Ingo und Ingraban

Ingo

Im Jahre 357

Auf der Berghöhe stand an dem Verhau, das die Wälder der Thüringe von den Katten schied, der junge Wächter und hütete den steilen Pfad, welcher aus den Gründen der Katten nach der Höhe führte. Über ihm ragte der Wipfel einer mächtigen Buche, nach beiden Seiten lief der Grenzzaun den Kamm der Berge entlang, in dem dichten Gestrüpp blühten die Brombeeren und die wilde Rose. Der Jüngling trug den Wurfspeer in der Hand, auf dem Rücken am Riemen ein langes Horn, nachlässig lehnte er an dem Baum und horchte auf die Stimme des Waldes, den pickenden Specht oder das leise Rasseln in den Zweigen, wenn sich ein Waldtier durch das Dickicht wand. Zuweilen sah er ungeduldig nach der Sonne und wandte den Blick zurück, wo hinter ihm in ferner Tallichtung Blockhäuser und Gehege für Herdenvieh lagen.

Plötzlich bog er sich vor und lauschte; auf dem Pfad vor ihm klang leiser Fußtritt, durch das Baumlaub wurde die Gestalt eines Mannes sichtbar, der mit schnellem Schritt zu ihm heraufstieg. Der Wächter drehte den Riemen des Hornes und faßte den Speer zum Wurfe; als der Mann aus dem Gehölz auf den freien Grenzrand trat, rief er ihn an, die Spitze des Wurfspeers entgegenhaltend: »Steh, Waldgänger, und singe den Spruch, der dich von meinem Eisen löst!« Der Fremde schwang sich hinter den letzten Baum seiner Seite, streckte die geöffnete Rechte vor sich und sprach hinüber: »Ich grüße dich friedlich, ein Landfremder bin ich, unkundig der Losung.«

Mißtrauisch rief der Wächter ihm entgegen: »Du kommst nicht wie ein Häuptling mit Roß und Gesinde, du trägst nicht den Heerschild eines Kriegers, auch scheinst du nicht ein wandernder Krämer mit Pack und Karren.« Und der Fremde rief zurück: »Weit komme ich her über Berg und Tal, mein Roß verlor ich im Wirbel des Stromes, ich suche das Gastrecht in deinen Höfen.«

»Bist du ein wildfremder Mann, so mußt du harren, bis meine Genossen dir das Land öffnen. Unterdes gib mir Frieden und nimm ihn von mir.«

Die Männer hatten einander mit scharfen Augen beobachtet, jetzt lehnten sie ihre Speere an die Grenzbäume, traten in den freien [] Raum und boten die Hände. Beim Handschlag prüfte einer des andern Antlitz und Gebärde. Der Wächter blickte mit ehrlicher Bewunderung auf den mächtigen Arm des Fremden, der wenige Jahre älter war als er selbst, auf die feste Haltung und die stolze Miene.

»Nicht mühelos wäre der Schwertkampf mit dir auf grünem Rasen«, sagte er treuherzig, »ich bin fast der längste Mann unserer Metbank, und doch muß ich zu dir hinaufsehen. Sei gegrüßt unter meinem Baum und ruhe, indes ich deine Ankunft verkünde.«

Während der Fremde sorglos der Einladung folgte, hob der Wächter sein Horn an den Mund und blies einen lauten Ruf in die Täler seines Volkes. Die wilden Klänge tönten im Widerhall von den Bergen. Der Wächter schaute nach den Hütten der fernen Lichtung und nickte zufrieden mit dem Kopf, denn um die Häuser wurde eine Bewegung sichtbar; nach kurzer Zeit eilte ein Reiter der Höhe zu. »Nichts über einen starken Hall aus Auerhorn«, sprach er lächelnd und glitt neben dem Fremden in das Heidekraut, während sein schneller Blick den Aushau des Waldes entlang und in das fremde Tal vor ihm flog. »Sprich, Wandrer, ist vielleicht ein Verfolger auf deiner Fährte, oder hast du sonst Krieger im Walde gesehen?«

»Nichts schallt im Walde, als was hineingehört«, versetzte der Fremde, »kein Spürer der Katten achtete auf meinen Pfad seit sechs Nächten und Tagen.«

»Die Söhne der Katten kommen blind zur Welt, wie junge Hunde«, rief der Wächter verächtlich. »Dennoch meine ich, daß du dich gut auf Waldversteck verstehst, wenn du ihre Wachen vermieden hast.«

»Vor mir war Licht, hinter mir Finsternis«, antwortete stolz der Fremde. Der Wächter sah mit Anteil auf den Mann, in dem gebräunten Antlitz war jetzt deutlich die Erschöpfung zu sehen, der Leib lag schwer gegen den Baumstamm. Eine Weile überlegte der Wächter: »Hattest du die Rache der Katten zu fürchten, so hast du wohl auch tagelang Feuer und Rauch entbehrt und üble Reisekost gefunden, denn der Wald bietet jetzt nicht einmal Beeren und wilde Frucht. Sieh, ich gehöre zur Bank des Häuptlings, nicht weiß ich, ob er dir sein Brot und Salz reichen wird; aber hungernden Mann im Walde mag ich nicht schauen. Nimm und iß aus meinem Ranzen.« Der Wächter griff hinter den Baum, holte eine Tasche von Dachsfell hervor und bot darin Schwarzbrot und Fleisch. Der Fremde sah ihn dankbar an, aber er schwieg. Da hielt ihm der Wächter ein kleines Horn entgegen, öffnete den Holzdeckel und mahnte freundlich: »Nimm auch das Salz, unter dem Baum ist mein Heimwesen, hier bin ich der Wirt.« Der Fremde faßte danach: »Gesegnet sei dir die Gottesgabe, wir sind Freunde.« Er aß kräftig, der Jüngling sah ihm zufrieden zu.

»Wenn die milde Sonne ihre Strahlen durch das Baumlaub sendet, dann ist dein Wächteramt froher Dienst«, begann der Fremde endlich [] das Gespräch, »wenn aber der Wald tobt in der Sturmnacht, dann bedarf der Waldhüter Mut.«

»Der Grenzrain hier ist den guten Göttern des Volkes geweihet«, versetzte der Wächter, »von beiden Seiten rinnen die heiligen Quellen hinab in die Täler, wir Waldleute aber sind vertraut mit dem Nachtgesang der Bäume.«

»Du bist jung an Jahren«, fuhr der Fremde fort, »dein Herr schenkt dir großes Vertrauen, daß er dem Einsamen die Sorge um die Landesmark überläßt.«

»Es stehen der Männer mehr an dem Grenzzaun«, erklärte der Wächter. »Wir besorgen wenig von einem Einbruch der feindlichen Haufen durch den Bergwald, denn schwer wird es dem Fuß des Fremden, über Fels und Waldbach in die Gehege zu dringen. Aber das Gerücht kündet, daß vor kurzer Zeit ein heißer Krieg an der Römergrenze entbrannt ist zwischen den Alemannen und dem Cäsar, den sie Julianus nennen, und vor zehn Tagen fuhr bei uns zur Nachtzeit das wilde Heer des Gottes durch die Luft« – er sah scheu in die Höhe – »seitdem wahren wir die Landesmark.«

Der Fremde wandte das Haupt und blickte jetzt zum erstenmal hinüber nach dem Heimatland seines Gefährten. In vielen Reihen zogen sich die langgeschwungenen Berghöhen hintereinander, querdurch führte ein tiefes Tal, da wo es sich zu der Lichtung erweiterte, glänzte im Sonnenlicht der Schaum des Waldbachs.

»Und jetzt laß mich wissen, Gutgesell, wessen Zeichen du trägst, und wohin deine Weisung mich führt.«

»In allen Tälern, welche dein Auge sieht, und weiter bis in die Ebene hinab, waltet als Häuptling Herr Answald, der Sohn Irmfrieds, welchem auch ich diene.«

»In der Fremde vernahm ich, daß ein großer König über das Volk der Thüringe herrscht, sie nannten ihn König Bisino«, versetzte der Wanderer.

»Du hast das Richtige gehört«, bestätigte der Jüngling. »Aber dies Waldland hier ist frei unter seinem eigenen Herrengeschlecht seit alter Zeit, und der große König des Landes ist zufrieden, daß wir ihm die Grenze hüten und jedes Jahr Rosse an seinen Hof senden. Wenig sorgen wir Waldleute um den König, und unser Herr Answald geht nur selten zu Hofe nach der Königsburg.«

»Und zählt König Bisino eure Rinderherden nicht, die ich dort bei den Hütten sehe?« fragte der Fremde wieder.

»Hm, es war einmal Waffenlärm in den Dörfern, weil der König seine Eber unter unsern Eichen mästen wollte, auch kam dem König das Gelüst, den wilden Ochs in unsern Wäldern zu jagen, aber man hat nichts mehr davon gehört.«

Der Fremde sah ernsthaft in das Tal hinab: »Und wo ist der Hof deines Herrn?«

[] Der Wächter wies die Tallücke entlang. »Er liegt am Ausgang der Berge, für einen schnellen Wandrer drei Stunden talab, uns aber trägt ein Roß von der Weide in kürzerer Zeit dorthin. Hörst du den Hufschlag? Das Horn hat meinen Gesellen verkündet, daß ein Fremder zu geleiten ist; der mich ablöst, kommt.«

Den Bergweg trabte ein Reiter herauf, ein stattlicher Jüngling, dem Wächter ähnlich an Antlitz und Gebärde, er schwang sich vom Pferde und sprach leise mit seinem Gefährten. Der Wächter übergab ihm das Horn, warf die Ledertasche über die Schulter und bot das Pferd dem Fremden. »Ich folge deinem Schritt«, sagte dieser ablehnend; er grüßte mit Hand und Haupt den neuen Wächter, der ihn neugierig betrachtete, und wandte sich mit seinem Führer dem Tale zu.

Steilab führte der schmale Pfad zu dem gewundenen Lauf des Gießbaches, zwischen Baumriesen, deren lange Moosbärte grausilbern im Sonnenlicht glänzten, über Wurzeln, die wie riesige Schlangen auf dem Weg lagen und sich in hohem Bogen wanden, wo das Geröll, welches ehedem unter ihnen lag, vom Wasser fortgespült war. Am Rand des Baches hemmte Treibholz und gehäufte Menge trockener Binsen, dort hatte im Frühjahr die Wucht des Wassers geworfene Stämme an die Seite gefegt, daß sie wild durcheinanderlagen mit entlaubten Ästen; aber das Messer der Waldleute hatte einen schmalen Weg durch das Gewirr der Reiser gehauen. Mit beflügeltem Schritt eilten die Männer talab, sie sprangen in weitem Schwunge von Stein zu Stein, von Baum zu Baum, vorauf der junge Wächter; oft schwang er sich hoch durch die Luft, wie ein Federball im Wurfe talab gesendet lustig hüpft; und wo ein breites Rinnsal den Gang hinderte, wiederholte er den Sprung nach rückwärts, um seinem Gefährten Mut zu machen.

Dem Roß hatte er den Zügel über den Hals geworfen, folgsam wie ein Hund sprang es dem Manne nach; auch dem Hengst war der unebene Weg zum Spiele. Zufrieden maß der Wächter mit den Augen einen starken Schwung, den der Fremde über den Gießbach getan hatte, und betrachtete darauf die Fußtritte auf dem weichen Grund. »Du schreitest mächtig für einen müden Mann«, sagte er, »mich dünkt, du hast wohl schon früher weite Sprünge auf blutiger Heide gewagt. An deiner Spur sehe ich, daß du von unserem Volke bist, denn die Spitze des Fußes strebt auswärts, und stark drückt der Ballen. Vordem hielt ich dich nach deiner Rede für einen fremdländischen Mann. Hast du einmal Römertritte geschaut?«

»Sie schreiten mit kleinem Fuß und kurzem Schritt auf ganzer Sohle wie müde Leute.«

»So sagen auch unsere Männer, die im Westen waren. Ich habe bisher nur waffenlose Händler des schwarzhaarigen Volkes gesehen«, fügte er entschuldigend hinzu.

[]

»Mögen die Schicksalsfrauen den Römerfuß von eurem Grunde fernhalten«, antwortete der Fremde.

»Du sprichst wie unsre Alten; wir Jungen aber denken, kommen sie nicht zu uns, so kommen wir wohl zu ihnen, denn wundervoll soll ihr Land sein, alle Häuser von buntem Stein, das ganze Jahr mildes Sonnenlicht und im Winter grüne Erde; der süße Wein gemeiner als Dünnbier, von Silber die Sessel und Bänke, die Mädchen tanzen im Goldschmuck und seidenem Gewand, und der Krieger ist ein Herr der ganzen Pracht.«

Vergebens erwartete der Wächter die Antwort des Fremden, sie schritten eine Weile stumm nebeneinander, endlich faßte der Jüngling das Roß beim Zügel: »Hier wird die Talfahrt wegsamer, steig auf, daß wir vor abends ans Ziel kommen.« Der Fremde legte die Hand auf den Widerrist des Pferdes und sprang wuchtig in den Sitz, der Führer nickte zufrieden und pfiff leise, das Roß trug den Reiter in großen Sätzen talab, der Jüngling lief zu Fuß nebenher, seinen Speer schwingend und bisweilen dem Roß zujauchzend, welches dann den Kopf zu ihm wandte und zur Antwort wieherte.

»Wer sind die Weiber dort in hellen Gewändern?« fragte der Fremde, als sie nahe der Lichtung auf einer Höhe anhielten und in das Gehege sahen. »Hui!« rief der Wächter, »die Mägde vom Herrenhofe sind ge kommen, dort ist Fridas braune Kuh, hörst du die schöne Schelle, die ihr am Halse hängt, und dort ist das Mädchen selbst.« Sein gerötetes Gesicht verriet, daß ihm die Begegnung erfreulich war.

»Sieh die alten Hütten, in ihnen wohnt der Rinderhirt, im Sommer ziehen die Rinder des Dorfes auf Waldweide, und unsere Mädchen kommen und holen die Arbeit des Kellers nach dem Herrenhofe. Dort drüben aber im Buchenwalde haust der Schweinhirt mit seinem Volk, es gibt nicht schönere Mast im Lande, soweit die Sonne scheint.« Sie betraten die Lichtung, der Wächter entfernte die Stangen, welche den Eingang zum Rinderpferch verlegten, und der Fremde ritt in den umhegten Raum, wo die Kühe brüllend umherliefen, während die Frau des Hirten mit ihren Mägden das Milchgerät zum kühlen Keller trug, der, aus Stein und Moos gefügt, abwärts von der Sonne lange Reihen der Milchschüsseln bewahrte. »Gutes Glück, Fremdling«, rief der Wächter, »unser Herrenkind, Irmgard, ist selbst hier, um nach der Herde zu sehen; wird sie dir hold, so kannst du guter Pflege gewärtig sein.«

»Welche ist es, die du mit Namen nennst?« fragte der Fremde.

»Dort befiehlt sie den Mägden, du kennst sie leicht heraus.« Die Jungfrau stand bei dem Karren, der, mit zwei Stieren bespannt, den Gewinn der Milchkammer zum Herrenhof fahren sollte: festgeschlagene Butter in Fässern vom Holz des wilden Pflaumenbaums und kümmelgewürzten Käse, in grüne Blätter gepackt.

[] »Geh zu ihr, Gesell, und künde, daß ein Fremder bittend naht. Ich scheue mich, das Kind deines Herrn anzureden, solange mir der Vater nicht den Herdsitz gestattet hat. Und da du freundlich gesinnt bist, sprich gut von mir, soweit du vermagst.« Der Fremde sprang vom Pferde und neigte sich der Jungfrau aus der Ferne.

Frei ringelten die gelben Locken um ihre hohe Gestalt, sie umsäumten die kräftigen Formen des jugendlichen Antlitzes und wallten lang herab bis an die Hüften. Ein silberbeschlagener Gürtel hielt das weiße Linnengewand zusammen, darüber trug sie ein kurzes Oberkleid von feiner Wolle, zierlich mit der Nadel gestickt, über dem Handgelenk der nackten Arme goldene Ringe. Aus großen Augen sah sie nach dem Fremden hinüber und erwiderte mit leisem Kopfnicken den ehrerbietigen Gruß.

Der Wächter trat zu dem Herrenkind: »Der Fremde sucht eine Ecke an unserer Bank und eine Herdstelle für sein wegemüdes Haupt; ich geleite ihn zum Hofe, daß der Herr über sein Schicksal entscheide.«

»Wir geben dem Wanderer Rast, den die Götter uns senden. Wer er auch sei, ob gut oder arg, der bittend unserem Herde naht, drei Tage hat er Gemach, dann fragt der Vater, ob er ein gerechter Mann ist und unseres Daches nicht unwert. Denn du weißt es ja selbst, Wolf, viel wildes Volk zieht elend durch das Land und trägt den Fluch, der an seinen Schritten haftet, in das Haus des ehrlichen Mannes.«

»Er sieht aus wie einer, der sich ehrlich hält gegen Freund und Feind«, sprach der Wächter.

Die Jungfrau warf einen flüchtigen Blick auf den Fremden: »Wenn er sich so bewährt, wie du sagst, so mögen wir uns seiner Ankunft freuen. Reich ihm den Krug mit Milch, Frida!«

Der Fremde trank, und als er den Krug dankend an Frida zurückgab, sagte er: »Segen über deine milde Hand. Der erste Gruß im Lande war willig von warmherzigem Manne geboten, der zweite hier sei mir eine Verkündigung, daß ich auch im Herrenhause den Frieden finde, nach dem ich mich so leidvoll sehne.«

Unterdes hatte der Wächter für sich eins von den Rossen eingefangen, welche in besonderem Gehege sprangen. Während er sich anschickte aufzusitzen, trat die rotwangige Frida zu ihm: »Glück hattest du, Wolf, im Schlafe«, spottete sie, »an dem Grenzdorn ist, da du ruhtest, ein fremder Vogel hängengeblieben. Wie war dein Schlummer, Wächter, auf dornigem Lager?«

»Die Eule ließ mich nicht schlafen, sie stöhnte über Frida, die bei Nacht am Zaune steht und rüttelt, um zu erfahren, von wannen ihr ein Hausherr kommen wird.«

»Ich aber sah einen Stieglitz auf dürrem Strauch, der sammelte alte Distelwolle zu einem Ehebett für den reichen Wolf.«

[] »Und ich weiß eine Stolze«, versetzte Wolf zornig, »welche Veilchen zertrat, die sie suchen sollte, und dabei in die Nesseln fiel.«

»In die Nesseln deines Ackers nicht, du dummer Wolf!« versetzte Frida zornig.

»Ich kenne eine, der ich den Ball nicht zuwerfe beim nächsten Reigen«, antwortete Wolf.

»Wenn der Wolf tanzt, fliegen die Gänse auf den Baum und lachen«, spottete Frida.

»Winde dir ein Kränzlein aus Haferstroh, Jungfer Gans«, rief Wolf vom Pferde zurück und trabte abwärts mit dem Fremden, der sich zartfühlend auf die Länge eines Speerwurfes von diesem Wechselgespräch entfernt hatte.

»Er ist ein unartiger Knabe«, klagte Frida der Herrin.

»Aus dem Walde schallte zurück, was du hineingerufen«, antwortete diese lachend. Und dem fremden Reiter nachsehend, fuhr sie fort: »Er sieht aus wie ein Herr über viel Volk.«

»Und doch war sein Bundschuh zerrissen und die Jacke so reisemüde«, sagte Frida.

»Meinst du, daß der Fels nur die Füße des armseligen Wanderers schneidet? Wer weither kommt, von dem glauben wir, daß er viel gesehen hat und viel gewagt; es tut uns leid, wenn er ein arger Mann geworden ist aus Begehrlichkeit und Not, und wir wollten ihm gern Frieden geben, wenn wir es vermöchten.«

Die Sonne ging zur Rüste, und die Bäume warfen lange Schatten auf den Weg, als die Reiter das Ende des Talgrundes erreichten. An beiden Seiten wichen die Berge zurück, längs dem Bache breiteten sich helles Gras und bunte Wiesenblumen, ein rothaariger Fuchs fuhr vor ihnen über den Pfad. »Der Rotkopf weiß, daß die Menschenwohnungen nahe sind«, sagte der Wächter, »er schleicht am liebsten, wo er den Hofgesang der Hähne hören kann.«

Vor ihnen lag im Abendlicht das Dorf, von Graben und baumbesetztem Wall umschlossen, durch die Lücken der Bäume sah man hier und da die weißen Giebel unter braunem Strohdach, und kleine Rauchwölkchen, die aus den Dächern aufstiegen. Seitwärts vom Dorfe erhob sich auf kleiner Anhöhe der Herrenhof, mit besonderem Pfahlwerk und Graben umgeben, über die zahlreichen Häuser und Ställe des Hofes ragte hoch das Dach des Saals, der First mit schön geschnitzten Hörnern.

Auf dem Wiesengrund vor ihnen übte sich eine Schar Knaben im Kampfspiel, sie hatten ein hohes Gerüst gestellt und schwangen sich der Reihe nach hinauf und jauchzend wieder herab. Als die Reiter nahten, rannte der Haufe an den Weg und starrte trotzig auf den fremden Mann. Der Wächter rief einen Knaben und sprach leise zu ihm; der Knabe flog wie ein junger Hirsch in großen Sprüngen [] dem Herrenhofe zu, während die Reiter mit Mühe den Schritt ihrer unruhigen Pferde bändigten. Auf der Dorfstraße tanzten im Staube die kleinen Kinder den Ringelreigen, die Knaben nackt bis auf die Wolljacke, die kleinen Mädchen im weißen Hemde, sie stapften barbeinig im Staube und sangen. Der Ring löste sich, als die Reiter herankamen, an den Luken der Dorfhäuser wurden Frauenköpfe sichtbar, aus jeder Tür sprang eine Schar blauäugiger Kinder; auch Männer traten an die Tür und musterten mit Falkenblick das Aussehen des Fremden, und der Wächter verfehlte nicht, seinen Begleiter zu ermahnen, daß er hierhin und dorthin schaue und die Hausbewohner vom Pferde grüße, »denn«, sagte er »freundlicher Gruß öffnet die Herzen und du magst die Gunst der Nachbarn bald gebrauchen.«

Unterdes war der Knabe in den Herrenhof gelaufen. Fürst Answald saß in der Holzlaube, dem schattigen Vorbau des Herrenhauses; er selbst war ein hoher Mann, breitschultrig, mit offenem Antlitz unter seinem grauen Haar, er trug die wollene Hausjacke über dem Hemde mit Biberfell besetzt, seine Lederstrümpfe mit bunten Riemen geschnürt, und nur die würdige Haltung und die Ehrfurcht, mit welcher die anderen zu ihm sprachen, ließen erkennen, daß er der Wirt war. So saß er umgeben von seinen Bankgenossen und schaute zufrieden auf zwei wohlgenährte Stiere, welche von den Knechten vorbeigetrieben wurden, weil sie zu Opfertieren ausgewählt waren für ein bevorstehendes Festmahl der Landgenossen. Der Knabe drängte sich behend an einen alten Mann mit klugem Gesichte, der zur Linken des Häuptlings stand und den Worten des Herrn höflich Antwort zu geben wußte, und kündete leise seine Botschaft. »Der junge Wolf führt einen Fremden her«, berichtete der Alte auf den fragenden Blick des Herrn, »der Mann kam ohne Geleit der Katten, ohne Roß und Kriegskleid, ein einzelner Mann aus dem Elend, er sucht das Gastrecht.«

»Bereitet ihm den Gruß in der Halle«, befahl Herr Answald gleichmütig und gab seinen Mannen ein Zeichen, daß sie sich entfernten. Und zu seinem Vertrauten sprach er: »Mit Sorgen seh' ich die fremden Strolche. Seit am Rhein der Römerkrieg aufgebrannt ist, fliegen heiße Funken durch das Land, und mancher Gesell, der Gewalttat gelitten, schweift durch die Länder und übt Frevel in bitterem Hasse.«

»Kommt er als Flüchtling aus dem Süden, so mag er Kunde wissen von dem Römerkrieg.«

»Er mag auch römische Untreue in das Land tragen. Die welsche Sitte schleicht wie eine Pest durch unsere Täler, sie hat die Burgen der Könige mit Übermut gefüllt. Auch unsere Herren möchten im Purpurkleide prangen und schurkische Leibwächter füttern, die ihr Messer dem freien Mann in den Rücken stoßen, wenn sein Antlitz ihrem Herrn verleidet ist. Doch komm, wer auch der Fremde sei: [] was einem darbenden Mann gebührt, soll ihm werden. Du aber sorge, durch kluge Rede sein Geheimnis zu ergründen.«

Der Häuptling trat in das Haus und setzte sich auf den Herrensitz, der, geschnitzt aus Eichenholz, der Tür gegenüberstand, belegt mit dem schwarzen Fell eines jungen Bären. Die Füße des Herrn ruhten auf einem Schemel, in der Hand hielt er den weißen Herrenstab.

Draußen am Hoftor stiegen die Reiter ab, der Fremde lehnte seinen Speer an den Pfosten und setzte sich schweigend auf den Sitz außerhalb des Tores. Der Sprecher trat heraus und lud ihn mit feierlichem Gruß vor den Herrensitz. Der Fremde trat hoch aufgerichtet auf die Schwelle des Hauses, er und der Häuptling blickten einander einen Augenblick forschend an und beiden gefiel, was sie sahen.

»Heil dir, Fürst Answald, Irmfrieds Sohn!«

»Heil sei auch dir!« klang es vom Herrensitz zu rück.

»Spende wegemüdem Mann den Trunk aus deinem Born, die Frucht von deiner Flur, den Schirm deines Daches. Ich komme freundlos, heimatlos und schutzlos zu deinem Herde; verleihe mir, was dem Wanderer das Gastrecht deines Volkes gewährt.«

Hildebrand trat vor und sprach: »Der Fürst verleiht dir nach des Volkes Brauch drei Tage Rast, drei Tage Kost, dann fragt der Fürst das Volk nach seinem Willen. – Tragt ihm den Sitz zum Herd, ihr Knaben, und bietet ihm die Gaben der Götter.«

Drei Jünglinge trugen das Gerät, der eine den Schemel, auf dem der Fremde niedersaß, der andere in zwei Schalen Brot und Salz, der dritte einen Holzkrug, mit dunklem Bier gefüllt. Dieser bot den Trunk zuerst dem Fürsten, der den Krug mit den Lippen berührte, dann dem Fremden. Darauf gab der Sprecher dem Gefolge einen Wink und alle verließen den Raum.

»Und jetzt, Wanderer«, begann Hildebrand, zu den Füßen des Fürsten niedersitzend, mit vertraulichen Worten, »da du Sicherheit gewonnen hast für Leib und Glieder, so gib auch uns Bericht, soweit du vermagst, wenn du etwas hinter unseren Bergen geschaut und gehört hast, was uns zum Nutzen sein kann und dir nicht zum Schaden. Denn es ist sorgenvolle Zeit, und der vorsichtige Wirt müht sich, Kunde zu holen von bewanderten Männern. Willst du erzählen, wenn die Götter dir verliehen haben, daß sich deine Worte willig auf der Zunge zueinander fügen; oder soll ich fragen, was zu erfahren uns not tut?«

Der Fremde erhob sich: »Ich trage Kunde, die das Herz der Männer bewegt, nicht weiß ich, ob sie euch Freude bereitet oder Trauer. Eine Schlacht ist geschlagen, die größte seit Menschengedenken. Die Wölfe heulen auf der Walstatt, und die Raben fliegen über das Gebein der Alemannen, denen unser Gott den Sieg versagt hat. Die Franken haben dem Römer die Schlacht gewonnen, die Könige der [] Alemannen Hnodomar und Athanarich sind gefangen, mit ihnen viele Königskinder; die Heerscharen des Cäsar brennen in den Tälern des Schwarzwaldes bis an den Main und treiben die Gefangenen zu Hauf. Der Cäsar ist mächtig geworden über das Grenzland, man sagt, daß die Katten Gesandte in sein Lager geschickt haben, um ein Bündnis zu bieten.«

Ein tiefes Schweigen folgte diesen aufregenden Worten. Fürst Answald sah finster vor sich nieder, auch Hildebrand hatte Mühe, seine Bewegung zu verbergen.

»Wir haben Frieden mit Römern und Alemannen«, sagte er endlich vorsichtig; »und der Thüring fürchtet nicht die Macht des Cäsar. Du selbst aber warst, wie ich erkenne, in der Nähe, als die Schlacht geschlagen wurde, und du hast seitdem die Dörfer der Katten gemieden, die doch, wie du sagst, den Römern wohlgeneigt sind. Ich frage dich nicht, wem du den Sieg gewünscht hast.«

»Ich gebe Bescheid ohne Frage«, rief der Fremde stolz, »ich habe nicht Römersold genommen.«

Ein Strahl von Wohlwollen brach aus den Augen des Häuptlings. »Du bist kein Alemanne«, sagte er, »du bist nach deiner Sprache von den Kindern unseres Gottes, die fern im Osten wohnen.«

»Ein Vandale von der Oder«, versetzte der Fremde rasch.

»Es ist ein weiter Weg von deinem Heimatland bis zu der Walstatt am Rhein, Wanderer. Hat auch dein Volk seine Krieger in den Streit gesendet?«

»Ich kam an den Rhein ohne meine Landgenossen, ein schweres Geschick trieb mich aus meiner Heimat Flur.«

»Ein schweres Geschick bereitet ein Gott oder des Mannes trotziger Mut. Möge dein Herz nicht bedrücken, was dich aus der Heimat gescheucht hat.«

Der Fremde neigte dankend das Haupt. »Des Gastes Sorge ist, daß er seinem Wirt gefalle; verzeih, wenn ich suche, was dir den Fremden vertraulich macht. Ich habe in meiner Heimat ein Lied des Sängers gehört, daß zu der Väter Zeit ein Held aus Thüringeland unter den Kriegern meines Volks gegen die Römer kämpfte, weit südwärts an der Donau. Irmfried war sein Name.«

Der Fürst richtete sich im Sessel hoch auf und sprach: »Seine Hand lag segnend auf meinem Haupt, er war mein Vater.«

»Blutbruder wurde er einem Krieger meines Volkes. Als der Fürst aus meiner Heimat schied, zerbrach er mit starker Hand ein römisches Goldstück und ließ die Hälfte zurück, daß sie ein Zeichen der Gastfreundschaft für spätere Geschlechter sei. Ist die eine Hälfte des Goldstücks dein, so ist die andere mein.«

Er hielt das helle Goldblech dem Fürsten hin. Herr Answald fuhr heftig vom Stuhle und prüfte das Stück am Licht. »Still«, rief er gebietend, »keiner spreche ein Wort. Geh, Hildebrand, und trage [] deiner Herrin das Wahrzeichen, daß sie es an die andere Hälfte halte; und sage ihr, daß sie allein sei, wenn ich einen Fremden zu ihr führe.« Hildebrand eilte hinaus, der Wirt trat nahe an den Gast und betrachtete ihn erstaunt vom Kopf bis zum Fuß: »Wer bist du, Mann, der mir so hohen Gruß in das Haus trägt?« und freudig fuhr er fort: »Nicht tut es not, das Zeichen zu suchen, seit du die Schwelle betratest, hast du mir das Herz erregt. Komm, Held, daß du mir da deinen Namen kündest, wo die beiden Hälften des geheimen Zeichens sich zusammenfügen.« Er schritt eilig voran, der Fremde folgte.

In ihrem Gemach stand Frau Gundrun, die Fürstin, und hielt die beiden Hälften des Goldstücks aneinander. »Hier sind zwei Ähren von einem Halme«, rief sie dem Gemahl entgegen, »was du mir sandtest, ist König Ingberts Zeichen.«

»Und der sich dem Knie der Herrin naht«, sprach der Fremde, »ist Ingo, Konig Ingberts Sohn.«

Langes Schweigen folgte dem Ausruf, die Hausfrau sah scheu auf den stolzen Krieger, auf das edle Antlitz, die königliche Gestalt, und sie neigte sich tief zum Gruß; der Fürst aber rief bekümmert: »Oft habe ich gewünscht, das Antlitz der Gastfreunde zu sehen, der erlauchten Helden aus Göttergeschlecht; von reichem Hofhalt hat mir der Vater erzählt, von mächtigem Gefolge in glänzendem Stahlhemd. Aber anders fügten die hohen Gewalten das Wiedersehen. Im Wanderkleide, als werbenden Fremdling schau' ich den großen Volkskönig, und Schrecken fühle ich im Herzen. Gutes bedeute die Stunde, wo ich dein Antlitz schaue. Dennoch gedenke ich, daß ich dir ehrbar meine Treue erweise.«

»Ich aber komme nicht als Glücklicher zu dir und der Herrin«, sprach Ingo ernsthaft, »ein Flüchtling bin ich, und nicht will ich, mein Schicksal hehlend, deinen Schutz erschleichen. Aus der Heimat bin ich getrieben von dem eigenen Ohm, der nach des Vaters Tode dem Knaben die Krone nahm, mühsam haben getreue Männer mich geborgen, bis ich zum Manne wuchs; Gefahr ist mein Los, des Königs Boten sind mir gefolgt von Volk zu Volk, sie boten Geschenke und forderten meinen Leib. Mit dem kleinen Haufen der Getreuen fuhr ich zum Kampf der Alemannen, ihre großen Könige waren mir hold, am Schlachttag führte ich einen Haufen ihres Volks. Jetzt sucht der Cäsar siegesstolz nach denen, die sich ihm nicht barfuß unterwerfen. Weit reicht seine Macht in den Königsburgen, ich sah die Boten deiner Nachbarn, der Katten, mit dem Friedenszeichen zum Rhein reiten, und ich bin darum sechs Tage und Nächte heimlich auf Wolfespfad durch ihre Gaue gezogen, fast ein Wunder war's, daß ich ihnen entrann. Das sollst du wissen, bevor du sprichst: Sei Ingo mir willkommen.«

Der Wirt stand unsicher und suchte das Auge seiner Hausfrau, [] welche in dem Sessel saß und vor sich niederblickte: »Was ehrlich ist und was die Eide gebieten, das tu' ich«, sagte Herr Answald endlich, und die Wolke wich von seinem Antlitz: »Sei mir willkommen, Ingo, Königssohn.«

»Edlen Sinn verrätst du, Held«, begann die Fürstin, »daß du dich scheust, Gefahr in den Hof deines Gastfreundes zu leiten. Uns aber ziemt zu erwägen, wie wir zugleich dir Treue erweisen und unsere Höfe vor der Gefahr beschützen. Weit schallt der Name eines Königs durch die Lande, und viele Feinde umlauern den Helden, der unter Krone geht, du selbst hast es leidvoll erfahren. Drum meine ich, nur Vorsicht hilft dir und uns zum Heile. Und darf ich meinem Hausherrn treue Meinung sagen, so dünkt mir gut, daß dein Gast unbekannt in deinem Hause weile und keiner von seiner Herkunft wisse, als du und ich allein.«

»Soll ich im eigenen Hause den werten Gast verstecken?« rief der Wirt unwillig, »ich bin kein Diener, nicht des Cäsars, nicht der Katten.«

»Auch der König der Thüringe speist seine Mahlzeit gern aus den goldenen Schüsseln, welche Römerkunst gefertigt hat«, fuhr die Hausfrau fort, »hüte dich, des Königs Argwohn zu wecken.«

Der Gast stand unbeweglich, und vergebens suchte die Fürstin seine Meinung zu erkennen.

»Schwer ist es, edles Blut im Dienerkleid zu bergen«, wandte Herr Answald ein.

»Auch Held Siegfried, von dem der Sänger meldet, stand im Knechtsgewand am Amboß.«

»Und schlug zuletzt den Amboß in den Grund und den Schmied dazu«, rief der Wirt. »Sprich, Ingo, selbst, wie willst du, daß wir dich halten?«

»Ich bin der Flehende«, antwortete der Gast mit Selbstüberwindung, »und darf nicht hadern, ob du hoch, ob du niedrig mich reihen willst unter den Genossen deiner Bank. Meines Namens berühme ich mich nicht, aber ich berge ihn nicht, und zu ruhmloser Arbeit wirst du mich nicht stellen.«

»Er meint wie ich«, rief der Fürst.

»Stets fürchten die Helden Minderung ihrer Ehre«, sprach lächelnd die Fürstin. »Was ich bitte, ist leicht gewährt, nur kurze Zeit laß dir das Gewand gefallen, welches wir dem Fremdling im Hofe spenden; unterdes wirbt dir mein Herr im Volk gute Meinung. – Nicht ewig währt der Kriegsruf an der Grenze, dem Cäsar wird's an neuem Streit nicht fehlen, in wenig Monden ist das Geräusch verhallt, indes gelingt's wohl auch, den König zu gewinnen.«

»Ich will's bedenken bis zur Nacht«, sprach der Wirt, »denn klug rät meine Hausfrau, und oft habe ich ihren Rat erprobt. Bis dahin hülle dich, o Held, in demutsvolles Wesen, denn vertraue mir, mit [] bedrängtem Herzen ersehne ich den Tag, wo ich in offener Halle künden kann, was deine und meine Ehre fordert.«

So verließen die Männer der Herrin Kammer. Als aber am Abend der Hauswirt auf seinem Lager niedersaß, rief er unwillig: »Mir frißt's am Herzen, daß ich ihn sehen soll zuunterst an der Bank.« Aber die Fürstin antwortete leise: »Erst prüfe doch, ob er auch wert ist deines Schutzes. Denn ungewöhnlich ist des Fremden Art und freudenlos sein Schicksal. Sein Geheimnis bergen wir vor jedem, und auch vor Irmgard, unserem Kind.«

Das Festmahl

Im Hofe des Fürsten wurde den Landgenossen das Fest gerüstet. Die Hausfrau schritt mit den Mägden durch die Räume, wo die Vorräte der Küche bewahrt wurden, in langer Reihe hingen dort die Schinken, runde Würste und in Rauch gedörrte Zungen der Rinder; sie freute sich des guten Vorrats, ließ abheben für die Küche und befahl den Mägden, in die besten Stücke ein Zeichen zu ritzen, damit der Vorschneider diese den Tischen der Ältesten aufsetze. Dann ging sie in den kühlen Keller, der, von Stein gewölbt, in einer Ecke lag, wo das Sonnenlicht wenig hinkam, hochbedeckt mit Erde und Rasen, dort wählte sie die Fässer mit starkem Biere und die Krüge mit Met und sah zweifelhaft auf einige große fremdartige Tongefäße, die halb im Boden vergraben in einer Ecke standen. »Ich meine nicht, daß mein Herr des Weines begehren wird, doch wenn er danach ruft, so sagt dem Schenken, daß sie das kleine nehmen, denn die anderen stehen und harren auf einen größeren Festtag. Und sehet zu, daß die ungeschickten Gesellen mir den teuern Ton nicht zerschlagen, denn was mühsam im Stroh durch Rosse und Männer hergeführt wurde aus dem welschen Land, dem könnte die lange Reise durch das Ungeschick der metgefüllten Knaben wohl verdorben werden.« Ernsthaft blickte sie noch einmal durch den großen Raum: »Es ist Vorrat genug für eines Häuptlings Haus, und manches Jahr mag der Met das Herz der Männer erfreuen, mögen die Götter uns schaffen, daß unsere Helden alles fröhlich und in Ehren leeren. Und höre, Frida, man weiß ja wohl, was die Männer zumal gebrauchen, aber beim Trunk trügt der Anschlag, auch wenn er reichlich war. Laß noch drei Krüge von altem Met in Vorrat herausheben, und sage dem Schenken, wenn die Männer friedlich sind und in ehrlichem Gespräch, so wird ihnen am Ende noch dies geboten, wenn sie aber widereinander eifern und zwieträchtig hadern, so soll er vorsichtig sein mit dem Gießen, daß uns kein großes Unheil entstehe.«

Die Herrin schritt zu dem Küchenhause, darin brannten mächtige Feuer auf steinernen Platten. Die Jünglinge waren vor dem Hause [] beschäftigt, die Opfertiere zu zerlegen, große Hirsche und drei Eber des Waldes, und das Fleisch an lange Spieße zu stecken. Die Mägde aber saßen in langer Reihe, vieles Geflügel rupfend, oder sie rundeten mit den Händen gewürzten Weizenteig zu ansehnlichen Bällen. Und Knaben des Dorfes warteten mit lachendem Antlitz auf die Zeit, wo sie die Spieße drehen würden, damit auch ihnen vom Fest der Helden ein wohlschmeckender Anteil werde.

Unterdes schafften die Mannen des Häuptlings um die große Halle. In der Mitte des Hofes stand der mächtige Bau, aus dicken Fichtenbalken gefügt, eine Treppe führte zu dem geöffneten Tor, im Innern trugen zwei Reihen hoher Holzsäulen die Balken des Daches, von den Säulen bis zu den Wänden liefen auf drei Seiten erhöhte Bühnen; in der Mitte, gegenüber der Tür, stand darauf der Ehrensitz des Wirtes und der vornehmsten Gäste, daneben ein schön geschmückter Raum, einer Laube gleich, für die Frauen des Hauses, damit sie dem Festmahl der Männer zuschauen konnten, solange sie begehrten. Und die jüngsten der Mannen schmückten die Holzlaube mit blühenden Zweigen, die sie in der Flur abgehauen. Draußen aber fuhr Wolf einen großen Wagen mit Binsen und Kalmus heran, den er am Ufer des nahen Teiches geschnitten, um den Fußboden zu bestreuen.

»Hier ist gut sein, Gast«, begann Wolf grüßend zu Ingo, »auch dir war die Herrin gnädig, du wandelst in neuem Gewande, das unsere Weiber gewebt; wie trägt sich das Tuch der Mädchen aus Thüringeland?«

»Was gern geboten wird, sitzt dem Empfänger bequem«, antwortete der Fremde lächelnd, »ich freue mich, deine Stimme wieder zu hören, denn tagelang warst du auswärts.«

»Wir Herdgesellen holten mit den Hunden die Festbraten aus dem Wald«, versetzte der Mann. »Hilf, Theodulf«, rief er einem Gefährten zu, »soll ich allein den Wagen räumen?«

Theodulf, ein stolzer Mann aus dem Gefolge, griff steifarmig in die Binsen und sprach über die Schulter zu dem Fremden: »Wer gewöhnt ist, fremdes Gewand zu bitten, der soll nicht müßig stehen, wenn bessere Männer die Hände rühren.«

Ingo sah finster auf den Sprecher, eine hohe Kriegergestalt, breitbrustig, mit einer langen Narbe auf der Wange; dem Fremden begegnete mit gleichem Trotz der Mann des Fürsten, an den Augen des einen entzündete sich der Zorn des anderen, bis die Blicke beider Gegner wie Flammen gegeneinander sprühten. Aber mit Selbstbeherrschung bändigte Ingo seinen Grimm und versetzte, den Rücken kehrend: »Hättest du gutherzig gemahnt, folgte ich williger deiner Weisung.«

Der Wächter aber raunte ihm zu: »Hüte dich, den zu reizen, er ist ein unwirscher Gesell, der gern Eisen beißt, er stammt aus der Freundschaft der Herrin, und er dient nicht wie wir, denn er ist [] aus edlem Geschlecht, hat sich nur auf Zeit gelobt, und wird einst im reichen Erbe seiner Väter stehen. Kein Wunder, daß ihn die Binsen stechen, wenn er sie tragen soll.«

»Wer dient, muß tragen«, versetzte Ingo finster.

Aber auch die Mädchen sorgten um das Festkleid des Fremden. »Sieh, Herrin, wie stolz der Fremde in dem Wams schreitet, das ihm die Fürstin gespendet hat«, sagte Frida zu Irmgard. »Wackerer Sinn adelt geringes Kleid«, versetzte Irmgard.

»Gering?« rief Frida, »die Jacke ist vom allerbesten Tuch aus unseren Truhen, ich muß sie doch kennen, denn ich selbst habe sie einst genäht. Seltsam ist es, daß die Herrin so feines Gewand an fahrenden Mann wendet.«

»Auch der Mann ist ja wohl kein Alltagssohn«, antwortete Irmgard.

»Das meine ich auch«, bestätigte Frida neugierig, »denn ich sah, wie die Fürstin ihn vorher im Hofe anredete, da er ihr in den Weg trat; von beiden Seiten war's ein Herrengruß, sie lachte ihm zu und strich mit der Hand an seine Kleider, als ob er ein vertrauter Mann aus der Freundschaft wäre.«

»Als der Fremde gestern abend an den Herd trat, wo die Männer versammelt saßen«, versetzte Irmgard, »da hatte vorher der Vater sorglos gescherzt mit dem Gesinde, doch als er den Fremden sah, wandelte sich ihm die Gebärde, er hob sich, um dem Fremden entgegenzugehen, tat es aber nicht; doch feierlich war fortan sein Wesen und das Mahl so still, als ob ein Bote vom Königshofe am Herrentisch säße.«

»Auch der Fremde schritt«, fuhr Frida eifrig fort, »da er eintrat, kräftig auf den Herrn zu, als wollte er sich bei dem Herrensitz lagern, und einer von den Knaben mußte ihn an der Jacke zurückziehen auf sei nen Platz, daß er die Ehrfurcht nicht vergaß.«

»Ich sah's«, nickte Irmgard, »er lachte dazu«, und bei der Erinnerung lachte sie selbst.

»Und doch sitzt er ganz unten an der Bank«, rief Frida, »und jetzt, wo der witzige Wolf wieder seine große Zunge rührt, hat er des Knaben Weisheit anzuhören.«

»Ist's ein Geheimnis«, sagte Irmgard leise, »so wird es uns Mädchen wohl zuletzt verkündet.«

»Du selber aber, Herrin«, mahnte Frida, »hast ihm seither wenig Huld erwiesen. Die ersten waren wir doch, die er ehrbar grüßte, und drei Tage lang hast du ihm jede Rede geweigert. Unfreundlich wird der Mann dich schelten und hartmutig, nicht wagt er, dich anzureden, da er aus dem Elend kommt; darum biete du ihm endlich den Gruß.«

»So laß uns tun, was sich gebührt«, antwortete Irmgard. Sie trat mit Überwindung zu dem Haufen der stolzen Knaben, welche dem [] Fürsten folgten, wenn dieser durch die Dörfer ritt oder in den Vorkampf der Schlacht trat. Aber als sie dem Fremden nahe kam, scheute sie sich vor den anderen zu ihm zu reden, sie hielt bei Theodulf an und sprach: »Spät ertönte gestern dein Hifthorn am Tore, wie war die Jagdbeute, Vetter?«

Theodulf errötete vor Freude, weil das Herrenkind ihn eher als die anderen begrüßte, er erzählte ihr von seinem Jagdglück und führte sie zu einem Holzverschlag, wo ein zweijähriger Bär unzufrieden saß. »Die Hunde zausten ihm das Fell, ich band ihn mit Riemen und trug ihn lebend zum Hofe, er wird wohl ein Spielgesell für die Kinder im Dorfe.«

Als Irmgard den Braunen betrachtet hatte und sich mit Frida entfernte, rief diese unwillig: »Fürwahr, mit artigen Worten hast du dem Fremdling zugesprochen.«

»Nahe genug war ich bei ihm«, antwortete Irmgard, »und er schwieg doch.«

»Er weiß besser, was dem Herrenkinde geziemt«, versetzte Frida.

Aber Irmgard achtete seitdem auf den Fremden, und als sie ihn abseit von den anderen am Zaun des Hofes lehnen sah, ging sie allein bei ihm vorüber, hielt wie zufällig an und sprach: »Auf dem Holunderbaum über deinem Haupt wohnt ein kleiner Grauvogel, der Nachtsänger. Die Mädchen beschwören jeden Abend das Wiesel und den Kauz, damit sie ihm nicht das Nest zerstoßen. Singt er dir, so höre ihm gütig zu, daß er sich deines wohlmeinenden Sinnes freue. Sie sagen, er mahnt im Sange jeden an das, was ihm lieb ist.«

Ingo antwortete treuherzig: »Alles Geflügel, der Habicht in der Luft und der Sänger im Busch, singen dem fremden Mann dasselbe Lied in das Ohr, sie mahnen ihn an die Heimat. Dort streute einst die liebe Mutter den Vögeln Winterkost, damit sie ihrem Sohne in seinem Leben gute Vorbedeutung sängen. Die Treue haben sie seitdem bewährt. Manches Mal haben die wilden Boten im Federkleid den unsteten Mann auf der Heide und im Holz vor Gefahr gewarnt. Sie sind die Genossen seines Schicksals geblieben; wie er wandern sie heimatlos über die Menschenerde, und wie er nähren sie sich vom Raub, den sie greifen, oder von der Gabe, die ihnen ein Gastfreund spendet.«

»Und doch finden sie überall Flocken, aus denen sie ihr Nest bauen«, versetzte Irmgard.

»Wo aber darf der Heimatlose sein Haus zimmern?« fragte ernsthaft der Gast. »Wer bei der Schwelle seines Hauses steht und die Rosse auf dem Erbe der Väter zählt, der weiß nicht, wie die Bedürftigkeit am Herzen des stolzen Mannes nagt, wenn er Gabe nehmen muß, der selbst anderen spenden möchte.«

»Du klagst über die Gastspenden im Hause, das dich an seinem Herd aufgenommen hat?« antwortete Irmgard vorwurfsvoll.

[] »Selig preise ich den Wirt und die Herrin, die im ansehnlichen Hause dem Landfremden huldreich sind«, versetzte der Gast. »Aber unsicher schweifen die Gedanken des Mannes, dem sie eine Ecke an ihrer Bank vergönnen. Denn immer späht der Fremdling sorgenvoll nach der Miene des Wirtes, ob dieser ihm auch die Gunst bewahre. Jeder im Hofe steht sicher auf seinem Recht, nur dem wildfremden Wanderer ist der Grund, auf dem er schreitet, wie dünne Eisdecke, die vielleicht morgen unter ihm bricht, und sooft sich ein Mund gegen ihn öffnet, weiß er nicht, ob die Worte ihm Ehre bedeuten oder Schmach. Zürne mir nicht um diese Klagen«, bat er. »Deine Augen und deine Worte haben geheime Sorgen meiner Brust herausgelockt, und zu dreist wagte ich vertrauliche Rede. Mir wäre leidvoll, dir zu mißfallen.«

»An deine Worte gedenke ich in Zukunft«, antwortete Irmgard leise, »sooft ich einsame Wanderer in unserem Hofe sehe. Du aber vertraue, daß du manchem hier willkommen bist. Die Thüringe lieben freudigen Mut und gesellige Rede, erweise dich heut so unter den Nachbarn, und wenn ich dir Gutes raten darf, so weiche nicht abseit von den jungen Männern, wenn sie die Kampfspiele üben. Denn ich meine, daß es dir auch im Kampfe wohl gelingen mag. Gewinnst du Lob unter den Landsleuten, so freut sich unser Hof, denn dem Wirt ist es Ehre, wenn der Gast Ruhm erwirbt. Und ich merke, auch der Vater will dir wohl.« Sie neigte errötend das Haupt und entwich aus der Nähe des Fremden; er aber sah ihr freudig nach.

Der Fürst stand vor dem Herrenhause und empfing dort die Edlen und die freien Bauern, welche auf allen Wegen zu Fuß und Roß heranzogen und am geöffneten Tor von Hildebrand, dem Sprecher, begrüßt wurden. Wer zu Roß nahte, der stieg dort ab, und die Jungen führten sein Pferd in ein weites Gehege und banden es fest, damit die Knechte ihm den Schaum mit Stroh abrieben und alten Hafer in die Krippe schütteten. Würdig war Gruß und Anrede, in weitem Ringe standen die Gäste auf dem Hofe, eine stolze Genossenschaft, ansehnliche Männer aus zwanzig Dörfern der Gegend, alle in ihrem Kriegsschmuck, den Eschenspeer in der Hand, Schwert und Dolch an der Seite, in schöner Lederkappe, die mit Zähnen und Ohren des wilden Ebers geschmückt war; mancher ragte unter dem Eisenhut, in einem Lederkoller oder Kettenpanzer über dem weißen Hemd und in hohen Lederstrümpfen, die bis zum Leibe reichten, mancher auch, der reich war und die Ware der rheinischen Krämer beachtete, trug einen Überwurf von fremdem Zeug, das feine Haare von bunter Farbe hatte und wie das zarte Fell eines Raubtiers glänzte. Schweigend standen die Männer und freuten sich der Versammlung, nur einige, die zueinander traten, tauschten leise Worte über die Gerüchte, welche durch das Land flogen von der großen Schlacht im Westen und von bedrohlicher Zeit. Aber wer die Meinung der Menschen[] kannte, wie Hildebrand, der Sprecher, der merkte wohl, daß ihr Sinn kraus war und ihre Gedanken ungleich. Lange währte die Begrüßung, denn immer noch kamen einzelne, die sich verspätet hatten, bis der Sprecher an den Häuptling trat und auf den Stand der Sonne wies.

Da führte der Wirt seine Gäste vor die Halle, feierlich betraten sie im Zuge die Stufen; am Eingang empfing sie die Hausfrau, neben ihr stand die Tochter mit den Mägden. Ehrerbietig huldigten die Männer den Frauen; die Fürstin reichte allen die Hand und fragte gebührlich nach ihren Frauen und dem Hausstand, den Männern von der Freundschaft bot sie die Wange zum Kuß. Die Häupter des Volks nahmen gewichtig Platz auf den Sesseln der Bühne und begannen ernstes Männergespräch, während der Schenk und die Diener in langer Reihe einzogen; diese trugen in Holzkannen den Frühtrunk und behagliche Zukost, weiße gewürzte Brotkuchen und Fleisch aus dem Rauchfang.

Unterdessen rüsteten die Jungen ungeduldig auf dem Rasengrund vor dem Hofe die Bahn zu kriegerischem Spiel. Die Knaben des Dorfes begannen den Kampf, damit auch sie das Lob der Krieger erwarben, sie rannten nach dem Ziel, sprangen über ein Roß und schossen mit dem Rohrpfeil nach der Stange. Bald aber ergriff der Eifer die Jünglinge, sie warfen die Speere, sie schleuderten den schweren Felsstein und sprangen ihm nach, und als Theodulf in mächtigem Schwunge den schwersten Stein geworfen und den weitesten Sprung getan, klafterweit über die anderen hinaus, da erscholl lautes Jauchzen bis zur Halle. Und die Alten und Weisen des Volkes behielt es nicht länger auf ihren Sitzen, auch sie eilten zur Schau auf den Rasen. Groß wurde der Ring der Zuschauer, die Weiber des Dorfes standen in ihrem Festschmuck, gesondert die Männer, und im Umkreis klang immer lauter der Zuruf und das Lob der Sieger.

Unter den Schauenden stand Ingo und achtete schweigend auf die behende Kraft. Da trat zu ihm Isanbart, ein alter Häuptling des Gaues, betrachtete ihn prüfend und begann feierlich, so daß die Rede der anderen verstummte: »Auch in deinem Volke, Fremdling, woher du auch stammst, übt sich wohl der junge Krieger in Sprung und Waffen. An deinem Auge und Arm sehe ich, daß du des Spiels nicht ganz unkundig bist; vielleicht gefällt dir's, unseren jungen Männern zu zeigen, was in deiner Heimat Brauch ist, wenn du auch nicht die Kunst eines Häuptlings verstehst. Bist du aus dem Ostlande, wie ich vernehme, so vermagst du wenigstens die Holzkeule zu schwingen, auch dieser Wurf erweist die Kraft des Mannes, obgleich meine Landgenossen ihn wenig üben. In der Halle sah ich über dem Sitz des Wirtes ein solches Holz.«

Ingo antwortete dem ehrbaren Greise: »Wenn mir's der Fürst gestattet und die Häupter des Volkes, so will ich versuchen, was ich ehedem gelernt.«

[] Der Fürst winkte, einer aus dem Gefolge sprang nach dem Hofe und trug die Waffe aus Eichenholz herzu, vom Griffe nach rückwärts gekrümmt, vorn mit scharfer Schneide. Die Keule ging von Hand zu Hand, lachend wogen die Männer das leichte Werkzeug. »Eine Waffe dieser ähnlich trägt unser Sauhirt, um Wölfe zu schlagen«, rief Theodulf verächtlich, aber Isanbart der Greis entgegnete strafend: »Du sprichst töricht, ich sah von solchem Holz, nicht so schwer als dies, einen Schädel brechen wie einen Tonkrug.« Und er legte die Keule dem Wirt in die Hand.

»Wer jemals in den Ostmarken über eine Walstatt geritten ist«, sprach der Fürst, »der kennt die Wunden, welche dieser Knorren schlägt. Doch von alten Kriegern habe ich gehört, daß ein Geheimnis in dem Holze liegt und daß man schwer des Wurfes mächtig wird, denn tückisch soll es dem Unvorsichtigen das eigene Haupt treffen. Nicht unwert ist dieses Holz der Hand eines Edlen, denn es war vorzeiten eines Königs Waffe, und mein Vater brachte sie aus der Fremde heim.«

»Dann soll sie ihre Kunst dem Sohn erweisen«, rief Ingo freudig und faßte danach. Mit kurzem Armschwung warf er die Keule, sie flog in krausem Bogen durch die Luft, doch als alle meinten, daß sie zu Boden schlagen würde, fuhr sie wie durch eine Schnur gezogen wieder nach dem Manne zurück; er packte sie in der Luft am Griff und warf sie wieder hierhin und dahin, immer schneller, und immer kehrte sie gehorsam vom Schwunge in seine Hand. So mühelos und lustig schien das Spiel mit dem Eichenkolben, daß die Zuschauer näher traten und lautes Gelächter durch den Kreis ging.

»Das ist ein Gaukelspiel des fahrenden Mannes«, rief Theodulf verachtend.

»Es ist eines Mannes Handwehr«, versetzte der Fremde entgegen, »schwerlich ist dein Schädel fester als diese Eisenkappe.« Er sprach zu Wolf, und dieser legte in Weite eines Speerwurfs einen alten Eisenhelm auf einen Pfahl. Der Fremde maß das Ziel, wog die Waffe in schwingender Hand, warf sie im Bogen nach dem Helm und sprang in gewaltigem Satze nach. Laut krachte das berstende Metall, und doch fuhr die Keule wieder zurück, und wieder packte sie Ingo mit starker Hand und hielt sie hoch. Ein Ruf des Erstaunens scholl in dem Ringe, ein Haufe sammelte sich neugierig um den zerschlagenen Helm.

»Wohlan«, begann Theodulf herablassend, »hast du uns deine Gewohnheit gezeigt, so versuch es auch mit unserem Brauch. Führt den Springern die Rosse heran.«

Zuerst wurden zwei Rosse nebeneinander gestellt, Kopf an Kopf und Schweif an Schweif. Die Springer traten zurück und schwangen sich mit kurzem Anlauf hinüber; fast allen glückte der Sprung, aber bei drei Rossen gelang es nur einer kleinen Zahl, und über vier [] sprang Theodulf allein, und als er hinter den Rossen zum Haufen der anderen zurücktrat, sah er herausfordernd den Fremden an und winkte mit der Hand zur Folge. Der Fremde neigte das Haupt ein wenig und tat denselben Sprung so sicher, daß das Feld vom Beifall widerhallte. Da rief Theodulf das fünfte Roß heran zum schweren Sprung, nur selten vollbrachte ihn einer der Behendsten. Aber der Thüring war gereizt und entschlossen, das Äußerste zu tun. Er selbst ordnete die Pferde anders, daß der Schimmel als fünfter stand, dann sah er um sich, empfing den Zuruf seiner Freunde und wagte den mächtigen Sprung. Und er kam hinüber, nur daß er beim Niedertauchen mit seinem Rücken den Schimmel streifte. Aber während er vortrat und sich über das Jauchzen des Volkes freute, tönte noch lauterer Zuruf hinter ihm und umgewandt sah er den Fremden, der diesmal schnell und mühelos in seinem Rücken den Sprung vollbrachte. Der Thüring erblich vor Zorn, er ging schweigend an seinen Platz und mühte sich vergebens, den Neid herabzudrücken, der ihm aus den Augen brach. Die Alten aber traten zu dem Fremden und rühmten seine Kunst, und der alte Häuptling begann: »Ich erkenne, Fremder, wenn mich nicht deine Gebärde täuscht, du bist nicht unkundig des Schwunges auch über sechs Rosse, den sie Königssprung nennen, und der nicht in jedem Menschenalter einem Helden gelingt. Ich sah ihn einmal, da ich jung war, mein Volk niemals.« Und er rief laut: »Führt das sechste Roß heran!« Da erhob sich im Kreise Gemurmel, und die Entfernten drängten näher herzu, während die Jünglinge eilten, das Roß zu stellen. Neben Ingo aber trat die Fürstin, sie war bekümmert um die Niederlage ihres Verwandten und sprach leise zu dem Gaste: »Erwäge, Held, leicht trifft der Pfeil des Jägers den Auerhahn, wenn er die Flügel breitend seine Stimme erhebt.« Aber Ingo sah auf Irmgard, welche in froher Erwartung hinter der Mutter stand und ihn freundlich anlachte, und er antwortete mit heißen Wangen: »Zürne mir nicht, Herrin, ich bin gefordert, nicht habe ich mich in den Kampf gedrängt; ungern entsagt der Mann der angebotenen Ehre.« Er trat rückwärts zum Sprunge, hob sich gewaltig in die Luft und vollbrachte den Schwung, daß alles Volk jauchzte, und da er zurückkehrte, achtete er nicht auf die unwillige Miene der Fürstin, er freute sich, daß ihm die Kunst gelungen war und daß Irmgards Angesicht rosig erglänzte. Lange wogten die Zuschauer durcheinander, sprachen über die Kühnheit des Fremdlings und rühmten ihn, bis dem Wettkampf der Männer andere Ziele gesetzt wurden. Ingo stand fortan still neben den Häuptlingen, und niemand forderte ihn zu neuem Streit.

Schon neigte sich die Sonne von ihrer Höhe, da nahte der Sprecher dem Fürsten und lud die Gesellschaft zum Mahle. In fröhlicher Erwartung folgten die Männer dem Rufe, sie wandten sich im Zuge nach dem Hofe zurück und schritten die Stufen der Halle hinauf.

[] Der Sprecher und der Truchseß traten ihnen vor und ordneten an den Tafeln der Halle jeden nach Rang und Gebühr. Dies war eine sorgliche Arbeit, denn jeder begehrte den Platz, der ihm geziemte:entweder am Tisch des Häuptlings, oder nahe bei ihm, lieber auf der rechten Seite als auf der linken. Es war eine lange Reihe von Tischen, die Sitze daran für die Vornehmsten mit einer Armstütze und für die Ansehnlichen immer noch mit hoher Lehne, für die Jüngeren ein schöner Schemel. Schwer war's, allen mit dem Ehrensitz Genüge zu tun, aber der Sprecher verstand sein Amt und wußte manchem seinen Platz zu loben wegen der Nachbarn und der Nähe der Frauen und wegen gutem Überblick über den Saal. Zunächst der Tür lagerten die Bankgenossen des Hausherrn in langer Reihe, dort hatte den Ehrenplatz Theodulf und ihm gegenüber saß ganz unten der Fremde. Da alle erwartend saßen, trat der Schenk mit den Dienern ein und trug in schönen Holzbechern den Begrüßungstrank; der Wirt erhob sich, trank den Gästen gutes Heil zu, und alle standen auf und leerten die Becher. Darauf kam der Truchseß mit seinem Stabe und hinter ihm eine lange Reihe Diener, welche die erste Tracht auf die Tische setzten; da ergriff jeder sein Messer, das er an der Seite trug, und begann rüstig das Mahl.

Im Anfang war es schweigsam um die Bänke, denn allen störte die Rede der eigene Hunger und sie rühmten nur mit leisem Dank die reichliche Fürsorge der Herrin. Doch die Ältesten in der Nähe des Fürsten tauschten ernsthafte Worte, sie dachten an vergangene Taten der Helden und lobten die Tugenden ihrer Rosse. Die anderen aber horchten essend gern auf ihr Gespräch.

Und ein Edler an der Seite des Fürsten begann laut: »Das liebste fürwahr im Sommer ist mir ein solches Hochfest, wo die Landgenossen einander auf grüner Wiese im Heergewand grüßen, die grauen Häupter erinnern sich alter Kriegsreisen, die schlachtenfrohe Jugend erweist im Spiele, daß ihre Kraft dereinst die Ehren der Väter mehren wird. Die Sonne scheint warm, und das Antlitz des Wirtes lacht den Gästen entgegen; auch das Herdenvieh springt umher, und die Ähren der Gerste bräunen sich im Südwind; fröhlich wird des Mannes Herz in solcher Zeit und ungern gedenkt er der Sorgen. Dennoch ziemt dem Manne, auch beim Mahle das Schwert nicht weiter von sich zu legen, als der Arm reicht, denn wechselvoll ist alles Leben in den Tälern der Menschen, bald wohl verdeckt schwarzgrauer Wolkenschild den Himmel, ein weißes Schneetuch den Grund; kein Glück der Menschenerde dauert und der nächste Tag mag neues Schicksal bringen. So geht auch jetzt durch das Volk eine Kunde aus dem Römerland, manche sorgen darum und ihre Gedanken fragen unsern Wirt, ob er Botschaft erhielt, die uns zu wissen frommt.«

Diese Rede sprach die Meinung aller aus und von allen Tafeln klang Beistimmung, dann wurde es sehr still; der Fürst aber [] antwortete mit Vorsicht: »Von großem Schlachtendrang vernahmen wir alle und erwägen, ob er uns zum Heile sein werde. Dennoch rate ich nicht, daß wir Waldmänner heut von dem Trinkhorn abwärts spähen mit sorgenvollem Blick. Noch wissen wir nur, was die Wanderer zutrugen aus der Fremde, vielleicht was sie selbst geschaut, vielleicht undeutliches Gerücht. Darum ritten unsere Boten über den Wald südwärts nach neuer Kunde. Wir harren ihrer Heimkehr, dann prüfen die Weisen, ob die Botschaft wert ist, daß das Volk darum sorge.«

Da diese Worte kundgaben, daß der Wirt nichts über den Römerkrieg berichten wollte, so entstand undeutliches Gemurr, und Herr Answald merkte, daß die Gäste gern mehr vernommen hätten und daß sie seines Schweigens nicht froh waren.

Darum trat jetzt auf ein stilles Zeichen des Herrn der Sprecher vor und rief mit lauter Stimme: »Die Schwerttänzer nahen und erbitten sich Gunst.« Da schwieg jeder und rückte den Sessel zum Schauen zurecht, die Frauen erhoben sich von den Sitzen.

Ein Pfeifer und ein Sackbläser schritten voran, hinter ihnen zwölf Tänzer, junge Krieger aus dem Volk und von des Häuptlings Bank im weißen Unterkleid mit buntem Gürtel, das blitzende Schwert in der Hand; vor ihnen als dreizehnter Wolf, der Schwertkönig, in rotem Gewande. Sie hielten am Eingang und grüßten, die Waffen senkend, darauf begannen sie den Sang des Reigens und schwebten in langsamem Schritt nach dem freien Raum vor der Herrenbank. In der Mitte hielt der Schwertkönig, die zwölf Genossen umkreisten ihn feierlich mit gehobenem Schwert. Er gab ein Zeichen, die Pfeifer bliesen, schneller wurden die Bewegungen, nach rechts schwang sich die Hälfte im inneren Ringe, die andere von außen entgegengesetzt und jeder tauschte mit allen, denen er begegnete, Schwertschlag nach Ordnung der Hiebe. Dann tauchte zwischen den blinkenden Schwertern der König hindurch, bald nach außen, bald nach innen im Kreise schwebend, mit seiner Waffe fing und erwiderte er die Schläge der anderen. Kunstvoller wurden die Verschlingungen, heftiger die Bewegungen, einer nach dem anderen wand sich wie im Kampf durch die kreisende Reihe der übrigen. Dann teilten sie sich in Haufen im Takte gegeneinander eilend und mit den Waffen streitend, bis sie zugleich je drei und je vier in der Kämpferstellung sich verflochten. Plötzlich senkten alle im großen Kreise die Schwerter zur Erde und verschränkten sie im Nu am Boden zu einem künstlichen Geflecht, das aussah wie ein Schild. Der Schwertkönig trat darauf, und die zwölf Genossen verstanden ihn auf dem Schilde aus Schwertern geformt vom Boden heraufzuheben bis über ihre Schultern, wo er stand und mit seinem Schwert den Fürsten, die Gäste und die Frauen grüßte. In gleicher Weise ließen sie ihn langsam zu Boden, lösten Eisen von Eisen und begannen aufs neue im Kreise gegeneinander [] zu springen, jetzt Sprünge und Schwertschläge schnell wie der Blitz, kaum vermochte das Auge den einzelnen Streichen zu folgen, im Wirbel flirrte der blanke Stahl und schwangen sich die Leiber der Männer unter den scharfen Waffen, die Pfeife gellte, das Sackrohr summte in wilden Klängen, die Funken sprühten von den Schwertern. So lief das Spiel der Helden in des Fürsten Halle, bis die Tänzer anhielten, wie durch Zauber gebannt, in der Stellung von Kämpfern je zwei gegenüber. Darauf begann wieder der Reigensang der Tänzer, und langsamen Schrittes, feierlich grüßend, schwebten sie beieinander vorüber und schritten im Zuge zum Saale hinaus. Um die Sitze dröhnte der Beifallssturm, die Gäste sprangen begeistert auf und riefen den Tänzern fröhlichen Dank.

In der Nähe des Fürsten erhob sich Rothari, ein Edler, und begann:

»Ich rede, wie ich denke, kunstvolleres Schwertspiel sahen meine Augen niemals bei anderen Leuten, und wir Thüringe sind auf der Männererde gerühmt wegen solcher Kunst. Dort unten aber an der Bank des Fürsten sitzt ein Fremdling, kriegerischer Werke wohl mächtig. Und wenn ich ihn nach der Tüchtigkeit schätze, die er heute erprobt hat, so würde ich ihm seinen Stuhl hoch herauf unter die Starken setzen. Doch ungleich verteilen die Götter ihre Gaben, auch ein Fremder, der seine Ahnen nicht kennt, mag ein achtbarer Kriegsmann werden. Die Leute sagen, daß zuerst aus dem Hof des Fürsten die Kunde von der Römerschlacht in unser Land geflogen sei, und da ich den Fremden sah, hielt ich ihn für den Boten; doch der Keulenwurf erwies, daß er aus dem Ostland stammt. Ich bringe dem Gaste in der Halle den Heilgruß.«

Ingo erhob sich und dankte. Da rief Theodulf laut: »Manchen sah ich springen und schwingen auf weichem Rasen, der hoher Sprünge in der Feldschlacht vergißt.«

»Recht mahnst du«, versetzte Ingo kalt, »doch manchem nagt auch Neid in der Seele, weil er selbst nicht als Höchster auf dem Rasen sich schwang.«

»Für ehrenwerter als ein Springer gilt bei uns der Mann, der seine Narben vorn am Leibe trägt«, versetzte Theodulf.

»Ich aber lernte von Alten und Weisen, daß nicht unrühmlicher sei, tiefe Wunden zu geben als zu erleiden.«

»Sicher gebührt dir die Würde eines Häuptlings, dem sein Gefolge die Schilde vorhält gegen feindliche Speere, damit sein Antlitz mairötlich daure zur Freude des Volks«, höhnte wieder der Mann des Fürsten.

»Und ich hörte manchen, der einen Schwertschlag empfangen, darüber glucksen wie ein Huhn über ein Ei«, versetzte Ingo verächtlich.

»Ruhmlose Wunden auch birgt das Hemde, die Spuren der Streiche, die den Rücken bedrängten«, rief Theodulf mit flammendem Angesicht.

[] »Ruhmlos nenne aber ich die boshafte Zunge, die in der Halle nach dem Gastfreund sticht. Nicht ehrenwert dünkt mir solche Rede, dem Thüring geziemt nicht der falschen Römer Brauch.«

»Kennst du so gut den Brauch der Römer«, rief vom andern Tisch ein wilder Kriegsmann aus Theodulfs Freundschaft, »so hast du auch wohl ihre Streiche gefühlt.«

»Im Kampfe stand ich den Römerkriegern«, rief Ingo, sich vergessend. »Frag dort im Lager nach deinen Gesippen, nicht jeder gibt dir Antwort, der meinem Schwerte genaht.«

Laute Schreie füllten die Halle, als der Fremde verriet, daß er gegen die Römer gestanden hatte. »Gut sprachst du, Fremder«, schrie es von allen Seiten, und wieder an anderen Tafeln: »Übel prahlt der Fremde, hoch Theodulf!«

Der Fürst erhob sich und rief mit mächtiger Stimme: »Den Wortkampf stille ich, an den Frieden mahne ich im festlichen Saal.« Da verstummten die lauten Rufe, aber der Streit der Meinungen schwebte geräuschvoll um alle Tische, die Augen flammten und starke Hände hoben sich. Während dem Gewirr sprang ein Jüngling aus dem Gefolge des Häuptlings die Stufen herauf und schrie in die Halle: »Volkmar, der Sänger, reitet in den Hof.« »Er sei willkommen«, rief der Fürst. Und zu dem Sitz der Frauen gewandt, fuhr er fort: »Irmgard, mein Kind, begrüße deinen Lehrer und geleite ihn zu unserem Tisch.« So befahl der kluge Wirt, um die Hadernden an die Gegenwart der Frauen zu mahnen. Seine Worte wirkten wie eine Beschwörung auf die brausende Menge, die düstern Mienen wurden hell und mancher ergriff den Krug und tat einen tiefen Trunk, um ein Ende zu machen mit seinen Gedanken und sich vorzubereiten auf das Lied des Sängers. Irmgard aber trat aus der Laube und schritt durch die Reihen der Männer zu der Schwelle. Auf den Stufen des Saals stand gedrängt die Jugend des Dorfes und starrte neugierig in die Halle. Da durchschritt Irmgard den Haufen und erwartete im Hofe den Sänger, der sich unter einem der Dächer zum Fest gerüstet hatte. Mit ehrbarem Gruß kam er auf sie zu, ein Mann von mäßiger Größe mit leuchtenden Augen, das krause Goldhaar mit Grau durchzogen, zierlich trug er seinen Überwurf von buntem Tuch, die nackten Arme mit Goldringen geschmückt, eine Kette um den Hals, das Saitenspiel in der Hand.

»Du kommst zu guter Stunde, Volkmar«, rief ihm die Jungfrau zu, »sie sträuben sich gegeneinander, es tut not, daß dein Lied ihnen das Herz erhebt. Bewähre heut deine Kunst, und wenn du kannst, singe ihnen Frohes.«

»Was hat ihnen den Sinn verstört?« fragte der Sänger, der gewöhnt war, seine Kunst wie ein kluger Arzt zu spenden. »Ist's wieder der wilde Hofhalt des Königs Bisino, dem sie grollen, oder streiten sie um die Römerfahrt?«

[] »Die jungen Männer halten nicht Frieden«, antwortete das Herrenkind.

»Ist's nichts weiter?« versetzte der Sänger gleichgültig. »Es wäre vergebene Müh', ihre Waffengänge auf grüner Heide zu hindern.« Da er aber die ernste Miene der Jungfrau erkannte, fügte er hinzu: »Sind's die Tollköpfe vom Hofe, dann, Herrin, fürchte ich, daß mein Lied ihren Neid nicht zu tilgen vermag. Könnte ich dein freundliches Lachen in ein Lied fassen und jedem in das Ohr singen, so würden sie alle mir folgen wie die Lämmer. Doch was ich heute bringe«, setzte er mit verändertem Tone hinzu, »ist so schwer, daß sie darüber ihren Streit sicher vergessen. Es ist üble Zukost für ein Festmahl. Dennoch muß ich hinein, ihnen die Mär verkünden, ich weiß nicht, ob sie sich dann noch Sang begehren.«

»Willst du beim Mahl die Trauerbotschaft sagen?« fragte die Jungfrau sorglich, »das macht ihnen den Mut vollends schwer und empört sie in Zorn.«

»Du kennst mich ja doch«, versetzte der Sänger, »ich gebe ihnen nur so viel, als sie vertragen können. Wen hat der Fürst zur Halle geladen?«

»Es sind unsere alten Landgenossen.«

»Sind Fremde darunter?«

»Niemand«, versetzte die Jungfrau zögernd, »als ein armer Wanderer.«

»Dann sei ohne Sorgen«, schloß der Sänger, »das Gemüt der Unseren kenne ich und wie man ihnen den Abendtrunk mischt.«

Während die Jungfrau durch eine Seitentür in die Laube stieg, betrat der Sänger die Halle. Als er auf der Schwelle stand, erscholl ein Zuruf und Gruß, der laut von der Decke widertönte. Stolz empfand Volkmar, daß er ein Günstling war, er trat mit behendem Schritt in den freien Raum vor den Tisch des Häuptlings und verneigte sich tief gegen ihn und die Herrin.

»Sei tausendmal gegrüßt, du Geliebter des Volkes!« rief ihm der Fürst entgegen, »die Vögel unseres Gaues, die im Winter geschieden waren, singen längst ihr Sommerlied, nur den Sänger der Helden haben wir vergeblich ersehnt.«

»Nicht die Vögel hörte ich in der Luft den Sommer verkünden, die Kriegshunde des Gottes hörte ich heulen im Winde und die bunte Wolkenbrücke erblickte ich, auf der die Helden in endloser Schar zu der Halle der Götter hinaufzogen. Den Rheinstrom sah ich dahinfließen in roten Wellen, bedeckt mit Leibern der Männer und Rosse, die Walstatt schaute ich und das blutige Tal, wo die Hügel der Erschlagenen liegen zum Fraß für die Raben, und Könige weiß ich mit gefesselten Gliedern im Römerlager den Beilschlag erwartend.« Ein lauter Aufschrei folgte diesen Worten. »Erzähle, Volkmar, wir hören«, sagte der Fürst.

[] Der Sänger fuhr durch die Saiten, und es ward so still in dem Raum, daß man die tiefen Atemzüge der Gäste vernahm. Darauf rührte er die Saiten und begann zuerst erzählend, dann mit gehobener Stimme und melodischem Tonfall singend seinen Bericht von der Schlacht zwischen den Alemannen und Römern. Er nannte die Namen der Könige und Königskinder, welche mit den Alemannen über den Rhein dem Cäsar entgegenzogen und zuerst die Reiter der Römer in die Flucht schlugen und dann die erste Schlachtreihe. Darauf sang er: »Hinter die zweite Reihe der Römerscharen ritt gebietend auf seinem Rosse der Cäsar, über ihm schwebte als Banner das Drachenbild, der Riesenwurm mit gewundenem Leib, das heilige Schlachtzeichen der Römer, purpurrot war der Wurm und aus dem aufgesperrten Rachen fuhr die züngelnde Flamme. Und der Cäsar rief die Bataver vor und die Franken: ›Herauf, ihr Germanenhelden, nicht zwingen meine Welschen den Sturm der Feinde.‹ Der Herold ritt, und die Franken hoben sich helleuchtend vom Boden, nach Scharen geordnet, mächtig schwang Aimo, Arnfrieds Sohn, das Schwert in dem Vorkampf.«

»Das ist mein Bruder!« rief es von einem Tisch. »Heil Aimo!« dröhnte es in einer Ecke des Saals.

»Sie zogen heran in geraden Reihen, die weißen Schilde mit dem Stierbild geschmückt; hart war der Drang, wie Feuerflammen den Heidegrund, so räumte ihr Schwert die Walstatt vom Sturm der Alemannen. Doch in neuem Keil sprangen die Alemannen herein, voran die Könige, und wieder wichen die Römer. Da mahnte der Cäsar seine letzte Schar, die im Römerheer der Dornhag des Feldherrn heißt.«

»Archimbald!« rief es wild in dem Saale. »Eggo!« von einer anderen Seite.

»Dort stand als Führer über hundert Mann ein hünenhafter Gesell, der Thüring Archimbald, und Eggo, sein Bruderssohn, wohlerfahren im Kriegsbrauch der Römer. Sie stemmten das Knie im Boden fest, sie deckten den Leib mit dem Lindenschild und wehrten als dreifache Schildburg mit starrenden Speeren. Und wieder brachen die Alemannen heran, die Schilde krachten im Hieb der Äxte, die Speere fuhren durch Rüstung und Leib, die Toten sanken in langen Reihen und über die Leiber der Gefallenen drängte der Schwall, Schild an Schild, und Brust gegen Brust, wie Kampf der Stiere in umhegtem Pferch. Da schied sich das Schlachtenglück von den Alemannen, sie fuhren rückwärts, ihnen graute vor dem Hauf der sterbenden Genossen. Die Sonne sank, und das Kriegsheil schwand. Die gelösten Scharen wälzten sich flüchtig zum Ufer des Stromes, und hinter ihnen stürmten mit Messer und Speer die Römer wie die Meute hinter dem Hirsch; in den Rhein hinab sprang das flüchtige Volk, die Sieger am Ufer mit lautem Geschrei warfen die Speere in ein [] wildes Gewühl von Männern und Rossen, von toten Leibern und ertrinkenden Helden. Der Nix des Stromes streckte die Krallenhände umher und zog die Helden zur Tiefe in seine Behausung.«

Der Sänger hielt an, ein lautes Stöhnen ging durch die Versammlung, nur einzelne Heilrufe erklangen da zwischen; der Fürst hörte gespannt auf die Ausbrüche des Schmerzes und der Freude. Dann fuhr Volkmar fort, indem er die Trauerklänge mit kräftiger Weise vertauschte: »Der Cäsar trat an den Uferrand und sah lachend hinab in der Männer Not. Er rief seinem Bannerträger, der den Drachen trug, das rote Scheusal aus Purpur gewirkt, darin ein Gott der Römer gefügt den Siegeszauber, den Tod der Feinde: ›Laß schweben den Drachen über der Flut, daß er seine Zähne zeige und die flammende Zunge dem sterbenden Volke. In der Luft hoch fliegt er gegen die Himmelshalle der Toten, wenn sie aufsteigen auf der Wolkenbrücke, so weist er die Zähne; der Römerdrache hemmt ihnen die Reise, daß sie abwärtsfahren den Weg der Fische, hinab in das Dunkel zu Helas Tor.‹ Da rächte den Hohn der letzte Held, der mit den Waffen die Römer bestand, Ingo, Ingberts Sohn von Vandalenland, der Königsohn aus Göttergeschlecht. Er hatte gekämpft an König Athanarichs Achsel, voran im Kampfe, ein Schrecken der Römer. Da das Schlachtenglück sich wendete, schritt er zurück mit seinem Gesinde, das ihm folgte auf dem Kriegspfad von Land zu Land, langsam und zornig wie ein brummender Bär wich er zum Ufer, wo am Fuß des Felsens die Kähne lagen. Dort trieb er zusammen die Frauen des Heers, die Schicksalsverkünderinnen, die Blutbesprecherinnen, und zwang sie zur Abfahrt, daß die heiligen Mütter dem Schwerte der Römer entrannen. Auch den Sänger drängte er hinab in den Kahn, und er selbst umschanzte hochherzigen Sinnes die Stelle der Abfahrt mit Waffe und Leib. Gelöst war das Leitseil, die Kähne schwebten, umschwirrt von den Speeren der Römer auf grüner Flut; die Feinde drängten und mühsam kämpfte die Schar am Fuß des Felsens den letzten Kampf. Da schaute der Held auf dem Steine über seinem Haupt den Drachen des Cäsar, den grimmigen Wurm, und im Sprunge durchbrach er die Wachen des Römers; er sprang auf den Stein, mit Bärengriff faßte er den Riesen, der das Banner trug, und warf ihn vom Felsen. Leblos tauchte in die Fluten der Römer, und das Banner erhebend, rief der Held gewaltig den Schlachtruf und sprang mit dem Drachen hinab in den Strom. Ein Wutgeschrei gellte aus Römermunde; die bittere Schmach vor den Augen des Cäsar zu rächen, den Kühnen zu schlagen, das heilige Zeichen der Römer zu retten, warf Mann und Roß sich wie toll in den Strom. Doch abwärts trieb im wirbelnden Strome der rote Drache, der siegreiche Held. Noch einmal sah ich den Arm ihn heben und schütteln das Banner, dann sah ich ihn nimmer. Der Cäsar ließ suchen an des Stromes Rand auf beiden Ufern mit trübem Sinn; zwei Tage [] darauf fand weit abwärts ein Späher am Alemannenufer gebrochen den Bannerspeer, den Drachen des Feindes brachte keiner zurück. Da kehrte den Männern an den Ufern des Rheins der Mut in die Seelen, der Siegeszauber des Cäsar war im Strome verloren und vergeltendes Unheil nahte dem Römerheere. Gesandte der Katten, die aufwärts kamen, um dem Römervolk Bündnis zu bieten, sie hemmten die Reise, da sie erfuhren das böse Vorzeichen. Gerochen war der Hohn des Siegers durch starken Arm, und geschwunden von der Männererde König Ingo, der Held.«

Der Sänger schwieg und beugte das Haupt über das Saitenspiel, still war es in der Halle, wie nach einer Totenklage, die Augen der Männer glänzten, und in den Gesichtern arbeitete die Bewegung. Aber in keinem mehr als in dem des Fremden. Da der Sänger eintrat und im Vorübergehen sein Gewand berührte, hatte er das Haupt niedergebeugt und, wie sein Nachbar Wolf ohne Freude wahrnahm, an dem Bericht des Sängers weniger teilgenommen, als einem Krieger schicklich war, und die Bankgenossen hatten auf ihn gewiesen und spottende Worte getauscht. Als aber der Sänger von dem Kampf um das Drachenbild begann, da hob er das Antlitz, ein rosiges Licht flog über seine Züge, und so strahlend und verklärt war der Blick, den er nach dem Sänger warf, daß, wer auf ihn sah, die Augen nicht abwenden konnte, wie ein Goldschein hob sich das helle Lockenhaar um das begeisterte Antlitz. Und als der Sänger schwieg, saß er noch unbeweglich.

»Sieh dorthin, Volkmar«, rief eine tiefe Frauenstimme vor Bewegung zitternd, und alle Blicke folgten der Richtung, nach welcher die Hand Irmgards wies, die hoch aufgerichtet in der Laube stand.

Der Sänger fuhr empor und starrte nach dem Fremden: »Der Geist des Stromes gab den Helden zurück«, rief er entsetzt, doch gleich darauf sprang er vor: »Selig ist der Tag, an dem ich dich schaue, Held Ingo, Ingberts Sohn, du mein Retter, der letzte Kämpfer in der Alemannenschlacht.«

Die Gäste fuhren von ihren Sitzen, die Halle erdröhnte vom Jubelruf. Der Sänger stürzte auf Ingo zu, beugte sich auf seine Hand und rief: »Leibhaftig halte ich dich. Niemals ward meinem Liede so schöner Lohn.« So führte er den Fremden an den Tisch des Fürsten, der ihm mit nassen Augen entgegeneilte: »Gesegnet seist du, heldenhafter Mann, heut fällt mir schwere Last vom Herzen, ich wußte wohl, nicht läßt sich bergen des Helden Ruhm. Sei gegrüßt in meinem Hause, du Gastfreund aus der Väter Zeit. Rückt den Sessel, Knaben, daß der Fürst sich den Edlen meines Volks geselle. Trage Wein herzu, Schenk; im Festbecher, mit dem Römertrank aus Römergolde trinken wir Heil dem königlichen Helden, dem Sohn unserer Götter.«

[]

Offene Herzen

Am frühen Morgen schritt Irmgard durch das tauige Gras dem Walde zu. Weißer Nebel wallte am Boden und hing wie Gewand der Wassergeister um die Bäume. Aus dem Dampf der Wiese hob sich die helle Gestalt der Jungfrau, sie sang und jauchzte mit geröteter Wange und langflatterndem Haar, selig im Herzen; so fuhr sie durch die wirbelnden Wolken dahin, einer Göttin der Flur vergleichbar. Denn sie hatte gehört und geschaut, was Heldentum heißt und was den Mann emporhebt aus den Schrecken des Todes in die Gesellschaft der hohen Götter; alle Landgenossen hatten sich vor der Heldenkraft des einen geneigt, der ihr heimlich gefiel und vertraulich war wie kein anderer. Sie stieg den Bergweg hinauf bis zu der Stelle, wo die Halle des Vaters hinter dem Baumlaub verschwand; dort stand sie allein zwischen Wald und Fels, unter ihr rauschte der Gießbach, über ihr schwebten die Lichtwolken des kommenden Tages. Sie trat auf den Stein und sang dem Felsen und dem rauschenden Wasser die Weise des Sängers und die Worte des Liedes, die sie in der Halle gehört. Sie kündete freudig, was ihr von der Kunst des Volkmar im Gedächtnis haftete, und als sie zum Sprung in den Rhein kam, gefiel er ihr sehr, sie sang in der Begeisterung: »Ihr klugen Vögel auf den Bäumen, Boten der Götter, und ihr kleinen Elbe unterm Farnstrauch, hört es noch einmal.« Und sie wiederholte die Worte. Und als der Held zuletzt im Strome verschwand, wurde ihr sein Verschwinden traurig, und da sie ein sinnvolles Weib war, so ergoß sich ihre Bewegung in neuen Worten, und sie sang noch eine Klage des Sängers. Über dem Rufen der Waldvögel und dem leisen Klingen des Bergquells tönte das Lied des jungen Weibes mächtig vom Felsen zurück.

Da rollte in ihrer Nähe ein Kiesel zum Bach, sie sah zur Seite und erkannte abseit eine Gestalt, die, eingehüllt in das luftige Gewebe der Nixen, unter ihr an einem Baumstamm lehnte; der Held, dessen Ehre sie dem Walde verkündet, stand leibhaftig in ihrer Nähe, und als sie erschrocken zurücktrat, vernahm sie seine bittende Stimme: »Singe weiter, o Jungfrau, daß ich aus deinem Munde höre, was glücklich macht. Lieber als alle Kunst Volkmars ist mir der Ton aus deiner Kehle. Denn als der Sänger sang und die Halle vom Zuruf der Männer dröhnte, da dachte ich immer an dich, und die stolzeste Freude war mir, daß du die Kunde vernahmst.«

»Im Schrecken über deinen Anblick schwinden die Worte«, antwortete Irmgard und suchte sich zu fassen, als er ihr näher trat. »Unter dem Holunderbaum war ich mutiger, dich anzureden«, fuhr sie endlich fort, »doch auch damals bedurftest du, o Held, wenig meines Rates, und wenn ich daran gedenke, muß ich mich über meine Torheit wundern; verspotte du mich darum nicht. Denn geradeaus geht die Rede unter uns Waldleuten, und einfältig sind unsere [] Gedanken. Mir aber tut weh, daß du zweimal aus meinem Munde gehört hast, was du schon weißt; hätte ich dich gekannt, wie du bist, so hätte ich meine gute Meinung ehedem dir besser verborgen, und auch heute bedrückt mich die Scham, weil du mich belauschtest.«

»Verhehle mir nicht, Irmgard«, flehte der Gast, »wenn du huldvoll gegen mich gesinnt bist, denn glaube mir, selten hört ein Gebannter herzliche Rede aus dem Mund einer guten Frau. Auch wenn der Sänger ihn preist und der Wirt ihm zutrinkt, dennoch steht er ausgeschlossen vom Geschlecht und der Freundschaft; schwerlich gewährt dem Güterlosen ein ansehnlicher Mann seine Tochter als Ehegemahl, und keine Söhne läßt der Flüchtling auf der Erde zurück, die seiner Taten sich rühmen.«

Irmgard sah ernsthaft vor sich nieder.

»Du aber«, fuhr Ingo fort, »dulde, daß ich dir bekenne, was ich Geheimes auf der Seele trage. Verachtest du mein Vertrauen nicht, so sitze hier auf dem Stein, damit ich dir's künde.«

Irmgard saß gehorsam nieder, der Mann stand vor ihr und begann: »Vernimm, was mir nach der Alemannenschlacht geschah: Die Sterne schienen, ich lag todmüde am kiesigen Ufer des Stromes, das rote Band des Römers um den kraftlosen Arm geschlungen, der Nachtwind stöhnte die Totenklage, die Wellen rauschten, kalt war der Leib und betäubt das Hirn. Da neigte sich ein gramvolles Antlitz über mich, die Schicksalsverkünderin war es der Alemannen, ein weises Weib, die Vertraute der Götter. ›Dich suche ich, Ingo, unter den Leibern der Männer, daß ich dir dein Leben bewahre, wie du mir das meine.‹ Sie zog mich vom Ufer empor, bedeckte die Glieder mit warmer Hülle und bot mir heilkräftigen Trank; darauf riß sie den Langspeer vom fremden Banner und warf betend den zerbrochenen Stab zurück in den Strom. Im Waldesdickicht barg sie den Müden und saß bei dem Lager wie eine Mutter Nacht und Tag. Beim Abschied ergriff sie das Purpurzeichen und sprach: ›Hier weise ich die Fäden, die dein Schicksal lenken, die Götter lassen dem Helden die Wahl. Wirfst du von dir den Zauber, den Römer gesponnen, so magst du altern in friedlicher Stille, verborgen im Volke, geduldig im Leben und schicksalsfrei. Doch bewahrst du das Purpurbild mit tückischen Augen und feuriger Zunge, dann singt wohl unter den Kriegern der Sänger dein Lob, gewaltig lebt dein Gedächtnis bei andern; doch fürchte dich, der Drache verbrennt dir dein Glück und den Leib. Wähle jetzt, Ingo, denn die Götter teilen dem Mann sein Schicksal nach seinen Gedanken, und aus seinen Taten fallen die Lose, die schweren und leichten, wie er geworfen, so wird sein Geschick.‹ Da sprach ich: ›Längst, liebe Mutter, warfen die Götter und die Taten der Ahnen mir mein Erdenlos, von den Göttern kam ich zur Menschenerde, ruhmloses Dehnen auf weichen Fellen vermag ich nicht zu küren, du weißt es ja selbst; im Vorkampf mit meinen [] Genossen zu schreiten, die Männer der Erde hinaufzuführen zum Wolkensaal der Helden, das ist mein Amt. Bin ich auch ein Fremdling bei fremden Geschlechtern, ich fürchte dennoch nicht den weisenden Finger der Schicksalsfrau, mit festem Herzen will ich unter den Helden schreiten, meinem Mannesmut will ich fröhlich vertrauen. Bringt auch Haß mir der Drache: der Ruhm schafft Freunde, nimmer berge ich mein Haupt vor dem Licht der Sonne.‹

Da nahm die Mutter den Purpur zur Hand, sie trennte die Häupter des Drachen vom gewundenen Leibe, die Häupter behielt sie, das Gewebe des Leibes warf sie in die Flamme des Herdes. ›Vielleicht löse ich so das drohende Unheil von deinen Tagen‹, sprach sie am Herde. Die Flamme schlug hoch auf, mißfarbiger Qualm erfüllte den Raum, sie stürzte hinaus und riß mich ins Freie. Dann band sie die Häupter mit biegsamer Weide, knüpfte die Knoten, raunte das Lied und bot mir den Bund in lederner Tasche, damit ich ihn heimlich vor jedem bewahre. ›Es schützt vor dem Wasser, nicht wahrt's vor dem Feuer, dein Leben befehle ich in der Götter Hut.‹ So wies sie mich nordwärts mit Reisesegen.

Dies, Jungfrau, ist das Geheimnis meines Lebens, dir künde ich's gern. Was die Götter mir fügen wollen, weiß ich nicht, dir aber vertraue ich, was sonst keiner weiß. Denn seit ich in das Land kam und dich schaute, ist mir der Sinn geändert, und mir dünkt besser, neben dir zu sitzen oder zu Roß über die Flur zu reiten, als mit den Geiern dem Schlachtgetümmel nachzuziehen. Sehr gewandelt sind meine Gedanken, und der Mut wird mir schwer bedrückt, weil ich ein unsteter Mann bin, denn sonst kümmerte mich mein Schicksal nicht sehr, meinem Arm vertraute ich und einem günstigen Gott, der den Verbannten vielleicht dereinst in die alte Heimat zurückrufen würde. Jetzt aber sehe ich, daß ich dahinfahre wie dieses Fichtenreis auf seiner Scholle über die rinnende Flut.« Er wies auf einen jungen Fichtenbaum, der vom Bergwasser mit Moos und Erde losgerissen war von seinem Standort und aufrecht durch die Wasserwirbel dahinfuhr. »Kleiner wird die Scholle«, sagte Ingo ernsthaft, »die Erde bröckelt ab, zuletzt vergeht er zwischen den Steinen.« Irmgard erhob sich und folgte mit gespanntem Blick der Bahn des wilden Strauches; er fuhr talab, drehte sich im Strudel und schnellte vor wärts, bis er zwischen Nebel und Flut fast unsichtbar wurde. »Er steht«, rief sie endlich frohlockend und sprang am Bach hinab, der Stelle zu, wo der Baum an einer vorspringenden Landzunge haftete. »Sieh her«, rief sie dem Mann, »hier grünt er an unserem Ufer, wohl möglich ist es, daß er fest an das Land wächst.«

»Du aber«, rief Ingo hingerissen, »sage mir, ob dir das lieb wäre.«

Irmgard schwieg.

Da brach über der Wolkenwand die Sonne hervor, ihre Strahlen verklärten die helle Gestalt der Jungfrau, das Haar glänzte wie [] Gold um Haupt und Schultern, während sie mit niedergeschlagenen Augen, die Wangen gerötet, vor dem Manne stand, Ihm hob sich das Herz in Freude und Liebe, ehrfürchtig trat er an sie heran, sie blieb wie festgebannt, regte leise die Hand zur Abwehr und murmelte bittend: »Die liebe Sonne sieht's.« Er aber küßte sie herzlich und rief der lachenden Sonne zu: »Sei gegrüßt, milde Herrin des Tages, sei uns gnädig und bewahre vertraulich, was du schaust.« Er küßte sie wieder und fühlte ihren warmen Mund gegen den seinen. Doch da er sie umschlingen wollte, hob Irmgard den Arm, sie sah ihn mit heißer Liebe an, aber ihre Wange war erblichen, und sie wies ihn mit einer Handbewegung aufwärts nach den Bergen. Er gehorchte und sprang von ihr, und als er sich rückwärtsschauend nach ihr wandte, hatte die Lichtumflossene sich vor dem Bäumchen auf die Knie geworfen und hielt die Arme flehend zum Himmelsschein empor.

An demselben Morgen gesellten sich die Edlen und Weisen, Führer der Gemeinden und bewährte Krieger im Hause des Herrn Answald und saßen nieder auf den Sesseln, die ihnen zu beiden Seiten des Herdes gereiht waren. In der Mitte nahm der Wirt seinen Sitz, hinter seinem Stuhle stand Theodulf. Der Sprecher schloß die Tür, und der Fürst sprach zu der Versammlung: »In mein Haus ist gekommen Ingo, König Ingberts Sohn, durch Gastfreundschaft mir verbunden von den Vätern her. Heut begehre ich für ihn das Gastrecht des Volkes, damit er sicher sei nicht allein in meinem Hause, auch in eurem Lande vor Feinden aus der Fremde und im Volke, daß er Recht finde gegen Missetäter und Schutz durch die Waffen der Nachbarn gegen jeden, der ihm feindlich trachtet nach Ehre und Leben. Als Bittender steh' ich vor euch für den werten Mann, bei euch steht es, zu geben oder zu weigern.« Nach den Worten entstand tiefe Stille; endlich erhob sich Isanbart, lang hing ihm das schneeweiße Haar um das narbige Antlitz, die hohe Gestalt stützte sich auf den Stab, aber kräftig tönte die Stimme des Greises, und achtungsvoll lauschten die Männer: »Dir, Fürst, ziemt es zu sprechen, wie du getan. Wir sind gewöhnt, daß du dem Volke gibst, und wenn du von dem Volke bittest, so sind unsere Herzen bereit zur Gewährung. Ruhmvoll ist der Mann, und daß er selbst es ist und nicht ein lügender Landfahrer, dafür bürgt das Lied des Sängers, ein gastliches Zeichen, das er mit seinem Wirte verglichen hat, und über dem anderen seine Würde in Antlitz und Gliedern. Aber wir sind zu Wächtern bestellt über das Wohl von vielen, und zur Vorsicht mahnt die sorgliche Zeit, deshalb ziemt uns ernste Beratung und Ausgleich der Meinungen, welche etwa die Helden des Volkes zwiespältig scheiden.«

Er setzte sich, und die Nachbarn nickten ihm ehrfürchtig zu. Aber heftig erhob sich Rothari, ein Edler aus dem alten Herrengeschlecht, [] ein dicker Mann mit rotem Antlitz und rötlichem Haar, ein rühmlicher Zecher, auch wacker im Männerkampf und lustig im Reigen, ihn nannten die Knaben im Spott König Pausback: »Ein Rat am Morgen soll wie ein Frühtrunk sein, kurz und kräftig. Ich meine, hier braucht es nicht lange Erwägung, wir haben ihm neulich beim Weintrunk Heil gerufen, wir werden ihm heute nicht Wasser in seinen Krug schütten, er ist ein Held, der zwei gute Bürgen hat, das Lied des Sängers und unser Wohlgefallen, das ist mir genug, ich gebe ihm mit meiner Stimme das Gastrecht.«

Die Alten lächelten über den Eifer des Treuen, und die Jüngeren riefen ihm Beifall zu, da stand Sintram auf, Theodulfs Oheim, ein Mann ohne Brauen, mit bleichem Auge und hagerem Gesicht, ein harter Wirt, gefährlich seinen Feinden, doch von klugem Rat und angesehen am Hofe des Königs. »Du, o Fürst, bist ihm huldreich gesinnt, und er selbst verdient es, so sagt ihr; das gibt auch mir die Richtung für meinen Wunsch, und willig würde ich ihn als Gast begrüßen, wie wir zuweilen dem fremden Wanderer tun, dessen Lob nicht der Mund des Sängers verkündet. Doch ein Zweifel bändigt mir den Wunsch in der Brust, und ich frage: Kommt er als unser Freund aus der Fremde? Nicht alle jungen Krieger des Gaues stehen auf der Heimaterde, ich denke auch derer, die nach Ruhm und Glück auswärts zogen. Wer von unseren Blutgenossen hat mit den Alemannen gefochten? Ich weiß keinen. Im Heere der Römer aber stehen kühne Schwertträger unserer Verwandtschaft, sind diese dem Fremden feind, wie dürfen wir uns seine Freunde nennen? Sind sie gefallen, so schallt in unseren Dörfern die Totenklage; wer hat sie gefällt? Vielleicht der schlachtenkühne Mann, der sich ja selbst beim Mahl dessen rühmte. Wie dürfen wir Gastrecht dem Feinde bieten, der feindlich unser Blut vergossen? Nicht weiß ich, ob er's tat, doch wenn er es nicht tat, so war's ein Zufall, seine Absicht war's, da er für den König Athanarich stritt. Im Römerheer, höre ich, rühmt man, daß der Cäsar seine Siege allein den Volksgenossen verdankt, welche unsere Sprache reden; wie Riesen stehen die rotwangigen Söhne unseres Landes über den schwarzäugigen Fremden. Der Cäsar lohnt ihnen durch Armringe und Ehren, durch die höchsten Ämter. Fragt nach einem gewaltigen Kriegsmann und stolzen Herrn in Rom, dann sagen die römischen Händler mit neidischem Blick: Germanenblut sind sie. Wo soll unsere Jugend des Krieges Ehre finden und Liebe bei den Göttern, wenn friedlich im Lande die Waffen rosten? Die Überkraft unserer Gaue – wohin soll sie ziehen, damit die Brüder daheim das Erbe genießen, wenn nicht der Cäsar sein Schatzhaus den Wanderern öffnet? Darum sage ich, nützlich ist uns sein Reich, und wer gegen ihn kämpft, steht auch gegen unseren Vorteil. Sehet zu, daß der Fremde unseren Männern nicht den Pfad sperre, welcher hochsinnige Helden zu Goldschatz und Ehre führt.«

[] Finster saßen die Männer, ihnen war zur Trauer, daß er Wahrheit sprach. Doch das Schweigen brach Bero, der Vater Fridas, ein hartknochiger Bauer, die buschigen Brauen zog er mißvergnügt zusammen: »Du sandtest den Bruder ins Heer der Römer«, sprach er rauhstimmig und langsam, »du sitzest gemächlich auf seinem Erbe, mich wundert nicht, daß du die fremde Brut lobst. Der Bauer aber freut sich nicht der trotzigen Gesellen, die von ihrer Speerreise aus dem Römerland heimkehren, denn üble Landgenossen werden sie, Verächter unserer Sitte, Prahler und Lungerer. Darum sage ich, ein Unheil sind die Römerfahrten unserm Volke. Ziehen unsere jungen Krieger in den Lagerdienst des fremden Feldherrn, sie tun's auf eigene Gefahr, nicht hat das Volk sie dazu erkoren und geweiht. Ich rühme mir seßhaftes Hausen daheim, ehrlichen Axtschlag und darauf ehrlichen Frieden mit den Nachbarn, welche meine Götter und meine Sprache ehren. Jetzt haben wir Frieden mit jedermann, kommt heut ein Alemanne an unseren Herd, ein wackerer Gesell, wir lagern ihn am Feuer, kommt morgen ein Römerkrieger, der uns ehrlich dünkt, wir tun vielleicht dasselbe. Beide müssen sie bescheiden leben nach unserem Recht, und mögen sie einer dem anderen die Luft und des Herdes Flamme nicht gönnen, so laßt sie ihre Schwerter nehmen und außerhalb des Dorfzaunes ihren Streit auskämpfen. Die Schläge sind ihre Sorge, nicht unsere. Darum spreche ich so, hier ist ein heldenhafter Mann, ob Römer, ob Vandale, er sei willkommen an unserer Bank, die Hauswirte bleiben wir und bändigen ihn, wenn er des Landes Frieden stört.«

Er sprach's und setzte sich trotzig auf seinen Schemel, beistimmend murmelten die Alten. Da erhob sich Albwin, ein edler Mann; sie sagten, daß ein Hausgeist im Balkendach seines Hofes wohne seit der Väterzeit und in der Nacht die Kinder des Geschlechtes wiege, und daß diese darum nicht zu dem Himmel wüchsen, wie die anderen Menschen; denn zierlich und klein waren alle seines Blutes, doch artig von Gebärden und guter Worte mächtig. Und er sprach: »Vielleicht vermagst du selbst, o Fürst, die Meinung der Herren und Nachbarn zu versöhnen; sie alle gönnen das Beste dem Helden, der aus dem Kriege zu deinem Herde kam. Sie sorgen nur, daß er vielleicht einst die Landgenossen durch sein Schicksal beschwere. Denn es ist erlauchtem Mann eigen, nicht träg unterm Dach des Wirtes zu liegen, er sammelt sich Anhang und schafft sich Gegner; je größer eines Mannes Ruf das Land durchdringt, desto gewaltiger zieht er die Genossen in seine Wege. Wir sind nicht so karg, daß wir die Tage zählen, während denen wir einen Wanderer in der Halle bergen, doch kennen wir des Helden Meinung nicht; und darum sei es mir vergönnt, den Wirt zu fragen. Ist es dem Fremdling nur um kurze Ruhe und Gemach zu tun, dann braucht's nicht der Beratung. Will er die Tage seiner Zukunft in dem Volke beschließen, seinen Saal sich [] zimmern auf unserem Boden, dann mögen wir nicht nur das Heil des Fremden, auch das unsere klug bedenken.«

»Du mahnst mit Grund«, versetzte ernst der Fürst, »und doch muß ich deiner Rede die Antwort weigern; du selbst weißt, nicht ziemt dem Wirt, die Stunde der Abfahrt aus dem Gast zu spähen, und dürfte ich's, hier würde ich es nimmer tun, denn aus dem Elend kommt der edle Mann, er selbst weiß nicht, ob die Heimkehr ihm bald oder ob sie ihm niemals vergönnt ist.«

Wieder hob sich Rothari, der ungefüge Mann, und sprach im Zorn: »Was soll das Markten mit der Zeit, wir Thüringe, wenn wir die Herzen öffnen, tun's nicht auf Zeit. Gebt ihm das Gastrecht in dem Volk und macht ein Ende.«

Laut riefen die Männer Beifall und sprangen von ihren Sitzen. Da sprang Sintram in die Mitte des Kreises und rief mit scharfer Stimme in die aufgeregte Menge: »Sieh zu, Fürst, daß nicht die Führer unseres Gaues wie Knaben hinter dem bunten Vogel hinabspringen in unerforschte Kluft; ich fordere Schweigen, wenig ist noch bedacht, was unserem Heile frommt.«

Der Fürst winkte mit seinem Stabe, unwillig setzten sich die Männer und erhoben drohendes Gemurmel gegen Sintram; aber ungerührt fuhr er fort: »Mächtig bist du, o Fürst, und scharf ist das Eisen der Landgenossen, aber Thüringe sind wir, und ein König waltet über uns, es ziemt, daß der König dem fremden Königssohne Gastrecht gibt, nicht wir.« »König Bisino, König Blaubeere?« schrien zornige Stimmen. »Will Sintram, daß ein Bote des Königs die Gelübde vorspreche, die wir am Herdfeuer sagen sollen?« rief ein finsterer Thüring.

»Der König ist der oberste Herr«, sprach Herr Answald bedächtig, »im Rat des Volkes soll sein Name mit Scheu genannt werden.«

»Wohl weiß ich«, rief der beharrliche Sintram den Drohenden entgegen, »daß wir den König nicht fragen, wenn ein wegemüder Mann, dessen Name niemand gehört hat, an unserer Bank niedersitzt; der aber jetzt gekommen, ist ein ruchbarer Krieger, ein Römerfeind. Wir kennen nicht des Königs Sinn, ob ihm der Fremde nütze oder schade, und ob er, der des Volkes Frieden bedenkt, unser Gastrecht lobe oder schelte.«

Da erhob sich Turibert, der Opferpriester, der zur Rechten des Fürsten saß, und begann mit lauter Stimme, die mächtig unter dem Balkendach tönte: »Du fragst, ob der König uns huldreich zunicken wird oder sein Antlitz zornig abwenden? Ich schelte deine Sorge nicht, mancher fragt ja, wie der Hase läuft und was der Uhu schreit. Ich aber künde euch, was Männern kundbar ist auch ohne Vorzeichen. Die Menschengötter haben uns als Gesetz geweiht, daß wir dem schuldlosen Fremdling Erde gönnen und Wasser, Luft und Licht. Zürnt der König, weil wir uns ehrlich halten gegen einen Bittenden, [] wir müssen's tragen, denn schwerer ist der Götter Zorn als Königs Grimm. Ist jener Mann euch Feind, weil er Römer fällte, so löscht sogleich die Herdflamme, an der er niedersitzt, und führt ihn aufwärts über den Grenzwald. Doch daß er vielleicht leidig werden könnte, vielleicht auch nicht, das zu bedenken ist nicht Landesbrauch und nicht Befehl der Götter.«

»Hört auf sein Wort«, begann aufs neue Isanbart. »Ich sah meine Söhne fallen im Schlachtendrang, auch meine Enkel sind geschwunden von der Männererde, ich weiß nicht, warum ich zurückgeblieben bin in dem Kampf zwischen Nacht und Tag, zwischen Sommer und Winter und zwischen Liebe und Zorn in den Seelen der Männer. Vielleicht aber bewahren mich die Gewaltigen hier, damit ich den Jüngeren Bericht gebe von dem Schicksal ihrer Väter. In der Vorzeit, so sagten mir die Alten, bauten alle Thüringe auf ihren Fluren als freie Männer, in Eidgenossenschaft der Gaue. Aber Zwietracht kam in das Volk, die in den Nordgauen kämpften sieglos gegen das Messer der Sachsen. Da kürten die Nordgaue sich einen König, sie richteten den hohen Stuhl auf und legten die Stirnbinde um das Haupt eines Helden, dessen Kriegsruhm kundbar war. Und ein Herrengeschlecht wurde mächtig, es baute aus dem Gestein der Ebene sich eine Steinburg und sammelte Krieger des Volkes in den Mauern. Unsere Vorfahren aber, die Waldmänner, saßen unbotmäßig auf dem Erbe der Väter, unduldsam gegen die Königsherrschaft. Lange währte der Streit unseres Gaues mit den Königsmannen. Wenn des Königs Schar gegen unseren Grenzzaun zog, dann trieben wir die Herren in den Laubwald und sahen finster zu, wie die Talleute unsere Höfe in Flammen setzten. Wir sammelten uns hinter dem Verhau und zählten die Tage, bis wir Vergeltung übten an Herden und Kriegern des Königs. Endlich bot der König gütlichen Vergleich. Ich war ein Knabe, als unsere Gauleute zuerst den Nacken beugten vor des Königs roter Binde. Seitdem sandten wir unsere jungen Männer in seine Kriege, dafür zogen die Königsmannen in unsere Reihen, wenn unser Gau mit den Gemeinden der Katten in Krieg geriet. Ungeduldig ertrugen die Könige unsere laue Huldigung, oft haben ihre Boten versucht, unsere Herden zu schätzen und die Garben unseres Ackers zu zählen, mehr als einmal ist bei euren Lebzeiten die Fehde mit den Leuten des Königs entbrannt. Gemeinsamer Vorteil zwang wieder zum Frieden, aber neidisch spähen die Berater des Königs von den Zinnen der Burg nach unserem freien Wald. Jetzt leben wir noch unversehrt; Ring und Gewand kommen aus der Königsburg an die Leiber unserer Edlen, und lauter Gruß empfängt unsere Gaugenossen in der Königshalle. Dennoch warne ich, daß wir nicht fügsam uns gewöhnen an Herrendienst, daß wir nicht fragen und König Bisino nicht Antwort sende, daß wir nicht bitten und ein Herr uns Gnade gewähre. Denn jeder Vorwand, die Macht zu [] zeigen, ist am Königshofe willkommen. Ob den Königsleuten der fremde Mann lieb oder leid sei: wenn wir sie fragen, uns schaffen sie Leid. Fragen wir jetzt wegen des Gastrechtes und erbitten Gewähr, so trägt uns morgen ein Königsbote Befehle zu. Darum deucht mir besser, wir bleiben, so wie wir zuvor gewesen. Den Gast zu befrieden ist unser Hausrecht, nicht Recht des Königs. So sei es geendet. Da ich ein Mann war in der besten Kraft, da ward ich dem Vater unseres Wirtes ein Reisegenosse, ich stand im Kampf an der Schwertseite jenes Helden, dessen Sohn jetzt an unserem Herde harrt. Ein milder Mann, hochmutig und stark war der Vater, und ich sehe, der Sohn ist von gleichem Schlag. Als ich den jungen Helden jüngst beim Spiele fand, da wurde wieder Traum aus alter Zeit lebendig, ein Freundesauge sah ich, nicht das eines Fremden, die Hand des Königs, die ich einst in der Fremde berührt, ich hielt sie aufs neue; und darum möchte ich ihm werben die Neigung des Volks, den Sitz an unserer Bank.« Der Greis setzte sich langsam nieder, aber um den Herd scholl lauter Ruf, die Schwerter rasselten in den Scheiden: »Heil Isanbart, Ingo Heil! Wir geben ihm das Gastrecht!«Der Fürst erhob sich und schloß die Beratung: »Ich danke den Freunden und Landgenossen. Was hier verhandelt wurde, sei gesprochen und abgetan, und keiner trage dem anderen Groll nach um verklungenes Wort; denn den Häuptern des Volkes ziemt einmütiger Beschluß, damit im Ring der Landgemeinde nicht Zweifel und Zwist den Frieden störe.«

Herr Answald ging von Mann zu Mann und nahm von jedem darüber den Handschlag, auch Sintram schlug ein und lächelte vertraulich, als der Fürst ihn ansah. Rothari aber schlug ein, daß es schallte, und rief dabei: »Mich freut's«, und bei den Worten des rührigen Mannes ging ein Lächeln über die ernsten Gesichter. Der Sprecher öffnete die Tür, und die Helden schritten würdig aus dem Hofe auf die Wiese, wo der Ring der Landgenossen versammelt war. Dort wurde durch Zuruf der Menge dem Fremden das Gastrecht des Volkes erteilt, sie luden ihn in den Ring und geleiteten ihn darauf nach heiligem Brauch zu dem großen Herdkessel des Fürsten. Über dem Kessel sprachen die Häupter des Volkes und Ingo einander den Eidschwur.

Der Fürst aber begann zu dem Gaste: »Beschworen ist das Bündnis, und ein Haus in meinem Hofe wird dir, Held Ingo, bereitet, damit du darin Gemach habest, solange es dir gefällt. Du selbst aber bestelle dir den Kämmerer; wähle dir unter meinen Bankgenossen einen, welcher dir behagt, nur Hildebrand, den Sprecher und Theodulf, der selbst von edlem Geschlechte ist, möchte ich ungern entbehren. Die anderen werden jeder für ehrenwert erachten, dir den Treueid in die Hand zu legen und deinen Schritten zu folgen, solange du unter uns weilst, zumal, wenn sie erfahren, daß es mir lieb ist.«

[] Da trat Ingo zu Wolf und sprach: »Der erste warst du, der dem Fremdling an der Landesmark Brot und Salz bot, und freundlich hast du seither dich erwiesen. Willst du es wagen, Genosse eines Verbannten zu sein? Keine andere Schatzkammer habe ich als Wald und Heide, wenn der Fürst mir gestattet, dort Beute zu suchen, und die Walstatt mit den Armringen erschlagener Feinde. Einem armen Herrn wirst du folgen, und keinen anderen Lohn vermag ich dir zu bieten als guten Sinn und treue Hilfe mit Speer und Schild.« Wolf antwortete: »Lehre mich, o Herr, deine Kunst, in der Feldschlacht zu stehen, dann bin ich sicher, Goldschatz zu erwerben, wenn die Götter mir gestatten, daß ich im Kampfe dauere. Doch laden sie dich zu ihrer Halle, so weiß ich, daß auch mir der Weg ruhmvoll sein wird, auf dem ich dir folge.« Dies sprach er und gelobte sich dem Gaste in seine Hand.

Auch Theodulf hatte die Versöhnung mit Ingo gesucht. Noch am Abend des Gastmahls, als der Fürst den Helden zum Ehrensitz geleitete, war Sintram mit anderen Männern aus der Freundschaft zu Theodulf getreten. Sie hatten im geheim beraten, wie der Kampf zwischen den Gegnern zu hindern sei, und Theodulf war darauf, gefolgt von seinem Geschlechte, vor Ingo getreten und hatte gesprochen: »Anders wird die Schau über das Land, wenn die Sonne aus den Wolken bricht. So habe auch ich deinen Wert nicht gekannt, da ich Ungünstiges zu dir sprach. Nicht dir galt meine Rede, sondern einem ruhmlosen Mann, der jetzt geschwunden ist; vergiß darum auch du die kränkenden Worte, damit ich nicht der einzige im Saal sei, dem du mit Fug grollst.« Und der Fürst fügte hinzu: »Er spricht gute Worte, keiner von uns wünscht dir noch Übles, Held. Ich selbst begehre für ihn die Versöhnung, denn ich war es, der deinen Namen den Hofgenossen verbarg.« Da antwortete Ingo: »Die Schmähworte vergaß ich, Theodulf, unter dem Liede des Sängers, ungern würde ich noch ferner an die Rache denken.«

In rotem Goldglanz stieg ein neuer Morgen für Ingo herauf. Aber im Bergwald folgt auf heißen Morgen ein Wettertag, und auch die Wärme der Herzen schwindet schnell im Sturme zorniger Gedanken.

Am Königshofe

In der Königsburg der Thüringe saß auf hohem Stuhl Gisela, die Königin, sie stützte das Haupt mit dem weißen Arm, und das Lockenhaar fiel ihr unter der Königsbinde über die Hand und deckte ihr die Augen. Zu ihren Füßen legte eine Dienerin das Goldgerät vom Königsmahl in die Truhe zurück und zählte die Stücke, bevor sie die Truhe verschloß und in das Schatzhaus der Herrin lieferte, sie sah lachend ihr Angesicht verzogen in dem gerundeten Metall und [] blickte auf die Herrin; aber die Königin kümmerte der Goldschatz wenig. Einige Schritte davon saß König Bisino, ein tapferer Kriegsmann, vierschrötig von Leibe, mit starken Gliedern und breitem Angesicht, er trug auf seiner Wange ein schwarzes Mal, das erblich war in seinem Geschlecht; einem Ahnen war's zum Spott gewesen, jetzt aber galt's für ein Königszeichen, gab's auch nicht Schönheit, es gab doch Stolz. Unwirsch war der König, der reichliche Trunk hatte ihm die Stirnadern geschwellt, und er haderte gegen den Sänger Volkmar, der vor ihm stand.

»Ich habe dich nach dem Mahle gefordert«, sprach der König, »daß die Königin dich befrage, aber sie scheint nicht zu wissen, daß wir hier sind.«

»Was befiehlt mein Herr?« fragte Frau Gisela, sich stolz aufrichtend.

»Es ist traun Grund«, murrte der König, »die Augen zu öffnen, wenn die Könige am Rhein Eisenbänder tragen und im feuchten Kerker liegen.«

»Warum boten sie ihre Hände den Fesseln?« versetzte Gisela kalt. »Wer Tausende seiner Krieger zur Totenhalle führt, dem ziemt übel, anderen den Vortritt zu lassen. Ich sehe die Tapferen mit Todeswunden auf blühender Heide, die blutlosen Gesichter im Kerker kümmern mich nicht.«

»Auch tapferen Mann verläßt das Glück«, sprach der König und sah scheu nach seinem Gemahl. »Du aber, Gesell, hast nicht alles gekündet, einer entfloh und kam in mein Land; in dem Hofe des Fürsten gab's lautes Getön, vom Heilruf Ingo bebte die Halle, du warst dabei, schnellzüngiger Spielmann, was hast du deinen Gesang getauscht? Weit anders klang dein Lied in der Waldlaube.«

»Schlechter Ruhm wäre dem Sänger, wenn sein Lied eintönig auf einer Saite schwirrte. Mein Amt ist, jedem das Seine zu geben, daß froh sich das Herz des Hörers öffne. Dem König verschwieg ich den Namen der Helden nicht, denn rühmliche Tat lebt durch meinen Mund. Doch ich wußte nicht, daß der Flüchtling dem großen Volksherrn den Sinn beschwert.«

»Ich kenne dich«, rief der König in ausbrechendem Zorn, »du tauchst behend wie die Otter im Fluß, hüte dein glattes Fell vor den Streichen meiner Knaben.«

»Der Sänger hat Friede auch bei wildem Volk. Deine Knaben, o König, die trotzigen Männer, deren Lärm jetzt aus dem Hofe bis in den Steinturm schallt, auch sie scheuen den Sänger; denn jede Untat trägt er durch die Länder, und wird ihm sein Mund für immer gestillt, dann rächen den Toten seine wackeren Genossen. Dein Zorn erschreckt mich nicht, doch ungern entbehre ich deine Gnade, denn reich hast du treuen Dienst belohnt. Nicht vermag ich zu erkennen, warum mein Herr den Namen des Fremden ungünstig hört;[] der Flüchtling scheint mir ein wackerer Mann, treu seinen Freunden und nicht begehrlich nach fremdem Gut.«

»Du sprichst nach Gebühr«, sagte die Königin freundlich, »und der König kennt wohl deinen Wert. Nimm hier für deine Kunde, war sie auch leidvoll, des Königs Botenlohn.«

Sie winkte der Dienerin, welche ihr die schwere Truhe vor die Füße schob, sie faßte hinein und bot wahllos dem Sänger ein goldenes Trinkgefäß. Der Sänger sah betreten darauf hin, bis die Königin die Brauen finster zusammenzog, da nahm er den Becher und neigte sich tief auf ihre Hand, die sie ihm reichte. »Hat dein schneller Fuß noch Frist, bei uns zu weilen, so lehre meine Mägde den neuen Tanzreigen, den du das letztemal in unserer Halle aufführtest. Und laß dich alsdann finden in meiner Nähe.«

Sie winkte ihm gnädig den Abschied; der König sah ihm unzufrieden nach.

»Du bist freigebig mit dem Gold deiner Truhe«, sagte er finster.

»Einen guten Handel macht der König, wenn er mit Gold das Unrecht abkaufen kann, das er einem niederen Mann zugefügt hat. Geringe Ehre ist es meinem Herrn, seine Sorge dem fahrenden Mann zu verraten, der von Halle zu Halle um Lohn singt. Dir bleibt nur die Wahl, den Mund des Mannes durch einen Becher zu schließen, oder für immer durch einen Schwertschlag. Darum gab ich ihm die Sühne, damit er schweige, denn weit berühmt ist der Mann, und gefährlich wäre es, den Zeugen deiner Furcht zu töten.«

Der König fuhr kleinlaut fort, bestürzt, wie ihm öfter geschah, durch den hochfahrenden Sinn der Königin: »Was rätst du gegen den Fremden, den die Waldleute sich mir zum Trotz als Gastfreund gesellt haben, soll ich auch ihm Gold bieten oder Eisen?«

»Deine Gunst, König Bisino, denn Ingo, Ingberts Sohn, ist ein erlauchter Mann.«

»Ist es besser für mich, daß er den Königssprung vermag?« fragte der König wieder.

Frau Gisela sah ihn an und blieb stumm. »Edlen Sinn bindet nur Vertrauen«, versetzte sie endlich und trat vor den König. »Will mein Herr die Gefahr vermeiden, so lade er selbst den Fremden an seinen Hof und erweise ihm die Ehre, die ihm gebührt. Gefährlich ist der Königssohn vielleicht unter den Bauern am Walde, nicht in deiner Königsburg und in deiner Heerschar. Hier ist er dein Gastfreund, ihn bindet der Schwur und deine Gewalt.«

Der König überlegte: »Gut rätst du, Gisela, und du weißt, ich ehre deine Worte. Was die Zukunft bringt, das will ich erwarten.« Er erhob sich, die Königin winkte der Magd, sich zu entfernen. Als sie allein war, ging sie mit heftigem Schritt im Raume auf und ab. »Gisela heiße ich, vergeiselt bin ich in fremdem Land zu freudlosem Lager dem gemeinen Mann. Seit Jahren sitzt das Königskind der [] Burgunden elend auf dem Thron, und die Gedanken ziehen rückwärts zu dem Land der Meinen und zu der Kinderzeit. Dort sah ich ihn, den einst der Vater mir zum Gemahl bestimmte, da ich ein Kind war und er ein Knabe. Ingo, gebannter Mann, hart war dein Reisebrot und bitter dein Trunk in der Verbannung, bitterer doch mein Gram in der Königsburg. Sooft aus fremdem Lande ein fahrender Krieger kam, forschte ich nach deinem Geschick. Jetzt naht dein Schritt dem Pfad, auf dem ich schreite, sei mir willkommen, ob du mir lieb wirst oder leid; denn müde bin ich der Einsamkeit.«

Draußen klang vielstimmiges Lachen und Gesang der Mägde, die Königin saß nieder und hörte, die Hände über dem Knie geschlungen, auf die Weise des Reigens, die der Sänger sang. Die Dienerin führte den Sänger leise herein. »Du hast vieles erzählt beim Mahle des Königs«, rief sie ihm lächelnd zu, »was meinem Herrn schwere Gedanken gemacht hat; jetzt laß du mich im Vertrauen wissen, wie du selbst den Banden der Römer entrannst, denn nahe genug war die Gefahr, daß ich einen werten Mann verlor, der mir oft Freude gebracht hat. Hast du ein Lied von der eigenen Not, so will ich's hören.«

»Wenig dachte ich an mich selbst in jener Stunde, Herrin, ich sah auf einen anderen, der mich errettete und sich selbst in größeres Leid warf.«

»Ich meine, das war jener Fremde«, sprach die Königin, »hebe den Sang an und dämpfe deine Stimme, wenn du kannst, daß nicht unnützes Volk sich an den Pforten dränge.«

Volkmar begann mit leiser Stimme seinen Bericht von der Kahnfahrt und dem Sprung in den Rhein. Zu der kleinen Fensteröffnung drang golden der Strahl der Abendsonne herein, er umsäumte die Gestalt des Sängers, der in tiefer Erregung vorsang, was ihm das Herz bewegte; im Dunkel saß die Königin, und wieder fiel ihr das volle Haar über die Hand, die ihr geneigtes Haupt stützte, unbeweglich saß sie da, in sich selbst versunken, bis der Sänger mit jenem Wiederfinden in der Halle schloß.

»Das wird ein rühmlicher Gesang für zwei, für ihn und dich«, sagte die Königin gütig, da der Sänger geendet. »Du ziehe mit dem Segen der Götter zu Halle und Herd, daß die Kunde im Volke sich verbreite.« –

Beim Abendtrunk saß der König unter seinen Knappen, das Jauchzen und Lachen der starken Leibwächter umklang den Herd, aus großen Stangen und Bechern schöpften sie den würzigen Trank. »Spiel den Reigen, Sänger«, rief einer der Wilden, »den du heut des Königs Mägde gelehrt, damit auch wir geschickt die Weise springen auf der Heide.« »Laßt ihn«, spottete Hadubald, ein narbiger Kriegsmann, der vorzeiten Trabant am Römerhofe gewesen war und jetzt dem König diente, »sein Lied ist gerade gut genug, daß die Kraniche [] danach hüpfen im Hühnerhofe. Wer die Tänzerinnen, die schmeichelnden Mädchen aus Alexandrien, geschaut, dem dünkt das Stapfen der Bauern im Grase wie Marsch der Gänse.«

»Er ist stolz geworden«, rief ein anderer, »seit er den Goldbecher der Königin im Gewand birgt; hüte dich, Volkmar, unsicher ist ein Goldschatz dem fahrenden Mann, der über die Heide zieht.«

»Wolfgang ist dein Name«, versetzte der Sänger, »und wie der Wolf gehst du selbst lauernd über die Heide; übel geziemt an der Bank des Königs dein neidvoller Blick auf der Herrin Geschenk.«

Er nahm sein Saitenspiel zur Hand, rührte die Saiten und sang die Weise des Reigens. Da zuckte es den Männern in den Gliedern, sie schwenkten die Arme im Takte auf der Tafel und pochten mit den Füßen den Tritt; auch der König schlug mit der Hand auf den Deckel des Weinkrugs und nickte weinselig mit dem Haupte. Beim zweiten Vers aber erhoben sich die metgefüllten Knaben, nur die Alten widerstanden und umklammerten mit der Hand fest das Trinkhorn, die anderen, aber traten je zwei den Reigen in langer Kette um die Bänke herum, daß der Saal laut ertönte. Der König lachte. »Du weißt sie zu zwingen«, rief er dem Sänger zu, »komm näher, Volkmar, du schlauzüngiger Mann, sitz neben mir, daß ich dir vertraulich meine Meinung künde. Ich war heut unwirsch, es war nicht böse gemeint, mir lag deine Botschaft schwer auf der Seele. Was aber den goldenen Becher betrifft, den die Königin dir gespendet, so war nicht unrecht, was mein alter Knabe dir sagte. Gold ist Herrenmetall und paßt nicht für den Reisesack eines mäßigen Mannes; du selbst singst ja, daß es den Männern der Erde Unheil bereitet. Weise würdest du handeln, wenn du ganz in der Stille diese Beute mir aus gutem Herzen zurück in das Schatzhaus stelltest.«

Gern hätte der Sänger sich das Prachtstück bewahrt, und er antwortete: »Was das Auge des Herrn begehrt, schafft dem Diener kein Glück; doch bedenke, Herr, auch in des Königs Schatz wird zum Unsegen das Stück, an welchem Trauer und Neid der Menschen hängen, die es verloren.«

»Darum sei außer Sorgen«, versetzte der König schmeichelnd, »mir tut das nichts.«

»Doch wenn die Herrin erfährt, daß ich ihr Geschenk so gering geachtet, mit Recht wird sie mir zürnen«, sagte der Sänger.

»Sie kennt es kaum, Volkmar, glaube mir«, fuhr der König überredend fort. »Ihr ist im Herzen ganz gleich, ob es Gold oder Kupfer ist. Wenn die Waldleute im Herbst ihre Pferde an meinen Hof senden, magst du dir ein gutes Roß aussuchen mit runden Hufen, und mein Kämmerer gibt dir ein schönes Gewand aus den Truhen, das wird dich stattlicher machen im Volk als das runde Blech. Denn ich meine es gut mit dir, Volkmar, ich fürchte für dich den Neid meiner Knappen.«

[] »Zuchtlose Worte hörte ich am Herd des Königs«, versetzte der Sänger gekränkt.

»Trag sie nicht schwer, Volkmar«, riet der König begütigend, »es ist wahr, ihre Rede ist zuweilen wild, und ich bändige mühsam ihre Gewalttat; aber des Königs Kunst ist, jeden zu gebrauchen in seiner Weise, sie tun als schnelle Königsboten um Gold und einen warmen Sitz an meiner Bank alles, was ich will, und fragen nicht, ob die Tat blutig sei oder nicht. Wie kann ein König walten im Volk ohne solche Diener? Denn hochfahrend ist der Männer Sinn, jeder will nur tun, was ihm beliebt, jeder trotzt auf sein Recht und sucht sich Rache, und keiner fügt sich fremdem Willen. Jeder begehrt Kampf und Wunden zu eigenem Ruhm und ist eilig, zu den Göttern hinaufzufahren. Ich meine auch zuletzt einmal einen Sitz zu fordern in der Götterhalle, jetzt aber möchte ich lieber auf der Männererde über gefügige Nacken blicken; und muß auch ich Männer wegschaffen aus dem Licht, weil sie schädlich sind, so sind es doch nur wenige; die anderen aber auf ihrem Erbe zu erhalten, ist mein Vorteil und mein Ruhm, daran denke, Volkmar, weil du ein sinnvoller Mann bist. Trotzig ist das Volk und geschwollen sein Sinn, des Königs Sorge aber ist, für alle zu bedenken, was dem Lande frommt. Darum schilt mir nicht meine Getreuen. Es ist besser, sie üben zuweilen eine Nottat, als daß alle anderen Gewalt gegeneinander sinnen und das Volk der Thüringe einem fremden Geschlecht Frondienst leiste.«

Der Sänger schwieg. Der König fuhr schlau fort: »Der Wein hat mir das Herz geöffnet, und ich will zu dir reden wie zu einem Freunde. Sage an, wie man zu einem Bruder spricht, welcher Art ist der Fremdling? Ich möchte ihm gern trauen, aber er ist noch von der ungefügen Art, die sich rühmt, daß einst ein Gott in dem Ehebett ihrer Großmütter gelagert habe. Die Art ist wenig nütze auf der Männererde, ihr Blut ist schwarz geworden, wie alter Met im verpichten Kruge, sie schaffen schweren Rausch im Volke, sie gebärden sich, als ob sie die Vettern des Kriegsgotts wären, und betrachten aller anderen Schicksal wie Spreu, die sie vor sich her blasen. Ist der Fremde ein solcher Gesell?«

»Mich dünkt, sein Mut ist fröhlich und sorglos seine Art, nur daß ein schweres Schicksal auf ihm liegt«, versetzte Volkmar.

»Wie hält er sich beim Becher?« fragte der König, »ich lobe mir einen rotwangigen Knaben, dem der Trunk die Kehle öffnet.«

»Er weiß fröhlich Bescheid zu geben bei Trank und Rede«, versetzte der Sänger.

»Dann soll er mir willkommen sein auf meiner Bank«, rief der König und schlug auf seinen Trinkkrug. »Dich aber habe ich gewählt zum vertrauten Boten, daß du mir den Fremdling aus den Waldlauben in meine Burg schaffst; führe ihn vor mein Angesicht.«

Volkmar erhob sich und stand überlegend: »Ich will dem Fremden [] deine Botschaft künden. Doch damit er den gewogenen Sinn meines Herrn erkenne, so flehe ich, daß mein König ihm zuvor Frieden gelobe und sicheres Geleit zum Hofe und vom Hofe, mein König und seine Knaben in der Halle.«

»Was fällt dir ein, Sänger?« rief der König mit aus brechendem Unwillen, »wie kann ich ein Gelöbnis geben dem Wildfremden, dessen Sinn ich nicht kenne!«

»Du willst doch, o Herr, daß er sich in deine Hand gebe. Leicht ist es, von einem einzelnen den Schwur zu fordern. Mein Herr würde selbst den Fremdling für einen Toren halten, wenn er sich unter die Knaben hierher wagte ohne Frieden.«

»Was braucht mein König den fahrenden Mann zu solcher Botschaft?« rief Wolfgang, »er sende uns, wir bringen den Fremden auf seinen Füßen oder in seinem Schild, längst steht uns der Sinn nach einer Reise in die Dörfer der frechen Bauern.«

»Still«, sagte der König, »eure grobe Zunge gebrauche ich jetzt nicht, wenn ich mit meinen Waldleuten handeln will. Volkmar soll mein Bote sein, denn heut ist der Tag guter Worte, kommt der Tag für harte Tat, dann rufe ich euch. – Du meinst also, er wird kein solcher Narr sein?« fragte er lauernd, und aus den schwimmenden Augen brach ein heißer Blick, wie der Feuerstrahl aus einer Dampfwolke, aber er bezwang sich und fuhr gemütlich fort:

»Wohlan, ich will ihm alles geloben. Und ihr schweigt dort!« rief er, seine Stimme erhebend, in den Lärm seiner Mannen. »Tretet heran und gelobt in meine Hand Frieden für Ingo, Ingberts Sohn, zum Hofe, am Hofe und vom Hofe.« Die Männer taten den Schwur.

»Und jetzt, Sänger«, schloß der König drohend, »lege ich dir auf deine Seele, daß du ihn herführst ohne Verzug.«

»Ich bin nur dein Bote, Herr, nicht vermag ich ihn zu zwingen.«

»Bedenke dein eigenes Heil, Volkmar«, rief der König und hob die Faust in die Höhe. »Leid wäre dir, wenn du in Zukunft die Vatererde meiden müßtest.«

»Ich will mich halten als ein treuer Bote«, versetzte der Sänger ernst.

»So ist es recht, Volkmar«, schloß der König besänftigt und erhob sich. »Geendet sei der Trunk, brecht auf von den Sitzen, und du, Volkmar, sollst mir heut anstatt Kämmerer sein, geleite mich.« Der König stützte sich schwer auf Volkmars Schulter und schritt mit ihm über den Hof zum Schlafhaus der Königin. Unterwegs sagte er ihm lustig ins Ohr: »Nun, Schelm, wo bleibt der Becher?«

Volkmar öffnete den Beutel, den er an seinem Gurt trug, und bot das Goldgefäß dem König dar. »Stecke mir's ins Gewand«, sagte der König, »ich will um deinetwillen sorgen, daß Frau Gisela das Ding nicht erblickt.«

Am nächsten Morgen verließ der Sänger die Burg. Der König sah [] seinem Boten mißtrauisch nach und dachte in seinem Sinn: meine Waldfüchse werden mir den Fremden schwerlich in die Burg senden. Wenn sie ihn meiner Forderung weigern, dann geben sie mir einen Grund, gegen sie zu ziehen, ihren Bauernstolz zu brechen und ein Ende zu machen mit ihrem freien Bunde. Dann aber wählen sie den Ingo zu ihrem Führer, er dünkt mich ein mannhafter Recke, und es könnte einen harten Kampf geben unter Scheitholz und Waldpilzen. Was dann das Ende wird, weiß keiner, und ich habe keine Lust, meinen Leib zum Schemel zu machen, über den ein anderer zum Herrensitz steigt. So trank er sorgenvoll seinen Met, verschlossen auch gegen die Königin, die mit ihren großen Augen forschend auf ihn hinsah und zuweilen seine Gedanken erriet, ohne daß er sie aussprach.

Tag auf Tag verrann, Ingo kam nicht. Dagegen pochte eines Abends Sintram, Theodulfs Ohm, an das Tor. Der König empfing ihn mit offenen Armen, er sprach lange heimlich mit ihm, und Frau Gisela merkte, wie der König dem Edlen mit einem Händedruck versicherte: »Dein Vorteil und meiner sollen zusammen in den Wald springen wie zwei Wölfe.« Aber als Held Sintram geschieden war, sah auch ihm der König unzufrieden nach und nannte ihn einen schiefäugigen Fuchs.

In den Waldlauben

Auf dem Herrenhof und im Dorfe knarrten die Erntewagen, die Mannen des Häuptlings vergaßen im Drange der Arbeit zuweilen ihren Kriegerstolz und halfen den Knechten, die Schnitter banden dem großen Gott des Volkes die letzte Garbe mit frommem Zuruf und brachten, im Reigen springend, den Ährenkranz zur Halle des Fürsten; die barbeinigen Dorfkinder schwärmten wie Drosseln um das Vorholz und sammelten Beeren und Nüsse in langen Tüten aus Holzspänen. Jeder war eifrig, die Früchte einzuheimsen, welche die Göttin der Flur dem seßhaften Manne spendet. An der Seite des Hofherrn achtete Ingo auf die friedlichen Werke, die er sonst nur vom hohen Kriegsrosse geschaut hatte, er hörte mißfällig, wenn sein Wirt sich wie ein Bauer über die Wölfe ärgerte, weil sie ihm ein junges Rind zerrissen, öfter aber lachte er froh, wenn er Irmgard unter den Mägden sah, denen sie bei der Arbeit gebot. Ihm und der Jungfrau pochte das Herz in Freude, wenn sie vor den anderen im Hofe und auf der Flur höflichen Gruß tauschten und zuweilen wenige Worte. Denn streng war die Hofzucht, gesondert lebten die Männer, und Ingo scheute sich, seit er den Gastschwur getan, durch dreistes Nahen den Frieden des Hofes zu verletzen. Fast alle blickten ihn freundlich an, nur das Auge der Fürstin umwölkte sich, wenn sie ihm nachschaute. Ihr kränkte den stolzen Sinn, daß er gegen ihren Rat einen [] Mann ihrer Freundschaft im Kampfspiel besiegt hatte, auch daß ihr Wunsch, ihn als fremden Landfahrer zu halten, durch den Sänger vereitelt war. Und noch anderes war ihr beschwerlich. Sie hatte ihren Blutsverwandten, den Theodulf, zum Gemahl der Tochter erkoren, ihr eigenes Geschlecht und Herr Answald hatten schon vor Jahren darum gehandelt. Jetzt beobachtete sie argwöhnisch die Tochter und den Gast.

Eines Tages kam ein fahrender Gaukler mit seinem Kasten in die Flur, er blies vor dem Hofe des Fürsten auf der Sackpfeife, bis die Leute aus dem Dorfe herzuliefen; auch die Mannen und Knechte des Fürsten traten aus dem Hoftor. Als der Ring geschlossen war, begann der Mann in unbehilflicher Sprache seinen Bericht, daß er in dem Kasten einen Römerheld berge, und wenn die Krieger und die schönen Frauen ihre Gunst erweisen wollten, so sei er bereit, ihn zu zeigen. Er pochte auf den Kasten, da hob sich der Deckel und ein kleines häßliches Ungetüm, von Gesicht einem Menschen ähnlich, mit einem Römerhelm über den Ohren, hob seinen Kopf empor und schnitt Gesichter. Viele fuhren zurück, die Beherzten aber lachten über das Wunder. Der Mann öffnete den Kasten und der Affe sprang hervor in einer Panzerjacke wie ein römischer Krieger gekleidet. Er fuhr mit den hageren Beinchen auf dem Grase umher, überschlug sich in der Luft und tanzte. Zuerst entsetzten sich die Landleute, dann erscholl lautes Gelächter und Beifallsruf, so daß Hildebrand in die Laube lief und den Herren verkündete: »Ein Gaukler tanzt vor dem Hoftor mit einem kleinen wilden Mann, den sie einen Affen nennen.« Da trat auch der Fürst mit Ingo und den Frauen heraus und freute sich an den lustigen Sprüngen des Affen. Zuletzt nahm der Affe den Helm ab, lief im Kreise umher, und der Mann rief: »Spendet, ihr Helden, meinem römischen Krieger, was ihr von Römermünzen im Säckel habt, kleine und große, je edler der Held, um so größer das Geldstück. Wer keines hat, lege Wurst und Eier in den Kasten.« Da lachten die Leute, und mancher griff an den Gürtel, andere trugen aus dem Hofe herzu, was dem fahrenden Mann als Reisekost diente. Auch zu den Herren trat der Fremde, und der Fürst und Theodulf holten römisches Kupfer aus den Taschen, und Frida hörte, wie Theodulf, auf Ingo weisend, zu dem Gaukler sagte: »Der große Held dort spendet dir wohl am reichlichsten.« Als der Mann nun mit seinem Affen dem Helden Ingo nahte, da sorgte Frida, ob der Fremde und sein Kämmerer Wolf in den Jacken der Fürstin wohl auch etwas finden würden, was sie austeilen könnten, und um die Beschämung abzuwehren, riß sie schnell eine der kleinen Silberschellen ab, welche ihr das Herrenkind zum Brustschmuck geschenkt hatte, und vorspringend sprach sie: »Dir spendet dieser Held, welcher die Sprünge der Römer besser kennt als du, wenn du ihm Antwort gibst auf eine Frage( Welches [] Gewand trägt dein Ungetüm, wenn du unter den Römern Gaben begehrst?«

Der Mann nahm das Silber, sah scheu nach Ingo und antwortete dem Mädchen frech: »Den Gruß der Vandalen kenne ich als verfänglich und grob. Dir aber sage ich, wer im Tanze den Römern gefallen will, muß nackt springen. Was mein Affe tut, rate ich auch dir.« Frida rief ihm zornig nach: »Ich meine, unter den Fremden verhöhnt dein tanzender Kater ebenso die Krieger meines Volkes, wie die Fremden bei uns.« Da nickten die Männer und wandten sich lachend von dem Gaukler ab. Ingo aber trat zu ihm und fragte:

»Woher weißt du, daß ich von den Vandalen bin?«

»Deutlich genug trägst du's auf dem Haupte«, versetzte der Mann und wies auf die Kappe Ingos, in welcher drei Schwungfedern des wilden Schwans steckten. »Kaum acht Tage sind es, da erlitt ich bei den Burgunden hartes Fegen von deinen Federn.« Ingos Antlitz wandelte sich, er ergriff den Mann hastig beim Arm und zog ihn zur Seite: »Wieviel waren ihrer, die dieses Zeichen trugen?«

»Mehr als zehn und weniger als dreißig«, versetzte der Mann, »ungefüge Worte gaben sie mir, weil mein Kleiner dort mit Gänsefedern tanzte, und bedrohten mich durch Schläge.«

»Der dich schalt, war ein alter Kriegsmann mit grauem Bart und Narben auf der Stirn?«

»Du nennst ihn, wie er war, Herr, und außerdem von groben Sitten.«

Irmgard sah, daß der Held Mühe hatte, seine Bewegung zu verbergen, er löste sich von den anderen und ging allein nach dem Hofe zurück.

Da kurz darauf Volkmar als Königsbote in den Hof trat, empfing ihn Ingo wie einen Freund, den er sehnsüchtig erwartet hatte, er hörte seine Botschaft und führte ihn zu dem Fürsten( dort hielten die drei vertrauten Rat.

»Der König hat mich geladen«, sprach Ingo, »er hat mir Sicherheit gelobt. Was auch die Meinung seines Herzens sei, mir geziemt es, der Ladung zu folgen. Nur eines hemmt mich, und mit Scham spreche ich es aus, nicht wie ein entblößter Mann darf ich zu dem Hof des Königs gehen, du gedenkst wohl, o Herr, wie ich zu dir kam.«

Bekümmert versetzte der Fürst: »An Roß und Gewand würde es dir, o Held, nicht fehlen, und Wolf würde dich als Kämmerer geleiten, dennoch rate ich nicht, daß du den Worten des Königs trauest und dich unter die Äxte seiner Leibwächter wagst, denn spurlos möchtest du verschwinden hinter den Steinmauern. Die Reise wäre ein unrühmliches Ende für dein Heldentum.«

Auch Volkmar sprach: »Dir, Held Ingo, ziemt es, die Gefahr gering zu achten, du weißt ja, daß dem Mann zuweilen die Kühnheit [] am besten gedeiht. Wenn du aber der Ladung des Königs folgst, wie du willst, so darfst du das nimmermehr als ein einzelner Wanderer tun. Dem König und seinem Gesinde würdest du verächtlich sein, unwürdig wäre die Behandlung, die sie dir zufügten, auch wenn der König dir nicht an das Leben geht. Denn an Königshöfen ist die Art, nur stattliches Gewand, Rosse und Gesinde geben dem Helden ein Ansehen. Darum, bevor du zu dem König reitest, mußt du das alles erwerben. Folgen dir aber Männer aus diesen Waldlauben, so wirst du dem König gänzlich verhaßt.«

»Gut sprichst du, Volkmar, in allem«, versetzte Ingo. »Willst du dich zurück unter die Augen des Königs wagen, so sage ihm, daß ich dankbar bin für die hohe Botschaft und daß ich vor sein Angesicht treten werde, sobald ich gerüstet bin, wie es seine und meine Ehre fordert.«

»Ich trage die Antwort«, antwortete Volkmar, »und ich hoffe, mich behend zur Seite zu schwingen, wenn er seinen Trinkkrug nach mir wirft.«

Auch Herr Answald gab seine Zustimmung zu diesem Dank, denn ihn bedrückte im geheimen die Forderung des Königs, wenn er die Sorge auch mannhaft barg.

Als Ingo und Volkmar allein waren, begann Ingo: »Wer einen guten Rat geschenkt hat, der gibt wohl auch den zweiten. Du siehst, ich bin einem Kinde gleich, das aus dem Wasser geholt und neu in die Welt gesetzt ist. Hier sind die Leute gutherzig, aber Kriegsfahrten beginnen sie selten, spähe, du treuer Gesell, wo irgend im Lande für ein Schwert rühmliche Arbeit zu finden ist.«

»Harre nur ein wenig aus«, antwortete Volkmar lachend, »und laß dir unterdes gefallen, wenn die Jungfrau Irmgard vor dir meine Reigen singt, denn wohlgeübt ist sie im Lied und Saitenspiel. Höre ich von ehrlicher Heerfahrt, so sollst du's erfahren; doch du weißt, im Herbst lockt den Krieger die Heimat, im Frühjahr die Schwertreise.«

»Und jetzt höre weiter«, fuhr Ingo fort, »was mich in der Nacht schlaflos umherwirft. Der Sprung in den Rhein schied mich von meinen Mannen, hinter mir brachen die Heerhaufen der Römer wie ein Wasserschwall in das Land, die Priesterin barg mich mit Sorgen, bis sie mich nordwärts sandte; beim Abschied verhieß sie mir, nach den Volksgenossen zu suchen, die mit mir bei den Kähnen gestanden hatten. Jüngst aber hörte ich von einem Gaukler, daß Krieger meines Volkes in diesem Mond unter den Burgunden lagerten, einer davon war, wie mir schien, Berthar, den du kennst. Hegst du mir gute Gesinnung, Volkmar, so forsche, wenn du kannst, nach den Treuen; denn wie hold mir manche sind, die hier um mich leben, ich vermag nicht froh zu werden, bis ich weiß, ob einer von den Meinen dem Eisen der Römer entwichen ist.«

[] Der Sänger nickte und wandte sich zum Abgang. »Der Herr dieses Hofes bewährt dir guten Sinn, aber wandelbar ist der Menschen Gemüt, und leicht wird müde, wer sich nur auf ein Bein stützt. Du hast mich durch dein Vertrauen geehrt, da du vorhin sprachst, wie du aus dem Wasser gehoben wurdest. Darum flehe auch ich um eine Gunst. Einst gabst du mir diesen Goldring, nimm ihn, o Herr, jetzt zurück, damit ich dir meine Treue erweisen kann, du spendest mir später wohl noch mehr, wenn die Götter dir Glück verleihen. Der Ring schafft dir Roß und Gewand oder wirbt dir einen hilfreichen Gefährten.«

»Lieber leihe ich von dir als von einem anderen«, versetzte Ingo, »aber du weißt, der Krieger zieht nicht ohne Gold zur Schlacht. Was mir Berthar an jenem Tage zureichte, wo ich ihn verlor, das berge ich noch im Gewande; damit, wenn mein Leib einsam auf der Heide liegen sollte, alsdann ein anderer das Gold bei mir finde und mich zum Dank ehrlicher Bestattung wert achte.«

»Dann, Held, gedenke auch klug der Lebenden; und wenn ich dir raten darf, so gib davon an die Jungfrau Frida, denn sie raunen im Hofe, daß sie eine Silberschelle für dich abgerissen hat, um ihrer Herrin zu gefallen; und spende auch an Wolf, deinen Kämmerer, damit ihn die anderen nicht schmähen, weil er einem kahlen Herrn dient. Zürne nicht, daß ich wie dein Vertrauter spreche, aber wer gewöhnt ist, um Huld zu werben, der versteht wohl auch, wie man Gunst gewinnt.«

Ingo reichte ihm lachend die Hand. »Nur dir biete ich nichts«, sprach er, »denn gern bleibe ich dir schuldig.«

»Und ich dir, solange ich atme«, grüßte Volkmar, sich ehrerbietig auf der Schwelle verneigend.

Ingo folgte dem Rat des Treuen. Als er seinem Kämmerer zwei Goldstücke in die Hand legte, auf denen das Bild des großen Römerherrn Constantinus zu sehen war, da merkte er an dem glücklichen Gesicht des Mannes und an dem warmen Dank, wie wertvoll solche Gabe in den Waldlauben war. Und nach der Mahlzeit trat er in Gegenwart der anderen vor Irmgard und sprach: »Deine Gespielin Frida hat für das Silber, das sie dem Gaukler bot, mir eine frohe Botschaft eingehandelt, gern möchte ich ihr dafür meinen Dank erweisen, und ich bitte dich, Jungfrau, daß du ihr in diesen Münzen ihre Spende zurückgibst.« Da ging das fremde Gold auch unter den Frauen von Hand zu Hand, der Fürst und alle Wohlmeinenden waren erfreut, daß der Gast sich so gehalten hatte, wie seiner Würde gebührte, und Ingo merkte aus dem Diensteifer der Männer, daß ihr guter Wille behender wurde, seit sie für sich Gutes hoffen durften; denn alle gedachten, daß dem Herrn Ehre sei, viel zu geben, dem Dienenden aber, Gabe zu empfangen.

Ingo aber suchte auch nach einer Gabe für die, welche ihm lieb [] war. Als Irmgard im Hofe unweit dem Holunderstrauch stand, da trat er von der Seite eilig auf sie zu, sie hörte seinen Schritt, aber sie kehrte sich nicht um, damit keiner die Freude in ihrem Antlitz erkenne. Abgewandt von den anderen, sahen sie einander in die Augen, und diesmal merkten beide die Nachtsängerin nicht, welche über dem Ast ängstlich ihre Kinder an die Abreise mahnte. Ingo begann die heimliche Rede: »Im Federgewand des Schwans flog einst Schwanhild, die Ahnfrau meines Geschlechtes, über die Männererde, seitdem sind die letzten Schwungfedern des Schwans das heilige Zeichen, welches die Männer und Frauen meines Stammes an Helm oder Stirnbinde tragen, wenn sie sich festlich schmücken. Dem lebenden Vogel suchen wir die Federn zu rauben, denn einen Schwan zu töten, ist meinem Volk Frevel. Heut gelang mir's, einen Schmuck zu gewinnen. Dir, Holde, biete ich ihn, ob du ihn annimmst und dir bewahrst. Auf den Federkiel ritze ich das Zeichen, womit ich zeichne, was mein ist.«

Irmgard erschrak, ihr ahnte, daß er durch die Federn bot, was er mit Worten nicht sagen durfte, und sie fragte unsicher: »Wie soll mein sein, was dein ist?«

Der Mann antwortete in tiefer Bewegung: »Nur darum liebe ich das Leben, weil ich eine Jungfrau kenne, welche dies Zeichen einst vor allem Volk auf ihrem Haupte tragen soll.« Und er hielt ihr wieder den Schmuck hin.

Da nahm Irmgard die Federn und barg sie in ihrem Gewande. Ganz wenig streifte seine Hand an die ihre, aber sie fühlte tief im Herzen die Berührung.

»Irmgard!« rief die befehlende Stimme der Fürstin im Hofe. Noch einen herzlichen Gruß mit den Augen tauschten die beiden, dann eilte die Jungfrau dem Hause zu.

»Was sprach heut der Fremde zu dir?« begann die Mutter zur Tochter, »seine Hand rührte an deine, und rot sah ich deine Wange.«

»Die Schwungfedern eines Vogels wies er mir, die seinem Geschlecht ein Erkennungszeichen sind, wenn die Helden sie am Haupt tragen«, antwortete Irmgard, aber wieder flog das verräterische Rot über ihre Wange.

