiden lassen wollten, weil sie sich einmal gezankt haben oder sich öfter zanken – und gerade in diesem Augenblick, wo ihm alles darauf ankommen mußte, daß sein Name nicht im Gerede war. Überhaupt, ein solcher Unsinn! ein solcher haarsträubender Blödsinn! Fernau hatte recht; jetzt war es sonnenklar, daß er recht hatte. Wenn es noch Fernau selbst wäre, oder irgend [] einer von den andern – es ließe sich doch zur Not begreifen. Aber dieser Schulfuchs! dieser lächerliche Pedant! Eine so grauenhafte Geschmacksverwirrung! Es ist ja rein zum Lachen!

Und Viktor lachte laut auf. Es klang ihm selbst häßlich; er biß die Zähne aufeinander.

Gut, Madame, gut! Man wird Ihnen ein paar Tage Bedenkzeit geben. Wenn Sie sich dann nicht besonnen haben, wird man aus einem andern Tone mit Ihnen sprechen. Mit Ihnen und Ihrem Schulmeister!

[]

Sechzehntes Kapitel

Wie er zu Fuß gekommen, hatte Albrecht das festliche Haus verlassen, zusammen mit einigen jüngeren Herren: Referendaren, Assessoren und zwei oder drei Offizieren. Da man sich einmal zusammengefunden, wolle man auch zusammenbleiben. Was solle man mit der angebrochenen Nacht! Unter den Linden werde schon noch ein Café auf sein. Der Herr Professor müsse mit. Mitgefangen, mitgehangen!

Die geplante Expedition führte Albrecht weit von seiner Wohnung in eine der westlichsten Straßen. Aber sie hatten recht: was solle man mit der angebrochenen Nacht, wenn einem das Herz so voll ist!

Das Café des Linden-Theaters, zu dem man zuerst gelangte, war noch nicht geschlossen, wenn auch, wie man sich überzeugte, als man eingetreten, in dieser späten Stunde nur mäßig besucht. Desto besser; so konnte man in respektvoller Distanz von dem süßen Pöbel um so behaglicher plaudern. Es ging doch nach einer solchen Strapaze nichts über ein vernünftiges Wort bei einer Tasse Kaffee mit Cognac, oder auch einem Sherry-Cobbler, oder Glühpunsch und einer guten Cigarre!

Ein famoser Abend das! Ein bißchen sehr eng und das Souper nicht ganz auf der Höhe der Situation,[] aber, alles in allem, first rate! Man könne doch in der Wahl seiner Frau nicht vorsichtig genug sein. Beispiel: der Direktor! Lieber Gott, mit seinen Fähigkeiten – das sei auch nur so, so! la, la! aber wenn einer einen Schwiegervater in der haute finance habe, und der mit seinen Millionen so klug zu klimpern wisse, könne man es leicht zum Ministerialdirektor bringen und solche routs geben. Nun schon der zweite in der kaum angefangenen Saison! Woran es nur eigentlich mit der Verlobung von Fräulein Stephanie und Hauptmann von Luckow hapre? Alle Welt habe geglaubt, sie werde heute proklamiert werden.

An Luckow liegt es gewiß nicht, sagte ein Referendar. Barkis is willing.

Einige lachten. Was heißt das? fragte ein blutjunger Lieutenant.

Aber, Leisegang, Sie werden doch den Copperfield gelesen haben!

Habe ich.

Nur, wie es scheint, nicht englisch.

Liegt ganz aus unsrer Schußlinie. Büffle jetzt furchtbar russisch. Verdammt schwere Sprache.

Keine gelehrten Unterhaltungen, Ihr Herren! rief ein Dritter. Um auf Fräulein Stephanie zurückzukommen: sah heute großartig aus.

Die Sorbitz ist ihr doch über.

Sie haben nun einmal ein faible für die Sorbitz.

Sie etwa nicht?

Wer keins für sie hat, hebe die Hand hoch! Da kein Widerspruch erfolgt, erkläre ich Frau von Sorbitz für die Krone der Weiber.

[] Und Fernau für den Beneidenswertesten der Sterblichen.

Wenigstens giebt er sich die erdenklichste Mühe, es zu werden.

Mir scheint, er hat in letzter Zeit merklich an Terrain verloren.

Oder das Rennen aufgegeben.

Sorbitz versteht in gewissen Dingen keinen Spaß.

Versteht er überhaupt welchen?

Ich lasse nichts auf ihn kommen.

Weil er Ihr Corpsbruder war!

Allerdings. Und der Stolz des ganzen Corps. Er hat mindestens zwanzig Mensuren gehabt, wobei ich noch zwei auf Pistolen nicht einmal mitrechne.

Niemand zweifelt an seiner Bravour.

Würde dem Zweifler auch schlecht bekommen. Er hat die Gewohnheit, seinen Gegner mit ein paar Blutigen abzuführen.

Was nicht hindert, daß er die Courmacher seiner Frau ein bißchen sehr frei laufen läßt.

Que voulez-vous? Er ist eben ein Mann von Welt.

Na! jeder nach seinem Geschmack. Meiner wäre es nicht.

Seien Sie überzeugt, daß Sorbitz verdammt genau weiß, wie weit er gehen kann.

Oder sie gehen lassen.

Was in diesem Falle auf dasselbe hinauskommen dürfte.

Haben Sie Monselet: »Les femmes« gelesen?

Nein, warum?

Es ist da eine reizende Geschichte: »Ma femme m'ennuie«, in welcher der betreffende Unglückliche aus [] Langeweile auf die verrücktesten Einfälle kommt, zuletzt auf den, einen Hühneraugenoperateur, der ihn in die Zehe geschnitten hat, tot zu schießen. Vor die Assisen gestellt, weiß er kein Wort zu seiner Verteidigung vorzubringen, als: »Ma femme m'ennuie.«

Was soll das hier?

Man kann die Geschichte auch umkehren und »Mon mari m'ennuie« überschreiben. Wo dann die aus Langeweile begangenen Tollheiten auf die Seite der Frau fallen.

Der Sorbitz kann niemand etwas nachsagen.

Was ich auch himmelweit entfernt bin, nur habe andeuten zu wollen.

Was wollten Sie denn?

Mit meiner Belesenheit Parade machen. Was sonst!

Ich sage noch einmal: kein gelehrtes Gespräch, Ihr Herren!

Es war in der That kein gelehrtes Gespräch, was nun folgte. Man war einmal bei dem Kapitel der Frauen, und zwischen zwei und drei Uhr in der Nacht muß da unter jungen Leuten ein freies Wort erlaubt sein. Man machte von dieser Freiheit sattsamen Gebrauch. Was den Herren an Reife der Jahre etwa fehlte, schienen sie durch die Vielseitigkeit ihrer Erfahrung mehr als gutgemacht zu haben. Die bedenklichsten Geschichten wurden erzählt; die ungeheuerlichsten Behauptungen aufgestellt. Wenn man den Herren glaubte, mußte man die Existenz einer ehrbaren Frau für eine Fabel halten. Und doch sind dies Leute, sagte sich Albrecht, denen man Geist und Verstand und Bildung nicht absprechen kann, und die doch auch Mütter und Schwestern haben.

[] Er sagte es sich aber bereits auf dem Heimweg, nachdem er bis drei Uhr ausgehalten und sich dann unter dem Vorwand, daß er morgen zu früher Zeit in seine Schule müsse, verabschiedet. Weshalb er nur mitgetrottet war? Was ging ihn diese Gesellschaft an? So wenig, wie er sie. Nicht mit einer Wendung hatte man seine dramatischen Leistungen von heute abend auch nur gestreift; nicht ein Wort war über Litteratur und Kunst gesprochen worden! Dagegen mußte er die Zusammenkünfte mit seinen Kollegen, die wahrhaftig keine Lichter waren, Festmahle des Geistes nennen.

Und sie! sie gehörte denn doch auch in diesen Kreis blaublütiger Junker und ihnen ebenbürtiger Weiber. Die hochnasige Verachtung der bürgerlichen Plebs, die Überzeugung von ihrem adligen Gottesgnadentum, die Verranntheit in ihre engherzigen Vorurteile, die Wichtigthuerei mit ihren Kirchturminteressen – es war ja doch die Atmosphäre, in der sie aufgewachsen war! Und daß man sie völlig zu der Clique rechnete, hatte die Impertinenz bewiesen, mit der man von ihr sprach: »die Sorbitz!« Himmel und Hölle! Als es zuerst sein Ohr traf, er glaubte sich verhört zu haben. Und dann wieder und wieder: »die Sorbitz!« Als ob man von der ersten besten Komödiantin spräche! Sie waren alle halb betrunken gewesen! Ich auch. Ich hätte sonst diese Blasphemien nicht so geduldig mit angehört; hätte diese Burschen – wo bin ich denn eigentlich?

Er stand still. Die Straße, in der er sich befand, kam ihm ganz fremd vor. Dann entzifferte er in dem Flackerlicht einer Laterne an der Ecke mühsam den Namen. Es war nicht so schlimm: nur ein geringfügiger Umweg. [] Aber seine Uhr hatte auf beinahe vier gewiesen. Wenn Klara doch aufgeblieben wäre! Er hatte sie so dringend gebeten, diesmal von ihrer Gewohnheit abzuweichen: er sei gewiß, es werde sehr spät werden. Dennoch –

Richtig! Da oben in den Fenstern seines Arbeitszimmers noch Licht! Und vor der Hausthür eine Droschke!

Jäher Schreck durchrieselte ihn.

Wen haben Sie gefahren?

Der Kutscher raffte sich mühsam aus seinem Halbschlaf auf.

Weiß nicht. Wird wohl ein Doktor sein. Ich soll warten.

Wo haben Sie ihn abgeholt?

Gar nicht. Er hat mich auf der Straße angerufen. Ein Mädchen war bei ihm.

Albrecht hatte genug gehört. Sein Rausch war völlig verflogen. Im ganzen Hause war kein Licht, außer bei ihm.

Hastig schloß er auf. Ein Glück, daß er jede Stufe seiner drei Treppen so genau kannte: die kleine Lampe, die ihn sonst erwartete, war nicht da, und in dem Hause war es grabfinster. Die Thür zu seinem Flur brauchte er nicht aufzuschließen, sie stand offen und auf dem Tischchen unter dem Spiegel die unten vermißte Lampe. Er warf den zusammengedrückten chapeau claque auf das Tischchen – Paletot und Galoschen auszuziehen ließ er sich keine Zeit – und stürzte in sein Zimmer. An dem Schreibtisch beim Schein der Studierlampe saß einer und schrieb – sein Hausarzt.

Der wandte jetzt den Kopf, blickte dann wieder auf das Papier und erhob sich.

[] Guten Abend, oder vielmehr guten Morgen, lieber Professor! Wir haben hier inzwischen eine böse Zeit gehabt. Glücklicherweise ist es nicht ganz so schlimm, wie Ihre Frau fürchtete.

Baby?

Nein, Helenchen. Ihre Frau glaubte: Diphteritis. Ich, offen gestanden, im ersten Moment auch. Aber wir werden wohl mit einer gründlichen Halsentzündung davonkommen.

Klara war plötzlich im Zimmer, Albrecht hatte sie nicht eintreten hören.

Bist Du endlich da? – Kann das Mädchen gehen?

Ich habe meine Droschke noch unten; muß so wie so an der Apotheke vorüber und nehme am besten Auguste, so heißt sie ja wohl? – gleich mit. Sie soll dann selbstverständlich auf das Rezept warten und die Droschke zur Rückfahrt benutzen. Es liegt mir daran, daß Helenchen die Medizin möglichst schnell bekommt.

Aber dann müßten Sie gehen.

Das thut nichts; ist auch nicht so weit. Vorläufig wollen wir noch mal nach der Kleinen sehen.

Man ging nach dem Kinderzimmer, in welchem jetzt auch Klara mit Baby schlief. Das Bettchen von Fritz und die Wiege waren entfernt.

Es ist in solchen Fällen immer gut, wenn man vorsichtig ist, sagte der Doktor im Flüsterton.

Er hatte sich über die kleine Kranke gebeugt und richtete sich nach einer halben Minute wieder auf.

So! Es bleibt also dabei, Frau Professor. Und was ich sagen wollte –

[] Er gab noch einige Verhaltungsmaßregeln und ging dann, während Klara bei dem Kinde blieb, mit Albrecht über den engen Korridor in das Vorderzimmer zurück.

Liegt Gefahr vor, Doktor?

Lieber Freund, Gefahr – das ist für uns Ärzte ein weites Wort.

Ich meine: müssen wir uns auf das Schlimmste gefaßt machen?

Nach meiner Philosophie sollte man das eigentlich immer. In diesem speciellen Falle brauchen wir nicht ganz so stoisch zu sein. Ist das Mädchen da? Na, also gute Nacht. Ich komme morgen, oder heute früh, wahrscheinlich schon um neun. Noch eins! Sie haben eine verständige, tapfere kleine Frau. Bringen Sie mir sie nicht aus dem Text! – Das war wohl heute ein großer Zauber?

Ich mag nicht daran denken.

Ja, das Leben gefällt sich in Kontrasten. Auf Wiedersehen morgen!

Doktor Ribbeck stieg mit dem Mädchen die Treppen hinab; Albrecht war wieder im Studierzimmer. Er griff sich mit beiden Händen an den brennenden Kopf: O, Gott, Gott, straf' mich nicht so hart! Nimm mir meinen Liebling nicht!

Er entledigte sich jetzt der Galoschen; den Paletot behielt er an. Ihn fröstelte. Wer setzt sich auch im Ballanzuge an das Bettchen seines todkranken Kindes? und seine Hauskleider befanden sich in dem Zimmer, in welchem jetzt die beiden andern Kinder schliefen. So geräuschlos er konnte, schlich er in das Krankenzimmer zurück. Klara saß an dem Bettchen; er nahm den Stuhl, [] auf dem der Doktor vorhin gesessen hatte. Von dem Licht der verhüllten Lampe auf dem Tischchen zwischen den Fenstern kam nur ein schwacher Schein, aber hell genug, daß er sehen konnte, wie die Bäckchen des Kindes brannten. Es warf sich unruhig im Halbschlaf hin und her und murmelte von Zeit zu Zeit abgerissene, unverständliche Worte.

Wann hat es angefangen? fragte er flüsternd.

So um halb elf. Ich machte zuerst nichts daraus. Schien auch besser zu werden. Aber um zwei –

Das Kind hatte plötzlich laut aufgeschrieen; Klara legte ihm eine frische Kompresse auf das Köpfchen. Albrecht hatte für einen Moment seine Hand auf eins der winzigen heißen Händchen gelegt. Nun saßen sie sich wieder gegenüber. Klara, nur Ohr und Auge für das Kind, fuhr in ihrem Bericht nicht fort; er mochte nicht weiter fragen.

Um halb elf! Da mußte es gewesen sein, als sie sich hinter der vorgeschobenen Coulisse küßten! Um zwei! da war er, trunken von Liebe und Wein, auf die Straße getreten, um mit den angezechten jungen Gesellen in die Kneipe zu gehen, anstatt nach Hause zu seinem kranken Kinde zu eilen. Mein Gott, er hatte ja nicht gewußt, daß es krank war; es nicht wissen können, und – das Leben gefällt sich in Kontrasten! Aber, wenn dieser hier so ein schauerliches Gesicht zeigte, es war doch seine Schuld!

Und hätte er wenigstens seine Schuld ehrlich bereut; aber, was er als das wahrhaft Gräßliche deutlich empfand, war, daß er es nicht konnte! Daß die Erinnerung der süßen, sündigen Stunden sich nicht bannen ließ! Daß [] er das Bild der schönen verführerischen Frau, die er in seinen Armen gehalten, deren Busen an seiner Brust geklopft, vergleichen mußte mit ihr, die da vor ihm saß, bleichen, unschönen, in der Sorge versteinerten Gesichtes, das schlichte, glanzlose blonde Haar verwirrt um den viereckigen Kopf, in ihrem abgetragenen, schief geknöpften Schlafrock, an den großen Füßen die ausgetretenen Morgenschuhe!

Es half nicht, daß er die Augen schloß: dann sah er sie beide erst recht deutlich nebeneinander; den schlanken Hals sogar von der andern und die feingerundeten aristokratischen Schultern und den Busen, dessen Schönheit der weite Ausschnitt des Ballkleides mehr als ahnen ließ.

Du bist todmüde und hier helfen kannst Du mir doch nicht, sagte Klara. Morgen ist überdies Dein früher Schultag.

Laß mich wenigstens Augusten abwarten!

Ich hab' ihr schon gesagt, daß sie Dir auf Deinem Sofa ein Bett zurecht machen soll, so gut es geht.

Das Mädchen kam mit der Medizin, die Klara dem Kinde eingab. Nicht ohne große Mühe: das Kind wollte den Trank nicht nehmen; Albrecht machte einen ungeschickten Versuch, ihr zu helfen; Klara wurde ungeduldig.

Thu' mir den Gefallen und geh'! Du stehst hier wirklich nur im Wege.

Er ging, von ihrem rauhen Wort beleidigt. Es war immer dasselbe; sie hatte eben keine Formen, keine Spur von Anmut, keine Ahnung davon, daß der Ton die Musik macht.

Und so ins Unabsehbare weiter leben müssen, an der Seite einer anmutlosen Frau, mit den ewigen Kindersorgen, [] Schulsorgen, Nahrungssorgen – dem Raubzeug, das dem Prometheus das Herz ausfrißt, während er verzweifelt an den unzerreißbaren Ketten zerrt!

Und Prometheus ist ein Gott und hat an den goldenen Tischen mit den andern Göttern geschwelgt in Ambrosia und Nektar! –

Er stand am Fenster und starrte hinaus. Über den hohen Dächern der gegenüberliegenden Häuser dämmerte bereits der Morgen herauf.

Der Morgen, der nichts besser machen würde – nichts!

[]

Siebzehntes Kapitel

In seiner Hoffnung, Klotilde werde an dem nächsten Tage anderen Sinnes sein, sah Viktor sich getäuscht. Auch die folgenden brachten keine Besserung des Verhältnisses. Zwar die Zankscene der Nacht wiederholte sich nicht; es war auch keine Veranlassung dazu: Klotilde hüllte sich in eisiges Schweigen; er seinerseits hütete sich, einen Streit von neuem zu beginnen, in welchem er keineswegs sicher war, nicht den Kürzeren zu ziehen. Und doch hätten sie gerade in diesen Tagen, die zufällig keine Gesellschaften brachten, reichlich Zeit zu einer Aussprache gehabt. Dafür wechselten sie bei Tisch ein paar gleichgültige Worte, und auch die nur, solange die Dienstboten ab- und zugingen. Nach Tisch zog sich Klotilde in ihren Salon zurück, den sie für den Abend nicht wieder verließ, um sich, meistens sehr zeitig, in ihr improvisiertes Schlafgemach zu begeben, das sie inzwischen mit den nötigen Toilettengegenständen ausgestattet hatte. Wie Viktor auf seine diskrete Nachfrage erfuhr, war den Dienstboten das neue Regime dahin erklärt worden, das »die gnädige Frau an einem bösen nächtlichen Husten leide und den Herrn um den Schlaf bringe, welchen er, bei besonders [] schwerer Arbeit, gerade jetzt notwendig brauche.« – So hatte sie doch wenigstens den Leuten gegenüber den Schein zu bewahren gesucht!

Aber welches waren ihre wirklichen Absichten?

Darüber zerbrach sich Viktor den Kopf, und je länger und eifriger er des Rätsels Lösung zu finden suchte, desto dunkler wurde es ihm. Mein Gott, ja! sie waren von Anfang an recht oft sehr verschiedener Meinung gewesen und hatten daraus nie ein Hehl gemacht. Im übrigen war doch ihre Ehe nicht besser und nicht schlechter, nicht behaglicher oder unbehaglicher als die aller seiner Kollegen und sonstigen näheren Bekannten. Eher noch ein wenig, wenn nicht inniger, so doch einiger hinsichtlich alles dessen, was ihm in seiner Carriere förderlich sein konnte, wo es Klotilde nie an sehr verständigen Ratschlägen und thatkräftiger Unterstützung hatte fehlen lassen. Daß die relative Enge ihrer ökonomischen Verhältnisse sie manchmal ungeduldig machte, ja, lieber Himmel, er hätte auch gern die Ellbogen freier gehabt! Schließlich hatte sie doch gewußt, daß er kein reicher Mann war, es auch nie werden konnte; und die Zuschüsse, die sie von seinem Vater erhielten, waren um ein namhaftes reichlicher und liefen vor allem sehr viel regelmäßiger ein, als die ihres Vaters, der die unangenehme Gewohnheit hatte, die Quartalsdaten zu vergessen.

Schließlich blieb nur ein Erklärungsgrund ihrer Tollheit, ein völlig ungeheuerlicher freilich. Aber wie hätte er sich nicht immer wieder herzudrängen sollen, wenn alle andern etwa möglichen sich bei nur einigermaßen genauerer Prüfung als hinfällig erwiesen?

[] Viktor hatte diese Zweifelssorgen drei Tage lang mannhaft still getragen, immer bei sich erwägend, ob er nicht Elimar ins Vertrauen ziehen sollte. Elimar war klug und die Diskretion selbst. Aber Viktor glaubte mit Sicherheit zu wissen, es habe seiner Zeit nur wenig gefehlt, so hätte Klotilde jenen und nicht ihn geheiratet. Da war denn auf ein unbefangenes Urteil bei dem Manne in dieser Sache nicht zu rechnen. Fernau? Sonst wäre Fernau sicher der Rechte gewesen, aber seit der unerquicklichen Scene zwischen ihnen neulich an dem Abend bei Sudenburgs – Und wiederum, hatte der Freund, wie Klotilde behauptete, seine Courmacherei zu weit getrieben, so war es ein seiner diplomatischer Zug, den Nebenbuhler gegen den Nebenbuhler auszuspielen. Unbefangen würde seine Auffassung der Sachlage wohl noch weniger sein, als die Elimars; aber weshalb nicht von der Scharfrichtigkeit des Hasses profitieren?

Und da wollte der Zufall, daß er am vierten Tage mit Fernau zusammentraf, als sie nach den Bureaustunden das Amt, in welchem beide gemeinschaftlich, wenn auch in verschiedenen Abteilungen, arbeiteten, zu gleicher Zeit verließen.

Sie hatten, sich erblickend, beide einen Moment gestutzt, waren dann aber, ein etwas gezwungenes Lächeln um die Lippen, mit ausgestreckten Händen aufeinander zugegangen.

Sieh' da, mon brave! sagte Fernau. Haben uns ja in einer Ewigkeit nicht gesehen! Wie geht's?

Nicht zum besten, erwiderte Viktor.

Etwas mit dem Alten?

Auch das. Er kann sich noch immer in den neuen Kurs nicht finden.

[] Der Ihnen doch auch gegen den Strich geht.

Man laviert eben. Aber das macht mir weiter keine Schmerzen.

Was sonst?

Sie waren aus der Wilhelmstraße in die Voßstraße gebogen.

Werden Sie fahren? fragte Viktor, mit einem Blick nach dem Droschkenstande.

Ich hatte nicht die Absicht. Aber wenn Sie wollen –

Gar nicht.

Also: andiamo!

Der lange Weg nach Hause war bis auf ein kleines für beide derselbe. Fernau hatte durchaus das Gefühl, daß Viktor eine Fortsetzung ihrer letzten Auseinandersetzung wünsche. Ihm kam es gelegen; war ihm die Sache während dieser letzten Tage doch ebenfalls sehr durch den Kopf gegangen!

Hören Sie, Sorbitz, sagte er, nachdem sie eine Minute schweigend nebeneinander hingeschritten waren; es ist zwischen uns nicht alles so klar, wie es zwischen guten Freunden sein sollte. Ich kann Ihnen nur auf Ehrenwort wiederholen, was ich Ihnen neulich abends bereits gesagt habe, daß –

Sie brauchen nicht weiter zu sprechen, unterbrach ihn Viktor. Ich habe mich längst überzeugt, daß man mich geflissentlich auf Sie gehetzt hat, um –

Sie auf eine falsche Fährte zu bringen. Ganz meine Meinung.

Aber, um Gottes willen, Fernau, das ist doch ganz unbegreiflich, total verrückt! Was kann sie an dem Menschen finden?