»Eine Törin hörte ich einst, die in der Halle der Männer laut ihre Stimme erhob, daß alle schwiegen, wie die Waldsänger schweigen, wenn der junge Kuckuck sein Krähen beginnt.«

»War es vermessen, daß ich auf ihn wies, Unsitte war es nicht; voll war mir das Herz, und die Freunde werden mir verzeihen. Zürne auch du nicht, Mutter.«

Aber die Fürstin fuhr fort: »Ohne Freude sehe ich den Fremdling an unserem Herde rasten. Dem Hausherrn geziemt, gastfrei zu sein gegen den Bittenden, aber die Hausfrau hält die Schlüssel in fester Hand, daß nicht das Gut verschwendet werde, und sie wahrt[] ihren Hühnerhof, daß nicht der Marder eindringe. Meint der Fremde mit dem Sprung über die Rosse sich hineinzuschwingen in den Erbhof meines Herrn, in Vorratskammer und Küche, so wird ihm sein dreister Mut wenig frommen. Du aber, da du meine Tochter bist, sollst fremd bleiben einem, der als ein Wildling lebt, heimatlos, gebannt und so armselig wie der fahrende Bettler, der an unserem Tor um Gaben fleht.«

Irmgard richtete sich hoch auf. »Von wem sprichst du, Herrin? Meinst du den Helden, dem der Hausherr den Ehrensitz bietet? Den Schuldlosen, der im Vertrauen auf die Eide der Väter zu uns kam? Ich habe gehört, daß der Vater meines Vaters im heiligen Trank Tropfen seines Blutes mischte mit dem Blut eines Königsgeschlechts, damit die Nachkommen einander liebbehalten und ehren sollen. Ist der Sohn jenes Königs auch anderen ein Fremder, im Hause meines Großvaters darf ihn keiner so nennen, selbst du nicht.«

»Höre ich deine trotzige Rede«, rief die Mutter, »so entbrennt in mir der alte Schmerz, daß dein Bruder nicht mehr unter den Lebenden weilt. An dem unseligen Tage, wo ihn ein Mann des Königs erschlug, wurdest du das einzige Kind meiner Sorgen, und übel lohnst du der Mutter für ihre Mühe.«

»Wäre mein Bruder am Leben, auch er würde sich als höchste Ehre begehren, der Kampfgesell des Helden zu sein, den du einen Bettler schmähst.«

»Da dein Bruder von der Männererde dahinschwand, wurdest du Erbtochter in diesem Lande, und die Mutter hat zu bedenken, wem dich der Vater vermähle.«

»Bin ich Erbtochter in diesem Hofe, so bin ich auch Erbin der Bundespflicht und geschworener Eide, und ich denke sie treu zu halten. Nie habe ich deiner Freundschaft die Ehre geweigert, weder dem Ohm Sintram noch deinem Neffen Theodulf, wie ich auch im Herzen von ihnen denke. Du aber schilt mich nicht, wenn ich auch solchen Liebe erweise, welche dem Geschlecht meines Vaters befreundet sind.«

»Schweige, du Widerspenstige«, antwortete die Mutter heftig, »zu lange hat der Wille des Fürsten dich im Hause bewahrt; es ist Zeit, daß dir der übermütige Sinn bezwungen werde durch die Vermählung.«

Als die Fürstin das Gemach verlassen hatte, starrte Irmgard vor sich hin und hielt die Hände fest zusammengepreßt. »Die Herrin redet hart mit den Mägden«, begann Frida eintretend, »im Milchkeller verdarb der Rahm.«

»Streng ist sie auch gegen uns andere«, antwortete Irmgard, mühsam nach Worten ringend. »Du bist mir treu, und ich habe niemanden, dem ich vertrauen kann, als dich, wenn du Mut hast, den Unwillen der Herrin zu ertragen.«

[] »Ich bin eine Freie; dir habe ich mich zur Gespielin gelobt, nicht der Hausfrau, und um deinetwillen weile ich im Herrenhofe, obgleich der Varer mich nach Hause begehrt. Manchmal haben wir den Zorn der Herrin überwunden, vertraue mir auch jetzt, was dich grämt.«

»Unwillig wurde die Mutter auf unseren Gast, den sie am Anfang so gütig beachtete, und ich fürchte, es kann ihm an Pflege fehlen; denn wo die Herrin nicht wohnt, sind die Mägde säumig.«

»Sei ohne Sorge, da doch der junge Wolf sein Kämmerer ist. Wenn ich dem Knaben Erlaubnis gebe, erzählt er mir mehr von seinem Herrn, als wir hören wollen.« »Laß mich alles hören«, mahnte Irmgard, »denn gut ist, wenn man weiß, was die Gäste bedürfen.«

»Und wir vernehmen auch gern von einem und dem anderen«, versetzte Frida lachend. »Viel lieber ist mir der Gast als der Wasserreiher Theodulf, der den Kopf hinten im Nacken trägt. Und das sage ich dir, wenn die Freiwerber des Theodulf in den Hof kommen, und man sagt ja, daß sie kommen werden, dann sollen sie einen Besen am Hoftor finden, durch das sie hinausgehen; damit sie ahnen, was wir Mädchen von ihrer Werbung denken.«

Aber Irmgard barg nach diesen dreisten Worten ihr Gesicht in den Händen, die Tränen rannen ihr durch die Finger, ihr Leib bebte im Schmerz. Frida umschlang das Herrenkind mit den Armen, kniete vor ihm nieder und gab ihm Küsse und zärtliche Worte.

Nicht zufällig geschah es, daß kurze Zeit nach dem Gespräch zwischen Mutter und Tochter Held Sintram in den Hof ritt. In der Kammer der Fürstin saß er mit dem Wirt lange im vertrauten Gespräch, für seinen Verwandten, den Theodulf, beredete er noch einmal die Brautwerbung. Denn solange der Edle als Mann im Hofe verpflichtet war und durch Diensteid an den Fürsten gebunden, konnte die feierliche Werbung nicht geschehen. Aber zum Neujahr in den zwölf Nächten sollte ihn der Fürst seines Eides entledigen, dann würde Theodulf mit den Freiwerbern seinen Eintritt halten, und im Frühling sollte die Vermählung sein. Alles wurde festgesetzt, auch Brautkauf und Mitgift, und die Fürstin mahnte, daß die Männer einander über dem heimlichen Abkommen ihr altes Gelöbnis erneuten. Vergnügt lachte Sintram, als er wieder das Roß bestieg, und da ihn der Wirt bis vor das Tor geleitete und dort sorglos mit warmem Händedruck entließ, so verachtete der Scheidende gänzlich den Besen, welchen die zornige Frida an die Seite des Hoftors gestellt hatte; nur Theodulf, der beim Abschied herzugetreten war, gab dem Besen einen Fußtritt, daß er weit wegflog, und warf auf Frida, der er im Hof begegnete, einen Blick voll von heißem Haß.

So verging nach Sonnenglut und Wetterwolken der fröhliche Sommer. Die Felder waren geräumt, die Gaugenossen wurden gesellig. Die ansehnlicheren Höfe des Gaues begehrten nach der Reihe den [] Gast zu bewirten, Gelage wechselten mit Jagdreisen über die Waldhügel, der Fürst und Ingo waren jetzt selten daheim. Dem Fürsten wurde der Gast noch werter, als er sah, wie sehr dieser von den Gaugenossen gerühmt wurde und wie vornehm und geradsinnig er sich hielt. Von den Sorgen im Frauengemach merkte der Hausherr völlig nichts, die kluge Wirtin verschwieg, was ihrem Herrn unsichere Gedanken machen konnte, sie war zufrieden, daß die Helden wochenlang auswärts schweiften. Aber Ingo erkannte, daß Irmgard feierlich aussah, und er zürnte, daß ihm so schwer wurde, sie ohne Zeugen zu sprechen.

Einst ritt Ingo mit dem Fürsten nach demselben Gehege, welches er zuerst betreten hatte, als er über die Berge kam. Im Walde rieselte das gelbe Laub zum Boden, um die Lichtungen klang Jagdruf der Männer und Gebell der Meute. Die wohlgenährten Rinder liefen brüllend umher, der Hirt bereitete den Aufbruch aus der Wildnis in die Dörfer, und die Mädchen vom Herrenhofe waren wieder beschäftigt, die letzte Tracht aus dem Milchkeller in den Wagen zu heben. Während Herr Answald die Füllen betrachtete, stand Ingo neben Irmgard. Diese wies auf Frida, die mit dem Milchkrug vorüberging: »Aus diesem Quell schöpftest du bei uns den ersten Trunk, und da, wo du stehst, sah ich dich zum erstenmal. Seitdem ist das lustige Grün geschwunden, die Wildvögel sind fortgeflogen.«

»Auch aus deinem Antlitz wich die Freude«, versetzte Ingo herzlich.

Doch Irmgard fuhr fort: »Selig waren einst die hohen Frauen, welche im Federkleide dahinschwebten, wohin sie ihr Wille trieb. Ich weiß ein Mädchen, das am Gießbach steht und sich sehnt nach der Himmelskunst. Zwei Federhemden möchte sie nähen für Schwan und Schwänin; aber vergeblich ist der Wunsch, und sie schaut traurig nach, wenn die gefiederte Schar sich von ihrer Flur in die Ferne schwingt.«

»Vertraue mir«, bat Ingo leise, »was verstört dir den Mut?«

Irmgard schwieg. »Der Tag wird kommen, wo dir's andere sagen, nicht ich«, antwortete sie endlich. »Weilst du den Winter bei uns, so fürchte ich nicht, was er auch an Sorgen bringe.«

Die Rede unterbrach wildes Jauchzen und fremder Kriegsruf Ingo fuhr empor; wie damals in der Halle strahlte sein Antlitz vor Freude, während die anderen Männer zu einem Haufen sprangen und nach Waffen griffen.

»Sie kommen in Frieden«, rief Beros Tochter, »mein Vater reitet unter ihnen«, und sie wies auf eine Schar Reiter, welche jubelnd und die Speere schwingend von der Höhe herabrannten. Ingo eilte ihnen entgegen, die Reiter sprangen ab und umdrängten den Helden, sie hielten seine Arme, neigten sich auf seine Hände, umschlangen die Knie, wieder und wieder erklang der wilde Jubelschrei. Ingo rief [] die Namen der einzelnen, umarmte und küßte sie, und die Tränen brachen ihm aus den Augen; auch vergeblich suchend irrte sein Blick von einem zum anderen, nicht alle standen lebend vor ihm, die er zu grüßen hoffte. Und doch war das Glück dieser Stunde so groß, daß er und die Fremden lange die Gegenwart der anderen vergaßen. Um den Fürsten sammelten sich seine Mannen, die der Kriegsruf aus dem Walde herangezogen, auch dem Herrn und der Jungfrau wurden die Augen naß, und sie lauschten hingerissen auf schnelle Frage und Antwort, auf Lachen und Klageruf der Fremden. Ruhiger sah Bero in die Schar, während er dem Fürsten erzählte: »Ich war südwärts geritten über unsere Berge hinab bis zum Idisbach, wo das kleine Volk der Marvinge wohnt, und als ich mit den Leuten dort um Herdenvieh handelte, traf ich auf diesen Flug wilder Gänse, der seine Leitgans suchte. Ich wußte Bescheid, und da mir ihr behendes Wesen gefiel, so führte ich sie her.«

Ingo trat vor den Fürsten: »Verzeih, o Herr, daß wir in der Freude vergaßen, um deine Huld zu sorgen. Diese hier sind Gebannte wie ich, um meinetwillen wichen sie aus der lieben Heimat, auch sie haben nicht Eltern, nicht Freunde; nur einander sind wir Blutsbrüder für Leben und Tod, und unser Stolz ist, daß wir uns einer den anderen ehren und Glück und Leid teilen, solange wir heimatlos über die Männererde wandern. Auf ihren treuen Herzen allein steht der Königsstuhl des armen Ingo; wo sie ihr Haupt niederlegen, da muß auch das meine ruhen. Mich hast du freundlich aufgenommen, Fürst, aber jetzt bin ich ein Haufe geworden, und unsicher trete ich vor deine Augen.«

»Willkommen sind sie alle«, rief Herr Answald aus warmem Herzen, »der Hof ist weit, und gefüllt sind die Scheuern, seid gegrüßt, ihr edlen Gäste.«

»Dennoch rate ich«, warf Bero bedächtig ein, »daß du, Häuptling des Gaues, die Fremden in die Dörfer verteilst. Alle Nachbarn werden sie gutwillig als Gäste empfangen, dann hat jeder sein Teil und keiner wird beschwert. Denn sie führen auch Beuterosse an der Leine, darunter Haupthengste; sieh diesen Schimmel, Herr! Mancher Nachbar hätte seine Freude, ein Roß zu erhandeln und im Winter am Herdfeuer von fremder Kriegsfahrt zu hören.«

Herr Answald lächelte, aber er versetzte eifrig »Du denkst verständig, Bero, der Hof aber hat das nächste Recht, und diesmal, Nachbar, läßt er's sich nicht nehmen. In wenig Tagen zimmert ihr Gäste mit meinen Knaben den Schlafsaal, dort mögt ihr geborgen den Wintersturm überdauern.«

»Der Wille war gut«, sprach Bero. »Führe meinen Braunen her, Frida.« Er trat zu einem alten Krieger der Vandalen, reichte ihm die Hand und sagte: »Gedenkt unserer Reden. Jetzt steht ihr auf Herrengrund, begehrt ihr einmal unter das Dach des Bauern, so seid [] ihr willkommen im freien Moor.« Er sprach noch einige Worte zu seiner Tochter, dann schwang er sich wuchtig auf sein Roß und trabte grüßend talab.

Ingo aber führte die einzelnen Genossen dem Hofherrn zu und nannte die Namen. Vor den andern stand ein bejahrter Krieger, die Glieder wie aus Erz geformt, fest die Züge und kühn der Blick, lang hing ihm der graue Bart herab, ein Held, dem man ansah, daß er der Schlachten gewohnt war und hart gegen jede Gefahr. »Dies ist Berthar, ein edler Mann. Er führte mich, da ich ein Knabe war, unter seinem Schild aus seinem brennenden Hofe, meinem letzten Zufluchtsort an der Landesmark – die Burgunden hatten ihn angesteckt, die damals mit meinem Oheim verbündet waren. Seitdem war er mein Lehrer in allem Waffenwerk; wie ein Vater hat er meine Jugend gehütet, ihm danke ich, wenn ich bisher meiner Ahnen nicht unwert war.«

Und als Herr Answald dem Helden die Hand bot, antwortete dieser: »Ich erinnere mich des Tages, wo mein Vater den deinen in seinem Hofe bewirtete, es war ein Herbsttag wie heut, und es war gute Jagd in den Bergen, die wir die Riesenberge nennen. Ich erlegte damals den ersten Eber, und Held Irmfried lud mich scherzend zur Jagd in die Waldhügel der Thüringe. Lange bin ich gereist, und weißer Reif fiel auf mein Haar, bis ich in dein Gehege vordrang, aber jetzt bin ich hier, o Herr, und bereit, wenn du's gestattest, hinter dir auf den Wildpfad zu steigen.«

Diese Rede freute den Fürsten, auch er nannte den Fremden die Würden seiner Bankgenossen und mahnte beide Teile, einander gute Gesellen zu sein. Darauf ritt er mit Irmgard voran, damit Ingo vertraulicher mit den Wiedergefundenen rede. Als die Vandalen gesondert waren, erhoben sie noch einmal den Heilruf und ritten im Getümmel freudig durcheinander. Wieder flogen Fragen und Antworten hin und her, bis Berthar die Schar zum Hofe führte. Schwer war die Reihe zu erhalten, denn immer noch drängten die Treuen um ihren Herrn, und ihr Geschrei schallte von den Bergen zurück. Ingo aber sprach auf dem Wege zu Berthar: »Wundergleich ist mir, daß ich deine Hand halte, mein Vater. Du aber berichte mir noch einmal alles, wie ihr euch aus der Schlacht gerettet und mich gefunden.«

»Auf dem Pfad der Fische zog der Herr«, begann Berthar lachend, »ihm folgte das Gesinde. Wir schlugen über unsere Fersen manchen Schwertschlag gegen die verfolgende Schar, bis ich am Ufer eine Stelle zum Absprung erspähte: wie die Frösche hüpften deine Knaben in den Rhein – nicht alle, Herr, du gedenkst auch ihrer, die heut fehlen. Auf den Lindenschilden rangen wir abwärts in herber Not, umschwirrt von den Pfeilen der Feinde. Da sandte uns ein freundlicher Gott die Hilfe. Ein Weidenstamm, durch die Flut vom Ufer gerissen, trieb als gewaltiger Klotz mit Wurzel und Astwerk [] langsam den Strom entlang, er deckte die Müden, und ziehend richteten wir ihn abwärts vom Römerufer. So fuhren wir in dichtem Schwarme, gemengt mit flüchtigen Kämpfern der Alemannen, gleich einem Volk Aale, welches um ein totes Wild wimmelt. Als wir gerettet ans Ufer der Landsleute stiegen, bargen wir uns im dichten Wald und forschten bei Nacht in den Tälern um Kunde nach dir. Den letzten Dienst dachten wir unserem Herrn zu erweisen und seinen Totenhügel zu umrennen. Aber vergebens war das Spähen und Fragen, keiner der Flüchtigen hatte dein Antlitz geschaut. Da schlugen wir uns kummervoll über den Schwarzwald bis in das Land der Burgunden, gedrängt von den Heerhaufen der Römer. Als wir von den burgundischen Wächtern vor das Antlitz ihres Königs Gundomar geführt wurden, war der Ruf von deinem Sprunge schon zu ihm gedrungen, auch er meinte dich hinaufgehoben in die Halle der Götter. Dir war er feindselig gewesen, jetzt aber seufzte er, da ich deinen Namen nannte, er gedachte deiner Tugend und scheute sich, uns gebunden den Römern auszuliefern. Er bot uns an, seinem Heere bei einem Zuge zu folgen, den er ostwärts gegen die Markleute an der Donau rüstete. Wir bedurften gar sehr Rosse und Gewand, denn wir waren wie Dohlen in der Mause und sehnten uns nach Raub. Darum zogen wir mit, und es gelang uns wohl, deine Knaben kamen zu guten Rossen und ziehen stattlich einher mit gefüllten Säcken.Im vorletzten Mond lagen wir eines Abends am Ufer der Donau, die Burgunden trugen die Beute zusammen, tranken lustig und schwatzten, wie sie gern tun, mit römischen Händlern und Gauklern, die um Gewinst und Gabe herangeeilt waren. Deine Knaben aber hatten trüben Mut und sahen zu, wie die dürren Blätter im Herbstwinde hinfuhren. Da trat ein fahrender Mann zu mir und begann grüßend: ›Gefällt dir's, Held, so will ich dir ein Rätsel sagen, ob du die Antwort darauf findest: »Wer schwenkte den Spielmann in das Schiff, wer tauchte unter Speeren wie ein wunder Schwan?« Ich erschrak und antwortete: »König Ingo schwenkte den Volkmar in das Schiff, und der König verging im Strom wie ein wunder Schwan.« Da antwortete der Fremde: »Du bist es, den ich suche, und weit bin ich darum gewandert als Bote meines Genossen. Jetzt, weil ich dich gefunden, höre auch den zweiten Spruch, den dir Volkmar sendet: ›In Irmfrieds Halle sitzt der Hüter der Schwäne, am Herdsitz der Thüringe harrt er der Entflogenen.‹«

Da wurden wir froher, als ich's sagen kann, denn wir verstanden, was der Name Irmfried bedeutete. König Gundomar wollte uns behalten, ich aber bat ihn, uns die Heimfahrt zu gestatten. Ich sagte ihm nicht, daß die Heimat deiner Knaben da ist, wo der Leib ihres Herrn seinen Schatten wirft.«

»Arme Knaben«, klagte Ingo finster, »der Schatten ist klein geworden, er deckt nicht mehr die Spur eurer Füße.«

[] »Auch dir geht wohl eine neue Sonne auf«, tröstete der Alte, »die deinen Schatten über weites Land wirft. Jetzt gilt es, daß deine müden Knaben einen Unterschlupf finden gegen den Wintersturm. Sobald die Knospen der Bäume schwellen, geleiten wir dich zu neuer Heldenfahrt. Sage mir, König, ob die Dächer, die ich vor mir sehe, uns wohl während des Winters beschirmen.«

»Mögen die Götter uns das gnädig fügen«, versetzte Ingo ernst. »Mehr Glück fand ich hier, als ich ahnte, geringere Sicherheit, als ich hoffte.«

Das Tor des Herrenhofes war weit geöffnet, der Wirt empfing die Fremden und geleitete sie zur Halle; dort wurde ihnen das Begrüßungsmahl bereitet, und verteilt zwischen den Mannen des Fürsten lagerten die Vandalen an den Bänken. Am nächsten Morgen begann ein emsiges Hämmern und Heben; aus dem Vorrat von Balken und Sparren, der hochgeschichtet im Hofe lag, wurde an Ingos Haus ein Schlafsaal für seine Genossen gezimmert, dabei ein vorläufiges Gehege für die Rosse. Nach wenigen Tagen stand der Bau gerichtet, denn groß war die Zahl der helfenden Hände. Auch die Nachbarn kamen, begrüßten die Fremden und musterten die starke Koppel lediger Rosse, sie kauften und tauschten und nahmen für Beuterosse, die sie behielten, andere in das Winterfutter. Um den stillen Herrenhof war jetzt lustiges Gewühl der Gauleute und Getümmel der Männer und Rosse; die hohen Gestalten der Vandalen schritten in ihrer fremden Kriegertracht zwischen den Häusern und lagen neben den Mannen des Fürsten auf den Stufen der Halle, sorglos lachend und gern erzählend, wie die Art ihres Stammes war, sie zogen mit den Hofleuten in den Wald und ritten als willkommene Gäste in die Dörfer des Gaues.

Aber die Herren im Hofe merkten nach wenig Wochen, daß es schwierig war, unter ihrem Gefolge den Frieden zu erhalten. Denn die Jungen waren stolz und jäh im Zorn, und die Alten achteten eifersüchtig auf die Ehre ihrer Herren. So kamen Radgais, der Vandale, und Agino, ein wilder Gesell des Hofes, miteinander in Zwist, weil der Vandale einem Mädchen des Dorfes, das ihm zulachte, eine Spange geschenkt hatte. Darüber wurde Agino unwillig und sprach höhnend: »Wir meinten sonst, daß der Schatz deines Herrn gering sei, jetzt aber sehen wir, daß ihr Gutes im Sacke bergt.«

»Wer sein Leben im Kampfe wagt«, antwortete der Vandale, »dem fällt auch Silber in die Tasche, wer auf der Tenne drischt wie du, dem wachsen Schwielen in die Hand.«

Diese Reden hörten die Hofleute, und als am anderen Morgen Berthar mit seinen Mannen zu dem Speicher kam, um für die nächsten Tage den Rossen Hafer zu holen, da weigerte ihm Hildebrand, der in der Wirtschaft Ausgeber war, den gedroschenen Hafer, und er [] sprach: »Habt ihr die schwieligen Hände unserer Knaben geschmäht, so mögt ihr die Garben auch selbst ausstampfen mit euren Füßen oder mit denen eurer Rosse, wie es euch gefällt; meine Gesellen weigern sich der Arbeit für euch, da ihr so gröblich redet. Nehmt den Hafer in Garben und nicht in Säcken.«

Begütigend antwortete Berthar: »Unrecht war es von meinem Gesellen, den Landesbrauch der Wirte zu verachten. Aber du selbst bist ein bewanderter Mann und weißt, daß die Bräuche auf Erden verschieden sind. Anderswo haben die Bankgenossen eines Herrn nur die Garben in den Bansen, sie schneiden und schwingen das Futter, und auf dem Felde reiten sie mit der Egge, aber es gilt ihnen für unrühmlich, den Pflugsterz und den Flegel zu halten. Darum übe Nachsicht mit meinem Gefährten, weil ihn als fremden Mann eure Sitte wundert.«

Aber Hildebrand versetzte unwirsch: »Wer unser Brot ißt, soll sich unserem Brauch fügen; darum nimm nur die Garben, denn fortan erhältst du nur diese.«

Da mußten die Vandalen mit Garben bepackt zu ihrem Stalle ziehen, und Berthar befahl grimmig: »Werft die Garben in die Futterbank und schneidet, bis das Eisen bricht.«

Seit jener Unweisen Rede des Radgais gab es manchen Streit unter den Mannen, aber beide Teile waren bemüht, ihn vor den Herren zu bergen. Beim Kampfspiel hatten sie anfänglich in denselben Reihen gestanden und einer des anderen Kampfweise nachgeahmt, wie die Fürsten ihnen geraten, jetzt traten sie gesondert in den Wettkampf, so daß der Fürst vor dem Reiterspiel mit Schild und Stange zu Theodulf sagte: »Warum halten die Gäste abseit auf ihren Rossen, gern schauten wir, wer das beste Lob verdient.« Da antwortete Theodulf: »Sie selbst wollen den Wettkampf nicht leiden, zu hart schellen die Stäbe der Thüringe auf ihre Schilde.« Und der Fürst ritt zu Berthar: »Wohlauf, Held, mische deine Reihen mit unserem Volk.« Da antwortete auch der Alte: »Nur um des Friedens willen halte ich unsere Knaben gesondert, damit nicht in der Hitze des Kampfes ein falsch geworfener Stab Streit errege.« Und der Fürst mußte schweigend dem getrennten Ritt zuschauen. Er mußte auch hören, wie seine Hofmannen spöttisch lachten, wenn die Fremden mit ihren Keulen warfen; dann rief aus den Reihen der Thüringe wohl ein kecker Gesell das peinliche Scheltwort: »Hundeschläger.« Und wie der, wenn die Hofleute beim Steinwurf sprangen und einem der Schwung mißglückte, dann zogen die Vandalen ihre Mienen kraus und summten ein höhnendes Wort, das sie erfunden hatten, weil die Thüringe bei ihren Mahlzeiten runde Ballen aus Teig von Weizenmehl vor vielem anderen hochachteten.

Und als nach dem Spiel der Reigentanz begann, da konnte man sehen, daß die Mägde vom Hofe sich nur zu ihren Landgenossen [] gesellten, und wenn die Fremden nicht ein Dorfkind fanden, das mit ihnen zum Reigen antreten wollte, so mußten sie zusehen. Darüber wurde der Fürst unwillig, und er rief zu den Vandalen: »Warum verachten meine Gäste das Hofgesinde?« Und wieder antwortete Berthar: »Die Mädchen des Hofes klagen, daß unsere Sprünge ihnen die Knöchel renken.« Da trat die kecke Frida hervor, neigte sich gegen den Alten und sagte: »Wenig kümmere ich mich darum, ob ich anderen mißfalle, wenn ich die Hand eines Fremden ergreife. Denn ich kenne einen vom Hofe, der die Mädchen bedräut hat, wenn sie sich mit den Gästen schwingen. Gefällt dir's, Held Berthar, und achtest du mich nicht zu gering, so führe du mich zum Tanze.« Berthar lachte und mit ihm die Herren, der Alte faßte die Hand der Jungfrau, sprang wie ein Jüngling und schwenkte sie rüstig über den Rasen, daß alle auf ihn sahen und Beifall riefen.

Die Fremden merkten wohl, daß die Fürstin ihnen gar nicht gewogen war, selten nur redete sie die edelsten unter ihnen an, selbst den Helden Berthar nicht, obgleich er von erlauchtem Geschlecht stammte. Aber auch die Fürstin fand Grund zur Klage, denn zwei von den Vandalen, die Brüder Alebrand und Walbrand, hatten mit zwei Mägden der Fürstin scharfe Worte gewechselt und hatten diesen am Abend aufgelauert und die Widerwilligen geküßt und ihr Gewand verschoben. Darauf trat die Fürstin im Hofe zu Ingo und erhob laute Klage über die Unzucht seiner Mannen, und Ingo, tief gekränkt durch die harten Worte der Fürstin und durch die Missetat seines Gesindes, hielt Gericht über die Schuldigen in der Gastherberge. Und obwohl sich bei der Prüfung ergab, daß es mehr Übermut als arger Frevel gewesen war, so strafte er sie doch hart mit Worten und setzte sie zu sichtlichem Schimpf herab in die unterste Stelle an seiner Bank. Traurig saßen seitdem die Übeltäter im Kreise der Genossen. Aber die Gnade der Fürstin erwarben die Fremden darum doch nicht. Als Ingo einst früher denn sonst vom Herde des Fürsten in seine Herberge kehrte, vernahm er in dem neuen Anbau daneben das scharfe Knirschen der Mühlsteine, und er fragte Berthar erstaunt: »Drehen die Mägde den Mühlstein im Schlafhause der Männer?« Da antwortete der Alte: »Weil du selbst fragst, sollst du es wissen. Nicht die Dirnen drehen, deine Knaben selbst müssen die ruhmlose Arbeit unfreier Weiber vollenden, wenn sie ihr Brot essen wollen; denn die Mägde weigern sich, noch weiter für uns das Mehl zu mahlen, und die Wirtin gibt ihnen recht. Bitter ist solche Arbeit für die Helden eines Königs. Gern hätten wir dir verborgen, was deinem Gastfreund zur Unehre gereicht.«

Ingo trat hinter einen Pfeiler und bedeckte sein Gesicht mit der Hand.

Draußen heulte der Nordsturm um das Dach und warf eine graue Decke von Schnee und Eiswasser über den Hof. »An die Hausbalken [] tobt ein ungefüger Gesell«, fuhr Berthar fort, »er ist jetzt Gebieter auf Landstraße und Feld und möchte meinem König die Ausfahrt aus diesem Hofe verwehren. Dennoch ahne ich, daß du darauf denkst. Darum höre noch eins, was mir Held Isanbart, mein alter Kriegsgeselle, vertraute, den ich gestern heimsuchte. Der römische Krämer Tertullus war mit seinen Packpferden im Gau; von Westen kam er und zog nach der Burg des Königs. Du kennst den Mann, bei den Alemannen galt er für den schlauesten Späher des Cäsar. Jetzt hat er den Hof, in dem wir einliegen, vermieden, obgleich hier für einen Kaufmann der beste Markt wäre. Im Gau aber hat er überall nach dir und uns geforscht und hat feindliche Reden geführt, daß der Cäsar dich suche und daß er hohen Preis zahlen würde, wenn er deinen Leib oder dein Haupt unter seinem Banner erblickte, damit die üble Ahnung getilgt werde, welche seit deinem Drachenraube den Römerkriegern das Herz beschwert. Fährt der römische Krämer zum König Bisino, so birgt er in seinem Kasten eher Geschenke an den König als Waren, denn er war gar nicht eilig, die Bündel aufzuschnüren, wie sonst doch die Art dieser Leute ist. Darum saß Isanbart, der Held, sorgenvoll, und er läßt dich warnen, daß du einer Botschaft des Königs weniger trauest als ehedem.«

Ingo legte dem Getreuen die Hand auf die Schulter: »Auch du, Held, willst lieber in die Falle reiten, die uns der König stellt, als noch länger dies Knarren der Mühlsteine hören, womit ein feindliches Weib uns die Ehre kränkt. Dennoch hält es mich hier fest wie in Eisenbanden. Für diese Kränkung erbitte ich bei dem Fürsten Abhilfe, den Gau verlasse ich nicht, bevor ich eins weiß, was ich mit heißem Wunsch hoffe.«

Als Herr Answald am nächsten Morgen mit den Bankgenossen beim Frühstück saß ohne die Fremden, da öffnete sich die Tür, und Irmgard trat auf die Schwelle, hinter ihr trug Frida einen Sack mit Mehl. »Verzeih, Herr«, begann Irmgard, »daß ich dir anzubieten wage, was die Hand deiner Tochter auf dem Mühlstein mahlen half.« Die Jungfrauen stellten den Sack an die Füße des Fürsten. Verwundert sah der Fürst auf den Sack. »Was bedeutet die gestäubte Gabe, soll sie zu einem Opferkuchen für die Götter, weil die Hände freier Jungfrauen den Stein gedreht haben?«

»Nicht zum Opfer«, versetzte Irmgard, »sondern zur Sühne für verletzte Gastpflicht haben freie Hände das Korn gemahlen. Ich flehe, daß du, Herr, wenn es dir recht dünkt, dies Mehl deinen Gästen sendest. Denn ich höre, deine Hofleute weigern ihnen bereits das Mehl zu Brei und Brot, und die edlen Gäste müssen unter deinem Dache selbst die Arbeit unfreier Weiber verrichten.«

Da schwollen dem Fürsten die Stirnadern, und er rief, sich mächtig erhebend: »Wer hat mir diese Schmach angetan? Sprich, Hildebrand, denn dein ist die Sorge für die Mahlzeiten der Gäste.«

[] Hildebrand beugte sich verlegen vor dem Zorn des Fürsten. »Die Mägde waren erbittert über Ungebühr der Vandalen und weinten über harte Arbeit, und die Herrin meinte, daß sie Grund haben zur Klage.«

»Wie darfst du die Ungebühr weniger durch schweres Leid vergelten, das du allen zufügst? Deinen Herrn hast du entehrt vor seinen Gästen und üble Nachrede geschaffen vor dem Volke. Ergreift zur Stelle den Sack und tragt ihn nach der Herberge der Gäste, und dir, Alter, rate ich, daß du mitgehst und ihnen solche Entschuldigung machst, welche sie willig annehmen. Den Mägden aber sage, wenn sie sich ferner noch einmal beklagen, so soll ihnen eine harte Hand größeres Ächzen verursachen.«

»Zürne nicht den Mägden, Herr«, sprach Irmgard, »sie sind sonst gutwillig und würden auch die gehäufte Arbeit ertragen; aber einer in deinem Hofe unterfängt sich, herrisch mit dem Gesinde zu schalten, und dieser ist dein Schwertträger Theodulf. Viele fürchten sein hartes Wesen und sorgen, ob sie jetzt oder dereinst seine Gunst haben. Er verbietet den Mägden die Arbeit für die Gäste und auch den Tanz, wie es ihm gefällt. Niemand wagt dir das zu klagen; ich aber als deine Tochter gedenke nicht zu leiden, daß in dem Hofe meines Vaters einer, der ein Diener ist, unsere Ehre kränkt.«

Da der Fürst dies vernahm, gedachte er wohl, daß sein Kind recht hatte, und fühlte doch auch geheime Sorge, weil die Jungfrau mit solcher Mißachtung von dem Manne sprach, den er ihr in der Stille zum Gemahl bestimmt und der jetzt so grimmig vor ihm stand. Er wurde deshalb wildzornig auf alle und rief der Tochter zu: »Nicht umsonst hast du die Mühle gedreht, wie harter Stein zermahlen deine Worte den Leumund deines Verwandten. Dennoch tadle ich deine Gabe nicht, denn sie vermag vielleicht eine schwere Beleidigung zu sühnen. Du aber«, rief er, drohend die Hand gegen Theodulf erhebend, »vergiß nicht, daß ich in diesem Hofe Herr bin, solange ich lebe, damit ich nicht vergesse, daß die Hausfrau dir Gutes wünscht. Wagt einer von euch noch gegen die Gäste feindliche Rede oder geheime Tücke, so dürfte der Hof und seine Haut für ihn zu enge werden.«

Herr Answald wies alle hinaus und kränkte sich einsam. Endlich ging er in das Haus der Fürstin und sprach auch zu dieser zornige Worte und geringes Lob gegen ihren Vetter Theodulf. Frau Gundrun verfärbte sich, sie merkte wohl, daß sie zu viel gewagt hatte und daß ihr Gemahl mit Recht um üble Nachrede besorgt war, und sie sprach begütigend: »Das mit den Mägden sollte für die Fremden nur eine Warnung sein, damit sie das Hofrecht scheuen, es ist abgetan und wird in Zukunft vermieden, sorge auch du nicht weiter darum. Und was den Vetter betrifft, so weißt du ja, wie treu er dir gedient hat und daß er um deinetwillen seine Narben trägt.« Und [] als es ihr gelungen war, den Herrn ein wenig zu besänftigen, fuhr sie fort: »Wie sorglos war vor wenig Monden der Blick in Hof und Flur, jetzt aber schwand der Frieden im Hause, die Eintracht im Lande, und mit Schwerem bedroht der Zorn des Königs. Ein erlauchter Mann ist dein Gast, aber Unheil hängt sich an seine Fersen. Ich denke an deine Tochter, Herr, sie fleht, daß die Vermählung mit Theodulf gemieden wird. Wider den Willen der Eltern hebt sich begehrlich der Sinn des Kindes.«

»Was hat Ingo mit dem Groll des Mädchens zu tun?« fragte der Fürst ärgerlich.

Frau Gundrun sah ihn mit großen Augen an. »Wer zu Rosse dahinfährt, achtet wenig auf das Kraut am Boden. Merke, Herr, auf ihre Blicke und Wangen, wenn sie einmal mit dem Fremden spricht.«

»Kein Wunder, daß er ihr gefällt«, versetzte der Fürst.

»Wenn er aber an Vermählung denkt?«

»Das ist unmöglich«, rief der Fürst mit mißtönendem Lachen. »Er ist ja ein Gebannter ohne Habe und Gut.«

»Warm sitzt sich's am Herd in den Waldlauben«, fuhr die Fürstin fort.

»Ein Fremder sollte so Unsinniges wagen, ein Mann, der gar nicht von unserem Volke ist und kein anderes Recht hat, als daß ihn die Landgenossen dulden? Unnötig sorgst du, Gundrun, schon der Gedanke daran empört mir den Mut.«

»Wenn du so meinst«, sprach die Fürstin nachdrücklich, »dann freue dich nicht des Tages, an dem er unser Haus betrat, nicht des Sanges in der Halle und nicht der fahrenden Männer, welche jetzt bei uns einliegen, auf das Gastrecht pochend und das Gut meines Herrn verzehrend. Der König begehrt den Fremden, laß ihn ziehen, bevor er und sein Haufe vielen unter uns Jammer bereitet.«

»Weißt du mehr von Vertraulichkeit zwischen ihm und meinem Kinde, als du mir sagst?« fragte der Fürst, vor sie tretend.

»Nur was sich dem ankündet, der sehen will«, versetzte die Fürstin vorsichtig.

»Mit großem Geräusch und freudigem Herzen habe ich ihn empfangen«, fuhr Herr Answald fort, »jetzt vermag ich ihn nicht als einen Überlästigen zu entsenden. Den Gemahl der Tochter zu wählen, ist des Vaters Recht, und keine Vermählung gibt es für das Kind als durch den Vater, das weiß auch dein Kind, da sie nicht sinnlos ist. Ich gedenke des Eides, den ich deinen Freunden gelobt, du aber bändige, wenn du kannst, den Hochmut deines Neffen und sorge dafür, daß er sich unserem Kinde werter macht, als er jetzt noch ist, damit nicht der Trotz der Jungfrau im nächsten Frühjahr aufbricht, wenn wir sie zur Vermählung schmücken.«

Seit diesem Morgen war Herr Answald in seinem Gemüte beschwert, sooft er den Fremden gegenübertrat; unmutig erwog er die [] Vermessenheit und achtete mißtrauisch auf Wort und Gebärde des Gastes, und er dachte zuweilen selbst, daß das Lagern um seinen Herd im Winter eine Last sein werde. In diesen Tagen des Mißmuts ritt Held Sintram ein, als Unglücksbote vom König an den Häuptling und den Gau gesandt. Denn der König erhob helle Klage über das versteckte Hausen der fremden Schar und forderte unter Drohungen ihre Auslieferung in seine Hände. Der Fürst erkannte, daß entweder dem Gaste oder ihm und den Landgenossen eine nahe Gefahr drohe. Da er kein niedrig denkender Mann war, so gewann er seine Würde zurück, er trat vor Ingo und sagte ihm offenherzig, daß er die Häupter des Gaues unter dem Vorwande einer Jagd zu stiller Beratung laden werde. Ingo neigte sich nach den Worten beistimmend und versetzte: »Die erste Rede gehört hierbei den Wirten, die zweite dem Gaste.«

Die Boten ritten; drei Tage darauf saßen die Edlen und Weisen des Gaues wieder am Herde des Häuptlings. Aber es war nicht mehr Sommerluft, wo der Sinn der Männer fröhlich über der Erde waltet, sondern harte Winterzeit, wo sich Sorge und Groll erheben. Diesmal war die Miene des Fürsten kummervoll, als er begann: »Eine zweite Botschaft sendet der König um den Helden Ingo und sein Gesinde, und diesmal an die Gaugenossen und mich, nicht durch den Sänger, sondern durch den Helden Sintram. Der Volkskönig fordert die Fremden für seine Königsburg; ob wir seinem Gebot widerstehen oder, unser Heil bedenkend, nach seinem Willen tun, das frage ich.« Darauf erhob sich Sintram und wiederholte die Drohung des Königs: »Mit Gewalt will er die Fremden holen, wenn wir sie nicht senden, seine Mannen toben laut und freuen sich des Zuges gegen unsere Höfe. Einst habe ich vordenkend gewarnt, jetzt droht uns nahe das Unheil. Hatten wir auch gelobt, den Fremden gastlich zu schützen, jetzt ist nicht er es allein, der auf dem Lande liegt, ein fremdes Geschlecht reitet durch unsere Täler, und lästig wird dem Volke das wilde Gesinde.« Langes Schweigen folgte der Rede, bis Isanbart endlich die Stimme erhob: »Da ich alt bin, wundert mich nicht, wie leicht sich der Sinn der Menschen ändert; schon ehedem sah ich manchen Wirt, der fröhlich war, einen Gast zu begrüßen, aber fröhlicher, ihn zu entlassen. Darum mögest du, o Fürst, vor allem den Landgenossen sagen: hat der fremde Held das Hofrecht verletzt und deine Ehre geschädigt, oder hat sein Gesinde Missetat geübt im Volke?« Zögernd versetzte Fürst Answald: »Ich klage nicht über Frevel, die der Gast verübt, doch ungefüge und fremdländisch ist die Art seiner Mannen, und sie eint sich schwer unserm Landesbrauch.« Da nickte Isanbart mit seinem grauen Haupt und sprach: »Dasselbe habe auch ich erfahren, da ich mit deinem Vater Irmfried im Land der Vandalen als Gast niedersaß. Auch wir waren, soweit ich gedenke, den Vandalen ungefüge und fremdländisch. Doch [] unsere Wirte lachten freundlich darüber und verglichen den Zwist der Mannen, wo er ausbrach, immer haben sie uns gebeten, länger zu weilen, und mit reichem Gastgeschenk haben sie uns entlassen, als wir endlich heimritten. Darum meine ich, Vorsicht geziemt dem Wirt, bevor er fremde Gäste aufnimmt, und Nachsicht, solange sie unter seinem Schütze weilen.« Und Rothari, den sie Pausback nannten, sprang auf und rief: »Bei jedem Volk der Männererde ist, soweit ich verstehe, ein Gesetz: zu seinem Herrn gehört das Gesinde. Wer den Herrn aufnimmt, kann seinem Gefolge den Frieden nicht weigern, wenn die Fremden nicht selbst sich durch Missetat friedlos machen. Wohl verstehe ich, daß die Zahl der Schwurgesellen deinem Hofe, o Fürst, zur Last wird, denn allzu groß ist die Zahl der Männer und Rosse für einen Hof. Du aber begehrtest, als sie kamen, die Ehre, sie allein vor anderen zu beherbergen. Wären sie in den Höfen der Edlen und Bauern verteilt je nach ihrer Geburt, dann hätten die Gäste niemanden beschwert und hätten beim Abendfeuer am Herde viele durch ihren Bericht aus fremden Ländern erfreut.« Gekränkt antwortete der Fürst: »Ich habe den Rat nicht über das Lagern in meinem Hofe gefordert, sondern über das Gebot des Königs, welches uns hart bedrängt.« Da sprach Bero, der Bauer, ihm entgegen: »Noch anderes bedrängt uns, Herr, mehr als die zwanzig und zwei Fremden. Der König sucht einen Vorwand, um den Zehnten von unsern Herden für sich zu erhalten und die Garben von unseren Feldern, wir aber erkennen, daß Herde und Ackerland uns ohnedies zu klein werden für unsern Bedarf. Alle Dörfer sind mit rüstiger Jugend gefüllt, sie fordert Baugrund für neue Höfe, Ackerland, Wiese und Waldweide. Wer soll es hergeben, alles ist aufgeteilt und versteint, die Hirten klagen, daß die Herden der Grundherren zu groß werden und der Eckern und Eicheln zu wenig, dem Roden des Waldes widerstehen die Gemeinden und noch mehr die Häuptlinge. Darum meinen viele, die Zeit sei gekommen, wo unser Volk wieder siedeln muß jenseits der Landesmark wie zur Zeit der Väter und der Ahnen. Und wir fragen in den Dörfern, wo ist leeres Land zum Besiedeln auf der Männererde? So sprach Mißvergnügen im Volke, und unsere Jungen werden dem zufallen, der ihnen freien Ackergrund bietet, selbst wenn es der König wäre. Das sage ich, um zu warnen, denn gefährlich ist die Habgier der Herren, wenn sie die Waffen des Volkes für sich begehren. Dennoch rate ich nicht, daß wir die Gäste dem König ausliefern. Will der König mit Gewalt sie entführen, so möge er es versuchen. Auch mir erregt der Gedanke Grimm, daß die Knaben des Königs mir die Rinder wegtreiben und die Scheuer anzünden möchten, aber von unserem Recht lasse ich mich nicht abdrücken, jedermann wird es für unrecht halten, wenn wir die Gäste im Schneesturm austreiben. Und lieber will ich mit meinem Hofe untergehen, als ihnen aus Furcht das Gelöbnis brechen.«

[] Wieder sprang Rothari auf, schlug vergnügt in die Hand des Bauern und rief: »So spricht ein wackerer Nachbar, hört auf seine Worte.«

Endlich begann auch Albwin mit gewinnender Miene: »Was der Freie gesagt, dem falle auch ich zu. Ich rate, wir halten den Eid, der uns vielleicht lästig wird, wenn die Gäste daran mahnen und sich unsern Schutz begehren. Wollen sie aber freiwillig aufbrechen, so geben wir ihnen Förderung und Gastgeschenke, damit sie ungefährdet ziehen, wohin ihnen der Mut steht. Dem König aber liefern wir sie nicht in die Hand, außer mit ihrem freien Willen.«

Da stimmte die Mehrzahl bereitwillig bei, auch der Fürst und Sintram. Aber Rothari rief zornig: »Ihr wollt handeln wie der Fuchs mit der Bäuerin, als er ihr sagte: Ich gelte dir das Huhn, aber fordere nichts.« Und Isanbart warnte: »Wie mögt ihr die Pflicht auf die Seele des Gastes legen, die auf euch und euren Kindern liegt. Wer kann den Wirt loben, der die Großmut des Gastes anruft.«

So stritten die Waldleute gegeneinander, und zwiespältig blieb die Meinung.

Unterdes sang Hildebrand im Hofe laut den Jägerspruch und blies auf dem großen Horn die Weidgesellen zusammen. Gerüstet mit Speer und Armbrust, die Bracken an der Leine, eilten die Thüringe aus dem Hoftor; mit dicken Speereisen, mit Hornbogen und Keule kamen die Vandalen, welche der Hunde entbehrten. Hildebrand schied den Jagdzug in zwei Haufen, Hofmannen und Gäste, die Männer aus der Landschaft teilte er beiden zu. Die Jäger sprachen leise den Weidsegen, dann begann Berthar zu dem Jagdmeister: »Schlecht wird es deinen Gästen ohne Hunde auf glattem Pfad gelingen, sorge wenigstens, Held, da du doch die Gänge des Wildes kennst, daß mein Haufe nicht vergeblich den Schnee drückt, denn auch der schnelle Fuß vermag nimmer Wild zu erreichen, wo keines vorhanden ist. Manchmal hast du uns in die Irre gesandt, fern von den Fährten der Waldriesen; achte, wenn dir's gefällt, heut darauf, daß wir nicht vor den Gaugenossen gekränkt werden.«

»Wer Glück und Geschick entbehrt, schilt den Treiber«, versetzte Hildebrand, »du mahnst ohne Grund, ich habe billig geteilt.« Das Horn rief, die Hunde zerrten an den Riemen, fröhlich brachen die Jäger auf und grüßten die Frauen, welche der Ausreise am Hoftor zusahen. Als die Vandalen bei Irmgard vorüberzogen, erhoben sie plötzlich hellen Jubelruf und neigten die Waffen und Knie vor ihr. Auch Ingo trat von der Seite in ihre Nähe.

»Du allein, Held, hörst nicht auf den Jagdgesang?« fragte Irmgard.

»Noch andere bleiben zurück«, versetzte Ingo, nach der Halle weisend.

»Zweifle nicht an ihrer Treue«, flehte Irmgard. »Wenn du bei [] deinen Helden bist, sorgen wir nicht sehr, daß wieder ein Feuer zwischen ihnen und unseren Männern aufbrennt.« So mahnte ihn das Weib, welches er liebhatte, selbst zu der Jagd, die manchem kummervoll wurde.

Ingo rüstete sich schnell mit dem Jagdzeug und eilte den Genossen nach, er erreichte sie noch vor der Teilung und wurde von seinen Kriegern mit Zuruf empfangen, auch die Landgäste freuten sich seiner, und als gute Gesellen betraten alle den Wald. Hildebrand wies die Pfade, und von den Jünglingen des Dorfes geführt, verschwand ein Haufe nach dem andern in den Talwindungen und zwischen den Hochstämmen. Bald erschollen aus der Ferne die Schläge der Treiber an die Stämme, das Gebell der Hunde und zuweilen ein lustiger Hornruf. Diesmal hatten die Vandalen den besseren Erfolg, sie beschlichen eine Auerherde, darunter den mächtigen Stier, der bereits im Hofe verkündet war, und ihnen gelang es, die Herde von der Höhe in ein tiefes Tal zu treiben, wo die Schneewehen den großen Leibern der Tiere den Lauf hinderten. Dort warfen sich die Männer von oben gegen die riesigen Stiere, mit gellendem Jagdruf, mit Pfeilschuß und Speerwurf drangen die Gesellen vom Rand der Höhe talab. Und sie fällten die Herde, nur ein Häuptling der Tiere, das Ungetüm, brach durch zu wegsamerer Stelle. Da warf Ingo das schwere Eisen gegen ihn, ein Blutstrom ergoß sich nach dem Wurf. »Er hat es!« rief Ingo, und der Heilruf der anderen antwortete. Aber der Waldriese arbeitete sich empor bis zum Hochwald, in weiten Sprüngen folgte ihm speerlos Ingo, sein Messer schwingend. Wieder brach das Tier, den Speer schleppend, in ein tiefes Tal, und während Ingo auf der Höhe vorwärtsstürmte, um ihm auf schneefreiem Grunde zuvorzukommen, hörte er unten Gebell der Hunde, Jagdruf und Hornklang, und als er sich in das Tal warf, fand er den Stier am Boden, den Speer Theodulfs im Leibe, der Mann aber stand auf dem Tier und blies den Siegesruf. »Mein ist das Wild nach Weidrecht«, rief Ingo und schwang sich auf den Leib des Gefällten, »mein Speer gab ihm den Todeswurf.« Über der Beute standen die Männer gegeneinander, und heißer Haß sprühte aus ihren Augen. »Mein ist die Waffe und mein der Stier«, rief Theodulf. Da riß Ingo den Speer des andern aus dem Leib des Stiers und warf ihn weitab, so daß er in den Ästen einer Fichte hängenblieb. Dem Thüring schlugen vor Wut die Zähne zusammen, einen Augenblick machte er Miene, sich im Faustkampf gegen Ingo zu stürzen, aber die stolze Haltung des Mannes verwirrte ihm den Gedanken, er sprang zurück und hetzte die Meute der Hunde gegen Ingo. Heulend fielen die wütenden Tiere den Helden an, vergebens schrie Hildebrand: »Wehe!« Ingo stieß mit seinem Messer das grimmigste nieder, aber auch die Vandalen sprangen herzu, den König aus der Not zu retten, und trieben ihre Eisen den Hunden in den Leib. »Geendet ist [] die Jagd!« rief Berthar befehlend, »jetzt beginnt eine andere, der Bube darf die nächste Sonne nicht schauen, der die Hunde auf unseren König gehetzt hat. Heut waren wir Hundeschläger, wie du uns nanntest, und der letzte Hund, den wir schlagen, bist du.« Er hob die Keule zum Wurf, aber mit eisernem Griff umklammerte ihm Ingo den Arm: »Keiner wage ihn zu berühren, der Mann gehört meinem Schwert. Du aber, Hildebrand, lade die Richter zum Weidgericht, auf der Stelle vor blutiger Spur und erlegtem Wild entscheidet über mein Recht.« Die beiden Haufen wählten gesondert jeder einen Mann, diese den dritten. Die Richter schauten die Wunden, folgten der Todesspur bis zu der Stelle, an welcher Ingos Eisen den Stier getroffen, dann kehrten sie zurück, traten zusammen und sprachen das Urteil: »Dem Helden Ingo gehört die Beute.« Ein wildes Lächeln flog über das Antlitz des Königs, er kehrte dem Stier den Rücken. »Ich rate«, begann Hildebrand mit trüber Miene, »daß die Haufen nicht in gleicher Zeit zum Hofe ziehen, gefällt's euch, ihr Helden, so nehmt den Vortritt.«

»Die leichtesten seid ihr«, versetzte Berthar, »meine Gesellen werden Mühe haben, ihre Beute aus dem Walde zu schleifen. Dennoch meine ich, daß wir auf die Jagdehre nicht verzichten, denn von dieser Jagd wird im Lande noch länger erzählt.« Schweigend schritten die Bankgenossen des Herrn Answald dem Hofe zu, nur Theodulf sprach in seiner hochfahrenden Weise, um durch die Worte den Grimm zu bewältigen, der in ihm kochte; ohne Jagdruf betraten sie den Hof, Hildebrand eilte zum Fürsten. – Es war finster, als die siegvolle Schar mit ihrer Beute ankam. »Blast den Freudenruf«, rief Berthar, »wie so reicher Beute gebührt.« Der Halagesang ertönte, aber niemand öffnete das Hoftor, und Wolf mußte vorspringen und den Querbaum zurückschieben. Die Vandalen legten die Jagdbeute vor dem Hause des Fürsten nieder, schieden grüßend von den Genossen aus Thüringen und sammelten sich still in ihrer Herberge.

Der Hof lag finster, und der Wintersturm heulte über den Dächern, aber in allen Häusern und in der Halle summte das Geräusch halblauter Rede.

Der Abschied

Zum Notkampf auf der Aue, den die Sonne nicht schauen darf, schritt im Grau des nächsten Morgens Ingo mit seinen Schwertgesellen Berthar und Wolf. Unter ihren Füßen ächzte der Schnee, der Nachtwind fuhr um ihre Häupter und trieb Schneeflocken von den Bergen in das Tal; die schwarze Wolkendecke barg alles Himmelslicht, nur die Geister des Todes herrschten auf der Erde, sie schrieen aus dem Winde, sie rasselten in den dürren Bäumen und [] rauschten im Eiswasser die Kunde, daß von zwei Eidgesellen eines Herdes der eine geschieden werden sollte vom Sonnenlicht, damit er hinabsteige in das kalte Nebelreich. Berthar wies schweigend in die Dämmerung, auf der anderen Seite des Baches standen drei Männer, es war Theodulf mit Sintram und Agino, seinen Genossen. »Ihre Füße waren schneller«, sprach Ingo unzufrieden, »rühme die, welche zuerst der Nebelaue den Rücken kehren.« Vor ihnen lag die Stätte des Kampfes, ein sandiges Eiland mit dünner Schneedecke, auf beiden Seiten vom strudelnden Wasser umgeben. Die Schwerthelfer grüßten einander lautlos über den Bach, sie schritten zu den Weiden am Uferrand, schnitten starke Zweige und schälten mit dem Messer die Rinde. Dann sprangen Berthar und Sintram durch das Wasser, beide betraten zu gleicher Zeit den Grund der Aue und steckten den Kampfplatz mit weißen Stäben ab. Darauf trat jeder von ihnen an eine Spitze des Eilandes, der eine stromauf, der andere stromab, und winkte seinem Kämpfer mit dem Arm. Die Kämpfer neigten sich vor den hilfreichen Göttern und murmelten den Notsegen, dann wateten sie durch das Wasser zu ihren Gesellen. Die Helfer wichen zurück über den Bach, und die Todfeinde sprangen gegeneinander, schildlos in Helmkappe und Panzerhemd mit geschwungenem Schwert. Stahl schlug an Stahl, um sie stöhnte der Wind und rauschte das Eiswasser. Es war harter Männerkampf, nicht unwert erwies sich Theodulf des Ruhmes, den er unter seinen Genossen hatte, eine Weile dröhnte der Streit, der so schnell zum Tode führt, und Berthar sah unzufrieden das Rot am Morgenhimmel, den Boten des Tages. Da strauchelte Theodulf unter schwerem Schlage, und wieder sprang Ingo nach ihm und zerbrach ihm mit starkem Schwertstreich das Haupt durch den Eisenhelm, daß ein Blutstrom herausbrach und der Mann des Fürsten rückwärts auf den Schnee sank. Ingo schwang sich über ihn und erhob das Schwert, ihm mit der Spitze die Gurgel zu durchstechen. In demselben Augenblick brach der erste Lichtstrahl über die Hügel, der rote Schein fiel auf das Angesicht des wunden Mannes, Sintram vergaß in der Todesangst das gebotene Schweigen und schrie über den Bach: »Schone sein, die Sonne sieht's.« Bei dem Lichtstrahl und dem Schrei fiel ein weicher Gedanke in die grimmige Seele des Siegers, er zuckte das Schwert zurück und sprach: »Die Herrin soll's nicht schauen, daß ich dem Gastfreund seinen Mann durchsteche. Lebe, wenn du kannst«, er wandte sich ab. Theodulf murmelte am Boden, die Faust gegen ihn erhebend: »Ich danke dir's nicht.« Ingo aber sprang durch das eisige Wasser ans Ufer und wandte der Insel und dem Gefallenen den Rücken, während Berthar vorwurfsvoll sagte: »Zum erstenmal kargte der König, als er einem Todfeind das Reisegeld in das Nebelland zahlte.«

»Ich sorge nicht um eines Mannes Rache, der unter meinem Schwert lag«, versetzte Ingo. Schweigend folgten ihm seine Schwertgesellen, [] während die Helfer des anderen über das Wasser drangen und an der Rüstung des Verwundeten zerrten.

Vor der Gastherberge standen die Vandalen im Haufen gerüstet, ihren Gruß, da sie den König gerettet von der Aue zurückkehren sahen, hemmte Berthar. Im Hofe sammelten sich die Mannen des Fürsten und die Landgenossen in finsterer Erwartung, bis der Weheruf Sintrams erscholl und hinter ihm zwei Männer den gefällten Helden auf einer Bahre in den Hof trugen. Als die Bahre vor dem Hause der Frauen niedergesetzt wurde, stürzte die Fürstin heraus, warf sich mit lautem Schrei neben dem Verwandten nieder und hob die Arme flehend zu ihrem Gemahl. Dem starren Schweigen im Hofe folgte wilde Bewegung. Racheruf und Geschrei; die Landgenossen, die Häupter des Volkes eilten beschwichtigend von einem Haufen zum anderen, auch sie bedachten sorgenvoll, daß ein Feuer aufgebrannt war, welches schwerlich durch klugen Rat gelöscht wurde.

Zuerst geriet Wolf in Bedrängnis. Als er zu seinen alten Bankgenossen trat, welche in gedrängtem Schwarme vor dem Krankenhaus standen, da gaben sie ihm feindselige Blicke und wendeten die Rücken, und Agino sprach: »Wer im Waffengang gegen unseren Gesellen gestanden hat, der ist geschieden von unserer Bank, und wenn ich dir zum letztenmal Gutes raten soll, so meide unsere Nähe, damit dir nicht kaltes Eisen für deinen Verrat zahle.«

»Ihr handelt schmachvoll an dem Genossen«, entgegnete Wolf heftig, »ehrlich habe ich mich gehalten nach meinem Schwur, den ihr damals alle rühmtet; wie durfte ich mich meinem Herrn versagen in der Not zwischen Wasser und Heide?«

»Warst du sein Geselle in der Not«, versetzte der andere, »so birg dich in seiner Kammer und zeche unter seinen Fremden den Met, den er dir schenkt; denn verhaßt ist uns dein Name und getilgt sei dein Gedächtnis in unserem Ringe.«

Auch Hildebrand trat zu ihm und begann feierlich: »Seit du ein Knabe warst, kenne ich dich, und gern möchte ich dir Gutes raten, wenn ich vermöchte; aber es ist ein alter Spruch: wo der Herr gleitet, fällt der Mann zur Erde. Auch wenn unser Fürst Answald dir wohlmeinend ist, er vermag dich nicht zu schützen gegen den Grimm des Hofes. Vielleicht berede ich ihn, daß er dich freigibt von deinem Hofeid, dann wandere mit deinem Schwert und suche dein Heil in der Fremde.«

Wolf trat zur Seite an die Hofmauer und barg sein heißes Gesicht vor dem Blick der Genossen.

»Ist dein Reisegepäck so schwer, daß du weinst wie ein Kind, das die Wanderschaft fürchtet?« sprach eine Frauenstimme neben ihm. Wolf antwortete erbittert: »Daß auch du mich höhnst, Frida, ist ärger als das andere, denn um deinetwillen war ich froh in dem Hofdienst.«

[] »Es gibt wohl andere Höfe als diesen Saal, der abseit liegt von dem Reisepfad der Helden, wo ein Krieger leichter die Gunst des Herrn gewinnt und vielleicht auch Haus und Land, damit er sich einem Weibe vermähle. Mir gefällt nicht die Bank der Helden, an welcher ein Weib gebietet.«

»Du rätst mir zu gehen«, antwortete Wolf in hellem Erstaunen, »und du selbst bleibst doch hier.«

»Für die Kunkel bin ich geschaffen, und ich muß harren, bis mich ein Mann auf sein Roß hebt und in seinen Hof führt. Aber verächtlich dünkt mich eine Herrschaft, welche zuerst vor dem Gaste die Arme ausbreitet und dann beängstigt wird durch seine Gegenwart. Schwinge dich auf, trabe mutig über die Heide und suche dir einen treueren Herrn.«

»Du warst selten freundlich gegen mich, Frida, dennoch kommt mir's schwer an, dich unter den Hofknaben zurückzulassen«, versetzte der ehrliche Wolf.

»Vielleicht weiche auch ich einmal aus dem Hofe«, antwortete Frida trotzig. »War ich auch zuweilen hart gegen dich, Wölflein, so wisse doch, daß ich die Tölpel dort hasse, seitdem sie dir die Genossenschaft weigern.« Sie sah ihn freundlich an und verschwand, Wolf schritt getröstet nach der Herberge der Gäste.

»Was raunen dort die stolzen Knaben untereinander?« fragte ihn Berthar prüfend.

»Sie haben sich von mir geschieden«, antwortete Wolf finster, »weil ich mit dem König Ingo zur Aue ging.«

»Und was meinst du zu tun, junger Thüring?«

»Ich habe mich deinem Herrn gelobt«, antwortete Wolf. Berthar faßte ihn bei der Hand. »So spricht ein wackerer Mann. Immer hast du mir gefallen, denn du warst treu im Dienst und gutartig gegen meine Gesellen. Jetzt will ich sorgen, soweit ich vermag, daß dich die Wahl nicht reue. Tritt zunächst abwärts von uns zu dem Helden Isanbart, damit er dich schütze und dir durch seine Fürsprache von dem Eide helfe, der dich an den Hofherrn bindet. Dann kehre dich zu uns. Einen Sohn haben mir die Götter versagt, ich will dich halten wie mein eigen Blut, den letzten Trunk teile ich mit dir, und mein letzter Schwertschlag sei an deiner Seite. Willkommen in unserer Mitte zur Wanderung auf der Männererde, zum Gewinn von Beute und zum seligen Ende in der Männerschlacht.«

Aber auch Irmgard empfand die Verstörung dieses Morgens. »Wo ist die Tochter?« rief der Fürst am Lager des Verwundeten, »daß sie mit ihrer Heilkunst der Mutter helfe.«

Leise, damit kein anderer die Worte höre, antwortete die zornige Fürstin: »Ungehorsam weigert sie, seinem Lager zu nahen.« Herr Answald trat heftig in Irmgards Gemach, die Wange der Jungfrau war erblichen, aber ihr Auge mied nicht den zornigen Blick des [] Vaters. »Am Lager deines Verlobten ist dein Sitz, du Kaltsinnige!« rief er ihr zu.

»Hassen würde ich mich selbst, hätte ich mein Leben jenem gelobt«, antwortete Irmgard unbeweglich.

»Der Vater tat es für dich, und hätte ich's nicht getan, von deinem Geschlecht ist er und mein Waffengenosse. Ehrst du so wenig, was die Sitte von dir heischt?«

»Auch ich gedenke, mein Vater, was deinem Kind geziemt. Er, der getroffen liegt von wohlverdientem Schlage, hat die Meute gehetzt gegen unseren Gastfreund. Bin ich ein Kind dieses Hauses, so ist er mir fortan ein Fremder und ein Feind.«

»Wie eine Wahnwitzige redest du. Wohl kenne ich den argen Wunsch, der dir den Sinn betört; zu lange habe ich nachsichtig das Unleidliche getragen.« Er hob den Arm gegen die Tochter.

»Töte mich, mein Vater«, schrie Irmgard, »du hast die Macht, aber auf meinen Füßen trete ich nimmer zu dem Bett des argen Mannes.«

»Bist du jetzt so entschlossen«, rief der Fürst außer sich, »so sollst du doch dem Zwange dich beugen. Ich gehe, den Quell abzuleiten, der diesen Jammer in meinen Hof treibt. Du aber lebe gesondert als Gefangene, bis dein trotziger Mut sich fügt.« Drohend verließ er das Gemach und schritt über den Hof nach dem Herdsitz. Dort sammelten sich die Gaugenossen, dorthin wurde auch Ingo von zwei Häuptern des Volkes geleitet.

Das Antlitz des Fürsten war rot vor Zorn, und ihm bebte die Stimme, da er an seinem Herdfeuer in der Versammlung begann: »Zum Tode verwundet hast du, Ingo, Ingberts Sohn, meinen Schwertträger Theodulf, einen Edlen des Volkes, den Verwandten meines Ehegemahls, den Sohn, dem ich meine Tochter zur Hausfrau gelobt; geschädigt hast du ihn an Leib und Leben in heimlichem Kampf, den die Sonne haßt; gekränkt hast du meine Ehre, verletzt die Gastpflicht, gebrochen den Eid, darum weigere ich dir fortan den Frieden meines Hauses und Hofes, ich löse das Bündnis, das einst die Väter verband, die Flamme des Herdes tilge ich, die jetzt noch wärmt, und das Wasser verschütte ich, über dem wir einander gastlichen Frieden gelobt.« Er schwenkte den Herdkessel empor und goß ihn in die Flamme, daß der weiße Dampf sich zischend im Hause verbreitete.

Ingo aber rief dagegen: »Eine Nottat verübte ich, bis zum Tode gekränkt an meiner Ehre, wie sie jeder üben muß, der nicht achtlos im Volke leben will. An deinen gastlichen Herd dachte ich, als der arge Mann unter meinem Schwerte lag und ich die Spitze zurückzog. Für das Gute, das ich unter deinem Dach genossen, danke ich dir noch jetzt beim Scheiden; vor dem Argen, das du und deine Freundschaft mir fortan sinnen, werde ich mich bewahren. Wie du die [] Flamme getilgt, die mir gastlich geleuchtet, so werfe ich das Gastzeichen, das dein Vater meinem Vater übergab, in die kalten Kohlen deines Herdes, ab tue auch ich die Gastpflicht, die mich hier band, als ein Fremder kam ich und als ein Fremder gehe ich; den Göttern, den hohen Schwurzeugen klage ich das Unrecht, das du an mir und meinem Geschlecht verübst, und ihren Segen erflehe ich für jeden, der in diesem Hofe und Lande mir Gutes wünscht.« Er wandte sich zum Abgang, da erhob sich Isanbart und sprach: »Bist du durch eine Nottat verfeindet unserem Häuptling, den wir ehren, so bist du noch nicht verfeindet dem Volk, das dir durch unseren Mund den Frieden gelobt hat. Willst du harren, bis die Gemeinde über deinen Zwist mit Herrn Answald entschieden hat, so bist du willkommen mit deinem Gesinde im Hofe und am Herd eines Alten, der einst im Kampf an der Seite deines Vaters gestanden hat.«

Ingo trat zu dem Greis und neigte sich tief vor ihm: »Segne mein Haupt, o Vater, bevor ich scheide. Denn unrühmlich wäre mir, fortan noch im Gaue zu verweilen und Zwiespalt in den Dörfern aufzuregen. Deiner Treue denke ich aber, solange ich atme.«

Der Greis legte ihm schweigend die Hand aufs Haupt, dann trat Ingo auf die Schwelle. Mit Zorn und Sorge sah der Fürst, daß sich ein Teil seiner Landgenossen erhob, den Scheidenden zu geleiten. Isanbart bot dem Fremden die Hand und führte ihn durch die Schar der Hofmannen, welche, bewaffnet mit drohenden Gebärden, um die Tür drängten; diesen gegenüber hielten auf ihren Rossen die Vandalen, bereit zum Aufbruch und, wenn es not war, zum Kampfe. Aber die Würde der Volkshäupter bändigte den Grimm der Jüngeren; Ingo schwang sich auf sein Roß, das ihm Berthar zuführte, noch einen langen Blick warf er zurück in den Hof, dann trieb er sein Roß zum Sprung durch das Hoftor, ihm folgte ebenso die Schar seiner Mannen. Als die Hofgenossen ihnen Drohworte nachriefen, gebot die zürnende Stimme Isanbarts Schweigen. Der Fürst aber saß stumm in schweren Gedanken an seinem kalten Herde.

Hinter den Reisenden klapperten auf dem gefrorenen Boden Roßhufe, Bero trieb sein Pferd an Ingos Seite und begann, nachdem er eine Weile neben ihm geritten war: »Ich war's, der deine Gesellen dir zuführte, heut möchte ich dir guten Willen erweisen; das Dorf, in dem ich hause, liegt auf deinem Wege, laß dir's gefallen, Held, bei mir einzukehren und Bauernkost zu versuchen.«

»Ich rate, Herr«, sprach Berthar, »daß du der Ladung des Freien folgst, denn wohlgesinnt habe ich ihn gefunden und von klugem Rat.«

»Du bist nicht der einzige deines Geschlechtes, der es mit uns gut gemeint hat, da wir im Herrenhofe waren«, versetzte Ingo mit trübem Lächeln. Und die Helden verabredeten den Besuch, worauf Bero zufrieden seinen Gaul in einen Seitenpfad lenkte.

[] Ihm folgte mit lautem Zuruf Rothari. »Eure erste Einkehr sei in meinem Hofe«, rief der runde Mann und streckte seine Hand vom Roß aus, um vielen die Hand zu schütteln. »Wirf die Sorgen hinter dich, Held, und grolle nicht mit uns anderen, weil du in Unfrieden von einem scheidest«, und neben Ingo reitend, fuhr er vertraulicher fort: »Auch in unserem Gau wird mancher Mann sich wundern, daß dein Schwert einem Zänker nicht die letzte Ehre vergönnt hat, denn der Mann und sein Geschlecht haben Feinde im Volke, weil sie unbillig sind, und ich bin auch einer davon.« So trabte er mit tröstlichen Worten unter den Gästen, wirbelte zuweilen seinen Speer in der Luft und erzählte lustige Fahrten, bis auch die Fremden zuhörend lachten.

Als am nächsten Morgen der erste Dämmerschein in das dunkle Gemach fiel, erhob sich Irmgard leise vom Lager, damit sie die schlafende Wächterin nicht wecke, und sprach bei sich selbst: »Mir träumte, oben am Gießbach steht der eine, der mich erwartet. Vereist ist das Ufer der rinnenden Flut, gelöst ist der Fichtenbaum, der an unserem Boden hing, talab treibt er mit dem Wasser zwischen Eis und Steinen, und nimmer sehe ich ihn wieder. Nicht weiß ich, was ich noch im Leben lieben soll, da er von uns wich.« Sie warf eine dunkle Hülle um ihr Gewand, öffnete leise die Tür und schritt über den leeren Hof. »Wer löst mir die Riegel am Tor?« sprach sie an der Pforte, aber als sie daran rührte, fand sie die Holzkeile des Sperrbaumes herausgetrieben. Sie ging durch das Tor und eilte über den Schnee den Bergen zu an die Stelle, wo sie früher den Geliebten gefunden. Als sie aber näher kam und am Gießbach eine hohe Gestalt in der Dämmerung erkannte, erschrak sie und hielt an. Da eilte Ingo ihr entgegen: »Ich dachte dich zu finden an dieser Stelle, die Ahnung trieb mich auf schnellem Rosse durch die Nacht.«

»Unter die Feinde reitet der König«, antwortete Irmgard, »weil mein Geschlecht ihm die Treue brach. Bitter ist der Gedanke, verhaßt ist mir das Leben. Denn auch du wirst uns zürnen, wenn du in der Not an die Halle meiner Väter denkst.«

»Deiner gedenke ich, wo ich auch weile«, rief Ingo, »von dir hoffe ich alles Heil meiner Tage. Die Liebste bist du mir, und stark ist dein Mut, darum lege ich heut in deine Hand die Fäden, an denen, wie die Priesterin sprach, mein Schicksal hängt.« Er bot ihr eine kleine Tasche von Otterfell mit starken Riemen daran. Irmgard sah scheu auf die Gabe. »Sie birgt den Drachenzauber«, fuhr Ingo leise fort, »den Sieg der Römer, wie unsere Krieger meinen, und auch mein Los. In der Königsburg hat der Römer Gold gespendet, möglich ist, daß die Mannen des Königs mir Unheil bereiten. Töten sie mich mit meinem Gesinde, so soll doch der Römer nicht wiedergewinnen, was, wie man sagt, ihm den Sieg verleiht. Darum bewahre du mir den Purpur, bis ich ihn fordere; wenn aber den[] Feinden ihr Werk gelingt, dann trage das Geheimnis zu dem Totenhügel, den sie über mich werfen, und senke es dort tief in die Erde, damit kein Fremder es jemals gewinne.«

Irmgard ergriff die Tasche, hielt sie mit beiden Händen, und ihre Tränen rollten darauf. »Fremd wurdest du dem Herd meiner Väter, mein Gastfreund bleibst du doch, Ingo, und nahe an meinem Herzen sollst du wohnen. Hier bewahre ich, was du mir botest, und zu den Schicksalsgöttern flehe ich, daß dies Unterpfand auch mir Anteil werbe an deinem Geschick. Wäre ich als Knabe geboren, wie die Eltern sich wünschen, ich dürfte dir auf deinem Pfade folgen. Aber einsam werde ich sitzen, mit verschlossenen Lippen im freudelosen Hause, und an dich werde ich denken, den nur die Habichte schauen, die wilden Vögel, wenn sie zwischen Himmel und Menschenerde fliegen. Denn ruhelos wanderst du, edler Mann, durch feindliche Mauern unter wehendem Wind und fallendem Reif.«

»Traure nicht, Holde«, bat Ingo, »denn ich fürchte nicht, daß es den Feinden gelingen wird, mich auszutilgen; wirbelt auch kalter Schnee, mein Herz ist froh, da ich dir vertraue, um die ich sorge. Bei Nacht und Tag ist mein Gedanke, wie ich dich mir gewinne.«

»Dem der Vater zürnt und den die Mutter haßt, den liebt das Kind, gibt es größeres Leid auf Erden?« klagte Irmgard.

Da umschlang er sie mit seinen Armen und sprach zärtlich: »Birg deine Liebe still vor den anderen, wie der Baum seine Kraft in der Erde birgt, wenn der Sommer weicht. Jetzt tobt um uns die wilde Gewalt des Winterriesen, mit weißem Bahrtuch bedeckt ist die Wonne der Flur. Auch du, Holde, trage still die eisige Last. Wenn die Knospen springen und junges Grün aus der Erde sprießt, dann schaue empor zur Frühlingssonne und lausche, ob du den Sang der wilden Schwäne hörst, wenn sie durch die Luft ziehen.«

»Ich berge und harre«, antwortete Irmgard feierlich, »du aber denke, wenn der Sturm um dein Haupt tobt, daß ich zu dir klage und rufe, und wenn die milde Sonne über dir lacht, daß ich um dich weine.« Sie riß ein Band von ihrem Gewande und knüpfte es um seinen Arm. »So binde ich dich für mich, damit du auch wissest, daß du mir gehörst, wie ich dir«, und sie warf die Arme um seinen Hals und hielt ihn fest umschlungen.

Von der Seite klang mißtönend der Schrei eines Raubvogels. »Der Wächter mahnt, daß du dich von mir wenden sollst«, rief Ingo. »Segne mich, Irmgard, daß meine Reise heilvoll sei für dich und mich.« Er neigte das Haupt unter ihre Hände, sie aber hielt die Arme über ihn, bewegte die Finger und raunte den Segen. Dann umfing der Mann sie noch einmal in heißem Trennungsweh und schwang sich aufwärts in den Tannenwald. Irmgard stand wieder allein zwischen Feld und Wald, und um sie wehte der Winterschnee.

Spät am Morgen ritten die Vandalen aus dem Hofe Rotharis, [] unter ihnen Ingo mit gehobenem Mut, obwohl er schwieg, denn seine Gedanken flogen zurück zu dem Weib im Herrenhofe. Um Mittag kamen sie zu dem Dorf, das man im Lande »freies Moor« nannte, wo die Hofstätte Beros stand. Die Sonne schien lustig auf das weiße Erdtuch, und an den Häuptern der Weiden glitzerte der Reif. Die Brücke über dem Dorfgraben war mit grünen Fichtenzweigen geschmückt, am Wächterhaus daneben standen die Landleute im Festkleide, vor ihnen Bero und seine sechs Söhne, kräftige Jünglinge mit starken Gliedern und großen Händen. Und Bero rief: »Als die letzten Gaugenossen wohnen wir an deiner Straße, und wir gedenken euch warm zu halten unter unseren Rohrdächern, bis ihr in die Fremde reitet.« Die Reiter stiegen fröhlich ab und schritten zwischen den Landleuten in das Dorf. »Wir teilen uns in die Bewirtung«, fuhr Bero fort, »damit jeder von den Nachbarn Gastfreunde ehre, und gefällt es den jungen Gesellen, so mögen sie nach dem Mahl mit unseren Knaben die Mädchen zum Tanze führen in geräumiger Stube oder auf gefegter Tenne, wie unser Brauch ist.« Darauf ergriff er selbst den Zügel von Ingos Roß und geleitete seine edlen Gäste durch das offene Hoftor. Während seine Söhne die Rosse anbanden und den Hafer schütteten, traten die Herren vor das Haus, auf dessen Schwelle Fridas Mutter mit ihren Mägden auf die Fremden wartete und die sonnengebräunte Hand bot. Über dem gestampften Lehmboden der weiten Hausflur stand ein gedeckter Tisch mit den Holzstühlen, von der erhöhten Bühne im Hintergrunde guckten blauäugige, flachsköpfige Kinder hervor und bargen, wenn die Gäste ihnen zulachten, verlegen die Köpfe hinter der Brüstung. »Rufe zum Mahl«, mahnte der Bauer seine Frau, »und bringe das Beste, was wir vermögen, denn die Gäste sind Herrenkost gewohnt.« Ingo lud die Wirtin neben sich auf den Sitz, sie aber wehrte und trug selbst die Speisen auf und ab. »Das dünkt mich gute Gewohnheit«, erklärte Bero, »denn das Auge der Wirtin sieht am schnellsten, was dem Gaste fehlt, und auch dem Wirte wird zuweilen lästig, wenn die Ohren der Dienstleute auf das gesprochene Wort horchen.«

Viele Gerichte bot die Wirtin, endlos trug sie die Schüsseln, und bei jeder nötigte sie zu nehmen. Endlich führte der Wirt den König und Berthar in seine Kammer, dort saßen die drei am kleinen Tisch nieder, und er schenkte ihnen in die Töpfe kräftigen Met, vor Alter schwärzlich und dick wie Honigseim. »Den Trank hat meine Mutter gebraut, da sie in diesen Hof kam«, sagte er empfehlend. Er hob seinen Krug, brachte den Gästen den Heilgruß und begann feierlich: »Unsere Alten verkünden, daß einst ein Gott die Edlen schuf, die freien Bauern und die Knechte, da er über den Erdgarten wanderte. Jeder Art verlieh er besondere Gaben, euch Edlen, das Volk im Kampfe anzuführen, wenn wir euch folgen; uns dagegen, im Sommer [] und Winter über den Fluren zu walten, den Knechten, sorgenvoll mit gekrümmtem Rücken zu arbeiten. Der Edle und der Freie – beide können einander nicht entbehren. Ihr Helden vermögt nicht Ruhm zu gewinnen, wenn wir euch nicht auf die Kampfheide nachziehen, und wir mögen nicht sicher bauen, wenn ihr uns nicht durch Rat und Waffenwerk die feindlichen Nachbarn abwehrt. Ihr habt die beste Ehre im Kampfe, denn selten feiert der Sänger die Kriegstat der Bauern, aber ruhelos ist euer Leben, und unstet fahren die Geschlechter der Edlen dahin. Wir aber weilen dauerhaft auf dem Acker, und wenn auch ein Wirt erschlagen wird und sein Hof verbrannt, so treten doch seine Söhne in die Schuhe des Vaters, zimmern und bauen wieder über den Schollen.«

Die Gäste freuten sich der guten Rede und nickten ihm Beifall. Und bedächtig fuhr Bero fort: »So habe ich nun euch, ihr Helden, durch manche Woche beachtet, und ich habe erkannt und vernommen, daß ihr billig denkt und in guter Zucht lebt. Darum meine ich, wir könnten wohl einander nützlich sein. Hofft völlig nichts von unseren Edlen, manche unter ihnen wissen sich selbst nicht zu beraten; und erwartet nichts von dem Könige, denn er hegt Argwohn und Neid gegen jedermann, der ihm nicht dient. Versucht darum euer Heil mit den Bauern. Als ich dich, Held Berthar, vom Süden herführte, da sprach ich bereits ein wenig von meinem Geheimnis, wie man mit einem Fremden spricht; heut aber will ich euch völlig vertrauen. Gastfreund bin ich von den Ahnen her mit freien Männern am Idisbach. Sie gehören einem redlichen Volk zu, man nennt sie die Marvinge. Blutsverwandt sind sie uns Thüringen, längst aber hausen sie für sich als ein kleiner Stamm in den Tälern am Bach der Idis, der hohen Schicksalsfrau. Sie haben vor Jahren ihr Herrengeschlecht und die besten Krieger verloren, weil diese sich ihnen verfeindeten und nach Ruhm und Beute westwärts unter die Franken zogen.

Seitdem sitzen die Zurückgebliebenen, bedrängt von unseren Siedlern, jenseit der Berge und südwärts gegen den Main von den Burgunden. Unleidlich ist ihnen die Doppelzwinge geworden, und ein Teil bereitet sich in der Stille, wenn die Bäume wieder grüne Reiser treiben, gleichfalls auszureisen und den Fürsten nachzuziehen. Deshalb ritt auch ich im Herbst über die Berge, um Rosse und Zugochsen zu vertauschen gegen ihre Schweine, die sie nicht selbst schlachten wollen. Dort sah ich wonnevolles Weideland, billig zu kaufen, und ich dachte an die Knaben in meinem Hofe. Die Gastfreunde aber klagten mir, soviel ihrer jetzt noch im Land der Väter bleiben wollten, daß ihrem kleinen Bienenschwarm der Weisel fehle, denn sie entbehren ein Herrengeschlecht, welches für sie mit den Nachbarn gute Freundschaft halten könnte oder auch rühmlichen Streit führen gegen die raublustigen Edlen an der Grenze. Die Bauern im Idistale [] aber wollen nicht Thüringe, nicht Burgunden werden, sondern ihre eigene Art behalten und wollen sich lieber mit einem fremden Geschlecht zusammenschwören, als mit unseren Edlen, am wenigsten aber mit den Königen. Darum denke ich an dich, Held Ingo. Denn euer sind wenige, ihrer sind mehre, und ihr vermögt nicht, sie zu bedrücken. Dorthin rate ich dir im Frühjahr zu gehen. Ob es euch zum Heile wird, da müßt ihr selbst zusehen, aber manchem, der das Land baut, wäre es Vorteil, und darum rate ich's euch.«

»Achte auf seine Rede, mein König«, rief Berthar, »dies ist die beste Botschaft, die du seit lange gehört, und wahrhaft jedes Wort; ich selbst sah das Land und sprach die Männer. Vom Main waren wir nordwärts geritten über die Grenze der Burgunden, durch mageren Kiefernwald und sandige Heide, da erblickten wir von der Höhe ein weites Tal, darin ein rinnendes Wasser, das sie den Bach der Schicksalsfrau, der heiligen Idis, nennen. Steile Hügel mit Laubwald, auf der Wiese so hohes Gras, daß unsere Rosse Mühe hatten durchzuschreiten. Dort weiß ich eine Berglehne, wohl geeignet für eines Königs Burg: wie von einer Warte sieht man über das Idistal und über die Wälder bis weit hinter den Main.«

Ingo lachte. »Auch du, grauer Wanderer, hoffst auf Zimmerarbeit und einen warmen Sitz am eigenen Herde? Seltsam ist das Schicksal des Fahrenden, der Fürst weist mich von seinem Hofe, der Bauer bietet mir ein Land, gerade da wir wieder dahinziehen ohne Haft auf dem Boden, der Wolke ähnlich, die unter der Sonne treibt. Nur eines fürchte ich, du verständiger Wirt: durch die Mauern des Königs Bisino muß ich zu dem Idisbach reiten.«

»Meide den König«, mahnte Bero, »weiche über die Grenze, so wirst du seiner ledig.«

»Zürne nicht«, antwortete Ingo, »wenn ich diesmal in die Gefahr springe wie ein fahrender Recke und nicht herumgehe wie ein seßhafter Mann. Ich selbst habe dem König auf seine Ladung die Antwort gegeben, daß ich kommen werde, und ich halte mein Wort, obgleich er mir abhold ist. Auch du wirst die Fahrt nicht schelten. Denn meide ich jetzt noch den König, so erkennt er meinen feindlichen Sinn, und wenn unsere Knaben, wie du willst, im Frühjahr einen Holzring unweit seiner Landesmark zimmern, so würde seine Rache den Siedlern am Idisbach schnell ein finsteres Schicksal bereiten.« Er ergriff die Hand des Bauern. »In anderem will ich deinem Rate folgen, und darum sage mir jetzt, wie ich um den Landbesitz mit deinen Gastfreunden handeln soll, damit wir uns in der grünen Reisezeit durch Bündnis vereinen.«

Die Helden neigten die Häupter und saßen lange in Beratung, während draußen die Schalmei und Sackpfeife tönte und die jauchzenden Paare zum Tanze zogen.

[]

Ingo am Königshofe

Auf einer Anhöhe hielt Wolf, der den Vortrab führte, und wies mit der Hand in die Ferne. Vor der reisigen Schar erhob sich aus der schneebedeckten Landschaft der mächtige Steinbau einer Königsburg, hohe Mauern, dicke Türme mit Zinnen, dazwischen die rotbraunen Ziegeldächer der Königshäuser, ein schreckhafter Anblick für die Landgenossen. »Leicht mögen die Vögel in solchen Käfig hineinkommen, aber herauszufliegen wird nicht jedem gelingen«, brummte Berthar. Ein kurzer Hornton klang von den fernen Zinnen. »Dort rührt sich der Türmer, jetzt trabt, damit sie unseren Eifer erkennen.«

Durch einen Hohlweg zwischen zwei Felsen ritten die Fremden dem steinernen Außenwerk zu, welches der Brücke vorgebaut und auf seiner Höhe mit bewaffneten Mannen besetzt war. »Die Knaben haben die Tore geschlossen, um sich auf unseren Besuch zu bereiten«, rief der Alte und schlug an den eisernen Klöpfel des Tores. Von der Höhe fragte der Türmer nach Namen und Begehr. Ingo antwortete. Aber lange harrte die Schar, und ungeduldig stampften die Rosse, bevor das schwere Tor sich knarrend öffnete und die Brücke dahinter zur Erde sank. Die Reiter sprengten in den Hofraum der Burg, an allen Türen drängten sich bewaffnete Männer; der Sprecher des Königs trat den Gästen entgegen, noch einmal klang Frage und Antwort, dann riet der Mann mit umwölkter Miene abzusteigen und geleitete die Helden, welche ihre Rosse am Zügel führten, vor die große Königshalle. »Wo weilt der Wirt?« rief Berthar unwillig gegen den Sprecher, »mein Herr ist nicht gewöhnt, die Schwelle des Hauses zu betreten, bevor der Hauswirt darauf steht.« Aber in dem Augenblicke öffnete sich die Tür der Halle, König Bisino stand im Kreise seiner Edlen am Eingang, neben ihm Frau Gisela. Ingo trat auf die Stufen und neigte sich. »Lange haben wir vergeblich auf dich gewartet, Fremdling, und säumig war der Lauf deines Rosses aus dem Walde zu meinem Sitz«, begann der König mit düsterem Blick. Sogleich aber trat Frau Gisela einen Schritt vor, sie bot dem Helden die weiße Hand zum Willkommen und winkte grüßend mit dem Haupt seinem Gefolge zu. »Da ich ein Kind war, nicht größer als hier mein Sohn, sah ich dich, Herr, in der Halle der Burgunden; aber wir denken vergangener Zeit und alter Freundschaft. Reiche dem Vetter die Hand«, befahl sie dem Knaben, »und siehe zu, daß du ein Held wirst, gerühmt in dem Volk wie er.«

Das Kind hielt dem Gaste die Hand hin, Ingo hob den Kleinen zu sich empor und küßte ihn, und der Knabe hing sich sogleich vertraulich um den Hals des Mannes. Jetzt trat auch der König näher; zwischen dem Königspaar schritt Ingo in die Halle und tauschte mit beiden Worte der Begrüßung, bis der König dem Sprecher befahl, die fremden Gäste zur Herberge zu führen. Ingo kehrte zu seinem [] Gefolge zurück, die Mienen der Thüringe wurden freundlicher, ein und der andere Krieger trat zu den Fremden, begrüßte sie und begleitete sie an den Saal, der zur Wohnung der Gäste bestimmt war. Die Diener trugen Speise und Trank, Polster und Decken. Und wieder kam der Sprecher des Königs und lud Ingo zum Königsmahle.

Es war später Abend, als Ingo, von einem Kämmerer des Königs und dem Fackelträger geleitet, zu der Herberge seiner Mannen zurückkehrte. An der Tür des Saales saß Berthar allein, das Schlachtschwert hielt er zwischen den Beinen, der Schild lehnte am Pfosten, im Fackellicht schimmerte sein grauer Bart, und der Panzer unter dem Lodenrock. Ingo entließ grüßend die Diener des Königs, Berthar steckte die Fackel in die große Tülle des eisernen Leuchters, der mannshoch in der Mitte des Raumes ragte. Der Lichtschein fiel auf die Reihen der Männer, die auf den Polstern am Boden schliefen, das Schwert an der Seite, zu ihren Häuptern Helm und Panzerhemd. »Du hieltest treue Wache, Vater«, sprach Ingo, »wie behagen dir unsere neuen Wirte?«

»Sie schielen«, lachte der Alte, »das Sprichwort gilt, je größer ein König, um so wilder die Flöhe in der Schlafdecke, die er dem zugewanderten Gast breitet. Mager war die Abendkost, die der Wirt bot, aber die Königin sandte Wein und süßes Zubrot, und deine Knaben liegen satt und reisemüde bei ihrem Heerschild. Es ist ein geräumiger Bau«, fuhr er fort, in die dunklen Winkel spähend, »dort auf der Bühne ist dir in einer Laube das Herrenlager aufgeschlagen. Merke, mein König, unter den Steinwänden der Riesenburg ist dies der einzige hölzerne Saal, abseit steht er an der Mauer, die ihn im Rücken überragt, und wenn einer der Königsmannen etwa bei Nacht eine Fackel an das Holzwerk legt und die Tür schließt, dann lodert der Saal still in Flammen auf, und das Knistern wird die Ruhe des Burgherrn wenig stören.«

Ingo wechselte einen Blick des Verständnisses mit dem Alten und fragte leiser: »Wie war der Gruß der Königsmannen?«

»Sie schlichen wie Füchse um das Nest, wenig sind sie an Hofsitte gewöhnt, sie prahlten mit der Macht ihres Gebieters und betrachteten prüfend unsere Waffen. Ich merke, Herr, sie hoffen alle, daß sie mit uns scharfen Schwertschlag tauschen werden. Mein König war zuweilen von Feinden umringt, nie aber war das Gehege so fest.«

»Noch weiß König Bisino nicht, was er befehlen soll«, versetzte Ingo, »und die Königin ist uns wohl gesinnt.«

»Keiner vom Hofgesinde rühmte mir, daß die Königin schön sei«, versetzte der Alte, »daraus erkenne ich, daß sie ihre Herrin fürchten. Vielleicht hilft die Furcht meinem König diese Nacht zu ruhigem Schlaf. Ich lösche die Fackel, damit ihr Schein nicht einem Speer die Ruhestätte verrät. Stets ist dem Gaste die erste Nacht in der Herberge die sorgenvollste.«

[] »Vielleicht auch die letzte«, versetzte Ingo. »Mir ziemt die Wache, Vater, dich sende ich auf das Lager.«

»Meinst du, der Alte würde schlafen, wo sich dein Auge nicht schließt?« Er trug für Ingo einen Sessel in die Nähe des Eingangs, wo der Schatten den Sitzenden deckte, dann lagerte er selbst wieder auf seinem Schemel, legte die Hände auf den Schwertgriff, lauschte nach dem Geräusch im Hofe und schaute zuweilen nach dem Sternenhimmel der frischen Winternacht. »Auch die Sterne dort oben sitzen, wie man sagt, auf silbernen Stühlen und wehren das Unheil von dem bedrängten Manne, welcher flehend zu ihnen aufsieht«, begann Berthar fromm. »Ich bin ein alter Stamm, und es ist Zeit, daß ich gefällt werde; auch für dich, mein König, habe ich zuweilen den Kampf mit edlen Feinden ersehnt, als ruhmvolles Ende deiner Mühen. Jetzt aber schaue ich am Walde ein gutes Weib, das dir treu gesinnt ist, und jetzt fürchte ich für dich die finstere Nachtwolke, welche uns vom Sternenlichte trennt, und ich fürchte den Nachtsturm, wenn er um dies Holzdach fährt. Denn in der Finsternis wird, so denke ich, der König tun, was ihm sein arger Mut eingibt.«

»Du weißt, Vater, manches Mal haben wir die Gefahr kalter Gastfreundschaft überwunden«, antwortete Ingo.

Der Alte lächelte bei der Erinnerung und fuhr gesprächig fort: »Immer lobe ich mir, wenn das Eisen in der Luft fliegt, ein freies Feld und ein besseres Licht als von flackerndem Holz. Dennoch sprichst du gut, König, denn vieles ist unsicher auf der Männererde, aber nichts trügt so sehr als die Erwartung vor dem Streit. Je länger man durch Speere und Schwerter gewandelt ist, desto weniger hegt man Gedanken über das Ende. Und um dir alles zu sagen, ich argwöhne, die hohen Schicksalsfrauen werfen uns vor dem Männerkampf die Lose mit lachendem Munde. Sie schleudern uns in die ärgste Todesgefahr wie zum Scherz und ziehen uns wieder lustig bei der Haarlocke heraus, und ein andermal berauschen sie den Sinn durch Träume des Sieges und legen uns tot auf die Heide. Wie sie aber auch das Herz des Mannes prüfen, zuletzt freuen sie sich doch über uns Schildknaben hier auf Erden und später anderswo.«

Die Rede unterbrach ein leises Schwirren und ein Schlag, ein Pfeil flog aus dem Hofe nach der Stelle, wo Ingo saß, das Eisen schlug an die Schwertscheide, der Pfeil sank auf die Diele. Die Männer blieben unbeweglich, aber kein Ruf und kein neuer Angriff folgte dem Überfall. »Suche dein Bette, du Narr«, rief Berthar und wies auf einen dunklen Schatten, der an den Häusern in der Finsternis verschwand. Er hob den Todesboten auf. »Der Pfeil ist aus einem Jagdköcher.«

»Es ist eine Ware, die Tertullus für uns zurückließ«, versetzte Ingo, »so schwächlichen Gruß sendet König Bisino nicht.«

[] Die Helden saßen harrend, nichts rührte sich weiter, die Sterne rückten auf ihren Stühlen langsam am Himmelsgewölbe dahin, lichtlos lag die Königsburg in tiefem Schweigen. Endlich begann Berthar: »Über den weintrunkenen Knaben des Wirtes liegt jetzt wohl der Schlaf, Zeit ist, daß auch du der Ruhe gedenkst.« Er trat zu den Schläfern und rüttelte Wolf, den Kämmerer, auf; der junge Krieger sprang behende auf die Füße und geleitete seinen Herrn zum Lager, dann ergriff er Schild und Speer und stand neben dem Alten an der Tür, bis der erste graue Tagschein über den Himmel flog.

Für den nächsten Tag war große Jagd verkündet. Auf dem freien Raum vor der Königshalle stampften die Rosse, die Meute der Rüden und Bracken schlug an, mühsam von den starken Weidgängern an den Riemen gehalten, die Mannen sammelten sich in fröhlichem Gewühl, den König zu erwarten. Auch Ingo stand mit einem Teil seines Gefolges an das Roß gelehnt, des Aufbruchs gewärtig. Endlich kam der König, der das Weidwerk noch mehr liebte als einen guten Trunk am Herde, im Jagdkleide, den schweren Jagdspieß in der Hand. Die Hörner bliesen den Morgengruß, und freundlich trat er zu Ingo und fragte laut: »Wie war die Nachtruhe, Vetter? Nicht hörte ich vorher, daß du von den Vätern her ein Blutsfreund der Königin bist, sei mir willkommen auch als Verwandter an meinem Hofe.«

Die Männer des Königs lauschten den Worten und sahen erstaunt einander an. Ingo aber antwortete ehrerbietig: »Ich danke dem König, daß er mir so huldreichen Gruß beut.«

»Wohlan«, fuhr Bisino fort, »versuche heut an unserer Seite die Kraft deines Speers.« Er bestieg sein Roß, das Tor flog auf, die Brücke schwebte herab, und hinaus ins Freie stoben die Hunde, hinter ihnen der reisige Zug. Auch Ingo tummelte fröhlich das Roß, welches sich wie sein Herr des freien Grundes unter den Füßen freute. Er ritt nahe dem König, und forschend sah sein Wirt auf die edle Gestalt und auf die sichere Kraft, mit welcher Ingo sein starkes Jagdpferd bändigte. Zuweilen rief er ihn an seine Seite und sprach zu ihm vertraulich wie zu einem alten Genossen, so daß wohl einer von den Königsknaben dem anderen zuraunte: »Wozu rühmt der Kater die Maus als Frau Base, wenn er sie doch in den Krallen hält.« Aber das war des Königs Meinung nicht, er fand Gefallen an Ingo und hörte in seinem Ohr noch günstige Worte, welche die Königin über den Fremden gesagt hatte und auch sein junger Sohn, der ihm das Liebste auf Erden war. Und der König dachte, er ist fürwahr ein freudiger Gesell, und es macht froh, ihm zuzusehen, warum soll ich ihm nicht Gutes erweisen, solange ich ihn noch unter den Lebenden hegen kann? Es gibt andere, deren Tod mir bequemer wäre. So kam ihm seine Huld wirklich vom Herzen, und er ließ sich lustig berichten von der Kraft eines Löwen, den Ingo im Zwinger der Alemannenkönige gesehen hatte.

[] Bald nahm ein hoher Eichwald die Jagdgenossen auf. Bis dahin hatte das Auge der Königin von der Zinne ihres Turmes den Ausfahrenden nachgesehen. Jetzt rief sie den Kämmerer und die Frauen und stieg hinab in den leeren Hof. Sie hielt zur Verwunderung ihres Gefolges bei der Küche an und sprach einige Worte über den Festbraten mit dem Koch, der solcher Ehre selten genoß und fröhlich gelobte, die Schüsseln des Jagdmahls mit bester Kraft zu rüsten. Als sie zum Saal kam, in welchem die Fremden lagen, hörte sie die Schläge eines Hammers. Berthar saß in der Tür, er tengelte mit dem Schärfhammer die Eisen der Wurfspeere auf einem Stein und sang dazu leise eine gute Beschwörung für scharfes Eisen. Die Königin hielt an, winkte gebieterisch ihrem Gefolge, zurückzutreten, und stand nahe den Stufen, auf den schlagenden Mann schauend, bis dieser aufsah, sein Schurzfell und den Hammer wegwarf und der Königin huldigend entgegentrat. »Welches Wild gedenkst du mit dem Eisen zu fällen, Held des Königs Ingo?« fragte Frau Gisela, »daß du in der Burg weilst, während draußen die Jagdhunde rennen?«

»Den Vorrat schärfe ich für ein anderes Halageschrei«, versetzte Berthar, »weit rühmt man im Lande die Jagdlust des Königs.«

»Ungern wird dein Herr im Walde den alten Kampfgesellen missen.«

»Das Wild, welches Im Sonnenlicht springt, erlegt mein Herr mit seinen Knaben wohl allein, bei der Wolfsjagd in der Nacht will ich ihm nicht fehlen.« Die Königin sah ihm fest ins Auge und trat einen Schritt näher: »Nicht zum ersten Male sehe ich dich, Berthar, ist auch seitdem Schnee auf dein Haupt gefallen, ich kenne dich wieder.«

»Unsicher ist das Gedächtnis des Alten, viele Menschen sah ich, seit mein Herr heimatlos wandert; in mein Auge flogen die Funken, da mein Hof in der Heimat brannte, daß ich das schöne Antlitz vor mir nicht erkenne.«

»Mit Grund zürnst du, Alter, meinem Geschlecht. Einst schlossen der Vater deines Königs und der meine einen Bund, aber Gundomar, mein Bruder, vergaß die alten Eide, er kämpfte als Bundesgenosse eurer Feinde an der Oder, und ich wurde, noch ein Kind, als Gemahl dem König der Thüringe gesandt. Kennst du mich jetzt, Berthar?«

»Das Reis wuchs zu stolzem Baume; andere Vögel singen jetzt in seinem Laube als vorzeiten.«

»Dennoch trägt der Baum jedes Jahr die gleichen Blüten. Und der alte Schlachtenheld findet an der Königin einen Freund. Bist du zufrieden mit deiner Herberge in der Burg, und haben die Königsknaben dir höflichen Gruß geboten?«

»Am Hofe grüßt der Diener wie der Herr; deine Huld, Königin, ist Bürgschaft für den guten Willen der Deinen.«

[] Das Antlitz der Königin umwölkte sich: »Das ist die Sprache stolzer Gäste«, fuhr sie mit gezwungenem Lächeln fort, »lustiger, meine ich, war dir das Leben in den Waldhütten.«

»Wir sind Wanderer, Herrin. Wer heimatlos durch die Völker zieht, dem hilft behender Sinn; Hof und Gemahl sind ihm versagt, er nimmt, was der Tag ihm bietet: die Beute, den Trunk, die Frauen, er hat nicht Wahl und nicht Qual, und sorglos denkt er beim Scheiden an die Arbeit des nächsten Tages.« Der Alte sah, wie die Königin ihn wieder anlachte, sie trat näher und sprach: »Dort in dem Turm ist der Königin Gemach, wenn du einmal zu jenem Fenster aufschaust von deinen Speeren, so brennt dort vielleicht eine Leuchte, dir die Wolfsjagd vorher zu künden.« Sie winkte ihm grüßend und wandte sich zu ihrem Gefolge. Der Alte aber sah ihr staunend nach, dann ergriff er wieder den Hammer und pochte, aber er sang nicht mehr.

In der nächsten Nacht störte kein Pfeil und kein Gebell der Königswölfe den Schlaf der fremden Gäste. Mit jedem Tage wurde der König freundlicher zu ihnen und rühmte vor seinen Mannen ihre Hofsitte und ihre Kunst, die Rosse im Kampfspiel zu treiben. Hermin, der junge Königssohn, kam oft zum Vetter Ingo in die Herberge, übte sich vor ihm mit seinen Kinderwaffen, strich dem Helden Berthar den grauen Bart und bat um lustige Mären. An einem Jagdmorgen wurde Ingo dem Wirt noch genehmer, als er ihm vorher gewesen war. Der König war in seiner Jagdlust den anderen weit vorausgeritten und an einer Bergsteile vom Rosse gesprungen, dort glitt er im Eise aus und lag einen Augenblick wehrlos vor den Hörnern eines wilden Ochsen. Da trat Ingo mit eigener Lebensgefahr über den Leib des Herrn und fällte das wütende Tier. Der König erhob sich, und hinkend von dem Sturze sprach er: »Jetzt wo wir allein sind und keiner meiner Mannen in der Nähe, erkenne ich deine gute Gesinnung; denn wärest du nicht wie ein Rüde herangesprungen, so hätte der Zornige mich geschleudert zum Schaden meiner Rippen, und niemand hätte dir einen Vorwurf machen dürfen. Was keiner zu wissen braucht, weiß doch ich.«

An dem Tage saß der König fröhlich beim Mahl auf dem Herrensitz, neben ihm Frau Gisela, zur anderen Seite Ingo. »Heut freue ich mich des Jagdglücks«, begann der König, »ich freue mich meiner Herrschaft und des Goldschatzes, den ihr alle hier vor Augen seht, und ich trinke Heil dem Helden Ingo, weil er im Kampf mit dem Bergstier ein guter Genosse war. Freuet euch heut alle mit mir, wenn ihr die silbernen Becken und die Goldbecher seht, welche vor euren Augen aufgestellt sind, mir und euch zur Ehre. Auch du, Ingo, hast manchen Hof mächtiger Gebieter besucht; sage mir, Held, ob du irgendwo besseres Gerät aus dem Schatzhause geschaut hast.«

»Gern preise ich deinen Reichtum, o König, denn wo das Schatzhaus [] gefüllt ist, da, meinen wir, waltet der Herrscher in Sicherheit, gefürchtet von feindlichen Nachbarn und von den Argen im Volke. Zwei Tugenden hörte ich immer rühmen an dem mächtigen Volksherrn, daß er versteht, den Schatz zur rechten Zeit zu sammeln und zu rechter Zeit an seine Getreuen zu spenden, damit sie ihm in der Not folgen.«

Diese Worte waren ganz nach der Meinung der Helden, welche am Königstisch saßen, und sie nickten und murmelten beifällig.

»Auch die Alemannen waren ein goldreiches Volk, bis der Cäsar ihnen das Land verwüstet hat«, fuhr Ingo fort. »Doch meine ich, sie gewinnen manches wieder, denn sie sind rührig nach Beute und verstehen den Handel mit den Krämern. Dazu leben sie römischer als andere Landgenossen, in Steinhäusern wohnen dort auch die Bauern, die Frauen sticken mit der Nadel bunte Bilder auf die Gewänder, und um sie hängen süße Trauben im Weinlaub.«

»Kennst du auch Frauen der Römer?« fragte die Königin, »viel Wunderliches erzählen die Mannen des Königs von ihrer Schönheit, obwohl sie braun von Haut und schwarzhaarig sind.«

»Sie sind behend in Sprache und Bewegung der Glieder, und lieblich lockt der Gruß ihrer Augen, nur ihre Zucht hörte ich selten rühmen«, versetzte Ingo.

»Auch du warst im Römerlande?« fragte der König neugierig.

»Zwei Jahre sind es«, bestätigte Ingo, »da ritt ich als Begleiter des jungen Königs Athanarich friedlich in die Mauern der großen Kaiserstadt Trier. Ich sah hohe Wölbungen und Steinmauern, wie von Riesen errichtet. Dichtgedrängt lacht das Volk auf den Straßen, aber die Krieger, welche dort an den Toren stehen mit dem Römerzeichen auf ihren Schilden, haben unsere Augen und sprechen unsere Sprache, obwohl sie sich mit Unrecht rühmen, Römer zu sein.«

»Die Fremden geben uns ihre Weisheit, sie verkaufen uns Gold und Wein, wir aber leihen ihnen die Kraft der Glieder, ich lobe den Tausch«, versetzte Hadubald, dem es unlieb war, wenn man den Römerdienst verachtete.

»Ich aber, o König«, begann Berthar, »halte wenig von der Weisheit der Römer, die andere rühmen. Auch ich war sonst schon in den großen Steinburgen, welche die Römer gemauert haben, zuerst damals, als mein Herr Ingo mich südwärts sandte über die Donau nach der Augustaburg, wo jetzt die Schwaben ihr Heimwesen einrichten. Über die zerbrochene Stadtmauer ritt ich mühsam hinein, dort habe ich viel Unsinniges gesehen, das auch für einen bewanderten Mann unheimlich ist. Die Römerhäuser standen so dicht gedrängt wie eine Schafherde im Gewitter, keines sah ich, wo Raum war für einen Hof, ja nur für eine Dungstätte. Ich fragte meinen Wirt, er sagte, sie hocken, wenn ihnen die Not ankömmt, schamlos wie Hündlein auf der Straße. Ich lag in solchem Steinloch, die Wände [] und der Fußboden waren glatt und schimmerten in vielerlei bunten Farben, als Decke hatten die treuen Schwaben ein Strohdach gerichtet: ich versichere euch, mir war es enge zwischen dem Stein während der Nacht, und ich war froh, als am Morgen die Schwalben im Stroh sangen. Es hatte zur Nacht geregnet, und in einer Wasserlache am Boden sah ich im Morgenlicht zwei Enten. Nicht leibhaftig, sondern auf dem Stein des Bodens, wie gemalt. Ich trat herzu, schlug mit meiner Axt in den Steinboden und fand ein lächerliches Werk aus vielen kleinen Steinen zusammengesetzt, jeder Stein war in den Boden gekittet und oben so glatt geschliffen wie eine Steinaxt; aus solchem bunten Gestein waren die zwei Vögel gemacht, die wir als Enten kennen. Und es war eine Arbeit, über der mehrere Männer viele Tage geschafft haben, nur um den harten Stein zu schleifen. Das erschien mir ganz unsinnig. Und mein Schwabe meinte das auch.«

»Vielleicht ist ihnen die Ente ein heiliger Vogel, welcher sich dort nicht häufig findet; denn manche Vögel sind überall auf der Menschenerde und andere nicht«, sagte Valda, ein verständiger Mann aus dem Gefolge der Königin.

»So meinte ich auch, aber mein Wirt wußte, daß sie dergleichen zu ihrem Vergnügen anfertigen, um darauf zu treten.«

Die Männer lachten. »Formen unsere Kinder nicht auch kleine Bären aus Lehm und Backöfen aus Sand und spielen tagelang mit Nichtigem? Die Römer sind geworden wie Kinder«, rief Valda.

»Du sprichst das richtige. Kleine Steine haben sie zu Vögeln geschliffen, während in ihren Wäldern die Krieger der Schwaben ihre Blockhäuser zimmerten. Auch wenn sie essen wollen, liegen sie wie Frauen, die ihre Sechswochen halten.«

»Was du hier wegen der Enten vorbringst«, rief Wolfgang, der Königsknabe, unwillig, »ist ganz unrichtig und töricht. Denn den Römern ist eigen, daß sie alles nachmachen können in Farben und mit Stein, nicht nur Vögel, auch Löwen und kämpfende Krieger. Jeden Gott und jeden Helden verstehen sie zu bilden, daß er dasteht wie lebendig. Das tun sie sich selbst zur Ehre und ihm zum Gedächtnis.«

»Über den Steinen reiben sie, und aus unserem Blut sind die Helden, welche ihre Schlachten schlagen. Ist es ihre Weise, Knechtesarbeit zu lieben, so ist unsere Weise, über Knechte zu herrschen. Ich preise den Helden nicht, der sich einem Knechte zum Dienst gelobt«, versetzte der Alte.

»Knechte nennst du, die doch Herren sind fast über die ganze Männererde? Älter ist ihr Geschlecht und ruhmvoller ihre Sage als die unsere«, rief Wolfgang wieder.

»Haben sie dir davon geschwatzt, so haben sie gelogen«, entgegnete Berthar. »Ob der Ruhm echt ist und die Sage wahrhaft, das [] erkennt jedermann daraus, wenn sie denen, welche sich rühmen, den Mut beim Männerkampf erhebt. Darum vergleiche ich den Mut der Römer mit einem Wasserschwall, der einst das Land übergoß und dann zu einem Sumpf eintrocknete, den Ruhm unserer Helden aber mit einem Bergquell, der über die Steine rauscht und seine Flut in Täler treibt.«

»Dennoch vertrauen die Weisen der Römer darauf«, warf Ingo ein, »daß ihre Macht stärker geworden ist, als sie ehedem war. Denn sie rühmen sich, daß zur Zeit ihrer Väter ein neuer Gott in ihr Reich gekommen ist, welcher ihnen Sieg verleiht.«

»Ich vernahm längst«, sprach der König, »daß sie ein großes Geheimnis in ihrem Christus haben. Auch ist ihr Glaube durchaus nicht eitel, denn sie sind in Wahrheit jetzt siegreicher als vorzeiten. Vielerlei hört man darüber, und niemand verkündet Genaues.«

»Sie haben ganz wenig Götter«, erklärte Berthar geheimnisvoll, »oder vielleicht nur einen mit drei Namen, einer heißt Vater, der andere Sohn, und einer heißt der dritte.«

»Der dritte heißt Teufel«, rief Wolfgang, »ich weiß das, ich selbst war zu meiner Zeit unter den Christen, und ich versichere dich, o König, mächtiger ist ihr Zauber als jeder andere. Ihr geheimes Zeichen lernte ich und einen Segen, sie nennen ihn Nosterpater, der Heilkraft hat gegen jeden Leibesschaden.« Und er schlug ehrfürchtig ein Kreuz über seinem Weinkrug.

»Dennoch erachte ich in meinem Sinn«, versetzte Berthar hartnäckig, »auch den Römern kommt der Tag, wo sie trotz ihrer gemauerten Städte und trotz ihrer neuen Götter und trotz ihrer Kunst in steinernen Enten erkennen, daß anderswo stärkere Männer leben, welche ihr Holzdach frei in den Wind stellen.«

»Auch uns ist die Kunst der Römer nützlich«, entschied der König. »Es ist einem König Ehre, was die anderen klug erdenken, für sich zu gebrauchen. Doch freue ich mich deiner Worte, Held Berthar, denn verständig ist der Mann, der höher vom eigenen Volk denkt als von dem fremden.«

Und als das Mahl beendet war, und der König mit Ingo allein beim Becher saß, da begann er redselig: »Ich sehe, Held, die Schicksalsfrauen haben dir bei deiner Geburt manches Leid angebunden, aber auch manche gute Gabe, denn sie haben gefügt, daß die Herzen der Menschen sich dir freundlich öffnen. Auch ich, wenn ich deine Rede höre, und wenn ich beachte, wie du unter meinen Mannen dahergehst, möchte dir wohlgeneigt sein. Nur eines beschwert mir den Mut, daß du dich unter meine Bauern in den Waldhütten gelagert hast, denn ihr Sinn war von je aufsässig, und ich fürchte, daß du mir dort zum Schaden hausest.«

»Mein König sorgt ohne Grund«, versetze Ingo ernst, »schwerlich werde ich je wieder am Herde des Herrn Answald ruhen.«

[] »So schnelles Ende nahmen Eide und Genossenschaft?« fragte der König vergnügt. »Soll ich dir glauben, da du mir Seltsames kündest, so berichte mir, wenn es dir gefällt, was dich von ihm geschieden hat.«

»Ungern erträgt der Wirt fremde Einlieger auf seinem Hofe«, sprach Ingo ausweichend. »Vertraulichkeit der Herren zwingt auch die Mannen, Frieden zu halten«, antwortete der König, »du sagst mir nicht alles, und darum vermag ich nicht, dir zu trauen.«

»Will der König mir huldvoll geloben bei seinem Schwert, daß geheim bleibe zwischen uns beiden der Grund meines Zwistes mit Herrn Answald, so will ich dir ihn wahrhaft künden, denn schädlich wäre mir dein Argwohn, und Heil hoffe ich von deinem guten Willen.« Der König hob schnell das Schwert, hielt die Schwurfinger darauf und gelobte.

»Wohlan denn, so wisse, o König, daß mir Irmgard, die Jungfrau, lieb ist und daß der Vater mir darum zürnt, weil er dem Geschlecht des Helden Sintram die Vermählung gelobt hat.«

Vergnügt lachte der König: »Unrecht hattest du, Ingo, wenn du auch ein schlachtenkundiger Mann bist, von dem Häuptling die Tochter zu begehren. Wie darf der Vater dem erbelosen Fremdling seine Erbtochter in die Hand geben? Unsinnig würde ihn das ganze Volk schelten, unleidlich wäre es, daß ein Landfremder auf dem Herrenstuhl der Waldlauben säße. Ja, wenn der Vater selbst dir die Tochter im Ringe der Zeugen angeloben wollte, ich, der König, dürfte das nimmer leiden, und ich müßte meine Knaben reiten lassen und ein Volksheer aufbieten, um euch zu hindern.«

Ingo sah wild auf den König, so daß dieser die Waffe an sich zog. »Feindliche Worte sagst du dem Gebannten. Vieles Leid habe ich erduldet als Gast auf den Bänken, aber schwer gewöhnt sich der Mut des Mannes, mißachtende Rede zu ertragen, und ich meine, der edle Sinn des Königs sollte dem Stolz eines Unglücklichen nicht wehe tun.«

»Besser bin ich dir jetzt gesinnt als je zuvor«, versetzte der König lustig. »Doch bleibt dir wohl noch die Hoffnung, den Groll des Vaters zu überwinden.«

»Gebunden ist der Fürst durch seinen Eid, und mächtig ist das Geschlecht des Sintram am Walde, auch die Hausfrau des Fürsten ist aus seiner Freundschaft.«

Der König schlug auf seinen Weinkrug, wie er pflegte, wenn ihm etwas nach Wunsche war. »Am liebsten wäre mir, die Jungfrau einem meiner Mannen zu vermählen, gar nicht willkommen ist mir, wenn das Geschlecht des Sintram einst die Höfe und den Schutz des Fürsten in seine Gewalt bekommt, denn ich kenne ihren tückischen Sinn. Aber am allerwiderwärtigsten wäre mir, wenn du mit gutem Willen des Vaters sein Eidam würdest. Denn wie der Geruch [] des Honigs die Bären zum Waldbaum lockt, so würde das Lob der Sänger alle streitlustigen Fäuste in deinen Höfen sammeln, Vandalen und andere schweifende Männer, und du würdest als ein Landherr der Thüringe mir schnell feindlich werden, auch wenn du nicht wolltest. Das bedenke«, schloß der König überredend und füllte mit eigener Hand seinem Gaste den Becher. »Trinke, Held Ingo, und begnüge dich. Wenn die Wölfe auf der Walstatt schmausen, dann rühmen sie die Gastfreundschaft deines Schwertes, welches ihnen reiches Mahl bereitete, aber denke nicht mehr darauf, meine Thüringe in den Waldlauben durch Gastgelage zu betören.«

»So höre auch du, König, den Rat des Fremdlings«, rief Ingo zornig, »denke auch du nicht daran, die Jungfrau einem anderen Manne zu vermählen, denn solange ich lebend die Arme rege, soll kein anderer sie heimführen. Schon einmal hat den Theodulf mein Schwert auf die Aue gestreckt, ein Zufall war's, daß er dem Tode entrann, ihm hemme ich den Brautlauf und ebenso jedem anderen aus deinem Volke.«

Jetzt lachte der König so laut, daß er schütterte. »Je länger du sprichst, desto lieber höre ich dich, wenn du auch trotzig gegen mich redest. Du denkst nach eines fahrenden Helden Weise, und ich vertraue, du wirst dich auch bei der Tat so erweisen. Bezwinge den Vater, lege den Theodulf, den stelzbeinigen Narren, auf die blutige Heide und hebe dir das Weib in dein Brautlager. Von ganzem Herzen will ich helfen, daß dir dies alles gelinge.«

Ingo prüfte mißtrauisch die Gebärde des Königs, der so fröhlich vor ihm saß, ob ihm vielleicht der Wein die Gedanken verstöre, und er sprach: »Der Sinn deiner Worte, Herr, ist mir verborgen, du rühmst und schiltst mich um dieselbe Sache. Wie magst du gern hören, was dir unleidlich dünkt, und wie kannst du mir helfen bei einer Werbung, die du selbst hindern willst, auch wenn der Brautvater nicht hinderte?« König Bisino aber entgegnete mit Würde: »Setze dich wieder zu deinem Trinkhorn. Manches, was dem Mann zu Ehre gereicht, ist dir eigen; aber das Schwerste von allem vermochtest du nicht zu gewinnen, du hast nicht die Königskunst. Deine Gedanken eilen gerade vorwärts wie der Hund auf der Spur eines Hirsches; ein König aber kann nicht einseitig sein in Gunst und Rache, vieles muß er bedenken, niemandem kann er völlig vertrauen, und jeden Mann muß er zu gebrauchen wissen in eigenem Nutzen. So gönne auch ich Irmgard, die Jungfrau, lieber dir als manchem anderen; die Jungfrau, verstehe mich, nicht aber ihr Erbe, und nicht nach dem Tode des Vaters den Herrensitz in den Waldlauben.«

Ingo setzte sich neben ihn und neigte gehorsam das Haupt, weiter zu hören. »Seit ich König bin«, fuhr der andere fort, »ist meine Herrschaft unsicher durch den Trotz der Waldleute und die Macht [] ihres Fürsten, des Herrn Answald. Und lange habe ich eine Gelegenheit gesucht, über sie Herr zu werden. Darum warst auch du mir unerträglich in den Waldlauben, weil du ein Führer sein konntest über ihre Haufen. Und wenn deine Vandalenbrut um den Herrensitz dort lagern wollte, so müßte ich dich austilgen als meinen Feind, wenn ich dir auch wohlgeneigt bin. Das bedenke, Held! Jedoch, gewinnst du die Tochter als Feind des Vaters durch Gewalttat, wie die Helden verüben, wenn die Sehnsucht sie treibt, so schwindet das Erbkind aus dem Hofe, und ich brauche nicht zu sorgen, daß die Herrschaft dort auf ein anderes Herrengeschlecht übergehe. Begreifst du jetzt, was ich meine, stierköpfiger Ingo?«

»Die Jungfrau begehre ich und nicht den Herrensitz in deinem Lande. Aber hart ist es mir, daß mein Weib ihr Geburtsrecht verlieren soll, weil sie sich mir vermählt.«

»Dafür laß mich sorgen«, versetzte der König kalt. »Willst du das Weib mit dir führen in die Fremde, so bin ich als guter Gesell auf deiner Seite, nur mußt du mich nicht zwingen, daß ich als König gegen dich das Landrecht verfechte. Sieh zu, Held Ingo, wie du dir das Weib gewinnst durch freche Tat, und ich will dich rühmen.«

»Gönnst du mir das Weib, o König, so gönne mir auch Burg oder Hof, in dem ich sie vor den Verfolgern berge«, rief Ingo und faßte bittend an die Hand des Königs. König Bisino faltete das Gesicht, zuletzt war ehrliches Wohlwollen in seinen Mienen, als er bedächtig antwortete: »Wieder zwingt mich die Königskunst, dir deine Bitte zu weigern. Wie vermag ich in meinem Volke als dein Hehler zu bestehen gegen das Landgeschrei? Kann ich dir insgeheim helfen, so tue ich's gern aus guter Meinung gegen dich, und weil es mir nützt. Wie ich dir aber helfen kann mit Rat und stiller Tat, das erwäge. Nur mein Schatzhaus vermag ich dir nicht zu öffnen, denn Armringe und Römermünzen muß ich für mich selbst bewahren, damit in der Notzeit Krieger für mich fechten.«

»Der große Wirt des Volkes erweist seine Huld, indem er von seinen Schätzen spendet oder den Königsschild über dem Bedrängten hält. Wie will der König mir helfen, wenn er beides versagt?« fragte Ingo enttäuscht.

König Bisino machte die Augen klein und zwinkerte schlau. »Der König schließt die Augen, wie ich es jetzt tue; damit laß dir genügen, Held!« Obwohl unwillig, mußte Ingo lachen über das breite Angesicht des Herrn, während dieser aus den Augenritzen nach ihm schielte. Auch der König freute sich über sein Lachen: »So ist es recht, und jetzt wirf die Sorge von dir, die dich beschwert, und tu mir fröhlich Bescheid, denn lieber trinke ich mit dir als mit anderen, seit ich weiß, daß der junge Bär kein besseres Schlupfloch hat als meinen Zwinger. Darum will ich heut auch dir Geheimes vertrauen. Der Römer Tertullus hat mir jüngst allerlei zugeraunt und [] hohes Gebot getan, wenn ich dich dem Cäsar ausliefere. Und da du hierherkamst, sann ich dir nicht gerade Günstiges. Jetzt aber, da ich dich erkenne, wie du bist, will ich dich lieber für mich selbst bewahren.«

Die letzte Nacht

Um die Türme der Königsburg tobte der uralte Streit der Winterriesen gegen die guten Götter, welche das Wachstum auf der Menschenerde schützen. Die harten Gewaltigen hoben ein graues Wolkendach zwischen Himmelslicht und Erde, sie bedrängten auch den Helden Ingo durch finstere Gedanken und durch Sorge um das Heil derer, die ihm lieb waren. Die Sturmgeister trieben die Schneewehen durch die Ritzen der Herberge bis auf die Schlafdecken der Gäste: selbst der Krieger, welcher einen Bärenpelz trug, merkte den scharfen Zahn des Frostes, drängte sich bei Tage zum Herdfeuer in den Hallen des Wirtes und sang bekümmert: »Schneezeit ist dem fahrenden Helden leid, denn sein bester Freund wird das Tannenscheit.« Die unholden Feinde des Lebens schieden auch den Strom durch schwere Eisdecke von der freien Luft, zornig schlug und hämmerte der Nix, welcher in der Tiefe sein Heimwesen führt, von unten gegen die kristallene Last. Was aber unter der Eisdecke wogte, welche die Gedanken der Königin verbarg, das wußte keiner: sie allein saß still unter den streitenden Männern, stets gleich war ihre kalte Freundschaft gegen die Fremden; nur dem König dünkte, daß Frau Gisela weniger hochfahrend sprach als ehedem. Wenn der Nordwind seine Todeslieder um die Türme des Königs heulte, dann murrte Bisino zuweilen gegen seine Gäste, aber immer wieder überwand das Wohlgefallen an dem Fremden den Ärger, und sooft ein Sonnenstrahl die Schneedecke rötlich färbte, rief er: »Diesen Winter rühme ich, denn ich höre gute Worte an der Herrenbank und in der Kammer.« Zu den Jagdreisen, welche vom Könige den Helden bereitet wurden, kam auch ein Kriegszug gegen einen Gau der Sachsen, dorthin ritten die Vandalen neben den Königsmannen; und als die Helden siegreich und mit Beute beladen heimkehrten, pries der König laut das gute Schwert Ingos, und seine Knaben saßen seitdem geduldig mit den Fremden um die Bänke.

Der Schnee schmolz im Frühlingslicht, neues Grün schoß aus dem Boden, an Birken und Haseln hingen die braunen Kätzchen; auch in den Seelen der Menschen regte sich die Hoffnung des neuen Lebens und der Wunsch nach Ausfahrt aus dem Winterdach. Die ersten Wandervögel flogen aus dem Süden heran, mit ihnen Volkmar, der Sänger, er kündete in der Königshalle vergangene Kämpfe der Götter und Helden und sang leise in Ingos Ohr von der Trauer und Sehnsucht [] eines Waldvogels. Dann berichtete er, daß in den Lauben Unfriede und harte Rede den Sinn der Weisen beschwerten. Theodulf saß noch als siecher Mann im Hofe des Fürsten, die Freundschaft des Sintram war dort mächtig, und Herr Answald herrschte unwirsch über die Bankgenossen und hatte den Sänger zur Hochzeit der Tochter für die Maienzeit gefordert. Aber auch aus der Königsburg gingen vertrauliche Grüße in die Wälder. Wolf erhielt einen Urlaub in seine Heimat. Er sprach vor seiner Reise heimlich mit seinem Herrn und Berthar, rastete auf dem Wege in den Höfen des Rothari und Bero und ritt mit Bero auf wenig betretenen Waldwegen südwärts dem Main zu. Als er zurückkehrte, sah man in der Gastherberge frohe Mienen.

Endlich sprengte auch der Strom die Eisdecke und ergoß seine Flut herrschlustig über das junge Grün der Wiesen, im plötzlichen Schwall rauschten seine Wasser, und die Menschen merkten scheu die Gewalt der Unbändigen. Aber der Ostwind erhob gegen ihn starkes Blasen, er dämpfte die Flut und trocknete den Grund am Rande der Waldhügel. Der Falkner hatte dem Königssohn zwei junge Bussarde zur Jagd auf kleine Vögel abgerichtet, und Hermin erbat an einem Morgen vom Vater den Ausritt, um die Kunst der geflügelten Jäger zu prüfen. Schon war das Roß des Königs für die Beize gesattelt, da sprengte ein Bote in den Hof und trug Nachrichten zu, welche dem König die Brauen finster zusammenzogen. Er ließ sein Roß zurückführen und sandte den Sohn mit der Königin und dem Helden Ingo auf die Hügel. Warm schien die Sonne, zum erstenmal ritt Ingo neben der Königin ohne ihr Gefolge in das offene Land. Der Falkner löste dem Bussard die Haube, der junge König jagte mit dem Helden Valda und seinen Begleitern jauchzend unter dem Vogel dahin. Gemächlicher folgte die Königin. Sie tummelte mit geröteten Wangen ihr feuriges Roß und lachte ihrem Begleiter zu, der sich über das schöne Weib an seiner Seite freute und vorsorglich auf die Sprünge ihres Rosses achtete. Als er einmal helfend in den Zügel griff, hielt die Königin an und sprach: »Ich denke des Tages, wo du einem Kinde denselben Dienst tatest, als wir weit von hier nebeneinander über die bunten Blumen dahinritten; damals saß ich ängstlicher, aber ich wollte dich's nicht merken lassen.«

»Runder war an jenem Tage das Antlitz meiner königlichen Base«, rief Ingo lustig, »und kürzer die Locke, welche um das Haupt flog. Aber als du mir hier in der Halle entgegentratst und den König so günstig an alte Zeit mahntest, da erkannte ich aus der stolzen Miene das Gesicht des kleinen Mädchens, und ich merkte wohl, daß ich dir den Dank schuldig werde, wenn man in der Königsburg mir Gnade erwies.«

Die Königin lachte und trieb ihr Roß wieder in wilden Sprüngen umher, bis die Reiter vor ihr hinter einer Erdwelle verschwanden, [] dann hielt sie von neuem an und sprach herzlich: »Danke mir immerhin, Ingo, denn gern höre ich, daß ich dir wert bin. Beide sind wir aus unserer Heimat in die Fremde gescheucht, seit der Haß meines Geschlechtes uns trennte. Auch ich vergaß deiner nicht, oft habe ich nach dir gefragt, wenn ein Wanderer aus dem Süden in die Burg kam. Wie ein Bruder im Unglück wurdest du mir, und mit Stolz vernahm ich, daß du dich edel hieltest unter schwerem Geschick. Als du endlich zu uns drangst, wurde ich froher als wohl sonst.« Sie sah ihn so freundlich an, daß er, unter dem Zauber ihres Blickes hingerissen, nach ihrer Hand griff, sie streckte ihm den weißen Arm entgegen und ritt so, das Antlitz ihm zukehrend, eine Weile neben ihm hin. Dann warf sie übermütig seine Hand zurück, jagte aufs neue in wilden Roßsprüngen über das Feld und wandte sich rückwärts, ob er ihr nachkam. Und wieder sprach sie lachend: »Ein anderer denkt dich zu halten wie einen Jagdfalken unter der Kappe, aber ich meine wohl, der Aar schwingt sich einmal frei auf und zieht seine eigenen Pfade im Sonnenlicht. Denn du, Vetter, bist nicht geschaffen, Diener eines anderen zu sein, und wer dich festhalten will, der sehe zu, daß ihn die Fänge nicht verwunden.«

Als die Königin vertrauliche Reden begonnen hatte, gedachte der Held, ihr etwas aus den Waldlauben zu sagen, was ihm sonst immer auf der Seele lag, aber bei den Worten und den Augen der Königin gelang es ihm nicht, bis sie selbst mit verändertem Tone sprach: »Und doch hing einst der Edelfalk mit gebundenen Flügeln im Hofe des Bauern. Ich preise die Torheit des Vaters, weil sie das ruhmlose Band zerrissen hat, denn dir ziemt das Höchste zu begehren. Nur kühne Gewalttat vermag dich heraufzuheben über die Häupter der anderen, daran denke, Ingo. Komm zu meinem Sohn, mich freut's, daß das Kind dir vertraut, keinen besseren Lehrmeister wünsche ich ihm für alles Heldenwerk als dich.« Wieder jagte sie vor ihm hin, der Königsmantel und ihre Locken flogen im Winde, sie warf den kleinen Wurfspeer, den sie in der Hand hielt, vor sich in die Luft und fing ihn im Laufe; Ingo aber blieb jetzt hinter ihr zurück, bis beide sich dem Jagdzug anschlossen und dem kämpfenden Bussard zuriefen, der mit einem Wasserhuhn in den Fängen herabsank.

Als der Jagdzug in die Königsburg zurückkehrte, fand er dort ungewöhnliche Bewegung. Reiter kamen und gingen, die Diener trugen Teppiche und Polster in das steinerne Haus, welches für vornehme Gäste bestimmt war, von der Königshalle her tönte Geklirr der Waffen und Hufschlag zahlreicher Rosse. Ingo sprang mit dem jungen Königssohn am Schlafhaus der Vandalen vom Pferde, und Berthar eilte ihm entgegen: »Während du draußen den Habichten nachschautest, stieß ein anderer Raubvogel in den Königshof. Der Cäsar hat neue Botschaft gesandt, und wer, meinst du, kam als Bote? Der wildeste Gesell aus dem Römerheer, der Franke Harietto, den [] sie den Heervertilger nennen, er, der einst den raubenden Sachsen in der Waldesnacht die Köpfe abschnitt und wie Kohlhäupter nach der Stadt trug. Schon bevor er kam, schritt der König finster durch die Höfe, verlegen war seine Antwort auf meinen Gruß, und die Königsknaben sahen über die Achsel auf uns und mieden unsere Gesellschaft. Eben war ein Kämmerer des Königs in der Herberge und verkündete stotternd, daß er dein Mahl hierhertragen werde, damit du nicht den Römern an der Bank des Königs begegnest.«

»Ist's nicht beim Mahle, so sei es im Hofe«, versetzte Ingo, »wir bergen unser Antlitz vor dem Ungetüm nicht; meint seine Botschaft mich, so ist gut, wenn wir sie früh erfahren. Komm, Vetter«, rief er den Königssohn, »sehen wir zu, wie die Fremden reiten, und der König die Boten der Römer begrüßt.« Das Kind ging neben ihm über den Hof in den großen Burgraum vor der Königshalle. Dort standen die Fremden vor den Rossen, während der König dem Gesandten die Ansehnlichsten aus seinem Gefolge bei Namen nannte und dieser von Mann zu Mann schritt, mit kriegerischem Gruße hier und da einzelne Worte spendend. Über die hohen Knaben des Königs ragte der römische Franke fast um eines Hauptes Höhe. Wie ein Riese stand er da, gewaltig an Schultern und Gliedern, die Arme besteckt mit Ringen, auf dem Schuppenpanzer goldene Kaiserbilder. Unter dem Helme starrten die buschigen Brauen, düster war sein Blick, kaum bemerkbar sein höfliches Lächeln.

Als Bisino mit seinem Gast eine Wendung machte, trat er plötzlich Ingo gegenüber, der den König schweigend grüßte und ihm den Knaben zuführte. Der König ergriff schnell die Hand seines Sohnes und zog ihn an sich. Aber der Blick des Fremden haftete fest auf Ingo, und unwillkürlich zuckte die Hand nach dem Schwert, als denke er darauf, den Feind seines Herrn schnell zu erledigen. Doch Ingo trat grüßend auf ihn zu und begann: »Da wir uns zum letztenmal sahen, Held Harietto, war es an einem heißen Tage; ehrlicher war dein Blick, während du dein Schwert gegen mich schwangst auf blutiger Walstatt, als hier, wo der Wille eines fremden Herrn dir die Hand vom Gruße zurückhält.«

»Gern würde ich dir sagen, Held Ingo, daß ich mich freue, dir zu begegnen, doch ich stehe hier als Bote des großen Römers, und nicht freundlich ist seine Meinung gegen dich.«

»Ich aber rühme die Botschaft nicht«, antwortete Ingo, »die dem tapferen Manne verwehrt, im Königsfrieden einen Kampfgesellen zu begrüßen, mit dem er einst ehrliche Schläge getauscht hat.«

»Dich und mich warfen zürnende Götter aus der Heimat in feindliche Schlachtreihen, beide folgen wir dem Eid, der uns bindet«, sprach der Franke.

»Du folgtest den Feldzeichen der Fremden, ich dem Ruf unserer Landgenossen.«

[] »Im Lager des Römers singt der Sänger dieselben Lieder wie hier im Lande«, entgegnete Harietto.

»Mich lehrten die Lieder, die ich als Knabe hörte, die Herrschaft der Fremden meiden«, versetzte Ingo.

»Kommt alle zu des Cäsar Banner, dann sind wir die Römer.«

»Alle rufst du, Harietto, die hier stehen, nur einen, meine ich, ladest du nicht. Und darum zürne nicht, wenn ich für unziemlich halte, den Hals vor dem Hochgericht des Cäsar zu beugen.«

Beide neigten stolz das Haupt und traten auseinander. Die Königsmannen aber hatten sich dazu gedrängt, nach Rede und Gegenrede murmelten sie beistimmend, stärker, wenn Harietto sprach, doch auch Ingos Worten fehlte der Beifall nicht, und er sah, daß bei seinen letzten Worten der König selbst mit dem Kopfe nickte.

Der Gesandte schritt mit dem König in den Saal, wo seine Begleiter die Geschenke des Cäsar aufstellten. Der König schaute erfreut auf die Goldschalen und Becher, auf die wundervolle Arbeit mit eingesetzten Edelsteinen, und versicherte den Gesandten, er sei ein Freund des Cäsar und zu vielem guten Dienst erbötig. Da begehrte Harietto geheimes Gespräch, und als der König alle Hörer weggescheucht hatte, forderte der Franke die Auslieferung Ingos.

Bisino erschrak, er saß lange überlegend und antwortete endlich, die Forderung sei allzu hart für ihn, und er brauche Zeit, um eine Antwort zu finden, der Gesandte möge sich's unterdes als Gast an seinem Hofe gefallen lassen. Aber Harietto drang auf schnellen Entschluß, bot höhere Geschenke und drohte. Da empörte sich der Stolz des Königs, und zornig rief er, was er freundlichem Gesuch verweigere, werde er dem Drohenden vollends nicht bewilligen. So entließ er den Fremden, und dieser lagerte mit seinem Gefolge unter den Knaben des Königs, trank mit ihnen und teilte Geschenke aus.

König Bisino aber blieb verstört; zuletzt ging er in sein Schatzhaus, setzte sich auf den Schemel, besichtigte mit schwerem Herzen noch einmal die neuen Geschenke und überzählte darauf seine Schnüre, an denen goldene Armringe aufgereiht waren, seine großen Schüsseln und Kannen, die goldenen Becher und Trinkhörner. Mit Mühe hob er eine Silberschüssel, spiegelte sich darin und sprach kummervoll zu sich selbst: »Grämlich ist das Bild, das ich sehe. Der Fremde hat mir reiche Geschenke gebracht, obgleich die größte Schale nur vergoldetes Silber und keine rühmliche Gabe an einen Volkskönig ist. Dennoch würde ich ungern die anderen Gaben missen, von denen er spricht, und der Römer gibt sie mir nicht, wenn ich jenen nicht lebendig oder vielleicht auch tot ausliefere. Aber wenn ich das Unrecht auf mein Leben nehme und ihn seinen Feinden einhändige, so werde ich scheusälig vor allem Volk als ein Mietling der Fremden, und weil ich den Gastfreund einem ehrlosen Tode freigebe. Auch tut mir der Gesell selbst leid, denn gutherzig ist er und ehrbar, und ein [] treuer Genosse beim Kruge und auf dem Rosse. Dagegen wenn ich ihn trotz den Römern bewahren will, so droht mir markverzehrende Arbeit, der Krieg räumt vielleicht meinen Schatz, er mindert die Kraft des Volkes und rüttelt an meinem Königsstuhl.« Sein Blick fiel auf ein Schwert, welches über dem glänzenden Metall an der Wand hing. »Dies ist die Königswaffe meines Geschlechtes, gerühmt im Liede und gefürchtet im Volke, manche schwere Tat hat sie ausgeführt, ein Gott hat, wie die Sage kündet, einst den Stahl dazu gehämmert, mich wundert, daß ich heut die Augen nicht von ihr abwenden kann.« Und seufzend fuhr er fort: »Ich habe mit ihm getrunken, gejagt und an seiner Seite gefochten, und ich wünsche ihm, daß sein Ende rühmlich sei wie das seiner Väter, die es auch eilig hatten, die Todeswunde auf der Brust zu erhalten. Vermag ich ihn nicht zu retten, so will ich ihm doch wenigstens Königsehre erweisen.«

Der König erhob sich und ergriff die Waffe. Da fühlte er sich leise am Arme gefaßt, er fuhr zusammen und zückte das Schwert; vor ihm stand Frau Gisela und sah ihn spottend an: »Will der König mit seinem Tafelgerät zu Felde ziehen, daß er darüber Heerschau hält?«

»Worin liegt Königsmacht, wenn nicht im Schatze?« fragte der König unwillig zurück. »Wie kann ich der Begehrlichen Sinn festhalten und ihren Treuschwur gewinnen, wenn ich ihnen nicht von dem fremden Metall spende? In meinem Lande haben es wenige, und alle fordern es, woher soll ich's holen, wenn ich's nicht von den Fremden erkaufe?«

»Der König will den Mann an die Römer verhandeln?« fragte die Königin, und ihre Augen flammten wie Feuer.

»Würde ich mich bedenken, wenn ich's tut wollte?« murrte der König. »Aber dieser Fremde sitzt wie ein Uhu auf meinen Bäumen, alles Geflügel der Luft schießt heran und schreit gegen ihn, nicht lange, so senden auch die Könige von der Oder und fordern seinen Leib.«

»Du täuschest mich nicht«, brach die Königin in heißem Zorne los, »siehe zu, o König, ob du leben kannst nach solcher Schmach, ich will es nicht. Dem meineidigen Mann, der um römisches Gold seinen Schwurgenossen verkauft, weigere ich die Genossenschaft an Tisch und Lager.«

Der König sah mit querem Blick auf sie: »Heftig stürmen deine Gedanken, Frau Gisela, ich meine, sie verfehlen das Ziel.«

»Wer darf mehr für des Königs Ehre eifern als die Königin?« antwortete das Weib, nach Fassung ringend. »Getraust du dich nicht, ihn vor den Römern zu bewahren, so entlaß ihn von deinem Hofe. Besser ist es, sich schwach zu erweisen als treulos.«

»Damit er nach der Kränkung lebe als mein Feind«, sprach der König.

[] »So binde ihn durch hohen Schwur; er ist, wie ich meine, von denen, die ihr Gelübde halten.«

»Will die Königin ihn dazu überreden, daß er der Kränkung niemals gedenke?« fragte der Burgherr lauernd.

»Ich will«, versetzte Frau Gisela tonlos, »wenn es dem Könige nützt.« Beide standen einander mit finstern Gedanken gegenüber, endlich begann der König: »In der Not dient schnelle Tat, versuche dein Heil, Gisela, sende ihm heute abend Botschaft, daß er in deinen Turm steige zu geheimer Unterredung, vielleicht hilfst du ihm dort zu einer guten Ausfahrt.«

Die Königin sah vor sich nieder, erblichen war ihr Antlitz, als sie antwortete: »Ich will ihn zur Ausfahrt mahnen, da du es gebietest.« Sie wandte dem König schnell den Rücken. Er sah ihr finster nach.

Am Abend harrte die Königin in ihrem Turmgemach, die Nachtvögel saßen auf der Mauer und klagten über das Unheil, welches drinnen einem bereitet werden sollte, in den scharfen Stößen der Luft, die durch das offene Fenster drang, flackerte die Wachsfackel und trieb den Schatten des schönen Weibes an den Wänden hin und her. Frau Gisela stand inmitten des Raumes, im Festgewande, die rote Königsbinde über der Stirn, das bleiche Haupt vorgebeugt, die Hände fest geschlossen wie zu gewaltsamer Tat. »Scheidest du von hier, Ingo, mir ist es Qual, ärger als Tod, und weilest du, dann ist von dreien, welche leben, einer zuviel.« Sie fuhr zusammen und horchte wieder, aus der Tiefe erklang Gemurr von Stimmen und leises Waffengeklirr. Da riß sie die Fackel von dem hohen Leuchter und hielt sie zum Fenster hinaus, daß der Rauch und die lodernde Flamme an die Turmzinne wehte und die Eulen erschreckt aufflogen. Aus der Ferne antwortete nach wenigen Augenblicken ein einzelner Jagdruf, die Königin hob die Leuchte zurück und schob den Teppich vor die Fensteröffnung.

Auf der Steintreppe klang ein Männertritt. »Er ist es«, sprach sie leise. Aber als sich die Tür öffnete, fuhr sie zurück, denn König Bisino trat ein, düster war sein Antlitz, der vierschrötige Leib gedeckt mit einem Panzerhemd, das Haupt mit dem Stahlhut; am Griff seines Schwertes schimmerte im Lichte ein blutroter Stein. »Die Königin ist geschmückt wie zu einem Hochzeitsfest«, sagte er zornig.

»Du hast es gewollt.«

»Ich will auch unsichtbar ein Zeuge sein deiner Unterredung mit ihm, und damit du alles sprichst, wie ich geboten, so höre die Warnung: am Fuße des Turmes harren zwei meiner Knaben mit harten Händen, steigt er hinab ohne mich, er überschreitet nicht lebend die Schwelle.«

»Gut sorgte der König«, antwortete Frau Gisela starr. Da fiel ihr Blick auf das Schwert des Königs, und sie schrie: »Blutig glänzt der Stein an dem Messer des Königs, die Todeswaffe deiner Ahnen ist's«,[] und ihr Entsetzen mühsam bändigend, fuhr sie fort: »Vom Gemach der Königin bleibt sonst das Schwert der Männer ausgeschlossen. Warum kränkt der König mein Recht?«

»Es ist nur Vorsicht, Gisela«, versetzte der König grimmig. Er schritt nach dem Hintergrund des Zimmers, öffnete eine kleine Seitentür und verschwand dahinter.

Wieder stand die Königin allein, und in wilder Empörung flogen ihre Gedanken. »Gewalttat sinnt der lauschende König, und ich soll helfen bei nichtswürdiger Tat.«

Da klang draußen der Tritt des anderen, und Ingo trat ein, ungerüstet und schwertlos. »Ich danke dir, Base Gisela«, begann er herzlich, »daß du mir heut deinen Turm öffnest.« Er sah in den geschmückten Raum, auf gestickte Teppiche an der Wand und kostbares Gerät aus fremdem Lande. »Seit ich die Mutter verlor, habe ich niemals wieder das Prunkgemach einer Königin betreten. Was stehst du so feierlich, Base?« fuhr er traurig fort, »verzeihe mir, wenn ich mich nicht, wie ich sollte, der Ehre freue, daß du den armen Ingo im Königsschmucke empfängst.« Er ergriff ihre Hand, trotz der Angst flog ein rosiger Schein über ihr bleiches Antlitz, als sie die Hand zurückzog. »Leichter ist der Aufgang zum Gemach der Königin als der Sprung aus der Turmtür«, sprach sie leise.

»Ich sah lauernde Knaben des Königs«, antwortete Ingo, »und mich verwundert das nicht, denn ich weiß, Harietto hat den Sinn des Königs, der mir sonst gütig war, gegen mich empört, darum flehe ich, sorge du, soweit du vermagst, daß mir nicht Schmach widerfahre. Müde bin ich, Königin, meines Erdenloses, verleidet bin ich jedem Gastfreund, elend überall, gleich einem tollen Wolf gehetzt von Hof zu Hof, verächtlich wird mir solches Leben, denn eines besseren Schicksals fühle ich mich wert, und selbst denke ich zu sorgen, daß ich nicht als Lebender durch Römerfesseln gebunden werde. Wenn du aber mein Geschick nicht zu wenden vermagst, dann, flehe ich, rette meine Blutgenossen, den irrenden Schwarm, vor ruhmlosem Tode. Gern werden sie kämpfen, gegen wen es auch sei, aber sie fürchten ein Verderben, das sich ihnen unsichtbar nahen mag, denn fest eingehegt stehen wir zwischen Steinmauern.«

Lautlos starrte die Königin nach der verborgenen Tür, plötzlich stieß sie einen heiseren Schrei aus, denn der König trat hervor und rief: »Eingehegt bist du selbst zur letzten Wunde.« Mit gehobenem Schwert fuhr der König gegen Ingo, aber wie eine Löwin sprang Frau Gisela dem Herrn entgegen und wand ihm den Arm, daß das Schwert klirrend zu Boden fiel. Ingo ergriff die Waffe vom Boden und rief, sie schwingend: »Ich halte deinen Tod in der Hand, König Bisino, wenig wird dir deine Rüstung frommen, wenn ich die Tat üben wollte, die du mir zugedacht. Danke dem Gotte, dem du vertraust, daß der Gastschwur mir heiliger ist als dir.« Und er warf[] die Waffe dem König vor die Füße. Ein leiser Ton wie das Stöhnen eines Weibes zitterte durch den Raum.

Der König sah wild um sich: »Du sprichst als ein Mann: wohlan, hebe dein Schwert von der Treppe, wir fechten.«

»Ich habe dir Friede geschworen«, antwortete Ingo unbeweglich.

»Und ich dir«, versetzte der König, »gebrochen ist der Eid, du bist frei, hebe die Waffe.«

»Gegen dich kämpfe ich nicht um mein Leben«, versetzte Ingo, »ehrwürdig ist mir dein Königshaupt, wenn du mir auch zuweilen Übles gedacht hast. Und nimmer will ich helfen, daß der Ruf deines Gemahls entehrt werde durch dein oder mein Blut, das vor ihrem Lager vergossen wird. Muß ich vertilgt werden, dann klage ich nicht, wenn du selbst es tust, dann stoß zu, König, und sei bedankt für das Gastgeschenk.«

Der König beugte sich, das Schwert zu erheben, da klang von unten Geschrei und Kriegsruf, Ingo schnellte empor. »Fluch mir, vergessen habe ich in der eigenen Not die Notgenossen. Den Sang meiner Schwäne höre ich, ich komme. Du wahre dich, König, ich finde, was dich zwingt.« Mit Sturmeseile brach er aus der Tür, der König raunte heiser: »Erbarmen kennen die nicht, die unten seiner harren«, und er eilte ihm mit geschwungenem Schwerte nach.

Aber Ingo sprang nur wenige Stufen hinab, wo sein Schwert lehnte und unter dem Gemach der Königin der junge Sohn neben dem Helden Valda schlief. Er raffte den Knaben vom Lager, drückte ihn an sich und flüsterte ihm zu: »Hilf mir, Hermin, mir droht das Verderben. Ich tue dir kein Leid, wenn nicht von dem König meinen Genossen ein Übles geschieht.« Der Knabe hing schlaftrunken in seinem Arm und faßte ihn um den Hals. »Gern helfe ich dir, Vetter«, sagte er ahnungslos. Bevor der alte Krieger sich vom Lager erhob, trug Ingo den Knaben hinauf an die Tür der Königin, wo der König mit dem Schwerte ihm entgegensprang. Aber Bisino fuhr entsetzt zurück, als er sein Kind unter dem Messer Ingos erblickte. »Geh voran, König Bisino«, rief Ingo befehlend, »bereite mir den Weg, ich halte, was dich zwingt. Das Leben deines Knaben sei Bürge für die Häupter der Meinen. Lebe wohl, Frau Gisela, flehe zu den Göttern, daß das Haus des Königs nicht zerbreche in dieser Nacht.«

Die Männer eilten die Steintreppe hinab, Frau Gisela lauschte starr nach dem Getöse und Fall am Fuß der Treppe. Ob sie wünschen sollte, daß er entrann, der den Sohn ihr gepfändet? Ob er selbst zurückkehren würde in ihr Turmgemach, oder der König oder keiner von beiden, das stürmte ihr durch die Seele; sie fühlte Haß gegen ihn, der ihre Hilfe sich nicht begehrt, und doch auch heiße Angst um sein Leben, und Angst vor der Wiederkehr des Königs. Sie sprang an das Fenster und sah hinaus in die Nacht. Sie hörte fernes Gemurr und helles Geschrei, dann wurde es still, sie sah einen [] Feuerschein blinken, aber auch er verlosch, die Nacht blieb schwarz und unsicher wie ihr eigenes Schicksal. – Auf den letzten Stufen vor der Turmtür hielt Ingo an: »Verjage die Hunde, König, daß ihr Biß nicht deinen Sohn treffe« Der König trat ungern vor, aber er verscheuchte seine Wächter. Ingo sprang an ihm vorüber wie ein flüchtiger Hirsch zu der Herberge seiner Mannen. Nicht vermochte der König ihm zu folgen, so sehr er sich eilte.

Um die Herberge standen die Haufen der Königsknaben, gerüstet mit Schild und Speer, manche auch mit Fackeln in der Hand. Auf dem Erdboden vor den Stufen loderte eine rote Flamme und warf ein unsicheres Licht in den dunkeln Saal und auf die wilden Gesichter der Vandalen. »Was blinzen die Käuze beim Lichtschein und wenden abwärts den Blick?« rief Berthar von der Treppe, »mich wundert's, daß die Knaben des Königs vor niederträchtigem Werke sich scheuen, sie sind ja, wie ich höre, gewöhnt, bei Nacht zu töten. Für ganz schamlos gelten sie im Volke. Hat sie erschreckt, daß mein Schwert ihrem Fackelträger den Brand zerschlug? Tretet näher, ihr bösen Verzagten, damit ihr vor allem Volke verflucht werdet als Friedensbrecher. Heran, auf daß meine Knaben euch die letzte Fahrt rüsten.«

»Grobe Worte sind die Münze des heimatlosen Bettlers«, rief Hadubald entgegen, »gut verstehst du sie zu zahlen, wenn du an fremden Bänken lungernd durch die Welt fährst. Ganz unnütz seid ihr auf der Männererde, und schwerlich beschwert ihr fortan noch fremde Höfe durch euer Geschrei.«

So bereiteten sich die Helden durch heftige Rede zum Kampf; da sprang durch den lärmenden Haufen Ingo, den Königssohn im Arme. Er fuhr auf die Stufen und stand unter seinen Getreuen. Ein lauter Heilruf der Vandalen tönte um die Halle; Ingo aber rief befehlend gegen die Knaben des Königs: »Weicht zurück, tapfere Helden der Thüringe, der junge König, den ich halte, gebietet euch Frieden. Wollt ihr, daß sein Haupt unversehrt bleibe, so vermeidet, meine Mannen zu kränken. Heil sei dem König in der Herberge«, setzte er hinzu, da Bisino herankam, »und Frieden bedeute sein Nahen. Betritt, o König, huldvoll das Schlafgemach deiner Gäste, denn nicht durch Waffen, meine ich, enden wir heut die Verstörung. Hilf mir den König geleiten, Hermin, mein Vetter!« Er ließ den Knaben zur Erde und trat, das Messer über ihn haltend, dem König entgegen, das Kind ergriff die Hand des Vaters und stand zwischen beiden Helden. »Entzündet die Fackeln an der Flamme«, rief Ingo den Seinen zu. »Jedermann weiche aus dem Raume, ihr Vandalenhelden bewacht auf den Stufen die Beratung der Könige!«

Mürrisch winkte Bisino seinem Gesinde, den Zugang zu räumen, dann gebot er Hadubald, mit einer gleichen Zahl von Königsmannen die Stufen zu besetzen. Auf die erhöhte Bühne der Halle, wo [] Ingos Lager stand, geleitete dieser den Herrn, er selbst saß ihm gegenüber und schlang seinen Arm um den jungen König. Bisino setzte sich zögernd und sah finster vor sich hin. »Du meinst, mich durch das Haupt meines Sohnes zu zwingen, daß ich dich und deine Landstreicher verschone. Aber wild hat der Zorn sich erhoben zwischen mir und dir, und dauerlos wäre, so fürchte ich, die Versöhnung. Entziehst du dich heut meinem Zorn, so trifft er dich doch morgen oder zu anderer Zeit, denn selbst wenn die Bitte dieses Knaben dir meinen Zwinger öffnet, so weißt du doch, daß meine Macht weit reicht, und daß des Königs Wille dich umstellt wie ein gehetztes Wild.«

»Wohl ehre ich deine Macht, König«, versetzte Ingo, »und ich weiß, daß es mir mühselig wäre, über die Brücke zu reiten und über die Heide zu traben, wenn dein Zorn feindlich hinter mir fährt. Dennoch meine ich, daß der König edel handelt, wenn er mir die Treue hält, soweit die Eide reichen. Den Zweikampf hat mir der König angetragen; ruhmvoll war das Erbieten und eines Helden würdig, und vermag er mich nicht zu dulden auf der Männererde, so weiß ich wohl, daß es für mich keine bessere Ehre gibt im Gedächtnis der Menschen, als durch die Waffe des Königs zu fallen, oder wenn ich ihn selbst voraufsenden sollte in die Totenhalle, mit meinen Gefährten vertilgt zu werden durch den Grimm der Thüringe. Dennoch ist es mir unleidlich, gegen dich zu kämpfen, mein Herr und Wirt, denn freundlich warst du gegen mich, Guttat genoß ich an deinem Hofe, ehrenwert ist mir auch dein Gemahl und hier der Knabe, den ich im Arm halte, und Frohes habe ich von deiner Huld für mein Leben gehofft. So kränkt mich's, obgleich ich den Schwertgrimm für rühmlich halte, daß ich um meinen Leib feindlich gegen dich ringen soll.«

»Verständig sind deine Worte«, versetzte der König, »auch dein Sinn ist redlich, wie ich vermute, und ungern sinne ich auf dein Verderben, aber mich zwingt die Königsnot, die keiner versteht, außer wer als Wirt über seinem Volke waltet. So wisse denn, friedloser Mann, der Cäsar fordert, daß ich dich ausliefere an seine Boten.«

»Will der große Volkskönig dem Befehl eines neidvollen Römers gehorchen wie ein Besiegter?«

»Die Katten hat er aufgehetzt, sie sind eilig, sich Sklaven und Herden zu holen aus meinem Volke, um deinetwillen sollen die Thüringe den Schlachtgesang singen.«

»Stelle mich in deine Heere, o König«, unterbrach ihn Ingo, »nimmer kehre ich zurück, wenn nicht als Sieger.«

»Meinst du, daß du mir als Sieger willkommener wärest als jetzt, du mit der Erbtochter?« fragte der König finster. »Über die Schlachten der Thüringe waltet der König allein!«

Da legte Ingo die Hände auf das Haupt des Knaben und sprach traurig: »Gleich diesem Kinde wuchs ich fröhlich auf unter der [] Königskrone, schuldlos wie dein Sohn war ich, da ich aus der Heimat gescheucht wurde. Denke daran, König, daß sich schnell die Geschicke der Männer wandeln, auch du weißt nicht, welches Schicksal deinem Knaben einst bereitet ist. Wie auch die Götter uns die Lose werfen, von uns fordern sie, daß wir treu sind unserem Wort. Sorge auch du, o Herr, damit sie nicht den Eid, den du dem armen Ingo geschworen, einst an dem Haupte deines Sohnes rächen.«

»An den Sohn denke ich, daß ich ihm die Herrschaft sichere, wenn ich mich des Eides gegen dich entledige«, versetzte der König.

»So löse den gastlichen Eid, ohne daß die Götter dir zürnen«, fuhr Ingo flehend fort, »entlaß mich mit meinem Gesinde ungekränkt aus deiner Burg und aus deinem Lande. Mehr fordert dein Volk nicht, und begehrt der Römer Ärgeres von dir, so kränkt er deine Ehre. Hilf mir, Knabe, und bitte bei deinem Vater für mich.«

Hermin kniete nieder und umschlang das Knie des Königs: »Tu dem Vetter kein Leid, mein Vater!«

Der König sah lange auf den Knaben, über welchen Ingo die bewehrte Hand hielt. »Du weißt nicht, was du bittest, Kind«, sagte er endlich. Und mitleidiger zu Ingo aufsehend, fuhr er fort: »Willst du, Ingo, mir mit hohem Eide geloben, niemals diese Nacht zu rächen, niemals schädlich zu sein mir und meinem Sohne, und niemals Freundschaft zu suchen im Herrensitz am Walde, so will ich dich entlassen aus meiner Burg, aus meinem Land.«

»Den Eid nehme ich auf mein Leben«, sprach Ingo leise, »wenn auch der König mir geloben will bei dem Haupt dieses Knaben, der Worte zu gedenken, die er vor kurzem zu mir sprach, und das Königsauge zu schließen gegen mein Tun, wenn nicht das Volksgeschrei übermächtig zwingt.«

Der König lächelte finster. »Ich will, wenn du mir etwas von deinen Gedanken vertraust.« Ingo neigte beistimmend das Haupt. »Wohlan denn, setze dich zu mir wie einst und künde leise dein Geheimnis.« Die Könige sprachen heimlich, und der Knabe saß zwischen ihnen und umfaßte mit den Händen beider Knie.

Auf den Stufen lagen getrennt die Vandalen und die Königsknaben hinter ihren Schilden. Über ihnen saßen auf den Schemeln die beiden Schwerthalter Berthar und Hadubald gegeneinander. Da begann Hadubald: »Frieden bereitet, wie ich merke, das Gespräch im Saale unseren Schwurherren. Gefällt dir's, Held, so tilgen wir den Groll durch einen Trunk, den einer meiner Genossen schnell zu schaffen weiß, denn kühl weht die Nachtluft.«

»Mordbrenner!« versetzte Berthar grimmig.

»Töricht handelst du, den Diener zu schelten, der getan hat, was seinem Herrn nützt.«

»Nachtschächer!« brummte Berthar wieder, »deine Treue brachst [] du für des Königs Bier, seitdem ist der Trunk verdorben, den du bietest.«

»Wer hochmütig verschmäht, beim Zapfen Bescheid zu tun, der wahre sich, daß nicht sein Blut gezapft wird auf grüner Heide.«

»Auf grüner Heide und im finsteren Wald, wie hier in der Herberge bist du blutiger Schläge sicher, sobald dich nicht der Königsfrieden schützt; damit begnüge dich, Held!«

Lange währte die Zwiesprache der Herren, endlich rief der König: »Bringe den Becher, Schenk, Minne zu trinken, bevor Held Ingo scheidet.« Willig regten sich die Mannen auf den Stufen, der Schenk lief und trug einen großen Becher Met herzu, die Könige taten über dem Becher und auf dem Haupt des Knaben einander das Gelöbnis. »Und jetzt scheiden wir, Ingo«, sagte der König, »leid tut mir's, daß du ein fahrender Held und nicht von meinem Geschlecht bist, und doch, wärst du von meinem Stamme, du wärst mir vielleicht weniger vertraulich.«

»Denke mein im guten, o Herr«, dankte Ingo, und fröhlich rief er dem Alten zu: »Rüste den Aufbruch, wir reiten.«

»Bei Sonnenlicht kamen wir«, versetzte Berthar, »mein Herr und seine Helden entweichen nicht wie Nachtdiebe. Will der Häuptling, daß wir aufbrechen, bevor der Hahn singt, so flehe ich, König Bisino, daß deine Knaben uns mit den Fackeln leuchten, die sie am Abend sorglich um dieses Haus getragen haben, damit wir bei unserer Abfahrt den hellen Schein nicht missen.«

Der König sah zuerst zornig auf den Kühnen, aber er sprach: »Ich lobe dich, du verstehst für deinen Herrn mit Schlägen und mit Worten zu streiten. Besteigt die Rosse, ihr stolzen Gäste, ihr Mannen aber entzündet die Brände, denn der König selbst gibt das Geleit zum Tor.«

Auf der Brücke schied Ingo von dem König und seinem Sohn, und alle erstaunten, als der König nach dem Abschied noch einmal über die Bretter zu Ingo eilte, ihn mit den Armen umfing und küßte. Lachend sah Berthar auf die finsteren Mienen der leuchtenden Königsknaben. »Reitet im Schritt«, gebot er vor dem Tor den Vandalen, »damit sie nicht wähnen, daß wir ihren Gruß im Rücken fürchten.« Und nach einer Weile rief er: »Nimm die Spitze, Wolf, und lasse die Rosse springen, frisch bläst die Nachtluft, und wohl gelang uns die Reise nach der Königsburg.«

Als sich das Tor hinter den Gästen geschlossen hatte, befahl der König seinen Knaben: »Wer etwa morgen oder später von dieser Nacht schwatzt, oder wer noch mit dem Römer beim Trunke raunt, wie heut mancher getan, dem zerschellt die Axt des Königs das Tor seiner Worte.«

Darauf nahm er das schlafende Kind in die Arme und trug es zu seiner eigenen Kammer. Als er beim Turme vorüberkam, blickte er [] finster nach dem Gemach der Königin. Dort drinnen lag ein trostloses Weib mit dem Haupt an der Fenstermauer und hörte auf den Schall der Stimmen und auf den Hufschlag, welcher in der Ferne verklang. Der König aber dachte: Wenn sie nicht so erlaucht wäre von Geschlecht, wäre es besser für mich und sie. Denn gern möchte ich ihr Schläge geben und sie dann wieder liebhaben. Sie aber wollte das Tuch zerschneiden zwischen sich und mir, und sie hat gerungen gegen mein Schwert; ob sie meint, daß ich ihr das vergesse? – Was aber den Römer betrifft, so ist mir's im Herzen lieb, daß ihm nicht sein Wille geschieht, denn nichtswürdig war die Forderung, und herrisch war der Bote. Jetzt will auch ich ihm Silber statt dem Gold bieten, das er sich begehrt. Und am anderen Morgen lud der König den erstaunten Harietto und sprach: »Um des großen Cäsars willen habe ich alles getan und ausgeführt, was die Königsehre mir gestattet, und nicht mehr. Dem Gebannten habe ich das Gastrecht aufgekündigt und ihn ohne Geleit entlassen, damit er aus meinem Lande weiche. Und er trabt jetzt wohl schon weit von hier über die Heide.« Als der König wieder in sein Schatzhaus ging und sein Angesicht in der Schüssel betrachtete, da sprach er seufzend zu sich selbst: »Eine Sorge wich, aber eine größere kam; nur eins ist mir lieb, es ist ein ehrliches Gesicht, das ich schaue.«

Zur Idisburg

Auch in den jungen Männern der Walddörfer regte sich die Reiselust, als die Reiser der Bäume vom Safte schwollen und das junge Laub aus den Knospen brach. Es war ein heimliches Summen in den Höfen, und frische Gesellen hielten im Waldversteck stillen Rat; denn nicht die Alten und Weisen des Gaues hatten den Auszug geboten, und nicht die heiligen Opfer des Gaues sollten ihn weihen, nur Unzufriedene lösten sich von der lieben Heimat, willkürlich und auf eigene Gefahr, weil ihnen der Sinn nach besseren Landlosen stand. Anfangs waren nur wenige entschlossen, ihr Glück in der Fremde zu suchen, vor ihnen Baldhard und Bruno, Söhne des Bero; bald aber ergriff die Sehnsucht auch andere, jüngere Söhne ehrbarer Wirte, neben ihnen wilde Gesellen und Waldläufer, die sich lieber rauften als bauten, auch manchen Hausvater, dem seine Nachbarn gehässig waren. Manchen hatte auch ein Mädchen, welches ihm lieb war, heimlich gemahnt, vor der Reise warb er um sie, und wo der Töchter mehre im Hause waren, wagte der Vater sein Kind an die ferne Hoffnung. Diesmal war es kein Zug in unbekannte Ferne, auf dem der Mond und die Sterne führen, der wehende Wind oder der fliegende Rabe; denn die neuen Siedelstätten lagen nur wenige Tagereisen von der Gaugrenze, und die Reise ging durch Wälder und [] Marken von Landgenossen, die in früheren Geschlechtern denselben Weg gezogen waren. Deshalb sorgten die Fahrenden wenig um Waffengefahr auf dem Wege und nicht sehr um Nahrung und Viehfutter. Auch da, wo sie bauen wollten, durften sie freundlichen Gruß hoffen, denn ein kluger Wirt hatte im voraus sorglich um ihre Reise gehandelt und mit dem Volke, dem sie zuzogen, Vertrag geschlossen. Und doch rüsteten die Wanderlustigen ihre Abfahrt noch heimlicher, als sonst Brauch war; denn nicht alle Häupter des Gaues freuten sich der Reise, durch welche die Zahl ihrer jungen Krieger gemindert wurde, nicht Fürst Answald und nicht das Geschlecht des Sintram, und diese suchten dem Drange zu wehren, soweit ihre Macht reichte. Auch den Eifer des Königs hatten die Fahrenden zu fürchten, denn er mochte ihnen die Besiedelung stören, bevor sie auf dem neuen Grunde festgewurzelt waren. Darum hatten sich die Wanderlustigen in nächtlichem Rate zusammengeschworen und die Söhne des Bero zu Führern gewählt, in den letzten Monaten hatten sie für die Fahrt gerüstet, Beisteuer in ihrer Freundschaft erbeten, Wagen und Ackergerät gezimmert und um Vieh gehandelt, soweit sie vermochten. Und sie wollten einzeln und mit wenig Geräusch aufbrechen, um sich jenseit der Gaugrenze zu geordnetem Zuge zu sammeln.

Im ersten Morgenlicht standen die Wagen mit Saatkorn und Hausrat bepackt. Über dem festen Bohlengefüge spannte sich die Decke von Leder, die gejochten Rinder brüllten, Frauen und Kinder trieben das Herdenvieh hinter dem Wagen zusammen, und große Hunde, die treuen Begleiter der Fahrt, umbellten das Fuhrwerk. Die Geschlechtsgenossen und Nachbarn trugen zum Abschied herzu, was als Reisekost diente oder ein Andenken an die Heimat sein konnte. Durchaus nicht fröhlich war der Abschied, auch dem mutigen Mann bangte heimlich vor der Zukunft. War das neue Land auch nicht endlos weit, fast allen war es unbekannt, und unsicher war, ob die Götter der Heimat auch dort Schutz gewährten und ob nicht schädliche Würmer und Elbe Vieh und Saat zerstören wollten oder feindliche Männer die Höfe abbrennen. Auch die Kinder fühlten das Grauen, sie saßen still auf den Säcken, und die Kleinen weinten, obgleich die Eltern ihnen Haupt und Hals mit heilkräftigem Kraut umkränzt hatten, das den Göttern lieb ist. Mit der aufgehenden Sonne erhoben sich die Fahrenden, der älteste ihres Geschlechts oder eine weise Mutter sprach ihnen den Reisesegen, und alle flehten murmelnd um gutes Glück und bannten durch Zauberspruch die schädlichen Waldtiere und schweifenden Räuber. Die anderen Dorfleute aber, welche daheim blieben, blickten scheu auf die Wanderer wie auf verlorene Menschen, unheimlich dünkten ihnen die Frevler, welche sich von dem Segen der Heimat lösten. Denn immer zog es die Landgenossen mächtig nach der Ferne, und doch graute ihnen immer vor einem Leben fern von den Heiligtümern, von Sitte und Recht der Heimat.

[] Die Wagen bewegten sich knarrend zu den Bergen, von der Höhe sahen die Wanderer noch einmal nach dem Dorf ihrer Väter zurück und neigten sich grüßend gegen die unsichtbaren Gewalten der Flur; mancher unzufriedene Gesell warf auch einen Fluch zurück wider seine Feinde, die ihm die Heimaterde verleidet hatten. Dann nahm alle der Bergwald auf. Mühsam war die Fahrt auf steinigen Wegen, in welche das Schneewasser tiefe Furchen gerissen hatte, oft mußten die Männer von den Rossen steigen und mit Haue und Spaten die Bahn fahrbar machen, wild erscholl Ruf und Peitschenschlag der Treiber, die Knaben sprangen hinter den Wagen und hemmten den Rücklauf durch Steine, und doch zerrten die Zugtiere machtlos, bis ein Gespann dem anderen half oder Männer und Frauen die starken Schultern an die Räder stemmten. War die Reise wegsamer, dann umritten die Männer spähend den Zug mit gehobener Waffe, bereit zum Kampfe gegen Raubtiere oder rechtlose Waldläufer. Als die Wanderer aber nach der ersten Tagfahrt das einsame Waldtal erreichten, welches zur Versammlung bestimmt war, da wurde die Mühe des Tages über der Freude vergessen, Landsleute in der Wildnis vor sich zu sehen: hell jauchzten die Kommenden von der Höhe, und die Lagernden antworteten mit gleichem Ruf, auch solche, die sich sonst wenig gekannt, begrüßten einander wie Brüder. Die Männer traten zuhauf, und Baldhard, ein meßkundiger Mann, bezeichnete den Lagerraum mit Stäben. Dort wurden die Zugtiere abgeschirrt, die Wagen zu einer Burg zusammengestoßen und im Ringe herum die Nachtfeuer auf zusammengetragenen Steinen entzündet. Während die Haustiere weideten, von bewaffneten Jünglingen und von den Hunden gehütet, bereiteten die Frauen die Abendkost; die Männer aber schlugen aus Stangenholz den nächtlichen Pferch für die Herde, verteilten die Wachen und holten aus den Wagen, was sie von kräftigem Trunk mitgebracht hatten; dann lagerten sie und sprachen bedächtig von dem guten Weideland, das sie am Idisbach hofften, und von dem endlosen Wald im Süden der Berge, wie steinig der Baugrund, wie steil die Gelände und wie darum dies Bergland spärlich bewohnt sei. Als das Mahl beendet war, wurden die wertvollsten Rosse und Rinder im Wagenringe gesammelt und die schlaftrunkenen Kinder unter dem Lederdach geborgen. Nach ihnen stiegen die Frauen in das enge Gemach, nur die Männer saßen noch eine Weile beim Trinkhorn gesellt, bis auch ihnen die Augen schwer wurden und die kalte Nachtluft ihre Fröhlichkeit hemmte. Da hüllten sie sich in Pelze und Decken und legten sich an die Feuer oder unter die Wagen. Es wurde stiller, nur der Wind blies von den Bergen, die Wächter umschritten den Wagenring und den Pferch und warfen zuweilen Holzscheite in die lodernden Feuer. Aber unablässig bellten die Hunde, denn aus der Ferne klang heiseres Geheul, und um den Flammenring [] trabten gleich Schatten im aufsteigenden Nebel die begehrlichen Raubtiere.

In solcher Weise zogen die Wanderer drei Tage langsam durch den Bergwald, der Regen rann auf sie nieder, und der Wind trocknete ihnen die durchnäßten Kleider. Zuweilen hielten sie in den Tälern an Höfen ihrer Landsleute, dort trafen sie entweder wilde Gesellen, die durch den Kampf mit dem Walde gehärtet waren, oder ärmliche Siedler, welche über den rauhen Ackerboden klagten und auch den Reisenden das Herz schwer machten. Am vierten Morgen zogen sie bei dem hölzernen Turmgerüst vorüber, welches an der Landesmark der Thüringe gezimmert war; erstaunt sah der Wächter, der im Hofe daneben wohnte und sonst wenig um reisende Haufen zu sorgen hatte, auf die Fahrenden; diese aber riefen ihm laute Grüße zu, denn er war, obgleich nur ein einsamer Waldmann, der letzte ihres Volkes. Von da durchfuhren sie eine Stunde die Grenzwildnis; unfruchtbare Kieshöhen mit knorrigen Kiefern, wo niemals ein Siedler einen Hof gebaut hatte und selten der Schlag einer Axt erklungen war, denn unheimlich lag der Strich, und schädliche Geister fuhren, wie man sagte, die Grenze entlang, weil sie ausgeschlossen waren von dem Boden, den gute Volksgötter für die seßhaften Männer behüteten. Aber jenseits des Kieferwaldes sahen die Siedler von der Höhe freudig in ein weites Tal, das mit ansehnlichen Hügeln und dichtem Laubwald eingefaßt war. Dort zog sich in gewundenem Lauf der Idisbach durch die Wiesen, und am Fuß der Anhöhen lagen Höfe und geteiltes Ackerland. Lustig schien die Sonne über das helle Grün und das sprossende Laub, die Rosse schnoben, als sie die frische Talluft witterten, und die Rinder brüllten der Weide entgegen, die Wanderer aber hoben die Arme flehend zu der Göttin auf, welche über dem Tal waltete und die Leben der Männer wohl zu behüten vermochte, wenn sie ihr lieb wurden.

Ein reisiger Mann sprengte den Wanderern entgegen und wirbelte schon von weitem grüßend seinen Speer in der Luft, ihm jauchzten die Ansiedler zu, da sie ihren Landgenossen Wolf erkannten; auch die Frauen drängten sich an sein Roß, und die Kinder streckten die kleinen Hände aus den Wagen. »Heil sei euch, liebe Landsleute«, rief Wolf, »vollbracht ist die Fahrt. Lagert an den Höfen, denn auf jenem Hügel harren die Weisen des Gaues am Opferstein, den Bund festzumachen, damit ihr rechtlich werdet im Volke und eure Landlose gewinnet.« Da rührten sich alle mit neuem Eifer und zogen auf trockenem Rasenweg zu Tale.

Und Baldhard begann vertraulich zu Wolf, der neben ihm ritt: »Von der Königsburg der Thüringe fuhrt ihr bei Nacht und Nebel an unserem Hofe vorüber wie unmenschliche Gestalten der Finsternis. Damals war kaum Zeit, dir die Hand zu drücken und die Tage unserer Reise zu bereden. Seitdem haben wir nichts von euch gehört [] und gesehen, ich hatte große Sorge um euer Geschick und mußte doch vor den anderen meine Zweifel verbergen.«

Wolf lachte. »Die Vandalen verstehen die Kunst, sich unsichtbar zu machen, und ich meine, vor allen anderen stammt Berthar, der Held, von dem Geschlecht der Waldelbe, denn er tummelt sich unter dem wilden Farnkraut so heimisch wie wir im Dorfe, auch wenn er als ein Fremder durchreitet. Sogar ihre Rosse legen sich im Waldversteck nieder wie lauernde Hündlein. Wir sind ganz ungesehen über die Grenze gestoben und in dies Land gedrungen. Hier fanden wir guten Empfang, dein Vater hatte vorsorglich alles bereitet. Mein Herr Ingo waltet jetzt hier als Häuptling, und die Bauern der Marvinge werden, wie ich merke, seiner froh. Die Leute hier aber wirst du als altväterisch und ehrbar erkennen. Sie trinken ihr Bier noch aus dicken Näpfen von Eichenholz, welche wahrhaftig schwer zu heben sind, doch der Trank ist rühmlich. Wir aber haben seither wenig Muße gehabt, ein Teil von uns schanzt mit Hammer und Axt auf den Bergen, und andere sind dem Herrn nach Süden über den Main gefolgt zu den Burgunden. Heut kommt ihr zu guter Stunde, denn der Häuptling, dem ihr euch geloben wollt, ist gerade jetzt zurückgekehrt. Ingo erwartet euch beim Volksopfer.«

»Siehst du den Helden Berthar«, versetzte Baldhard, »so gib ihm dies von Frida, meiner Schwester, sie befahl mir's ernstlich, es sei für ihn im Herrenhofe gewunden.« Und er legte einen Knäuel in die Hand des anderen.

Von der Lagerstatt schritten die Thüringe einem Berge zu, der sein rundes Haupt über die anderen Höhen erhob. Vor dem letzten Anstieg hielt Ingo mit seinem Gefolge zu Roß, die Vandalen sprangen ab, als die Siedler nahten, und riefen ihnen frohen Gruß zu. Auch die Thüringe wurden mutig, da sie den Helden vor sich sahen, dem sie einst in ihrer Heimat Gastrecht gegeben hatten und der ihnen jetzt ein guter Führer in der Gefahr und ein gerechter Richter sein konnte. Ingo führte die Scharen den Berg hinauf zum Opferstein, wo die Männer des Tales dichtgedrängt standen, vor ihnen Marvalk, der Greis, ihr Opfermann. In drei Haufen sonderten sich die Opferer am Stein, dreimal drei Stiere wurden den guten Göttern an den Stein geführt, drei für jedes Volk. Über den Opferkessel banden sich die Männer zu einem Bunde und gelobten, den Helden Ingo als Häuptling zu ehren. Darauf wurde im Baumschatten das Opfermahl gerüstet, und allen erschien als ein gutes Angebinde, als der Häuptling sich erhob und seinem Volk verkündete, daß der alte Streit um die Landesmark mit den Burgunden verglichen sei.

Von dem Opfermahl ritt Ingo mit Berthar talab einer anderen Höhe zu, auf welcher die Vandalen ihr Heimwesen schanzten. Auf dem Wege sprach er fröhlich: »So haben wir uns mit zwei Königen [] vertragen und mögen hier wohl gedeihen, wenn die Götter uns gnädig bleiben. Deinem Kriegszug mit den Burgunden danke ich, daß es mir bei König Gundomar gelang; er grollt jetzt dem Übermut der Römer und wird, wie ich hoffe, in der nächsten Zeit Frieden halten.«

»Unterdes bauen wir uns hier fest zwischen den Steinen«, lachte Berthar, »und nach wenig Jahren soll es auch einem großen Volkskönig schwer werden, uns die neuen Sitze zu brechen. Sieh dort, mein König, die Stätte deines eigenen Hofes.«

Von einer waldbewachsenen Bergleite ragte ein steiler Felsenhügel wie eine Bergnase über das Tal des Idisbaches, von der Höhe dahinter durch eine Einbuchtung geschieden. Der Berg hob sich stolz aus dem grünen Tal, auf seinem Gipfel trug er alte Eichbäume als den einzigen Laubschmuck. Denn an den Seiten des Berges waren die Stämme gefällt und über der halben Höhe mit Felsgestein und Erde zu dichtem Verhau geschichtet, davor ein Graben gezogen, der so weit von dem Gipfel entfernt war, daß keine Wurfwaffe zur Höhe hinaufreichte. Klug hatte der Alte die Rinnsale des Wassers und kleine Schluchten benutzt, um gesicherte Wege von dem Gipfel zum Ringwall zu führen, damit am Tage des Kampfes die Belagerten auf und ab eilen konnten, ohne daß der Feind aus der Tiefe sie traf; den verschanzten Abhang aber hatte er so geböscht, daß von dem beherrschenden Gipfel Steine und Wurfspeere freie Bahn niederwärts fanden. Da, wo der Burghügel sich an die Bergleite schloß, war der Graben tiefer, der Wall höher. Auf dieser Seite sprang ein starker Quell unter einem Felshaupt hervor, innerhalb des äußeren Walls, nicht sehr weit vom Gipfel des Berges. Dort hatten die zimmernden Männer den Baumschatten bewahrt, damit der Zugang zum Quell schattig und sicher sei. Aber auch der Gipfel des Hügels war geebnet und längs seinem Rande ein zweiter Wall aus Steinen und Stammholz geschichtet. Er umschloß die Eichen und einen Raum, der groß genug war, um in der Not Herdenvieh, Weiber und Kinder der Siedler einzufassen. Da, wo der steile Reitweg vom Tale durch den Ringwall zur Burg führte, sperrte ein Tor und ein Holzturm für den Wächter den Zugang. Auf der höchsten Stelle des Gipfels inmitten zwischen den Bäumen zimmerten die Mannen Ingos aus großen Balken die Halle des Königs; daneben bezeichneten Stäbe im Boden die Stellen, wo die Wohnung der Mannen, der Stall für Rosse und Rinder und die Vorratsräume erbaut werden sollten. Damit aber dem König in der Bauzeit das Gemach nicht fehle, war ihm in dem Wipfel der höchsten Eiche ein Baumhaus errichtet. Zwischen die starken Äste hatten die Knaben waagerechte Balken gefügt, darüber Dielen genagelt, die inneren Eichenzweige abgehauen oder nach außen gezogen, den freien Raum im Laube mit Bohlen so umschlagen, daß zwei Stockwerke übereinander im [] Wipfel standen. Am Stamm lief die schmale Treppe hinauf, jedes der beiden Gemächer war nach unten durch eine Falltür geschlossen.

Freudig sah Ingo auf die getane Arbeit. Noch freudiger führte ihn der alte Werkmeister von Stelle zu Stelle. »Vogelfrei kamen wir in dies Land«, sprach er lachend, »unter den Vögeln soll mein König hausen, bis Herdsitz und Halle bereitet ist. Und sieh, dort unten am Bach der Schicksalsfrau richten die Knaben der Thüringe bereits die Wagenburg an der Stätte, wo sie ihr Dorf bauen werden. Zu ihnen stellte ich deinen Kämmerer Wolf, denn kundig ist er ihres Landbrauchs. Sieh weiter hinab in den Grund, dort ist ein wonniges Land für Rinderherden, und aus dem Walde dahinter schreit der Hirsch und brüllt der wilde Ochs. In der Ferne aber nach Süden, wo der Idisbach in den Main rinnt, schaust du die grauen Wälder der Burgunden und die Hügel, auf denen sie sich ihre Grenzburgen geschichtet haben.«

»Das Bauer ist gezimmert«, antwortete Ingo, dem Treuen die Hand reichend, »aber die Waldsängerin, die ich darin bergen will, klagt jenseit der Berge. Das Größte ist noch zurück. Freudenlos fahre ich umher, und die Angst um das Schicksal der anderen drückt mir den Atem.«

»Nimm dazu meine Botschaft. Dies sandte Beros Tochter aus dem Herrenhofe«, antwortete Berthar und zog eine Schnur gereihter Haselnüsse hervor. »Merke, mein König, sinnvoll hat das Mädchen dir die Frist gesteckt. Die erste Frucht, halb weiß, halb schwarz, meint die Zeit der Nachtgleiche, jede andere einen folgenden Tag, auf jede siebente ist das Bild des wechselnden Mondes geritzt, die letzte Nuß ist schwarz, und eine Eisennadel steckt darin, diese bedeutet, wie ich verstehe, den Tag, welcher zur Vermählung bestimmt ist. Jetzt zähle, Herr. Kurz ist die Frist, die dir bleibt; zum letztenmal hat der Mond gewechselt.«

Da rief Ingo: »Wähle mir, Vater, die Blutgenossen für verwegene Tat und rüste nach dem Brauch unserer Heimat die Männer und Rosse für den Vandalenritt in der Schwärze. Du aber flehe mit uns zu den Nachtgeistern um Sturm und Finsternis.«

Über den Waldlauben zogen die schwarzen Wolken dahin, die Schatten dehnten sich und glitten wieder zusammen, bald fuhr es beim Mond vorüber wie Manneshaupt, bald wie goldschimmernder Fuß eines Rosses. Von den Bergeshäuptern wälzte sich dichter Nebel herab, bleigrau wand er sich um die Höhen, floß in die Täler und hüllte in gräulichen Dämmer, was auf der Erde ragte, Fels und Laub und den schreitenden Mann. Der Wind heulte über die Berge langhallenden Klageruf und schüttelte die Wipfel der Bäume, daß sie ihre Äste tief gegen das Tal neigten; hier und dort dröhnte es im Walde von schwerem Fall, alte Urstämme, vom Moder gehöhlt, brachen zusammen, Baum stürzte auf Baum und riß die belasteten, [] welche unter ihm krachten, tief hinunter in das enge Tal. Schreiend fuhr das Volk der Raben auseinander und wirbelte abwärts in die Kluft, wo die gescheuchten mit Schnabel und Fängen sich festklammerten. Unten aber rauschte zornig die Schaumflut des Baches, sie schwoll gegen die Baumsperre und hob sich von Fels zu Fels, in tollem Wirbel kreisten darin die Äste und Stämme, und der Wasserschwall schlug an die Berge.

Über das Waldgebirge breitete sich ein fahler Lichtschein, vielleicht kam er aus dem Boden, vielleicht aus den Wolken des Himmels, undeutlich sah man die Berge über die schwarze Nacht der Talgründe ragen. Plötzlich flammte ein Blitzstrahl. Und wilder als Brausen des Waldes und Gekrach der Bäume klang der Herrenruf des Donnergottes.

Ingo stand hoch über dem Gießbach, mit der Faust hielt er sich fest an einer Wurzel, die seitwärts aus dem Boden ragte, und ehrfurchtsvoll neigte er sein Haupt zu Strahl und Donnerton. »Unter den Nachtgöttern, die ich mir zur Hilfe beschwor, nahst auch du«, murmelte er, »starker Gebieter, was kündet dem flehenden Mann die Himmelsflamme, in der du daherfährst? Mahnst du mich hinweg von der Menschenerde in die Lichthallen, und soll ich zerbrechen wie die Waldwipfel im Sturme, oder willst du mir vergönnen, daß ich der Frucht gleich, die von deinem Baume fällt, festhafte in den Tälern, wo Menschen wohnen? Hast du ein Zeichen für mich, so laß mich vernehmen, ob die Tat, die ich wagen will, mir zum Heile gelingt.« Da fuhr ein Feuerstrahl aus der Wolke in den Felsen unter ihm, und aus dem Fels flammte blaues Licht dem Blitzschlag entgegen, der Donner krachte, das Felshaupt löste sich und sank in Sprüngen hinab von der Höhe in das Tal, immer wilder die Sätze und schneller der Sprung, es brach durch den Wald und splitterte den Stein, bis es in den Gießbach schlug, daß der Gischt hoch gegen den Himmel sprühte. Aber dem Schlag und Getöse folgte Stille, und aus der Ferne klang mahnend ein Nachtruf von Männerstimmen. Da rief Ingo in wilder Freude: »Die Hochzeitsknaben höre ich, sie laden zum Brautlauf; segne unser Werk, großer Gebieter«, und die Waffe schwingend, sprang er durch Wetterwolken und schwarze Nacht dem Tale zu.

Der Mond war hinter den Bergen geschwunden, schwarze Nacht deckte die Waldlauben, mit Getöse fuhren die Sturmriesen um die Häuser des Herrenhofes, sie schlugen den eisigen Regen auf die Dächer, schleuderten die Bretter vom First der Halle und stießen brüllend gegen die geschlossenen Tore. Wer von den Männern im Toben der Nachtgewalten erwachte, der barg scheu das Haupt in seinem Pfühl, selbst die Hofhunde lagen winselnd in den Hütten und unter der Treppe. Im Gemach der Jungfrau flackerte das Licht der Lampe in der scharfen Zugluft, die durch Tür und Wände drang. Irmgard [] saß an ihrem Lager, vor ihr kniete auf dem Boden Frida, hielt mit ihren Armen den Leib der Gespielin umfaßt und horchte ängstlich auf das Geheul der Nachtgeister.

»Die Windsbraut fährt dahin über die Höfe«, klagte Irmgard, »gejagt von den Riesen; wer es wagt, sein Messer in den Wirbel zu werfen, der verwundet, so sagen sie, das flüchtige Weib. Auch mich hat der Vater mit dem Messer bedroht, weil ich auf meinen Knien flehte, mir morgen das Gelübde an den argen Mann zu erlassen. Dahinfahren will ich wie die Riesenbraut, bevor ich dem Verhaßten die heiligen Worte sage.«

»Sprich nicht so furchtbar«, bat Frida, »daß nicht die Übermenschlichen draußen es hören und dich an deine Rede mahnen.« Und wieder hob sie ihr Haupt und lauschte.

»Nicht lange währte die Seligkeit, die mir die Götter sandten, als er in den Hof trat«, begann Irmgard wieder. »Damals war ich sorglos, als die Nachtsängerin mir Gutes sang und die schwarzen Beeren am Fruchtbaum hingen, stolz meinte ich im Federkleid über die Männererde zu schweben, wenn er zu mir sprach. Jetzt starre ich allein in die Finsternis. Hassen muß ich mich«, fuhr sie auf, »daß ich über die eigene Not klage. Ingo, Geliebter, bitter ist die Sorge, die ich um mich selbst fühle, aber größer das Leid um dein Geschick, denn du bist dahingeschwunden im Nachtwind, keiner bringt mir Kunde von dir, und ich weiß nicht, denkst du mein oder hast du mich vergessen, atmest du noch in der Fremde, bedrängt wie ich, oder soll ich dir den Purpur tragen unter die Erdscholle.« Sie sprang auf und rief: »An meinem Herzen berge ich dein Geheimnis, gebunden bin ich an dein Leben, und leben muß ich, bis ich weiß, wo das Haupt meines Königs ruht. Sieh zu, ob der Morgen naht, vor dem ich bebe«, rief sie der Gespielin zu. Frida sprang an die Fensteröffnung und schob einen Zipfel der Decke zurück, gellend brach ein Windstoß herein, warf einen Strahl Himmelswasser in das Gemach und traf die Wange der Frauen mit kalten Schlägen. »Keinen grauen Schein sehe ich am Himmel, und keinen Klang höre ich als das Stöhnen in der Luft«, versetzte Frida und verschloß wieder die Öffnung mit Laden und Decke.

»Sei bedankt«, sprach Irmgard, »jetzt ist noch Zeit, fröhlich zu sein. Wenn aber der Morgen kommt, dann werden sich die Hochzeitsgäste sammeln, im Festkleid nahen sie, und der Ring wird geschlossen, sie ziehen das Weib hinein, sie sprechen ihr die Worte vor und höhnen sie durch die Frage, ob sie geloben will. Nein«, schrie sie. »Dann sehe ich erschreckte Gesichter und zornrot eines. Er faßt nach dem Messer. Stoß zu!« Und das Antlitz in den Händen bergend, klagte sie: »Armer Vater, auch dir wird es traurig sein, dein Kind zu verlieren. Denn auf einsamem Pfade fahre ich dahin, über leere Heide gleite ich, durch Eisströme wate ich, still ist der Weg, [] und kalt ist die Nacht zum Tor der Todesgöttin, und um mich herum regen sich lautlos die schwarzen Schatten.«

Die Haustür erdröhnte und sprang auf, eine Schattengestalt drang herein, eine zweite, ein ganzer Hauf, riesig die Leiber, schwarz die Häupter und schwarz das Gewand. Entsetzen faßte die Frauen, als sie das Nachtgreuel sahen. Aber aus dem Ring der schweigenden und gleitenden Unholde sprang einer heran. Nur ein Laut, ob ein Schrei, ob ein Seufzer, kam von Irmgards Lippen, dann sank eine dunkle Kappe über ihr Haupt, mit Riesenstärke ward sie gefaßt und hinausgetragen in die Sturmnacht. Hinter ihr warf ein anderer der Nachtgesellen die Hülle über Fridas Haupt und wollte sie heben. Sie aber sträubte sich heftig, und obgleich ihr schauderte, rief sie doch: »Freiwillig will ich gehen auf eigenem Fuße auch unter Nachtgespenstern; hinter der Bärenkappe merke ich eine rötliche Locke, die ich kenne.« Im nächsten Augenblick war das Gemach leer, die Tür von außen geschlossen, durch eine große Lücke der Hofmauer, welche die Nachtgesellen gebrochen, sprangen sie ins Freie. Unter Sturm und Regen schnaubten wilde Rosse und fuhren Reiter dahin. Und wieder schrien die Geister des Sturmes gellenden Racheruf und schleuderten das Wolkenwasser gegen die Dächer des Hofes, aus dem das Herrenkind geschwunden war.

Als der nächste Tag sich neigte, schwieg der Sturm, und die Sonne färbte mit rotem Abendlicht die Eichen der Idisburg. Da sprengte aus dem finstern Walde, der hinter dem Holzring ragte, eine Schar Reiter dem Burgwall zu. Berthar, der selbst die Turmwache hielt, eilte an das Tor und rief, die Arme hebend, den Kommenden lauten Heilgruß entgegen. Die Rosse stoben in den Hof, zwei verhüllte Frauen wurden herabgehoben, Ingo löste die Kappe der ersten, und Irmgards bleiches Antlitz wurde vom Sonnenlicht bestrahlt. Die Vandalen warfen sich vor ihr auf die Knie, sie faßten ihre Hand und den Saum des Gewandes und riefen jubelnd Heil ihrer Königin. Berthar aber nahte der Regungslosen ehrfurchtsvoll, faßte ihre Hand und sprach: »Schließt den Ring, Blutgenossen, fleht, daß die hohen Götter den Bund der Könige segnen!« Und er tat die heilige Frage der Vermählung an Ingo, Ingberts Sohn, den König der Vandalen. Darauf wandte sich der Alte, der an Vaterstelle stand, zu der Jungfrau und tat dieselbe Frage. Da öffneten sich ihre Lippen zum erstenmal seit der Angstnacht, aber die bebenden Worte klangen: »Ja, ich will.« Und die Vandalenfrau barg ihr Angesicht an der Brust des Mannes, der ihr lieb war.

Unter den Eichen wurde das Brautmahl gerüstet, die Knaben trugen die Holztafeln und stellten sie auf Kreuzhölzer, die sie gefügt. Auch den Ehrensitz für den Wirt und die Wirtin hatten sie vorsorglich gezimmert und mit einer Armlehne erhöht. »Laß dir, edle Herrin, heut zum Willkommen, das wilde Mahl deiner Knaben [] gefallen«, bat der Alte. »Holzschüsseln bieten wir dir statt Silber, und zu dem Trunke aus dem Quell und dem Met, den die Bauern gebraut, das Fleisch eines Ebers aus deinem Walde. Sei gnädig und hold deinem Volke.«

Und am Abend sprach Berthar vor der Eiche zu Ingo: »Wie lange ich lebe, oft war ich fröhlich in meinem Sinn, wenn ich auch nur ein schweifender Recke bin; aber fröhlicher als zuvor stehe ich heut vor meinem Herrn. Denn das Nest, das wir hier gebaut wie die Habichte über dem Felsen, das dünkt mich gute Arbeit für dich und eine andere. Und metselig will ich das Werk rühmen, die guten Bollwerke, die tiefen Gräben, die schaffenden Fäuste der Männer. Mehrerlei Menschenwerk habe ich geübt, und öfter habe ich zerschlagen als gebaut, aber als die trefflichste Arbeit lobe ich neben dem Sprunge in die Schlacht die Arbeit der Axt, welche auf herrenlosem Grunde ein Heimwesen schafft. Ruhe, mein König, auf bräutlichem Lager; zum erstenmal, seit du ein Knabe warst, schlummerst du als Herr auf eigenem Grunde und legst den Arm einem Ehegemahl um ihren Hals. Ruhe sorglos, denn deine Knaben wachen ehrfürchtig im Ringe um das grüne Brautgemach ihres Herrn. Selig war der Tag, selig sei die Nacht, und Heil bedeute eurem Leben der Einzug in den Hof.«

Am Quell

Einmal hatte der Sommer die Eichen auf der Idisburg in das grüne Laubkleid gehüllt, und einmal der Winter die Äste kahl gefegt, aber hell flammte durch das ganze Jahr das Herdfeuer des neuen Hofes unter den Bäumen. Jetzt war wieder Sommer und gute Zeit; in langer Reihe zogen die kleinen Lichtwolken am Himmel und unten um den Fuß der Laubhügel in langer Reihe gemächlich die Schafe und Rinder. Zwischen den Eichen erhob sich jetzt ein mächtiger Holzbau, der Herrensaal. Wer die Stufen hinaufstieg, trat durch das Tor in die weite Halle, er sah hinten den heiligen Herd, über sich das Balkendach, an den Seiten die erhöhte Bühne, dahinter die Eingänge zu den Kammern des Herrn und der Hausfrau. In dem Hofraum davor standen, vom Bollwerk überragt, das niedrige Schlafhaus der Mannen, die Ställe und Vorratsräume.

Unter der Eiche, welche das Laubhaus trug, saß Irmgard und blickte selig vor sich nieder, denn auf dem Boden lag ihr kleiner Sohn im Lindenschild seines Vaters, und Frida schaukelte ihn. Der Kleine griff mit den Händchen nach einer Biene, die vor ihm summte. »Weiche abwärts, Honigträgerin«, scheuchte Irmgard, »und tue dem kleinen Helden kein Leid, er weiß ja noch nicht, daß du eine Waffe unter dem Pelzrock birgst. Fliege zu deinen Gespielinnen und sei fleißig, den süßen Seim zu kochen, damit mein Held im Winter an [] deiner Arbeit seine Freude habe. Denn ein junger Burgherr ist er, und wir heben für ihn den Zehnten von allem Guten, das im wilden Walde gedeiht. Sieh, Frida, wie er die Faust ballt, und wie wild er vor sich blickt, er wird einst ein Krieger, den die Männer fürchten. Dort bringt ihm auch der Vater seine Jagdbeute«, rief sie freudig, hob den Kleinen aus dem Schilde und hielt ihn in die Höhe, als Ingo herzutrat mit Hornbogen und Jagdspeer, einen erlegten Rehbock auf der Schulter. Der Häuptling beugte sich über den Sohn und strich seinem Weibe grüßend das Lockenhaar, dann legte er das Wild am Baume nieder. »Der Schnellfuß hier kreuzte meinen Weg, als ich über die Berge nach der Burgundenmark schritt. Sie ist nahe genug, und man erreicht sie ohne viel Roßsprünge«, setzte er lachend hinzu. »Einem der Marvinge wurden in der Nacht zwei Rinder aus dem Waldgehege geraubt, wir folgten der Spur, sie führte über die Grenze, und unsere Boten gehen südwärts, den Raub einzufordern. Doch sorge ich, es ist vergeblich, denn ungerecht sind die Grenzleute drüben, und wir vermögen nicht anders zu unserer Habe zu kommen, als daß auch wir auf ihrem Grunde in die Herden fallen. Üble Heldenarbeit ist solcher Nachtwandel eines Katers, und der Häuptling darf's nicht weigern.«

»Dafür lachen dir die Landgenossen grüßend zu, und auch dein Weib freut sich der Ehre, die sie ihr erweisen«, tröstete Irmgard.

»Ein gutes Weib habe ich, das um meinetwillen froh ist«, versetzte Ingo. »Dennoch fürchte ich, daß sie nur selten noch einen Sänger hört, der die Taten ihres Hauswirts rühmt. Heute nacht träumte mir, daß die Waffen über unserem Lager klangen, und als ich auffuhr, sah ich, wie mein Schwert in der Scheide hüpfte. Weißt du, was der Traum bedeutet, du Zeichenkundige?«

»Daß mein König sich nach Ausfahrt sehnt«, versetzte Irmgard ernsthaft, »hinweg von der Mutter und dem Kinde. Eng ist der Hof und verborgen dein Hausen im Walde. Wohl sehe ich zuweilen die Wolke auf deiner Stirn und höre Kampfesworte von den Lippen des Schlafenden, wenn ich mich über dich beuge.«

»Das ist Mannesart, wie du weißt«, versetzte Ingo, »daheim auf dem Lager die Schwertreise zu ersehnen, und wieder nach dem Kampfe die Heimkehr an den Hals der Gemahlin. Wohl möglich, daß der Gesang meines Schwertes uns einen Strauß mit den Burgunden wahrsagt, denn ärgerlich sind die Händel, und Gundomars Gesinnung wird kalt. Sieh dorthin, auch der Alte ist in einen Zimmermann gewandelt«, er wies auf Berthar, der mit Axt und großer Ledertasche über den Hof schritt.

»An der Zugbrücke ist ein Schaden zu heilen«, erklärte der Held und trat grüßend näher, »und der Hände sind wenige. Deine Knaben, König, rüsten mit den Landleuten fröhlich das Nachtfest der Sommermitte und bereiten die Holzstöße zu Bergfeuern.«

[] »Du aber wachst für uns alle«, sprach Irmgard.

»Vorsicht ziemt dem Wächter, welcher einen Schatz behütet«, versetzte Berthar und neigte sich gegen Irmgard, und bedeutsam fuhr er fort: »Gegen Norden ragt das Giebeldach dieses Saales, und in den Bergen sammeln sich die argen Wetter. Nordwärts sehe ich oft, wenn auch der Tag sonnenwarm ist wie heut. Verzeihe, Herrin, daß ich stille Sorge erwecke. Solange mein alter Gesell Isanbart atmete, hemmte er wohlgesinnt die Rachegedanken jenseit der Berge, denn Herr Answald beachtete seine Worte. Seit sie aber den Hügel über ihn schütteten, haben die Feinde allein das Ohr des Häuptlings. Nicht das Volksgeschrei fürchte ich noch, wohl aber heimliche Rachefahrt über den Wald. Ungern sehe ich, wenn die Herrin allein in die Täler wandelt.«

»Soll ich als eine Gefangene leben, Vater?« fragte Irmgard traurig.

»Nur die nächste Zeit laß dir unsere Sorge gefallen. Manche Wunde vernarbt, ist doch auch die des Theodulf geheilt, und er schreitet, wie sie sagen, jetzt am Hofe des Königs einher.«

Vom Bollwerk klang laute Rede, der Wächter auf dem Holzgerüst blies in das Horn und hing an den Ruf lustige Töne, die gar nicht dazugehörten. Irmgard lachte. »Es ist ein Freund«, sprach Ingo, »der Wächter will ihm eine Ehre tun.« »Volkmar«, schrie Irmgard und eilte dem Sänger entgegen, der eilig in den Hof trat. Aber sie hielt an, als sie in das feierliche Gesicht des Wanderers blickte. »Aus der Heimat kommst du, doch ich erkenne, einen Freundesgruß bringst du nicht.«

»Von der Königsburg komme ich«, begann Volkmar, und in seinem Antlitz zuckte die Bewegung, als er sich vor der Herrin und dem Häuptling verneigte, »nur kurz war meine Rast in den Waldlauben. Herr Answald ließ satteln, um nach der Königsburg zu reiten, die Fürstin saß unter den Mägden, still war es im Hofe, niemand fragte, wohin ich ging.« Irmgard wandte sich ab, aber im nächsten Augenblick faßte sie die Hand des Gemahls und sah liebevoll zu ihm auf.

»Als Bote des Königs kommst du«, begann Ingo, »ich hoffe, wohlmeinende Sendung trug er dir auf.«

»Verstummt sind die Lippen des Königs«, versetzte Volkmar, »geendet ist seine Sorge um Königsstuhl und Schatz, tot fand man ihn auf seinem Lager, nachdem er am Abend vorher lustig unter seinen Mannen gezecht hatte. Der Holzstoß wurde ihm gerichtet, und die Flammen loderten um seine Leibeshülle.« Tiefes Schweigen folgte seinen Worten.

»Ein machtvoller Herr war er und ein beherzter Kriegsmann, ein besseres Ende habe ich ihm gewünscht als unter seinen trunkenen Leibwächtern«, begann erschüttert Ingo. »Wie er auch gegen andere gehandelt hat in mürrischem Argwohn, mir war er ein Gehilfe zu [] meinem Glück, und durch ein ganzes Jahr hat er den Andrang meiner Feinde gehemmt.«

»Den Schlüssel zur Schatzkammer bewahrt jetzt die Königin für ihren Sohn«, fuhr der Sänger fort, »sie herrscht gewaltig in der Königsburg und sendet ihre Mannen in das Land. Um die Wette reiten die Edlen, an ihrem Hofe Huld zu gewinnen; schwerlich wagt jemand ihrer Herrschaft zu trotzen. Schon meint mancher, daß die Faust des toten Königs weniger gedrückt habe als die weißen Finger der Frau Gisela. Das kündige ich dir, Fürst, von niemandem gesandt, du erwäge, ob es dir Unheil bedeute.«

»Mit gleichem Ernst berichtest du Trauriges und Frohes«, antwortete Ingo lächelnd. »War der König mir nicht schädlich, die Königin kenne ich als gütig und edelgesinnt. Jetzt erst darf ich mit leichtem Mute mich meines Glückes rühmen, soweit es an dem Willen der Nachbarn hängt.«

»Unsicher ist die Gunst einer herrischen Frau«, sprach der Sänger.

»Ein treuer Grenzwart war ich dem toten König, warum sollte ich seinem Sohne weniger sein? Und solange Frau Gisela den Thüringen gebietet, erwarte ich Gutes von dort. Du sprachst die Königin?«

»Feindlich stach der Blick der Königin, als sie mich in dem Haufen sah. ›Denkst du jemals wieder in meinem Hofe den Mägden deine Reigen zu spielen‹, rief sie mir zu, ›so meide die Bergfahrt. Wenn die Elster über die Wälder fliegt, rauft ihr der Habicht die Federn. Vielschwatzender Bote warst du dereinst, sorge um deine Zunge.‹ So winkte sie mir Entfernung, ich aber eilte flüchtig durch die Wälder hierher, mich trieb die Sorge um dich und die Herrin.«

»War die Sorge auch eitel, dennoch sei bedankt für deine Treue. Dir hat ein Verleumder die Königin verfeindet. Wie sie mir gesinnt ist, habe ich in schwerer Stunde erfahren, bewährt ist die Freundschaft und gemeinsam der Quell unseres Blutes. Denn uns beiden walten die hohen Ahnen im Göttersaal, als zwei Kinder eines Geschlechts stehen wir unter Fremden auf den beiden Seiten der Berge, ich der Mann, und sie das Weib.«

»Doch nicht dein Weib, Herr«, warf Berthar ein.

Ingo lachte. »Gleichwohl ist sie ein Weib, und übel stünde uns Männern, die Laune einer Frau zu fürchten.«

»Noch übler, ihrer Freundschaft zu vertrauen«, mahnte der Alte. »Als die Bärin klein war, leckte sie die Hand des Mannes, den sie später im Nacken packte.«

»Gar zu hartnäckig ist dein Mißtrauen«, schalt Ingo gutherzig. »Aber ich will die Klugheit üben, die du rätst. Wir reiten selbst in die Dörfer und laden die Alten zum Rat, ob wir eine Botschaft senden an die neue Königin und vorsichtig auf Rüstung denken. Ist die Arbeit unnütz, so lachen wir später der Sorge. Du, Volkmar, weile [] als Gast bei uns, bis du erkennst, daß Frau Gisela dir wieder hold wird; du weißt selbst, wie lieb uns deine Nähe ist.«

»Verzeih, Herr«, antwortete der Sänger ernsthaft, »wenn ich meine Fahrt nicht hemme, schneller als Sprung des Hirsches und Flug des Falken eilt der Zorn dieses Weibes. Völlig hat sie vergessen, daß sie ehedem meine Botenfahrt vor dem toten König rühmte. Meinst du, vor ihr sicher zu sein, mir hoffe ich's nicht.«

»Wer darf dem wanderlustigen Sänger den Fuß hemmen? Mußt du scheiden, so laß dir's doch gefallen, bei der Herrin am Herde auszuruhen, und kehre bald wieder unter unsere Eichen.«

»Ich werde die Stätte wieder aufsuchen, wo die Eichen stehen«, versetzte der Sänger, sich über die gebotene Hand des Häuptlings neigend.

Ingo schritt mit Berthar zu den Rossen. Irmgard sah ihm nach. »Vieler Geheimnisse bist du kundig, Volkmar«, sprach sie leise, »aber du vermagst der angstvollen Frau doch nicht alle Gedanken zu deuten, welche durch das Haupt ihres Gemahls ziehen.«

»Die Gedanken schwirren im Haupt wie Schwalben im Hausdach, sie fliegen aus und ein«, tröstete der Sänger, »du aber gleichst dem Herdfeuer im Hause, welches Frieden gibt und froh macht; sorge nicht um die schwärmenden Schatten. Doch auch dir, Herrin, nahe ich als verschwiegener Bote. Da ich aus den Waldlauben schied, trat Frau Gudrun mit mir zu dem Gehege, worin sie das Hofgeflügel verwahrt. Sie wies auf ein Storchweibchen und sprach: ›Der Vogel entflog im Sommer dem Hofe, aber vor dem Winter kam er zurück und brachte sein Junges mit, jetzt füttern wir beide. Eine, die du kennst, schwand von hier, weil sie die Schwungfedern eines Wanderschwans erfaßt hatte, trage ihr jetzt ein anderes Reisezeichen zu.‹« Und der Sänger bot ihr das Zeichen, die Flügelfeder eines Storches und die Kielfeder eines jungen Vogels mit einem Faden zusammengebunden. Irmgard hielt den Gruß ihrer Mutter in der Hand und ihre Tränen fielen darauf: »Frau Adebar, die Störchin, flog zum Hofe zurück, weil ihr ein Raubvogel den Wirt ihres Nestes zerkrallt hatte. Mir aber gebietet mein Herz, den wilden Falken zu widerstehen, welche gegen meinen Hausherrn die Flügel schwingen. Komm, Volkmar, daß ich dir mein armes Storchkind zeige, das jauchzend die kleinen Hände ballt, wenn sein Vater sich über sein Antlitz neigt.«

Am Nachmittag war es still auf der Ringburg. Der Sänger war geschieden, Ingo eilte mit den Hofgenossen durch die Täler, Frau Irmgard stand an dem Quell, der unweit des Hauses unter einem Felsen hervorrieselte. Dort hatten die Männer der Herrin einen schönen Steintrog gemeißelt, in dem sich das Wasser sammelte. Warm schien die Sonne, lustig plätscherte das kühle Wasser und floß aus dem Steintroge talab; über die Felswand hingen von oben die Äste [] eines Eschenbaumes als ein schirmendes Dach, und um den Quell standen Weiden und bargen mit ihrem grauen Blättergewand die Stelle vor fremden Augen.

Irmgard hielt den kleinen Sohn über den heiligen Quell. »Liebe Herrin des rinnenden Wassers«, flehte sie, »sei hold meinem Kinde, daß seine Glieder stark werden und sein Leib wohlgestaltet wie der meines Herrn.« Sie badete den Knaben, welcher ungeduldig schrie und mit den Beinchen um sich schlug, sie rieb ihm den kleinen Leib mit dem Linnentuch, hüllte ihn warm ein, legte ihn auf das Moos und sprach ihm kosend zu, bis sein Schreien endete und er die Mutter wieder anlachte. Dann erhob sie sich und legte ihr Obergewand ab, daß sie ungegürtet im Unterkleide stand, sie spülte am Wasser den Saum des durchnäßten Gewandes rein und breitete es aus, wo die Sonnenstrahlen auf den Rasenweg fielen. »Einst hatte ich Dienerinnen, welche sich zu meinem Dienst aufschürzten, und selten rührten meine Hände an Herd und Trog, jetzt hause ich mit Frida und den Mahlmägden allein in der Wildnis, und rauh wird die Hand, ich fürchte, daß das meinen Herrn kränkt. Wäre meine Hand weich wie einst, ihm würde manches Behagen fehlen. Wie könnte er leben ohne meine Hilfe an der wilden Mark?« Sie sah auf ihr Bild, welches in dem bewegten Wasser hin und her fuhr, und löste das Band ihrer Haare. Die langen Ringellocken sanken herab und tauchten mit den Spitzen in das Wasser, sie aber starrte in die Flut und sprach leise: »So gefiel ich ihm einst; wissen möchte ich, ob er noch so denkt wie damals, wo er mich im Morgenlicht küßte? Oder hat mich der stille Gram gewandelt um den Zorn des Vaters und die Trauer der Mutter? Ich berge doch meine Seufzer dem Könige und winde die Hände nur in der Einsamkeit. Ihm aber kränkt die einsame Ruhe den stolzen Mut, und er sehnt sich hinaus zu ruhmvollem Heldenwerk, denn hoch fährt sein Sinn, und er ist sein Lebelang gewöhnt, den Adlern die Walstatt zu bereiten. Jetzt birgt er sein Haupt unter dem Holzdach um meinetwillen.«

So senkte sie das Haupt über den Steinrand in schweren Gedanken. Der Türmer rief und von Tritten klang der Stein, ohne daß sie darauf achtete. Da schnaubte neben ihr ein Roß und eine tiefe Frauenstimme rief: »Was kauert das Weib am Brunnenrand, so gierig ihr eigenes Antlitz zu beschauen, daß ihr Auge und Ohr verblendet sind.«

Irmgard fuhr auf. Vor ihr hielt hoch zu Roß eine mächtige Frau, von dem gelben Haar hing ein Schleier herab, über die Schultern und des Rosses Rücken ein Purpurmantel, von Goldmetall blitzte die Rüstung des Rosses, und sein Huf stampfte auf dem Linnengewand, das Irmgard ausgebreitet hatte. Und hinter der Fremden sah sie das bleiche Antlitz Sintrams. Die heiße Röte stieg ihr in das Antlitz, sie wußte, wer die Fremde war, vor der sie ohne Gürtel [] mit entblößtem Bein stand. Aber aus ihrem Auge flammte der Zorn wie aus dem der Königin. So prüften einander die Frauen schweigend mit feindlichen Blicken, dann schlug Irmgard ihre Haare wie einen Schleier über die Brust und tauchte neben dem Brunnen nieder in das Moos, damit sie die nackten Beine berge. Sie nahm ihr Kind in den Schoß und hielt es vor sich. »Ist das Weib stumm, das sich auf den Boden duckt?« rief die Königin ihrem Begleiter zurück. »Es ist Frau Irmgard selbst, Herrin«, antwortete Sintram. »Die Königin ruft dich, Base Irmgard.«

Irmgard blieb unbeweglich sitzen, aber sie rief befehlend: »Wende dein Antlitz ab, Sintram, nicht ziemt es dir, die Augen auf mich zu richten, während das Roß deiner Königin über meinem Gewande stapft.«

»Hast du so gut gelernt, was dem Weibe geziemt im Hofe deines Vaters, aus dem du entwichen bist als Dirne eines fremden Mannes?«

»Unwahr schmähst du, wenn du gleich eine Königin bist«, rief ihr Irmgard zornig entgegen, »treu lebe ich meinem verlobten Gemahl. Siehe zu, Neidvolle, ob du gleicher Ehre dich rühmen darfst.«

Drohend hob die Königin den Arm, da klangen Stimmen auf der Höhe. »Hierher, Ingo«, rief Irmgard außer sich, »hilf deinem Weibe!« Den steilen Fußpfad an ihrer Seite sprang Ingo herab, erstaunt sah er sein Weib am Boden und vor ihr hoch zu Rosse die zornige Königin mit ihrem Begleiter. Er schritt bei seinem Weibe vorüber und beugte huldigend Haupt und Knie vor Frau Gisela. »Heil der großen Herrin der Thüringe«, rief er fröhlich, »in Ehrfurcht grüße ich dein edles Haupt, schenke deine Huld dem Hause des treuen Vetters.« Das Antlitz der Königin wandelte sich, da sie den Helden so froh in ehrerbietiger Haltung vor sich sah, und sie sprach gütig: »Heil sei auch dir, mein Vetter.«

»Übt niemand der Königin den Hofbrauch, daß er ihr vom Rosse helfe?« rief Ingo und bot der Königin den Fuß und den Arm, damit sie sich herabschwinge. Frau Gisela faßte mit der Hand in sein lockiges Haar, sich daran zu halten, und ließ sich an seinem Fuße herab.

»Verzeih, Base Gisela«, fuhr Ingo fort, als die Königin vor ihm auf dem Boden stand, »ungebührlich ist es, daß meine Hausfrau vor den Augen der Königin und eines fremden Mannes entblößt sitze, leihe ihr huldvoll den Mantel, damit sie sich geziemend entferne«, und behend faßte er ihren Mantel, da, wo ihn die Spange festhielt, und zog ihn von den Schultern. Die Königin erblich und trat zurück, Ingo aber schlug den Mantel um den Leib seiner Frau und befahl, sie erhebend und auf den Weg weisend: »Verlaß uns.«

Irmgard hüllte sich und den Knaben in das weite Gewand und schritt den Fußpfad hinauf. Ingo aber wandte sich wieder zur Königin, er sah, wie diese nach Fassung rang, und daß Sintram vom [] Rosse gesprungen war und mit gezogenem Schwert herankam. Aber die Königin winkte, und Sintram trat gehorsam zurück.

»Dreist war die Hand, welche der Königin den Mantel nahm, aber dem Manne geziemt, die Ehre seines Hauses zu wahren; du, Ingo, hast mutig gebessert, was wir im Eifer versahen, und ich zürne dir darum nicht.« Sie winkte ihrem Begleiter zum zweitenmal, Sintram wich mit den Rossen weiter abwärts, Ingo stand der Herrin allein gegenüber. »So ist es gekommen, wie ich begehrte«, begann Frau Gisela, »du bist vor meinen Augen, Ingo, wie einst, wo ich dich auf den Stufen der Halle empfing, und wie damals nahe ich dir gutgesinnt.« Und ernster fuhr sie fort: »Du hast Feinde in meinem Lande, welche dir Unheil sinnen, und laut schallt ihr Racheschrei in der Königsburg; auch meine Heimatgenossen, die Burgunden, erheben, wie ich höre, Klage gegen dein raubendes Volk.«

»Du kennst den Brauch an den Landmarken, Königin, für den Schaden, den meine Leute durch die Fremden erfuhren, setzten sie sich selbst das Maß der Rache. Doch wurde durch meine Genossen ein Thüring gekränkt, so waren wir eilig, dem Geschädigten Sühne zu leisten; laß auch du, Königin, dir den Frieden gefallen, den Ingo und seine Markleute von deiner Macht ersehnen.«

»Der Held, den ich einst kannte, hatte höheren Stolz, als Kühe der Burgunden in seine Ringburg zu treiben«, spottete die Königin.

»Der Mann, welcher unstet über die Erde schweift, zimmert gern ein Dach, unter dem er als Wirt gebietet«, versetzte Ingo.

»Unsicher nenne ich das Hausdach«, versetzte die Königin, »aus welchem die Hauswirtin durch Volksgeschrei gefordert wird. Der Vater und der Bräutigam, denen du das Weib geraubt, fordern den Heereszug gegen dich, der junge König bedarf die Hilfe seiner Edlen, er kann nicht weigern, die Geraubte von dir zurückzufordern, und nahe ist, wie ich fürchte, dir das Verderben, denn mühsam hielt der Königswille bis jetzt die zornigen Männer zurück.«

»Was du drohst, Königin, zwingt mich, noch fester in meinem Hofe zu stehen, ist Kriegstat nahe, mir ist sie willkommen, rostig wird das Schwert, das am Herde hängt.«

»Törichter Mann«, rief die Königin nähertretend, »ganz ahnungslos lebst du im Walde, während von allen Seiten die Jäger gegen dich ziehen. Der Cäsar begann neue Kriegsfahrt gegen die Alemannen, auch dich sucht seine Rache; den Burgunden hat er Bündnis geboten, und Gundomar hat sein Volksheer geladen.«

»Den Cäsar nennst du«, rief Ingo. »Dank für die gute Botschaft, Königin! Darum klang mein Schwert, und dort naht der Kämpfer, den ich mir bei Tag und Nacht ersehne.« Seine Augen leuchteten und seine Hand fuhr nach der Waffe.

»Gut sprichst du, Held«, rief Gisela, selbst ergriffen von seiner Glut, »verlorene Mühe wäre es, dich durch Gefahren zu schrecken.

[] Die Warnung trage ich zu, denn ruhmvollere Genossenschaft weiß ich für dich, als unter den Bauern des Waldes und der Mark. Ingo, mein Vetter, du bist es, dem ich lieber als einem anderen Mann den jungen König und mich selbst anvertraue; einen Helden begehre ich, der dem Volksheer vorschreitet in der Schlacht, und der meinen Sohn lehrt, wie man Ruhm gewinnt. Zu solcher Hoheit habe ich dich erkoren, und dich für die Königsburg zu werben bin ich hier.«

Ingo stand überrascht, heftig wirbelten ihm die Gedanken durch das Haupt. Vor sich sah er das schöne Weib in der Königskrone, die Hand hielt sie ihm entgegen, was die Sehnsucht und Glück des stolzesten Helden war, das trug sie ihm bittend zu.

»Du warst ein Knabe«, fuhr Frau Gisela in tiefer Bewegung fort, »da legten die Väter meine Hand in die deine, du wurdest ein Held, gerühmt von den Völkern, und ich ein unzufriedenes Weib in der Königsburg, da strichst du wieder mit deinem Finger schmeichelnd über meine Hand. Was dich von der Königin trennte, ist seitdem auf dem Scheiterhaufen dahingelodert. Jetzt komme ich und lade mir den erlauchtesten aller Helden in diesen Ländern. Beide flehen wir zu demselben hohen Gott, die Enkel zum Ahnen, denn aus dem Geschlecht der Götter stammen wir beide, noch dürfen wir das Haupt erheben über alles Volk der Menschenerde, du und ich, wir sind durch die Unsichtbaren selbst geweiht zu Herrschern des Volkes.« Als Ingo von den Lippen der anderen dieselben Worte vernahm, die er selbst gesprochen hatte, da sah er wie betäubt auf die Herrin, die, einer Göttin gleich, über sein Schicksal sann. – Von der Höhe rauschte es, der Mantel der Königin fiel herab, in der Ferne verklang das leise Wimmern eines Kindes.

»Dies ist der Schmuck, der geliebten Helden gebührt«, rief die Königin und rührte mit der Hand seine Schulter. Ingo hob das Haupt.

»Eine leise Stimme höre ich in meiner Not«, sagte er vor sich hin, »meinen kleinen Sohn höre ich über mich klagen, und wie ein Mann, der aus dem Traume erwacht, stehe ich vor der Königin. An eine bin ich gebunden, die mir teurer ist als mein Leben. Alles hat sie für mich verlassen, im Ringe der Blutgenossen habe ich ihr gelobt, daß ich um sie sorgen will wie ihr Vater, und mit ihr allein das Lager teilen als ihr echter Gemahl. Wie darf ich sie meiden und zur Königsburg ziehen?«

»Nicht weiter, Ingo«, rief Frau Gisela und ihr Antlitz flammte, »gedenke, daß du auch mir die Hand gereicht, denke jener Nacht, wo ich das Schwert des toten Königs gehalten. Damals, wo ich dir dein Leben bewahrte, haben die Unsichtbaren mein Schicksal an deines gebunden. Mir gehörst du an, mir allein, und teuren Preis habe ich für dich gezahlt.«

[] »Hochherzig und als Heldin hast du dich mir erwiesen«, versetzte Ingo, »und dankbar bleibe ich dir, solange ich atme.«

»Pfui über den kalten Gruß«, rief die Königin außer sich, »und pfui über den Helden, der mit höflichen Worten dankbar ist, daß ein Weib sich für ihn mit dem Fluch der Todesgötter belastet. Verstehst du so wenig, was ich getan, da ich dem eigenen Eheherrn das Schwert band? Die bösen Gewalten habe ich heraufbeschworen gegen mein eigenes Leben, Argwohn und den lauernden Haß; Galle war seitdem mein Trank und der eines anderen, verdächtig jedes Wort und ruhelos jede Nacht. Ob ich noch ferner im Licht atmen würde, wenn der andere fortfuhr, mit seinen wilden Knaben zu zechen, das war meine Sorge, herznagende Sorge bei Tag und Nacht.«

»Hast du Todesnot ertragen um meinetwegen«, sprach Ingo bewegt, »so rufe mich, wenn dich Gefahr bedrängt, und willig werde ich mit meinem Blut zahlen, was ich von deiner Last zu tragen habe.«

Die Königin hörte kaum seine Worte, sie trat nahe zu ihm und flüsterte mit heiserer Stimme: »Bist du so willig, Trauter? Wohl möglich, daß der andere nicht gestorben wäre, hättest du nicht in jener Nacht in meinem Gemach gestanden.«

Der Held fuhr zurück, seine Wange erblich, aber kalt war sein Blick, als er antwortete: »Meinst du, Königin, daß du meinem Herzen lieber wurdest, wenn du um meinetwillen schwere Tat auf dein Leben nahmst?«

»Was starrst du mich an wie von Stein«, schrie Frau Gisela, sie faßte seinen Arm und schüttelte ihn: »Nicht dürfen wir zwei, du und ich, nebeneinander noch auf der Männererde dauern, wenn du mir nicht folgst.«

Zornig löste sich der Held von ihrer Hand. »Hast du durch heimliches Nachtwerk auch auf mein Haupt den Zorn der Rachegötter gesammelt: ich bin bereit, die Buße zu zahlen, aber frei von dir, nicht als Knecht an dein Leben gebunden.«

Die Königin sah scharf in sein Angesicht, langsam hob sich ihr Arm, und die Hand ballte sich drohend. »Geworfen sind die Stäbe, in welche die Schicksalsfrau deine und meine Zukunft ritzte. Du hast gewählt, Ingo, und das Zeichen, das du gefunden, bedeutet Not.« Sie wandte sich ab, krampfig hob sich der Leib, aber tränenlos blieb das Auge, und steinern war ihr Antlitz, als sie, auf die untergehende Sonne weisend, halblaut sagte: »Auf morgen.« Eilig schritt sie zu den Rossen. Ingo schleuderte den Königsmantel mit dem Fuße den Berg hinab und sprang auf dem Wege, den Irmgard gegangen, seinem Hofe zu.

[]

Der Wetterschlag

Durch die enge Pforte, welche vom Quell in den Burghof führte, eilte Ingo zum Tor. Er fand das verschlossene mit seinen Mannen besetzt, auf dem Turmgerüst rief ihm Berthar entgegen: »Sieh abwärts, mein König, dort im Tale reitet die Frau mit ihren Gesellen der Landmark zu. So flüchtig stiebt keiner dahin, der sorglosen Mutes ist.«

»Sie schied im Zorn, Vater.«

Berthar erkannte in der umwölkten Miene des Häuptlings, was dieser nicht aussprach. »Scheucht der Hirt einen männlichen Wolf aus dem Pferch, so meidet der Gehetzte die Wiederkehr drei Tage lang, die hungrige Wölfin aber wagt in der nächsten Nacht neuen Einbruch. Hirt der Marvinge, wann erwartest du den Sprung gegen deine Hürden?«

»Zu morgen«, versetzte Ingo.

Der Alte nickte. »Nicht geheuer ist's dort im Norden. Auf der Warte, die wir an deiner Landesmark zimmerten, steht Radgais, er ist einer der Klügsten, und ich meine nicht, daß er schläft, denn er hat den Sänger Volkmar angerufen und weiß, daß der Löffel einer Königin den Thüringen neuen Brei einrührt. Dennoch stieg kein Rauch von seiner Höhe, hell ist der Tag, und klar die Luft, ich fürchte, Herr, nicht freiwillig schloß er die Augen.«

»Die Königin ritt auf Waldwegen, die Warte zu meiden«, versetzte Ingo. In dem Augenblick aber, wo er ausspähte, hob sich nordwärts am goldenen Abendhimmel ein weißer Dampf, höher stieg die Rauchsäule und färbte sich schwärzer.

»Wir verstehen die Warnung«, rief Berthar, »die Knaben der Königin brechen über die Grenze. Herzlich wünsche ich, daß ihnen der Wächter entrinnt.«

»Schaue auch nach Süden, Berthar, dort hebt sich gegen uns der alte Feind. Zum drittenmal wirbt der Cäsar um unseren Leib, diesmal fordert er von den Burgunden, daß sie uns austilgen. Die Königin drohte mit den Waffen ihres Bruders Gundomar.«

Wieder sah der Alte in das Angesicht des Häuptlings und merkte an der harten Miene, daß der andere an schweren Kampf dachte. Da zog er seinen Leibgurt fester und sprach mit wildem Lächeln: »Die Frist ist kurz, für zwei Könige den Hof zu schmücken. Doch behend sind deine Knaben, längst waren wir solcher Ehre gewärtig, und wer ungeladen in unserem Ringe schmausen will, der wird wohl selbst ein Schmaus für Rabe und Aar. Befiehl, mein König, deine Knaben sind bereit zu fechten.«

»Entzünde das Notfeuer«, gebot Ingo, »sende Späher nach der Südmark und warne in den Dörfern der altsässigen Bauern, daß sie ihr wehrloses Volk und die Herden in ihrem Waldringe bergen und uns von Bewaffneten senden, was sie vermögen.«

[] Da rief Berthar mit mächtiger Stimme den Kriegsgesang der Vandalen über den Hof: »Wohlauf, ihr Schwanensöhne, in die Waffen, tragt das Eisenbecken und entzündet die Harzflamme; ruhmreicheren Tanz beginnt ihr heute nacht als brennende Klötze.«

Gleich darauf loderte von der Höhe ein mächtiges Feuer, und gewappnete Männer jagten zu Roß den Berg hinab.

Irmgard saß in dem hohen Brautgemach, das ihr einst die Vandalen zwischen dem Eichenlaub gezimmert hatten. In der Hand hielt sie das warnende Zeichen der Mutter. Sie starrte darüber hinweg in das Leere. Als sie unten im Burgringe den Schritt des Gemahls vernahm, wandte sie die Augen nach ihm, ob er zu ihr treten würde. Doch er sprach mit Berthar. Endlich stieg er herauf, und vor sie tretend, begann er: »Der Mantel der Königin flog nach der Tiefe, die Frau wich zornig von unseren Bergen.«

»Auf dem Felsen lag ich über dem Brunnen, die Angst warf mich zu Boden und die Scham. Da hörte ich Rede und Gegenrede, ich sah, wie mein Hauswirt sich zu dem fremden Weib neigte, und hörte, wie sie ihr Recht forderte an seinem Leben.«

»Dann hast du auch gehört, daß ich widersprach«, versetzte er gutherzig.

»Die Worte verklangen, denn mein Sohn wimmerte, und ich trug ihn auf das Lager des Vaters, ob er ihm eine Stiefmutter findet.«

»Irmgard!« rief der Gemahl erschrocken, »was sinnst du?«

»Meinst du, daß ich liegen will an deinem Wege wie ein Stein, der deinen Fuß von Heldentum und Königskrone scheidet? Ich höre, meine Volksgenossen sagen, daß ich dir nicht vermählt bin zu rechter Ehe, und schmachvoll war der Gruß, den die Königin mir bot. Wenn du die Dirne heimwärts sendest, wird die Königin dir wieder hold, wie sie zuvor war.«

»Du bist gekränkt und hart schneiden deine Worte«, versetzte Ingo, »ich aber meine, nicht du sollst daran denken, das Tuch zwischen uns zu zerschneiden, denn eine andere sinnt darauf mit argen Gedanken. Sie will den Gemahl von dir lösen; doch nicht, wie du wähnst, um ihm ein Königslager zu bereiten. Denn auf eine andere Ruhestätte denken sie für den landfremden Ingo, und sie wälzen dort unten im Tal die Steine, um ihn zu bergen in der lichtlosen Kammer.«

Irmgard fuhr wild auf, wie von einer Schlange gestochen. Er aber zog die Widerwillige an sich und sprach ihr zärtlich zu: »Mühselig war meine Fahrt über die Männererde, ich war noch ein Knabe, da mußte ich wie ein Raubtier durch die Täler traben, mir Beute zu holen, die mein Leben fristete, während die Jäger auf meiner Fährte schlichen. Mehrmals war mir der Tag verleidet, wenn ich demütig die Knöchlein an fremdem Tisch begehrte und den kalten Blick des Gastfreundes sah. Dennoch meine ich, nicht ganz unrühmlich bin ich [] durch die Schlachtreihen der Feinde gedrungen, und ehrlich habe ich geworben, daß mir dereinst ein Freudensitz werde in der Halle der Helden. Damals erschien mir der letzte Sprung in die Schar der Feinde als das beste Glück; und wenn der Schlachtgesang summte, dann hörte ich, daß die Unsterblichen ihren Enkel hinaufriefen in ihr Gefolge. Erst seit ich dich sah und du mir lieber wurdest als mein eigenes Leben, fand ich viel Freude in dieser Welt, und behaglich schien mir's oft, im Sonnenschein über den Tälern zu sitzen und zu lachen, wenn die Böcklein in unserem Hofe gegeneinander sprangen und meine Kampfgesellen in der Butte die wilden Waben heimbrachten. Aber da die Götter mir solches Glück gewährten, teilten sie mir auch zu, daß es dauerlos sein sollte und leidvoll für dich, die mir lieb ist. Durch frechen Hofraub mußte ich dich gewinnen. Ärmer bist du als mein Weib, denn daheim. Niemand rief dir Heil als meine wilden Genossen und die Siedler, welche sich mir zugeschworen haben, weil sie daheim schlechtes Glück fanden. Ich habe es oft gewußt, wenn du neben dem Gebannten deine Tränen verbargst und die Seufzer nach der Heimat. Heut haben die Überirdischen mich gemahnt, als der Mantel fiel. Wohl ist es möglich, mein Weib, daß sie mich zu sich laden wollen, darum sorge ich jetzt, daß die Ausfahrt ruhmvoll sei und schädlich den Feinden.«

»Reite aus dem Holzring«, rief Irmgard, »und baue dir in der Fremde ein neues Heimwesen.«

»Das Wildtier schlüpft aus seinem Lager, wenn die Meute rennt, nicht der Wirt eines Volkes.«

»Du lebtest verborgen ein seliges Jahr, deinen Knaben hobst du im Schilde, und dein Weib hing an deinem Hals. Denke auch daran, Ingo, bevor du wählst.« Angstvoll starrte sie ihm ins Gesicht.

Ingo trat noch einmal zu den kleinen Lichtöffnungen und spähte nach allen Seiten in die dämmrige Landschaft. Wie rotes Gold leuchtete der Himmel, und unten im Tale stieg der Nebel aus dem Bach. Er sah auf die geschwungenen Hügel, die dunklen Wälder, die fruchtbare Flur; dann wandte er sich zu seinem Weibe und umfing sie: »Als der Sänger in der Halle sang und du vor allen den Fremdling ehrtest, da war ich dir lieb, weil ich den Helden voranschritt auf dem Todespfade. Was hat deinen Sinn gewandelt, Vandalenfrau?«

»Die Angst, die ich fühlte, dich zu verlieren«, antwortete Irmgard leise und barg ihr Gesicht an seiner Brust.

Ingo hielt sie fest umschlungen: »Mein Haupt trug ich hoch als Heimatloser, fröhlich genoß ich das Glück des Tages, weil ich das Leben für wenig hielt gegen ruhmvollen Tod, stolz war ich, treu zu sein jedem, dem ich mich gelobt, und furchtbar meinen Feinden. Wer diesen Stolz mir demütigen will, den töte ich, oder er trifft mich. Stolzer aber als sonst bereite ich diesmal den Kampf. Denn gewaltig [] naht der Feinde Drang, wie nie zuvor, und du, Geliebte, sollst mit deinen Augen schauen, ob der Sänger den Helden dir wahrhaft gerühmt hat. Rüste dich, Fürstin, zum Ehrentage deines Gemahls, denn bald hörst du um dein Brautgemach das wilde Lied deiner Schwäne, und über den Wolken schaust du die Himmelsbrücke, auf welcher die Helden sich aufwärts heben.«

Dunkler wurden die Schatten der Nacht, das Notfeuer flammte und warf rotes Licht und Rußwolken über den Hof, auf dem die Männer sich zur Abwehr rüsteten. Sie räumten die Hofstätte von Karren und Gerät, trugen die Wurfspeere und häuften die Steine; auch die Mägde halfen, sie holten in vielen Trachten das Wasser aus dem Quell und füllten die Fässer und Bottiche an der Halle. Boten der Dorfleute rannten in den Hof, reisige Männer sprengten ab und zu, und Befehlsworte der Führer klangen in dem umhegten Raum.

Irmgard stieg mit Frida aus der hohen Kammer herab. Niedergerungen war ihr Zweifel und wie getragen durch einer Göttin Kraft schritt sie über den Hof. Berthar lachte vergnügt, da sie ihm nahte. Er erhob sich schnell vom Boden, wo er an einer großen Wurfschleuder hämmerte, und grüßte sie, wie ein Krieger seinen Häuptling. »So freut mich's, die Königin geschmückt zu sehen, das Licht des Antlitzes freut mich und der Goldschmuck auf der Brust. Das Hochfest rühme ich, wo die Braut in so reichem Schmucke wandelt. Denn lustiger fechten wir Knaben, wenn wir die Herrin schauen, die sich wie eine Schlachtenjungfrau über den Krieger beugt. Du aber höre noch vertrauliche Rede des Alten. Eine gute Herrin warst du den wilden Knaben in friedlicher Zeit, du hast gesorgt für alle und warst stolz gegen jeden wie einer klugen Wirtin ziemt, auf daß nicht ein dreister Blick und ein unziemlicher Scherz der Mettrunkenen sich zu dir hinaufwage. Jetzt aber, wenn dir's gefällt, zeige den Männern freundlichen Sinn, sprich gütig zu jedem und teile reichlich den Vorrat, den du in Keller und Scheuer behütest. Denn ich sorge nicht, daß uns Speise und Trank noch mangeln wird, solange wir fechten; und mancher schlägt grimmiger und wirft stärker die Waffen, wenn er unter seinen Genossen durch Met und ansehnliche Zukost geehrt wird. Bisher haben wir nur auf die Räuber der Burgunden gelauert, diesmal gibt's Arbeit, von der auch spätere Geschlechter er zählen.«

Irmgard reichte die Hand, die der Alte ehrfurchtsvoll faßte: »Für mich ist alles gekommen, wie ich es immer ersehnte«, fuhr er fort, »kurzes Feld und heißer Kampf, und ich an der Schulter meines Herrn. Nur daß der Haufe so klein ist, der mit ihm über die Walstatt schreitet, das macht mir Sorge. Denn lieber zählt der Kriegsgott auf seiner Flur die Schocke der gemähten Männer als die einzelnen Halme.«

»Komm heran, Wolf«, rief Berthar dem jungen Thüring zu, »du [] hast eine gute Art, mit den Weibern zu verkehren, und sie rühmen dich als Reigentänzer. Darum sollst du als Frauenvogt wachen. Führe die Weiber an, wenn sie die Steine vom Felsen rollen, und wenn sie die Eimer schwingen gegen einen Brandpfeil auf dem Giebeldach. Hebe die Felle der Rinder und Hirsche, die wir gesammelt, aus der Grube und breite das genetzte Leder über das Holzdach, denn als bester Schutz gegen Wurffeuer dient uns nächst dem Baumlaub das nasse Fell.«

»Näher dem Herrn meinte ich zu stehen«, versetzte Wolf unzufrieden.

»Niemand wird dir wehren, zur rechten Zeit deinen Sprung zu tun«, tröstete der Alte, »aber rühmlicher als du wähnst, ist dein Werk, denn ich merke, auch die dort draußen werden in Frauenweise darum kämpfen, ob dem einen oder dem anderen das Mus verbrenne.«

»Du meinst, Vater, es wird ein heißer Tag für manchen von uns.«

»Für manchen von ihnen, so ziemt sich zu reden«, versetzte Berthar. »Sorge nur darum, daß du als schmucker Knabe den hohen Schicksalsfrauen gefällst.«

»Nicht an mich dachte ich«, antwortete Wolf und blickte über die Schultern nach dem Hause.

»Sieh nicht rückwärts, ist Gesetz im Männerkampf. Alles, was hinter dir wandelt, mag für sich selbst sorgen, nur die vor dir sind, darfst du sehen.«

Als Wolf die Bündel der nassen Felle mit einem Seile auf das Dach ziehen wollte, stellte sich Frida zu ihm und begann spöttisch: »Zu rühmlichem Dienst bist du erkoren, übel riechen die Teppiche, welche du über uns breitest. Wirst du der Kämmerer, der uns Frauen beschützt, so bleiben die Feinde uns willig zehn Schritt vom Leibe und heben die Nase abwärts mit Grauen.«

»Wäre ich Häuptling«, versetzte Wolf ärgerlich, »ich stellte dich über das Tor vor allem Heere, auf daß du den Feinden durch scharfe Worte das Herz verwundest. Hilf mir die Leiter im Innern des Saales zu der Dachluke heben und halte die Seile, damit ich oben die Felle löse.« Willig folgte Frida seinem Rat, und als er alles gebreitet hatte und von der Höhe herabkam, sah er sich in dem leeren Raume um und gab ihr schnell einen Kuß. Frida sträubte sich nicht, sondern zog plötzlich ein Band hervor und sprach: »Halte den Arm, Wolf, daß ich mich dir verbinde. Schauen wir morgen den Abend, so will ich dir angehören als dein Weib. Oft war ich widerwärtig gegen dich, heut sage ich dir, daß du mir lieb bist und kein anderer.« Sie band ihm den Arm, er aber rief: »Den Zorn der Königin will ich rühmen, der meiner Distel den Stachel nahm.« Sie küßte ihn herzlich, dann riß sie sich los und sprang zu den Mägden.

Unter der Mondsichel trieben wieder die Wolken dahin, wilde [] Gestalten, Menschenleib und Pferdegebein, bald von gelbem Lichte umsäumt, bald kohlschwarz in grauer Dämmerung. Aus dem Idisbach wand und ballte sich der Nebel und stieg aufwärts gegen den Ringwall und die Burg. Tiergeschrei und Menschenstimmen schallten um das Burgtor, auf den Pfaden aus der Tiefe führten die Dorfleute Rosse und Rinder und die braunwolligen Schafe. Mit dem Lindenschild schritten die Männer und trieben mit dem Speer die Herden zur Eile, hochbepackt mit Hausrat eilten die Weiber und Kinder. Gramvoll war ihnen der Weg zur Höhe, denn wer sich rückwärts wandte, der sorgte, ob er auch in den Hof, den er sich jüngst gebaut, lebend zurückkehren, oder ob der Hof selbst in Flammen lodern werde. An der Sperre des unteren Ringwalls drängten sich die Flüchtigen, und der Vandale, welcher dort den Zugang hütete, mußte anweisen und schreien, daß sie in dem Dunkel nicht vom Pfade wichen, der zum Tor führte. Auf dem Gipfel füllte sich der Burgraum mit Menschen und Herdenvieh. Die Rinder brüllten, die Rosse fuhren wild umher, und die Weiber drückten sich mit ihren Bündeln an den Holzwall. Aber Berthar mahnte die Männer, die Hoftiere in Reihen zu stellen, die Schafe mit einem Pferch zu umschließen. In der Mitte des Raumes flammte ein Feuer, dort brodelten die Töpfe für die Darbenden, und der Schenk zapfte den Durstigen Bier, das sie reichlich begehrten. Berthar schritt von einem der Männer zum anderen, bot ihnen würdig, wie in friedlicher Zeit, den Gruß, fragte nach der Meinung und prüfte dabei verständig ihre Zahl und den Mut. »Was säumen die Nachbarn vom anderen Ufer des Bachs, wo sind die armfesten Bauern vom Ahornwald und dem Finkenquell?« rief er dem Thüring Baldhard zu. »Hat den Marvingen der weiße Nebel den Sinn geblendet, daß sie den Schrei des Türmers nicht hörten und den Feuerschein nicht sahen?«

»Langsam regen sich ihre Glieder«, versetzte Baldhard bekümmert, »Herdenvieh und Karren sah ich abwärtstreiben zu ihren Heiligtümern im Walde, sie werden nicht eilig sein, Rosse und Kinder zu verlassen. Dennoch wäre ihnen Eile ratsam, denn im letzten Zwielicht zog eine Schar vom Norden her, den Bach entlang, Schilde glänzten und Eisenkappen. Und ich argwöhne, es sind die wilden Knaben der Königin, welche in den Höfen jenseits ein Nachtlager suchen.«

Auf dem Pfad aus der Tiefe sprengte ein Reiter heran, wild fuhr er auf schaumbedecktem Roß durch das Tor und winkte im Jagen dem Alten zu. »Radgais!« rief dieser und eilte ihm nach zu dem Saal, wo Ingo mit den ältesten der Dorfgenossen die Meldung der Krieger empfing. Der Bote sprang grüßend ab. »In hellem Haufen drangen die Königsknaben durch unsere Mark, es ist ihr ganzer Schwarm, dazu Mannen des Theodulf. Mühsam entrann ich über die[] Berge, nachdem ich das Strohfeuer entzündet. Sie aber halten sich hinter den Bäumen im Tale, denn schwerlich sind ihrer mehr als hundert Schilde.«

»Sahst du die Königin?«

»Außer Theodulf nur den alten Räuber Hadubald.«

»Warf Frau Gisela keine größere Schar in die Sättel«, sprach Berthar verächtlich, »so mögen wenige ihrer Treuen den heimischen Trinkkrug wiederschauen.«

»Dort naht einer vom Main, der andere Gäste meldet«, versetzte Ingo. Walbrand, der Vandale, stob heran.

»Als ich, mein König, gen Süden durch den Kieferwald kam, um über die Landesmark zu spähen, da hörte ich auf dem Saumpfad Klappern der Schilde. Ich barg mein Roß und wand mich zu Fuß durch das Dickicht; in langem Zuge kam's heran, ein Heer der Burgunden, aus drei Haufen geschart, Fußvolk und Reiter. Neben dem Führer ritt ein fremder Gesell, ein Römer war's von der Leibwache des Cäsar, die man Protektoren nennt, ich erkannte den Helm und die Rüstung und hörte sein Lachen und römische Worte. Sorglos wateten sie heran im Sande, ohne Vortrab und Späher, ganz sicher des Sieges. Mit wenig Begleitern hätte ich ihnen Grauen erregt. Aus dem Dickicht brüllte ich gegen sie, wie der Nachtrabe brüllt, da hielten sie erschreckt an und sahen durch die Bäume nach den Wolken. Ich aber warf hinter den Stämmen hervor meine Waffe gegen den Römer. Der Held fiel in den Sand und stöhnte, sie aber schrien laut auf, und ich entsprang in das Dunkel. Ich hoffe, ein übles Vorzeichen wird es ihnen.«

»Wir rühmen die Sorge der Königin«, sprach Ingo, »daß sie ein fremdes Heer gegen meine Mannen in Harnisch ruft. Traute sie dem guten Willen der Thüringe so wenig, daß sie ihr Heimatvolk zum Schwerttanze lud? Wo scheuchtest du ihre Helden durch den Sang des Vogels?«

»Auf halbem Wege zwischen hier und dem Main«, antwortete Walbrand, »ich sah noch, wie sie zur Nacht lagerten. Spät erwachen die Burgunden; wenn sie sich auch eilen, stehen sie doch nicht, bevor der Morgen warm wird, im Tale. Pferdetritte merkte ich unten im Nebel jenseit des Baches.«

Ingo winkte ihm Entlassung und sprach zu Berthar: »Sorge, mein Vater, daß alle schlafen außer den Wächtern, denn morgen werden sie Augen brauchen, welche fest in ihren Köpfen stehen, und geruhte Glieder. Halte gute Wache am Tor, damit nicht unter dem flüchtigen Anzug ein Feind zuschleiche. Im Morgenlicht sammeln wir die Bauern und zählen die Häupter. Die Schar wird klein für den Ring. Wir aber kämpfen um das Leben, und jene dort um karge Beute. Zum letztenmal, bevor wir uns dem Kampfzorn weihen, sei in Frieden gegrüßt, mein Vater. Daß sie uns flüchtige Männer großer [] Volksrüstung wert achten, darüber lachen wir heut, und dafür danke ich dir, du Treuer.«

Der Morgen graute, die Wolken trugen blutroten Saum und bargen die Sonne. In der Ringburg erhoben sich die Schläfer von der Erde. Die Männer rüsteten sich zum Dienst für den Kriegsgott, den Erbarmungslosen, sie salbten und sträubten ihr Haar, daß es rötlich starrte, sie legten um Arme und Hals die Ringe von Bronze und Gold, sie zogen den Gürtel am Leibe fest, daß der Schritt behender sei und der Schwung der Glieder gewaltiger. Mancher legte sein Hemd an von Hirschleder, mit Eisenschuppen bedeckt, mancher auch warf die braune Wolljacke von sich und öffnete das Hemd, damit man die ruhmvollen Narben auf der Brust schaue. Finster war der Blick der Krieger, wild ihr Mut und schweigsam ihr Tun. Denn unziemlich war im Dienste des Schlachtengottes unnütze Rede.

Berthar sprach zu Wolf, der sich neben ihm wappnete, einen dicken Goldring darbietend: »Lange habe ich das Prachtstück bewahrt, das ich einst als Königsgabe gewann. Nimm du es heut als Geschenk von deinem Gesellen, nicht ungeehrt sollst du den Speer schwingen an unserer Seite, damit die Feinde nicht sagen: Sehet, nur kärglichen Lohn erwarb der Thüring an der Bank des Fremden.« Wolf streifte den Ring über seinen Arm, sah den Alten dankend an und antwortete:

»Denke auch, Vater, wenn du den Streit ordnest, daran, daß ich nicht als Frauenvogt unter den Weibern bleibe, und zürne nicht, wenn ich noch eines sage: Herrenfeind ist auch Mannesfeind, aber am fröhlichsten wird sich mein Arm gegen die Burgunden heben, die nicht von meinem Stamme sind.«

Der Alte lächelte finster: »Unnütz bellst du, junger Brackhund. Noch ist der Geruch des Blutes nicht in deiner Nase, wenn der Tag heraufsteigt und die Wolken dort oben sich schwärzer ballen, wirst du selbst deiner Sorge wenig achten.«

Vor dem Saale des Königs war der Opferstein gerichtet. Um den Stein sammelten sich die Krieger, Ingo trat mit seinen Mannen aus der Halle in grauem Stahlhemd, unter einem Helm, der mit dem Haupte eines Ebers gedeckt war, silbern waren die Zähne, und rot glühten die Augen des Untiers. Ein junges Roß führten die Knaben herbei, Berthar stieß ihm den Opferstahl in den Leib und riß die tödliche Wunde. Der König sang das Blutgebet, und jeder der Männer trat herzu, tauchte die Rechte in das Roßblut, und alle schworen einander die Todestreue und dem Herrn Gehorsam.

Aus dem Wipfel des Baumes rief eine helle Frauenstimme: »Wahre dich, König, die Heerschilde glänzen und die Spitzen der Speere.« Das Horn des Türmers warnte in wildem Ruf, und ein Bote sprang zum König. »Den Bach entlang reitet die Schar der Königsmannen, unter ihnen die Königin.« Da erscholl der Kriegsruf im Hofe der [] Burg, die Krieger ergriffen Schild und Speer und traten zum Kreise, das Schlachtgebet in die Höhlung des Schildes zu singen. Das wilde Lied erklang laut in die Täler, langsam und feierlich im Beginn, anschwellend wie der Sturmwind, bis es scharf und markerschütternd tönte wie das Geheul der Windsbraut. Als es verstummt war, antwortete von unten gellendes Geschrei. Berthar rief die Befehle, und die geordneten Haufen der Krieger zogen den Berg hinab und besetzten den Ringwall. »Zwiespältig tönte das Kampflied«, sprach Berthar leise zu Ingo, »ungleich bei unseren Mannen und den Landleuten, du wirst heut nur der heimischen Weise vertrauen.« Noch einmal stieg Ingo mit dem Alten in den Wipfel des Baumes. »Frau Gisela führt in Wahrheit niemand mit sich als die lustigen Mannen ihrer Burg und das Gesinde des Sintram. Dafür hat sie die Burgunden geladen, daß sie ihr schnell das Werk vollenden. Und willig sind sie gekommen, denn ihrer sind zehn gegen einen von uns. Sieh, Held, schon ziehen sie den Schildring um unseren Graben. Hinab zum Wall! Die Sitte fordert, daß ich die Königin begrüße; ich halte die Seite, wo sie gebietet, du leite das Volk südwärts gegen die fremden Haufen.«

Mit beflügeltem Schritt eilten die Helden an den Verhau. Rundum erhob sich Geschrei, die Pfeile und Speere flogen, in kleinen Haufen sprangen die Belagerer heran und trugen Steine und Reisigbündel gegen den Außenwall, um den Graben zu füllen.

Überall, wo nordwärts der Drang am heftigsten war, klang mächtig der Schlachtruf Ingos, und vom Südrand her antwortete die Stimme Berthars; und wo der König die Speere warf, dorthin rannte auch Theodulf, Rache fordernd, in den Vorkampf. Mehr als einmal zitterte sein Speer nahe an Ingos Haupt in den Balken des Walles, und der Schild des Thürings klaffte geborsten von der Waffe des Königs. Aber der Ansprung der Belagerer mißlang, mit heißen Wangen wandten sie sich abwärts, ordneten die zerrissenen Haufen, trugen aus dem Dorf der Thüringe und aus dem Walde Bohlen zusammen und arbeiteten hart darüber mit Axt und Hammer.

»Mit starkem Schwunge hoben sich die Fäuste deiner Gesellen«, rief Berthar rühmend dem Sohne Beros zu. »Sind die Knaben der Königin in Zimmerleute verwandelt? Verächtlich ist der Kriegsmann, der hinter dem Bretterschild kauert.« Und zu Ingo sprach er lachend: »Die Burgunden erwiesen schwachen Eifer im Stoße, gar nicht zahlreich sind die Opfer, die wir auf meiner Seite dem Kriegsgott fällten. Und wir müssen zu ihm rufen: Nimm gnädig mit wenigem vorlieb, wie der Kuckuck zum Bären sagte, als er ihm beim Gastmahl drei tote Fliegen bot.«

Unter die heißen Strahlen der Mittagsonne wälzten sich graue Wetterwolken, da riefen die Hörner der Belagerer zu neuem Kampf, und wieder erhob sich der heulende Schlachtruf in beiden Scharen.

[] Stärker war der Ansturm und größer die Gefahr, denn nicht vergebens hatten die Belagerer ihre Äxte gebraucht. Von allen Seiten fuhren sie hinter starken Bohlenschilden heran, und wieder warfen sie Steine und Holzbündel in den Graben und schleppten Baumstämme und lange Balken, die Tiefe zu überbrücken; auch Gerüste hatten die Burgunden gerichtet, in denen ein Balken als Sturmbock hing, donnernd schlugen die geschwenkten Balken gegen das Bollwerk, und lange Haken rissen den Bohlenzaun hinab in den Graben. Um die wilden Werkzeuge entbrannte der grimmigste Streit. Wich ein Haufe der Belagerer rückwärts, so sprang im Nu ein neuer heran, denn hinter den Kämpfern hielt die Königin und trieb mit Worten und gehobenem Arme unablässig zum Sturm. Endlich gelang es den feindlichen Scharen hier und da, den äußeren Wallring zu zerreißen und über den Graben hinaufzuklimmen. Da wogte eine Weile an den geöffneten Pfaden das Kampfgewühl, fest stemmten die Burgleute Holzschilde und Leiber, den Riß zu stopfen. Aber wie die Flut durch den zerrissenen Damm, so stürmte die Überzahl der Feinde hinein, und die kleinen Haufen der Verteidiger wurden rückwärts gedrängt nach der Höhe. Ingo stand vor dem Burgtor mit wenigen Blutgenossen, welche heut an seiner Achsel kämpften, und deckte durch Schild und Speer den Rückzug seiner Krieger. Als letzter sprang er selbst in das Tor, und hinter ihm hob sich die Brücke.

Die Belagerer riefen das Siegesgeschrei und drangen gegen den Burgwall, der den Gipfel des Berges umschloß. Aber kurz war die Freude, von der steilen Höhe flogen jetzt dichter die Speere, und große Steine sprangen herab und rissen blutige Bahnen in die stürmenden Haufen. Denn enger war jetzt die Kette der Verteidiger und sorgenvoll ihr Zorn, da sie für die letzte Schanze kämpften, die vor dem Verderben schirmte; alle Hände regten sich, auch die Frauen standen hochgeschürzt, die Steine hebend und den Männern zureichend. Unerträglich wurde es endlich den Feinden, an der Stelle zu haften, in großen Sprüngen flohen sie zurück, und manchem noch zerschlug der geschleuderte Felsblock die gehobenen Beine.

Da ritt die Königin zornig vor ihre Mannen und rief: »Wollt ihr den Met der Königin ferner trinken, ihr hüpfenden Helden, so ringt euch aufwärts zu den Weiden und werft den Steintrog nieder, aus dem sie schöpfen, vielleicht fangen sie dann mit den Lippen die rinnenden Tropfen.« Theodulf flog um den Berg und befahl gemeinsamen Aufsprung von allen Seiten; wieder riefen die Hörner und gellte das Geschrei, und wieder flogen Speere und Steine vom Bergeshaupt. Aber während der Ring der Belagerer von unten die Pfeile dahin schoß, wo ein Haupt oder Arm über die Brüstung ragte, schlich Hadubald mit vier Genossen in dem Rinnsal des Quells hinauf zu den Weiden, alle gebeugt unter den Schilden, starke Hebestangen [] in der Hand. Sie fuhren hinter die Bäume, wo der Felsen sie deckte. Doch dem Helden Berthar entging nicht die drohende Gefahr, die nächsten Speergenossen raffte er zusammen und eilte mit ihnen durch die Pforte hinab. »Wir fassen von unten, ihr sendet vom Felsen die Pfeile, damit keiner entrinne.« Da, als der Alte unter die Bäume sprang, dröhnte der mächtige Steintrog, abwärts aus seinem Lager geworfen. Berthar rief zornig dem Hadubald zu: »Unsegen schafft es dir, Weinschwelg, zum Wassertrog zu wandeln«, und zerbrach ihm mit der Keule das Haupt, bevor der andere die Waffe erhoben hatte. Auch die übrigen Königsmannen erlagen den Streichen der Vandalen, nur einer sprang abwärts, aber er sank auf dem Wege zu Boden, den tödlichen Pfeil im Rücken, und von der Höhe begrüßte lauter Freudenruf seinen Sturz. Darauf verstummte das Kampfgeschrei, und oben wie unten summten die schnellen Worte in den Haufen.

»Der Steintrog ist geworfen«, sprach Berthar zurückkehrend leise zu Ingo, »wild rinnt jetzt das Wasser abwärts, und mühselig wird es den Ringgenossen, sich und ihren Tieren den Trunk zu schöpfen.«

»Die Königin kannte den Quell«, versetzte Ingo mit finsterem Lächeln. »Vermochten die unten den Stein zu werfen, wir heben ihn wieder. Rüste die Bäume, wähle die Streiter und ziehe die Schildburg um die hebenden Arme der Landgenossen.«

Während Ingo sprach, schlug über ihm ein Pfeil schwirrend in das Turmgerüst, und eine kleine Flamme loderte um den haftenden.

»Dort mahnt Frau Gisela unser Volk an den verwüsteten Quell«, rief Berthar. Rund um den Berg sprangen einzelne Bogenschützen aufwärts und schossen Brandpfeile gegen das Bollwerk, sorglich bemüht, durch behende Bewegung die geworfenen Steine zu vermeiden. Hier und da leckte die Flamme an den Balken und Pfählen, die Belagerten schlugen mit Stangen gegen die Pfeile und zerwarfen die Flammen, aber immer häufiger lohten die Brände; wild klang das Geschrei der Warnenden, die Kinder heulten, die Rosse bäumten, wenn ein Brandpfeil unter sie flog, zerrissen die Halfter und fuhren rasend durch die gedrängte Menge. Da wurde die Arbeit peinvoll, und manchem der Verteidiger sank Hoffnung und Mut.

Mit kleinem Gefolge nahte in gestrecktem Lauf ein Reiter den Scharen der Königin. Ihn und seine Begleiter empfing lauter Zuruf aus dem Haufen des Theodulf. Herr Answald stieg vom Pferde: »Täuschende Botschaft lud mich zu deinem Hofe, Königin, während du hier Rache übst in meiner Sache.«

»Ungeladen kommst du und unwillkommen«, versetzte die Königin, »meine nicht, dich zwischen mich und die Rache zu stellen, den unerbetenen Mittler treffen die Pfeile von zwei Seiten. Das Schicksal jener wendet kein Sterblicher, wenn nicht sie selbst es vermögen.«

[] »Will die Königin herrschen über das Volk der Thüringe, so wird sie den Brauch des Landes ehren. Weiber sehe ich dort und Kinder von unserem Blut, greulich ist es, Speer und Brandpfeil gegen die Wehrlosen des eigenen Volkes zu schleudern. Wer ein freier Thüring ist und sich Sieg begehrt in ehrlichem Kampfe, der helfe mir die Schmach zu wenden. Fleht mit mir zur Königin, daß sie meide, was uns alle ruchlos macht in dem Gedächtnis der Menschen.«

»Gut spricht der Fürst«, rief ein alter Kriegsmann, und die Thüringe schlugen die Speere zusammen: »Heil dem Herrn Answald!« Finster sah die Königin über den Haufen, aber sie schwieg.

»Höre mich, Herrin«, schrie der Häuptling, entsetzt durch ihr hartes Antlitz, »mein eigenes Kind, das ich einst dem Theodulf verlobte, steht unter den Brandpfeilen, und gleich ihr andere Frauen aus den Waldlauben. Gegen mein Kind steht mir allein die Strafe zu, und niemand, auch du nicht, soll sie mir über dem Haupte wegnehmen.« Er sprang in den Weg vor den Haufen. »Hier stehe ich, Answald, ein Fürst der Thüringe. Manches Mal habe ich eure Heerscharen in den Kampf geführt. Bevor ihr wagt, die Unkriegerischen zu schlachten, die dort im Ring die Arme heben, sollt ihr erst mich töten, damit ich die Schande nicht überlebe.« Wieder erscholl lauter Zuruf der Krieger.

»Zu mir, ihr Königsknaben«, rief Frau Gisela, sich hoch aufrichtend. Aber auch Theodulf und Sintram drängten ihre Rosse an das der Königin und sprachen leise zu ihr. – »Wärst du nicht außer dir, alter Mann«, begann die Königin endlich, und ihre Stimme bebte im Zorn, »so würde ich dich strafen, weil du tollkühn diese zum Ungehorsam aufrufst. Wenig liegt mir am Herzen, Blut der Bauern zu vergießen, wenn sie auch eigenmächtig außerhalb der Mark sich gelagert haben. Laß das Horn ertönen, Theodulf, und schrei in den Ring. Die Landleute sollen freie Ausfahrt haben, nicht nur die Weiber und Kinder, sondern auch die Männer, und waffenlos aus dem Wall ziehen, ohne Schaden an Leib und Gut, durch Gnade der Königin.« Wieder klang aus den Haufen frohes Beifallsgeschrei. In langgezogenen Tönen mahnte das Horn, vom Streite abzustehen. Theodulf trat bis in Wurfweite vom Tor und schrie mit mächtiger Stimme die Gnade der Königin in die Burg.

Drinnen erhob sich ungestüme Bewegung. Das Tor blieb verschlossen, aber am Walle und an den Schanzpfählen rissen wilde Gestalten in Verzweiflung, sie warfen Pfähle und Balken nach der Tiefe und rollten dem Holzwerk nach. Ein flüchtiger Haufe quoll hier und da aus der Verschanzung, mit Weibern und Kindern in angstvollem Gedränge die Rosse und Rinder. Auch einzelne Männer sprangen herab, denen die Schwurhand noch vom Opferblute rot war, durch die Not gescheucht und ermüdet vom hoffnungslosen Kampf. Doch die Mehrzahl der Bauern stand auf der Höhe [] zusammengedrängt, die Schilde am Fuß, unsicher schauten sie den Frauen nach und dem herabstürzenden Herdenvieh. Nur der Eid hielt sie und die Scham.

Da trat Ingo zu ihnen und rief mit lauter Stimme: »Freiwillig seid ihr gekommen, frei mögt ihr auch gehen, da eure Landgenossen euch rufen. Quere Blicke und widerwilligen Dienst begehre ich nicht. Wenig Ehre bringt mir der Krieger, der sich nach Weib und Kind sehnt während des Kampfes. Willig löse ich euch von eurem Eide; gedenkt, wenn ihr wollt, der eigenen Rettung.«

Da legten mehrere still die Schilde an das Bollwerk und sprangen abwärts, ohne sich umzusehen. Berthar aber rief in den Haufen der Bleibenden: »Nicht durch einen Wurf fällt auf der Tenne die Spreu aus dem Weizen. Noch manchen sehe ich, den der Wind über den Zaun wegblasen mag. Versucht es noch einmal, ihr stolzen Gesellen. Gern entbehren wir die Genossenschaft der Waldleute.«

Wieder fielen Schilde zum Boden, und die Träger entschwanden mit finsteren Mienen.

»Was weilt mein König, ihren Jammer zu schauen? Besser schwingen sie sich, wenn die Scham ihnen nicht die Beine klemmt. Euer ist die Wahl; der eine Weg führt aufwärts zum Saal des Königs, der andere talab zu eurem Dung.« Er folgte seinem Herrn, der zur Halle eilte. Die Zurückgebliebenen standen noch einige Augenblicke beisammen; da sie sich allein sahen, schwand ihnen der Kriegerzorn. Nur wenige eilten dem Könige nach, die anderen suchten waffenlos das Freie. Unter den letzten, welche den Ring verließen, waren Baldhard und Bruno.

Aus der Tiefe sprangen die Haufen der Königin jauchzend empor. Die den Ausgang suchten, hatten ihnen den Zugang geebnet; die Anstürmenden zerhieben die Sperren des Tores, ihr Schwarm drang heftig gegen den offenen Raum vor dem Saale. Aber schnell wichen sie zurück; denn aus der Schleuder, die Berthar auf die Treppe des Eingangs gestellt hatte, flogen die spitzen Baumpfeile in ihre Reihen. Sie suchten Schutz längs dem Bollwerk, und wieder flogen Speere hin und wieder, und aus der Tiefe fuhren die Brandpfeile gegen das Dach.

Längs dem Dachbalken wirbelte weißer Rauch, und durch den Dampf klang der Ruf: »Wasser herauf!« Auf der Leiter klomm ein Mann und rief von der Höhe: »Es knistert im Dach, die Rindshaut schwelt; ein Burgunderpfeil trieb das Feuer an den Vorsprung des Daches, es glimmt und flackert, geleert sind die Eimer.«

»An unserem Brunnen kühlt sich die Königin«, rief Berthar hinauf, »fehlt dir Wasser, so gieße dem Feuer unser Bier auf die Zungen.« Ein Windstoß fuhr heulend über das Dach und trieb eine Rauchwolke und feurige Lohe in die Höhe. Ein Jubelschrei der Feinde folgte dem Windstoß, die Flamme brach züngelnd hier und [] da durch die deckenden Häute. »Komm herab, Wolf«, rief Berthar dem Helden in der Höhe zu, der mit versengtem Haar und schwarzen Händen sich mühsam an der Leiter festhielt, »dir selbst rinnt aus dem Leibe der Quell, rot trieft's von der Leiter.«

»Es war nicht genug, das Feuer zu löschen«, antwortete Wolf; er fuhr herab, schüttelte seine blutende Hand und griff nach Schild und Speer.

»Öffnet die Türen, ihr Blutgenossen«, befahl Berthar, »damit der Luftzug unserer Herrin den Rauch vertreibe. Soll der König allein die Schildwacht halten? Werft die Speere rings um den Bau; soweit sie fliegen, reicht jetzt das Königreich der Vandalen.«

Ingo stand auf der Treppe des Saals, vom Schilde gedeckt, über ihm fuhren dicke Rauchwolken, vom Wettersturm getrieben, an die Scharen der Feinde und umhüllten ihnen Rüstung und Gesicht.

»Geöffnet ist die Halle«, rief Ingo den Starrenden entgegen, »mit dem Willkomm harrt der Wirt. Was säumen die verzagten Gäste?«

Aus dem Rauch sprang ihm eine Gestalt entgegen, ein schildloser Mann, und eine Stimme rief: »Irmgard, mein Kind! Der Vater ruft, rette dich, Unselige!«

Irmgard hörte in der Halle den Schrei, wild fuhr sie auf und legte den Sohn in Fridas Arm. Und wieder rief es von draußen schriller und angstvoller: »Irmgard! Verlorenes Kind!«

Ingo setzte den Schild zu Boden und sah über die Achsel zurück: »Der Habicht schreit nach seinem Nestling, gehorche dem Ruf, Fürstin der Thüringe.«

Bei dem Gemahl vorüber stürzte das Weib dem Vater zwischen den feindlichen Speeren entgegen. Aus den Haufen der Thüringe brach ein Freudenschrei und Heilruf. Sie umschlang den Vater und rief: »Wohl mir, mein Auge schaut dich und an deiner Brust hältst du mich.«

Dem Helden Answald bebte das Herz, und er zog sie mit sich. »Die Mutter wartet, liebes Kind.«

»Segne mich«, rief Irmgard, »heiß ist das Gemach, wo ein armes Kind nach der Mutter schreit, segne mich, Vater«, rief sie, ihn krampfhaft festhaltend.

Der Fürst legte den Arm um ihr Haupt, sie beugte sich tief vor seine Knie, dann erhob sie sich schnell, trat zurück und die Hand gegen ihn ausstreckend, rief sie: »Grüße die Mutter!« und wandte sich mit starkem Schwunge rückwärts nach dem brennenden Hause. Ingo hatte unbewegt gestanden, den scharfen Blick gegen die Feinde gerichtet. Als sein Weib aber zu ihm in die Todesnot zurückkehrte, trat er ihr entgegen und breitete die Arme, sie zu umschließen. Da schwirrte der Eschenspeer aus Theodulfs Faust und traf den König von der Seite unter den Arm. Still sank Ingo nach der Halle zurück [] aus den Händen der Gemahlin. Berthar sprang vor und deckte mit dem Schild den Wunden, den seine Mannen seufzend auf die erhöhte Herrenbank trugen. Vor ihm kniete Irmgard, aber Berthar rief in den Raum: »Laßt Weiber trauern um des Königs Wunde; schnell heran, ihr Gesellen, dem König zu folgen auf seinem Pfad. Vier sind der Tore in des Königs Halle, aus jedem führt der Weg nach dem Himmelssaal. Sorgt, daß ihr rächt die Königswunde. Walbrand, der letzte warst du an des Herrn Bank, dafür springst du heut als erster, und der letzte sei ich.«

Die Vandalen sprangen an die Tore, von da die Stufen hinab, einer nach dem anderen, wie der Alte sie rief. Und von neuem erhob sich um das Haus Kampfgetöse und Getümmel. Wilder fuhr der Sturmwind über das lodernde Dach, hoch oben rollte der Donner, das Dach der Halle krachte, Asche und brennende Schindeln fielen herab. Frida setzte betäubt das Kind auf das Lager des Königs.

»Der Knabe lacht«, rief Irmgard und warf sich schluchzend über das Kind, welches fröhlich mit den Beinchen schlug und die Hände nach den Flammenhaufen am Boden ausstreckte. Fest hielt Irmgard ihr Kind umschlossen, es war lautlose Stille im Raum. Dann riß sie die Tasche von Otterfell, die Gabe der Schicksalsfrau, aus ihrem Gewande, hing dem Knaben die Tasche um den kleinen Leib, hüllte ihn in die Decke, und das Kind noch einmal küssend, rief sie zu Frida: »Rette ihn und singe ihm von seinen Eltern.« Frida aber sprang zu Wolf, der als Speerhüter am Lager des Königs stand, und flehte: »Komm, am hintern Tor stehen Männer aus unseren Lauben, wir dringen in den Wald.«

Da rief der Alte mit heiserer Stimme: »Wo säumt der Vortänzer? Die Springer harren.«

»Lebe wohl, Frida«, versetzte Wolf, »nicht zu gleicher Tür fahren wir aus dem Feuer, lebe wohl und denke mein.« Noch einmal sah er sie mit treuen Augen an, dann brach er mit mächtigem Satz aus der Tür, sprang über die glühenden Holzkloben vor der Treppe und schleuderte seinen Speer einem Knaben der Königin mitten in die Brust, daß dieser zusammenbrach und ein lauter Schrei im Ringe der Männer erscholl. Auf den Helden flogen die Pfeile, der blutete aus mehreren Wunden, aber sein Schwert schwingend, warf er sich in den Haufen, vor welchem Theodulf stand, zur Rechten und Linken taumelten die Getroffenen zurück, wild hob er die Waffe gegen den alten Bankgenossen, da brach er selbst sterbend zusammen.

Und wieder rief Theodulfs Stimme gewaltig mahnend: »Die Balken beben, rettet die Frauen!« Und Fürst Answald schrie, an das Tor springend: »Irmgard! Rettet mein Kind!« Da erhob sich am Tor gegen ihn die zusammengesunkene Gestalt des Alten, mit Asche bedeckt das Haupt, gebrannt der Bart, die Gier nach Rache im Antlitz. Und grimmig rief er: »Wer ist es, der so frech am Schlafgemach [] des Königs lärmt und Einlaß begehrt? Bist du es, Narr, der einst bereute, daß er Gastrecht bot? Mit kaltem Gruß hast du meinen König entlassen, kalt wie Eisen sei die Antwort, die der Vandale dir bietet.« Und schnell wie ein Raubtier sprang er von den Stufen und stieß die Waffe dem Häuptling der Thüringe durch Panzer und Brust. Dann rief er über den entsetzten Haufen: »Vollbracht ist alles, und gut war das Ende. Zieht heim, bleichnasige Toren, und dreht mit den Weibern die Mühlsteine eurer Königin. Der große König der Vandalen steigt aufwärts zu seinen Ahnen.« Um ihn flogen die Geschosse, er aber schüttelte die Eisen ab wie ein verwundeter Bär, wandte sich schwerfällig nach der Halle, setzte sich mit seinem Schilde an den Fuß des Königslagers und sprach nicht mehr.

Durch das zerbrochene Tor ritt die Königin gegen die brennende Halle. Laut rollte der Donner, und die Blitze zuckten, von der Flamme des Hauses glühte wie rotes Feuer der Golddraht des Panzers, welcher ihre Brust umschloß. Sie tauchte vom Rosse zu Boden, scheu wichen die Männer zurück, denn leichenbleich war ihr Antlitz und finster gezogen die Brauen.

Sie stand unbeweglich und sah in die Lohe. Nur einmal regte sie sich und warf die Augen flammend zur Seite, als sie ein Weib merkte, das, ein Kind auf dem Arme, gegen die Männer rang, welche sie festhielten. »Es ist nur die Dienerin«, sprach Theodulf halblaut mit fahler Wange, »und es ist das Kind.« Die Königin befahl durch eine heftige Gebärde, das Weib zur Seite zu führen. Das Feuer leckte über den First hoch gegen die Wolken, der Wettersturm fuhr in die Flamme, daß sie weit umherloderte, er warf brennende Späne und Bretter gegen Frau Gisela und den Haufen der Männer. Aber die Königin stand unbeweglich und starrte in die Glut.

Drinnen im Haus war es still, Irmgard kniete am Lager des Gatten; ihr Haar deckte seine Wunde, sie hielt ihn fest umschlungen und lauschte auf seine Atemzüge.

Der todwunde Mann legte den Arm um sie und sah ihr stumm in die Augen. »Ich danke dir, Ingo«, sprach sie, »sei mir gegrüßt, Geliebter, auf dem letzten Lager liegen wir beide gesellt.« Näher rollte der Donner. »Hörst du die oben rufen?« murmelte der Sterbende. »Halte mich, Ingo«, rief Irmgard. Ein flammender Blitzstrahl erfüllte die Halle, ein Wetterschlag dröhnte, die Balken des Daches brachen zusammen.

Draußen aber schoß auf die betäubten Mannen der Königin der Hagelschauer, die Eisstücke schlugen auf Helm und Panzerhemd. »Die Götter laden ihren Sohn zu sich in den Saal«, schrie die Königin und verhüllte ihr Haupt in den Mantel. Die Männer aber warfen sich unter ihren Schilden zu Boden und bargen das Antlitz vor dem Zorn des Donnergotts. Als das Wetter vorübergerauscht war und die Krieger sich scheu erhoben und um sich schauten, da war die [] grüne Bergfläche mit grauem Eise bedeckt, zusammengestürzt lag das Haus, und aus der nassen Kohle züngelten kleine Flammen. Die Königin, wie in Stein verwandelt, stand immer noch vor der Brandstätte und sprach vor sich hin: »Die eine liegt still auf heißem Lager, die andere steht draußen vom Hagel geschlagen; vertauscht hat der Neid der Götter die Lose, mein Recht war es, dort drinnen zu sein.«

»Wo ist sein Kind?« fragte sie, mit wildem Blick umhersehend. Frida und das Kind waren verschwunden. Die Krieger suchten an der Berglehne und in den Tälern, sie spähten in jeden hohlen Baum und in jedes Dickicht verflochtener Zweige, Theodulf durchzog mit seinem Gefolge den ganzen Gau der Waldleute und forschte an jedem Herdfeuer. Aber von dem Sohne Ingos und Irmgards erhielt die Königin niemals Kunde.

[]

Ingraban

Im Jahre 724

Auf dem Waldwege, der vom Main nordwärts in das Hügelland der Franken und Thüringe führt, zogen an einem heißen Sommertage drei Reiter schweigend dahin. Der erste war der Führer, ein junger Mann von starken Gliedern; das lange Haar hing ihm wild um das Haupt, die blauen Augen waren in unaufhörlicher Bewegung und spähten nach beiden Seiten des Weges in den Wald. Er trug eine verschossene Lederkappe, über der braunen Jacke eine große Tasche mit Reisevorrat, in der Hand den Wurfspeer, auf dem Rücken Bogen und Jagdköcher, an der Seite ein langes Weidmesser, am Sattel seines Rosses eine schwere Waldaxt. Einige Schritte hinter ihm ritt ein breitschultriger Mann in den Jahren seiner besten Kraft, mit großem Haupt, die mächtige Stirn und die blitzenden Augen gaben ihm das Aussehen eines Kriegers. Aber er trug sich nicht wie ein Mann des Schwertes, das kurzgeschorene Haar deckte ein sächsischer Strohhut, an dem langen Gewande war nicht Wehrgehenk, nicht Waffe sichtbar, nur die Axt, welche jeder Reisende in der Wildnis führte, steckte im Sattel; nach dem großen Ledersack, der vor ihm über dem Sattel befestigt war, mochte man ihn für einen Händler halten. Ihm zur Seite trabte ein Jüngling in gleicher Tracht und Ausrüstung, der auch auf dem Rücken ein Bündel trug und in der Hand einen Baumzweig, mit dem er sein Rößlein antrieb. Daß der Führer die Reisenden nicht als gewaltige Leute achtete, war durch sein Benehmen deutlich, denn er trug sein Haupt hoch, sooft er auf eine Frage des älteren Mannes kurze Antwort gab, und er sah nur zuweilen, wenn der Weg steil aufwärts ging, oder die beiden weit zurückblieben, mit düsterm Blick hinter sich und wandte die Augen schnell wieder ab, wie von unholden Gesellen. Durch Sand und über Steinblöcke zog sich der rauhe Pfad zwischen alten Kieferstämmen von einer Erdwelle zur anderen; auf dem braunen Grunde wuchs wenig anderes als Wolfsmilch, Heidekraut und dunkle Waldbeeren. Es war still im Walde, nur die Krähen schrien über den Wipfeln, die heiße Luft war mit Harzgeruch erfüllt und kein Windeshauch kühlte die erhitzten Wangen. Als der Weg einmal steil aufwärts ging, sprang der Jüngling ab, pflückte am Wege einen Strauß Beeren[] und bot ihn dem Reiter. Dieser dankte mit einem freundlichen Blick und begann in lateinischer Sprache: »Siehst du ein Ende des Waldes? Unsere Rosse ermüden, die Sonne neigt zur Rast.«

»Stamm hinter Stamm, mein Vater, und kein Lichtstrahl vor uns im Holze.«

»Du bist an die rauhen Pfade nicht gewöhnt, Gottfried«, fuhr der Ältere bedauernd fort, »ungern nahm ich dich in das wilde Land, und ich bin unzufrieden, daß ich deiner Bitte nachgab.«

»Ich aber bin glücklich, mein Vater«, versetzte der Jüngling mit frohem Lächeln, »daß ich dich begleiten darf als dein unwürdiger Diener.«

»Die Jugend freut sich stets der Wanderschaft«, sprach der Reiter. »Sieh unsern Führer, ihn kümmert die Tagesglut wenig, er ist ein kraftvoller Wildling, der des Pfropfreises harrt.«

»Unfreundlich hält er sich gegen uns, mein Vater.«

»Ist er auch unwirsch, warum sollte er unehrlich sein? Er hat der Frau Hildegard und mir selbst in die Hand gelobt, uns sicher über die Berge zu führen, und er sieht nicht aus wie ein Schächer. Doch wäre er's auch, einer ist stärker in der Wildnis als er.« Er neigte das Haupt. »Merke, er hat gefunden, was ihm die Reise stört.«

Die Haltung des Führers war verwandelt, hochaufgerichtet saß er im Sattel mit gehobenem Speer wie zum Ansprung bereit.

Der Fremde ritt zu dem Führer: »Dein Name ist Ingram, wie ich vernahm.«

»Ingraban der Thüring bin ich«, versetzte der Reiter, stolz die Worte des anderen bestätigend, »und dies ist der Rabe, mein Roß«; er rührte an den Hals des edlen Tieres, das von Farbe schwarz war, wie sein geflügelter Namensbruder, und unter der Hand des Reiters wiehernd das Haupt erhob.

»Ich erkenne, wohlbekannt sind dir die Reisepfade auch fern von deiner Heimat.«

»Oft ritt ich als Bote meiner Landgenossen zu dem Frankengrafen über den Main.«

»So ist dir auch Frau Hildegard, die Grafenwitwe, von früher herzugetan.«

»Ich stritt in der Schar ihres Eheherrn, als ihn die Wenden erlegten. Eine gute Frau ist Hildegard, da sie meinen kranken Knecht in Pflege nahm.«

»Am Lager des Kranken fand ich dich, und ich bin froh, daß ich solch sicheren Führer gewann. Was hemmt dir jetzt die Reise?«

Die Hand des Führers wies auf eine Spur im Sande. – »Hier lief eine Herde wilder Rosse«, sagte der Fremde, auf die Spur blickend.

»Reiter waren es, mehr als drei, und feindselig wird ihr Gruß, wenn sie uns treffen«, antwortete der Führer.

»Woher weißt du, daß es Feinde sind?«

[] »Hofft in deinem Lande ein Wanderer in der Wildnis auf ehrlichen Gruß?« fragte der Führer zurück. »Die hier gezogen sind, waren Krieger, welche mit fremder Zunge reden, von dem Wendenvolk an der Saale, das man die Sorben nennt; weit schweifen sie auf ihren Pferden nach Jagdbeute und Herdenvieh. Dort liegt ihr Zeichen«, er berührte mit dem Speer einen kurzen Rohrpfeil mit Steinspitze. »Sie haben unseren Weg gekreuzt nach dem letzten Regen.«

»Und hoffst du, uns verborgen vor den Fremden über die Berge zu führen?«

»Habt ihr den Mut, so habe ich den Willen. Manchen Stieg über die Waldhügel weiß ich, den ihre Haufen meiden; doch rate ich, haltet euch schweigsam und nahe an meinem Roß.«

Vorsichtiger ritten die Fremden dicht hinter dem Führer.

Der Saumpfad senkte sich in ein stilles Waldtal, führte durch sumpfigen Grund und das Bett eines Baches und stieg auf der anderen Seite wieder in den Wald. Zwischen hohen Buchenstämmen zogen sie behaglicher dahin auf grünem Moosgrunde, welchen die schrägen Sonnenstrahlen vergoldeten. Und wieder senkte sich der Pfad in ein weites Tal. Am Waldesrand hielt der Führer an. »Dies ist das Idistal«, sagte er, das Haupt zum Gruße neigend, »und dort rinnt der Idisbach nach dem Main.« Durch hohes Wiesengras leitete er zu einer Furt des Baches, von da trabten sie eine Hügelreihe entlang nordwärts. Einsam und menschenleer lag das blühende Tal. Einigemal kamen die Reisenden über altes Ackerland, noch waren die Beetfurchen sichtbar, aber Schlehdorn und stachliger Ginster standen dicht wie eine Hecke darauf, und die Pferde hatten Mühe durchzudringen. Der Fremde sah mit Teilnahme auf die zerstörte Kultur. »Hier haben einst fleißige Hände gebaut«, sagte er bedauernd. »Seit Menschengedenken liegt die Stätte wüst«, antwortete der Führer gleichgültig. Weiter oben wies er auf eine Erdhöhe. »Auch dort stand ein Hof, aber die Wenden haben ihn verbrannt, da ich ein Knabe war. Das wilde Kraut schießt seit zwanzig Sommern in die Höhe. Sorgst du um gebrochene Höfe, so magst du hier viele finden. Über dem Bach haben vorzeiten die Avaren gelagert, braunhäutige Männer mit schrägen Augen, sie tragen, wie die Alten erzählen, geflochtene Zöpfe um das Haupt und sind ein mächtiges Ostvolk, aber grausame Mordbrenner. Dort drüben lag, wie die Sage meldet, eine große Zahl Höfe an einem geweihten Wald von solchen Bäumen, die wir Ahorn nennen, jetzt stehen nur noch wenige der alten Stämme, die Avaren haben sie niedergebrannt, und wo die Höfe waren, ist Wustung. Aber das ist lange her, es wäre mühsam, den Jahrwuchs der Fichten zu zählen, welche darüber ragen. Überall, wo du hier Dornen und Kletten siehst, stand einst ein Bau, mancher ist zur Zeit der Väter, mancher im Gedächtnis Lebender zerrissen, mehrere in den letzten Jahren, es dauern nur hier und da einige.«

[] Da der Fremde schwieg, wies der Führer auf den Himmel, über den sich das Abendrot breitete, und ritt aus dem Talpfad einen schmalen Weg bergauf. Die Rosse der Reisenden klommen mühsam nach durch dichtes Holz bis auf eine Berghöhe. Der Gipfel war ein unebener Raum, baumlos, mit niedrigem Buschwerk und wilden Blumen bewachsen. Nur eine mächtige Esche erhob sich in der Mitte aus dem niedrigen Kraut. Die Reiter sahen von drei Seiten weit über die Hügel, südwärts bis über den Main, nach Norden auf die blauen Berge der Thüringe, geradeaus in eine weite Talebene, die von hochgeschwungenen Hügeln eingefaßt war. Hinter ihnen dehnte sich eine Bergleite, von dem vorderen Gipfel durch Erdhaufen und Senkungen getrennt, welche aussahen wie ein alter Wall und Graben. Der Führer sprang vom Rosse und neigte sich tief gegen den Eschenbaum, dann trat er an den Rand des Gipfels und sah forschend in das Tal und den Saum der Wälder entlang. Und wieder wandte er sich der Esche zu und sprach ehrfürchtig: »Hier ist der Idisberg, und dies ist der heilige Baum der hohen Schicksalsfrauen. Schutz vor schädlichen Gewalten hat die Stelle, und darum habe ich euch hierhergeführt.«

»Als ein kundiger Führer hast du dich erwiesen«, versetzte der Fremde, die gute Lagerstätte überschauend. Er stieg ab und löste selbst die Ledersäcke vom Sattel der Rosse. »Sicher weißt du auch einen Quell in der Nähe.« Der Führer ergriff die Zügel der Pferde. »Gebiete deinem Knaben, daß er die Flaschen trage und mir helfe, den Zaun zu richten«, sagte er und führte die Tiere auf die Bergleite zu etwa hundert Schritt hinab, wo ein Quell aus einer bemoosten Einfassung von Stein talab rann. Dort pflöckte er die Rosse an, damit sie weideten, hob die schwere Axt und winkte dem Jüngling, daß er ihm nach dem Wald folge.

Als der Fremde sich auf dem Gipfel allein sah, umschritt er betend mit gebeugtem Haupte den Raum, in welchem die Esche stand. Darauf untersuchte er sorgfältig die Stelle, als ein Mann, der die Zeichen der Natur zu deuten wußte, und stieß mit dem Fuß unter eine knorrige Wurzel des Baumes, welche hoch über dem Boden ragte; er fand lockeren Grund, fuhr mit dem Stiel der Axt hinein und hob mit Anstrengung einen Stein heraus, über den die Wurzel gewachsen war; ihre Ausläufer waren in ein Loch des Steines gedrungen und hatten den Stein gesprengt. Verwundert sah der Mann auf das regelmäßig gebohrte Loch. Dann nahm er ehrfürchtig den Ledersack, schob ihn an die Stelle des Steins, und über sein Gesicht flog ein Lächeln. »Haust ein Unhold in diesem Baum, so soll ihm der geborgene Schatz Not bereiten.« Noch einmal schaute er prüfend auf den unebenen Boden ringsumher und auf das üppige Grün, welches daraus geschossen war, dann zog er aus der Tasche seines Gewandes ein kleines Buch, setzte sich, daß das Abendlicht darauf [] fiel, öffnete die Schließen und las in dem Pergament. Er hörte das Dröhnen eines Holzschlegels und merkte, wie der Führer sich anschickte, weiter abwärts den Nachtzaun zusammenzuschlagen. »Hierher, Ingram«, rief der Fremde befehlend hinunter. Der Führer schüttelte mit dem Haupt und schlug weiter. Da trat der Fremde näher und gebot: »Trag die Pfähle herauf, wir rasten am Baum.«

»Das geht nimmer an«, versetzte der Führer.

»Und warum nicht, wenn ich es will?«

»Soll der Feuerschein auf der Höhe den fremden Spähern dein Lager künden?«

»Die Nacht ist warm, gern entbehren wir die Flamme, auch ein Krieger wie du behilft sich wohl ohne Kochherd.«

Ingram stand unbeweglich und sah finster auf den Fremden.

»Wer du auch sonst bist«, fuhr dieser fort, »für diese Reise hast du dich mir gelobt um guten Sold, und ich bin der Herr unserer Fahrt. Willst du nicht nach meinem Willen tun, so ziehe deinen Weg, ich suche meinen Pfad ohne dich.«

»Ungern diene ich dir«, antwortete der Führer heftig, »und nur, weil eine, die mir Gutes tat, mich geworben hat; und wenn ich frei bin von meinem Wort und du ein Schwert zu führen weißt, so will ich lieber dein Feind sein als dein Freund, das magst du wissen, Fremder. Jenen Baum aber habe nicht ich zu scheuen, sondern du, denn weitbekannt ist er im Lande, und um ihn schweben seit der Urzeit hohe Gewalten, welche dir Feind sind und nicht mir.«

»Ob sie mir Feind sind, will ich dir zeigen, wenn du mir folgst«, antwortete der Fremde und schritt dem Baume zu. Er hob seine Axt und rief: »Haben sie Grimm, so mögen sie zürnen, haben sie Macht, so mögen sie mich treffen wie ich diesen Stamm.« Und mit starkem Schwunge schlug er die Axt in den Baum. Der Führer trat zurück, griff nach seiner Waffe und starrte nach der Höhe, ob von dort ein Götterzeichen den Frevler treffe; aber alles blieb still, nur ein trockener Zweig mit Eschensamen fiel herab. »Sieh her«, rief der Fremde, auf das Samenbündel weisend, »das ist der Zorn deiner Gewaltigen. Der Baum, vor dem du zagst, war einst ein flatterndes Samenkorn wie dieses hier, aus einem winzigen Kern ist er gewachsen. Wo hausten die Gewaltigen, welche du fürchtest, als der Baum noch ein Samenkorn war? Meinst du, der Baum hat gestanden von Anfang der Menschenerde? Merke, unter seinen Wurzeln fand ich diesen Stein, rissig und gesprengt durch die Kraft des Baumes. Betrachte den Stein, es ist ein Mühlstein, wie ihn die Weiber drehen, um das Getreide zu mahlen. Bevor die Esche war, hat hier ein Hauswesen lebender Menschen gestanden. Geringe Ehre verdienen die Götter, welche erst dann in der Esche mächtig wurden, als die Menschen gestorben waren, die vor dem Baume hier hausten. Der Herr aber, welchem ich diene, ist der Gott, welcher Himmel und [] Erde gemacht hat, er allein ist ewig und allmächtig von der Urzeit und wird ewig und allmächtig sein, wenn der letzte Span dieses Baumes aus der Welt geschwunden ist.«

Der Führer kauerte zu dem zerbrochenen Stein nieder und sah in die Öffnung, auf das Wurzelstück und auf Reste von Holzkohlen, welche an dem Sandstein hafteten. Das Haar hing ihm über das Gesicht, und seine Brust hob sich in heftigen Atemzügen. »Stand ein Haus hier, so hat es gebrannt«, sprach er endlich leise vor sich hin. »Da ich klein war, sagten sie mir, daß meine Vorfahren auf dem Berge gesiedelt haben. Alte Leute haben einen Sang davon gewußt, der Sänger, den die Wenden erschlugen, war dieses Liedes kundig.«

Der Fremde berührte ihm die Schulter. »Die Nacht steigt herauf, im Walde heulen die Wölfe, hole die Pfähle, Ingram.«

Der Führer erhob sich. »Hierher führte ich dich«, sprach er bitter, »damit ich dir meinen Eid halte und du sicher seiest in der Nähe einer hohen Herrin, die ich mir günstig weiß. Du aber störst der Göttin den Frieden durch deine Axt, und du verstörst mich durch schwere Gedanken, die du mir in das Herz senkest. Hast du Macht, Vergangenes zu wissen und ohne den Schutz der Überirdischen zu dauern, so bereite dir selbst die Nachtrast, wo du magst, ich helfe dir nicht.«

Der Fremde ergriff schweigend einen der Pfähle, welche der Jüngling unterdes herzugetragen hatte, und hob den Schlegel. Wuchtig fielen die Hiebe auf die Pfahlköpfe, Gottfried bot die Hölzer und flocht Zweige zwischen die Stäbe, bis rings um den Baumstamm ein Zaun gerichtet war, der die Rosse und Männer eng einzuschließen vermochte. Gottfried führte die Pferde der beiden Reisenden in den Zaun, der Fremde aber trat, als alles vollendet war, zum Führer und sprach freundlich: »Auch für dich und dein Tier ist Raum in unserem Frieden.«

»Ich und mein Roß begehren deines Schutzes nicht«, antwortete Ingram abweisend. Er hob den Mühlstein von seiner Stelle und trug ihn an den Rand des Gipfels weitab von den Fremden, dann sprang er zum Quell, löste seinem Roß die Beinfessel und führte es zu dem Steine, dort lagerte er neben seinem Tier und schob den Stein unter sein Haupt.

In der Umzäunung band Gottfried zwei Holzstäbe zu einem Kreuz zusammen, küßte den Stab und über gab ihn ehrfurchtsvoll dem Fremden, dieser steckte ihn zu der Wurzel des Baumes, welche seinen Schatz bedeckte. Beide knieten nieder und erhoben den lateinischen Abendgesang, mit mächtiger Stimme sang der ältere die feierliche Weise, der Jüngling respondierte. Die melodischen Klänge tönten von der nahen Bergwand zurück und kämpften mit den wilden Stimmen der Nacht, welche kreischend und heulend aus dem[] Walde schallten. Der Führer erhob sich, da der Gesang begann, aber die vollen Töne der bewegten Menschenstimme bändigten ihm die Hast, er blieb abgewandt sitzen und starrte in den gelben Schein am Rande des Himmels.

Als der Gesang beendigt war, setzte sich der Fremde neben die Wurzel und schob die Tasche seinem Begleiter zu. »Iß«, sagte er befehlend auf die abwehrende Bewegung des Jünglings, »du bist der Wanderschaft ungewohnt, der Herr begehrt jetzt auch die Kraft deines Leibes.« Gehorsam nahm der Jüngling wenige Bissen, dann legte er sich zu den Füßen des Fremden nieder, der sorglich seinen Mantel über ihn deckte. Es wurde still in dem kleinen Gehege. Das letzte Abendlicht schwand in bleichem Schein, der langsam nach Norden zog, zuweilen rauschte der Nachtwind in den Blättern und die Eule schrie ihren Klageruf über den Wanderern; nur aus dem Walde tönten ferner und näher die Tierstimmen, dann hoben sich die müden Rosse vom Boden und schnoben ängstlich mit den Nüstern. Der Fremde saß unbeweglich, die Hände gefaltet; wenn es im Baume rauschte, sah er wie erwartend in die Äste und nach dem Himmel, über welchem sich tiefe Finsternis breitete.

Unterdes starrte der Führer hinunter in die Tiefe, wo über dem Bach im Dämmerschein der weiße Wasserdampf hinzog. »Ich schaue, wie sie dahinschweben über der Flut«, murmelte er leise, »gehüllt in weiße Gewande schaffen sie um das Wasser, sie sinnen Hilfe und Heil ihrem Getreuen, sie verhüllen seinen Pfad vor dem Verfolger, sie lösen ihn aus den Banden der Feinde; manchmal, wenn ich unter der Esche lag, hörte ich ihren Gesang in der Tiefe. Meine Väter sind hierhergewandert in schweren Tagen und haben Hilfe erfleht von den weißen Frauen. Und ich habe vernommen, daß sie die Schutzfrauen meines Geschlechts gewesen sind seit der Urzeit. Jetzt ängstigt mich der Mühlstein, den der fremde Mann mit seinem Zauber heraufgeholt hat unter dem Baume, was mir das Zeichen bedeute. Die Baumwurzel fuhr durch den Stein, uralt ist der Stein, wie der Fremde sagt, und er ist älter als der Götterbaum. Und bevor der Baum war, und die Götter walteten, lebten schon meine Ahnen. Welches war der Gott, der sie damals gnädig beschirmt hat? Längst ist Glück und Sieg von meinem Geschlechte gewichen. Den Großvater erschlugen die braunen Avaren, den Vater tötete ein Wende, da ich noch klein war, und die Mutter starb in Trauer. Überall ist jetzt geschwunden die Freude der Erde. Selten nur sinnen die Götter gutes Glück meinem Volke, und ein fremder Gott zieht in die Täler. Das Haus ist verbrannt, das einst auf der Höhe stand, und das Glück meines Geschlechtes ist verbrannt. Und mir wird das Herz kummervoll. Jene dort beten in fremder Weise, und sie haben ein starkes Vertrauen zu ihrem Gott. Sind sie Toren, so mögen unsere Götter ihre Macht an ihnen erweisen.« Im Rücken des Betenden [] zuckte ein Blitz, der Donner rollte. Ingram rief seinen Kriegsruf. »Wohl mir, ich höre das Dröhnen seines Wagens, er kommt, die Frevel der Fremden zu rächen.« Er warf sich auf die Erde und verhüllte sein Haupt.

Der Wetterwind schüttelte die Äste des Baumes und warf Blätter und Zweige auf die Reisenden. Diese aber erhoben noch einmal frommen Gesang und unter Donner und rauschendem Regen klang es durch die Stille der Nacht wie ein Siegeslied über das Toben der Natur. Erst nachdem das Wetter hinter die Berge gezogen war, verstummte der Sang, und wieder ward es still im Gehege, nur die Regentropfen schlugen leise auf die Baumblätter. So verging die Nacht, beim ersten Morgengrau hob sich eine dunkle Gestalt vor dem Zaun, und der Führer sah spähend nach dem Fremden.

»Windig war dein Nachtlager unter freiem Himmel«, begann der Fremde, »deine Esche gab uns Schutz vor dem Sturm, nicht vor dem Wasser der Wolken. Bist du der Kunst mächtig, ein Feuer auf dem Boden zu entzünden, so würdest du meinem Knaben und dir selbst guten Dienst leisten; wo nicht, so laß uns aufbrechen, damit Wärme in die Glieder meines Gefährten komme.«

»Es ist weite Tagfahrt bis in den Bergwald der Thüringe«, versetzte der Führer, »und Zeitverlust möchte Unheil schaffen.« Er befühlte neugierig den Mantel des Fremden. »Du bist doch naß«, setzte er frohlockend hinzu, »auch dich trifft der Regen.«

»Wenn Gott will«, antwortete der andere.

Schnell rüsteten die Männer den Aufbruch, der Fremde holte den Ledersack unter der Baumwurzel hervor und knüpfte die Riemen sorglich an den Sattel des Rosses, das der Jüngling unterdes aus dem Futtersack fressen ließ, dann neigten sich beide noch einmal an dem Holzkreuz und sprachen den Reisesegen. Ingram führte über den Wall und die Grabentiefe in den Bergwald. Heut ritt er schneller als am letzten Tage, aber sein scharfer Blick prüfte wieder jeden Busch und Stein. Sooft sie aus dem Wald in ein Wiesental kamen, gab er den Fremden ein Zeichen, zurückzubleiben, und winkte nach einer Weile mit gehobener Hand, ihm zu folgen. Mühselig war der Weg über Baumwurzeln und durch das Sumpfwasser, welches sich an tiefen Stellen des Waldes gesammelt hatte, dann nahm er wohl selbst die Rosse beim Zügel und wies dem Jüngling die trittfesten Stellen. Er war schweigsam wie gestern, aber er war mehr um die Reisenden besorgt. Als sie einmal von der Höhe in ein weites Tal ritten, sagte er: »Hier müssen wir durch freies Land, hört ihr mich Hara rufen, dann wendet so schnell euch die Rosse tragen zum Walde zurück, vielleicht, daß euch die Flucht gelingt.«

Der Fremde lächelte. »Sei ohne Sorge um uns und denke an das eigene Heil.«

[] »Treibt das Pferd, daß es springe«, mahnte der Führer.

Als sie wieder im Walde dahinritten, begann der Fremde dankbar: »Gutherzig erweisest du dich, und als treu rühmt man deines Volkes Art.«

»Der Thüring ist fest in Liebe und Haß«, sagte der Führer.

»Auch sein Haß ist nicht der eines hinterlistigen Mannes«, versetzte der Fremde lächelnd. »Nicht geradeaus nach Norden geht der Pfad, den du uns führst.«

»Wer Kampf vermeiden will, muß sich wenden wie der Fuchs, wenn die Hunde bellen. Sieh dort den fernen Feuerschein«, er wies mit der Hand durch die Stämme, »was dort brennt, ist ein Hof.«

»Vielleicht tat's der Wetterschlag.«

»Die Röte stieg auf in stiller Nacht.«

Der Fremde sah finster nach dem schwachen Licht hinüber, das am Rand des Horizontes aus der Dämmerung blinkte.

»Du kennst den Hofherrn«, fragte der Fremde.

»Es ist ein Franke«, versetzte der Thüring kalt, »sein Großvater kam weit von Westen her in das Land.«

»Sieht der Thüring ruhig zu, wenn sein Landsmann erschlagen wird?«

»Frage den großen Herrn der Franken und nicht mich, weshalb er seine Volksgenossen von Fremden erschlagen läßt«, rief der Führer. »Einst waren wir Thüringe ein siegreiches Volk, da brachen die Franken ins Land, mit ihnen die Sachsen und Angeln, unsere Krieger fielen auf der Walstatt, und die Fremden teilten sich in die Fluren der Landgenossen. Sie sagen, daß damals der Mehrteil unserer Krieger den Pfad des Todes wandelte. Jetzt sitzt über uns ein Sendbote des fränkischen Königs, er ruft uns zu den Waffen, wenn es ihm gefällt. Ich sah, wie der letzte durch die Wenden erschlagen wurde, seitdem sind wir Waldleute schutzlos, und unsere Alten schlossen Frieden mit den Feinden, frage mich nicht, um welchen Preis, alljährlich sehe ich die Klauen unserer Herdentiere in das Slawenland gehen, aber wenige herauskommen.«

»Auch du trägst Speer und Schwert«, unterbrach ihn der Fremde hart.

»Willst du versuchen, ob sie schneiden?« brach der Thüringe los. Er riß seine Jacke auf und wies auf lange rote Narben. »Ich meine, mehr habe ich gegeben als empfangen. Doch es bringt wenig Ehre«, murmelte er, »sich gegen einen Waffenlosen zu rühmen.«

»In guter Meinung rede ich«, begütete der Fremde. »Ich meine, ihr habt doch viele Rosse geschlachtet denen zu Ehren, die ihr als Götter rühmt und die ich Unholde nenne, und ich fürchte, wohl noch anderes Blut ist geflossen vom Opferstein, noch greulicher dem Gott, dem ich diene, und doch waren eure Götter zu schwach, euch Sieg zu gewähren gegen die Pfeile der Wenden. Nicht für weise halte [] ich den Mann, der sich auf einen Rohrhalm stützt, wenn ihm die Knie wanken.«

»Der Gott der Schlachten wägt die Lose, wie es ihm gutdünkt, er spendet Sieg, wem er will«, versetzte der Führer.

»Töricht ist deine Rede, wenn ich recht berichtet bin. Denn andere Götter sind es, denen die Wenden opfern, und wenn sie die Leute aus euren Dörfern heimwärts treiben, dann singen sie, daß ihr Gott stärker ist als der eure.«

»Gibt der Christengott Sieg seinen Bekennern? Ich sah doch manchen meiner Landsleute, der das Zeichen des Kreuzes machte, erschlagen auf der Walstatt.«

»Nicht jeder, der das Kreuz schlägt, ist ein Krieger des ewigen Gottes«, antwortete der Fremde nachdrücklich. »Wer Sieg erfleht von dem großen Himmelsherrn, der muß vorher sein eigenes Leben würdig machen der Gotteshilfe, treu leben nach Gottes Geboten und jede niedere Tat meiden. Hoch ist und schwer der Dienst, aber herrlich der Lohn, hier Sieg und Freude, und Glück im Himmel. Und ich sage dir, nicht eher wird euer Volk der Fremden mächtig werden, als bis die Kreuzfahne vor euch zieht und jeder von euch Herz und Gedanken geheiliget hat dem großen Gott der Christen.«

»Lehre auch das den König der Franken oder wer sonst dort gebietet. Denn wir hören, daß der König durch den Christenglauben zu einem Mönch verdorben ist und daß einer seiner Helden die Lande regiert.«

Der Führer wandte sich ab, der Fremde aber sprach zu seinem Begleiter: »Du hörst seine Worte. Der Thüring haßt den Franken und beide den Sachsen, ein Stamm vertilgt den anderen, und die Ehre ihrer Helden ist, Männerblut zu vergießen und das wehrlose Geschlecht fortzutreiben, damit sie ihre Lust an ihm büßen und seine Rücken gebrauchen als Schemel für ihre Füße. Seit ich ein Knabe war in fernem Land, sah ich die Menschen wilde Frevel üben, Rauben und Töten war der Höllenschrei, der aus hunderttausend Kehlen kam. Wahrlich, der Erdgarten ist zu einer Wildnis geworden, überall Wustung und zertrümmerter Bau früherer Geschlechter, wie ein Rudel Wölfe bellen, die noch leben in der Einöde. Und wo noch ein Volk männerreich auf dem Boden haust, den es sich durch Brand und Mord gewann, da leben die Sieger zuchtlos, stets gierig nach Goldschatz und Fleischeslust. Gänzlich verderbt hat der üble Teufel dies Geschlecht, das er besitzt, und doch verstopfen sie die Ohren gegen die Botschaft der Gnade, auch wenn sie das Kreuz schlagen und sich Christen nennen. Keine Rettung gibt es für die, welche nach Gottes Ebenbild aufrecht gehen, als die eine, daß sie alle die harten Nacken beugen dem einen Herrn, von dem geschrieben steht: sanft ist mein Joch.«

In der Landschaft, welche sie jetzt betraten, lagen in den Tälern [] oder auf halber Höhe der Berge, wo ein kräftiger Quell aus dem Boden rann, hie und da Dörfer und einzelne Höfe fränkischer Ansiedler, die meisten Höfe klein, die Häuser zerfallen, notdürftig geflickt, daneben oft leere Brandstätten. Jeder Hof und jedes Dorf waren umwallt, aber auch Wall und Gräben waren verfallen und zerrissen. Nur wenig Leute sahen sie auf dem Felde, in den Dörfern rannten die Kinder und Frauen an den Hofzaun und starrten den Reisenden nach; stolz grüßte der Führer, und der achtungsvolle Gegengruß zeigte, daß er den Leuten für einen ansehnlichen Mann galt. Zuweilen war am Hausgiebel über dem Zeichen des Besitzers ein Kreuz gemalt, dann segnete der Reisende die Bewohner an der Tür mit dem Christengruß, erstaunt vernahmen ihn die Leute und eilten auf die Reiter zu. Aber der Führer trieb hastig vorwärts, und im Trabe der Rosse verklangen die Zurufe und Fragen. Wieder kamen sie an ein Dorf, ohne Zaun standen die hohen Strohdächer, welche fast bis zum Boden reichten, selbst die Fliederbäume fehlten, welche ihre schwarzen Beeren sonst in jedem Hofe wiesen. Nackte Kinder, bräunlich und schmutzbedeckt, wälzten sich neben den Ferkeln auf der Dungstätte, kleiner waren die Leute, rundlich und platt die Gesichter, und statt der bedächtigen Ruhe, mit welcher die Reiter anderswo von den Dorfbewohnern begrüßt wurden, tönten ihnen hier lautes Geschrei, Schelte und Verwünschungen in fremder Sprache entgegen.