[] Lieber Sorbitz, wer lernt diese fin-de-siècle-Frauen aus? Es ist da alles Nerven, Idiosynkrasien, Illusionen perdues oder à perdre, falsche Appetite – was weiß ich. Nehmen wir an, man hat sich an Kuchen übergessen und schwelgt in dem Gedanken, wie himmlisch es sein müßte, wenn man die weißen Zähne so einmal in Schwarzbrot vergraben könnte. Solche Anfälle gehen vorüber – glauben Sie mir!

Sie haben gut reden. Sie sind nicht verheiratet. Sie wissen nicht, wie unsereinem ein solcher Anfall zu Haus und Hof kommt, besonders wenn er so lächerlich akut ist, wie dieser.

Also erzählen Sie mir, was ist geschehen! Ich brauche Sie nicht zu versichern, daß Sie sich auf meine Diskretion unbedingt verlassen können.

Würde ich sonst von der vertrackten Geschichte angefangen haben! Die Sache ist aber die –

Und Viktor berichtete ziemlich getreu seinen Zank mit Klotilde in der Ballnacht, und wie sich die ehelichen Verhältnisse seitdem gestaltet hatten. Nur von einem gewissen Arrangement zu sprechen, das Klotilde zu treffen beliebt, fand er nicht den Mut und wollte die ziemlich deutliche Anspielung Fernaus auf die nicht ganz ungewöhnliche Methode der Herbeiführung einer Verständigung in so verzweifelten Fällen lieber nicht verstehen.

Man war bis zum Potsdamer Platz gelangt.

Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Sorbitz, sagte Fernau. Da steht ein Dienstmann. Schreiben Sie Ihrer Frau auf einer Karte: Sie können heute nicht zu Mittag kommen. Basta! Und lassen Sie uns im [] Palast-Hotel dinieren. Ich selbst bin noch nicht dagewesen; aber es soll sehr gut sein.

Wozu dann noch die Karte?

Bitte sehr! Immer die Form bewahren! Darin liegt eine ungeheure Macht. Die Weglassung jedes Entschuldigungsgrundes wird die Demonstration für Ihre Frau verständlich genug machen.

Der Dienstmann war mit der Karte seines Weges geschickt; die Herren waren in das Hotel getreten und hatten in dem Restaurant bald die ihnen zusagenden Plätze entdeckt. Fernau, als vielerfahrener Junggesell, übernahm die Zusammenstellung des Menü und die Auswahl der Weine. Er war in der behaglichsten Stimmung. Je länger er Zeit gehabt hatte, über die Angelegenheit nachzudenken, desto schwerer war es ihm geworden, den »Schulmeister« ernsthaft zu nehmen. Die Sache hatte entschieden keine tiefere Bedeutung als die eine, ihm sehr genehme: das Verhältnis zwischen den beiden Gatten war wirklich so schlecht, wie er es sich nur immer wünschen konnte und wünschen mußte, sollte seiner Liebe Müh nicht vergeblich gewesen sein. Wer konnte sogar wissen, ob die kluge Frau das Techtelmechtel mit dem Schulmeister nicht arrangiert hatte, Viktor von der richtigen Fährte abzubringen! Und den schlimmsten Fall gesetzt: sie hatte wirklich ein momentanes Faible für den Menschen, das müßte doch sonderbar zugehen, wenn ihm es nicht gelänge, sie zur Raison zu bringen, über ihre Verblendung lachen zu machen – in seinen Armen natürlich!

Aber er hütete sich wohl, Viktor von diesen seinen wirklichen Empfindungen und Gedanken auch nur das [] mindeste merken zu lassen; ein Bruder konnte um den Bruder nicht besorgter sein, als er es um den Freund war. Dergleichen könne peu à peu zu ganz ungeheuerlichen Konsequenzen führen, wenn man nicht rechtzeitig vorbeuge. Hier heiße es durchaus: principiis obsta! Und Viktor möge die schrankenlose Freiheit bedenken, in der seine Frau aufgewachsen sei! Ein Mädchen auf dem Lande, in den breiten Verhältnissen, an der Seite von ein paar leichtsinnigen Brüdern und einem Vater, der noch jeden Augenblick geneigt sei, von vorn anzufangen! Mein Gott, man kenne doch diese jungen Damen! Sie seien überall dieselben: hinten in Ostpreußen, wie in Pommern, oder Hannover. Tags über im Sattel; Nacht für Nacht in Gesellschaft auf diesem oder jenem Gute zehn Meilen in der Runde. Und hernach die Pension, wo sie lernten, was sie etwa wirklich noch nicht wüßten! Aus dem allen mache er ja keiner einzelnen einen Vorwurf – Gott bewahre! Aber man müsse die lieben Dinger nun einmal nehmen, wie sie seien!

Habe ich das etwa nicht gethan? rief Viktor, der, ohne es zu merken, den Wein beinahe allein trank. Habe ich meiner Frau nicht jede Freiheit gelassen? Ich glaube, liberaler als ich gewesen bin, kann man nicht sein.

Ja, lieber Freund, erwiderte Fernau, die Augenbrauen in die Höhe ziehend, nun kommen wir zu der anderen Seite der Medaille. Sie haben ihr zu viel Freiheit gelassen, viel zu viel. Ein Vollblutfüllen – Sie verzeihen mir den Vergleich! – will eben anders behandelt sein als ein gewöhnliches. Es will leicht geführt sein; dann aber muß es auch gegebenen Falles fühlen, daß sein Reiter eine Faust von Eisen hat.

[] Sprechen wir nicht in Bildern! bleiben wir bei der Wirklichkeit! Sie werden nun gewiß sagen: ich solle das ihr bis jetzt gewährte Maß der Freiheit einschränken. Das ist leichter gesagt als gethan. So ist sie nach wie vor des Morgens stundenlang in der Stadt; ich habe keine Ahnung, wo, obgleich es mir sehr unbehaglich ist. Ich kann sie doch nicht einsperren, wie ein Schulmädchen, das nicht gut thun will!

Das können Sie freilich nicht; aber vielleicht diese Ausflüge ein wenig kontrollieren.

Wie das, wenn ich gerade während dieser Zeit auf dem Amt festsitze?

Auf Ihre Leute haben Sie keinen Verlaß?

Ich traue keinem über den Weg. Meine Frau hat sie alle an ihrer Schleppe. Und wenn auch nicht – ich kann sie nicht hinter ihr herschicken!

Fernau nippte bedächtig an seinem Sekt.

Da bleibt nur noch ein Detektive.

Viktor hatte längst über Gebühr getrunken; das Wort machte ihn doch stutzig.

Sie sind nicht recht gescheit, Fernau, sagte er nach einer Pause, während der er sein Gegenüber zornig angestiert hatte.

Einen Privat-Detektive selbstverständlich, fuhr Fernau ruhig fort. Lieber Himmel, wir Deutsche sind so schwerfällig – verzeihen Sie mir, lieber Sorbitz! Aber ein Londoner oder Pariser in dem analogen Fall brauchte nicht erst durch einen Freund an dieses nächstliegende und unverfänglichste Hilfsmittel erinnert zu werden. Ich will Ihnen nur gestehen, daß ich mich seiner bereits wiederholt und mit bestem Erfolge bedient habe. Nach [] ein paar Tagen wußte ich stets, was ich zu wissen wünschte. Die Leute sind treu wie Gold und verschwiegen wie das Grab. Auch brauchten Sie gar nicht ins Spiel zu kommen: ich nehme das Ganze auf mich.

Viktor schenkte sich ein Glas voll und trank es auf einen Zug leer. Er war offenbar schon halb gewonnen.

Und dann sehen Sie, Sorbitz, ich würde Ihnen den Rat nicht geben, wenn ich glaubte, der Mann würde entdecken, was Sie in der exceptionellen Stimmung, in der Sie nun einmal sind, fürchten. Ich bin wie von meinem Leben überzeugt, daß er nichts entdecken wird. Nun, und dann haben Sie Ihre Ruhe wieder. Mir deucht, bei Gott, ein solcher Gewinn ist die lumpigen paar hundert Mark wert. Was sagen Sie zu meiner Idee?

Sie könnten den Mann besorgen?

Einen absolut sichern Menschen.

Und instruieren?

Ich übernehme alles und jede Garantie dazu.

Und Sie werden mich hinterher nicht auslachen? denn, offen gestanden, ich komme mir doch bei der Geschichte ein wenig sehr –

Lieber Freund, das ist mir das erste Mal genau so gegangen: ich kam mir auch »sehr« vor. Hinterher macht man sich ein Kompliment über seinen Verstand zur rechten Zeit. Also abgemacht?

Meinetwegen.

Bravo! Und nun lassen Sie uns noch eine –

Keinen Tropfen mehr!

Wie Sie wollen. Also: den Mokka, Kellner, und Ihren besten Hennesi!

[]

Achtzehntes Kapitel

Um dieselbe Zeit, als Fernau und Viktor sich vor ihrem Amte in der Wilhelmstraße trafen, war Klotilde in der Mauerstraße bei Adele vorgefahren. Sie wußte, daß Elimar an diesem Tage – einem Mittwoch – stets erst um sechs Uhr nach Hause kam. So war sie sicher, Adele allein zu finden.

Sie hatte die Klingel gezogen und stand wartend mit einer finsteren Miene, die sich jäh in ein graziöses Lächeln verwandelte: Adele selbst war es, welche die Thür geöffnet hatte.

Klotilde, Du! Um diese Stunde? Es ist ja Eure Essenszeit!

Ich habe mich heute bei Sudenburgs zu Tisch gebeten.

Und Dein Mann?

Muß einmal allein essen. Ich denke, es wird ihm darum nicht weniger gut schmecken.

Na, ja! Du hast eine perfekte Köchin, wie sie es hier nennen. Ich – Du siehst, ich bin in der Küchenschürze.

Ich störe Dich?

[] Ganz und gar nicht. Wir essen heute »Verklebtes« – echt magdeburgisch, weißt Du. Das kocht sich allein. Und bei Sudenburgs hast Du Dich angemeldet?

Die Damen waren in das Wohnzimmer getreten; Adele hatte Klotilde den Mantel abgenommen und sich zu ihr auf das Sofa gesetzt.

Du weißt natürlich nichts von dem großen Ereignis: Stephanie hat sich mit Luckow verlobt.

Adele legte beide Hände auf Klotildes Kniee:

Ist es möglich!

Hast du nichts davon gewußt?

Doch, doch! alle Welt sprach ja davon, am Sonnabend schon. Aber es sollte ja noch in weitem Felde liegen.

Nur bis Luckow Hauptmann erster Klasse wurde. Gestern hat er das Patent erhalten. Stephanie meldete es mir vor einer Stunde per Rohrpost. Du begreifst, daß ich, als ihre beste Freundin, heute bei dem Verlobungsdiner nicht fehlen darf.

Freilich! selbstverständlich! sagte Adele, im stillen verwundert, weshalb sich dann Klotilde erst hatte zu Tisch bitten müssen, anstatt gebeten zu werden. Aber in Berlin war alles anders als in Magdeburg.

Warum sie nur so lange gewartet haben? fragte sie; ich denke, Sudenburgs sind so reich?

Aber Luckow will nicht direkt abhängig sein, was ich ihm nebenbei nicht verdenken kann. Diese Abhängigkeit ist im Grunde schauderhaft. Und dann: reich! Ja, Kind, das ist ein sehr relativer Begriff. Wenn man, wie Sudenburgs, zwei Söhne hat, die Offiziere sind – davon weiß mein Papa ein Lied zu singen! Er klagt[] Gott und die Not, was ihn Ernst und Otto in Bonn und Düsseldorf kosten. Und ich, armes Wurm, muß natürlich warten und warten, bis die Reihe auch mal an mich kommt. Ach, Kind, es ist ein großes Ding, reich zu sein – steinreich!

Ich weiß nicht, sagte Adele; ich denke es mir eigentlich schrecklich. Und Elimar auch. Die armen Reichen, sagt er immer. Aber Du hattest es doch in der Hand, reich und sogar steinreich zu sein. Warum hast Du damals Kurt Platow nicht genommen?

Klotilde lachte.

Lieber Schatz, wenn Du es durchaus wissen willst: er war so fürchterlich dumm. Ich abominiere dumme Menschen. Und seine Dummheit hätte ich ihm vielleicht noch verziehen; aber seine antediluvianischen Westen und gestreiften Beinkleider, die konnte ich ihm nicht verzeihen. Es war wirklich au fond eine Kleiderfrage. Und da er durchaus seinen Schneider nicht wechseln wollte, was konnte ich thun, als ihn zu Klarisse Gardewitz schicken, die in diesen Dingen vielleicht weniger difficil war?

Der arme Mensch! Er hat vier Jahre gebraucht, ehe er Dich soweit vergessen konnte, sagte Adele kopfschüttelnd.

Giebt es einen stärkeren Beweis für seine Dummheit?

Klotilde, versündige Dich nicht! Danke lieber Gott, daß Du bei Deiner Art zu denken, noch einen so guten Mann bekommen hast.

Da wären wir ja endlich so weit, sprach Klotilde bei sich.

Sie richtete sich aus ihrer Sofaecke auf, blickte ihre Cousine scheinbar forschend an und sagte in einem andern Ton der Stimme, als sie bis jetzt gesprochen:

[] Das ist wirklich Dein Ernst?

Was?

Das mit dem »guten Mann«?

Ist er das etwa nicht?

Und Du glaubst auch, was ich Dir neulich gesagt habe? daß wir uns niemals zanken?

Ja, thut Ihr es denn?

Klotilde lachte höhnisch auf, wurde aber sofort wieder ernst. Es war eine falsche Note gewesen. Wenn sie ihre Absicht erreichen wollte, durfte Adele nur die Hälfte von der Wahrheit erfahren.

Liebes Kind, sagte sie, wie konntest Du meine Prahlerei nur einen Augenblick ernst nehmen! Viktor ist wirklich ein guter Mann in seiner Weise; aber darum zanken wir uns gelegentlich doch, gerade wie andere Leute. Wir haben uns sogar am Sonnabend nach dem Ball ganz fürchterlich verzankt, so, daß wir heute noch auf dem Kriegsfuß gegeneinander stehen.

Ist es möglich? aber warum denn?

Elimar ist nicht eifersüchtig?

Nicht die Spur. Ich gebe ihm aber auch keine Veranlassung dazu.

Das klingt, als ob Du sagen wolltest: natürlich! Du giebst Deinem Mann welche.

Fällt mir gar nicht ein. Ich habe nur sagen wollen: ich bin ein so einfaches Menschenkind; in mich vergafft sich so leicht keiner.

Du weißt, wie man Dich in dem Sudenburg'schen Kreise getauft hat?

Keine Ahnung!

Die Oase.

[] Adele blickte ihre Cousine stumm mit verwunderten Augen an.

Du weißt doch, was eine Oase ist: die Stellen in der Wüste, wo Wasser quillt und alles grünt und blüht und duftet und die Vögel singen. So, als eine solche grüne Insel in dem Sandmeer, erscheinst Du unsern – – Kamelen, hätte ich beinahe gesagt.

Adele lachte herzlich.

Das ist ja reizend!

Nicht wahr? Aber wenn Du nun mit Deinem Mann nach Hause kommst, und er schlägt die Arme übereinander, mißt Dich von oben nach unten mit einem Blick, wie ein Großinquisitor, und sagt mit eisiger Kälte: Ich habe gehört, Madame, man nennt Sie in der Gesellschaft »Oase«. Ich verbitte mir das. Wenn es noch einmal passiert, lasse ich mich von Ihnen scheiden.

Das hätte Viktor gesagt?

Närrchen, ich bin doch nicht die Oase! Ich bin eine ganz simple Frau, die schön zu finden hier und da mal einer dumm genug ist.

Aber, Herz, alle Männer finden Dich schön. Darüber ist doch nur eine Stimme. Am Sonnabend, im zweiten Walzer – Du tanztest den ersten mit ihm, wenn Du Dich erinnerst – hat Professor Winter zu mir gesagt: Ist sie nicht wunderbar schön? Ist sie nicht wie eine – – kann er Ballade gesagt haben?

Klotilde fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. Er hatte es ihr selbst gesagt: traumhaft schöne Ballade! Der liebe Mensch! Und nun durfte sie ja auch zur Sache kommen.

[] Sieh, sieh, mein kleines Professorchen, das sein Herz so auf dem Präsentierteller trägt! Ja, Liebchen, da wird mir freilich klar, wie Viktor auf die absurde Idee hat kommen können.

Er glaubt doch nicht etwa –

Ja, mein Schatz, er glaubt allen Ernstes, daß der Professor in mich verliebt ist – was ich ja nebenbei gar nicht in Abrede stellen will – wir armen Frauen können doch nichts gegen die Verliebtheit der Männer! – Und wenn Viktor dabei stehen bliebe; aber – es ist wirklich zu albern.

Er glaubt, daß Du –

Er glaubt, daß ich – sprich es nur aus!

Daß Du – nun ja, wunderbar schöne große Augen hat er.

Mein Gott, fängst Du auch noch an!

Klotilde war vom Sofa aufgesprungen, ging, wie in großer Erregung, zum Fenster, blickte ein paar Momente auf die Straße, wandte sich und sagte:

Das geht so nicht länger. Dem muß ein Ende gemacht werden. Und Du mußt mir dabei helfen.

Sie hatte sich wieder zu Adelen gesetzt und deren beide Hände in die ihren genommen.

Ich? stammelte Adele, noch voller Schrecken über Klotildens Heftigkeit. Mit dem größten Vergnügen. Aber worin? wobei? Ich weiß ja gar nicht –

Die Sache ist einfach die: Wie der Professor Dir sein Herz ausgeschüttet hat, so hat er es zweifellos auch mit andern gemacht und mich in das schönste Gerede gebracht. Ich brauche Dich nicht zu versichern, daß ich daran absolut unschuldig bin. Aber die Welt ist so [] grundschlecht, und auf mich haben es die schlechten Menschen – Gott mag wissen, warum – noch besonders abgesehen. Der Professor muß entweder aus unsrer Gesellschaft verschwinden; oder, da das seine Schwierigkeit hat – er ist bei zu vielen schon eingeführt, jetzt auch bei Breitenbachs – sein Betragen vollständig ändern, seine Augen beherrschen lernen, seine Zunge im Zaum zu halten.

Aber Klotilde, das kostet Dich doch nur ein Wort!

O ja, wenn der Professor ein Mann von Welt wäre! Die verstehen einen, mit denen verständigt man sich à demi mot. Solchem Schulgelehrten muß man alles umständlich auseinandersetzen, sonst begreift er's nicht.

Und das soll ich unternehmen?

Dir würde er nicht glauben; meinen, Du seiest von irgend einem angestiftet – sagen wir: Fernau, der es wohl imstande wäre; und der gute Professor weiß ja nicht – kann ja auch nicht wissen – daß Du Dich zu dergleichen niemals hergeben würdest. Nein, das kann ich allein.

So thu's doch!

Wo? wann? in der Gesellschaft? Ich wiederhole Dir, dazu brauche ich eine Stunde – eine halbe mindestens. Während der wir in der Ecke stehen und die Köpfe zusammenstecken, damit die liebe Gesellschaft die ihren zusammensteckt: haben wir es nicht gesagt? Da sieht man es ja!

Nun weiß ich aber wirklich keinen Rat, sagte Adele ganz verzweifelt.

Klotilde rückte dicht an sie heran und sagte, abermals ihre beiden Hände nehmend:

[] Der doch so leicht gefunden wäre, wenn Du – sieh, Kind, ich denke mir es so: Du schreibst an den Professor und bittest ihn, Dich auf eine halbe Stunde zu besuchen natürlich zu einer Zeit, in der Dein Mann nicht zu Hause ist. Er kommt selbstverständlich. Du empfängst ihn freundlich, aber ernst, und sagst ihm in demselben freundlich ernsten Ton: Du habest gehört, daß sein Benehmen gegen mich in der Gesellschaft aufgefallen sei –

Aber ich habe es ja gar nicht gehört.

So sagst Du es dennoch. Und daß Du, als meine Cousine und intimste Freundin, Dir die Freiheit nähmest, ihn darauf aufmerksam zu machen –

Aber Du hast ja noch eben erst versichert, auf mich würde er nicht hören!

Ganz richtig. In diesem Moment klingelt es und ich erscheine.

Du?

Ganz zufällig. Laß mich nur machen! So was bringe ich in all meiner Dummheit doch ganz gut fertig. Er ist natürlich verlegen, Du bist verlegen, wir alle sind verlegen. Nun erinnerst Du Dich, daß Du vergessen hast, dem Mädchen, oder dem Burschen einen notwendigen Auftrag zu geben, verschwindest, und vergißt für eine halbe Stunde wiederzukommen. Wenn Du wiederkommst, ist der Herr Professor kuriert. Das versichere ich Dich. Nun, Schatz, willst Du?

Adele war in der bittersten Verlegenheit. Die Rolle, die ihr Klotilde da zugeteilt hatte, deuchte ihr entsetzlich. Und wenn sie auch Klotilden das ungeheure Opfer bringen wollte –

[] Guter Gott, rief sie, ich bin ja bereit – das heißt: ich würde es ja versuchen, obgleich bei meinem grenzenlosen Ungeschick – aber, was würde Elimar dazu sagen?

Elimar? Der bleibt doch ganz aus dem Spiel.

Aber nachher müßte ich es ihm sagen.

Warum?

Ich muß Elimar alles sagen. Ich kann nicht anders.

Sie hatte die Hände gefaltet und sah ihre Cousine mit flehenden Blicken an.

Ja so! sagte Klotilde gedehnt.

Sie begriff sofort, daß sie das Spiel verloren geben mußte. An dieses Übermaß von Einfalt hatte sie nicht gedacht. Der kluge Elimar! der im Nu heraus haben würde, daß man sein Gänschen düpiert und sich, mit ihrer Küchenschürze als Deckmantel, ein Rendezvous gegeben hatte!

Nun bist Du mir bös, sagte Adele traurig, als Klotilde aufstand und schweigend nach ihrem Mantel ging.

Gar nicht, erwiderte Klotilde, bereits im Begriff den Mantel umzunehmen. Du hast ganz recht: Deinem Manne müßtest Du es sagen, und das geht aus vielen Gründen nicht. Ich weiß freilich nicht, ob Du ihm dann nicht auch wirst sagen müssen, was ich Dir eben –

Aber Klotilde, das ist doch ganz was ander's! Auf so was hat Elimar natürlich kein Recht. Das bleibt unter uns.

Dann ist ja alles gut. Und ich danke Dir aufrichtig für Deinen guten Willen. Soll ich Stephanie vorläufig Deinen Glückwunsch bringen?

Wenn Du so freundlich sein wolltest! Aber wie willst Du es denn nun machen?

[] Ich weiß noch nicht. Das wird sich finden.

Und Du bist mir wirklich nicht bös?

Keine Spur!

Sie hatten sich umarmt und geküßt, was sie an der Flurthür noch einmal thaten. Dann war Klotilde gegangen.

Langsam schritt sie die Mauerstraße hinab nach der Leipziger Straße zu.

Sollte sie es aufgeben? Es war am Ende das Vernünftige. Was konnte dabei herauskommen? Wenn sie es recht überlegte: der Streit mit Viktor drehte sich doch darum, ob er in ihr Thun und Lassen von jetzt an solle hineinreden dürfen, oder nicht. Der Professor war nur eine Gelegenheitsursache, wie die Ärzte sagen. Eine freilich, die für sie etwas seltsam Reizendes hatte, etwas Morphiumartiges, Sinnbetäubendes. Nun ja! sie würde schon darüber wegkommen – natürlich! Aber einmal noch von ihm hören: traumhaft schöne Ballade, Du! Einmal noch –

Da war sie ganz nahe an dem Briefkasten, den sie, während sie die Straße heraufkam, immer im Auge gehabt hatte. Ihre Rechte glitt aus dem Muff in ihre Manteltasche nach dem Brief, den sie geschrieben für den doch möglichen Fall, daß das Rendezvous bei Adele nicht zustande kam. Es war nicht ihre Schuld, wenn Adele so unglaublich philiströs war. Adele hatte es zu verantworten.

Ihr Schritt war immer langsamer geworden. Nun hatte sie doch den Kasten erreicht. Ein paar schnelle, scharfe Blicke nach rechts und links und über die Straße hinüber. Dann hatte sie den Brief aus der Tasche [] genommen und durch den Spalt geschoben. Die beweglichen Stifte am Spalt machten ein häßliches Geräusch, wie Zähne eines Rachens, der zusammenschnappt.

Pah, sagte sie, das sind die Nerven. Man ist so lächerlich gewissenhaft.

Eine Droschke erster Klasse kam im Schritt an ihr vorüber. Sie rief den Kutscher an, gab ihm die nötige Weisung und stieg ein.

Der Kutscher fuhr im schlanken Trab davon. Er war ein lustiger Gesell und ließ den Braunen immer schlanken Trab laufen, wenn er eine schöne, elegante Dame fahren durfte.

[]

Neunzehntes Kapitel

Die Diagnose des treuen Hausarztes hatte sich als richtig erwiesen: nicht der Würgengel Diphteritis hatte klein Helenchen mit seinem mitleidlosen Schwert berührt; über die Schwelle der Kinderstube war nur einer seiner minderen Gesellen geschlichen, der sich den Künsten des Doktors nicht gewachsen zeigte.

Böse Tage, angstvolle Stunden hatte es darum doch genug gegeben. Eine völlige Absperrung der beiden andern Kinder war in der engen Wohnung schon deshalb eine Unmöglichkeit, weil Klara, während sie die Kranke pflegte, Baby immer in ihrer Nähe haben mußte. So blieb die Gefahr der Ansteckung, auch als am dritten Tage in dem Befinden der Kranken eine entschiedene Besserung eingetreten war; und mit der Gefahr die Sorge, die auf unhörbaren Sohlen durch die Wohnung schlich, jegliches Behagen aus ihr verscheuchend.

Klara schien nichts davon zu empfinden: sie hatte mehr zu thun; desto drückender empfand es Albrecht. In wie musterhafter Ordnung Klara auch ihre Wirtschaft hielt, es war unvermeidlich, daß in diesen Tagen nicht alles so glatt ging wie sonst. Wenn Baby schrie, konnte [] sie mit ihm nicht hinten bleiben, wo vielleicht gerade Helenchen eingeschlafen war; Fritzchen mußte jetzt manche Stunde vorn in Papas Zimmer spielen, das auch sonst gelegentlich zu Zwecken herangezogen wurde, welche mit seiner wirklichen Bestimmung in grellem Kontrast standen: fand Albrecht doch einmal sogar, als er aus der Schule heimkehrte, von dem Ofen in der Ecke bis zum Fenster, quer über seinen Arbeitstisch, eine Leine gespannt, an der noch die feuchte Kinderwäsche hing. Der Gegenstand des Anstoßes wurde in wenigen Minuten entfernt; dafür war dann das Mittagessen, das man eine halbe Stunde später in dem kleinen Berliner Zimmer einnahm, noch bedenklicher als gestern: Klara, die sonst auch die Küche zum größten Teil besorgte, mußte sie jetzt ganz Augusten überlassen, und Auguste konnte unter ihren übrigen löblichen Qualitäten die einer guten Köchin nicht zählen.

Doch das waren Vorkommnisse, welche in einem so beschränkten Haushalt wohl verzeihlich erschienen, und die Albrecht in den Familien seiner Kollegen unter ähnlichen mißlichen Umständen in ganz anders abstoßender Gestalt oft genug beobachtet hatte. Und was dort nicht selten der dunklere Hintergrund des dunklen Bildes war: die Not um das materielle Dasein, davon konnte hier keine Rede sein, für den Augenblick wenigstens sicher nicht. Seine jetzt vollendete Arbeit hatte ihm ein für seine Verhältnisse ansehnliches Honorar gebracht und für die geringen Ansprüche, die Klara und er an das Leben stellten, genügten auch sonst seine laufenden Einnahmen.

Er sagte sich das alles in Momenten ruhiger Überlegung, aber deren hatte er jetzt wenige. Wie ein[] weidwunder Hirsch durch den Wald, schleppte er sich durch das Dasein, todmüde, den Schlaf herbeisehnend, der nicht kommen wollte vor dem brennenden, bohrenden Schmerz in der frischen Wunde. Sonst hatte er in trüben Stunden nur seinen Homer oder Sophokles, seinen Horaz oder Virgil aufzuschlagen brauchen und sich in eine Welt entrückt gefühlt, unter der die gemeine Wirklichkeit in wesenlosem Scheine lag. Nun wollte die Heilquelle nicht mehr fließen und der Balsam hatte seine Kraft verloren. Er, der früher nur ein verächtliches Lächeln gehabt hatte für die Klagen der Alltagsseelen über Alltagsleiden, mußte jetzt seinen ganzen Stolz zusammennehmen, um nicht in den Chor einzustimmen; er spürte eine beständige Neigung zum Weinen, und manchmal fehlte nur ein Geringes und er wäre mitten in seiner Lehrstunde oder im Gespräch mit den Kollegen in Thränen ausgebrochen.

Dann raffte er sich wohl gewaltsam zusammen, schalt sich einen Undankbaren, einen Feigling, einen Weiberknecht; aber die heroische Wallung war nur zu bald verflogen. Wieder stand es vor seines Geistes Auge in erschreckender Klarheit, das Bild der Zauberin; wieder fühlte er auf seinen Lippen ihren Kuß; wieder fluchte er den Göttern, die mit dem Menschen ihren schnöden Spaß treiben und ihm ein Glück vorgaukeln, das ihm ewig unerreichbar bleibt.

Weshalb in seine Brust die Leidenschaft der Schönheit pflanzen, wenn sie sie nicht stillen wollten? Weshalb ihm das herrliche Weib an die Brust drücken, um es sofort in eine Ixion-Wolke zu wandeln?

Aus der nur noch ein leises, ironisches Kirchen schallte: Weißt Du jetzt, wie weich einer Göttin Arme sind und [] ihre Küsse brennen, du armseliges, gefopptes Menschenkind?

Ja, er war gefoppt, genasführt; sein übermütiges, frivoles Spiel hatte man mit ihm getrieben; und war dann unbekümmert um ihn, der sich verzweifelt am Boden rang, auf- und davongeflogen in höhere Regionen.

Wären es doch wirklich höhere gewesen!

Konnte er die so nennen, in welchen die Herren von Fernau und Genossen Sterne erster Ordnung waren? die jungen Herren, mit denen er nach der Ballnacht in dem Café gewesen war, das große Wort führten? Und sie »die Sorbitz« nannten? und von ihr sprachen, wie von einer Balletteuse?

Den abscheulichen Eindruck, den diese Reden auf ihn gemacht hatten, konnte er nicht los werden, wie den Nachgeschmack einer widerlichen Medizin. Und er hatte die Empfindung, als sei gerade von ihr in einem besonders leichtfertigen Ton gesprochen worden. Es konnte doch wohl nur sein, weil alles, was über sie gesagt wurde, ihn so viel schmerzlicher berührt hatte; und doch, mochte er dagegen ankämpfen, wie er wollte, der Zweifel an ihr schlich sich in seine Seele und verdoppelte seine Qual. Sein gutes Weib zu verraten, war schlimm; sie verraten zu haben um eine, die von der Courtisane nur der gesellschaftliche Rang trennte, schien unerträglich.

Die Flurschelle wurde gezogen; er war es jetzt schon gewohnt, selbst zu öffnen. Der Postbote brachte zwei Briefe; der eine von einem Studienfreund in Petersburg mit dem er gelegentlich korrespondierte; die Handschrift auf dem Couvert des andern, eines Stadtbriefes, kannte er nicht. Als er sie bei dem helleren Licht in [] seinem Zimmer genauer ansah, sagte er sich sofort, daß es eine weibliche, und im nächsten Augenblick, daß sie verstellt sei. Ein Zittern überfiel ihn; in dem Berliner Zimmer bewegte es sich; er ließ den Brief zwischen ein paar Bücher gleiten, die auf dem Schreibtisch standen. Es war Klara, die mit einer Frage kam, auf welche er eine kurze, verwirrte Antwort gab.

Du bist sehr beschäftigt? sagte Klara.

Ich habe noch ein paar Hefte zu korrigieren und möchte dann eine Stunde in den Straßen herumlaufen; mein Kopf ist heute nicht besonders.

Du kommst auch jetzt so wenig heraus. Wer schreibt Dir denn da?

Professor Möller. Warum?

Ich frage nur so. Zieh Dich hernach warm an. Doktor Ribbeck sagte vorhin, es sei ein häßlicher Nordost. Helenchen hustet auch heute abend wieder mehr.

Klara war aus dem Zimmer, um Albrechts Lippen zuckte ein unschönes Lächeln. Wie klug von ihm, daß er den andern Brief hatte verschwinden lassen! und auf alle Fälle gesagt hatte, er wolle noch ausgehen! Es war doch möglich, der Brief war von ihr, und dann –

Der Brief war von ihr, konnte nur von ihr sein, wenn er auch keine Unterschrift hatte.

Über seine Schulhefte gebückt, zwischen deren Blättern das teure Blatt in jedem Moment einen sichern Versteck finden konnte, las er mit wild klopfendem Herzen:

Ich bin heute abend bei S. bis neun Uhr. Da ich weiß, daß Du zu derselben Zeit in der Nähe bist, rechne ich darauf, daß wir eine Strecke zusammen fahren. Ich werde zu diesem Zweck an der Ecke der Behren-und [] Wilhelmstraße die Droschke (I. Klasse) eine Minute halten lassen. Ich kenne ja Deine Pünktlichkeit. Also au revoir!

Der Brief mit dem Couvert stak in der inneren Tasche seines Rockes. Er saß und korrigierte seine Hefte, ganz mechanisch die Fehler anstreichend, eine elegantere Wendung an den Rand, seine Censur unter die Arbeit schreibend, während seine Gedanken in wildem Aufruhr durcheinander stürmten und die Hand ihm wiederholt so zitterte, daß er die Feder mit der roten Tinte niederlegen mußte. Welchen Mut hatte sie! Und wie mußte sie ihn lieben, um diesen Mut zu haben! Wie kläglich nahm sich, damit verglichen, die Kleingläubigkeit aus, mit der er alle diese Tage an ihrer Liebe gezweifelt hatte! Und wie klug war der Brief! wie scheinbar unverfänglich! Jeder gute Freund konnte ihn geschrieben haben! Mit ihr beisammen in der Enge des Wagens! Hand in Hand! Es war nicht auszudenken!

Er sprang auf, ging mit hastigen, leisen Schritten ein paarmal durch das Zimmer und setzte sich wieder zu seinen Heften.

Der Brief war um sieben Uhr mit der letzten Post gekommen. Er hatte reichlich Zeit. Aber wie die Zeit hinbringen! Zu lange durfte er auch nicht vom Hause wegbleiben. Er wollte bis um acht zu arbeiten scheinen; erklären, er könne es nicht mehr aushalten, und mit der Weisung an Auguste oder der Bitte an Klara, ihm sein Abendbrot aufzuheben, davonstürzen.

Es war alles nach seinem Wunsch gegangen; zehn Minuten vor neun stand er an der bezeichneten Ecke. Auf der einen Seite war ein Droschkenhalteplatz; es handelte sich also allein um die andere. Ein kleiner[] Vorteil nur; aber in der Liebe, wie im Kriege, gelten alle, auch die kleinsten. Das Sudenburg'sche Haus lag eine ziemliche Strecke weiter die Behrenstraße hinauf auf der Seite des Halteplatzes; ein Wagen, der von dort kam, mußte also, um zu seiner Ecke zu gelangen, über die Straße herüberbiegen und sich so kenntlich machen. Wiederum ein Vorteil. Fortes fortuna adjuvat! Der Mut der Geliebten war voll in ihn übergeströmt; in seinen Adern pulste fröhlich das Blut; seine Wangen brannten; ein schneidend kalter Wind wehte die Straße herauf; er fühlte ihn nicht und lachte der Passanten, welche die Kragen ihrer Röcke und Mäntel ängstlich in die Höhe geschlagen hatten. Er fühlte nur, was er in dem Maße Jahre und Jahre lang nicht gefühlt, daß er jung und stark war, und daß es noch Blütenträume gab, die köstlich reiften.

Dennoch spürte er, wie jede Minute Wartens mehr an seinen Nerven grausamer nagte. Es wurde neun, zehn Minuten darüber. Und plötzlich überfiel ihn die Furcht, sie würde nicht kommen; sei vielleicht schon in einem der vielen Wagen, welche von der Friedrichstraße her seine Ecke passiert hatten, an ihm vorbei gefahren, ohne ihn zu sehen, oder ihn sehen zu wollen; und alles laufe auf einen schlechten Spaß hinaus, den sie, oder eine andere, sich mit ihm gemacht. Noch fünf Minuten wollte er warten; wenn dann nicht –

In seiner zornigen Angst hätte er fast die Droschke nicht bemerkt, die eben von der anderen Seite über die Straße gebogen war und jetzt, fünf Schritte von ihm, still hielt. Mit einem Sprunge war er an der Wagenthür, deren Fenster heruntergelassen war. In die andere [] Ecke geschmiegt, so daß der Sitz auf seiner Seite frei blieb, saß eine Dame, die jetzt, als er die Thür aufriß, ihm die Hand entgegenstreckte. Er war hineingesprungen und hatte die Thür hinter sich zugeschlagen. In demselben Moment setzte sich auch die Droschke wieder in Bewegung. Er hatte die Hand ergriffen und leidenschaftlich an seine Lippen gedrückt. Die Hand wurde ihm schnell entzogen.

Erst das Fenster schließen, sagte ihre Stimme. Nun –

Sie hatte ihm statt der Hand den Mund geboten. Und wenn die Erde sich unter ihnen aufgethan hätte, sie zu verschlingen, er würde den letzten Moment als den seligsten seines Lebens gepriesen haben.

Auch Klotilde war glücklich. Hatte sie sich in diesen verdrießlichen Tagen doch sehr ernstlich nach einem solchen Moment und seinem Kusse gesehnt! Aber das Glück, sich den lieben Menschen nun doch erobert zu haben, aller Welt zum Trotz, ohne Adelens schwächliche Güte in Anspruch nehmen zu müssen, raubte ihr nicht die Besonnenheit. Nach dem ersten Erguß stürmischer Zärtlichkeit hinüber und herüber, sagte sie, ihn sanft von sich wehrend:

Nun einen Augenblick vernünftig sein! Wir fahren durch das Brandenburger Thor, die Charlottenburger Chaussee, die Siegesalle hinauf, Tiergartenstraße und so weiter bis zur Landsbergerstraße. Dort steige ich aus und du fährst sofort weiter. Bis dahin ist der Kutscher genau instruiert. Für den Rest mußt Du sorgen. Und wenn wir an Laternen vorüberkommen, bieg Dich in Deine Ecke zurück! Es wird uns so leicht keiner [] erkennen. Aber man kann nicht vorsichtig genug sein. So, jetzt darfst Du mir noch einen Kuß geben.

Es blieb auch nicht bei diesem zweiten. Küsse, in die sich von seiner Seite kaum ein Tropfen von Sinnlichkeit mischte. Es wäre denn eine Sinnlichkeit gewesen, wie sie Götter empfinden mögen, in deren Adern statt des Blutes Ichor fließt. Der sanfte Druck ihrer schlanken Hand, von der sie den Handschuh gestreift; die Berührung des weichen Pelzes, mit dem ihr Sammetmantel besetzt war; der süße Duft, der aus ihrem Haar zu wallen schien; der Blick in ihre großen, im Licht einer vorübergleitenden Straßenlaterne erglänzenden Augen; ihr kurzes, lustiges Lachen; der tiefe, metallene Klang ihrer Stimme, die so deutlich war, obgleich sie immer nur halblaut und hastig sprach – es umspann ihn, wie die Maschen eines Zaubernetzes, gewoben von Feenhänden.

Ach! nur leider nicht auch unzerreißbar!

Der Kanal war passiert; Klotilde rückte an ihrem Hut, nestelte an ihrem Mantel und sagte:

Jetzt aufgepaßt, mein Herr! Wir müssen uns schreiben. Ich habe alles schon überlegt: selbstverständlich poste restante, Du unter der Chiffre: Ballade; ich: Siegfried. Das Postamt darf keines sein, wo man uns kennt. Mir am gelegensten ist Nummer – sie nannte eine Ziffer, die sie wiederholte. Kannst Du mir eines für Deine Briefe angeben?

Albrecht konnte es nach kurzem Besinnen.

Du bist mein kluger Junge, sagte sie, und zur Belohnung für Deine Klugheit will ich auch den ersten Brief schreiben. Du antwortest natürlich umgehend. – Der Wagen wird in einer Minute halten. Wenn ich[] aussteige, rufst Du dem Kutscher irgend eine Straße zu, nur nicht Deine! Sorge Dich nicht um mich! ich habe, wie Du weißt, zu Fuß nur noch eine kurze Strecke. Und nun, leb' wohl!

Der Wagen stand. Ein letzter, flüchtiger Kuß. Sie hatte den Schleier über das Gesicht gezogen und war, kaum herausgeschlüpft, hinter der Droschke verschwunden. Albrecht hatte dem Kutscher eine der seinen benachbarte Straße zugerufen. Der Mann trieb das Pferd wieder an. Albrecht starrte auf den leeren Platz, wo sie gesessen hatte. War denn dies alles nur ein seliger Traum gewesen?

[]

Zwanzigstes Kapitel

Nein! kein Traum! – Traumgeister schreiben keine Briefe.

Und da hielt er ihn nun in der Hand, ihren ersten wirklichen Brief.

Nach dem er auf dem von ihm angegebenen Postamt mit einer Stimme, die sich vergeblich bemühte, möglichst unbefangen zu klingen, gefragt, und der ihm von dem Beamten mit einem schnellen, prüfenden Blick ausgeliefert war.

Der köstliche Brief! Er war nicht eben lang, und besonders Geistreiches stand nicht darin. Aber das hatte Albrecht auch nicht erwartet. Der Brief war gerade so, wie er ihn sich gewünscht, enthielt gerade das, was ihn zu hören verlangt hatte: die Versicherung ihrer Liebe, ein paar anmutige Scherze über das gelungene Abenteuer; die Bitte, ihr möglichst umgehend und möglichst ausführlich zu antworten und ihr in der Misère ihres Lebens eine andere glückliche Stunde zu bereiten.

Er hatte den Brief auf dem Wege in seine Schule abgeholt und schrieb auch dort nach dem Schluß der Lektionen in dem Konferenzzimmer, das nun niemand mehr betreten würde, die Antwort.

[] Sie war ein gut Teil länger als ihr Brief und aus einer andern, innigeren, freudigeren Tonart, die anzuschlagen ihn keine Mühe kostete, die im Gegenteil nicht zu hoch zu schrauben, sein guter Geschmack ihn mahnte. Mein Gott, konnte er auch jetzt nicht mehr den leisesten Zweifel daran hegen, daß sie ihn liebe – sie war eine Weltdame, gewohnt, ihre Rede zu mäßigen, selbst im Affekt sich vor scharfen Accenten zu hüten! Er mußte ihr zeigen, daß seit seiner Primanerzeit Jahre verflossen waren, die er nicht unbenutzt gelassen hatte; ein Mann jetzt vor ihr stand, der das Leben kannte. Nur daß sich ihm jetzt eine neue Region erschlossen, die bisher nur in dämmernden Umrissen ahnungsvoll durch seine Träume geglitten sei, bis eine geliebte Hand ihm die Pforten zu dem Paradiese erschloß, in welchem er jetzt wandle durch selige Gefilde in einem ambrosischen Licht, das, nachdem es einmal sich über ihm erhoben, nie, nie wieder untergehen könne.

Diese Hyperbel war die einzige, die er wagte.

Dann sagte er, wie schmerzlich ihre Klage über die Misère ihres Lebens ihn berührt habe – die Klage, welche in seiner Brust ein so schwermutvolles Echo finde. Aus dieser beiderseitigen Misère ein Glück zu schaffen – er sehe sehr wohl die tausend Hindernisse, die sich ihnen entgegenstemmten. Aber wo ein Wille sei, da sei ja auch ein Weg. Er für seine Person schrecke vor keiner Gefahr zurück. Aber freilich, ein Mann, dessen Metier es sei, Gefahren zu trotzen, habe da leicht reden; und nicht nur, um zu wissen, was sich zieme, müsse man bei den Frauen anfragen; auch um das, was in dieser Welt der Unnatur und Verlogenheit freie Geister und tapfere Herzen noch zu hoffen wagen dürften.

[] Klotildens zweiter Brief ließ nicht auf sich warten; bereits der folgende Tag brachte ihn. Wie er länger war, als der erste, so hatte sich auch seine Temperatur erhöht: er enthielt Ausdrücke der Leidenschaft von einer Glut, Koseworte von einer Zärtlichkeit, die Albrecht entzückten, berauschten. Aber auch die Klage ertönte diesmal lauter; es blieb immer noch die Sprache einer Weltdame, aber Mignons Seufzer: »Nur wer die Sehnsucht kennt« tönte hindurch. Wie herrlich er auch zu schreiben wisse, sein gesprochenes Wort klänge doch süßer, und das »Glück der Entfernung« könne das der geliebten Nähe nicht ersetzen. Der Geliebte solle seinen klugen Kopf anstrengen und darüber nachdenken, wie ein Wiedersehen zu ermöglichen sei. Zwar die Verlobung Stephanies mit Herrn von Luckow eröffne eine Perspektive von Festlichkeiten in dem Sudenburg'schen Hause, bei denen der »verehrte Dichter« sicher nicht fehlen werde. Aber so lange ließe sich ihre Ungeduld nicht zügeln. Ihr wolle durchaus kein guter Einfall kommen. Er habe hier wie überall, seine Superiorität zu erweisen.

Die schöne Frau hätte seine Begierde, sie wieder zu sehen, nicht noch zu schüren brauchen. Er wälzte Tag und Nacht die Möglichkeiten eines zweiten Rendezvous in seiner Seele. Auf seinen einsamen Spaziergängen, die er jetzt bei Einbruch der Nacht über die gewohnten Grenzen seiner nächsten Nachbarschaft hinaus zu machen pflegte, war er in Charlottenburg, den brennenden Durst zu stillen, in ein Restaurant getreten, das, wie verödet es auch jetzt schien, Spuren ehemaligen Glanzes aufwies. Sein Bier trinkend, hatte er sich mit dem einzigen Kellner, der sich blicken ließ, einem älteren Mann, in ein Gespräch [] eingelassen und seine Vermutung bestätigen hören. Das Lokal sei früher ein sehr besuchtes gewesen; jetzt hätten andere, dem Tiergartenbahnhof näher, es tot gemacht. Nicht ganz, Gott sei Dank! Ein so renommiertes Restaurant verliere den alten guten Ruf nicht so leicht. Es kämen immer noch Herrschaften, alte Kunden zuweist, die wüßten, daß in der Küche gerade noch so schmackhaft gekocht werde und in dem Keller die feinen Marken nicht ausgegangen seien. Da gebe es denn manchmal noch ein kleines Dinerchen oder Souperchen hier im Saal unten, oder oben, oder in separaten Kabinetten, die bei ihnen ebenso komfortabel zu finden wären, wie bei Hiller Unter den Linden, oder einem sonstigen sogenannten eleganten Restaurant.

Zum Beweis, daß er die lautere Wahrheit spreche, hatte er den einsamen Gast in ein oder zwei Kabinette blicken lassen, auch die Gasflammen entzündet, um ihn die verblichene Pracht bewundern zu lassen.

An dies Lokal, das seine Phantasie eigentümlich berührt hatte, als sei es aus einem Dickens'schen Roman herausgewachsen, dachte Albrecht. Es war nicht, oder so gut wie nicht besucht; abgelegen und doch unschwer zu erreichen. Aber er wagte nicht, es Klotilden in Vorschlag zu bringen: es hätte ihren aristokratischen Gewohnheiten allzu wenig entsprochen.

Vor einer andern Idee, die ihm ebenfalls kam, bebte er gar zurück.

Er hatte wohl von Chambres garnies gehört, die für einzelne Tage, ja für Stunden zu mieten wären, und die Ankündigungen oft genug auf den betreffenden Schildern gelesen. Und weiter gehört, in welcher Absicht [] diese Zimmer nicht selten gemietet würden. Wenn es ihm undenkbar war, daß er jemals ein solches Haus betreten könne, wie hätte ihr Fuß die unsaubere Schwelle überschreiten dürfen! Es war eine Versündigung, es nur zu denken.