»Sind die Fremdlinge häufig auf eurem Grunde?« fragte der Fremde.

»Es sind Wenden von ostwärts, in mehreren Dörfern hausen sie hier und in Thüringen, sie zahlen Zins dem Grafen des Frankenherrn, aber übelgesinnt bleiben sie und widerbellig.«

Er hielt das Pferd an und horchte auf die Verwünschungen, welche ihnen von einem häßlichen Weib nachgeschrien wurden, dann spornte er wieder das Pferd und rief: »Vorwärts!« Schnell fuhren sie dahin, der Führer richtete sich oft im Sattel auf und wandte die Augen rechts und links. Nach einer Weile ritt der Fremde an seine Seite: »Gefällt dir's, so sage mir, was unsere Rosse so flüchtig vorwärts treibt.«

»Nur wenig verstehe ich die Sprache der Wenden«, antwortete Ingram, »aber das Weib, der arge Lasterbalg, wünschte uns Unheil, wenn wir auf unserem Wege den Kriegern ihres Volkes begegnen würden. Unruhe ist in der Luft, schon seit dem Morgen fliegen die Habichte und Krähen nordwärts. Mich reut's, daß ich solche nicht gefragt habe, die in unserer Sprache reden.« Er rief seinem Rosse zu und flog voraus, die Reisenden hatten Mühe, ihm zu folgen; dem nächsten Hofe, welcher auf einer Höhe sichtbar wurde, ritt er in gestrecktem Laufe zu und winkte den anderen, zurückzubleiben. Die Reisenden sahen ihn auf dem Hügel halten, [] bald jagte er wild herunter und vor ihnen dahin. Als sie endlich einen steilen Aufstieg erreichten, fragte der Fremde: »Willst du uns nicht sagen, ob Gefahr droht?«

»Der Hof war leer, auch die Ställe leer, jedes Haupt entwichen, mich wundert, daß kein Flüchtling uns entgegenkommt«, versetzte der Führer finster.

»Vorwärts«, rief er, »wenn ich euch nicht verlassen soll.«

»Gedenkst du die Gefahr zu meiden, wenn wir vor dem Abend die Rosse ermüden?« bemerkte der andere ruhig.

»Ich will sehen«, versetzte Ingram kurz und ritt wieder vor.

So ging es eine Stunde vorwärts, durch Buschholz und über Wiesengrund, endlich sahen sie in der Entfernung seitwärts vom Wege einen großen Hof unter Lindenbäumen, das Roß des Führers flog wie ein Pfeil dem Hofe zu, sie erkannten, daß der Führer einigemal anhielt, dann mit weiten Sprüngen hinter den Bäumen verschwand. Langsamer folgten die Reisenden. Da sie herankamen, fanden sie das Dach zerrissen, die Tür eingeschlagen, die Kohlen eines Feuers vor dem Hause. Der Führer beugte sich über etwas, das im Grase lag. Es war ein toter Mann, das Haupt durch einen Keulenschlag gebrochen. »Dies war der Wirt des Hofes«, sprach der Führer mit zuckendem Munde. »Er war von Geschlecht ein Franke, aber ein gastfreier Mann. Und er ist gefallen als ein Krieger. Seht dorthin.« Erde war aufgewühlt und zu zwei runden Hügeln geschichtet. »Die Räuber haben ihre Toten begraben.«

»Wann ist es geschehen?« fragte der Fremde traurig.

»Gestern bevor der Tag warm wurde«, versetzte der Führer und wies auf den Leib eines Slawenrosses, das durch einen Speerwurf des Hofbesitzers getroffen daneben lag. Der Fremde sprang ab und eilte nach dem Hause: »Komm, daß wir Hilfe bringen, wenn dort noch jemand atmet.«

»Du sorgst vergeblich«, versetzte der Führer. »Seine Tochter Walburg und seine kleinen Knaben sind fortgetrieben. Die Kuh mit der Blesse ist geschlachtet, auf seinem Rosse Goldfeder sitzt ein Slawe; die Wenden wissen aufzuräumen, sie lieben nicht halbes Werk.«

Der Fremde ergriff einen Spaten und begann ein Grab zu schaufeln. »Ratsamer wäre dir, von dieser Stätte zu entweichen«, rief der Führer unruhig. Der andere wies auf ein Kreuz, das mit blauem Waid in den nackten Arm des Toten gezeichnet war: »Er ist von meinem Glauben, und ich darf nicht gehen, bevor ich seine Hülle vor Wolf und Geier gesichert habe.«

Der Führer trat zurück und murmelte: »Mancher Mann, der das Kreuz geschlagen, liegt heut still auf blutigem Grunde.« Die Reisenden höhlten das Grab, legten den Toten hinein, knieten zum Gebet, deckten das Grab mit Erde und steckten ein Holzkreuz [] darauf. Dann winkte der Fremde den Jüngling hinweg und blieb allein vor dem Erdhaufen liegen.

Unterdes war der Führer vorwärts geeilt auf der Spur der Feinde, wie ein Jagdhund sprang er über den Grasgrund; schon harrten die Fremden seiner, als er mit glühendem Antlitz zurückkehrte. »Ich erkannte die Fährte, die Fußtritte des Weibes und der Kinder; nur eines der Rosse war beschlagen, ich meine, das ist ein Pferd des Ratiz, des Sorbenhäuptlings. Ich treffe ihn wohl in wenig Tagen«, rief er drohend. – »Beantworte mir eine Frage, Fremder: Würdest du dich freuen, den Ratiz erschlagen zu sehen mit seinem Haufen?«

»Nein«, versetzte der Fremde.

»Er hat Männer deines Glaubens getötet und führt ihre Kinder in elende Knechtschaft.«

»Nein, sage ich dir«, wiederholte der Fremde.

Der Führer raunte einen Fluch, plötzlich trat er zu dem Roß des Fremden: »Bekenne mir, was führst du in dem Ledersack, den du so sorglich hütest?«

»Nicht ziemt dir solche Frage«, versetzte der Reisende kalt, »und ich weigere dir die Antwort.«

»Ich meine, du hast Armringe darin und Silber, wie es die fremden Kaufleute in das Land bringen«, sprach der Führer und starrte begehrlich auf den Ledersack.

»Vielleicht ist darin, was du nennst«, sagte der Fremde, »vielleicht auch nicht, was kümmert's dich. Dein kann es nimmer werden.«

Der Führer sah ihn mit feindseligem Blick an, dann fuhr es über sein Gesicht wie ein Krampf, er warf sich auf den Boden und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Der Fremde ergriff seine Axt, stellte sich vor den Liegenden, zog ihm die Hand vom Antlitz und legte die Axt hinein. »Hier ist die Waffe, mein Sohn, und hier ist das Haupt eines wehrlosen Mannes, willst du treffen, so versuche den Schlag. Willst du lieber hören, so achte auf das Wort eines älteren Mannes.« Ingram ließ die Waffe ins Gras fallen und saß mit geneigtem Haupt auf dem Boden. »Ich weiß, was dich verstört«, fuhr der Fremde fort, »die Räuber treiben ein junges Weib in ihre Berge, du denkst daran, sie zu entledigen mit den Waffen oder durch Kauf, und du meinst, der fremde Mann soll dir dazu dienen. Spreche ich die Wahrheit, so antworte.«

»Sie sprach stolz zu mir«, antwortete er leise, »weil ich nach dem Brauch meiner Väter beim Roßopfer unter der Eiche stand, aber mir ist greulich, daß sie in der Hand des Ratiz bleiben soll, und in meine Seele fiel es wie ein Strahl aus den Wolken, daß ich eilen muß, sie loszukaufen. Dann führe ich sie als Gefangene heim, sie wird mein eigen und ich ihr Herr.«

[] »Und sie muß tun nach deinem Willen«, sprach der Fremde kalt; »wie aber, wenn dein Feind Ratiz ebenso denkt?«

Der Führer knirschte mit den Zähnen und warf sich wieder in das Gras.

»Sie sind wie die Bestien«, sagte der Fremde in lateinischer Sprache. »Steh auf, Führer«, befahl er mit ruhigem Tone, »und vollende vor allem, was du gelobt hast. Jetzt fordert deine Ehre, daß du uns sicher in deine Heimat bringst, wenn wir dir auch fremd und unwillkommen sind. Bist du erst frei von dieser Pflicht, dann erwäge, welches die nächste sein wird. Aber vergiß nicht, daß das Weib, welches du dir begehrst, unter mächtigem Schutz dahinzieht auf dornigen Pfaden. Denn sie wird geleitet durch die geflügelten Boten meines Gottes, die Engel, damit sie erhalten werde für diese Welt oder hinaufgeführt in den Himmelssaal der Christen. Trägt sie auch Sorbenbande, dennoch ist sie in der Hand eines gütigen Vaters, der alle hört, die in der Not ihn anrufen. Will er, daß sie gelöst werden soll durch dich, so wird es geschehen. Du aber tue, was jetzt deines Amtes ist.«

Der Führer stand auf, schüttelte sich und sprang stumm in seinen Sattel. So zogen die Wanderer weiter nach Norden, jeder mit sich beschäftigt, der Fremde sprach nur selten einige lateinische Worte zu seinem Begleiter. Als die Sonne sank, betraten sie die finstern Wälder des Gebirges, welches die Thüringe von den Franken scheidet.

Sie hörten hinter den Bäumen Hundegebell und dazwischen ein tiefes mißtönendes Gebrumm. »Führst du uns in eine Bärenhöhle?« fragte der Fremde.

»Hier wohnt Bubbo, der Landfahrer«, versetzte der Führer, »er fängt Bären, weiß ihre Wut zu bändigen und verkauft sie weit südwärts im Lande der Franken, an Herrenhöfe, zuweilen auch an fahrendes Volk. Sein Hof ist im ganzen Lande gefürchtet, er hat Frieden bei Freund und Feind und versteht manche geheime Kunst.«

»Er ist von deinem Glauben?« fragte der Fremde.

»Wenige wissen, zu welchen Göttern er fleht«, sagte der Führer.

»Dann laß uns den ungastlichen Hof meiden.«

»Sieh auf den Himmel, die Nacht bringt Regen, dein Knabe und eure Pferde bedürfen Nachtrast, denn morgen steigen wir über den Wald auf wildem Wege, wo kein Wirt uns aufnimmt.«

Der Mann blickte auf den Jüngling an seiner Seite und gab schweigend ein Zeichen der Gewähr. Da sie näher kamen, wurde das Gekläff der Rüden wilder, die grunzenden Stimmen einer Bärenfamilie mischten sich darein, und als Ingram an das Tor schlug, tobte der Lärm so arg, daß der Fremde ein Kreuz schlug. Lange pochte der Führer, endlich klangen Menschentritte und rauher Zuruf an die Tiere; Ingram rief seinen Namen durch das [] Tor, der Sperrbalken wurde zurückgeschoben, und eine riesige Männergestalt trat in den Türspalt. Der Führer sprach leise mit dem Wirt. Durch kurze Handbewegung lud dieser zum Eintritt, er faßte die zitternden Pferde am Zügel und zog sie in den Hof, den er hinter ihnen wieder verschloß. Die Reisenden entlasteten ihre Tiere im Dunkel, dann führten Ingram und der Wirt die Rosse nach dem Stall. Als die Männer auf den gestampften Lehmboden der Hausflur traten, hielt der Wirt eine Kienfackel an die züngelnden Kohlen des Holzklotzes, der auf dem Herde lag, und leuchtete mit der rußigen Flamme seinen Gästen in das Gesicht. Da er das Antlitz des Fremden erkannte, trat er zurück, die Fackel entglitt seiner Hand und sprühte auf dem Boden, bis der Führer sie faßte und in den Eisenring am Herde steckte.

»Nimmer hätte ich geglaubt, dein Angesicht in meiner Hütte zu finden. Unhold war der Gruß, den du mir botest, da ich dich das erstemal sah; mit meinen Bären ließest du mich weghetzen von dem Haus deiner Gastfreunde.«

»Und da ich dich zum zweitenmal sah«, antwortete der Fremde ruhig, »löste ich deinen Hals von der Weide, die für dich gedreht war. Und da ich dich zum drittenmal sah, standest du als Täufling vor mir im weißen Hemd, und das heilige Wasser rann über dein Haupt.«

»Das Taufhemd ist lange zerrissen, es war das letztemal weniger wert als sonst wohl in früheren Jahren, wo ich mich in euer Wasser tauchen ließ; und ungern denkt der Mann an die Stunden der Not, in denen er sein Haupt vor fremdem Zauber gebeugt hat«, versetzte der Wirt scheu. »Du hast mir weh getan, und du hast mir wohl getan. Dennoch meine ich, du bist ein Mann, großer Geheimnisse kundig, und auch mich rühmen die Leute als einen, der manches weiß. Und wenn ich dir Frieden gebe unter meinem Dach, so magst du zum Dank mich wohl noch manches Geheimnis lehren.«

»Ich will dich lehren«, sagte der Fremde, »wenn du Ohren hast zu hören.«

»Wohlan, so soll das Frühere ausgeglichen und vergessen sein, und ich will dich halten als meinen Gast, dich und deine Begleiter mit Abendkost und Herberge, und ich grüße dich an meinem Herde, dich, Herr Winfried, vor dem die Leute knien und den sie Bonifazius und einen Bischof nennen.«

Als die Reisenden am Abend des nächsten Tages aus dem dunklen Fichtenwald ritten, schauten sie von der Berghöhe niedrige Hügel, in der Ferne offenes Land. Vor ihnen lag am Fuße des Berges ein Dorf, grau die Dächer, grau die Balken, rundherum ein Zaun aus Pfahlwerk und ein breiter Graben. Eng gedrängt standen [] die Häuser in den Dorfgassen, damit die Abwehr eines feindlichen Überfalls leichter sei. Außerhalb des Zaunes erhoben sich an der Berglehne zwei einzelne Höfe, wenige Bogenschüsse voneinander entfernt. Zu jedem führte ein Fußpfad von dem Dorfwege ab. An dieser Wegscheide hielt Ingram und sagte kurz: »In das Land der Thüringe habe ich euch geleitet, dies ist das Dorf, dort ist der Hof des Franken, den sie einen Meier des Grafen nennen, und dort steht er selbst. Vollbracht ist, was ich gelobt, fahret dahin.«

Während die Fremden mit geneigtem Haupt ihrem Gott dankten und um Segen für ihren Eintritt flehten, jagte Ingram von dannen und war bereits hinter einem Vorsprung des Holzes verschwunden, als Winfried nach ihm aufsah. Von der anderen Seite aber kam der fränkische Verwalter ihnen entgegen, ein Mann mit grauem Haar und ernster Miene. Winfried bot ihm den Christengruß, und das Gesicht des Mannes rötete sich vor Freude, als er antwortete: »In aller Ewigkeit.« Und als ihm Winfried ein ausgeschnittenes Pergamentblatt hinhielt, das Erkennungszeichen, welches die Herrin dem Meier sandte, da nahm dieser ehrerbietig den Hut vom Haupte, ergriff selbst die Zügel der Rosse und führte die Fremden nach seinem Hofe.

Ein Christ unter Heiden

Abwärts vom Dorfe auf die Ebene zu stand ein verfallenes Haus von einem Holzzaun umgeben, an welchem bestäubte Kletten die grauen Blätter breiteten; der Zaun war löcherig und nachlässig geflickt, und die Hühner und Ferkel des Hofes fanden das ganze Jahr mühelosen Durchgang. Hinter dem Tor war aus zwei Stangen ein Holzkreuz errichtet, als einziges Zeichen, daß Meginhard, den sie Memmo nannten, dort wohnte, ein Priester der Christen. Widerwillig hatten die Dorfbewohner ihm vor Jahren auf die Verwendung des Grafen gestattet, in der leeren Hütte zu wohnen. Dennoch fehlte im Innern nicht gänzlich das Behagen. Durch die Ritze der geschlossenen Fensterladen sah man, daß auf dem Herde ein lustiges Feuer brannte. Daneben saß Memmo, ein kleiner rundlicher Mann, vor ihm stand auf schlechtem Holztisch ein Krug mit Bier, auf dem Herde kochte im Topfe ein Huhn, und eine kräftige Magd wirtschaftete mit dem Holzlöffel um den Stein. »Lange brodelt das Huhn, Godelind«, sprach der kleine Mann und blickte sehnsüchtig nach dem Topfe, »schwinge den Löffel und lege Holz an, denn dies ist das einzige, was man hier im Lande reichlich hat.« Aber Godelind kümmerte sich wenig um den Seufzer des Herrn, sie fuhr unwirsch über den Herd und sah zuweilen zornmutig auf den Priester herab. »Sicherlich hätte [] mein Herr ein besseres Geschenk von dem kranken Nachbar erwerben können als das Ding da« – sie wies mit dem Löffel in die Ecke der Hütte, wo auf dem Strohbund ein slawisches Mädchen kauerte, das mit gesenktem Haupt vor sich hin starrte. »Durch viele Wochen habt Ihr die bösen Geister besprochen, die in dem kranken Bein des Mannes saßen; für große Mühe ist dies ein erbärmlicher Dank, eine Gefangene, ein krankes elendes Ding, zu gar nichts gut. Warum hat er Euch nicht ein Kalb in die Wirtschaft geschenkt? Oft genug habe ich Euch geraten, ihm Eure Meinung darüber unter den Fuß zu legen. Wir haben kaum genug, um zwei Mäuler zu füttern, jetzt kommt das dritte, und dazu eine Wilde mit verworrenem Haar, die kein Wort sprechen mag und die mir neue Sorge schafft zu der, die ich um Euch habe.«

Memmo blinzte schlau in die Ecke. »Und doch nahm ich sie um deinetwillen, Godelind«, sagte er begütigend, »für die Weide und das Feld, gern will ich dich schonen.«

»Habe ich je über die Arbeit geklagt?« schmollte die Gebieterin des Herdes nur wenig besänftigt. »Jetzt soll ich Wache halten um den fremden Unhold.« Sie stürzte das gekochte Huhn in eine irdene Schüssel und setzte das heiße Gericht mit einem Löffel ihrem Herrn vor. Ein wohlriechender Rauch stieg in die Höhe, Memmo saß, die Kühlung erwartend, und klapperte ungeduldig mit dem Holzlöffel am Schüsselrand. Da knarrte es draußen am Zaun, und gleich darauf pochte ein Stab an die Tür viermal in kurzen Absätzen. Dem Priester fiel der Löffel aus der Hand, er fuhr erschreckt in die Höhe, starrte auf die Tür, als ob er einen Geist fürchte, und murmelte nach dem dritten Schlage leise, halb bewußtlos: »In nomine spiritus sancti, amen.« Der letzte Schlag erklang, und gleich darauf flog die Tür, von starker Hand gerissen, auf, ein Mann trat herein in dunklem Gewande, und eine tiefe Stimme sprach auf der Schwelle: »Sei gegrüßt im Namen des Herrn.« Stumm stand Memmo, alles Rot aus seinem Gesichte war entwichen; Winfried betrachtete einen Augenblick die Bewohner der Hütte, dann trat er an das Fenster, schlug den Fensterladen auf, nahm Schüssel und Huhn, warf sie hinaus, daß die Scherben krachten, und rief gebietend: »Hinaus mit den Frauen.« Godelind hatte die Arme untergestemmt, gar nicht gesonnen, dem Befehl des Fremden zu gehorchen, da sah sie, wie ihr Herr mit heftiger Handbewegung winkte, daß sie weiche, sie merkte, daß der flammende Blick des Fremden sich auf sie richtete, und ihr Mut wurde klein; sie riß die gefangene Slawin mit sich fort und eilte zur Tür. »Suche eine andere Herberge zur Nacht, Weib«, rief ihr Winfried nach, »denn die Zelle dieses Mannes betritt dein Fuß schwerlich wieder.« Hinter den Frauen schloß er die Tür, schob den Riegel vor und trat zu dem sprachlosen Memmo. »Ins [] Elend bist du gegangen, mein Genosse«, sprach er traurig, »und in übler Gesellschaft finde ich dich; ich komme, deine Seele zu mahnen. Auf die Knie, Meginhard, mein armer Bruder, und bekenne deine Übeltat, denn der Tag der Buße ist gekommen, siehe zu, daß du die Gnade des Richters erwirbst.«

Betäubt fiel der Mönch vor dem Bischof auf die Knie und begann ein lateinisches Gebet zu murmeln. Die Herdflamme loderte lustig weiter und warf die Schatten der Männer hin und her, das Wasser im Kochtopf hob den Deckel und zischte auf dem Herde, aber niemand kümmerte sich darum, bis die Flamme sich senkte und das Wasser schwieg. Dunkler wurde es im Raum, die verglühenden Kohlen warfen ein schwaches Dämmerlicht, und von der anderen Seite fiel matter Sternenschein durch die Fensteröffnung, aber immer noch lag der Priester am Boden, nur schwere Seufzer und das Summen feierlicher Gebete wurden gehört, dann die scharfen Schläge der Geißel und leises Stöhnen. So ging es fort bis in die Nacht. Und als das Sternenlicht in dem Grau des neuen Tages verging, lag Memmo immer noch mit dem Antlitz am Boden, die Arme in Kreuzesform ausgestreckt, und neben ihm kniete der Fremde, und die tiefen Töne seiner Stimme klangen feierlich über dem Schluchzen des Liegenden.

Winfried öffnete die Tür, das erste Morgenlicht drang in den dämmrigen Raum, am Zauntor stand der junge Gottfried und neigte sich schweigend vor dem Lehrer, denn noch war die Tagstunde nicht gekommen, wo ein Bruder sprechen durfte. »Ich meinte dich wohlgeborgen auf dem Lager des Gastfreunds«, sagte der Fremde und winkte ihm die Erlaubnis zu reden.

»Verzeih, mein Vater, mich trieb die Sorge um dich hierher.«

»Dort drinnen liegt einer, der gefallen ist. Weile bei ihm, damit er dein Angesicht schaue, wenn er sein Haupt erhebt, und stütze seine wankenden Schritte«, und leise fügte er hinzu: »Wie einen Hänfling, der dem Bauer entflogen war, habe ich ihn eingefangen, und unruhig wird seine Seele flattern. Hilf ihm, obwohl er älter ist, daß er sich der Zucht wieder gewöhne, und gib ihm nach, soweit du darfst. Denn ungeschickt wäre es, dem Verwilderten allen Trost zu nehmen.«

Der Fremde schritt dem Dorfe zu, wo sich's in den Häusern rührte, der junge Mönch setzte sich leise neben den Büßenden; nicht lange, und dieser schauerte zusammen, hob vorsichtig das Haupt und sah erstaunt statt des furchtbaren Bischofs einen Jüngling neben sich, in dessen Antlitz warmes Mitleid leuchtete. »Visio venit, ein Friedensbote erscheint«, murmelte er erschrocken und fiel auf das Gesicht zurück, um es nach einer Weile wieder zu erheben. »Ich fühle warmen Atem über meinem Haupte, bist du einer von uns, so sprich.«

[] »Gottfried heiße ich, mein Vater, und bin dein Bruder und Diener.«

»Er ist fort«, seufzte Memmo, sich furchtsam umschauend, und fühlte mit der Hand nach seinem wunden Rücken. Mühsam setzte er sich auf und faßte den Kopf mit beiden Händen. »Gänzlich bin ich verwandelt, die Schüssel mit dem Huhn warf er aus dem Fenster und Frau Godelind« – er bekreuzigte sich –, »hinweg, du Teufel. Schwer bin ich versucht worden, mein Sohn, unter den Heiden, zwischen Pferdeköpfen und Roßfleisch habe ich gesessen, und wenn sie im Mai den Reigen tanzten, forderten sie, daß ich mit Frau« – er bekreuzigte sich wieder. »Sicher ist der Bischof ein heiliger Mann, menschlicher Schwachheit völlig enthoben. Auch du kennst die Regel, mein Bruder, obwohl du jung bist.«

Gottfried nickte freundlich.

»Dann weißt du auch, mein Sohn, daß den Getreuen nach der Pönitenz gestattet ist, die heißen Lippen anzufeuchten, aqua cum aceto, durch Wasser mit Essig. Essig fehlt in diesem Lande, aber«, fuhr er überredend fort, »dort steht an seiner Statt ein Rest Dünnbier, es ist Wasser genug darin, ich bitte dich, reiche mir den Krug.«

Gottfried holte bereitwillig den Trunk, der erschöpfte Mann tat einen tiefen Zug, hielt darauf den Krug in seinen gefalteten Händen und begann wehmütig sein Morgengebet. Gottfried sprach die Worte mit, dann schüttelte er in der Ecke das Stroh zum Lager zurecht, geleitete den Wunden zur Ruhestätte und sprach ihm leise Gebete vor, bis der Vater entschlief.

Als Winfried am späten Morgen zu dem Mönch zurückkehrte, fand er ihn mutiger auf seinem Stuhl sitzen. Gottfried hatte die Zelle gesäubert, einen kleinen Altar aufgerichtet und mit Fichtenzweigen und wohlriechendem Quendel umhangen. Da der Bischof eintrat, machte Memmo einen Versuch, sich zu erheben, Winfried aber drückte ihn sanft in den Stuhl zurück.

»Nicht als Arzt komme ich in dieser Stunde, der seinen Kranken zum Heilmittel nötigt, als dein alter Geselle setze ich mich zu dir, und ist dir's nicht zu beschwerlich, so bitte ich dich, mein Bruder, daß du mir wahrhaft verkündest, was du in diesem Volke Schweres geduldet hast, denn wahrlich nicht leicht war das Amt, das dir befohlen war, und ich finde dich nicht in fröhlicher Arbeit.«

»Gar nichts Günstiges kann ich dir sagen, ehrwürdiger Vater«, begann Memmo kleinlaut, »fünf Jahre habe ich hausgehalten unter diesem Geschlecht wie Daniel in der Löwengrube; verhärtet sind ihre Herzen und trotzig ihr Mut, und der Beste unter ihnen hat Stunden, wo er sich gebärdet wie der üble Teufel aus der Hölle. Wenige gibt es, die da glauben, und sie glauben nur, wenn ihnen ein Bein verrenkt ist oder der böse Geist des Fiebers sie schüttelt, dann senden sie zu mir, daß ich vor ihnen bete, und schlagen emsig das Kreuz; den nächsten Tag aber schicken sie zu der Heidenfrau, [] welche Zauberkünste übt, und machen wieder das Hammerzeichen über ihren Leib. Sie fragen oft, ob unser Gott ihnen Sieg schaffen kann gegen die Slawen und Sachsen, dann möchten sie es wohl mit ihm versuchen. Er soll sich ihnen geloben wie ein Diener, aber sie wollen ihm nicht dasselbe tun.«

»Du kennst die Christen dieser Landschaft?« fragte Winfried ungeduldig, »denn dazu bist du hergesandt, wie die Schwalben ihre Boten voraussenden.«

»Wohl meine ich, daß ich sie kenne, soweit das Land reicht von der Saale bis zur Werra«, versetzte Memmo. »Und ich schrieb dir nach deinem Gebot die Namen einiger, welche Ansehen haben und noch die treuesten sind. Von Priestern aber bin ich das einzige Lamm unter bellenden Wölfen. Denn andere gibt es noch, die sich Christenpriester nennen, aber sie sind reine Teufelsbraten, sie halten sich mehr als ein Weib, sie sitzen mit den Heiden beim Opferschmause, und die Pferdehäupter hängen neben ihren Kreuzen, sie wollen auch nichts wissen von unserem großen Vater in Rom. Vor alter Zeit ist diese Art ins Land gekommen, sie malen mit Farbe Zeichen in ihre Haut.«

»Schottische Wildkatzen«, rief Winfried zornig.

»Viel habe ich hier erduldet durch Schläge und durch Hohnreden«, fuhr Meginhard fort. »Das Ärgste aber geschah mir im letzten Jahre, als die Wenden ins Land fielen. Die Thüringe stellten sich ihnen entgegen unweit der Saale, und sie bedräuten mich und forderten von mir, da ich ihr Gast sei und ihren Frieden genieße, daß ich mit ihnen ziehe und als unkriegerischer Mann neben ihrer Schar auf dem Hügel stehe und Sieg für sie herabbete. Sie zogen mich fort und stellten mich auf, aber die Wenden wurden ihrer mächtig, erschlugen einen Haufen, brachen in die Dörfer, zündeten an und führten die Weiber und Kinder hinweg in Knechtschaft; auch mich fingen sie, mit Weiden wurde ich gebunden, und sie trieben uns wie eine Herde Schafe ostwärts in die Sklaverei. Jämmerlich war die Reise unter Heidenweibern und weinenden Kindern, wer niedersank und nicht mehr aufzustehen vermochte, der erhielt einen Keulenschlag und lag am Wege. Spärlich war auch die Reisekost, gleich Ebern bot man uns Brei im Troge. Zwei Tage und Nächte wanderten wir so den Angstpfad, bis wir die Dörfer der Wenden erblickten und die Stangen, an denen die Banner ihrer Häuptlinge hingen. Dort teilten sie uns in die Dörfer, ich aber mit einem Haufen wurde dem Sorben Ratiz zuteil, dem greulichen Manne, der sich diesseit der Saale seine Ringburg geschanzt hat. Die Heiden hielten ein großes Gelage, mich aber bestimmten sie zu jämmerlichem Tode, weil sie mein geschorenes Haupt sahen, und die Teufel spuckten mir auf den Scheitel. Gebunden lag ich und hoffnungslos, da trat Herr Ratiz in den Stall und fragte mich durch einen Mann, der ihn [] begleitete, von welchem Stamm und Männergeschlecht ich sei. Ich aber sagte ihm, daß ich ein Mönch sei und du der ehrwürdige Vater, dem ich mich gelobt habe zur Reise unter die Thüringe. Da erweichte der Herr sein Herz, daß er meine Bande lösen ließ und durch seinen Begleiter mir mit großer Heimlichkeit offenbarte, er wünsche Boten zu senden an den Gebieter der Franken im Westen, und er wisse, daß du ein mächtiger und friedfertiger Mann seist und wohl ein Fürsprech werden könnest für sein Begehren. Und der verschlagene Wolf, der satt war von dem Morde in unserem Schafstall, behauptete, daß auch er den Frieden liebe; die Grenzgrafen der Franken aber seien räuberisch und blutdürstig. Und ich mußte ihm geloben, diese Botschaft dir zu bringen, so schnell ich könnte. So wurde ich erledigt, gespeist und gekleidet und bis in die Nähe unserer Dörfer geführt. Wie ich dir auch sogleich verkündet habe in meinem Briefe, den Hunibald, der Franke, auf seiner Fahrt nach Westen mit sich nahm.«

»Was du geschrieben hast, habe ich gelesen«, versetzte Winfried. »Unterdes ist der Wolf wieder hungrig geworden und aufs neue in das Land der Franken gebrochen. Hast du erkundet, was er vom Herrn Karl, der über die Franken herrscht, für sich begehrt? Denn Frieden halten mögen die Franken und die Slawen so wenig wie zwei Hamster in einer Grube.«

»Mich dünkt, er begehrt Geschenke und vielleicht das Land, das er sich geraubt hat.«

»Will er bekennen und den Werken des Teufels entsagen?« fragte Winfried.

»Eher beißt ein Fuchs in der Falle sich den Schwanz ab; in ihm ist nicht mehr Frömmigkeit als in einer hohlen Nuß.«

»Manche, die das Kreuz schlagen, sind ebenso leer«, versetzte Winfried. »Ist er ein kalter Heide, so mögen seine Kinder warme Christen werden. Jetzt aber sprich zu mir von einem anderen Mann, du kennst den Ingram, welchen die Heiden Ingraban nennen.«

»Nicht viel Gutes habe ich von ihm genossen, er ist einer von den Feinden des Kreuzes; dort oben haust er auf der Stätte, die sie den Rabenhof nennen, denn die schwarzen Heidenvögel nisten in den Bäumen und krächzen unholde Lieder. Er aber ist voran bei allem Streit und hält die Herzen der Jugend in seiner Hand. Während jener Schlacht sah ich, wie seine Gesellen ihn verwundet aus dem Kampfe trugen; und sie meinen, wäre er im Vorkampf geritten bis zum Ende, dann hätten die Slawen nicht obsiegt.«

Winfried erhob sich und sah prüfend in die Ecken der Hütte. »Das Gesetz befiehlt, daß die Brüder zusammen hausen unter einem Dach, nicht ziemt mir, bei Fremden zu herbergen, wo ein Bruder sein Haus hat. Sorge mir hier ein Lager zu bereiten.«

[] Erschrocken vernahm Memmo diesen Entschluß. »Gering ist die Hütte, ehrwürdiger Vater, und das Dach ist schadhaft, der Regen läuft hinein, übel steht es auch mit der Kost; doch ich meine nicht« verbesserte er sich, »daß dir daran gelegen ist. Und dann, ehrwürdiger Vater, verzeih, die kleinen Vögel, die ich bisher hielt, singen laut, und sie schmeißen zuweilen unverschämt. Herr, befiehlst du, daß ich die Vögel fliegen lasse? Im kalten Winter sind sie zu mir geflogen, manche sind im Frühjahr in die Lüfte geflattert, einige haben ihr Nest gebaut zwischen den Sparren, sie haben die zweite Brut ausgebracht, und manchmal, wenn ich kleinmütig war, hat ihr Gezirp mich gefreut. Peccavi«, fuhr er fast weinend fort, »es ist Sünde, sein Herz an eine Kreatur zu hängen, aber, Vater, sie kommen immer wieder, wenn ich ihnen nicht den Hals umdrehe; vor allen der Stieglitz, er ist der schönste Vogel in diesem Lande.«

Winfried hörte finster den Klagegesang des zuchtlosen Mönches. »Gib deinem Bruder nicht weniger gern die Nachtrast als deinen Gespielen im Federkleid.«

»Fruchtlos war die Arbeit an den Herzen der Menschen«, fuhr Memmo traurig fort, »eher noch behielten die Vögel das heilige Wort. Jedes Jahr fing ich junge Raben und Elstern, lehrte sie das Kyrie eleison und ließ sie wieder fliegen. Im lichten Gehölz hier kannst du zuweilen ihre Stimme hören, wenn sie die heiligen Worte singen. Auch an dem Ingram meinte ich manche Unbill zu rächen, die er mir zugefügt, und ich setzte ihm meine jungen Raben auf seine Bäume, damit sie unter den Heidenvögeln den Herrn anrufen sollten, aber die andern Raben fuhren grimmig gegen sie und rauften ihnen die Federn, weil den wilden unser Gesang widerwärtig war. Und sie kamen zu mir zurück. Aber auch diese, die ich gezähmt hatte, ließen ihre Tücke nicht, sie fraßen mir meine kleinen Gesellen, und seit dem letzten harten Winter sind die Kleinen allein bei mir geblieben. Verzeiht mir, ehrwürdiger Vater.«

»Ich zürne dir nicht, mein Bruder«, versetzte Winfried, »da ich dich aussandte, wußte ich, daß du kein Sämann warst für steiniges Land, aber von freundlichem Herzen, und daß dich die Heiden hier, weil du wohlmeinend bist, vielleicht dulden würden. Wie ein Kundschafter, der in das Gelobte Land gegangen ist, warst du mir. Jetzt bin ich selbst gekommen, dies Volk meinem Herrn zu unterwerfen.«

Durch das geöffnete Tor führte Gottfried ein bepacktes Pferd in den Hof, er band das Tier an den Pfosten, hob den Ledersack ab und trug ihn in die Hütte. Ein warmer Strahl von Liebe und Sorge fiel aus den Augen Winfrieds auf ihn. »Was sagte der Führer, der so unfreundlich von uns schied?«

»Kaum drang ich zu ihm«, klang die weiche Stimme des Mönches [] zurück, »die Knechte wiesen mich rauh fort, endlich bewegte meine Bitte doch einem das Herz, er führte mich an das Gehege, wo der Mann seine Rosse koppelte, gleich einem, der sie wegschaffen will. Ich sprach ihm deine Botschaft, er aber war ungeduldig zu hören: ›Nimmer hätte ich deinen Herrn geleitet, wäre ich seines Amtes kundig gewesen. Lohn für das Geleit begehre ich nicht, weder einen Armring noch Frankensilber; auch seine Dankbarkeit erfreut mich nicht, und guten Willen hat er von mir gar nicht zu erwarten, wenn er ihn in Zukunft fordern sollte.‹ So sprach er und stand vor mir wie Turnus, der finstere Held, von dem der Römer Virgilius meldet, daß er sich gegen den König Äneas erhebt.«

»Dein König Äneas, mein Sohn«, versetzte Winfried lächelnd, »hat gegen den Wilden keine anderen Waffen als die redliche Meinung, ihm und anderen zu nützen. Du aber bete, daß uns das gelinge.« Winfried trat zum Tisch, löste die Riemen des Leders, nahm eine Holzkapsel heraus und übergab den Sack feierlich dem Priester. »Hüte ihn wie das Licht deiner Augen, Meginhard, er birgt heilige Gebeine, dazu Gewänder und Gefäße für die Kirche, welche wir hier bauen werden.« Während Memmo mit großen Augen auf den Bischof und wieder auf den Behälter der Kostbarkeiten sah, gab Winfried dem Jüngling einen Wink und verließ mit ihm die Hütte.

Mit starken Schritten eilte der Bischof dem Hügel zu, welcher sich vor dem Walde erhob, gefolgt von Gottfried, welcher das Roß führte. Auf der Höhe hielt Winfried an: »Schneller als ich meinte«, begann er mit bewegter Stimme, »ist die Stunde gekommen, wo ich dich auf rauhem Pfad zu den Heiden entsenden muß, du Kind meiner Schwester. Das Liebste will ich den Gefahren der Wildnis preisgeben, der Herr möge mir verzeihen, daß ich um den Boten in seinem Dienst ängstlich zage.«

»Vertraue mir, mein Vater«, bat Gottfried.

»Dem Sorben Ratiz sollst du Antwort sagen auf seine Frage an mich, du kennst die Frage, und du kennst die Antwort.«

»Ich kenne sie, Vater.«

»Dem Heiden Ingram sollst du helfen, die Gefangenen zu lösen. Denn dich an diese Botschaft zu wagen, habe ich dem Himmelsherrn gelobt, als ich am Grabe des Franken kniete; aber jähzornig und unhold ist der Mann, den ich dir als Genossen werben will.« Winfried schritt wieder mit starken Schritten vorwärts und hielt aufs neue: »Ich war ein Jüngling wie du, da trat ich einst in Angelland, unserer Heimat, an einen verfallenen Steinbau, den dort vor Jahrhunderten das Römervolk errichtet hatte. Denn in alter Zeit, bevor die Botschaft des Herrn zu den Landgenossen kam, waren die Völker gebändigt durch das große Reich der Römer, und fast überall [] hatten diese sich feste Burgen geschanzt. Damals sah ich, wie Krieger meines Stammes in den Steinen einen Haufen Weiber und Kinder zusammentrieben, die sie aus den Nachbardörfern geraubt hatten. Ich hörte die Peitschenschläge und das Gewimmer, und ich sah die Schwertstreiche, womit die Waffenlosen geschlachtet wurden; ich aber lag eine Höllennacht auf dem Römersteine.

Denn die Mörder und die Gemordeten, beide rühmten sich, Christen zu sein. Und ich erkannte mit Entsetzen, daß auch die Gotteslehre auf Erden ihre heilbringende Kraft verlor. Überall haderten die Bischöfe gegeneinander, einer schalt den anderen Irrlehrer, schlug ihn in das Angesicht oder zückte das Messer gegen ihn, aber kaum einer tat nach dem Gebot des Herrn; und wie die Hirten, so waren auch die Herden völlig verdorben, jede Sünde und Unzucht sah ich in geiler Blüte, die Heiden oft redlicher als die Christen. Ich meinte, daß ich wahnwitzig werden könnte über solche Erdennot, und ich flehte zu dem Himmelsherrn, dem ich mich gelobt hatte, um Rettung für die Menschheit aus unserem Elend. Da kam in mich die Botschaft des Heils, wie eine Feuerflamme fuhr sie mir durch die Glieder, daß ich in Schreck und Seligkeit hoch aufsprang. Denn mir wurde offenbart, was dem Menschenvolk Rettung bringt, eine neue Zucht für die Zuchtlosen und neue Vereinigung für die Verfeindeten. Geschwunden ist die Herrschaft der Römer, aber zu Rom wohnt jetzt der fromme Nachfolger der Apostel. Er soll werden zu einem oberen Richter aller Herzen und Gewissen, und soll auf der Erde walten als der große Häuptling des Himmelskönigs. Wir aber sollen ihm alle ebenso im Glauben dienen wie den Königen und Häuptlingen in weltlichen Werken. Und mein ist das Amt, die Völker der Erde zu seinem Dienst zu führen, Friesen, Sachsen, Hessen, Thüringe, und wenn mir der Herr gnädig ist, auch die wilden Horden, welche sich Wenden nennen. Den Frieden meines Gottes will ich allen bringen. Damit der Glaube für die Völker der Erde heilkräftig werde, will ich sie lehren, daß ein einiger Gott über ihnen waltet, ein großer Wirt in der Himmelsburg, und hier auf Erden als sein Vogt der Bischof zu Rom, ehrwürdig und gewaltig über alle. Einheit der Lehre soll auf Erden sein, und Einheit im Gehorsam, damit auch Einheit in der Liebe werde. Darum habe ich gepredigt unter den Friesen und Hessen, darum bin ich selbst nach Rom gezogen und habe mich auf meinen Knien dem Papst in seine Hände gelobt als Mann meines Gottes, und darum wandere ich jetzt hier durch das Unkraut der wilden Täler allein mit dir, Knabe, denn austilgen will ich den Jammer der Welt und Heil allen verkünden, die jetzt im Elend sind. Solches hat mir unser Herr in jener Angstnacht geboten.«

Der Jüngling küßte ihm ehrfurchtsvoll die Hand. Winfried hielt sie fest und sprach ruhiger: »Du mein Liebling, der du die Jahre [] eines Knaben hast und den Sinn eines Weisen, du bist mir treu, und wenig Gedanken gibt es, die ich dir verberge. Nicht die Heiden sind es, die mir die größte Not bereiten, größer ist die Arbeit, die ich habe, wo ich Hilfe erwarten könnte. Die Franken, welche sich Christen nennen, ihre Bischöfe, die zuchtlosen Frevler von denen jeder mit allen anderen streitet, die sind, dünkt mich, die schlimmeren Wölfe. Ein würdiger Mann ist der Bischof zu Rom. Aber auch er sah mich zuerst an wie einen Unsinnigen, als ich vor ihn trat und ihm bekannte, daß er der höchste Herr werden müsse über den Glauben der Männererde, um uns alle zu retten. Viel Eigennutz gibt es dort und Gier nach weltlicher Herrschaft; aber der Herr, dem ich mich gelobt habe, wird mir helfen, daß ich den Unverstand der Großen überwinde wie den Trotz dieser langhaarigen Wilden. Darum folge auch du mir zu dem Heiden, mein Sohn, öffne die Ohren und vernimm auf dem Wege, was dir noch zu wissen not tut.«

Als sie die Höhe erreichten, auf welcher der Rabenhof lag, stob ihnen eine Koppel wilder Rosse entgegen, auf dem einen saß Ingram, auf einem anderen sein Diener. Winfried trat in den Weg, daß das Roß Ingrams bäumte und der erhitzte Reiter, als er es kraftvoll bändigte, dicht vor dem Bischof hielt. »Was kommst du selbst mich aufzuhalten?« rief Ingram zornig, »unselig war die Stunde, wo ich dir Dienst gelobte.«

»Wer auf eine Reise ausfährt, wie die deine«, antwortete Winfried, »der handelt nicht weise, mit einer Verwünschung die Fahrt zu beginnen.«

»Deinen Segen begehre ich nicht, Christ, besseren Schutz weiß ich mir zu gewinnen, als dein Zeichen gibt.«

»Und doch vertrauen manche im Sorbendorfe, denen der Weidenring die Hände zusammenschnürt, auf das heilige Zeichen, welches du töricht mißachtest. Schmähst du den Himmelsgott, zu dem die Christen flehen, vor deiner Reise, so wahre dich, daß deine Fahrt nicht fruchtlos sei.«

Der Reiter wollte sein Roß antreiben, jetzt hielt er still und sah finster vor sich hin. »Bändige dein heißes Blut«, fuhr Winfried mit Würde fort, »bedächtiger Rat dient vor schneller Tat. Bin ich dir auch unwillkommen, so verachte doch nicht meine Worte; steige ab, Ingram, wenn du in Wahrheit das Weib lösen willst.«

So nachdrücklich war die Mahnung, daß der Thüring sich vom Pferde schwang und seinem Knechte die Zügel zuwarf.

»Mache kurz, was du mir zu sagen hast, Fremder, denn der Boden brennt mir unter den Füßen.« Winfried führte den Ungeduldigen einige Schritt abseits. »Beantworte mir eine Frage, wenn du willst, die ich wohlmeinend tue und in großer Sorge um die Gefangenen. Führst du mit dir, was dir von dem Ratiz zur Lösung [] dienen kann? Oder hoffst du, daß es dir gelingen wird, die Weiber und Kinder aus dem Sorbenlager zu rauben?«

Mit zuckendem Antlitz antwortete Ingram: »Wer dem Lager des Räubers naht, greift das Geraubte, wie er kann. Vermag ich unerkannt einzudringen, so suche ich sie heimlich zu entführen.«

»Du sagtest mir, ihr Thüringe habt den Sorben Frieden gelobt.«

»Nicht ich, auf dem Lager lag ich mit blutigem Leibe.«

»Aber die Alten haben ihn gelobt, auch für dich.«

»Gebrochen ist der Eid durch jenen, als er meinen Gastfreund erschlug. Wer mag mich schelten, wenn ich den befreundeten Mann räche?«

»Dein Volk wird fragen, ob du von der Freundschaft des Toten bist, du aus dem Land der Thüringe, er ein Franke.«

Ingram schwieg.

»Und wenn die Grenzwächter der Sorben dich erspähen? Sicher sind sie des Grenzbrauches kundig und sorgen jetzt um eine Rachefahrt der Franken. Darum meine ich, auch dir ist nicht verborgen, daß du nur in Frieden die Gefangenen lösen kannst.«

»So magst du wissen«, versetzte Ingram finster, »was ich ungern bekenne, daß ich mir Lösegeld suchen will durch Verkauf der Rosse, die du hier siehst; einige darunter sind wohl wert, den Sattel eines Königs zu tragen. Unsicher ist, ob der Ratiz selbst die Rosse nimmt, denn voll von Hufen ist, wie ich fürchte, das Lager der Diebe seit ihrem letzten Zuge. Deshalb will ich die Rosse jetzt an die Erfesfurt treiben, wo der große Markt meines Volkes ist, ob ich Armringe oder fränkisches Silber dafür einhandle. Doch mißlich ist ein Verkauf in der Not. Das ist die Sorge, die mich ängstigt.«

»Und gibt es anderen Kaufpreis, der dir den Willen des Slawen bezwingt?«

»Rotes Gold der Zwerge und Silber, das der Schmied künstlich geschlagen hat«, versetzte Ingram schnell. »Ihm kann der niedrige Mann nicht widerstehen. Aber solch Königsgut hat der Thüring nicht.«

Winfried zog die Kapsel hervor und drehte sie auf, einen großen Becher hob er heraus, von außen Silber, von innen Gold, mit einem Kranz von Weinlaub und erhöhten Menschenbildern daran, ein wundervolles Stück Arbeit. »Aus dem Schatz eines Königs stammt es und von einem königlichen Mann ist es in meine Hand gelegt. Meinst du, daß dies Stück uns die Kinder lösen wird?«

»Nie sah ich solch ein Werk von Menschenhand«, rief der Thüring mit leuchtenden Augen, »silbern sind die Kinder und nackt, sie wandeln um den Becher, als ob sie lebten.« Und gehaltener setzte er hinzu, sich seiner Neugier schämend: »So großes Schatzglück löst viel.«

»Dann sei der Tag gesegnet«, rief Winfried, »wo ich den Becher empfing.«

[] Aber wieder fuhr ein dunkler Schatten über das Gesicht des jungen Kriegers, und das Gefäß stolz zurückgebend, rief er: »Fahre hin mit deinem Becher, du schlauer Fremdling«, und wandte sich den Rossen zu.

Doch Winfried hielt seinen Arm. »Meine nicht, Ingram, daß ich deine Gunst erkaufen will durch Silber und Gold. Du hast dich ja selbst geweigert, Führerlohn zu empfangen. Wärest du von den Kindern des großen Gottes, dann dürfte ich dir das Schmiedewerk zu christlicher Tat schenken. Du aber hast deine wilde Begier mir verraten. Nicht als deine Sklavin darfst du das Frankenweib heimführen in dein Haus, ihr selbst und ihrem Geschlechte schenke ich den Becher, und rettet er sie aus der Gefangenschaft, so kehrt sie wieder als eine Freie, sie und andere, die du zu lösen vermagst. So ist meine Meinung. Dich aber bitte ich um der Gebundenen willen, daß du für sie alle den Handel vollendest und sie darauf herführst in den Schutz, den sie sich selbst begehren.«

»Dein soll die Ehre sein, und nicht mein«, rief Ingram heftig.

»Nicht du, nicht ich spenden den Kaufpreis, ich selbst besitze weniger als der ärmste deiner Landgenossen, ich bin nur ein Bote des Christengottes, und seinem Schatz gehört dies Silber.«

Scheu sah der Krieger auf das blinkende Metall. »Birg es in seinem Holze, denn sehr fürchte ich, daß ein übler Zauber in solcher Gabe sei.«

»Auch rate ich nicht, daß du selbst diesen Kaufpreis trägst«, fuhr Winfried fort, »denn auch ich habe einen Boten zum Ratiz zu senden in Geschäften des Frankenkönigs, meinen jungen Bruder Gottfried. Du aber wirst der Sprecher sein um den Loskauf, und ich bitte dich, daß du dem Jüngling gestattest, mit dir zu reiten, und daß du selbst mir gelobst, treu um ihn zu sorgen.«

»Rauh ist der Weg zu dem Dorfe des Ratiz, schnell muß die Fahrt sein, und nicht gefahrlos ist rascher Botenlauf in den Bergen, wie mag ich den Knaben davor bewahren?«

»Du hast seine Kraft versucht, und du hast ihn nicht schwach gefunden.« Der Krieger sah auf Gottfried hinüber, der das Roß des Bischofs am Zügel hielt, und sein Antlitz wurde freundlicher. Er überlegte. »Ich erkenne«, sagte er endlich, »daß du wie ein Herr meinen Willen richten willst. Nicht weiß ich, ob es zu meinem Heil ist, wenn ich nach deinem Verlangen tue, und wäre es um meinetwillen, ich täte es nicht. Aber ein Weib sehe ich sitzen mit gerungenen Händen in der Sklaverei.« Er fuhr heftig auf und rief: »Ich gelobe, den Knaben zu halten wie einen aus meiner Freundschaft«, und legte seine Hand in die des Bischofes, dann eilte er zu seiner Koppel, gab seinen Männern Befehle und ließ die ledigen Rosse nach dem Hofe zurückführen. Unterdes sprach Winfried leise zu dem Jüngling, faltete die Hände über dem Haupte, und tiefer [] Schmerz zuckte in seinem Gesicht, als er den Reisesegen über ihn sprach.

»Heran, Jüngling«, rief Ingram, seinen Wurfspeer schwingend, »viel Zeit ward verloren in dem Streit der Worte, laß den Hufschlag klingen zur Reise ins Slawenland.« Prüfend sah er noch einmal auf das Roß und den friedlichen Reiter, ihm gefiel, daß der Jüngling fest im Sattel saß, und er nickte ihm grüßend zu. Laut rief er sein Hara, und Rosse und Reiter stoben abwärts, dem Waldweg zu. Winfried sah den Flüchtigen nach und hob die Hände zum Himmel.

In der Hütte stand Memmo lange Zeit vor dem Ledersack, bekreuzigte und verneigte sich und trug ihn in eine Ecke, er legte sorgfältig Stroh darüber und setzte sich in tiefen Gedanken davor. Zuweilen schüttelte er den Kopf. »Wer soll die Kirche bauen? Er und ich. Und wer soll den Taufstein aus dem Felsen hauen? Wieder ich. Viele Hammerschläge werden diese Arme tun, und der Rücken wird sich beugen unter der Last der Balken. Wer aber wird eingehen in den Hof der Täuflinge? Niemand als die Schwalben aus der Luft und die Mäuse vom Felde; bis an einem wilden Tage das Heidenvolk heranspringt und mit seinen Schwertern die Kreuze auf unsere Schädel schlägt. Von heut bin ich ein fremder Gast in meinem Hause; aber es steht geschrieben: eures Bleibens ist nicht hienieden, und der Mensch ist wie Heu.« Da knarrte das Hoftor, und ein rotes Gesicht sah zum Fenster herein. »Alle guten Geister! Das ist Frau Godelind. Hinweg, Weib«, rief er heftig, ohne sich von seinem Platze zu bewegen. »Ich kenne dich nicht!«

»Übel seid Ihr verwandelt«, rief das Weib zornig hinein, »welcher Zauber hat Euch den Sinn betört?«

»Hinweg, Godelind!« rief Memmo mit strengem Ton, »wenn dich der Bischof sieht, bist du verloren; du stehst unter dem Kreuz, und er hat Macht über dich.«

»So viel gebe ich auf euren Bischof«, rief Godelind, einen Strohhalm nach dem Priester werfend, »und so viel auf Euch, der Ihr nichts seid als ein Feigling. Ist das mein Lohn für treue Pflege und für alle Dienste, die ich Euch bei Tag und Nacht getan, daß Ihr mich von einem Fremden aus dem Hause weisen laßt?«

»Wenig nutzt es, über Vergangenes zu klagen«, versetzte Memmo aus seiner Tiefe, »ich sage mich los von dir für alle Zukunft. Suche Obdach bei deiner Base und behalte das Slawenmädchen, nur höre, daß du das arme Ding nicht mißhandelst; nimm meinetwegen auch das Ferkel im Stall, es muß dahingehen mit dem anderen, aber schweige und entferne dich, denn ich bin in tiefer Betrachtung, und lästig ist mir dein Geschwätz. Verwandelt hat mich diese Nacht, und mich reut's, daß dein Fuß je meine Schwelle betrat.«

»Du feiger Mann«, rief Godelind in hellem Zorn, »manchmal [] noch soll dich reuen, daß du die Dienerin von dir weisest, und ich will lachen, wenn ich an den Toren denke, der am kalten Herde Wasser vom Bache trinkt und ungekochte Bohnen kaut.« Ihr Gesicht verschwand aus der Öffnung, und gleich nachher erscholl mißtönendes Gequiek aus dem Stalle. »Da führt sie hin«, seufzte Memmo, »was der Schatz meines Hauses war«, und er senkte ergeben das Haupt, bis sich der Stieglitz darauf setzte und von dem kahlen Scheitel fröhlich sein Lied zwitscherte. Memmo hob leise die Hand, der Vogel flatterte herab, und der Mönch küßte ihm seinen roten Kopf.

Im Sorbendorf

Auf der Sorbenfahrt hielten die Reiter Abendrast, die Pferde standen im festen Gehege, Ingram und Gottfried lagen unter einem Baum, und Wolfram, der Knecht, bereitete am großen Feuer die Nachtkost. Er trug eine Lederflasche, die einem Schlauch ähnlich war, herzu. »Das Bier ist am Quellwasser gekühlt, wohl möge es euch munden.« Da Gottfried die Flasche dankend von sich wies, sprach Ingram gutherzig: »Als ein wackerer Reisegesell hast du dich seither erwiesen, verschmähe nicht unsere Kost, wenn wir auch nicht von deinem Glauben sind. Denn ich merke, in vielem hadern die Menschen miteinander, aber Speise und Trank ehren sie alle.«

»Zürne nicht, mein Genosse, ungewohnt ist mir der starke Trank und das Fleisch der springenden Tiere. Doch weil es dir lieb ist, will ich dein Mahl teilen«, und er legte seinen Brotkuchen beiseite, aß ein wenig von dem Fleisch und trank von dem Bier.

»Sage mir, wenn es dir nicht lästig dünkt«, fuhr Ingram fort, »bist du auch von denen, welche für unrecht halten, ein Weib zu umhalsen?«

»Es ist so, wie du sagst«, antwortete Gottfried errötend.

»Bei meinem Schwert, wunderliche Bräuche habt ihr«, spottete Ingram. »Zwei Sklavinnen halte ich, und wenn mir's gefällt, umschlingen sie mich mit ihren Armen, aber beide gebe ich hin und jedes andere Weib der Erde, wenn ich die Jungfrau gewinne, um derentwillen wir reiten. Gern erfreut sich der Mann seines Lebens; wir anderen sind wie die Vögel, welche lustig singen und ihr Nest bauen, du aber bist wie ein grauer Kauz, der im Baumloch sitzt, und alle Vögel schreien ihn an.«

»Auch meinem Leben fehlt die Freude nicht«, versetzte Gottfried lächelnd, »froh bin ich, daß ich mit dir reise, wenn du mich auch gering achtest; denn ich möchte dir helfen bei einem guten Werke.«

»Was hast du davon, wenn es uns gelingt, die Gefangenen loszukaufen?«

[] »Ich tue nach dem Gebot Gottes, des allmächtigen Himmelsherrn.«

»Ist dein Herr allmächtig, wie du sagst, und gibt er dir Befehl, Gefangene zu lösen, so wundert mich, daß er nicht vielmehr den anderen wehrt, Gefangene fortzutreiben.«

»Frei hat Gott die Menschen geschaffen, damit diese sich selbst ihr Schicksal bereiten. Aber wie du die Perlen übersiehst, welche an einer Schnur gereiht sind, so übersieht der große Gebieter alle Taten, ja auch alle Gedanken jedes Erdgeborenen, und danach schätzt er die Tüchtigkeit des Mannes, ob er ihn in jenem Leben heraufhebt unter seine Bankgenossen, oder ob er ihn hinabstößt in das Totenreich des üblen Drachen. Darum tut dem Menschen not, unablässig zu sorgen, daß er nach dem Gebot seines Gottes tue.«

»Wahrlich«, rief Ingram, »das ist harter Dienst, und wie Knechte lebt ihr im Zwange, ich aber rühme mir den Mann, der den Überirdischen ihre Ehre gibt, aber wo er etwas wagt, vor allem fragt, ob es ihm selbst Ansehen bringe und Vorteil.«

»Ist nicht auch dir eine Ehre, wenn die Frauen deiner Landsleute danken, daß du sie aus den Mühlen der Sorben gelöst hast, und wenn du die unschuldigen Kinder von den Schlägen erledigst, von dem Hunger und von schmachvollem Dienst unter dem schmutzigen Volke?«

Ingram dachte nach. »Es sind die Kinder unserer Nachbarn jenseit der Berge, und manches davon habe ich vielleicht auf dem Arm gehalten, dir aber sind sie fremd. Kein Jahr vergeht, wo nicht in allen Ländern Herden von ihnen zu Markte getrieben werden.«

»Hätte ich Gold und Silber«, rief Gottfried, »alle wollte ich lösen, wäre ich ein großer Held, alle wollte ich retten.«

»Wohl erkenne ich, ihr Christen haltet zueinander wie Nachbarn und Freunde.«

»Mein Vater hat mir geboten, daß wir auch die Heidenfrauen und ihre Kinder zurückführen, wenn es uns gelingt«, versetzte Gottfried.

»Dann werden andere gefangen«, warf Ingram ein.

»Dazu sind wir in die Welt gesandt, daß wir die Gebote verkünden des himmlischen Königs, der so voll Erbarmen ist, daß er jedem Glück und Heil bereiten will auf der Männererde und im Himmel. Wenn erst alle seinen Geboten folgen, dann wird keiner den anderen verhandeln wie ein Kalb oder ein Rind, sondern er wird ihn betrachten, so wie geschrieben steht: nach dem Ebenbild Gottes ist der Mensch geschaffen, und aufrecht soll er gehen unter den Tieren, welche mit gebeugtem Haupt die Knechtschaft tragen.«

Ingram schwieg eine Weile. »Alles rote Gold der Zwerge, von dem sie sagen, daß es nicht gemessen werden kann, würde nicht ausreichen zu einer Befreiung aller Gebundenen, und du, der du [] unkriegerisch bist und von zartem Leibe, willst dich solcher Arbeit unterwinden?«

»Ein Krieger bin ich, du merkst es nur nicht«, versetzte Gottfried, »demütig vor meinem Herrn, aber stärker, als du glaubst. Verzeihe mir, Herr, daß ich mich vor ihnen rühme«, setzte er hinzu.

Ingram maß ihn mit den Augen, die zarte Jünglingsgestalt und der milde Ausdruck des begeisterten Antlitzes bewegten ihm das Herz, und er sprach leise: »Viel geheimes Wissen, so meinte auch Bubbo, der Bärenführer, ist euch zuteil geworden. Ich fürchte, ihr möchtet es gebrauchen anderen zum Nutzen oder zum Schaden.«

»Jedermann freundlich sein und niemandem schädlich, ist meines Herrn Gebot«, versetzte Gottfried feierlich.

»Einem lichten Gott mag dieser Befehl wohl anstehen«, warf Wolfram ein, der bis dahin am Reh und Bier sein Bestes getan hatte und sich jetzt zufrieden vor das Feuer streckte. »Aber auf der Männererde ist es schwer, mit solcher Lehre durch den Wald zu reisen. Glaube mir, Fremder, auch hierzulande haben wir Übermenschliche, die ganz denselben Sinn haben, den du an deinem Gotte rühmst. Siehst du an der Bergleite den vorhangenden Stein? Dort«, sagte er leise, »wohnt ein Geschlecht von guten Zwergen, freundliche kleine Leute, nie hat man gehört, daß sie jemandem ein Leid getan. Aber wer ihnen bei der Waldfahrt von seinem Reisevorrat hinlegt, der hat Glück auf dem Wege, und schon manchem haben sie zugewinkt und dürre Blätter und Nüsse geboten; diese wurden in seinem Reisesack bei Nacht zu Golde. Ist der, dem du dienst, ein Zwerg, so mag er wohl von den guten sein, denn es gibt auch arge.«

»Viel Ungehöriges mischt deine Rede, Wolfram«, versetzte der Mönch, »der Christengott spendet nicht Blätter und Nüsse, und er gibt kein Angebinde, welches das Glück im Hause des Menschen erhält.«

»Dennoch gibt es solchen Schutz auf Erden«, sagte Ingram, »ich kenne einen Mann, dem eine Gabe für sein Geschlecht verliehen wurde von den Schicksalsfrauen; ich kenne die Stelle, wo sie verborgen liegt, und ich weiß, daß sie ihren Segen bewährt hat durch viele Geschlechter.«

»O traue nicht auf den Zauber«, mahnte Gottfried eifrig. »Täuschend ist jede Gabe des Unholden. Hochmütig macht sie den Mann und maßlos, bis der Tag kommt, wo sein Hoffen sich ganz eitel erweist und der Herr ihn demütigt in seinem Stolz.«

Ingram lächelte. »Jeder berge, was ihn mutig macht, in stillem Herzen. Beide wollen wir als gute Gefährten nicht forschen, wo der andere seinen Schatz bewahrt. – Der Tau fällt früh, und morgen reiten wir auf wilden Wegen, nimm hier die Decke und verhülle die Glieder, daß sie dir nicht steif werden in der Nachtluft der Berge. Wecke mich, Wolfram, nach Mitternacht.«

[] Am nächsten Nachmittag sahen die Reiter baumloses Land vor sich. Die Stämme waren erst vor kurzem gefällt und an dem Rand des Waldes als Verhau geschichtet, denn noch standen die Stümpfe auf grünem Boden, jeder von jungem Aufschuß und wilden Stauden umgeben, und überall auf dem Grunde erhoben sich die niedrigen Büsche. Als die Reisenden einer nach dem anderen durch eine schmale Lücke des Verhaues gedrungen waren, erkannten sie vor sich mehrere Reiter, welche zuerst das Lärmzeichen anbrannten, daß eine hohe Rauchwolke emporstieg, und dann von niedriger Anhöhe, schreiend und die Waffen schwenkend, auf sie zukamen, Männer in langem Graurock von Hanf gewebt und mit Pelz besetzt, obgleich es Sommerzeit war, eine dicke Pelzkappe auf dem Haupt, mit Keule und Hornbogen bewaffnet; kleine behende Leiber, breite Gesichter mit großen Schnauzbärten und braunem schlichten Haar, wild drohten und riefen sie. Wolfram ritt vor und gab in ihrer Sprache Bescheid. »Aus Thüringen sind wir, in Frieden kommen wir, Ingram der Held und ich sein Mann, und der dritte ist Gottfried, ein Bote des Herrn Winfried.«

Die Reiter fuhren untereinander und redeten mit heftigen Gebärden, bis einer, der einen Bund Adlerfedern an der Pelzmütze trug – es war Slavnik, die Nachtigall genannt, weil er bei den Trinkgelagen des Ratiz vorsang –, zu Ingram ritt und diesen in der Sorbensprache höflich begrüßte. Als der Thüring ihm in derselben Weise auf den Gruß antwortete, neigte der Sorbe sich noch freundlicher und redete so hoch und weich wie ein Mädchen; was der Knecht erklärte: er freue sich sehr, aber die Reisenden müßten auf ihr Geleit warten nach Grenzbrauch. So hielten sie, und die Sorben schlossen hinter ihnen den Verhau.

»Gleich den Kindern sind sie«, rief Ingram, »und wie ein Kinderspiel ist ihr Wall, leicht setzt ein Roß darüber.« Aber der Sorbe hatte ihn doch verstanden und antwortete in deutscher Sprache, nur ungelenk: »Ich aber weiß einen Tag, wo der Rabe aus dem Land der Thüringe nicht über den Zaun flog, den das Eisen der Sorben um ihn schloß.«

»Du hast recht«, antwortete Ingram lachend, »ich fiel in den Zaun, und die Dornen ritzten den Leib.« Und beide Männer grüßten einander mit der Hand. So harrten die Reisenden wohl eine Stunde, da kam es von der Höhe wie eine dunkle Wolke, ein größerer Hauf Reiter wirbelte durcheinander, kleine und feurige Rosse, auf denen die Krieger mit hohem Knie saßen. Von allen Seiten drehten sie sich um die Fremden, die Nachtigall gab ein Zeichen, und vorwärts ging es auf dem kurzen Rasen in hellem Haufen, die Fremden in der Mitte. Vor ihnen breitete sich ein weites Tal, mit einzelnen alten Bäumen besetzt, unter denen die Sorbenkrieger und ihre Pferde im Sommer den Schatten suchten; im Tale war ein Ringwall [] aus Erde und Rasen errichtet, darin das runde Dorf mit Strohhütten, deren Dächer fast an die Erde reichten, wie das Lager eines Heerhaufens lag es da. Ganz in der Mitte des Dorfes erhob sich ein rundlicher Hügel, wieder mit einem Ringwall bekrönt, welcher die Halle des Ratiz und die Hütten seines Hofes umschloß. Auf langer Stange ragte sein Banner und wehte den Fremden zu. Mit heißen Wangen rief Ingram zu Gottfried: »Bei meinem Haupt, wenn ich nicht unversehrt hinausführe die, welche wir suchen, so will ich nicht rasten und ruhen, bis ich brennendes Werg an meinem Pfeil sehe und bis der Pfeil haftet an diesem Mausenest.«

»Zürne nicht in dieser Stunde, mein Reisegesell, sondern flehe, daß der Herr uns gnädig sei.«

Das Dorftor wurde geöffnet, die Reiter stoben durch die Lagergasse und über den runden Platz am Fuß des Hügels. Dort kauerte am Dorfteich ein Haufe halbnackter Weiber und Kinder, bleich die Gesichter und verworren das Haar. Ingram spornte sein Roß und fuhr aus dem Trupp auf das Wasser zu, aber die Sorbenreiter verlegten ihm mit zorniger Miene den Weg und faßten die Waffen.

»Bedenke, Herr, wer die Ware ergreift, bevor er sie gekauft, zahlt teuren Preis«, warnte Wolfram leise. Und weiter ging es in schnellem Roßlauf den Hügel hinan. Wieder wurde der Balken eines Tors zurückgeschoben, die Rosse stampften in dem weiten Hofraum, die Fremden wurden zur Halle vor das Angesicht des Ratiz geführt.

Inmitten seiner Vertrauten saß der Slawe auf einem Stuhl mit hoher Lehne und Seitenarmen wie ein Fürst, auf Schemeln um ihn her am Tisch die Führer seiner Haufen, wilde Gesichter darunter mit großen Narben. Der Häuptling war ein starker Krieger, vierschrötig und mit kurzem Hals saß er da, in dem breiten Gesicht standen die Augen schräg, dünn und grannig war der Bart. Die Fremden neigten sich, Ratiz aber blieb mit seinem Gefolge sitzen und bewegte unmerklich das Haupt.

»Frage einer den Kater«, rief Ingram zornig, »ob es Brauch seines Stammes ist, Fremde so zu begrüßen.« Der Sorbe winkte einem Mann mit langem weißen Bart, der in der Reihe saß, dieser trat an die Fremden und begann in deutscher Sprache: »Mein Herr, Ratiz, grüßt die machtvollen Herren, und er tut ihnen diese Frage. Ihm ist berichtet, daß einer von ihnen weit herkommt aus dem Lande, wo der große Herr der Franken auf dem Goldstuhl sitzt; ist einer aus diesem Lande gesendet, der nenne sich.« Der Mönch antwortete: »Ich bin es, Gottfried, der Bote Winfrieds, des Bischofs.«

Befremdet sahen die Slawen auf den Jüngling in schmucklosem Gewande; mit gefurchter Stirn redete Ratiz zu seinem Sprecher, und dieser erklärte: »Meinem Herrn deucht, wenig Achtung bezeigen ihm die Gewaltigen der Franken, daß sie ihm einen Boten senden, der so jung ist und in so ärmlichem Kleide wandelt.«

[] »Ich bin ein Christ und dem großen Gott des Himmels verlobt, Sünde ist mir, ein anderes Gewand an meinem Leibe zu tragen als dies härene Kleid. Ich komme, obgleich ich jung bin, weil mein Herr mir vertraut.«

Wieder sprach der Slawe heftig zu einem seiner Genossen, dieser verschwand aus dem Saal. »Mein Herr fragt dich«, fuhr der Sprecher fort, »ob du einer von den Weisen bist, welche das Geheimnis besitzen, von Tierhaut die Gedanken der Männer zu erkennen, und ob du von denen bist, welche die fremde Sprache verstehen, die sie Latein nennen.«

»So ist es«, erwiderte Gottfried.

Auf die Deutung des Sprechers wich der Groll in dem Gesicht des Sorben einem großen Erstaunen. Der Bote kam zurück und brachte ein zerdrücktes und gebräuntes Pergament. »Meinem Herrn Ratiz wird es schwer zu glauben, daß ein Jüngling wie du so großer Dinge mächtig sei, er wünscht, daß du ihm eine Probe ablegst von deiner Kunst und den Männern die Gedanken verkündest, welche für den Kundigen auf dieser Haut zu erkennen sind.« Gottfried entfaltete das Pergament. »Zuerst sage uns, warum uns undeutlich ist, was darauf verzeichnet ist.«

»Es ist Latein«, versetzte Gottfried, »und man muß es lesen können.«

Ratiz schlug mit der Hand auf den Tisch und nickte zur Bestätigung stark mit dem Haupte. »Du hast das Richtige gesagt«, wiederholte der Mann, »wenn es dir gefällt, so verkünde uns das Latein.«

Gottfried überblickte das Blatt, es war die zerrissene Urkunde eines alten Frankenkönigs, welche die Slawen vielleicht bei einer Plünderung geraubt hatten. Der Mönch begann: »In nomine domini, sanctae et individuae trinitatis. Amen.« Indem er sich bei den heiligen Worten verneigte, schlug Ratiz wieder auf den Tisch und sprach feierlich zu seinen Genossen, worauf der Alte erklärte: »Mein Herr ist zufrieden, daß du ihm bestätigst, was er schon weiß; es ist der Brief, den der große Herr der Franken an meinen Herrn geschrieben hat, ein Fürst dem anderen, daß er mißbillige und abtun wolle die Ungerechtigkeiten seiner Grenzgrafen und daß dein Herr meinem Herrn Freundschaft anbiete. Wir wußten, daß dies darin steht, und deshalb freuen wir uns deiner Worte.« So prahlte der schlaue Räuber, um seine Gesellen zu täuschen. Bevor Gottfried sich von seinem Staunen erholte, hob sich Ratiz, trat auf ihn zu, strich ihm an beide Wangen, als ob er ihn küßte, und forderte die Diener auf, einen Stuhl neben den seinen zu rücken, damit der Mönch sitze. »Dich grüßt mein Herr als den Gesandten deines Herrn, und er bittet, daß du die Botschaft von dem großen Herrn der Franken verkündest.«

[] »Wenig habe ich zu sagen im Auftrage meines Herrn Winfried, des Bischofs, und dies Wenige ist vielleicht nur für das Ohr des Herrn Ratiz«, versetzte der Mönch vorsichtig.

»Weise sprichst du, Herr Gottfried, Heimliches der Herren ist nicht für jedermanns Ohr; geruhe zu harren, bis die Zeit kommt.«

Da der Alte dem Mönch einen Stuhl bot, trat Ingram an den Tisch, hob einen leeren Schemel, stellte ihn dröhnend auf den Boden nahe zu Ratiz und setzte sich ebenfalls. Schweigend ertrugen die Sorben diesen Eigenwillen, jetzt aber wandte sich Ratiz zu ihm, und der Sprecher erklärte die stolzen Worte: »Mich wundert's, Ingraban, daß du kommst, dich an meinem Tische zu lagern, ungeladen und unbefreundet in meinem Volke. Tut dir ein Sessel not, weil die Wunden dich schmerzen, welche dir das Messer meiner Krieger gehauen hat?«

»Geheilt sind die Ritze, und niemand spricht mehr davon«, versetzte Ingram. »Die Leute rühmen nicht den Wirt, der den Fremdling zwingt, sich selbst den Schemel zu tragen.«

»Lange warst du Feind meinem Volke, niemand weiß, was dich in unsere Halle führt, denn kein Herdenvieh treibst du, wie ich höre, welches die Sorben deinem Volke als Zahlung auferlegt haben.«

»Vergebens mühst du dich, mich durch Worte zu kränken. Friede ist beschworen zwischen den Thüringen und deinem Volk, und friedlich komme ich, wie der Händler kommt zu Kauf und Tausch der Gefangenen, die du auf deinem letzten Zuge hergetrieben hast.«

»Sendet dich der Mann, den sie Winfried, den Bischof nennen, und hast du dein Haupt in der Not gebeugt unter das Spiel ihrer Finger, wenn sie ein Kreuz machen?«

»Ich habe dem Glauben meiner Väter nicht abgesagt, als Reisegenosse führte ich den Mann des fremden Bischofs zu dir.«

Der Sorbe winkte seinen Gesellen, allen lag am Herzen, den Handel bald zu schließen, am liebsten durch Auslösung in das Frankenland; denn war der Raub zurückgekauft, dann hatten sie weniger um Haß und Rache der Franken zu sorgen. »Meinen Kriegern ist es nicht eilig, den Gewinn ihrer Jagd zu verkaufen, gefüllt ist das Lager mit Korn und Herdenvieh aus den Frankendörfern, und leicht vermögen wir die Gefangenen zu nähren, bis die Händler aus dem Süden kommen.« Und zu Gottfried gewendet, fuhr er fort: »Will der Bischof sich eine Gemeinde kaufen aus den Herden der Weiber und Kinder?«

»Mein Vater erbittet von dir als Gunst, daß du mir gestattest, die Gefangenen zu sehen und die zu begrüßen, welche unseres Glaubens sind.«

»Führt ihr mit euch, was Gefangene löst? Gering ist, so scheint es, euer Reisegepäck.«

»Wir denken dir zu bieten, was Gefangene erledigt nach Brauch [] der Grenze«, versetzte Ingram. »Doch wer kauft, will vorher die Ware schauen, zeige uns, wenn es dir gefällt, die gefangene Schar.«

Der Sorbe überlegte und sprach mit seinen Tischgesellen. Er wandte sich zu Gottfried: »Gern will ich deinem Herrn ein Zeichen geben, daß mir seine Botschaft wert ist. Ihr sollt Freiheit haben, die Gefangenen zu sehen. Geht, Fremdlinge, mein Alter wird euch begleiten.« Die Boten verneigten sich und verließen den Saal, sie hörten hinter sich Lärm und Gelächter der Bankgesellen.

Vor der Tür wurde der Weißbart vertraulich wie einer, der harten Zwanges entledigt ist, er nahm die Pelzmütze ab, verneigte sich tief und sprach überredend: »Wo die Raben jagen, findet auch die Krähe ihr Teil. Wenn es den Herren gelingt, Gefangene zu entledigen, so vertraue ich, sie werden auch dem Väterchen eine Spende reichen, denn mühselig ist mein Amt, in zwei Sprachen zu reden, und gute Dienste vermag ich euch noch zu tun.« Gottfried sah unsicher auf seinen Begleiter. »So ist ihr Brauch«, sagte dieser. Er löste von seiner Jacke die silberne Spange, den einzigen Schmuck, den er trug. »Nimm dies, Vater, als Zeichen guten Willens. Und wenn Bubbo, der Bärenhändler, das nächste Mal euch aufsucht, dann sende ich dir ein Stück rotes Tuch aus dem Westland.« Der Alte hielt demütig die Hand hin. »Will Herr Ingram mir dies beteuern?« Und als Ingram zwei Finger auf den Knauf seines Schwertes legte: »Ich schwöre dir's«, lachte der Alte zufrieden: »Euer Wort, Herr, gilt an der Grenze wie Ware.« Sie schritten über den Hof; am Torhause rief der Alte einige lungernde Krieger an, welche sogleich herzusprangen und den Fremden auf dem Fuße folgten; aber der Alte, um seinen Diensteifer zu beweisen, trieb sie befehlend mehrere Schritte zurück.

Vom Hügel stiegen sie hinab auf den Dorfplatz, dort stand am Teiche ein langes Haus wie eine Scheuer, der Beratungssaal der Gemeinde. Der Alte öffnete das niedrige Tor, und Ingram sprang voraus in den dämmrigen Raum. »Walburg!« rief er. Aus einer Ecke klangen zwei klägliche Stimmen: »Hier!« Überall rührte sich's auf dem Heu, womit der Boden belegt war. Zwei blonde Knaben umschlangen die Füße Ingrams und schluchzten laut. »Wo ist die Schwester?« fragte Ingram mit hohler Stimme. »Sie ist zum Ratiz hinweggeführt auf den Berg.« Die Zähne des Mannes knarrten wie eine Raspel, seine Faust ballte sich, und gleich darauf warf er sich neben den Kindern auf die Knie, umschlang sie, und heiße Tränen rollten auf die kraushaarigen Köpfe der Weinenden. In der Mitte des Raumes aber tönten die feierlichen Worte: »Kommt zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, spricht der Herr.« Durch die geöffnete Tür fielen die Lichtstrahlen auf das milde Antlitz des Jünglings, welches in Mitgefühl und Begeisterung wie das eines Engels strahlte.

[] Die Frauen und Kinder, welche unter dem Kreuzeszeichen lebten, drängten sich um ihn, manche fielen jammernd vor seine Füße auf das Angesicht, andere hoben die kleinen Kinder in die Höhe, daß er sie segne. Auch die Heidenfrauen hörten seine Worte mit gesenktem Haupt und falteten die Hände. Er aber sprach die heiligen Worte der Verkündigung und betete mit lauter Stimme, es ward still im Raum, und man hörte daneben nur Seufzen der Frauen und leises Weinen der Kinder. Dann trat er grüßend zu den einzelnen, segnete jede Mutter mit dem Christensegen und sprach ihr leise die Bitten vor, welche ihr zumeist am Herzen lagen. Bis der Alte kam und mit abgezogener Mütze dringend bat: »Gefällt dir's, Herr, so folge mir, damit Herr Ratiz uns nicht zürne.« Gottfried trat zu Ingram und rührte ihm leise die Schulter. »Wo ist das Weib, welches du suchst?«

»In den Hütten des Räubers«, war die klanglose Antwort.

»So laß uns gehen, daß auch ihr der Gruß meines Gottes werde.«

Mit Anstrengung erhob sich Ingram und schüttelte die weinenden Knaben ab. Gottfried führte diese zu einem Christenweib, das allein kniete, und sagte ihr: »Was du ihnen tust, tust du dem Herrn, sorge für ihr Wohl.« Als er sich aber zum Ausgang wandte, drängte sich der verzweifelte Haufe um ihn, sie streckten die Arme nach ihm aus, faßten krampfhaft sein Kleid und wollten ihn festhalten. Und es half wenig, daß der Alte die Armen anherrschte und durch die Peitsche zurücktrieb.

Mit schnellem Schritt eilten die Männer den Hügel hinauf. »Ich muß das Christenmädchen im Hofe des Ratiz sprechen«, begann Gottfried, und da der Alte das Haupt schüttelte: »Hindere mich nicht, Vater, mir ist's befohlen.«

»Ich wage den Zorn meines Herrn«, wandte der weißbärtige Sorbe ein. »Ich will deinen Lohn verdoppeln«, rief Ingram rauh. »Meinst du, wir werden dir das Weib aus der Hütte stehlen?« Der Alte lächelte und nickte und führte sie den Rand des Hügels entlang, wo im Schutze des Walles eine Anzahl niedriger Strohhäuser stand. »Zwanzig Frauen hat Herr Ratiz, und bei einer haust das fremde Weib, wohl möglich, daß er ihr in kurzem eine neue Hütte baut, wenn sie ihm nicht verleidet wird.« Ingram stieß die Tür auf, aber sein Fuß zauderte einzutreten. »Geh voran«, raunte er dem Mönch zu. Aber aus dem Gemach rief eine tiefe Frauenstimme: »Ingram«, ein junges Weib schritt bei dem Priester vorbei und faßte den Zögernden bei der Hand. »Mir ahnte, daß ich dich noch sehen würde, denn treu war dein Herz unserem Hofe.« Und als sie seinen starren Blick sah und den Schmerz in seinem Gesicht, rief sie: »Du Tor, würde ich sonst mit dir reden?« Da wollte er sie in die Arme schließen, sie aber entwand sich ihm. »Hättest du neben dem Vater gestanden, die Weide hätte uns nicht geschnürt. Auch jetzt sehe [] ich dich anders vor mir, als ich dachte. Wo sind die Speere der Landgenossen, welche sich die Weiber und Kinder ihrer Freundschaft zurückfordern? Nicht mich meine ich, denn ich fürchte, meine Tage sind gezählt, aber die Brüder meine ich, den Haufen der Weinenden, die auf dem Stroh harren, bis der Sklavenhändler sie in die Fremde treibt.«

»Mit diesem komme ich, um wegen der Lösung zu handeln«, antwortete Ingram, auf den Mönch deutend.

Erstaunt sah das Weib in das fremde Jünglingsgesicht, und als Gottfried die Hand erhob, das heilige Zeichen zu machen, da beugte sie sich langsam nieder, bis sie auf dem Boden kniete, und sprach das Bekenntnis des Christenglaubens. »Segne mich, heiliger Mann, und bitte für mich. Ja, bitte für mich!« rief sie mit plötzlichem Ausbruch bitteren Schmerzes, »daß ich Erbarmen finde, wenn ich tue, was dem Herrn mißfällt. Gebetet habe ich und mich bereitet, wie meine Mutter mich's gelehrt.«

Gottfried segnete sie. »Ich allein bin der Richter, spricht der Herr, und alle Rache ist mein«, mahnte er leise. Sie erhob sich stumm und wandte sich wieder zu Ingram: »Selten verläßt mich die Hüterin, schon zankt sie draußen mit dem Weißbart. Lebe wohl, Ingram, beide hoffen wir auf die Lösung durch dich oder mich. Ein ehrlicher Freund warst du, denke künftig mein und wisse, daß ich dir zuweilen verhehlt habe, wenn ich dich lieber kommen als gehen sah. Willst du mir noch einen Freundesdienst tun? Mühselig ist es, Herdholz zu spalten, wenn das Messer fehlt, die Weiber hier haben mir alles genommen. Sie sagen, der Freund soll dem Freunde nichts schenken, was schneidet. Du aber schenke mir, wenn du willst.«

Ingram riß sein Messer vom Gürtel, sie barg es in ihrem Kleide und küßte ihn auf die Stirn, wie man ein geliebtes Kind beim Abschiede küßt. Er sprang hinaus, wo der Mönch seiner wartete, stieß an die Frau des Ratiz, die er nicht sah, und hörte die Schmähungen nicht, die sie hinter ihm herrief. Es war ihm jetzt alle Rede der Menschen wie Gezwitscher der Vögel.

Während sie der Halle in der Mitte des Hofes zuschritten, berührte ihm Gottfried den Arm: »Du bist außer dir und hörst nicht meine Worte, und doch tut es not, daß wir uns zum Kauf rüsten. Denke daran, wie wir die Lösung bieten.«

»Bei meinem Haupt«, rief Ingram, »jede Lösung ist mir verhaßt außer einer, daß ich mit dem Räuber kämpfe, Eisen gegen Eisen.«

»Doch zu freundlichem Loskauf bewahre ich dir noch den Becher.«

»Besser wird der Zauber des Christengottes in deiner Hand wirken als in meiner«, versetzte Ingram finster, »denn mir scheint, er öffnet dir die Herzen, daß sie alle dich mehr ehren als einen Krieger.«

[] Sie traten in die Halle, ungeduldig rief ihnen Ratiz entgegen: »Euch war mühsam, die Gefangenen zu zählen, lästig ist der Iltis im Hühnerhofe, jetzt gilt es zu kaufen, wenn ihr in Wahrheit als Händler kommt und nicht als Späher.«

»Als Bote komme ich«, versetzte Gottfried, »du weißt das, denn du selbst hast durch Meginhard, den Priester, mich von meinem Herrn, dem Bischof, erbeten. Und Herr Winfried sprach, da ich schied: Mir ziemt nicht, wie ein Händler mit dem Helden Ratiz um den Kaufpreis zu markten. Aber ein Königsgeschenk will ich ihm bieten gegen die Gefangenen seines letzten Zuges, und meinen guten Willen, wenn er ihn begehrt, gegen den seinen, Gabe um Gegengabe in freundlichem Tausch. Und Held Ingram soll der Bote des Geschenkes sein.« Gottfried zog die Kapsel aus dem weiten Gewande und löste die Hülle.

Ingram hatte allmählich doch an dem Gespräch Anteil genommen, jetzt trat er zu dem Mönch und sagte schnell: »Gib ihn nicht aus der Hand; wer den Vogel verkauft, muß ihn festhalten, daß er nicht entfliege.« Er faßte den Becher und hielt ihn dem Sorben hin. »Sieh zu, wie das Prachtstück aus einem Königsschatz neben deinem Metkrug stehen wird.« Der Sorbe vermochte einen lauten Ausruf des Vergnügens nicht zu bergen, als er das glänzende Metall und die Figuren sah; auch seine Gesellen drängten sich um den Becher, Kopf an Kopf, summten einander ins Ohr und lachten über die kleinen Gestalten darauf. »Ehrwürdig ist Winfried, der Bischof, weil er mir solche Gabe sendet«, rief Ratiz, »gestatte, Held Ingram, daß ich prüfe, wie schwer sie ist.«

»Meine Hand bleibt darüber, Sorbe«, sagte Ingram, »noch ist der Becher mein.«

»Noch ist er dein«, bestätigte Ratiz nachdenkend und wog mit der Hand. Er rief den Sprecher mit weißem Bart. Dieser nahm vor dem Becher achtungsvoll die Mütze ab, besichtigte ihn unter Ingrams Hand genau und berührte ihn mit der feuchten Zunge von innen und außen, holte sein Messer hervor und machte einen Einschnitt in den unteren Rand, um nach dem Bruch zu sehen, dann sprach er leise zu seinem Herrn.

»Und dies ist die Bedingung für das Geschenk des Bischofs«, fuhr Ingram fort, »du gibst zuerst in unsere Hände ungeschädigt Walburg, die Tochter Willihalms, des Franken, den du erschlagen hast, und ihre zwei Brüder, zum zweiten die anderen Gefangenen eurer letzten Beutefahrt vom ältesten bis zum jüngsten, und zum dritten Goldfeder, das Pferd Willihalms, und zwei gute Rinder als Reisekost für die Erledigten.«

Bei dem Namen Walburg fuhr der Sorbe auf, doch bändigte er seinen Unwillen, sah prüfend auf seine Gesellen und sprach: »Sehr selten ist das Silber aus dem Königsschatz, das ihr uns gezeigt habt, [] wenn es auch nur im Innern golden ist. Gefällt es euch, ihr Franken, so räumt auf kurze Zeit die Halle, damit wir in Ruhe beraten.«

Gottfried bemerkte, daß er den Becher kälter ansah, den Ingram im Angesicht der Sorben hoch in die Höhe hielt. Der Thüring barg das Gerät in der Kapsel, und die Boten traten ins Freie. »Jetzt sinnen sie auf Hinterlist«, rief Ingram verächtlich.

»Sie scheuen meinen Herrn Winfried«, versetzte der Mönch ruhig. »Ich lobe dich, daß du die Rinder erbeten hast, denn schwer wäre es, dreißig und ein Menschenhaupt in den Bergen zu speisen. Aber wozu forderst du das Roß?«

»Fürwahr als ein unkriegerischer Mann fragst du: hoffst du, daß Willihalm in dem Grabe, das ihr ihm geschaufelt, Ruhe finden wird, wenn ein Sorbe auf seinem Leibroß reitet? Soll er zu Fuß wandeln über den Wolkenstieg, und wenn die Helden in der Nacht reiten, hinter ihnen herlaufen wie ein Troßbube?«

Gottfried bekreuzigte sich. »Im Himmel der Christen bedarf es eines Roßgespenstes nicht.«

»Er war ein Kriegsmann, wenn er auch Christ war«, versetzte Ingram stolz. »Was aber will der Slawe von der Gunst deines Bischofs?«

»Vielleicht will er Grenzgraf der Franken werden und über dem Sorbendorf seine Burg bauen«, versetzte Gottfried lächelnd.

Ingram stieß einen Fluch aus. »Und ihr möchtet ihm dazu helfen?«

»Du weißt, daß er Christen erschlagen und geraubt hat«, antwortete Gottfried.

In der Halle war lange Beratung und heftiger Zank der Männer. Endlich lud der Weißbart zum Eintritt. Wieder hob Ingram den Becher empor, aber die Sorben wandten die Blicke ab. Ratiz begann: »Unmäßig sind die Gaben, die ihr für euren Bischof fordert, aber meine Edlen wollen Spende um Spende geben, ohne viel zu schatzen. Die Gefangenen, welche noch nicht geteilt sind, sollt ihr als Gegengabe nehmen, dazu ein Rind, dreijährig, von fetter Weide. Nur zwei Häupter weigern wir euch, Walburg und Goldfeder, den Falben. Die Magd ist ein Ehrengeschenk meines Volkes für mich, und das Roß steht im Stalle des Helden Slavnik, welcher mir der nächste ist an Ehren und Schlachtenruhm. Ihr bringt das Geschenk nach eurer Wahl, wir senden das unsere ebenso.«

»Herr Winfried hat mit seiner Hand den Leib des Franken Willihalm bestattet und an seinem Grabhügel gelobt, für die Kinder zu sorgen«, antwortete Gottfried, »bedenke, Herr, du würdest ihm nicht freundlichen Sinn erweisen, wenn du das Christenweib zurückhieltest.«

»Nur um des Weibes willen nahm ich den Becher von dem [] Fremden und ließ mir gefallen, seinen Boten zu geleiten, und vor den anderen suche ich das Weib bei dir«, rief Ingram zornig.

»Darum also bist du in das Haus meiner Frauen gedrungen«, versetzte der Sorbe lauernd. »So höre meine letzten Worte: die Knaben entsende ich dem Bischof, das Weib bleibt mein. Widerstehst du dem Tausch, dann enthebe dich mit dem Becher, zu lange hast du in unserem Lager geweilt, und achte darauf, daß du ihn wohlbehalten heimwärts bringst. Ohne Geleit bist du gekommen, und ohne Geleit scheidest du.«

»Was sinnst du auf heimlichen Überfall im Walde; fürchten die Sorben den Kampf auf offnem Felde?« rief Ingram. »Hier stehe ich, du listiger Mann, und erbiete mich, um das Weib zu kämpfen gegen jeden deiner Krieger, ja gegen zwei. Stelle gegen Ingraban und den Raben zwei deiner besten Krieger auf den stärksten Sorbenrossen, und die Götter walten des Sieges.«

Auf diese Herausforderung sprangen die Sorbenkrieger von ihren Bänken, und ihr Geschrei schwirrte durch die Halle, aber der Häuptling zwang sie mit einer Handbewegung auf die Sitze zurück und versetzte: »Manche rühmen die Kraft deines Armes, aber durchaus nicht rühmen kann ich den Sinn deiner Rede. Töricht wäre ich, wenn ich meine Krieger auf das Kampffeld senden wollte, um etwas zu erwerben, was ich bereits durch Speer und Roß gewonnen habe. Und wenig Ehre wäre es meinen Helden, wenn sie um eine kauernde Sklavin im Ringe kämpften. Einen anderen Kampf biete ich dir, der im Frieden besser geziemt. Ich höre, daß du des Bechers kundig bist, wie dem Manne gebührt, auch mich hat nicht leicht ein Gegner beim Trinkkruge gefällt. Wohlan, laß uns unsere Kraft prüfen; du setzest dein Roß, den Raben, und ich das Frankenweib, der Sieger empfängt beide. Das scheint mir guter Rat.«

Lauter Beifallsruf erscholl um den Tisch, nur Ingram stand betroffen. »Das Roß gehört zum Manne wie das Schwert, und unfreundlich wird dereinst der Gruß meiner Ahnen, wenn ich die Zucht meines Rosses in ein Sorbendorf liefere. Das fürchte ich sehr; dennoch setze ich dir zwei Hengste von dem Stamme des Raben, fünfjährig und vierjährig, edler als einer von deinen Gäulen. Nur mein Schlachtroß, das mein bester Freund war, wo kein Arm eines Menschen mir half, das behalte ich zurück.«

»Unbekannt sind die Gewinne, die du bietest, und weit ist der Weg zu deinem Stall. Der Rabe und die Gefangene, beide sind hier im Hofe, das ist gerechter Wettstreit.«

Ingram stand in heftigem Kampfe. »Wohlauf, bei den Schicksalsfrauen meines Geschlechtes, her die Becher, und der Streit beginne.«

Wieder scholl fröhlicher Lärm der Sorben, wie ein Schrei der [] Teufel klang er in Gottfrieds Ohr. »Ruchlos ist das Becherspiel um ein Menschenleben«, rief er dazwischen tretend.

Ratiz winkte höflich abwehrend, Ingram aber versetzte unwillig: »Wenig Glück hat mir das Silber deines Bischofs gebracht, weiche von mir, daß ich zu meinem Gott flehe, ob er mir helfe.«

Der Alte trug einen großen Metkrug und zwei Becher zu, beide ganz gleich aus Maserholz gedreht. Er wies den gefüllten Krug und die leeren Becher den Kämpfern, diese sahen ernsthaft hinein und prüften die Gefäße. Darauf füllte der Weißbart einen Becher bis zu dem Strich, welcher den Rand bezeichnete, goß den Met aus dem ersten in den zweiten, um die Größe zu erweisen, und rückte zwei gleiche Schemel ohne Lehnen an den Tisch. Die Helden ergriffen die Becher, wandten sich abwärts nach der Himmelsgegend, vor welcher sie zu den Göttern flehten, und murmelten leise das glückbringende Lied. Dann lösten beide die Waffen von ihrer Hüfte, der Slawe gab das Krummschwert einem Genossen, Ingram aber rief: »Allein bin ich in der Fremde, frage, Alter, ob einer unter den Sorbenkriegern mir ein treuer Schwerthüter sein will bis zum Ende des Kampfes.«

Gottfried machte eine Bewegung, aber Ingram wies ihn mit der Hand ab, und der Mönch trat mit hochgeröteten Wangen zurück. Da erhob sich ein junger Sorbenkrieger von stolzem Aussehen, Ingram sah ihm in das Gesicht und sagte: »Wir sahen uns sonst wohl auf blutigem Felde, Held Miros.« Der Krieger gelobte treue Schwertwache und setzte sich zur Seite hinter Ingram, das Schwert haltend. Die Kämpfer ließen sich auf den Stühlen nieder, ruhig waren ihre Bewegungen und gemessen ihre Haltung, denn wer heftig den Sinn regte, der kam bei diesem Spiel in Gefahr. Und der Weißbart rief laut: »Außer den Herren, welche auf dem Kampfstuhl sitzen, schweige jeder, daß nicht seine Rede den Sinn der Zecher verwirre. Den Herren aber ziemt im Kampfgespräch zu bedenken, daß jede Wunde, die ihre Zunge schlägt, verschmerzt sein soll am nächsten Morgen.« Darauf rückte sich der Sprecher einen niedrigen Schemel mitten zwischen die beiden und wiederholte, was einer sprach, geschickt in der Sprache des anderen. So weich und gewandt war die deutende Rede, daß sie wie ein Lied zwischen den harten Worten der Kämpfenden tönte.

Ratiz nahm zuerst seinen Becher, hob ihn und sprach: »Zu gleichem Kampfe bringe ich den Met, Ratiz, Sohn des Kadun, ein Herr in den Sorben«, und von der anderen Seite scholl es zurück: »Bescheid tut Ingraban, Sohn des Ingbert, ein freier Thüring.« Beide leerten die Becher und stürzten sie auf den Tisch. Der Alte füllte und verbeugte sich tief vor jedem der Herren. Wieder begann Ratiz:

»Schwarz ist der Vogel, nach dem du, wie ich höre, genannt bist, aber weiß ist der Aar, der über den Zelten meiner Krieger schwebt.

[] Ein Reh sah ich liegen am Quell im Walde, und auf ihm saß mit starken Fängen der Adler und schmauste, aber im Kreise herum krächzte die Schar der Raben und lauerte auf den Abfall.«

Ingram antwortete: »Den Namen erfinden dem Helden die lieben Eltern, und ungern hört er den Namen schmähen. Nicht weiß ich den deinen zu deuten, denn selten fragte ich nach deinem Geschlecht, doch rate ich, meide ihn zu gebrauchen bei meinem Volk, denn er klingt uns wie Ratte, das diebische Tier hinter dem Mehlsack.«

»Versteht ihr nicht Worte der Sorbenkrieger, ihre Schläge habt ihr doch oft gefühlt.«

»Fünf Panzer von Linnen und fünf krumme Schwerter, die Beute der Walstatt, zähle ich an der Wand meiner Halle, meinst du, daß deine Krieger gutwillig sie boten ohne Hiebe?«

»Mancher schleicht spähend beim Mondschein über die Walstatt, hinter den Wölfen sucht er den Raub und trägt bleichwangig und zagend die Habe erschlagener Helden sich heim in den Rauchfang«, versetzte Ratiz.

»Ist dir's verleidet, die Gefallenen zu zählen, die mein Schwert auf dem Rasen zurückließ, so zähle die Wunden derer, die leben. Mehr als einer von deinen Kriegern rühmt sich der Narben, die er mir verdankt.«

»Grund haben sie alle, dein Schwert zu preisen«, spottete Ratiz, »denn leicht heilten die Ritze, und sie lachen der Narben.«

»Schnellfüßige Läufer trifft leise der Schwertschlag, nur wer selbst starke Hiebe spendet, empfängt das gleiche Gastgeschenk«, versetzte Ingram.

»Gut sprichst du, Held«, rief Ratiz, »denn selbst birgst du nah am Herzen die Gastgeschenke, welche Sorbenschwerter dir schlugen.« Er winkte, sie tranken und stürzten die Becher.

Wieder füllte der Alte, und höflicher begann Ratiz: »Vergebens ist es, dich Held mit harten Worten zu necken, noch ist der Metkrug gefüllt und Zeit zu freundlicher Rede. Laß uns rühmen, was jedem das Liebste auf Erden ist. Vor allem gefällt mir der Herrensitz auf dem Hügel, um mich die Hütten der Krieger und vor mir, so weit das Auge reicht, die Rinderweide, die mein Schwert gewann.«

»Was das Schwert gewann, mag das Schwert verlieren; weiter als die Rinderherde schreitet und die Grenzzeichen ragen, reicht der Ruhm des tapferen Mannes«, versetzte Ingram.

»Ruhm gewinnt, wer Land gewinnt«, rief Ratiz.

»Ruhm gewinnt auch, wer sein Heimatland gegen den fremden Einbrecher verteidigt«, antwortete Ingram. »Ungleich ist unser Los. Ich stehe auf dem Erbe meiner Väter, du aber mühst dich um geraubtes Land.«

[] »Höher achte ich den wilden Stier, der mit seiner Herde über den Erdboden schweift, als die Jochkuh im Pferch«, rief Ratiz.

»Solange die Weisen gedenken, saß mein Geschlecht auf freiem Erbe«, sprach Ingram, »du aber kamst ostwärts aus der Fremde und niemand weiß woher.«

»Mein Volk weiß es«, versetzte der Sorbe stolz. »Dennoch tadle ich deinen Trotz nicht, denn wohlbekannt ist dein Name bei Freund und Feind. Gefällt dir's, Held, so verkünde uns die Abenteuer, die du erlebt.« Er bat so, um dem anderen die Redelust zu wecken.

Aber Ingram mied die Versuchung und versetzte: »Was ich erlebte, das wißt ihr wie ich, denn mein junges Leben haftete stets in der Heimat, und gewann ich Ruhm bei den Meinen, so war's nur in den Kämpfen mit euch, weil ich fest stand neben meinen Freunden und gegen euch als ehrlicher Feind.«

Wieder füllte der Alte die Becher.

»Oft rühmen meine Krieger«, begann Ratiz spottend, »deine erste Beutefahrt im Walde, damals als du dem Fuchse gleich nach Honigwaben ins Holz schlichest. Du hörtest die Bären und krochst hinauf in die Äste, unten schmausten die Bären den Honig, dich aber stachen die Bienen dahin, wo du saßest. Und heute noch hingst du, von den Speeren der Bienen zerstochen, am Aste, hätte dich nicht Bubbo, der Waldmann, erlöst.«

»Dafür liegen jetzt die Felle der Bären an meinem Herde«, versetzte Ingram lachend. »Wie gelang es dir doch damals, Ratiz, mit deiner Heldenfahrt, als du auszogst auf die Freite, um ein Weib der Thüringe zu gewinnen? Die Dorfknaben überfielen den Hof, in dem du lagertest, und als sie mit Schwertern die Hütte durchsuchten, entfloh deine Schar, du selbst aber bargst dich bedrängt in dem Backtrog, den die Weiber über dich stürzten, und Weizenteig hing in deinem Barte, als du schwertlos entrannst. Gern erzählen unsere Mägde am Herde von deinem harten Lager unter dem gehöhlten Holz.«

Finster packte Ratiz seinen Becher und stampfte ihn auf den Tisch. »Nützlicher war mir das gelungene Entrinnen als deinen Gesellen das fruchtlose Suchen.« – Er drückte seinen Grimm eine Weile schweigend hinab, dann rief er höhnend: »Höre dafür, was die Wila, die Schicksalsfrau der Sorben, mir einstmals sang.« Und er begann nach der Weise seines Volkes zu singen: »Alles wird dir wohlgelingen auf dem Felde, bei dem Trinkkrug, doch die allergrößte Freude sollst du haben, wenn ein fremder ungeschlachter Hüne in dein Lager dringt. Grob sind seine Worte und Gebärden, als ein armer Schlucker kommt er ungeladen, und er bettelt um ein Weib für seinen Herdsitz. Doch du wirst ihn wohl empfangen, höflich zu dem Becher laden, aber enge ist sein Schädel, Starkes kann er nicht vertragen. Hast du ihn in Met berauscht, bind ihm klug [] das Bein mit Seilen, scher ihm dann das Haar vom Haupte, setz ihn vor die Tür der Halle, daß die Weiber seiner lachen und die Kinder ihn bewerfen.«

Ingram versetzte finster: »Ich aber hörte eine Sage erzählen von Däumling, dem ruhmvollen Helden, den sie Gernegroß nannten. In dem Sandhaufen höhlte er sich mit den Händen seine Burg und deckte die Feste mit Stroh, das er von der Tenne mauste. Er sah von seiner Halle über die Maulwurfshügel und rühmte sich: alles ist mein, so weit mein Auge reicht, keinen stattlicheren Helden kenne ich auf Erden, nur eines fehlt mir zu meinem Glück, ich sende die Boten zum Hofe des Königs, daß ich Herzog werde über die Maulwürfe und Mäuse des Feldes. Da kam ein Bauer, und mit hartem Fuß zertrat er unversehens die Burg, und Held Däumling entfloh in ein Rattenloch und wand die Hände in Kummer.«

Der Sorbe fuhr mit der Hand nach der Schwertseite und griff heftig umher, als er die Waffe nicht fand; Ingram aber lachte laut über das vergebliche Suchen.

Wieder und wieder füllte der Alte. Dem Ratiz schwammen die Augen, und seine Hand wurde unsicher, wenn sie den Becher faßte. Er merkte die Gefahr und dachte schlau darauf, den Gegner zu verwirren. »Lustig sitzen wir hier im Gefecht der Zungen, lieblicher schlürft sich der Met, wenn wir mit unseren Augen auf das Weib schauen, welches der Preis des Siegers sein wird. Führt das Frankenweib her, daß wir uns am Anblick ergötzen.« Zwei seiner Genossen sprangen auf und eilten der Tür zu.

Ingram schlug auf den Tisch. »Unbillig störst du das Spiel, denn traurig ist es mir, die Tochter eines werten Mannes als Sklavin unter den Feinden zu schauen.«

»Lösen willst du sie doch, du starker Zecher, hast du Kraft, so erweise sie jetzt. Umbindet ihr nicht die Hände mit den Weiden, damit der Gast sie ohne Kränkung der Seele betrachte.«

Ingram sah finster vor sich nieder, und schwer wurde ihm das Haupt; die Männer schritten hinaus und führten das Mädchen in die Halle der Schweigenden. Walburg blieb an der Tür stehen, und ihr Blick umwölkte sich, als sie auf Ingram sah, auf die Trinker und die gleichen Becher. »Tritt näher, Frankenkind«, begann Ratiz, »denn um dich geht der Streit, ohne Schwertkampf der Helden sollen die Götter entscheiden. Im Maserholz schwenken wir deine Lose, ob du heimziehst mit Held Ingram, oder ob ich dir eine Hütte baue und ein Lager darin breite für dich und mich, wie ich hoffe.«

Empört rief das Mädchen dem Thüring zu: »Einen besseren Helfer habe ich mir erkoren, schmachvoll wäre mir die Lösung durch den Trinkkrug. Denke nicht, Ingram, dir ein Weib durch Met zu gewinnen, übe den Heidenbrauch um Sorbenmädchen, nicht um[] mich.« Sie wandte ihm den Rücken, trat in die Ecke, in welcher Gottfried saß, kniete an seiner Seite nieder und verbarg das Gesicht mit den Händen. Heiße Röte stieg in das Gesicht Ingrams, da sich das Weib verachtend von ihm wandte, undeutlich merkte er das höhnende Lachen der Slawen, er erhob sich vom Stuhl und rief in ausbrechendem Zorn. »Falsch war das Spiel, und verflucht sei der Becher, den ich noch trinke.« Er schleuderte den Becher auf den Boden, und zugleich mit dem Holze sank er selbst in schwerem Fall. Wilder Jubelschrei der Sorben durchtönte die Halle, sein Helfer, welcher das Schwert gehalten, trat zu ihm und gebot: »Tragt ihn unter mein Dach, damit ich ihm meine Treue erweise und ihn bei seiner Waffe bewahre.«

Ratiz aber erhob sich siegreich in trunkenem Mut und schritt auf das Frankenmädchen zu. »Mein bist du, doppelt gewonnen ist die rundliche Wange, und mein sollst du bleiben, nicht denke ich mit der Vermählung zu säumen. Auf, führt sie zur Hütte und ladet den Sänger, daß er das Brautlied spiele.«

Dicht vor ihm erhob sich von den Knien die Jungfrau, bleich war ihr Gesicht und hart der Blick, den sie auf den Häuptling warf. »Niemand vermöchte dich zu retten vor meiner Hand«, rief sie, »du Untier, das kaum den Vater gefällt hat und jetzt Unehre über die Tochter bringen will. Danke deinem Glück, daß ein Heiliger neben mir steht. Du rühmst meine glatte Wange, sieh her, ob sie dir noch gefällt.« Blitzschnell fuhr sie mit dem Messer aus dem Gewande, hielt es ihm entgegen, daß er zurückfuhr, schnitt mit dem Stahl sich eine klaffende Wunde in die Wange, daß ihr Blut herunterströmte, und hob den Stahl wieder gegen sich selbst. Da sprang Gottfried herzu und entriß ihr die Waffe. Ratiz stieß einen schweren Fluch aus und packte den Metkrug, um ihn gegen das Weib zu werfen, aber auch er taumelte und stürzte zu Boden, übermannt vom Met und vom Zorn. Die Sorben sammelten sich um ihren Häuptling, und Gottfried führte mit Hilfe des Weißbarts die wunde Jungfrau nach ihrer Hütte, dort suchte er das strömende Blut zu stillen und mit dem Sorbenweibe die klaffende Wunde zu binden.

In der Hütte des Miros saß spät am nächsten Morgen Ingram, das Haupt in der Hand, und seine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Auf dem Schoß hielt er das Schwert, welches sein Gastfreund ihm in die Hände zurückgelegt hatte. Miros stand vor ihm und erzählte von dem letzten Ausgang des Gelages und von der Wunde des Weibes. »Sie hätte den Faden ihres Lebens durchschnitten, denn ihr Sinn war wild, als der fremde Bote ihr das Messer entwand. Unnütz war die Mühe, das Messer wäre ihr rühmlicher gewesen, als die Keule des Ratiz sein wird.«

[] Ingram zuckte und griff nach seinem Schwert. »Was würdest du tun, wenn dir ein gefangenes Weib mit dem Messer drohte?« fragte Miros. Ingram nickte bestätigend mit dem Kopf. »Wäre sie tot durch rühmliche Tat, die sie selbst an sich vollbracht, und wäre der Ratiz durch mein Schwert erlegt, dann wäre ich wieder frei und könnte lachen«, murmelte er. »Jetzt aber bedrängt mich der Zauber, den die unholden Christenmänner durch ihren Gesang und durch ihr Silber auf meinen Weg geworfen haben. Darum hat mir der Gott, der des Trinkhorns mächtig waltet, seine Hilfe versagt. Auch ihn höhnten die Riesen durch ihre Wunder, und ruhmlose Kämpfe mußte er ausfechten. Mir ist das Leben verleidet, und die Heimkehr begehre ich wenig.«

»Bleibe bei uns«, riet der Sorbe teilnehmend, »und gewöhne dich an unseren Brauch, dann baut dir Herr Ratiz eine Hütte, und wenn du das Weib mit der zerrissenen Wange noch begehrst, so ist möglich, daß er dir sie schenkt, damit sie deinen Mühlstein drehe.«

Ingram lachte: »Könntet ihr vergessen, daß ich eure Krieger erschlug? Würde doch mein Schwert aus der Scheide springen, wenn es neben einer Sorbenkeule hinge. Wie kann Friede dauern zwischen euch und mir? Nein, Miros, anders raten mir die Schicksalsfrauen. Und du meinst, daß er sie töten wird?«

»Wie kann er anders?«

»So sage ihm, daß ich ihn zum Kampf fordere auf der Heide zwischen eurer und unserer Mark auf den sechsten Tag von heut.«

»Sage selbst solche Botschaft, wenn du Lust hast aus dem Sonnenlicht zu scheiden, auch du stehst unter seiner Hand, und wenn er dich entläßt, so weiß er, daß ein Todfeind frei von ihm reitet. Denke vor allem an das eigene Heil!«

»Du sprichst verständig, friedlich will ich von euch gehen oder gar nicht. Die Götter mögen auch mir das Los werfen. Der Becherkunst ist dein Herr mächtig, wie ich sehe, laß ihn versuchen, ob er auch das Würfelspiel versteht, sein Schicksal gegen das meine. Geh, mein Wirt, und trage ihm eine Botschaft, die er annehmen mag oder nicht nach seinem Gefallen. Noch einmal messen wir uns in friedlichem Kampf, wie der Würfel fällt, den unsere Hände gleiten lassen, um alles oder nichts; er setzt in das Spiel das Weib und mein Roß, das er gestern gewonnen, und ich –«

»Und du?«

»Mich selbst, ob ich frei davon reite oder als sein Gefangener hierbleibe, bis gütliche Schatzung vereinbart wird, welche mich löst, nach Brauch der Grenze.« Der Sorbe trat zurück. Er öffnete sein Hemd und wies eine Narbe. »Du weißt, wer mir diesen Schlag gab, denke daran, Held; unrühmlich wäre mir zu sagen, daß ein Knecht die Wunde geschlagen hat.«

Ingram reichte ihm die Hand. »Geh doch, Fremdling, tief bin ich [] verstrickt, und meine Stunde ist gekommen, wo ich die Hohen fragen will, ob sie retten oder verderben.«

Der Sorbe ging unzufrieden hinaus, Ingram legte das Haupt auf den Tisch. »Seit der Fremde den Mühlstein unter dem Baume heraufscharrte, ist das Glück von mir gewichen, und der Segen, den die Ahnen mir hinterlassen, hat seine Kraft verloren. Eine hat sich zornig von mir gewendet, ich aber will prüfen, ob ich noch die Kraft habe, sie durch meine Beschwörung zu gewinnen, oder ich will ihr Los teilen.«

Draußen klang der Tritt bewaffneter Männer. Ratiz trat ein, begleitet von einem Teil seiner Krieger. Ihm lagen die Augen noch tief im Kopf, und heiser war seine Stimme, als er sprach: »Du kamst als ein eifriger Spieler. Den ersten Kampf bot ich, den zweiten bietest du. Fürwahr, hoch achtest du dich selbst, lieber mag ich das Weib und das Roß als dich, und ungern tue ich deinen Willen. Aber meine Krieger fordern, daß ich dein Spiel nicht zurückweise. Dein Einsatz gilt, Roß und Weib für dich oder du für mich, ein Würfel und ein Wurf.«

»Weib und Roß, beide unversehrt zur Stelle für mich, oder mein Lösegeld für dich, so wie mich deine Krieger ehrlich schatzen«, versetzte Ingram.

»Wir werden dich ehren als Krieger, wenn wir dich schatzen«, bestätigte der Häuptling. »Beide wollen wir's geloben.« Die Männer faßten an ihre Schwerter und sprachen den Eid. »Hast du einen Mann«, fuhr Ratiz fort, »dessen Würfel du vertrauen kannst, wie ich ihm vertraue, so nenne den Namen.«

»Mein Wirt Miros«, antwortete Ingram.

Miros trat in eine Ecke der Hütte, holte den Würfel aus dem Kasten und stellte ihn auf den Tisch, einen Holzbecher dazu. »Ehrlich ist der Würfel und ehrlich sei das Spiel«, sagte Miros, »und jeder, der hier steht, gelobe dem Sieger treue Erfüllung.«

Die Männer schwuren, die Kämpfer traten beiseite und sprachen leise ihre Beschwörung. »Der das Spiel gefordert hat, tue den ersten Wurf«, gebot Miros. Er legte den Würfel in den Becher und bot ihn Ingram. Das Angesicht des Thürings war bleich und ebenso das des Ratiz, Stille war in der Hütte, und alle starrten auf den Tisch. Ingram schüttelte und warf. »Fünf«, rief Miros. »Ein guter Wurf«, sprach Ratiz, er nahm den Becher, schüttelte und warf. »Sechs«, rief Miros. Ein gellender Siegesruf, der weit über das Tal zog, erscholl in der Hütte, alle traten von Ingram zurück. Er stand einen Augenblick mit geneigtem Haupte, dann löste er sein Schwert und warf es auf den Boden. Ratiz legte die Hand auf ihn: »Mein Knecht bist du, holt die Weide und bindet ihm die Hände.«

Vor der Hütte des Ratiz, in welcher Walburg lag, saß der Mönch. Vor ihm tummelten sich wilde Gesellen mit den Rossen, die sie aus [] den Ställen gezogen hatten, und ansehnliche Sorbenkrieger eilten einzeln oder in kleinen Haufen zu der Halle des Häuptlings. Aber gleichgültig sah der Mönch auf dies fremdartige Kriegertreiben; er hatte die Nacht vor der Hütte gewacht, zuweilen war er eingetreten und hatte die Slawenfrau geweckt, welche neben dem Lager der Verwundeten lag, daß sie die Wunde mit kaltem Wasser netze, oder er hatte der Fiebernden einen Trunk gereicht und leise an ihrem Haupt gebetet. Jetzt schauerte sein erschöpfter Leib in der warmen Morgensonne, aber seine Gedanken flogen unablässig zu dem Christenmädchen in der Hütte. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er um ein Weib zu sorgen, er fühlte darüber eine wonnige Freude, lächelte vor sich hin und sah dann wieder ernsthaft und demütig nach der Höhe.

In der Nähe hörte er Eisengeklirr und schnellen Tritt, Ratiz stand mit seinem Gefolge vor ihm in Waffen, zum Auszug gerüstet, unter den Kriegern Ingram, waffenlos mit gesenktem Haupt, die Arme durch starke Weiden auf den Rücken gebunden. Ratiz wies auf die Sonne. »Weit ist dein Weg, junger Bote, und widerwärtig ist dein Anblick meinem Volke. Das Spiel, welches in meiner Halle begann, ist beendigt. Sieg und Ruhm haben mir die Götter verliehen. Dennoch will ich dir halten, was ich dir gestern bot, wenn du deinem Bischof mich rühmen willst. Gib mir das Silber und nimm die Gefangenen.«

»Willst du jetzt die Antwort des Bischofs auf deine Frage hören?«

»Sprich«, antwortete Ratiz, »ich und meine Edlen, wir hören.«

»Du begehrst Gesandte an den Hof des Helden Karl nach dem Westland zu senden, und du begehrst, daß mein Herr, der Bischof, ihnen Geleit werbe und geziemenden Empfang bei dem Frankenherrn. Habe ich recht deine Meinung gesagt, so bestätige mir sie vor diesen.«

»Seine eigene Sorge hat jeder Tag«, versetzte der Sorbe, »viele Monde ist's her, daß ich nicht an die Gesandtschaft dachte, meine Krieger fürchten nicht die Macht der Franken, wo sind ihre Heere, wir sehen sie nicht.«

»Hast du deinen Sinn geändert, dann bin ich der Rede enthoben.« Er trat zur Seite, Ratiz aber begann einlenkend: »Auf scharfer Waage wägst du die Worte, Fremder, noch ist es möglich, daß mir's gefällt, die Boten zu entsenden, vielleicht auch nicht.«

Gottfried schwieg.

»Will der Mann, den sie Winfried nennen, mir Bürge werden, daß meine Krieger am Hofe des Frankenherrn freundlichen Empfang finden und Gewähr ihrer Forderung?«

»Nein«, versetzte Gottfried nachdrücklich. »Deine Forderung kennt mein Herr nicht, wie kann er Fürsprech werden? Zu gewähren und zu versagen steht allein bei Herrn Karl, nur daß seine Boten [] das Ohr des Fürsten erreichen, dazu kann er helfen, und ob er dazu helfen wird, das steht bei dir. Auf seinem Wege sah er brennende Höfe und erschlagene Christen.«

»Du bist ein Fremder und unkundig des Grenzbrauches«, versetzte der Sorbe mit querem Blick, »nur Notwehr üben wir und Vergeltung. Auch unsere Krieger liegen erschlagen, und unerträglich sind die Frevel der Franken.«

»Du klagst über Unrecht der Franken, ebenso der Franke über das eure, der große Gott im Himmel allein weiß, wer den größeren Frevel gewagt hat. Jetzt aber suchst du das Ohr des Frankenherrn. Wie mag Herr Karl anders urteilen als sein Volk? Und du suchst die gute Meinung eines Bischofs der Christen, auch der Christ sieht das Unrecht, das den Bekennern seines Glaubens zugefügt ist. Ich kann nicht gehen, Herr, ohne das Weib in der Hütte und ohne meinen Gefährten, den ich schwertlos und gebunden sehe.«

»Er war dein Gefährte, jetzt ist er mein eigener Knecht. Sein Wille war's, verspielt hat der Narr sein Roß und sein Schwert, und in Banden harrt er des Schicksals, das wir ihm fügen.«

Ein leiser Seufzer Ingrams wurde gehört, zitternd schwand der Ton in der Morgenluft, aber aus der Hütte klang ein lauter Schrei der Frau. Ratiz herrschte den Gebundenen an: »Rede, Knecht, damit der Mann, der dich gesandt hat, nicht deinetwegen von unserem Vertrag weiche.« Ingram wandte sich ab, aber er senkte bestätigend das Haupt.

»Die Sorge für ihn und das Weib ist mir auf die Seele gelegt«, rief Gottfried, »wie soll ich vor das Antlitz dessen treten, der mich zu dir gesandt hat, wenn ich sie nicht mitbringe?«

»Habe ich nicht schon vorher einen Mann deines Bischofs ohne Losung entlassen?« rief Ratiz zornig dagegen, »und auch du stehst noch unverletzt vor mir. Weißt du nicht, du Tor, wenn ich meine Hand aufhebe, so springen meine Krieger auf dich und schälen mit ihren Messern dein geschorenes Haupt.«

»Mein Schicksal steht nicht in deiner Hand, sondern in der Hand meines Gottes«, versetzte Gottfried mutig. »Tue was du darfst, binde mich, töte mich, wenn dein wilder Sinn dich dazu treibt, aber freiwillig verlasse ich diese Höhe nicht ohne die Gebundenen.«

Ratiz stieß einen Fluch aus und stampfte mit dem Fuß. »So lasse ich dich durch meine Krieger an den Grenzzaun führen und hinüberwerfen, du hartnäckiger Tor.«

»Laß sie frei und behalte mich zurück als Knecht oder als Opfer, wie du willst.«

»Unsinnig wäre der Tausch, ein junges Weib und einen Krieger gegen dich, der nicht Mann und nicht Weib ist.«

Gottfried erblich, aber in strenger Zucht gewöhnt sich zu bezwingen, antwortete er: »Verachtest du den Boten, so höre um deiner [] selbst willen die Botschaft. Mit einem Volksheer zieht der siegreiche Frankenfürst gegen seine Feinde heran, schon lagert er unweit der Werra; einen neuen Grafen hat er in das Land der Thüringe gesandt, die Grenze zu wahren. Suchst du in Wahrheit Versöhnung und Friede mit dem Frankenherrn, so magst du eilen, deine Gesandten in sein Lager zu schicken.«

Ratiz stand betroffen und sprach heftig zu dem Weißbart, der ängstlich schnelle Fragen des Sorben und die Antworten des Mönches deutete. Als Ratiz zur Seite schritt und leise mit seinen Kriegern verhandelte, trat Gottfried zu Ingram: »Was zürnst du mir, armer Mann, wende dich nicht von mir ab, denn treu ist meine Meinung.«

Ingram sah düster auf ihn, aber auch seine Stimme klang weich, als er antwortete: »Du hast mir Unglück gebracht, denn du hast meinen Zornmut erregt. Deine Hilfe begehre ich nicht, und fruchtlos ist alles, was du für mich versuchst. Löse das Weib und sage ihr, wenn du willst, daß lieber ich selbst sie gelöst hätte. Nimmer änderst du mein Geschick. Als ein Unsinniger habe ich mich treulosem Volk ergeben, denn Böses weissagt mir der Blick des Sorben und die Freude seines Gesindes. Siehe zu, daß du mir Wolfram, meinen Mann, sendest, denn sie bereiten sich mich zu schatzen; damit ich ihn noch vor eurer Fahrt unterweisen kann, wenn sie redlich an mir handeln. Und werden sie zu Bösewichten an mir, dann sage noch dem Weibe und den Freunden daheim, daß die Weiden der Sorben mich nur binden, solange ich will. Bevor sie mich zum Knechtesdienst zwingen, gewinne ich mir ein blutiges Zeichen auf Haupt oder Brust, damit ich aufwärts fahre und meine Ahnen mich erkennen. Du aber weiche von mir und wandle deinen Pfad, ich suche wohl allein den meinen.«

Der Mönch trat zurück, die Tränen flossen ihm aus den Augen, als er vor sich hin sagte: »Verzeihe ihm, Herr, und erbarme dich seiner.«

Die Beratung der Sorben war zu Ende, Ratiz sprach mit finsterer Miene zu Gottfried: »Damit dein Herr erkennt, daß meine Krieger hochsinnig denken, so nimm das Weib mit der zerrissenen Wange zu dir auf deinen Weg. Große Ursache hast du, Jüngling, meine gute Gesinnung zu rühmen, ziehe hin mit den Gefangenen und laß den Becher des Bischofs zurück. Sprich kein Wort weiter«, fuhr er mit ausbrechendem Zorn fort, »teures Geschenk bezahle ich für deine Reise, fahre dahin und sage deinem Bischof, gleiche Treue erwarte ich von ihm, wenn meine Boten zu ihm kommen.« Er wandte sich mit stolzem Gruß ab und winkte seinem Gefolge. Der Weißbart und Miros blieben zurück, die anderen traten um Ingram. Ohne sich umzusehen, kehrte dieser der Hütte den Rücken, der Mönch sah ihm nach, bis seine hohe Gestalt zwischen den Sorbenkriegern in der Halle verschwand.

[]
Die Heimkehr

Auf dem Saumpfad, der dem Waldgebirge zuführte, wallte eine waffenlose Schar. Voran ging ein schlanker Knabe, das Holzkreuz tragend, welches er aus zwei Stäben zusammengefügt hatte, hinter ihm leitete Gottfried den Haufen der Kinder. Das goldene Haar der Kleinen flatterte in der Morgenluft, barfüßig stapften sie vorwärts, die Bäckchen gerötet und die Augen blau wie der Himmel. Über ihnen flogen die Lerchen, und zur Seite schwebten die Bienen und Schmetterlinge; alle Wegblumen und Gräser des Tals hoben und neigten sich unablässig grüßend im Winde gegen sie. Hinter den Kindern zogen die Frauen, welche dem Kreuz angehörten, halb entblößte Gestalten, die Häupter gesenkt, die Gesichter vergrämt, manche von ihnen trug auf den Schultern ihr kleines Kind. Mitten darunter saß auf dem Roß des Priesters Walburg, das Antlitz dicht verhüllt. Der Mönch begann eine lateinische Hymne, feierlich zog der Gesang in die wilde Landschaft, die Frauen und Kinder drängten sich näher heran und sangen am Ende jeder Strophe, sich tief verneigend, das heilige Kyrie eleison, denn mehr vermochten sie nicht; aber aus bewegten Herzen kam der Anruf, und oft rangen sie die gefalteten Hände. Hinter der Christenheit wandelte ungern die Kuh, der Schatz des Haufens, welchen Miros den Abziehenden mitleidig gespendet hatte. Das Rind schied Christentum und Heidenschaft, denn bei ihm liefen die Heidenfrauen mit ihren Kindern, und eine von ihnen, Gertrud, eine hochgeschürzte Magd, hielt zur linken Seite des Rindes den Strick und schwenkte den Stab. Aber die Heidenkinder blieben nicht auf der Bahn, sondern fuhren wild umher und suchten nach Wurzeln auf der Wiese, nach Beeren und Pilzen im Gehölz. Als letzter kam Wolfram geritten, der später als die anderen das Lager des Ratiz verlassen hatte, er scheuchte die Säumigen vorwärts und trabte den Zug entlang bis zur Spitze, Ausschau zu halten. »Ich lobe deine Kunst, dies barfüßige Volk zusammenzuhalten«, begann er zu dem Mönch, »du wirst sie noch gebrauchen. Drei Tage lang fahrt ihr mit Kinderschritten durch die Bergwildnis, und wenn du zu den ersten Häusern der Landsleute kommst, magst du kalten Empfang finden.«

»Ich vertraue deiner Hilfe«, versetzte Gottfried, in das gutherzige Gesicht blickend.

Wolfram räusperte sich stark. »Einer ist hinten geblieben, und mir ist die Haut näher als das Hemd.«

»Willst du zu den Sorben zurück und diese im Walde verlassen?« fragte Gottfried erschrocken.

[] Der Mann beantwortete die Frage nicht. »Er war immer jäh und unbedacht«, sagte er, »und doch lebt keiner, der ihn beim Metkrug überwindet. Einem Betrüger ist er arglos verfallen, der Becher des Ratiz hat ein Geheimnis, die Sorben erzählten es am Feuer und lachten. Wenn der Gaukler mit dem Finger an den Becher drückt, so läuft der Met in eine Höhlung ab, und wenn der Schenk wieder drückt, läuft der verborgene Trank in den Becher zurück. Der eine trank nur die Hälfte, der andere das Ganze. Voll von Listen sind diese schmutzigen Zwerge, und durch List haben sie ihn bewältigt. Beim Becher verloren, beim Würfel verloren und mit Weiden gebunden, das ist zu viel für ihn. Manchen Schlag wird er schlagen müssen, bevor er seinen Stolz wieder findet. Und darum will ich zu ihm, hat er gespielt, so spiele ich auch, ihn zu lösen oder ihm zu folgen; denn bei uns ist ein Spruch: wie der Herr, so der Knecht.«

Gottfried wechselte mit ihm einen Blick des Einverständnisses: »Hebe mir einen Zweifel; wenn dir gelingt, dem Unglücklichen die Bande zu lösen, bist du sicher, ob er dir in die Flucht willigen wird? Er selbst hat sich freiwillig der Freiheit entäußert, von einer Schatzung sprach er, die ihn entledigen müsse, und doch sah er aus wie einer, der an seinem Geschick verzweifelt.«

»Mein Wirt hält die Treue, wie wenige im Lande«, antwortete Wolfram, »aber wenn er entrinnen kann, wird er nicht säumen. Weißt du denn nicht, und haben die Sorben dir es verborgen? Ein schmachvolles Urteil haben sie über ihn gefunden, als sie in der Halle Rat hielten. Denn ihr Spruch ist gefallen, daß sie ihn bei ihrem nächsten Hochfest über den Opferstein beugen wollen als Ehrengabe für ihren Gott. Elende Hunde!« rief er zornig, »wer hat je gehört, daß einer, der sich selber in die Knechtschaft gespielt hat, von dem Messer des Opferers entseelt wird?«

»Greulich ist, was du sagst«, rief Gottfried entsetzt.

»Du sprichst ganz über sie, wie sich's gebührt«, lobte Wolfram, befriedigt durch den Zorn des Mönches. »Wer sich hingibt, weil er sein Spiel verloren, der kauft sich los von dem Manne, der Gewalt über ihn hat, durch Rinder und Rosse, wenn er sie schaffen kann, und dem Sieger ist es Ehre, ihn niedrig zu schatzen. Ist mein Wirt doch kein kriegsgefangener Mann, denn nur solchem gebührt der Schnitt mit dem Opfermesser, wenn die Götter ein Mannopfer heischen.«

Als Gottfried sprachlos die Hände rang, fuhr Wolfram begütigend fort: »Sei ruhig, mein Wirt wird ihnen diese Hoffnung verderben, er selbst soll sein Messer zurückerhalten, gegen wen er es gebrauchen will. Und darum, Fremder, kurz gesagt, will ich euch verlassen, denn ich merke, die Späher der Sorben folgen nicht mehr in unserer Spur. Bist du des Weges unkundig, wie ich fürchte, [] so wird die Treiberin Gertrud dir raten, sie ist von unserer Seite des Waldes und weiß Bescheid in den Bergen, wenn ich ihr die nächsten Wegstunden deute.«

»Sage mir noch eins, Wolfram, wenn du magst. Gute Wache halten die Sorben, niemand, der größer ist als ein Wiesel, vermag den Hügel hinaufzuklimmen, ohne daß sie ihn erspähen. Wie gedenkst du allein durch die Verschanzung zu dringen?«

»Du fragst zu vieles auf einmal«, versetzte Wolfram schlau, »forsche bedächtig, damit ich dir antworte. Ohne Helfer bin ich nicht. Wo das Lager des Ratiz liegt, war sonst ein Gehege meines Volkes, welches sie das Dorf des Ebers nennen. Viele Siedler hat der Räuber erschlagen, andere sitzen noch dort in der Knechtschaft; mehr als einem ist's unleidlich, einem Sorbenherrn die Rosse zu striegeln, und ich habe Kundschaft mit ihnen. Du rühmst die Wachen der Sorben, ich fürchte nur ihre Hunde, die struppigen Kläffer; doch ich führe bei mir, was ihnen das Heulen verwehrt.«

»Aber Ratiz und seine Krieger auf der Höhe?« Wolfram drängte sein Roß näher an den Mönch: »Hast du nicht gemerkt, was für ein Kind zu sehen war, daß der Sorbe zu neuem Beutezug rüstet. Er hat die Gefangenen verkauft, bevor die Händler heranzogen, obwohl diese Witterung haben von einem Raube wie die Geier von der Walstatt. Damit sie nicht um sonst kommen, holt er sich neuen Fang aus den Frankendörfern im Süden, oder wo ihm sonst seine Späher raten.«

Empört rief Gottfried: »Und zugleich begehrt er Frieden mit dem Frankenherrn?«

»Vielleicht meint er, daß der Friede wertvoller wird, wenn er sich furchtbar erweist. Willst du den Kater zwingen, das Mausen zu meiden?« versetzte Wolfram.

»Du aber«, begann Gottfried nach einer Weile, »hast nicht bedacht, was du diesen hier bereitest. Wenn dir das Unglaubliche gelingt, deinen Herrn zu entledigen, dann wird der grimmige Sorbe die Frauen zurückholen; breit ist unsere Spur und langsam der Gang.«

»Auch du, der Christenmann, würdest ihnen nicht zu gering sein für ihr Götterfest«, antwortete Wolfram nachdenklich und warf einen mitleidigen Blick auf die Kinder. »Sicherlich kann Eile retten; droht euch Gefahr von rückwärts, so ist's nicht, bevor die Sonne morgen sinkt.« Er sah Gottfried mißtrauisch an. »Unsere Alten sagen, daß die Christenpriester viele geheime Künste verstehen, vielleicht gefällt es dir, den Sorbenrossen die Kraft zu nehmen oder ein Blendwerk zu erregen, das den Spähern die Spur verwirrt.«

»Kein Mensch auf der Männererde vermag das, nur der Christengott allein«, sagte Gottfried, »seinem Schutz will ich uns empfehlen.«

[] Wolfram nickte beistimmend. »Immer habe ich geglaubt, daß euer Gott viel vermag; ich gehöre gar nicht zu denen, welche den Christenglauben verachten. Christengebet und Heidengebet mag kräftig sein, um das Blut zu stillen, wenn man sich geschnitten hat, oder um Regen vom Himmel zu ziehen, wenn die Saaten verdorren. Ich aber merke, daß die gar nicht im Glück leben, welche am eifrigsten den Unsichtbaren zurufen. Darum vertraue ich am liebsten auf mich selbst. Und hier löse ich mich von euch. Laßt nicht die Weiber und niemand sonst merken, wohin ich von euch schweife. Und höre, damit ich dir meine gute Meinung erweise, lasse ich dies Pferd zurück, möglich, daß ich's bereue, möglich auch, daß ein Tier mich hindert, denn nicht hoch zu Roß gedenke ich durch die Holzringe der Sorben zu traben. Die Trude trägt ein Handbeil und vermag die Kuh zu schlachten. Fahr wohl, Fremder, sehen wir uns wieder, so ist es, hoffe ich, im Lande der Thüringe.«

Der Mann blickte noch einmal auf die flüchtige Schar, über die Ringellocken der Kinder und die verblichenen Gesichter der Frauen, dann stieg er vom Pferde und wartete, bis die Treiberin der Kuh an ihm vorüberkam. »Höre ein vertrauliches Wort, Trudis«, sprach er leise, »ich gehe nach Jagdbeute über die Hügel, das Pferd lasse ich euch zurück; der Braune ist freundlich gegen die Kinder, hänge die Schwachen darauf, so mag er euch nützen, denn Eile ist ratsam. Bin ich zur Nacht nicht zurück, so sorge du um die Wache und schüre das Feuer, damit ihr das Ungeziefer des Waldes abwehrt.«

Das Weib sah ihn unwillig an: »Diesen Sprung lehre deine Jungen, sagte der Fuchs, als er zur Häsin sprang und ihr den Kopf abbiß. Du Waldläufer verläßt die Waffenlosen, wie sollen diese sich retten mit dem Stabe in der Hand und den Kindern auf dem Rücken?«

»Manchen Kriegsmann weiß ich, der deine Zunge mehr fürchtet als einen Schwertschlag; versuche sie auch einmal gegen die Bären«, versetzte der Mann begütigend und ging in einer Anwandlung von Unsicherheit noch einige Schritte mit. »Denn ich muß scheiden, Gertrud«, sagte er endlich vertraulich. »Achte auch auf den Weg, damit ich euch wiederfinde; der euch führt, ist nur ein Fremder. Dies hier ist der Rennweg der Sorben, auf dem sie zum Raube nordwärts reiten, er führt über Berg und Tal, zu beiden Seiten rinnen die Quellen abwärts, ihr braucht auf ihm nicht waten und nicht überbrücken. Wenn ihr eilt, kommt ihr heut im Sonnenlicht zum großen Eichwald an die Saale, da, wo der Sorbenbach hineinfällt, der das Grenzwasser des Ratiz gegen uns ist. Durch den Sorbenbach führt eine Furt, seht zu, daß ihr euch vor Abend hindurchwindet bis eine Stunde westwärts zu dem Eibengehölz, aus dem ein heiliger Quell springt, dort steht auf der Höhe ein alter Mauerturm aus Holz und Stein seit der Väter Zeit als eine Grenzwarte, [] aber die Slawen haben ihn zerrissen; dort, rate ich, rastet im Gemäuer. Morgen aber lauft ihr neben dem Saalwasser nordwärts, die Strömung zur Rechten, die Wälder zur Linken; über euren Weg rinnen kleine Bäche, sie sind leicht zu durchwaten, und der Pfad ist eben, aber es hausen diebische Slawen am Ufer. Gelingt es euch, sie zu meiden, so kommt ihr endlich zu dem großen Bach, den sie das schwarze Wasser nennen, da, wo es in die Saale läuft, darüber müßt ihr auf dem Baumstamme flößen, denn das Wasser ist tief. Hinter der Überfahrt dürft ihr in keinem Fall längs der Schwarza aufwärts streben, denn dort sind wilde Klippen und unheimlicher Bannwald, der den Nachtgöttern geweiht ist, und jedermann fürchtet das Tal wegen der Gespenster. Ihr aber wandelt weiter nordwärts an der Saale bis zu dem Hügel mit einem alten Turmgerüst, in diesem haltet die zweite Nachtrast. Von da führt der Weg gerade dahin, wo jetzt die Sonne untergeht, zwei Tage lang.«

»Wiederhole den Sang, damit ich ihn festhalte«, antwortete das Mädchen aufmerksam. Wolfram gab aufs neue seinen Bericht, legte die Zügel des Pferdes in die Hand einer Frau und sah noch zu, wie drei Kin der jauchzend hinaufstrebten. Dann suchte er eine harte Wegstelle und schwang sich mit weitem Satze in das Gehölz.

In großer Versammlung der Sorben teilte der Opferpriester dem gebundenen Ingram das Schicksal mit, welches ihm beschlossen war. Feierlich waren die Mienen der Sorbenkrieger, als der Opfermann sprach und der Weißbart den Spruch deutete, sie spähten in das Antlitz des Gebundenen, wie er die Botschaft aufnehmen würde, und sahen mißvergnügt, daß sein Auge nicht starr wurde, sondern zornig leuchtete, als er dem Ratiz zurief: »Dein Spruch ist tückisch und unehrlich, nicht wie ein Krieger, sondern wie ein altes Weib suchst du blutige Rache an dem Wehrlosen!«

»Dem Gezirp der Grillen gleichen die Schmähworte eines Gebundenen«, versetzte Ratiz und schritt stolz an ihm vorüber. »Zäumt mir den Raben, daß ich ihn reite; das Opfertier führt in den Stall.« Miros und einige von dem Gesinde führten den Gefangenen in ein leeres Blockhaus auf der Höhe. »Gefällt dir's, Ingram«, sagte der Sorbe, »mir zu geloben, daß du aus dem Raume nicht weichst, so lasse ich dir die Füße frei, damit du sie regest.«

Ingram dankte ihm mit einem Blick, aber er sprach: »Von einem Mann des Ratiz nehme ich keine Gunst, auch wenn sie freundlich geboten wird.«

»Dann bindet ihm die Beine und zwängt ihn an den Boden.« Im Nu war Ingram geschnürt, zur Erde gelegt und mit dem Leibe an einen schweren Holzklotz gebunden. Der Sorbe verließ den Raum, ein junger Krieger hielt die Wache. Ingram lag am [] Boden, ein aufgegebener Mann, und träge war der Zug seiner Gedanken. Nur einmal hob er sich, als er Hufschlag hörte, er rief ein lautes Hara, das Wiehern eines Rosses antwortete, und er merkte den Hieb des treibenden Reiters. Dann ward es wieder still, durch eine kleine Luke der Holzwand fiel das Sonnenlicht in den Raum, immer näher zur Gegenwand schob sich das goldene Viereck; er sah gleichmütig darauf, ihm waren die Stunden langweilig. Neben dem Lichtloch hatte eine Schwalbe ihr Nest gebaut, die Vögel flogen aus und ein, die Jungen flatterten in der Öffnung und ließen sich von den Alten füttern. Er dachte daran, daß auch in seinem Hofe die Schwalben unter dem Dach bauten, und zuckte, wie von einem Messer gestochen; aber der Gedanke zerrann wieder.

So kam der Abend, der Wächter brachte Brot und Wasser, er nahm dankend an, daß der Mann ihm den Krug zum Munde führte, das Brot wies er zurück. Das Gold der Sonne wurde feuriger, dann schwand es in mildem Rot, zum letztenmal kamen die Schwalben herein, zwitscherten und zankten im engen Nest, und er sah durch die Luke, wie die Abendröte den Himmel bedeckte, bis auch sie im matten Grau verschwand. Dunkel erfüllte den Raum; der Mann, welcher an der Tür lagerte, zog ein Heubund unter seinen Kopf und entschlief. Auch Ingram rückte das müde Haupt auf den Klotz, soweit die geschnürten Arme erlaubten, die Augen sanken ihm zu und undeutlich wurde ihm seine Umgebung.

Da rasselte es leise draußen am Boden, etwas strich längs dem untersten Balken hin, wie der Igel, wenn er längs der Hecke fährt. Ingram richtete den Leib auf, seine Seele trat gespannt in Auge und Ohr, und aus seinen Lippen drang ein summender Laut.

Zum zweiten Male knarrte der Igel längs der Wand, und zum zweiten Male gab Ingram Antwort und starrte auf das Luftloch in seiner Nähe, er sah, wie etwas durch die Öffnung hineingeschoben wurde, es fuhr auf und ab wie an einer Schnur und klang leise an der Wand. Er wußte, es war ein Messer. Die Arme waren ihm gebunden, und die Füße gebunden, vielleicht mochte er es mit den Füßen erreichen und festhalten, wenn es ihm gelang, den schweren Holzklotz, an den er gefesselt lag, zu rücken. Er stemmte und schob, dann faßte er das Messer zwischen die geschnürten Füße und mühte sich, bis er den Griff zu seinem Munde hob. Er hielt das Messer mit den Zähnen und zerschnitt allmählich den Strick, der seinen Leib am Klotze festhielt, dann stemmte er die Spitze des Messers in den Boden und rieb an der Schneide die Weiden, welche ihm die Arme banden; mit den befreiten Händen löste er leicht die Füße. Es war langwierige, sorgliche Arbeit. Noch jetzt blieb er liegen und regte die Arme und Beine, bis in die geschwollenen Glieder wieder Bewegung kam. Dann klopfte [] er leise an die Wand, wie ein Holzwurm pickt, und lauschte. Eine lange Zeit verging, endlich hörte er eine bekannte Stimme leise rufen: »Jetzt zu mir.« Der Wächter rührte sich, aber blitzschnell warf Ingram seine Jacke ab, warf sich über den Sorben an der Tür, schnürte ihm die Jacke über dem Haupt zusammen und Hände und Füße mit dem Seil, raunte ihm zu: »Dein Leben danke dem Krug Wasser«, und sprang aus der geöffneten Tür. Draußen regte sich nichts, er fuhr um das Haus herum, eine Freundeshand faßte ihn und half ihm beim Schwunge über den Zaun. Zwei Männer rollten den Berg hinab und sprangen durch die Dorfgassen. Wütend kläfften die Hunde und der andere stieß einen Fluch aus: »Die Köter sind ihre beste Hilfe, wir verfehlen das Schlupfloch.« Da wurde es plötzlich tageshell, von der entgegengesetzten Seite des Lagers brach ein Feuer auf, beide sprangen vorwärts wie vom Winde getrieben. Einer von den Wächtern, die längs dem Zaune gingen, schrie sie an, Wolfram antwortete in der Sorbensprache und wies nach dem Feuer. Durch eine Lücke im Dorfzaun glitten sie in den Graben hinab, im nächsten Augenblick standen sie im Freien. »Jetzt schnellen Schritt und gutes Glück.« Hinter ihnen erschollen wirres Geschrei und Rufe. Vor den Laufenden erhob sich im Felde ein hoher Birnbaum, unter seinem Blätterdach hielt ein Reiter ledige Rosse. Die Flüchtigen schwangen sich auf die Pferde und ritten in die Nacht hinein, während hinter ihnen die Flamme zum Himmel stieg und der Lärm des erwachten Dorfes klang.

Der wilde Ritt trieb das Blut schneller durch Ingrams Adern, vom Rosse reichte er seinem Treuen die Hand. »Wer ist der dritte?« fragte er.

»Godes, einer von uns, ein Roßknecht des Miros; er hat sich mir gelobt; sein Herr hat ihn mit der Peitsche geschlagen, dafür hat er ihm eine Fackel angesteckt. Die Flamme mag uns Rettung werden, sie steigt jenseit der Ratizburg auf, dorthin zieht es ihre Gedanken von unserem Wege.«

Der Reiter vor ihnen hob warnend den Arm: »Vorsicht, Herr, wir nahen dem Ringzaun an der Dorfmark. So schlaftrunken ist keine Sorbenwache, daß sie den roten Schein am Himmel mißachtet und den Tritt dreier Pferde, die aus ihrem Weidegrund brechen.«

Sie waren einen Hügel hinabgejagt, gedeckt durch das Baumlaub, jetzt fuhren sie hinaus auf das offene Feld zwischen die Baumstümpfe, hinter ihnen leuchtete der Feuerschein, er fiel auf die weißen Slawenröcke, welche zwei der Reiter trugen, und warf die Schatten vor ihnen auf das Feld. »Dort im Dorfe half uns die heiße Lohe, hier hat sie unsern Nachtmantel verbrannt«, brummte Wolfram. Von der Seite erscholl Anruf und Geschrei, und Hufe [] klapperten. »Jetzt gilt es leben oder verderben«, rief der Mann, und die Flüchtlinge sausten wie Sturmwind dahin, hinter ihnen die Verfolger. Ein Pfeil fuhr auf Ingrams Sattel, ein anderer streifte sein wehendes Haar. »Hier ist der Holzring der Grenze«, mahnte Wolfram, sie trieben die Pferde zum Sprunge und flogen hinüber, noch wenige Roßsprünge, und über ihnen breiteten sich die Äste eines Fichtenwaldes. Auf schmalem Wege ritten die Reiter bergauf, die Pferde stolperten und stöhnten. »Bricht ein Pferdefuß, so sollen Sorbenmädchen weinen«, rief Wolfram. Aber die Rufe der Verfolger wurden schwächer und verhallten. »Die Nachtjagd im finsteren Wald dünkt ihnen gefährlich. Gemach, Godes, Pferdeleib und Menschenbein sind nicht von Eisen, die Äste zausen das Haar, und die Stämme brechen die Knie.«

Sie schlugen sich durch das Dickicht die Höhe hinauf und ritten durch niedriges Buschholz über einen langen Bergrücken. Der Weg hatte sich gewandt, zu ihrer rechten Seite flammte das Feuer, immer höher und röter, und dunkle Rauchwolken wirbelten durch die Masse. Mitten in der feurigen Lohe hob sich der Hügel des Ratiz, die beleuchtete Halle und die Strohdächer. Plötzlich blinkte ein heller Schein auf dem First der Halle, ein weißes Licht flackerte über das Dach, gleich darauf standen auch die Dächer des Hügels in hellen Flammen, und die Röte breitete sich über den halben Nachthimmel. »Dort sengt das Räubernest«, rief Ingrams Mann in wilder Freude, »nicht umsonst hast du, Herr, beim Eintritt mit den Feuerzungen gedroht.« Ingram lachte, aber er blickte scheu auf die Flamme, und kalt fuhr es ihm über den Leib. Seit seiner Kinderzeit war ihm ein Hausbrand greulich, und oft hatten ihn seine Gesellen darum gehöhnt, jetzt mühte er sich wegzusehen, aber immer zog es ihm die Augen nach der Lohe; er fühlte deutlich, wie einem zumute war, der hoffnungslos mit beklommenem Atem darin saß, er dachte an die Worten des Jünglings, der ihn bat, nichts Böses zu wünschen, und plötzlich erinnerte er sich des Wächters, den er unter dem Strohdach gefesselt hatte, und er wandte unwillkürlich sein Pferd nach dem fernen Sorbendorfe zurück. Aber Wolfram riß das Tier beim Zügel vorwärts, trieb es durch einen Schlag und rief lachend: »Der Gaul merkt, daß sein Stall brennt.« »Manches Sorbenweib muß heut stöhnen im heißen Ofen«, rief der Führer ebenso zurück.

»Das ist schwache Vergeltung für den Mordbrand, den sie in unseren Dörfern geübt«, versetzte Wolfram, »ich denke, der Ratiz wird die Lust verlieren, morgen Frankendörfer zu brennen, die Kerzen leuchten ihm heimwärts.« Ingram schwieg.

Noch eine Stunde ritten die Reiter, der roten Schein wich hinab an den Horizont, das bleiche Licht des neuen Tages stieg herauf, mit leichterem Herzen sah Ingram die Brandröte im Frühlicht [] dahinschwinden. Der Morgennebel setzte sich in Haar und Gewand der Reiter, und die Rosse zogen ihre Spur in den graulichen Tau, der auf dem Rasen des Grundes lag. Vor ihrem Wege schoß ein Bach, sie tränkten die Rosse, der Vordermann ritt mit dem Lauf des Wassers bis zu einer Stelle, wo viele Tritte auf dem feuchten Grund sichtbar wurden, dort trieben sie die Rosse hindurch bis hinter ein Erlengebüsch unweit des anderen Ufers. Der Führer hielt.

»Ich erkenne, was du meinst, Godes«, sagte Wolfram. »Wähle unseren Weg, Herr; durch die Furt sind die Frankenfrauen geschritten, die der Christ erledigt hat, man sieht jeden Fußstapfen, das Roß des Priesters mit fremdländischem Eisen, die Kinder, die Kuh und hier den tiefen Tritt, welchen die Gertrud in den Boden gestampft hat. Sollen wir nachziehen auf ihrem Wege? Ein Blinder könnte ihn fühlen.«

Ingram sah düster auf den Wiesengrund. »In wenigen Stunden haben wir sie eingeholt, wenn die müden Sorbengäule uns noch tragen, obgleich du gut gewählt hast unter den Rossen des Miros.«

»Die Weiber rasteten diese Nacht im Steinturm an der Saale, den die Slawen zerrissen«, erinnerte Wolfram.

Ingram sah vor sich nieder. »Wie mag der Vogel fliegen, wenn ihm die Schwingen ausgerauft sind, waffenlos bin ich.«

»Ich sah dich doch sonst schon mit knotigem Astholz treffen, wenn andere Waffen fehlten«, versetzte Wolfram erstaunt.

»Führt unsere Spur zu den Frankenfrauen, so locken wir den Ratiz auf ihre Fährte und leiten ihnen die Gefahr auf ihren Weg.«

»Ein hungriger Bär packt das Wild, das er zunächst erreicht. Meinst du, daß die Sorben jetzt an etwas anderen denken als an Rache? Dreißig und ein Haupt können bezahlen für die rohe Lohe, schwerlich wird der Ratiz seine Krieger zurückhalten, auch wenn er wollte, wenn diese bei der Heimkehr ihre Weiber und Kinder aus der Asche aufheben.« Wieder fuhr es kalt über den Rücken Ingrams. »Teurer Preis wurde bezahlt für das Haupt des einen Mannes.«

»Hätte er nur den Raben und sein Schwert«, dachte Wolfram bekümmert, »denn völlig ist der Mann verwandelt. Willst du, so fragen wir den Godes, er kennt die Sorben.« Er rief den Führer heran und stellte die Frage. Godes antwortete: »Einige folgen uns Männern, ob sie uns fangen; aber das Sorbenvolk wird, wie ich denke, ausziehen gegen die entledigten Weiber.«

»Und wann mag der Ratiz in seine zerstörte Burg einfliegen?« fragte Ingram.

Der Mann sah nach dem Himmel und überlegte. »Hat er den Nachtbrand gesehen, und er hat ihn gesehen, so kann er noch vor Mittag sich an den Kohlen seiner Halle das Mahl bereiten.«

»Dann drückt er zum Abend den Nacken des Priesters«, rief Wolfram.

[] »Genug«, rief Ingram und stieß dem Pferd seine Fersen in die Flanke. Sie ritten weiter über Berg und Tal, bis sie den verfallenen Turm vor sich sahen, zu ihm führte deutlich die Spur. Sie drangen auf den Gipfel, umritten den wüsten Balkenring, erkannten den Rastplatz, die Haut der geschlachteten Kuh, eine Feuerstätte, in der Ecke gepflückte Zweige und gerauftes Gras. »Hier war das Lager der Walburg«, sagte Wolfram. Sein Herr warf nur einen Blick darauf, dann trieb er sein Roß wieder aus den Balken ins Freie. »Jetzt haben wir sie sicher«, tröstete Wolfram, »die Spur weist nordwärts, gerade wie ich mit den Weibern beredet hatte.«

Die Reiter folgten vorsichtig der Spur, sie überschritten die Bäche, bogen zuweilen in den Wald aus, um die Slawenhöfe am Wege zu meiden, und kamen im Nachmittag an den schwarzen Bach. Fröhlich erkannten sie die Stelle, wo der Zug durch das Wasser gedrungen war, und trabten nach kurzer Rast nordwärts weiter. Der Grund war hier fester, und die Spur ging ihnen verloren. Sie hielten an und suchten, endlich fanden sie die Hufspur zweier Rosse, welcher sie folgten, bis Ingram eine Stelle traf, wo der Boden weicher wurde. »In gestrecktem Lauf sind die Tiere gesprengt, wer von der Schar kann gefahren sein wie der Wind; die Stapfen der kleinen Füße sehe ich nicht.« Er stieg ab, eilte mit beflügeltem Schritt zurück, durchsuchte die ganze Umgebung, aber er erkannte nichts von Menschentritten. »Hat der Christengott sie der Erde enthoben?« rief er bekümmert. Die Reiter trabten unsicher weiter.

»Die Rosse waren ledig«, sagte Wolfram, »mein Brauner führt; wir mögen sie, wenn sie nicht im Magen der Wölfe schwanden, an deinem Hoftor finden. Wahrlich, der Fremde versteht manches Geheimnis, die Kinder sind in die Felsen zu den Zwergen gegangen oder als Vögel davongeflogen. Folgen ihnen die Sorben, dann wird es ein Wiedersehn unter der Erde oder in den Wolken.«

Ingram hörte wenig auf den Trost seines Mannes, mit ängstlichem Blick suchte er längs der Saale und auf der anderen Seite im Dickicht. Aber fruchtlos war das Spähen. Sie hielten wieder, dann ritten sie vorsichtig auf dem Saumwege zurück, bis Wolfram seinem Herrn in die Zügel griff. »Hier bis zu dem Felsen sind sie gegangen, und hier werden sie spurlos. Wir aber reiten dem Ratiz fruchtlos in die Arme.« Ingram wandte sein Roß, und wieder ging es in gestrecktem Lauf heimwärts bis zu der Höhe, welche die zweite Nachtrast der Frauen sein sollte. Dort sprangen die Reiter von den Rossen und durchsuchten im Abendlicht den Hügel und seine Umgebung. Aber sie fanden weder Menschen noch ihre Fußtritte. Zuletzt endlich die Hufspuren der zwei Rosse.