Aber was nun? Sie sagte, daß sie sich nach seinem Anblick, nach dem Ton seiner Stimme sehne; und seine Seele lechzte nach ihr, wie die Lippen des auf dem Schlachtfeld an seinen Wunden Verblutenden nach einem Tropfen Wasser. Nochmals eine Wagenexpedition? Aber wenn ihr die ausführbar erschienen wäre, hätte sie selbst wohl daran gedacht. Oder wahrscheinlicher, sie fühlte wie er: daß eine solche Situation bei aller Süßigkeit des Augenblicks im Nachgeschmack etwas Plebejisches habe.

Bis ihm ein besserer Einfall kam: ein neutraler Ort, der nichts Anstößiges hatte und wo man sich wenigstens sehen und, wenn das Glück gut war, ein paar Worte wechseln könnte.

Die große Ausstellung war leider längst geschlossen; Schulte's Salon wäre gewiß unverfänglich gewesen, nur daß man dort gar zu leicht auf Bekannte treffen konnte. Eines der Museen? Sie waren der gesuchte Rendezvousplatz für sämtliche verliebten Studenten und Grisetten in Berlin. Höchstens das National-Museum.

Und da fiel ihm ein, daß dort in den oberen Räumen gerade eine jener Ausstellungen der hinterlassenen Werke von ein paar Künstlern stattfand, die nicht eben zu den Koryphäen gehört hatten und deren Namen sicher wenig Anziehungskraft auf das Publikum ausüben würden. Nur ein pis aller freilich. In seiner Verlegenheit machte er ihr doch den Vorschlag, und daß er am nächsten [] Tage um zwei Uhr sich auf alle Fälle da einfinden werde.

Es war ein dunkler, regnerischer Tag, der nächste, möglichst wenig für die Besichtigung von Kunstgegenständen geeignet. Was konnten sie sich Besseres wünschen?

Mit klopfendem Herzen hatte er die hohen Treppen erstiegen; wie er es erwartet, fand er die unfreundlichen Räume bis auf einige wenige Personen völlig leer. In der That war auch nur in dem größeren Oberlichtsaal mit einiger Deutlichkeit zu erkennen was in sauberster Ordnung an den Wänden herumhing: größere Landschaften, Farbenskizzen, Zeichnungen –; in den kleinen hintern Kammern herrschte beinahe völliges Dunkel. Er war einmal rasch durch sämtliche Räume geschritten, und hatte dann in dem Oberlichtsaal Posto gefaßt. Die Sachen hätten ihn sonst wohl lebhaft interessiert; besonders der eine der beiden Künstler, ein allzu früh verstorbener junger Mann, zeigte bei aller tastenden Unsicherheit ein bedeutsames, freilich ganz im Bann der jüngsten Schule stehendes Talent. Er hatte den Brausekopf sogar gekannt und im Café Bauer ein und das andre interessante Gespräch mit ihm geführt.

Was war ihm das alles jetzt, wo seine Seele nur den einen Gedanken hatte, sein Herz nur der eine Wunsch erfüllte!

Immer verzehrender, als nun Minute um Minute schwand, ohne daß sie kam.

Anstatt ihrer erschien der Professor Hederich, um glücklicherweise wieder zu verschwinden, nachdem er kaum einen flüchtigen Blick auf die Bilder geworfen und ein vernehmliches Pfui Teufel! durch die Zähne gemurmelt.

[] Endlich!

Sie war von Kopf bis zu Fuß in dunkler Kleidung, dennoch schien ihm plötzlich der ganze Raum mit Sonnenlicht gefüllt. Er trat auf sie zu und begrüßte sie formvoll, obgleich im Moment nur noch ein einziger schlichter Mann, ein höherer Handwerker, wie es schien, zugegen war, der unmittelbar nach ihr gekommen sein mußte. Doch stand der Mann in einer entfernteren Ecke, wo ihn ein paar Zeichnungen besonders interessieren mochten; sie konnten in der andern lächelnde Blicke und geflüsterte Liebesworte austauschen.

Wie habe ich mich nach Dir gesehnt!

Und ich mich nach Dir!

Bist Du noch meine wonnige Ballade?

Und Du mein mutiger Siegfried? Hast Du schon lange auf mich gewartet?

Eine Ewigkeit, wenn ich sie nach meiner Sehnsucht berechne.

Ich konnte beim besten Willen nicht eher. Und nun leb' wohl, herztausiger Schatz!

Um Gottes willen, Du wolltest schon wieder fort? Wir haben noch eine gute halbe Stunde.

Von der jede Minute uns einen Bekannten, das heißt: eine Gefahr bringen kann. Ich bin unten an Herrn Wollberg vorübergestreift. Er stand vor einem Farbendruck nach Gustav Richter und wollte sich tot lachen.

Sie selbst lachte übermütig. Wenn sie lachte, drang ein eigentümlich girrender und doch klangvoller Ton aus ihrer Kehle; in der linken Wange zeigte sich ein tiefes Grübchen und durch die Lippen schimmerten die Spitzen [] der weißen Zähne. Niemals schien sie ihm entzückender als in solchen Momenten.

In einem der nächsten Kabinette ist ein schöner Frauenkopf, den ich Dir zeigen möchte.

Ich muß wirklich fort.

Es sind nur drei Schritte. Bitte, komm'!

Aber Du närrischer Mensch, hier kann man ja nicht die Hand vor Augen sehen!

Er hatte sie mit dem einen Arm umfaßt und ihr einen Kuß auf den Mund gedrückt.

Bist Du toll? So! da hast Du ihn wieder! Und nun adieu!

Sie befanden sich in dem letzten der Kabinette. Als Klotilde sich wandte, hörten sie Stimmen und Schritte in dem nächsten. Sofort hatten sie ihre Gesichter nach dem Frauenkopf gekehrt, vor dem sie wirklich standen und in dessen Betrachtung sie versunken schienen.

Es hätte keine Sekunde später sein dürfen; die Schritte waren unmittelbar hinter ihnen.

Wenn sie sich doch wenigstens zu elektrischem Licht aufschwingen wollten!

Klotilde und Albrecht durchzuckte es: Herrn von Luckows Stimme!

Und nun Stephanies:

Sind Sie es wirklich, Klotilde! Und Herr Professor! Welch angenehme Überraschung!

Nicht wahr? sagte Klotilde, während man sich allerseits die Hände reichte. Da will ich nun eine meiner vielen müßigen Stunden totschlagen und muß hier den Herrn Professor finden, der dann freilich von der Kunst ein wenig mehr versteht als ich armer Wurm. Eben [] hatte er mich auf diesen Kopf aufmerksam gemacht. Findest Du ihn nicht auch wundervoll?

Wenn man nur etwas sehen könnte! rief Stephanie.

Ich dächte, es ginge noch, sagte Klotilde.

Sie sind aber wirklich anspruchslos, gnädige Frau, sagte Luckow lachend. Die reine ägyptische Finsternis! Ich habe Stephanie gewarnt; sie wollte durchaus her.

Ich muß den Barbaren doch ein wenig zu bilden suchen, rief Stephanie.

Man lachte und scherzte. Für Albrechts Ohr klang alles recht gezwungen, und Klotilde war der schnelle, verwunderte Blick nicht entgangen, den das Brautpaar in dem ersten Moment der Begegnung gewechselt hatte. Sie fürchtete, Albrecht würde die Taktlosigkeit begehen und sich empfehlen; aber Albrecht fühlte nicht weniger deutlich, daß hier nur die größte anscheinende Unbefangenheit retten könne. Er brachte sein Bedauern vor, Stephanies verehrte Eltern und Stephanie selbst bei seinem vorgestrigen Versuch, zu der Verlobung zu gratulieren, nicht angetroffen zu haben, und kam dann mit einer geschickten Wendung wieder auf den jungen, talentreichen Künstler zu sprechen, aus dessen wirrem Leben er Interessantes zu berichten wußte.

Glücklicherweise kam nun auch noch der Maler Wollberg dazu. Er hatte sich unten an den »alten braunen Schwarten« wieder einmal satt geärgert und wollte sich hier oben, wo denn doch, Gott sei Dank, eine andere Luft wehe, für ein paar Augenblicke die Seele ausweiten. Ja, der hier war ein Künstler! Wenn der nur mit einem Fuß auftrat, fingen sämtliche Zöpfe der Akademie an zu wackeln. Für eine Radierung, wie diese, gebe [] er den ganzen Kunstquark hin von Albrecht Dürer bis Menzel!

Was stellt es eigentlich vor? fragte Stephanie.

Ich weiß es nicht, rief der Künstler. Darauf kommt es auch gar nicht an. Aber sehen Sie diese grandiosen Linien, diese fulminante Verteilung von Licht und Schatten! Daß der Künstler seine Seele giebt, nackt giebt, mein gnädiges Fräulein, splitternackt, das ist die Sache. Wo nichts ist, freilich, hat der Kaiser sein Recht verloren. Waren ja ganz nette Sächelchen, Herr Professor, die Sie uns bei dem Fest neulich vorgegaukelt haben. Ein bißchen aus dem Handgelenk? wie? Na, immer noch besser, als der Kaulbach'sche Schund, den uns der alte Esel von – na, de mortuis nil nisi bene, heißt es ja wohl. Und diese ganze Sippe ist tot, toter als tot.

Das Glöckchen des Saaldieners mahnte die Herrschaften daran, daß die von ihm ersehnte Stunde endlich geschlagen habe: die Herrschaften und den kleinen handwerkermäßigen Mann, der noch immer an den Zeichnungen sich nicht satt gesehen hatte, nun mit ihnen den Saal verließ und hinter ihnen die Treppen hinunterstieg.

Unten vor dem Portal hielt die Sudenburg'sche Equipage und in einiger Entfernung eine einzelne Droschke.

Wir bringen Sie natürlich nach Hause, Klotilde, sagte Stephanie.

Wird mit Dank angenommen, sagte Klotilde, nach einem freundlichen Kopfnicken gegen Albrecht und den Maler, zuerst in den Wagen schlüpfend.

Die Equipage mit Klotilde und dem Brautpaar war davon gerollt. Zu gleicher Zeit hatte sich auch die Droschke in Bewegung gesetzt.

[] Nun hat der verfluchte kleine Kerl, der hinter uns her zottelte, auch noch die einzige Droschke genommen, rief der Künstler ärgerlich. Bei dem Hundewetter!

Sie finden bald eine andere.

Wollen Sie gehen?

Nur bis zur Leipziger Straße. Ich nehme dort die Pferdebahn.

Na, denn adieu! Ich muß machen, daß ich zu der Kommerzienrätin Rosenstock komme. Gräßliches Weib mit ihrem geschwollenen Kunstenthusiasmus. Aber ihre Diners sind gut, und sie kauft meine Bilder.

[]

Einundzwanzigstes Kapitel

Hatte sich schon in den Nachgeschmack des ersten Rendezvous ein Tropfen Wermut gemischt, der des zweiten war bitterer.

Und wurde nicht versüßt durch Klotildens nächsten Brief.

Sie wolle ihrem geliebten Siegfried keine Vorwürfe machen; eher sich selber, die den Verstand für beide hätte haben voraussehen sollen, wie gefährlich ein Stelldichein an einem so exponierten Orte sei. Nun hätten sie den schwer wieder gut zu machenden Schaden. Stephanie habe ihr ins Gesicht gesagt, wie im höchsten Grade verdächtig ihr ein so merkwürdiges Rencontre vorkomme, wenn die Betreffenden der Gesellschaft auch sonst schon recht unzweideutige Zeichen eines starken gegenseitigen Interesses gegeben hätten; und daß ihr Bräutigam diese Empfindung durchaus teile. Bei ihm und ihr dürfe sie freilich sicher sein, daß sie reinen Mund halten würden. Aber wer stehe für dieselbe Diskretion auch nur bei dem schwatzhaften, völlig taktlosen Künstler? Es bleibe nichts anderes übrig, als zu erklären, daß ihr – Klotildens und des Brautpaars – Zusammentreffen in der Galerie die Folge einer gemeinsamen Verabredung gewesen sei. [] Aber sie müsse ihr in die Hand versprechen, in Zukunft besser auf ihren guten Ruf achten zu wollen.

Ich habe ihr den Handschlag verweigert, fuhr der Brief fort; denn damit hätte ich ja die Berechtigung des mir gemachten Vorwurfs eingestanden, und das werde ich nun und nimmermehr. Aber Du siehst, in welcher prekären Lage ich bin gegenüber einer Gesellschaft, die tausend Augen hat und keinen Pardon kennt. Dabei will ich von meinem Manne noch gar nicht einmal sprechen, obgleich wir auf einem Kriegsfuße miteinander stehen – bereits seit acht Tagen – wo jede Blöße, die ich mir gebe, verhängnisvoll für mich werden muß.

Wenn Du aber glaubst, daß ich deshalb von Dir lasse, so hast Du keine Ahnung von der Stärke meiner Liebe. Nur muß unsre nächste Zusammenkunft – und ich habe Dir tausend Dinge zu sagen, die ich auch einem poste-restante-Brief nicht anzuvertrauen wage – absolut sicher sein. Ich weiß, daß Deine erfinderische Liebe das Rechte zu treffen nicht verfehlen wird. Also auf Wiedersehen, Einziggeliebter!

Der Brief war für Albrecht unsäglich peinlich. Die geliebte Frau machte ihm keine Vorwürfe; wozu auch, wenn er sich selber nicht verzeihen konnte, daß er sie durch seine Voraussichtslosigkeit in eine so schlimme Lage gebracht! Nein, so ging es länger nicht; aber wie sollte es anders und besser? wie sollte es gut werden?

Doch nur durch eines.

Und das Eine wagte er zu denken als Entgelt für des Schicksals Gnade, die ihm seinen Liebling erhalten hatte, der nun wieder in seinem Bettchen mit der neuen Puppe spielen durfte, und, wenn der Papa in das [] Zimmer kam, ihm beide Ärmchen entgegenstreckte? für den Heroismus, mit dem die kleine tapfere Frau diese Leidenstage wieder einmal durchgefochten, ohne auch nur für einen Augenblick zu ermüden; ohne daß nur ein leisestes Wort der Klage über ihre bleichen Lippen gekommen wäre?

Dachte die Geliebte an das Eine? Keine Andeutung sprach dafür, es hätte denn die sein müssen, daß es sehr schlecht zwischen ihr und ihrem Gatten stehe, und sie ihm Mitteilungen zu machen habe, die sie einem Briefe nicht anvertrauen könne. Aber war es denn nicht Wahnsinn, zu hoffen, sie werde ihre bevorzugte gesellschaftliche Stellung aufgeben, sein dunkles Los mit ihm zu teilen? Das doch auch in ihren stolzen Augen gewiß kaum ein wenig heller wurde, wenn er das Ziel seines Ehrgeizes wirklich erreichte und es zum Universitäts-Professor brachte!

Vorläufig hatte er noch die Kläglichkeiten seines Lehreramts über sich ergehen zu lassen.

Am Tage nach dem gestörten Rendezvous in der Nationalgalerie ließ ihn sein Direktor rufen und empfing ihn mit einer unfreundlichen Miene:

Er habe bei der Durchsicht der Aufsatz-Hefte seiner Klasse einiges gefunden, das er monieren müsse. Mit der Wahl des letzten Themas sei er nicht einverstanden. Ob die Prinzessin Tasso liebe oder nicht, sei eine Kontroversfrage, mit deren Beantwortung man die leichten Gehirne von Sekundanern nicht beschweren dürfe.

Und wollten Sie einmal – ich nehme an: nach vorhergegangener gründlicher Durchsprechung und Einschränkung auf das sittlich-ästhetische Gebiet – eine solche Aufgabe stellen, so durfte man gewiß annehmen, Sie würden [] auf die Korrektur die peinlichste Sorgfalt verwenden. Und gerade die habe ich schmerzlich vermißt. Ihre Urteile stimmen mit dem Inhalt der Arbeiten oft so wenig überein, daß ich mich kaum überwinden kann zu glauben, Sie hätten das krause Zeug, welches sich dieser und jener geleistet hat, wirklich gelesen. Es thut mir weh, einem Kollegen, dessen gewissenhaften Fleiß ich bis jetzt nur zu rühmen hatte, dergleichen Vorhaltungen machen zu müssen.

Albrecht murmelte etwas von den Störungen, welche die schwere Erkrankung eines seiner Kinder in den letzten Tagen ihm während seiner Arbeitsstunden gebracht habe.

Das entschuldigt freilich manches, sagte der Direktor. Und dann, lieber Herr Kollege, die gesellschaftlichen Zerstreuungen! So höre ich, daß Sie kürzlich in dem Hause eines hochgestellten Beamten – den Namen hat man mir nicht genannt – er thut auch nichts zur Sache – der maître de plaisir gewesen sind. Dulce est desipere in loco – freilich! Aber derselbe Dichter rühmt auch, wie Sie wissen, die aequa mens, die man nicht bewahren kann, wenn man sich unmäßiger Lust hingiebt.

Es war der erste ernsthafte Vorwurf, den Albrecht sich während seiner ganzen Lehrerlaufbahn zugezogen, und sein Stolz litt darunter um so fürchterlicher, als er sich sagen mußte, daß es ein verdienter sei.

Nicht minder empfindlich traf ihn ein zweiter Schlag, der von einer Seite kam, nach der all diese Zeit hindurch hoffnungsvoll sehnender Blick gerichtet gewesen war.

Wieder am nächsten Tage empfing er einen Brief und ein Paket, beide mit dem Stempel: »Königliche Angelegenheiten« versehen. Das Paket enthielt die Manuskripte [] der beiden kleinen Stücke, welche er dem Generalintendanten auf dessen ausdrücklichen Wunsch zugeschickt hatte; der Brief war von der Hand eines Intendanturrates und benachrichtigte ihn, daß Seine Excellenz nach genauerer Einsicht in die ihm übersandten, übrigens vielfach trefflichen Arbeiten sich denn doch nicht zu einer Aufführung entschließen könne, von der vorauszusehen sei, daß sie an einer gewissen Stelle und gewissen Kreisen, denen eine königliche Schaubühne immer Rechnung tragen müsse, Anstoß erregen würden.

Das waren Kalamitäten, die er bei einer ruhigeren Stimmung des Gemütes immerhin mit einigem Gleichmut hätte über sich ergehen lassen. In der jetzigen Verstörung seiner Seele sah er rings um sich her Glück auf Glück scheitern und keine Rettung, als in seiner Liebe. Brach auch dieser letzte Anker, so mochten die Wogen über ihm zusammenschlagen und er zum Abgrund sinken.

Hier mußte er Gewißheit haben. Sie mußte ihm sagen, was sie für ihre Liebe zu thun entschlossen sei.

Und Aug' in Auge mußte sie es ihm sagen; aus ihrem Munde mußte er es hören.

Er schrieb ihr, welchen neuen Plan für eine abermalige Zusammenkunft er ersonnen habe. Nach menschlicher Voraussicht seien sie in dem Restaurant, das er entdeckt hatte und ihr nun ausführlich schilderte, absolut sicher. Es komme nur darauf an, daß sie sich für ein paar Abendstunden völlig frei machen könne.

Sie antwortete umgehend: der Plan gefalle ihr nicht in allen Punkten. Aber sie wisse nichts anderes und besseres; und darin habe er sicher recht: aussprechen müßten sie sich. Ein glücklicher Zufall wolle, daß ihr[] bereits der nächste Sonnabend – es waren noch zwei Tage bis dahin – die gewünschte Freiheit bringe.

Es folgte dann noch die Angabe der Stunde und die Aufstellung einer Reihe von Vorsichtsmaßregeln, deren Notwendigkeit Albrecht anerkennen mußte.

So sollte ihm denn der nächste Sonnabend die Entscheidung bringen, mochte sie nun Sieg lauten oder Tod.

[]

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Bereits am Mittwoch auf dem Nachhausewege von dem Junggesellendiner im Palast-Hotel hatte Viktor es bereut, Fernau eine so weitgehende Vollmacht gegeben zu haben. Fernau war gar zu beflissen gewesen, gar zu geschäftig! Wenn auf Seite Klotildens doch alles nur auf eine, für ihn freilich sehr beleidigende Rechthaberei, auf Trotz, Caprice, Gott weiß auf welche Weiberschrulle hinauslief; schlimmsten Falles es sich um eine ganz gewöhnliche Flirtation mit dem Schulmeister handelte, der ja wirklich ein verdammt hübscher Kerl war; und Klotilde recht hatte, wenn sie behauptete, Fernaus Hetzereien hätten keinen anderen Zweck, als ihn auf eine falsche Fährte zu locken!

Je mehr sein Rausch in der kalten Abendluft verflog, umsomehr befestigte er sich in diesen Gedanken und beschleunigte zuletzt sogar unwillkürlich seine Schritte, um schneller nach Hause zu kommen und ein vernünftiges Wort mit Klotilden zu reden, an dem er es doch wohl hatte fehlen lassen, und auf das sie gewiß nur wartete. Dann war die dumme Geschichte aus der Welt; er hatte wieder Frieden im Hause und den Kopf frei für die wichtige Arbeit, die ihn schon seit Wochen in Atem hielt, und an der Excellenz ein so lebhaftes Interesse nahm.

[]

Anstatt Klotildens fand er im Salon auf dem Tisch neben seiner Karte, durch welche er ihr sein Ausbleiben gemeldet hatte, einen Zettel: »Ich werde heute auswärts speisen.« Weiter nichts; nicht einmal eine Unterschrift.

Er war wütend; der kaum verflogene Rausch kam zurück; die lichten Farben, in denen er eben noch Gegenwart und Zukunft erblickt, waren ausgelöscht; zu einer schwarzen Tafel geworden, auf der mit Flammenlettern nur das eine Wort stand: Rache! Daß seine Rücksichtslosigkeit der ihren völlig gleich kam; er sie hatte brüskieren wollen, wie sie ihn, und sie ihren Zweck durch dasselbe Mittel zu erreichen gesucht hatte, wie er den seinen, daran dachte er nicht. Jetzt war es völlig klar: sie wollte es zu einem Bruch treiben. Gut! Sie sollte ihn haben. Aber die Trümpfe sollten in seiner Hand sein; und sie sollte das Spiel verlieren! schmachvoll verlieren!

Nun scheute er vor Fernaus Plan, der ihm anfangs so widerwärtig erschienen war, zu dem er seine Einwilligung mit so großem innerlichen Sträuben gegeben hatte, nicht mehr zurück; nur die Ausführung durfte so nicht sein: Fernau mußte daraus fortbleiben; er selbst den Detektiv engagieren, instruieren. Fernau hatte ihm die genaue Adresse des Mannes gegeben; er machte sich stehenden Fußes auf den Weg; der Zufall wollte, daß er den Vielbeschäftigten in dem Augen blicke traf, als dieser seine Wohnung zu einem seiner Kommissionsgänge verlassen wollte.

Sich mit Herrn Krüger zu verständigen, bedurfte es nicht vieler Worte: der Mann verstand die leiseste Andeutung. Bereits nach fünf Minuten sagte er:

[] Ich weiß jetzt alles, Herr Assessor, was ich zu wissen brauche. Natürlich kann ich nicht an zwei Orten zu gleicher Zeit sein und auch über den Herrn die Kontrolle übernehmen. Ist auch nicht nötig. Die Hauptfrage bleibt in solchen Fällen immer: was treibt die Dame? Man schlägt da stets zwei Fliegen mit einer Klappe. Nur noch eines: Wie ist das Verhältnis der Dame zu ihren Dienstboten?

Ich vermute, sie stehen auf ihrer Seite.

Das müssen Sie zu ändern suchen und so bald wie möglich. Ein paar Zehn- oder Zwanzigmarkstücke – je nachdem können da Wunder thun.

Es liegt das ganz außer meinen Gewohnheiten; für mich sind die Dienstboten eben Dienstboten.

Sehr löblich. Aber im Kriege, Herr Assessor, verschmähen auch sehr christliche Feldherrn die Spionage nicht. Ich selbst bin doch nichts anderes als ein Spion, sozusagen.

Aber es ist Ihr Metier.