»Hier zu rasten meine ich nicht«, begann Ingram, das finstere Schweigen brechend, »folgt mir aufwärts in die Berge, vielleicht [] erblicken wir dort von der Höhe ihr Feuer.« Wieder ritten sie weiter, der große Gebirgswald nahm sie auf, sie mußten absteigen und ihre müden Rosse führen.

Unter den Bäumen wurde es finster, immer noch lauschten sie auf den Ton von Menschenstimmen oder auf ein fremdartiges Geräusch, aber nur die alten Gebieter des Bergwaldes, die Riesenbäume, redeten zu ihnen in ihren geheimnisvollen Tönen. Endlich hielt Wolfram an, als sie in ein dunkles Waldtal gestiegen waren. »Fleisch und Bein wollen nicht mehr zusammenhalten, gefällt's Euch, Herr, so rasten wir, sonst verlieren wir die Pferde.«

Ingram sprang ab und sprach mit heiserer Stimme: »Unselig sei das Lager, auf dem ich diese Nacht raste; ist euch die Ruhe nötig, so erwartet mich; ich fahre zurück durch die Wildnis und suche das Feuer der Hilflosen. Hoffe nicht mich zu bereden, Wolfram«, setzte er befehlend hinzu. »Die Sorge macht mich zornig, bin ich mit dem Morgen nicht zurück, so fahrt heimwärts und erwartet mich im Hofe.«

»Was einer tun muß, soll der andere nicht hindern«, versetzte Wolfram, kummervoll seinem Herrn nachsehend. »Ich lobe nicht den Verstand eines Mannes, der bei Nacht dem Schrei der Raubtiere nachzieht. Laß uns die Rosse sichern vor dem Ungeziefer, Godes, und unseren Gürtel fester schnallen, denn schmal ist die Nachtkost. Einer schläft nach dem anderen, wer den längsten Halm zieht, hat die erste Wache.« Sie zogen, Godes setzte sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm, legte die Keule neben sich, Wolfram streckte sich der Länge nach in das Moos. »Trägt mich ein Bär fort, so zahle ihm den Trägerlohn« sagte er schläfrig und war nach wenig Augenblicken entschlafen.

Durch die Nacht rang Ingram bergauf, verstört war sein Sinn, wild der Flug seiner Gedanken, und rings um ihn die Schwärze des Todes. Mit der Hand griff er vorwärts in die Finsternis, er tastete an den Stämmen und sank zu Boden zwischen Steinen und knorrigen Wurzeln, aber immer wieder erhob er sich und drang höher, und immer sah er vor seinen heißen Augen das lodernde Dorf und die feurigen Zungen, welche über die Strohdächer des Ratiz flackerten. Er dachte an die Rache der Sorben, neuer Mordbrand würde in den Grenzdörfern seiner Heimat aufsteigen, und auf ihn würde die Schuld fallen. Und zwischen solchen Angstgedanken hörte er die leisen Worte des Mönches: »Rächet euch nicht, denn die Rache ist mein.« Törichte Worte für das Ohr eines Kriegers! Wie kann ein solcher tatlos seinem Gott die Sorge überlassen, den Feind zu verderben. Die Götter hatten ja auch ihn selbst nicht vor der Kunst und vor der Tücke des Ratiz bewahrt. Durch das Grauen des Waldes wand er sich dahin als ein entlaufener Knecht. Sein Angesicht wurde glühend heiß, und seine Faust ballte [] sich, er stürmte fort und schlug mit seinem Leib an Baumstamm und Felsen, bis er keuchend zur Höhe kam, wo der Sturmwind alte Stämme gefällt hatte und der graue Nachthimmel über ihm sichtbar war. Er kletterte mühselig auf das Gewirr von Ästen und Wurzeln und suchte einen Ausblick auf die Höhen und auf das Tal davor, ob ein Feuerfunke blinke durch die Schwärze oder der Laut einer Stimme hörbar sei. Er wußte, daß es ein kindisches Hoffen war.

Alles um ihn war finstere, öde, menschenfeindliche Wildnis. Nur die Überirdischen sprachen hier, wenn die Wipfel rauschten, und unten in der Tiefe heulten die Krieger des Waldes, die wilden Tiere. Hier waren die Götter sogar dem wehrhaften Manne feindlich, würden sie Erbarmen üben gegen den Haufen, der mit dem Kreuz des Fremden dahinzog, und würden sie die Frauen retten vor Bärenklaue und Wolfsbiß, vor dem jähen Abgrund und dem fallenden Baum? Keiner konnte sagen, ob die Götter mächtig waren und von gutem Willen, sie selbst waren geworden und hatten das Geschlecht der Männererde gezeugt, und sie sollten alt werden und grämlich, wie die Weisen verkündeten, und die Götter und die Geschlechter der Menschen sollten zuletzt untergehen in bitterem Todeskampfe vor dem Weltbrand? Der Christengott aber war, wie der Fremde rühmte, ewig. Und er sollte ewig regieren hier auf der Erde und im Himmelssaal. Daher war auch der Christenmann so fest, denn er vertraute auf die Dauer und auf die Sorgfalt seines Gottes. – Sie hatte sich das Antlitz zerrissen, weil sie den Feind des Lebens nicht töten wollte. Lieber als das Wohlgefallen der Menschen war ihr das Gebot ihres Gottes. Ihr Gott hatte sie fest gemacht, weil sie ihm treu war.

Ingram seufzte tief, und seinem Stöhnen antwortete aus der Tiefe das Geheul der grauen Wölfe. Er kannte solchen Gesang der Götterhunde, so schrien sie, wenn sie sich zum Leichenmahle rüsteten auf der Walstatt oder um den Pferch einer Herde. Dort unten strichen sie um ihre Beute. Und er dachte sich die schwachen Pfähle, welche Frauenhand geschlagen hatte, das Weib und die Kinder, und um sie die glühenden Augen und die aufgesperrten Rachen der Wölfe. Schreiend schwang er die Keule und sprang hinab wie ein Rasender, er fiel, und er sprang wieder und fiel, und als er sich aufraffte, hörte er dicht vor sich einen Stein gleiten und eine Weile darauf in die Tiefe krachen. Er warf sich zurück, und sein Haar sträubte sich, er merkte, daß vor ihm ein Abgrund gähnte. Eine Weile lag er so, kraftlos, in kaltem Schweiß gebadet, aber wieder heulten die Raubtiere, sie zankten miteinander, und wie ein heiseres Lachen klang ihr Gebell. Er kletterte rückwärts und fuhr längs der Höhe dahin, bis er einen Quell rieseln hörte, er fühlte sich zu dem Wasser, schöpfte in der hohlen Hand und führte es an den [] brennenden Mund, dann stieg er vorsichtig in dem Rinnsal bis zur Taltiefe, in welcher ein Bach der Saale zufloß. In dem Dämmer des ersten Zwielichts sah er jenseit des Baches die grauen Schatten der Wölfe beim gierigen Fraß, die Nasen in dem Blut eines gejagten Wildes, gedrängt wie die Schafe am Brunnentrog. Tief aufatmend wich er zurück und lief den Bach abwärts, der Saale zu. Es trieb ihn zu der Stelle, die sein Mann zum Lager der Weiber gewählt hatte. Ob sie dort in der Nähe rasteten? Da, wo die Waldhügel zum Saalufer abfielen, hielt er an. Vor sich sah er verglimmende Feuer, er hörte stampfende Hufe und sah eine grauröckige Gestalt neben einem Rosse stehen, den Wächter des Lagers. Die Verfolger waren auf dem Wege. Er warf sich zu Boden und wand sich im Schatten des Gehölzes entlang, angstvoll mit den Augen durch die Dämmerung nach Weibern und Kindern unter den schlafenden Feinden spähend. So lag er und wartete auf das Frühlicht.

Er, der im Buchenlaub lag mit roten Augen, und der Sorbe, welcher hundert Schritt von ihm wachte, beide Nachtgänger wußten nicht, wie nahe ihnen die Ruhestätte war, in welcher das Kreuz stand. Auf einer langgestreckten Höhe, etwa eine Wegstunde nach Westen zu, hatte der Mönch seine Schützlinge gelagert. Ganz friedlich war ihre Fahrt gewesen, zwei sonnige Tage zwischen Laub und blühendem Gras, zwei stille Nächte unter dem Sternenlicht. Es hatte sie kein wildes Tier umheult und kein Nachtgespenst der Wälder geschädigt; sie waren an Sorbenhütten vorübergekommen, dort hatten die Sorben Wasser aus dem Brunnen zugetragen und die Wangen der Kinder gestreichelt, eine Slawenfrau hatte der Gertrud mitleidig einen Topf geschenkt, als wertvolle Gabe, damit sie den Kindern die Wurzeln und Pilze koche, und kleine Sorbenjungen waren mitgelaufen, den Gesang zu hören, und hatten versucht, das Kyrie nachzuschreien. Von dem Feuerschein in ihrem Rücken wußten die Fahrenden nichts, und als ein Sorbenmann sie danach fragte, hatten sie das ehrlich gesagt, und der Mann hatte ihnen geglaubt und sich über das feurige Zeichen am Himmel sehr gewundert. Erst am letzten Mittag, da sie zum Schwarzwasser gelangten, hatte Walburg, während der Mönch bei ihr vorüberging, den Schleier gehoben und mit Anstrengung zu ihm gesagt: »Raste nicht, wo Ingrams Mann geboten, ziehe nicht den Pfad, den er dir gewählt, vergeblich wäre es, durch hastige Fahrt die Kinder vor dem Verfolger zu retten. Laß mich absteigen, ich vermag wohl zu gehen, und jage die Rosse ohne uns nordwärts, denn sie ziehen uns die Wölfe und die Sorben nach. Lieber vertraue unser Leben dem Bannwald und den Klippen der Schwarza. Dort birg die Kinder.« Den Rat billigte Gertrud, obwohl ihr vor den Ungeheuern graute, denn auch sie hatte ihre Gedanken über den Feuerschein und über das Jagdglück des Wolfram. Und als sie über das Schwarzwasser gedrungen waren, rief Gertrud einige [] Weiber und die Knaben und führte sie mit den Rossen auf weichem Grunde eine Wegstrecke denselben Pfad entlang, welchen Wolfram ihr vorgesungen hatte, bis dahin, wo der Boden hart wurde und die Tritte undeutlich, dann trieb sie die ledigen Rosse mit starken Schlägen nordwärts und lehrte die Kinder die Schritte hinter sich zu setzen und rückwärts zu stapfen bis an die Stelle des Baches, von der sie gekommen waren.

»Es ist eine Kinderlist«, sagte sie, »vielleicht hilft sie doch Kluge täuschen.« Darauf zogen sie im schwarzen Tal entlang, das Wasser zur Linken, bis ihnen ein Bach, der aus der Richtung ihrer Heimat in die Schwarza rann, den Weg hemmte. An dieser Wasserrinne zogen sie talauf, endlich erstiegen sie langsam und mit müden Beinen eine Bergleite und gingen auf dem Rücken noch eine Strecke dahin, während der Himmel sich rötete. Da fanden sie ein altes Verhau, das früher einmal Jäger oder flüchtige Talleute zusammengeworfen hatten, sie drängten sich hinein, suchten den Quell und zündeten im Abendlicht unter den Bäumen ihre Feuer an. Die Frauen bereiteten für Walburg ein Lager von Heidekraut und rüsteten wilde Nachtkost. Die Kinder aber lagerten sich im Kreise um Gottfried, und dieser erzählte ihnen die Geschichte von einem Königssohn aus Morgenland, der Joseph hieß und den seine Brüder in eine tiefe Grube warfen, die ganze Geschichte bis dahin, wo Joseph seinen alten Vater wiederfand und küßte. Die Kinder saßen um ihn, die kleinsten drückten sich an seine Arme und hingen sich an seinen Hals, die blauen Kinderaugen blickten ihn so gespannt und so fröhlich an, daß er sich vorkam wie ein Seliger unter den Engeln. Und als er geendet hatte und alles um ihn her schwieg, rief ein kleiner Heidenknabe, den sie Bezzo nannten, indem er an ihm hinaufkletterte und seinen Hals umfing: »Ich bin Joseph, und ich will essen.« Alle lachten und sahen auf Gertrud, welche mit einem Holzstabe im Topfe rührte. Da hockten die Kinder um das Feuer, und die Frauen teilten ihnen auf Tellerlein von Rinde die Bissen zu, worauf die Frauen auch der eigenen Mahlzeit gedachten. Gottfried aber sang den Kindern das Nachtgebet vor, und ein grauer Waldvogel knarrte zu dem Amen der Gemeinde seinen rauhen Triller, gerade wie einst in der Zelle unter den Brüdern der alte Hunibert, welcher harthörig war. Dann legte Gottfried die Kinder zur Nachtruhe; aneinandergeschmiegt, die Köpfe ins Moos gedrückt, schliefen sie ein.

Neben ihm saß eine junge Heidenfrau, verworren hing ihr das Haar um das bleiche Gesicht, und ihre Augen starrten ausdruckslos umher. Sie war die zwei Tage schweigend unter den anderen hingewankt, und mit scheuer Teilnahme hatten die Frauen ihr gedient, wie unglücklich sie auch selbst waren. Jetzt öffnete sie zum erstenmal die Lippen: »Gut sorgst du um die Lebenden, Fremdling; aber [] wenig nützte deine Mühe dem toten Kinde, das zerschlagen am Wege liegt, klein waren seine Beinchen, und es weinte, da es lief. Jetzt wischt wohl sein Schatten in der Nacht längs dem wilden Wege und sucht die Mutter, oder es sitzt tief unten im Brunnen, wo die weiße Frau die armen Kinderseelen hütet, kalt ist das Wasser, stumm kauert das Kind, und die Mutter sehnt sich und verhaßt ist ihr das Leben.«

Gottfried kniete zu ihr in das Moos, auch ihm rannen die Tränen vom Angesicht. »Die weiße Frau kenne ich, welche dein totes Kind behütet, und den Weg weiß ich, der zu ihr führt; denn uns ist etwas verkündet von den Kleinen, und es steht in den heiligen Büchern geschrieben: Der Kleinen ist das Himmelreich. Nicht im kalten Brunnen kauert dein Liebling, die Jungfrau Maria ist's, wie ich meine, welche hoch oben im Himmel über den Kindern waltet. In Wonne leben sie und schwingen ihre Flügel, und hohe Engel heißen sie unter den Menschen. Selig jauchzen sie dem Frommen entgegen, der aus der Erde aufsteigt in den Himmelssaal. Harre, Frau, und vertraue, auch dir wird dein Engel entgegenfliegen in deiner letzten Stunde und wird dich hinaufführen in den Saal der ewigen Freude.«

Das Weib weinte laut, dann legte sie die Hände über die seinen und flehte angstvoll, an ihm niedersinkend: »Bete deinen Sang, damit ich es wiederfinde.«

Gottfried sprach ihr die fromme Bitte vor, und sie wiederholte stöhnend die Worte.

Zuletzt trat er zu Walburg, sah zu, ob ihr die Wunde genetzt war, und segnete sie. Die Kranke versuchte sich aufzuraffen und drückte ihm dankbar die Hand. Der Mönch zog seine Hand zurück, aber die Hand bebte. »Nicht mir erweise treue Gesinnung, Jungfrau«, sprach er, »denn wenn ich für dich sorge, so geschieht es nicht, um dir gefällig zu werden, sondern weil ich nach dem Befehl des großen Himmelsgottes handle. An ihn denke, ich bin nur wie der Windhauch, der dir seine Stimme zuträgt, daß sie in dein Ohr tönt. Von Vater und Mutter bin ich gewichen, und von meiner Schwester Herzen habe ich mich gerissen, keinem Menschen zuliebe darf ich handeln, nur ihm diene ich, und was er mir gebietet, das tue ich, sei es mir schwer oder leicht.« So stärkte er seufzend sich selbst.

Walburg sank auf ihr Lager zurück, und Gottfried schritt mit gesenktem Haupt zum Eingang des Geheges. Die Nacht stieg herauf, die Frauen lehnten die Köpfe an die Baumstämme, und Gottfried saß lange allein mit seinen Gedanken, bis auch ihm der Schlummer die Augen schloß. Und im Schlaf machte er das Kreuz, wenn das Gebell der Waldtiere aus der Tiefe scholl und der Schrei des Uhus.

Wolfram schaute müde nach dem Morgenhimmel, als auf der [] Höhe Zweige brachen und Ingram herabsprang. Mit verstörtem Antlitz rief der Held: »Nur ein Zeichen sah ich, die Feuer der Sorben, mit zwanzig Pferden liegen sie an der Saale. Zwei Jägerhaufen neiden einander das Wild; neu beginnt die Suche; auf die Rosse und hinein in den Wald!«

Die Versammlung am Walde

Wie ein wilder Eber schnaubend in sein Lager fährt, wenn er mit Mühe das Gebiß der Hunde vermieden hat, so sprang Ingram in den Rabenhof. Er schüttelte Wunihild, die Sklavin, von sich ab, als sie ihm die Arme entgegenstreckte, auch seinen Knechten, die ihm frohen Gruß zuriefen, gab er kurze Antwort; mit brennenden Augen, sehnsüchtig nach Schlaf warf er sich auf sein Lager, aber jammervolle Gedanken rissen ihn hin und her. Ohne Schwert und Roß, als ein entwichener Knecht kehrte er in den Hof seiner Väter zurück, alles sah er noch einmal vor sich: die höhnende Miene des Sorben, das brennende Dorf, ein Weib, das sich zornig von ihm abwandte, und den fremden Knaben, vor dem sie kniete. Er ballte die Faust und schleuderte das Fell seines Lagers von sich. »Sind sie im Dorfe?« rief er dem eintretenden Wolfram entgegen.

»Unten wachten nur noch wenige, und keiner wußte von ihnen zu sagen, auch um die Hütte des Priesters war es leer und still«, versetzte sein Mann, »sind sie geflogen, wer weiß, wo sie anhalten, und sind sie in einen Berg entrückt, wer weiß, wann sie zurückkehren.« Ingram eilte zur Tür. »Wohin, Herr?« rief der Mann, ihn kräftig festhaltend. »Nach solcher Hetzjagd und vier schlaflosen Nächten ist dir der Sinn verstört, ich leide nicht, daß du noch einmal zu Rosse steigst. Wir haben getan, was in Manneskraft stand, und noch mehr. Auf unserer Spur haben wir die Sorben fortgelockt; wandeln die Verschwundenen mit ihren Füßen auf der Erde, so haben wir sie dadurch vielleicht von den Feinden gelöst. Was der wilde Wald an ihnen getan, das konnten wir nicht ändern. Waghalsig sind wir den heimkehrenden Sorben wieder nachgezogen, doch spurlos blieben uns die Flüchtigen auch während dem zweiten Ritt. Wären es die Häupter unserer Brüder, wir hätten nicht tollere Jagd um sie reiten können. Jetzt ist die Kraft vertan; sorge für dich selbst.« Mit solchen Reden zwängte er den Herrn auf das Lager zurück und setzte sich zu ihm. Er erzählte ihm immer wieder von den Waldwegen, die sie kreuz und quer gemacht hatten, und wie wahrscheinlich es sei, daß Zaubergebet des Priesters die Wallenden der Gefahr enthoben habe, bis Ingrams Haupt auf den Pfühl zurücksank und ein unruhiger Schlaf ihm die Besinnung nahm. Da erst schlich Wolfram in seine Kammer.

[] Als Ingram spät am Morgen aus wirrem Traum auffuhr, stand Wolfram wieder an seinem Lager. »Es war unrecht, dich zu wecken, Herr, aber Unglaubliches wird dein Auge sehen, wenn es dir gefällt, vor das Tor zu treten. Das Tal ist verwandelt, viele Männer aus der Landschaft sehe ich gesammelt, auf allen Wegen ziehen die Krieger in ihrem Festkleide heran, auch Weiber darunter, was doch sonst bei einem Volksrat unerhört ist. Um das Haus des Memmo drängen sich Heiden und Christen. Herr Gerold ist selbst gekommen, der neue Graf, welchen der Frankenherr als Grenzwächter geschickt hat, und mit ihm Frau Berswind, sein Gemahl, die rundliche Frau. Ich sehe viele Speere der Häuptlinge und Männer aus allen Walddörfern. Auch in deinem Hofe stampften die Rosse guter Genossen. Dein Gesell Bruno harrt deiner, Kunibert und andere mit ihrer Freundschaft, denn große Botschaft des Frankenherrn ist angekündigt, und um den Fremden geht die ganze Bewegung.« Ingram sprang vom Lager und vor das Tor, wo ihn eine Anzahl ehrbarer Landleute mit würdigem Gruße empfing und neugierig sein verstörtes Aussehen musterte. Aber ihm wie den anderen zog es den Blick abwärts nach dem Anger und den Wiesen, die sich um das Haus des Christenmannes Memmo breiteten. Auch er sah betroffen das festliche Gewühl, stampfende Rosse, bewaffnete Reisige und zahlreiche Haufen der Landgenossen, welche wie bei einem großen Volksmarkt bis weit über das Feld standen und lagerten und sich noch unablässig durch Zuzug vermehrten. Er erkannte die Banner mehrerer Edlen, welche mit ihrem Gefolge herangezogen waren, vor anderen solche, die dem Christenglauben geneigt waren, wie Asulf, einer der Ersten im Lande. Auch Gundhari, Rotharis Sohn, der wohlhäbige Mann, bewegte sich rührig durch die Haufen, Godolav war da, ein großer Mann aus den Thüringen, die man Angeln nannte, weil ihre Väter vor alter Zeit von einem Nordvolk in das Land gedrungen waren, dann der Häuptling Albold, Albharts Sohn, dessen Erbgüter an die Dorfflur grenzten. Aber auch Edle der Heidenschaft schritten in der Menge einher, unter ihnen mancher, der dem neuen Glauben bitterfeind war. »Wahrlich«, rief Wolfram in neuem Erstaunen, »viel Ehre erweisen unsere Herren dem zugewanderten Fremden, daß sie ihn hier in der schlechten Hütte aufsuchen unter einem Dach, dem die Schindeln im Winde davongeflogen sind.«

»Niemals hätte ich gemeint, daß so viele in unserem Lande leben, die sich vor dem Marterholz neigen«, begann Bruno, Bernhards Sohn, ein ansehnlicher Mann aus dem freien Moor, dessen Geschlecht seit alter Zeit mit dem Hofe des Ingram befreundet war. »Der Fremde hat mit seinem Stabe die ganze Landschaft aufgerührt wie einen Ameisenhaufen, auf allen Pfaden sind die Boten geritten; er selbst war nach dem Markte Erfesfurt gewandert zum [] Grafen, der dort gerade Gericht hielt, und Herr Gerold hat sogleich zwei von seinem Gesinde drüben in den Meierhof gelegt, damit sie für den Fremden reiten und ihn beschirmen. Seht, dort tritt der Fremde aus dem Hause, ganz verändert ist er in Kleidung und Gebärde, und wie ein großer Herr wandelt er dahin.«

Winfried schritt aus der Hütte in bischöflichem Talar, von Seide und Gold glänzte sein Gewand, in der Hand hielt er den gekrümmten Stab, hinter ihm gingen Memmo und ein anderer Priester. »Da ist auch Bardo, der Graurock, der an dem Tische des Grafen sitzt, ein guter Trinker war er sonst, und manchen Bissen Roßfleisch sah ich ihn tilgen beim Opferfest. Heut wandelt der streitsüchtige Mann demütig hinter dem Fremden. Wahrlich, viele Nacken weiß dieser Mann zu beugen.«

»Nicht die unseren«, rief Ingram und wandte dem Tale den Rücken.

Aus der Niederung stieg Kunibert, ein älterer Mann aus der Freundschaft des Ingram, zu den Landleuten herauf. »Betört sehe ich alles Volk«, begann er; »auch du, Ingram, bist, wie ich höre, im Dienste des fremden Bischofs geritten.«

»Ich zog in meiner eigenen Sache zu den Sorben«, versetzte Ingram finster. »Ihr aber seid versammelt, wie ich sehe, euch vor dem Fremden zu beugen.«

»Du weißt nicht, was ihm vor dem Volk die Ehre gibt, er hat lateinische Botschaften in das Land gebracht, einen Brief des Frankenherrn an unsere Häuptlinge und das ganze Volk, der seinetwegen geschrieben wurde. Gerold, der Graf, ließ den Brief durch seinen Priester lesen, unverletzlich soll der Mann unter uns stehen, der Frankenherr erklärt ihn für sein Mündel, suchen wir Urteil gegen ihn, so sollen wir unsere Klage an den Frankenhof tragen, unserem Gericht ist der Fremde enthoben. Das alles stand in dem Briefe, den der Priester deutete und der Graf bestätigte. Erstaunt war der ganze Ring, als er von der Tierhaut die Worte des großen Franken hörte. Schwer ist es, dagegen das Haupt zu erheben.«

»Widerwärtiges, das zum Ohre eingeht«, rief Ingram, »weist die Zunge hinaus, und wo die Zunge nicht reicht, das Schwert.«

»Wie soll der Mann kämpfen gegen unsichtbare Mächte, welche aus der Ferne zu uns reden«, rief Kunibert, »wahrlich, die Christen verstehen manche Kunst, gegen welche wir schwach sind. Sie haben den Zauber der lateinischen Sprache, die wenige von uns kennen. In den Briefzeichen verkehren sie miteinander wie Landgenossen, wenn sie auch daheim in verschiedener Zunge reden. Da ich jung war, focht ich im Frankenheere am Rhein und darauf an der Donau, und an allen Orten fand ich die lateinische Sprache und dasselbe Geheimnis ihrer Buchstaben. Sie senden einander ihre Worte auf der Tierhaut zu über Land und Meer. Mit einem Rohr schreiben sie Befehle, und die Worte stehen fest für alle Zeit, und [] wenn unser Wille dagegen bäumt, weisen sie auf ihr Pergament, und niemand vermag sie zu widerlegen. Was einer vor vielen Jahren geredet hat, bezeugen sie durch schwarze Buchstaben, sie schenken und begaben damit und entscheiden darnach über Mein und Dein.«

»Wahrlich«, rief Ingram, »ich hoffe, der Eid ehrenwerter Männer steht höher als ihre schwarze Schrift, und ehe ich wegen einem Brief, den sie vorweisen, hingebe, was mir gehört, kämpfe ich mit jedem von ihnen im Ringe der Landgenossen.«

»Die neuen Verkünder ziehen schwerlich das Schwert. Denn widerwärtig sind sie in ihrer unkriegerischen Art. Wären sie Helden, welche auf der Kampfheide stärker sind als die Gegner, so dürfte ein tapferer Mann sich ihnen wohl fügen, wenn auch widerwillig. Aber waffenlosem Fremdling solche Ehre zu geben, wie der Frankenherr diesem Winfried zuteilt, ist für uns alle eine Schmach, und ich entwich aus der Versammlung, weil mir der Zorn darüber in das Haupt drang.«

»Dennoch rate ich«, begann Wolfram, der dazugetreten war, »daß die Herren von der Höhe herabsteigen. Denn jene sind, wie ich vernehme, dabei, neue Briefe zu lesen. Soviel Seltsames wurde noch nie im Ringe der Waldleute verhandelt.« Trotz ihrem Groll traten die Männer ins Freie, Ingram mit schwerem Herzen, denn ihm war die Begegnung mit Winfried unheimlich, und er barg seine Gestalt in dem Haufen der anderen.

An der Linde, wo das große Frankenbanner wehte, hielt Graf Gerold ein Pergament in die Höhe und rief über die Haufen:

»Dies ist ein Brief aus Rom, welchen der ehrwürdige Papst Gregor, der dort auf goldnem Stuhle sitzt, an Häuptlinge des Volkes niedergeschrieben und gesandt hat: wer seine Worte hören will, der trete herzu.«

Da drängten sich alle um die Linde, ein Priester verlas den lateinischen Brief, und der Rufer kündete mit weit schallender Stimme die Deutung in der Landessprache, welche ihm der Priester Satz für Satz vorsprach. Die Gemeinde vernahm die Worte:

»Den machtvollen Männern, seinen Söhnen Asulf, Godolav, Wilari, Gundhari, Albold und allen gottgeliebten Thüringen, welche treue Christen sind, sendet dies Papst Gregor.«

Mit gehobenem Haupte und geröteten Wangen traten die Häuptlinge, deren Name gerufen wurde, vor die anderen, und der wohlbeleibte Gundhari rief in seiner Freude laut: »Gundhari bin ich, und hier stehe ich.« Scheu blickte die ganze Versammlung nach den Ruhmvollen, welche durch das weiße Pergament aus fernem Lande angesprochen wurden. Ihre Verwandtschaft drängte sich um sie, und viele streckten die Hälse, um einen Anblick der Schrift zu erhalten.

[] Der Rufer fuhr fort und kündigte die Briefworte des Papstes. »Uns ist berichtet eure herrliche Treue gegen Christus. Denn als die Heiden euch zum Götzendienst drängten, habt ihr in festem Glauben geantwortet, ihr wolltet lieber selig sterben, als die Treue gegen Christus, die ihr einmal auf euch genommen, irgendwie verletzen. Darüber sind wir mit hoher Freude erfüllt und haben unserem Gott und Erlöser, dem Spender aller Güter, gebührenden Dank gesagt. Seine Gnade wird euch noch besseres Gedeihen schaffen, wenn ihr mit frommem Sinne bei dem heiligen Sitz der Apostel euer Heil sucht, so wie Königssöhnen und Miterben des Reiches bei dem königlichen Vater Heil zu suchen geziemt. Darum haben wir euch unseren geliebten Bruder Bonifazius zu Hilfe gesandt, wir haben ihn zum Bischof geweiht und zu eurem Prediger bestellt, damit er euch im Glauben unterweise. Wir begehren und mahnen, daß ihr ihm in allem beistimmt, auf daß euer Heil im Herrn völlig werde.«

Dieser Verkündigung folgte ehrfurchtsvolles Schweigen, endlich begann Asulf, welcher nach Geschlecht und Gütern der Vornehmste war, ein stattlicher Mann, dem die grauen Locken über die breiten Schultern hingen: »Gefällt dir's, Herr, so laß mich die Stelle sehn, auf welche der ehrwürdige Vater in Rom meinen Namen geschrieben hat.« Winfried nahm das Pergament und wies auf die Namen, alle drängten herzu.

»Groß ist die Ehre, die du uns durch diesen Brief bereitest«, begann Godolav, »wir bitten dich, Herr, lies uns und dem Volke noch einmal die wundervolle Botschaft. Denn lieber ist sie mir als ein gutes Schlachtroß und als eine ganze Herde, die sich in meinem Walde an Eicheln mästet.«

Noch einmal las Winfried, mit gefalteten Händen hörten die Männer und nickten bei jedem Satze die Bestätigung.

»Immer habe ich gemeint«, begann Asulf aufs neue, »daß der große Gott der Christen, dem wir uns gelobt haben, sehr wohl beachtet, ob seine Mannen ihm den Treuschwur bewahren und das Roßfleisch meiden; jetzt aber sehe ich, daß sein mächtiges Auge über weite Länder reicht, da sogar der Bischof, der als Vogt der Apostel zu Rom sitzt, genau weiß, wie ich mich unter den Eichen verhalten habe. Welcher andere Gott kann aufkommen gegen ein so gutes Gedächtnis? Denn wer dies weiß, der weiß auch anderes, was ich tue, und wenn ich ihm etwas Liebes erweise, so bin ich sicher, daß er mir's lohnen wird in diesem oder jenem Leben, wie es ihm gefällt. Darum möchte ich dir, ehrwürdiger Vater, ein Zeichen geben, daß ich gegen den großen Himmelsherrn dankbar bin. Wir hören, daß du hierherkommst, unserem Gott, den die Heiden den neuen nennen, Heiligtümer zu bauen. Zu meinem Erblande gehört ein Gut, junge Rodung, es hat dreißig Morgen Ackerland, auch Waldweide, [] und ein kleines Holz, du kannst den Bau dort unten im Tale sehen; nimm es, so bitte ich, von mir an als eine Gabe für den Himmelsherrn, damit du eine Kirche darauf gründest und einen Priester dazusetzest, welcher für mich und alle, die von meinem Stamme sind, bei dem großen Himmelskönig Fürbitte tut, auf daß er unser ferner gnädig gedenke.«

»Als ein kluger Mann, der für sein Wohl sorgt, hat Herr Asulf gesprochen«, rief Abold. »Und wir alle wissen, daß er von edlem Geschlecht ist. Aber ich meine doch nicht, daß er ein Vorrecht haben darf über allen Landgenossen und daß er allein vor anderen eine Kirche hegen darf und einen geschorenen Mann, der für ihn fleht. Auch ich biete einen Acker hier ganz in deiner Nähe, denn nicht geringer ist mein Besitz als der seine, und ich hoffe, daß dem Heiligen im Himmel auch die Gabe, welche wir anderen zutragen, ehrenwert erscheinen wird.«

»Ich will dasselbe«, riefen zwei oder drei Stimmen, und die Angebote von Kirchenland folgten rasch aufeinander.

»Was ihr dem Herrn darbringt«, sprach Winfried auf den Stufen des Altars, »gleich Königskindern, welche um die Gnade des königlichen Vaters werben, das empfange ich im Namen des Himmelsherrn, damit es euch und eurem Geschlecht zur Ehre und zum Heile sei; tretet heran und bestätigt eure Gabe kniend vor seinem Angesicht zu meiner Hand in Gegenwart des Grafen und der Gemeinde, damit alles fest werde durch euer Gelöbnis.«

Die Männer knieten vor dem Altar und gelobten.

Bis dahin hatten die Heiden abseits gestanden und höhnisch über die bereitwilligen Spender von Ackerland gelacht. Als aber noch ein dritter Brief aus Rom verlesen wurde an das ganze Volk der Thüringe, der auch sie anging, da fühlten sie doch als eine Ehre, daß der große Bischof in Rom so zutraulich zu ihnen sprach wie zu guten Bekannten, und die wohlmeinende Anrede bändigte den Ausbruch ihres Grolles.

Von dem Grafenbanner schritten die Christen, durch Winfried und die Priester geführt, in langem Zuge zu dem Altar, der unter Baumesschatten erhoben war. Der Gottesdienst begann. Die Heiden wichen zurück und hörten aus der Ferne Gebet und feierlichen Gesang der Priester. Dann trat Winfried auf die Stufen des Altars und sprach zu der Gemeinde von der Botschaft des Heils: daß der große Himmelskönig seinen Sohn gesandt habe auf die Männererde, um alle zu erlösen von Übel und Sünde, und durch die heilige Taufe und ihr Gelöbnis zu binden in eine große Gefolgschaft, damit sie hier Glück und Heil fänden und nach dem Leben im Christenhimmel wohnen könnten als selige Bankgenossen des Himmelsherrn. Und er kündete die hohen Gebote, denen jeder Christ nachleben soll, damit der Herr ihn als seinen treuen Mann beachte.

[] Die Stimme des Predigers klang mächtig und drang tief in die Seelen, auch die Heiden lauschten mit zugeneigtem Ohr. Nie hatten die Männer so sinnvolle Rede über Himmel und Erde vernommen, welche aus einer bewegten Menschenbrust tönte, und herzerschütternd deuchte ihnen die Kraft der Worte. Als er geendet hatte und die Christen alle niederknieten, damit er sie segne, war es still unter den Heiden, und kein Hohnwort und Gelächter tönte widerwärtig in die feierliche Handlung. Auch der Wildeste scheute die Gegenwart der Edlen und vielleicht noch mehr die Reisigen des Grafen, welche zu Roß mit ihren Speeren in weitem Ringe um den Baum hielten.

Nach dem Gottesdienst drängten sich die christlichen Häuptlinge und das Volk ehrfürchtig nahe an Winfried, sie suchten ein freundliches Wort von ihm zu gewinnen, seine Hand zu fassen oder doch einen Zipfel seines Gewandes zu berühren, er aber sprach zu den einzelnen wie ein Fürst zu seinen Getreuen, hörte ihre Bitten und wußte jedem durch Rede und tröstlichen Spruch wohlzutun. Herr Gerold wünschte ihm Glück: »Alles ist dir heut wohlgelungen. Ich selbst hoffe Gutes von deiner Ankunft, denn williger werden sie mir jetzt den Zins zahlen, wenn du mahnst, und ich vertraue, sobald du ihnen die Waffen segnest, mögen sie auch den Slawen stärkere Hiebe geben als ehedem.« Dann sahen die Leute mit Erstaunen, daß sogar die stolze Frau Berswind sich zu der Hand des Bischofs herabneigte, als sie leise zu ihm sprach: »Ehrwürdiger Vater, wenn ich recht berichtet bin, steht in den heiligen Büchern geschrieben, daß die verlobten Männer alle Wendenfrauen, welche sie mit ihrem Speer gewinnen oder auch kaufen, von ihrem Lager fernhalten sollen. Das aber tun viele in diesem Lande und anderswo gar nicht, denn sie liebkosen auch gefangene Weiber und schenken ihnen wohl gar silberne Nadeln und Ringe. Dies ist das größte Leidwesen und Ärgernis, und ich flehe, daß du auch den Gerold deshalb eindringlich mahnst.« Das versprach ihr Winfried ernsthaft.

Und wieder ein Häuptling begann: »Gern wüßten wir deine Meinung, Herr, über die Opfermahle der Heiden, damit wir uns halten, wie Christen gebührt; denn lustig ist der Opferschmaus auf grünem Rasen, und ungern würde ihn mancher missen. Ich aber esse nie von dem Roßfleisch, wenn ich nicht vorher ein Kreuz über den Teller geschlagen habe, damit die Heidenspeise dem Christengott nicht widerwärtig sei, ich hoffe, das gefällt auch dir.« Und der Häuptling Wilari, welcher in dem römischen Briefe genannt war, rührte den Bischof an und sprach vertraulich: »Ich bin nicht der Mann, der einem anderen seine Ehre beneidet, zumal, wenn er sie selbst auch genießt, aber was den Helden Gundhari betrifft, so war uns allen wunderlich, daß er in dem Brief des römischen Papa [] genannt war. Denn sonst hat er oft am Opferstein gestanden und ist mit den anderen im Osterreigen gesprungen. Aber damals, wo er widerstand, war er unwirsch wegen des starken Metes, den er geschöpft hatte, und als ihn die Nachbarn anfaßten, um ihn fortzuziehen, wurde er ärgerlich, zog sein Schwert und verschwor sich, daß er jedem feind sein werde, der ihn von seinem Sitz treibe. Ob er das aus Treue gegen den Christenglauben tat, das magst du selbst ermessen, denn er fing gleich darauf an ärgerlich zu singen, schlug gewaltsam auf den Tisch und schlief ein.«

»Widerstand er einst im Rausche, in Zukunft tut er es auch wohl nüchtern«, tröstete Winfried und wandte sich zu dem Grafen. »In der Ferne erkannte ich den Thüring Ingram zum Rabenhofe, vor Tagen entsandte ich ihn zu dem Sorben Ratiz, geraubte Weiber und Kinder durch das Gut meines Herrn zu lösen. Mir wird schreckhaft, daß er zurückgekehrt ist und sich fernhält, gefällt dir's, so laß ihn rufen, daß er Bericht gebe.«

»Der Mann hat einen guten Leumund, wie ich vernehme«, antwortete der Graf. »Kommt er von den Sorben, so wird auch anderen als euch Christen wertvoll, seine Botschaft zu hören.« Und er gebot dem Rufer: »Lade die Häuptlinge und Alten zum Ringe in den Hof der Frau Hildegard und fordere den Ingram, daß er vor dem Bischof erscheine.«

Im Zuge geleiteten die Herren den Bischof nach dem Meierhofe. Kurz darauf wurde Ingram in den gedrängten Kreis geführt, welcher sich am Herd versammelt hatte. Seine Wange war bleich und düster seine Miene, als er unter die Ersten seines Volkes trat, stumm grüßte er die Versammlung und mied das Auge des Bischofs, aber der Graf wies schweigend mit der Hand auf Winfried. »Wo ist Gottfried, wo sind die Kinder, Ingram?« rief dieser in einer Bewegung, die er nicht zu beherrschen vermochte.

»Ich weiß es nicht«, versetzte Ingram kurz.

»Und du stehst doch unversehrt vor mir«, rief ihm der Bischof entgegen.

»Dein Bote hat die Frauen und Kinder durch dein Silber erledigt, alles ist ihm bei Ratiz gelungen. Vor fünf Tagen zogen sie in der Frühe aus dem Lager des Ratiz, Wolfram, mein Mann, begleitete sie bis in die Nähe des Sorbenbaches; ihre Spur fand ich den Tag darauf diesseits des schwarzen Wassers, sie selbst habe ich nicht gefunden.«

Winfried wandte sich ab und rang heftig, seinen Zorn und Schmerz in demütiger Ergebung zu bändigen. Aber hart war sein Antlitz, als er sich wieder zu Ingram wandte. »Oft habe ich gehört, daß es einem Krieger wohl anstehe, seinem Reisegesellen in Gefahr an der Seite zu bleiben.«

»Nicht ich habe deinen Boten als Gesellen gesucht, du selbst [] trugst mir ihn an. Ihn führte sein Gott, mich das Geschick, das mir die Götter meines Volkes fügten.«

»Dennoch verkündet von dir der Ruf«, begann der Graf wieder, »daß du einen Genossen nicht ohne Not in der Wildnis verläßt; gefällt dir's, so sage uns, was dich von ihm geschieden hat.«

Ingram sah finster zur Erde. »Nicht vermag ich's zu bergen, denn ruchbar wird es doch im Volke. Ich lag bei Ratiz verstrickt, widerwärtig rollten die Würfel, meine Freiheit hatte ich im Spiel verloren.«

Die Versammelten regten sich unruhig, und viele erhoben sich von ihren Sitzen.

»Übel bedacht war es, ein gutes Schwert der Thüringe an einen Sorbenwürfel zu wagen«, versetzte der Graf. »Ich hoffe, du hast billigen Loskauf gefunden.«

»Die Hunde brachen mir die Treue«, rief Ingram, »sie weigerten die Lösung und gelobten mich ihrem Opferstein und dem Messer des Priesters. Ich aber brach in der nächsten Nacht aus, hinter mir schlug die Lohe zum Himmel, das Lager des Ratiz ist niedergebrannt.« Ein lauter Ruf des Staunens und Beifall ging durch die Versammlung, Herr Gerold stand schnell auf und trat zu Ingram.

»Wahrlich, Mann«, rief er, »in kalten Worten kündest du, was deinem Volke wohl einen Sommer lang heiße Arbeit machen kann. Ich aber bin von meinem erlauchten Herrn Karl nicht in dies Land gesandt, um zu dulden, daß ferner Hufe und Klauen eurer Herden ostwärts getrieben werden. Und meinem Schwert hast du gute Botschaft gebracht, ob dir selbst, darüber mögen deine Landgenossen entscheiden. Hast du das Räubernest angezündet?«

»Godes tat es, ein Knecht der Sorben, der uns die Rosse zur Flucht gab, ich sandte ihn heut auf einem meiner Hengste nordwärts in das Land der Sachsen, damit er die Rache der Sorben meide.«

»Als ein wilder Knabe hast du gehandelt«, sprach der Graf, »und in eigener Sache deinem Volke einen Kriegsfall bereitet. Mich aber wundert, daß der Ratiz jetzt noch Frieden hält und sogar Geleit für Gesandte erbittet. Denn seine Boten harren bereits an der Grenze. Weißt du noch etwas zu kündigen, Ingram, was einen von uns angeht?«

»Nur was mich angeht, Herr. Im Ringe der Edlen und Alten stehe ich, geschmäht kann ich nicht leben. Wenn jener Christ mir vorwarf, daß ich seinem Genossen, die Treue brach, so habt ihr doch vernommen, daß seine Klage ungerecht war. Ich aber will seinem Boten, den sie Gottfried nennen, das Zeugnis geben, daß er als treuer Reisegenosse an mir gehandelt hat, obgleich ich seinen guten Willen mir nicht begehrte. Denn er bot sein eigenes Haupt dem Sorben für das meine und wäre zurückgeblieben an meiner Statt,[] wenn die Sorben und ich selbst seinen Antrag angenommen hätten. Und darum war mir leid, daß ich ihn in der Wildnis nicht fand, obwohl ich ihn mit meinen Gesellen drei Tage gesucht habe. Das sage ich euch, damit ihr es wisset, nicht dem Bischof, welcher mir widerwärtig denkt.«

Als Ingram so trotzig gegen den Bischof sprach, entstand Gemurr der Christen und rühmendes Waffengeklirr der Heiden. Ingram aber fuhr fort: »Doch eine größere Sorge bedrängt mich, und darum will ich euch fragen. Ich bin dem Ratiz entwichen, weil er gegen den Vertrag an mir handeln wollte, aber ich fuhr ohne Lösung aus den Banden. Und die Sorben werden mich fortan einen entlaufenen Knecht schelten, das nagt mir am Herzen.« Er stampfte mit dem Fuße auf den Boden. »Wissen will ich, ob meine Landsleute mich auch dafür halten, und ob sie laut oder in der Stille beistimmen, wenn ein Feind im Lande solche Schmährede gegen mich wagt. Und denkt ihr darum niedrig von mir, so sattle ich zur Stelle mein Roß und reite aus dem Lande, so lange, bis ich den Ratiz und seinen Haufen finde und dort mir ehrliche Ausfahrt suche aus der Hülle meines Leibes.«

Tiefe Stille folgte seinen Worten, endlich begann Asulf, der älteste unter den versammelten Edlen: »Verhält es sich, wie du sagst, haben die Sorben die Schatzung versprochen und dich nachher für das Opfermesser bestimmt, so darf dich kein redlicher Mann darum schelten, daß du ihre Weiden zerschnitten hast, sobald du vermochtest. Daß du aber mit dem fremden Räuber um Roß und Schwert und deine Freiheit gespielt hast, solche wilde Tat liegt fortan auf deinem Leben, du mußt sie tragen und niemand kann dir die Last abnehmen. Mancher wird es für ein lustiges Wagstück halten, weil du dich doch wieder entledigt hast, mancher auch für eine Kränkung, die du dem Gedächtnis deiner Vorfahren zufügtest. Sorge, Held, daß deine Landgenossen in Zukunft anderes preisen, was du ruhmvoll tust.«

Die Christen stimmten dem Häuptling bei, und die Heiden schwiegen, aber keiner widersprach. Wieder war tiefe Stille, da begann Winfried; »Nicht meines Amtes ist es, über das weltliche Lob eines Kriegsmannes zu entscheiden, das steht euch allein zu, Häuptlinge des Volkes. Nur eines darf ich euch sagen, liebevoll und barmherzig ist der Gott, dem ich diene, und er richtet nicht nur über die Taten der Menschen, auch über ihre Gedanken. Manches wilde Werk beurteilt der Himmelsherr wohl gnädiger, weil er den Sinn der Menschen durchschaut. Gefällt's euch, ihr Edlen und Weisen, so fragt den Krieger, weshalb er so vermessen mit dem Sorben gewürfelt hat.«

»Du hörst auch diese Frage, Ingram«, sprach der Graf, »willst du Antwort geben, so rede.«

[] In Ingram kämpfte heftig Stolz und Abneigung gegen den Priester mit dem Wunsch, das zu sagen, was in den Augen seiner Landsleute wohl eine Rechtfertigung war, aber sein Trotz behielt die Herrschaft, der Schweiß trat auf seine Stirn, als er antwortete: »Ich will nicht.«

Da erhob sich Kunibert und rief: »Da Held Ingram schweigt, will ich euch künden, was ich von seinem Diener Wolfram gehört habe. Um Walburg, das Frankenmädchen, die Tochter seines Gastfreunds, den die Sorben erschlugen, wagte er das Spiel, weil der Sorbe das Weib für sein Lager bestimmt hatte und nicht anders freigeben wollte.«

Ein leises Summen ging durch die Versammlung, und die ernsten Mienen entwölkten sich. »War es für ein Weib, Ingram«, begann der Graf lächelnd, »und für das Kind deines Gastfreundes, so werden die jungen Gesellen und Mädchen deshalb von dir nicht schlechter denken. Ich aber rate dir, nicht in der Weise eines verzweifelten Mannes dein Pferd zu satteln. Harre, bis der Tag kommt, wo du in meiner Schar deine Rechnung mit dem Ratiz ausgleichst.« Er winkte ihm Entlassung, Ingram verließ schweigend den Meierhof, hinter ihm klang das Geräusch lebhafter Rede.

Der Abend kam, und das versammelte Volk lagerte sich zur Nachtrast; rings um das Dorf loderten die Feuer in der Niederung und auf den Bergen, die Männer saßen nach Dörfern und Geschlechtern gesondert, sprachen über die Ereignisse des Tages und über die große Veränderung, die der neue Bischof dem Land bedeute. Zwischen den Feuern schritt Winfried, von den Priestern begleitet; wo er einem Christenhaufen nahte, erscholl lauter Heilruf, er trat grüßend heran und redete mit den Männern. Dann vernahm man den Klang eines Glöckchens, das Memmo trug, die Rastenden knieten um die Flamme. Winfried sprach das Abendgebet und erteilte den Segen. Wo aber ein Heidenhaufe saß, ging er wie ein Häuptling mit würdigem Gruß vorüber, er fand kalten Gegengruß und finstere Mienen, doch keiner wagte ihn durch Worte zu kränken, erst hinter seinem Rücken klangen leise Verwünschungen.

Um den Rabenhof brannten die Feuer nicht, nur das letzte Abendlicht vergoldete die Linde, welche in der Mitte des Hofes stand. Dort saßen und lagen eine Anzahl ansehnlicher Heiden, ihre Mienen waren sorgen voll, und um große Dinge ging ihr Gespräch.

»Mich freut's, Ingram, daß du dem Fremden in der Versammlung so mutig widerstandest«, begann Bruno, Bernhards Sohn, zu dem Genossen, der die Augen abwärts gekehrt neben ihm auf dem Boden lag. »Doch auch dem Fremden muß ich die Ehre geben wegen der Worte, die er zuletzt über die Würfel sprach. Denn [] gewichtig war die Mahnung, daß man auch die Gesinnung eines Mannes bedenken soll.«

»Schlau ist seine Rede und hinterhältig sein Sinn«, rief Ingram zornig von der Erde, »die Franken am Main taten klug daran, mir sein Amt zu verhehlen.«

»Niemand wird leugnen«, fuhr Bruno fort, »daß er ein gewaltiger Mann ist; mächtig verkündete er heut vor allen; er schrie, wie der Sturmwind schreit. Unerhört ist es in der Welt, daß jemand am lichten Tage vor allem Volk so große Botschaft ausruft und durch Briefe und Schrift bezeugt, daß sein Gott mächtiger sei als die Götter, zu denen wir flehen.«

»Auch ein Lügner mag laute Stimme haben«, versetzte Kunibert.

»Er aber ist kein Landläufer«, fuhr Bruno fort, »wie ein König wandelt er einher, würdig, in vornehmem Gewande, ein weit anderer Mann scheint er als der kleine Meginhard, und wenn ich recht urteile, so gleicht er durchaus nicht einem Betrüger.«

»Wie kannst du ihn einem König vergleichen«, rief Kunibert, »da er keine Waffen trägt und ganz unkriegerisch ist.«

»Hat nicht manches Volk, das zu unseren Göttern flehte, den gleichen Brauch? Auch bei unseren Nachbarn, den Sachsen, ist es dem Opferer nicht erlaubt, den Speer zu werfen und im Haufen zu kämpfen. Sage uns, Ingram, da du sein Geleitsmann warst, ob du ihn als einen furchtsamen Mann erkannt hast.«

In innerem Widerstreben antwortete Ingram: »Ich habe ihn in der Gefahr furchtlos gefunden, aber unmännlich weigert er sich, Rache zu nehmen an einem Feinde.«

Seine Genossen sahen erstaunt einander an, und die jüngeren lachten verächtlich. Nur Bruno sprach kopfschüttelnd: »Auch ich habe vernommen, daß ihr Gott gebietet, die Feinde zu lieben, dennoch lache ich nicht über solche Lehre, wenn sie auch jedem wehrhaften Mann unrühmlich und unverständig erscheint. Denn ich merke, auch in ihr ist ein Geheimnis und eine Deutung, die ich nicht verstehe. Ist doch Graf Gerold ein Christ und mancher andere, der seines Schwertes froh wird. Wie die Franken auch sonst von Gemüt sein mögen, daß sie vor Blut erschrecken, darf ihnen keiner nachsagen. Und gerade an dieser Lehre von der Liebe mögen wir erkennen, daß die Christen sich auf eine Schrift stützen, die ihnen von einem Gotte überliefert ist, denn einem Gott ist eher möglich, Unmenschliches zu gebieten als einem Mann, und alle Christen lehren und sprechen dasselbe, auch wenn es ihnen selbst lästig wird, darnach zu handeln. Achtet wohl darauf, genau mit denselben Worten wie jener Bischof sprach auch sonst der kleine Memmo und der Priester des Grafen, obgleich sie nicht so streng gegen das Roßfleisch und das Beilager mit fremden Frauen eiferten als der [] Fremde. Furchtbar für uns alle ist eine Lehre, welche von dem Gotte selbst herkommt und als wahrhaft durch seine Schrift bezeugt wird.«

»Deutlicher sprechen unsere Götter zu uns«, rief Ingram, das Haupt erhebend, »von ihnen berichtet das Lied des Sängers und der Spruch der Weisen, ihre Stimme höre ich im rauschenden Baum, im singenden Quell, im Schlage des Donners; jedes Frühjahr fährt der Sturmwind über die Täler, und wenn die Götterhunde bellen und die Geisterrosse schnauben, zieht der große Schlachtengott über unseren Häuptern dahin. Wer begehrt sich ein stärkeres Zeugnis als dieses, das wir alle Tage ehrfürchtig hören oder sehen.«

»Sinnvoll redest du«, sprach Bruno, zu den Raben aufblickend, welche um den Baum flogen und ihr wildes Lied schrien, »überall schweben sie um uns, und ihre Boten verkünden, daß sie nahe sind. Dennoch ängstigt mich, daß sie gegen den Fremden ohnmächtig werden. Wenn sie im Wipfel des Baumes wohnen, wenn sie durch die Luft fahren, warum strafen sie ihn nicht? Das Zelt hatte er für den Dienst seines Gottes errichtet unter dem Fruchtbaum, von dem wir die Losstäbe schneiden; an dem Baume rinnt ein Quell, zu dessen Herrin wir flehen, ich sah auf den Baum und ich sah in den Quell, während er sprach; das Laub rührte sich gerade wie sonst, und wenn er schwieg, sang der Quell weiter. Ich schaute der Sonne, unserer lieben Herrin, in das Angesicht, als ihre Strahlen auf sein Haupt fielen, bis sie mir für meine Unverschämtheit den Blick schwärzte, aber mir schien, daß sie fröhlich aussah wie sonst immer, und daß sie ihm gar nicht feind ist. Ja, ich fürchte, sogar der Donner vermag nichts gegen ihn.«

Ingram seufzte, er wußte, daß der Donnergott vermied, den Verwegenen zu treffen.

»Darum sage ich«, fuhr Bruno kummervoll fort, »es ist eine große Verkündigung, die wir am lichten Tage durch helles Wort und durch neue Gedanken hören. Wer in versammeltem Volk seiner Rede lauscht, dem wird es schwer, ihm zu widersprechen. Dann sind die Gedanken, welche er aufregt, viel gewaltiger als die Stimmen der Überirdischen, welche wir ehren. Aber wenn der Mann allein steht im dunklen Nebel, am Waldbach, bei der wogenden Halmfrucht, oder auch in der Dämmerung am Herde, dann wird wieder die Verkündigung des Christen schwach und unsere Götter werden mächtig. Zwieträchtig ist, wie ich ahne, die Herrschaft der Götter; der neue Gott der Christen, den sie den dreieinigen nennen, herrscht wie ein Tageskönig, wo sich die Männer zusammengesellen und starke Rede erschallt; jedoch die Götter unseres Landes schweben daneben, sie walten und schaffen, aber ich sorge, sie vermögen ihn nicht zu überwinden. Schreckenvoll ist solche Zeit für jeden treuherzigen Mann. Ob sie einen Kampf der Götter bedeutet und Untergang [] der Männererde, oder eine neue Herrlichkeit, wer vermag das zu sagen?«

Er senkte traurig das Haupt, auch die anderen schwiegen, bis Kunibert begann: »Jeder von uns hat schwere Gedanken. Mir aber widersteht der fremde Brauch und die neue Lehre, denn die alten Götter gaben meinem Leben Ehre und Segen, unbedachtsam und frevelhaft wäre ich, wenn ich die Holden verließe. Darum denke ich so: hat sich ein Kampf erhoben zwischen unseren Göttern und dem Christengott, so harren wir ehrfurchtsvoll, welcher der stärkere sei. Deutlich wird das auch für uns Männer; denn wer sich mächtiger erweist als Glücksspender und Siegbringer, dem müssen wir folgen, wenn wir nicht töricht sind. Ist der Christengott so gewaltig, wie du sagst, so mag er demnächst unseren Waffen Sieg geben gegen die Slawen, wenn wir wider sie kämpfen. Das, meine ich, wird das große Gottesgericht sein, wo unserem Volke die Lose geworfen werden und zugleich den Göttern selbst.«

»Folge du gefügig dem Sieger«, fuhr Ingram im Zorne auf, »ich denke treu zu bleiben den Gewaltigen, denen meine Väter gelobt haben, und die mir, seit ich ein Kind war, bei Tag und Nacht ehrwürdig gewesen sind. Längst wissen wir, daß Kampf ist auf der Männererde und Kampf im Reiche der Götter. Jeden Winter dringen die finsteren Todesgewalten gegen die guten Bewahrer unseres Glücks, mühsam ist der Streit zwischen Tageswärme und Nachtreif, auch hinter Sonne und Mond rennen, wie die Sage kündet, unablässig die Riesenwölfe, sie zu verschlingen. Ich aber will, bin ich auch nur ein einzelner Mann, in dem Götterstreit bei den guten Geistern meiner Ahnen stehen, ob sie siegen oder unterliegen. Lodert ihre Welt in Flammen, so will ich vergehen mit den Geliebten, denen ich zeither gedient. Denn Haß fühle ich gegen die neue List und die gewundene Rede und das siegesfrohe Lächeln der Priester.« Er erhob sich heftig und eilte aus seinem Hof ins Freie. Bruno sah ihm besorgt nach. »Der Sinn ist ihm verstört durch die Sorbenbande, und ich fürchte, er denkt auf Gewalttat.«

Das glühende Abendrot wich dunklem Grau, nur ein matter rötlicher Schein lag noch an dem Bergwald und den Höhen, da vernahm man auf dem Talwege, der von der Saale her zum Dorfe führt, feierlichen Gesang. Aus der Dämmerung bewegte sich ein wallender Zug, der Knabe mit dem Holzkreuz, hinter ihm Gottfried und der ganze Haufe der Frauen und Kinder, Walburg auf einem Karren von zwei Rindern gezogen. Freudengeschrei und lauter Zuruf des Volkes empfing die Geretteten, als sie den brennenden Feuern nahten. Erstaunt sahen die Fahrenden auf die Flammen und das Volksgewühl und empfingen die Glückwünsche der andringenden Menge. Der Bischof selbst eilte mit geöffneten Armen dem Zuge entgegen; umringt von dem Volke, stattete ihm Gottfried seinen [] ersten Botenbericht ab, wie die Erledigten ausgezogen und an dem schwarzen Bach und der Wasserrinne aufwärts in den Wald gedrungen waren; dort hatten sie Tag und Nacht die Schrecken der Wildnis empfunden. Aber als sie endlich zu einem einsamen Hofe kamen, hatte der Wirt, obwohl er mehr Heide als Christ war, einen Karren bespannt und aus Furcht vor den Sorbenkriegern seinen Hausrat und die Kranke daraufgesetzt und die Wandernden mit Hausgenossen und Vieh begleitet.

Durch die Menge, welche dem Bericht lauschte, brach Ingram. In seliger Freude rief er schon von weitem den Namen der Jungfrau, vergessen war in diesem Augenblick aller bittere Zorn, und in heller Verklärung strahlte sein mannhaftes Antlitz. So erkannte ihn Walburg. Das Schleiertuch vor ihrem Gesicht bewegte sich, und ihre Hand streckte sich ihm entgegen. Da trat Gottfried heran, faßte ihre Hand, hob sie mit Hilfe des Führers vom Karren und führte sie zu Winfried. Walburg sank auf die Knie, und Ingram wich zurück. Mit schnellen Worten berichtete Gottfried ihren Namen und ihr Geschick, und Winfried sprach liebevoll: »Vor einem fernen Grabe habe ich gelobt, für dich zu sorgen wie ein Vater, der Himmelsherr hat die erste Bitte erhört, die ich in diesem Lande um eine Seele zu ihm tat, ich nehme dich auf als ein Unterpfand, daß der Herr auch ferner meinem Tun gnädig sein wird.« Er sah zu dem Meierhofe hin, wo bereits eine Menge geschichteter Stämme zu neuem Bau lag, und rief froh: »An dieser Waldecke soll, wie ich hoffe, eine Herberge erstehen, worin mancher Gebundene aus den Fesseln gelöst wird. Sei bedankt, mein Sohn, für die gute Reise; deine Rückkehr löst auch einen anderen von schwerer Verantwortung.«

An Ingrams Händen hingen die kleinen Brüder der Walburg. »Kommt zu mir, ihr Knaben«, rief Ingram heftig und zog sie mit sich fort.

Aber Winfried selbst trat ihm in den Weg. »Mein sind die Knaben, und mein ist jedes Haupt dieses Zuges.«

»Die Söhne meines Gastfreunds sind's, und die Sorge für ihr Wohl nehme ich auf mich«, rief Ingram in aufloderndem Zorn.

»Durch das Gut des Herrn sind die Kinder gelöst, und nicht durch das deine«, antwortete der Bischof.

»Krieger sollen sie werden und nicht kniebeugende Christen«, rief Ingram, die Knaben festhaltend.

»Ich aber fürchte, Ingram«, versetzte Winfried, »daß ihnen der wilde Haushalt deines Hofes nicht gedeihen wird, und ich habe die Pflicht, sie davor zu bewahren, denn meiner Lehre gehören sie. Gib die Hände frei, die du festhältst.«

In hellem Ausbruch der Wut faßte Ingram nach seinem Schwert, der Bischof faßte die Hände der Knaben und stand dem Wütenden [] mit gehobenem Haupt gegenüber. »Nicht das erstemal stehe ich vor deiner Waffe«, rief er mahnend.

Der Graf trat schnell vor Ingram und hielt ihm selbst die Schwerthand fest. »Unsinnig bist du, Ingram, daß du dich gegen einen Geschorenen regst. Laß dir Gutes raten, Mann; hebst du das Schwert, so verlierst du die Hand.«

Aber Ingram riß sich los, ihm wirbelte es vor den Augen, blutigrot waren die Gesichter, welche ihn höhnisch anschauten, und ganz außer sich rief er: »Von meinen Göttern scheidet er mich, und die ich liebe, löst er von mir, rächen will ich den Schaden oder nicht leben«, und im Sprunge schwang er sein Schwert gegen den Bischof. Da sah er plötzlich vor sich nicht das verhaßte Gesicht des Priesters, sondern ein Frauenantlitz, marmorbleich, voll Schrecken die Augen, auf der Wange eine blutigrote Wunde, und er fuhr zurück, entsetzt über die Verwandlung.

»Greift den Friedensbrecher!« rief Herr Gerold. Wildes Geschrei erhob sich, und Schwerter blitzten. Ingram aber rannte mit gehobener Waffe der Höhe zu; seine Freunde und Genossen aus der Heidenschaft drängten sich zwischen ihn und die zornige Menge, bis die Rufe der Verfolgenden in der Ferne verklangen und den Gejagten das schützende Dunkel des Waldes umschloß.

Walburg

Nach dreitägiger Lehre und Festfeier waren die Gaugenossen heimgezogen, die Christen mit gehobenem Haupt, die Heiden in Kleinmut. Aber draußen in dem weiten Land der Thüringe wirkte die Bewegung fort, welche durch den Zauber eines kräftigen Mannes aufgeregt war, der Windstoß aus dem Waldtal wurde zum starken Sturme, er durchfuhr das ganze Land und warf alte Heidenbäume nieder.

Winfried wohnte nicht mehr in der Hütte des Memmo. Auf den Rat des Grafen war ihm beim Meierhof eine Halle errichtet worden, damit er würdiger das Volk empfange. Doch war er selten daheim, von Reisigen und von einem Gefolge ansehnlicher Männer begleitet, zog er rastlos durch das Land, und wo er erschien, stritten die Männer über Opfermahle und ihr künftiges Heil in der Himmelsburg. Viele zogen das weiße Gewand der Täuflinge an, noch mehrere standen unsicher zur Seite, ohne Waffen gegen das laute Wort aus Menschenbrust und gegen das Wesen des Mannes, der so sicher wie ein Gott Bescheid wußte, wo andere sich im Zweifel ängstigten. Fand er auch überall bittere Feinde, wider den ersten Andrang seiner Lehre vermochten sie sich nur wenig zu wehren, denn gütig und schonend sprach er zu dem einzelnen, und jedem gab er seine Ehre, er war freundlich zu den Frauen, sein Antlitz [] wandelte sich in helle Fröhlichkeit, wenn er mit den Kindern sprach, und wo er einen Bedrängten oder Darbenden fand, gab er alles, was er selbst gerade hatte, und bat so feierlich, und dringend, daß er oft auch die Harten zur Guttat beredete. Im ganzen Lande sagten die Leute, daß er ein milder und vornehmer Mann sei, und darum hörten sie ihn williger.

Aber auch das Dorf, in dem er zuerst eingekehrt war, wies nach wenigen Wochen die Verwandlung. Auf dem Meierhofe, welchen Frau Hildegard dem Christengott als Geschenk dargebracht hatte, erhob sich bei der Halle ein Turmgerüst und daran ein großer, im Viereck eingehegter Raum, der dem Gottesdienste geweiht war. Außerdem mehrere neue Blockhäuser: ein Schlafhaus für die losgekauften Frauen und Kinder, daneben ein Arbeitshaus, in dem sich an jedem Wochentage die Spindeln drehten und Webstühle klapperten; und gegenüber ein zweites Arbeitshaus mit einem großen Kreuz über dem Giebel, die erste Schule im Lande. Dort saßen die Knaben, deren Vormund der Bischof geworden war, auf niedrigen Holzbänken, sie lernten in ihrer Sprache das Vaterunser und den Glauben und im Latein Kirchengebete und Gesang, daneben auch ein wenig Verständnis der lateinischen Worte. Denn Memmo erfand für sie wichtige Sprüche mit deutschen und lateinischen Wörtern in der Tat wie: meus avus heißt mein Ahn, pater heißt der Vater, vir bin ich, der Mann, filius der Sohn. Memmo lächelte jedesmal stolz, wenn er den Knaben einen neuen Spruch beibrachte, er strich denen, welche gut lernten, so zart über das gelbe Kraushaar, wie seinem Stieglitz über das rote Käppchen, aber den Ungefügen zahlte er unerbittlich ihr Kerbholz mit einer großen Birkenrute, welche der Unartigste jeden Sonnabend neu liefern mußte, damit er selbst die ersten Streiche empfange. Auch Schreibgerät bereitete er, um den Knaben das Geheimnis der Schrift zu offenbaren. Er kochte den schwarzen Zaubersaft der Tinte, während ihn die Knaben ängstlich umstanden; er lehrte seine Schüler kleine Holztafeln schneiden und einrahmen und für den Gebrauch des Griffels mit einer dünnen Lage Wachs überziehen, für die Tinte aber mit weißem Birkenbast bekleiden. War Gottfried im Dorfe, so unterrichtete dieser im Kirchengesang, zu seiner Schule gehörten auch die Frauen und Mädchen. Sooft die Weise des Abendliedes von der Höhe über das Dorf klang, hörten die Landleute mit der Arbeit auf und sahen furchtsam zu dem Hofe empor, wo dem neuen Gott der Nachtgruß geboten wurde. Und wenn Memmo mit seinen Schülern durch Wiese und Holz zog und ihnen die Tugenden der Bäume und Kräuter erklärte, dann wurden seine kleinen Gesellen von den Dorfknaben angeschrien wie gezähmte Vögel von wilden, und er hatte zuweilen mit seinem Stocke Arbeit, um die Köpfe der Raufenden auseinanderzubringen.

[] Weit durch das Land lief das Gerücht von der neuen Schule und von der seltsamen Christenzucht. Obgleich das unkriegerische Wesen den Ansehnlichen mißfiel, so dünkte doch manchem vorteilhaft, einen jüngeren Sohn daran zu wagen, die armen Leute aber warben dringend um Aufnahme, und schon dachte Winfried daran, die Schule nach dem großen Markt der Thüringe zu verlegen.

Einige Frauen und Kinder waren durch ihre Freunde abgeholt worden, aber die Mehrzahl saß noch unter dem Schutz des Bischofs und begehrte sich kein besseres Glück, denn der Haushalt war wohlgeordnet, und aller Bedarf des Lebens wurde in fester Ordnung bereitet. Die Christen hatten nach der großen Versammlung auf die Mahnung des Bischofs freiwillige Spenden zugetragen: Lebensmittel, Flachs, sogar Viehhäupter. Anderes gewann eigener Fleiß der Hausenden. Was Wald und Flur von eßbaren Früchten bot, wurde gesammelt, die Ernte des Gutes von eifrigen Händen eingebracht, jedem einzelnen wußten die Väter nach seinen Kräften ein Amt zu geben, welches dem Haushalt nützlich war. Neben dem Meier und seiner Frau standen Walburg und Gertrud der Wirtschaft vor, die eine im Frauenhause, die andere in den Ställen und auf dem Felde. Sooft Winfried von seinen Reisen heimkehrte, empfing er wie ein Gutsherr die Berichte seiner Getreuen, er stand fröhlich unter den Kindern, freute sich der guten Köpfe, welche Memmo lobte, und mahnte die Säumigen. Und jedesmal hatte er einen besonderen Gruß für Walburg und ihre Brüder.

Walburg war genesen. Memmo hatte seine ärztliche Kunst wohl an ihr bewährt, mehrere Wochen hatte er ihr die Arbeit in freier Luft verboten, heut war ihr völlige Heilung verkündet, und sie stand zum erstenmal im Hofe, das Antlitz zur Hälfte mit dem Schleiertuch bedeckt, welches nach dem Gebot des Paters die vernarbte Wange noch einige Zeit von der wehenden Luft scheiden sollte. Sie hielt eine Webe Leinwand an das Licht, prüfte die Fäden und maß an einem Stab die Länge, während zwei kleine Mädchen die rollenden Falten in ihren Schoß aufnahmen. »Es ist noch keine Herrenleinwand«, sagte sie in fröhlichem Eifer zu Gottfried, indem sie auf seinen stummen Gruß mit Kopfnicken antwortete, »denn der ehrwürdige Bischof wollte, daß wir zunächst für die Kinder arbeiten sollten. Denke, mein Bruder, jeder der Knaben soll zu seiner Wolljacke noch zwei Hemden und ein Paar Bundschuhe erhalten. Wie Söhne von Häuptlingen werden sie einhergehen, und das ist gut, damit sie jedermann achte, weil sie doch jetzt deine Schüler sind. Und dann sind noch Betten zu stopfen für Große und Kleine, und Inlett und Überzug zu nähen, und wir haben alle Hände voll zu tun, damit das Haus in Ordnung sei, wenn der kalte Winter kommt. Viele kleine Betten sind nötig, denn der Herr Winfried will wieder, daß jedes der Kleinen sein eigenes Bett [] habe, was hierzulande unerhört ist. Aber braunes Wolltuch ist bereits vorhanden, und gern möchte ich vor den anderen dir ein Hausgewand nähen; denn, verzeihe, Bruder Gottfried, wenn ich es sage, das, welches du trägst, wird fadenscheinig, und wir bekümmern uns darüber.«

»Sorge nur für die anderen«, versetzte Gottfried, »wird mein Rock schlecht, so webe und nähe ich mir selbst einen, oder empfange einen anderen, den ein Bruder genäht hat; denn es ist nicht Brauch, daß ein Bruder Frauenarbeit trage.« Er sprach dies eifriger, als not war, und fuhr dabei dem kleinen Bezzo über den Kopf, der sich an den Füßen Walburgs anklammerte und, da sie ihn nicht beachtete, ungeduldig an ihrer Hüfte hinaufkletterte. »Sie drücken wieder«, rief Bezzo. »Er meint seine Schuhe«, erklärte Walburg, ihn auf den Arm nehmend, »er hat Heidenbeinchen, welche die Gebote des Bischofs nicht leiden wollen, und einen wilden Heidenkopf, und der Unhold weiß, daß er ein Liebling ist, weil er auf der Reise dir lieb wurde. Sei artig, Bezzo, und bitte den frommen Bruder, daß er ein Kreuz über dir schlägt gegen deine wilden Gedanken.«

Damit war Bezzo einverstanden, er strebte von dem Halse der Jungfrau heftig an den des Mönches und bat: »Ich will ein Kreuz auf den Kopf, denn da gibt uns Base Walburg Honigseim.« Walburg entschuldigte sich: »Man muß den Kleinen das Kreuz lieb machen.« Gottfried aber löste den Knaben errötend von Hals und Arm der Jungfrau, setzte ihn zur Erde und sprach ihm freundlich zu.

»Wir Frauen sehen dich jetzt selten in unserer Nähe«, fuhr Walburg treuherzig fort, »und doch hängen die Herzen alle an dir; während der Sorbenfahrt sorgtest du eifriger um uns.«

»Der Mönch ist ein ungeschickter Ratgeber bei Frauenarbeit«, antwortete Gottfried, »aber dir darf ich es sagen, im nächsten Frühjahr kommt Kunitrud, meine Schwester, aus Angelland hierher, sie wird mit euch hausen. Sie hat sich dem Herrn gelobt, geht geschleiert und soll die Herrin einer Frauengemeinde werden, sie ist weiser als ich.«

»Versteht eine Geschleierte auch Latein?« fragte Walburg erstaunt.

»Die ich nannte, spricht es wohl besser als ich, der ehrwürdige Vater rühmt ihre Kunst in den Versen; manches heilige Buch hat sie gelesen.«

»Wie werden wir vor solcher Frau bestehen?« rief Walburg erschrocken.

»Sie ist jung wie du, und wenn ich nicht irre, so ist sie dir ähnlich in Antlitz und Gebärden«, versetzte Gottfried befangen, »ich hoffe, sie wird dir eine gute Gesellin werden.«

[] »Sie ist jung und hat sich dem Herrn gelobt?« fuhr Walburg nachdenklich fort, »so Großes hat die Jungfrau auf sich genommen? Denn ich weiß wohl, ist sie geschleiert, so darf sie im Mai nicht mehr mit den Mädchen auf die Wiese gehen, sie darf keinen Mann mehr freundlich grüßen und gar nicht an ein Ehegemahl denken und an Kinder im Hause. Das ist hohe und schwere Pflicht für ein junges Herz. Verzeih, ehrwürdiger Bruder«, unterbrach sie sich, als sie in das gerötete Gesicht des Mönches sah, »ich vergaß, daß sie deine Schwester ist, auch du hast dein junges Leben dem Herrn geheiligt, und wir anderen sehen's mit Staunen.« Gottfried neigte das Haupt, grüßte sie schweigend und ging schnell nach der Schule. Walburg aber trat an das Wasserbecken des Laufbrunnens, hob den Schleier und betrachtete die rote Narbe ihrer Wange; mit einem Seufzer ließ sie den Schleier herunter. »Dem Mädchen steht die Narbe übel im Gesicht«, sagte sie bedauernd zu sich selbst, »und schwerlich wird noch jemand meine Wange rühmen. Ob die Schwester aus Angelland auch eine Maser im Antlitz trägt, daß sie der Erdenfreude entsagt hat?«

Sie fühlte einen Schlag auf der Schulter und wandte sich rasch um, Gertrud sah sie lachend an und drückte ihr einen Kranz von Eschenlaub und roten Beeren auf das Haupt, wie die Mädchen im Herbst beim Tanze tragen. »Besseres Glück für die Zukunft«, rief sie. »Recht wohl steht dir der Kranz, wenn man auch nur deinen halben Mund lachen sieht.«

»Die frommen Väter verstehen alles«, versetzte Walburg, »sie wissen sogar ein Mädchengesicht wieder ganz zu machen.«

»Gute Männer sind die Langröcke«, rief Gertrud. »Aber meinst du, daß einer von ihnen stark genug ist, eine wackere Magd im Reigen um seine Hüfte zu schwingen?«

»Rede nicht so wild«, bat Walburg und hing den Kranz an den Brunnen.

Gertrud schlug ihre festen Arme übereinander und sah ihre Gefährtin spottend an. »Ich denke, du bist insgeheim ebenso gesinnt; denn alles hier ist sehr säuberlich, aber jauchzen habe ich noch niemanden gehört als etwa kleine Knaben, und auch die werden gemahnt, den Kopf zu neigen. In meinem Leben ging mir's niemals so gut als unter dem Kreuze, und ganz gern lernte ich das Kyrie und Amen rufen. Aber Mädchen, die ganze Herrlichkeit möchte ich in mancher Stunde dahingeben, wenn ich nur einmal mit einem frischen Knaben in der Sommermitte über das Nachtfeuer springen könnte.«

»Schweige von dem Heidenbrauch, daß dich nicht die Kinder hören«, mahnte Walburg.

»Bist du so ergeben, daß du keine Gedanken mehr hast, die über den Christenhof hinausgehen?« fragte Gertrud. Doch als sie [] den traurigen Blick der anderen sah, tat ihr die Frage leid, und sie fuhr fort: »Wie kommt's, daß du nie zu mir von dem Manne sprichst, der deinetwegen an den Herd deines Vater kam?«

»Ich scheue mich, andere nach ihm zu fragen«, versetzte Walburg traurig, »da ich nicht weiß, wie er gegen mich gesinnt ist. Die Frauen sagten mir, er reitet weit von hier im Heere der Franken. Immer stand sein Sinn nach einem großen Kriegszuge, und als er das letztemal am Main war, wollte er deshalb Kundschaft einziehen. Was siehst du mich so an, Gertrud?« rief sie heftig, »du weißt von ihm, was du mir nicht sagen willst; sei barmherzig und rede.«

»Hörtest du nicht, was viele wissen?« antwortete Gertrud, »das Grafengericht hat über ihn gesessen. Wenn sie ein Urteil gegen ihn gefunden haben, so mögen dir's andere künden, nicht ich.«

»Wo ist Wolfram?« rief Walburg. »Täglich habe ich nach ihm ausgesehen, aber verlassen liegt der Rabenhof.«

»Es geht dort still her«, antwortete Gertrud, »die Knechte und Mägde haben sich verzogen.«

»Wer füttert sein Vieh?« fragte Walburg schnell.

»Vielleicht, daß Wolfram noch dort verstohlen haust. Ist es dir Ernst, den Mann des Verschwundenen zu sehen«, fuhr sie leiser fort, »so will ich dir dazu helfen.«

»Schaffe ihn her«, bat Walburg angstvoll.

»In den Hof wagt er sich schwerlich, weil die Reisigen des Grafen um das Tor lauern. Da du jetzt in das Freie gehen darfst, so komm mit vor das Tor, doch verrate mich nicht, wenn ich dir helfe; denn was verstehen die Priester davon, wenn zwei einander liebhaben, sie werden klug tun, sich gar nicht darum zu kümmern«, und sie schwenkte ihren großen Sahnlöffel ohne Ehrfurcht gegen die Schule, in welcher Gottfried lehrte.

Als die Mädchen vor das Tor traten, sahen sie einen Haufen Volkes, wie er sich jedesmal sammelte, wenn der Bischof von einer Reise zurückerwartet wurde. Neben den Reisigen standen Arme und Kranke, welche sich Almosen und Heilung begehrten, Christen aus der Umgegend, die Segen oder guten Rat ersehnten. Seitwärts aber hielten Krieger in fremder Slawentracht; mit Abscheu erkannte Walburg die Mützen und den Pferdeschmuck der Sorben, unter ihnen den Weißbart aus dem Gefolge des Ratiz, stattlich angetan in langem Tuchrock mit glänzendem Schwertgürtel. Der Alte nahte den Frauen mit tiefen Verbeugungen und begann, die Pelzmütze in der Hand drehend: »Ganz gut gelang, wie ich merke, den Frauen die Fahrt über den Sorbenbach.« Walburg bezwang ihren Widerwillen, als sie antwortete: »Auch eure Reise zum großen Frankenherrn glückte in Frieden, soweit ich sehe.«

»Das Geleit deines Herrn, des Bischofs, war kräftig, wir sind [] wohlbehalten bis hierher zurückgekehrt. Aber mir ist damals vieles verbrannt, als ihr von uns wichet, und dem Alten tut eine Hilfe not.«

»Wir sahen auf der Fahrt die Röte, wenn wir uns rückwärts wandten.«

»Stroh brennt so leicht als Schindeln«, versetzte der Alte freundlich und blickte über die Holzdächer des Hofes. »Aber meine Landsleute bauen schnell, kommst du das nächste Mal zu uns, so findest du neue Strohdächer.«

»Nimmermehr begehre ich euer Dorf zu schauen«, rief Walburg in ehrlichem Abscheu.

»Möge dir alles werden, wie du es begehrst«, antwortete der Weißbart demütig, »auch mir wäre lieb, wenn die Jungfrau dem Väterchen zu seinem Recht verhelfen wollte. Held Ingram, welcher unseren Banden entfloh, hatte, da er noch frei war, aus guter Meinung mir ein Stück rotes Tuch gelobt, damit ich ihm bewillige, dich zu sprechen. Ich habe es bewilligt; nach dem Tuche sehne ich mich noch. Dem Mann ist es seither auch hier übel gelungen, ich aber möchte nicht, daß sein Gelöbnis gegen mich unerfüllt bliebe. Vermag die Jungfrau mir zu meinem Rechte zu helfen, so wäre mir's lieb.«

»Ist Ingram um meinetwillen dir etwas schuldig, so will ich sorgen, wenn er es nicht vermag, daß du deine Gebühr erhältst«, antwortete Walburg und entwich dem beredten Danke des Sorben. Die Mädchen gingen bis zu dem Vorsprung des Waldes, der sich nahe an die Wegscheide erstreckte, dort gebot Gertrud ihrer Gefährtin niederzusitzen, sie selbst breitete ein weißes Tuch am Saum des Gehölzes und wandelte, als wenn sie Kräuter suchte, am Holz entlang, bis sie langsam zu ihrer Gefährtin zurückkehrte. »Ist er im Hofe, so kommt er; harre, ob er das Zeichen sieht.«

Nicht lange saßen die Mädchen, vor den Blicken aus ihrem Hofe gedeckt, da schritt Wolfram aus dem Rabenhof in das Holz und wand sich hinter dem Baumland zu ihnen. Walburg eilte ihm entgegen. »Wo ist Ingram?«

»Er heißt nicht mehr Ingram, Wolfsgenoß nennen ihn jetzt die Leute, friedlos haben sie ihn gemacht wie ein Wildtier des Waldes.« Walburg rang die Hände. »Es freut mich, daß du seiner gedenkst«, fuhr Wolfram fort, »denn in dem Hofe, aus welchem du kommst, sinnen sie ihm nichts Gutes. Seinetwegen saßen die Alten unter den drei Linden um den Grafenstuhl. Ich stand an ihrem Gehege, und es war ein bitterer Tag. Der Hauptmann des Grafen trat in den Ring und erhob die Klage, laut riefen sie den Namen meines Herrn gegen Hof, Acker und Weide. Aber er selbst antwortete nicht, sondern Bruno als sein nächster Freund trat für ihn in den Ring. Dreimal gab er Antwort auf die Klage, und dreimal [] berieten die Landgenossen. Nach dem dritten Rat fiel der Spruch: Da mein Herr den Frieden des Frankenherrn und des Volkes durch die Schwerthand gebrochen habe, so solle er fortan Frieden haben wie der Wolf, wo ihn kein Auge sieht und kein Ohr hört. Und bei den Wölfen haust jetzt der Friedlose.«

Walburg schrie auf, Wolfram aber fuhr kummervoll fort: »Sie sagen, daß der Spruch ganz mild war, den Hof haben sie ihm nicht verbrannt, Bruno hat unterdes die Hand darübergelegt; und ehrlos haben sie ihn auch nicht gemacht, wohl möglich, daß ihn die wilden Tiere zu ihrem König wählen.«

»Wo weilt er selbst?« rief Walburg.

Wolfram sah sie bedeutsam an; »Vielleicht im wilden Wald, vielleicht unter hartem Stein, aus dem Licht der Sonne ist er geschwunden.«

Walburg winkte heftig ihrer Begleiterin, zurückzuweichen und sprach leise: »Ich hoffe, er reitet namenlos im Frankenheere.«

»Ich hoffe nicht«, versetzte Wolfram.

»Du birgst ihn in seinem Hofe.«

»Sein Dach schützt ihn nicht mehr vor fremden Spähern.«

»Dann bekenne mir, wo er ist, Wolfram, bei deiner Seele und Seligkeit beschwöre ich dich«, rief sie feierlich.

»Für meine Seele und Seligkeit wünsche ich Günstiges«, versetzte Wolfram, »aber ich weiß nicht, ob sie gedeihen werden, wenn ich meinen Herrn verrate. Dennoch erkenne ich, daß ich allein ihm nicht zu helfen vermag. Willst du mir versprechen, daß du geheim bewahrst, was ich dir künde, so sollst du erfahren, was ich selbst weiß.« Walburg machte ein Kreuz und reichte ihm die Hand. »Unter den Urstämmen im wilden Wald wissen mein Herr und ich einen hohlen Baum, in dem wir Weidgerät und was man sonst für Waldfahrt bedarf zu bergen pflegen, wie Brauch der Jäger ist. Dorthin trug ich ihm am Morgen, nachdem er entwichen war, sein Jagdzeug, Waffen und Kleider und sang in der Nähe, so laut ich vermochte, den Jagdruf, welchen er von mir kennt. Als ich am zweiten Tag wiederkam, war der Baum geleert. Seitdem schrie ich dort öfter mein Lied, und als sein Urteil verkündet war, weilte ich in der Nähe, bis er selbst kam. Aber freudenlos wurde das Wiedersehen, seine Wangen waren fahl und wortkarg die Rede. Und als ich mich erbot, ihn zu begleiten, wies er das kurz ab und sprach: ›In der Halle der Götter hause ich, für einen, der im Sonnenlicht wandelt, ist dort kein Raum. Kehre nicht wieder, Wolfram, denn friedlos wird jeder, der sich dem Ausgestoßenen zuwendet.‹«

»Nannte er meinen Namen?« unterbrach ihn Walburg.

»Er fragte nicht einmal nach seinen Rossen«, versetzte Wolfram. Die Jungfrau senkte traurig ihr Haupt. »Nur von den Sorben sagte er mir etwas, woraus ich erkannte, daß er ganz verstört ist. Rotes [] Tuch forderte er für den Weißbart und daß ich darum eins unserer Rosse auf den Markt führen sollte, es sei gelobte Schuld.«

»Hast du nach seinem Gebot getan?« fragte Walburg.

»Das Tuch habe ich eingetauscht, aber die Gabe dem alten Diebe zu gewähren, scheint mir ganz töricht und unsinnig, denn seine Speergesellen haben an meinem Herrn treulos gehandelt, und er lebt mit ihnen in tödlicher Fehde.«

»Tue dennoch nach dem Gebot, auch um meinetwillen«, bat Walburg.

»Die Hunde lagern jetzt im Dorfe wie Häuptlinge«, versetzte Wolfram, »ich sah den Alten; als ein Späher schleicht er einher, und nichts Gutes bedeutet seine Ankunft. Möge dies der letzte Gewinn sein, den er im Sacke heimträgt. – Seit jenem Tage erblickte ich meinen Herrn nicht mehr, doch was ich noch in dem Baume barg, wurde fast immer abgeholt. Gestern aber fand ich ein Stück Rinde in der Höhlung und auf der inneren Seite das Bild eines Rosses geritzt. Morgen denke ich ihm sein bestes Pferd hinzuführen und dazu noch eins für einen anderen, damit er nicht allein reitet.«

»Und wonach steht sein Sinn? Das sage mir noch, Wolfram, wenn du es weißt.«

»Wo soll er hin, wenn nicht gegen die Sorben. Denn die Weiden sind es, die ihm jetzt am meisten das Herz einschnüren. Als wilder Wolf will er dort beißen, bis ihn ein Keulenschlag trifft. Ich möchte lieber anderswohin. Aber mich treibt eine Vorbedeutung, da ich doch Wolfraban heiße. Ich erkenne, mein Name gibt mir die Weisung, daß ich ihn auf dem Wolfsprung begleite.«

»Führe nicht die Rosse in den Wald, auf denen er mit dir zum Tode reitet«, sprach Walburg feierlich, »denn ich will ihm helfen, daß er lebe, wenn ich's vermag. Gelobe mir, mich morgen an dieser Stelle zu erwarten, bevor du zu dem Baume wandelst, damit ich dir überbringe, was deinem Herrn nützen mag.«

Wolfram überlegte. »Ich weiß, daß du ihm wohlgesinnt bist, und du wirst ihn nicht seinen Feinden verraten.«

»Niemals«, rief Walburg.

»Wohlan, so erwarte ich dich hier, wenn die Sonne morgen früh über den Waldrand steigt.«

Die Mädchen eilten zum Hofe, denn vom Dorfwege nahte ein Reitertrupp, in seiner Mitte der Bischof. Ihn begrüßte Heilruf der harrenden Menge und der Hofgenossen. Wie ein Häuptling schritt er durch das Volk in die Halle, welche ihm errichtet war, und empfing dort nach der Reihe die Gesandten und die Flehenden. Zuletzt sprengte auf seinem Kriegsrosse Herr Gerold selbst in den Hof, ihm trat der Bischof auf der Schwelle entgegen, bot den Friedensgruß und geleitete ihn zu dem Herdsitz.

»Den Raben von drüben habe ich verscheucht«, begann der Graf, »du bist an ihm gerächt.«

[] »Ich danke dir nicht dafür, Gerold, du weißt, wie ich für ihn gebeten habe.«

»Nicht mein Vorteil war es«, versetzte der Franke unwillig, »das beste Schwert der Thüringe zu zerbrechen. Daß ich das Urteil gefordert habe, geschah nur darum, weil mir von meinem Herrn dein Heil auf die Seele gelegt ist. Denn du vermochtest nicht im Volke zu dauern, wenn der erste Mann ungestraft blieb, der gegen dein Haupt das Schwert gezückt hat. Verächtlich wurdest du vor jedermann, und von allen Seiten wären die Heidenmesser in dich gedrungen. Willst du den Thüringen deine Botschaft ferner verkünden, so mußt du ihnen erweisen, daß deine Feinde ausgetilgt werden.«

»Hast du jenen Mann ausgetilgt«, sprach Winfried, »weil er zuchtlos den Frieden des Volkes brach, so darf ich dir nicht widerstehen. Begehrtest du aber Rache für mich, so hast du mir wehe getan. Auch du kennst das hohe Gebot, welches geschrieben steht, daß wir unseren Feinden Gutes tun sollen.«

»Steht es geschrieben, so siehe du zu, ob die Männer hier dir's glauben«, rief Gerold unzufrieden, »ich aber hoffe, daß du nicht gekommen bist, um diesem Volke den Männermut zu nehmen, sondern zu stärken, denn hier tut nicht Geduld und Lammessinn not, sondern Krieg und scharfes Gefecht, dazu bin ich in dies Land gesandt, und ich erkenne, der Wille des erlauchten Helden Karl ist, daß du mir dabei hilfst. Als wir miteinander aus dem Angesicht des Frankenherrn schieden, da legten wir unsere Hände ineinander und gelobten, treue Gesellen in dem Volk der Thüringe zu sein, ich für meinen Herrn, du für den Christengott, denn verfallen lag dies Grenzland, und feste Führer waren ihm nötig.«

»Treu hast du bisher unseren Vertrag erfüllt«, versetzte Winfried herzlich. »Und gern gebe ich das Zeugnis, daß ich vor anderen Menschen dir dankbar bin, wenn es mir gelingt, die harten Nacken am Taufstein zu beugen. Denn die Furcht vor deinen Bewaffneten ist mein einziger irdischer Schutz, und glaube mir, kein Tag vergeht, wo nicht hier im Hofe von meinen Getreuen für dein Wohl gebetet wird.«

Herr Gerold neigte ein wenig das Haupt. »Ganz willkommen ist mir, wenn du mir im Himmel gutes Gemach bereitest, denn ich selbst habe wenig Geschick dazu. Aber nicht weniger lieb wäre mir, wenn du mir auch auf anderen Wegen deine Treue bewährtest; und daß ich dir's geradeheraus sage: mir gefällt nicht, daß du den Boten des Ratiz freies Geleit zu dem Helden Karl ausgewirkt hast, und daß du über die Grenze bis in das Wendenland geschorene Boten laufen läßt, denn du handelst gegen meinen Vorteil und wohl auch gegen den eigenen.«

»Erwäge auch«, versetzte Winfried ruhig, »daß ich nichts getan habe ohne dein Wissen. Mein Beruf ist, auf der Männererde den [] Frieden Gottes zu verkünden, wie durfte ich mich weigern, dem Helden Karl den friedfertigen Wunsch des Ratiz zu melden. Wir vernahmen, daß der Räuber mit manchem von seinem eigenen Volke verfeindet ist, und dem großen Frankenherrn selbst war willkommen, auch über die Slawen an der Grenze seine Herrschaft zu breiten.«

»War es ihm willkommen«, versetzte Gerold zornig, »mir und anderen, die an der Grenze gebieten, wäre es verhaßt und unleidlich. Meinst du, daß wir den Ratiz als Grenzgrafen neben uns dulden werden, zu unserem Schaden an Land und an Zehnten? Und heut sage ich dir, mich freut's, daß es mir und meinen Fürsprechern gelungen ist, ihn bei Herrn Karl zu hindern. Ohne günstigen Bescheid kehren die Sorben zurück, und dem Ratiz ist befohlen, über die Saale zurückzuweichen.«

»Und wenn er es nicht tut?« fragte Winfried.

»Dann soll er der erste sein, den wir fällen, damit Furcht das Slawenvolk bändige.«

»Wenn aber seine Landsleute ihm helfen?«

»Das gerade ist, was ich will«, rief Gerold. »Meinst du, ich habe Lust, diesen Sommer mein Schwert müßig in der Scheide zu tragen?«

»Und neu erhebt sich Mord und Brand und die Greuel des Grenzkrieges«, rief Winfried traurig, »zerstörte Höfe sehe ich, erschlagene Wirte, und die Wehrlosen gleich dem Vieh getrieben, verwildert auch die Herzen der Sieger.«

»Ich habe dich weise gefunden auch in weltlichen Dingen«, versetzte Gerold, »diese Rede aber dünkt mir töricht. Ob du die Thüringe deiner Lehre unterwirfst, das hängt jetzt nicht allein von den Gebeten ab, die du ihnen vorsprichst, sondern von den Schlägen, welche ich mit einem Volksheer den Wenden zuteile. Denn die Heiden werden dir nur dann ihre Hälse zuneigen, wenn sie unter dem Christenbanner Sieg erhalten. Und wenn du einst die Ostvölker bekehren willst, so werden auch diese erst auf deine Worte hören, wenn sie erkennen, daß ihre Götzen nicht mehr Sieg spenden.«

»Mein Werk ist es, den Völkern der Erde den Frieden des Gottesreiches zu verkünden«, antwortete Winfried, »dein Amt ist, die Feinde des Frankenherrn niederzuwerfen. Durch viele Jahre habe ich erfahren, daß die heilige Lehre nicht plötzlich Sinn und Gedanken der Männer wandelt, und manches Menschenalter mag vergehen, bevor die Christen selbst die Worte der Liebe und des Erbarmens begreifen. Ich weiß auch, daß nur ein Volk, welches den Heiden siegreich widersteht, sich den Christenglauben bewahrt, darum will ich, daß die Herrschaft der Franken sich so weit breite, als es mir gelingt, meinem Himmelsherrn Bekenner zu gewinnen. Mit dem hohen Fürsten Karl habe ich dies vereinbart, daß er der einzige [] weltliche Herr sein soll über alles bekehrte Heidenland, wie der Bischof zu Rom der einzige Vogt des Himmelsherrn. Soweit wünsche ich dir Sieg, und ich darf zu dem Allwaltenden flehen, daß er ihn deiner Heldenkraft gewähre. Aber wenn du den Kampf begehrst aus Begierde nach Kriegsruhm und Beute, dann hüte dich, daß nicht auch dich die Strafe treffe, wenn du aus diesem kurzen Leben in das ewige hinübergehst.«

»Meine Sorge um das Himmelreich habe ich in deine Hände gelegt, Bischof«, versetzte der Graf mit geheimem Bangen, »und ich vertraue, du wirst meinen Vorteil dort wahrnehmen, wie auch ich hier für den deinen kämpfen will, obgleich du mir zuweilen widerstehst. Und so laß uns wieder gute Gesellen sein; ich reite an die Grenze, und bald mag deine Fürbitte mir heilsam werden.«

Er schritt klirrend aus der Tür, und Winfried sagte hinter ihm still zu sich selbst: »Ich hole mir bessere Freude bei meinen kleinen Pfleglingen.« Er wandelte in das Arbeitshaus, grüßte die Frauen und Kinder, schritt mit Walburg durch alle Räume, ließ sich berichten, was in seiner Abwesenheit getan war, und betrachtete die Werke des Webstuhls und die Schätze der Vorratskammer. Lächelnd rührte er an das Schleiertuch der Jungfrau, welches die eine Hälfte ihres Gesichtes deckte. »Ich muß die Kunst des Arztes rühmen, denn gut hat er dir die Wunde geheilt, und der Schaden wird noch durch die Zeit gebessert. Bald kommt wohl einer und der andere und begehrt dich zur Hausfrau. Wir aber werden dich ungern missen, denn dein Sinn ist fest, und was deine Hand berührt, gedeiht. Du bist zur Hälfte geschleiert, vielleicht gibt Gott dir die Gnade, daß du dein ganzes Leben seinem Dienste weihst.«

Da errötete Walburg, aber sie sah dem Bischof offenherzig in das Gesicht, als sie antwortete: »Oft kam mir der Gedanke, für mein Leben hierzubleiben, als ich mit der Wunde saß; denn selig ist der Frieden in deiner Nähe, und viel Leidvolles habe ich erfahren. Aber, mein Vater, auch ohne Gelöbnis bin ich gebunden an das Schicksal eines anderen. Zürne nicht, wenn ich dich an den Mann mahne, welcher frevelhaft das Eisen gegen dein Haupt gehoben hat.«

Die Stirn des Bischofs umwölkte sich, war es Zorn gegen Ingram oder Unwille, weil jemand seinem Wunsche widerstand, im nächsten Augenblick sah er wieder gütig auf das Weib, welches flehend die Hände faltete. »Sie haben ihm den Frieden genommen, Walburg, nachdem er ihn vorher selbst verloren hatte.«

»Deshalb will ich zu ihm, ehrwürdiger Vater.«

»Du, Jungfrau?« fragte Winfried erstaunt, »in die Wildnis, in ein fernes Land, zu einem verachteten Haupte?«

»Wo er auch atme, wie er auch lebe, in dem wilden Wald, unter dem Fels, bei Raubtieren und Raubgenossen, ich will zu ihm. Denn, Herr, ich bin's ihm schuldig.«

[] »Deinem Vater im Himmel bist du schuldig, nichts zu tun, was gegen seine Gebote ist. Auch Zucht und Sitte sind dem Weibe geboten, und waghalsiges Preisgeben des eigenen Lebens ist ihm Unrecht.«

»Ich verstehe die Lehre, ehrwürdiger Vater«, versetzte Walburg demütig. »Sonst habe ich mich züchtig gehalten und stolz gegen werbende Knaben, auch gegen ihn. Er aber hat seine Freiheit um mich gewagt und sein Leben. Frevelhaft war das Wagnis, ich weiß es, mein Vater, und allzu hart habe ich es ihm selbst gesagt, das reut mich jetzt. In Not und Elend ist er um meinetwillen gekommen, ich will gehen, ihn zu retten.«

»Vermagst du das, Mädchen?«

»Der liebe Gott wird mir gnädig sein«, antwortete Walburg.

»Weißt du schon«, fragte Winfried prüfend, »ob er sich deine Nähe begehrt? Baust du auf das Verlangen, das er einst hatte, dich zu besitzen? Walburg, mein armes Kind, das Angesicht, welches er holdselig fand, hast du verdorben.« Walburg sah vor sich nieder, und um ihren Mund zuckte der Schmerz. »Bei Tag und Nacht habe ich daran gedacht, und ich fürchte sehr, mein Antlitz ist ihm verleidet. Aber mein toter Vater war sein Gastfreund, und er wird die Tochter als eine gute Bekannte aufnehmen, wenn er sich auch fortan ein anderes Weib begehren sollte.«

»Wo birgt sich der Heillose?«

»Oben im Bergwald, sein Diener Wolfram wird mich zu ihm führen.«

»Und wenn ich dir verbieten wollte, dein Leben und deine Seele an die Wildnis zu wagen, was würdest du dann tun?«

Walburg sank vor ihm auf die Knie, und die gerungenen Hände zu ihm aufhebend, antwortete sie leise: »Ich müßte doch gehen, ehrwürdiger Vater.«

»Walburg«, rief der Bischof drohend, und zornig blitzten seine Augen. Schnell erhob sich Walburg. »Was hat dich getrieben, Herr, als du hierherkamst unter die Heiden? Dein heiliges Haupt gibst du täglich dem Haß und der Bosheit deiner Feinde preis. Sorglos und fröhlichen Herzens reitest du durch die Dörfer der Heiden und fragst nie, ob dich ein Pfeil aus dem Dickicht treffe. So großes Vertrauen bewahrst du auf Gottes gnädigen Schutz, und du zürnst der Magd, die in deiner Nähe lebt, daß auch sie ihr Leben an die Gefahren der Wildnis wagt? Groß ist dein Amt, ehrwürdiger Vater, vielen Tausenden willst du Rettung bringen aus dem Verderben, ich bin ein armes Weib, ich habe nur ein Leben, um das ich bete und weine, aber den Mut habe ich wie du, einen Willen wie du; und solange ich frei auf meinen Füßen wandle, werde ich meine Schritte dorthin richten, wo er sein ruheloses Haupt birgt. Denn ich erkenne, arge Unholde schweben um ihn und bedrängen seine Seele, und darum muß ich eilen, ihn zu retten, wenn ich es vermag.«

[] »Als ein geschworener Mann des Himmelskönigs fahre ich über die Heide und durch den Wald«, versetzte Winfried ernst, »in meinem Amte wage und dulde ich, du aber, wenn du dich einem Unseligen gesellen willst, folgst der Leidenschaft, welche auf Erden das Weib an den Mann bindet. Nicht meines Amtes ist, dein Tun zu rühmen oder zu verdammen. Wäre ich in Wahrheit dein Vater und stünde mir zu, dir den Gemahl zu wählen, ich würde dich hindern oder dich selbst begleiten. Als dein geistlicher Berater sage ich dir, die Absicht kann ich nicht tadeln, die wilde Fahrt darf ich nicht loben.« Er wandte sich von ihr, da er aber die Jungfrau regungslos mit gesenktem Haupt stehen sah, trat er wieder zu ihr und nahm sie gütig bei der Hand. »So muß ich als Bischof sprechen, aber wenn du doch den Unholden Trotz zu bieten wagst, so werde ich darum nicht schlechter von dir denken, während der Fahrt will auch ich in deiner Sache zu dem Herrn beten, ob er mich gnädig erhört, und wenn du zu mir zurückkehrst, wie du gegangen bist, so will ich dich empfangen als mein wiedergefundenes Kind.« Walburg neigte ihr Haupt, und der Bischof betete über ihr.

Winfried kehrte in sein Gemach zurück, und nachdenklich sprach er zu sich selbst: »Mein Geselle Gerold ist der redlichste unter den Franken, die ich kenne. Auch die Magd, welche ihr Leben für einen Verschollenen hingeben will, mag wohl in diesem Lande eine der besten sein, und doch sind beide nicht echte Erben des Gottesreiches. Furchtbar ist es zu denken, wie gering die Zahl solcher ist, welche das Leben im Erdgarten nur als Vorbereitung betrachten für die Halle der Herrlichkeit. Komm, mein Sohn«, rief er dem eintretenden Gottfried zu, »ich ringe mit schweren Gedanken, und deine Nähe wird mir eine Erquickung. Doch mit Sorge sehe ich, daß dein Antlitz bleich und deine Miene verhärmt ist; was andere zu wenig üben, das tust du im Übermaß. Ich lobe nicht dein Entbehren der Speise, nicht dein nächtliches Wachen und nicht die Geißelschläge, die, wie ich durch die Wand höre, deinen Rücken treffen. Grüble nicht über Träume und ängstige dich nicht, daß flatternde Gedanken dir das reine Gewand deiner Seele verderben können. Zu einem arbeitsamen Gehilfen an hartem Werke hat dich der Herr bestimmt, und kraftvoll brauche ich dich, denn viel ist noch zu tun. Krieg steht bevor an der Grenze, aus unserer Friedenssaat ist er aufgegangen; und wir haben zu sorgen, daß die jungen Gemeinden nicht von den Unholden zerschlagen werden. Deinen Reisegenossen Ingram hat das Urteil getroffen, und wir wollen darauf sinnen, wie wir dem Friedlosen die Rückkehr in die Heimat bereiten, denn er gehört zu den Kindern unseres Gebetes. Fortan bete du auch für Walburg, die Jungfrau. Sie hat sich eigenwillig von uns gelöst und geht zu dem Friedlosen in die Wildnis.«

Gottfried schwieg, aber ein Schauer fuhr ihm über den Leib, und [] er stützte sich an die Wand, der Bischof sah erschrocken auf die gebrochene Gestalt. »Gottfried, mein Sohn«, rief er, »was ist mit dir?« Da ging der Mönch leise an die Truhe, in welcher die heiligen Gewänder lagen, nahm die Stola hervor und tat sie dem Bischof mit flehendem Blick um. Winfried setzte sich in den Stuhl, der Mönch kniete an seiner Seite und faltete die Hände über den Knien des Bischofs; fast unhörbar waren die Worte, welche er sprach, aber dem starken Mann klangen sie wie ein Schlachtruf in das Ohr, und als der Jüngling geendet hatte und mit seinem Haupte auf den Knien des Bischofs lag, saß dieser über ihn gebeugt und hielt die heiße Stirn des Betenden, so voll von Schmerz wie der Jüngling selbst.

Unter den Schatten

Am nächsten Morgen schritt Walburg mit ihrem Führer dem Walde zu. Hinter ihr rief Gertrud traurig in die Flur: »Neig dich, Laub, und neig dich, Gras, denn eine freie Magd will sich vom Sonnenlicht scheiden.«

In dem lichten Gehölz über dem Dorfe weidete die Rinderherde. Die Kühe liefen neugierig aus dem Gebüsch und starrten die Jungfrau an, auch der Hirt trat an den Weg, bot den Gruß und fragte, wohin sie im Frühlicht wandle. »In die Berge«, antwortete Walburg leise, und der Mann schüttelte den Kopf. Ein vorwitziges Kalb trabte hinter ihr her und roch an ihrem Korbe. »Weiche von mir, Braunchen«, mahnte sie, »denn der Weg, den ich gehe, wäre dir gefährlich, du hast Frieden bei den Leuten, alle müssen dich beachten, wenn du auch nur ein Jährling bist, und wenn dich ein Fremder schädigt, so muß er es deinem Herrn schwer büßen. Der aber, den ich suche, ist ärmer als du, denn jeder darf ungestraft seinen heißen Mut an ihm kühlen, und schutzlos schweift er ohne Recht.« Sie faßte ihren Handkorb fester und eilte dem Führer nach.

Auf dem Gipfel des Hügels wandte sie sich um und streckte die Hand grüßend nach der sonnigen Ebene aus, sie schaute über die Beute der Ackerflur, auf die grauen Dächer des Dorfes und auf den Meierhof, in dem sie Zuflucht gefunden hatte; sie dachte an die Kinder, wer ihnen das Frühbrot austeilen werde, und sah die Brüder mit heißen Wangen bei ihren Holztafeln in der Schule sitzen, und den kleinen Bezzo, der schreiend durch den Hof lief, sie zu suchen.

»Wenn er schreit, wird er die Schule stören, und ich fürchte, sie werden ihn abstrafen, weil er um mich weint.« Und vor ihrem Auge erschien das ernste Angesicht Winfrieds, als er zu ihr sprach: »Du folgst irdischer Liebe, und auf diese Welt hast du deine Sache gestellt, ich aber auf jene.« Da seufzte sie: »Ob er mir im Herzen zürnte, das möchte ich wohl wissen. Aber er hat mich doch gesegnet«, [] tröstete sie sich. »Vielleicht bittet er gerade jetzt zum Himmelsherrn für mich, wie er mir verhieß, und unter seinem Gebet fahre ich sicher dahin; denn ich denke, er muß dem großen Gott sehr lieb sein, und ihm zu Gefallen werden mich die Himmelsboten beschützen. Doch meinetwegen fliegen sie schwerlich, weil der Friedlose sich so gröblich gegen den Bischof erhoben hat.«

Längs dem rauschenden Bach gingen sie wohl eine Wegstunde, bis sie dahin kamen, wo die letzten Markzeichen in den Grenzbaum gehauen waren und die Geleise der Holzwagen aufhörten. Dort begann die Wildnis, welche nur der Jäger betrat, ein scheuer Wanderer, der über die Berge zog, und der gesetzlose Räuber, welcher heimatlos über die Erde irrte. Vor ihnen erhob sich der wilde Wald, Urstämme, mit langen Flechten umhangen, glänzten silbergrau, gleich riesigen Säulen, welche hoch oben das Laubdach trugen. Dichter Schatten deckte den Grund, über dem Wurzelgeflecht und gestürzten Stämmen lag die grüne Moosdecke, und große Farnwedel breiteten sich in der Dämmerung. Wolfram zog die Mütze, wie dem Jäger geziemte, wenn er unter die Wildbäume trat, und Walburg neigte sich mit ehrfürchtigem Gruß gegen den Hochwald; »Ihr Gewaltigen wachst frei gegen den Himmel, Sonnenschein und Regen fühlt ihr auf den Wipfeln, und der Quell im Felsen netzt euren Fuß. Gönnt auch mir das Gute, das ihr uns Fremdlingen gewährt, wenn wir euch furchtsam nahen, die Waldfrucht als Kost, weiches Moos als Lager, eure Zweige als Decke und eure Stämme als eine Ringburg gegen die Feinde.« Noch einmal wandte sie sich zum Lichte zurück, dann trat sie beherzt in den Schatten.

Wohl eine Stunde führte Wolfram zwischen den Stämmen über Berg und Tal. Endlich hielt er auf der Höhe vor einer riesigen Buche und sprach mit gedämpfter Stimme: »Dies ist der Baum.« Er bog vorsichtig das Farnkraut zurück, hob ein Stück Buchenrinde ab, welches die Höhlung verdeckte, und wies hinein. Dann spähte er vom Höhenrand ringsumher. Nichts war zu sehen. »Es ist noch nicht die Zeit, in welcher er kommt, doch bist du sicher, daß er heut nicht ausbleibt, denn er hofft auf sein Roß.«

Der Jungfrau pochte das Herz, als sie um sich sah, eine Riesensäule hinter der anderen, bis die fernsten sie dicht einhegten wie eine ungeheure Mauer. »Wir scheiden, Wolfram, weiche zurück nach dem Hofe und laß mich hier, daß ich ihn allein treffe.«

»Wie darf ich ein speerloses Weib unter dem wilden Gewächs zurücklassen!« versetzte Wolfram unwillig.

»Geh dennoch, du Treuer, was ich mit ihm zu reden habe, geht uns allein an und kein anderer soll es hören. Willst du mir freundlich sein, so kehre morgen um Mittag hierher zurück und frage den Baum, wie es um mich steht. Ich will es, Wolfram, und du kränkst mich, wenn du anders tust.«

[] Wolfram streckte ihr die Hand hin. »Fahre wohl, Walburg, ich ginge nicht, aber ich weiß, daß der andere nicht lange säumen wird.« Er schritt abwärts, solange die Jungfrau ihn sehen konnte, dann warf er sich auf den Boden. »Harren will ich, bis ich seine Gestalt merke, damit ihr jemand nahe bleibt, der den Waldbrauch kennt.«

Walburg saß allein unter dem Baum, sie legte die Hände zusammen und blickte empor nach der Höhe, wo sie den blauen Himmel nicht mehr sah, nur Äste und Blätter. Unter den grauen Stämmen herrschte tiefes Schweigen, selten tönte von hoch oben der Ruf eines Vogels. Da fuhr es leise am nächsten Baumstamm herab, ein Eichhorn setzte sich ihr gegenüber auf den Ast, neigte ihr zuweilen den kleinen Kopf zu und blickte sie mit den runden Augen an, während es eine Ecker in den Pfoten hielt und daran nagte. Auch Walburg grüßte das Waldtier und sprach rühmend: »Gut stehen dir deine Ohrbüschel und dein stolzer Schweif; sei mir freundlich, Rothaar, denn ich sinne dir nichts Böses, und könnte ich dir helfen mit Eicheln und Eckern in deinem Haushalt, ich täte es gern. Doch reicher bist du als ich, denn du hältst dein Wesen hoch in der Baumhalle, wir Menschenkinder aber schreiten beschwerlich über die Wurzeln. Ich kümmere mich um einen, den du leicht erspähst, wenn du durch die Wipfel schweifst, siehst du ihn auf seinem Wege, so laufe vor ihm, daß du ihn zu mir führst.« Das Eichhorn nickte mit dem Kopf, warf die Frucht auf den Boden und fuhr eilig den Stamm hinauf.

»Es tut nach meinem Willen«, sprach Walburg lächelnd. Da vernahm sie einen schnellen Schritt, sie hörte sich beim Namen rufen und sah den Friedlosen, der zwischen den Stämmen auf sie zusprang, sich neben ihr in das Moos warf und ihre Hand faßte. »Kommst du doch«, rief er, und in dem frohen Schreck versagte ihm die Stimme. »Dich noch einmal zu sehen, habe ich heimlich gehofft, und täglich wandelte ich über das Moos, wie gebannt an den Baum.« Walburg strich ihm liebkosend die Wange und das Haar. »So bleich das Antlitz, verworren die Locke und hager der Leib, du armer Schatten, der das Sonnenlicht meidet, dir war der Wald feindlich, denn dein Aussehen ist vergrämt, und dein Auge starrt wild auf das Kind deines Gastfreundes.«

»Es ist unmenschlich im Walde, und fürchterlich ist die Einsamkeit für den Ausgestoßenen«, antwortete Ingram, »seinen Fuß klemmt die Baumwurzel, die Äste raufen ihm das Haar, und die Krähen in der Höhe reden mißtönend miteinander, ob er ihnen zum Fraß wird oder nicht.« Er fuhr empor. »Weiß ich doch nicht, ob ich mich freuen soll, da ich dich sehe; du kommst von den Priestern, und du gehst zu ihnen zurück, um ihnen die gute Botschaft zu verkünden, daß du mich in Elend und Jammer gefunden hast.«

[] »Ich war bei den Priestern, und ich komme zu dir«, antwortete Walburg feierlich, »aus dem Hof der Christen bin ich gegangen, um für dich zu sorgen, wenn ich es vermag; die Menschen habe ich verlassen, und den wilden Wald habe ich gewählt, wenn du mich haben willst.«

»Walburg!« schrie der Friedlose, warf sich wieder neben ihr auf den Grund, er umschlang sie mit seinen Armen, drückte sein Haupt an ihren Leib und schluchzte wie ein Kind.

Walburg hielt ihm das Haupt, küßte ihn auf sein Haar und sprach ihm tröstend wie eine Mutter zu: »Sei ruhig, du Wilder, ist dein Schicksal auch schwer, du hast eine, die dir's tragen hilft. Auch ich bin aufgewachsen nahe der Wildnis und nahe den Räubern der Grenze; die Bedrängten rettet wohl geduldiger Mut. Setze dich dort mir gegenüber, Ingram, und laß uns bedächtig reden wie sonst, wenn wir am Herde meines Vaters zueinander sprachen.«

Ingram setzte sich gehorsam, aber er hielt ihre Hand fest.

»Drücke auch nicht so traulich meine Hand«, mahnte Walburg, »denn ich habe dir Schweres zu sagen, was der Mund eines Mädchens nicht gern spricht.« Ingram aber unterbrach sie: »Bevor du redest, höre auch meine Meinung.« Er hob einen Kiesel aus dem Moose und warf ihn hinter sich. »So tue ich ab, was uns trennte, vergiß auch du, Walburg, was dich an mir gekränkt hat, gedenke nicht der Sorbenfessel und nicht der Lösung durch die Fremden, und ich flehe, verstöre mich nicht durch strenge Rede, denn so selig fühle ich mich jetzt, da ich dich vor mir schaue und deine Treue erkenne, daß ich um Bann und Friede wenig sorgen will. Du bist meinem Herzen sehr lieb, und heut, wo du zu mir kommst, mag ich an nichts denken als an dich und mich deiner zu freuen.«

Der Schleier, welcher das halbe Antlitz der Jungfrau verhüllte, bewegte sich. »Sieh doch erst zu, Ingram, wen du liebhast, wir loben den Freier, der vorher betrachtet, was er erwerben will.« Sie schlug den Schleier zurück, eine rote Narbe zog sich über die linke Wange, eine Hälfte des Gesichts war ungleich der anderen. »Das ist die Walburg nicht, deren Wange du einmal gestreichelt hast.« Er sah das Angesicht vor sich, welches ihn damals erschreckt hatte, wo er das Schwert gegen den Bischof hob. Sie blickte spähend nach ihm, und als sie sein Staunen sah, verhüllte sie die Wange wieder und wandte sich ab, um ihre Tränen zu verbergen.

Ingram rückte sich näher und rührte leise an die andere Wange. »Laß mich diese küssen«, sagte er treuherzig. »Ich bin erschrocken, denn wild steht die Narbe in deinem Gesicht, aber ich weiß, daß du sie erhalten hast, als ich ein Tor war; und die Männer und Frauen werden dich darum nicht weniger ehren.«

»Du sprichst ehrbar, Ingram, aber ich fürchte, mein Anblick wird dir dereinst mühselig, wenn du mich mit anderen vergleichst. Ich [] bin stolz, und wenn ich dein Weib werde, so will ich dich allein haben für Leben und Tod, denn das ist mein Recht. Auch ich will dir sagen, wie mir uns Herz ist. Als ich noch aussah wie andere Mädchen, hatte ich dich mir als Ehewirt gehofft, und wenn du nicht mein Gemahl wirst, so wird es schwerlich ein anderer Mann auf Erden, auch wenn mich einer begehren wollte. Vor kurzem aber hörte ich eine Stimme, die wie aus meinem Innern zu mir sprach, daß ich mich einem anderen Herrn verlobe, dem Himmelsgott, der selbst die Wundenmale trug. Den halben Schleier haben sie über mich gelegt, ob ich dereinst mein Haupt ganz verhülle oder nicht, darum sorgte ich in bitterer Angststunde.«

Ingram sprang auf. »Viel Böses wünsche ich den Priestern, denn sie haben deine Gedanken von mir abgewandt.«

»Das haben sie nicht getan«, versetzte Walburg eifrig, »du kennst sie nicht, die du schmähst. Setze dich wieder und höre ruhig, denn zwischen uns soll Vertrauen sein. Stündest du im Glück vor mir, so würde ich vielleicht mein Herz verbergen, und wenn du noch bei meinen nächsten Verwandten um mich werben wolltest, so wäre dir die Freite langwierig wegen der Narbe, denn ich würde deiner Beständigkeit nur schwer trauen. Jetzt aber sehe ich, daß dir ein Freund not tut und daß dein Leben in großer Gefahr ist, da ist die Angst um dich in mir übermächtig geworden, und ich bin zu dir gekommen, damit du unter den Raubtieren nicht verwilderst und, wenn ich's hindern kann, im Walde nicht vergehest. Denn ich weiß, und du weißt es auch, daß ich in der Not zu dir gehöre.« Sie nahm den Schleier ab: »Sehen sollst du mich fortan, wie ich bin, ich verstecke mein Gesicht nicht vor dir.«

Wieder warf sich Ingram an ihrer Seite nieder und umfing sie. »Sorge nicht um meine Rettung und nicht um meine Seligkeit, an beiden liegt mir wenig, wenn du mir nicht sagst, was ich hören will, daß du zu mir kommst, weil du mich liebhast.«

»Ich will mich dir angeloben«, sprach Walburg leise, »wenn du mir dasselbe tust.«

Jauchzend zog er sie in die Höhe. »Komm, wo die milde Sonne scheint, daß wir die heiligen Worte sprechen.« Aber als er ihr in die Augen sah, die in Liebe und Zärtlichkeit an seinem Angesichte hingen, verwandelte sich seine Gebärde, die herbe Sorge fiel ihm auf das Herz, und er wandte sich ab. »Wahrlich«, rief er, »ich bin wert, unter Wölfen zu hausen, daß ich die Tochter des toten Gastfreundes dem Grauen der Wildnis preisgeben will. Vergessen habe ich, wer ich bin. Jetzt sehe ich um mich graues Holz und wildes Kraut, und ich höre über mir den Schrei der Adler. Übel habe ich mein eigenes Leben beraten, aber ein niedriger Mann bin ich nicht, und die Treue eines Weibes mag ich nicht mißbrauchen, damit auch sie verderbe. Geh, Walburg, es war nur wie ein lustiger Traum.«

[] Er lehnte sich an einen Baum und stöhnte, Walburg hielt seinen Arm fest.

»Ich stehe doch unversehrt an deiner Seite, und ich vertraue auf den mächtigen Schutz dessen, den wir Vater nennen, und dazu auch auf Speer und Schwert meines Helden, an dem ich mich festhalte.«

»Ich war ein Krieger, jetzt bin ich ein ruchloser Schatten. Es ist hart, Walburg, Feuer und Rauch zu meiden, noch härter, jedem Wanderer scheu aus dem Bereich seiner Augen zu weichen oder eines Kampfes gewärtig zu sein ohne Feindschaft und Grimm, nur weil der andere nach dem Friedlosen wie nach einem tollen Hunde schlägt. Aber härter als Leibesnot und Mord im Waldesdunkel ist es, feige das Haupt zu bergen und unrühmlich dahinzuleben wie das Ungeziefer unter den Bäumen, unerträglich ist solches Lungern, und die einzige Hilfe wird ein schnelles Ende im Schwertkampf. Geh, Walburg, und willst du mir deine Liebe erweisen, so sage einem, der einst mein Mann war, daß er mir ein gezäumtes Roß herführe, damit ich mir die letzte Rache suche.« Er warf sich auf den Boden und barg das Gesicht in dem Moos.

Walburg fühlte heiße Angst um den Liegenden, aber sie zwang sich zu mutiger Rede; neben ihm sitzend, strich sie ihm die wirren Locken zurecht. »Tust du doch, als ob du niemand im Lande hättest, der noch um dein Wohl sorgte. Schon mancher, der den Frieden verloren hatte, gewann ihn zurück, wenn der Zorn geschwunden war. Es tat vielen leid, daß der Spruch gegen dich fiel. Herr Winfried selbst hat bei dem Grafen für dich gebeten.«

»Sage mir das nicht zum Troste«, fuhr Ingram zornig auf, »ganz widerwärtig ist mir solche Bitte und verhaßt jede Guttat des Priesters. Vom ersten Tage, wo ich ihn sah, hat er mich richten und schicken wollen wie einen Knecht, dich und mich wollte er hinterlistig für sich benützen. Als ich das Urteil über mich vernahm, da dachte ich besser von ihm als je zuvor, wenn ich ihn auch haßte, denn ich meinte, er hat doch den Mannessinn, sich an seinem Feinde zu rächen. Sein Mitleid aber ist mir das Unerträglichste von allem, denn ganz will ich ihm verleidet sein.«

Walburg seufzte. »Wie darfst du ihn schelten, er übt doch nur, was ihm der Glaube gebietet, Gutes zu tun seinen Feinden.«

»Vielleicht kommst auch du zu mir, Christenmädchen, um Gutes zu tun nach deinem Glauben, und im Innern verachtest du mich.«

Walburg schlug ihn leise auf das Haupt. »Dein Kopf ist hart und deine Gedanken sind ungerecht.« Und sie küßte ihn wieder auf die Stirn. »Nicht allein der Bischof ist dir wohlgesinnt, auch der neue Frankengraf hat dich gegen den Bruno bedauert, dein Schwert hat er hoch gerühmt und wie ungern er dich missen würde bei der nächsten Schwertreise gegen die Slawen. Denn vernimm, du Held [] der Thüringe, sie sagen, daß noch diesen Herbst nach der Ernte ein Volksheer gegen die Wenden geboten wird.«

Ingram fuhr auf. »Ha, das ist gute Kunde, Walburg, wenn sie auch mich Unseligen ausgeschlossen haben.«

»Höre noch anderes«, fuhr Walburg fort, »der große Frankenfürst liegt, wie sie sagen, selbst gegen die Sachsen im Felde, und überall rüsten die Helden zu neuem Streit.«

»Du machst mich toll; meinst du, ich werde überleben, von den Schwertgenossen getrennt zu sein, wenn sie sich Ehre erwerben?«

»Ich denke darauf, daß du in ihren Reihen kämpfen sollst, und auch darum bin ich hier.«

Ingram sah erstaunt zu ihr auf, aber ein Hoffnungsstrahl fiel in seine Seele, und er fragte: »Wie kannst du mir dazu helfen?«

»Noch weiß ich es nicht«, antwortete Walburg mutig, »aber ich hoffe Gutes für dich. Ich gehe zu dem Grafen, und wenn er nichts vermag, zum Frankenfürsten selbst in die Fremde, und ich flehe zu unseren Landsleuten. Von Hof zu Hof will ich wandern und bitten, vielleicht, daß sie mir günstig sind, weil sie dein Schwert jetzt gebrauchen.«

»Du treues Mädchen!« rief Ingram hingerissen.

»Und doch willst du mir verwehren, dir zu helfen, du törichter Mann«, mahnte Walburg leise, »denn du weigerst dich, mein Gelübde aufzunehmen. Wie kann die Jungfrau vor den Fremden für dich sprechen, wenn sie dir nicht verlobt ist.«

Ingram hob die Hand und rief: »Wenn ich leben soll, und wenn ich jemals noch mit leichtem Mut über die lichte Flur wandle, dann will ich versuchen, ob ich deiner Gesinnung zu danken vermag.«

»Jetzt sprichst du, wie ich's gern höre«, sagte Walburg froh, »und wie mit meinem künftigen Hauswirt will ich alles mit dir bereden, damit wir ein besseres Glück für uns finden. Du behältst mich bei dir hier im Walde oder wo es sonst sei, solange ich dir tröstlich bin; und wenn es dir dünkt, sendest du mich in das Land, damit ich als deine künftige Hausfrau um deine Sachen sorge. Die Leute werden mir's glauben, wenn ich es ihnen sage, daß ich als deine Braut komme. Für den Rabenhof wird es gut sein, wenn eine Frau nach Ordnung sieht. Deine Dienerinnen haben sich verlaufen, und sie dürfen nicht wiederkommen, denn ich denke allein Herrin im Hause zu bleiben.« Ingram nickte zustimmend. »Auch das Vieh braucht Pflege, wie ich merke, und ich werde dir eine Magd werben; das bespreche ich mit Bruno, der ein bescheidener Mann ist. Seinen Rat höre ich auch, wie wir dir den Frieden wiederschaffen. Nicht ohne schwere Buße kannst du ihn gewinnen, wenn es dir glückt; die Buße wirst du leisten, wenn sie dich auch einen Teil deines Landes kostet, entweder an deinem Hofe oder an dem Erbacker deiner lieben Mutter im Tale.« Ingram seufzte. »Es war ein schwerer Spruch, den sie [] gegen dich ausriefen, daß du Friede haben sollst, wo dich niemand sieht und hört. Aber das harte Wort vermögen sie mild zu deuten. Auch die Christen werden nicht nach dir spähen und nicht horchen, bis du wieder sichtbar und ruchbar wirst im Volke, wenn du gleich in dem Rabenhofe weilst oder im öden Hofe meines lieben Vaters, in den ich gern zurückkehrte. Dies sind meine Gedanken, und jetzt sage mir die deinen.«

»Mein Gedanke ist«, rief Ingram, »daß ich ein gutes Weib haben werde, wenn das Schicksal mir verstattet, im Lichte zu leben, und eine Hausfrau, die verständiger für das Rechte sorgt als ihr Wirt.«

»So rühme ich dich, Ingram«, fuhr Walburg siegreich fort. »Wie wir aus der Not kommen, weiß der liebe Gott allein, aber ihm vertraue ich und ihm danke ich, daß ich dich im Walde gefunden und dein Herz erkannt habe, wie du gesinnt bist.« Sie neigte das Haupt und sprach das Vaterunser, Ingram saß still an ihrer Seite und hörte auf die Bitten, die sie raunte. Als sie darauf neben ihm saß mit gefalteten Händen und lächelndem Munde, rührte er leise an ihren Arm und bat: »Komm, Walburg, daß ich dich aus dem Schatten in die Sonne führe.« Das Mädchen wandte sich zu ihm: »Steht mir die Narbe häßlich?«

»Ich merke sie nicht mehr«, versetzte Ingram ehrlich.

Walburg seufzte. »Vielleicht wirst du sie gewohnt. Du aber, mein Held, harre noch ein wenig. Wie du jetzt bist, darf dich die Sonne nicht sehen, denn sie scheint ungern durch Löcher im Gewande auf die bloße Haut, und auch das wilde Haar steht einem Bräutigam schlecht. Zieh erst die Jacke aus, daß ich dir sie nähe, und suche unterdes den Quell, damit du dir daran das Haupt schmückest, wie sich's gebührt.« Sie öffnete ihren Korb und holte emsig Faden und Nadel hervor. »Allerlei habe ich mitgebracht, was kein Mensch unter den Bäumen findet und was doch jeder braucht, wenn er anderen gefallen will. Hier ist dein Bräutigamshemd, ob du es meinetwegen tragen willst, ich habe es unter Schmerzen genäht, als ich krank saß. Denn du lebst jetzt nicht mehr für dich allein, auch für mich hast du zu sorgen, und vor allem hast du darauf zu denken, daß du mir immer gefällst.« Sie trieb ihn fort und besserte eifrig die Risse in dem braunen Wollkleide.

Als er wieder aus der Tiefe auf sie zusprang, riß sie den letzten Faden ab und half ihm die Jacke anziehen und vom Moose säubern: »So gefällst du mir, denn ganz verwandelt stehst du unter den Bäumen. Und jetzt, Ingram, bin ich bereit, dir zu folgen, wohin es auch sei.« Sie packte ihr kleines Gerät zusammen, und als er den Korb heben wollte, wehrte sie es. »Das ziemt dem Krieger nicht, nur mich selbst darfst du tragen, wenn mich die Kraft verläßt. Gib mir deine Hand, damit ich mich darauf stütze.«

[] So schritten sie schweigend nebeneinander über den Moosgrund bis zu einem Felshaupt, das sich zwischen den Bäumen erhob. Der Stamm, welcher einst darauf gestanden hatte, war gefallen, und auf der Stätte blühten im Sonnenlicht wallende Gräser, Heideröschen und blaue Glockenblumen. Da drückte sie seinen Arm und mühte sich, ihre Bewegung unter einem Lächeln zu verbergen: »Halt an, Ingram, und vernimm noch das letzte. Deine Braut will ich werden zu dieser Stunde, aber dein Ehegemahl wird die Tochter deines Gastfreundes erst im Ringe der Verwandten, wenn mein Oheim die Frage der Vermählung tut. Denn der Sitte gedenken wir, auch wenn wir allein sind. Bis dahin liegt zwischen uns ein blankes Messer, das du mir einst geschenkt.« Sie zuckte in ihr Gewand und hob die Klinge heraus, die sie in der Halle des Ratiz gegen sich gebraucht hatte. »Denke an das Messer, Ingram, wenn du meine Wange nicht siehst.«

»Leidig ist das Messer«, rief Ingram unwillig.

»Ein guter Warner ist es«, rief Walburg und faßte bittend seine Hand. »Mahnen soll es dich, damit du dein lebelang deine Hausfrau ehren kannst.«

Ingram seufzte, aber gleich darauf sprach er mit gehobenem Haupt: »Du denkst, wie meinem Weibe gebührt.«

Beide traten in das Licht und sprachen vor der Himmelssonne ihre Namen und die Worte, durch welche sich jedes dem anderen verlobte für das Leben und den Tod. Als Ingram das Weib nach der Sitte durch ein Zeichen binden wollte und zurück sah, um ein Reis zu brechen, das er ihr um den Arm winde, da sagte sie leise: »In deiner Tasche barg ich das feste Band, welches mich an dich bindet.« Er faßte den harten Gurtriemen des Messers, das er ihr in der Todesnot gereicht hatte. Und als er sie nach dem Verlöbnis umschlang, da fühlte sie, wie sein starker Leib in der Aufregung bebte, und sie sah, daß die Sonne ein bleiches und trauriges Antlitz beschien. Lange hielt sie ihn fest, und ihre Lippen bewegten sich. Aber gleich darauf begann sie heiter: »Jetzt lagere, Held, damit ich dir das Brautmahl bereite, denn das ist eine Ehre der Braut und sie läßt sich's nicht nehmen. Fehlt's heut an anderen Gästen, so laden wir die kleinen Waldvögel, wenn diese hier auf der Höhe bereit sind, uns Freundliches zu singen.« Sie zwang ihm die Kost ein, welche sie mitgebracht hatte, und legte ihm die guten Bissen vor, wie einem Kranken. Dabei erzählte sie ihm gleichmütig ihre Sorbenfahrt, und von dem Fleiß auf dem Meierhofe, auch von dem Kranz der wilden Gertrud, bis er sie wieder mutig anlachte.

Die Sonne stieg aus der Mittaghöhe hinab und Ingram sah nach dem Himmel. »Ich erkenne, mein Herr denkt an den Aufbruch«, sagte Walburg. »Führe deine Waldbraut, wohin es dir gefällt. Sicher hast du als rühmlicher Jäger eine Baumhütte, die ich dir stattlich machen will.«

[] »Das Lager des Wildtiers, nach dem du fragst, ist unter den Steinen«, antwortete Ingram ernsthaft, »zufällig habe ich es aufgefunden, und außer mir kennt es wohl nur einer, der lebt. Es ist weit von hier, und ungern führe ich dich hinein; doch ist es gut, wenn du die Zuflucht kennst.«

»Komm«, rief Walburg, »mich ängstigt, daß deine Augen so unruhig umherfahren, wenn ich zu dir rede.«

Wieder gingen sie unter dem Schattendach auf ungebahntem Wege dahin, aus dem Laubwald in Nadelholz, über Berg und Tal, durch Erdspalten und rinnende Bäche. Einmal hielt Ingram still, warf sich zu Boden und riß Walburg nach. »In der Nähe läuft ein Saumpfad über die Berge«, raunte er. Gleich darauf hörte Walburg Männerstimmen und sah in einiger Entfernung zwei Bewaffnete vorüberreiten. Als Stimmen und Hufschlag verhallten und Ingram sich erhob, war er bleich wie ein Sterbender, und kalter Schweiß lag auf seiner Stirn. »Es waren Reisige des Grafen«, sagte er heiser. Sie strich ihm mit ihrem Tuch über die Stirn. »Halte nur aus, der Tag wird kommen, wo diese sich grüßend vor mir neigen«, aber sie fühlte tief im Herzen die bittere Scham des Friedlosen. Stumm gingen sie weiter. Oft hielt Ingram an, lauschte und sah ängstlich um sich, endlich drangen sie abwärts durch dichtes Laubholz, zwischen dem nur einzelne Hochstämme ragten. Als Walburg mühsam an den Fuß eines steilen Abhangs niedergetaucht war, wo das Gebüsch dicht umschloß, hielt Ingram an: »Hier ist die Stelle; fürchte dich nicht, Walburg, und vertraue mir.« Sie nickte ihm zu, er bog die Zweige auseinander und wälzte eine Steinplatte zur Seite, vor ihm gähnte eine schwarze Öffnung. »Enge ist der Pfad, der in die Tiefen der Erde führt, hier ist fortan deine Wohnung, Wolfsbraut.« Walburg trat schaudernd zurück und machte das Kreuzeszeichen. »Bist du es erst gewöhnt, dann lachst du wie ich«, tröstete Ingram, aber er selbst lachte nicht. »Ich gehe voran und halte dich an der Hand, bücke dein Haupt, daß der Fels dich nicht verletze.« Er drang hinein und zog sie nach. In schwarze Nacht ging es eine Strecke abwärts, sie tastete mif Fuß und Hand.

»Fürchterlich ist der Weg in die Totenhölle«, seufzte sie; er aber zog sie weiter. »Jetzt steh fest, damit ich dir leuchte.« Er ließ ihre Hand los; sie stand auf unebenem Boden, an ihren Seiten war der Fels gewichen und mit Entsetzen griff sie um sich in leere Finsternis. Da erglomm ein Funke, das Licht ging auf und erfaßte einen Haufen Reisig; bei der roten Flamme sah sie rings um sich eine gewölbte Höhle, die scharfen Zacken des Gesteins blitzten wie Silber und rotes Gold. Vor ihr neigte sich der Boden schräg hinab bis zu einer schwarzen Wasserfläche, welche den hinteren Grund der Höhle bedeckte. Der Rauch wirbelte aufwärts um den strahlenden Fels, bis er in graulicher Dämmerung schwand, wo durch einen[] Spalt in der Höhe ein bleicher Schimmer Tageslicht hineinfiel. Zwischen dem blinkenden Stein, dem schwarzen Wasser und der lodernden Flamme sank Walburg auf die Knie und schloß mit gefalteten Händen die Augen. »Fürchte dich nicht, Walburg«, tröstete Ingram, »ist der Stein auch kalt und das Wasser auch tief, dennoch ist der Felsbau ein guter Schutz.«

»Hier ist die Behausung der Heidengötter«, murmelte Walburg bebend, »in solcher Höhle schlummern sie im Wintersturm, wie die Leute sagen. Jetzt mögen sie hier weilen, um sich vor dem Christengott zu bergen, und frevelhaft war es für dich und mich, in ihre Nacht zu dringen.«

Ingram sah unruhig um sich, aber er schüttelte das Haupt. »Hausen sie hier, ich habe sie noch nicht gefunden, obgleich ich gezagt habe, ganz wie du, da ich zuerst hier eindrang. Und wieder zu anderer Stunde habe ich hier gelegen am flammenden Feuer und in schwarzer Finsternis, und ich habe sie mit wildem Mute gerufen, daß sie mir halfen, alle heiligen Götternamen. Aber Walburg«, flüsterte er, »keiner hat mich gehört. Der hohen Menschenherrin Frija, meinte ich, gehöre die Steinhalle, denn die Weisen sagen, daß sie gnadenvoll in den Bergen waltet und sterbende Männer zuweilen bei sich aufnimmt, und da ich zweifelte und ausgestoßen war, so wähnte ich, daß sie mir die Gunst ihrer Höhle gewährt habe, und obwohl sich mir das Haar sträubte, so nannte ich sie doch, ich flehte und schrie und gelobte mich ihrem Dienst, aber sie kam nicht. Die Flamme loderte wie jetzt, nur in dem Wasser wirbelte es, und ich erkannte eine große Wasserschlange, welche umherfuhr. Ich schaute in ihr die Göttin, warf mich zu Boden und hörte die Schlange rauschen, gerade wie jetzt«, er wies auf das Wasser, Walburg stieß einen gellenden Schrei aus, denn eine große Schlange wand sich in der Flut, und ihr Kopf hob sich über die Wellenringe an der Oberfläche.

»Flieh, Ingram«, flehte Walburg, »ich weiß, und es steht in den heiligen Büchern geschrieben, daß solcher Wurm dem Menschen alles Unheil sinnt.«

»Er bringt Schätze, sagen sie«, versetzte Ingram leise, »doch habe ich hier noch kein Gold erspäht. Einmal kam die Schlange hervor und rollte sich auf der warmen Kohlenstätte, da meinte ich sicher, daß sie die Herrin der Höhle sei. Aber, Mädchen, ich glaube nicht mehr, daß sie es ist. Denn ich sah einst, wie eine Maus längs dem Wasser dahinfuhr. Und der Wurm schnellte hervor und verschlang die Maus und lag dann am Ufer mit geschwollenem Leibe.«

»Weißt du, wer die Maus war?« mahnte Walburg ängstlich. »Mancher Unhold wandelt in Maushülle.«

Aber Ingram versetzte kopfschüttelnd: »Ich meine, es war eine Waldmaus wie viele andere. Seitdem fürchte ich die Schlange nicht sehr. Und wenn sie auch manches vermag, so ist's doch nichts [] Arges, denn friedlich hausen wir nebeneinander. – Und daß ich dir alles vertraue, Walburg«, fuhr er schwermütig fort, »ich glaube nicht mehr, daß die Menschengötter groß um mich sorgen. Es gelang mir auch nicht mit Hilla, der weisen Frau, als ich mich in ihre Hütte wagte.«

»Unseliger«, schrie Walburg, »zu der Zauberfrau bist du gegangen, die sie eine Hegisse nennen? Sie opfert den Nachtgeistern, und heillos wird jeder, der mit ihr zu tun hat.«

»Das sagt ihr Christen. Doch leugne ich nicht, ihr Wesen ist traurig und unhold ihre Arbeit. Sie forderte zu dem Nachtwerk, das sie für mich beginnen wollte, ein lebendiges Kind.«

»Du aber widerstandest?« rief Walburg.

»Ich dachte an dich«, versetzte Ingram zögernd, »und daß ich zu den Sorben gefahren war, um Kinder zu lösen. Und ich ging nicht wieder zu ihr. Seitdem lebe ich wie einer, den die Überirdischen nicht mehr schützen, denn auch sie achten den Friedlosen gering. Nur einer hohen Herrin vertraue ich mich«, fuhr er geheimnisvoll fort: »Der Schicksalsfrau, welche mit ihren Schwestern auf dem Gewässer schwebt, und ich meine, es wird besser um mich stehen, wenn ich in dem Tale flehe, über dem sie waltet.«

»Von der Wasserfrau am Idisbach sprichst du?« fragte Walburg scheu. Ingram nickte. »Sie ist meinem Geschlecht seit der Urzeit hold, und eine Sage kündet, wie sie uns günstig wurde. Willst du sie hören, so vernimm, denn dies ist die Stunde, wo ich dir mein Geheimnis vertrauen darf.« Er warf neue Holzbündel in die Flamme, daß sie prasselnd aufloderte, zog die erschrockene Walburg neben sich auf einen Moossitz und begann feierlich: »Ingo ist der Ahn genannt, von dem ich stamme, ein Held der Thüringe. Er war der Tochter seines Häuptlings lieb, die der Vater einem anderen gelobt hatte. Und als der Held seinen Feind auf der Kampfaue gefällt hatte, machten sie ihn friedlos, und er schweifte als fahrender Recke. Einst ritt er am Wasser dahin, sie sagen, es war der Idisbach, da sah er eine wilde Otter, welche gegen einen Schwan kämpfte. Er erlegte die Otter, und als er darauf unter dem Eschenbaum saß auf der Höhe, hob sich aus dem Schwanenkleid die Herrin des Baches, sang über ihm glückbringende Runen und begabte ihn mit einem Zauber, der ihm Sieg und Unsichtbarkeit gegen seine Feinde verlieh. Mit dem Zauber drang der Held bei Nacht in den Hof des Häuptlings und entführte die Jungfrau, welche er liebte. Er zimmerte sich über dem Bach der Göttin seinen Hof, dort hauste er gewaltig, die Männer des Tales dienten ihm, und keiner seiner Feinde vermochte ihm obzusiegen. Einst aber holte der kleine Sohn des Helden den Zauber aus der Truhe, hing ihn um und wandelte in den Wald. Da wurden die Feinde meines Ahnen mächtig und verbrannten ihn und die Hausgenossen mit dem Hofe. Nur der Knabe entrann. Von ihm stamme ich.«

[] »Weißt du, Ingram, ob die Gabe in Wahrheit Glück brachte?« fragte Walburg.

»Wie darfst du zweifeln«, rief Ingram unwillig, »es ist geheime Kunde meines Geschlechtes, und ich selbst bewahre noch den Zauber, das Erbe meiner Ahnen.«

»Du trägst bei dir, was von Unholden stammt?« schrie Walburg angstvoll. »Laß mich's sehen, daß ich wisse, denn auch dies ist jetzt mein Recht.«

»Du stehst unter dem Kreuze«, versetzte Ingram besorgt, »und ich weiß nicht, ob du dem Zauber günstig bist und er dir. Doch will ich dir's heut nicht bergen.« Er riß das Kleid auf und wies eine kleine Tasche von abgestoßenem Fell, die an seinem Halse hing. »Dies Zeichen ist so echt und heilig als irgend etwas auf Erden; sieh her, du magst noch erkennen, daß es in Wahrheit vom Otterfell stammt. Mein Vater trug es zuweilen, und meine Mutter übergab es mir. Als ich nach den Kindern ritt, barg ich es im Gewande, und darum, fürchte ich, ward der Sorbe mein Herr. Nach der Heimkehr band ich es um.«

»Und an demselben Abend verlorst du den Frieden«, mahnte Walburg. »Ich verlor ihn«, versetzte Ingram düster, »vielleicht, daß der Zauber nicht den Frieden bewahrt, denn friedlos war auch mein Ahnherr, da er ihn empfing.«

Mit geheimem Grauen erkannte Walburg, daß der Mann, den sie liebte, unter der Macht unholder Gewalten stand. Die Flamme loderte und warf rote Funken umher, der zackige Stein leuchtete und blitzte, und unten in der Tiefe wirbelte der teuflische Wurm.

»Wer wärmt hier so frech sein Gebein?« rief eine wilde Stimme vom Eingang her, »den Rauch roch ich über den ganzen Berg.«

Aus dem Felsspalt trat schwerfällig in dunklem Kleide von Fellen eine riesige Gestalt, blutbespritzt war das Gesicht und Blut träufelte von den Armen, als der Unhold sich dem Feuer näherte. Walburg fuhr entsetzt in die Höhe. »Ich sehe zwei. Bist du unsinnig, Wolfsgenoß, da du dir ein Weib unter die Erde holst?«

»Du wähltest üble Stunde einzudringen, Bubbo«, entgegnete Ingram unwillig, »und dir steht Drohen schlecht an, wo du selbst die Hilfe anderer gebrauchst; denn ich sehe, hartem Kampf bist du entronnen.«

»Den Bär erlegte ich, mich packte die Bärin, und wir rollten zusammengeballt vom Felsen. Mein gutes Glück war, daß sie unten lag und für mich den Sturz bezahlte, ich schleppte mich mühsam hierher, wo ich dich zu finden hoffte«, versetzte Bubbo und setzte sich schwerfällig auf das Moos.

»Sieh zu, wo er wund ist, damit ich ihn verbinde«, mahnte Walburg, welcher die Not des anderen den Mut zurückgab, und sie trug den hilfreichen Korb heran.

[] »Bist du's, Walburg?« murrte Bubbo. »Der Armknochen ist gebrochen, und der Leib voll Risse, schiene den Arm mit Rinde und sprich deinen Segen, wenn du es vermagst, denn ich fürchte, meine Braunen werden über diesen Sturz frohlocken.«

Während Ingram Wasser schöpfte und aus der Höhle eilte, um Baumrinde und Moos zu holen, bereitete Walburg den Verband. »Nimmer hätte ich gedacht, daß mein Schleier einmal an deinen Wunden haften würde, Bubbo«, sagte sie gutherzig.

»Es ist nicht zum erstenmal, daß du an mir bindest«, versetzte der Waldmann so höflich, als er vermochte. »Und wenn noch jemand unser Geheimnis teilen soll, so ist mir recht, daß du es bist, obgleich ich dich für ganz unklug halte, weil du aus dem Meierhofe unter diesen kalten Stein fährst.«

Als Ingram zurückkehrte, schiente Walburg mit seiner Hilfe den Arm und deckte die Fleischwunden.

»Vermagst du mir einen Trunk zu reichen, so wäre mir's lieb«, bat der Waldmann, »das Wasser dort unten ist rein und kalt.« Der Jungfrau grauste hinabzusteigen, sie hob eine Flasche aus dem Korbe und füllte einen kleinen Holzbecher. »Dies ist ein Trank, den Herr Winfried uns gelehrt hat, er ist heilsam gegen scharfen Schmerz. Er wird dich zuerst sorglos machen und darauf müde, und das ist jetzt für dich das beste.«

»Ich würde den Trank deines Bischofs rühmen, aber er schwindet wegen seiner Spärlichkeit auf dem Wege abwärts«, seufzte Bubbo, den Becher zurückgebend. »Doch leugne ich nicht, daß es besser ist, einen Trunk aus seinem Vorrat zu bekommen als einen Fluch.«

»Du kennst den Bischof?« rief Walburg. Ein langes Brummen war die Antwort. »Wie sollte ich ihn nicht kennen, da er sich selbst meiner rühmt. Denn im letzten Mond, als er mit Reisigen des Grafen über die Berge nach den Frankendörfern ritt, schlugen die Speerleute ihr Kreuz, da sie bei meinem Hofe vorbeikamen, doch er sprach: ›Hier halten wir an.‹« Bubbo lachte laut. »Die Reiter machten große Augen und redeten leise zu ihm, er aber versetzte: ›Hier wohnt mein Gastfreund.‹ Sie pochten lange am Tor«, fuhr er redselig fort, »obgleich ich auf der Innenseite stand. Als ich endlich öffnete, sprach der Bischof zu mir: ›Wir wollen dich nicht durch unser Einlager beschweren, nur um einen Trunk Wasser bitte ich dich und daß du mir sagst, ob ich dir in etwas nützen kann.‹ Als wir nun allein am Herde saßen, mahnte ich ihn an ein altes Versprechen, daß er mir wohl etwas von seiner Kunst mitteilen könnte. Und er sprach: ›Ich bin immer bereit, was begehrst du?‹ Ich sagte: ›Gold; ich will es finden oder gewinnen.‹ Er antwortete: ›Gut, ich will dir's weisen.‹ Und er holte aus seinem Ledersack Pergament in einem Holzkasten, was sie ein Buch nennen, und schlug es auf. Ich erstaunte mehr als jemals in meinem Leben, denn von Gold waren[] die Runen, welche auf das weiße Leder geschrieben waren. Sie leuchteten mir in die Augen, daß ich erschrak, da sprach er: ›Du tust wohl, deine Mütze abzunehmen, denn die Worte, welche geschrieben stehen, sind heilig, und hier ist die Verkündigung, welche für dich gegeben ist.‹ Er wies mir die Stelle und deutete sie: ›Es war einmal ein Mann, so armselig, krank und verachtet, daß niemand mit ihm verkehren wollte, und gerade den trugen die Boten der Überirdischen in die Himmelsburg und setzten ihn auf den Ehrenplatz; den reichen und vornehmen Mann aber, der in Purpur wandelte, stießen sie hinab in das finstere Nachtreich.‹ Und der Bischof sprach: ›Merke wohl, im Christenhimmel ist den Armen, Verfolgten und Ausgestoßenen gutes Gemach bereitet, ob sie auch heimatlose Leute und Bärenführer sind, wenn sie ihre Sünden bereuen. Schwerer wird dem Reichen der Weg in den Himmelssaal als dem Armen. Darum, wenn es dir übel gedeiht bei deinen Bären, denke auf ein besseres Leben und komm zu mir, damit dir dort oben das Glück bereitet werde, das dir verkündet ist.‹ Gleich darauf ritt er davon, ich aber saß am Herde und merkte, daß er mir nicht übel geraten hatte. Denn auch ich begehre nach diesem Leben ein besseres Glück, als ich hier im Wintersturm bei meinen langlodigen Genossen hatte. Und mir fiel ein, wie ich dereinst im Frankenreich mehr als einen Siedler gesehen habe, der einsam bei seinem Kreuze um die Gunst des Himmelsherrn bittet. Wenn der Christengott auch dem schicksalslosen Waldmann einen Ehrensitz zuteilt, so möchte ich ihm wohl dienen, wie er's begehrt. Und diese Höhle, in der ich jetzt gezaust liege, könnte einmal meine Wohnung sein.«

Ingram lachte laut. »Du, Bubbo, willst unter den Christen beten?«

»Vielleicht tue ich's«, versetzte der Waldmann trotzig. »Ist die Christenlehre so mild gegen die Armen und Unfreien, dann mögen alle, die den Nacken hoch tragen, sich fortan wahren, denn alles arme Volk muß dem Bischof zufallen, und der Armen sind mehr als der Reichen.«

»Du aber weißt ein Schwert zu führen«, rief Ingram.

»Ich habe getötet mit jeder Waffe, Menschen und Tiere, wie mich die Not trieb«, versetzte der Riese finster, »was habe ich davon gehabt? Daß mich die Leute scheu anblicken, daß ich in Schnee und Wintersturm allein hause und daß kein Gott und kein Mann Sorge um mich trägt. Wer seit dreißig Sommern und Wintern in der Waldwüste mit den Raubtieren heult, der kümmert sich nicht mehr um die Menschengötter der Heiden. Graubärte hörte ich schwatzen, und fahrende Sänger hörte ich viel singen von der Götterhalle, zu der die Helden aufsteigen, aber daß dort jemand den Bärenfänger freundlich begrüße, habe ich niemals gehört. Du bist kaum einen grünen Sommer Wolfsgenosse und hast gelernt, am Opferstein zu [] flehen und Gutes zu hoffen. Ich aber habe zuweilen neben der Felskluft gelauert, aus welcher der Uhu fliegt, wenn er sein Wu-hu schreit, damit die Männer im Tal ihre Köpfe bergen und das sausende Gottesheer erwarten, und ich habe dem Schreier den Kopf zerschlagen und die Fänge abgeschnitten, ohne daß sein Gott mich hinderte. Und ich sage euch, ich fürchte die Götter nur selten, und ihrem guten Willen vertraue ich gar nicht. Erbarmungslos sind die Gewaltigen des Waldes und immer feindlich dem Menschen, nur Leiden und Ungemach teilen die zu, welche im Sturme fahren und um die Baumwipfel schweben; was ich Gutes genossen habe, erwarb ich mir mühevoll selbst.«

Ein Dröhnen unterbrach seine Rede, so gewaltig, daß der Felsen bebte; Ingram und Walburg fuhren empor, Bubbo lauschte, dann lachte er: »Ein Baum stürzte; der Wurm und der Moder haben ihm das Holz zerfressen. Meint ihr, das ist eine Mahnung der Menschengötter? Es stürzen ihrer viele, wo sie niemand hört.« Und er fuhr fort: »Ich scheue den Bären, wenn ich ohne Waffen bin, ich scheue die giftige Schlange, ich fürchte die tückischen Elbe, wenn sie in meine Glieder fahren und mich kraftlos machen, und ich fürchte zuweilen den Biß der Kälte und den Strahl aus den Wolken. Im übrigen weiß ich, daß die Überirdischen nur gegeneinander wüten in grimmigem Kampfe. Darum denke ich, daß in den goldenen Buchstaben des Bischofs ein Geheimnis liegt, welches mir wohl helfen kann aus dieser Waldöde. Und in kurzem werde ich es sicher erkennen.«

»Gehe zu ihm, Bubbo«, rief Walburg, »damit du seine Lehre noch einmal hörst.«

»Gerade das will ich nicht tun«, versetzte Bubbo schlau, »es könnte mir jetzt auch übel bekommen. Eine bessere Prüfung weiß ich. Wenn der Christengott stark genug ist, seinen Häuptling selbst vor der Gefahr zu schützen, so mag dereinst wohl auch mir Gutes geschehen. Darum hänge ich mein Schicksal an das Schicksal des Bischofs. Gerade in dieser Stunde ziehen, wie ich meine, seine Feinde gegen ihn. Würgen sie ihn, dann ist der Christengott auch nicht stärker als die anderen, und ich jage meine Braunen, bis mich wieder einmal einer umarmt wie heut. Wird aber mein Gastfreund seiner Feinde mächtig, dann werde ich ein Mann seines Gottes.«

Der Jungfrau preßte die Angst das Herz zusammen, sie mühte sich, ruhig zu sagen: »Wunderlich ist deine Hoffnung, wie soll dem Herrn Winfried nahe Gefahr drohen, das Land ist im Frieden, und die Reiter des Grafen umgeben ihn.«

Bubbo lächelte finster. »Da ihr Wolfskinder seid wie ich, so mögt ihr's hören. Vielleicht kommt der Ratiz über ihn.«

Ingram fuhr auf. »Woher willst du das wissen?«

»Die Blätter im Walde haben mir's erzählt, und die Krähen haben [] mir's zugetragen«, versetzte Bubbo. »Ich war bei Ratiz, kurz nach deinem Ausbruch; wie ein toller Kater fuhr er zwischen den verbrannten Hütten umher. Und zuerst fand ich so üblen Empfang, daß ich um den Rückweg sorgte. Schnell aber änderte er die Miene und bot mir Frankengeld, wenn ich einem Reiter in meiner Hütte heimlichen Unterschlupf geben wollte und selbst nach der Werra gehen, um dort eine Botschaft seiner Gesandten zu empfangen, sobald diese vom Frankenherrn zurückkehrten. Denn nur langsam vermögen sie im Geleit durch das Land der Thüringe zu ziehen und werden überall verweilt. Ich tat nach seinem Willen, nahm den Läufer mit mir in den Hof und ritt westwärts zur Werra, auf die Gesandten zu harren. Diese gaben mir mit trüben Mienen ein Zeichen für den Läufer und drängten mich, heimzureiten. Als ich das Zeichen dem Läufer gab, sprang dieser zur Stelle aufs Pferd und fuhr wie vom Winde getrieben nach der Richtung des Sorbenbachs zu.«

»Von deinem Hofe zum Dorf des Sorben vermag kein Reiter in gerader Richtung zu sprengen, denn pfadlos ist die Gegend nach Osten«, rief Ingram.

»Über den Rennweg ritt er, du Narr. Ist der hohe Pfad auf den Bergen noch den Thüringen heilig und euren Rossen verboten, warum sollte er es den Sorben sein? Den Fremden graut vor anderen Göttern, und sie fragen wenig nach den euren, wenn sie auf Raub sinnen. Darum sage ich, der Ratiz will in die Täler der Thüringe einbrechen, bevor sie das Volksheer gegen ihn führen. Fängt er den Bischof, so zwingt er die Franken zu vielem. Vielleicht weiß er auch einen Hof, an dem er gern sein gebranntes Lager rächen würde. Denn damit drohte der Bote in meiner Hütte.«

Ingram tat schweigend seine Waffen um.»Wann ritt der Sorbenläufer zum Lager des Ratiz?«

»Heut ist der vierte Tag«, versetzte Bubbo in schläfrigem Behagen. »Was greifst du nach dem Speer, du Tor? Dich haben sie hinausgeworfen, und wenn du heimkehrst, mag dich jeder erschlagen.«

Ingram antwortete nicht, sondern gab Walburg einen Wink, ihm zu folgen. »Treuloser Wicht«, rief Bubbo, sich mühsam erhebend, »willst du deinen Genossen in der Not verlassen?« Walburg setzte die Flasche und den Speisevorrat an das Lager. »Hier magst du dauern, bis wir wiederkehren«, rief sie, »und wenn du Gutes für deine Zukunft hoffst, so versuche zum Christengott zu beten, daß er dir die Lose verzeihe, die du über den Bischof geworfen hast.«

[]
Unter der Glocke

Als die Friedlosen aus dem Felsspalt in die freie Luft traten, war die Sonne gesunken, und dämmeriges Mondlicht lag über dem Laube. Eilig brach Ingram durch das dichte Gebüsch, und die Jungfrau hatte Mühe, ihm zu folgen. Endlich erreichten sie den Rand des Gehölzes, das offene Land lag vor ihnen, und über ihren Häuptern breitete sich der Nachthimmel. Walburg merkte, daß ihr Gefährte das Haupt hoch trug und daß seine Rede gebietend klang, wie dem Krieger geziemte. »Das Holz entlang läuft ostwärts der Weg nach dem Rabenhofe, dorthin gehen wir, denn in der Heimat finde ich meine Feinde und die Rache.«

»Vertraue mir, was du sinnst.«

»Die Schmach der Weiden will ich tilgen, das Blut des Ratiz begehre ich«, versetzte er finster. »Anders als du meintest, Walburg, soll mein Geschick sich erfüllen. Du wolltest mir in treuem Herzen friedliche Heimkehr bereiten; aber die Unsichtbaren widerstreben. Was der wunde Mann in der Höhle sprach, wird ein Fremder als verwirrte Rede deuten oder doch nur als unsicheren Argwohn, ich aber weiß, daß jedes Wort Wahrheit ist; ich kenne den Sorben, ich sah sein Lager brennen, ich denke, daß er einen Racheschwur gegen mich getan hat, wie ich gegen ihn. Ich weiß«, rief er mit wilder Gebärde, »daß die Sorben jetzt die Brände tragen, um die Dächer meines Hofes zu sengen. Wann ritt der Weißbart aus dem Meierhofe heimwärts?«

»Gestern um Mittag.«

Ingram nickte. »Dann sind die Gesandten jenseit der Saale in Sicherheit, und der Sorbe hat Freiheit, zu tun, was ihn gelüstet.« Er schritt wieder rasch vorwärts und sprach: »Ich erkenne die Sorben deutlich vor mir.« Die Jungfrau drängte sich an ihn. »Nicht hier«, bedeutete er, »weit von uns auf dem Rennwege rasten sie. Den Ratiz sehe ich liegen und meinen Raben mit der Beinfessel des Bösewichts, den Helden Miros erkenne ich und alle Gesellen der Halle. Am heiligen Walde lagern sie, nahe dem Gipfel, welcher den Opferstein des Donnerers trägt, denn dort ist eine gute Bergestelle für die Reisekost, die sie zur Rückfahrt brauchen, und sie haben die Kost unter den Steinen niedergelegt. Ihre Feuer sind niedrig, damit kein Schein sie verrate, und über ihnen ragen die Eichen. Der Sorbe hat nur einen Teil seines Volkes mitgebracht, schwerlich mehr als hundert der flüchtigsten Rosse, denn den ganzen Schwarm wagt er nicht über die Berge zu führen, und er weiß, nur schnelle Reiterfahrt kann ihm frommen. Er gedenkt zum Morgengrauen auf dem heiligen Wege an unser Dorf zu drin gen, denn in finsterer Nacht vermag er nicht mit reisigem Volk durch die fremde Wildnis zu fahren, und auch der Mond wird ihm nach Mitternacht fehlen.

[] Das alles sehe ich deutlich, Mädchen, und niemanden vermag ich zu rufen, und keiner wird meinen Worten glauben.«

»Ich aber will für dich sprechen, damit wir andere retten«, versetzte Walburg.

»Sorgst du um die Priester?« fragte Ingram hart.

»Könntest du mich ehren, wenn ich's nicht täte?« fragte Walburg. »Meine Brüder schlafen unter ihrem Dach.«

Sie hörten Hundegebell. »Dort liegt der Herrenhof des Asulf«, mahnte Walburg und wies auf die Dächer, welche wenige Bogenschüsse vom Wege im Mondlicht glänzten.

»Wahrlich, all mein Trachten ist ins Üble verwandelt«, rief Ingram. »Ehedem sprangen meine Gedanken mit Rosseshufen, rund und hart war mein Wille, jetzt aber laufe ich niedrig auf Eberfüßen, denn zwiespältig teilt sich Liebe und Haß; viele, die ich hasse, muß ich beachten wie Freunde, und die mir Leid zufügten, warne ich vor Gefahr. Jämmerlich dünkt mir solche Teilung. Wandelt der neue Gott unsere Hufe in Klauen, dann mögen die Krieger bald zu Weibern werden.«

Dennoch schritt er dem Hofe zu, unter wütendem Hundegebell schlug er an das Tor und rief dreimal den Schlachtruf der Thüringe in den Hof. Die rauhe Stimme des Wächters fragte von innen: »Wer schlägt so wild und schreit im Frieden der Nacht den Kampf aus?«

Ingram rief entgegen: »Die Sorben reiten in den Bergen. Wecke deinen Herrn, daß er sich eile, wenn er den Bischof retten will.«

»Sage zuvor, wer so rauhes Nachtlied singt.« Da antwortete die Jungfrau: »Die Walburg ist's, die in dem Hofe des Bischofs war«, und schnell eilten sie davon, bevor der Wächter nach den Nachtgestalten aussah.

Dasselbe riefen sie in alle Höfe, die an ihrem Wege lagen, und als sie vor das Heimatdorf kamen, mahnte Ingram den schlafenden Wächter in der Torhütte ebenso. Es war nach Mitternacht, als sie über das Dorf hinaufkamen; die letzten Strahlen des niedersteigenden Mondes fielen auf die neuen Gebäude des Meierhofes, der Hof Ingrams lag dunkel im Schatten der Bäume. Wo der Weg sich von der Dorfstraße trennte, hielt Ingram an: »Dort liegt der Hof meiner Väter, und dort hausen deine Brüder und die Priester. Vielleicht nehmen sie dich wieder bei sich auf, obgleich du den Frieden verloren hast. Wähle, Walburg.«

»Ich habe dich gewählt«, antwortete Walburg, »du aber gedenke der Knaben.«

Ingram bewegte zufrieden das Haupt und wandte sich dem Meierhofe zu. »Wo ist das Schlafhaus der Priester?« Walburg führte ihn vor die neue Halle. »Wahre dich«, flüsterte sie, »die Reisigen des Grafen liegen im Hofe.« Aber Ingram achtete nicht [] darauf. Er pochte an den Laden. »Ist der Jüngling hier, den sie Gottfried nennen, so möge er hören.«

Drinnen regte sich's. »Ist es deine Stimme, Ingram, die mich ruft? Ich höre, mein Reisegeselle.«

»Wolfsgenoß heiße ich«, rief Ingram zurück, »und dein Reisegeselle will ich nicht sein, sondern dein Feind. Du aber hast deine Hände den Weiden geboten, damit ein anderer frei werde. Darum bringe ich dir von ihm, der im wilden Steine haust, eine Warnung. Durch den Wald schallt es, daß der Ratiz über die Berge reitet, um den Bischof zu fangen und euch auszutilgen. Siehe zu, ob du dein Haupt und andere, die dir lieb sind, zu retten vermagst, denn nahe ist euch das Verderben.«

Die Tür öffnete sich, Winfried trat auf die Schwelle. Der Speer in Ingrams Hand zuckte, aber er wendete sein Gesicht ab, als der Bischof sprach: »Die Warnung kündet, was Sorge macht, doch meldet sie zu wenig, um andere zu retten. Sahst du oder ein anderer den Anzug der Sorben?«

»Nur ihr Anschlag wurde verraten«, rief Ingram zu rück.

»Und wann erwartest du den Einbruch?«

»Vielleicht heut zum Frühlicht, vielleicht erst in den nächsten Tagen.«

»Heut ist der Tag des Herrn, im Frühlicht sammelt der Himmelsgott die Getreuen bei seinem Heiligtum, dort wird er die Flehenden gnädig beschirmen. Auch dem Friedlosen ist die Freistätte bereitet, suchst du Frieden, so tritt ein.«

»Deinen Frieden begehre ich nicht«, rief Ingram über die Achsel zurück, »Wolf und Wölfin springen abwärts von deinem Pferch.« Er entwich mit schnellen Schritten, gleich darauf sah Winfried zwei Schatten über den Weg gleiten und in der Richtung des Rabenhofes verschwinden.

Ingram öffnete eine schmale Pforte, welche von außen unkennbar durch das Pfahlwerk seines Hofzauns führte, und half der Jungfrau über Graben und Zaun in den Rabenhof. »Unrühmlich ist solcher Eintritt der Braut in den Hof des Verlobten«, murmelte er zornig, »meine eigenen Rüden fallen mich an«, aber im nächsten Augenblick umsprangen ihn die Hunde mit freudigem Gebell. »Schweigt, ihr Wilden, allzu deutlich schallt euer Willkommen in das Tal.« Er pochte an den Stall, in welchem die Kammer Wolframs war.

»Ich verstehe den Gruß der Hunde und den Schlag der Herrenhand«, rief eine fröhliche Stimme, und Wolfram trat heraus. Unter der Linde standen die drei in eiliger Beratung. »Darum also lachte der schurkische Weißbart, als ich ihm das Tuch gab«, rief der erstaunte Wolfram, »und darum fuhr er mit den Blicken so freundlich über unsere Dächer. Ist alles wie du sagst, Herr, so drohen die [] Sorben heut oder in den nächsten Tagen. Noch sind sie nicht da, und wir vermögen auf die Verteidigung des Hofes zu denken.«

»Das Dach des Gebannten ist preisgegeben«, versetzte Ingram, »die Speere der Landgenossen werden es nicht schützen, auch wenn sie vermöchten. Was aber immer dem Hofe geschehe, dennoch denke ich den Pferdedieben ihre Freude zu verderben. Haben sie auch den Raben, das übrige edle Blut meines Stalles will ich ihnen nimmermehr hinterlassen, die Zucht der Mähren, welche seit meinen Ahnen berühmt war, soll gerettet werden und ebenso die Sorbenbeute, die ich am Herde bewahre. Ich sattle hier, was ich bedarf; mit der ledigen Koppel und der Kampfbeute jage du talab zum Hirschwald und birg sie dort in der Schlucht, wo unser Versteck ist.«

Wolfram wies auf Walburg. »Du sprichst gut. Doch die Jungfrau weiß recht wohl mit den Pferden Bescheid, leicht weise ich ihr den Weg nach der Tiefe, denn ungern weiche ich in diesen Stunden von dir.«

»Ich bleibe, Ingram«, bat Walburg, »wo ich dir nahe bin.«

»Dann muß ich den Nachtritt tun«, schloß Wolfram unzufrieden. »Doch kenne ich einen, der sich nicht in der Tiefe duckt. Auf dem Wege schlage ich an den Herrenhof des Albold und lade ihn zur Sorbenjagd.«

Hastig regten sich die Hände, nach kurzer Zeit stob Wolfram mit den Rossen talab. Bevor er schied, sagte er zu Walburg: »Dir binde ich unseren Falben an das Tor, wenn du ihn brauchst; er gebührt dir, denn er stammt aus der Zucht deines Vaters.«

Ingram trat, sein Roß am Zügel führend, zu der Jungfrau und faßte sie an der Hand. »Komm aus dem Hofe in das Sternenlicht. Ich stehe hier, um die letzte Wache zu halten vor dem Hofe meiner Ahnen, und ich fürchte, keiner von den Göttern und keiner von allen Menschen sorgt um den Ausgestoßenen. Wenn hier Speere geworfen werden, so weiß ich nicht, ob mich zuerst eine Waffe meiner alten Kampfgenossen trifft oder der Fremden. Preisgegeben bin ich dem Eisen und preisgegeben ist mein Hof den Bränden, freundlos und ohne Gesellen stehe ich auf der Männererde vor meinem letzten Kampf. Denn hier denke ich den Sorben zu erwarten. Du aber sage, wenn später noch jemand nach mir fragt, daß ich nicht unmännlich auf die letzte Wunde geharrt habe. Nur um dich fühle ich heißen Schmerz, du hast um meinetwillen den Frieden verloren, verachtet bist du wie ich und allein. Und meine schwere Sorge ist, daß du nicht wieder in die Hände der Sorben fällst. Darum beachte meine Bitte, bleibe bei mir, solange die Nacht uns deckt, damit ich eine Menschenhand halte; und wenn das graue Licht auf die Wege fällt, so reite abwärts bis zu meinem alten Gesellen Bruno, er ist ein ehrlicher Mann, und wenn du ihm meinen letzten Gruß bringst, so wird er um meinetwillen für dich sorgen. Bin ich erst [] dahingeschwunden, dann werden sie auch im Volke dich wieder ehren.« Er hielt ihre Hand fest, und die Trauernde fühlte den bebenden Druck.

»Du gedenkst zu sterben, Ingram, wie ein Hoffnungsloser; ich aber will, daß du leben sollst, und mein ganzes Glück hoffe ich von den Tagen deiner Zukunft. Darum bin ich zu dir in den Wald gekommen, und darum mahne ich dich jetzt, wenn ich gleich nur ein Weib bin. Anderes erwarte ich von dir, als daß du hier, auf die Speere harrend, am leeren Hofe die Wache hältst. Haben deine Landgenossen auch hart an dir gehandelt, dennoch leben viele in der Nähe und weiter unten im Tale, deren Wohl auch dir am Herzen liegt. Du bist hochsinnig und darfst nicht tatlos weilen, bis sie von den Räubern überrascht werden. Niemand kennt den Wald wie du, und niemand ist zur Stelle, nach den Feinden auszuspähen. darum flehe ich, Held, daß du vor den anderen selbst prüfest, ob dich die Ahnung betrogen hat. Kündest du, wo die Feinde nahen, so mögen Waffenlose sich retten und die Krieger den Feind leichter abwehren.«

»Du sendest mich in der Notstunde von dir?« fragte Ingram düster. »Willst du dich zu den Christen flüchten? Sie selbst sind schutzlos wie du.«

»Du sprichst hart, und deine Worte tun mir weh«, rief Walburg. »Nicht um mich sorge ich. Aber deinetwegen denke ich der heiligen Lehre; haben andere Übles an dir getan, dir geziemt es, gut an ihnen zu handeln.«

»Du sagst es«, versetzte Ingram. »Die zu mir in den wilden Wald gekommen ist, soll nicht umsonst fordern, daß ich dahin zurückgehe, lebe wohl, Walburg, ich reite.«

Aber Walburg hielt ihn fest. »Noch nicht, Geliebter. Da du gehen willst, graut mir davor, daß ich selbst dich in die Gefahr sende. Du darfst nicht reiten, wenn du kämpfen willst, denn warnen sollst du, damit andere sich retten. Hier weile ich, an deiner Statt halte ich die Wache am leeren Hofe, bis du zu mir kehrst. Daran denke. Willst du aber den Sorben dort im Kampfe bestehen, so halte ich flehend deinen Leib fest, damit du mir nicht im Walde vergehest.« Sie umschlang ihn leidenschaftlich mit ihren Armen, Ingram küßte sie auf das Haupt. »Sei ruhig, Mädchen, wenn ich nicht will, umstellen mich die Sorben schwerlich, und ich will zurückkehren und die Botschaft bringen dir und deinen Freunden. Entlaß mich, Geliebte; denn der Morgen ist nahe.« Er drückte sie noch einmal an sich, sprang auf das Roß und trabte dem Walde zu.

Walburg stand allein. Sie war gewöhnt, die Männer, um welche sie sorgte, in Gefahr zu wissen, heut aber rang sie hilflos die Hände in der Angst um alle, die ihr lieb waren. Neben ihr der Hof, unheimlich wie eine Behausung der Toten, vor ihr ein schwarzer Rand [] des Gehölzes, in welchem die Mörder lauerten, und sie selbst allein unter dem Nachthimmel, auf den Augenblick der Flucht harrend. Sie griff in die Mähne des Pferdes, um sich daran festzuhalten, und sah hinüber nach dem Meierhofe, von dem sie freiwillig sich ausgeschlossen hatte. Dort bewegten sich Lichter, die Menschen waren wach und eilten ab und zu, als ob sie zum Ausbruch rüsteten. Das Tor wurde geöffnet, und Reiter fuhren in schnellem Lauf abwärts, sie wußte, daß es die Reisigen waren, welche der Bischof mit Botschaft in das Land sandte. Und immer wieder flogen ihre Gedanken dem Krieger zu, den sie selbst dem rachsüchtigen Feinde entgegengesandt hatte. So stand sie, die Hände am Halse des Rosses gefaltet, und ihr Blick irrte zwischen dem Walde und Hofe und hinauf zu den Sternen, deren Licht schwach und bleich wurde im ersten Grau des nahenden Tages.

Da erhob sich in der Stille des Morgens ein heller Klang, der noch niemals im Lande vernommen war. Langsam und feierlich tönten die Schläge wie vom ehernen Heerschild eines Gottes, mahnend, drohend, klagend weithin durch die Luft. Der Ruf klang in die Täler, in denen Menschen wohnten, und über das Schattendach des wilden Waldes. Die flüchtigen Frauen, welche das Vieh abwärts trieben, und die Krieger, welche sich zum Kampfe rüsteten, standen still und sahen erschrocken nach dem Himmel und auf die Wipfel der Bäume, als müßte der Klang einen Gegenruf erwecken. Aber kein rollender Donner und kein heulender Sturmruf antwortete, der Himmel wölbte sich wolkenlos und rötete sich fröhlich, im Osten die aufsteigende Sonne zu begrüßen. Die Singvögel im Gebüsch hielten inne mit ihrem Morgengeschrei und flatterten auf den Zweigen, die Raben, welche um die hohen Tannen schwebten, rauschten empor, krächzten lauten Warnungsruf für ihre Genossen und flogen dem finsteren Walde zu. »Seht, wie die Raben des alten Gottes entweichen«, schrien die Dorfleute. – Oben im Bergwald ritten wilde Heergesellen vom Rennwege in die Waldgründe herab, um Brand und Tod in die Täler der Thüringe zu tragen; auch diese hielten erstaunt an. Ihr Häuptling fuhr nach der Höhe zurück, ihn umdrängten seine Krieger, sie suchten eine lichte Stelle zur Ausschau über das Land, aber sie vermochten nichts zu erblicken; nur der geheimnisvolle Klang zitterte aus der Ferne unablässig um ihr Ohr wie zur Verkündigung, daß ein unsichtbarer Feind ihnen Verderben drohe. Sie wußten nicht zu deuten, woher der tönende Schrei kam, drang er aus der Erde, schwebte er aus den Wolken, war er die Stimme des Christengottes, welcher seine Getreuen vor den lauernden Feinden warnte? Leise raunten sie zueinander, und dem Mutigsten wurde das Herz schwer.

Unten aber im Lande, soweit die rufende Stimme in der Morgenluft schwebte, ergriffen die Männer ihre Waffen, hüllten sich in [] das Kriegsgewand und eilten auf allen Pfaden der Stelle zu, von welcher die Mahnung in ihr Ohr schlug. Nicht die Christen allein, auch die Heiden kamen aus den Höfen, denen der Friedlose und die Speerreiter des Grafen Botschaft zugerufen hatten.

Auf dem Turmgerüst, das die Christen an der Halle des Bischofs erbaut hatten, schwang sich die Glocke und sang der Jungfrau am Heidenhofe mit heller Stimme: »Komm herzu!« Walburg lauschte mit gefalteten Händen dem neuen Klang ihres Glaubens, sie dachte betend, ob auch der Späher, der jetzt im Waldesdunkel ritt, die Mahnung ehrfürchtig vernehmen werde. Als sie aufblickte, erkannte sie in der Morgendämmerung die Haufen der heranziehenden Landgenossen, sie sah über dem Nebel, der auf dem Dorfanger lag, Banner der Häuptlinge, Getümmel der Reiter und die Züge bewaffneter Landleute, welche zu dem Meierhofe heraufstiegen und den großen Bohlenverschlag, den geweihten Raum für den Gottesdienst, umstanden. Und sie vernahm von drüben aus dem Heiligtum unter den Klängen der Glocke den Morgengesang der Priester, der Frauen und Kinder des Hofes. Da gedachte sie, daß jetzt ihre Brüder singend am Altar standen und daß auch sie durch ihr Gelübde dem Himmelsgott gebunden war und in die Gemeinde der Christen gehen müsse. Sie sah noch einmal in den leeren Hof zurück, nahm das Roß am Zügel und schritt, wohin sie geladen wurde. Das Roß band sie an einen der Holzhaken, welche auf der Außenseite des Bohlenzaunes angebracht waren, sie selbst trat in den geweihten Raum und kniete nieder ganz hinten bei den Frauen. Vor dem Altar stand Winfried im bischöflichen Gewande und versah das hohe Amt, siegreich und machtvoll tönte seine Stimme unter dem Klang der Glocke, welche noch immer die Treuen lud und die Feinde warnte.

Unterdes wand sich Ingram vorsichtig durch die Waldesnacht aufwärts. Nur auf dem heiligen Wege, der zu den Opfersteinen der Höhle führte, vermochte ein fremder Reitertrupp, wenn der Morgen kam, den Abstieg in die Täler zu wagen. Oft horchte der Einsame und sah ungeduldig auf den schmalen Streifen des Nachthimmels, der über ihm sichtbar war. Als der erste Tagesschimmer über die Wipfel flog und graue Dämmerung auf den rauhen Pfad senkte, hörte auch er den fernen Hall der Glocke und hielt staunend an. Er hatte den Gruß des Christengottes schon früher einmal unter den Franken vernommen, heut empfand er eine wilde Freude, daß der fremde Menschengebieter die Volksgenossen zur rechten Zeit aufweckte. Um sich herum merkte er nur die Nachtlaute des Waldes, dennoch wußte er, daß die Sorben nahe waren, denn untilgbar malte ihm sein heißer Haß die Gestalt des Sorbenhäuptlings vor, den falschen Blick und das höhnende Lachen. Da, ganz nahe dem Rennwege, wo der steile Abstieg von der Höhe wegsamer in dem[] Grunde läuft, hörte er klirrende Waffen und stolpernde Hufe und erkannte den Vortrab der Sorben; unter den ersten den Ratiz auf schwarzem Hengste. Als Ingram seinen Todfeind auf dem Raben heranreiten sah, stieg ihm das Blut in das Haupt, und in wildem Grimm rief er, alle Vorsicht vergessend, sein Roß mit dem Namen an und riß sein eigenes Pferd zur Flucht herum. Der Kriegsschrei der Sorben gellte durch den Wald, als sie sich entdeckt fanden und ihren Feind vor sich erkannten, und eine tolle Jagd zwischen den Bäumen begann. Ingram aber, der des Weges besser kundig war, kam weit voraus; nur das edle Roß des Ratiz, durch den Ruf seines alten Herrn und die Nähe des Stallgenossen gemahnt, trug den Häuptling in großen Sprüngen hinter Ingram her, voraus allen Sorbenkriegern. So ging die Hetze talab aus dem Urwald und längs der Wagengeleise des lichten Gehölzes bis an den Waldesrand in die Nähe der Höfe. Hier hob sich Ingram im Sattel und schrie den Schlachtruf über die Lichtung.

Der Schrei unterbrach das Amt des Priesters, die ausgestellten Wachen wiederholten den Ruf, die Männer schwangen sich aus dem Holzring und suchten ihre Rosse, die Weiber und Kinder drängten sich um den Altar, vor welchem der Bischof stand, das Kreuz hoch emporhaltend. Als Ingram freien Raum vor sich sah und den Racheschrei des Sorben hinter sich hörte, trieb er sein Roß zu einer Wendung und warf, da Ratiz heranfuhr, seinen Speer gegen den Feind. Aber der Schild des Sorben fing die Waffe, und während Ingram sein Pferd herumriß, flog der Speer des Ratiz in die Hüfte des Tieres. Hoch schlug es aus, sank und schleuderte seinen Reiter an dem Bohlenzaun der Gemeinde zu Boden, daß er hilflos dalag.

Aus dem Holzring gellte der Angstschrei eines Weibes. Gottfried kannte wohl die Stimme, derselbe Schrei hatte ihm schon einmal wie mit Messern in das Herz geschnitten. Der Jüngling warf noch einen strahlenden Blick auf Walburg, warf sich behend über die Brüstung und eilte zu dem Friedlosen. Ratiz, welcher mit seiner Streitkeule den Anlauf bewaffneter Landleute abgewehrt hatte, stürmte heran und schwang die tödliche Waffe gegen den liegenden Ingram. Da hob sich vor diesem Gottfried mit ausgebreiteten Armen. Die Keule sauste und traf das Haupt des Mönches, lautlos sank er neben Ingram auf den Boden. In diesem Augenblick der Not riß Meginhard am Glockenseil, und über dem Haupte des Sorben dröhnte aufs neue der Kriegsruf des Christengottes in starken hämmernden Schlägen. Der Wilde starrte um sich und trieb sein Pferd zurück.

Von allen Seiten hob sich das Kampfgeschrei, aus dem Holz brachen die Sorbenkrieger hervor, um den Taufring sammelten sich die Thüringe und ritten ihnen entgegen, in wirrem Getümmel trieben Freund und Feind auf der abwärts geneigten Fläche umher. Als Ingram sich erhob, sah er vor sich das blutende Haupt Gottfrieds [] und gegenüber eine Rauchsäule, welche aus seinem Hofe aufstieg. Einen Augenblick beugte er sich über den Liegenden, dann packte er die Wurfkeule des Sorben, sprang auf ein lediges Pferd, welches zur Seite angepflöckt stand, und warf sich wieder in das Getümmel. Zwischen den Linnenpanzern der Sorbenkrieger und den grauen Eisenröcken der Thüringe fuhr er wie toll dahin, den Flügel des weißen Adlers suchend, welcher über der Kappe des Häuptlings ragte. Undeutlich merkte er, daß Miros beim Banner der Sorben seine Krieger zu sammeln suchte, daß Wolfram mit dem Haufen des Häuptlings Albold gegen den Miros anritt und daß die Sorben allmählich nach dem Walde zurückgedrängt wurden. Endlich erkannte er den Häuptling, der sich den Verfolgern durch die Wendungen seines Pferdes zu entziehen wußte und nach dem Holze strebte. Ingram fuhr in gestrecktem Lauf durch die Thüringe seinem Feinde zu, indem er mit Ruf und Handbewegung seine Landsleute zwischen den Häuptling und die Sorbenschar trieb. Ratiz sah das glühende Auge und das flatternde Haar des grimmigen Gegners vor sich, in seiner Hand die geschwungene Keule, und er hörte über sich die dröhnende Stimme des Christengottes; da stieß er einen Fluch aus und sprengte in den Wald, Ingram folgte ihm. Bald jagte dieser allein hinter dem Häuptling über Baumwurzeln, Wasserrinnen und Steinblöcke den schmalen Grund hinauf, der zum Rennweg führte. Mehr als einmal versuchte der Sorbe die Wendung, um seinen Gegner mit dem Krummsäbel anzufallen, aber nirgend bot der Pfad festen Anritt, und immer noch tönte über ihm der unheimliche Schlachtgesang in den Lüften. In der wütenden Jagd zuckte durch die Seele Ingrams wie Wetterschein die Freude, daß der Rabe so trefflich lief, und er merkte erstaunt, daß auch er wieder auf einem guten Roß seines eigenen Stalles saß, welches von dem Raben nicht lassen wollte, obgleich es ihm näher zu kommen nicht vermochte. Er stieß einen scharfen zischenden Ruf aus, und der Rabe hielt an und bäumte. Wütend trieb und peitschte der Sorbe, und stöhnend gehorchte das edle Roß seinem Reiter, aber der Verfolger flog näher heran. Zum zweitenmal schrie Ingram, zum zweitenmal bäumte das Roß des Sorben, noch einmal gelang es diesem, das blutende und schäumende Tier vorwärtszutreiben. Als aber zum drittenmal der Rabe sich steil erhob, seinen Reiter zu werfen, glitt der Sorbe herab, und schnell wie der Blitz fuhr sein Stahl in den Leib des Rosses. Laut schrie Ingram, und ein höhnendes Lachen antwortete, der Sorbe sprang der steilen Höhe zu. Im nächsten Augenblick flog die Keule, und Ratiz sank zu Boden.

Ingram warf sich vom Rosse, ergriff die Waffe, und ein zweiter Schlag traf den Liegenden, der solcher Nachhilfe nicht mehr bedurfte. Der Sieger löste dem Toten das Krummschwert von der Seite und riß die Adlerfedern von der zerschlagenen Helmkappe. Dann[] warf er sich zu Boden und umfing den Hals des Raben, der ihn sterbend mit treuen Augen ansah.

Als Ingram sich erhob, warf er noch einen wilden Blick auf seinen Feind, der, obgleich erschlagen, doch dalag wie ein Herr der Männererde, die Faust geballt, die Glieder im Sprunge zusammengezogen; und er sah noch einmal über das tote Tier, welches einst die Glieder so edel bewegt hatte und jetzt nichts war als ein unförmliches Stück Erde. Dann fing er sein Roß und ritt langsam der Heimat zu. Der scharfe Grimm, welcher ihn seither wild umhergetrieben hatte, war plötzlich geschwunden, und er gedachte ganz ruhig seiner Fahrt zu den Sorben wie einer alten Sage. Da vernahm er um sich ein leises Tönen und Worte einer sanften Stimme: »Ich bin ein Krieger, du merkst es nur nicht«, und vor ihm erschien das Antlitz des Jünglings, wie dieser einst traurig von ihm geschieden war mit den Worten: »Du armer Mann.« Immerfort klangen dem Reiter diese Worte in der Seele, und dabei rannen ihm heiße Tränen aus den Augen, immerfort tönte von weitem mahnend und klagend die Glocke des Christengottes. Jetzt wurde ihm, der von der Rachefahrt zurückkehrte, alles Geheimnis des neuen Glaubens in dem leisen Klange offenbart. Als ein Held des Christengottes hatte der Jüngling sein Leben hingegeben für einen, der nicht sein Freund war; und ebenso hatte sich der große Häuptling der Christenheit dem Tode geopfert, um dem friedlosen Volk der Erde ein seliges Leben in der Himmelsburg zu bereiten. Und Ingram hörte aus dem Sang der Glocke die Stimme des Toten, welcher ihn rief: »Komm auch du.« Da spornte er sein Roß, denn er merkte, jetzt lud der Gott auch ihn, weil er ihn durch den Tod seines Kriegers geworben hatte. – In der Nähe hallte das Kriegsgeschrei der verfolgenden Thüringe, Ingram aber sah zu dem Morgenlicht auf, welches die Spitzen der Bäume vergoldete, und ritt nach der Stätte, von welcher die Ladung hell und heller in seine Seele schlug.

Auf den Stufen des Altars saß Winfried, das verhüllte Haupt des toten Mönches in seinem Schoß, nur seine Lippen bewegten sich leise. Um ihn knieten die schluchzenden Christenfrauen, dahinter standen mit gesenktem Haupt die Krieger, welche zur Wache des Heiligtums zurückgeblieben waren.

Da trabte ein Reiter an den Holzring, eine der Frauen erhob sich aus dem Kreise der Knienden und schritt zum Eingang. Gleich darauf trat ein Mann in den Raum, schwertlos, die Aufregung des Kampfes im Antlitz. Alle wandten die Blicke von ihm und wichen scheu aus seinem Wege, er aber achtete nicht darauf, schritt zum Altar und setzte sich zu Füßen des Toten auf die Stufen unweit des Bischofs, so daß der Leib des Jünglings zwischen beiden lag. Der Bischof regte sich, als der Mann, der ihm feind war und für den der Jüngling sich dem Tode preisgegeben hatte, in seiner Nähe niedersaß.

[] Ingram aber legte den Helmschmuck des Sorben auf das Gewand des Toten und sprach leise: »Er ist gerächt; der Sorbe Ratiz liegt erschlagen«, und er sah prüfend in das Gesicht des Bischofs.

In dem Herrn Winfried wallte das Blut seines Geschlechts, da er vernahm, daß der Mörder seines Schwestersohnes erlegt war, er richtete das Haupt auf, und ein düsteres Licht flammte in seinen Augen; aber im nächsten Augenblick bewältigte die heilige Lehre den Grimm, er streifte mit einer Handbewegung den Adlerfittich vom Gewande des Mönches, lüftete die Hülle, welche das Haupt bedeckte, und sprach, auf die zerbrochene Stirn deutend, tonlos: »Der Herr spricht: Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch beleidigen.«

Ingram aber rief laut: »Jetzt erkenne ich, daß du in Wahrheit dem Gebot eines großen Gottes folgst, wenn es dir auch bitter und schwer wird. Auch ich glaube an den Gott dieses Jünglings, der aus eigenem Willen für mich gestorben ist, obgleich ich sein Feind war. Denn solche Liebe ist das größte Heldentum auf Erden.«

Er hob die Hülle vom Antlitz des Toten und küßte ihn auf den Mund. Darauf saß er still neben ihm und verdeckte sein Gesicht in den Händen.

»Die Worte des Friedlosen dürfen nicht hallen, wo Landgenossen weilen«, begann mit gedämpfter Stimme Asulf, der hinter Ingram stand. »Ist ein Gebannter hier, so berge er sein Haupt, bis das Volk ihm den Frieden zurückgibt.«

»Dort drüben brennt der Hof meiner Väter, Asulf, wenn die Thüringe wollen, können sie den Wolf in die Flammen werfen«, antwortete Ingram zurück und beugte sich wieder über den Toten.

»Am Altar des Herrn ist die Freistätte des Friedlosen«, sprach Winfried aufsehend, »halte das Kreuz über ihn, Meginhard, und geleite ihn zu deiner Hütte.«

»Laß mich hier«, bat Ingram, »solange seine Leibeshülle unter uns liegt. Denn spät habe ich meinen Reisegesellen gefunden.«

Die Heimfahrt

Eine Woche später stand Ingram in der Hütte des Priesters an der Holzstufe des Altars, welchen einst Gottfried errichtet hatte. Der eintretende Memmo setzte einen Korb vor ihm nieder und mahnte: »Laß dir das Mahl gefallen, die Frauen vom Meierhofe waren alle dabei beschäftigt.«

»Du sorgst freundlich um deinen Gefangenen«, antwortete Ingram schwermütig, »jede Kost ist bitter für den Eingehegten, welchem die Freiheit fehlt.«

»Ich kenne manchen Hausgenossen, der anders denkt«, versetzte [] Memmo und sah zu seinen Vögeln auf. Als Ingram schwieg, fuhr er geschwätzig fort: »Ich war mit Walburg in der Höhle bei dem Bären Bubbo; er hat den ganzen Trank des Bischofs ausgetrunken und den Einbruch der Heiden verschlafen, der Mann ist übel zugerichtet und sprach durchaus verwirrt, als wenn er Einsiedler werden wollte.«

Ingram nickte, aber er schwieg. Und Memmo fuhr bei sich selbst fort: »Nie habe ich so große Veränderung gesehen, als der Glaube in diesem Heiden hervorbringt; wenn ich ihm ein Heubund unter den Kopf rücke, dankt er so zierlich wie ein Mädchen. Das Vaterunser hat er gelernt wie wenige. Vielleicht wird er sogar ein Mönch, dann müßte ich ihn Latein lehren. Einst wollten seine Raben das Kyrie nicht leiden, jetzt zwinge ich ihn selbst zu mensa und filius«, und Memmo lachte auf seinem Schemel über die große Hoffnung.

Vor dem Hause klirrten Waffen, die Tür öffnete sich, Graf Gerold trat auf die Schwelle. »Ich rufe dich, Ingram«, redete er den Auffahrenden an, »du magst dein Haupt wieder frei tragen im Volke. Unter den Linden haben sie dir den Frieden zurückgegeben, wenn du die Buße bezahlst in Viehhäuptern oder in Land, und die Schatzung war mäßig. Weißt du es noch nicht, so vernimm auch dies: auf dem Rennwege hinter dem Hügel des Donnerers haben deine Landgenossen den flüchtigen Haufen der Räuber erreicht, nur wenige Sorben sind entronnen; diese Kunde soll dir tröstlich sein. Ich aber komme selbst, dich zum Kriegsgesellen zu werben. Zu Rosse, Held, in wenigen Tagen reiten wir über die Saale.« Mit kurzem Gruß verließ er die Hütte.

Als Ingram hinter ihm ins Freie trat und das Haupt zum Sonnenlicht hob, fühlte er sich leise angefaßt. »Jetzt bist du ganz mein«, rief Walburg in seiner Umarmung. Da berührten ihre Finger das Lederband, welches er am Halse trug, sie trat ängstlich zurück: »Ingram, du trägst noch bei dir, was von den Unholden kommt.«

»Die Gabe meiner Ahnen meinst du«, versetzte der Mann betroffen, »wie darf ich sie verachten!«

»Bedenke, Geliebter, vieles Unheil hat dir der Zauber gebracht, wer weiß, wie sehr er dir noch den Sinn verwandelt, wenn du ihn bewahrst.«

»So wie du warnte einst ein anderer«, versetzte Ingram, »und ich fürchte, ich habe zuviel auf das Erbstück getraut. Ich will es abtun, du aber magst es verwahren.«

»Nicht ich und kein anderer«, rief Walburg, »nur einer soll darüber entscheiden, und das ist Herr Winfried selbst.«

»Willst du mich vor die Augen des Bischofs führen?« fragte Ingram unruhig.

»Merke wohl, Ingram«, warnte Walburg, »wie das Zauberstück dich von dem Bischof fernhalten will.«

[] Er löste den Riemen und bot ihr die Tasche; sie warf ein Tuch über das Bündel, segnete sich und griff danach. »Und jetzt fort von hier zu ihm. Beuge dich, Ingram«, bat sie den Zögernden, »denn um Gnade sollst du werben bei einem, der stärker ist als du.« Voll Mitleid und Zärtlichkeit sah sie ihn an, vergaß einen Augenblick das Teufelswerk in ihrer Hand und küßte ihn, dann zog sie ihn hastig mit sich fort.

In seiner Kammer saß der Bischof allein, als Walburg eintrat, den Geliebten nach sich ziehend. »Kommst du endlich, Ingram«, sprach Winfried aufsehend, »lange habe ich dich erwartet, und teuren Preis haben wir beide gezahlt, bis du den Weg zu mir fandest.«

»Ein Zauber, den die heidnische Schicksalsfrau gebunden, liegt in dem Erbe seiner Ahnen und erbittert ihm seinen redlichen Sinn«, klagte Walburg. »Löse du ihn von der Macht der Unholden.«

»Die Gnade des Himmelsherrn soll dich befreien, Ingram, und der Kampf, den du selbst durchkämpfst, solange du auf der Erde weilst. Wo ist der Zauber, der euch ängstigt?«

»Hier liegt das Grauwerk unter weißem Tuch«, sagte Walburg und legte das Bündel scheu auf den Holzstoß am Herde. Winfried wandte sich und sprach sein Gebet, dann faßte er nach dem geweihten Wasser, das im Becken bei der Stubentür stand, besprengte das Tuch und seinen Tisch und zog das Erbstück des Teufels hervor. Es war eine kleine Tasche aus abgestoßenem wolligem Fell, von vielen verknoteten Fäden umschlungen. Winfried öffnete weit den Fensterladen und die Tür, dann machte er über sein Messer das heilige Zeichen, schnitt kräftig durch Faden und Leder und suchte den Inhalt. Staub und vertrocknete Kräuter fielen ihm in die Hand, dazwischen ein neues Bündel von roter Farbe; er rollte es auseinander und trat zurück. Vor ihm lag von Seidenstoff, dicht wie Filz gewirkt, mit Goldfäden gestickt, ein Bild gleich dem Haupt des Wurms, den man Drachen nennt. Von hellem Gold glänzten die Augen, um den aufgesperrten Rachen standen die goldenen Zähne, aus ihm ragte wie ein Pfeil die rote Zunge.

»Schwerlich vermag menschliche Kunst solch teuflisches Bild zu schaffen«, rief Winfried erstaunt und hielt das Holzkreuz über den Drachenkopf. »Wirf Holz auf die Herdkohlen, Jungfrau, in der Flamme des Christenherdes bergen wir das Heidenbild; verschwinden soll es aus dem Angesicht der Menschen, denn wie lebendig glänzt das Auge und leckt die Zunge.«

Das Herdholz knisterte, die Flamme hob sich hoch über den Kohlen, Winfried trug vorsichtig die Tasche, die zerfallenen Kräuter, zuletzt das Drachenhaupt zu dem Feuer und stieß sie mit dem Eisen kräftig hinein. Ein dicker Rauch, gelblich und weiß, wirbelte auf, er stieg hoch bis zum Herdloch der Decke und wand sich um die Dachbalken. Ingram lag an der Tür auf den Knien. »Bitter ist mir, [] von meinen Ahnen zu scheiden«, seufzte er. Aber über seinem Haupt hielt Walburg die Hände gefaltet und sah verklärt auf Winfried, der vor dem Herde stand, das Kreuz hochhebend, bis die letzten Wirbel des Dampfes durch das Dach entschwebt waren. Darauf trat er zu Ingram: »Bereite deine Seele, damit du ein treuer Mann des Christengottes werdest und deinen Sitz gewinnest in der Hochburg des Himmels. Als eine Gabe, welche der Himmelsherr dir durch mich bietet, empfange dies geweihte Gewand, das du tragen sollst, wenn du zum Taufstein trittst und dich gelobst dem ewigen Gotte.«

Auf der Brandstätte des Hofes, in welchem einst die Raben gekrächzt hatten, erhob sich eine Kirche, und vom Turmgerüst klang die Glocke der Christen. Wenige Wegstunden davon, nahe dem großen Markt der Thüringe, stand der neue Hof Ingrams und die Halle, welche er gebaut hatte. Bald wuchs um den Hof ein ansehnliches Dorf, welches noch in späten Geschlechtern das Erbgut des Ingram genannt wurde. Im ganzen Lande rühmten die Leute sein Glück und seine Hausfrau, welche ihm den Hof mit einer Schar blondlockiger Kinder füllte, die gastliche Halle und daneben auch die Zucht seiner Kriegsrosse, der Rabenkinder. Er war als Kriegsheld gefeiert bis weit im Osten der Saale, in den Grenzkriegen ein Schrecken der Feinde, eine starke Hilfe der fränkischen Grafen. Mehr als einmal wurde er zu dem Hofe der großen Frankenherren gesandt, dort fand er immer Gunst, und er merkte wohl, daß er dort seinen stillen Fürspruch hatte. Als endlich König Pippin, der Sohn des erlauchten Herrn Karl, selbst nach Thüringen kam, um ein Heer gegen Sachsen und Wenden zu führen, da ritt Ingram in seinem Gefolge, und der König ehrte sein tapferes Schwert durch Lob und Begabung. Sooft Winfried von seinem erzbischöflichen Sitze zu Mainz nach Thüringen fuhr, zog Ingram bis an die Landesgrenze, den großen Kirchenfürsten zu begrüßen, alle seine Knaben taufte der Erzbischof selbst und empfing jedes Jahr von der Hausfrau Weben der feinsten Leinwand, die auf den Webstühlen des Hofes gefertigt wurde. Stets war der Bischof mild gegen Ingram und freundlicher als gegen andere, und er war bemüht, vor den Leuten zu erweisen, wie hoch er den Helden achte. Nur betrat er nie die Schwelle des Treuen, um gastlich darin auszuruhen, obwohl Frau Walburg zuweilen mit Tränen darum flehte; aber ihre Knaben liebkoste er, und nie vergaß er bei seiner Ankunft im Lande, ihr selbst eine Spende zu bringen.

Dreißig Jahre waren vergangen seit der ersten Fahrt, die Winfried in das Land der Thüringe gewagt hatte. Neben Ingram standen drei Söhne und drei Töchter in blühender Jugend; der älteste Sohn, das Ebenbild des Vaters, war bereits ein erprobter Krieger, [] der in gesondertem Hofe herrschte, auch der zweite bändigte die wildesten Rosse und harrte ungeduldig seiner ersten Kriegsreise; der jüngste, Gottfried, war nach dem Willen der Eltern der Kirche bestimmt, und fröhlich sang seine Kinderstimme die lateinischen Hymnen, welche ihn fromme Väter als Gäste der Eltern gelehrt hatten. Und Wolfram, der Meister des Hofes, welcher die Hintersassen seines Herrn wohlmeinend regierte, sprach zu Gertrud, seiner Frau: »Sehr mächtig ist der Zauber, welcher in den neuen Christennamen wirkt«, dabei schlug er mit Anstrengung sein Kreuz, »unser Gott fordert den jüngsten Herrensohn für seinen Dienst, und es nützt nichts, ihm zu widerstreben. Vergebens habe ich dem Knaben Wolfshaare in die Jacke genäht und drei Rabenfedern in seinen Pfühl gesteckt, vergebens lehrte ich ihn auch mit dem Bogen schießen und die Keule werfen, der unkriegerische Name Gottfried zwingt ihn übermächtig. Ich hoffe, er wird wenigstens ein Bischof, der doch den anderen, welche geschorenes Haar tragen, gebietet und den Ehrensitz an der Tafel erhält.«

Mehrere Jahre war der große Erzbischof nicht nach Thüringen gekommen, und seine Treuen vernahmen aus Mainz die Kunde, daß er zuweilen die Beschwerden des Alters fühle und daß ihre Augen ihn wohl nimmermehr schauen würden, da bat Walburg den Gemahl, daß er bei seiner nächsten Fahrt zum Königshofe sie und die Söhne nach Mainz geleiten möge, damit sie alle noch einmal den Segen des Heiligen empfingen und der junge Gottfried durch ihn für die Kirche geweiht würde.

Gerade damals waren die Heiden an der Nordgrenze in die Christenheit eingebrochen, hatten dreißig Kirchen zerstört, die Männer erschlagen, Weiber und Kinder fortgetrieben. Da war der greise Erzbischof selbst zu der Grenze geeilt, er hatte mitgenommen, was der Schatz seines Bistums gewähren konnte, um die Gefangenen loszukaufen und die zerstörten Gotteshäuser aufzubauen. Ein halbes Jahr war er von Mainz abwesend gewesen, den Schaden zu bessern und die Grenzleute in Glauben und Eintracht zu stärken.

Jetzt war er zurückgekehrt. Während sein Gefolge im Hofe sich der Heimkehr freute, betrat Bischof Lullus, ein vertrauter Schüler, das Gemach des Erzbischofs; leise schob er den Vorhang der Tür zurück und trat mit frommem Gruße ein. Winfried saß im Lehnstuhl, in seinem Schoße lagen aufgerollte Briefe, er aber blickte starr durch den Fensterbogen in das Morgenlicht und winkte nur mit der Hand die Antwort auf den Gruß. Lange stand Lullus in ehrfürchtigem Schweigen, er merkte betroffen, daß der Greis halblaut mit sich selbst sprach, und vernahm endlich die Worte: »Zeit ist, daß ich mich zur Fahrt rüste nach dem Saal meines Herrn, sehr sehne ich mich nach der blutigen Wunde auf meiner Brust, die mir das Wolkentor öffnet.«

[] Entsetzt über die fremdartige Rede begann der Priester: »Was irrt der Sinn meines ehrwürdigen Vaters, daß er spricht wie ein weltmüder Mann des Schwertes?«

»Der Welt müde bin auch ich«, versetzte der Erzbischof, »denn wie ein Seefahrer steure ich durch die Woge, die sich ohne Aufhören wälzt, mein Kiel stößt an die Klippen, der Eisfrost fesselt mir die Füße mit harten Banden, und der Wintersturm schlägt mir mit hartem Flügel die Stirn. Endlos ist der Kampf, und freudenlos ist, was ich um mich schaue, und mich verlangt herzlich nach der Bucht, in welcher ich mein Haupt niederlegen will.«

»Freudenlos nennst du dein Leben, ehrwürdiger Vater, du, dem der Herr Sieg und Ehre gab wie niemals einem Manne?« versetzte der Priester. »Laß das Auge deines Geistes die Länder durchmessen, über welche du waltest. Vierzig Jahre hast du als Krieger Gottes gegen den Teufel gestritten, viele hunderttausend Seelen hast du dem Glauben gewonnen, viele hundert Kirchen und Zellen der Brüder erheben sich in dem Lande, das du als eine Wildnis betratest. Die Bäume der Heiden sind überall gereutet, einem Herrn gehorchen die trotzigen Nacken, der milde Gott schenkt ihnen Gedeihen, bessere Zucht im Hause und Gehorsam gegen das Gesetz. An den Grenzen werden die mörderischen Feinde gebändigt durch tapfere Christenkrieger, im Lande der Hessen, der Thüringe und Bayern lernen die Knaben in der Heiligen Schrift lesen. Du bist gewesen wie geschrieben steht: ein Säemann ging aus zu säen, und ruhmvoll ist deine Ernte. Fest gegründet ist der einheitliche wahre Glauben auf der Männererde durch dich. So Großes ist dir gelungen, was trauerst du, Herr?«

Winfried erhob sich und schritt durch das Gemach. »Drei Nachfolgern der Apostel, welche zu Rom über die Kirche walten, habe ich mich gelobt. Gegen dich darf ich mich rühmen, ich war ihnen ein treuer Mann, ich habe sie zu Herren gemacht in der katholischen Christenheit. Die widerwilligen Nacken der Laien, den Hochmut und Eigennutz ungetreuer Bischöfe habe ich gebeugt für sie; Einheit in Lehre und Gehorsam habe ich allem Volke auferlegt, damit sie willigen Gehorsam finden, wo sie im Namen des Herrn gebieten. Die Seelen der Menschen hab' ich ihnen unterzwungen, sie selbst habe ich nicht zwingen können, in allem gute Diener des Himmelsherrn zu sein. Nicht das Reich des Herrn in Armut und Demut zu gründen sind sie eifrig. Nach Landerwerb sehe ich sie lüstern, nach Goldschatz und nach irdischer Herrschaft. Schlechte begünstigen sie, und Frevelhafte schonen sie, wo es ihnen nützt; klüger sind sie als wir, aber größer wurde auch ihre Hoffart. Drei Päpsten habe ich gedient, jetzt kommt der vierte, ein fremder Mann, und seine Gunst wird er, sorge ich, austeilen in neuer Weise, wie es sein Vorteil ist. Mein ist das Amt, die Heiden zu bekehren.

[] Zu ihrem Vogt bin ich gesetzt durch den Herrn, auf diesem Recht stehe ich fest gegen den Pontifex in Rom wie gegen den Teufel. Da ich jung war, tat ich meine erste Kreuzreise in dem Herrn gegen das wilde Volk der Friesen. Unablässig habe ich um die Widerspenstigen gesorgt und ihnen das Kreuz über die Häupter gehalten. Die Bischöfe der Franken saßen träge in elender Fleischlust, irrgläubig und unbotmäßig ihr Kirchgut verschwelgend, und keiner sorgte um die Bekehrung der Ungläubigen. Jetzt, wo ich dort mit harter Arbeit und Herzensangst ein Bistum gegründet habe, wollen sie mir das Friesland nehmen und einem anderen Erzbischof unterordnen, auf daß unsere Arbeit verdorben werde und unsere Saat unter neuem Andrang der heidnischen Wogen ersäuft. Du weißt es, mein treuer Sohn und Genosse, daß ich nicht für mich die Ehre begehre, sondern die Rettung der Elenden. Demütig habe ich meinen neuen Herrn Stephan gefleht, mir das Friesland zu lassen, das älteste Kind meiner Sorgen. Nicht weiß ich, was dort die Schlauheit der römischen Priester ersinnt. Ich aber gedenke sie der Wahl zu entheben, selbst will ich in das Friesenland gehen, ob es ihnen lieb oder leid ist. Dem großen Himmelsherrn will ich die Frage stellen, ob ich noch länger Diener eines Dieners sein soll, oder ob er den müden Alten fortan würdigt, ihm selbst zu seinen Füßen zu sitzen. Meinen letzten Kriegszug meine ich zu tun.«

Im Hofe des Erzbischofs drängte sich an einem sonnigen Maimorgen das Volk der Stadt und der Landschaft. Zunächst an den Stufen des Palastes standen die geistlichen Brüder, auf der einen Seite Priester und Diakonen, auf der anderen Mönche der Klöster, neben ihnen die hageren bärtigen Gestalten der Einsiedler, welche ihre Baumzelle verlassen hatten, um den Segen des Erzbischofs zu empfangen. Haupt an Haupt standen die Leute, aber es war eine feierliche Stille, bekümmert waren alle Mienen, Tränen in vielen Augen wie bei dem letzten Heimgange eines Fürsten. Von den Stufen des Palastes hoben die Schiffsleute das Reisegerät, vier Leviten trugen die Truhe des Herrn mit seinen Büchern und dem Reliquienschatz zu dem Rheinschiff, dessen Wimpel unter dem Kreuzeszeichen lustig im Morgenwind flatterte; und bei jedem Stück, das die Männer zum Rheine schafften, ging ein banges Gesumm und Seufzen durch die Menge. In dem Saal des Palastes stand Winfried im Kreise derer, welche er liebhatte, der Bischöfe, seiner Schüler, und seiner Landsleute aus Angelland, die wie er über das Meer gekommen waren, um die Heiden zu lehren. Auch Frauen hatten sich versammelt, mehrere ihm blutsverwandt, die meisten geschleiert. Inmitten der gebeugten Schar ragte hochaufgerichtet Winfried. Freundlich strahlte sein Auge, als er von einem zum andern schritt, leise Worte der Lehre und des Trostes spendend. Als er bei dem Haufen der Frauen auch Walburg begrüßte, zog sie mit der Hand [] ihren Knaben hervor, warf sich zu seinen Füßen und flehte: »Meinen Sohn, den jungen Gottfried, bringe ich dem Herrn, lege noch deine Hand auf ihn, Vater, damit sein Leben gesegnet sei.« Winfried lächelte, als er den stattlichen Knaben betrachtete, und seine Hand berührte das lichte Haar. Dann nahm er den Knaben, führte ihn zu einem Vertrauten, dem Abt Sturmi von Fulda, und wandte sich nach der Tür. Alle Anwesenden sanken auf die Knie, und segnend schritt er zum Ausgang. Da fiel sein Blick auf die hohe Gestalt Ingrams, der in seinem Kriegskleide nahe der Schwelle kniete. Er hielt an und sprach feierlich: »Dich, Ingram, lade ich heut zu mir, willst du noch einmal der Führer meiner Reise sein?«

»Ich will, Herr«, antwortete Ingram aufstehend mit leuchtendem Blick.

»So nimm Abschied von Weib und Kind, denn du sollst für den Herrn unter Schilde gehen.«

Unten im Hofe wogte das Volk wie Wellen des Meeres. Da der Erzbischof heraustrat, fiel alles auf die Knie, und die Arme aufhebend, ging er langsam hindurch zum Schiffe. Dort wandte er sich noch einmal, grüßte und segnete und lachte freundlich den Kindern zu, welche von den weinenden Müttern aufgehoben wurden, damit sie den Mann Gottesschau ten. Ingram aber hielt seine Frau, welche stolz ohne Tränen neben ihm schritt, die Augen fest auf ihn gerichtet, und mit der anderen Hand hielt er die Hände seiner drei Söhne. Und als er sich am Ufer von den Seinen löste, faßte er die Schwurhand seines ältesten Sohnes, legte die Hand des Wolfram hinein und sprach zu diesem: »Sei du ihm treu, wie du dem Vater warst.«

Die Schiffer lösten die Seile, und rheinabwärts schwebte das Schiff, am Ufer lag das Volk auf den Knien und sah dem Fahrzeug nach, bis es hinter einer Biegung des Stromes verschwand.

Es war eine sonnige Fahrt, gleich einer langen Festreise. Wo eine Kapelle stand auf den Höhen oder ein Kirchlein unten am Strom, da drängten sich die Leute und läuteten die Glocken, wenn das Schiff kam und abfuhr. Jeden Abend legten die Reisenden an, wo fromme Christen wohnten. Herr Winfried stieg an das Land, begrüßte die Gemeinden und ruhte unter dem Dach derer, die ihm vertraut waren, während Ingram am Maste unter dem Kreuzbanner lag und die Schiffswache hielt. So fuhren die Reisenden den Rhein abwärts dahin, wo er zum See wird, sie legten vor Utrecht an und nahmen den Bischof von Friesland, welchen Winfried eingesetzt hatte, zu sich in das Schiff. Dann fuhren sie ostwärts bis zur Grenze der heidnischen Friesen. Dorthin hatte Herr Winfried im voraus das neubekehrte Volk geladen, damit er den Getauften die Hand auflege und sie im Glauben befestige, seine Boten waren durch das ganze Friesenland gegangen und hatten seine Ankunft [] verkündet. An der Mündung des kleinen Flusses Borne, welcher die christlichen und heidnischen Friesen trennt, landeten die Fahrenden kurz vor dem bestimmten Tage in einer Bucht, wo die Flut einen Wall von zugetriebenen Baumstämmen aufgehäuft hatte. Der Erzbischof stieg an das Land, wählte die Lagerstelle und umschritt weihend den Raum; Ingram ließ die Zelte aufschlagen, den Graben schütten und das angeschwemmte Holz zum Walle schichten.

Als er bei dem Wall stand, die Richtung maß und selbst die Pfähle schlug, ging Herr Winfried bei ihm vorüber und sprach: »Du mühst dich emsig, uns mit Holz und Erde zu umschanzen, hast du auch darum gesorgt, einen über uns nach seinem Willen zu fragen? Denn er zieht die Schildburgen und zerwirft sie, ganz nach seinem Gefallen.«

»Zürne nicht, Herr, daß ich den Hammer bis über das Abendgebet schwinge, denn Warnung kam mir von den Leuten am Ufer, vieles Raunen und wildes Gemurr verstört die Dörfer der Heiden, und klein ist die Zahl der Schilde, welche dein Haupt schützt.«

Winfried aber hörte gar nicht darauf, sondern fuhr fort, nach dem Himmel blickend: »Dichter standen die Bäume im Land der Thüringe. Dort warst du der erste, welcher mir auf der Reise die Nachtpfähle hieb. Damals fiel der Eschensame herab auf den Boden, und der Same heilbringender Lehre sank in dein Herz. Sieh, ein neuer Baum ist im Schutze Gottes erwachsen, nicht die unholden Schicksalsfrauen schweben darum, sondern hohe Engel, die geflügelten Boten Gottes, vielleicht, daß sie auch dir jetzt oder bald einmal eine gnadenvolle Auffahrt bereiten.«

Er segnete ihn und schritt in sein Zelt zurück, das inmitten der anderen sich stattlich erhob. Ingram legte den Hammer weg, er rüstete sich und setzte sich mit Schild und Speer an das Lagertor zur Nachtwache. Über die weite Ebene spähte sein Blick, gleich dem Herrn Winfried sah er nach der Nachtröte, welche vom Norden her so hell schien, wie er sie noch niemals geschaut. Er dachte an sein Weib und die blühenden Kinder, die jetzt daheim in Frieden schliefen und die er so herzlich liebgehabt, er überlegte das ganze glückliche Leben, das er mit seiner Hausfrau geführt, seine ruhmvollen Kriegsfahrten und das Lob seiner Streitgesellen, auch Wolfram und seine Rabenrosse kamen ihm in den Sinn, und er lachte und segnete in Gedanken alle Häupter der Seinen und betete für jedes; leicht war ihm das Herz, und er sah immer wieder nach dem Himmelsrand, wo die Röte langsam nach Osten zog, bis die Helle im Osten aufstieg und die kleinen Wolken rosig leuchteten wie ein Tor der aufgehenden Sonne. Da merkte er, wie das Tor geöffnet wurde, durch das er selbst hinaufsteigen sollte zu der Burg des Himmelsherrn als einer seiner Krieger, und er kniete nieder und sprach das Gebet, welches ihn Walburg gelehrt. Wie er aufblickte, [] erkannte er fern im Dunst eine dunkle Masse, sie schob sich heran, Speereisen blinkten und weiße Schilde. Er schloß den Eingang, rief seinen Kriegsschrei und eilte zu dem Zelte des Bischofs und zu den Hütten der Krieger. Aus dem Zelte tönte das Glöckchen, Winfried trat hervor, das Wort des Herrn in der Hand, umdrängt von den Geistlichen. Draußen am Graben erhob sich mißtönendes Geheul, die Heiden liefen gegen das Pfahlwerk und rissen an den Hölzern. Ingram sprang, den Speer schwingend, auf sie und trieb seine Schildgenossen zum Kampfe. Aber mächtig erscholl die Stimme Winfrieds: »Höret das Gebot des Herrn, vergeltet nicht Böses mit Bösem, sondern Böses mit Gutem. Tut ab Krieg und Kampf, denn der Tag ist gekommen, den wir lange ersehnten, heut lohnt der große Gott des Himmels seinen Getreuen. Bereitet ist uns der Hochsitz in himmlischer Halle, die Scharen der Heiligen geleiten uns vor den Thron des Himmelsherrn.«

Da warf Ingram sein Schwert den einbrechenden Heiden entgegen; er trat mit ausgebreiteten Armen vor den Herrn Winfried, rief laut den Namen des Jünglings, der einst sein Reisegeselle war, und empfing die Todeswunde. Nach ihm der Erzbischof und darauf die übrigen, Geistliche und Laien. Nur wenige aus dem Gefolge retteten sich über das Wasser und berichteten von dem Ende der frommen Helden.

Mit großem Gefolge fuhr der Häuptling des Christengottes zu der Halle seines himmlischen Königs.

Die Gebeine Winfrieds führten fromme Väter den Rhein hinauf, dem Thüring Ingram aber schütteten christliche Friesen am Strande den Totenhügel und umschritten die Stelle mit Gebet. Nicht die Raben des Waldes flogen darüber, sondern weißbeschwingte Möwen, und statt der Baumwipfel rauschten in seiner Nähe die Wogen des Meeres, wie der Sturmwind sie trieb, ein Jahrhundert nach dem anderen.

Doch aus seinem Hofe unter den Buchen und Fichten des Waldes wuchs und breitete sich fröhlich sein Geschlecht.

Die Wogen und Wälder rauschten aus einem Jahrhundert in das andere dasselbe geheimnisvolle Lied, aber die Menschen kamen und schwanden, und unaufhörlich wandelten sich ihnen die Gedanken. Länger wurde die Kette der Ahnen, welche jeden einzelnen an die Vergangenheit band, größer sein Erbe, das er von der alten Zeit erhielt, und stärkere Lichter und Schatten fielen aus den Taten der Vorfahren in sein Leben. Aber wundervoll wuchs dem Enkel zugleich mit dem Zwange, den die alte Zeit auf ihn legte, auch die eigene Freiheit und schöpferische Kraft.

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Das Nest der Zaunkönige

Im Jahre 1003

Wo die Geisa das Wasser ihrer Quellen in die Fulda gießt, lag zwischen Wiesen und fruchtbaren Feldern das Kloster Herolfsfeld. Hohe Fürsten des Himmels waren seine Beschützer, denn die Klosterkirche umschloß die Reliquien zweier Apostel; doch den größten Eifer für das Gedeihen des Klosters hatten zwei Gefährten des heiligen Bonifazius bewiesen: Erzbischof Lullus, der die ersten Mönche auf das leere Feld führte, und der Heidenbekehrer Wigbert, dessen Gebeine erst viele Jahre nach seinem Tode im Kloster niedergesetzt wurden, der aber seitdem durch zahllose Wunder den Ruhm der Stätte erhöhte. Als das stärkste von seinen Wundern rühmten die Leute, daß in der einsamen Landschaft ein mächtiges Menschenwerk entstanden war, Türme und hohe Kirchgiebel, um diese herum eine große Zahl von Gebäuden aus Stein und Lehm, deren wettergraue Holzdächer wie Silber in der Mittagsonne glänzten. Was man Kloster nannte, war in Wahrheit eine feste Stadt geworden, durch Mauern, Pfahlwerk und Graben von der Ebene geschieden. Länger als zweihundert Jahre hatten die Mönche gebetet, um den Gläubigen Heil und guten Empfang in jenem Leben zu bereiten, dafür waren sie selbst reich geworden an irdischem Grundbesitz, den ihnen fromme Christen in der bitteren Sorge um das Jenseits gespendet hatten. Die Burgen, Dörfer und Weiler, welche ihnen gehörten, lagen über viele Gaue verteilt, nicht nur im Lande der Hessen, auch unter Sachsen und Bayern, vor allem in Thüringen. Ein guter Teil des Kirchengutes, das Bonifazius erworben hatte, darunter die ersten Schenkungen, welche die Waldleute in Thüringen zur Heidenzeit gemacht, gehörte jetzt dem Kloster, und wenn der Abt seine Lehnsleute und Hintersassen zu einer Kriegsfahrt aufrief, so zogen sie dem Lager der Sachsenkaiser zu als ein Heer von Reitern und Fußvolk, in ihrer Mitte der Abt als großer Herr des Reiches mit einem Gefolge von edlen Vasallen. Länger als zweihundert Jahre hatten die Brüder auch mit Axt und Pflug gegen den wilden Wald und das wilde Kraut gekämpft, hatten unermüdlich die Halmfrucht gesät, Obstbäume gepflanzt und Weingärten eingehegt. So waren sie allmählich große Landbauer geworden, nach Tausenden zählten sie [] ihre Hufen, ihre zinspflichtigen Höfe und die Familien der unfreien Arbeiter. Jetzt saßen sie in der Fülle guter Dinge als eine Genossenschaft von hundertundfünfzig Brüdern zwischen gefüllten Scheuern und springenden Herden, sahen vergnügt über die reiche Habe und ordneten selbst als umsichtige Landwirte das Tagewerk der zahlreichen Gehilfen, deren Häuser im Zaun ihres Herrenhofes standen oder seitwärts an der Fulda zu einem großen Dorf vereinigt waren. Doch nicht allein über Landarbeit, sondern über alles, was Handwerk und Kunstfertigkeit zu schaffen vermochte, walteten als Meister die Genossen, welche sich dem Christengott gelobt hatten. Neben dem Palast des Abtes und den Gasthäusern für Fremde, zwischen den Viehhöfen und Scheuern, dem Brauhause und den weiten Kellergewölben erklang der schwere Hammer des Waffenschmieds auf dem Amboß, und daneben der kleine Hammer des Künstlers, welcher edle Steine in Gold und Silber zu fassen wußte für Kirchengerät, für kostbare Bücherdeckel und für Trinkgefäße des Abtes und vornehmer Gäste. Ein Bruder bewahrte den Schlüssel zu dem Rüsthaus, in welchem die Helme, Schwerter und Schilde für ein ganzes Heer bereit lagen, ein anderer zählte den Gerbern die Häute zu, prüfte kunstverständig ihre Arbeit, mischte die Farbe und kochte die Beize für buntes Leder und Gewand. Und wieder ein anderer maß die Räume für neue Bauten, verfertigte den Riß und wies die Maurer an, wie sie den Gewölbbogen schwingen und dauerhaften Mörtel mischen sollten. Von weiter Ferne her zogen die Leute zum Kloster, nicht nur um bei den Gebeinen der Heiligen zu beten und durch Gaben das Gebet der Mönche zu kaufen; auch wer klugen Rat und irdischen Vorteil begehrte, suchte dort Beistand. Der Kaufmann fand Waren, die er gegen andere vertauschte, der große Grundherr holte sich den Bauplan für ein Steinhaus, das er auf luftiger Höhe errichten wollte, oder bat um einen meßkundigen Bruder, der ihm fernes Wasser in seinen Hof zu leiten und einen Fluß mit steinerner Brücke zu überspannen wußte. Wer vollends krank war, der neigte sich flehend vor dem Arzte des Klosters und erhielt aus der Apotheke die Holzbüchse mit kräftiger Salbe und den ruhmvollen Trank des heiligen Wigbert. Jeder Dürftige und Bettler im Lande kannte das Haus, denn er war sicher, dort Hilfe gegen den Hunger zu finden und gutherzige Spende an den nötigsten Kleidern. Was die einen in ihrer Sündenangst vor den Altären der Heiligen opferten, um den Himmel zu gewinnen, das vermehrte vielen anderen die Freude des irdischen Lebens. Aber die Mönche selbst, die sich dem Herrn zu demütiger Entsagung und Buße geweiht hatten, wurden allmählich stolze Lehrer und Gebieter in weltlichen Dingen und vermochten nicht mehr mit der alten Klosterzucht hauszuhalten.

[] An einem heißen Nachmittag des Sommers lag auf den Stufen des Hochaltars ein fremder Mönch in stillem Gebet. Stab und Reisehut hinter ihm ließen erkennen, daß er neu angekommen war; bei dem Reisegerät kniete ein junger Bruder des Klosters, der ihn begleitet hatte. In dem Chorstuhl zunächst dem Sitz des Abtes saß der Dekan Tutilo, welcher Präpositus des Klosters war, ein hoher breitschultriger Mann mit jähzornigen Augen und buschigen Augenbrauen, er hielt die Hände nachlässig gefaltet und sah ungeduldig auf den Fremden, dessen Andacht kein Ende nehmen wollte. Klein war die Zahl der Väter, welche das Gebet abwarteten, nur wenige der Ehrwürdigsten saßen in den Stühlen, unter ihnen Heriger, der Kellermeister, ein fröhlicher Mann und Liebling der Brüder, dem alle gern dienten und der jeden mit freundlicher Rede gefügig machte, dann der Pförtner Walto, welcher Sprecher des Klosters war, als kluger Herr wohlbekannt im ganzen Lande; auch die beiden Alten, Bertram und Sintram, zwei Sachsen, welche mit ihren runden Köpfen und weißen Haarkronen einander ähnlich sahen wie Zwillinge und deshalb von den Mönchen im Scherz die Stiefel genannt wurden; sie waren an einem Tage ins Kloster gekommen, wohnten in derselben Zelle und arbeiteten beide in den Gärten; was einer wollte, gefiel auch dem anderen, und sie wandelten stets zusammen, obgleich sie schweigsam waren und auch miteinander nicht viel redeten.

Als der Beter sich endlich erhob und mit gesenktem Haupt vor den Dekan trat, ergriff dieser seine Hand, führte ihn in die Mitte des Chors und neigte ihm das Ohr zu, in welches der Fremde die geheimen Worte sprach, an denen die Priester und Würdenträger von der Regel Benedikts einander erkannten. »Gesegnet sei dein Eingang, mein Bruder Reinhard«, antwortete der Dekan mit rauher Stimme, welche von der Decke zurückhallte, und gab den Bruderkuß, worauf der Fremde den anderen Brüdern dasselbe tat. »Nicht mühelos wird das Lehramt sein, zu dem du aus der Schulstube des Klosters Altaha gerufen bist, denn du wirst harte Köpfe finden und eine zuchtlose Herde; doch dem heiligen Wigbert fehlt es nicht an Bäumen, um Ruten daraus zu schneiden. Komm, daß ich dir unsere Häuser zeige und die Walstatt, auf welcher du den Krieg gegen die Unwissenheit führen sollst.« Er ging voraus, die Brüder folgten, zuletzt der junge Mönch mit dem Reisegerät des Fremden.

Tutilo führte in die Klausur, die große Burg des Klosters, welche zweistöckig inmitten aller Höfe und Gebäude ragte. Sie enthielt die Wohnungen der Mönche und der geweihten Schüler, die von ihren Eltern in den Zipfel der Altardecke gewickelt waren, damit sie einst Mönche würden. Das Haus stand im Viereck um einen freien Platz, von allen Seiten nach außen geschlossen, nur durch die Kirche war der Eingang und gegenüber ein Ausgang zu den Küchen und Nebengebäuden. In der Mitte des Hofes umgaben alte Lindenbäume einen [] Brunnen, und nach dem Hofe öffnete sich der ganze Bau, denn ein weiter Säulengang zog sich am Unterstock auf den vier Seiten entlang, und die Mauer des Oberstocks erhob sich auf den schön gemeißelten Steinsäulen. Zwischen die Säulen waren bequeme Holzbänke gestellt, damit die Brüder bei schlechtem Wetter lustwandeln oder ausruhen konnten, wie es ihnen gefiel. Ganz verlassen stand das Haus, der Fremde vermochte kein geschorenes Haupt zu entdecken, obgleich in dieser Stunde die Regel den Brüdern erlaubte, sich von Arbeit und Gebet zu erholen. Tutilo merkte die suchenden Blicke des Bruders, und auf den Säulengang weisend, erklärte er: »An anderen Tagen würdest du die Hände oft rühren müssen, wenn du die Menge der Brüder und Schüler an den Fingern abzählen wolltest, heut aber sind sie ausgezogen. Die letzten Tage waren schwül, ein Wetter droht, und das ganze Gesinde des heiligen Wigbert arbeitet im Heu. Dies ist alter Brauch des Klosters, er stammt, wie sie sagen, aus der Zeit der ersten Väter, jetzt freilich ist die Fahrt mehr ein Fest als eine Arbeit. Bald wirst du ihr Gewimmel merken, wenn sie zurückkehren.«

Als sie die inneren Räume betraten, sah der zugewanderte Bruder in dem großen Refektorium einen Kredenztisch mit schönen Bechern und Trinkkannen, darunter nicht wenige von edlem Metall, und als er in einen Gang kam, an welchem Zellen der Brüder lagen, erblickte er durch die offenen Türen große Stühle mit seidenen Kissen belegt, auf den Lagerstätten weiche Kopfkissen und lodige Decken von bunt gefärbter Wolle, die mit gestickten Borten eingefaßt waren, daneben große Truhen und metallene Leuchter mit Wachslichtern oder schwere vergoldete Lampen, auf einem Tische sogar ein Brettspiel mit geschnitzten Männlein und Tieren, so daß er merkte, wie die Mönche unter Gerätschaften, die sie sich selbst erworben hatten, ganz gemächlich hausten. Und Reinhard, obwohl er als Mönch gewöhnt war, seine Zunge zu hüten, konnte den Ausruf nicht unterdrücken: »Gleich weltlichen Fürsten wohnen die Knechte des Heiligen.«

Tutilo merkte das Mißfallen, aber er erwiderte stolz: »Auch ich meine, daß unsere Brüder ihr Haupt hoch tragen dürfen, wenn sie sich mit den Weltleuten vergleichen. Doch was du hier von eigenem Gut der Brüder etwa gesehen hast, gehört nur den Dekanen und den Alten, denn diese allein haben die Lizenz.«

Der Fremde senkte schweigend das Haupt. Tutilo winkte dem jungen Mönch, zurückzubleiben, zog einen großen Schlüssel aus der Tasche und öffnete in dem Kreuzgang eine niedrige Pforte, die er hinter seinen Begleitern wieder verschloß. Sie standen in dem Hofe der Abtei zwischen Ställen und Vorratshäusern vor einem stattlichen Holzbau, um den ein Laubengang führte. Doch auch hier war alles leer, die Lichtöffnungen des Hauses waren mit Fensterglas und [] Blei verschlossen, aber die Scheiben waren erblindet, und manche Raute war zerschlagen. »Du weißt ja wohl«, fuhr Tutilo mit düsterer Miene fort, »daß Herr Bernheri, unser Abt, es verschmäht, unter den Brüdern zu wohnen. Dort oben auf dem Berge St. Peter hat er sich eine eigene Zelle stattlich hergerichtet, dort haust er mit denen, die ihm am liebsten sind, und selten betritt sein Fuß diesen Herrenhof. Oben hört man's deutlicher, wenn der Auerhahn balzt und der Hirsch schreit. Wir aber in der Tiefe harren der Gebote, welche er aus der Höhe zu uns sendet. Hier beginnt wieder dein Reich«, fuhr er fort und geleitete in einen anderen umhegten Hof. »Hier ist die äußere Schule, worin die Schüler zu übermütigen Weltgeistlichen erzogen werden; dreißig Scholastiker zählte das Kloster, erst seit dem Tode deines Vorgängers hat sich die Zahl vermindert. An der ersten Bank sitzen nur Söhne von Edlen, meist Thüringe und Hessen, trotzige Knaben sind darunter, ungern fügen sich die Stolzen darein, im Kloster zu dienen.«

»Schwingen auch sie heut das gedörrte Gras?« fragte der Fremde.

»Einen wenigstens magst du sehen«, versetzte der Kellermeister Heriger leise und wies nach der Höhe. In dem Schalloch des Glockenturmes saß ein Jüngling und starrte hinaus auf die Höhen im Osten, ohne die Mönche im Hofe zu beachten. »Es ist Immo, der Thüring, er hängt oft dort oben, und immer sieht er nach derselben Himmelsseite, weil dort seine Heimat liegt!«

Reinhard maß den Jüngling mit einem schnellen Blick: »Erkenne ich ihn recht auf seinem luftigen Sitze, so sieht er mehr einem jungen Kriegsmann ähnlich als einem Schüler, der auf das heilige Öl und die Stola hofft.«

»Du wirst ihn wild und tückisch finden«, versetzte Tutilo. »In den ersten Jahren hat ihn unser Herr Bernheri verzogen, jetzt tun ihm Hunger und Geißel not, und du würdest ihn vielleicht im Keller auf dem Stroh erblicken, statt dort in hoher Luft, wenn die Brüder nicht allzuoft an das Verdienst seines Ahnherrn dächten.«

»Denn wisse, mein Bruder«, fuhr Heriger fort, »er ist aus dem Geschlechte eines seligen Helden, der, wie sie sagen, zugleich mit dem heiligen Bonifazius von den Heiden erschlagen wurde. Sein Ahnherr war es, zu dem der Heilige in der Todesnot seine letzten Worte sprach, welche in den Büchern geschrieben stehen: Wirf dein Schwert von dir! Und darum haben auch von je die Männer und Frauen seines Geschlechtes unser Kloster mit Hufen und Gaben ausgestattet.«

Gegenüber dem Schülerhause lag der Kirche angebaut die Bibliothek und die Stube der Schreiber. Der Fremde betrat ein kahles Gemach; die beiden Fenster waren durch Glas und Blei verschlossen, aber große Spinnengewebe hingen an Wand und Rahmen, und durch die Scheiben drang nur ein trübes Zwielicht, so daß eine [] brennende Lampe das Beste tun mußte, um den Raum zu erhellen. Vor der Lampe saß am Pult ein schreibender Mönch. Langsam erhob er sich, als die Brüder eintraten, und noch während er den Ankömmling begrüßte, waren die kleinen Augen in seinem runzligen Gesicht auf die Pergamentblätter gerichtet.

»Willst du deinen Augen Pönitenz antun, Vater Gozbert«, begann Tutilo verwundert, »daß du das Sonnenlicht aussperrst?«

»Es muß ein dunkler Nebel in der Welt sein«, versetzte der Mönch, »denn es will nicht hell werden.«

»Nicht der Nebel ist es, der dir das Licht raubt, sondern die Bosheit anderer«, rief Tutilo, das Fenster öffnend, »sieh her, die Scheiben sind von außen durch trübe Farbe verdunkelt, und merke, jemand hat dir einen üblen Streich gespielt.«

»In Wahrheit, draußen scheint die Sonne«, sagte der Mönch, »ich erkenne Lehm und Kienruß an den Scheiben.«

»Ich aber weiß, wer die Ungebühr gegen dich geübt hat, entweder Immo selbst oder durch die Jungen«, sagte Tutilo, »denn der Scholastikus Immo leitet die Knaben zu vielem Frevel an. Doch sein Maß ist voll.« Und auf Reinhard blickend, fuhr er fort: »Vater Gozbert ist ein Künstler in der Schrift, wenige verstehen sich besser auf jede Art von Duktus.«

Gozbert ging zu einem Bücherbrett, schlug einen Kodex auf und zeigte mit Selbstgefühl die Blätter, auf welche Buchstaben mit bunten Farben gemalt waren.

»Ich sah selten so leuchtendes Gold so wohlgeglättet«, lobte der Fremde.

»Durch den Stein Achates«, erklärte Gozbert und blätterte zum Anfange zurück, dort war als großes Bild ein Kaiser auf seinem Stuhl und zur Seite vier Frauen, tief gebeugt, mit seltsamen Kronen auf dem Haupt, jede eine Mulde in den Armen, worin etwas Undeutliches lag, darüber standen die Namen von vier Ländern, welche zum Reich gehörten. »Ich selbst habe den Weibern die Verneigung erdacht«, sagte Gozbert stolz, »denn in der alten Handschrift, die wohl noch aus der Urzeit der Römer stammt, standen sie gerade.«

»Niemand merkt, daß es das Gesäß des Vaters Sintram ist, welches Gozbert viermal gebildet hat«, erklärte Heriger mit lustigem Augenzwinkern, »denn Sintram mußte oft gekrümmt stehen, mit den Händen am Türpfosten, während Gozbert zeichnete.« Der Schreiber warf einen mißbilligenden Blick auf den Sprecher und zeigte mit dem Finger auf das rötliche Gesicht des Kaisers. »Herr Otto, der Rote, seligen Andenkens.«

»Ich aber will unseren Vater rühmen«, fuhr Heriger fort, »denn schwerlich wird man einen Schreiber unter den Lebenden finden, welcher mehr geschrieben hat; vierzig Jahre lang schreibt er bei uns [] jeden Tag im Sommer und Winter; fünfzig Bücher bewahrt das Kloster von seiner Hand, und nicht wenige sind zum Tausch gegeben gegen andere.«

Gozbert neigte bescheiden den Kopf während des Lobes, aber seine kleinen Augen glänzten. »Wenn es mir nur nicht an Pergament gefehlt hätte«, sagte er, »und an Büchern zum Abschreiben.«

»Vielleicht wird es möglich, daß du von dem Kloster, aus dem ich komme, ein gutes Buch geliehen erhältst«, tröstete Reinhard.

»Was es auch sei«, versetzte Gozbert erfreut, »ich schreibe es gern, wenn du oder ein anderer Gelehrter mir sagt, daß keine Sünde darin steht. Denn die heiligen Namen zeichne ich mit Rot aus, und die Übles bedeutenden Namen in den profanen Büchern habe ich immer weggelassen, sooft ich ihre Tücke merkte. Manche Nacht habe ich in Ängsten gewacht, und oft hat mir beim Schreiben geschaudert, ob ich nicht vielleicht etwas schreibe, was dem Heil meiner Seele schaden könnte. Endlich bin ich gewarnt worden, daß ich die sündigen Bücher meide.« Er schlug das Kreuz und wandte sich geheimnisvoll zu dem neuen Mönche, während die anderen, welche die Lieblingsgeschichte des Alten wohl kannten, einander bedeutsam ansahen. »Merke auf jenen Holzkrug, mein Bruder«, fuhr Gozbert fort, »in welchem ich mein Trinkwasser bewahre. Ein Deckelkrug, diesem gleich, stand an derselben Stelle, als ich gerade einiges von dem Heiden Ovidius schrieb. Da hörte ich hinter mir den Deckel klappen, ich wandte mich um, und mein Haar sträubte sich, der Krug stand still, aber zuweilen hob sich der Deckel und schlug wieder abwärts, wie von innerer Gewalt getrieben. Ich rief die Heiligen zu Hilfe, plötzlich sah ich zwei Hörner aus dem Krug ragen und wieder verschwinden. Im Entsetzen stieß ich den Krug um, und sogleich sprang der teuflische Geist, einem kleinen Tier mit Hörnern ähnlich, aus dem Holz, fuhr in dem Zimmer umher und endlich durch den Türritz hinaus, indem er bösen Nebel und Gestank zurückließ. Ich aber erkannte die Warnung.«

»Hätte der böse Geist nicht den Dampf zurückgelassen«, bemerkte Heriger, »so würden manche vermuten, daß es ein junger Hase gewesen sei, den der Thüring Immo heimlich in den Krug unseres Vaters gesetzt hatte.«

»Es war der Teufel«, versetzte Gozbert unwillig. »Seitdem schreibe ich nur noch heilige Bücher.«

»Du hast sicher das beste Teil erwählt, mein Vater«, tröstete Reinhard grüßend, und sie schieden aus der Zelle. Der Schreiber aber setzte sich wieder zu seinem Pult; oben webte die Spinne, und unter ihr schrieb der Mönch.

Tutilo wurde gesprächiger, als sie die Höfe betraten, in denen die Arbeiter des Klosters unter Aufsicht der Mönche für Handwerk und Landbau tätig waren. »Du siehst, Bruder«, begann er, das Haupt [] erhebend, »nicht gering ist das Haus des heiligen Wigbert, sein Segen hat die Keller und Scheuern gefüllt, wie gierig auch die Grafen und Dienstmannen ihre Fäuste nach Äckern und Herden ausstrecken. Und jetzt, da ich dir die Türen geöffnet habe und deinen Herdsitz gewiesen, jetzt berichte auch du, wenn dir gefällt, was du außerhalb des Klosters erfahren hast, denn wildes Gerücht geht durch die Lande, daß die Kinder der Welt in neuem Zwist gegeneinander toben.«

»Zürne nicht, mein Vater, wenn ich deinem Willen nicht auf der Stelle genüge«, versetzte Reinhard demütig, »du selbst weißt ja am besten, daß der Mund des Bruders, der aus der Ferne kommt, verschlossen sein muß, bis die Erlaubnis des Herrn Abtes ihn öffnet.«

Der helle Zorn flammte aus Tutilos Augen. »Statt des Abtes stehe ich hier, und mein ist das Recht, dir die Zunge zu lösen.«

Reinhard warf sich schnell vor ihm auf den Boden und flehte, die Hände erhebend: »Verzeih, mein Vater, daß ich dir Unmut erregte, da ich dir Gehorsam schuldig bin im Staube; nur was die heilige Regel mir gebietet, meinte ich zu tun. Selbst wünsche ich, daß du alles wissest, denn schwere Kunde bringe ich aus dem Lande, aber auch dir würde es gefallen, wenn du der Abt wärest, daß ich eher dir als anderen die Botschaft verkündete.«

Tutilo blickte finster auf seine Begleiter, aber er sah an den verlegenen Mienen, daß sie das Recht des Flehenden erkannten, darum schwieg er und ließ den Mönch zu seinen Füßen liegen, bis Heriger, der Kellermeister, begann: »Da der Bruder sich nach Gebühr gedemütigt, so rate ich, daß du selbst ihn nach St. Peter zu unserem Herrn Abt begleitest, damit auch wir erfahren, was dem Kloster zum Heil oder Unheil werden mag; vor allem aber, daß du es wissest, da du jeden Tag um unser Wohl zu sorgen hast.«

Tutilo wandte sich unfreundlich nach dem Sprecher, aber er bezwang sich und antwortete dem Liegenden mit einer Stimme, der man den Ärger wohl anmerkte. »Ungern wandle ich aus der Pforte nach jener Höhe, doch will ich dein Gewissen, mein Bruder, nicht beschweren. Erhebe dich und harre mein an dem Tore. Du aber, Walto, gebiete, mein Roß zu satteln, damit ich die Befehle unseres Herrn auf der Höhe erbitte.« Er wandte sich ab und hörte nicht darauf, wie der Kniende sich dem Gebet der Brüder empfahl. Reinhard erhob sich hinter dem Rücken des Präpositus und schritt mit gesenktem Haupt neben dem Pförtner dem Ausgange des Klosters zu. Tutilo aber entließ die Brüder, welche ihn begleitet hatten, und sprach zu seinem Vertrauten Hunico: »Übles weissagt die fremde Biene in unserem Stock. Der Narr ist von der neuen Zucht, welche die Füße küßt und Faustschläge in den Nacken gibt, er wird die [] Becher der Brüder zählen und um einen gekochten Kalbskopf die Geißel schwingen. Wer so willig ist, sich in den Staub zu werfen, der wird auch dem König und dem Graf nicht widerstehen, wenn sie uns die Zehnten und Hufen nehmen und das Heiligtum kahl machen, wie es zur Zeit des Lullus war, wo die Brüder sich selbst an den Pflug spannten und ihr gutes Glück priesen, wenn ihnen ihr tägliches Pfund Brot ohne Abzug gereicht wurde. Ich aber meine nicht umsonst die Speicher gefüllt zu haben, kommt es zum Kriege, so suchen auch wir einen neuen Abt, welcher das Kloster erhöht und nicht erniedrigt; denn es leben wenige Fürsten im Reiche, die so stark sind, als wir sein könnten, wenn ein Mann auf dem Abtstuhl säße und nicht ein Schwächling.« Er schritt gewaltig in die Klausur, sich zu der unwillkommenen Fahrt zu rüsten.

Während die ansehnlichen Führer der Brüderschaft durch die Höfe wanderten, schlich der junge Mönch, welcher den fremden Bruder geleitet hatte, unbeachtet in die Kirche zurück, neigte sich vor den Altären, glitt die Säulen entlang und öffnete im Vorhofe den Eingang einer hölzernen Galerie, welche aus der Kirche zu dem Glockenturm des Erzengels Michael führte. Er stieg die Wendeltreppe hinauf bis zu dem Bodenraum unter den Glocken. Dort stand der Altar des hohen Engels, der im Federhemd in den Lüften waltete und den Wetterschlag vom Glockenturm abhielt. Indem der Mönch sein Gebet murmelte, rief von oben eine helle Stimme: »Rigbert, sei willkommen.« Der Mönch hob warnend den Finger, kletterte die steile Stiege hinauf, welche zu dem Glockenstuhl führte, und stand wenige Schritte von dem Jüngling Immo. Dieser saß in dem Schalloch auf schmalem Brett, das für eine Dohle bequemer war als für einen hochgewachsenen Mann, und beobachtete ungeduldig das Nahen des Mönches.

»Du kommst aus Thüringen, seit Mittag erwarte ich dich; der Dienstmann Hugbald ritt an euch vorüber und brachte die Kunde in das Wächterhaus. Du sahest die Quellen der Waldbäche springen, du hörtest, wie der Bergwind weht und wie das junge Volk der Thüringe unsere Reigen auf dem Anger singt. Was weißt du mir zu sagen aus den Waldlauben?«

»Noch rinnen die Quellen vom Rennstieg zu Tale, und die Waldaxt klingt an den Baumstämmen. Aus Erfurt, dem großen Markte, ritt mein Reiseherr Reinhard nach der Zelle unserer Brüder in Ordorf, auf dem Wege rasteten wir in einem Edelhofe.«

Eine heiße Röte fuhr dem Schüler über das Gesicht, und mit heller Stimme rief er, die Hand gen Osten hebend: »Ich meine, das war der Hof meiner Väter.«

»Wir wurden wohl empfangen von der edlen Hausfrau.«

»Das war meine Mutter«, schrie der wilde Knabe und wandte sein Antlitz von dem Mönche ab, weil ihm Tränen über die Wangen [] liefen. »Sprich mir von ihr«, fuhr er nach einer Weile fort und kehrte sich wieder dem Mönch zu.

»Sie erschien mir als eine heilige Frau, und einer Fürstin sah sie gleich, obgleich sie schmucklos in Witwentracht vor uns stand.«

»Mein Vater starb an seiner Wunde im fernen Land, und der Sohn vermochte ihn nicht zu rächen. In den Kerker bin ich gesteckt. Unselig ist die Hand, die das Rauchfaß schwingt statt des Eisens.«

»Mehr hilft deiner Seligkeit der Rauch am Altar als die wilden Worte«, mahnte der Mönch.

»Du freilich trägst geduldig die braune Schafwolle, die sie dir gesponnen haben.«

»Mich hat meine Mutter, da ich ein Kindlein war, dem Heiligen auf den Altar gelegt, weil sie das Liebste dem Himmel weihen wollte, und meine Heimat ist seitdem im Gotteshause.«

»Auch mich haben sie, da ich noch ein Knabe war, zum Dienst des Altars bestimmt, obgleich ich das erstgeborene Kind war und ein Recht hatte, das Banner meines Vaters zu führen. Aber dem Vater wurde der Vorsatz leid, denn du weißt ja wohl, meine Fäuste sind nicht gemacht, Feder und Gebetbuch zu halten, sondern Schildrand und Rosseszügel. Zu einem Kriegsmann wurde ich erzogen, obgleich der Mutter Böses ahnte, bis mein Vater mit dem jungen Kaiser Otto nach Italien zog und in die Gefangenschaft der treulosen Griechen geriet. Da kam die Angst in unseren Hof, schöne Hufen mußte die Mutter dem Kloster verkaufen, um das Lösegeld für den Vater zu finden, und nicht die Hufen allein, auch den Sohn rieten die frommen Väter zu spenden, damit die erzürnten Heiligen sich des Vaters wieder erbarmten. Ich trug damals mein erstes Panzerhemd, jetzt trage ich dies mißfarbige Kleid eines dienenden Schülers und fahre in dieser großen Mausefalle wie eine gefangene Ratte längs den Brettern dahin. Den Vater haben die Heiligen doch nicht heimgeleitet, ich aber bin gefesselt.«

»Wie mochten sie ein Opfer gnädig empfangen«, antwortete der Mönch traurig, »das so unwillig sich gegen den Altar sträubte.«

»Zu Rosse wäre ich für sie geritten bis an das Ende der Welt, aber auf den Knien gleiten über den glatten Stein, das kann ich nicht. Denn meine Ahnen dachten hoch, und ich stamme aus einem Geschlecht von Kriegern.«

»Und doch sollte deine Dienstbarkeit mild sein, du Begehrlicher, der immer an die Freuden der Welt denkt. Nicht Mönch solltest du werden, sondern ein üppiger Kanonikus, der seidenes Gewand trägt, hoch zu Rosse sitzt und mit den Frauen kost wie ein anderer.«

»Warum trage ich nicht das weiße Gewand?« fragte Immo zornig, »andere, die noch jünger sind in der Klosterschule, werden dadurch doch ein wenig getröstet. Doch ich weiß wohl, teuer ist solche Gunst, und niemand von den Meinen zahlt einem Bischof [] den Preis für die weiße Leinwand. Aber hätte ich auch, was du für mich ersehnst, du weißt, die Fledermaus ist ein unholdes Tier, sie ist nicht Maus, nicht Vogel; und ich bin von dem Geschlecht, welches bei Sonnenschein sich über die Flur schwingt. Was sahst du noch, Rigbert, in unserer Halle?«

»Von dem Söller wies Frau Edith meinem Reiseherrn die Kapellen der Umgegend; und als die Glocken hier und da läuteten, weil die Sonne im Mittag stand, brach aus dem Gehölz eine Schar Reiter, alle auf hellen Rossen.«

»Das waren meine Brüder«, rief Immo, »das ist unsere Zucht.« Der Mönch nickte bestätigend: »Frau Edith sprach freudig zu dem Priester: ›Sieh, Reinhard, das sind meine sechs Nestlinge. Sie kommen, das Futter zu picken. Ist's nicht ein kräftiger Flug?‹«

»Und die Dohle sitzt hier im Turmloch«, rief Immo dazwischen.

»Sie rauschten heran, wie durch die Luft getragen, sechs feurige Reiter, wild flog ihr Haar durch die Luft, waren sie mit Vögeln zu vergleichen, so waren sie doch nicht als Waldsänger zu erkennen, denn scharf stachen ihre Augen.«

Immo lachte freudig. »Mich verdrießt's nicht, wenn du die Männer meines Geschlechtes mit Habichten vergleichst; ich hoffe, die Knaben werden ihre Fänge erweisen. Sahest du das Roß, auf dem mein jüngster Bruder ritt, der kleine Gottfried, den wir Friedel nennen? Ein Knabe war Friedel, da ich vor sechs Jahren von Hause scheiden mußte, er schlang die kleinen Arme um meinen Hals und weinte bitterlich, und als ich von der Schwelle wich, rannte er mir schluchzend nach und zog an meinem Gewand, mich festzuhalten. Ich hob ihn auf das Roß, das mir gehörte, gab den Zügel in seine Hand und raunte dem Hengste zu, daß er dem Kleinen zugetan sei. Niemand hat mir gesagt, wie das Roß ihm dient. Du mußt es gesehen haben, Rigbert, wenn du auch ein Mönch bist. Es ist ein sächsisches Pferd aus der Zucht des Königshofes, die Farbe ist ganz weiß, und Mähne und Schweif glänzen wie Silber. Sahst du das Roß, Rigbert, so sprich.«

»Wohl sah ich das seltene Tier.«

»Zwölfjährig ist es jetzt«, fuhr Immo eifrig fort, »und es mag meinen Friedel noch tragen, wenn er das erstemal in die Schlacht reitet; denn ein altes Roß und ein junger Held, sagt das Sprichwort, gehören zusammen. Wie saß das Kind auf meinem Rosse?«

»Sah ich recht, so trug das Roß den ältesten deiner Brüder, den sie Odo nennen.«

Immo sprang wie ein wildes Tier aus der Luke hinab auf die Stiege und packte den Mönch. »Odo, sagtest du, der jetzt Erbe ist an meiner Statt. Mir nahm er die Hufen und die Herrschaft im Lande, jetzt entwendet er auch dem Bruder mein letztes Geschenk. Vergessen bin ich, und verachtet ist mein Gedächtnis, und im [] Knechtdienst lebe ich wie einer, den sie im Kriege gefangen haben.« Er warf seinen Leib dröhnend gegen die Holzwand, ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte ihm die Glieder.

»Ganz töricht gebärdest du dich, Immo. Wie darfst du den Bruder schelten? Nicht er hat dich zu uns gebracht, und ein Zufall kann gewesen sein, daß er das Pferd tauschte.«

Immo aber antwortete nicht, und der Mönch harrte schweigend, bis der heftige Anfall vorüber war. Endlich richtete sich Immo auf und fragte ruhiger: »Bringst du mir Botschaft von der Mutter?«

»Den Segen deiner Mutter trägt dir der Vater Reinhard zu, wenn der Herr Abt es gestattet. Achte darauf, Immo, daß du dem Fremden gefällst, denn wisse, als Meister der Schule ist er in dies Kloster gesendet, und von morgen ist er dein Herr.«

»Er wird widerwillige Diener finden in der äußeren Schule. Ist er ein Geselle wie der arge Tutilo?«

Der Mönch sah unruhig um sich. »Du sprichst lauter, als in Klosterwänden geziemt«, und bittend fuhr er fort: »Immo, du hast mir Güte erwiesen, seit du unter den Dächern des heiligen Wigbert umherfährst, und du hast mir erlaubt, dein Geselle zu sein, soweit ich aus der Klausur dir die Hand durch den Zaun zureichen durfte; laß dich jetzt mahnen an unsere Treue in der Schule. Liebst du dein Leben und dein Glück, und wünschest du Gutes für die Tage deiner Zukunft, so füge dich dem neuen Lehrer; denn soweit ich ihn erkenne, ist er von mildem Herzen, aber von der strengen Zucht, und ich meine, es kommt eine andere Zeit auch für die Höfe des heiligen Wigbert. Vieles hörte ich raunen in den Zellen der Brüder, als wenn wir alle hier zu wenig nach der Regel lebten.«

Immo lachte. »Sage das den Vätern. Ich sah vorhin durch das Schalloch, wie sie um die Heuhaufen im Reigen sprangen, und sie hielten die Mägde des Dorfes an der Hand.«

»Schweig«, raunte der Mönch, »war das Tun nicht gut, darüber im Kloster zu sprechen ist Frevel, nicht uns allein steht Fasten und Rutenschlag bevor; mit den Scholastikern werden sie anfangen.«

»Unsere Fleischkost ist mager«, spottete Immo, »wollen sie uns gebieten, zu fasten, so müssen wir den alten Katerweg über die Dächer wandeln, du kennst ihn ja wohl?« Der Mönch bekreuzigte sich. »Dann laufen wir zur Nacht in den Wald und beschleichen das Wild. Manchen Bock haben wir im Holze gebraten, und du kennst ein Loch im Zaune, durch welches gute Bissen auch in die Klausur gereicht wurden.«

Flehend sah der Mönch den Spottenden an: »Ich habe es gebeichtet und gebüßt.«

»Ich hoffe, die Pönitenz war nicht hart, Bruder Rigbert«, lachte Immo, doch herzlicher fuhr er fort: »Ich weiß, daß du mir in guter Meinung rätst, und will mich wahren, sosehr ich kann. Doch jetzt [] erzähle, Landsmann, von deinem eigenen Vaterhause im freien Moor, das sie Friemar nennen. Wie lebt Baldhard der Alte, dein Vater, und Sunihild, deine Mutter? Manchen Trunk Milch bot sie mir, sooft ich durch das Dorf ritt und an ihrem Zaune hielt, und manch warnendes Wort sprach dein Vater, das ich ungern vernahm, obwohl er recht hatte. Aber ich mußte ihn mit Ehrfurcht hören, wegen seines weißen Haars und weil er meinem Vater wert war. Wenn er in unseren Hof kam, erhielt er immer den besten Herdsitz; denn es ist, wie du weißt, von alter Zeit gutes Vertrauen zwischen dem Edelhof und dem Freihof.«

»Ich sah das Dach meiner Eltern ragen, Vater und Mutter sah ich nicht«, klagte Rigbert leise; Immo starrte ihn erstaunt an. »Für mich war geschrieben, du sollst Vater und Mutter verlassen; ich wandte das Gesicht ab, als ich das Haus zwischen den Linden erkannte, damit den Heiligen meine Entsagung gefalle und mein Gebet für die Eltern Erhörung finde.«

Immo fuhr wieder mit einem Satze von dem Gefährten weg auf den Balken der Turmluke und starrte schweigend ins Freie. Als er sich nach einer Weile umwandte, bemerkte er mißfällig das gesenkte Haupt und die gefalteten Hände des Mönches und begann ungeduldig: »Merke wohl, Rigbert, dürftig ist die Kunde, die du mir aus der Heimat zuträgst.«

»Vater Reinhard bringt üble Neuigkeit von den Gütern in Thüringen«, versetzte Rigbert vorsichtig.

»Hat der Hof meiner Mutter Frieden mit den Nachbarn?«

»Sorglos weidete man in deiner Heimat die Herden, und ohne Wächter arbeiteten die Leute auf dem Felde. Nur deine Mutter sprach bekümmert mit Vater Reinhard.«

»Du spendest dürftigen Trank wie ein karger Wirt, ich muß dich unfreundlich schelten.«

»Viel mehr habe ich dir gesagt, als mir zu sagen recht ist. Nur weil ich noch meine Reisekutte trage, getraue ich mich so mit dir zu sprechen. Wenn die Väter heute abend zur Hora rufen, dann flehe ich die Brüder fußfällig an, daß sie alle für mich wegen meiner Reisesünden beten, dann, hoffe ich, wird ihr Flehen auch meiner Schwatzhaftigkeit die Vergebung gewinnen. Sonst spräche ich nicht mit dir, wie ich jetzt getan. Daran denke, Immo, und zürne mir nicht.«

»Gutwilliger als du will ich dir verkünden, was wir hier im Kloster vernahmen«, begann Immo versöhnt. »Ein Heereszug steht bevor und gewaltiges Getöse von Speer und Schild. Die Herrschaft des neuen Königs Heinrich, dem die Völker im vorigen Jahre den Herrenstuhl erhöht haben, zerreißt in Stücke, sein ganzes Reich gleicht unserer Eisbahn auf der Fulda, als sie beim Tauwind brach. Überall schlagen die Eisschollen gegeneinander. Täglich erzählen in [] unseren Herbergen die Gäste und die armen Wanderer, daß alles schwankt, was fest war. Der streitbare Held Hezilo, der Babenberger, hat sich machtvoll gegen den König erhoben, mit ihm verbunden ist der eigene Bruder des Königs, dann der tapfere Graf Ernst, von dem alle Spielleute singen, auch die Slawenherzöge und viele Fürsten des Reiches. Die Mönche behaupten, daß der König geringe Hoffnung hat, seinen Feinden zu widerstehen. Die Grafen hier in der Nähe rufen ihre Dienstmannen, werben Reisige und treiben Rosse und Rinder in ihre Burgen, keiner traut dem anderen, und alle schreien, daß der große Streit um das Reich ausgefochten werden soll, sobald die Ernte von den Feldern herein ist. Ich aber hoffe, wenn erst die Waffen um Wigberts Haus dröhnen, wird auch mir gelingen, hinauszufahren.«

»Sinnst du so Arges«, sprach Rigbert unwillig, »dann ist dir jedes Wort schädlidh, das ich aus der Fremde berichte, und mich reut's, daß ich dir den Frieden der Seele verstörte.«

»Hoffst du hier im Kloster Frieden zu finden?« fragte Immo lachend. »Bald wirst du merken, daß die Väter in der Klausur geradeso zwieträchtig gegeneinander stehen wie die Kriegsleute draußen. Denn unser Abt, Herr Bernheri, will dem König dienen, Tutilo aber ist ein Oheim des Babenbergers Hezilo. Oft hören wir durch den Zaun Geschrei der Mönche und heftige Worte, bald für König Heinrich, bald für den Hezilo.«

Rigbert wandte sich schweigend der Treppe zu.

»Nur eins sage mir noch, bevor sie dich einsperren«, rief Immo, indem er mit großem Satz zu dem Mönche sprang und seine Hand faßte, »denn lange habe ich nach dir ausgesehen und diese Stunde erwartet. Vernahmst du daheim Gutes oder Böses von dem Manne, der den Söhnen Irmfrieds feindselig denkt, obgleich er der Bruder ihres toten Vaters ist. Hast du vernommen, für welchen König mein Oheim Gundomar in das Feld reitet?«

»Er weilt, wie die Landsleute sagen, beim König Heinrich, dem er seit langem vertraut ist, und man rühmt ihn als gewaltigen Kriegsmann.«

»Wir aber haben wenig Treue von ihm erfahren. Nur einmal sah ich ihn, als ich noch ein Kind war, da schleuderte er mich aus seinem Wege, daß ich mit blutendem Haupt auf dem Boden lag. Mir wäre willkommener, gegen ihn im Felde zu stehen als an seiner Schwertseite. Doch wir von der äußeren Schule sind alle für König Heinrich.«

Während Immo mehr zu sich selbst als zu dem Mönch sprach, glitt dieser lautlos die Treppe hinab. Immo stand allein und seufzte schwer. Was er aus der Heimat gehört hatte, machte ihm das Herz nicht leichter, und der neue Lehrer war ihm vollends nicht zur Freude. Noch einen Blick warf er vom Turm hinab, um dem Tutilo oder anderen Dekanen nicht über den Weg zu laufen, dann eilte [] er abwärts und wand sich zwischen Gebäuden und Hecken den Gärten zu. Da er hinter sich Tritte von Männern und Pferden hörte, fuhr er durch eine Lücke des Zauns, die ihm wohlbekannt war, auf die andere Seite der grünen Wand und pries sein gutes Glück, als er aus dem Versteck den gefürchteten Tutilo erkannte, welcher, zur Reise gerüstet, neben einem fremden Kriegsmann dem Ausgange zuschritt. Immo wußte, daß der Fremde seit dem Morgen im Gasthaus des Klosters lag, und wunderte sich über die Vertraulichkeit, mit welcher der Reisige den stolzen Mönch behandelte, denn er ging, sein Roß am Zügel führend, sorglos auf der Ehrenseite und trug den schlechten Eisenrock mit der Haltung eines Fürsten. Während Immo vom Wege wich, wechselten die beiden den Scheidegruß. »Lebe wohl, Vetter«, sprach der Fremde, »unlustig war diesmal mein Sitz an deiner Gastbank, denn die neugierigen Augen deines Volkes und die gewundenen Fragen machten mir Sorge.«

Tutilo lächelte. »Viele der Wigbertleute kennen den Grafen Ernst von Angesicht, und wohl alle haben von deinem Heldenwerk vernommen, welches die Wanderer rühmen. Gerade deinetwegen schwärmt heut mein ganzes Volk in der Ferne auf grünem Rasen, der Pförtner aber ist mir treu. Dennoch rate ich, daß du ohne Säumen aufbrichst. Vertraue mir, ich hindere die Reise zum Könige, welche unser Abt den Dienstmannen des Klosters bereitet.«

»Denke auch daran«, unterbrach ihn der Fremde eifrig, »uns das Land offenzuhalten für den Zug unserer Heerhaufen, welche wir aus Sachsen und Thüringen erwarten. Denn ich kenne den falschen König, er ist behend wie ein Wiesel, und seine Augen sind bei Tag und Nacht geöffnet, ich sorge, er reitet eher ins Feld als wir. Lebe wohl, Vetter, sehe ich dich wieder, so rüstest du mir ein Festmahl in der Abtei.«

Der Mönch sprach den Segen, und der Fremde schwang sich auf das Roß. Als der Hufschlag in der Ferne verklang, schritt auch Tutilo der Pforte zu, an welcher ihn Reinhard erwartete.

Immo harrte, bis alles um ihn still war, dann spähte er durch die Tür des Arzneigartens, und als er den alten Sintram darin sah, trat er vorsichtig ein und näherte sich dem Mönch, welcher mit dem Grabscheit vor einem kleinen Gesträuch stand und unverwandt eine Blume betrachtete. Der Jüngling sprach seinen Gruß, der Alte nickte ihm freundlich zu, gab ihm das Grabscheit in die Hand und wies auf das Beet, an dem er gegraben hatte. Geduldig begann Immo die unwillkommene Arbeit, der er sich nach Klostersitte nicht entziehen durfte.

Unterdes beharrte Sintram vor dem Strauch, bis er endlich in seiner Freude das Schweigen brach: »Sieh diese Rose, die ein Bruder dem Wigbert aus Gallien gebracht hat; wie eine Kugel war sie geschlossen, aber die liebe Sonne hat ihr den Mund geöffnet; blicke [] hinein, schöne Farben hat sie und zahllose Blätter. Halte deine Nase näher heran, denn die Würze ihres Geruchs ist heilkräftig, und die bösen Geister, welche in den Leib fahren und Siechtum bereiten, fürchten den Duft und meiden ihre Nähe. Die Weisen sagen, sie ist von dem Herrn in den Erdgarten gesetzt, damit sie dem Menschen ein Anzeichen sei. Denn auch ihm ist das Herz geschlossen, bis das Licht des Glaubens darauf fällt, dann öffnet sich seine Seele der himmlischen Liebe.«

Immo verließ gern das Beet und sah achtungsvoll auf die Rose, aber anderes lag ihm mehr im Sinn. »Zeige sie auch dem neuen Magister, welcher, wie man sagt, aus der Fremde gekommen ist, um die Schüler Dialektik zu lehren.«

»Du hast die Wahrheit gehört«, versetzte der Alte vorsichtig.

»Dann, Vater, sage ihm, wenn du vermagst, Gutes von mir, denn ich fürchte, andere werden ihm allerlei Nachteiliges in das Ohr raunen. Leidvoll wäre es mir, wenn er feindselig gegen mich handelte, denn er kennt meine Mutter und mein Geschlecht, er hat die Macht, mir zu schaden, und seine Fürsprache mag mir helfen, daß ich von der Schülerbank gehoben werde. Allzulange, mein Vater, trage ich, wie du weißt, dies Gewand.«

»Sorge du nur, ihm zu gefallen«, mahnte der Alte, »er hat wohl selbst Augen und wird schwerlich der Meinung anderer folgen. Mir scheint, er hat dich bereits gesehen, da du unter den Dohlen saßest.«

»Die Pusillen in der Schule, welche noch nicht fünfzehn Jahre sind, fürchten sehr seine Rute, es wäre gut für ihn und uns, wenn er Nachsicht übte. Die erste Bank ist harter Streiche nicht gewöhnt, und er wird es schwer finden, das edle Blut über die Bank zu legen.«

»Dennoch rate ich dir nicht, ihm das zu sagen«, versetzte der Gärtner, »du selbst möchtest dafür büßen. Jetzt aber wende dich abwärts, Immo, dort naht Bruder Bertram aus dem Friedhofe. Unrecht war es, hier ohne Erlaubnis einzudringen.«

»Gerade seinetwegen kam ich zu dir, mein Vater, und ich flehe, daß du bei ihm mein Fürsprecher werdest. Denn ganz unsicher sind die Tage meiner Zukunft, und wenn ich das Kloster verlasse, so weiß ich niemanden, der meiner Jugend mit gutem Rat zu Hilfe kommen wird. Dein Geselle aber hat im letzten Winter freiwillig verheißen, daß er mir, bevor ich aus dem Kloster scheide, als Gabe die Weisheit übergeben will, welcher die Männer seines Geschlechts in der Stille vertraut haben. Wenn er mich noch der geheimen Lehre für würdig erachtet, so ersehne ich, daß er sie mir jetzt oder doch bald einmal spende. Du aber zürne mir nicht, daß ich darum zu dir komme. Ich weiß ja, Vater, daß du mir nichts Übles sinnst, denn ich fand gestern in der Ecke bei dem Nest der Rotkehlchen einen Binsenkorb voll Kirschen, und ich weiß auch, wer ihn hingestellt hat.«

Der Alte lächelte vergnügt. »Die Rotkehlchen sind listige Vögel, [] sie tragen mancherlei hin und her. Auch ich fand in diesem Frühjahr, als mir meiner Sünden wegen die Gicht in die Hand gefahren war, ein paar Fausthandschuhe von Otterfell bei meinem Gerät, ich habe nicht gefragt, woher sie kamen.« Er sprach das letzte zu seinem Gesellen Bertram, der langsam herangewandelt war und ebenfalls sein Grabscheit in der Hand hielt. Die beiden Alten blickten einander bedeutsam an, und Bertram, welcher der ernsthaftere war, setzte das Gespräch fort, als wenn er die früheren Reden gehört hätte, und begann feierlich: »Darum nahest du auch jetzt zu günstiger Stunde, denn heut ist der Tag, wo ich dir schenken will, was ich dir einst versprach, und was ich bis jetzt als mein Geheimnis bewahrte, wie ich es von einem Oheim erhielt, der es als Kriegsmann in der größten Not seines Lebens erprobt hat. Mir selbst vermag es nicht zu dienen, denn es ist ein Gut für Weltleute und nicht für Mönche, dir aber kann es wohl frommen, denn ich merke, dein wilder Mut wird dich bald einmal über den Zaun des Klosters hinaustreiben. Tritt abwärts aus der Sonne in den Schatten eines Fruchtbaumes, denn nur im Dunkeln darf ich dir's geben.« Der Alte wandte sich einer Ecke des Gartens zu, wo ein großer Apfelbaum seine Zweige tief zur Erde breitete, ehrfürchtig folgte ihm der Jüngling, Sintram machte den Beschluß. So schritt Immo zwischen den beiden Spatenträgern in den Baumschatten, dort blieb Sintram im Sonnenlichte zurück, Bertram aber trat an den Stamm und winkte den Jüngling nahe zu sich. Er stützte den Spaten an den Baum, faltete die Hände und murmelte sein Kredo, dann begann er feierlich: »Vielerlei Lehren gibt es, welche den Mann fest machen, wenn seine Gedanken sich unsicher wälzen; und die heilsamsten von allen sind die heiligen Befehle, welche verkündet sind. An diese gedenke vor anderen. Die Lehren aber, welche ich für dich bereit halte, vermögen dir nicht zu helfen in der Freude und nicht beim Gelage und nicht bei Kauf und Verkauf, aber sie sind gute Helfer in der Not. Neige dein Ohr zu mir, damit das Geheimnis meiner Gabe bewahrt bleibe, und gelobe mir, daß du sie nicht auf die Zunge nehmen und von dir geben willst außer an einen ehrlichen Mann in guter Meinung.«

Das gelobte Immo.

Da pflückte Bertram vier Grashalme von der Erde, reichte dem Jüngling einen in seine Hand und sprach feierlich: »Drei Lehren sind es, und eine, mit denen ich dich begabe, öffne dein Ohr und halte sie fest. Die erste bedeutet, daß dem Manne nicht geziemt zu dienen, wo er gebieten darf; und sie lautet:

›Birg niemals in die Hand eines Herrn, was du allein behaupten kannst.‹«

Und als Immo die Worte wiederholt hatte, reichte Bertram den zweiten Halm: »Dieser Spruch soll dich mahnen, wenn du einem [] Freunde unwillkommene Kunde ins Haus trägst, daß du sie ihm vertraust, bevor der Staub auf deinen Schuhen verweht ist; und der Spruch lautet:

›Üble Botschaft auf der langen Bank, macht dem Boten und dem Wirt das Herz krank.‹«

Zum dritten Halm sprach er: »Mißachte den Eid, der in Todesnot geschworen wird. Wer dir Liebes gelobt, sich vom Strange zu lösen, der sinnt dir Leid, sooft er des Strickes sich schämt.«

Und beim vierten gebot er:

»Deines Rosses letzter Sprung, deines Atems letzter Hauch sei für den Helfer, der um deinetwillen das Schwert hob.«

Als Immo jeden Spruch nach Gebühr wiederholt hatte, beschloß Bertram die Begabung, indem er gerührt sagte: »Es ist Brauch, daß der Spender heilsamer Lehren ein Entgelt dafür erhalte. Da du wenig hast, und ich wenig nehmen darf, so hoffe ich, die guten Engel werden dir jene Pelzhandschuhe als Gegengabe anrechnen. Wegen des Otterfells aber hat dich der Gerber verraten, und wir wissen auch, daß dir's Herr Bernheri geschenkt hat, als du ihm die Otter lebendig brachtest. Und jetzt neige dein Haupt, mein Sohn Immo, damit ich dich segne; denn du hast die Weisheit meiner Vorfahren empfangen, und ich will flehen, daß sie deinem Leben nütze, wie sie denen genützt hat, die sie vor dir besaßen. Wenn du sie aber mißachtest und ihr zuwider handelst, so siehe zu, daß die Verachtung sich nicht an dir räche.« Immo beugte das Haupt in die Hand des Alten und empfing den Segen. Dann traten sie wieder aus dem Schatten in die Sonne, die beiden Greise blickten einander zufrieden an und führten ihren Günstling zur Gartentür, dort begann Sintram: »Merke auch noch dies von meinetwegen. In all deiner Zukunft sorge dafür, daß du immer jemanden hast, der für dich zu dem Himmelsherrn betet. Jetzt tut mein Bruder Bertram dies täglich für dich, und auch ich gedenke des Abends deiner. Denn wir haben dein Gemüt längst erkannt, obgleich du unbändig dahinfährst. Aber wir beide sind alt. Oft hören die Himmlischen nicht gern die Worte eines Bedrängten, weil er ihnen durch seine Missetat verleidet ist, wenn aber ein anderer für ihn bittet, so fühlen sie leichter Erbarmen. Unselig ist auf Erden nur der, welcher in der Not allein die Hände faltet ohne einen Helfer. Darum gehe in Frieden, Immo, und denke auch darauf, daß du dem Präpositus nicht mißfällig wirst.«

Immo sah bewegt den beiden Alten in die freundlichen Gesichter, welche einander ähnlich waren wie zwei Äpfel desselben Baumes, er neigte sich tief vor ihnen und entwich. Langsam schritt er die Hecke entlang, setzte sich endlich in den Schatten einer Mauer und wiederholte und bedachte in der Stille die Lehren des Bertram. Dann sprang er auf und schritt dem Hofe der Reisigen zu, der vor [] der großen Klosterpforte neben dem Haus des Pförtners stand. Dort lagen im Wachthause zu jeder Zeit einige kleine Dienstmannen des Klosters, und dort weilte Immo am liebsten; er hatte daselbst auch seine besten Genossen, obgleich die Dekane das nicht zu wissen brauchten.

Als er in den Hof trat, fand er eine Reihe Heuwagen, welche von den Knechten entladen wurden, während ein bejahrter Dienstmann im Schuppenhemd, die Blechkappe in der Hand, neben seinem Rosse stand und geduldig den Arbeitenden zusah. »Gib mir ein Pferd, Hugbald«, begann Immo leise zu dem Kriegsmann, »daß ich mit dir reite.«

Hugbald blickte bedeutsam nach dem Stall und wies auf einen handfesten Mönch zwischen den Heuwagen – es war der Bruder, welcher dem Pförtner in seinem schweren Amt als Trost beigegeben war. Immo verschwand in dem Stalle. Als die entlasteten Wagen zum geöffneten Tor hinausfuhren, bestieg auch der Reisige sein Roß, hielt unter dem Tore an und sprach mit dem Mönch, der auf den Verschluß achten sollte. Da stob Immo auf flüchtigem Pferde an den Redenden vorüber und war außer Rufesweite, bevor der Mönch sich von seinem Erstaunen erholt hatte. »Der Vater Pförtner hat mir befohlen«, rief der unzufriedene Mönch, »diesen nicht ins Freie zu lassen, weil er sich vermessen hat, ohne Erlaubnis auf St. Michael zu reiten, aber er wischt dahin wie ein Feuermann in der Nacht.«

»Laß ihn immerhin«, begütete der Dienstmann, »mir ist es recht, wenn ich heut einen schnellen Knaben an der Seite habe. Denn um dir meine Meinung zu sagen, ich werde froh sein, wenn du am Abend Wigberts Knechte und Gespanne vollzählig zurückerhältst.«

»Du verkündest, was üble Ahnung macht«, rief der Mönch erschrocken. »Wie mag uns Gefahr drohen, leben wir doch in Frieden mit den Nachbarn.«

»Ich sah schwarze Vögel flattern über der Grenze unserer Waldwiesen, und ich kenne den Schwarm. Die Dohlen sind es aus den Buchen des Grafen Gerhard, sie fliegen gern dorthin, wo sein gewappneter Haufe reitet; um unsere Marksteine schwebten sie und lachten untereinander.«

»Anderen mögen die Schwarzen Böses bedeuten, doch nicht uns«, tröstete der Mönch, »denn wir im Kloster beten jedes Jahr für den Grafen Gerhard und für die Seele seines Vaters.«

»Es ist wohl möglich, daß die Vögel sich darum nicht kümmern«, versetzte Hugbald. »Auch sah ich etwas im Holze des Grafen blinken, ich meine, es war eine Helmkappe. Du selbst magst erwägen, ob die Mannen des Gerhard an diesem heißen Tage den Eisenhut tragen, weil sie das Heufest des Klosters feiern.«

»Harre, daß ich dem Vater Tutilo die Kunde zutrage«, rief der Mönch.

[] »Unnütz wäre die Mühe«, versetzte der Dienstmann, die Achseln zuckend, »ich ritt hierher, weil ich der Meinung war, die Reisigen unseres Herrn Abts von St. Peter als Helfer zu erbitten. Aber Herr Tutilo wollte vor einem Sonnenblink auf fremdem Eisen nicht erschrecken und verbot mir wegen der Heuernte an das Tor des Abtes zu reiten. Auch hat in Wahrheit das Kloster Fäuste genug auf die Wiesen gesandt, vielleicht daß sie mit den Heugabeln ihre Tapferkeit erweisen. Doch sollte mir das Pferd straucheln, so wird der Jüngling dort zurückreiten und euch mahnen, daß ihr das Glockenseil zieht.« Der Reiter nickte und trabte den Wagen nach, der Mönch verschloß kopfschüttelnd das Hoftor.

Als Hugbald den Jüngling erreicht hatte, welcher hinter einem Gebüsch seiner harrte, begann er: »Dein Pferd hast du gut gewählt, wenn du dich heut im Felde gegen einen Feind tummeln willst, aber den Stecken in der Hand vermag ich nicht zu loben; er ist nur gut, um einen Hund zu treffen, nicht aber eine Eisenhaube. Auch dein Strohhut wird dir schwerlich das krause Haar schirmen, wenn dich ein Schwertschlag erreicht.«

»Denkst du an Hiebe?« fragte der Jüngling und richtete sich hoch auf.

»Wer über das Feld reitet, darf immer daran denken«, versetzte Hugbald vorsichtig, »darum nimm noch eine Warnung. Wenn du merken solltest, daß Bewaffnete gegen mich sprengen, so treibe die Weiber mit den Rechen hinter einen Strauch und sieh selbst aus der Ferne zu, damit du berichten kannst, daß ich mich ehrlich gehalten habe.«

»Ich meine, Vater, besser werde ich das erkennen, wenn ich an deiner Seite reite«, sagte Immo stolz und trieb sein Pferd zum Sprunge.

Hugbald lächelte ein wenig, dann wies er ernsthaft nach dem nahen Berge, wo der Abt sein Haus hatte. »Dennoch ist es schwer, zwei Gebietern zu dienen. Dort oben liegen wackere Gesellen müßig, welche bei einer Schlägerei im Heu wohl den Rücken decken könnten. Aber was einem Herrn gefällt, will der andere nicht leiden.«

»Sage mir, ob du um Gefahr sorgst, so will ich hinaufreiten, sie zu rufen.«

»Damit Herr Tutilo mir später Feindseliges sinne«, versetzte Hugbald kopfschüttelnd. »Lieber vertraue ich auf die Hilfe des heiligen Wigbert, denn ich habe ihm, solange ich lebe, nie etwas genommen und manchen Schlag zu seiner Ehre getan, warum sollte er mich also mißachten.« So ritten sie ohne anzuhalten an St. Peter vorüber, dem Laubwald zu, welcher in weitem Kreise die Niederung umschloß.

[]

Die Gesellen

Die beiden Mönche zogen nebeneinander durch das Flußtal, Tutilo hoch zu Roß, Reinhard demütig zu Fuß; in heißem Sonnenlicht stiegen sie den Hügel hinauf, auf welchem Herr Bernheri, der Abt, sich ein kleines Kloster erbaut hatte, ganz nach seinem Herzen, seinen Mönchen zum Trotz. Es sah einer Burg ähnlicher als einer heiligen Zelle, hinter dem Graben ragte eine hohe Mauer und an dem offenen Tor saß auf seinen Spieß gestützt ein Kriegsmann. Gemächlich erhob er sich, empfing mit geringer Kopfneigung den Segen, welchen Tutilo spendete, und führte ihn in den Hofraum. Dort stand neben einer Kapelle das neugebaute Haus des Abtes, eine zweistöckige Kemenate mit einem Vorhaus, dessen Dach auf schön geschnitzten Holzsäulen ruhte, daneben erhoben sich Ställe und ein umhegter Raum, aus welchem unablässig das Gebell vieler Hunde klang. Gegenüber dem Haus des Abtes ragte eine hölzerne Halle für das Kriegsvolk, auf den schattigen Stufen dehnten sich mehrere Bewaffnete, ihnen gesellt zwei Mönche. Die großen Trinkkannen, welche dazwischenstanden, und das laute Gelächter der Trinker bewies, daß diese Klosterleute nicht unter strenger Zucht lebten. Tutilo begann bitter, während er einritt: »Du weißt, mein Bruder, St. Petrus war ein Kriegsknecht, er trug ein Schwert in der Nacht, da der Herr verraten ward; darum gefiel es auch dem Abte, diese Behausung von Jägern und Schwertträgern als eine Burg St. Petrus zu gründen.« Die eintretenden Mönche störten die lustige Gesellschaft, die Klosterbrüder eilten herzu, und während sie um den Segen baten, blickten sie spähend und mißtrauisch nach dem Präpositus.

Als ein Mönch von St. Peter die Glocke der Abtei gezogen hatte, trat Eggo, der vertraute Kämmerer des Abtes, in die Tür und führte die Gäste eine Wendeltreppe hinauf in das Gemach, wo Herr Bernheri am liebsten zu weilen pflegte. Dort sah man zwischen den Säulen und Rundbogen der kleinen Fenster in ein Waldtal hinab, und im Vorgrund auf grüne Weiden und wogende Ährenfelder, das große Kloster Wigberts aber sah man nicht. Über dem Tisch in der Mitte des Raumes lag eine Decke, welche zierlich mit der Nadel gestickt war, auf dem hohen Lehnstuhl weiche Kissen. Geweihe, die an der Wand befestigt waren, dienten als Haken, woran Waffen zur Jagd und zum Kriege hingen: Hornbogen und Köcher, Eberspieße und große Halsbänder mit eisernen Stacheln für die Jagdhunde.

Herr Bernheri war ein wohlbeleibter Herr mit großem Haupte; dem geröteten Gesicht und den dicken Augenlidern merkte man an, daß er sorgfältig den Wein seines Kellers prüfte; er trug einen langen Hausrock von feinem dunklen Tuch, am Halse ein goldenes Kreuz. Die Mönche knieten nieder. Tutilo zögernd und mit steifem Nacken, so daß man den Zwang erkannte.

[] Der Abt blickte unzufrieden auf den Präpositus und begann, während er mit flüchtiger Handbewegung den Segen erteilte: »Ungern sehe ich heut dein Gesicht, Tutilo, da du doch die Brüder, wie ich höre, in das Heufest gesandt hast. Es wäre besser, wenn du deine gefurchte Stirn den Heimkehrenden entgegenhieltest, damit ihnen die weltliche Fröhlichkeit aus dem Herzen schwände. Aber auch die krächzende Krähe flieht gern dorthin, wo sich die Habichte niederlassen.«

»Du selbst, Herr und Abt von Wigbert, vergleichst dich mit dem Habicht, der sich in dem Klostergut niedergelassen hat«, versetzte Tutilo schnell aufstehend, »ich aber und mancher von den Brüdern meinte, daß in der Notzeit des Klosters den Brüdern gezieme, ihren Groll zu vergessen und einträchtig auf Nützliches zu denken, was die Gefahr abwenden kann.«

»Du sprichst gut«, versetzte der Abt ungnädig, »sorge dafür, daß deine Taten der Rede nicht widersprechen. Kommst du auch ungeladen, sitze dennoch nieder, ob du dem Kloster deine Treue erweisen kannst.« Er winkte dem Mönch Eggo, dieser verschwand und trug drei große silberne Becher und eine Weinkanne herzu, die er auf den Tisch stellte, er selbst aber trat hinter den Lehnstuhl des Abtes. Dieser setzte sich gewichtig, winkte den Gästen, zu beiden Seiten Platz zu nehmen, und sagte, auf die Becher weisend: »Es sei erlaubt. Ich freue mich deiner Ankunft, Reinhard. Deine Klugheit ist rühmlich bekannt, du hast dich den Heiligen unserer Kirche in meine Hand zugeschworen, und als vertrauten Boten habe ich dich nach Thüringen gesandt, damit du gleich einem Fremden ohne Gunst und Haß die Höfe des Klosters bereisest und mit eigenen Augen alles erkundest, denn üble Nachrichten erhalten wir aus jedem Gaue. Jetzt berichte von unseren Höfen und von den Zellen, in denen unsere Brüder hausen, damit wir alles erfahren, wenn es auch unwillkommen ist.«

Reinhard holte einen Pergamentstreifen heraus, auf dem die Hufen und Höfe des Klosters verzeichnet waren, und begann den Reisebericht. Es war eine lange Reihe von Klagen der Verwalter über Gewalttat der Grafen und Widerspenstigkeit der Verpflichteten. Als er innehielt, tat Herr Bernheri einen tiefen Trunk und sprach darauf seufzend: »Solange ich lebe, habe ich erfahren, daß die Frommen spenden und die Gottlosen nehmen. Sonst waren der Frommen mehr und der Gottlosen weniger. Wie ein Weiher ist das Klostergut, in den die kleinen Quellen rieseln; wenn er aber gefüllt ist, kommen die Müller des Teufels, öffnen ihre Gräben und leiten die Flut wieder ab über ihre Mühlräder. Ich sorge, der Weiher wird einmal leer, und meine Mönche werden wie Karpfen in mißfarbigem Schlamme zappeln.«

»Wer kommendes Unglück meldet, dem danken wir, wenn er [] auch sagt, wie zu helfen ist. Unerhört ist es, daß ein neuer Bruder die Geheimnisse des Klosters erfährt, welche sonst nicht einmal den Dekanen bekannt sind«, fiel Tutilo mit rauher Stimme ein. »Leichter ist es, Klagen vorzutragen, als die Hilfe zu finden.«

»Du selbst weißt ja, mein Vater«, antwortete Reinhard, »wo die beste Hilfe zu finden ist. Die Heiligen fragen vor allem, ob unsere Brüder nach der heiligen Regel ihren Dienst tun. Den Säumigen aber entziehen sie ihre Gnade. Manches sah ich in St. Wigberts Kloster, was nicht nach der Regel war.«

»Sage das doch den Mönchen in Fulda, in Korvei und sonstwo, überall ist der Mutwille größer als bei uns«, rief Tutilo zornig, »und lebt ihr in Altaha, die ihr euch als starke Beter rühmt, deshalb in größerer Sicherheit?«

»Gern verkünde ich dir, o Herr, auch Günstiges«, fuhr Reinhard ruhig fort, »nämlich, daß unter den Waldleuten, welche bei unserer Zelle Ordorf wohnen, ein neuer Eifer erwacht ist. Die Brüder, welche du dorthin gesandt hast, leben in froher Hoffnung, denn sie meinen, großes Heil sei ihnen widerfahren. In mehr als einer Nacht sahen die Brüder Licht in der Kirche, und als Hunibald, der Magister, einst aufstand und hineinging, erkannte er einen Schein über der Platte, unter welcher, wie die Sage geht, der selige Vater Meginhard, der Genosse des heiligen Bonifazius, bestattet ist. Viel erzählen sie dort von den christlichen Heldentaten, die Meginhard zu seiner Zeit unter den Heiden gewirkt hat. Die Laien drängen sich in die Kirche und beten auf seinem Grabe, und große Heilungen von schweren Leiden werden berichtet, die an dieser Stätte ganz plötzlich gelungen sind. Das läßt Hunibald dir durch mich mit Freuden verkünden.«

Der Abt schüttelte unzufrieden das Haupt. »Ich kenne den Sinn unserer Brüder in Ordorf, sie sind gutwillig, aber unbesonnen, und ihrem Glauben fehlt die Prüfung. Ich kenne auch alte Vetteln, welche von einer Stätte zur anderen laufen und ihre Gebresten heilen lassen, damit man sie rühme, auf den Schultern trage und mit guter Kost füttere. Die in Ordorf mögen sich wahren, daß die Kinder der Welt uns nicht verspotten und daß nicht zuletzt ein großes Skandalum aus dem Wunder werde.«

»Es ist nicht begehrliches Volk allein, welches zuströmt, auch ehrbare Leute rühmen die Wunderkraft des seligen Bekenners.«

»Und vermagst auch du sie zu rühmen nach dem, was du gesehen hast?« fragte der Abt prüfend.

»Ich hatte, wie du weißt, nicht die Zeit und nicht das Amt, nach der Wahrheit zu forschen«, versetzte Reinhard.

»Ich aber meine«, rief Tutilo, die Faust auf den Tisch setzend, »daß den Heiligen zu Herolfsfeld ein übler Dienst geschieht, wenn der selige Memmo zu Ordorf einen Zulauf als Wundertäter erhält [] und am Ende gar zu Rom als Heiliger aufgenommen wird. Denn die Leute in den Waldlauben werden froh sein, wenn sie einen besonderen Fürbitter gewinnen, und die Edlen werden bei König und Papst bald darauf antragen, daß wir Ordorf aus unserer Klosterzucht entlassen und daß dort oder in der Nähe eine eigene Abtei gegründet wird, und Meginhard würde sich schnell als ein großer Räuber am Wigbert erweisen. Deshalb rate ich, daß wir unseren Heiligen getreu bleiben und uns nach Kräften bemühen, die Wunder zu stillen und nicht landkundig zu machen.«

Der Abt nickte. »Er spricht das Richtige. Wenn ein Lichtschein dem Kloster helfen könnte, so vertraue ich, würden unsere Fürbitter es auch bei uns nicht daran fehlen lassen. Weißt du eine andere Hilfe, mein Bruder, wenn auch durch weltliche Mittel?«

Reinhard antwortete demütig: »Wenn ich das Schicksal deiner Herrschaft, Herr, erwäge, so finde ich, daß dieser zu sehr fehlt, was ihr Schutz und Sicherheit gewähren könnte. Durch ganz Thüringen liegen die Hufen und Höfe zerstreut in den Dorffluren und zwischen den Lehnsgütern der Grafen; aber klein ist die Zahl der Vögte und der Bewaffneten, welche für das Kloster Helm und Schwert tragen. Mächtiger ist der Abt von Fulda, um vieles reicher an Vasallen; am mächtigsten der Erzbischof von Mainz, denn seine Kriegsleute lagern sicher in der großen Stadt Erfurt. Die Mönche von Fulda und die Kanoniker in Erfurt aber sinnen Ungünstiges für dein Kloster und breiten sich aus, dir zum Schaden, auch in den Waldlauben an dem Rand der Berge, wo sonst deine Herrschaft fest gegründet war. Darum meine ich, dir tun vor allem Burgen not mit treuer Besatzung. Als ich von Erfurt nach Ordorf zog, sah ich in der Ebene, wo das Gebirge beginnt, einen Ring von Hügeln, auf denen Warten und Burgen stehen, sie schließen einen Weiher und Wiesen ein, schwer ist der Zugang, denn viele Teiche liegen am Saum der Hügel. Dort ragt im Hintergrunde die Wasserburg, welche dem Kloster gehört, doch sie ist halb verfallen. Der ganze übrige Bergwald aber und das Land darum gehört dem Geschlecht des Jünglings Immo, der in der Schule des Klosters gehalten wird. Dies Geschlecht beherrscht von den Bergen wie von einem großen Wall die Landstraße und die Umgegend. Und ich höre, es bringt gern seine Spenden zum Kloster.«

»Gut hast du gesehen, mein Bruder«, rief der Abt, »ich kenne die roten Hügel, und ich weiß, daß sie gewaltig sind, aber sie sind freies Erbe eines Geschlechtes, welches seit der Urzeit im Lande haust, und ich meine nicht, daß sie ihr Erbe dem Kloster gutwillig in die Hand geben werden.«

»Vielleicht würden sie selbst als Vögte ihre Burgen bewahren, wenn sie zum Heil ihrer Seele dieselben vorher den Heiligen in die Hand gegeben hätten«, versetzte Reinhard.

[] »Wahrlich, Bruder«, sprach Tutilo, »als ich zuerst von deiner Sendung hörte, war sie mir widerwärtig; was du aber hier kündest, ist dasselbe, was auch ich für eine gute Hilfe des Klosters halte, und ich muß deine Klugheit preisen.«

»Ich aber kenne unseren Schüler Immo und seine Sippe«, warf der Abt ein, »hochfahrend ist ihr Sinn.«

»Was die Kinder der Welt ungern tun, dazu zwingt sie oft die Angst vor der Hölle des üblen Teufels«, sprach Reinhard. »Dennoch würde ich nicht an diese Hilfe gemahnt haben, wenn mir nicht Frau Edith, die Mutter des Immo, vertrauliche Botschaft an dich, meinen Herrn, aufgetragen hätte, und zwar gerade wegen dieser Burgen. Denn sie fleht dich an, daß mir erlaubt sei, dem Sohn ihren Segen zu bringen und ihn mit einer guten Nachricht zu erfreuen. Das Geschlecht hat beschlossen, die Mühlburg als Angebinde an das Stift zu Erfurt zu geben, damit der Schüler Immo dort Kanonikus werde und durch den Erzbischof Willigis unserem Kloster enthoben. Seht selbst zu, meine Väter, ob unser Kloster dadurch Vorteil gewinnt. Sehr bereitwillig werden die Erzbischöflichen zu Erfurt sein, die Burg zu empfangen, für uns aber scheint mir diese Wandlung verderblich.«

»Lieber wollte ich den Wolf in meiner Lämmerherde schauen«, rief Herr Bernheri.

»Nimmer darf der Knabe und sein festes Haus dem Wigbert entschlüpfen«, drohte Tutilo.

»Ich weiß einen, der das Seine getan hat, durch Stirnrunzeln dem Jüngling Immo das Kloster zu verleiden«, versetzte Herr Bernheri strafend.

»Wäre der Knabe besser in die Klosterzucht gewöhnt worden, er würde nicht zurück in die Welt begehren«, entgegnete Tutilo, »auch die Weide biegt sich nur, wenn eine feste Hand sie zusammendreht. Und ehe ich leide, daß die Burg den prahlerischen Schwelgern zu Erfurt geöffnet wird, zwinge ich den Schüler mit eigener Hand in die Klausur.«

»Du wirst es schwer finden, ihn in der Büßerzelle zum Mönch zu schlagen, mein Bruder«, versetzte der Abt. »In vielem hast du meine Herde verleitet, aber schwerlich wird sie dir folgen, wenn du das Kind aus dem Geschlecht unserer Guttäter durch Zwang zurückhalten willst. Ich rate dir, daß du lieber dem Bruder Reinhard vertrauest, denn nicht allein wegen seiner Grammatik und Dialektik gefiel es mir, ihn hierher zu laden, sondern weil er die Kunst versteht, die Herzen der Jugend zu gewinnen und, damit ich metaphorice spreche, auch junge Stoßvögel an die Hand zu gewöhnen. Versuche du, mein Bruder, ob du die Neigung des Knaben für den Wigbert gewinnen kannst. Er ist ein Falk aus den thüringischen Bergen, diese ertragen schwer die Kappe, sind sie aber gebändigt, [] dann stoßen sie freudig. Und jetzt gefällt mir, daß wir uns erheben. Manches andere will ich mit Bruder Reinhard allein verhandeln. Du aber, Tutilo, ziehe zurück und zähle die Heuwagen, bis es mir passend erscheint, dich zu rufen oder bis ich selbst hinuntersteige und den Konvent der Brüder versammle, welchen du Übles gegen mich in das Ohr raunst.«

Das Gesicht Tutilos flammte in Zornesröte, als er sich erhob. »Du aber, Abt Bernheri, gedenke nicht, das Wichtigste den Brüdern zu verbergen und im Rücken des Klosters die Wahl zu treffen über den König, dem wir in Zukunft dienen sollen. Kein Wort hat dein Bote berichtet von dem Kampf, der sich um die Krone erhebt, und doch ist dies die nächste Sorge und eine größere als um Hufen und Burgen. Meine nicht, Bernheri, mich zu hintergehen. Wenn du auch Abt bist, du selbst würdest es schwer entgelten, denn mein ist die Sorge, daß das Heiligtum nicht durch dich mit Unehren beladen wird.«

»Sorgst du so eifrig um den Vorteil der Brüderschaft«, rief Herr Bernheri ebenfalls zornig, »so sorge auch, daß der Reiter, welcher dir die Botschaft des Markgrafen zugetragen hat und der verborgen im Gasthause liegt, spurlos verschwinde, bevor ihn meine Reisige ergreifen. Dich selbst könnte ich Verräter nennen; ein Wink von mir, und du kehrst nur zum Gericht in das Kloster zurück. Aber seit vielen Jahren habe ich die Bosheit deines Wesens ertragen, und auch jetzt gedenke ich, weil ich älter und klüger bin als du, dich zu behandeln wie einen Trunkenen, von dem geschrieben steht, er weiß nicht, was er tut.«

Tutilo verließ das Zimmer ohne Gruß, der Abt ging heftig auf und ab, endlich ergriff er die Kanne, setzte sie aber mit einem Seufzer wieder hin. »Selbst der Wein schadet zornigem Gemüt, und ich begehre nicht, unwilliger auf ihn zu werden, als ich bereits bin.«

»Ich aber bringe dir«, begann Reinhard, ein Pergament aus der Kutte ziehend, »den Gruß des Königs und seine Mahnung, daß du die Reisigen des Klosters ohne Verzug sammelst und durch die Wälder von Fulda zu seinem Heere sendest. Damit auch du seine Gnade erkennst, o Herr, sendet er dir, was du lange ersehnt und erbeten hast, die Schenkung des Bannwaldes um St. Peter, der bisher Königsgut war. Du mögest sorgen, mahnt der König, daß die Treue des Klosters sich ebenso bewähre wie des Königs Gnade.«

Schnell griff Herr Bernheri nach der Urkunde: »Die besten Hirsche zwischen Fulda und Main halte ich in diesem Pergament«, aber bald verdüsterte sich sein Blick. »Du hast gesehen, mein Bruder, wie jener unholde Mann gesinnt ist; nach allen Seiten murrt er den Leuten Arges in die Ohren und hat die Knechte Wigberts ganz vom König abgewandt, nicht weiß ich, ob ich noch Herr bin im Kloster und über meine Schildträger. Dennoch will ich tun, was ich vermag, indem ich den Konvent zusammenrufe. Du aber eile dem [] Tutilo nach und rühme unterdes im Kloster die Schenkung, damit die Unzufriedenen mein Herrenwort williger anhören.«

Während der Abt dem Mönch die letzten Befehle gab, erscholl auf den Feldwegen, die zum Kloster hinführten, Jauchzen und Gesang; die Brüder und Mannen auf dem Petersberg drängten zum Tore hinaus und sahen neugierig in das Tal hinab. Hochbeladen in langer Reihe kamen die Heuwagen heran, auf den Wiesenbäumen darüber saßen und ritten die Buben des Dorfes schreiend und die Arme schwenkend. Hinter den Wagen schritten zwei Spielleute mit Sackpfeife und Fiedel, sie führten, eine lustige Weise spielend, die Schar der Arbeiter. Denn Männer und Frauen, mit Laub und Wiesenblumen bekränzt, hielten einander an den Händen und sprangen trotz der Arbeit des heißen Tages lustig den Reigen; vom Pfade ab zogen sie die Kette bald seitwärts über die Flur, bald zwischen den Wagen hindurch. Ihnen folgten die Herren des Klosters, voran die beiden Schulen; auch die Schüler sprangen und tanzten durcheinander, manche saßen zu Pferde und trieben die Gäule zu lustigen Sätzen. Sogar die Väter gedachten nicht sehr ihrer Würde, mehr als einem war das Haupt schwer, so daß er von den anderen geleitet werden mußte, und man merkte auch, weshalb er so unsicher schwankte, denn ganz am Ende fuhr ein Wagen mit leeren Fässern, welche zwischen den Brettern kollerten, und mit Trinkgefäßen, deren Henkel an die Leiterbäume gehängt waren. Endlich hob ein Bruder sein lateinisches Trinklied an, und viele stimmten ein und sangen die Schlußverse mit kühnen Bewegungen der Arme, und eilte eine Magd, die sich verspätet hatte, bei dem langen Zuge der Väter vorbei, dann geschah es wohl, daß einer der Begeisterten sie in den Arm kniff oder auch in die Backen. So wälzte sich der Schwarm schreiend und singend dem Kloster zu. Die untergehende Sonne warf ihr goldenes Licht auf heiße Gesichter und glänzende Augen, die Treiber knallten mit ihren Peitschen um die Wette, sogar die Tiere schritten lustiger vorwärts.

Plötzlich stockte der Zug an dem Kreuzwege, wo ein Pfad von Osten heranlief, die Buben auf den Heuwagen sprangen empor und wiesen in die Ferne, die Wagen hielten an, die vordersten Knechte schrien nach rückwärts, Spiel und Gesang endete in einem Mißton. Denn von dem Seitenweg her tönte wilder Klageruf widerwärtig in die Festfreude. Langsam bewegte sich eine andere Abteilung der Klosterleute vom Holze her dem Flußtale zu, mit gesenkten Häuptern und Wehgeschrei trugen sie einen undeutlichen Gegenstand heran. Die Leute im Zuge verstanden wohl, was der Ruf bedeutete, dort war einer erschlagen, und die Rüstigen liefen über das Feld dem trauernden Haufen entgegen. Zu einem wirren Knäuel vereinigten sich die beiden Haufen. Die Knechte peitschten ängstlich ihre Gespanne zu schnellerem Schritt, um sie in den Klosterhöfen [] zu bergen, die anderen umstanden entsetzt eine Bahre, auf der ein todwunder Mann lag. Schnelle Fragen und Antworten folgten einander, Heugabeln und Messer wurden geschwenkt, und an Stelle des lateinischen Schelmenliedes klang wilder Racheruf über das weite Tal. Tutilo spornte sein Roß zu schnellen Sätzen. Als der gefürchtete Mönch in das Gedränge stob, fuhren die Leute auseinander, im nächsten Augenblick aber begann wieder Wehgeschrei und Totenklage. Der Mönch sprang ab, beugte sich über den Mann und sah nach der schweren Kopfwunde. Dann gebot er, ihn in das Krankenhaus des Klosters zu tragen, und forderte Bericht über die Missetat. »Wo sind die Gespanne?« fragte er, unruhig um sich blickend, »wo ist Hugbald?«

»Die Gespanne geraubt, die Knechte geschlagen und fortgeführt, Hugbald gefangen und mit ihm der Scholastikus Immo«, riefen ihm die Leute entgegen, bis auf seinen Wink der alte Bruder Bardo vortrat und stöhnend das ganze Unheil verkündete. Die Waldwiesen, auf denen Bardo die Heumahd zu ordnen hatte, lagen weitab von den übrigen Gründen, welche aus den Höfen des Klosters bewirtschaftet wurden. Sie waren neuerer Erwerb, doch niemand hatte beim Auszuge geahnt, daß dort ein Feind laure. Ungestört hatten die Arbeiter in den Tagen zuvor gemäht und das Heu gewendet, nur von einem Bewaffneten begleitet, wie bei fernen Feldarbeiten auch im Frieden Brauch war. Aus Vorsicht hatte heut Hugbald geboten, daß die Knechte ihre Rosse abspannen und, während die Heuhaufen gesetzt wurden, unter Aufsicht eines Reisigen auf freier Höhe, von der weite Umschau war, zusammenhalten sollten, bis er selbst das Einbringen gebiete. Als er endlich gekommen war, begleitet von dem Schüler Immo, hatten die Knechte ihre Gespanne zu den Wagen zurückgeführt. »Schon vorher war uns unheimlich geworden«, kündete Bardo, »denn wir hatten in der Ferne hinter den Büschen einzelne Bewaffnete erkannt, welche hin und her ritten. Gerade als sich der Zug der beladenen Wagen in Bewegung setzte, brach ein Schwarm Reiter aus dem Holz und ritt über die Felder auf die Gespanne zu. Unsere Reisigen hoben die Wurfspeere und warfen sich ihnen entgegen, auch die Knechte ergriffen die Heugabeln und sprangen gegen die fremden Reiter, aber klein war die Zahl der Unseren, im Nu waren sie umringt. Der Mann, welcher auf der Bahre liegt, fiel sogleich vom Rosse in sein Blut, nur Hugbald schoß den Wurfspeer und schlug mit dem Schwerte, drei waren gegen ihn, doch der Jüngling Immo fuhr wie ein Wirbelwind zwischen sie, ich sah zwei vom Pferde stürzen und die ledigen Tiere laufen. Ganz tapfer hielt sich unser Scholastikus, und er hatte den Hugbald frei gemacht, aber dieser rief: ›Wie mag ich zurückkehren ohne die Wagen‹ und warf sich aufs neue einem andringenden Haufen entgegen, bis er entwaffnet und mit Weiden [] gebunden war, und gleich ihm der Jüngling Immo; darauf wurden auch die Knechte übel geschlagen und gefesselt. Mit großem Gefolge stob Graf Gerhard, den wir alle kennen, heran und rief mit zornrotem Gesicht: ›Verderben über euch, ihr Wigbertleute, mein ist das Heu, mein die ganze Markung. Nichtig ist die Schenkung, deren ihr euch von meinem Vater her mit Unrecht rühmt; die Gespanne und eure Dienstleute treibe ich fort, eine geringe Entschädigung sind sie für den Verlust, den ich durch viele Jahre von euch erlitten. Läßt sich noch einer von euch Geschorenen auf dieser Flur blicken, so sollen ihm meine Gewappneten die Haut über die Ohren ziehen. Ihr Mönche aber wandelt stracks zurück, nur die heulenden Mägde lasse ich euch. Und saget eurem Abt: will er seine Dienstleute lebend wiedersehen, so soll er sich eilen, das Lösegeld zu senden, denn ich gedenke sie nicht lange im Kerker zu füttern. Hinweg mit euch, denn euer Anblick ist mir verhaßt.‹ So ritt er mit einem Fluche aufwärts dem Buchenwald zu, und hinter ihm zogen die Heuwagen und die Gefangenen. Wir aber standen weinend um den gefällten Mann, mühsam trugen wir mit den Weibern seinen Leib auf den Baumästen hierher.« Als der Alte geendet hatte, begannen die knienden Weiber wieder ihr Wehegeschrei, und der Racheruf der Wigbertleute klang durch das Tal.

Tutilo sah auf die zornige Schar wie ein Häuptling, der die Zahl seiner Getreuen mustert. »Sie sagen, Graf Gerhard will für König Heinrich ins Feld reiten, hier merket die Treue der Königsmannen. Als ein Walddieb ohne Aufkündigung des Friedens hat er das Kloster ruchlos gekränkt. Ihr aber, fromme Knechte des Wigbert, gedenkt der Vergeltung, schreit zu den heiligen Nothelfern um Rache, daß sie ein gehäuftes Maß Unheil über den Verfluchten senden, bereitet eure Wehren, schlagt an der Glocke des Erzengels den Notschlag zur Warnung an alle, die noch im Felde sind, daß sie sich sammeln, und entzündet die Feuerzeichen auf den Höhen, damit auch die Entfernten wissen, daß unser Kloster von Feinden bedrängt ist. Folgt mir zu den Höfen, damit wir um Tor und Mauer sorgen, denn aus dem Frieden sind wir gesetzt in Unfrieden, und auf Abwehr denken wir und Vergeltung. Du aber, Bardo, bändige deinen Schreck und ziehe jene Straße nach St. Peter, damit du einem anderen Bericht gebest; ich sehe dort den Abt Bernheri herabsteigen, geringe Freude wär' mir, ihm jetzt zu begegnen.« Er schwang sich auf sein Roß und sprengte voraus dem Kloster zu, einem Kriegsmann ähnlicher als einem Mönch. Den anderen aber hob sich der Mut, als sie seinen wilden Zorn erkannten, und hinter ihm eilte der große Schwarm von Männern und Weibern auf der Landstraße dahin, während Bardo mit den Brüdern, die das Unglück geschaut hatten, traurig dem Abte entgegenging.