Leider. Es giebt deren, welche weniger Mühe machen und besser rentieren. Und, Herr Assessor, da wir einmal bei dem Thema sind –

Hier stellte der Mann seine Forderung, die von Viktor ohne Markten bewilligt wurde.

Seitdem war er, wie Herr Krüger es ausdrückte, »auf dem Laufenden« erhalten worden. Sie trafen sich nach Viktors Amtsstunden in dem Café des Kaiserhofs zu einiger Verwunderung der Kellner, die nicht wohl begreifen konnten, wie der vornehme Herr zu dem sonderbaren Verkehr kam. Die Zusammenkünfte dauerten [] nicht lange, obgleich Herr Krüger stets etwas Wichtiges zu berichten hatte.

Zuerst: die Dame – Herr Krüger bediente sich nie eines anderen Ausdrucks – holte sich regelmäßig eine halbe Stunde, nachdem der Herr Assessor die Wohnung verlassen, Briefe von dem Postamt Nr. 10 – poste restante, selbstverständlich. Er hatte zweimal in ihrer Nähe am Schalter gestanden, ihr einmal sogar über die Schulter gesehen, als ihr der Brief ausgehändigt wurde, leider aber die Chiffre nicht völlig herausbringen können. Es war nur ein Wort, dessen erste Silbe Ball war – Ballnacht vielleicht oder Ballabend – wahrscheinlich das letztere. Dann nach Hause, den Brief zu beantworten; dann zu dem Briefkasten an der Ecke der Nachbarstraße. Dann Kommissionswege in die Stadt – unverdächtige, wie er zugeben müsse; heute freilich eine mehr als verdächtige Affaire.

Hier folgte eine genaue Schilderung von dem Rendezvous in der Nationalgalerie. Die Sache würde entscheidend sein ohne das Hinzukommen eines Paares: – junge Dame und Offizier, zweifellos Braut und Bräutigam – augenscheinlich so befreundet und vertraulich mit der Dame und dem Herrn, daß eine vorhergegangene gemeinschaftliche Verabredung, sich in der Galerie zu treffen, mindestens nicht ausgeschlossen sei.

Viktor, der aus der sehr genauen Schilderung in dem hinzugekommen Paar sofort Stephanie und Herrn von Luckow erkannt hatte, war unter dem Vorwande, des Hauptmanns Verwendung für einen empfohlenen verwandten Kadetten in Anspruch zu nehmen, zu diesem gefahren, offenbar aber schon zu spät gekommen: Herr [] von Luckow, als er – wie zufällig – das Gespräch auf diese bewußte Begegnung brachte, hatte – gewiß auf vorhergegangene Verständigung mit seiner Braut – sich so diplomatisch ausgedrückt, – man konnte, wenn man wollte, auf ein Rendezvous zu vieren schließen. Aus Furcht, Luckow, den er jetzt auf Klotildens Seite glaubte, tiefer in seine Karten blicken zu lassen, war er von dem heiklen Thema alsbald auf ein anderes, unverfängliches übergegangen.

Das war vorgestern.

Der achttägige Kampf mit einem so entschlossenen Gegner, wie Klotilde, hatte Viktors Nerven doch mehr angegriffen, als sein Stolz zugeben wollte. Unter nur einigermaßen annehmbaren Bedingungen hätte er auch jetzt noch Frieden geschlossen; die Gleichförmigkeit der zum größeren Teil indifferenten Nachrichten, welche Herr Krüger ihm täglich mitteilte, diente eher dazu, seine Streitlust einzuschläfern.

Da kam der Sonnabend, auf den zufällig einer der in regelmäßigen Intervallen stattfindenden Kneipabende der alten Herren seines Bonner Corps fiel. Für ihn immer eine besondere Freude. Die Studentenzeit galt ihm als das Paradies seiner Erinnerungen. Auch hatten diese Zusammenkünfte eine praktische Seite, deren Wert er völlig zu schätzen wußte. Unter den Corpsbrüdern befanden sich hoch- und höchstgestellte Beamte, mit denen sich von Zeit zu Zeit zu begegnen und ein behaglich-freimütiges Wort auszutauschen, ebenso angenehm, wie vorteilhaft war. Sein specieller hoher Chef fehlte selten bei diesen Symposien, und gestern vormittag hatte er im Vorübergehen mit freundlichem Kopfnicken zu ihm gesagt: [] Nun, lieber Sorbitz, wir sehen uns doch morgen abend; und er, sich verbeugend, geantwortet: Gewiß, Excellenz.

Wäre es auch nur gewesen, in lebhaftem Gespräch mit geistesverwandten oder doch gesinnungsgleichen Kollegen über dem Glase diesen schlimmen Hader mir seiner Frau für ein paar Stunden vergessen zu können, – die Aussicht auf den Abend würde ihm willkommen gewesen sein.

Am Nachmittage in der Konferenz mit Herrn Krüger erwähnte er zufällig seiner Absichten für den Abend. Der Detektive rieb sich das Kinn.

Die Dame weiß, was Sie vorhaben? fragte er.

Ja. Weshalb?

Und diese Sitzungen pflegen lange zu dauern?

Ich komme selten vor zwei Uhr nach Hause. Manchmal auch später.

Herr Krüger blickte starr vor sich hin.

Ich bin überzeugt, heute abend passiert etwas, sagte er langsam.

Viktor stieg das Blut in die Stirn.

Sie haben dafür einen besonderen Anhalt? fragte er fast heftig.

Nein, erwiderte Herr Krüger; es ist das auch gar nicht nötig. Der Herr und die Dame haben sich seit vier Tagen nicht gesehen; das ist sicher. Mir ist nicht weniger sicher, daß sie dazu heute abend die Gelegenheit suchen werden; vielmehr bereits verabredet haben. Wozu auch sonst die restanten Briefe?

Ich habe mich zu fest engagiert, sagte Viktor ärgerlich; ich kann nicht zu Hause bleiben.

Würde auch zu nichts dienen, entgegnete der Detektive. Im Gegenteil! Wir wollen doch ein Resultat. Ich [] kann nur wiederholen: ich bin überzeugt, der Abend bringt uns eines.

In Viktors Seele begann ein wunderlicher Kampf. Der Gedanke, daß Befürchtungen, gegen die er sich aus allen Kräften wehrte, in denen er, schien ihm einmal die Lebenssonne ein wenig heller, nur Nachtgespenster seiner verstörten Phantasie sah, Wirklichkeit werden könnten, war ihm schauderhaft. Auf der andern Seite: der Mann hatte recht: dies mußte zu einem Resultat kommen. Seine Nerven hielten es nicht länger aus. Und seine Devise war immer der Wahlspruch Theodor Körners gewesen: »Durch!« War das Wort doch, weil er es in jedes Stammbuch der Freunde schrieb, auf der Universität sein Spitzname geworden!

Was also wollen Sie, daß ich thun soll? fragte er nach einer dumpfen Pause.

Ruhig in Ihre Gesellschaft gehen, erwiderte Herr Krüger, und mir nur gefälligst sagen, wo das ist, damit ich Sie eintretenden Falles dort aufsuchen – ich meine: herausrufen lassen kann.

Viktor hätte den Mann am liebsten mit der Faust in das bleiche Gesicht geschlagen. Statt dessen nannte er mit leidlich gut gespielter Ruhe das Lokal, in welchem er zu finden sein würde, und sagte, seinen Hut nehmend:

Es wird vergebliche Mühe sein; aber ich will hernach nicht von Ihnen hören, ich sei schuld daran gewesen, daß wir zu keinem Resultat gekommen sind. –

Am Schluß des heute, wie jetzt immer, schweigsamen Mittagmahles fragte er Klotilde:

Hast Du für den Abend etwas vor?

[] Ich weiß nicht, erwiderte sie; vielleicht fahre ich auf eine Stunde zu Stephanie.

Er wollte antworten: ich wünsche, ich befehle, daß Du zu Hause bleibst; aber was galten ihr jetzt noch seine Wünsche? und einem Befehl gegenüber würde sie ihm ins Gesicht gelacht haben.

[]

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Albrechts nächste Sorge war gewesen, sich in dem Restaurant eines separaten Kabinetts zu versichern. Es hätte so großer Eile nicht bedurft: sämtliche vier, derer sich das Lokal rühmte, standen zu seiner Verfügung. Einen behaglichen Aufenthalt versprach freilich keines: die Tapeten zeigten häßliche, wie es schien, von Feuchtigkeit herrührende Flecke; die Überzüge der alten, unschönen Möbel bedenkliche Risse, in den abgeschabten Teppichen klafften große Löcher; die Versicherung des schäbigen, vermauserten Kellners, – ein zweiter ließ sich auch diesmal nicht blicken – daß sich bei voller Beleuchtung alles viel besser und wunderschön ausnehme, klang nicht sehr glaubwürdig.

Und dann, sagte der Mann, wir legen auf die Ausstattung weniger Wert; unser Ruhm sind unsere Küche und unser Keller.

Ein schwacher Trost für Albrecht, dem der Sinn wahrlich nicht nach Essen und Trinken stand, und der nun doch ein Langes und Breites mit dem umständlichen Alten über das Souper verhandeln mußte. War doch das Souper der Rechtstitel, auf den hin er sich den Aufenthalt in dem fürchterlichen Kabinett erkaufte! Klotildens Rat folgend, bestellte er drei Couverts: für sich, seine [] Braut und deren Bruder. Er werde einige Minuten vor neun kommen, sich zu versichern, daß alles in gewünschter Ordnung sei. Der Alte beteuerte, der Herr Graf werde seine Erwartungen übertroffen sehen.

Um sich Klara gegenüber für sein Ausbleiben am Abend zu entschuldigen, hatte er eine gesellige Zusammenkunft mit ein paar Kollegen vorgeschützt. Er erschrak aufs heftigste, als am Sonnabend vormittag der Direktor durch den Schuldiener herumsagen ließ: er müsse die für heute nach dem Schluß der Stunden anberaumte Konferenz auf den Abend verlegen und bitte die Herren Kollegen um pünktliches Erscheinen, da sehr wichtige Dinge zur Beratung, resp. zur Entscheidung ständen, und die Sitzung voraussichtlich geraume Zeit in Anspruch nehmen werde.

Albrecht kannte nur zu gut eines dieser wichtigen Dinge.

Der seiner besonderen Sorge empfohlene und anvertraute jüngste Sohn des Sudenburg'schen Hauses war, nachdem er sich längere Zeit gut gehalten, in seine angewohnte Liederlichkeit zurückgefallen und hatte sich Vergehen gegen die Schuldisciplin zu schulden kommen lassen, die nicht ungeahndet bleiben durften. Die Wage schwankte nur noch zwischen der Relegation und dem consilium abeundi. Albrecht hatte sich darauf vorbereitet, heute mittag für das mildere Urteil zu plaidieren, so hoffend, dem würdigen Manne, in dessen Hause er als Freund der Familie verkehrte, das Äußerste ersparen zu können. In diesem Sinne hatte er mit dem über den neuen Schlag ganz gebeugten Vater gesprochen und war von ihm des innigsten Dankes im voraus versichert worden.

[] Was nun beginnen? Der Konferenz fern bleiben, schien unmöglich; die Verabredung mit Klotilde war nicht rückgängig zu machen, da sie heute keinen Brief mehr erwartete, also auch auf dem Postamt nicht nachfragen würde, und, direkt an sie zu schreiben, das teure Geheimnis jedem blöden Zufall preisgeben hieß. In seiner verzweifelten Ratlosigkeit dachte er einen Augenblick daran, Adeles oder Stephanies Vermittelung anzurufen; aber Klotilde hatte ihm geschrieben, wie kläglich ihr Versuch, die erstere in ihr Interesse zu ziehen, abgelaufen sei; und ihre Klage über die Strafpredigt, die ihr Stephanie gehalten, war noch bei ihm in zu frischer Erinnerung. Wiederum eine Entschuldigung, welche immer sie sei, würde, ja – wie er sich selbst eingestand – konnte der Direktor in diesem Falle nicht gelten lassen. Er riskierte, blieb er der Konferenz fern, nicht weniger als eine Disciplinar-Untersuchung, vielleicht Schlimmeres.

Dennoch, hier war keine Wahl. Er wollte, in der letzten Stunde, ein Billet an den Direktor schreiben und ein plötzlich eingetretenes, heftiges Unwohlsein vorschützen.

Um acht Uhr sollte die Konferenz beginnen; um acht Uhr verließ er seine Wohnung, sich nach dem Restaurant auf den Weg zu machen. Klotildens Rat folgend, hatte er eine Droschke auf Zeit genommen, in der sie auch die gemeinschaftliche Rückfahrt antreten wollten, während sie die, mit der sie selbst kommen würde, ablohnte.

Der dunkle Abend war windig und kalt. Ein früher Schnee stöberte in der Luft, bildete auch hier und da auf dem schwarzen, nassen Boden weißliche Streifen.[] Die Chaussee schien ausgestorben; selten einmal, daß ein verspätetes Lastfuhrwerk oder ein Pferdebahnwagen vorüberrasselte. Die Lichter in den Laternen an den Wegseiten flackerten trübselig; in ihrem matten Schein standen die kahlen Bäume des Tiergartens rechts und links wie undurchdringliche Mauern. Als die Droschke den Bogen der Stadtbahn passierte, donnerte gerade ein externer Zug darüber weg, in Albrechts beklommenem Herzen den seufzenden Wunsch erweckend: er säße in dem Zuge mit ihr, und sie flöhen hinaus in die weite, weite Welt auf Nimmerwiederkehr. Nun ein lebhafteres Treiben auf der Straße, Lichter aus den Fenstern und Läden der Häuser zu beiden Seiten, und da hielt die Droschke vor dem Restaurant. Der Kutscher hatte jämmerlich gefahren und Albrecht würde ihn gern entlassen haben, wagte aber nicht gegen die Verabredung zu handeln.

In dem unwohnlichen, schlecht erleuchteten Saal des Restaurant spielten in einer Ecke drei Männer Karten; in einer anderen saß ein junges Pärchen, eifrig sprechend, die Köpfe dicht zusammengedrängt. Es mochte ein Student mit seiner Grisette sein, oder ein Handlungscommis mit seiner Flamme. Albrecht hatte sich nicht anders gedacht, als daß er das Lokal leer finden werden, wie die beiden ersten Male. Es war das zweifellos eine ganz willkürliche Annahme gewesen; dennoch ärgerte ihn die Anwesenheit dieser Menschen, an denen nun auch Klotilde, wenn sie kam, vorüber mußte; zu den Kabinetten konnte man nur durch den Saal gelangen.

Der Kellner schlurfte ihm entgegen in demselben, vom langen Gebrauch unheimlich glänzenden Frack, mit demselben selbstzufriedenen Lächeln auf dem schlecht rasierten, [] dicken, dumm-pfiffigen Gesicht: zum Empfang der Herrschaften sei alles bereit.

Eine Behauptung, die sich nicht wohl rechtfertigen ließ, da in dem Kabinett noch nicht einmal die Gasflamme brannte und der runde Tisch vor dem Sofa ungedeckt stand, überhaupt alles in dem unheimlichen, dumpfigen Gemach war, wie es Albrecht bei seiner ersten Besichtigung gefunden hatte. Er ließ deswegen den Mann heftig an, den das aber keineswegs aus seinem Phlegma brachte; Albrecht mußte froh sein, als der Mann nun wirklich Tischtuch, Servietten, Teller, Gläser, Messer, Gabel, Löffel – eines nach dem andern – langsam herbeitrug und eine nichts weniger als elegant ausgestattete, kaum völlig saubere Tafel endlich zu stande kam.

Es war verabredet, daß er Klotilden vor der Thür des Hauses erwarten sollte. So ging er denn hinaus, nachdem er die Weine bezeichnet, die man bereit zu halten habe. Die Auswahl war nicht groß gewesen, aber der lächerliche Widerspruch, in welchem die Dürftigkeit der Karte mit der Prahlerei des Kellners von dem berühmten Groß-Weinlager des Restaurant stand, fiel ihm bereits nicht mehr auf.

Nun ging er vor der Thür auf und ab, fröstelnd in dem eisigen Zugwind, während ihm der Kopf brannte. Neulich an der Straßenecke hatte er nichts von der Kälte gespürt. Neulich! konnte das wirklich vor nur vier Tagen gewesen sein? Aber wie voller Sorgen und Qualen waren diese Tage gewesen! wie schlaflos die Nächte! Und jetzt der Direktor sein Billet erhalten, und er sah, wie sich die hohe Stirn des Mannes vor Zorn rötete. Und dann fiel ihm ein, woran er mit keinem Gedanken [] gedacht hatte: der Entrüstete könne den Schuldiener in seine Wohnung schicken, ihm sagen zu lassen: in einem Falle von solcher Dringlichkeit dürfe man nicht krank sein, und er müsse unter allen Umständen kommen. Wenn er stehenden Fußes in die Stadt zurück führe, Klotilden ein Billet hinter lassend, in welchem er ihr kurz die Sachlage auseinandersetzte und sie bat, ihm zu verzeihen?

Er sah nach der Uhr: es fehlten nur noch ein paar Minuten an neun. Die Konferenz hatte bereits eine Stunde gewährt; bis er die Schule erreichte, auch wenn er von der Tiergartenstation aus die Stadtbahn benutzte, mußte mindestens wieder eine Stunde vergehen. Es hatte keinen Sinn; und da kam auch schon Klotilde.

Er hob die Dichtverschleierte aus dem Wagen und führte sie an seinem Arm durch den Saal des Restaurant nach dem Kabinett. Es ging so schnell; er durfte hoffen, daß sie die Gruppe der Spieler und das kosende Pärchen im Saal nicht bemerkt hatte. Auch machte sie, als er ihr in dem Kabinett Hut und Mantel ablegen half, nur die Bemerkung; Na, Schatz, in einem Feenpalast sind wir hier gerade nicht; aber, offen gestanden, das habe ich auch nicht erwartet.

Es war so lieb von ihr, und sie sah in dem eleganten, schwarzen Kleide, mit den von der Kälte rosig überhauchten Wangen entzückend aus; aber der Kuß, den sie ihm dann gab, deuchte ihm seltsam kühl. Es blieb auch bei dem einen, da der Kellner jetzt hereintrat und fragte, ob auf die dritte Herrschaft gewartet werden sollte? Klotilde brachte das Märchen von dem Bruder, der in dem letzten Augenblick verhindert worden sei, aber jedenfalls nachkommen werde, mit solcher Ruhe vor, daß [] Albrecht ein wenig von der Fassung wieder gewann, die er fast ganz verloren hatte. Sie hatten Platz genommen: Klotilde auf dem verschlissenen Sofa, er ihr zur Seite auf einem der brüchigen Stühle, und das Mahl konnte seinen Anfang nehmen.

Ein Mahl, das einen Gourmand hätte zur Verzweiflung treiben müssen. Die Gerichte, welche der Mann im fettglänzenden Frack, eine unsaubere Serviette unter dem Arm, mit bedächtiger Langsamkeit in endlosen Zwischenräumen auftrug, erwiesen sich als ungenießbar, die Weine waren von der schlechtesten Sorte. Aber die beiden am Tisch hatten wichtigeres zu thun, als auf Speise und Trank zu achten: der Kellner mochte nach den ersten Gängen die unberührten Schüsseln nur wieder hinaustragen, was seinen Gleichmut keineswegs zu erschüttern schien.

Klotilde machte diese Bemerkung lachend; es war das erste Mal an diesem Abend, daß sie eine Spur von Heiterkeit zeigte. Wie sollte sie auch wohl heiter sein, wenn sie an ihre Lage denke, die mit jedem Tage prekärer werde! Seit der bekannten Scene der verunglückten Rekognoscierung habe Adele die kurioseste Miene angenommen: halb unheilschwanende Kassandra, halb barmherzige Samariterin; zu Stephanie wage sie schon gar nicht mehr zu gehen, aus Furcht, es könne zu einer neuen Handschlagsforderung kommen; Bekannte habe sie seit acht Tagen keine gesehen, da ihr Mann sich weigere, Gesellschaften mit ihr zu besuchen, und sie keine Lust habe, ihr Strohwitwentum durch die Welt spazieren zu führen. Auch müsse es binnen kurzem in dem Verhältnisse mit ihrem Manne zu einer Katastrophe kommen; daß es so [] bleibe, wie jetzt, sei einfach eine Unmöglichkeit. Sie trage sich seit zwei Tagen mit dem Plane, unter irgend einem Vorwande ihre Eltern auf dem Gute zu besuchen, und wäre es auch nur, den Beobachtungen zu entgehen, denen sie in Berlin ausgesetzt sei, wo ihre Bekannten nach Hunderten zählten, die jetzt jedenfalls nichts eifriger hätten, als das Zerwürfnis mit ihrem Gatten zu kommentieren. Und wäre es nur das! aber sie habe die feste Überzeugung, daß sie bewacht werde. Gestern bereits zum zweitenmale, als sie ihren Brief von der Post holte, habe sie dicht hinter sich jenes Individium bemerkt, das in der Nationalgalerie so eifrig die Zeichnungen studierte. Dann sei sie zu Gerson gefahren und wahrhaftig, als sie nach einer halben Stunde das Geschäft verlassen, da stehe der Mensch wieder an einem der Schaufenster, scheinbar in Betrachtung der dort ausgestellten Roben-Stoffe versunken. Das könne kein Zufall sein. Und zu allem Unglück müsse sie nun noch seinen letzten Brief – den, in welchem er ihr die Einzelheiten der heutigen Zusammenkunft mitgeteilt – verlieren. Gestern abend habe sie ihn noch gehabt, das wisse sie bestimmt. Eine Stunde später, als sie ihn vor dem Zubettgehen verbrennen wollte – wie sie es mit allen seinen Briefen gethan – sei er verschwunden gewesen und geblieben, trotzdem sie die halbe Nacht nach ihm gesucht. Es sei ihr völlig rätselhaft. Sie zittere vor der Möglichkeit, er könne doch wieder auftauchen und in die Hände ihrer Kammerjungfer fallen, der sie gar nicht mehr traue. Sie traue überhaupt keinem Menschen mehr.

Das alles kam über ihre Lippen so gewandt und zierlich, – die graziöse Form hätte Albrecht entzücken [] können, wäre der Inhalt nicht so unerfreulich gewesen. Und dann, in seiner Erwartung, sie werde schließlich auf das eine, was sie als endgültige Befreiung aus diesem Elend ersehne, wenigstens hindeuten, fand er sich getäuscht. Sie nippte, als sie ihr Klagelied beendet, an dem miserablen Sekt, der längst das letzte seiner spärlichen Schaumbläschen hatte aufsteigen lassen, und erklärte, nach Hause zu müssen.

Das konnte Albrecht nicht zugeben. Hatte sie ihm ihr Leid geklagt, er durfte erwarten, daß er das seine, wahrlich nicht minder große, ihr klagen durfte: die Ruhelosigkeit, die ihn peinigte im Bunde mit der fürchterlichen Sehnsucht; die mehr als menschliche Aufgabe, das Herz übervoll von solchen Empfindungen, den Kopf zerwüstet von so verzweifelten Gedanken, ruhig erscheinen zu müssen, als sei nichts geschehen; scheinbar harmlos dahinleben zu müssen an der Seite seiner verratenen, ungeliebten, aber in ihrer Bravheit verehrungswürdigen Frau, zwischen den ihn umspielenden ahnungslosen Kindern. Und an bösesten Zufällen fehle es auch ihm nicht: eben zu dieser Stunde sei etwas geschehen, habe er etwas geschehen lassen müssen, das ihn aller Wahrscheinlichkeit nach um Amt und Brot bringen werde.

Er hatte innig bewegt, zuletzt leidenschaftlich, mit Thränen in den Augen, gesprochen; aber den Eindruck, den seine Rede auf die geliebte Frau machen sollte, hatte er entschieden verfehlt. Ihr Ausdruck war immer düsterer geworden; immer finsterer hatten sich die Brauen über den gesenkten Lidern einander genähert; immer ungeduldiger hatte es um die zusammengepreßten Lippen gezuckt.

[] Und nun, als er geendet, brach es mit einer Heftigkeit hervor, die ihn um so mehr erschreckte, als sie sich augenscheinlich Mühe gab, die vornehme Dame nicht zu vergessen.

Ja, mein Bester, das alles hättest Du doch voraussehen können, als Du mir die Ehre erwiesest, mich zu lieben; hättest an Deine brave Frau und die ahnungslosen Kinder denken sollen, bevor Du Dich in eine Leidenschaft stürztest, die Dir jetzt, wie es scheint, über dem Kopf zusammenschlägt. Jedenfalls, meine ich, bin ich die letzte, der Du mit Deinen Klagen kommen durftest. Ich leide ohnehin schon genug und meine, ich hätte es Dir deutlich genug zu verstehen gegeben. Ja, mein Lieber, da bleibt uns doch wohl nur eines übrig, und je eher wir uns dazu entschließen, desto besser ist es für uns beide.

Mehr noch, als der Mangel an Logik, den er ihr freilich auch nicht zugetraut hätte, empörte Albrecht die Lieblosigkeit, welche jedes ihrer Worte, ihn bis ins Herz erkältend, aushauchte. Aber die zornige Antwort blieb ihm auf der Zunge. Der Kellner, diesmal, wie auch sonst, keine Zeit mit Anpochen verlierend, trat ein, zu melden, daß der Kutscher im Saal sei und anfrage, wann die Herrschaften zu fahren gedächten.

Sogleich! sagte Klotilde.

Der Kellner war gegangen; die beiden standen einander gegenüber mit funkelnden Augen, bleich bis in die Lippen. Um die Klotildens zuckte ein gequältes Lächeln:

Wir haben uns in eine kindische Aufregung hineingeredet. Das ist so, wenn man bei schlechter Laune ist [] und sie nun an dem andern ausläßt. Komm, laß uns wieder Frieden schließen!

Sie streckte ihm die Hand hin, die er stumm an seine Lippen führte.

Nun bitte, hilf mir den Mantel um – Gott, welch ein elender Spiegel! – man sieht wie eine Vogelscheuche aus – und weißt Du: ich möchte doch lieber allein fahren. Du wirst hier noch mit dem Kellner abzurechnen haben, und mir ist jede Minute kostbar. Du kannst ja dann die Pferdebahn nehmen.

Albrecht erwiderte nichts. So herzkränkend dies alles war – dem langen Tête-à-tête im Wagen mit ihr enthoben zu sein, dünkte ihm doch eine Wohlthat.

Er geleitete sie zu dem Wagen. Du schreibst mir morgen, sagte sie im Einsteigen. Er verneigte sich wortlos; das Fuhrwerk setzte sich schwerfällig in Bewegung; er kehrte in das Restaurant zurück, mit dem Kellner die Rechnung zu begleichen, über deren unverschämte Höhe er keine Bemerkung machte. In dem jähen Zusammenbruch seines Glücks spielte eine Handvoll Mark, die er zum Fenster hinauswarf, keine Rolle.

[]

Vierundzwanzigstes Kapitel

Klotildens Verzweiflung war minder groß, aber ihr war doch übel genug zu Mute, während sie in der Ecke ihres Wagens saß, sich gegen den Zug, der durch die Ritzen ging, möglichst dicht in ihren Pelzmantel hüllend. Sie hatte, als sie kam, nicht die Absicht gehabt, mit ihm zu brechen; nun mochte es sein. Daß dies ein Bruch war, ein vollständiger, darüber konnte man sich doch nicht täuschen. Und Gott sei Dank, daß er es war! Die Sache hatte ja schon angefangen, lächerlich zu werden. Und das eben war doch der Gipfel der Lächerlichkeit: über dies Souper in der häßlichen Spelunke mit dem komischen Kellner ging es nicht. Und der Mensch hatte offenbar den Humor von der Situation gehabt: sie hatte deutlich sein Grinsen gesehen, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Mein Himmel, in welche kuriose Lagen gerät man, wenn man sich mal ein bißchen amüsieren will! Weiter hatte es doch keinen Zweck gehabt. Und wäre es noch amüsant gewesen! Aber dies Laufen nach seinen überschwenglichen Briefen! dies Warten an dem Schalter, während der Beamte in dem Haufen herumsucht und einem endlich den Brief hinreicht mit einem Blick, als wolle er [] sagen: Meine Gnädige, lassen Sie das! Es führt zu nichts Gutem. Glauben Sie mir: ich spreche aus alter Erfahrung! – Der Mann hat ja so recht: zu nichts Gutem; aber möglicherweise zu was ganz Schlimmen. Viktor steht auf dem Punkt, mir den Stuhl vor die Thür zu setzen. Kann's ihm auch nicht verdenken: keiner ließe sich das gefallen. Ich muß mich nur wundern, daß er mit seiner Empfindlichkeit es so lange ausgehalten hat. Aber ich werde heute abend Frieden mit ihm machen. Es wird nicht so schwer sein: ein großes Donnern und Blitzen seinerseits; ein paar Thränchen meinerseits – und das Gewitter ist passé. Er kommt von solchen Abenden, so wie so, immer etwas angeheitert nach Hause. Allerdings muß er mich dann da finden, wo er mich diese acht Tage hoffentlich schmerzlich vermißt hat.

Sie sah bei dem Schein einer vorübergleitenden Laterne nach der Uhr und erschrak aufs heftigste: beinahe elf! sie hatte gemeint, es könne noch nicht zehn sein. Viktor pflegte von seiner Corpskneipe freilich immer sehr spät heimzukehren. In seiner jetzigen Stimmung, wer konnte wissen, ob ihm die Kneiperei Spaß machte, ihn nicht die Sehnsucht nach Hause trieb, oder – mein Gott! – am Ende gar ein unbestimmter Verdacht! Der nun bestätigt wurde, wenn er kam und fand sie nicht!

Sie wollte dem Kutscher zurufen, er solle schneller fahren, doch das verquollene Fenster ließ sich so bald nicht öffnen; erst nach unsäglicher Mühe kam sie damit zu stande. Sie rief es dem Kutscher hinaus, der etwas antwortete, wovon sie nur das Wort »Glatteis« verstand. Und auch das nicht verstanden haben würde, hätte sie [] nicht bereits seit einiger Zeit bemerkt, daß der Wagen auf bedenkliche Weise hin- und herrutschte. Als Landkind wußte sie wohl, was eine solche Kalamität zu bedeuten hat, besonders auf chaussierten Wegen, und wenn noch gar das Pferd schlecht beschlagen ist. Was hier entschieden der Fall war: mehrere andere Wagen hatten sie überholt, die jetzt wo möglich schon in der Stadt waren, während sie eben erst den Großen Stern passierten. Freilich, wenn der Mensch jetzt sogar auf längere Strecken Schritt fuhr! Sie wollte anhalten lassen, aussteigen und einen vorüberkommenden Pferdebahnwagen anrufen. Aber es würde jetzt um halb zwölf Uhr keiner mehr kommen, oder sie die Haltestelle nicht finden und so hier in der rabenschwarzen Nacht auf der einsamen Chaussee umherlaufen, jedem Strolch, der des Weges kam, schutzlos ausgeliefert. Sie wußte sich nicht zu raten, zu helfen, und vor Frost und Angst an allen Gliedern bebend, brach sie in krampfhaftes Weinen aus.

Endlich war die Kleine-Stern-Allee erreicht und der Kutscher bog wenigstens in diese ein, nachdem er die Korsoallee überschlagen und so einen Umweg von mindestens einer dreiviertel Stunde gemacht hatte, jedenfalls nicht, weil es sich, wie er behauptete, auf der Charlottenburger Chaussee doch noch immer besser fuhr, sondern um eine möglichst lange Zeit gefahren zu sein.

Klotilde hatte längst den Kampf aufgegeben; in der Stumpfheit der Seele, die sie befallen, ließ sie sich die Allee, die Tiergartenstraße hinauf und weiter die endlosen Straßen schleppen, bis der Wagen mit einem jähen Ruck vor ihrer Wohnung hielt und der Kutscher, den Schlag aufreißend, mit heiserer Stimme sagte: er [] könne die Nummer nicht erkennen; aber es werde schon richtig sein.

Sie zahlte dem Mann seine ganz unverschämte Forderung und gab ihm eine Mark dazu, – hatte sie die Hoffnung, überhaupt noch anzukommen, doch schon beinahe aufgegeben! Der Kutscher, der plötzlich sehr gemütlich geworden war, schloß ihr sogar die Hausthür auf, da sie mit ihren ungeübten, völlig erstarrten Fingern nicht damit zustande kommen konnte.

Die Treppe war dunkel – jedenfalls eine Chikane des Dieners, der mit de Kammerjungfer gemeinschaftliche Sache machte. Sie standen jetzt auf Viktors Seite. Wenn sie sich heute abend mit Viktor ausgesöhnt, würde morgen früh den beiden gekündigt.

Sie hatte ihren Flur erreicht; durch die schmalen Fenster der Flurthür kam der Schein eines Lichtes, das sich bewegte. Man hatte wohl ihren Schritt auf der Treppe gehört und wollte die Unbotmäßigkeit wieder gutmachen. Es würde ihnen nichts helfen.

Die Thür wurde von innen geöffnet. Klotilde prallte zurück: vor ihr, mit einer Lampe in der Hand, stand Viktor.

Bitte doch, einzutreten! sagte er, die Lampe auf eine Konsole an der Wand stellend.

Sein Überzieher hing neben seinem Hut auf dem Regal neben der Konsole; augenscheinlich war er bereits längere Zeit zu Hause.

Sie standen jetzt auf dem Korridor einander gegenüber im Licht der Lampe, das scharf auf die bleichen, hier in Schreck, dort in Zorn verzerrten Gesichter fiel.

[] Ich habe Dich bereits seit einer Stunde erwartet, sagte Viktor, mit einer rauhen Stimme, die offenbar ruhig gelassen klingen sollte; aber freilich nicht bedacht, daß der Weg von Charlottenburg etwas weit und heute nacht vermutlich nicht besonders ist. Dieser Herr hier, der denselben Weg machen mußte, hat Dich um eine volle Stunde überholt. Kommen Sie doch mal heran, Herr Krüger! Wir haben hier keine Geheimnisse voreinander.

Aus dem Schatten des großen, prächtigen Schrankes, den sie von dem elterlichen Gute mitgebracht hatte, trat ein kleiner, bleicher Mann – der Mann, der in dem National-Museum hinter ihnen die Treppe hinabgestiegen war, und den sie seitdem nun schon so oft hinter sich, neben sich, immer in unheimlicher Nähe bemerkt hatte.

Dies ist die Dame, die Sie um neun Uhr am Arm des Ihnen bekannten Herrn in das Restaurant haben treten sehen?

Jawohl, Herr Assessor.

Und die mit ihm in dem cabinet séparé verschwand?

Jawohl, Herr Assessor.

Und mit ihm dann eine Unterredung hatte, die Sie Wort für Wort von dem nächsten Kabinett aus gehört haben?

Jawohl, Herr Assessor.

Es ist gut. Sie können hinausgehen. Erwarten Sie mich auf dem Treppenabsatz!

Herr Krüger hatte die Flurthür hinter sich zugemacht.

Nur noch ein paar Worte, sagte Viktor, während er sich den Überzieher anzog und den Hut herabnahm: Ich kann die Frau, die unglücklicherweise die Mutter[] meiner Kinder ist, nicht um zwölf Uhr nachts auf die Straße werfen, wohin sie gehört. Aber noch eine Nacht unter demselben Dache mit ihr zu verbringen, verbietet sich von selbst. Ich räume Dir also das Feld. Morgen vormittag um zehn werde ich wieder hier sein; wir werden dann das weitere miteinander besprechen. Gute Nacht! – Friedrich!

Die nur angelehnte Thür zum Speisezimmer wurde schnell aufgemacht und der junge Diener trat heraus, ein Licht in der Hand.

Leuchte uns hinab! sagte Viktor; Du kannst dann zu Bett gehen.

Er war mit Friedrich aus der Flurthür; Klotilde hörte die drei die Treppe hinabsteigen. Sie stand noch auf derselben Stelle, unbeweglich. Nur einmal hatte sie die Regung gehabt, Viktor zu Füßen zu fallen: seine vornehme Ruhe hatte ihr so imponiert. Es wäre dann alles gut geworden – ganz gewiß! Aber in Gegenwart jenes gräßlichen, bleichen, kleinen Menschen, und nun gar Friedrichs – unmöglich! Und nun war alles aus!

Hätte es doch noch einen Sinn, murmelte sie. Um eine solche Geschichte! eine so alberne Geschichte!

Sie wollte in Lachen ausbrechen; aber aus ihrer Kehle kamen nur ein paar rauhe, häßliche Töne, vor denen sie erschrak.

Von der Konsole nahm sie die Lampe und ging in ihr improvisiertes Schlafzimmer, dessen Thür sie hinter sich verschloß.

[]

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Viktor hatte den Rest der Nacht im Palast-Hotel ruhig verbracht; jetzt, da die Entscheidung gefallen war, konnte er schlafen.

Zur bestimmten Stunde, um zehn Uhr, war er vor seiner Wohnung; Friedrich öffnete ihm die Flurthür.

Ist die gnädige Frau aufgestanden?

Die gnädige Frau ist vor einer halben Stunde ausgegangen; ich habe eine Droschke holen müssen.

Viktors erster Gedanke war: sie ist zu ihren Eltern gereist. Dahin hatte auch er sie schicken wollen; freilich, nachdem man sich über verschiedene, denn doch sehr wichtige Dinge auseinandergesetzt. Indessen, das ließ sich auch schriftlich machen und vielleicht besser, und man ersparte sich eine immerhin peinliche Scene.

Die gnädige Frau hatte einen Koffer bei sich?

Nein, gnädiger Herr.

Wie denn? auch keine Reisetasche?

Nein, gnädiger Herr. Die gnädige Frau ist so ausgegangen, wie immer.

Sie hat nicht hinterlassen, wann sie wiederkommt?

Mir hat sie nichts gesagt. Vielleicht, daß Julie –

Julie soll kommen!

[] Klotildens hübsche Kammerzofe wußte auch nichts: die gnädige Frau hatte sich ohne sie angezogen.

Haben Sie noch sonst etwas? fragte Viktor, als das Mädchen an der Thür zögerte.

Als die gnädige Frau fort war, habe ich das Bett gemacht. Und dabei habe ich diesen Brief gefunden. Er war zwischen die Kissen gerutscht!

An mich?

Ich lese keine fremden Briefe, gnädiger Herr. Nicht einmal die Adresse.

Geben Sie! Sie können gehen.

Das Mädchen war gegangen, froh, daß sie aus dem Zimmer kam: sie hatte sich das Lachen kaum noch verbeißen können.

Der Brief steckte noch im Couvert! Die Adresse enthielt nur das Postamt, dessen Nummer Viktor schon kannte; die Bezeichnung poste restante und die Chiffre: Ballade.

Man sollte so was nur mit der Zange anfassen, zischte Viktor durch die Zähne.

Mit einem Laut der Verachtung und des Widerwillens warf er den Brief auf den Tisch und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Aber gelesen mußte der Wisch doch werden. Es war ein Stück Belastungsmaterial mehr, das in dem Prozeß eine entscheidende Rolle spielen konnte. Und vielleicht stand etwas darin von den Zukunftsplänen des sauberen Paares. Wer konnte wissen, ob sie nicht eben jetzt zu ihm gelaufen war, gemeinschaftlich mit ihm durchzubrennen, und er hatte die Blamage ohne die Revanche!

Der Brief enthielt nichts von Zukunftsplänen, nur die Verabredung zu dem Rendesvouz gestern abend;[] außerdem zwei enggeschriebene Seiten greulichen, sentimentalen Gewäsches.

Viktor hatte den Brief wieder in das Couvert gethan und sein Pult geschlossen. Möglich, aber nicht wahrscheinlich, daß ihr Schreibtisch noch mehr dergleichen enthielt. Sie hatte jedenfalls das Zeug immer verbrannt und vermutlich nach diesem lange genug vergeblich gesucht. Mit ihrem Willen war er sicher nicht zwischen die Kissen geraten, jedenfalls nicht da liegen geblieben.

Die Flurklingel ertönte.

Sollte sie den Mut haben?

Friedrich brachte einen Rohrpostbrief herein: von Elimar.

Verehrter Cousin! Wollen Sie mir die Freundlichkeit erweisen, mich um halb zwölf Uhr in Ihrer Wohnung zu erwarten? Ich habe Ihnen Mitteilungen von äußerster Wichtigkeit zu machen. Ich würde anstatt dieser Zeilen kommen; aber der Kriegsminister hat mich zu einer Audienz befohlen.

Nun wußte Viktor, wohin Klotilde sich gewandt hatte: die gutmütige Adele und Don Quixote Elimar sollten vermitteln, wo nichts mehr zu vermitteln war! Aber Sie irren sich, Madame! Übrigens bin ich Ihnen dankbar, daß Sie nicht, mit Ihrem Herrn Galan an der Schleppe, davongelaufen sind, und ich meine Rache jetzt sicher habe.

Abermals klingelte es: es würde Fernau sein; er hatte noch vom Hotel aus einen Kommissionär an ihn gesandt und ihn gebeten, alles liegen zu lassen und spätestens um elf bei ihm vorzusprechen.

Es war Fernau mit einem sehr übernächtigen Gesicht, aber, wie immer, in tadelloser Toilette.

[] Lieber Freund, sagte Fernau, sich, wie gebrochen, in einen Lehnsessel fallen lassend, mich aufzujagen, nachdem ich kaum zwei Stunden geschlafen hatte, das möge Ihnen der Himmel verzeihen.

Er hat mir schlimmere Dinge zu verzeihen, erwiderte Viktor; unter anderm das Unrecht, das ich Ihnen gethan, als ich fürchtete, Sie hätten mich an den ehrenwerten Herrn Krüger aus nicht völlig lauteren Absichten empfohlen. Bitte, lesen Sie diesen Brief!

Der eben eingeschlossene Brief wurde wieder hervorgeholt. Fernau besah ihn von allen Seiten:

Ich wittre Morgenluft, sagte er, zu Viktor aufblinzelnd und, während die Linke den Brief hielt, mit dem kleinen Finger der Rechten sanft die Oberlippe zwischen dem Schnurrbart reibend.

Bitte, lesen Sie!

Viktor hatte sich nach dem Fenster gewandt und blickte auf die Straße. Es dauerte eine Zeit, die ihm unendlich dünkte, bis Fernau mit der Lektüre zu Ende war. Diesmals schloß er den Brief nicht wieder weg: er würde Elimar gegenüber abermals seine Dienste thun müssen.

Und die Sache ist zu stande gekommen? fragte Fernau

Völlig programmmäßig, erwiderte Viktor; ich war inzwischen auf unserer Corpskneipe, wo Sie wieder einmal geschwänzt haben. Krüger ließ mich herausrufen. Es war hinter ihnen her und mit ihnen in Charlottenburg gewesen.

Und so teilte er dem Freunde weiter alles mit, was jener wissen mußte, sollte er in dem Drama die Rolle übernehmen können, die er ihm zugedacht hatte.

Nun wissen Sie, lieber Fernau, schloß er, welchen Dienst ich von Ihnen erwarte.

[] Sollte ich wohl ganz die geeignete Persönlichkeit sein? fragte Fernau.

Viktor blickte ihn verwundert, fast erschrocken an.

Denn sehen Sie, fuhr Fernau fort, ich bin wirklich ein bißchen zu sehr Partei in der Sache, um die Pflichten eines Sekundanten regelrecht erfüllen zu können. Ein Sekundant muß bis zu einem gewissen Grade unparteiisch sein, zum wenigsten ein Ohr für die etwaigen Gründe der andern Partei haben. Das habe ich nicht. Ich habe den Menschen von dem ersten Augenblick, als ich ihn im Pferdebahnwagen sah – ich habe Ihnen die Episode nie erzählt – sie thut auch nichts Wesentliches zur Sache – gründlich in Aversion genommen; und, so oft ich ihn wiedersah, fühlte ich ein Kribbeln in den Fingerspitzen, den Kerl zu reitpeitschen. Wenn die Gelegenheit günstiger gewesen wäre, ich glaube, ich hätte einen Grund vom Zaun gebrochen und ein Rencontre mit ihm provoziert. Das ist das eine. Sodann, ich habe mit Ihrer Frau Gemahlin bis dahin immer so gut gestanden; sie – ich brauche Ihnen das nicht zu sagen – aufrichtig und herzlich verehrt. Was sie jetzt gethan hat, ist unverzeihlich, schauderhaft – gewiß! Aber schließlich hat sie es doch nicht mir gethan. Sie werden begreifen, daß meine Empfindungen nicht so lebhaft sein können, wie die Ihren; und es mir schmerzlich, sehr schmerzlich und peinlich ist, zu ihrer Bestrafung, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Hand bieten zu sollen.

Viktor war die Zornröte in die Stirn gestiegen.

Ich danke Ihnen also für Ihre Offenherzigkeit, sagte er, und werde mich nach jemand umsehen, der weniger bedenklich ist, als Sie.

[] Fernau gereute bereits, was er gesagt hatte. Er war auf dem besten Wege, Viktors Mißtrauen von neuem zu erregen; ja, er hatte es bereits gethan. Das durfte nicht sein; er mußte es wieder gutzumachen suchen. Und schließlich, Klotilde war ihm nun doch verloren. Nach der Affaire mit dem Schulmeister war sie für die Gesellschaft tot. Folglich auch für ihn.

Aber wo denken Sie hin, lieber Freund! rief er, aus dem Sessel in die Höhe fahrend. Mir fällt doch nicht im Traum ein, Ihnen meine Dienste zu verweigern, wenn Sie ihrer zu bedürfen glauben. Man sagt so etwas heraus, um die Seele hernach um so freier zu haben. Also wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen – Sie sehen mich bereit. Aber ist denn der Mensch satisfaktionsfähig?

Ich wüßte nicht, weshalb nicht; erwiderte Viktor, wieder halb beruhigt. Macht man diese Leute doch jetzt sogar zu Reserveoffizieren!

Gott sei es geklagt!

Vielleicht ist der Mensch selber einer.

Heutzutage ist alles möglich.

Jedenfalls hat man ihn in unsere Gesellschaft aufgenommen.

Leider! Nächstens werden wir noch unsere Schneider mit Einladungen beehren.

Und nicht bloß aufgenommen: man hat dem Kerl ja förmlich den Hof gemacht; fand es höchst ehrenwert, daß er es von einem Bergmannsjungen so weit gebracht. Ipsissima verba des Herrn Ministerialdirektors.

Man sollte in solche Stellungen Bürgerliche nie gelangen lassen.

[] Und da nun auch meine Frau die Geschmacklosigkeit hatte, so tief aus ihrer Sphäre herabzusteigen –

Werden Sie ihr wohl auf das Terrain folgen müssen. Ja, ja; es ist sehr notwendig, daß da mal ein Exempel statuiert und die Rotüre in ihre Schranken zurückgewiesen wird. Zeichnen Sie den Kerl nur ordentlich!

Ich habe durchaus diese löbliche Absicht.

Zwischen den Freunden wurden nun die Einzelheiten der Forderung durchgesprochen und festgestellt. Fernau hatte auf die schärfsten Bedingungen zu dringen und sollte sich nichts abhandeln lassen. Einen besonderen Wert legte Viktor darauf, daß keine Zeit verloren gehen dürfe, und das Rencontre, wenn es sich irgend machen ließ, bereits morgen in der Tagesfrühe stattfinde. Fernau wollte den Gegner sofort aufsuchen und ihm die Forderung überbringen.

Er hatte sich kaum verabschiedet, als Elimar angemeldet wurde. Die Herren mußten sich noch auf der Treppe begegnet sein.

Hol' ihn der Teufel, fluchte Viktor bei sich. Aber –

Ich lasse den Herrn Hauptmann bitten, näher zu treten.

[]

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Elimar und er saßen einander gegenüber nach einer kurzen, auf beiden Seiten etwas verlegenen Begrüßung.

Sie wissen, weshalb ich komme, begann Elimar.

Ich ahne es wenigstens.

Das erleichtert mir meine Mission, wenn ich etwas so nennen darf, wozu mich auch die eigene Empfindung gedrängt haben würde.

Ich meine, daß die Empfindung in solchen Fällen ein sehr trügerisches Leitmotiv ist.

Mag sein; aber als Erstes, Spontanes verdient sie doch wohl einige Berücksichtigung.

Dann kann ich nur sagen: ich würde es tief beklagen, wenn ein Mann, wie Sie, keine Empfindung hätte für die furchtbare Beleidigung, mit der man mich heimgesucht hat.