[] In der Halle des Grafen Gerhard beleuchtete der rote Schein vieler Kienfackeln die Holzwände und die rußigen Balken der Decke. Gegenüber der Tür führten einige Stufen zu dem erhöhten Raum, auf welchem der Herrentisch stand, dort brannten große Wachslichter, ein weißes Tischtuch war aufgedeckt, und neben den Tontellern blinkten silberne Kannen und Becher. In der Halle waren zwei lange Tafeln gerichtet mit Sitzen darum und unten an der Tür eine dritte kleine, alle mit Holzgerät und irdenen Krügen bestellt.

Der Kämmerer des Grafen trat an die Tür der Halle und blies auf einem Horn, das er am Halse trug, den Ruf zum Mahle in den Hof. Klirrend drangen die Schwertmannen in die Halle und reihten sich hinter den Holzstühlen, auf der rechten Seite die freien Vasallen und unterhalb, wo das Tischtuch aufhörte, ihre Knechte, auf der linken Seite die unfreien Hofleute mit den Knechten. Die Freien waren meist bäuerische Genossen, welche lungernd in den Dörfern des Grafen saßen, bis sie zum Schwertdienst entboten wurden, die Unfreien aber, obgleich sie die schlechtere Bank besetzten, achteten sich für heldenhafter, weil viele von ihnen im Herrenhof hausten, täglich hinter dem Grafen ritten und schönes Gewand und gute Rosse von ihm empfingen. Die Freien wiederum waren stolz auf ihre Herkunft und verachteten die Knechtschaft der Geschmückten, so daß die beiden Bänke in Eifersucht lebten. Ganz unten an der Tür aber, getrennt von den anderen, harrten an besonderem Tisch die beiden Fechter, Ringrank und der Sachse Sladenkop, unehrliche Leute, welche ihr Blut dem Grafen verkauft hatten und öffentlich mit scharfem Eisen gegen ihresgleichen kämpften oder auch heimlich jedermann niederschlugen, sooft es ihr Lohnherr gebot.

Der Kämmerer stieg auf die Stufen des Ehrensitzes und gab ein zweites Hornzeichen. Da öffnete sich eine schmale Tür der Hinterwand, und Graf Gerhard trat selbst herein, hinter ihm seine Tochter Hildegard, welche den kleinen Bruder an der Hand führte. Der Graf hatte seinen eisernen Kettenrock mit einem hellen Hauskleide vertauscht, das bis über die Knie herabhing und von breiter gestickter Borte umsäumt war, darüber trug er am weißen Ledergurt sein Schwert, an den Beinen hohe rote Strümpfe und schön gestickte Schuhe. Er war wohl älter als fünfzig Jahr, in seinen schrägen Augen glitzerte das Weiße, so daß den Leuten sein Blick nicht gefiel, und da die niedrige Stirn stark zurücktrat und seine Nase sich lang über den fränkischen Schnauzbart gegen das spitze Kinn dehnte, so hatte er wegen seinem wölfischen Aussehen den Beinamen Isegrim erhalten. Gern wendeten die Mannen den Blick von ihm auf die Jungfrau, sie schauten bewundernd auf die schlanke Gestalt, welche ihr weißes Ärmelgewand mit buntem Gürtel und Saume so stolz trug, auf langes blondes Haar, das durch ein blaues Band über der Stirn zusammengehalten wurde, und auf ein rundliches [] Kinderantlitz, über dem der unwiderstehliche Zauber der Unschuld lag.

Der Graf winkte, und als das Horn zum drittenmal rief, stiegen aus dem Hofe der Truchseß mit den Küchenknaben und der Mundschenk mit dem Küfer in die Halle, und sie setzten die Speisen und große Trinkkrüge auf die Tafel. Der Herr trat zu seinem Lehnstuhl, nahm die Mütze ab und hielt einen Augenblick das Gesicht hinein, alle neigten die Häupter, und mancher Fromme schlug das Kreuz, dann rückten die Burgleute kräftig die Stühle, zogen ihre Messer aus der Scheide und begannen schweigend die Arbeit des Mahles.

»Wohl gelang uns die Fahrt in das Heu«, begann der Graf, einen Becher hebend, »und mit Stolpern und Ausgleiten endete der Reigentanz der lustigen Mönche. Trinkt, Bankgenossen, und sorgt, daß der Ausgang so rühmlich sei als der Anfang.« Heller Beifallsruf erhob sich, und die Trinkkannen wurden in der Luft geschwenkt. »Führt den alten Hugbald mit seinem Knaben aus dem Turme herbei. Sie waren die einzigen, welche wacker die Reiterwaffe gebrauchten, sie sollen nicht Schwarzbrot kauen, während wir uns des Mahles freuen.« Zwei Knechte eilten hinaus; nach einer Weile wurden Hugbald und Immo eingeführt, beide waffenlos. Als sie auf der Schwelle standen, rief der Graf durch den Saal hinab: »Tritt näher, Alter, lagere dich dort unter meinen eisernen Knaben.« Er wies auf den Tisch zur rechten Seite, wo zwischen den Rittern und Knechten eine Bewegung entstand, und mahnte wohlwollend: »Laßt ihn das Tischtuch haben, denn er trug manches Jahr seine Sporen als ehrlicher Gesell und soll ungekränkt von meinen Tellern essen.« Hugbald ging schweigend auf den Platz, welcher ihm geräumt wurde, und antwortete gleichmütig auf die Grüße und Spottreden seiner Nachbarn.

»Hüpfe auch du auf die Bank, junger Klosterkauz«, gebot der Graf und winkte Immo, welcher an der Tür stehengeblieben war.

»Ladet Herr Gerhard mich ein, in seiner Halle niederzusitzen?« fragte Immo errötend, aber mit einer Stimme, die hell durch den Raum klang.

»Öffnet ihm eine Ecke«, befahl der Hofherr, zu den Knechten gewandt. Aber Immo eilte mit gehobenem Haupt durch die Halle dem Tisch des Grafen zu, er stieg die Stufen zum Herrensitz hinauf und drängte mit der Hand den Kämmerer, der ihn aufhalten wollte, beiseite. »Dir würde geziemen, mir den Stuhl zu rücken«, rief er. So trat er auf die Erhöhung, trug einen Sessel neben die Tochter des Grafen, sprach freundlich, nach allen Seiten grüßend: pax domini vobiscum, und setzte sich. Graf Gerhard sah sprachlos vor Erstaunen auf den kecken Eindringling. »Übel gedeihe dir deine Frechheit; seit wann klettern die Schüler in den Abtstuhl. Doch Wunderliches hören wir über die Unordnung in Wigberts Hofe.«

[] »Im Hofe des Heiligen sitze ich demütig an der Schülerbank, bei Euch, Herr, ziemt mir der Stuhl in Eurer Nähe.«

»Werft den Schamlosen von seinem Sitz«, befahl der Graf zornig.

»Dann führt mich zurück in den Turm«, rief Immo, »denn bei allen Heiligen des Himmels, an keiner Bank lagere ich, keinen Bissen und keinen Trunk nehme ich in diesem Saal, wenn mir nicht ein Ehrensitz bereitet wird, wie ihn mein Vater erhielt, wenn er diese Burg betrat.«

»Wer bist du, Knabe, daß du mir unter meinem eigenen Dache zu trotzen wagst?«

»Es ist Immo, Herr, Sohn des Helden Irmfried, welcher das Banner der Thüringe im Lande Italien trug«, bedeutete ein alter Dienstmann in der Nähe des Grafen, »und darin hat er recht, die Männer seines Geschlechts haben von je einen Herrenstuhl begehrt.«

»Jetzt erkenne ich dich, Immo«, versetzte der Graf ruhiger, »bei meinem Schwert, früh krümmt sich der Haken. Dennoch sollen meine Knaben dich abwärts führen, da du kein Krieger bist, sondern nur ein halber Mönch.«

Immo errötete vor Zorn. »Ich aber meine, daß Eure Reisigen meinen Arm gefühlt haben, fragt nach, wenn es Euch gefällt, ob die Stöße nur halb waren und in Mönchswelse gegeben oder nach Art eines ehrlichen Kriegers. Und wenn ich wüßte, daß die Starken, gegen welche ich geritten bin, in diesem Saal wären, so würde ich sie gern friedlich begrüßen und sie bitten, daß sie ihren Groll gegen mich schwinden lassen. Denn ich habe nur getan, wozu ich als Geselle des Hugbald verpflichtet war, und ich hoffe, auch sie ehren den Spruch: Auf der Heide schlagen, beim Trunke sich vertragen.«

Da rief ihm ein junger Dienstmann von der Bank entgegen:

»Hast du auch meinem Genossen das Haupt zerschlagen, lustiger Immo, so will ich dir doch Bescheid tun, wenn der Graf dir einen Trunk verstattet. Denn laut dröhnte dein Holz an meiner Eisenhaube, und ich schulde dir noch einen Dank vom letzten Kirchfest, wo ich allein gegen eine Anzahl Klosterleute rang und du mir zu Hilfe sprangst, damit der Kampf ehrlicher sei. Treffe ich dich mit einem Schwert aber später auf grünem Grunde, dann zahle ich dir die Streiche zurück, und du magst sie tragen.«

Ein beifälliges Gebrumm ging um die Bänke.

»Wohlan«, entschied der Graf, »da du dich vor meinen Mannen nach Gebühr zu entschuldigen weißt, so will auch ich heut an die Ehren deines Vaters gedenken. Siehe zu, ob du meine Tochter Hildegard erbitten kannst, daß sie deinen Stuhl in ihrer Nähe leidet, denn sie ist gleich dir vor kurzem aus der Klosterschule geschlüpft, und sie soll dir wie ein Abt in Latein dein Urteil sprechen. Wir anderen aber wollen ruhig zuschauen, wenn sie über dem Scholastikus zu Gericht sitzt.«

[] Das Mädchen saß unbeweglich und sah errötend vor sich hin.

»Sei mir hold«, bat Immo, »da du doch aus der Schule bist.«

Ein freundlicher Blick des Einverständnisses fiel auf ihn, dann sah sie wieder vor sich hin.

»Hast du das Sprechen verlernt, Hildegard?« fragte der Graf unwillig. »Sechs teure Rosse haben die frommen Frauen genommen, um dich in ihrer Zucht zu unterweisen, obgleich ich das Gewieher der Rosse lieber höre als das unverständliche Murmeln in fremden Zungen. Mich reut meine Spende, wenn du dem dreisten Schüler nicht zu antworten vermagst.«

»Cave ne iram augeas«, sprach das Mädchen leise, ohne den Schüler anzusehen.

»Nur dürftig rinnen die Worte wie aus versiegendem Quell, was hast du ihm gesagt, Mädchen?« fragte der Graf.

»Sie hat mich gemahnt«, antwortete Immo, sich erhebend, »daß ich mit ehrerbietiger Bitte Euch nahen soll. Darum flehe ich, Graf Gerhard, daß Ihr mir, wenn ich auch Euer Gefangener bin, den Sitz gestattet und mich nicht von Eurem Tische sendet. Denn um Euch alles zu sagen, gar nicht reichlich war heut die Mittagskost im Kloster, und der Ritt zwischen den Rossen Eurer Reisigen war auch einem fröhlichen Imbiß sehr ungleich, und gern würde ich Heil für Euch und die Jungfrau trinken, wenn ich es vermöchte.«

Da der Graf an dem beifälligen Murmeln seiner Dienstmannen erkannte, daß diesen die Art des Jünglings wohlgefiel, so lachte er und rief über die Bänke: »Wahrlich, dieser Schüler versteht nicht nur sich selbst, auch anderen Ehre zu geben. Darum gefällt mir, daß heut die beiden Lateiner zusammensitzen. Fülle deinen Becher, Hildegard, und biete ihm den Trunk, rücke ihm auch deinen Teller hin, denn als dein Geselle soll er heut von deinem Teller essen und aus deinem Becher trinken.«

Das Mädchen schob den Teller zögernd nach dem Fremden hin.

»Ich merke«, sagte Immo ärgerlich, »daß dir dein Geselle unwillkommen ist.«

»Wundere dich nicht, Immo«, spottete der Graf, »du bist wie ein Frosch aus dem Klosterweiher herangehüpft. Ihr aber geht es wie der Königstochter, welcher auch ein Frosch zum Gesellen gesetzt war, stolz sah sie auf den Quaker, kalt erschien ihr sein Fell, und nur mit zwei Fingern griff sie ihn an.«

»Ja, so tat sie, Herr«, versetzte Immo dreist, »aber zuletzt wurde der Quaker doch ihr Gemahl.«

Der Graf und seine Bankgenossen lachten laut. »Mißfällt dir auch seine ungefüge Stimme«, gebot der Graf ergötzt der Jungfrau, »so fülle ihm doch den Becher.«

»Trinke mir zu«, mahnte Immo, »dies ist mein Recht, da ich dein Geselle bin.«

[] Hildegard berührte den Becher mit ihren Lippen, schob ihm den Becher hin und sagte leise: »Stille ein wenig den lauten Gesang, denn der Reiher schwebt über dir.«

»Sieh zu, Frau Reiherin, ob meine Hand kalt ist wie eine Froschhand«, versetzte Immo, ihre Hand fassend.

»Du wirst dreist, Herr Frosch«, antwortete das Mädchen, die Hand zurückziehend, »tauche zurück in deinen Quell.« Sie hob die Kanne und goß ihm den Becher voll.

»Sei bedankt, Geselle«, sprach Immo. »Komme ich einmal aus dem Kloster, so sende ich auch dir etwas, das dir Freude macht.«

»Du weilst ungern im Kloster, mir aber wurde das Scheiden bitter«, begann Hildegard zutraulicher, »denn selig waren die Tage meiner Jugend unter den frommen Frauen, und wilde Reden höre ich hier unter den Männern.«

»Manches Vöglein, das aus dem Bauer kam, duckt sich furchtsam auf dem Aste, zuletzt lernt es doch unter dem blauen Himmel fliegen«, tröstete Immo.

»Als mir die Mutter starb, fand ich unter den frommen Frauen getreue Pflege.«

»Waren sie streng in der Schule?« fragte Immo teilnehmend.

»Am Vormittag durften wir nur lateinisch reden«, erklärte Hildegard, »und wir lasen im St. Augustinus und die Verse im Virgilius: ›Conticuere omnes‹.«

»Infandum regina jubes renovare dolorem«, rief Immo, »manchmal hat mir der Heide den Kopf heiß gemacht«, und beide lachten vergnügt einander an.

»Auch andere Kunst lernten wir«, fuhr Hildegard mutig fort, »denn im Schreiben war Mutter Mechthild sehr geschickt, und sie vergönnte mir, daß ich die Hymnen für mich schrieb. Ich habe auch das Buch genäht, ich habe es auch selbst in Holz gebunden, und der Schmied hat acht Edelsteine in die Ecken gesetzt.«

»Diese Kunst vermag ich nicht zu üben«, versetzte Immo.

»Auch mit der Nadel lernten wir Bilder sticken aus Purpur und bunten Seidenfäden. Sogar Goldfäden für die Kunstreichen fehlten selten im Kloster. Sieh her, das habe ich mir selbst gestickt«, und sie wies ihm die Verzierungen am Ärmel ihres Gewandes.

Immo sah bewundernd darauf. »Dir ist es besser gelungen als mir. Aber beide sind wir Waisen, ich kam in das Kloster, weil mir der Vater starb, jetzt fürchte ich, daß bald einmal die Schere knipst, um mir das Haar zu scheren.«

»Du meinst wohl, es sei schade um deine Locken«, spottete Hildegard, aber sie sah doch teilnehmend auf sein Haar, welches im Lichte glänzte und länger herabhing, als strenge Klosterzucht sonst den Schülern gestattete. »Wenn der Mutter Mechthild einmal die Goldfäden fehlen, so kann sie deinen Haarschopf dazu verspinnen.«

[] »Lieber wäre mir, wenn dir gefiele, für mich einen Goldfaden aus deinem Gewande zu ziehen. Hier ist mein Finger, binde ihn mit deinem zusammen, da du doch heut mein Geselle bist. Denn wisse, das ist Brauch in der Welt.«

»Das ist übler Brauch«, versetzte das Mädchen errötend, »ich vermöchte dich doch nicht bei mir festzuhalten. Auch habe ich vernommen, daß treue Gesellen solche Gewohnheit haben, sie sitzen beieinander auf demselben Zweige und singen dieselben Lieder. Deine Weise aber ist, wie ich merke, sehr ungleich der meinen.« Sie neigte das Haupt ein wenig auf die Seite und lud ihn durch einen lustigen Blick zum Wortkampf ein. »Mir gefällt's, wenn das Glöcklein im Kloster klingt, dann singen wir fromme Hymnen.«

»Mir aber gefällt's, wenn das Waldhorn tönt«, antwortete Immo ebenso, »dann bellen die Hunde, dann springen die Hirsche, und lustig reitet der Jäger im wilden Wald. Was sagst du dazu, mein Geselle?«

»In deinem grünen Wald heult der Wolf und haust der wilde Bär, im Kloster aber ziehen wir mit Kreuz und Fahne und danken dem Himmelsherrn.«

»Mühselig ist es, immer den Kopf zu neigen und mit langsamem Fuße zu schleichen. Ich lobe mir den grünen Anger und bunten Klee, dort werfen die Knaben und Mädchen den Ball und springen den Reigen. Wie gefällt dir das, mein Geselle?«

»Beim wilden Reigen sah ich die Knaben das Messer ziehen, und blutige Streiche störten den Tanz; ich lobe mir, wenn das junge Geschlecht im Kreise sitzt und die Vorleserin Gutes aus den Büchern verkündet.«

»Leicht kommt der Schlaf, wenn man tatlos kauert. Viel lieber schwinge ich selbst den Speer und das Schwert und reite im Eisenhemd über die Heide. Was sagst du dazu, mein Geselle?«

»Ein Kriegsmann willst du werden«, rief das Mädchen erschrocken, »sie werden dich töten«, und sie vergaß das Redespiel.

»Wenn sie das vermögen; ich aber will sorgen, daß es ihnen nicht gelinge.«

Die Jungfrau sah scheu aus ihren großen Augen auf den Nachbar. Daß er nicht geistlich werden wollte, störte ihr die Sicherheit, sie schob ihr Gewand zusammen und schwieg.

Immo achtete in seinem Übermut nicht auf ihre Bewegung und rief: »Mir ist heut manches schlecht gelungen, die Schwertleute haben sich an mich gehängt und mich hart geschnürt, und ich weiß nicht, was mir dein Vater ersinnen wird. Dennoch bin ich froher als je in meinem Leben, und ich könnte auf meinem Stuhl hüpfen. Ich fühle auch gegen niemand Groll, und es ist mir ganz lieb, daß sie mich gefangen haben. Ich weiß nicht, woher das kommt, wenn mir nicht darum so wohl ist, weil ich neben dir sitze und mit dir [] aus einem Becher trinke. Wonnig ist mir zumute, und ich möchte wohl einmal aus Herzensgrund aufjauchzen oder auch singen. Aber mein Gesang würde nicht jedermann freuen, denn meine Stimme ist rauh. Noch anderes Recht habe ich als dein Geselle, und auch das sollst du wissen. Denn küssen darf ich dich, wenn ich will.«

Hildegard erschrak und wandte sich ab: »Hüte dich, daß der Vater das nicht hört, schnell würde dein Ehrensitz dir genommen werden.«

»Um den Vater sorge ich nicht, nur um deinen Zorn«, versetzte Immo übermütig, »und daß ich dich vor den Kriegsleuten nicht beschäme. Aber wenn ich dich einmal allein wiedersehe, dann bestehe ich auf meinem Recht. Mögen die guten Engel fügen, daß dies bald geschehe.« Und er sang halblaut die Worte des Hymnus: »Audi, benigne Conditor, nostras preces cum fletibus.«

Das Mädchen nahm die Weise auf und sang halblaut andere Zeilen des Liedes entgegen: »Dona, per abstinentiam jejunet ut mens sobria Erhöre, gütiger Schöpfer, unser Gebet und Flehen. – Gib, daß durch Enthaltsamkeit sein Sinn mäßig und nüchtern werde.. Flehe zu den Heiligen, daß du nüchtern wirst, denn wie ich höre, redest du gleich einem Berauschten.«

»Wie du geschickt zu entgegnen weißt«, rief Immo begeistert, »du bist ein sinnvolles Weib, wenn du mich auch verhöhnst.«

Der Graf hatte unterdes mit seinen Mannen emsig dem Wildbret und starken Bier zugesprochen und nur einzelne Reden mit den Vertrauten, welche ihm zunächst saßen, gewechselt, jetzt lehnte er sich zufrieden auf dem Stuhle zurück und hörte die lateinischen Worte des Hymnus, welche seine Tochter sprach. »Merkt auf unsere Klosterleute«, rief er, »sie summen nach Art der Mönche mit geneigten Köpfen«, und da er im geheimen stolz auf das Wissen seiner Tochter war, fuhr er fort: »Fremde Worte sprechen mag jeder, aber das Gesprochene verstehen ist schwerer. Vermagst du einzusehen, Immo, was das Mädchen zu dir gesungen hat?«

»Ja, Herr«, versetzte Immo, »sie mahnt mich, mäßig zu sein, damit Euer Trank mir nicht das Hirn betäube.«

»Allzu streng ist Hildegard«, lachte der Graf, »dir soll auch einmal etwas Gutes gegönnt sein. Obwohl ich erkenne, daß es dir an Dreistigkeit nicht fehlt, du junger Zaunkönig. Denn Zaunkönige nennt ja wohl das Volk die Männer deines Geschlechts.«

Immo bezwang mit Mühe den aufsteigenden Zorn. »Weil meine Vorväter als alte Landherren auf freiem Erbe saßen, deshalb haben die Mönche ihnen im Scherz den Namen Reguli, kleine Könige, gegeben.«

Da rührte sich auch Egbert, ein unfreier Dienstmann des Grafen, welcher stattlich im roten Gewande dasaß, weil er der Sprecher war [] und der Liebling seines Herrn, und rief spottend in den Saal: »Eine Sage weiß ich. Als die Vögel den Genossen zum König wählen wollten, der sich am höchsten schwingen würde, barg sich ein Zwerg von Vogel in den Federn des Adlers und ließ sich hinauftragen bis dahin, wo er den Weltenherrn auf seinem Stuhle sah, dort flatterte er über das Haupt des Adlers und piepte: König bin ich. Da lachte oben der alte Gott in seiner Halle, und unten schrien die Vögel im Zorn, bis der Herr des Erdgartens gebot, daß der Betrüger seine Krone nur heimlich in den Waldhecken tragen dürfe, wo ihm niemand zusieht. Darum heißt auch ihr Zaunkönige, weil eure Herrlichkeit im Busch versteckt ist.«

Immo erhob sich im hellen Zorn und rief: »Nicht dem Diener antworte ich, sondern dem Herrn. Ihr selbst habt es ja wohl erfahren, Graf Gerhard, daß die Helden meines Geschlechtes ihr Haupt nicht in der Waldhecke bergen. Nie hat einer von meinen Ahnen sein Land vom König oder von der Kirche zu Lehen genommen, wie die erbelosen Franken und Sachsen, welche von der Dienerbank in das Land kamen, um bei uns Grafen zu werden. Manchen weiß ich, der sich jetzt rühmt, ein Edler zu sein, weil er als Diener eines Königs mit großem Gefolge reitet, obgleich seine Vorfahren aus der Küche und aus dem Stall geschlüpft sind.«

Mißtönender Lärm erhob sich an den Bänken, und die Hand des Grafen Gerhard griff nach dem Messer, das er an seiner Seite trug, der Jüngling aber sah mit blitzenden Augen über die Versammlung, stattlich stand er da trotz seinem Schülerkleide und rief laut in das Getöse: »Zürnt mir nicht, starke Helden, daß ich als ein unberühmter Jüngling vor euch meine Stimme erhebe, wenn man seinem Geschlechte durch stechende Worte die Ehre mindert. Auch zu Euch, Graf Gerhard, flehe ich, daß Ihr ohne Kränkung vernehmt, was ich nur zur Abwehr sprach. Heil trinke ich Euch und Euren Kindern, und Dank sage ich Euch, wie dem Gaste gebührt.« Er leerte den Becher und setzte sich.

Der Graf barg seinen Groll hinter gezwungenem Lachen. »Ich höre, du hast unter den Mönchen gelernt, mit zwei Zungen zu reden.«

»Überall rühmen die Leute«, versetzte Immo, »daß die Zunge eine gute Waffe ist, und wir Schüler haben, wie Ihr wißt, vor anderen darin Ruf.«

»Oft haben auch wir erfahren, wie scharf die Zunge der Mönche schneidet«, entgegnete der Graf, »vor anderen aber bei den Mönchen des Wigbert, und wir alle wissen, daß ihr dort sehr ungeistlich lebet und der Gebete für arme Seelen wenig gedenkt. Auch von dir selbst, Immo, erinnere ich mich, gehört zu haben, daß du wild in dem Kloster hausest und sogar den Mönchen üble Streiche spielst. Soll deine Rede mir besser gefallen als seither, so berichte ein wenig von deinem Streit mit den Geschorenen.«

[] »Verzeiht, Herr«, versetzte Immo ernsthaft, »die Rinder kämpfen oft mit ihren Hörnern gegeneinander, wenn aber der Bär naht, dann schließen sie sich einmütig zusammen und weisen ihm die bewehrte Stirn; so wäre auch mir Unrecht, an fremdem Tisch von den Vätern Übles zu berichten, denn als ein Kind des heiligen Wigbert hast du mich ergriffen.«

»Du sorgst schlecht für dein Wohl«, rief der Graf zornig, »wenn du dein Kloster in dieser Halle rühmst. Denn undankbar und treulos haben Wigberts Mönche an mir und meinem Geschlecht gehandelt. Oft habe ich mich enthalten, ihnen Übles zu tun, wo ich es doch vermocht hätte, und mühsam habe ich den Zorn meiner Mannen gebändigt, wenn sie die Rinder des Klosters begehrten und den Übermut eurer Dorfleute ansahen. Auch wegen der Wiesen und Fluren, von denen ich heut den geschorenen Schwarm vertrieben habe, ertrug ich schon lange das Unrecht. Denn meinem Vater gehörte der ganze Grund, und er hat ihn, wie die Mönche behaupten, dem Kloster zugeschrieben, da ich noch jung war, unter der Bedingung nämlich, daß sie seine arme Seele von dem Höllenfeuer freibeten sollten. Dies aber haben sie uns zum Unheil und zur Schmach versäumt. Und ihr alle sollt es wissen, was mir begegnet ist, damit ihr mein Recht gegen die Wigbertleute erkennt. Jämmerlich war das Gesicht, welches ich neulich hatte, da ich auf meinem Bette lag.« Er bekreuzigte sich heftig und fuhr fort: »Ich sah im Traum eine unselige Gestalt von Flammen umgeben und mit glühenden Ketten an den Beinen gefesselt, und ich erkannte, daß sie so gestaltet war wie mein Vater, da er lebte. Der traurige Geist wies auf den Grenzhügel, welchen die Mönche nach der Schenkung neu geschüttet haben, und seufzte: Mein war es, und dein soll es wieder sein. Mir fuhr das Entsetzen durch den Leib, bis die Gestalt verschwand. Daraus erkannte ich deutlich, daß die Geschorenen als Lügner an meinem Vater gehandelt haben, oder auch, daß ihr Gebet ganz unwirksam geworden ist, weil sie in Weltsünden leben; und darum beschloß ich, mein Eigentum wieder zurückzufordern. Vermag Wiese und Feld nicht meinem Ahn einen guten Sitz in der Himmelsburg zu erwerben, so soll dasselbe Land doch solchen, die mir treu sind, einen warmen Sitz auf Erden bereiten; denn es wird dazu helfen, zwei bis drei Kriegsleute mit ihren Rossen zu erhalten, wenn ich es ihnen als Lehn zuteile.«

Ein freudiges Geschrei ging um die Tische, und laute Heilrufe erklangen dem Sprecher. Der Graf tat einen herzhaften Trunk und sah zufrieden über seine Bewaffneten. »Dies sage ich in deiner Gegenwart, Immo. Denn obgleich du dich heut trotzig an meinem Tische gebärdest, so will ich dich doch morgen zu deinem Abt entsenden, damit du ihm meine Beschwerde verkündest. Ich wähle aber dich, weil ich merke, daß du recht gut verstehst, deine Worte zu [] setzen, und weil ich dich als nutzlosen Schüler nicht im Kerker bewahren mag. Die Geschorenen, welche mein Gesinde fing, habe ich entlassen, damit sie nicht als Gefangene in meinen Mauern Unheil herabbeten, die Klosterknechte aber halte ich in Banden, bis dein Abt sie auslöst oder sich mit mir wegen der Wiesen verträgt. Und ich fordere, daß er sich mit der Lösung beeile, wenn er sie lebend wiedersehen will, da ich sie nicht lange zu füttern gedenke. Den Hugbald aber bewahre ich zu anderem Tausch. Denn zwei meiner Knechte, sattelfeste Knaben, liegen auf der Burg des Abtes verstrickt, weil sie neulich auf meinen Stuten beim Roßgehege des Abtes vorbeiritten. Da brachen die jungen Hengste des Herrn Bernheri aus und jagten eigenwillig hinter den Stuten her, und als meine Knaben den Füllen die Leine umwarfen, nur damit sich diese nicht in den Wald unter die Wölfe versprengten, da kamen Dienstmannen des Klosters herzu, schrien meine Leute trotz ihrer guten Meinung als Roßdiebe an, rissen sie von den Pferden und führten sie samt den Stuten nach dem Berg des Abtes. Mich aber kränkt dies Unrecht sehr, und ich fordere meine Knaben und Pferde gegen den Hugbald und sein Pferd; das magst du deinem Herrn verkünden.«

Immo hörte erstaunt die Rede des Wirtes, ihm fiel schwer aufs Herz, daß auch sein Geschlecht dem Kloster wertvolle Hufen verkauft hatte, und er fühlte nicht den Drang, die Mönche zu verteidigen. Er sah nach Hugbald, welcher mürrisch hinter seinem Becher saß, und begnügte sich, trotz der Freude über seine nahe Befreiung, ruhig zu sagen: »Alles, was Ihr mir auftragt, werde ich dem Herrn Abt berichten, auch Euer Traumgesicht, wenn Ihr das begehrt.«

Als er aber seitwärts nach Hildegard blickte, war ihr Antlitz gerötet, und große Tränen rannen aus ihren gesenkten Augenlidern herab. Da erkannte er, daß die Jungfrau bitteres Leid über die Reden ihres Vaters empfand, und sie wurde ihm dadurch noch lieber. Sie aber vermied, ihn anzusehen, stand schweigend auf, hob den Bruder von seinem Sitz und erbat leise vom Grafen die Entlassung, der ihr gleichgültig durch eine Handbewegung gestattete, aus der Halle zu scheiden. Und zu der Bank seiner Mannen gewandt, rief er: »Führt auch die Verstrickten in ihre Zelle zurück, wenn sie nüchtern abwärtssteigen, so ist es ihre Schuld.«

»Lebe wohl, Hildegard«, sprach Immo leise und faßte heftig ihre Hand. »Denke mein, lieber als alles auf der Welt wird mir sein, wenn ich dich wiedersehe.«

»Sei auch du gesegnet«, antwortete Hildegard und verneigte sich vor dem Vater. Immo freute sich, daß sie die Mannen stolz als Herrin grüßte; die kleine Tür öffnete sich, und sie verschwand. Jetzt brannten die Fackeln dem Jüngling trübe, die wilden Mienen der[] Männer erschienen ihm unheimlich, und er folgte mit stummem Gruß dem Kämmerer. »Sorge dafür, daß die beiden Klosterkrähen einen besonderen Käfig erhalten und Stroh zu warmem Sitze«, rief der Graf unter dem Gelächter der Reisigen dem Kämmerer nach.

Während Hugbald schweigend auf der Streu lag, bis er im Schlafe seines Kummers ledig wurde, saß Immo neben ihm in seligen Gedanken, er überlegte jedes Wort und jede Miene der Jungfrau, spät sank er in Schlummer.

Am nächsten Morgen wurde er in den Hof geführt und vernahm noch wie im Traume ungnädige Entlassung und harte Worte aus dem Munde des Grafen. Als er aber auf das Pferd steigen wollte, das ihm ein Reisiger zuführte, ging eine junge Magd aus dem Frauengemach bei ihm vorüber, legte ihm verstohlen etwas in die Hand und sagte leise: »Nimm zurück, was dir gehört.« In ein großes Lindenblatt war ein Blättchen Pergament gewickelt, auf dem Pergament stand mit schöner Schrift der Reisegruß: ›Die lieben Engelein sollen dich hüten und segnen auf allen deinen Wegen‹; rings um die Schrift war mit der Nadel ein Goldfaden durch das Pergament gezogen. Er drückte das Blatt an seine Brust und barg es in seinem Gewande.

Immo ritt aus den Buchen, von einem Reisigen des Grafen bis an die Grenze begleitet. Er fand das Tor St. Peters geschlossen, die Brücke gehoben, wurde von Bewaffneten angerufen und mußte längere Zeit harren, bevor ihm der Eingang gestattet wurde. Herr Bernheri, welcher im Klosterhofe vor seinen Dienstmannen saß, vernahm unwirsch die Botschaft des Grafen und entsandte den Boten mit dem Mönch Eggo sogleich zur Fulda hinab in das Kloster. Auch das Kloster war in ein Kriegslager verwandelt, am Eingang des Dorfes standen die Weiber in Haufen, sie schrien dem Kommenden entgegen, umringten sein Roß und forderten Kunde von den Gefangenen. In dem Hof der Reisigen drängten sich Kriegsleute und Knechte, das Rüsthaus war geöffnet, und die Knechte trugen Eisenhemden und Waffen zu langen Reihen. In den Arbeitshöfen schwärmten die Brüder, aus der Klausur entlassen, aufgeregt durcheinander; bei der Mauer und dem Pfahlwerk zimmerten Arbeiter an den Treppen und Bänken für die Bogenschützen, und im Vorhof der Kirche stand Tutilo, ein Schwert über der Kutte, als Hauptmann der großen Burg, welche zur Verteidigung gerüstet wurde. Unfreundlich sah er auf Immo: »Hugbald liegt gefangen. Leichter hätte das Kloster dich entbehrt als seinen Dienstmann.«

»Nicht mein ist die Schuld«, versetzte Immo, »daß Hugbald gegen die Feinde keine andere Hilfe fand als meinen Stab.«

Finster wies ihn Tutilo mit einer Handbewegung zur Seite, Immo aber eilte zu seinen Genossen, welche vor allem froh waren, daß sie heut nicht durch den neuen Lehrer in die Schule gerufen wurden.

[] Von ihnen umdrängt, berichtete Immo seine Fahrt und führte die Willigen vor das Rüsthaus, wo die älteren gewappnet wurden, um mit den Knechten die Mauer und die Umgegend des Klosters zu bewachen. Eggo aber verkündete den Mönchen, daß Herr Bernheri am nächsten Morgen herabkommen werde, um die Brüder im großen Konvent zu versammeln. Mit düsteren Mienen vernahmen die meisten die Botschaft.

Der ganze Tag verging im Getümmel; trotz der Nachricht, welche Immo gebracht hatte, sorgten die Mönche, daß der Graf einen Anlauf gegen das Kloster wagen oder daß seine Dienstmannen in Herden und Dörfer einbrechen würden. Bis zum Abend kamen von allen Seiten Flüchtlinge mit ihrer wertvollsten Habe, auch das Herdenvieh wurde herangetrieben von Anger und Weide, zuletzt kam noch der Sauhirt mit seiner Herde, und die Brüder hatten Not, die Menge der Menschen und Tiere in den Höfen zu bergen. Als die Sonne unterging, war in dem Kloster, das sonst am Feierabend so still in der Landschaft stand, ein wirres Getöse und Geschrei, die Rinder brüllten, die Schweine grunzten, die Schmiede schlugen auf die Speereisen, und die Zimmerleute hieben Balken und Bretter für die Verschanzung.

Der letzte Tag im Kloster

Im Chor der Kirche sammelte sich der Konvent; hastiger als sonst drängten die Brüder herzu, heiß die Köpfe, gefurcht die Stirnen; und ein Summen, das nichts Gutes bedeutete, ging durch die Gemeinde. Als Herr Bernheri mit seinen Begleitern in den Chor trat, blieben die Nacken der Mönche steif, und aus dem Summen wurde ein mißtönendes Geschrei. Der Abt stand einen Augenblick überrascht bei seinem Sitz und sah auf mehr als hundertundzwanzig Häupter seiner aufsässigen Kinder, aber da er von Natur ein mutiger Mann war, wenn auch ermüdet durch Müßiggang und Wohlleben, so zog er seine Augenbrauen zusammen, blickte aus seinem großen Haupt herausfordernd über den Haufen und setzte sich steif in den Abtstuhl. Die Hora begann, und der Abt selbst erhob die Stimme: »Deus in adjutorium«, aber unordentlich tönte der Gesang der Brüder, und der Lektor eilte, sosehr er konnte, versprach sich und mengte die Zeilen. Als die letzten Klänge verrauscht waren, begann wieder das unzufriedene Brummen. Da erhob sich Herr Bernheri von seinem Stuhl und stand auf seinen Krückstock gelehnt gewichtig vor den Brüdern. Er eröffnete den Konvent durch den lateinischen Gruß und fuhr mit lauter Stimme fort: »Mein ist das Recht, zu befehlen, und euer die Pflicht, zu gehorchen. Dennoch habe ich heut, wie die Regel erlaubt, die ganze Gemeinde zur [] Beratung versammelt; sorgt dafür, daß es mir nicht leid tue und daß es euch bei den Heiligen nicht zum Schaden gereiche, wenn ihr mir unbändig widersteht. Gutes und Übles habe ich euch zu verkünden. Das Gute ist von unserem Herrn, dem König Heinrich, gekommen, denn er hat uns den großen Bannwald bei St. Peter, den wir uns längst ersehnt, mildtätig geschenkt.« Der Abt hielt an, aber keinerlei Beifall dankte für die Begabung, und der Abt setzte die Rede unzufrieden fort: »Das Üble aber kommt von dem Grafen Gerhard. Sehr gröblich hat dieser das Kloster geschädigt, durch den Schüler Immo hat er unpassende Worte hierher gesandt, nämlich, daß er ein Recht auf die Waldwiesen erhalten habe, weil sein Vater im Höllenfeuer stöhne.«

Aufs neue erhob der Konvent zorniges Gebrumm; Herr Bernheri schwenkte die Hand verächtlich gegen die Worte des Grafen: »Ich kenne seit lange den argen Wicht Gerhard und seine Gewohnheiten. Immer hat er üble Traumgesichte, wenn er den Frieden brechen will. Schon vor vielen Jahren träumte ihm etwas wegen unserer Hirschjagd, die er sich begehrte; er würde alle seine Väter und Mütter auf die heißeste Bank der Hölle setzen, wenn er dadurch für sich einen weltlichen Vorteil erreichen könnte. Soviel gebe ich auf seine Träume« – er blies kräftig den Atem in die Luft. »Ich aber fürchte sehr, er selbst wird dafür in den Höllenrachen geworfen werden, obwohl er zuweilen beim Weidwerk und bei einem starken Trunk nicht schlechter war als andere. Denn wenige kenne ich unter den weltlichen Fürsten und Herren, die nicht ebenso raubgierig sind. Alle trachten darnach, viele Dienstmannen mit Lehen zu begaben, damit diese ihnen bei ihren Fehden die reisigen Knechte zuführen. Die Dienstmannen greifen das Kleine im Wald und auf der Straße und ihre Herren das Große vom Könige und der Kirche; zum Kriege sind sie nötig, aber den Frieden vermögen sie schwer zu bewahren, wenn nicht ein starker Herr sie zur Ruhe zwingt.«

Der Abt holte Atem und aufs neue tönte das dumpfe Brausen der Menge, doch war es weniger feindselig. Und Herr Bernheri hob wiederum an: »Gekränkt bin ich wie ihr alle, und wären meine Beine gesund und mein Sinn weniger gewitzigt, so würde ich vielleicht selbst den Streithengst besteigen; so aber mahnt mich die Erfahrung vieler Jahre und meine eigene Krankheit zur Vorsicht. Zuerst will ich euch verkünden, was unfehlbar geschehen wird, wenn wir gegen den Grafen rüsten. Dorfhäuser werden brennen und Männer erschlagen werden, und das Ende wird sein, daß er außer dem Raub, den er jetzt gepackt hat, sich noch größeren fordert wegen der Mühe und Kosten seiner Rüstung, und daß er uns mehr schädigt als wir ihn, denn das Kloster bedarf zum Gedeihen den Frieden, er aber den Krieg, und er vermag uns von unseren Gütern in Thüringen zu scheiden. Vor dem König aber wird er recht [] behalten und nicht wir, denn schwerlich hätte er seinen Vater in der Hölle geschaut, wenn er nicht wüßte, daß der König ihm bei den Wiesen gegen das Kloster helfen will. Darum, wie sehr ich den Grimm über seine Missetat fühle, bin ich dennoch gewillt, ihm diesmal ein wenig nachzugeben, vielleicht, daß er sich begnügt, das Land nur auf seine Lebenszeit zu behalten und bei seinem Tode dem Kloster zurückzugeben. Dies ist die Hoffnung, welche uns bleibt, denn er ist ein angefressener Stamm, und mancher Wurm nagt in seinem Holze, auch ihn ängstigen zuweilen seine Missetaten jetzt und noch mehr in der Zukunft.«

Unter hellem Geschrei der Mönche sprang Tutilo auf und rief dem Abt mit harter Stimme entgegen: »Jetzt erkennen die Brüder alle, in welchem Sinne du die Worte des Gebetes gerufen hast; ›Erlaß uns unsere Verpflichtung, wie auch wir sie erlassen unseren Verpflichteten‹, du selbst hoffst, daß du für dein eigenes Unrecht ein mildes Urteil empfangen wirst, weil du andere Verbrecher straflos dahinziehen läßt. Aber du sollst auch verstehen, was die Brüder gemeint haben, als sie laut riefen: ›Befreie uns von dem Argen‹, denn damit meinten sie nicht den Grafen Gerhard allein, sondern noch jemanden. Niemals hätte der Graf gewagt, Klostergut anzugreifen, wenn er nicht wüßte, daß solche, die zu Wächtern des Klosters gesetzt sind, selbst eigennützig mit dem Gut der Kirche schalten. Oft hast du das bewiesen; unter anderem auch neulich, als der fremde Händler starb, den wir in seiner letzten Krankheit ein Jahr lang gepflegt hatten. Denn bei seinem Tode verließ er dem heiligen Wigbert ein Kästchen mit edlen Steinen, die er aus Welschland gebracht hatte, und wir hofften, daß die Steine den Altären ein Schmuck werden sollten und außerdem vielleicht einmal jährlich den Brüdern ein frohes Liebesmahl verschaffen. Du aber hast die Steine an dich genommen und durch den Schmied in Becher schlagen lassen, die du selbst gebrauchen wirst oder auch ein anderer, wie es dir gefällt. Nicht als ein Vater, sondern als ein Tyrann herrschest du über die Gemeinde. Deinen Günstlingen gestattest du jede Unbill und dagegen versagst du den Brüdern auch die erlaubte Erquickung. So tatest du neulich, da du ein Verbot erließest, welches ich lächerlich und kindisch schelte, daß nämlich der Koch an den Fasttagen den Brüdern niemals Lebkuchen backen soll. Diese Speise war vielen eine heilsame Ergötzlichkeit, worauf sie sich durch die Woche freuten. Du aber hast dies aus Bosheit verwehrt, weil es ihnen lieb war. Antworte, wenn du vermagst, zuerst wegen der kleinen Dinge, denn noch Weiteres haben wir über dich zu klagen.«

Dieser Angriff wurde durch starkes Gebrumm der Brüder bekräftigt. Da ihnen manche Speise versagt war, so hatte das Erlaubte für die meisten um so größeren Wert, und sie dachten und [] murmelten viel über Trunk und Kost. Und Tutilo wußte, daß sie wegen dem entzogenen Gebäck ihrem Abte stärker zürnten als wegen Ärgerem.

Das Gesicht des Abtes rötete sich bei der Beschuldigung, und er rief: »Schweig mit deinen ungebührlichen Reden, sowohl aus Scham vor mir als aus Furcht vor den Heiligen. Ganz ungehörig ist, was du an geweihter Stätte über das Pfeffergebäck vorbringst. Denn jeder Verständige wird mir recht geben, daß der Pfeffer, welchen sie hineintun, für Mönche allzu hitzig ist, und weil sie die Speise stark mit Honig würzen, schmeckt ihnen nachher jeder Wein sauer und sie ziehen bei ihrem Trunk ärgerliche Gesichter. Was aber den Schatz betrifft, so habe ich allein das Recht zu erwägen, wie er dem Kloster den größten Vorteil bringt. Die Becher habe ich zum Geschenk bestimmt für solche, an deren gutem Willen das Heil des Klosters hängt, und ich selbst traure, daß es nötig ist, durch Gaben zu sühnen, was deine Untreue verbrochen hat. Denn mit Empörern verhandelst du, und du verleitest die Brüder zur Untreue gegen Herrn Heinrich, unseren König. Aber allzulange habe ich die Tücke deines Wesens ertragen, und ich bin entschlossen, mit dir zu verfahren, wie unser Vater, der heilige Benedikt, gebietet, wenn ein Präpositus von dem bösen Geiste des Hochmuts aufgeblasen wird. Mehr als viermal habe ich dich mit Worten gemahnt, jetzt naht der Tag deiner Strafe; fügen sollst du dich, oder du wirst aus dem Kloster geworfen zu einer Warnung für die anderen. Die Pforte sperre ich dir auf, du magst auslaufen, wohin du willst, und die Toren, welche dir anhängen, mit dir.«

Da erhob sich der Konvent in wilder Bewegung, die Bande der Zucht zerrissen in der Wut, welche die Seelen erfüllte. Dicht vor den heiligen Reliquien brach die Empörung aus, von ihren Sitzen sprangen die Mönche an die Stufen des Hochaltars mit heißen Gesichtern und glühenden Augen; starke Arme streckten sich und mißtönendes Geheul erfüllte die Kirche.

Aber auch im Rücken der Streitenden klang lauter Ruf, und die eiserne Gittertür, welche den Vorhof zum Hauptschiff der Kirche trennte, krachte in ihren Angeln. Denn dort hinten drängte gewaltsam ein wilder Haufe mit Leibern und Stangen. Nur wenige von den Mönchen hörten auf den Lärm, der von außen kam, doch Rigbert lief durch die Kirche nach dem Eisengitter und schrie, sich mit ausgebreiteten Armen davorstellend: »Immo, Unseliger, was wagst du? Bist du des Lebens müde, daß du mit den Ungeweihten in die Klausur brichst?«

»Wir sind nur müde vom Stehen und Harren«, rief Immo lustig hinein. »Meinst du, die Schule wird fernbleiben, wo die Mönche einander knuffen? Öffne die Tür, Rigbert, wenn du ein guter Genosse bist.«

[] »Niemals, denn es wird euer Verderben. Was willst du in der Kirche?«

»Schläge zu Ehren des heiligen Wigbert austeilen, wen es auch trifft. Wer ist in der Not?«

»Sie bedrängen den Herrn Abt.«

»Wie, das gute Weinfaß? Gesellen, wir helfen dem Abt!«

Die Schüler riefen gellenden Kampfschrei, und wieder rasselten die Stangen an dem Tor, gegen welches sich der Mönch mit seinem Leib stemmte; da griff Immo behend durch das Gitter und schob den Riegel zurück. Die Tür flog auf, und die Schüler drangen herein; allen weit voraus sprang Immo dem Chore zu. Über den Rücken zweier Mönche, die er als Bock gebrauchte, flog er wie ein Federball vor den Altar und stand allein mitten unter den Tobenden, nahe dem Abt, der das schwere Kreuz vom Altar gehoben hatte und den Aufrührern entgegenhielt, während die Brüder seiner Partei wie eine Schar gescheuchter Hühner auseinandergeflattert waren und hinter dem Altar und den Stühlen Schutz suchten.

»Hara!« rief der wilde Immo, »zu Hilfe dem Herrn Abt. Komm heran, Dekan Tutilo, damit ich dich lehre, deinem Abt den Fuß zu küssen.«

Die Mönche wichen beim Anblick des Jünglings zurück, der, mit drohender Gebärde einen Eisenstab schwingend, vor ihnen stand. Der allgemeine Zorn wandte sich gegen den Einbrecher. »Hinaus mit dem Frevler!« schrien viele Stimmen. »Die Klausur ist gebrochen, geißelt den Missetäter!« Ein Mönch sprang hinter den Altar und riß die Geißel, welche dort für die Mönchsbuße lag, aus dem Kasten; von Hand zu Hand ging die blutbesprengte, Tutilo packte sie und stürzte damit auf den Schüler los. Aber im Nu lag der starke Mann von einem Schlage getroffen am Boden, Immo hob die Geißel über ihn und rief: »Das sei dein Lohn, bellender Hund!« So schnell war die Tat, so unerwartet der Frevel und so wild schlug der trotzige Jüngling, dessen Kraft die Brüder wohl kannten, daß alle einen Augenblick starr standen und dem Getöse plötzliche Stille folgte. Aber gleich darauf erhob sich wieder das Getümmel und Geschrei: »Zu Boden mit dem Bösewicht, werft ihn in den Kerker, bindet ihn auf das Kreuz!« Während sich so die Anhänger des Tutilo zum Angriff anfeuerten und Immo mit flammenden Augen gegen sie die Stange hob, da geschah, was allen unerhört war: die beiden Alten Bertram und Sintram warfen sich zwischen den Haufen gegeneinander auf die Knie und baten zu gleicher Zeit und mit denselben Worten einer den anderen um Verzeihung. Denn als der Kampfzorn die Brüder ergriff und zwiespältig schied, da hatte sich zum erstenmal ereignet, daß die beiden nicht derselben Meinung waren, und Bertram hatte auf der Seite des Abtes, Sintram aber auf der des Tutilo die Faust geballt. Und [] als sie nun beide zu gleicher Zeit sahen, daß sie einander mit der drohenden Faust gegenüberstanden, hatte jeder sich über sein eigenes Unrecht entsetzt, und sie baten mit Tränen einander ab und umarmten sich, während sie auf den Knien lagen. Als der empörte Haufe die Greise am Boden sah, wurde ihm der Anblick unheimlich, einige von den Rohesten lachten, aber die Mehrzahl fuhr entsetzt zurück. In diesem Augenblick sprang Reinhard auf die Stufen des Altars und rief, die Arme erhebend: »Herr, gehe nicht ins Gericht mit uns Sündern! Kniet nieder, ihr Brüder, und flehet um die Vergebung der Heiligen. Nicht durch Geschrei wird der Schaden des heiligen Wigbert geheilt; ihr seht selbst: wie ihr euch gegen den Vater des Klosters, so empört sich Bruder gegen Bruder und die ruchlose Jugend gegen euch alle. Eure Feindschaft stärkt nur die Feinde draußen. Wollt ihr euch helfen, so rate ich, daß heut nicht in der Menge verhandelt wird, was zum Frieden des Klosters dient, sondern daß die Dekane und die Alten sich mit unserem Herrn Bernheri in friedlicher Beratung vereinen. Du aber, Jüngling, wirf die Geißel weg, mit der du an heiliger Stätte gefrevelt hast, und erwarte in Demut die Strafe, welche die Brüder dem Verbrecher finden.«

Die Geißel fiel zur Erde neben Tutilo, welcher ächzend auf dem Boden saß und betäubt seinen Kopf auf die Hand stützte. Immo starrte wild umher. Da er merkte, daß er allein war und daß seine Genossen sich in den Ecken und hinter den Säulen zu bergen suchten, trat er an den Stuhl des Abtes zurück, aber seine Augen flogen herausfordernd über den Haufen. Herr Bernheri begann zornig: »Nicht die Geweihten des Herrn sehe ich vor mir, sondern eine Herde wilder Eber, welche begierig ist, die eigenen Ferkel zu fressen. Ich aber verachte euer Grunzen und das Schnauben eurer ungewaschenen Rüssel, denn, wie sagt der hohe Apostel: ›Sie wandeln dahin in ihrer Dummheit.‹ Was aber hier Reinhard, der würdige Bruder, vorschlägt, das gefällt auch mir. Mit den Dekanen und mit den Ergrauten, welche nicht Häcksel in ihrem Kopf haben, gedenke ich in späterer Stunde die Leiden des Klosters zu erwägen, bis dahin mögen sie selbst in der Stille prüfen, ob sie eine Hilfe finden. Denn auch der Esel schreit laut, wenn er müßig steht, wenn er aber die Säcke tragen muß, so schweigt er geduldig. Sie sollen auch einmal die Last tragen, ich bin es müde, allein für euch grobe Klötze Rat zu suchen, wo es keinen gibt. Und so scheide ich jetzt den Konvent, wandelt bis morgen dahin in Frieden. Ich aber verweile hier in meinem Hofe, damit niemand meint, daß ich den Unzufriedenen das Feld räume. Bestelle, was not tut, mein Kämmerer Eggo, und diesen behenden Springer nimm mit dir. Nie sah ich einen Scholastikus so wild auf geschorenen Köpfen zum Altar reiten.« Der Abt wandte sich schwerfällig zum Altar und neigte sich.

[] Reinhard eilte zu den Brüdern und sprach nachdrücklich in die ältesten hinein, doch mürrischer Widerspruch erhob sich und laute Stimmen riefen: »Der Schüler gehört in unseren Kerker, denn er hat gegen einen Mönch gefrevelt.« Der Abt wandte sich wieder dem Haufen zu: »Der Scholastikus gehört unter die Zucht des Lehrers Reinhard, dem Reinhard aber gebiete ich, mir zu folgen, denn ich bedarf seiner, damit ich ihn, wenn es not tut, zu euch sende.« Herr Bernheri stieg langsam vom Altar, warf noch einen verachtenden Blick auf die empörte Gemeinde und schritt unaufgehalten durch seinen Ausgang nach dem Abtshofe. Um ihn drängten sich die Getreuen von St. Peter, sein Kämmerer hielt den Jüngling, welcher friedlich folgte, bei der Schulter; als letzter ging Reinhard.

Hinter dem Abte brauste noch lange die wogende Menge, die erste Wut war verraucht, aber bitterer Groll zurückgeblieben. Tutilo wurde von zwei Brüdern in die Klausur geführt, wo er sich erst erholte, nachdem der Kellermeister einen Krug Würzwein in seine Zelle gestellt hatte. Neben dem Kruge saßen einige alte Brüder, den Kranken zu pflegen; sie prüften und billigten den Trunk und zürnten, obgleich sie mit gedämpfter Stimme sprachen, heftig auf mehrere, welche abwesend waren.

Unterdes stand Immo in der Büßerzelle der Abtei, ein Bruder von St. Peter, der ihm fremd war, hatte ihm ein Bund Stroh hineingebracht und einen Krug mit Trinkwasser, ohne ein Wort zu sprechen, und Immo, der den Klosterbrauch kannte, hatte auch keine Frage getan, um sich nicht über die versagte Antwort zu ärgern. Einen Augenblick dachte er daran, den Bruder festzuhalten und an seiner Stelle hinauszuspringen, aber mit leisem Stöhnen gab er den Gedanken auf, denn er wußte wohl, daß das Haus des Abtes von Reisigen besetzt und keine Möglichkeit zur Flucht war. Er untersuchte seinen Kerker, doch dieser bot geringen Trost, er war nicht in freier Höhe gezimmert und kein Dach erhob sich über ihm, es war ein Kellerloch, nicht viel länger als ein Mann, und die kleine Lichtöffnung vermochte kein Geschöpf, das größer war als eine Katze, zu durchklettern. So blieb ihm nichts übrig, als auf dem Stroh zu sitzen und die finstern Gedanken wegzuscheuchen, welche wie Fledermäuse um sein Haupt schwirrten. Lange tröstete ihn ein wenig die Überlegung, daß er den Tutilo, der immer herrisch gegen ihn gewesen war, so schön zu Boden geschlagen hatte. Er griff nach dem Pergament mit dem Goldfaden und wiederholte sich die Worte, welche Hildegard zu ihm gesprochen hatte, aber dabei wurde der Gedanke in ihm übermächtig, daß er jetzt zum zweitenmal als Gefangener in elendem Kerker saß. Als gar der Abend kam und der Hunger stark in ihm nagte, wurde ihm frostig zumute, und ihm fiel ein, daß seine Zelle für eine furchtbare Stätte galt. Manche Geschlechter vergangener Mönche hatten hier jahrelang gebüßt und [] in Kreuzesform dagelegen, während die Geißel über ihren Rücken flog und ihr Blut auf den schwarzen Boden rann. Unheimliche Geschichten erzählten die Schüler von der Not der Frevler, welche der Abt gefesselt hielt, und wer in der Dämmerung an der Zelle vorübergehen mußte, der wandte das Haupt ab und beeilte den Schritt. Daß Tutilo und seine Genossen ihm todfeind geworden waren, erkannte er jetzt deutlich, und ihm kam auch vor, als könnte er wohl das Sühneopfer werden, über dessen Leib der Abt mit den Mönchen Frieden mache. Wild sah er umher und griff im letzten Zwielicht an die Wände; es waren dicke Mauern, hier und da hatte ein Büßer sein Kreuz in den Kalk geritzt, um davor zu beten. Da neigte auch er das Haupt und begann einen lateinischen Psalter, aber unter den heiligen Worten kam ihm die Angst, was wohl die Apostel Simon und Thaddäus, vor deren Gebeinen er den Tutilo niedergeworfen hatte, von seinem Tun denken würden. Er konnte nicht glauben, daß Tutilo als ein arger Mann in Gunst bei den Hohen stehe, aber ob sie besonderes Wohlwollen für ihn selbst hegen könnten, erschien ihm sehr zweifelhaft, denn sicher hatte er eine schwere Tat begangen und ihr Heiligtum entweiht. Da faltete er die Hände und bat den heiligen Wigbert, sein Fürsprecher zu werden. Dieser war ihm immer hold erschienen, und am liebsten hatte er vor seinem Altar gebetet, denn er dachte sich, daß der Heilige auf Erden ein guter Geselle seines Ahnherrn gewesen und seit alter Zeit dem Geschlechte vertraulich war. So bat er jetzt demütig um seine Hilfe. Und als er an die Heimat dachte, wurde ihm das Herz weich.

Aber stürmisch hoben sich wieder die Gedanken. Wenn er die Eisenstange nur hätte, die er heute früh geschwungen, dann könnte er wohl die Tür erbrechen. Und er stampfte mit dem Fuß auf den Boden, ob es irgendwo hohl klänge. Denn aus der Tiefe der Erde kam geheimnisvoll die Fülle aller guten Dinge, nicht nur die Landleute, die noch Heidenbrauch übten, auch die Mönche wußten das. Vielen Goldschatz barg die Mutter Erde, aber auch anderes Metall schenkte sie aus ihrem Vorrat den Bedrängten. Warum sollte nicht auch er in seiner Not eine Waffe aus der Erde graben, die ihn von der drohenden Schmach erlöste. Er griff und stieß wieder an Wänden und Boden umher, aber nirgends erkannte er hartes Eisen. Und er faltete aufs neue die Hände und kauerte auf dem Stroh.

Während er demütig in der Finsternis saß, vernahm er von außen langsame Tritte, ein Lichtstrahl fiel durch das Eisenschloß golden in die Zelle, ein Schlüssel knarrte, die Tür ging ächzend auf, und ein Mann trat schwerfällig herein und beleuchtete vom Eingange mit seiner Blendlaterne den Sitzenden. Immo schnellte empor, er erkannte Bernheri, seinen Abt und Herrn. »Stemme dich von außen gegen die Tür, Eggo«, begann der Abt, nach rückwärts gewandt, »damit der Scholastikus Saliarius nicht auf den Einfall [] komme, uns selbst als Springböcke zu gebrauchen oder gar in unserem eigenen Keller einzuschließen.« Immo ließ sich auf die Knie nieder und senkte schweigend das Haupt, suchte aber doch durch verstohlene Blicke die Meinung des Herrn zu erraten.

»Sieh, Immo«, fuhr der Abt feierlich fort, auf den Gebeugten herabblickend, »du bist zum Greuel geworden vor allem Volke, und die Töchter Israels schreien wehe über dich; welches aber nur tropice gemeint ist, denn ich hoffe, daß du Unglücksvogel dich in Wirklichkeit von jüdischen Weibern stets ferngehalten hast, zumal keine in der Nähe des Klosters zu finden sind. Aber was die Schrift sagt, das gilt jetzt von dir: ›Aus der Tiefe schreie ich und niemand hört meine Stimme.‹ Ganz verworfen bist du, und die hohen Engel würden dich mit zahllosen Backenstreichen begaben, nur daß solche Regung der Hände für Himmlische unschicklich ist. Was dich erwartet, weißt du. An ein Kreuzholz wirst du gebunden und so lange gegeißelt, bis dein Vater Tutilo für dich bittet; ich meine, er wird sich nicht beeilen. Und später wirst du auf Stroh gelegt in der Klausur der Brüder, wo nicht Sonne noch Mond dich bescheinen. Solches sind die Folgen deiner Springerei und deines nächtlichen Dachkletterns. Meinst du, daß ich nicht weiß, wer mir die Böcke bei Mondschein aus dem Walde holt. Item, das sind die Folgen deines Abtspiels am Feste der unschuldigen Kindlein. Meinst du, daß mir unbekannt ist, wie du dir damals in der Schule ein Kissen unter deine Kutte gebunden hast, um deinen hageren Leib gleichsam zum Hohn für mich mit einem Bauch zu versehen? Je mehr ich deine Art erwäge, desto mehr Sünde finde ich in dir und erkenne, daß du zu denen gehörst, von denen geschrieben steht: ›Sie sollen vertilgt werden wie Spreu.‹ Erkenne deine Missetat und bereue, denn es bleibt dir nicht viel Zeit. Auch der Floh springt nur so lange, bis er geknickt wird.«

Immo schauerte. Doch nicht ohne Nutzen war er sechs Jahre im Kloster gewesen, und er hatte ein wenig die Mönchskunst gelernt, die Miene des anderen zu beobachten und vorsichtig die Worte zurückzuhalten. Darum antwortete er demütig: »Mein Herr und Vater, mich reut nicht, daß ich so geschwind war, solange den Tutilo nicht reut, daß er die Hand gegen seinen Herrn erhoben hat.«

»Ich merke«, rief Herr Bernheri, »du hoffst, daß ich in dieses Loch herabgestiegen bin, um dich daraus emporzuheben. Darin irrst du gänzlich. Da ich Abt der Brüder bin, so fordert meine Würde, deine Missetat zu strafen, wenn diese auch in guter Meinung für mich verübt wurde. Denn sobald der Morgen anbricht, werden viele das Urteil über dich fordern. Heut aber denke ich daran, daß du aus altem Geschlechte bist und daß auch ich einst mich meiner Abkunft rühmte, bevor ich mich einem Herrn gelobte, vor dem alle gleich sind, Freie und Unfreie. Darum komme ich zu dir. Hast du [] das Gitter der Kirche gebrochen, so vermagst du vielleicht auch diese Tür zu öffnen und hinauszufahren, ohne daß dich jemand sieht, du bist ja gewöhnt, die Pfade eines Marders zu wandern.« Aus dem Faltengewand des Abtes sank ein eisernes Werkzeug auf den Boden. Immo schnellte in die Höhe und seine Augen glänzten, aber er faßte sich und antwortete: »Mein Herr möge mir verzeihen, wenn ich nicht wie ein Dieb ausbrechen will. Wohin soll ich fliehen? In den Hof meiner Väter vermag ich nicht zurückzukehren, wenn ich als Verbrecher dem Wigbert entweiche, denn schnell würden die Väter den flüchtigen Schüler zurückfordern vor ihr Gericht.«

»Sprichst du so stolz, du Tor«, rief der Abt, »ich meine, jede Stelle, wo der Himmel dich deckt oder das Laub dich verbirgt, wird für dich lustiger sein als die Mauersteine dieses Kerkers.«

Immo ließ sich wieder vor dem Abt auf die Knie nieder. »Dennoch flehe ich, daß mein Herr mir ehrlichen Urlaub gibt und mich als Freien entsendet.«

»Mit einem Gefolge von Zinken und Posaunen«, versetzte der Abt unwillig, »ganz toll bist du in weltlichem Hochmut. Und welche Herrlichkeit der Erde gedenkst du für dich zu begehren, wenn du den Klostermauern entweichst?«

»Ein Schwert will ich finden und ein Roß; denn, hochwürdiger Vater, ein Kriegsmann will ich sein und kein Mönch.«

»Wirst du ein Mönch, so wird bald der üble Teufel dein Abt werden, und wirst du ein Kriegsmann, so wirst du einer von den Wölfen, welche um St. Wigberts Stall heulen, bis sie dir auf grüner Heide ein Bett schaufeln.«

»Herr«, versetzte Immo flehend, »zu deinen Füßen will ich geloben, daß ich in allen meinen Tagen daran denken werde, wie ich an dir einen gütigen Vater fand.«

»Bin ich eine Dirne, daß du mich mit Verheißungen und mit schönen Worten bereden willst? Außerdem ziemt mir nicht, an diesem kalten Ort der Buße von weltlichen Dingen zu reden. Und deshalb frage ich dich zum letztenmal, ob du lieber die Geißel wählst oder eine zerbrochene Tür.«

»Nicht die Geißel will ich und nicht die heimliche Flucht. Um gnädige Entlassung flehe ich zu meinem Herrn, damit ich mein Haupt hoch tragen kann unter meinesgleichen.«

»Einem nimmersatten Windhunde gleichst du«, versetzte Herr Bernheri, »und ärgerlich willst du mir werden.« Aber er sah dabei mit Wohlgefallen auf den Jüngling. »Ich schließe dich wieder ein. Bleibe auf den Knien und sprich den 37. Psalm, wo er lautet: ›Miser factus sum et curvatus‹, wenn du die Worte vermagst, was ich dir nicht zutraue. Und dabei harre auf die Heiligen, ob sie sich deiner erbarmen.« Der Abt wandte sich ab, Immo faßte ihm nach dem Gewand, aber Herr Bernheri entzog sich eilig, der Riegel fuhr in [] das Schloß, und Immo war allein in tiefer Finsternis. Er griff nach dem Eisen und preßte die Hand darum, wild stürmten ihm die Gedanken durch die Seele, Sorge und Hoffnung, dennoch hielt er jetzt das Gerät in der Hand, welches seine letzte Hilfe sein konnte. Wie durch ein Wunder war ihm auf den Boden gelegt, was er von den Gewaltigen, die unter der Erde hausten, ersehnt hatte. Brachte die Nacht keine andere Hilfe, so konnte er diese gebrauchen. Er stand in der Finsternis und horchte auf jedes Geräusch, das von außen kam.

Nicht lange, so vernahm er wieder Tritte und sah einen Lichtstrahl, der Riegel rasselte, und der Mönch Eggo winkte ihm zu folgen. Leise gingen beide die Stufen hinauf; ein großer Raum, in den sie traten, war undeutlich erhellt durch die glimmenden Holzkloben im Kamin. Auf Bänken an der Wand und auf dem Boden lagen Reisige des Abtes in tiefem Schlaf. Wieder mahnte ein Zeichen des Mönchs zur Vorsicht, er öffnete eine eisenbeschlagene niedrige Tür und führte eine Wendeltreppe hinauf. Als Immo aus der Tiefe emportauchte, stand er in einem kleinen Zimmer, dessen Wände zierlich mit dunklem Holz getäfelt waren.

Auf dem Tisch stand eine metallene Lampe, deren rötliche Flamme im Luftzuge flackerte und rauchte; Eggo trug eine Wolldecke herzu, legte sie auf den Boden und flüsterte: »Rühre dich nicht und schlafe, wenn du vermagst.« Gehorsam setzte sich Immo auf die Dielen, und als er zur Seite blickte, sah er den Mönch wie einen Schatten an der Wand dahingleiten und hinter einem Teppich verschwinden. Er starrte in den dämmrigen Raum, auf die dunklen Bretterwände, an denen die Hirschgeweihe sich im lodernden Lichte bewegten, und auf die Waffen in den Ecken, deren Metall bald hell erglänzte, bald in Finsternis schwand. Aber das Herz war ihm leicht geworden, denn er erkannte wohl, daß Herr Bernheri ihn nicht für die Rache des Tutilo aufbewahren wollte; er schloß die müden Augen und entschlief.

So mochte er lange gelegen haben, da erwachte er von einer leisen Berührung, er fuhr auf und blickte erstaunt um sich. Noch war es Nacht, die Lampe brannte trüber, über den Waldhügeln lag der graue Dämmerschein des nahen Morgens, und an seinem Lager erkannte er eine dunkle Gestalt. Erschrocken hob er den Leib und stützte sich auf die abgewandte Hand. Neben ihm saß der fremde Mönch, der als Lehrer in das Kloster gekommen war. Immo wollte aufspringen, aber Reinhard drängte ihn durch eine Bewegung zurück. »Sitze an meiner Seite, Immo, und öffne dein Ohr, damit eine leise Mahnung in deine Seele falle. Höre mich mit Vertrauen, wenn ich dir auch noch fremd bin, denn nicht als dein Kerkermeister, sondern wie ein Freund will ich zu dir reden, und von deiner Heimat will ich dir Gutes verkünden. Frau Edith sendet dir ihren Muttersegen: Sage meinem Sohn, sprach sie, jeden Abend und jeden [] Morgen flehe ich zu den Heiligen, daß sie ihm das Siegestor öffnen. Schwer wird der Mutter, das Angesicht des Sohnes zu missen, auch darum hoffe ich, daß die Himmlischen das Opfer gnädig annehmen.«

Immo senkte das Haupt, erweicht durch den Gedanken an die Heimat. Reinhard fuhr fort: »Schon in der nächsten Zukunft hätte ich dir die Pforte des Klosters geöffnet, damit du unter den Kindern der Welt dem Herrn dienest. Aber dein frecher Mut hat dich schuldig gemacht, schwerer Strafe bist du verfallen. Darum komme ich, um mit dir zu erwägen, wie du dich rettest.«

Immo neigte sich über die Hand des Lehrers und sprach demütig: »Kannst du mir helfen, Vater, so flehe ich, verlaß mich nicht.«

»Eine Rettung weiß ich«, fuhr Reinhard fort, »die seligste von allen: demütige dich selbst, Immo, vor dem Altar und trage geduldig die Folgen deiner Untat. Ein Weltgeistlicher solltest du werden, wähle das Mönchsgewand und gelobe dich dem heiligen Wigbert. Das ist die Buße, welche dir alle hohen Fürsten des Himmels geneigt macht und ebenso die Herzen der Brüder im Kloster.«

Immo sprang auf, seine Hände ballten sich, und zornig rief er: »Meinst du, daß ich als büßender Mönch vor dem Altar liegen und daß Tutilo die Geißel über mir schwingen soll, wie ich sie heut über ihm schwang?«

»Fürchtest du die Geißel des Tutilo, dann denke lieber daran, daß du jetzt unter seiner Faust stehst und daß ihm morgen die Brüder die Rache geben werden, die er an deinem Leibe zu fordern hat.«

»Nimmer schwingt er die Peitsche über mir, während ich atme«, schrie Immo. »Wenn sie mich zur Verzweiflung treiben, so sollen sie einen Verzweifelten finden. Vor dem Altar töte ich ihn und jeden, der mich anzugreifen wagt; von der Klostermauer springe ich, vom Turm stürze ich mich, und Feuer lege ich in das Haus der Mönche. Wenig liegt mir an dem Leben eines Hundes, und ich werfe es von mir, wie ich dieses Gewand von mir schleudere, wenn ich ein anderes auf meinem Wege finde.«

»Wie ein Heilloser schreist du«, versetzte Reinhard, »Tutilo sprach nicht unrecht, als er dich mit einer wilden Katze verglich.«

»Tat er das«, rief Immo, »so freut's mich, daß er die Krallen gefühlt hat.«

»Dennoch rate ich dir, mein Sohn, daß du dich noch einmal an meine Seite setzest, wenn du deine Wut zu bändigen vermagst. Wehre mir nicht, dir zu raten, weil dies eine, die dir lieb ist, von mir erbat.«

Immo ging langsam zu seinem Lager zurück, setzte sich zu den Füßen des Mönchs und stützte sein heißes Haupt in die Hand.

»Wundere dich nicht, Immo, wenn ich dich einlade, zu werden, was ich selbst bin. Denn auch ich habe mich von Vater und Mutter [] geschieden, und ich habe die Rosse und Hufe, die mein Erbteil sein sollten, den Heiligen dargebracht, weil ich um meiner Seele Heil bebte und lieber die Gnade des Herrn wählte als die vergänglichen Freuden dieser Welt. Auch ich entsage und gehorche und wandere wie ein Fremdling durch die Welt. Ob der Frost den Leib bedrängt, der Hunger quält und Gefahren drohen, gleichgültig und verächtlich ist mir das alles in den Stunden seliger Freude. Nicht Liebe des Weibes, nicht das Lied des Sängers, welches den Helden ehrt, schaffen solches Glück, wie die Heiterkeit ist, die ich im Herzen trage, wenn ich zu den Füßen des Herrn liege, dem ich mich als Knecht gelobt habe. Darum möchte ich deine Seele und die Seelen aller, welche mir vertraut werden, den Greueln der Welt entreißen und den Handgriffen des üblen Teufels.«

Immo schwieg nachdenkend. »Vater«, sprach er, »beantworte mir eine Frage, die ich unwissend tue. Wenn es dir und anderen frommen Männern nun gelänge, alle Christen auf deinen Weg zu leiten und wenn alle zu Mönchen und Nonnen würden, verzeih, Vater, aber ich meine, dann wird es an Kindern fehlen.«

»Ob du arglos sprichst oder ob du mich durch gewundene Rede versuchen willst, du sollst die Verkündigung hören«, versetzte Reinhard feierlich. »Käme diese selige Zeit, die, wie du selbst weißt, noch weit entfernt ist, dann wird sich der Himmel auftun, und der Herr wird mit den himmlischen Heerscharen heranziehen zum Gericht; aus der alten Welt des Jammers und der Sünde wird eine neue erstehen, in welcher die Seligen im Lichtglanz dahinwandeln.«

Immo sah bei dem rötlichen Schein der Lampe, wie das Auge des Mönchs leuchtete und seine Hände sich unwillkürlich zum Gebet schlossen. »Du selbst weißt, mein Vater«, begann er bittend, »daß der gute Gott den Vögeln ungleichen Gesang gegeben hat. So hat er auch den Menschen verschiedene Gaben ausgeteilt, als er in den Erdgarten kam, um die Kinder durch seine Geschenke zu ehren. Ich aber möchte den Gaben vertrauen, die ich an mir erkenne.«

»Mit guten Sinnen sprichst du, Immo«, versetzte Reinhard, »und verwundert höre ich, wie klug du die Worte setzest. Auch dies ist eine Gabe, die der Herr solchen verliehen hat, die er für seinen Dienst bestimmt.«

»Nicht zum erstenmal füge ich die Worte in dieser Sache«, versetzte Immo, »denn oft haben Väter des Klosters, die mir günstig waren, ähnlich zu mir gesprochen wie du. Wisse, Vater, da du so gutherzig mit mir redest, zu lange weile ich schon im Kloster, und ich bin seiner herzlich müde. Wenn ich auf dem Roß sprenge, bin ich glücklicher als zu Fuß, und, Vater, als ich gegen die Reiter des Grafen ritt, um den Hugbald herauszuziehen, da war mir so fröhlich zumut, wie nach deinen Worten dir bei dem Altare. Daran erkenne ich, daß ich nicht gemacht bin, Mönch zu werden.«

[] »Und doch, Immo«, entgegnete Reinhard, »sollen alle Menschen in jenem Leben teilhaftig werden der Gemeinschaft der Heiligen.«

»Und meinst du, Vater, daß man in der großen Halle des himmlischen Königs nur Ehre erlangen kann, wenn man den Freuden dieser Welt gänzlich entsagt und als Mönch oder Nonne betet?«

»Wie magst du zweifeln«, entgegnete Reinhard eifrig, »da es verkündet ist. Weißt du nicht, daß geschrieben steht: wer sich erniedrigt, der soll erhöhet werden? Wer lebt demütiger als der Mönch? Schwer ist's, in den Freuden der Welt dem Herrn wohlgefällig zu bleiben, und die liebsten Genossen des Himmelsherrn werden nur die sein, welche hier entsagen und büßen.«

»Wahrlich, Vater«, rief Immo, »wenn es in der Himmelsburg so ist, wie du verkündest, daß die Mönche und Nonnen vor den anderen an der Herrenbank sitzen, dann will ich in den Pferdestall, wo die Rosse des Engels Michael stehen und anderer schneller Boten, denn lieber will ich dort die Pferde striegeln und die Steigbügel halten, als ewig den Kopf neigen und in das Ohr wispern und nach der Miene des Präpositus und der Dekane sehen, wie hier die Mönche tun.«

Dem Mönch empörte sich das Herz, aber er antwortete ruhig; »Zuchtlose Worte vernehme ich in den Mauern des Klosters; sonst hört man sie nur auf den Burgen der Gewappneten, welche eilig sind, Menschenblut zu vergießen. Deine Rede ist heillos auch für einen Weltgeistlichen, wenn du ein Kanonikus zu Erfurt wirst, wie dein Geschlecht will.«

»Verleidet ist mir das weiße Gewand, wie die wollene Kutte«, rief Immo, »und verhaßt auch der Sitz im Chore von Erfurt.«

»Zu dem Grunde, auf welchem dein Geschlecht haust, gehört die Mühlburg. Diese Burg wollen deine Verwandten dem Erzbischof zu Mainz, der dem Stift in Erfurt gebietet, übergeben, damit du als Kanonikus ausgestattet werdest, wie Brauch ist.«

Wieder fuhr Immo in die Höhe. »Um meinetwillen soll mein Geschlecht verzichten auf den festen Sitz, der unsere Ehre war. Mehrmals flüchtete der Vater, wenn der Grenzkrieg entbrannte, die Rosse und Rinder und unsere ganze Habe in den sicheren Bau, und ich und meine Brüder sprangen auf den Mauern und kletterten in den Schluchten. Ein Ahn von mir hat, wie du wissen wirst, den Berg, auf dem die Wigbertleute die Wassenburg gebaut haben, dem Kloster geschenkt, jetzt soll auch die zweite Burgstätte dahin schwinden um meinetwillen! Jammervoll ist mir zu sehen, wie unser Erbe weggegeben wird, damit die Geschorenen in den Wäldern gebieten, wo sonst unser Jagdruf erklang. Wehe mir, daß ich niemanden habe, der meine Klage anhört, als einen landlosen Mönch.«

»Vermagst du noch einmal den Rat des Landlosen anzuhören«, antwortete Reinhard, sich erhebend, »so vernimm, was ich dir [] ungern sage und nur, weil es mir befohlen ward, was aber für deinen weltlichen Sinn die letzte Hilfe sein kann in der Not, welche dich bedrängt. Merke wohl, Immo, du kannst frei von hier ziehen, wohin dich dein Gelüst treibt, ein Kriegsmann magst du werden, der auf die Mühlburg sein Gemahl heimführt und unter den Edlen von Thüringen im Heergewand reitet.«

»Sage mir, Vater, was soll ich tun, damit ich dies Glück erreiche?«

»Gelobe, bevor du scheidest, Burg und Berg deinem Herrn Bernheri in die Hand zu geben, damit du sie als Lehn für dich und dein Geschlecht zurückerhältst. Nützen wirst du dem Kloster auch als Lehnsmann und Vogt, der für das Kloster sorgt, wie ja viele aus den edelsten Geschlechtern tun, um den Heiligen zu gefallen. Gelobst du dies, so vermag der Abt dich zu schützen gegen jeden Feind, den du hier und anderswo hast; denn auch so dienst du den Heiligen, und du weißt ja selbst, es ist leichter Dienst, den sie dir auflegen.«

Immo stand betroffen. Der Weg, welchen ihm der Mönch wies, bot vieles, wonach sein Herz sich sehnte, er wußte recht gut, wie stolz das Kloster auf seine Burgen war und daß er als Lehnsmann des Klosters den Wigbertleuten wertvoller wurde wie als Mönch. Dennoch empörte sich sein stolzes Herz bei dem Gedanken, als Dienender den Schild zu tragen. Er schwieg und starrte vor sich hin.

Reinhard, der den Kampf des Jünglings beobachtete, fuhr fort: »Einer deiner Ahnen starb in der Heidenzeit unter dem Schildrand für die heilige Kirche. Wie darf sein Enkel zaudern? Dienstmann der Heiligen wurde jener im Tode, du aber sollst in demselben Dienste mit Ehren leben.«

Immo fuhr zusammen, denn bei der Rede des Mönchs vernahm er noch eine andere Stimme, und neben dem hageren Antlitz des Lehrers sah er das rundliche Gesicht und das herzliche Lächeln des Greises Bertram, und in ihm klangen die Worte, welche ihm übergeben waren: »Birg nie in fremder Hand, was du allein zu halten vermagst, wenig frommt dem Manne zu dienen, wo er gebieten könnte.« Da sprach er: »Ich höre eine Mahnung in meinem Innern, daß ich deinem Rat nicht vertrauen soll, und ich will nicht.«

»Eine Waise bist du, ohne Freundschaft stehst du hier, dein eigenes Geschlecht ist deinen weltlichen Wünschen zuwider; St. Wigbert aber vermag dich zu schützen wie ein Vater, und keinen erlauchteren Herrn kannst du wählen als den hohen Heiligen.«

»Ich will nicht dienen«, antwortete der Jüngling; die Lippen schlossen sich fest, und er sah in seinem Trotz aus wie ein älterer Mann.

»Nur kurz ist die Zeit, die zum Widerstande bleibt«, mahnte Reinhard, nach dem Fenster deutend, »sieh diesen Docht, welcher verglimmt, und den Morgen, welcher aufsteigt.«

[] »Und ich will nicht und will nicht«, antwortete Immo tonlos.

Reinhard wandte sich traurig ab: »Fruchtlos ist die Mühe, dir durch Worte den trotzigen Sinn zu wandeln. Dennoch bleibst du ein Kind meiner Sorgen, und käme der Tag, wo du gute Meinung für dich begehrst, so wisse Immo, daß du sie bei mir findest.« Er hob die Hand zum Segensgruß und verließ das Zimmer.

Immo sah ihm nach und dachte: ob dieser so ist, wie Sintram sprach, daß er treulich für mich beten wird? und er schüttelte das Haupt. Er warf sich auf sein hartes Lager zurück, aber die Gedanken fuhren ihm stürmisch durch das Haupt, und er mußte immer wieder nach dem Himmel sehen, der im Osten sich rötete.

Da öffnete sich die Seitentür, und Herr Bernheri selbst trat herein, hinter ihm Eggo mit einer großen Kerze in kupfernem Leuchter. Immo fuhr in die Höhe und neigte das Haupt vor dem Gebieter. Mürrisch begann der Abt: »Da seht den Nestling aus den Waldhecken; aber störrisch ist er wie ein junger Geier, und Reinhard hat sich vergebens bemüht, ihm die Kappe umzulegen. Obwohl ich im voraus gesagt habe, daß von dir nicht viel Gutes zu erwarten ist. Ganz unlieb ist mir deine Widerspenstigkeit, und ich täte am klügsten, dich gänzlich deinem Schicksal zu überlassen, welches wahrscheinlich jämmerlich sein wird.«

Immo schwieg, aber das Herz hämmerte ihm in der Brust. Herr Bernheri ging schwerfällig auf und ab, an seinen zwinkernden Augen und der gesträubten Haarkrone konnte man erkennen, daß er sich erst vor kurzem vom Lager erhoben hatte. »Bringe mir einen Becher mit gewürztem Wein, Eggo, und stelle ihn hier auf den Tisch. Mit dir aber, du springender Scholastikus, will ich ein Ende machen auf meine Weise, und es soll mich nicht kümmern, ob sie dir oder anderen mißfällt.« Wieder ging er nachdenkend auf und ab. »Setze dich an das Pult, nimm die Schreibtafel und den Griffel und laß mich erkennen, ob du etwas von der Kunst der schwarzen Buchstaben gelernt hast.«

Immos Hand bebte, und seltsam erschien ihm in dieser Stunde die Forderung des Abtes, aber er setzte sich gehorsam und fragte: »Welchen Duktus befiehlt mein Herr?«

»Vermagst du«, fuhr der Abt überlegend fort, »in lesbarem Latein einen Brief zu schreiben? Verfertige zur Stelle etwas Passendes an mich, damit ich dich prüfe. Schreibe also, daß du wegen des Fastens und deiner Körperschwäche einen Trunk Wein ersehnst und mich darum anflehst.«

Immo überlegte. Endlich begann er mit geröteten Wangen die Arbeit, welche einige Zeit in Anspruch nahm. Unterdes trug auch Eggo ein Schreibpult herzu und schrieb nieder, was der Abt ihm leise gebot. Es war darüber zwischen beiden ernste Beratung, und Immo sorgte, daß sie gar nicht zu Ende gehen würde. Endlich [] wandte sich der Abt um und sah den Scholastikus, welcher mit der Tafel zur Seite stand. Der Herr streckte die Hand danach aus und hob sich, um dem Licht näher zu sein. »Wie?« sagte er, »du hast dich sogar getraut, einen Vers einzuflechten? Bibere si vis vinum, scribere debes latinum Willst du trinken Wein, mußt du schreiben Latein.. Ist auch der Vers nur rhythmice und nicht metrice gestellt, so hast du dir damit doch den Trunk verdient.« Er wies auf den Becher. »Wage ihn zu heben, damit du die Kellerluft vergessest. Und jetzt hole Atem und antworte: Würdest du imstande sein, auf Pergament an diesen Bruder Eggo aus der Ferne zu schreiben in dem gebührlichen Duktus?«

»Ich getraue mir's wohl«, versetzte Immo freudig.

Der Abt seufzte. »Da du so unverschämt bist, von meiner Würde zu verlangen, daß ich für dich geradeso unter die Brüder springe, wie du für mich getan hast, so habe ich mich entschlossen, dich von hier zu entsenden, bevor die Sonne aufgeht. Du sollst als mein Bote reiten. – Was siehst du mich an, Eggo? Du meinst, ich soll ihn durch einen Eid binden? Laß die heiligen Reliquien in ihrem Schrein, ungeschoren geht er von uns, er soll auch ungeschoren seine Straße ziehen. Solange ich lebe, sah ich hohe Eide schwören und hohe Eide brechen. Ich habe erkannt, daß der ein Tor ist, welcher auf die Treue der Menschen baut. Dennoch habe auch ich jemanden gefunden, der sich mir bewährt hat im Spiel und in der Todesnot. Denn als ich jung war und einst mit meinem Jagdbogen im Waldversteck lag, wo das Wild zur Tränke läuft, da überfielen mich Nachtschächer, blutdürstige Räuber. Ich rief meinen Notschrei, aber nur einer hörte, der damals mein Geselle war, er sprang über die Felsen herzu und schlug ungerüstet wie Simson mit seiner Keule unter die Mörder. Zweien setzte ich den Fuß auf den Hals und durchstach ihnen die Gurgel. Ich trug einen Hautritz davon, der andere aber einen schweren Hieb in die Schulter. Du selbst kannst die Narbe gesehen haben, Jüngling, wenn du an der Achsel deines Vaters standest, denn er war es, der mich damals vom Tode löste. Und an ihn habe ich gedacht, als ich dich aus dem Kerker holen ließ. – Jetzt aber merke auf, denn ich will deinen leeren Kopf mit allerlei gewichtiger Kunde füllen. Von allen Seiten heben sich die Nacken der Großen gegen unseren König Heinrich. Klein ist die Zahl seiner Getreuen, auch im Kloster leben vielleicht solche, welche den Feinden des Königs Gutes gönnen. Vermagst du zu verstehen, was ich dir sage?«

»Gewiß, Herr«, versetzte Immo eifrig, »außer dem Tutilo sind die Dekane Hunico, Wolferi, Sigibold und vor anderen der Pförtner Walto für den Babenberger, und die anderen Alten haben nicht den Mut, diesen zu widerstehen; doch Heriger hält zu dem [] König, und er ist meines Herrn Abts beste Hilfe. Von den jüngeren aber sind die Thüringe und Sachsen wohl zur Hälfte dem König gutgesinnt.«

Der Abt starrte den Jüngling an. »Weiß die äußere Schule so gut, was in der Klausur vorgeht?«

»Auch uns fliegt mancherlei über den Zaun«, fuhr Immo fort, »ich merkte auch, daß vorgestern Graf Ernst, der ruhmvolle Held, heimlich in der Herberge des Klosters lag.«

»Führe ihn zu den Reliquien«, rief schnell der Abt, »und binde ihn durch einen teuren Eid, daß er niemals einem anderen verkünde, was er von Wigberts Geheimnissen erraten hat.«

Eggo führte den Jüngling vor den Schrein und nahm ihm den Schwur ab, während Herr Bernheri noch immer erstaunt dasaß und zuweilen mit dem Kopf schüttelte. Als Immo wieder vor dem Abte stand, begann dieser prüfend: »Du also gedenkst dich an den König zu hängen.«

»Meine Mutter stammt aus einem Geschlecht, welches sich der Verwandschaft mit den Sachsenkönigen rühmt.«

Der Abt lachte. »Wer König wird, dem wachsen die Vettern wie Hederich im Hafer. Dir aber bleibt ohnedies keine Wahl, seit du so ruchlos den Tutilo gebläut hast. Darum vertraue ich dir diese drei Briefe an«, er hob die Arbeit des Eggo vom Tische. »Mit dem ersten reitest du in deine Heimat, er geht an deine Mutter und spricht von deiner Entlassung wegen der wilden Kriegszeit, damit die Frau meine gute Meinung für dich erkenne.«

Immo ergriff freudig den Brief.

»Dafür sollst du mir in deiner Heimat dienen. Die Seelen der Brüder in Ordorf sind durch die Bosheit eines anderen, der hier im Kloster weilt, vergiftet, aber der Vogt auf der Wassenburg ist mir treu. Diesem trägst du den zweiten Brief, und da er als Kriegsmann des Lesens unkundig ist, wirst du allein ihm den Brief vertraulich vorlesen, damit keiner von den Brüdern die Schrift erblicke. Und was du von ihm und anderen über die Rüstungen in Thüringen erfährst, das sollst du an Bruder Eggo schreiben und durch den Reisigen, welcher dich begleitet, hierher senden. Dann aber rate ich dir, daß du so bald als möglich deine Helmkappe bindest und dich allein oder mit Kriegsleuten, welche dir folgen wollen, über die Berge zum Könige durchschlägst. Du wirst Herrn Heinrich in Regensburg an der Donau finden oder doch in der Gegend. Dort gibst du den dritten Brief an seinen Kanzler Erkambald. Spähe nach den Mienen des Kanzlers und erlausche, soviel du vermagst, über den Kriegszug und die gute Meinung des Königs für mich. Was du erkundest, das schreibe wieder an Bruder Eggo. Setze keine Namen in deine Briefe, aber die Anfangsbuchstaben, damit wir erkennen, wen du meinst. Als Boten gebrauche den [] Spielmann Wizzelin, welchen du kennst, denn diesen habe ich geworben und in das Lager gesandt. Du selbst aber sei bemüht, dem Kanzler zu gefallen, ich habe ihm auch deinetwegen einige Worte geschrieben.«

Von der Wachskerze fiel eine metallene Kugel, deren Faden durchgebrannt war, in die große Tülle; der eherne Ton klang scharf durch das Zimmer. Aus der Klosterkirche tönte der Gesang der Vigilien. Der Abt erhob sich. »Es ist Zeit, daß dein Fuß aus den geweihten Wänden gleite, sonst möchtest du sie schwerlich verlassen. Es ist auch Zeit, die unheiligen Gedan ken abzutun. Ein ungewohnter Dienst ist meiner zuchtlosen Herde dieser Nachtgesang, ich meine, die Angst um ihre Missetat hat sie vom Lager gescheucht. Uns allen tut Vergebung not. Auch mir, der ich erhöht bin zum Abte, gebührt jetzt, meiner Nichtigkeit zu gedenken, und wie die Regel befiehlt, tief hinabzusteigen bis zu der siebenten Stufe der Demut, um mit dem bekümmerten Hiob zu sprechen: Ein Wurm bin ich und nicht ein Mensch, scheusälig den Leuten und greulich dem Volke. Ungerecht habe ich mich vor dir, o Jüngling, meiner weltlichen Geburt gerühmt und, was noch jämmerlicher ist, meiner wilden Taten im Walde. Hochmütig bin ich im Grunde meines Herzens und wer über meinen Bauch spottet, hat guten Grund, denn gar wenig lebe ich nach der Regel; oft habe ich gesündigt durch Gebratenes und Buttergebäck, vom gewürzten Wein zu geschweigen; manchmal habe ich voll mein Lager gesucht und wer mich mit einem Weinfaß vergleicht, der spricht nicht unwahr. Vielen Haß nähre ich in meiner Seele gegen manche und andere verachte ich; viel denke ich auch an meinen Schatz von Silber und edlen Steinen, an die wilden Ochsen im Walde und an die Fährten der Hirsche; ein ungetreuer Verwalter bin ich und in Furcht lebe ich vor der Strafe. Denn zu einem Eckstein war ich bestellt, aber ich bin nur gut dazu, daß die anderen ihre unsauberen Sohlen auf mir abstreifen.« Er stöhnte tief und faltete die Hände, während Immo, der sich bei dem Beginn des Nachtgesanges auf die Knie niedergelassen hatte, dem Gottesdienste des Abtes verwundert zuhörte, obwohl er wußte, daß es zu den Geboten des Klosters gehörte, sich selbst zu erniedrigen. Nach vielen Seufzern erhob der Abt das Haupt, als einer, der schwerer Pflicht genüge getan hat, und begann rauh: »Was kauerst du noch, du Heupferd, um zu warten, bis dich die Schnäbel der dunklen Vögel zerhacken, die dort drüben so hastig singen, nicht gleich Heiligen des Herrn, sondern wie Stare in den Weiden des Teiches. Enthebe dich aus meinen Augen.«

»Ich kann nicht gehen ohne den Segen meines Herrn; denn wie ein Vater habt ihr euch gegen mich erwiesen heut und sonst in der Schule.«

[] Der Abt legte ihm die Hand auf das Haupt, sprach den lateinischen Segen und strich über das lockige Haar. »Sei dankbar gegen mich, soweit du vermagst, obwohl ich fürchte, daß dein Gedächtnis darin kurz sein wird. Mancher, der wie du als ein Springer aus dem Kloster in die Sünden der Welt hineinfuhr, schlich mit grauem Haar unter der schweren Bürde seiner Schuld in das Kloster zurück. Gedenke, daß am Altar eine Heimat aller ist, die müde werden unter ihrer Last.« Er zog einen ledernen Beutel aus seinem Gewande. »Nicht als ein kahler Schüler sollst du Bote reiten, denn unter Kriegsleuten ist der Geldlose verloren. Die Briefe gib nicht von dir, solange du deinen Arm heben kannst, die Feinde abzuwehren. Eine Reiterkleidung und Waffen findest du bei dem Rosse, damit nicht kundbar wird, daß du aus dem Hühnerhofe des Klosters entflogen bist.« Er reichte dem Jüngling die Hand, welche dieser mit nassen Augen küßte. Eggo winkte ungeduldig und führte die Wendeltreppe hinab durch die dämmerige Halle, in welcher die Gewappneten lagen. Lautlos durchschritten sie den Hof; der Mönch öffnete eine Pforte der Mauer, wies auf den schmalen Steg, der über den Graben führte, und auf einen Reiter, der jenseits des Grabens ein leeres Roß am Zügel hielt, dann grüßte er mit der Hand und schloß hinter dem Jüngling die Pforte. In großen Sätzen sprang Immo ins Freie, während aus der Klosterkirche feierlich das Ambrosianum erklang.

Als Immo die Rosse erreicht hatte, warf ihm der Reiter die Zügel zu. »Hugbald!« schrie der Jüngling in freudiger Überraschung, da er das ehrliche Gesicht des Dienstmanns erkannte.

»Schweig, Geselle«, murmelte der Reiter, auf die weißen Wolkenstreifen weisend, welche aus dem Nebel der Niederung wallend gegen das Kloster zogen. »Ungern hören die Wasserfrauen den Ruf der Männer, während sie in der Luft schweben. Hier draußen walten andere Geister als innerhalb der Mauern, und obgleich hinter uns noch Wigberts Stimme ertönt, werden diese hier einen Dienstmann des Heiligen doch wenig ehren, wenn er ihren Zorn erregt. Harre, bis wir über die Brücken gedrungen sind und die freie Höhe erreicht haben.«

Sie ritten schweigend durch den dichten Nebel die Fulda entlang. Aber Immo konnte sein pochendes Herz nicht bändigen, er drängte sein Roß an das des Alten, ergriff seine Hand und rief: »Mich freut's, daß du durch den Wechsel aus der Gefangenschaft gelöst bist.«

»Wenig Ehre brachte mir der Tausch«, brummte der Alte, »gegen einen Pferdedieb ausgewechselt zu werden, ist kränkend genug, mich haben sie gar für zwei gerechnet. Doch da jetzt ein Sonnenstrahl auf uns scheint, sollst du dich in einen Kriegsmann wandeln.« Er nestelte einen Bund vom Sattel. »Wirf dir den Reitermantel um«; dann knüpfte er den Eisenhut und das Schwert los und reichte beide [] dem Jüngling. »Hier nimm auch den Wurfspieß, er ist von den schweren, ich weiß, daß du ihn zu werfen vermagst. Recht wohl steht dir die Stahlkappe, und mich reut nicht, Immo, daß ich dich im Walde und auf der Heide meine Singweisen lehrte.«

Immo umschlang vom Rosse den Lehrmeister und küßte ihm den grauen Bart: »Gesegnet seist du, daß du mich zur Reise gewappnet hast«, dann sprengte er in gestrecktem Laufe vorwärts, wirbelte den Speer, und während der Tau von seinen Locken träufelte und über die heißen Wangen lief, jauchzte er dem goldenen Licht des Tages zu.

In der Heimat

Am nächsten Tage ritt Immo mit Hugbald aus Gotaha, einer Burg des Klosters, der Heimat zu. Auf beiden Seiten des Weges zogen sich niedrige, langgestreckte Hügel dahin, die Rücken mit Wald bewachsen, an den Gehängen die Ährenfelder, deren Frucht sich bräunte. In den Niederungen dehnten sich zwischen sumpfigen Wiesen große Teiche, die mit Erlen und Weiden umgeben waren. Zahlreich und ansehnlich waren die Dörfer der Landschaft, jedes durch Pfahlwerk und breiten Graben oder durch das Wasser eines Sees gesichert. War ein Dorftor geschlossen, dann zogen die Reiter auf der Außenseite herum über den Anger, auf welchem das Dorfvieh weidete, fanden sie ein Tor geöffnet, so sprengten sie über die Brücke und antworteten auf die Frage des Wächters, der eilig seinen schweren Spieß aus der Erde holte und ihnen entgegentrat. Immo fuhr dahin mit fröhlichem Herzen, und unter dem Druck der Schenkel hob sich sein Roß zum Sprunge.

Vor den Reitern zog sich eine Flurscheide quer über den Weg, ein breiter Graben, dahinter ein aufgeworfener Wall mit einer dichten Baumhecke, bei der Brücke ein hoher Grenzhügel, auf dem ein wettergraues Turmgerüst stand. »Sieh das alte Grenzzeichen meiner Väter«, rief Immo, »einst war das ganze Land dahinter unser Erbe, jetzt freilich gehören viele Hufen fremden Herren, dagegen liegen wieder Höfe, die uns gehören, außerhalb der Mark. Doch ehren wir das alte Malzeichen.« Er schwang sich vom Rosse, sprang auf den Hügel, riß blühendes Kraut ab und steckte es an seinen Hut. »So nehme ich Besitz von dem Lande meiner Ahnen, bezeuge mir's, liebe Sonne, daß Laub und Gras mir diene.« Am Ufer eines Gebirgsbaches ritten sie wohl eine Meile dahin, Immo wies auf das klare Wasser und auf die bunten Steine, welche den Bach von beiden Seiten umsäumten. »Jetzt rinnst du niedrig, Bach meiner Heimat, und ein Knabe vermag dich zu durchwaten, aber ich kenne die Macht deiner Strömung, denn im Frühjahr und nach dem Wettersturm brausest [] du wild zwischen den Hügeln dahin und oft schlug deine Flut an die Schwelle unseres Saales und wir hüpften barbeinig im Hofe durch den wilden Schwall.«

Südwärts zur rechten Hand hoben sich die Hügel steiler, an ihrem Fuße breiteten sich weite Seen, die Abhänge bedeckte der Laubwald, dazwischen aber schimmerte bald rot, bald bläulich die nackte Erdmasse der Berge; auf den Gipfeln stand hier ein Wartturm, dort eine Burg und wieder eine. »Das ist der rote Bergwall, um welchen mein Geschlecht sich gelagert hat«, erklärte Immo stolz, »hoch sind die Berg lehnen und steil der Weg zu den Gipfeln, manchesmal haben die Helden dort ihren Feinden widerstanden.«

An einem Wege, der nach Süden führte, hielten die Reiter und nahmen Abschied, denn Hugbald sollte nach der Wassenburg vorausziehen; und sie besprachen das Wiedersehen in den nächsten Tagen.

Als Immo allein war, ritt er in gestrecktem Laufe vorwärts. Vor ihm lag in der Niederung, durch eine Mauer umschanzt, der große Hof seiner Väter, der Bach teilte sich und umfloß den festen Sitz Ingramsleben von allen Seiten. Viele Gebäude standen innerhalb des Hofes, in der Ecke ein dicker viereckiger Turm, mit kleinen Fensterritzen, oben mit Zinnen gekrönt, durch einen Graben von dem übrigen Bau getrennt, er war die feste Burg des Hofes, in welche sich bei schnellem Überfall die Hofherren zurückziehen konnten zu ihren Kindern und Schätzen, die sie dort geborgen hatten. In der Mitte des Hofes aber erhob sich das Herrenhaus mit hohem Dach, mit einer Laube auf der Sonnenseite und einer Galerie darüber, um das Haus standen nahe der Mauer zahlreiche Ställe und Wohnungen der Dienstleute. Außerhalb des Hofes erkannte man längs dem Wasser die Dächer des kleinen Dorfes, welches dazugehörte. Der Reiter hielt vor der Brücke an, ihm pochte das Herz, er neigte einen Augenblick das Haupt und flehte zu den Heiligen, dann setzte er mit großem Sprunge durch das offene Tor. Sein Roß stieg, er hob sich hoch im Sattel und grüßte den Hof seiner Väter.

Still lag der Hof in der Ruhe der ersten Abendstunde, niemand kam, den Gast anzurufen und das Roß zu halten. Immo lenkte sein Pferd abwärts, den Ställen zu. Dort kauerte auf der Dungstätte des Hofes das Federvolk in großen Schwärmen, auch der Hahn mit den Hennen saß zusammengeduckt unter dem Dach der Ställe. Nur der alte Kranich, welcher dem Geflügel zum Vogt gesetzt war, stand mitten auf dem Strohhaufen, richtete den Hals hoch auf und wandte seinen scharfen Schnabel dem fremden Reiter zu. Als aber Immo vom Pferde sprang und fröhlich den Namen des Kranichs: »Ludiger!« rief, da erkannte der kluge Vogel seinen alten Herrn und vergaß gänzlich seine Würde, er schrie und rannte mit ausgebreiteten [] Flügeln und aufgesperrtem Schnabel dem Sohne des Hauses entgegen, gerade als wollte er ihn umfangen, und schmiegte seinen Kopf an den Leib des Mannes. Immo aber strich ihm liebkosend den roten Scheitel, bis der Vogel wieder vergnügt zu seinem Volke lief. Dort breitete er die Flügel und fing vor der ganzen Gemeinde an, sich zu drehen und zu tanzen, so daß die Hühner gackerten, und das Geschlecht der Enten sich erhob und lautes Schnattern begann, erstaunt über die Gebärden des ernsthaften Meisters. Alle Vögel schrien, und hinten im Hundezwinger bellten die Bracken. Da sah die alte Dienerin Gertrud aus einer Seitentür der Halle und rief zurück: »Gutes Glück steht dem Hofe bevor, Herr Ludiger tanzt vor seinem Volke«; aber im nächsten Augenblick stieß auch sie einen Schrei aus, lief die kleine Hintertreppe hinab und umschlang mit ihren Armen den Fremdling.

Aus der Umarmung der Wärterin sprang Immo in den Saal. Von der Schwelle erkannte er auf dem Herrenstuhl die Herrin des Hofes im braunen Trauergewande, das Haar mit dunklem Schleier umhüllt, das edle Antlitz wenig gewandelt in den Jahren seiner Abwesenheit, noch immer so schön und gebietend, wie er es sehnsüchtig in seiner Seele geschaut hatte. »Meine Mutter«, rief er außer sich, warf sich zu ihren Füßen, umschlang ihre Knie und weinte wie ein Kind in ihrem Schoß. Frau Edith wollte sich heftig erheben, als der fremde Mann zu ihren Füßen niederstürzte, aber gleich darauf faßte sie sein Haupt mit ihren Händen und drückte ihn fest an sich. Als der Sohn zu dem Antlitz der Mutter aufsah, hielt sie ihn an den Locken und sah ihn starr an, während ihr Gesicht sich rötete. »Ein Mann bist du geworden«, sprach sie erschrocken, aber im nächsten Augenblick warf sie die Arme wieder um ihn und küßte ihn auf die Stirn und das Haar, wie die Mutter einem kleinen Kinde tut. Schnell folgte Frage und Antwort. »Wisse, Immo«, begann die Mutter, »nicht ganz unerwartet kommst du. In der letzten Nacht hatte ich einen Traum, gleich einer Verkündigung. Auf meinem letzten Lager fand ich mich, gelähmt waren meine Glieder und vergebens mühte ich mich, die Hände zum Gebet zu falten. Da neigte dein Angesicht sich über mich, im goldnen Schmuck des Bischofs standest du vor mir, um dein Antlitz strahlte ein heller Schein und du botest mir das Heiligtum. Mich aber durchdrang ein seliger Friede, wie ich ihn nie gefühlt. Glücklich ist die Mutter, Geliebter, welcher der Sohn das Tor des Himmelssaals öffnet.«

Als Immo von seiner Reise erzählt hatte, zog er den Brief des Abtes aus dem Gewande. »Lies ihn«, sagte die Mutter, sich setzend, »du bist der einzige im Hause, welcher der fremden Schrift und Sprache kundig ist, darum erkläre mir den Inhalt, damit ich alles verstehe.« Mit geheimer Sorge öffnete Immo den Brief, ungern wollte er der Mutter in dem Glück des Wiedersehens Unholdes von [] seiner Trennung aus dem Kloster berichten. Aber das Schreiben enthielt nur einen Gruß des Abtes für Frau Edith, und daß er den Sohn aus der Schule mit seinem Segen zurücksende, damit er nach eigenem Willen für seine Zukunft sorge.

»Willkommen ist mir die Antwort deines Abtes auf meine Bitte, die ich durch Vater Reinhard an ihn tat, und alles ist für dich bereitet, damit du ein Held des Himmelsherrn werden kannst. Doch heute sprich nicht zu mir von künftigen Tagen, denn sorglos möchte ich mich deiner Heimkehr freuen.« Sie zog ihn bei der Hand in den Hof und öffnete die Gittertür des Gartens, in welchem eine Anzahl Obstbäume auf dem Grasgrund stand. Dort lagerte das junge Geschlecht Irmfrieds. Auf einer Bank saß Odo, der ältere, einem gereiften Manne gleich, breitschultrig, gemessen in seinen Gebärden, das rundliche Gesicht mit den vorstehenden Augen und der bedächtigen Miene ganz ungleich dem Aussehen der anderen Brüder. Diese lagen im Grase, Ortwin, der Redegewandte, welcher Sprecher des Hofes war, summte ein Lied und würfelte dabei auf einem Brettlein mit sich selbst, der starke Erwin warf sitzend einen Stein, den mancher andere schwerlich gehoben hätte, unermüdlich in die Höhe und freute sich, ihn geschickt wieder zu fassen, und Adalmar und Arnfried lagen langgestreckt einander gegenüber, hielten jeder mit zurückgebogenen Armen einen Baum umklammert und stießen mit den Beinen einen runden Fichtenstamm, daß er ruhelos zwischen ihnen hin und her rollte, und sie lachten laut, wenn der ungefüge Klotz einem von ihnen so gefährlich nahte, daß es eines starken Stoßes bedurfte, ihn abzuwehren. Aber seitwärts von den Brüdern übte sich Gottfried mit Hilfe eines alten Knechts im Speerwurf gegen aufgestellte Bretter, und die Stangen, wel che der Knabe warf, dröhnten kräftig von dem Holze. Die Brüder sprangen auf, als sie die Mutter erblickten, und Immo sah als stolze Jünglinge wieder, die er als Knaben verlassen hatte. Sie boten nach der Reihe dem Bruder Hand und Mund, ihr verlegener Gruß erschien ihm kalt, nur der jüngste, Gottfried, hing sich an seinen Hals, und Immo lachte, als das rosige Kindergesicht zu ihm aufsah. »Alle seid ihr stattliche Helden geworden«, rief er, »aber am meisten gewachsen ist mein Kleiner.« »Im nächsten Jahr erhalte auch ich den Schwertgurt«, antwortete dieser freudig in seinen Armen.

Aber die Mutter zog den Ältesten wieder zu sich: »Sieh, die Knaben und die Bäume, sie sind zusammen aufgeschossen.«

»Alles, was unter deiner Hand steht, gedeiht, ich sehe, auch die Obstträger lohnen der Herrin die Mühe.«

»Die frommen Väter von Ordorf brachten nicht umsonst die Pfropfreiser zu unserem wilden Holz; wundervoll gewürzig sind die Äpfel, sie trugen zum erstenmal reichlich in dem Jahre, wo du von uns schiedest, und als der Herbst kam, hatte ich das Herzeleid, daß [] du die guten nicht mehr schmecktest. Dafür sandte ich einen Korb an die hohe Frau Adelheid, die Kaiserin, welche damals neben unserer Mark ihren Hof hielt. Denn gütig war sie immer gesinnt, und sie freute sich auch über die Früchte und schenkte mir als Gegengabe eine Büchse mit Balsam aus dem Heiligen Land. Das ist in Wahrheit ein kaiserliches Geschenk, denn es heilt schnell auch tiefe Schwertwunden und es hat sich an tapferen Männern hier in der Gegend mehr als einmal bewährt.«

»Zeige mir deine Kunst«, sprach Immo zu Gottfried, »die wohl in kurzem auch tiefe Wunden schlagen wird.« Der Knabe ergriff die Stangen und warf herzhaft. »Ich lobe die Treffer«, ermunterte Immo, bald ergriff er selbst die Gere, und sie gellten so stark vom weitgesteckten Ziele, daß Gottfried freudig die Hände zusammenschlug und die anderen Brüder Beifall riefen.

»Ganz gut gefällt mir, Immo«, sprach Edith zuschauend, »daß du in der Schule auch Werke eines Kriegsmannes geübt hast. Denn reitest du einst als ein gewaltiger Herr und Bischof unter deinen Kriegern, dann mußt du auch die Helden, welche das Schildamt bei dir versehen, durch Gut und Gaben ehren; und darum ziemt dir zu verstehen, wer am besten seine Waffe gebraucht.«

Immo legte die Stangen zur Seite und senkte das Haupt.

An dem Gitter stand Gertrud und erinnerte an das Mahl. In der Mitte ihrer Söhne betrat Edith den Saal, in welchem die Tische gestellt waren. An der Tür standen gedrängt die Dienstleute, um den Gruß des Herrensohnes zu erwarten. Während Immo unter sie trat und mit alten Vertrauten fröhlichen Gruß wechselte, brachte der Truchseß die Speisen und Trinkkannen. Die Mutter führte den Sohn zum Ehrensitz an ihrer Seite: »Schmal war die Kost meines Lieblings im Kloster«, sagte sie lächelnd, »dafür hat er dort das Glück genossen, neben heiligen Männern zu sitzen. Und ich vertraue, auch du hast dir in deinem Dienst bereits Ehre erworben.«

»Im Dienst vor den Altären gewinnt ein Schüler geringe Ehre«, versetzte Immo unzufrieden. »Zuerst sollte ich das Rauchfaß schwenken, doch den Brüdern gefiel nicht der Schwung meiner Arme. Dann war ich Türsteher, und mit der Keule wachte ich an der Pforte, das unordentliche Volk abzuwehren, aber auch dieser ruhmlosen Arbeit enthoben mich die Dekane, weil einige Schreihälse aus der Menge Wehe riefen wegen eingeschlagener Zähne. Zuletzt las ich manchmal als Lektor vor den kleinen Altären.«

Die Brüder lachten, aber Edith merkte in ihrer Mutterfreude den Ärger des Sohnes gar nicht, und zu ihrem Sitz tretend, bat sie: »Sprich das lateinische Gebet, das sich in der Stunde ziemt, wo ein Geweihter das Haus seiner Väter betritt.«

»Ich weiß nur von einem, der als verlorener Sohn nach Hause kam«, murmelte Immo und sprach das lateinische Vaterunser.

[] Immo saß wieder in dem Saal seiner Väter und sah verwundert in den großen Raum. Auf dem Fußboden aus geschlagenem Lehm, welcher glatt war wie eine Tenne, standen die Tische ganz wie sonst, von dem Herrensitz sah er durch die geöffnete Tür in den wohlbekannten Hof; hinter ihm und auf den Seiten lief, durch ein geschnitztes Geländer eingefaßt, die erhöhte Bühne, von welcher zahlreiche Türen nach den Kammern und Wohnräumen des mächtigen Hauses führten. An den Wänden hingen die alten Rüstungen und Waffen, Kampfbeute früherer Helden, auf der Bühne im Hintergrund stand der Ofen und daneben der Herrenstuhl, im Winter der wärmste Platz, aber ehrenvoll auch im Sommer. Alles war wie vor Jahren. Auch wenn er seine Mutter ansah und die alten Diener des Hauses, so dünkte ihn seine Abwesenheit und das Kloster fast nur ein übler Traum. Wenn er aber die männliche Stimme der erwachsenen Brüder hörte und die kurzen Reden, die sie während ihrer eifrigen Arbeit am Tische wechselten, so kam ihm wieder vor, als sei er bei den Erdmännchen in der Höhle gewesen, viele Jahre lang, denn er merkte, daß ein neues Geschlecht in dem Saal herrschte.

Nach dem Mahle trat Immo zu seinen Brüdern und suchte ein freundliches Gespräch, während Frau Edith der Dienerin Gertrud winkte und mit ihr den Saal verließ.

Als Edith wieder eintrat, setzte ihr die Dienerin den Spinnrocken neben den Ofen, die Herrin saß auf dem Stuhle nieder und ergriff die Spindel. »Komm an meine Seite, Immo«, bat sie, »damit ich vertraulich mit dir rede, wie sonst. Seit du von uns gingst, hat diese Hand manches Gewebe gesponnen, auch für dich, mein Sohn, ich spann dir gute Wünsche hinein, und manchmal, wenn ich deiner dachte, lag die Spindel in meinem Schoß. Denn neben diesem Rock stand deine Wiege, ich hob dich heraus und du griffst nach den bunten Bändern am Flachse. Und als du im Hemdchen laufen lerntest, da kauertest du auf der Fußbank und warfst deine Beinchen um die Stange. Später sprangst du übermütig um meine Arbeit, wirrtest mir den Flachs und verkehrtest mir die kreisende Spindel. Jetzt freilich hast du bei den frommen Vätern gelernt, ruhig zu sitzen. Sieh dorthin«, unterbrach sie sich selbst, »an dem Türpfosten haftet noch der Speer mit dem Zeichen deines Wachstums. Denn am Speer maß euch der Vater, jedem von euch nagelte er einen Schaft an den Pfosten, und in den Schaft schnitt er jedem seine eigene Marke, mit welcher der Sohn in Zukunft sein Gerät zeichne. Und als das Friedel sein Maß erhalten sollte, da lachte der Vater, weil er am Pfosten keinen Raum mehr fand, und schlug den Speer an die zweite Tür, dort steht er allein. Denn dem Vater war das Prüfen der Größe in jedem Jahr eine Freude, obgleich die Alten sagen, daß man die Kinder nicht messen soll, euch aber hat es nichts geschadet, denn ihr seid alle hoch emporgeschossen. Tritt an das Maß«, bat sie, und als [] Immo ihren Willen tat, rief sie erfreut: »Mehr als eines Kopfes Länge überragst du das letzte Zeichen und der größte bist du geblieben. So ziemt es sich auch und ich dachte das immer. Wisse, Immo, in jeder Größe vermag eine Mutter ihre Kinder zu schauen, wenn sie gerade nicht bei ihr sind. Auch dich schaute ich in meinem Sinn, ganz klein und wieder größer. Aber wunderlich war es, wenn ich allein saß, dann hielt ich dich in meinen Gedanken am liebsten als ein kleines Kind auf meinem Schoß, und ich freute mich, daß du die Arme zu mir aufhobest, obwohl du doch älter warst als meine Knaben. Vielleicht sah ich dich so, weil du als kleines Kind mir gehörtest.«

Immo neigte sich zu ihr und ergriff ihre Hand.

»Wende dich noch ein wenig ab, wenn ich mit dir rede«, bat Edith und eine feine Röte flog über ihre Wangen. »Denn wenn du mich heut ansiehst mit den Augen und mit dem Antlitz deines Vaters, dann weiß ich nicht, du Holder, ob ich deine Mutter bin. Kehre dich doch wieder zu mir«, rief sie wieder und warf den Arm um seinen Hals, »denn lange habe ich dich entbehrt und mir war's zuweilen, als ob ich selbst fremd im Hause sei, weil du mir immer fehltest. Sommer und Winter schwanden dahin, meine Knaben wuchsen heran, oft machten sie am Abend der Mutter die Freude, still am Herde zu sitzen, oft trieb sie auch ihr Jugendmut auf den Höfen der Nachbarn umher. Doch muß ich meine Söhne rühmen, denn gehorsam und der Mutter treugesinnt waren meine Knaben alle.«

»Auch ich bin dein Sohn«, rief Immo.

»Ja, du«, antwortete Edith und blickte ihn mit strahlenden Augen an. Und leise fuhr sie fort: »Anders vermag ich mit dir zu reden als mit ihnen, und als ich dich am Tisch hörte, sprachst auch du nicht wie die Knaben, denn reichlicher schweben deine Worte von der Zunge und mit fremdem Klang dringen sie in das Ohr. Doch hört es sich gut an, Immo, und es macht dich meinem Herzen vertraulich. – Reich und froh fühle ich mich heut zum erstenmal wieder, seit mein Gemahl von uns ritt, und mir ist, als könnte ich dir alles Geheime sagen, wie man es am Altare den Heiligen zuraunt, du liebes Opferkind. Denn du gehörst ja, wenn du auch unter uns weilst, mehr den Himmlischen an als wir anderen.«

Lange Jahre hatte Frau Edith in ihrem Witwenschleier still dahingelebt, als ernste Gebieterin hatte sie die wilden Söhne gezogen und über den Dienstleuten gewaltet, ihr eigenes Herz, wenn es heftig pochte, hatte sie fest gebändigt; jetzt brach in der Freude des Wiedersehens die Mutterliebe wie ein starker Bergquell aus der Tiefe ihrer Seele. Dem Sohne schien sie einer begeisterten Seherin gleich, noch niemals hatte er sie so gehört; er lauschte hingerissen auf den Klang ihrer bewegten Stimme, und doch empfand er geheimen Schmerz bei den liebevollen Worten.

[] Die Söhne traten nach der Reihe vor die Mutter und boten den Nachtgruß, jedem legte sie die Hand auf. Als letzter kam Immo, da stand die Mutter auf, und als er sich neigte, den Segen zu empfangen, umschlang sie sein Haupt und streichelte ihm Haar und Wange, die Freudentränen in den Augen. »Führe du ihn zu seinem Lager«, gebot sie der alten Gertrud, »denn du warst vor Zeiten seine Wärterin.«

»Wohin leitest du mich, Mutter?« fragte Immo lächelnd, »ich kenne den Bretterverschlag hinter der Halle, in dem ich sonst schlief.«

»Der würde dir jetzt wenig ziemen«, versetzte die Alte, »denn Frau Edith hat dir selbst das Lager bereitet.« Sie führte durch den Hof zu einem stattlichen Bau, der wie eine große Laube aus Stein und Holz errichtet war und zwei Gemächer nebeneinander enthielt; die Wände des kleineren Raumes waren mit Teppichen bekleidet, der Boden mit grünen Binsen bestreut, auf dem Lager weiche Kissen und eine prachtvolle Decke, über welcher Greifen und andere gestickte Fabeltiere einherschritten, an der Wand hing ein großes Kreuz, davor war ein Betpult, eine große Wachskerze erhellte den Raum. Immo stand betroffen in der Tür. »Ich rieche die Kirche«, rief er, denn ein Duft von heiligem Räucherwerk erfüllte den Raum.

»Der hochwürdige Herr von Magdeburg hat hier vor kurzem geruht«, antwortete Gertrud, die Knie beugend.

»Im Gastgemach des Hofes stehe ich, das den vornehmen Fremden bereitet wird«, rief Immo traurig, »ich meinte in das Haus meiner Väter zu kommen.«

»Du dienst ja dem Himmelsgott schon hier auf Erden«, wiederholte Gertrud die Worte der Herrin. »Unter uns anderen Menschen bist du ja nichts weiter als ein Gast, du armes Kind.«

Immo winkte der Dienerin die Entlassung, und als sie sich mit Segenswünschen entfernt hatte, setzte er sich nieder und barg sein Gesicht in den Händen, denn die Worte der Alten schnitten ihm in das Herz; er merkte, daß sie recht hatte und daß er nur ein Gast im Vaterhause war.

Als er am Morgen erwachte, hörte er draußen an der Wand das Schwalbenvolk schwatzen und singen, gerade wie in der Schule, und er wartete, daß die kleine Glocke am Michael läuten werde. Draußen aber pfiff ein junger Knecht geschickt eine lustige Weise, die Immo in seiner Kinderzeit oft gehört hatte. Da er kannte Immo wieder seine Heimat, und er dachte vergnügt, daß der Knabe wohl einer Magd des Hofes, die ihm lieb war, seinen Morgengruß zugerufen habe, was in dem Kloster niemals geschah. Als er die Augen aufschlug, sah er, daß die Lichtöffnungen seiner Fensterläden nicht in Kreuzesform geschnitten waren wie im Kloster, sondern als runde Herzen, und ein großes Herz voll Licht lag golden auf dem Fußboden. Da lachte er und sprang auf, und während er sich anzog, [] nahm er sich vor, geduldig zu sein und auch Schmerzliches zu ertragen, bis er das Vertrauen der Brüder gewonnen und bis er die Mutter mit seinen weltlichen Gedanken versöhnt hätte. Und er fürchtete, daß dies ein schwerer Kampf sein werde.

Nach dem gemeinsamen Frühmahl schürzte Frau Edith ihr Gewand, um in der Wirtschaft nach dem Rechten zu sehen, und Immo gedachte des vertrauten Briefes, den ihm Herr Bernheri für den Dienstmann auf der Wassenburg übergeben hatte. Als er der Mutter bekannte, daß er dorthin reiten werde, sahen die Brüder einander bedeutsam an und tauschten leise Worte. Darum begann Immo freundlich zu Odo: »Überall sorgen die Leute, daß ein großer Krieg bevorsteht, sage mir, mein Bruder, seid ihr für König Heinrich oder Hezilo?«

»Noch ist die Kriegsfahne nicht aufgesteckt«, versetzte Odo vorsichtig, »wir aber hören aus der Ostmark, daß die Slawenherzöge rüsten, und diese sind für uns die nächste Sorge.«

»Unter den Mönchen vernahm ich, daß die Böhmen sich dem Hezilo verbündet haben, sicher weißt du, ob die Grafen der thüringischen und sächsischen Mark den Böhmen widerstehen wollen.«

»Wir vermuten«, antwortete Odo, »daß ihr Wille ist, ein Heer zum Schutz der Grenze zu sammeln; dann, hoffe ich, werden auch wir reiten.«

»Sonst zog unser Wald zu dem Banner, welches der Vogt des Königs in Erfurt aufsteckte«, warf Immo ein.

»Ich aber meine«, versetzte Odo, »daß der Königsvogt sich nicht beeilen wird, seine Burg zu verlassen und nach Süden zu ziehen, wenn an der nahen Grenze der Kriegslärm erhoben wird. Bei uns denkt jeder daran, sich im Hause zu wahren, denn einer mißtraut dem anderen.«

Immo schwieg gekränkt, denn er sah, daß auch die Brüder ihm mißtrauten. Er rief deshalb den Knaben Gottfried und erbat von der Mutter, daß dieser mit ihm reite. Auf dem Wege erzählte ihm der Harmlose, was er bereits ahnte, daß die Mutter für König Heinrich war, die Brüder aber für den Babenberger. Und noch mehr erfuhr er. Auch seinetwegen war ein langer Kampf zwischen Mutter und Brüdern gewesen, denn die Brüder hatten sich dagegen gesträubt, dem ältesten die Mühlburg vor der Teilung zu überlassen, damit sie dem Stift des Erzbischofs zufalle, und nur widerwillig hatten sie dem Ansehen der Mutter nachgegeben. »Die Brüder hatten recht«, rief Immo dem verwunderten Gottfried zu. Auf der Wassenburg wußte der alte Dienstmann wenig vom Laufe der Welt, doch freute er sich des Briefes und besserte auf Hugbalds Rat an den Mauern. Auch in Arnstadt, der dritten Burg, welche das Kloster am Walde besetzt hielt, vermochte Immo nicht viel zu erfahren. Da ritt er nach Erfurt zu dem Vogt des Königs, der seinem Vater vertraut [] gewesen war; dort wurde er freundlich empfangen und vernahm vieles, was dem Abt wertvoll sein mußte. Auch das Pergament zum Briefe kaufte er in der Stadt, und den Dienstmann Hugbald brachte er als Gast nach dem Hofe, nachdem er ihm einen Wink gegeben hatte, über die letzten Tage im Kloster zu schweigen.

So vergingen die ersten Tage in der Heimat unter der Arbeit, die er für Herrn Bernheri übernommen hatte. Er war wenig mit den Hofgenossen zusammen, und Frau Edith erfreute sich an dem Eifer, den Immo für seinen Abt bewies. Und als sie merkte, daß er in der Kemenate über dem Pergament saß, ging sie selbst in den Hof und scheuchte die Mägde und den Kranich mit seinem Hühnervolke in die entfernteste Ecke, damit kein Geräusch die seltene Arbeit störe.

Die Trennung

Immo trat zu seinen Brüdern, welche, gewappnet in der Eisenhaube, die Rosse sattelten. Das Herz lachte ihm, als die hochgewachsenen Knaben sich so geschwind mit den Pferden tummelten. Da sah er, daß Odo den weißen Sachsenhengst herausführte, und ihm schoß das Blut nach dem Haupte, aber er bewältigte die Erregung in Mönchsweise, indem er schnell ein Vaterunser sprach; dann ging er an das Roß und sprach ihm leise zu, das Tier spitzte die Ohren und wieherte. »Einst gehörte das Pferd mir«, sagte er zu Odo, »und als ich schied, schenkte ich es unserem Bruder Gottfried.«

»Das tatest du«, versetzte Odo gleichmütig, »aber da es das beste Pferd im Hofe ist und für die Zucht wertvoll, so reite ich es lieber selbst; denn der Knabe ist unvorsichtig und tummelt sich wild, wo der Hengst zu Schaden kommen könnte.«

Immo schwieg, führte das Roß, welches ihm Herr Bernheri geschenkt hatte, aus dem Stall, sattelte es neben den anderen und begann: »Gefällt es euch, so reite ich mit.«

Die Brüder sahen einander an, und Immo merkte, daß eine stille Abweisung in ihren Blicken lag, endlich sprach Odo zu den anderen: »Da er als unser Bruder im Hof weilt, so mögen wir es nicht wehren. Doch nicht müßig reiten wir über das Feld, Immo, und für einen Gast aus der lateinischen Schule wird es ein langer Ritt, denn wir streifen über die Fluren wegen Sicherheit der Dörfer, sowohl in unserem Erbe als auch auf dem Lande der Nachbarn nach altem Brauch.«

»Ich kenne den Brauch«, versetzte Immo, »und möchte euch begleiten, wie ich zuweilen unserem Vater gefolgt bin.«

Odo nickte, aber Immo fühlte, daß es keine freundliche Einwilligung war, und die jungen Adalmar und Arnfried sprachen leise zueinander und lachten.

[] »Wie kommt es, daß Gottfried uns nicht begleitet?« fragte Immo auf dem Roß.

»Er trägt nicht den Schwertgurt«, versetzte Odo kurz. »Vorwärts«, und in gestrecktem Lauf sprengten die Reiter aus dem Hofe.

Die Brüder sahen von der Seite prüfend auf Immos Reitkunst.

»Lang gefesselt sind die hessischen Pferde«, begann Erwin spottend, »übel steht ihnen die Bocknase.«

»Hättet ihr dem Bruder ein Roß aus der Hofzucht geboten, wie sich gebührte, so würde das fremde Gesicht euch nicht ärgern«, versetzte Immo und sah so finster auf den Tadler, daß dieser zur Seite ausbog.

»Ich habe nicht gehört, daß du uns das Begehren gestellt hast«, sagte Odo trocken.

»Freundlicher Sinn wartet bei dem, was sich geziemt, nicht auf die Bitte«, entgegnete Immo.

»Bei uns aber ist die Gewohnheit«, antwortete Odo, »daß der Gast am liebsten das eigene Pferd besteigt, dessen Tugenden er vertraut.«

»Ich lobe den Reiter«, rief Immo mit blitzenden Augen, »dem auch auf einem mäßigen Pferd ein guter Sprung gelingt. Folgt mir, ihr Knaben.« Er hob die Hand und setzte über Graben und Hecke, die sich längs dem Wege hinzogen. Sogleich folgten die Brüder einer nach dem anderen, nur Odo ritt gleichmütig auf dem Wege weiter, und als die Reiter zurücksprangen und lachend die aufgeregten Tiere zum Trabe bändigten, sagte er kühl: »Wir haben heut einen langen Ritt, und ein verstauchtes Bein wird uns hindern.« Aber das schnelle Wesen Immos gefiel doch den anderen, sie wandten sich seitdem vertraulicher zu ihm und hörten teilnehmend auf seinen Bericht über die Zucht der Klosterfüllen.

So ritt die Schar in scharfem Trabe über die Fluren, voran Ortwin, der Sprecher, zuletzt Erwin, der Marschall. Nahten die Reiter dem Wallgraben eines Dorfes, so blies Ortwin in ein Horn des Auerstiers, das er am Riemen trug, und sie sprengten in die Dorfgasse vor den Hof des Ortsmeisters, wo sie anhielten, bis der Mann heraustrat. Verschieden waren Gruß und Fragen, wenn er ein Freier und wenn er ein Höriger des Geschlechtes war. Auch in der Flur hemmten die Reiter den Trab, wo Arbeiter auf dem Acker schafften oder wo Hirten weideten; dann eilten auch diese heran und berichteten: ob fremdes Volk über die Fluren gestrichen, ob ein Diebstahl im Felde erkannt, ob ein Raubtier in die Gehege gebrochen sei und ob ein Wanderer neue Kunde aus der Welt getragen habe. Verwundert starrten die Landleute auf den fremden Reiter, aber wenn sie ihn erkannten, traten sie mit lautem Zuruf heran und boten ihm treuherzig die Hand, in den Dörfern drängten sich auch die Weiber und Kinder um ihn, und Immo hatte zuweilen Mühe, sich aus dem Haufen zu lösen, wenn Odo wartend nach ihm zurücksah.

[] Über kahle Höhen und Gestrüpp ritten sie in einen alten Buchenwald und wanden sich zwischen mächtigen Stämmen, an denen selten die Axt klang, der Höhe zu. Dort gab Ortwin das Zeichen, aus der Tiefe vor ihnen antwortete ein ähnlicher Hornruf und wildes Geheul von Hunden. Die Reiter stiegen in ein Kesseltal hinab und sahen vor sich die Hütte, welche der Sauhirt für den Sommer aus Stangenholz und Rinde zusammengeschlagen hatte, und daneben das Gehege für die Schweine. Es war ein düsterer Ort, in den Vertiefungen des aufgewühlten Bodens stand sumpfiges Wasser, um welches sich die entblößten Baumwurzeln wie dicke Schlangen dahinwanden; das Roß Immos schnaubte und scheute vor der unholden Stätte. Ein riesiger Mann in einem Rock aus Fellen, mit hohen Lederstrümpfen und Schuhen, an denen noch die Haare hingen, kniete auf dem Boden, beschäftigt, einen toten Wolf abzubalgen. Er erhob sich, scheuchte die anspringenden Hunde und begann mit finsterem Lächeln: »Den alten Grauhund traf mein Holz diesen Morgen. Wollt ihr, daß die Herde nicht zersprengt werde, so helft selbst die Wölfe schlagen, ihr Herren, denn seit vielen Jahren haben sie nicht so arg zwischen den Hügeln geheult als in diesem Sommer; ich allein mit den Knechten vermag ihrer nicht Herr zu werden. Die Nachtgänger wissen, daß die Helden in der Ebene sich zur Kampfheide rüsten, und sie heulen nach ihrem Anteil an Lebenden und Toten.«

»Was hast du von der Herde verloren?« fragte Odo.

Der Knecht wies auf eingekerbte Zeichen an den Pfosten der Hütte. »Die Waldweide wird gut«, sagte er kurz, »und ihr könnt den Schaden ertragen. Ein fremdes Roß sehe ich«, fuhr er fort, »aber darüber zwei Augen, die einst meinen Wald so gut kannten als ich.«

»Sei gegrüßt, Eberhard«, rief Immo und faßte die Hand des Mannes.

Eberhard musterte den Arm. »Es ist eine Herrenfaust. Kommst du, festzuhalten oder wegzugeben?«

»Ich gedenke zu bewahren, was mir gefällt«, versetzte Immo.

Da erhellte sich das Gesicht des Mannes und er rief: »Ich dachte wohl, daß du von dem Glockenseil der Geschorenen zurückkehren würdest. Denn du gehörst zum Walde, und hier merkt der Mann andere Unsichtbare, welche ungern auf das Bimmeln der Ordorfer Glocke hören.« Er betrachtete die Brüder und fuhr dann fort: »Sechs Söhne Irmfrieds stehen vor mir, und allen weide ich mit meinen Knaben ihre Herden. Dennoch will ich wissen, wem ich selbst in Zukunft angehöre, und ihr sollt mir's kundtun.«

Die Brüder sahen einander lächelnd an. »Du sollst es wissen nach der Teilung.«

»Meint ihr den alten Knecht gleich seiner Herde durchs Los einem [] unter euch anzuwerfen? Anders gedenke ich meinen Herrn zu finden. Steigt ab und folgt mir, ihr Jünglinge, denn ich will euch den Willen eures Vaters verkünden.« Er führte hinter die Hütte zu dem stärksten Eichbaum, den er mit Bündeln Astholz umschichtet hatte. »Seit acht Jahren liegt das Astholz an dieser Stelle, und jedes Jahr binde ich und schichte ich aufs neue, damit das Holz vor fremden Augen verberge, was mir das liebste Stück meiner Habe ist.« Als er geräumt hatte, sah man an dem Stamme eine Waldaxt, die mit starkem Schwunge eingetrieben war. »Diese Axt«, begann der Hirt, »schlug Herr Irmfried in den Baum, als er das letztemal zu seinen Ebern kam. Damals bot er mir eine Hand zum Abschiede, weil ich ihm ein treuer Knecht gewesen war, und die andere Hand legte er auf mein Haupt. Ich fragte unter seinen Händen: Herr, wenn Ihr nimmer keimkehrt, wem soll ich ferner dienen? Darauf sprach er: Deiner Herrin Edith, solange sie dir das Brot hinaussendet und dir das Lager bereiten läßt, wenn du im Winter zum Hofe kehrst. Ich antwortete: Das tue ich gern. Aber sieben Frischlinge laufen auf dem Hofe, und wenn mich die wilden Gewalten des Waldes bis zu dem Tage verschonen, an welchem ihnen die Eberzähne schießen, welchem der Jungen soll ich angehören? Laßt mich nur dem Besten dienen. Wer der Beste wird, weiß nur der Christengott, versetzte der Herr, nicht ich. Herr, sprach ich dagegen, der stärkste ist mir im Walde der Beste. Da sprach der Herr: Wenn der Tag kommt, wo die sieben miteinander zu deinem Baum treten, so nimm diese Axt, neu geschärft und mit neuem Stil, und biete sie meinen Söhnen dar, damit jeder von ihnen die Axt in diesen Baum schlage, mit dem besten Schwunge, den er vermag, der jüngste zuerst, der älteste zuletzt, so wie ich sie jetzt schlage. Und siebenmal sollst du selbst die geschwungene Axt aus dem Holze reißen, dabei prüfe, welcher von meinen Knaben am schärfsten schlägt; und der dir selbst als der stärkste erscheint, dem magst du dienen. Da hob Herr Irmfried seine Axt aus dem Sattelgurt und schlug sie in den Stamm, so wie sie jetzt noch hängt.« Die Jünglinge traten neugierig an die Waffe des Vaters. Der Alte aber stellte sich abwehrend davor und fuhr mit gehobenen Armen fort: »So bezeuge der Eichbaum und bezeuge die Herrenaxt, daß Held Irmfried mir solches Versprechen getan hat. Vor meinen Zeugen frage ich euch, ihr Söhne des Toten, ob ihr den Willen eures Vaters zu ehren gedenkt oder nicht.«

»Wir gedenken seines Willens«, antwortete Odo.

»So helft auch mir, daß ich danach zu tun vermag. Achtmal hat das Land gegrünt, niemand hat die Axt gehoben; das Eisen ist verrostet, das Holz ist herumgewachsen, ich selbst hütete sorglich meine Zeugen an ihrer Stelle. Jetzt aber naht die Zeit, wo ihr sieben zu euren Tagen kommt und im Schwertgurt das Erbe eures Vaters teilen werdet. Für diesen Tag muß ich den Stiel schnitzen und das [] Eisen schärfen, und darum will ich, daß heut einer von euch die Herrenaxt heraushebe und mir in die Hand lege, damit ich mein Recht gewinnen kann.«

Da rief der junge Adalmar, nach dem Axtstiel greifend: »Gefällt es euch, Brüder, so schärfe der Knecht zur Stelle die Schneide, und heut schon prüfen wir die Kraft, damit er seinen Willen habe.«

»Mir aber gefällt es nicht, daß ihr leichtherzig an dem Stiele zerrt«, versetzte der Sauhirt finster. »Nicht alle seid ihr versammelt, der jüngste ist noch ein Kindlein, und ganz richtig begehre ich die Herrenwahl, wie euer Vater gebot. Heut will ich selbst einen von euch rufen, der zuerst nach seinem Vater den Stiel erfassen soll.«

Odo antwortete: »Wenn dein Ruf nur ein Spiel sein soll, das dir gefällt, so spreche ich nicht dawider.«

Da sprach der Hirt: »Ich aber wähle die Hand, die von Wolfsblut rot ist. Denn du, Immo, warst der einzige, der dem alten Knechte die Hand gereicht hat, wie dein Vater tat. Tritt an den Stamm und zucke dreimal, dann weiche zurück.«

Immo trat herzu und rückte gewaltig am Holzgriff. Beim dritten Zuge brach der Stiel, Immo aber riß das Eisen aus dem Baume, daß es auf den Grund fiel. Da hob der Alte das Eisen auf und betrachtete es kopfschüttelnd: »Eine Vorbedeutung erkenne ich für dich selbst, Immo; fest ist dein Griff, mit dem du die Herrschaft erwirbst, doch hüte dich, daß sie dir nicht bei hastiger Tat entgleite. Ich aber bewahre die Axt bis zu dem Tage, an dem sich der Knecht seinen Herrn sucht.«

Der Alte kehrte zu dem Wolfsbalg zurück, die Brüder schwangen sich auf die Rosse. Aus der Markung ihrer eigenen Dörfer führte Ortwin die Schar auf fremden Grund.

Wenige Wegstunden nordwärts umgab der Nessebach mit Teichen und sumpfigem Moor wie ein großer Wallgraben andere Höhen, an welchen fruchtbares Ackerland unter lichtem Laubwald lag. Auch dort waren alte Wohnstätten der Thüringe, während hinter ihnen im Norden viele angesiedelte Franken saßen, welchen der Graf von Tonna gebot; die Bauern vom Moor der Nesse aber hielten sich gern zu ihren Landgenossen am Walde. Sie waren stolz auf ihre Freiheit und wurden von den Dienstmannen des Grafen als altväterisch in Bräuchen und Bewaffnung verspottet. Denn sie zogen ungern zu Rosse ins Feld, auch wenn sie es vermochten. Aber sie waren auch als trotzige Gesellen in der ganzen Gegend gefürchtet, und man wußte, daß sie in Kriegsfahrten starke Fäuste bewährt hatten.

Seit alter Zeit bestand zwischen ihnen und dem Geschlecht des Irmfried, welches um die roten Berge wohnte, ein gutes Vernehmen. Niemand wußte zu sagen, woher das Bündnis kam, es war seit je [] gewesen, und die Weisen sagten, daß es schon lange bestanden hatte, bevor die Ungarn ins Land brachen. Und es war ein alter Brauch, daß das Geschlecht Irmfrieds bei allen Fehden, welche die Dörfer mit den Nachbarn hatten, und auch bei Missetaten, über welche das Geschrei erhoben wurde, im Eisenhemd herzuritt und mit den Freien dort gemeinsam die Abwehr und Rache betrieb; dafür zog auch die Jugend der Dörfer dem Geschlecht mit Speer und Bogen zu Hilfe, wenn dieses mit anderen verfeindet war. Diese gute Nachbarschaft war den Grafen und den geistlichen Herrn unlieb. Denn die Landleute wehrten sich trotziger gegen jede neue Last, welche die Grafen auflegen wollten, und man sagte ihnen nach, daß sie auch heimlich abseit von dem Grafenstuhl untereinander Urteil fänden gegen ihresgleichen in schweren Fällen.

Als die Reiter dem ersten Dorfe nahten, erhob Ortwin den Horngesang, und sie fanden an Tor und Brücke die Alten des Dorfes aufgestellt. Odo ritt vor und wechselte mit ihnen alte Sprüche, welche den Freien am Wald eigen waren und anderen ungebräuchlich. »Im Sonnenschein, beim Wandel des Mondes, unter glitzerndem und fallendem Stern kommen wir zu euch wegen Recht und Rache.« Worauf die Bauern antworteten: »So grüße euch die Sonne, der Mond und der lichte Morgenstern, seid willkommen in unserer Burg.« Und als die Reiter abgestiegen waren, wurde ihnen ein Trunk gereicht und den Rossen Hafer in kleinen Krippen, dabei sagte der alte Bauer: »Freiwillig reitet ihr und freiwillig schütten wir den Hafer«, worauf Odo antwortete: »Und wenn wir nicht ritten, dann würdet ihr reiten, und wir würden euch den Hafer schütten.« Darauf besprach sich Odo heimlich mit den Alten, und die Schar brach zum nächsten Dorfe auf.

Als sie aus einem Gehölz herabkamen, um den Bach zu durchreiten, sahen sie vor sich eine hohe Rauchwolke aus niedergebranntem Hause aufsteigen. Ortwin hielt, und rückwärts gewandt sah er seinen Bruder Odo bedeutungsvoll an, dieser nickte, und die anderen Brüder tauschten leise Worte. Als sie nun weiter hinunterkamen zum Rand des Baches, fanden sie die Furt durch einen Wagen gesperrt, Hausrat, Leinwand und Kleider lagen unordentlich und halbverbrannt darauf. Ein bleiches, vergrämtes Weib hockte auf dem Sitz und hielt ein schreiendes Kind in den Armen, während der Mann mit verstörtem Gesicht und geschwärzten Händen vergebens auf sein Pferd schlug, damit das kraftlose Tier aus dem strudelnden Wasser die Höhe gewinne. Der Mann grüßte die Reiter mit scheuem Blick, aber gleich darauf rief er kläglich um Hilfe. Doch Odo wandte das Pferd ab, und die Brüder sprengten aufwärts zu einer anderen Stelle des Bachs, ohne den Gruß des Mannes zu erwidern und seine Not zu beachten. Immo, der im Kloster gewöhnt war, den Armen und Notleidenden Mitleid zu [] erweisen, sprach den Brüdern zu: »Schmählich ist es, wegzureiten, während der Arme mit Weib und Kind im Wasser ringt.« Odo rief herrisch zurück: »Soll ich dir Gutes raten, so folge uns, ohne diesen anzureden.«

»Pfui über euch«, rief Immo wieder, »daß ihr ein Weib und Kind in der Angst zurücklaßt.« Er sprang ab, band sein Pferd an einen Baum und watete in das tiefe Wasser. »Treibe noch einmal«, riet er dem Manne und griff selbst mit voller Kraft in die Räder, die Peitsche knallte, der Mann schrie, und mit der Hilfe des Starken gelang es, den Karren aus dem Bach heraufzuführen. »Wer bist du?« fragte Immo, »und warum entfährst du hilflos der Feuerstätte?«

»Hunold bin ich genannt, wir gehören dem großen Bischof zu Erfurt. Sein Vogt hat mich auf neuer Rodung angesiedelt, im Frühjahr haben seine Leute mir geholfen, die Hütte zu bauen. In dieser Nacht wurde sie mir niedergesengt, und als der Hund in der Stube bellte und ich erwachte, war die Tür von außen verschlagen. Mit der Axt mußte ich sie unter loderndem Feuer aufbrechen, um diese zu retten. Einsam blieb ich während des Mordbrandes, kein Notschrei führte mir einen Helfer zu.«

»Und wo willst du hin, Unglücklicher?«

»Hinweg von hier, die Flur ist unheimlich für Fremde; den Herrn Vogt will ich anflehen, daß er mich ansiedle, wo es auch sei, nur weit von hier. Beschwerlich ist ein Lager unter den Disteln.« Das Weib heulte und das Kind schrie, Immo griff in den Beutel, den ihm der Abt geschenkt hatte, und legte der Frau eine Handvoll runden Silberblechs in den Schoß. »Aus dem Kloster seid ihr blanken, und in Klosterweise streue ich euch aus«, sagte er gutherzig. Er schüttelte sich das Wasser aus dem triefenden Gewande, sprang in den Sattel und ritt den Brüdern in gestrecktem Laufe nach. Als er ihre Schar erreichte, warfen die anderen finstere Blicke auf ihn und wandten die Gesichter ab.

»Seit wann beschützen die Söhne Irmfrieds den nächtlichen Mordbrand?« fragte Immo, zu Odo reitend, verächtlich.

»Nicht wir haben das Feuer entzündet«, versetzte Odo. »Kränkt dich, daß wir von einem Vogelfreien abwärts ritten, so kränkt uns deine hilfreiche Hand.«

»Galt euch der Mann als vogelfrei, so lobe ich den Brauch nicht, ihm Weib und Kind zu sengen.«

»Führt der Hahn sein Volk in die Burg des Fuchses, so büßt es Henne und Huhn. Ich riet dir nicht, unserem Ritt zu folgen.«

»Unwillkommen ist der Mahner«, rief Ortwin, »der unsere Bräuche nicht kennt.«

Und Erwin: »Dünkst du dich klüger als deine Landsleute, so wärst du besser bei den Mönchen geblieben.«

[] »Kommst du, uns Mönchslehre zu geben«, spottete Adalmar, »so wirst du hier eine demütige Gemeinde nicht finden.«

»Wie die Eule schreist du deinen Warnungsruf, und dein Gesang klingt widerwärtig im Lande«, höhnte auch der junge Arnfried.

»Daß ich der älteste unter euch bin«, versetzte Immo, sich hoch im Sattel aufrichtend, »das will ich euch, ihr zuchtlosen Knaben, bewähren durch meine Lehre, die ihr mit Achtung hören mögt, und durch die Faust, mit der ich die Ungehorsamen strafe.« Sein Roß setzte im Sprunge zwischen die Schreier, und so gebieterisch war seine Haltung, daß die Jüngeren verstummten.

»Du irrst, Immo«, begann Odo, »nicht du bist der Erste im Hofe und auf unserer Flur, und nicht dir kommt es zu, die Knaben zu ziehen, sondern mir. Denn ich bin, da der Oheim uns verfeindet ist, der Älteste des Geschlechts, welcher ein Schwert trägt und auf Heldenwerk denkt, du aber wirst ein betender Pfaffe.«

»Ob ich dereinst ein geistliches Gewand tragen werde oder nicht, jetzt führe ich mein Schwert wie ihr, und die Ehre des Ältesten fordere ich als mein Recht, das nicht du und kein anderer mir nehmen soll.«

»Nicht die Jahre allein zählen wir, auch die Taten des Mannes«, antwortete Odo. »Während du auf der Schülerbank saßest, zog ich mit deinen Brüdern zum Kampf. Viermal hielt ich die Schildfessel im Grenzkriege gegen die Slawen, auch deine jüngeren Brüder sind mehr als einmal auf die Kampfheide geritten. Wo sind die Heldentaten, deren du dich rühmen kannst?«

»Ihr sahet zu, wenn Häuser brannten und Weiber in der Not ihre Arme hoben. Wenig vermag ich eure Kriegstaten zu loben«, rief Immo. »Fahret dahin auf eurem Weg, ich finde den meinen allein.« Er wendete zornig sein Roß und ritt seitwärts über die Flur.

Als Immo in beschwertem Mute dahinfuhr, hörte er aus der Ferne kunstvollen Peitschenknall, einen Gruß, den er wohl kannte. Er sprengte über das Brachfeld zu dem Acker, den Brunico, der Bruder des Mönches Rigbert, mit den Ochsen des Vaters pflügte. Der junge Landmann hielt an, Immo streckte schon von weitem die Hand aus, den Jugendgespielen zu begrüßen. »Denkst du der Reden«, sprach Immo, »die wir einst in unserem Hofe tauschten, daß wir miteinander im Eisenhemd reiten wollten?«

Brunico nickte. »Langsam wandeln die Ochsen, und langweilig dünkt mich, die Schollen zu treten.«

»Ich komme dich mahnen, ob du mit mir zum Heere des Königs ziehen willst als mein vertrauter Mann, der sich mir für die Schwertreise gelobt.«

Die Augen Brunicos glänzten. »Wenn der König und der Markgraf nur noch ein Jahr warten wollten, bevor sie aufeinander losschlagen, so wäre das besser wegen des Hengstes, auf dem ich [] dich begleiten will. Denn das Roß ist noch jung für die Kriegsfahrt. Ich selber bin meines Vaters Sohn und sitze an seiner Bank. Und wenn ich auch etwas tun will, so bin ich doch der Worte nicht mächtig, um den Alten zu bereden; das mußt du wagen. Und dann gibt es noch jemanden, den ich gern darum früge.«

»Ist die Jungfrau aus eurem Dorfe?« fragte Immo lächelnd.

Brunico schüttelte das Haupt und wies nach Osten. »Weiter aufwärts am Bach. In der nächsten Nacht hole ich dort Bescheid.«

Als Immo die Schar der Brüder aus dem Dorfe reiten sah, lenkte er sein Pferd dem Hofe des Baldhard zu. Der Bauer stand in seinem Hoftor. »Sei gegrüßt, Immo«, rief er ihm zu, »einem Helden gleichst du auf deinem Rosse; reite ein, damit du der Mutter von ihrem Kinde erzählen kannst.«

Immo saß zwischen den beiden Alten, und vertraulicher als gegen sein eigenes Geschlecht sprach er zu ihnen vom Kloster und von der treuen Gesinnung des Rigbert. Frau Sunihild trug auf, was sie vermochte, um den Gast zu ehren, und pries ihn glücklich, daß er den Heiligen dienen sollte; doch in der Miene des Hausherrn erkannte Immo trotz der gutherzigen Weise eine Unzufriedenheit. »Manches Mal hast du mir Gutes geraten, Vater«, begann Immo, »auch heut begehre ich etwas von dir, was meiner Zukunft nützen soll.«

»Willst du Geheimes von mir hören«, versetzte der Alte, »so tritt hinaus ins Freie, denn der Wind, der über das Halmfeld weht, verträgt geheime Worte besser als die hallende Hauswand.« Baldhard führte seinen Gast aus der Niederung nach der alten Grenzeiche, die auf freier Höhe weit im Lande sichtbar stand. »Du kennst die Sage«, begann der Alte, »welche verkündet, daß um diese Eiche vorzeiten ein Lindwurm gehaust hat, welcher Feuer in die Höfe trug und sich die Menschen zum Fraß raubte, bis einmal ein starker Held mit seinem kleinen Sohn des Weges kam. Dieser setzte seinen Sohn auf einen Stein, und als der Arge herankam, das Kind zu holen, erlegte der Held den Wurm, aber ihn selbst verbrannte die flammende Lohe, welche aus dem Rachen des Untiers kam. Ein Weib aus unserem Dorfe drang mutig zu der Stätte, sie fand den Helden tot, den Knaben unversehrt unter brennendem Holz und versengtem Gras. Unsere Väter meinen, der Knabe sei von deinem Geschlecht gewesen und das Weib, welches ihn bewahrte und erzog, von meinem. Darum ist dies die Stelle, wo ich mit dir am liebsten vertraulich reden will.« Er trat unter die Eiche, wies nordwärts über die große Flur seines Dorfes und die benachbarten Markungen und begann: »So weit du hier das Land siehst, war einst alles freies Erbe handfester Männer, siehe zu, was die Kirche und die Grafen daraus gemacht haben. In allen Dörfern liegen jetzt die [] Hufen unter verschiedenem Recht. Viele gehören den Mönchen deines Klosters, andere den Mönchen von Fulda, noch mehrere dem Erzbischof von Mainz, und was am leidigsten ist, viele auch den gräflichen Dienstmannen. Diese sitzen unter uns und sperren, wenn sie es vermögen, ihre Höfe mit einem Graben gegen das Dorf, obgleich sie vielleicht als unfreie Leute unter der Faust des Grafen stehen. Völlig zerrissen ist die Gemeinschaft der Dorfgenossen, schon sind an vielen Stätten unseres Stammes die Freien in der Minderzahl, alljährlich verschlingen die Kirche oder fremde Gebieter mehr von unseren Hufen und Behausungen. Wie sollen die Landleute noch zusammenhalten, wenn sie von allerlei Herren Befehle empfangen und um die Gunst verschiedener zu sorgen haben. Keine Dorflinde kenne ich, unter welcher der Friede bewahrt wird, bei jeder Fehde der Großen streiten die Genossen desselben Dorfes gegeneinander, und über jede Flur reiten fremde Herrenrosse. Wer aber mächtig ist, ob er die Kutte trägt oder den Schwertgurt, der weiß sich auszubreiten, wenn er sich einmal in einer Flur eingenistet hat. In unserem Dorf mißlang es den Fremden bisher noch, in den Bund der Freien einzudringen. Denn wenn die Grafen wider das Recht im Gemeindeholz gerodet hatten, um ihre Leibeigenen anzusiedeln, so weigerten unsere Knaben den Unfreien Gruß und Verkehr auf dem Anger und verbrannten bei Nacht die neuen Hütten.« Er sah mit einem wilden Blick nach der Seite, von welcher die Rauchsäule aufstieg. »Ich selbst habe einen Sohn auf den Altar gelegt, weil die Mutter das weinend von mir erbat, und ich hoffe, die Gabe wird den Heiligen willkommen sein. Auch bin ich nicht säumig, dem Kloster Spenden zu geben, und mehr als ein Füllen und manches junge Rind habe ich nach Ordorf geführt. Aber das Land, auf dem wir im Herrenschuh schreiten, wollen wir soweit es uns noch geblieben ist, vor den begehrlichen Mönchen bewahren, obgleich sie uns viel Günstiges in der großen Wolkenburg verheißen. Darum vernahmen wir Landleute mit Trauer, daß dein Geschlecht um deinetwillen eine gute Burg der Kirche übergeben will. Denn wir gedenken wohl, daß die roten Berge zur Zeit unserer Väter der ganzen Landschaft vor den wilden Ungarn Zuflucht gewährt haben. Damals lagen die Weiber und Kinder und das Herdenvieh unserer Dörfer in eurem Bergwall, und die Männer verschanzten die Talwege und die Höhen mit Verhau und Wasser und wehrten den Einbruch der grausamen Heiden siegreich ab Damals öffnete dein Geschlecht uns die rettende Burg, und seine Helden geboten im Kampfe. Jetzt aber sollen die Pfaffen dort herrschen, und niemand weiß, wem sie bei einer Fehde anhängen werden.«

Immo ergriff die Hand des Bauern. »Vater, so wie du denke auch ich. Wenn ich es zu hindern vermag, soll kein Geschorener auf der Mühlburg gebieten, nicht der Erzbischof und nicht ein anderer.«

[] »Du selbst aber bist der Kirche verlobt?« fragte Baldhard erstaunt.