Der in Ihren Worten versteckte Vorwurf trifft mich nicht. Im Gegenteil: ich glaube, es giebt niemand, der diese Beleidigung tiefer mitfühlt. Nichtsdestoweniger –

Verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche: was wissen Sie von diesem ganzen Handel?

Alles.

[] Aus dem Munde meiner Frau?

Ja.

Dürfte dann Ihre Behauptung nicht etwas gewagt sein? Wir Juristen haben den Grundsatz: Audiatur et altera pars.

Ich weiß es. Und gerade deshalb habe ich mir erlaubt, Sie aufzusuchen. Leider, wie ich fürchten muß, zu spät: ich traf in Ihrer Hausthür mit Herrn von Fernau zusammen. Ich habe nicht gewagt, ihn zurückzuhalten; er würde sich auch schwerlich haben zurückhalten lassen. Aber die einem Kartellträger gegebenen Instruktionen sind ja nicht unwiderruflich, sind jedenfalls modificierbar; und ich hege die stille Hoffnung, Ihr gerechter Unwille wird nach unserer Unterredung weniger – etwas weniger heftig sein.

Ich teile zu meinem Bedauern Ihre Hoffnung nicht, Indessen, bitte, sagen Sie mir, was Sie mir sagen zu müssen glauben. Ich muß dabei freilich bemerken, daß meine Zeit gerade heute nicht sehr reichlich bemessen ist, da ich noch eine Menge wichtiger Dinge zu erledigen habe.

Ich will mich bemühen, möglichst kurz zu sein. Ihre Frau kam heute morgen um zehn zu meiner Frau, ich darf wohl sagen: zu meiner Frau und mir, denn meine Gegenwart hinderte sie in nichts an der Offenherzigkeit und Vollständigkeit ihrer Beichte. Einer tief traurigen Beichte. Sie bereut aufs tiefste, sich von einem Gefühl haben hinreißen zu lassen, welches sie selbst jetzt als ein schiefes, oberflächliches, ihr durchaus unwürdiges anerkennen muß. Sie räumt willig ein, sich an Ihnen, an Ihren Kindern in einer Weise vergangen zu haben, die es schwer, sehr schwer macht, ihr zu verzeihen. Ich [] wiederhole: sehr schwer. Und doch wohl nicht unmöglich: sie hat uns geschworen: es sei nichts geschehen, was zu verzeihen den Menschen allerdings selten gelingt, wenngleich des Menschen Sohn uns mit seinem erhabenen Beispiel vorangegangen ist.

Warum der Mann nur nicht Pastor geworden ist, dachte Viktor, der diese ganze Auseinandersetzung im Grunde beleidigend fand, und laut sagte er:

Nehmen wir an, meine Frau ist in ihrer Beichte, um mich Ihres Ausdrucks zu bedienen, streng bei der Wahrheit geblieben, obgleich das in solchen Fällen sehr schwer sein soll. Hat sie Ihnen zum Beispiel auch ihre saubere Aventüren von gestern abend gebeichtet? Wo nicht, würde Ihnen dieser Brief –

Den sie verloren hat, sagte Elimar. Bemühen Sie sich nicht! Ich weiß durch sie, was der Brief enthält und was gestern abend geschehen ist, vielleicht besser und ausführlicher, als Sie es aus dem Bericht Ihres Beauftragten erfahren haben.

Viktor richtete sich in den Hüften auf.

Ich erwarte jetzt nur noch, sagte er mit schneidender Ironie, daß Sie mir Vorwürfe machen über die Maßregeln, die ich treffen zu müssen glaubte, um hinter die Schliche der Dame zu kommen.

Er hatte unwillkürlich das Wort gebraucht, welches ihm aus den Berichten Herrn Krügers so geläufig war.

Um Gottes willen, rief Elimar, ihm die Hand auf das Knie legend, erhitzen wir uns nicht in einem Augenblick, wo ich den Himmel anflehe, uns seinen Frieden zu geben!

Ich bin völlig kaltblütig, entgegnete Viktor. Und so, ganz kaltblütig, frage ich Sie: würden Sie, der Hauptmann [] von Meerheim, wenn Ihnen begegnet wäre, was mir begegnet ist; Sie beleidigt wären, wie ich beleidigt worden bin; in Ihrer Ehre gekränkt, vor der Gesellschaft, in der Sie leben, bloßgestellt wären, wie ich es bin: würden Sie – ja, könnten Sie anders handeln, als ich zu handeln gedenke? Würden Sie und könnten Sie unterlassen, den Buben, der gewagt hat, mit seinen schmutzigen Fingern an Ihr blankes Wappenschild, an Ihren reinen Namen zu tasten, vor die Mündung Ihrer Pistole zu stellen?

Die Worte hatten Elimar schwer getroffen. Da klaffte wieder einmal der tiefe Spalt zwischen dem, was sein Herz und sein Verstand ihm gesagt und geboten hatten, lange bevor es ihm seine geliebten Denker und Dichter bestätigten, und jenem andern, in dessen engem Bann er nun schon so viele Jahre gelebt hatte in schmerzlicher Resignation einer besseren Ordnung der menschlichen Dinge, die herbeizuführen dem einzelnen Menschen nicht gegeben war. Hatte er nie die Kraft in sich gefunden, Fesseln zu sprengen, die ihm ins Fleisch schnitten, wie durfte er es erwarten und verlangen von einem, den sie nicht einmal drückten, der sie im Gegenteil als einen höchsten Schmuck trug?

Er fühlte peinlich, daß er eine Position verteidigte, die er nicht würde behaupten können; aber ohne einen letzten Versuch wollte er sie nicht aufgeben.

Es giebt zweierlei Ehre, sagte er, die gesellschaftliche und die individuelle. Die erstere trägt ihre Gesetze nicht sowohl in sich, als sie ihr vielmehr von dem Milieu diktiert werden, in welchem wir leben. Die Vernunft dieses Milieu braucht nicht die unsre zu sein; ich kann [] mir sogar denken, daß wir in ihr die bare Unvernunft sehen. Aber freilich, solange das Milieu das unsre ist; ich meine: solange wir aus diesem oder jenem Grunde den Schwerpunkt unserer äußerlichen Existenz darein verlegt haben, müssen wir in Rom wie die Römer thun. Quaeritur: ist in unserm Falle diese Milieu-Ehre beleidigt? Sind Sie es der Gesellschaft schuldig, ihre in Ihnen beleidigte Ehre zu rächen? Ich glaube: nein. Die ganze unglückselige Angelegenheit ist für den Ihnen befreundeten und bekannten Kreis tiefes Geheimnis; ich nehme meine Frau und mich aus, von denen wir hier wohl absehen dürfen.

Pardon! erwiderte Viktor; ich urteile darin anders und, ich glaube, richtiger als Sie. Es ist mir nicht gleichgültig, wie Herr von Fernau, der in die ganze Sache eingeweiht werden mußte, über mich denkt: ob er mich für einen Mann von Principien hält, oder für einen, der seine Principien, ich weiß nicht welcher sentimentalen Wallung wegen, aufgiebt. Herr von Fernau spielt in meinem speciellen Kreise eine große, und, ich darf sagen, verdiente Rolle. Es handelt sich aber keineswegs um ihn allein. Herr von Luckow und Fräulein Stephanie Sudenburg hegen den schlimmsten Verdacht: davon habe ich mich überzeugen müssen, als ich vorgestern eine sehr vorsichtige Rekognoscierung nach dieser Seite anstellte. Niemand steht mir dafür, daß die Genannten ihre Wissenschaft für sich behalten; bei der großen Solidarität der Gedanken und Interessen, die in der Sudenburg'schen Familie herrscht, ist es sogar mehr als unwahrscheinlich. Ich kann also Fritz und Franz Sudenburg nicht mehr in die Augen sehen. Und wem [] noch sonst nicht? Ich habe in dieser Gesellschaft Blicke aufgefangen, Anspielungen hören müssen, auf welche die einzig richtige Antwort eine Forderung gewesen wäre. Das alles ist schon mehr als genug. Soll ich noch von meinen Dienstboten sprechen, die seit zehn Tagen Zeugen des schlimmsten ehelichen Zerwürfnisses sind? und die nun hingehen und meine Schande durch die ganze Stadt tragen werden?

Viktor war aufgesprungen und maß mit heftigen Schritten das Zimmer auf und ab.

Das wäre die gesellschaftliche Ehre, die mit Füßen getreten ist. Nun die individuelle – so nannten Sie sie ja wohl? Ja, mein Bester, jeder ist seines Glückes Schmied, und die Ehre, die jeder in sich trägt, kann niemand in ihrem Wert taxieren, als er selbst. Mir nun gilt meine Ehre so hoch, daß, wenn ich sie angegriffen sehe, mein Leben mir nicht einen Strohhalm wert ist. Sie können nicht verlangen, daß ich das des Angreifers für heilig halte.

Elimars Stirn war auf die Hände gebeugt, die er über den Knauf des Säbels zwischen seinen Knieen gestaltet hatte. Ein leises Stöhnen kam aus seiner Brust. Nun richtete es das bleiche Gesicht in die Höhe und sagte schmerzlich:

Mein Gott, in welcher Welt der schauderhaften Widersprüche leben wir! Da ist eine Gesellschaft, vor der wir innerlich keinen Respekt haben, und die ihn auch, konfus, zerfahren, unlogisch, oberflächlich, nur nach dem äußeren Schein urteilend, wie sie ist, wahrlich nicht verdient! Da sind wir Männer, die wir uns nicht sündlos fühlen und bei dem Leben, das wir, und wären wir die [] besten, geführt haben, fühlen können; und wir heben den Stein auf gegen ein Weib, das aus der Erziehung, die es gehabt, aus dem Leben, in das es unvorbereitet trat, keine Kraft des Widerstandes schöpfen konnte gegen die Versuchung, von der es doch nicht verschont bleiben sollte! Ein Weib, das der Mann, der trotzdem den Stein aufhebt, geliebt hat! Und das so liebenswert ist!

Die letzten Worte fand Viktor empörend. Wie durfte ihn der Mann daran erinnern, daß auch er zu den Liebhabern Klotildens gehört und, wie die Rede ging, es nur an ihm und nicht an Klotilde gelegen hatte, wenn sie nicht seine Frau geworden war!

Gewiß! sagte er, mit kaum noch verhehlter Wut: sehr liebenswert! zu liebenswert! Es mag das der Geschmack anderer Leute sein – meiner ist es nicht.

Elimar erhob sich aus dem Sessel und ergriff seinen Helm, der neben ihm auf einem Tischchen stand.

Ich bin umsonst hier gewesen, sagte er traurig, aber ohne Bitterkeit; ich hätte es voraussehen können. Verzeihen Sie einem alten Idealisten seine unbefugte Einmischung in den Lauf dieser realen Welt!

Er hatte die Hand ausgestreckt, die Viktor an den Fingerspitzen ergriff, um dann den unwillkommenen Gast mit der größten Höflichkeit zur Thür hinaus zu begleiten.

Dann schellte er Friedrich und hieß ihn, seine Uniform in das Ankleidezimmer zu bringen; auch die Schärpe nicht zu vergessen.

Er mußte zu dem Commandeur seines Regiments, der ihm besonders gewogen war, und dem er zu seinem [] Geburtstag heute gratulieren wollte. Der Commandeur war ein schneidiger Herr, der in Ehrensachen keinen Spaß verstand. Dem sollte Elimar mit seinem sentimentalen Wischiwaschi gekommen sein! Wie die struppigen Augenbrauen in die Höhe gefahren wären! Nach der Friedensapostel-Physiognomie Elimars schon der Anblick des alten Haudegens, bei Gott! eine willkommene Erquickung! Er hatte eine Stunde Zeit. Früher konnte Fernau nicht zurück sein. Und vorher konnte er die Anzeige an den Präses des Ehrenrats mit der Angabe von Zeit und Ort des Rencontre und dem Namen des Unparteiischen nicht machen. Und dann: vielleicht kniff der Schulmeister. Und es mußte bei der Reitpeitsche sein Bewenden haben.

Er war wieder in seinem Zimmer, sich die Handschuhe aus dem Kasten zu nehmen. Die Bonne kam, anzufragen, ob sie die Kinder heute herausbringen dürfe? Es sei nur, weil die gnädige Frau nicht gesagt habe, wann sie wiederkommen würde.

Viktor hatte auf der Zunge: sie wird niemals wiederkommen; statt dessen sagte er heftig:

Wozu sind Sie Bonne, wenn Sie nicht wissen, was man mit Kindern zu thun hat!

Die Bonne, ein braves, nicht ungebildetes Mädchen, ging traurig davon: die armen Kinder! Seit acht Tagen hatte sich die gnädige Frau kaum einmal flüchtig nach ihnen umgesehen; und dem Herrn waren sie ja offenbar auch nur eine Last!

Viktor warf die ergriffenen Handschuhe wütend auf den Tisch.

Das hat man davon! Und das soll nun so weiter gehen! – Liebenswert! Die liebenswert, diese – wie[] heißt es doch? – irgendwo in Maria Stuart – Meinetwegen! Aber diesen Mortimer will ich zeichnen, daß alle andern daran denken sollen!

Er setzte vor dem Spiegel den Helm auf, zupfte die Schärpe zurecht, strich mit der Taschenbürste den Schnurrbart rechts und links aufwärts und stieg, die Handschuhe anziehend, die Treppe hinab.

[]

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Es war später Abend geworden, für Albrecht nach dem fürchterlichsten der Tage.

Als er gestern nach Hause kam, ein in seinem stolzen Selbstgefühl für immer gebrochener Mann, war geschehen, was er erwartet: der Direktor hatte geschickt: er müsse unbedingt in der Konferenz erscheinen. Die ratlose Klara hatte bei allen Bekannten herumfragen lassen: niemand hatte ihr Auskunft geben können; es gab keine andre Erklärung, als die entsetzliche, daß ihm ein Unglück zugestoßen sei.

Es war ihm eines zugestoßen; sie sah es dann aus der tiefen Verstörung seiner bleichen Miene, nur daß er trotz ihres flehentlichen Bittens nicht sagen wollte, welches. Er werde ihr später alles erklären; für jetzt möge sie ihm nur die eine Liebe thun und ihn in Ruhe lassen. Gehorsam, wortlos, thränenlos war sie zu den Kindern gegangen, in der Thür noch einmal die schreckenstarren Augen mit stummer Frage und Klage auf ihn wendend.

Und heute morgen hatte er sie wieder auf später vertrösten müssen. Dann hatte sie nicht mehr gefragt, nicht mehr geklagt. Setzte sie doch ein unbedingtes Vertrauen [] in seine Redlichkeit, seine Ehrenhaftigkeit! Auch nicht der leiseste Schatten des Verdachtes, daß hier eine Frau im Spiel sein müsse, stieg in ihrer reinen Seele auf. Zweifellos hatte Albrecht mit dem Direktor, der ihm auch sonst wenig gewogen war, einen bösen Streit gehabt; und seine Stellung an der Schule war in Gefahr, vielleicht verloren, wenn auch zweifellos das Recht auf seiner Seite stand. Er würde seine gute Sache mannhaft durchfechten, dessen war sie gewiß; und wenn für den Augenblick das Amtsgeheimnis ihm die Zunge band, so mußte sie sich in Geduld fassen, durfte ihm die Ruhe und Sammlung, die er sicher jetzt hochnötig brauchte, nicht nach Weiberart durch Ein- und Dreinreden stören und rauben.

Ihre Vermutung wurde zur Gewißheit, als im Laufe des Vormittags der Schuldiener »ein amtliches Schreiben von dem Herrn Direktor« brachte, und kurz darauf ein sehr eleganter Herr, wie Auguste sagte, seine Karte hereinschickte – ein Herr Rat, sagte Auguste, mit einem »von« vor dem Namen – jedenfalls ein Beamter aus dem Kultusministerium, der mit Albrecht die Sache besprechen sollte, in dem für Albrecht günstigsten Sinne natürlich. Der Herr Direktor mochte sich vorsehen! Albrecht hatte da oben hohe Gönner, die mit einem Herrn Gymnasialdirektor nicht viel Federlesens machten! Das waren gewiß keine leeren Worte gewesen, die der Herr Minister neulich abends zu Albrecht gesprochen hatte: er hoffe bald Gelegenheit zu haben, ihm seine Dankbarkeit für den gehabten Genuß durch die That zu beweisen! Hier war nun die Gelegenheit! Der Herr Direktor würde sich wundern!

[] Der Herr aus dem Kultusministerium war nur kurze Zeit geblieben; aber die Unterredung mußte von der größten Wichtigkeit gewesen sein: er und Albrecht hatten so leise gesprochen; kaum ein Laut, geschweige denn ein verständliches Wort war durch die Thür, die doch schlecht genug schloß, aus seinem Arbeitszimmer in das Berliner Zimmer gedrungen!

Dann war Albrecht ausgegangen, um nach einer Stunde wiederzukommen. Abermals nach einer Stunde hatte sich sein Freund, Doktor Rodeck von der Universität, melden lassen zu einer Besprechung, die sehr lange währte, und bei der er ebenso geheimnisvoll zuging, wie bei der mit dem Herrn vom Kultus. Diesmal handelte es sich fraglos um die Berufung Albrechts zum Universitätslehrer. Es war nur noch nicht entschieden, ob außerordentlicher, oder ordentlicher. Wenn Albrecht sich nur nicht zu billig verkaufte! Er war in solchen Fällen so lächerlich bescheiden! hatte gar keine Ahnung davon, wie weit er die andern Leute überragte! Hätte sie doch nur bei den Verhandlungen zugegen sein dürfen! Galt es für Albrecht zu sprechen, hatte es ihr im Leben noch nicht an den rechten Worten gefehlt! Aber das ging doch nun nicht. Und Albrecht würde, wenn nicht an sich, doch an Frau und Kinder denken und seine Bedingungen nicht zu niedrig stellen. So ein kluger, klarer Kopf, sobald er sich einmal die Mühe gab, etwas ordentlich zu überlegen! Dann traf er ja immer das Richtige!

Das alles stimmte Klara so heiter, wie sie sich seit langer Zeit, sie meinte, nie gefühlt. Sie mußte beinahe lachen, wenn sie an ihre Angst gestern abend dachte und an die gewiß ganz verrückte Miene, mit [] der sie ihren armen geplagten Albrecht empfangen hatte.

Natürlich kam Doktor Rodeck noch einmal: irgend ein wichtiger Punkt war vergessen worden. Ja, verehrter Herr Doktor, unter dem Ordentlichen thun wir es nicht! Und da beißt kein Mäuslein ein Fädlein ab!

Auguste traute ihren Ohren nicht, als sie Frau Professor in der Kinderstube lachen und tollen und zuletzt gar singen hörte. Sie war nun schon fünf Jahre bei Professors. Das war ihr noch nicht passiert.

Über all dem Kommen und Gehen war es drei Stunden später als sonst mit dem Mittagstisch geworden. Das hätte unter normalen Umständen Klaras Geduld auf eine harte Probe gestellt. Heute fand sie es ganz in der Ordnung. Helenchen, die jetzt wieder ganz munter auf den kleinen Füßen durch alle Zimmer lief, und Fritzchen hatten vorher essen müssen; aber der Papa verlangte nach ihnen, und so durften sie mit bei Tisch sitzen und bekamen jedes eine halbe Birne und einen Schluck aus Papas Glase. Der arme Papa hatte es sich gestern und heute so sauer werden lassen; da mußte eine von den sechs Flaschen, die sie für die nächste Gesellschaft in der Speiseklammer verwahrt hielt, »springen«. Und die Kinder waren glücklich, und sie war glückselig; und Albrecht, obgleich er von all den Anstrengungen und Aufregungen noch ein wenig bleich aussah, war so freundlich, so liebevoll zu ihr und den Kindern, erzählte nach Tisch den Kleinen so reizende Geschichtchen, die er sich immer selbst ausdachte; sprach mit ihr so herzlich – obgleich von der großen Angelegenheit natürlich nicht die Rede war. Und als es spät geworden und er sagte, er[] sei zwar rechtschaffen müde, aber das helfe nun nicht: er müsse noch drei oder vier wichtige Briefe schreiben und morgen zu einer nochmaligen Besprechung mit Doktor Rodeck sehr früh ausgehen – da sagte sie nichts, als: dann gute Nacht, Du liebster, bester Mann! Und sie hatte ihn geküßt und er sie, wie sie sich seit den Tagen ihres Brautstandes nicht wieder geküßt.

Nun war er in seinem Zimmer allein. Allein mit dem grauenhaften Bewußtsein seiner Schuld, die er morgen früh mit dem Leben bezahlen sollte. Nicht einen Moment hatte er daran gezweifelt, daß er auf dem Platze bleiben würde. Von Doktor Rodeck wußte er, daß seinem Gegner schon von der Universität der Ruf eines unfehlbar sichern Schützen gefolgt war; er hatte seinem Sekundanten nicht eingestehen mögen, daß er kaum je eine Pistole in der Hand gehabt und ganz gewiß keine abgeschossen hatte. War er doch sogar auf Grund eines Herzfehlers, den die Ärzte herausgefunden haben wollten, vom Militärdienst befreit gewesen! Und heute vormittag, als die Herausforderung kam, hatte er bei sich gesagt: Gott sei Dank! so kommst du doch auf eine honette Art aus einem Leben, in dem du nur in Scham und Schande so weiter vegetieren könntest; jetzt –

Aber jetzt hatte er erst seine Briefe zu schreiben. Die Augen brannten und der Kopf schmerzte und das Herz hing ihm in der Brust wie ein schwerer Stein – geschrieben mußten die Briefe werden.

Zuerst an den Direktor, den er um Verzeihung bat für das Ärgernis, das er ihm gestern gegeben, und dem er morgen ein noch viel schlimmeres folgen lassen müsse. An seine Thür klopfte nun der Tod, den er in seines [] Sinnes Thorheit selbst heraufbeschworen; und hinter dem Tod würde sich die Schattengestalt der Not hereinschleichen, sein Weib und seine Kinder mit ihrem grauen Gespinst umstrickend. Ihm gewähre es in diesen seinen letzten trüben Stunden einen Trost, zu wissen, daß der Direktor, in welchem er stets den ausgezeichneten Philologen verehrt habe, ein eben solcher Christ sei, eingedenk der Christenpflicht gegen Witwen und Waisen. Sollte, wie er fürchten müsse, die Art seines Scheidens aus dem Leben die Pensionsberechtigung seiner Frau kompromittieren, der Freund der Verlassenen werde es an einer warmen Befürwortung bei den höheren Instanzen nicht fehlen lassen.

Nun ein Brief an den Kultusminister, ihn an sein neuliches Wort bescheiden erinnernd und auf die Gelegenheit, die ihm jetzt geboten werde, sein Wort einzulösen, mit schwermutvollen, tiefernsten Worten deutend.

Nun an den General-Intendanten: dem Lebenden sei das Schicksal seines Trauerspiels, das schon so lange in den Händen der Intendanz ruhe, vorenthalten geblieben. Möchte es ein freundliches sein für sie, denen er nach seinem Tode nichts hinterlasse als etwa den Anspruch auf den bescheidenen Nachruhm, den er sich durch nimmermüdes Mühen um die Gunst der dramatischen Muse erworben zu haben glaube.

An seinen Verleger jetzt, ihm nochmals dankend für das letzthin übersandte reichliche Honorar und unter Bedingungen, die jener selbst stellen möge, den Verlag übertragend der mehrere Bände füllenden Arbeiten in Versen und Prosa, die sich in seinem Nachlasse vorfinden würden.

[] Auch an den Ministerial-Direktor mußte geschrieben werden, der sich heute brieflich über die nun ausgesprochene Relegation seines Otto bitter beklagt, aber daran den Wunsch geknüpft hatte, daß die leidige Sache, an deren Ausgang Albrecht sicher keine Schuld trage, in den für ihn und seine Familie so erfreulichen angenehmen Beziehungen zu dem geistreichen Hausdichter keinerlei Störung veranlassen werde.

Der gute Mann, von dem er stets nur Liebes erfahren, hatte das Recht, zu verlangen, daß er nicht aus dem Leben ging, ohne Abschied von ihm genommen zu haben.

Es war zwei Uhr, als Albrecht diese Briefe beendet hatte. Sie waren ihm nicht leicht geworden; aber vor dem, der ihm noch zu schreiben blieb, dem letzten, krampfte sich sein Herz in Jammer und Schmerz zusammen, und er betete, ob dieser bitterste Kelch nicht an ihm vorübergehen könne, wissend, daß er ihn werde leeren müssen bis auf die Neige.

Ein langer, langer Brief. Während er ihn, jetzt zögernd, jetzt mit fliegender Feder schrieb, verdunkelten sich wiederholt seine Augen von den hervorbrechenden Thränen und mehr als eine fiel auf das Papier. Seit seinen frühesten Knabenjahren hatte kein körperlicher oder seelischer Schmerz ihm Thränen erpressen können. Dieser schämte er sich nicht. Er hätte sich totweinen mögen, mußte er sich den unendlichen Jammer, das furchtbare Herzeleid ausmalen, das er nun der Guten, Lieben, Braven bereiten sollte für die abgöttische Liebe, mit der sie ihn geliebt hatte. Zu seiner eigenen Verwunderung bedrückte ihn dabei, was andern wohl als das Schrecklichste [] erschienen wäre: das Bekenntnis seiner Schuld am wenigsten. War er doch überzeugt, sie würde ihm aufs Wort glauben, wenn er ihr schrieb: es war eine von den Thorheiten meiner Phantasie, die Du ja kennst und für die Du immer ein Verständnis gehabt hast, wenn Du Dir auch oft den Anschein des Gegenteils gabst. Du Gute mochtest ahnen, welche Gefahr auf diesem Wege liegt, und es da einen Punkt giebt, über den hinaus die Thorheit zum Verbrechen wird. Aber bei dem, was uns das Teuerste auf Erden ist: bei dem Leben und den Häuptern unsrer Kinder schwöre ich Dir: verbrecherisch, wie das ist, dessen ich mich zeihe, es war doch nur ein Rausch der Phantasie, der meine Sinne kaum gestreift hat. Ich glaubte die Schönheit, nach der meine Seele lechzt, verkörpert zu sehen, bis der Wahn zerstob und ich inne wurde, daß alles, was das scheinbare Götterwerk über alles Irdische hinauszurücken schien, nichts war als der Glanz, mit dem ich selbst es ausgestattet hatte, und wieder einmal ein thörichter Pygmalion vor seiner Galathea kniete. Hunderte von Poeten vor mir sind in denselben Wahn verfallen; hunderte werden es nach mir thun. Die Buße blieb keinem aus, wird keinem ausbleiben. Daß die meine so schwer sein soll – ich habe noch stets die Folgen meiner Schwächen und Irrtümer willig auf mich genommen. Ich würde es mit diesen, so grausam sie sind, und in welchem schreienden Mißverhältnis sie mit meiner Verschuldung stehen, nicht anders halten, wäre es nicht um Dich, mein teures Weib. Ich spreche nicht von den Kindern. Sie werden mich leicht vergessen, unschwer entbehren; und Kinder, die eine Mutter haben, wie sie, können selbst in dieser[] mitleidslosen Welt nicht untergehen. Aber Du! Du! die Du mich nie vergessen, nie mich entbehren lernen wirst! Und nun den Kampf mit der Welt so weiter kämpfen mußt ohne ihn, um dessen willen Du Dein Kreuz willig auf Dich nahmst; ohne Freude, als die, welche Dir – es ist mein letztes, innigstes Gebet – aus unsern Kindern erblühen möge! Lebe wohl, Du Einzige! Beste! Und zum letztenmal: lebe wohl!

Er hatte den Brief gesiegelt und zu den andern in den Umschlag gethan, der, ebenfalls versiegelt, den Vermerk trug: Nach meinem Tode zu eröffnen.

Nun stand er am Fenster, gegen dessen kalte Scheiben er die fiebernde Stirn drückte. Vier Uhr war schon vorüber; um sieben pünktlich wollte Doktor Rodeck ihn abholen. Der Freund hatte ihn dringend gebeten, sich während der Nacht Ruhe zu gönnen: es komme alles darauf an, daß er sich morgen frisch fühle, ein klares Auge und eine sichere Hand habe. Und er war müde, so müde! Er wollte sich auf das Sofa legen und stand doch immerfort am Fenster, in die Finsternis hineinstarrend, während allerhand Bilder, die er nicht rief und nicht bannen konnte, durch seine Seele zogen. Keine aus den letzten Tagen, die ausgelöscht schienen, als wären sie nie gewesen; alle aus der ferneren, aus der fernsten Vergangenheit. Er war wieder der kleine Knabe, der mit einer langen Weidenrute seine Gänse vor sich her durch die magern Stoppeln trieb, nach Hause, nach dem Dorf da unten, aus dessen Schornsteinen die abendlichen Rauchwolken kerzengrade in die bläuliche Nebelluft stiegen. Oder er saß auf einem Felsblock, der aber ein Thron war, von dem aus er, der Prinz, seine Getreuen musterte, [] die wie Schafe aussahen, aber tapfere Ritter waren, mit denen er in den Krieg gegen Heiden und Mohren ziehen wollte, welche die schöne Prinzessin in dem stählernen Turm gefangen hielten. – Dann sagte ein Stimmchen: das ist ja alles dummes Zeug. Ich bin keine Prinzessin, und gefangen bin ich auch nicht. Komm herunter! Du wolltest mir schon gestern das Finkennest aus der Buche holen. Die kleinen Vögel sind alle ausgeflogen, und ich habe das Nest so nötig für meine Puppe, die kein Kopfkissen hat. – Wozu braucht sie das? sagte er; sie hat ja keinen Kopf. – Den siehst Du nur nicht, weil Du ein Junge bist, sagte sie; wenn Du ein Mädchen wärst, könntest Du ihn ganz gut sehen. Nun mach', das Du herab kommst, oder ich gehe nach Haus und dann kannst Du lange suchen, ehe Du eine findest, die Deine dummen Geschichten mit anhören will. – Dann lag er im dürren Laube auf dem Rücken und sein Kopf auf ihrem Schoß. Der Kopf that ihm weh, und sie hatte ein blasses, verheultes Gesichtchen und sagte: er sei, als er schon dicht an dem Nest war, auf einen morschen Ast getreten und so hoch heruntergestürzt, und sie habe gemeint, er sei tot. Sie habe eine so gräßliche Angst gehabt; das Blut aus dem großen Loch in der Stirn habe gar nicht stehen wollen, trotzdem sie ihre Schürze in zwei Stücke gerissen und ihm immer eines auf die Wunde gedrückt habe, während das andre da im Bach liege und auskühle.

Er fuhr jäh aus seinen halbwachen Träumen auf. Ganz deutlich hatte er diesmal nicht einen Knaben, sondern einen Mann gesehen, der war er gewesen; und sein Kopf, aus dessen Stirn das Blut in schwarzen Tropfen [] rann, hatte auf dem Schoße einer Frau gelegen – ihrem Schoße. Und plötzlich hatte sie die Hände über ihm zusammengekrampft und vor sich hinstierend ganz leise und doch mit fürchterliches Deutlichkeit gesagt: er ist tot!

In wilder Verstörung blickte er um sich. Sie war nicht da. Er selbst mußte es gesagt haben. Stand er auf dem Punkte, verrückt zu werden?

Um Gottes Barmherzigkeit nur das nicht! nicht das! Sie würden sagen: er ist es aus Furcht geworden! Die Schmach sollen sie mir nicht anthun dürfen, die hochmütigen Junker. Ich habe mich aus dem Heer der Armen und Elenden in ihre Reihen gedrängt, Gott sei's geklagt! und trage die Strafe für meine Felonie. Damit sei es genug!

Ein wilder Trotz war über ihn gekommen. Er hatte sich auf das Sofa geworfen, die Arme über die Brust verschränkt, eine schwere Falte zwischen den zusammengezogenen Brauen über den geschlossenen Augen.

Abgerissene, wirre Worte kamen gemurmelt über seine Lippen:

Er konnte nicht schlafen – und hatte kein Frau, keine Kinder – das ist ja nichts – Frau und Kinder, da liegt's – und wußte, daß er für die Menschheit starb, für eine große, heilige Idee – wofür sterbe ich? – einen Wahn, eine Seifenblase – und hatte das Paradies vor sich – ich das Nichts – das öde, leere Nichts –

Und kann doch schlafen – schlafen –

[]

Achtundzwanzigstes Kapitel

Am nächsten Morgen, kurz nach neun, kam durch den Nebel, der über der Stadt lag und mit jeder Minute dicker zu werden schien, von Westen her ein geschlossener Wagen langsam die Lützowstraße heraufgefahren, bog durch das Gitterthor des Elisabeth-Krankenhauses und hielt vor dem Portale. Ein Schwerverwundeter wurde ausgeladen und in ein Zimmer geschafft, das Dr. Herbert – einer von den zwei Herren, die den Verwundeten begleiteten – tags zuvor den ihm befreundeten Assistenzarzt der Anstalt auf alle Fälle bereit zu halten gebeten hatte. Dr. Rodeck, der andere der beiden Begleiter, blieb in dem Vorraum, während die beiden jungen Ärzte mit dem Oberarzt, der sich alsbald eingefunden, ihre Untersuchung anstellten. Dr. Rodeck war an das breite Fenster getreten und starrte auf die entlaubten Bäume des Gartens, durch deren Gespensterarme der Nebel in grauen Schwaden zog. Das Furchtbare, das er während dieser letzten Stunden erlebt, wollte ihm das Herz abdrücken; und nicht minder Furchtbares, ja, das Furchtbarste von allem, erwartete ihn. Er seufzte tief auf und wandte sich zu Dr. Herbert um, der aus dem Untersuchungszimmer zu ihm trat.

[] Es ist, wie ich diagnosierte, sagte er leise: die Kugel hat über dem Jochbein rechts an der innern Schädelwand ihren Weg genommen und steckt hinten an einer Stelle, die sich nicht mit Bestimmtheit ermitteln ließ. Es kommt auch wenig darauf an.

Also keine Hoffnung?

Gar keine. Er hat keine zwei Stunden mehr zu leben.

Und wird nicht wieder zum Bewußtsein kommen?

Unmöglich.

O, mein Gott! mein Gott! murmelte Dr. Rodeck.

Ja, lieber Freund, es ist ein saurer Gang; aber das hilft doch nun nicht. Die arme Frau muß es jetzt erfahren. Kennen Sie sie?

Ganz oberflächlich.

Na, wie gesagt: Das hilft nun nicht. Ich will wieder zu dem Patienten. Es ist ein interessanter Fall.

Der junge Arzt war gegangen; Dr. Rodeck stand noch eine kleine Weile versunken im Nachdenken über die ersten Worte, mit denen er die Ärmste auf das Gräßliche vorbereiten sollte; schüttelte verzweifelt den Kopf; fühlte in der Tasche nach den Schlüsseln, die ihm Albrecht, bevor er sich aufstellte, gegeben hatte; seufzte noch einmal; drückte mit einem jähen Entschluß den Hut fester in die Stirn und verließ den Vorraum. –

Ein paar Stunden später – es ging bereits auf Mittag – saß Adele in der Wohnstube, mit einer Näharbeit beschäftigt, und wartete auf Klotilde, die aus dem Logierzimmerchen noch immer nicht zum Vorschein gekommen war. Wahrscheinlich kramte sie in den Sachen, die sie sich gestern abend spät aus ihrer Wohnung hatte holen lassen.

[] Wie sie für so was noch Sinn haben kann – in einem solchen Augenblick – unbegreiflich; sagte Adele bei sich.

Was sollte daraus werden? Klotilde schien sich darüber kaum Gedanken, geschweige denn Sorge zu machen, trotzdem der Brief, den sie gestern auf Andringen, man konnte sagen: auf Befehl Elimars an Viktor geschrieben hatte, bis zur Stunde unbeantwortet geblieben war. Den Brief hatte sie weder ihr noch Elimar zeigen wollen. Ihr werdet doch nicht damit zufrieden sein, hatte sie sich entschuldigt. Ihr nehmt so was immer gleich tragisch. Das ist Unsinn. Ich kenne Viktor. Sinn für Humor hat er freilich auch nicht. Aber Sentimentalität und dergleichen kann er noch weniger leiden. Wenn man vernünftig mit ihm spricht, nimmt er auch Vernunft an.

Ich habe mich davon heute nicht überzeugen können, sagte Elimar.

Ja, worüber habt Ihr eigentlich verhandelt? rief Klotilde.

Ich muß bitten, darüber vorläufig schweigen zu dürfen; erwiderte Elimar. Nur so viel: die Sache steht nicht gut für Sie, liebe Klotilde; nicht für Sie und für keinen der Beteiligten. Ich rate Ihnen sehr ernstlich, sich auf Schlimmeres gefaßt zu machen.

Darüber war denn doch Klotilde für einen Augenblick stutzig geworden – Elimar hatte es in einem so eigenen Ton gesagt, ordentlich feierlich – dann aber hatte sie gleich wieder den Kopf geschüttelt und gemeint: Ihr wollt mir nur bange machen. Wirklich, Ihr kennt Viktor nicht. Er sollte einer solchen nichtigen Farce willen – lächerlich!

[] Sie will nicht hören; so wird sie denn wohl leider fühlen müssen, hatte Elimar, als Klotilde aus dem Zimmer war, vor sich hingemurmelt.

Weiter war er aber auch ihr gegenüber mit seinen Mitteilungen nicht gegangen, und sie hatte nicht mehr gefragt. Wenn Elimar schwieg, hatte er seine guten Gründe. Das mußte sie doch wissen.

Aber er war gestern den ganzen Tag sichtbar verstimmt geblieben und hatte, was Adele auffiel, Klotilde möglichst vermieden. Heute morgen hatte er sogar noch ernster drein geblickt, fast kein Wort gesprochen und nur, als er auf sein Bureau ging, kurz gesagt: Wenn etwas Besonders vorfallen sollte, kannst Du Karl nach mir schicken. Er soll mich herausrufen lassen.

Das war doch genug, um eine arme Frau in tausend Ängste zu jagen! Und Klotilde konnte währenddessen an ihren albernen Garderobekram denken!

Endlich!

Klotilde kam herein in einem prachtvollen resedagrünen Schlafrock mit sehr vielen Bändern und Schleifen.

Verzeihung, Herz, ich habe heute lange gebraucht und Dich warten lassen. Die dumme Person von Julie hat mir lauter falsche Sachen geschickt, trotzdem ich ihr, wie Du weißt, jedes Stück einzeln aufgeschrieben habe. Ich merke, ich bin schon zu lange von Hause weg. Was siehst Du mich so wunderlich an? Du meinst: und schon zu lange hier!

Wie magst Du nur so sprechen!

Lieber Schatz, ich bin Euch lästig. Das würde mittlerweile auch eine andre herausgebracht haben, die weniger scharfe Augen hätte, als ich. Elimar behandelt [] mich miserabel; und freundlichere Gesichter, als Du eben eins machst, habe ich auch schon gesehen.

Wie willst Du, daß wir andere machen, wenn wir uns so um Dich ängstigen!

Aber, um Gottes willen, weshalb? Ich weiß ja ganz gut, was Deinem Manne – und natürlich auch Dir – Ihr seid ja ein Herz und eine Seele – im Kopfe herumgeht: daß Viktor den Mann fordert. Ich habe es mir überlegt und bin zu dem Resultat gekommen: Viktor wird sich hüten. Was hätte er davon? An seiner Schneidigkeit zweifelt kein Mensch – von der hat er zu viele Beweise gegeben. Nun, und große Ehre ist doch nicht bei einem Duell zu holen, bei dem der andre auf einer so viel tieferen gesellschaftlichen Stufe steht. Weiter! Viktor kennt die Welt in seiner Weise recht gut und weiß ganz genau: man kann ihr keinen größeren Gefallen thun, als wenn man ihr Stoff zum Skandal giebt. Er wird sich hüten in einem Augenblicke, wo er vor dem Regierungsrat hält, wenn er nicht einen Landratsposten vorzieht, zu dem ich dringend geraten habe. Er soll mich nur gewähren lassen. Nur noch ein bißchen etwas dreistere Flirtation mit Excellenz – et le tour est fait.

Klotilde machte ein paar triumphierende Schritte durch das Zimmer, blieb dann wieder vor Adele stehen und fuhr fort:

Und angenommen – das heißt: ich nehme es nicht an – es käme zum Duell. Was wäre denn dabei so Außerordentliches? Die Herren fordern einander um ein unüberlegtes Wort; schon wenn einer den andern fixiert, wie sie es nennen. Viktor renommiert mit den vielen Duellen, die er gehabt hat. Er sagt zwanzig. Es ist [] möglich – ich bin nicht dabei gewesen. So viel ist gewiß: er wird nicht den kürzeren ziehen.

Aber der Professor!

Sehr wahrscheinlich.

Und Klotilde begann wieder ihre Wanderung durch das Zimmer.

Adele blickte ratlos vor sich hin; Klotilde wurde ihr immer rätselhafter.

Aber Du mußt den Mann doch geliebt haben! rief sie ganz verzweifelt.

Keinen Moment! sagte Klotilde.

Sie war, Adele den Rücken wendend, an eine Etagère getreten uns schob die dort aufgestellten Nippes durcheinander.

Das heißt – offen gestanden – ich bin gar nicht sicher, ob ich genau weiß, was Liebe ist. Giebt es überhaupt welche und ist nicht alles bloß eine façon de parler? Nach meinen Beobachtungen wenigstens reden sich die Leute so was immer nur ein, um es sich nach einiger Zeit, wenn sie davon genug, wieder auszureden. So viel glaube ich aber davon zu verstehen, daß man einen Mann nicht lieben kann, der so große rote Hände hat.

Mein Gott, ich habe auch rote Hände, rief Adele kläglich.

Aber sie sind nicht groß, sagte Klotilde, zu ihr zurückkommend und sich vor ihr auf einen Sessel setzend. Zeig mal her! Sie sind wirklich ein bißchen rot. Aber wie kannst Du es anders verlangen, wenn Du so in der Wirtschaft aufgehst, wie ich es gestern und heute zu meinem Entsetzen beobachtet habe. Du spielst ja Deine eigene Jungfer! und Köchin dazu! Ganz unnötigerweise, [] meine ich: man erzieht sich damit nur faule Leute. Aber, wenn Du es durchaus nicht lassen kannst, so trage wenigstens in der Nacht Handschuhe, nachdem Du vorher die Hände – nur ganz leicht – mit crême Simon –

Sie brach plötzlich ab: an der Schelle der Flurthür war heftig gerissen worden. Dann auf dem Flur eine fremde Stimme, der das Mädchen etwas erwiderte. Dann hastige Schritte nach dem Salon zu. Die Thür flog auf und herein stürzte eine kleine, untersetzte Frau in wenig modischer Kleidung, bei deren Anblick Adele einen Schrei ausstieß und Klotilde, vom Sessel emporschnellend, erbleichte.

Sie hatten Klara nur einmal auf dem Balle bei Sudenburgs gesehen; aber auch ohne das hätten sie gewußt, wer es war.

Fürchten Sie nichts, sagte Klara zu Adele mit seltsam heiseren Ton; ich hab' es nur mit der da zu thun.

Sie schritt auf Klotilde zu.

Was wollen Sie von mir? murmelte Klotilde, zurückweichend.

Meinen Mann will ich! schrie Klara mit jetzt gellender Stimme. Meinen Mann, den Sie mir gemordet haben!

Du grundgütiger Gott! stöhnte Adele, ihr Gesicht in die Hände drückend. Klotilde hatte instinktiv eine Bewegung nach der Thür des Speisezimmers gemacht; Klara war ihr in den Weg getreten.

O ja! Unglück anrichten, das kann man! dem Unglück, das man angerichtet hat, ins Gesicht sehen, das kann man nicht!

Liebe, beste Frau Professor, sagte Adele; ich –

[] Schweigen Sie doch! rief Klara. Mit Ihnen habe ich ja nichts zu schaffen. Zu Ihnen wäre ich nicht gekommen, wenn man mir nicht gesagt hätte, daß ich diese hier finden würde – diese elende Person!

Hüten Sie Ihre Zunge! sagte Klotilde mit einem gewaltsamen Versuch, die vornehme Dame herauszukehren.

Hüten Sie Ihre hochmütige Fratze! schrie Klara, mit funkelnden Augen und gespreizten Händen vor sie hintretend, so daß sie abermals erschrocken zurückwich. Sehen Sie mich nicht an, als wäre ich verrückt! Danken Sie Gott, daß ich es nicht bin! Oder ich schlüge Ihnen meine Nägel in Ihre geschminkten Backen und zeichnete Sie, wie Sie es verdienen!

Genug! sagte Klotilde, jetzt mit Entschlossenheit auf die Thür zugehend. Aber sie hatte noch nicht zwei Schritte gemacht, als sie von Klara am Handgelenk gepackt und mit solcher Kraft zurückgeschleudert wurde, daß sie, vor Schmerz stöhnend, auf dem Sofa zusammenknickte.

Aber auch Klaras tobende Wut schien gebrochen. Sie fuhr sich mit beiden Händen an den Kopf, auf dem unter dem verdrückten Hut das gelbblonde, krause Haar in wirren Strähnen hervorquoll, und murmelte: Was habe ich nur gewollt? was habe ich nur gewollt?

Plötzlich ließ sie die Hände wieder fallen. Ihr vorher gerötetes Gesicht war todbleich; ihre tief in die Höhlen zurückgesunkenen Augen hatten einen gläsern starren Ausdruck, und ihre Stimme, als sie nun wieder zu sprechen anhub, klang unheimlich ruhig:

Das war's! Meinen Mann, dem ich vor einer Stunde die Augen zugedrückt habe, konnten Sie mir [] nicht wiedergeben; unseren verwaisten Kindern nicht ihren Vater. Aber ohne meinen Fluch sollen Sie doch nicht weiter leben. Kokettieren und grimassieren und buhlen Sie nur so weiter – seien Sie sicher, mein Fluch begleitet Sie auf Tritt und Schritt! Und der blutige Schatten des, dem Sie sein frühes Grab gegraben haben. Ja, verflucht, tausendmal verflucht sei fortan Ihr Leben! Es müßte keinen Gott im Himmel geben, bliebe das ungehört.

Sie hatte sich zu Adele gewandt:

Man sagte mir, daß Sie eine gute Frau sind, Sie würden auch sonst nicht so weinen. Dann jagen Sie die da von Ihrer Schwelle! Die gehört in kein reines Haus. – Leben Sie wohl!

Erlauben Sie, gnädige Frau, daß ich Sie begleite!

Elimar stand in dem Zimmer, in Uniform, den Säbel an der Seite, die Mütze in der Hand, wie er vor einer Minute in sein Arbeitskabinett vom Flur aus getreten war. Niemand hatte ihn komme hören.

Wer sind Sie! sagte Klara, einen irren Blick auf ihn heftend.

Ein Freund, erwiderte Elimar, den sie nicht zurückweisen werden. Sie bedürfen jetzt eines Freundes. Bitte, nehmen Sie meinen Arm!

Es war ein so herzlicher Klang in seiner tiefen Stimme. Klara schaute zu der hohen Gestalt hinauf – nicht mehr irr: mit großen Augen, aus denen plötzlich die Thränen stromweis stürzten. Sie hatte seine Hand ergriffen und wollte sie an ihren Mund drücken.

Nicht doch! nicht doch! sagte er abwehrend. Kommen Sie!

[] Er hatte ihren Arm in den seinen gelegt und mit ihr das Zimmer verlassen, Adelen mit den Augen winkend. Für Klotilde hatte er keinen Blick gehabt.

Die Flurthür war gegangen, auf dem Korridor war es wieder still. Adele, unfähig zu sprechen, hatte sich über ihren Nähkorb gebeugt, in den von ihren Wimpern Tropfen um Tropfen fiel.

Plötzlich schreckte sie auf bei einem seltsamen Schrei, der hinter ihr erscholl und halb wie lautes Schluchzen, halb wie gellendes Lachen klang.

Klotilde lag vor dem Sofa auf den Knieen; das Gesicht in die flachen Hände pressend, während der schlanke Leib in krampfhaftem Weinen zuckte.

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TextGrid Repository (2023). German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-deu). Zum Zeitvertreib : ELTeC ausgabe. Zum Zeitvertreib : ELTeC ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-3DEB-5