»Als Kriegsmann will ich zu König Heinrich reiten, wie sehr auch meine Mutter traure, und gerade deshalb komme ich zu dir.«

»Wahrlich«, rief der Bauer, dem Jüngling kräftig die Hand drückend, »jetzt gefällst du mir ganz und gar, Immo, und ich hoffe auch, obwohl du jung bist, daß du diesen Sinn bewahrst und in deinem Leben allem Herrendienst widerstehst.«

»Gefällt dir, was ich will, mein Vater«, fuhr Immo fort, »so hilf mir auch, daß ich's ausführe. Denn nicht als einzelner möchte ich dem König zuziehen, sondern mit der Jugend unserer Dörfer. Auch deinen Sohn Brunico, der einst mein Gespiele war, erbitte ich von dir für die erste Schwertreise.«

Baldhards Gesicht zog sich ernst zusammen, und er überlegte lange, bevor er entgegnete: »Willst du mit einem Gefolge, wie dir geziemt, zum Herr des Königs reisen, so siehe zu, ob dir manche unserer jungen Männer mit freiem Willen folgen, ich wehre dir's nicht und ich spreche nicht dagegen. Doch einen Heerdienst über das harte Maß, welches uns ohnedies aufgelegt ist, vermag ich auch nicht zu loben.«

»Vielleicht gefällt dir der Zug besser, mein Vater«, beredete Immo, »wenn du selbst an das denkst, was wir an deinem Herde über den bösen Willen der thüringischen Grafen sprachen. Denn ist der König in Bedrängnis durch die Untreue der Großen, so wird er es rühmen, wenn die freien Waldleute ihm jetzt ihre Treue beweisen, und darum mag der Zug euch in Zukunft frommen gegen die Grafen.«

»Verständig sprichst du, um mich zu überreden«, versetzte der Alte, »aber wer mehr tut, als ihm obliegt, der wagt vielleicht auch mehr, als ihm recht ist. Wenn der König seinen Feinden unterliegt, dann würden wir's büßen, daß wir mehr Eifer gezeigt haben, als uns geboten war. Darum dürfen unsere Knaben nur als Freigänger der Donau zuziehen, auf ihre eigene Gefahr und ohne Ladung der Gemeinde. Nützt uns ihr Zug beim Könige, so haben wir den Vorteil, im andern Falle tragen sie den Schaden. Ich sehe auch ungern, daß du meinen jüngsten Knaben zu deinem Roßdienst werben willst, und ich würde dir ihn am liebsten versagen. Aber ich gedenke, daß er mir nützen kann, wenn mein Geschlecht sich dem deinen wert erhält. Auch der Kriegskunst des Knaben kann es frommen, daß er einmal an deiner Seite sich im Schwertdienste übt. Dennoch fürchte ich für ihn die Verführung. Denn wenn er mit dir unter dem Rittervolk dahinfährt, werden ihm die roten Strümpfe der fränkischen Dienstmannen und ihr weißer Schwertgurt vielleicht gefallen, und er wird fortan lieber den Speer halten als den Pflugsterz. Ich aber kann nicht ertragen, [] daß der ehrliche Bau in unserer Flur ihm verleidet wird. Darum gelobe mir, daß du meinen Knaben nur auf Jahr und Tag an dich bindest und daß du ihm, soweit du vermagst, sein Heimatdorf lieb erhältst und auch die Peitsche, mit welcher er einst auf seinem freien Erbe über Rinder und Rosse gebieten soll.«

Das gelobte Immo, und in gutem Einvernehmen verhandelten beide über die Fahrt zum König.

Als letzter kehrte Immo am Abend in den Saal zurück, die Brüder saßen zusammen an der Bank, beachteten seinen Eintritt wenig und sprachen leise miteinander. Immo sah finster über sie weg, begrüßte die Mutter, welche auf ihrem Stuhl seine Ankunft erwartet hatte, und setzte sich abseit. Ihm gegenüber hingen an der Wand die Rüstungen, welche sein Vater als Siegeszeichen aus dem Kriege heimgebracht hatte, daneben auch Slawenschwerter und Streitkeulen, die er noch nicht kannte. Er wußte, es waren Beutestücke seiner jüngeren Brüder. Da wurde ihm der Sinn noch mehr beschwert; er trat an eine Rüstung seiner Ahnen, hob das Schwert vom Pflock, trug es zu seinem Sitz, zog es aus der Scheide, prüfte seine Schärfe und legte es neben sich. Odo stand schweigend auf, nahm die Waffe weg und schritt zu dem Nagel, um sie aufzuhängen. Da fuhr Immo empor, riß dem Bruder das Schwert aus der Hand und rief: »Unheil bringe dir der Griff nach meiner Waffe, denn dieses Erbstück des Geschlechtes fällt nach dem Brauch dem Ältesten zu.«

»Vielleicht dem ältesten Kriegsmann«, versetzte Odo, »der aber bist du nicht. Besseres hat das gute Eisen verdient, als an der Seite eines Pfaffen zu hängen, der das Schwert nur trägt, wenn er seines geschorenen Haares vergißt.«

»Versuche es zu nehmen«, rief Immo, »so sollst du selbst erfahren, ob meine Hand es zu schwingen vermag.«

Gertrud, die zu den Füßen der Herrin saß, tat einen gellenden Schrei. Edith erhob sich aus ihren Gedanken, und als sie die Brüder kampflustig gegeneinander sah, wurde ihr Antlitz totenbleich, und sie stürzte zwischen die Hadernden: »Gib mir die Waffe, Immo«, rief sie und faßte die Scheide, »Unheil hängt an dem Eisen.« Sie löste die Waffe aus der Hand des Sohnes. »Wisset, ihr Zornigen, euer Vater selbst mied das Schwert, denn er trug es an einem Tage, der ihn oft gereut hat. Und als ein Unglückszeichen hängt es seitdem ungebraucht an der Wand. Harret der Zeit, wo das Los geworfen wird über diese und andere Habe, ich meine, keiner von euch wird dann noch lüstern sein, die Waffe an sich zu reißen.« Sie hing das Schwert an den Pflock und trat zu ihrem Sitz zurück, während die Söhne voneinander abgewandt gegen ihren Unwillen rangen.

Die Mutter, in deren Antlitz noch der Schrecken zuckte, gebot von der Höhe: »Töricht war euer Streit. Den Frieden des Hauses habt [] ihr gebrochen, gleich unbändigen Knaben widerstrebt ihr einander. Reichet euch die Hand zur Versöhnung, damit auch ich euren Frevel vergesse.« Und da die Söhne unbeweglich standen, rief sie mit flammenden Augen: »Du zuerst, Immo, ich befehle es.« Widerwillig streckte Immo die Hand aus, die Odo ebenso ergriff. Ein langes unbehagliches Schweigen folgte, endlich begann Edith: »Sage mir, Immo, wie kommt es doch, daß du zu deiner Mutter so gar nicht von dem Kloster sprichst und von deiner Lehrzeit.«

»Du selbst weißt, Mutter, daß es nicht ziemet, die Geheimnisse des Klosters kundzutun.«

»Ist denn alles geheim, was ein Schüler dort erfährt?« fragte die Mutter. »Ich meine, nur die Mönche sind gebunden.«

»Auch mich bindet ein Gelöbnis, das ich vor Herrn Bernheri getan«, versetzte Immo.

»Dann lobe ich dein Schweigen«, fuhr Edith fort, »doch laß die Mutter noch eine Frage tun. Wie kommt es doch, daß du die frommen Väter zu Ordorf nicht begrüßt hast, da du doch sonst jeden Tag durch die Flur reitest? Mancher von ihnen kennt dich aus dem Kloster und von früher her, und mehr als einer will dir wohl. Und daß ich dir alles sage, der Magister war heut in unserem Hofe, deinetwegen kam er hierher, und er klagte, daß die Väter und die Scholastiker in seiner Zelle sich beschwert fühlen, weil du dich von ihnen fernhältst, obgleich du doch auf der Wassenburg mit den Dienstmannen verkehrt hast.«

»Gute Kundschaft haben die Mönche«, entgegnete Immo bitter, »und neugierig schleichen sie hin und her.«

»Du hast unrecht«, versetzte Edith, »guten Leumund haben sie im Lande.« Da Immo schwieg, fuhr sie fort: »Der Magister klagte, daß ein Bruder, der von dem großen Mann Tutilo gesandt ist, schwere Kunde aus dem Kloster gebracht habe. Von hartem Zwist der Mönche sprach er, und daß viele aus dem Kloster scheiden wollten. Auch dem Boten des Tutilo lag es sehr am Herzen, daß du in die Zelle nach Ordorf kämest.«

»Wenn ein Bote Tutilos mich ladet«, rief Immo, »so wird er vergeblich harren. Er mag seine Botschaft, wenn er es wagt, hierher zu meinen Ohren tragen.« Immo schritt aus der Halle in Mißbehagen und Sorge. Er gedachte einer guten Lehre des Bertram, die er nicht befolgt hatte. Weil er der Mutter und den Brüdern am ersten Tag seinen Willen verborgen hatte, fand er sich in Widerwärtigkeiten verstrickt. Auf den Beifall der Brüder durfte er nicht mehr hoffen, und das Herzeleid der Mutter ängstigte ihn jetzt viel mehr als auf der Reise. Dennoch erkannte er, daß er seinen kriegerischen Sinn nicht länger bergen durfte, und er beschloß, am nächsten Tage sich zuerst den Brüdern mit versöhnlichem Gemüt zu eröffnen und darauf der lieben Mutter. Als er aber nach wortkargem Abend in[] seinem Schlafgemach wieder den Weihrauch roch und die Kerze und die gestickte Herrendecke sah, da bedrängte ihn die Ehre schwer, und auch am anderen Morgen machten ihm die zwitschernden Vögel und der pfeifende Knabe das gepreßte Herz nicht leichter.

Auf einem Vorsprunge des Mühlbergs waren die streitbaren Söhne Irmfrieds versammelt, dazu die Dienstmannen, welche die Burg und die Warttürme der nächsten Höhen besetzt hielten. Hinter den Männern erhob sich die starke Burgmauer, welche die beiden Türme und das hohe Dach eines Herrensaals umschloß, seitwärts ragten die Gipfel und Bergleiten des langgezogenen Ringwalls. Gerade unter dem Vorsprung war der Ring gegen das Tal geöffnet, gegenüber dem Mühlberg stand ein hoher Vorberg, gekrönt mit festem Turme, die beiden Höhen beschützten gleich Schanzen den Zugang. Durch die Talöffnung dazwischen warf die Abendsonne ihr Licht in die umschlossene Tiefe, auf Ackerstücke und Wiesen, und auf den großen, mit hohem Rohr bewachsenen Teich, über welchem dichte Schwärme von Staren und Wasservögeln auf- und niederflogen in unaufhörlichem Schwatzen und Zanken. Hoch aber über ihnen zogen zwei Bergadler ihre Kreise, bis sie in die Wolken der flatternden Vögel hinabstießen, ihre Beute zu holen, dann schrie und rauschte der ungeheure Schwarm und stob in wildem Getümmel auseinander.

Immo stand seinen Brüdern gegenüber. Er sagte ihnen, daß er für die Tage seiner Zukunft den Schwertgurt gewählt habe statt der Stola, und er bat sie mit herzlichen Worten, ihn als Bruder in ihre Genossenschaft zu nehmen und ihm als sein Recht die Ehren des Ältesten zu gewähren und seinen Anteil am Erbe. Er gestand ihnen auch, daß er dem König zuziehen wolle, und daß seine Ehre nicht gestatte, als Landloser unter den anderen Edlen zu reiten.

Als er seinen Willen verkündete, ein Kriegsmann zu werden, riefen ihm die Dienstmannen Heil und schlugen ihre Waffen zusammen, die Brüder aber standen mit umwölkter Stirn und waren nicht willig, ihm nachzugeben. Endlich begann Odo: »Hat sich dein Sinn so gewandelt, daß du gegen den Willen der Eltern ein Kriegsmann werden willst, so siehe zu, wie du dich vor unserer Mutter entschuldigst. Darüber mit dir zu rechten, steht uns Brüdern nicht zu. Die Teilung des Vatererbes aber vollbringen wir erst in Jahr und Tag, wenn das Kind Gottfried sein Schwert trägt und bei der Teilung als Jüngster sein Recht ausüben darf, vorweg zu wählen. Denn so ist es beschlossen, und wir alle haben uns seither in der Gemeinschaft wohl befunden. Die Mühlburg hatten wir widerwillig auf das Bitten der Mutter von dem Erbteil ausgeschieden, doch nur für den Fall, daß du die Pflicht der Weihen über dich nimmst, welche das Geschlecht dir aufgelegt hat. Weigerst du dich, dein Haupt zu scheren, so bestehen wir anderen darauf, daß die [] Burg uns allen gemeinsam bleibe bis zur Teilung. Die Herrschaft aber im Geschlechte, über Dienstmannen und Höfe gestehen wir dir nicht zu, obgleich du an Jahren der älteste bist, denn aus dem Kloster kommst du, fremd dem Lande und fremd kriegerischer Sitte, und wir vermögen keinem, der von der Schülerbank entlief, die Sorge um unser Wohl und Wehe zu übergeben. Ziehe du dem Heere des Königs zu, wenn dich der Wunsch übermächtig treibt, versuche, ob du dort als Ältester Ehre gewinnst. Im Walde aber und im Tale der Heimat behaupte ich bis zur Teilung mein Recht, die Brüder und Mannen zu führen.«

Immos Hand ballte sich, und das Blut schoß ihm zum Haupte, aber Berthold, der alte Dienstmann, welcher in der Mühlburg gebot, trat schnell in den Ring und begann gegen Odo: »Traurig ist dieser Tag für einen Alten, der euch beide auf dem Arme hielt, als ihr noch lachende Kinder waret. Euch Herrensöhnen steht wohl an, heiß nach Ehre und Macht zu streben, doch hörte ich den Mann noch höher rühmen, der sich friedlich mit seinem Geschlecht verträgt. Aber deiner Rede, Herr Odo, muß ich widerstehen. Denn nicht zwischen euch allein schwebt der Streit, auch uns verdirbt er das Leben. Das Erbe des Vaters mögt ihr teilen, wann es euch gefällt, über die Ehre des Ältesten aber müßt ihr euch zur Stelle entscheiden. Das fordern wir, die wir euch dienen, als unser Recht. Ihr ladet uns und gebietet, daß wir auf die Kampfheide ziehen und gegen jeden streiten, der euer Feind ist, und jeden ehren, den ihr ehrt. Dem Geschlecht Irmfrieds haben wir Treue geschworen, und wir folgen, solange das Erbe ungeteilt ist, dem Ältesten. Bisher warst du, Odo, uns der Älteste. Jetzt aber steht ein Bruder, der an Jahren dir voraus ist, im Schwertgurt gegen dich und begehrt sein Geburtsrecht. Euch beiden zugleich vermag keiner von uns zu gehorchen, wenn ihr uneinig seid. Und ich sage dir, wir Dienstmannen müssen, bevor die Sonne untergeht, den Herrn erkennen, welchem wir fortan folgen. Darum vertragt euch zur Stelle gütlich, was ich herzlich wünsche, oder entscheidet euren Streit, wie Helden geziemt, indem ihr ein Urteil sucht vom Himmel oder von der Erde oder von eurem Schwert.«

»Gut spricht der Alte«, rief Immo. »Ich biete dir die Hand zur Versöhnung, mein Bruder, behalte du bis zur Teilung das Recht der Erstgeburt in allen Höfen, ja auch unter den Nachbarn, welche uns freiwillig ehren; mir laßt die Burg mit den Bergen und den Dienstmannen, bis in Jahr und Tag das ganze Geschlecht sich gütlich vergleicht.«

»Hältst du die roten Berge in deiner Hand«, versetzte Odo, »so bleibt das Geschlecht in der Ebene wehrlos, und die Mutter und die Brüder mögen büßen, was dein wechselnder Sinn ihnen erfindet. Nötig scheint mir, daß in dem Kriege, der jetzt entbrennt, Land und [] Leute in einer Hand stehen, damit nicht auf dem Grunde unserer Väter der Kampf zwischen Brüdern beginne. Darum vermag ich nicht nach deinem Willen zu tun, selbst wenn ich dir bessere Gesinnung gegen uns zutraue, als du zeither bewiesen hast, und bevor ich dir nachgebe, hole ich ein Urteil von meiner Schwertseite.« Er griff nach dem Schwert, die Brüder sammelten sich um ihn.

»So bezeugt mir, ihr Helden, die ihr meinem Geschlechte dient«, rief Immo in aufbrennender Wut, »bezeuge mir, hoher Himmel, und du, Grund meiner Väter, daß ich den gerechten Stolz gebändigt und ihm nachgegeben habe, soweit ich vermochte, und daß er mich schmäht und meinen guten Willen verachtet. Entehrt vermag ich nicht zu leben, das Blut des Bruders scheue ich mich zu vergießen. Darum fordere ich ein Urteil vom Himmel oder aus der Tiefe. Besser ist es, daß einer von uns beiden dahinschwinde, als daß das ganze Geschlecht in Zwist verderbe. Seht euch um, ihr Männer, wo ihr steht, die roten Berge gleißen und leuchten zu der Herrenwahl, und die in der Erde hausen, rüsten sich, einen Helden zu empfangen.« Er wies vor sich hin, die Tiefe lag in grauem Dämmer, der Dunst auf Wasser und Wiese schied den Bergring von der Ebene; wie abgelöst vom Boden schwebten die Gipfel in der Luft, und in der Abendsonne leuchtete das Erdreich gleich glühendem Metall.

»Gewaltig sind die Worte, die du in der Schule gelernt hast«, warf ihm Odo mit düsterem Blick entgegen, »doch schwerlich gleicht ihnen die Tat. Du warst behend, über geschorene Köpfe zu hüpfen, aber denke nicht, dich ebenso mit leichtem Fuß in die Ehre des Geschlechts zu schwingen.«

»Verhöhnst du meine Sprünge«, schrie Immo außer sich, »so wage auch du mir einen Sprung nachzutun, den ich jetzt um mein Recht wage. Das Gottesurteil hole ich von dem Boden unserer Väter, vertraust du deinem Rechte, so folge mir nach oder entweiche.« Er wies nach der Seite.

Dort gähnte wenige Schritte von den Männern ein Erdriß, der nahe am Gipfel begann und sich bis zum Fuße des Berges hinzog. Vielleicht hatte das herabstürzende Wasser die Kluft geöffnet, vielleicht hatte unterirdische Gewalt das Gefüge des Bodens gesprengt. Die Stelle war unheimlich, und die Leute wußten, daß sich die Schlucht in mancher Zeit schloß und wieder öffnete, sooft Unheil die Landschaft bedrohte. Nackt und kahl starrte das wilde Erdreich in dem Spalt, kein grünes Kraut haftete darin, nur beim Gewitterregen rauschten schäumend die Wasser in trübem Schwall hinab und führten den roten Schlamm über das lichte Gehölz und den Wiesengrund. Ungern klomm jemand längs dem Riß hinab, denn man sagte, daß dort der Eingang in das Innere des Berges sei, und daß böse Gewalten aus dem Reich des alten Gottes das Tor hüteten. Mehr als einer der Burgleute hatte bei Nacht ihr Geschrei gehört, [] Schnauben der Rosse und Bellen der Hunde, und viele hatten im Abendlicht erkannt, wie große Rudel von Wölfen hinein- und herausfuhren. Jetzt gerade war der Riß auf der Oberfläche breiter als wohl sonst, an manchen Stellen so tief, daß man von oben in das Innere des Berges hineinzusehen meinte.

Immo sprang an den Schlund, aber Berthold lief ihm nach und schlang die Arme um ihn. »Halt ein«, rief er, »greulich ist die Stelle, kein Menschenfuß vermag die Tiefe zu überfliegen, fürchte die Unsichtbaren, welche dort unten lauern.«

Aber Immo schüttelte den Alten ab und rief: »Den guten Gewalten meines Lebens vertraue ich, ob sie mir gnädig sind. Sieh her, Odo, der Springer schwingt sich in sein Erbe, folge mir, Kriegsmann, wenn du vermagst.« Und weit ausholend setzte er in mächtigem Schwunge über den Schlund. Erschrocken sahen die Männer die wilde Tat, als er aber am anderen Rand des Schlundes auf die Knie sank und die beiden Arme gegen die untergehende Sonne hob, da schrien die wilden Genossen lautes Heil und zogen die Schwerter. Im nächsten Augenblick verstummten die Rufe, der Leib eines Mannes sank mit schwerem Fall, Odo stürzte in die Tiefe. Immo wandte sich um, und Entsetzen durchfuhr ihn, als er den Bruder undeutlich unter sich liegen sah. Die jüngeren Brüder liefen abwärts, die Gewappneten drängten sich mit starren Blicken um den Spalt. Sobald aber Immo erkannte, daß Odo, der weiter abwärts an das Licht getragen wurde, die Glieder regte und sich auf die Schulter eines Bruders stützte, hob er sich empor auf den Vorsprung, der untergehenden Sonne zu, riß das Schwert aus der Scheide, schwang es dreimal gegen die Sonne und rief: »Zu mir, ihr Helden. Von der Sonne holten meine Ahnen ihr Recht und von keinem geborenen Manne. Bezeuge mir, milde Herrin, daß ich als rechter Erbe Besitz ergreife von Burg und Herrschaft.«

Die Schatten der Nacht lagen auf dem Lande, und dunkle Wolken verdeckten das Sternenlicht, als Immo in den Hof zurückkehrte. Vor der Tür harrte seiner der jüngste Bruder. »Wie geht es dem Gestürzten?« fragte Immo. »Er sitzt zerschlagen im Saal«, antwortete der Knabe traurig. Immo atmete tief und stieß die Tür auf, die Mutter saß bleich auf ihrem Sitz, die Brüder schweigend an der Bank.

Als Immo auf der Schwelle der Mutter gegenüberstand, erhob sie sich, riß das Schwert, welches sie den Abend vorher den Händen des Sohnes entwunden hatte, von der Wand und schleuderte es zwischen sich und Immo auf den Boden. »Hier nimm, was dir zukommt«, rief sie, »die Teilung des Erbes suchst du bei den bösen Geistern des Abgrundes. Das Recht des Ältesten begehrst du an Leib und Leben deiner Brüder. Dem Helden, der so mannhaft denkt, gehört die unheilvolle Waffe; prüfe die Schneide, du Held. Erkennst [] du alte Rostflecke darauf, so wisse, daß die Waffe schon einmal von Bruderblut gerötet ist.«

Immo trat einen Schritt auf Odo zu. »Mich reut der wilde Zorn, mein Bruder, und groß war meine Angst, als ich dich in der Tiefe sah. Zur Stelle fühlte ich schweres Leid. Daß ich dich wiederfinde, nimmt mir das Grauen von der Seele.«

Aber Odo sah finster vor sich hin und antwortete nicht.

»Ich lobe die Entschuldigung«, rief Edith bitter, »welche eine Untat abbläst wie den Staub der roten Berge. Und da wir alle hier gesellt sind, das ganze Geschlecht Irmfrieds mit freundlichem Herzen und guter Meinung zueinander, so vernehmt eine Sage, meine Söhne, welche die Mutter am Feierabend für euch bereit hält. Einst, da ich Jungfrau war im Vaterhause, dachte ein junger Held der Thüringe darauf, ein Sachsenmädchen zur Hausfrau zu werben, und der Vater war ihm wohlgeneigt. Da kam der ältere Bruder des Jünglings, mächtiger an Gut und Ehren, von einem Kriegszuge in den Sachsenhof, dieser gewann größere Gunst des Vaters und erhielt die Jungfrau zum Weibe. Unter den Brüdern entbrannte Feindschaft, in den Mauern ihrer Stammburg zogen sie gegeneinander die Schwerter, und der jüngere wurde durch die Waffe des Bruders schwer getroffen. Seitdem ahnte den Gatten Übles für die Zukunft, und sie meinten den Zorn der Ewigen zu versöhnen, wenn sie das erste Kind dem Dienst des Himmelskönigs weihten. Dies Kind warst du, Immo. Heut aber trug ein Bruder deines Klosters mir die Kunde zu, daß du am Altar der Heiligen die Hand gegen einen Geweihten erhoben hast und als ein Missetäter aus dem Kerker des Klosters entwichen bist.«

»Den Tutilo schlug ich am Altar nieder«, rief Immo dagegen, »weil er die Faust gegen seinen Abt ballte und gegen mich selbst die Geißel schwang. Wurde die heilige Stätte entweiht, nicht ich war der Verbrecher, sondern er. Und wagt der Babenberger mir noch einmal gegenüberzutreten, bei allen Heiligen des Himmels, wo es auch sei, ich tue ihm dasselbe. Du selbst aber weißt, daß ich nicht aus dem Zaun des Klosters gebrochen bin, sondern durch den Abt in Freiheit zu dir gesandt.«

»Nicht als ein Freier kehrtest du in das Haus deiner Väter, als Geweihten des Herrn begrüßten wir dich, und du täuschtest die Mutter durch unwahren Bericht.«

»Das tat ich nicht«, rief Immo. »Als ich die Freude sah, mit der du auf meine Weihe hofftest, da wurde mir allzu schwer, dir zu sagen, daß ich die Stola für mich nicht begehre. Heut aber bekenne ich dir's, obwohl du zornig bist. Ich vermag nicht den Heiligen zu dienen, wie du begehrtest.«

»Ungehorsam willst du sein deinen Eltern und treulos gegen den Himmelsherrn«, rief Edith heftig.

[] »Gehorsam wirst du mich finden in allem, worin der Sohn seiner Mutter gehorchen darf, und um die Gnade des Himmelsherrn denke ich als ehrlicher Kriegsmann zu werben. Aber ein Pfaff werde ich nicht.«

»Als ich dir das erste Gewand auf deinen Leib zog, habe ich dich dem Dienst der Heiligen gelobt. Wie darfst du wagen, das Gelübde deiner Mutter unwahr zu machen?«

»Hast du dein Kind zum Opfertiere geweiht, um dich von der eigenen Not zu lösen«, rief Immo, »so siehe zu, ob du ihm seine Hörner zu binden vermagst. Ist das die Liebe der Mutter, daß sie den Sohn in das Elend stößt und mit seinem Haupte die Buße bezahlt, um sich selbst das irdische Heil zu sichern?«

Edith zuckte wie unter einem Schlage, ihr Antlitz erblich, als sie sprach: »Eines Gottlosen Stimme höre ich. Für ein Elend gilt dir der heilige Dienst, und einen Verstoßenen nennst du dich, während ich dir das Beste bereiten will, was dem Menschen auf dieser Erde vergönnt ist. Mein bist du, von meinem Leibe kommst du, und meine Treue hat dir das Leben bewahrt. Wem gehörst du an, wenn nicht deiner Mutter?«

»Gabst du mir das Leben, so gabst du mir doch nicht denselben Wunsch, der dir die Seele füllt. Nicht nach deinen Gedanken vermag ich zu wandeln, Liebe und Leid fühle ich anders als du und dem eigenen Willen gedenke ich fortan zu vertrauen, wenn ich auch deinen Rat ehrfürchtig höre.«

»Bist du so frei von der Pflicht gegen die Mutter und gegen dein Geschlecht, so vergiß auch, wer dich laufen lehrte und wer dir zuerst die Worte deiner Rede vorsprach, vergiß, daß du ein Sohn des Irmfried und der Edith bist, und wandle dahin gleich einem Vater und Mutterlosen, der irgendwo am Wasser oder unter dem Baum gefunden ist. Alles Gute, das dir von der Mutter und den Ahnen kommt, willst du für dich nützen, deines Geschlechtes willst du dich rühmen, und wenn sie dir sagen, daß dein Antlitz dem deines Vaters gleicht, willst du lachen und nicken. Aber was dir von Pflichten obliegt als dem Sohne deines Hauses und dem Kinde deiner Eltern, dem willst du dich frevelhaft entziehen. Ich lobe die Klugheit, Immo. Doch wisse, du Freier, wenn du deine Pflicht gegen die Mutter verachtest, so naht der Tag, wo die Mutter sich deiner schämt.«

Mit glühendem Antlitz sprang Immo zurück: »In der Halle meiner Väter höre ich die Kuttenträger zischen; sehnsüchtig kam ich her und begehrte die Liebe der Mutter und der Brüder; geschwunden ist die Treue, kalte Hohnrede vernahm ich von den Lippen der nächsten Verwandten. Lenke du den Flug deiner Nestlinge, Mutter, wie es dir gefällt, mir aber hast du den Sinn verwandelt und unter den wilden Tieren will ich lieber hausen als hier.« Er sprang aus [] der Tür und über den Hof, riß sein Pferd aus dem Stalle, hob den Balken des Hoftors und sprengte über die Brücke, während die Mutter in der erleuchteten Halle stand und die Hände über ihr Herz preßte. »Eilt ihm nach«, befahl die Mutter, »daß seine Seele nicht unter den bösen Geistern der Nacht verderbe.«

»Wie mögen wir ihn hindern, er ist ja der ältere«, versetzte Odo trotzig. Doch Gottfried lief in den Hof und rief den Namen des Bruders in die Nacht hinaus, nur undeutlich klang die Kinderstimme in das Ohr des Entweichenden. Es war ein leiser Ton, aber die Tränen brachen dem Flüchtigen aus den Augen, da er ihn hörte. In die Nacht hinein ritt Immo halb bewußtlos, das Blut hämmerte in seinem Haupte, die Mondsichel am Himmel zitterte, und die Sterne flirrten und verschwanden vor seinen Augen; er sprengte durch den Bach, daß die Flut um sein Haupt spritzte, und fuhr über Wiesengrund und Felder den Bergen zu. Dort fand er sich in dichter Finsternis, schwarze Baumwipfel bargen das Wolkenlicht, die Äste und Zweige schlugen in sein Gesicht und hielten wie mit Krallen sein Haar und Gewand. Zitternd suchte das Roß einen Weg durch das wilde Gestrüpp, bis der Reiter wieder den Nachthimmel über sich sah und einzelne Hügel, die dunkel vor ihm aufstiegen. Als er sich in dem Talkessel zwischen den roten Bergen fand, da hob er den Arm in wilder Freude nach den Gipfeln und ritt längs dem Bergwall dahin. Die Stimmen, welche in dem hohen Rohr schrien und stöhnten, warnten ihn, daß er sein Roß der Höhe zu riß, denn dort unten hausten tückische Geister, die Roß und Mann festhielten und langsam hinab in die grundlose Tiefe zogen. Vor ihm flackerte durch den Wasserdunst ein rotes Feuer, und undeutliche Schatten fuhren riesengroß durch den Lichtschein. Da sträubte sich ihm das Haar, auch das Roß ächzte und stauchte zurück, und er hörte eine Menschenstimme: »Wer stört das Mahl und dringt in den Reigen, haltet ihn fest und werfet ihn zu Boden.« Er spornte das Roß zu weiten Sätzen, und als er vorüberfuhr, sah er eine Flamme auf Steinhaufen, grellbeleuchtete Gestalten von Männern und Weibern, wilde Gesichter und gehobene Arme. Wie vom Sturmwind getragen fuhr er hindurch, hinter ihm flogen Speere und krachte eine geworfene Axt, lautes Hallo und Geheul folgte. Dann war er wieder allein in dichtem Nebel. Er schlug sein Kreuz und sprach hastig das Kredo, er wußte, jene hinter ihm waren Landleute aus der Ebene, die dort heimlich alten Opferbrauch übten. Als Kind hatte er Schreckensvolles gehört von der Grausamkeit, mit welcher sie die Störer ihrer abgöttischen Feier straften, und er erinnerte sich, daß er schon einmal als Knabe von fern den Lichtschein gesehen hatte und daß der fromme Bruder, der damals sein Lehrer war, ihn ermahnt hatte, sich abzuwenden, damit der teuflische Schimmer ihm nicht den Sinn verstöre.

[] Wieder umschloß den Reiter unheimliche Nacht. Kläglich seufzten die Unken im Teich, und über ihm jammerten die Nachtvögel, die Rudel der Wölfe bellten und heulten und ihre schwarzen Schatten fuhren durch den Nebel dahin; da meinte er in der Luft die Gewaltigen der Nacht zu schauen, riesige Männer auf dunkeln Rossen, welche ihm zuwinkten und nach dem Tor im Berge wiesen. Denn vor ihm gähnte der Erdriß, den er heut übersprungen hatte, und die Schatten mahnten zur Rache. Er hielt wie festgebannt, das gellende Geschrei der Nachttiere und das Flattern in der Luft betäubten ihm das Hirn, daß er im Sattel schwankte. Aber im nächsten Augenblicke rückte er sich kräftig auf dem Rosse zurecht und atmete tief wie einer, welcher erkennt, daß sein Bangen unnötig war. Denn zwischen dem wilden Heidenlärm vernahm er laut und lauter das Rauschen eines gebändigten Wassers, unter welchem sich ein Rad schwang, und er vernahm das Klappern des Mühlwerks, die freundliche Stimme, welche von den Mönchen durch die Worte gedeutet war: Hilf, Herre Gott. Daran dachte er jetzt. Die Mühle klang bei Tag und Nacht langsam und schneller, wo Menschenwerk fleißig geübt wurde, sie hatte Frieden bei Heiden und Christen, und Gutes bedeutete ihr Gesang jedem, der ihn hörte; alle Hausfrauen im Lande riefen ihr Heil und Segen zu, denn das kluge Werk befreite ihren Hof von der Mühe, die Handsteine zu drehen; die wilden Tiere fürchteten den Lärm, und sogar der tückische Wassergeist saß, wie die Leute wußten, stundenlang am Ufer und horchte erstaunt auf das lustige Pochen. Und er hatte einst, da die Mühle gerade stillstand, dem Vater des jetzigen Müllers zugerufen: »Müller, laß dein Hackebrett klingen, damit meine Kleinen danach tanzen.« Da lachte Immo und er gedachte, daß er einst im Kloster als Schüler bei großer Wassersnot mit dem Sintram und einigen Jünglingen dem Müller zu Hilfe gesandt worden war. Dort hatte Vater Sintram in der Nacht lange gegen den Wasserschwall gebetet, bis er darüber entschlief. Die frechen Knaben aber hatten dem schlafenden Greise sein Gesicht und den Scheitel ganz mit Mehl bestreut, daß er aussah wie ein Schneemann. Und als der Alte so verwandelt vor den Müller trat und aus dem Lachen des Mannes die Untat erkannte, da hatte er ruhig sein Haupt in das Wasser getaucht und darauf zu Immo gesagt: »Mir geschah recht, weil ich im Schlaf meine Pflicht vergessen hatte. Du aber, mein Sohn, hast unrecht getan, einem alten Manne die Ehre zu kränken.« Seit diesen milden Worten bestand das gute Vernehmen zwischen ihm und den beiden Greisen.

Immo sprang vom Rosse und blickte lange auf das stäubende Wasser und die weißen Blasen, welche in der Finsternis dahinschwanden, übertönt war das wilde Geschrei in seinem Rücken, er stand im Frieden, den der Mensch von den Gewalten der Natur erzwingt. Er beugte sich nieder zum Wasser und schöpfte einen [] Trunk mit der hohlen Hand, dann schlug er kräftig an die Pforte, bis Ruodhard, der Müller, öffnete und verwundert den Herrensohn und das Roß in seinem Gehege aufnahm.

Am Morgen saß Immo allein in dem öden Turmgemach der Mühlburg, der Gewitterregen schlug gegen die Mauern und goß sein Wasser durch die kleine Fensteröffnung auf den Steinboden. Die gute Lehre, welche der Mönch im Garten ihm zugeteilt hatte, war von ihm mißachtet worden. Hätte er der Mutter und den Brüdern sogleich bei der Ankunft die ganze Wahrheit gesagt, so hätte der Zorn nicht wie ein verdecktes Feuer um sich gefressen, bis er die Freundschaft verdarb. Er gedachte auch der Rede des Sintram und fragte sich selbst, ob er noch jemanden in der Welt hätte, der für ihn bete. Denn den Himmlischen war er wohl verleidet, die im Kloster haßten ihn und die eigene Mutter hatte ihn von sich gestoßen. Ein Gefühl der Einsamkeit, wie er es im Kloster nie gekannt, bedrückte ihm das Herz, jetzt war er frei, er saß als Herr in der Burg, welche die Feinde das Nest der Zaunkönige nannten, aber er war auch frei wie ein Vogel und freundlos.

Als er aufsah, stand vor ihm die alte Gertrud, vom Regen durchnäßt, und stellte einen Tragkorb zu seinen Füßen nieder. »Dies sendet dir Frau Edith, Immo.«

»Was sprach die Mutter?« fragte Immo wild.

Gertrud hob ein leinenes Bündel aus dem Korb und breitete es mit zitternden Händen auf der Bank aus. »So redete Frau Edith zu mir: Trage dies dem Jüngling Immo und sage ihm, ich sende, was ihm gehört und was ich in der Stille von seiner Habe bewahrte. Dies ist das erste Hemdlein, das ich ihm spann und das er trug, die Leinwand ist vergilbt, denn kein Sonnenstrahl hat sie gebleicht und kein Nachttau hat sie genetzt, aber die bitteren Tränen der Mutter hängen daran, denn als er das erste Gewand auf seinem kleinen Leibe trug, habe ich ihn dem Dienst der Heiligen gelobt. Und hier sind andere Gewänder des Kleinen, sein Spielwerk, an dem er sich freute, als er zu meinen Füßen saß, und die Kinderwaffen, welche ihm der Vater geschnitzt hat. Alles hob ich auf in der Truhe und oft hat mich gefreut, es herauszuholen und dabei an meinen Sohn zu denken. Jetzt hat er sich feindlich von mir gelöst, darum sende ich ihm, was sein ist.«

»Hart ist die Mutter«, rief Immo, seine Augen in der Hand verbergend.

»Und Frau Edith sprach weiter: Sage dem Kriegsmann, daß die Treue einer Mutter nicht verlorengeht, wenn auch der Sohn statt des Vaterhauses sich die finstere Nacht erwählte. Solange ich lebe, werde ich harren, daß er zu den Heiligen zurückkehrt. An dem Tage werden ihm meine Arme geöffnet sein und der Ehrensitz im Saal seiner Väter bereitet.«

[]

»Vergebens wird sie diesen Tag erwarten«, rief Immo.

»Beide seid ihr feurig«, fuhr Gertrud begütigend fort, »wenn auch die Mutter ihre Hast besser zu bergen weiß als du. Denn ganz ruhig sprach sie zu mir, aber ich weiß wohl, wie ihr zumute war. Euch beiden kommt wohl die Überlegung, daß eins dem anderen sich fügt. Unterdes gebot mir Frau Edith, daß ich auf dem Berge bei dir bleibe, mein Sohn, damit dir in der Einsamkeit die Pflege nicht fehle.«

Immo reichte der Alten die Hand. »Du wirst nicht lange für mich sorgen, denn ich gedenke von hinnen zu reiten.«

Am nächsten Tage sprengte der Knabe Gottfried in den Hof. »Heimlich habe ich mich aufgemacht«, begann er schüchtern, »ich komme, dich zu bitten, mein Bruder, daß du meiner in Liebe denkst.«

Immo drückte den Treuen fest an sich. »Sprich auch, wenn ich nicht da bin, freundlich von mir zu der Mutter.«

»Auch sie gedenkt deiner«, versetzte Gottfried zutraulich, »denn wisse, zum Mittagsmahl trägt sie selbst deinen Stuhl an ihre Seite und setzt deinen Teller und deinen Becher auf den leeren Platz.«

»Vergeblich ist die Sorge der Mutter, der Sitz wird leer bleiben«, rief Immo finster.

Auf der Reise

Hügel und Tal lagen im Sonnenlicht, und der Bergwind wehte kräftig vom Walde her, als eine Schar junger Thüringe von der Höhe in das Tal des Idisbachs hinabzog. An ihrer Spitze ritt Immo im eisernen Kettenhemd, den Stahlhelm am Sattelgurt, den Holzschild um den Hals gehängt, einen starken Speer in der Hand, neben ihm Brunico in ähnlicher Rüstung. Ihnen folgten zu Fuß wohl dreißig rüstige Jünglinge in kurzem Eisenhemd und leichter Helmkappe, mit hohen Lederstrümpfen und nackten Knien, auf dem Rücken den runden Schild mit eisernem Buckel, darunter den Köcher mit Pfeilen, in der Hand den Kampfbogen und zwei Wurfspeere. Mitten in der Schar führten zwei Heerwagen, mit starken Rossen bespannt, den Kriegsbedarf: Waffen, Wollmäntel und Säcke mit Lebensmitteln. Mit behendem Fuß schritten die Knaben des Waldes, und mancher hob unnötig die Beine, um ein wenig den Reigen zu springen, welchen der Rufer des Haufens vorsang. In der Nähe eines Gehölzes hielt der Zug. Die Späher eilten voran, auf die Zeichen, welche sie zurückgaben, tauchte der ganze Haufe in den Busch. Immo sprang zur Erde, stellte die Wächter, und die Jünglinge bereiteten sich und den Rossen das Mittagsmahl. Nur Brunico ritt vorwärts, begleitet von einem leichtfüßigen Genossen. Nicht lange, und er kehrte eilig zurück: »Eine reisige Schar liegt vor uns [] auf dem Wege, gerade unter der Idisburg. Sie sorgen wenig um Wache und Ausguck. Das Banner, welches sie führen, gehört, wenn wir recht erkennen, dem Grafen Gerhard. Es sind mehr als hundertzwanzig Rosse, die Reisigen bereiten das Mahl am Bache und hausen übel im Dorf unter der Burg; ich sah sie Garben und Gerät aus den Höfen herzuschleppen, und die Landleute liefen ihnen nach und schrien.«

»Ob uns die Begegnung lieb oder leid ist«, entschied Immo, »wir vermögen sie schwerlich zu vermeiden. Denn da auch Graf Gerhard dem König zuzieht, so ziemt uns nicht, gleich Wölfen heimlich unter ihm herzutraben. Folge mir zu seinem Lager, ihr anderen aber bergt euch im Versteck.« Und er besprach mit dem Hauptmann seiner Knaben, was die Vorsicht gebot.

Die beiden Reiter mieden den geraden Weg zum Lager des Grafen, um die Richtung ihrer Raststelle nicht zu verraten, über einen Hügel ritten sie im Trabe dem Banner zu. Brunico stieß in das Horn, das er am Halse trug, und sie harrten der Antwort. Im Lager entstand eine Bewegung, zwei Gewappnete kamen ihnen entgegen, Ruf und Gegenruf wurden getauscht, die Gräflichen fuhren rückwärts zu ihrem Herrn und brachten eine höfliche Einladung.

»Sei gegrüßt im Kriegskleide, du Flüchtling aus Wigberts Stall«, rief der Graf lachend dem Ankommenden zu. »Auch meine Helden werden dich als Reisegenossen willkommen heißen. Denn nur bis zum Main ist unser Weg frei, von da müssen wir uns länger als eine Tagfahrt an den Burgen des Hezilo vorbeiwinden, und wir sorgen, ob er uns die Straße verhauen wird. Mit geringem Gefolge kommst du, hoffst du allein beim König Ansehen zu gewinnen?«

»Meine Knaben blieben zurück, sie schreiten auf ihren eigenen Beinen«, versetzte Immo.

»Mit Fußläufern ziehst du heran?« spottete der Graf. »Doch ihr in den Waldlauben übt alten Bauernbrauch. Mich wundert, Immo, daß du nicht besser für dich gesorgt hast. Geringe Ehre wird dir die unritterliche Schar erwerben, denn an solchem Troß fehlt es dem Könige nicht.«

»Ihr werdet anders von ihnen denken, wenn ihr erst ihre Schläge geprüft habt«, versetzte Immo.

»Wohlan, jeder versuche sein Bestes«, fuhr der Graf fort, und Immo glaubte ein ehrliches Wohlwollen in seinem Gesicht zu erkennen. »Andere Arbeit beginnt jetzt, als unser Hader mit den Mönchen war. Setze dich neben mich, heute biete ich dir mit gutem Willen den Trinkkrug, da du zu uns gehörst. Der lateinischen Reden bist du ledig, obgleich meine Tochter Hildegard deine Stimme wohl vernehmen würde, wenn du ein Mönchsgeschrei erheben wolltest, denn sie begleitet unseren Zug und rastet nicht gar weit von meinen wilden Knaben.«

[] Immo hatte Mühe, die freudige Überraschung zu verbergen. »Warum führt Ihr die Tochter in das Heerlager?«

Der Graf lachte schlau. »Die Königin hat sie nach Regensburg geladen, die hohe Frau Kunigunde hat, wie der Bote rühmt, Gutes von dem Kinde gehört und will der Mutterlosen eine Beschützerin sein. Verstehst du wohl, Immo, was diese Huld bedeutet?«

Immo bekannte seine Unwissenheit.

»Die Händler haben den Brauch, wenn sie ein Geschäft für die Zukunft bereden, so geben sie einander ein Unterpfand für treue Erfüllung. Du hast bereits etwas von Waldwiesen vernommen. Diese halte ich, der König aber begehrt dagegen die Jungfrau. Und gern führe ich sie ihm zu, denn ich vertraue auf das Glück und die Klugheit des Königs. Ihm ist bisher vieles gelungen, und ich hoffe, daß auch mir dieser Krieg Land und Leute mehren soll, denn meine Wälder grenzen an die Mark des Hezilo. Und darum bringe ich mein ganzes Heergefolge dem Könige, wahrlich mit großen Kosten. Sieh, Immo, auch meine Kampfhähne führe ich mit mir«, er wies auf die beiden Fechter, welche in neuem, buntem Gewande zu unterst auf dem Rasen saßen und mit riesigen Armen große Trinkkrüge schwenkten. »Denn König Heinrich achtete wenig auf die fahrenden Leute, und vor anderen sind ihm die schweifenden Frauen verhaßt, welche sich im Tanze vor den Helden drehen und dabei ihres Gewandes entledigen. Ja, man sagt, daß ihm alles Weibervolk verleidet ist. Doch die Kämpfer schaut er gern, wenn sie herzhaft gegeneinander schlagen. Und dies sage ich euch, Hahn Ringrank und Hahn Sladenkop, wenn ich euch zum Ergötzen des Königs gegeneinander kämpfen lasse, so begehre ich andere Wunden als die einzölligen, die ihr im Vertrauen auf meine Gutherzigkeit einander anzumessen pflegt. Denn dergleichen schwache Ritze kann der König bei jeder Kirchweih sehen. Herrenwunden verlange ich diesmal, dreizöllig, und wenn ihr den König ehren wollt, noch tiefer und länger, und zwar mit spitzem Eisen und nicht auf die Arme, sondern auf die Brust.«

Die Fechter sahen bekümmert einander an, und Ringrank antwortete, sich erhebend: »Drei Zolle auf der Brust mögen unseren Brotherrn um zwei Kämpfer ärmer machen. Fordert der Herr großen Dienst, so ersehnt sich der Mann großen Lohn. Sorgt wenigstens, daß wir beide gegeneinander kämpfen und nicht gegen die Kämpfer, welche der König mit sich führt, denn diese sind ungerecht bei dem Messen der Wunden, um ihren eigenen Ruhm gegen andere zu erhöhen.«

Die Herren lachten und saßen in guter Laune beim Mahl, tranken und riefen Heil, wie unter Helden Brauch ist.

Da nahte in gestrecktem Lauf Egbert, der Dienstmann, und trat staubbedeckt, mit heißem Antlitz vor den Grafen. »Durch wilden [] Ritt holte ich Kunde, die manchem sorgenvoll wird«, rief er. »Dem König ist sein ganzer Schatz genommen. Held Magano, der Diener des Babenbergers, hat den Schatz auf der Reise gefangen, ich selbst sah den Mann des Markgrafen, und ich sah die lange Reihe der Saumrosse und Karren in seine feste Burg treiben.«

Mit Schreckensrufen sprangen die Bankgenossen von ihren Sitzen und drängten sich um den Boten, auch der Graf erhob sich bestürzt. »Wie ein Unsinniger gebärdest du dich, daß du diese Kunde vor allen Ohren ausrufst.«

»Herr, sie läuft durch das ganze Land wie Wasser durch den gebrochenen Damm, in den Dörfern liefen die Leute zusammen, und ich sah, daß frische Gesellen, die dem Lager des Königs zuritten, von den Rossen stiegen und die Köpfe senkten; wie soll einer unter dem Habicht dahinreiten, welchem die Federn gerupft sind?«

»Oft hörte ich den großen Schatz des Königs rühmen«, begann kopfschüttelnd ein alter Kriegsmann, »und gern dachte ich an das goldene Kreuzgeld darin, an die Armringe und Becher, mit denen er seine Getreuen lohnen würde; die Bayern haben lange an dem Schatz gesammelt, manch uraltes Schmuckstück lag darin aus Sachsenland, das einst Wieland, der Held, geschmiedet hat.«

»Jetzt aber ist der König so kahl wie meine Handfläche«, rief Egbert, »wer ihm dient, mag zusehen, wie er die Kosten des Zuges wiederfindet. Denn nicht der Goldschatz allein ist in die Hand des Markgrafen gefallen, sie sagen, daß auch die Königskrone dabei war, die heilige Lanze und die hohen Reliquien, an denen die Königsmacht hängt.«

Die Kinder erschraken, viele bekreuzigten sich, und die Augen aller wandten sich nach dem Grafen, dessen unsicherer Blick verriet, daß er mit schwerem Zweifel rang. »Ist die Krone verloren, wie mag er das Reich bewahren?« fuhr ihm heraus. »Unheil brachte der Tag, an dem wir auszogen, und üble Vorbedeutung war es, daß der Sauhirt die Faselschweine über den Weg trieb.«

»Auch andere Botschaft bringe ich, Herr«, fuhr Egbert fort. »Als ich vom Main den Kiefernwald heraufritt, rastete an der Landstraße Heriman, der Goldschmied aus Erfurt, der nach seinen Worten zum König Heinrich reist. Da er ein Packpferd bei sich hatte, so riet ich ihm, sich unter Euren Schutz zu begeben, er aber widerstrebte, und ich verließ ihn im Walde allein mit seinem Knechte.«

Der Graf sah seinen Dienstmann kummervoll an, ohne zu antworten. Aber Immo vermochte seinen Unwillen nicht zu unterdrücken.

»Dreiste Worte höre ich von den Helden Eurer Bank, Graf Gerhard; mich dünkt, sie stehen solchen übel, die dem König zuziehen.«

»Wie vermag ich ihre Gedanken zu beugen«, versetzte der Graf [] ärgerlich, »da sie doch recht haben? Kann der König seinen Kriegern nicht lohnen, wie sollen sie ihm dienen? Entweicht zur Seite«, rief er den Dienstmannen zu, »vergällt ist mir der Trunk, harret, bis ich allein den Rat finde, der uns frommt.«

Die Bankgenossen brachen auf und setzten sich in die Nähe ihrer Rosse mit bedrängtem Gemüt zu kleinen Haufen.

Immo merkte, was in der Seele des Grafen vorging und daß seine stille Hoffnung, der Jungfrau in den nächsten Tagen als Reisegenosse nahe zu sein, schnell dahinschwand. Er begann deshalb:

»Zürnt meiner Jugend nicht, wenn ich dreist mit Euch rede. Ich ahne, daß Euch die Reise zum König verleidet ist, denkt daran, daß seine Gefahr größer ist als die Eure und daß Ihr ihm gerade jetzt Eure Treue beweisen müßt. Denn er ist nach Recht unser Herr, und er hat Euch, wie Ihr mir vertrautet, im voraus gelohnt. Ich vernahm immer, daß Treue und Dankbarkeit starke Ketten sein sollen, welche den Helden binden.«

»Du sprichst gut«, versetzte der bekümmerte Graf, »aber du bist jung. Glaube mir, Immo, als ich in deinen Jahren war, lebte ich so treu und dankbar wie ein Hündlein, ich lief hin und her, um anderen zu dienen, und wenn mir die Könige einen Brocken zuwarfen, so sprang ich vor Freude. Jetzt aber habe ich eigenes Gut zu bewahren und muß vielen Begehrlichen spenden, jetzt rät mir die Vorsicht, vor allem zu fragen, was mir vorteilhaft ist, damit ich mich in meiner Macht erhalte zwischen Pfaffen und Laien, welche sämtlich gierig sind, sich zu meinem Schaden auszubreiten.«

»Zürnt mir nicht, Graf Gerhard, wenn ich Euch sage, daß es edler ist, mit Ehren unterzugehen, als in Schande zu leben«, rief Immo.

»Dasselbe ist immer auch meine Meinung gewesen«, versetzte der Graf. »Ganz wie du war auch ich in meiner Jugend willig, mich für den Herrn töten zu lassen, dem ich damals diente. Jetzt aber bin ich selbst ein Herr, welcher andere erhält, die für ihn auf der Walstatt sterben, jetzt habe ich um eine Herrenehre zu sorgen, und diese befiehlt mir vor allem, daß ich Herr bleibe über andere und mit hundert oder zweihundert Rossen ins Feld ziehe, für oder gegen wen es sei. Darum will ich auch dir Gutes raten. Setze dich nicht in ein Haus, welches stürzen will.«

»Soll ich umkehren?« fragte Immo prüfend. Da der Graf keine Antwort gab, fuhr er nachdrücklich fort: »Ich gehe zum König, und wenn alle von ihm abfallen, so soll er doch im letzten Kampfe nicht allein stehen.«

»Auch du bist nicht allein, Immo, du hast für andere zu sorgen, welche dir folgen.«

»Ich will sie fragen, ob auch ihnen mit dem Raub des Schatzes die Kampflust geschwunden ist. Die ich führe, sind freie Knaben vom Walde, und ich weiß die Antwort im voraus.«

[] »Wieviel sind ihrer?« fragte der Graf mit einem Wolfsblick. »Mich wundert, daß du sie von meinen Leuten getrennt hältst.«

Immos Auge flog über das Tal, er sah, daß er selbst in der Gewalt des Grafen war, denn ein Wort vermochte die ganze Meute gegen ihn zu hetzen, er trat deshalb zurück, legte die Hand an das Schwert und antwortete: »Meine Knaben sind schnell zu Fuß und von der Heimat her an Waldversteck gewöhnt, auch ihr Lager haben sie vorsichtig gewählt, und wer sie bewältigen wollte, würde harte Stöße erhalten und schwerlich Beute aus ihren Taschen davontragen. Darum ist es besser, daß Ihr uns ungekränkt ziehen laßt, wohin wir wollen. Ihr aber vernehmt zum Abschied noch eins: Große Lügen erzählen die Leute auf der Landstraße, vielleicht war es gar nicht der Schatz des Königs, welcher gefangen wurde, oder doch nicht der beste Teil. Wer die Ehre eines Herrn hat, wie Ihr nach Eurer Rede, der sollte vorsichtig sein, bevor er sie gegen Schande weggibt. Lebt wohl, Graf Gerhard, wenn wir uns wiedersehen, so möge es in Frieden sein, denn zweimal habe ich als Gast an Eurem Tisch gesessen, und ungern würde ich Euch feindlich gegenüberstehen.«

Während der Graf betroffen die kluge Warnung erwog, gewann Immo sein Roß, welches Brunico bereit hielt, und verließ unangefochten das Lager.

Als die Sonne sank, warf sie ihr goldenes Licht über die Höhe, auf welcher die Idisburg stand. Der alte Turm glänzte wie mit leuchtender Farbe übergossen, und an der niedrigen Burgmauer lagen die Ranken der Brombeeren wie mit Purpur und Goldfaden umwunden. In der unteren Hälfte des umschlossenen Raumes brüllten die Rinder, welche von den Dorfleuten dort zusammengetrieben waren. Auf der höchsten Stelle im Burgwall stand eine Sommerlinde, welche ihre großen Blätter als ein dichtes Laubdach fast zum Boden breitete. Es war ein wonniger Platz, wilde Glockenblumen blühten in dem lichten Schatten, und kleine Schmetterlinge fuhren hin und her, die Vögel lockten ihre Jungen in den Ästen des Baumes zusammen, und die Grillen schwirrten den Chorgesang zu dem Ruf der Gefiederten. Dort saß Hildegard, das Grafenkind; die Hände im Schoß gefaltet, sah sie in das Tal über das Lager der Reisigen, über den Laubwald und über die geschwungenen Höhen dahinter bis in die Ferne, wo Erde und Himmel im Dämmerlicht zusammenfloß. In ehrerbietiger Entfernung lagerten einige alte Dienstmannen, welche zum Schutze der Jungfrau hinaufgesandt waren, auch sie schauten abwärts nach dem Main hin und wiesen einander unter dem lichten Gewölk die Grenzburgen des Feindes. Es war still um die Jungfrau, nur einzelne Klänge aus dem geräuschvollen Lager drangen herauf, zur Seite blökte das Herdenvieh, und zuweilen lief eine Färse nahe heran und rupfte die Blätter des Baumes. Dann knackte und rauschte es hinten in den Zweigen, Hildegard wandte [] sich um und scheuchte die Vorwitzigen, aber sie kamen doch wieder, und das Mädchen vergaß zuletzt in ihren Träumen die genäschigen Gäste.

Ihre Lippen bewegten sich, und leise klangen die gesungenen Worte des heiligen Liedes:

Audi, benigne Conditor,
nostras preces cum fletibus Höre, gütiger Schöpfer, unser Gebet und Flehen..

Aber sie gedachte im Singen nicht sehr an den Schöpfer, sondern mehr an einen Flehenden, der ihr dieselben Worte vor wenig Wochen im Scherz zugerufen hatte. Und während sie so sang und mit verklärtem Blick vor sich hinsah, war ihr, als tönte der Sang noch einmal über ihr in dem Baume. Sie hielt inne, da rauschte es in den Zweigen, und bei dem Säuseln der Blätter klang über ihr wieder dieselbe Weise, aber mit anderen Worten, und sie vernahm von der Höhe:

Rana coaxat suaviter
In foliis viridibus Der Frosch quakt lieblich in den grünen Blättern..

Sie saß unbeweglich, ein Lächeln flog um ihren Mund und eine hohe Röte ergoß sich über ihr Antlitz, aber sie wagte nicht aufzusehen, damit der lustige Traum nicht entschwinde. »Bist du es, Geselle?« fragte sie leise. Aber gleich darauf schämte sie sich der vertraulichen Rede.

»Ich liege über dir in den grünen Blättern«, klang es von oben zurück. »Ganz gut ist mein Lager auf starkem Ast; blicke aufwärts, wenn dir's gefällt, damit ich einmal deine großen Augen sehe, denn diese haben mich hergezogen.«

Das Mädchen erhob sich schnell und wandte sich dem Aste zu, in demselben Augenblick neigte Immo das Haupt behend abwärts, umschlang von der Höhe mit einer Hand ihren Hals und küßte sie auf den Mund. »Guten Tag, Geselle«, sprach er, »so hatte ich mir's ausgesonnen, und so ist es vollbracht.« Er fuhr wieder aufwärts und sah von seinem Aste zärtlich in das gerötete Antlitz.

»Wenn ich die Wächter rufe, fangen sie dich«, murmelte Hildegard halb bewußtlos.

»O tue nicht«, flehte Immo, »denn bei Tag und Nacht dachte ich daran, ob ich dich wiedersehe. Wenn die liebe Sonne nach Westen ging, so freute ich mich, daß sie deine Wangen bescheinen würde. Oft habe ich dir Botschaft gerufen über Berg und Tal und den Bergwind ermahnt, daß er dir etwas von mir zutragen lasse. Aber ruhelos schweift der Wind, und unsicher ist, ob er nach unseren Bitten tut. Darum kam ich lieber selbst.« [] Hildegard sah ihn furchtsam an. »In unserem Turme fand ich ein graues Käuzlein, als es in Not war, das bewahrte ich mir gern in meinem Gemache. Aber über Nacht hat es sich in ein Raubtier verwandelt. Ganz anders erscheinst du mir hier als daheim in der Halle; wie ein Drache in seinem Schuppenkleide liegst du auf dem Ast, und ich weiß nicht, bist du noch der, an den ich dachte, oder bist du ein Fremder.«

»Aus dem Gewand des Kauzes bin ich geschlüpft, und das Eisenhemd trage ich, Hildegard, auch um deinetwillen. Wenn einmal der Spielmann vor dir singt und du vernimmst, daß er auch meine Taten rühmt, dann sollst du stolz sein auf deinen Gesellen.«

»O du törichter Immo«, rief das Mädchen kummervoll, »wie soll ich mich freuen, wenn ich von den Schwertern höre, die dich bedrohen, und bedenke, daß die Streitaxt gegen dich fliegt. Leidig ist mir der Ruhm, den die Sänger geben, denn sie preisen am liebsten die Helden, welche tot auf der Walstatt liegen. Ich aber dachte dich zuweilen gern an meiner Seite, dann sangen wir zusammen, und ich strafte dich, wenn du unartig warst, indem ich dich an deinen Haaren zog.«

»Tue das jetzt«, bat Immo, neigte den Kopf wieder zu ihr herab und sah sie bittend an. Aber der Jungfrau rannen die großen Tränen aus den Augen, sie lehnte ihr Haupt an den Baumstamm und weinte still vor sich hin. Immo schob sich näher, wieder legte er seinen Arm um ihren Hals und sprach ihr leise ins Ohr: »Geliebte, dich selbst will ich gewinnen auf der Kampfheide. Wenn ich mein Haupt stolz tragen darf, erbitte ich dich von deinem Vater zum Gemahl.«

Hildegard blickte ihn treuherzig unter Tränen an und antwortete: »Das weiß ich, und darum weine ich.«

Da küßte er sie wieder, und sie widerstrebte ihm nicht. »Auch du bist meinem Herzen lieb geworden«, fuhr sie, seine Hand haltend, leise fort, »zuerst am Abend in der Halle und dann an jedem Tag und Abend noch lieber, wenn ich in der Einsamkeit an dich dachte. Denn einsam lebte ich im Hause unter den Buchen und nur selten vernahm ich ein Freundeswort. Der Bruder ist unbändig, meinen Vater sah ich wenig, und er ängstigt mich durch wilde Reden und durch die Sorge, die ich um seine Seele habe. Da, wenn ich allein saß, schaute ich dein lachendes Antlitz vor mir und ich sprach vertraulich zu dir als zu meinem lieben Gesellen. Und ich dachte auch an dich, wenn die Amsel in ihrem schwarzen Kleide schlug, denn im schwarzen Schülerkleide saßest du neben mir; und ich dachte zuweilen auch an dich, wenn ich längs dem Weiher ging, wo die Quaker so lustig schrien. Das darf dich nicht verdrießen«, und ein flüchtiges Lächeln zog über ihr unschuldiges Gesicht. »Jetzt aber soll ich dein gedenken, wenn die Grauwölfe nach Raub heulen und wenn [] die Geier über mir in der Luft schweben. Wie vermag ich Gutes für dich und mich zu hoffen, da du das Glück erst vom Schlachtfelde holen willst. Immo«, rief sie angstvoll, »wenn du auf die Kampfheide ziehst, so weiß ich nicht mehr, ob du an der Seite meines Vaters kämpfen wirst oder gegen ihn; denn der Vater« – sie hielt inne und legte ihre Wange auf seine Hand.

»Ich weiß, was mir deine Lippe verbirgt«, antwortete Immo, »ich aber gehe zum König, denn ich höre, er ist in der Not.« Da drückte sie krampfhaft seine Hand und weinte wieder darauf. »Leidvoll ist für uns beide, Hildegard, daß ich zum König halte, obwohl dein Vater ihn meiden wird?«

Die Jungfrau sah ihn mit großen Augen an. »Du wirst tun, was dir dein redliches Herz gebietet. Wenn ich auch traure, denke nicht, daß ich dich bei dem Vater festhalten will.«

»So spricht mein guter Geselle«, rief Immo froh und neigte das Haupt wieder zu ihr herab. »Den hohen Engeln vertraue ich, deren Segen du mir gesendet hast, daß sie uns beide wieder zueinander führen. Dich aber flehe ich an, wenn ein fahrender Spielmann vor dir singt, so wende dich nicht ab, wie die Klosterfrauen zuweilen tun, sondern spende ihm etwas und sprich dabei die Worte: ›Auch für dich fliegt ein Engel‹, dann freut er sich und sagt dir vielleicht Kunde von mir. Und hast du eine Botschaft für mich, so gib sie mit denselben Worten einem Fahrenden, daß er sie ins Lager des Königs zu seinem Gesellen Wizzelin trage. Diesen kenne ich als einen treuen Mann, obgleich er ohne Ehre lebt. Das versprich, Geliebte, mir aber gib den Scheidegruß.«

Die Jungfrau hob sich zu ihm empor und hielt ihre Hand über sein Haupt: »Du denke mein, wenn du allein bist und zuweilen unter den wilden Helden, und vor allem im Abendlicht, wenn du die grünen Blätter über dir siehst, wie jetzt und immer – und immer.« Sie warf die Hände um seinen Hals und küßte ihn herzlich. Er aber hielt sie fest; und das Geschwirr der Grillen übertönte leise Worte, Seufzer und Küsse der Liebenden.

Noch einmal umschlang sein Arm die Weinende, dann verschwand er im grünen Laubdach. Hildegard saß wieder auf dem Stein und lauschte; die Zweige rauschten und knickten hinter ihr, dann wurde es still. Noch immer malte die Abendsonne das Baumlaub mit rötlichem Gold, die Grillen und Vögel im Wipfel schwirrten und schrien, und die blauen Glockenblumen standen so lustig wie vorher. Aber das Mädchen sah ernsthaft in eine fremde Welt, das Kind war unter der Sommerlinde zur Braut geworden.

Auf einem Hügel im bayrischen Frankenlande, der weite Aussicht bot, saß zwei Tage später ein fremder Krieger am Zaun eines einsamen Bauernhofes. Er trug die gewöhnliche Rüstung eines Reisigen, [] hatte den Helm neben sich auf die Bank gelegt, schnitt mit seinem Dolch in ein großes Schwarzbrot und verzehrte behaglich die Bissen. Daß der Kriegsmann einen Wachtposten befehligte, war leicht zu erkennen. Denn aus dem Hofe vernahm man das Schnauben und den Hufschlag von Pferden, welche dort geborgen waren; zur Seite hielt in Entfernung eines Pfeilschusses ein gepanzerter Reiter auf schwerem Kriegsroß, unbeweglich das Antlitz nach Norden gewandt, und weiter vorwärts standen im Halbkreise hinter Büschen und am Rand der nächsten Höhen berittene Späher; wo den Rossen auf der Höhe die Deckung fehlte, waren sie in Senkungen des Bodens zurückgeführt, während ihre Reiter hinter Steinen oder im Grase versteckt lagen. Auch der Befehlende auf der Bank unterbrach zuweilen seine Mahlzeit, um in die Ferne zu schauen. Als einige Reiter heransprengten, erhob er sich ungeduldig. »Wen bringst du dort wider seinen Willen heran, Bernhard?« rief er dem Führer zu, als dieser am Fuß des Hügels hielt.

»Es sind zwei wilde Knaben. Der eine gibt vor, das Lager zu suchen. Bote nennt er sich, mit einem Brief an den Kanzler.«

Der Kriegsmann winkte, Immo wurde zu Fuß durch zwei Bewaffnete den Hügel heraufgeführt. »Wer sendet dich mit dem Briefe?« fragte der Gebietende, den Jüngling mit scharfem Blick musternd.

»Frage den Kanzler, wenn du das wissen willst«, versetzte Immo. »In meiner Heimat lobt man den Boten nicht, der gegen Fremde von seiner Sendung schwatzt.«

»Wo ist deine Heimat?«

»Ein Thüring bin ich, und freundlichen Gruß habe ich von den Mannen König Heinrichs gehofft, denn Schwertgenosse will ich ihnen werden gegen den Markgrafen.«

»Schlägt dein Arm so scharf, als deine Zunge behende ist, so mag der König dich wohl gebrauchen«, versetzte der andere gleichgültig, »doch damit wir sehen, ob du die Wahrheit sprichst, so weise uns den Brief.«

»Das denke ich nicht zu tun«, entgegnete Immo unwillig, »mein Auftrag lautet, den Brief dem Kanzler in seine eigene Hand zu geben; dich aber ersuche ich um Geleit, damit ich ihn finde.«

»Ich will den Brief sehen«, wiederholte der Kriegsmann seinem Wächter. Dieser winkte den Kriegern und faßte den Arm Immos, aber der Starke entwand sich ihm, sprang zur Seite und zog sein Schwert. »Wer mir das Pergament entreißt, den mache ich zum toten Manne«, rief er zornig.

Auch Bernhard zog sein Schwert. »Auf ihn, schlagt den Frechen nieder.«

»Halt«, rief der Befehlshaber, »bergt das Eisen, auch du, Fremdling. Ich fordere von dir, daß du mir den Brief zeigst, ich gelobe dir, [] daß ich ihn zurückgebe und dich, wenn du willst, zu dem Kanzler geleiten lasse.« Er faßte an den Knopf seines Schwertes, Immo gab dem ruhigen Befehle zögernd nach. Er zog eine kleine Tasche hervor, die er an einem Riemen unter dem Gewande trug, und hielt ein geschlossenes Pergament in die Höhe.

»Gib her, damit ich sehe, ob es ein Brief ist.«

»Schwerlich wirst du die Aufschrift zu lesen vermögen, auch wenn du der Buchstaben kundig bist, denn die Außenseite ist leer.«

»Du bist ein Bote aus Herolfsfeld«, rief der Kriegsmann, das Siegel betrachtend, und seine Augen blickten scharf nach dem Jüngling. »Haltet ihn fest.« Er löste das Siegel, entfaltete den Brief und las, während Immo heftig gegen seine Wächter rang. »Tut ihm nichts zuleide«, rief er, »es ist Immo, Sohn des Helden Irmfried, und guten Empfang hat er im Lager des Königs zu erwarten. Halt Ruhe, du Wilder«, setzte er halb lächelnd, halb unwillig hinzu, als er sah, daß Immo seine Bändiger bewältigte und den Helden Bernhard wie einen Klotz auf den Rasen warf. »Der Kanzler hat mir das Recht gegeben, solche Briefe zu lesen; du aber freue dich des Zufalls, denn er mag dir eher zum Heil als zum Schaden sein.«

»Wer aber bist du?« versetzte Immo in hellem Zorn, »bei St. Wigbert, wenn du nicht König Heinrich selbst bist, so hast du grobe Ungebühr geübt an Herrn Bernheri, an dem Kanzler und an mir, und du sollst mir's mit dem Schwerte bezahlen.«

»Da ich hierzu keine Lust habe«, antwortete der Kriegsmann ruhig, »so denke, daß ich der König bin«, und als er in dem ehrlichen Gesicht des Jünglings ein maßloses Erstaunen erkannte, welches seltsam gegen die zornige Gebärde abstach, fuhr er lachend fort: »Ob ich's bin oder nicht, das soll dich jetzt nicht kümmern, frage nicht nach meinem Namen, du wirst ihn wohl später erfahren, begnüge dich damit, daß ich dir wohlgesinnt bin und daß ich das Beste mit dir teilen will, was ich habe.« Er wies auf das schwarze Brot und ein Tongefäß mit Wasser, welches dabeistand. »Setze dich zu mir wie ein Krieger zum anderen, nachdem du deinen Brief wieder geborgen hast, und beantworte mir die Fragen, die ich dir tue.«

Immo starrte immer noch erstaunt auf den Fremden, im Anfang war er ihm nicht ansehnlich erschienen, jetzt sah er einen Mann vor sich, der etwa zehn Jahre älter war als er selbst, das Gesicht war hager und bleich, aber zwei gescheite Augen standen darin, deren Ausdruck schnell wechselte, und den beweglichen Mund umzogen kleine Falten, so daß der Fremde fast aussah wie Vater Heriger, welcher der beste Vorleser im Kloster war. Immo beugte sein Knie, um den König zu ehren, aber der Kriegsmann machte ein schnelles Zeichen mit der Hand. »Bei Wasser und Brot spare den Königsgruß, bis du König Heinrich in seiner Würde siehst, setze dich zu mir und gib mir Antwort. Doch vorher muß ich dich diesen Helden[] versöhnen. Faßt an eure Schwerter und gelobt, einander keinen Groll zu tragen und den Schwingkampf auf dem Rasen nicht zu rächen.«

Das taten die Männer und reichten mit geröteten Gesichtern einander die Hände. »Und jetzt, Immo, verkünde mir, wie kommt es, daß du aus der übelgesinnten Burg der Wigbertmönche zu König Heinrich reitest; denn die Leute sagen, daß ihm das Glück nicht hold ist.«

»Herr, wer Ihr auch seid«, versetzte Immo, »da Ihr gütig zu mir redet, so will ich Euch alles bekennen. Noch vor wenig Wochen sorgte ich nicht sehr um den König und den Markgrafen, nur daß ich die Klosterregel ungern ertrug und mich nach dem Schwertamt meines Vaters sehnte. Seit ich aber über dem Tutilo die Geißel geschwungen hatte und schnell das Kloster verlassen mußte, rieten mir meine Gedanken, dem Könige zu folgen.«

Als der Kriegsmann von den Geißelhieben des Tutilo vernahm, begann er laut zu lachen und schlug sich mit den Händen auf die Schenkel, so daß Immo ihn erstaunt ansah und die Ansicht erhielt, dies könne der König nicht sein. »Er hat den Babenberger mit seiner eigenen Waffe geschlagen«, rief der Lustige, »wahrlich, jetzt wundert mich nicht, daß dir im Kloster zu heiß wurde, denn du hast dir dort einen Todfeind gemacht.«

Es ist wohl ein Verwandter des Königs, dachte Immo und schnitt mit größerer Ruhe in das Schwarzbrot, das ihm der andere hinschob.

»Fahre fort«, sprach der Kriegsmann, »wie waren deine Gedanken, die dich zum König führten?«

»Nun, Herr, ich dachte, wir sind doch fast in gleicher Lage. Denn auch von König Heinrich sagen sie, daß er zum Geistlichen bestimmt war, er aber hat sich das Schwert gewählt.«

»Dafür gehört er zu dem Geschlecht, welches die Krone trägt«, versetzte der Kriegsmann, »du aber berätst dich übel, wenn du der Stola zu entrinnen suchst. Fehlt dir die Demut, um den Haarkranz eines Mönches zu tragen, so wisse, auch der Bischof reitet hoch zu Roß, er trägt sein Panzerhemd, und manchen sah ich in hartem Gedränge seine Streiche austeilen; Falken und Jagdhunde fehlen ihm nicht, und für anderen Zeitvertreib erhält er leicht Dispens. Dem Könige aber sind die Bischöfe, die er einsetzt, die treuesten Diener; sie sind die Gehilfen seiner Herrschaft, denn wenn sie auch Söhne haben, so folgen ihnen diese nicht auf dem Bischofsstuhl, und der König hat nicht nötig, die harten Nacken eines Geschlechtes zu beugen, welches seine Herrschaft widerwillig erträgt.«

»Dennoch höre ich im Kloster«, antwortete Immo bescheiden, »daß die Weltgeistlichen mehr um ihre eigene Herrschaft sorgen als um den Vorteil des Königs und daß sie ebenso begehrlich sind nach irdischem Gut wie die Mönche. Denn auch diese üben allzuwenig [] die fromme Sitte, und sie werben und schleichen wegen Hufen und Burgen. Das habe ich selbst zu meinem Schaden erfahren.«

»Haben sie auch dich schon um deiner Sünden willen geängstigt?« fragte der andere lachend. »Ich weiß recht wohl, niemand versteht so gut als sie mit Kreuz und Bußpsalmen Land und Gut zu erkämpfen.« Doch ernsthafter fuhr er fort: »Heilige Männer sind die Mönche, und wir Sünder vermöchten ihr Gebet nicht zu entbehren, auch die Wohltaten nicht, welche sie dem Lande spenden. Sieh, wenn du es zu verstehen vermagst, überall, wo sie gleich den Bienen ihre Waben füllen, bändigen sie den wilden Heidentrotz im Volke, lehren Kunst und schaffen große Werke. Zuweilen aber werden sie faul im Stock, wenn des Honigs zuviel ist, und wer es mit dem Lande wohlmeint, muß ihnen dann den Honig nehmen, damit er anderen nützt. Vielleicht sind die Söhne Wigberts in derselben Lage.«

Es ist doch der König selbst, dachte Immo, und ihm fuhren die Worte heraus: »So meinte auch Graf Gerhard, da er jetzt dem Wigbert die Wiesen genommen hat.«

Die Haltung des Kriegsmanns wandelte sich plötzlich. »Was weißt du vom Grafen Gerhard?« fragte er kurz.

Zögernd berichtete Immo, was er die letzten Tage im Kloster erlebt hatte. Über das Gesicht des Kriegsmanns fuhr wieder ein Lächeln, während er mit Anteil zuhörte. »Wo weilt Graf Gerhard?« fragte er, »vernahmst du etwas von ihm in den letzten Tagen?« Und als er merkte, daß Immo zu sprechen zögerte, fuhr ein scharfer Blick wie der eines Adlers auf den Jüngling: »Wenn du deine Treue für den König beweisen willst, so rede die Wahrheit. Wo kamst du über den Main?«

»Ich möchte ungern etwas sagen, was dem Grafen zum Schaden gereichen kann«, versetzte Immo, »dennoch sehe ich, daß es sich nicht bergen läßt. Er lag mit seinem Haufen am Idisbach auf dem Wege nach dem Süden.«

Der Krieger stand auf. »Gutes verkündest du, und du sollst den Dank genießen. Denn auf ihn harren wir hier. Wann sahest du sein Lager?«

»Vorgestern abend ritt ich hinaus.«

»Wohl, die Rechnung war genau. Dann können wir heute abend seine schnellen Reiter erwarten. Wie stark war sein Haufe?«

»Mehr als hundert Rosse zählte ich. Dennoch, Herr, zürnt nicht, wenn ich Unsicheres sage, er lag auf den Wiesen, ob er aufgebrochen ist, weiß ich nicht.«

»Was hast du, Jüngling?« fragte der Kriegsmann befremdet.

»Als ich wegritt, war gerade die Kunde gekommen, daß dem Könige der Schatz entführt ist; und darüber war großes Raunen und Umherlaufen im Lager.«

[] Der Fremde trat vor Immo, sah ihm fest in das Gesicht, dann faßte er seine Hand mit eisernem Druck, führte ihn einige Schritte zur Seite und fragte leise: »Du meinst, er zögert deshalb, zu kommen?«

»Ich weiß nichts Sicheres, Herr«, versetzte Immo.

»Deine Meinung will ich hören, Jüngling, sprich die Wahrheit, wenn dir dein Leben lieb ist, denn du stehst vor deinem König.«

Immo warf sich auf die Knie. »Heil sei meinem Herrn!« rief er.

Doch der König winkte ihm ungeduldig, aufzustehen. »Antworte!«

»Laßt mich's nicht entgelten, Herr, wenn ich Unwillkommenes verkünde. Sie sprachen davon, auf dem Idisberg ein Lager zu schanzen, und im Morgengrau sah ich Boten reiten nach der Böhmer Grenze, wo, wie sie sagen, die besten Burgen des Markgrafen sind.«

Der König wandte sich ab und sah finster vor sich nieder. »Der Graf fängt früh an, wie ein großer Herr zu handeln. Wer hundert Rosse ins Feld führt, der ist noch nicht vornehm genug, um den König zu verraten«, rief er bitter. »Sendet dein Geschlecht dich allein?« fragte er argwöhnisch.

»Ich führe dreißig leichtbewaffnete Knaben herzu, sichere Bogenschützen aus dem Walde. Ich ließ sie im Versteck zurück mit einem schwerverwundeten Kaufmann, den wir auf unserem Wege fanden; ihn hatten Räuber gefällt, als er zum Lager des Herrn Königs ritt.«

Der König fuhr in die Höhe. »Wie heißt der Kaufmann?«

»Es ist Heriman aus Erfurt, ein ansehnlicher Burgmann. Da er vielen von uns wohlbekannt ist, wollten wir ihn nicht zurücklassen.«

»Wahrlich«, rief der König, »als ein Unglücksbote kommst du. Ist der Wunde beraubt?«

»Sein Knecht lag erschlagen, Roß und Warenballen waren entführt.«

Der König winkte schnell mit der Hand, daß Immo zurücktreten sollte. Dieser eilte den Hügel hinab zu den Leibwächtern, bei denen Brunico die Pferde hielt, und er sah aus der Ferne, daß der König, auf dem Schemel gebeugt, sein Haupt in die Hand stützte. Auf einen Ruf Heinrichs ritt von der anderen Seite der große Kriegsmann herzu, welcher den ausgestellten Wachen gebot. »Graf Gerhard hemmt seine Reise«, rief dem Absteigenden der König entgegen, »er wird sich mit dem Babenberger vereinen, und Heriman liegt beraubt am Boden.«

»Oft warnte ich den König«, antwortete der Vertraute, »der Treue des Wolfes Gerhard zu vertrauen, er nimmt seine Beute, wo er sie findet.«

»Er raubt wie die anderen«, fuhr Heinrich fort, »er ist nicht schlechter als seinesgleichen und schleicht vorsichtig durch die Täler.«

»Seine kleine Schar wird der König ohne Schaden entbehren.«

»Nicht die Schilde, welche er von uns abführt, betrauere ich; aber [] gerade, daß er kein Held ist, der Kühnes wagt, sondern ein Mann wie andere Edle auch, das schlägt mir die Wunde. Denn wie er werden viele handeln. Wahrlich, es steht schlecht mit der Sache des Königs, wenn diese Art Raubtiere von seinem Pfade weicht.«

»Auch hat Graf Gerhard sich bereits vorweggenommen, was ihm der König als Lohn versprochen hatte«, begann der große Krieger kalt, »und ihm fehlte der Grund, den andere Empörer vorgeben, daß der König zuerst ihnen ein Gelöbnis gebrochen habe.«

Heinrich fuhr auf, wie von einer Natter gestochen. »Unleidlich ist dein Trost«, antwortete er scheu, »willst auch du zu meinem Bruder und zu dem Babenberger hinüberreiten, daß du mich in dieser Stunde einen Treulosen nennst und zu einem Gesellen des Grafen Gerhard machst?«

»Ich habe mich dir gelobt, König, und ich denke meinen Eid zu halten, obgleich auch ich zu denen gehöre, die du als Raubtiere schmähst. Aber die Wahrheit berge ich dir nicht, das hast du oft erfahren. Ich stand dabei, als der König dem Markgrafen bayrisches Land versprach, damit das Geschlecht der Babenberger dem König zum Throne helfe. Und ich hörte wieder, daß der König auch seinem eigenen Bruder die Herzogswürde in demselben Bayern verhieß. Jetzt schreien beide durch das Land, daß Heinrich ihnen das Wort gebrochen habe. Befiehl mir, sie im Kampfe zu erlegen, und du weißt, ich werde es tun, wenn ich es vermag. Aber wundere dich nicht, wenn jene beiden von vielen gelobt werden, weil sie ihr Anrecht gegen dich mit den Waffen suchen.«

Der König nahm die kühne Rede schweigend auf und saß wie getroffen von der Vergeltung, endlich hob er das Haupt und begann: »Da ich König wurde, dachte ich besser von den deutschen Edlen. Aber in dem ersten Jahre habe ich sie erkannt. Jedermann hüte sich zu versprechen, was er nicht zu halten vermag, und zumeist hüte sich, wer die Krone trägt. Doch glaube mir, Geselle, keinem wird schwerer, auf seinem Wort festzustehen als dem Könige, wenn er ein Löwe bleiben will in dem Reich gefräßiger Tiere. Niemand weiß es, und niemand glaubt es, wie dem König sein verpfändetes Wort und sein redlicher Wille zu einer Todesgefahr werden in späteren Tagen. Durch die Treue, die er anderen erweist, schafft er sich Untreue. Wer heute sein Freund ist, wächst morgen, sobald er Gut und Gabe erhalten hat, zu seinem Gegner. Jeder begehrt Macht, und je größer seine Macht wird, desto höher steigt seine Begehrlichkeit. Wahrlich, wie ein verächtlicher Tänzer schwankt der König auf dem Seil, und die Arme, welche er ausstrecken muß, um Gleichgewicht zu bewahren, heißen List und Gewalt. Jammervoll wäre seine Aussicht nach dem Tode, wenn ihm nicht gelänge, den Himmelsherrn wieder zu versöhnen durch Demut und fromme Werke. Daß Gutes aus dem Übel komme, das ist des Königs [] geheimer Trost.« Er stützte das Haupt in die Hand und sah traurig vor sich nieder.

Ein Reiter jagte heran, ein zweiter und dritter. »Sieh auf, König«, rief sein Begleiter, »dort hinten blinken die Speereisen in der Sonne, Krieger sind es des Gerhard oder der Babenberger, deine Wächter fahren nach rückwärts. Führt die Rosse her«, gebot er. »Hoffen die Toren, zum zweitenmal einen Schatz zu fangen? Sie sollen nichts gewinnen als harte Schläge.«

Auf die Ruhe in der Landschaft folgte wilde Bewegung, die flüchtigen Reiter sammelten sich vor dem Könige, am Hoftor stampften die herausgeführten Pferde, der König beobachtete noch immer einen Trupp Feinde, welcher, die Wurfspeere schwenkend, heranjagte. »Geringe Ehre wäre es für den König, mitzukämpfen«, mahnte der Vertraute. Heinrich nickte gleichmütig und schwang sich auf sein Roß, während aus der Ferne gellender Kriegsruf erscholl.

Immo sah mit pochendem Herzen und strahlenden Augen auf den Feind, er band sich den Eisenhut fest, rückte den Schild am Arme zurecht, wirbelte den Speer und wollte zu den Wachen sprengen, welche sich gegen den Feind ordneten. Da fiel eine Hand schwer in die Zügel seines Pferdes, neben ihm hielt der große Kriegsmann, ein glühender Blick aus Augen, die er wohl kannte, bannte ihn fest, und eine Stimme, deren Ton ihm tief in das Herz drang, befahl: »Zurück!«

»Mein Oheim Gundomar«, rief der überraschte Jüngling und trieb unwillkürlich sein Pferd mit einem Sprung zur Seite. »Es ist mein erster Kampf, wie darf ich umwenden?«

»Wohl hättest du verdient, daß jene dort dich schnell auf den Rasen legen. Dennoch gehorche, Knabe!« und der Oheim riß ihm das Pferd herum, schlug es mit der Speerstange, und beide stoben nebeneinander hinter dem Könige her, der mit wenigen Begleitern flüchtig voranritt. Immo fuhr dahin wie im Traum, zuweilen sah er verstohlen auf die düstere Gestalt des gewaltigen Reiters, der an seiner Seite jagte. »Wende dein Haupt nicht rückwärts«, befahl Gundomar kurz, »achte auf den Zügel, dein Pferd hat heut mehr Meilen gemacht, als dir frommen wird, und jene folgen auf auserwählten Rossen.«

»Mich kränkt's, Oheim, daß ich davonreite.«

»Ich meine, andere kränkst du, daß du im Felde reitest«, klang es von dem anderen Rosse zurück, und weiter ging es, Hügel hinauf und hinab. Die Sonne brannte, die Luft wehte scharf an die Wangen. Immo hörte hinter sich Rosse schnauben und sah den Hauptmann, mit dem er gerungen hatte, blutend und staubbedeckt an der Seite seines Oheims. Dieser wies auf die Niederung vor ihnen, durch welche ein Bach, mit Erlen und Weidengebüsch umwachsen, dahinrann. »Du kennst die Furt, sammle dahinter, die noch schlagen [] können, und stelle dich noch einmal gegen die Feinde, wollen sie durchschwimmen, so finden sie die Ufer steil, ihr reitet im Vorteil. Fahre wohl, Bernhard, wer übrigbleibt, sorge dafür, daß er seine Gesellen aus dem Fegfeuer löse, ich gedenke deiner Seele, tue mir dasselbe.« Er winkte mit der Hand, der Reiter blieb zurück; sie tauchten in das Wasser, der weiße Schaum hing sich an ihre Kleider. Der Oheim riß das Roß des Neffen an wegsamer Stelle das steile Ufer hinauf, und wieder ging es vorwärts in gestrecktem Lauf. Hinter ihnen klang stärker der Ruf der Verfolger, darauf ein Gegengeschrei der Königsmannen und Getöse des Kampfes. Als sie wieder eine Anhöhe erreicht hatten, sah Held Gundomar nach rückwärts, Freund und Feind jagten wild gemengt in geringer Entfernung nach, vor ihnen durchritt der König die Furt eines anderen Baches, weiter vorn hob sich ein steiler Berghang, mit dichtem Fichtenholz bewachsen. »Hinter dem Harzwald findet er Rettung«, sagte der Ohm zu sich selbst und ritt voran in den Bach. Am anderen Ufer gebot er: »Nur wenige Verfolger sind dem Haufen voran, mache die Kehre zum Anlauf.« Er wandte sein mächtiges Streitroß im Bogen und fuhr von der Höhe herab den Feinden entgegen, welche aus dem Bach auftauchten. Behend folgte Immo seinem Beispiel. Als er den feindlichen Reitern entgegenritt, ergriff ihn der Kampfzorn seines Geschlechtes, er hörte seinen Oheim das Kyrie eleison mit schmetternder Stimme rufen, auch er rief sein Hara, und Roß und Reiter schlugen gegeneinander. Ihn umgab ein wilder Wirbel von Männern, welche aus dem Wasser emporrangen, von springenden Rossen und gehobenen Armen. Er warf seinen Speer und traf mit dem Schwert, die Streiche dröhnten von den Schilden und Helmkappen. In der geröteten Flut des Baches sah er sinkende Krieger und ledige Rosse, an seiner Seite fand er den treuen Brunico wacker dreinschlagend mit blutigem Haupte. Und er vernahm wieder die donnernde Stimme seines Oheims: »Wendet nach rückwärts!« Da tauchte er schnell zu Boden, riß dem Manne, den er gefällt hatte, seinen Speer aus der Wunde, und die geborgene Waffe mit Jauchzen über dem Haupte schwenkend, sprengte er hinter dem Oheim die Berglehne aufwärts, bis zu einer Stelle, wo ein Hohlweg den steilen Abhang durchschnitt. Dort stieg Gundomar ab und gebot ihm durch eine Handbewegung, dasselbe zu tun, dem Brunico aber winkte er, die keuchenden Rosse weiter hinaufzutreiben. »Hierher habe ich dich geführt, weil du aus edlem Geschlechte bist, und hier ist das Tor, an dem du halten sollst, bis du fällst«, befahl der Oheim mit düsterer Miene, »denn Helden sehe ich gegen uns reiten, und kein anderer Pfad führt zum König als über unsere Leiber. Stehe als erster in dem Wege. Nimmer meinte ich, daß die Heiligen mir zur Buße meiner Sünden auferlegen würden, dich zu rächen; doch heut will es das Schicksal so fügen.« Er trat auf einen [] Stein, wo seine mächtige Gestalt weit erkennbar ragte, und stellte den Schild an seinen Fuß.

Aus der Tiefe sprengten feindliche Reiter. »Weiche abwärts, Graf Ernst«, rief Gundomar ihrem Führer entgegen, »fruchtlos war dein Jagdritt, mein Schild sperrt dir die Wildbahn.«

Graf Ernst sprang vom Rosse und zuckte die Schildfessel am Arme zurecht. »Drei Zäune deiner Speerreiter habe ich durchbrochen, meinst du, daß der letzte mich aufhält? Behende versteht dein König zu fliehen, seine Helden haben gelernt, mit den Beinen zu kämpfen, den Rücken bieten sie willig unseren Speeren.«

»Vergebens suchst du mich zum Streite zu locken«, rief Gundomar entgegen. »Ich denke daran, daß wir einst in der Fremde Kampfgenossen wurden, als dein Schild den Tod von meinem Haupte abwehrte.«

»Ich meide dich, solange ich andere Beute finde, tue du dasselbe«, rief der Babenberger. Er hielt den Schild über sein Haupt und sprang die Bergsteile wie ein Raubtier hinauf gegen Immo. Als dieser den gefürchteten Helden erkannte, den er einst im Kloster gesehen hatte, hob sich sein stolzer Mut, und er trat ihm entgegen. Die Speere der Helden flogen, und beide hafteten an den Schilden. Sie zogen die Schwerter und tauschten blitzschnelle Schläge, daß die Funken an Helm und Schildrand sprühten. Erprobt war die Kraft des Grafen, aber der Arm Immos schlug stärker von der Höhe abwärts.

Die Krieger, welche dem Grafen folgten, zauderten kurze Zeit und sahen auf den Kampf der beiden Helden, dann warfen sie sich gegen die anderen Wächter des Bergtors, und Gundomar rang gegen sie wie ein Eber gegen die Hunde.

Mehr Feinde sprengten heran, auch gegen Immo rannte ein zweiter, ein dritter. Immo erhob seine ganze Kraft wider den Grafen zu wildem Sprunge, er schmetterte mit dem Schwert in den Helm und drückte den Schild gegen den Leib des Feindes, daß dieser wankte. Da traf ihm selbst ein geworfener Streitkolben das Haupt, so daß er zurückfuhr und auf den Weg sank. Aber in demselben Augenblick sprang Brunico über ihn und hielt seinen Schild den Markgräflichen entgegen; von der Höhe drang ein Trupp Reiter in den Hohlweg, und aus dem Gewühl der Männer und Rosse vernahm Immo die scharfe Stimme des Königs: »Ergreift den Verräter.« Talab wogte der Kampf, und aus der Tiefe erscholl freudiges Kampfgeschrei der Königlichen. Als Immo allein lag, fühlte er, daß ihn ein Fuß unsanft berührte, und als er halb bewußtlos aufsah, glaubte er das Antlitz Gundomars über sich zu erkennen und zwei Augen, welche mit kaltem Haß auf ihn starrten; darnach verlor er die Besinnung.

Der König hielt auf dem Wege, säuberte sein blutiges Schwert an den Haaren des Rosses und rief lachend Gundomar zu: »Der [] Bösewicht Ernst ist gefangen, und diesmal entgeht er schwerlich der Rache des Königs. Du aber sollst meine Geschwindigkeit loben, denn ich kam zur rechten Zeit, um dich herauszuhauen.« Er blickte auf den liegenden Immo. »In fröhlichem Jugendmut zog er heran, kurz war der Waffendienst des Treuen.«

»Das Leben des Königs zu bewahren, tauschte er Schläge mit einem Helden. Sein Ausgang war rühmlicher, als er hoffen durfte«, versetzte Gundomar finster. Da rief Brunico, der auf dem Boden saß und das Haupt des Gefällten im Schoße hielt, unwillig: »Wenig frommt ihm der Unkenruf, kaltes Wasser wäre ihm dienlicher. Ich meine, er soll noch manches Jahr leben, anderen zur Freude oder zum Ärger, je nachdem sie sind.«

Der König beugte sich über den Liegenden. »Du sorge für ihn«, befahl er dem Knappen, »im Ring meiner Leibwache soll ihm das Lager bereitet werden.« Der Haufe ritt dem Lager zu, in seiner Mitte die schwertlosen Gefangenen. Auf einer Trage aus grünen Zweigen wurde Immo von Reisigen des Königs im Walde geborgen. Als er aus der Betäubung erwachte, fand er sich in einem Zelt auf weichem Lager unter den Händen des jüdischen Arztes, welchen der König gesandt hatte, mit lautem Heilruf begrüßt von seinem treuen Gespielen.

Im Zelt des Königs mahnte Gundomar mit der Sorgfalt, welche einem vertrauten Diener wohl ansteht: »Heiß war der Tag auch für den König, und Ruhe wünsche ich ihm heut für Seele und Leib.«

»Du freilich ruhst nach deinem Heldenwerk«, versetzte Heinrich, »du verbindest die Wunden, siehst in die Abendsonne und freust dich der Streiche, die du ausgeteilt. Der König aber setzt sich auf den Sorgenstuhl und beginnt die kleine Arbeit, welche ihr Helden verachtet. Führt den Reisigen des Thüring Immo herein.«

Brunico wurde eingeführt, er trug den Kopf verbunden und neigte sich schwerfällig an der Tür.

»Auch du hast dir erworben, was die Leute lieber an anderen rühmen, als selbst nach Hause zu tragen«, begann der König und wies auf das blutige Tuch.

»Die Eisenkappe hielt's nicht aus, der Schädel ertrug's«, versetzte Brunico zufrieden.

»Wo liegt Heriman, der Goldschmied?« fragte der König.

»Auf unserem Karren, zwischen den Mehlsäcken.«

»Wer ist bei ihm?«

»Ich hoffe niemand, außer meinen Gesellen vom Moor und von den Bergen des Immo.«

»Vermagst du den Heriman durch die Späher des Feindes hierherzuschaffen?«

Brunico rechnete: »Von Mittag bis zur Vesper ruhig getrabt, von da bis zum Abend mit dem Herrn König wie die Hasen gelaufen, [] beträgt zusammen eine gute Tagfahrt südwärts. Dennoch habe ich Vertrauen, soweit man im Walde zurückschleichen kann, denn wir verstehen uns auf die Listen im Holze.«

»Erzähle mir, wie du den Heriman fandest.«

Brunico holte mehrmals Atem und wischte mit dem Ärmel an seinem Eisenhut, denn lange Rede war ihm unlieb. Endlich begann er: »Als mein Gespiele im Idisberg auf die Sommerlinde stieg, dachte ich, er könnte herunterfallen, denn diese Art Holz ist brüchig. Deshalb legte ich mich an die Mauer, ihm beizustehen.«

»Was soll die Rede?« fragte der König, »wer ist dein Gespiele?«

»Derselbe Immo, welchen der Herr König kennt.«

»Bist du nicht sein Dienstmann?«

»Ein Freier bin ich aus dem Moor, und freiwillig begleite ich ihn.«

»Seltsamen Ritterbrauch übt man in deiner Heimat«, spottete der König, zu Gundomar gewandt. »Weshalb stieg Held Immo auf die Linde?«

»Weil etwas darunter war«, versetzte Brunico mit schlauem Augenzwinkern.

»Schwert oder Spindel?« fragte der König.

»Spindel«, bestätigte Brunico.

Der König nickte. »Daher die Schweigsamkeit des Jünglings.«

»Wie ich so an der Mauer herumschlich, vernahm ich, daß die Fechter des Grafen in einem Erdloch miteinander zankten wegen der dreizölligen Wunden, welche der König an ihnen sehen will.«

»Wie?« fragte der König, »was habe ich mit den Fechtern des Grafen zu tun?«

Aber Brunico, der froh war, jetzt aus seinem Gedächtnis die Rede eines anderen herauszuholen, fuhr herzhaft fort: »Ich selbst vernahm, daß der König die fahrenden Leute mißachtet, insbesondere die Weiber, welche im Tanzen ihr Gewand abwerfen. Ja, man sagt, daß ihm alle Weiber verleidet sind. Aber die Kämpfer beachtet er. Darum fordert Graf Gerhard, daß seine Fechter vor dem Könige kämpfen sollten, dagegen forderten wieder die Fechter eine Begabung. Als ich so über ihnen lag, hörte ich sie weiterhin von den Waren sprechen, welche sie für ihren Herrn von einem Kaufmann geraubt hatten. Das verkündete ich dem Helden Immo, als er sich zu mir fand; wir berechneten die Zeit und suchten die Spur der beiden Räuber; nicht lange, so fanden wir den Heriman, den mancher von uns kannte. Immo verband die Wunden, wie er im Kloster gelernt hatte, wir luden den Heriman auf unseren Wagen, brachen auf, sobald der Morgen graute, und schlugen uns südwärts in die Wälder. Immo aber harrte mit einigen der schnellsten Knaben als Späher im lichten Holz, wohin sich Graf Gerhard wenden werde. Ich blieb unterdes bei den Karren und dem Heriman.«

Der König nickte. »Du hast alles treulich berichtet. Sorge, [] Gundomar, daß Kundschafter ihn begleiten, die mit den Waldwegen Bescheid wissen.« Er winkte Entlassung, aber Brunico stand unbeweglich und glättete aufs neue an seinem Eisenhut. »Was begehrst du noch?« fragte der König.

Brunico überlegte. »Auch gibt es noch eine Geschichte von einem Bündel, welches mir Heriman für den Herrn König anvertraut hat.«

Heinrich sprang auf und packte den Arm des Thürings. »Wo ist die Botschaft, wo ist das Bündel?«

Brunico sah den König gekränkt an. »Behalten will ich's nicht.« Er wandte sich vom König ab und arbeitete mit den Händen längere Zeit innerhalb seines Panzerhemdes, endlich brachte er eine kleine Ledertasche heraus. »Sie soll für den Herrn König, aber mein Gespiele weiß noch nichts davon«, sagte er und sah zweifelnd auf die Tasche.

Heinrich riß sie ihm aus der Hand, öffnete und rief Gundomar zu: »Die Briefe sind es aus Magdeburg und dem Sachsenland, lange ersehnt und glücklich geborgen. So ist doch unsere Fahrt gelungen, und auch du hast die Stöße nicht vergebens erhalten. Laß mich allein, und diesen nimm mit dir, er hat guten Botenlohn verdient.«

Als die Nacht über dem Heerlager heraufstieg, Männer und Rosse ermüdet schliefen und die Lagerfeuer niedrig brannten, sah man noch immer im Zelt des Königs das brennende Licht und Schatten seiner Boten, welche herzu- und hinauseilten.

Vor der Festung

Im Ringe um das Königszelt wachten die Bogenschützen Immos; denn der König hatte, um die kleine Schar zu ehren, ihr neben seinen Bayern den Schutz des eigenen Leibes anvertraut. Zwei von ihnen hielten die Speerwache am Eingang des Zeltes, die anderen saßen nach altem Brauch, den Bogen in der Hand, den Pfeil an der Senne, in weitem Kreise umher und wechselten nur kurze Worte mit gedämpfter Stimme. Immo stand nahe dem Zelt und schaute mit lebhaftem Anteil in das Tal vor seinen Füßen, auf die Mauern und Türme der großen Feste, von welcher das Banner des Babenbergers trotzig gegen das Königszelt wehte. Der Mauerring war vor alter Zeit durch Sorben oder Böhmen im verwüsteten Grenzland errichtet worden, und die Babenberger hatten ihn mit ihrer besten Kunst erhöht, so daß er jetzt die stärkste von allen Burgen des Markgrafen war. Darum hatte dieser seine Gemahlin, seine Kinder und Schätze darin geborgen, viele seiner besten Helden hineingesetzt und seinen eigenen Bruder als Befehlshaber. Gegen die Burg war der König wie ein Sturmwind hereingebrochen und hielt sie mit eisernem Griff umklammert. Seine Heerhaufen lagen unter [] ihren Bannern rings um den Bach, der in seinen Armen die Festung einschloß, die Hütten und Zelte füllten den Talrand und zogen sich an den Hügeln hinauf. Lange Züge von Gespannen führten Fichtenstämme aus den Wäldern heran, und Scharen von Zimmerleuten fügten das Holz zu hohen Türmen, von denen die Bogenschützen gegen die Verteidiger der Mauer kämpfen sollten. Hier und da ragte ein Sturmbock aus dem Haufen der Arbeiter, das Holzgerüst, in welchem an starker Kette ein mächtiger Baumstamm hing, der, von hinten nach vorn geschwungen, auch festen Mauern das Gefüge zerbrach. Von allen Seiten erscholl kriegerisches Getöse zu dem Schlag der Äxte und Hämmer. Hornruf trieb die Arbeiter zum gleichzeitigen Heben der Lasten und einzelne Heerhaufen zum Ausschwärmen oder zum Rückzug. Längs dem Wasser lagen hinter Holzschirmen oder in der Deckung, welche der Boden gab, behende Bogenschützen, welche ihre Pfeile nach jedem Haupt und Arm richteten, die sich über die Mauerbrüstung erhoben. Gegen die Schützen fuhren von oben geschleuderte Speere und Steine, zuweilen, wenn ein größerer Haufe näher herandrang, flog ein spitzer Baumpfahl oder ein Felststück aus der Standschleuder des Turmes. Dann erscholl ein heller Warnungsruf, und der Haufe stob auseinander, doch wer getroffen wurde, blieb zerschlagen am Boden.

Immo trat schnell zurück und grüßte, den Speer senkend, als der große Erzbischof Willigis von Mainz, der mächtigste Herr nach dem Könige, begleitet vom Kanzler, aus dem Zelte trat. »Oft sah ich Helden in der Blüte des Lebens niedergemäht vom Schwert der Feinde oder durch den Willen der Könige«, begann der Erzbischof, »und mir scheint, wer sich am herrlichsten erhebt, den wirft das Geschick am tiefsten. Dennoch traure ich über den Fall des Ernst von Östreich, denn gleich einem wonnigen Frühlingstag erschien sein Leben dem Volke. Aber der König fühlt kein Erbarmen.«

»Ihr kennt ja selbst unseren Herrn, ehrwürdiger Vater«, versetzte der Kanzler, »er ist mild, wenn er vertraut, aber wo er sich rächt, begehrt er die Vernichtung.«

Der Erzbischof mahnte seinen Begleiter durch einen Blick auf Immo, zu schweigen, der Kanzler wandte sich grüßend an den Jüngling. »Du siehst, Held Immo, daß der Brief deines Abtes dir eine gute Stätte bereitet hat, ich freue mich, daß der König gegen dich huldvoll gesinnt ist. Auch ich habe wohl Günstiges zu ihm gesprochen, und wenn du eine Gelegenheit findest, mir gute Dienste zu tun, so hoffe ich, du wirst es an dir nicht fehlen lassen.«

Das Zelt öffnete sich wieder, von Gundomar und Wächtern begleitet trat Graf Ernst in das Freie. Er hatte sein Todesurteil empfangen, aber er trug sein Haupt hoch und grüßte mit würdiger Haltung die geistlichen Herren. Da begegnete sein Auge dem Blick Immos, welcher ihn mit Bewunderung und Trauer betrachtete, [] schnell trat er auf ihn zu und begann: »Ich kenne dich wohl, Held, dein Schwertschlag war es, der mir die Kraft lähmte, wo ich ihrer am meisten bedurft hätte, und du bist es, der mein Haupt unter das Urteil eines strengen Richters gebeugt hat. Aber willig rühme ich heut, daß du mannhaft gegen mich gestanden hast. Es war ehrlicher Kampf, ohne Groll scheide ich auch von dir.« Und er bot ihm die Hand.

Immo hielt die Hand fest und antwortete bewegt: »Oft, wenn ich von Euren ruhmvollen Taten vernahm, dachte ich, daß es mein größtes Glück sein werde, dereinst im Schwertkampf an Eurer Seite zu stehen. Jetzt rührt es mein Herz, daß es diese Waffe war, die Euch im letzten Kampfe traf, und willig wollte ich die teure Ehre dahingeben, wenn ich Euch dadurch retten könnte.«

»Hilfe für mich ist nur noch beim Himmelsherrn«, versetzte der Graf mit einem Blick auf den Erzbischof, »dir aber mögen die Heiligen besseres Erdenglück zuteilen, als ich empfing.« Mit gehaltenem Gruß wendete er sich ab.

Gundomar aber begann unfreundlich gegen Immo: »Dem Helden stand wohl an, dich mit Worten zu ehren, dir aber rate ich zu bedenken, daß ein günstiger Schwertschlag noch keinen zum Helden gemacht hat.«

»Ich traf so gut ich vermochte und denke dasselbe gegen jeden zu tun, der mir feindlich entgegentritt«, entgegnete Immo.

»Auch der Grashalm steigt üppig empor, wenn ihn die warme Sonne bescheint, der erste Wetterregen schlägt ihn zu Boden«, spottete Gundomar.

»Nicht Eure Freundschaft hob mich empor, als ich auf dem Boden lag«, versetzte Immo.

Als die beiden Helden einander gegenüberstanden, mit blitzenden Augen und geröteten Wangen, da sahen die Anwesenden mit Staunen, wie gleich sie einander in Antlitz und Gebärde waren, beide hochragende Gestalten mit breiter Stirne und starken Augenbrauen, mit gewölbter Brust und starken Gliedern; voller und heller ringelte sich das Haar Immos, in den dunkleren Locken Gundomars schimmerten einzelne Silberfäden, aber an Haltung und Gebärde glichen sie einander wie Brüder, ähnlich klang sogar der Ton ihrer Stimme.

»Verzeiht, ehrwürdiger Vater«, wandte sich Gundomar zum Erzbischof, »daß leerer Wortwechsel in Eurer Gegenwart laut wurde. Mir ist das Gemüt beschwert durch das Los eines edlen Waffengefährten.«

»Leicht eifern die Helden gegeneinander«, versetzte der Erzbischof rücksichtsvoll, »auch wenn sie von einem Geschlechte sind. Bei der Not des einen denkt der andere doch, was seiner Ehre geziemt.«

[] Während Immo den abwärts Schreitenden finster nachblickte, sah er vor sich zwei Zeigefinger übers Kreuz gelegt und hörte nahe an seinem Ohr die fragenden Worte: »Es tu scolaris?« Dies war der vertrauliche Gruß, woran die lateinischen Schüler im Lande einander erkannten, und der ihn so begrüßte, war der König. Ehrerbietig trat er zurück und neigte die Waffe. »Ich höre, dein Oheim sähe dich lieber im Kloster als im Heerlager.«

»Ich bin ihm verleidet«, antwortete Immo, »und ich sorge, daß sein übler Wille mir die Huld des Herrn Königs mindere.«

»Das besorge nicht«, versetzte Heinrich trocken. »Zudem magst du wissen, daß Held Gundomar seine Feinde lieber ins Antlitz schlägt als hinterrücks angreift; und soll ich dir Gutes raten, so meide seine Nähe, wenn er die Brauen grimmig zusammenzieht, wie er manchmal tut. Doch ein anderer Held hat dir, wie ich vernahm, besseres Lob gespendet.« Er wies nach dem Wege, auf welchem Graf Ernst zwischen den Wächtern ging. »Gräme dich nicht, daß du den Spielleuten ihren Helden genommen hast; denn er ist einer von den Recken, welche durch das Lied müßiger Gesellen gefeiert werden, selten aber durch das Lob bedächtiger Männer. Sie werfen ihren Handschuh hierhin und dorthin und kämpfen wie Bären um eine hohle Nuß, unbekümmert, ob Land und Leute darüber zugrunde gehen. Darum gleicht auch ihr Ruhm der lodernden Schindel, welche beim Hausbrande fliegt, wie gerade der Wind sie treibt, bis sie am Boden flackert und in Finsternis verlöscht.«

»Verzeiht, Herr«, versetzte Immo demütig, »wer unter dem Helme reitet, wie mag der den Stolz auf große Taten entbehren?«

»Der Weise aber nennt eine Tat nicht darum groß, weil sie mit schwerer Lanze und starkem Arm vollbracht wird, sondern weil sie großen Nutzen bereitet. Vieles, was leise ins Ohr geraunt wurde, schuf besseren Segen als der wildeste Sprung über die Heide.«

»Dennoch verzeihe mir der König, wenn ich sage, wenige werden freudig das Schwert schwingen und in den Feind reiten, wenn ihnen nicht die Ehre, die sie gewinnen, der liebste Schatz auf Erden sein darf.«

»Du denkst ganz wie die Laien«, schalt der König, »ich traute dir bessere Einsicht zu. Da du aber im Kloster warst, solltest du gelernt haben, daß es höhere Siege gibt als mit Schild und Schwert, indem man die Seelen der Helden und der anderen begehrlichen Menschen bezwingt, damit man ein Herr wird über sie.«

»Das ist das Amt des Königs«, antwortete Immo. »Ich habe gehört, daß der große Kaiser Karl, der König Etzel und andere gewaltige Herren, von denen die Sage kündet, sich ausdachten, was ihnen nützen könnte, und dann ihre Helden sandten, damit sie es vollbrächten, zu dem einen Werk die Klugen, zu dem anderen die Starken; und daß sie jeden zu gebrauchen wußten, wozu er diente.

[] Ich aber bin nur einer, der dem König mit seinem Schwerte dienen will. Und ich begehre die Ehre eines Helden, welche mir gebietet, meine Genossen liebzuhaben und mich an meinen Feinden blutig zu rächen. Ob die Rache auch zum Amt eines Königs gehört, das weiß ich nicht.«

Heinrich sah ihn mit großen Augen an. »Immo, tu es scolaris. Du bist weit schlauer, als ich dachte. Was willst du mir zu verstehen geben? Fahr fort.«

»Herr«, sprach Immo kühn, »als ich den Grafen Ernst abwärts führen sah, da fiel mir aufs Herz, ein hochgesinnter Held wie dieser vermöchte dem König wohl noch seine Treue durch gute Dienste zu erweisen. Denn sie sagen, daß er nur deshalb in Empörung und Unglück gekommen ist, weil er dem Hezilo als Anverwandter die Treue gehalten hat.«

»Dem König aber hat er die Treue gebrochen«, rief Heinrich.

»In Zukunft könnte er wohl dem König allein nützen, denn des Königs Würde versteht, wie man die Seelen der Helden und der anderen begehrlichen Menschen zwingt, damit sie gehorsam dienen.«

»Hat Sankt Wigbert dir so gut die Zunge gelöst«, fragte der König, »daß du sie gegen mich für einen Verräter zu gebrauchen wagst?«

Immo beugte das Knie. »Mit dem Schülergruß wurde ich angerufen; habe ich zu dreist gesprochen, so möge die Gnade des Königs mir verzeihen.«

Der König nickte. »Du hast recht, und ich werde mich hüten, dir noch einmal das Fingerkreuz zu zeigen, damit du mir nicht wieder eine Lektion hersagst.« Und als Immo ihn bittend ansah, fuhr er mit Königsmiene fort: »Sei ruhig, Hauptmann, ich zürne dir nicht.«

Reisige sprengten herauf, im Lager erhob sich Geschrei und Getümmel, ein donnernder Jubelruf wälzte sich von Haufen zu Haufen durch das ganze Heer. Unter dem Geleit einer riesigen Schar wurde ein langer Zug von Heerwagen und beladenen Lasttieren durch das Lager geführt und nahe dem Bach, den Belagerten sichtbar, rund um die Festung bis zur Höhe des Königs. Das war der Schatz, den der Held des Markgrafen gefangen und den der König zurückgewonnen hatte, nachdem er die Burg des Magano eingenommen. Jetzt wurde der Schatz im Triumph durch das Lager geführt, die Krieger zu trösten und die Feinde zu entmutigen. Die Augen des Königs leuchteten, als sie dem Zug der Wagen folgten, und sich noch einmal zu Immo wendend, schloß er: »Suchst du gleich Ehre und nicht Gold, ich hoffe doch, es soll auch für dich etwas Glänzendes herausgehoben werden, wenn der König seine Treuen belohnt.« Er ging dem Erzbischof entgegen, welcher dem Zelte des Königs zuschritt.

Als die Sonne sank, zog eine Schar breitschultriger Bayern mit [] Stiernacken und großen Häuptern heran, die Königswache zu halten. Immo wechselte mit dem Führer den Gruß, löste seine Knaben von ihren Plätzen und führte sie zu der Stelle des Lagers, wo sie sich aus Fichtenzweigen die leichten Hütten erbaut hatten. Während die Thüringe das Feuer anzündeten, um ihr Mahl zu bereiten, warf er selbst einen dunklen Mantel über, den Soldschmuck seiner Rüstung zu verdecken, vertauschte seinen Helm mit der leichten Eisenkappe eines Gefährten und eilte ins Freie. Rings um die Festung brannten die Lagerfeuer, zwischen den rötlichen Flammen und den weißen Rauchsäulen schritten die Krieger wie dunkle Schatten hin und her. Auch über der Festung schwebte eine rote Dampfwolke, welche verriet, daß die Belagerten nach den Gefahren des Tages für die ermüdeten Leiber sorgten.

Immo durchschritt die letzten Lagerreihen der Königsmannen, beantwortete den Ruf der Wachen und trat in das offene Land, welches dunkel und still vor ihm lag. Nur an einer Stelle wirbelte weit abseits vom Lager ein feuriger Dampf, dessen Flamme in der Tiefe verborgen war. Dorthin eilte Immo. Von der Höhe blickte er über eine Erdsenkung, in welcher eine Anzahl Laubhütten und Zelte unordentlich durcheinanderstand. Saitenspiel und Gesang und das Geschrei Trunkener tönten zu ihm herauf, Männer und Frauen glitten an den Feuern vorüber und schlüpften von einer Hütte in die andere. Dort war das Lager der fahrenden Leute, welche als Sänger und Fiedler, als Tänzer und Gaukler dem Heere folgten, um die Krieger in den müßigen Stunden zu ergötzen und ihren Anteil an der Beute zu gewinnen. Übel berüchtigt war die Stelle, denn die Wanderer, welche dort hausten, waren aller Ehre bar und wurden durch kein Recht geschützt, nur durch die Gunst mächtiger Helden, welche sie zu gewinnen wußten. Als Immo in das Gewirr der Hütten und Feuerstellen eindrang, wurde der Lärm und das Gewühl lästig, und er zog seinen Mantel dichter zusammen. Bezechte Krieger schrien ihn an, buntgekleidete Weiber boten ihm lustigen Gruß, ein riesiger Bär, der an einen Pfahl gebunden war, zerrte brüllend an seiner Kette, die Fiedel klang und das Sackrohr brummte; in einer Hütte schwang sich, umdrängt von einem Haufen Gewappneter, eine zierliche Dirne in hohen Sprüngen durch die Luft; in einer anderen saß ein Spielmann, sang mit melodischem Tonfall ein Lied von den Taten vergangener Helden und riß dabei kräftig die Saiten der kleinen Harfe; neben einem großen Feuer sprang ein schlauäugiger Gesell umher, welcher schnurrige Lügengeschichten erzählte und, wenn die Zuhörer laut auflachten, mit dem Becher herumlief, damit man ihm Silberblech spende. Endlich kam Immo zu einem Zelt, welches inmitten der anderen recht ansehnlich stand, mehr gute Rosse waren daneben angepflöckt, und darüber wehte ein Banner, auf dessen Tuch zwei gekreuzte Pfeile sichtbar wurden.

[] In der Zelttür saß Wizzelin, ein kräftiger Mann von mittleren Jahren mit klugem Gesicht, er trug ein zierliches Gewand von zweierlei Tuch, die eine Hälfte rot, die andere grün, um den Hals eine Goldkette, am Armgelenk einen dicken Goldring. Er gebot dem Lager als Hauptmann und schlichtete gerade einen Streit zweier Genossen, welche zu beiden Seiten eines Esels standen. »Frei lief der Esel«, entschied er lachend, »und zu gleicher Zeit packte ihn Gozzo am Schwanz und Bezzo am Ohr, und jeder meint, daß darum der Esel ihm gehöre. Beide habt ihr Unrecht geübt, denn ihr habt einander ärgerlich gescholten, der Fahrende aber gewinnt nur durch Lachen sein Recht und seine Beute. Dem Esel vollends habt ihr die Ehre gekränkt, denn da er als Freier lief, hat er das Recht, sich seinen Herrn zu wählen.« Er wies auf einen Distelstrauch zur Seite. »Jeder von euch nehme eine Blüte des wehrhaften Krautes in die Hand, dann haltet beide die Fäuste vor den Helden: wessen Kraut er frißt, dem will er sich angeloben.« Die Männer lachten und nickten, und Gozzo führte siegreich den Esel zu seiner Hütte.

Jetzt erst erhob sich Wizzelin, der seither Immo nur durch einen Seitenblick begrüßt hatte; mit tiefer Verneigung führte er ihn in das Zelt, zündete einen langen Kienspan an, den er in den Boden steckte, und schloß den Eingang durch eine vorgezogene Decke. »Sprecht leise«, sagte er, »denn meine Kinder sind treu, aber neugierig. Viele Augen sehen nach dem stattlichen Helden und suchen die Geldtasche unter seinem Mantel.«

»Sie öffnet sich gern für dich«, versetzte Immo, danach greifend.

»Laßt noch«, riet Wizzelin, »ich will die Gabe erst verdienen. Auch für Euch ersehne ich den Tag, wo die Kriegsbeute ausgeteilt wird und die Scharen der Helden heimwärts ziehen. Ich selbst werde froh sein, wenn ich wieder in die Höfe meiner Thüringe reite. Denn hier schwebt ein Geier über uns, und unsicher schlagen wir mit den Flügeln.«

»Doch merke ich, du hast auch hier Gunst gewonnen«, antwortete Immo lächelnd, »ich sah im Vorübergehen manchen ansehnlichen Kriegsmann in deinen Hütten.«

»Einem aber sind wir Fahrende verhaßt«, bekannte Wizzelin zutraulich. »Kein Mönch ist so unhold gegen mein Volk als der König; und wenn es auf meinen Willen ankäme, so wäre ich drüben beim Heere des Babenbergers, wo die Mehrzahl meiner Genossen weilt und weit besser geehrt wird.«

»Willst du deine Kinder in den Mauern der Festung bergen? Ungern erträgt, wie ich höre, dein Volk die Not einer belagerten Burg.«

»Vielleicht finden wir das Lager des Hezilo an einer anderen Stelle«, antwortete der Spielmann.

»Weißt du, wo?« fragte Immo schnell.

[] Wizzelin schüttelte das Haupt. »Wir Friedlosen, Herr, singen und sagen nicht alles, was wir wissen, und vergebens wäre es, aus uns herauszulocken, was wir nicht gestehen wollen. Eins aber sage ich Euch: unser Lied wird den König Heinrich selten rühmen, und seit er das Urteil gefällt hat über den Grafen Ernst, ist das fahrende Volk ihm feind, und der König mag sich vor der behenden Zunge meiner Kinder hüten wie ein Roß vor einem Schwarm Hornissen.« Und bedeutsam setzte er hinzu: »Auch der Held, welcher in seinem Heer Ehre gewinnt, mag sich hüten, ihm zu vertrauen, denn kalt und hart ist er wie Stahl.«

»Ist dir der Markgraf lieber, wie kommt's, daß du bei uns lagerst und nicht beim Hezilo?«

»Ihr selbst wißt einen Grund, daß ich hierhergesandt bin, andere behalte ich für mich. Auch der Spielmann denkt zuweilen, daß es sein Vorteil ist, dem Sieger zu folgen.«

»Sei gelobt, Wizzelin, daß du für uns den Sieg hoffst«, rief Immo.

»Noch ist er nicht erkämpft«, versetzte der Spielmann. »Hütet Ihr Euch nur, daß Ihr Euren Anteil daran nicht verschlaft.« Und leise setzte er hinzu: »Soll ich Euch Gutes raten, so wandelt morgen und an den nächsten Tagen im Grase, bevor die Sonne aufgeht; sammelt den Frühtau und streichet Euch damit die Augen, er hilft, wie die Weisen sagen, zu scharfem Gesicht.«

Immo überlegte die Worte, dann griff er schnell nach seiner Geldtasche. »Sage mir mehr, Wizzelin.«

»Ich tu' es nicht«, entgegnete der andere, »auch nicht, wenn Ihr versucht, mir die Augen durch Goldblech zu blenden.« Er schob den Vorhang zurück und blies auf einer kleinen Querpfeife einige schrille Töne ins Freie, gleich darauf vernahm Immo dasselbe Zeichen an mehreren Stellen des Lagers. »Weshalb Ihr kommt, weiß ich, ohne daß Ihr mir's sagt«, setzte Wizzelin ernsthaft die Unterredung fort, »den Gruß, welchen ich Euch im Kloster lehrte, hat mir noch keines meiner Kinder zugetragen. Darum ist meine Meinung, daß Euer Geselle, dessen Botschaft Ihr erwartet, nirgends weilt, wo der Wind über die Halme weht und ein Baum Schatten auf die Flur wirft, sondern umschlossen von Stein und Speereisen.«

»Du meinst in einer Burg des Hezilo?«

»Auch in den Burgen ziehen meine Kinder ein und aus. Wenn aber eine Mauer vom Feinde umringt ist, so wird ihnen das Fahren gehemmt.«

»Sie ist in der Festung, die wir belagern«, rief Immo erschrocken.

Wizzelin lachte. »Ihr werdet Euch behender auf die Mauer schwingen, als Ihr das hofft.« Als er aber den Schrecken im Gesicht des Jünglings sah, fuhr er begütigend fort: »Meinung ist nicht Gewißheit; harret, vielleicht kommt noch ein Bote für Euch. Das [] wollte ich Euch sagen. Und jetzt öffnet die Tasche und gebt mir meinen Sold, denn jetzt werdet Ihr die Stücke nicht zählen.«

Immo reichte dem Spielmann die Geldtasche. »Nimm; mir laß nur, daß ich nicht ganz leer bin, bis ich die nächsten Beuterosse gewinne.«

Wizzelin schüttelte sich die Hand voll Silber und senkte sie behende in sein Gewand. »Ich habe geteilt«, sagte er, die Tasche zurückgebend. »Was ich Euch ließ, hole ich mir mit anderem, wenn Ihr Euren Anteil an der Siegesbeute empfangt. Vergeßt den Mantel nicht, Ihr mögt ihn noch heut im Morgentau brauchen. Ich selbst begleite Euch bis an die Grenze meines Landes.«

»Dein Land ist überall, wo Menschen unserer Sprache wohnen«, antwortete ihm Immo zunickend. »Wo ist die Grenze?«

»Wo das Sandloch aufhört«, versetzte Wizzelin, »und wer weiß wie lange.« Sie durchschritten eilig das Lager, die Feuer brannten wie vorher, aber um die Hütten war es stiller; die Tänzerin war verschwunden, der Lügenerzähler saß allein und packte über einem Bündel, nur wenige Kriegsleute saßen und lungerten noch an den Zelten. Doch um die Karren, welche am Abhang in der Reihe standen, bewegten sich geschäftige Gestalten, und im Aufsteigen sah Immo, daß der Esel, welcher sich den Gozzo zum Herrn gewählt hatte, an einen Karren geschirrt wurde. Immo, dem die Angst um das Schicksal der Geliebten das Herz beklemmte, begann, auf den bespannten Wagen weisend: »Wie ein Wanderer in der Wildnis bin ich, dem sein Roß davonläuft. Wann sehe ich dich wieder, Wizzelin?«

»Frage die Wolken und den Wind, wohin sie schweifen, aber nicht einen Fahrenden«, versetzte der Spielmann lachend. Er neigte sich vor Immo und tauchte zurück, im nächsten Augenblick tönte wieder die scharfe Querpfeife.

Auf dem Wege hielt Immo an und mühte sich, aus dem Feuerkranz, der um die Festung loderte, die Lager der einzelnen Heerhaufen zu erkennen. In weiter Entfernung war der Hügel, auf dem die königlichen Zelte standen, dort und jenseits der Festung lagen bayrische Haufen, weiter abwärts Schwaben, Mainzer und Fuldaer, gerade vor ihm Herzog Bernhard mit seinen Sachsen. Da nickte er zufrieden und wandte sich schnellfüßig dem sächsischen Lager zu. Bald unterschied er hinter der langen Reihe flammender Feuer die starken Heerwagen, welche die Sachsen zu einer Wagenburg zusammengestoßen hatten, um dahinter wie in einem Walle sorglos zu ruhen. Von den Wachen angerufen, wurde er auf sein Begehr zum Zelt des Herzogs geführt. Der Kämmerer kam unwirsch aus dem Zelt. »Wie mag ich meinen Herrn wecken?« antwortete er auf die Forderung Immos. »Jämmerlich ist Bier und Met in Bayerland, und mein Herr schöpft hier so üblen Nachttrunk, daß ich allen Heiligen danke, wenn er nur erst eingeschlafen ist.«

[] »Ist das die Meinung, die du von deinem Herrn hegst, du grober Waldgötze«, rief eine tiefe Stimme aus dem hinteren Zelt, und ein Lederstrumpf kam gegen den Rücken des Kämmerer herausgeflogen. »Ich will wissen, wer da ist. Bist du es, Held Immo, so tritt herein.«

Der Kämmerer öffnete den Vorhang. Immo erkannte beim matten Schein einer Lampe den Herrn, der mit einem Lodenmantel aus heimischer Wolle zugedeckt lag und das gutherzige Gesicht ihm fragend zuwandte. Er berichtete die Warnung, welche Wizzelin geraunt hatte, und den plötzlichen Aufbruch der fahrenden Leute. »Sie wären nicht von ihren Feuerstellen gewichen, wenn sie nicht besorgten, daß der Markgraf auf ihrer Seite angreifen wird.«

»Schwerlich hat Hezilo die Spielleute zu seinen Vertrauten gemacht«, versetzte der Herzog kopfschüttelnd. »Und wenn er kommen will, so sind wir bereits da. Auch ist Hezilo ein Christ und ein ritterlicher Mann, der seinen Feind niemals anfallen wird, während die Unholde der Nacht durch die Lüfte fahren. Und wäre er, wie sein Vater war, so würde er uns auch Tag und Stunde vorher wissen lassen, obwohl wir die Stärkeren sind. Doch die jetzige Jugend mißachtet alte Bräuche, zumal, wenn sie ihr beschwerlich sind. Darum war deine Sorge unnötig.«

»Vielleicht liegt der Markgraf uns so nahe«, wandte Immo ein, »daß er nicht bei Nacht, aber beim ersten Morgenschein in das Lager einzubrechen vermag. Ihr selbst mögt ermessen, ob er im Vorteil kämpft, wenn er zu dieser Stunde an unsere Hütten dringt.«

Der Herzog richtete sich mit halbem Leibe auf. »Wecken kann ich meine Sachsen nicht, denn wenn sie bei Tage mannhaft kämpfen, so haben sie dafür, sobald sie schlafen, ein solches Gottvertrauen, daß auch ein brüllender Löwe sie schwerlich in die Höhe brächte.« Er setzte gemächlich ein Bein auf den Boden und zog einen Lederstrumpf an. »Dennoch will ich ein übriges tun.« Er befahl, den Hauptmann seiner Leibwache zu rufen, forderte den zweiten Strumpf und schritt gewichtig im Zelte auf und ab. »Sobald die erste Lerche aufsteigt, sollen sie gerüstet bei den Rossen stehen.« Zuletzt warf er den Mantel um. »Komm ins Freie, Held, damit ich selbst zum Rechten sehe.« Sie schritten die Reihe der Wachen entlang, der Herzog prüfte mit scharfem Blick ihre Aufstellung und gab dem Hauptmann Befehle. »Sende sogleich behende Läufer zu den nächsten Scharen, aber vorsichtig, daß man aus der Ferne die Bewegung nicht merke. Auch die Nachbarn sollen sich rühren.« Und als der gute Herr alles vorsorglich bestellt hatte, sprach er zu Immo: »Gedenke auch du der Ruhe, ich mißtraue jedem Mann, der sein Lager gering achtet. Hast du uns Günstiges geraten, so soll dir's vergolten werden, bleibt's bei deinem guten Willen, so werde ich auch diesen dem König rühmen.«

[] »Gern möchte ich mit dem kleinen Haufen meiner Genossen morgen früh in Eurer Nähe sein«, versetzte Immo, »ich bitte, daß Ihr mir's gestattet und mich beim König entschuldigt, wenn ich eigenwillig zu Euch aufbreche.«

»Deine Knaben sollen eine rühmliche Ecke meiner Holzburg bewachen«, entschied der Herzog, erfreut durch den Eifer, »du aber sollst unter meinen Helden reiten, und in meiner Nähe hoffe ich dich zu finden.«

Im ersten Morgengrauen klangen bei den Sachsen die Alarmtöne, gleich darauf erhob sich wilder Lärm, die Rufer schrien, Pfeifen und Hörner gellten, das ganze Lager fuhr wie ein aufgescheuchter Ameisenhaufen durcheinander, bald sprangen ledige Rosse über das Feld, und verwundete Helden wurden aus dem Gewühl getragen. Vom Sachsenlager her scholl immer wilder das Kriegsgeschrei der Angreifer und Verteidiger und das Dröhnen der feindlichen Äxte an den Bohlen der Wagenburg. Hin und her wogte der heiße Kampf, dreimal suchte der Markgraf den Lagerring in wildem Ansturm zu durchbrechen. Aber die Reiter des Herzogs brachen an jeder Stelle, welche gefährdet war, aus ihrer Burg, hemmten dreimal den Sturmlauf der Feinde und wehrten dem Durchbruch, bis der König selbst mit neuen Scharen herankam. Da wandten jene plötzlich ihre Rosse und verschwanden, wie sie gekommen waren. Auch die Verfolgung, welche König Heinrich befahl, vermochte sie nicht zu erreichen.

Als der Kampf vorüber war und Immo mit glühendem Antlitz sein schäumendes Roß zur Ruhe zwang, ritt Herzog Bernhard zu ihm, und ihn vor allem Heere küssend, rief er: »Heut habe ich dich erkannt, wie du bist; die alte Treue zwischen Sachsen und Thüringen ist aufs neue bewährt, mir und meinen Helden bist du fortan ein Waffenbruder und ein lieber Genosse, sooft du es begehrst.« Und auch König Heinrich nickte dem glücklichen Immo mit freundlichem Lächeln zu, als er die Reihen der Krieger entlang ritt.

Seit diesem Morgen wurde das Lager des Königs täglich beunruhigt, bald hier, bald dort suchte der Feind überraschend einzudringen; die leichten böhmischen Reiter, welche ihm zugezogen waren, warfen sich auf ihren behenden Pferden überall, wo der Boden die Annäherung begünstigte, gegen die Königsmannen; jeder Haufe, welcher Futter und Vieh aus der Umgegend herbeitreiben sollte, mußte die plötzlich auftauchenden Scharen des Markgrafen abwehren. Dieser aber fand in den Wäldern und Seitentälern der heimischen Landschaft sicheres Versteck. Auch die Belagerten rührten sich kräftig. Da sie von den hohen Türmen der Feste weit in das Land schauten, so drangen sie zu derselben Zeit, wo die Haufen des Markgrafen gegen die Belagerer ritten, mit ihrem Fußvolk aus [] den Toren, verbrannten ein Turmgerüst, welches gegen sie aufgerichtet war, warfen die Sturmböcke und führten die Ketten als Siegeszeichen nach der Stadt.

Der König hielt beharrlich die Festung umschlossen, noch war er der stärkere, aber er wußte wohl, daß die beste Hilfe, auf welche er zählen durfte, um ihn gesammelt war, während der Widerstand des Markgrafen die Unzufriedenen in allen Teilen des Reiches ermutigte und das kleine Heer des Feindes sich mit jedem Tage vergrößerte, nicht nur durch böhmische Reiter, auch durch Banner aus dem Norden. Deshalb ritten die Königsboten, meist geistliche Herren, nach allen Richtungen aus dem Lager, um den Zorn der Mißvergnügten durch Verheißungen zu stillen und die Verstärkung des Feindes zu hindern. Aber es wurde den Gesandten des Königs bereits schwer, durch die Reiter des Hezilo ins Freie zu dringen.

An einem Abend, wo Immo mit seinen Knaben wieder die Königswache hielt, trat Herzog Bernhard zu ihm und begann vertraulich: »Der Markgraf kämpft gegen uns wie das Hündlein gegen den Igel, er springt bellend um uns herum, zuletzt versetzt er uns doch einen Biß ins Weiche. Es macht Sorge, das Heer zu ernähren, und sorgenvoll wird auch der Lagerdienst.« Er wies nach dem Felde, wo an Stelle der Wachen zahlreiche gepanzerte Reiter in weiterer Entfernung aufgestellt waren. »Der König läßt unablässig nach dem Versteck des Markgrafen spähen, aber keinem unserer Läufer ist es gelungen, die Stelle zu erkunden. Vergebens hat der König auch nach fahrenden Leuten umhergefragt, dies ruhmlose Volk ist verschwunden, wurde einer auf dem Felde ergriffen, so schwieg er oder log, obgleich der Büttel ihn hart ängstigte.«

»Dennoch sage ich dir, weder die Babenberger noch wir anderen haben geahnt, welch ein Kriegsherr König Heinrich ist, denn mit Weisheit erwägt er selbst Großes und Kleines.«

Während der Herzog sprach, sprang Harald, der erste Heerrufer, aus dem Zelt des Königs und eilte den Hügel hinab, ihm folgten seine Genossen, sich schnell durch das Lager verteilend. »Sieh dorthin, Held Immo, der König ist müde, still zu kauern, und er denkt selbst einen Sprung zu tun.«

Am nächsten Morgen zogen beim ersten Hahnenschrei die reisigen Scharen des Königs von allen Seiten ins Freie, geräuschlos, in kleinen Haufen, ohne Feldzeichen, um sich außer Gesichtsweite der Festung zum Heere zu vereinigen. Dem König war gelungen, das schwer zugängliche Tal zu erkunden, in welchem der Markgraf sein Lager aufgeschlagen hatte. Zugleich rüsteten die Bogenschützen und die übrigen Haufen der Fußkämpfer einen Angriff gegen die Feste, ihnen hatte der König geboten: »Haltet gute Wache, indem ihr mit dem Ansturm droht und auf die Verteidigung denkt, hütet euch auch, ihr Helden, den Feind allzusehr zu bedrängen, damit er [] nicht ausbreche, um sich zu retten. Am liebsten werde ich euch belohnen, wenn ich das Lager so wiederfinde, wie ich es verlasse.«

Auch Immo ritt unter den Wächtern des Königs, welche in der Schlacht vor seinem Leibe kämpften und ihm die Gasse öffneten, wenn er selbst einen erlauchten Helden bestreiten wollte. Mehr als eine halbe Tagesfahrt zog die reisige Schar über Hügel und Tal, die Sonne schien heiß, die Panzerringe brannten durch Leder und Hemd auf die Haut, und der Schweiß rieselte von den Flanken der Rosse. Aber der Zuruf des Königs trieb unablässig vorwärts, bald an der Spitze, bald am Ende des Zuges befeuerte er die Müden durch Scherzworte oder scharfen Tadel, er allein, den seine Feinde weichlich gescholten hatten, schien Sonnenbrand und Durst nicht zu fühlen. In der Glut des Mittags klomm die gepanzerte Schar eine steile Höhe hinan. Vielen wurde die Anstrengung unerträglich, Rosse und Reiter brachen zusammen, aber der König mahnte und trieb, wirbelte lustig den Wurfspeer, schalt und verhieß Belohnungen. Kurz vor der Höhe hielten die Müden zu kurzer Rast. Heinrich ordnete die Scharen in der Stille, auch lauter Rede wurde gewehrt. Dann hob er grüßend den Speer, die Posaunen und Hörner schmetterten und brüllten ihre wilden Weisen, und in gestrecktem Lauf stob die Heerschar auf günstiger Bahn nach dem engen Tale, worin die Banner, die Zelte und Hütten des Hezilo standen. Es war die Tageszeit nach dem Mahle, wo die Markgräflichen am sorglosesten ruhten; kaum einer der Helden war mit seiner Rüstung bekleidet, auch die Rosse standen ungesattelt an ihren Seilen. Furchtbar tönte den Feinden das Kyrie eleison, der Schlachtruf des Königs, in die Ohren, nur die Tapfersten wagten dem Ansturm entgegenzusprengen und das drohende Verderben aufzuhalten, sie wurden erschlagen oder verjagt, der Zaun des Lagers wurde durchbrochen, bevor der Widerstand sich daran sammelte, die Mehrzahl der Krieger gefangen, während sie nach den Waffen schrie. Der Markgraf selbst entrann mit einer kleinen Zahl seiner Getreuen.

Als Immo in der ersten Reihe der Leibwächter den Hügel hinabritt, suchte sein scharfes Auge unter den feindlichen Bannern das Zeichen des Grafen Gerhard. Er sah es nicht, aber der erste Krieger, der gegen ihn anritt, war Egbert, ein Günstling des Grafen. Immos Speer warf den hochmütigen Dienstmann in das Gras, und über den Gefallenen brach der wilde Sturm vorwärts. Der Held fand sich vor dem König im Kampfe gegen Leibwächter des Markgrafen, er stieß, schlug und tat sein Bestes, aber mitten in dem blutigen Gedränge suchte er immer wieder nach dem Buchenreis, welches die Dienstmannen des Grafen an ihrer Rüstung zu tragen pflegten. Als der Schwall verrauscht war und der laute Gesang des Rufers die Helden zusammenlud, da sprengte er zurück zu der Stelle, wo er den Egbert getroffen, aber sein Speer hatte die Arbeit zu gut getan, [] und er vermochte von dem Leblosen keine Kunde einzuholen. Er durchritt die Haufen der Gefangenen, aber auch dort fand er die Buchenzweige nicht, und er holte mit Mühe die Kunde heraus, daß Mannen des Grafen unter den Flüchtigen entronnen waren.

Nur die nötigste Rast verstattete der König den Siegern. Von allen Ecken ließ er das Lager in Brand stecken und achtete nicht auf das Murren seines Heeres, welches in den eroberten Hütten Ruhe und Beute gehofft hatte. Eilig ließ er die Gefangenen und die Beuterosse rückwärts treiben und brach wieder in Sonnenglut nach dem eigenen Lager auf, obgleich die ermatteten Sieger mürrisch in ihren Sätteln hingen, gleich geschlagenen Männern. Immo sah von der Höhe zurück auf das Tal, welches mit lodernden Flammen und einer ungeheuren Rauchwolke gefüllt war. Da hörte er wieder den treibenden Ruf des Königs, und Heinrich winkte, an seiner Seite reitend, ihm zu: »Ich sah dich mannhaft treffen, Held Immo, und mächtigen Staub aufregen, quadrupedante putrem sonitu, wie der Heide sagt. Herzog Bernhard«, rief er, sich unterbrechend, »gibt es kein Mittel, aus diesem Schneckenritt herauszukommen?«

Der Herzog sprengte an die Seite des Königs. »Mann und Roß werden die Glut des Tages lange fühlen.«

»Das mögen sie später halten, wie es ihnen beliebt, heute aber brauche ich sie nicht auf dem Wege, sondern im Lager, und ich wollte, uns wäre die Heidenkunst erlaubt, einen Sturmwind zu beschwören, der das Heer in der Wolke dahintreibt.«

Der Herzog schlug das Kreuz. »Die Himmlischen gewähren zuweilen dem Bittenden Regen, auch dieser würde das Heer vorwärts treiben.«

»Ich kann nicht frei atmen, Vetter«, fuhr der König leise fort, »bis ich das Lager gesichert sehe, denn wenn die in der Festung nicht verblendet sind, so mag unser Schade größer werden als der Gewinn.«

»Reite voraus«, riet der Herzog.

»Dann fallen diese ganz von den Pferden und legen sich auf die Heide«, versetzte der König.

»Willst du meinen Sachsen deinen Wein und Met preisgeben, so will ich versuchen, ob ich sie noch vor Sonnenuntergang in ihre Wagenburg bringe.«

»Von Herzen gern«, versetzte der König, »denn wenn wir heut einen Ausbruch des Feindes abwehren, so denke ich morgen den Krieg zu beenden.«

Der Herzog befahl seiner Schar zu halten und ließ durch den Rufer verkünden, daß der ganze Tonnenvorrat des Königs noch heut derjenigen Schar als Ehrentrunk zugeteilt werden sollte, welche zuerst das Lager erreiche.

Die Helden sahen einander mürrisch an, doch allmählich erschien [] ihnen der Vorschlag nicht verächtlich, sie lächelten ein wenig, und die Rosse begannen zu traben. Als der Rufer den Bayern verkündete, daß die Sachsen um des Königs Wein davonritten, ärgerten sich die Bayern, weil das Getränk aus ihrem Lande genommen war und ihnen zuerst gebührte, und ihre Rosse trabten ebenso.

Die Sonne neigte sich dem Horizont zu, als Heinrich, der mit seiner Leibwache dem Heere die letzte Meile vorausgesprengt war, von der Höhe das Tal der Festung erblickte. Als er die Lagerstätten mit ihren wehenden Bannern unversehrt vor sich sah, da brach er in einen lauten Freudenruf aus und neigte sein Haupt, um das Gelübde, das er dem Himmel in der Sorge getan, mit dankbarem Herzen zu wiederholen. Wie er zum Lager hinabstieg, klang von der Seite Heermusik, und eine Schar von Reitern und Fußvolk zog mit ihren Wagen ganz gemächlich dem Lager zu. Verwundert fragte der König: »Wer sind diese, die so lustig am Feierabend reisen, nachdem die anderen das Werk getan haben?« Immo ritt vor: »Es ist das rote Kreuz von Sankt Wigbert, Herr Bernheri sendet seine Mannen.«

Da lachte der König: »So hat der Jagdspieß des Alten doch die Empörer gebändigt«, und der Schar entgegenreitend, rief er dem Führer Hugbald zu: »Als säumige Schnitter nahet ihr, die Halme sind gemäht. Dennoch seid willkommen zum letzten Sprunge um den Erntekranz.« Und als Immo seinen alten Genossen Hugbald begrüßte, sprach dieser: »Unser Herr Abt sendet dir seinen Segen und Dank für deine Mahnungen, die ihm die Spielleute zugetragen haben. Manchen Heiltrunk hat er dir zu Ehren getan. Jetzt hält er sich auf dem Berge gegen sein eigenes Kloster verschanzt. Doch hoffe ich, euer Sieg soll den Tutilo mit seinem ganzen Anhang austreiben.«

Am nächsten Morgen ließ der König die Gefangenen rings um die Mauern führen, die Belagerten zu schrecken, und sandte seinen Rufer, die Übergabe der Festung zu fordern. Dem Geschlecht des Markgrafen und den Dienstmannen versprach er freien Abzug in das böhmische Land, bei längerem Widerstand drohte er mit Austilgung durch Feuer und Schwert. Die Helden der Burg saßen in sorgenvoller Beratung, die Bedächtigen rieten, besser sei es, etwas zu retten, als alles zu verlieren, denn reißendem Wasser und siegreicher Hand vermöge man schwer zu widerstehen, aber die meisten riefen, sie wollten lieber sterben als die Mauern übergeben, solange ihr Herr noch in Freiheit lebe. Und sie weigerten zuletzt die Übergabe. Den ganzen Tag wurde verhandelt, der König aber beschloß, die Unschlüssigen am nächsten Morgen durch einen Angriff zu zwingen.

Es war eine mondlose Sternennacht, Immo wachte mit seinen Knaben am Ufer des Baches, nur einen Pfeilschuß von der Festung entfernt. Wie Jäger im Bergwald lagen die Thüringe, ihre braunen [] Wollmäntel über der Rüstung, Bogen und Pfeil in der Hand, wo ein Strauch oder eine kleine Senkung des Bodens Deckung gab. Sie lauerten auf jedes Geräusch und jeden Schatten, der hinter dem Bach und an den Zinnen der Festung sichtbar wurde. Gerade vor ihnen erhob sich ein dicker viereckiger Mauerturm, welcher aus der Fluchtlinie der Mauer nach dem Bach vorsprang, damit man aus ihm die anstürmenden Feinde von der Seite treffen konnte. Die rötliche Rauchwolke, welche jede Nacht über der Festung schwebte, sank tiefer, das Geräusch entfernter Stimmen verhallte; Mitternacht war vorüber und der graue Dämmerschein am Rand des Himmels rückte von Norden nach Osten. Da vernahm Immo neben sich das leise Gequarr eines Frosches, das Zeichen, durch welches die Jäger einander mahnten; im nächsten Augenblick wand sich Brunico auf dem Boden zu ihm. »Sieh zur halben Höhe des Turmes. Es regt sich in der Luke, ich meine, dort ist ein Lebender zu merken, der graue Schatten sinkt langsam abwärts.« Gleich dararuf klang es im Wasser: »Er watet oder schwimmt.« Immo gab das Zeichen, hier und da tauchte ein Haupt vom Boden, die Rohrpfeile flogen an die Sennen, und die spähenden Blicke fuhren über jede Stelle des Ufers. Wieder rauschte es, der Leib eines Mannes hob sich über den Rand des Baches, vorsichtig schob er sich auf dem Boden vorwärts, gerade dem Versteck der Thüringe zu. Schon hatte er einen niedrigen Strauch erreicht und richtete sich hinter ihm auf der Lagerseite in die Höhe, um in das ferne Land zu blicken; da, als seine Gestalt über dem Grunde erkennbar wurde, klangen von beiden Seiten die Sennen und flogen die Pfeile gegen ihn. Der Mann stöhnte, neben ihm fuhr Brunico in die Höhe, nach kurzem Ringen trat der Knappe wieder an Immos Seite, und mit einer Gebärde des Abscheus sein Schwert einsteckend, brummte er: »Es war Ringrank, der Fechter.« Immo sprang zu der Stätte, an welcher der Unselige lag, beugte sich über ihn, und das schwere Haupt hebend, raunte er ihm ängstlich zu: »Wer sendet dich?« Der Sterbende tastete mit der Hand nach seinem Messer, als er aber über sich das traurige Antlitz Immos sah und die freundlichen Worte hörte, murmelte er: »Der Rache des Königs dachte ich zu entrinnen, darum trug ich einen Gruß für dich.«

»Wo ist sie?« fragte Immo tonlos.

»Wo ich war«, seufzte der Mann wieder und fiel zurück.

Die bleichen Sterne schienen auf glanzlose Augen, Immo deckte dem toten Fechter das Gewand über das Antlitz und wandte sich ab. Ihm hämmerte das Herz in der Brust, und sein Blick haftete fest auf dem Turme, aus dem der Fechter herabgestiegen war. Er winkte Brunico an seine Seite, dann wand er sich selbst bis an das Ufer des Baches. Als er zurückkehrte, rief er seine Mannen in eine Talsenkung nach rückwärts. »Mahnt den Hugbald, der neben uns liegt, daß er mit Wigberts Knechten unsere Stelle besetze. Euch aber, [] meine Knaben lade ich, daß ihr mir folgt. Denn was mir auch geschehe, ich klimme den Pfad hinauf, den der Tote herabgestiegen ist. Die in der Stadt vertrauen der Nacht und ihrem Handel mit dem Könige, keinen Wächter erkenne ich auf der Zinne, noch hängt das Seil. Halten wir erst den Turm, so soll Hugbald mit Sturmzeug uns folgen.«

»Manche Klippe unserer Berge, die wir erklommen, war höher«, ermunterte Brunico. »Führe, Immo, wir folgen.« Die schnellen Knaben stiegen geräuschlos zum Bach hinab, sie tauchten in die Flut, wateten und schwammen und waren nach kurzer Zeit am Fuß des Turmes versammelt. Immo prüfte den Halt des Seils. »Der erste sei ich«, brummte Brunico, ihm den Arm haltend. »Keiner vor mir«, befahl Immo, »schwinde ich dahin, so führe du die Treuen zurück.« Er schwang sich am Seile aufwärts und hob sich in die Öffnung des Turmes, gleich darauf schüttelte er das Seil, und seine Knaben folgten schnell einer dem anderen.

Das Stockwerk des Turmes war menschenleer, die Tastenden fanden in der Mitte eine große Standschleuder und an beiden Seiten offene Türen, sie führten zu der Holzgalerie, welche an der inneren Fläche der Mauer unter den Zinnen entlanglief. Auch die Galerie in ihrer Nähe war ohne Bewaffnete, nur von dem nächsten Turme, durch welchen ein Tor nach dem Wasser führte, klangen die Tritte der Wachen. Während Brunico vorsichtig die kleine Treppe hinabstieg, welche von der Galerie zum untern Stockwerk des Turmes reichte, gab einer der Knaben rückwärts dem Hugbald das verabredete Zeichen, einen flüchtigen Feuerschein. Dann harrten die Thüringe ungeduldig auf das erste Tageslicht.

Unten aber am Bache rührte sich's. Hugbald hatte den bayrischen Schanzmeister zu Hilfe gerufen; die Belagerer rollten leere Fässer an das Ufer und schnürten sie mit Bohlen zu einem leichten Floß. Sie zogen die Sturmleitern über den Bach und hoben sie mit Hilfe des Seils zu der Turmöffnung. Als der Morgen dämmerte, waren der Turm und die nächste Galerie in den Händen der Königsmannen; ohne Lärmzeichen drangen sie bis zu dem Tore, überfielen die sorglosen Verteidiger, zerschlugen die Sperrbalken der Torpforte und warfen die Fallbrücke über das Wasser.

Da erhob sich in der Festung Alarmruf und Notgeschrei. Die geworfenen Verteidiger liefen vom Tore brüllend durch die Straßen, Hörner und Posaunen tönten, und aus den Gassen der Stadt stürmten die erweckten Helden an das verlorene Tor. Ein heißer Kampf entbrannte um die beiden Türme und die Mauer dazwischen. Die Markgräflichen umschanzten mit Schild und Speer den Zugang zu den nächsten Gassen, sie liefen unter ihren Schilden gegen die Toröffnung, drangen auf der Mauerhöhe gegen die Türme und warfen ihre Geschosse von der Galerie auf die Königsmannen, welche von [] außen über die Brücke drängten und drinnen die eroberten Türme besetzt hielten. Die Königsmannen aber sendeten Speere auf die Andringenden und schossen Brandpfeile gegen die Dächer der nächsten Häuser. Bald stiegen Rauchsäulen und lodernde Flammen aus den Höfen, und in das Getöse des Kampfes mischte sich das Gebrüll der Rinder und das Geheul der Einwohner.

Der König hielt auf einem Hügel nahe dem Tor, um welches gestritten wurde, er sah, wie die lodernden Flammen hinter der Mauer aufstiegen, und nährte den Kampf durch neue Haufen, welche er über die Brücke trieb. Aber wie sehr er sich des Erfolges freute, er dachte auch daran, daß der letzte Streit gegen die gesammelte Macht der Verzweifelten seinem eigenen Heere einen guten Teil der Kraft nehmen könne und daß an der abgewandten Seite der Festung noch eine feste Burg lag, in welcher die Feinde sich wohl zu halten vermochten, bis der Böhmenherzog zu Hilfe kam. Deshalb bezwang er die Sehnsucht nach Rache und sandte seinen Heerrufer über den Bach nach der Burgseite, um aufs neue mit den Belagerten zu handeln.

In das Gewühl am Tore klang der Ruf, daß der König sich vertragen wolle, und der Kampfzorn der Verteidiger wurde schwächer. Einer nach dem anderen warf sich nach rückwärts, um seine Habe aus der brennenden Stadt zu retten und die Burg zu gewinnen, und die Königsmannen stürmten mit hellem Siegesrufe vor. Als erster Immo, gefolgt von den schnellsten seiner Knaben. Gleich einem Wütenden war er von der Mauer gegen das Tor gefahren. Während er im Kampfe stieß und schlug und jeden Ansturm der Feinde zurückwarf, hatte er nur einen Gedanken, zu ihr durchzudringen, die zwischen Rauch und Glut und dem Todeskampf der Männer die Arme zum Himmel hob. Jetzt sprang er wie ein wildes Roß durch Qualm und züngelnde Flammen in die Gassen der Stadt. Laut schrie er über die Haufen und in die offenen Höfe den Namen Hildegard. Der geborstene Helm war ihm vom Haupte geworfen, das blutbesprengte Haar flog ihm wild um die heißen Schläfen. Zwischen Herdenvieh, beladenen Karren, über Leichen der Gefallenen, durch kleine Haufen feindlicher Krieger stürmte er vorwärts, bis er den Marktplatz der Stadt erreichte, wo das Getümmel am wildesten durcheinanderwogte. Er überstieg die gedrängten Karren der Flüchtigen und wand sich durch eine Schar feindlicher Reiter, wie ein Verzweifelter mit dem Strome ringend. Da, in der Mitte des Marktrings, wo das steinerne Kreuz auf einer Erhöhung ragte, sah er einige böhmische Krieger auf eine helle Gestalt eindringen, die am Fuße des Kreuzes lag und mit beiden Armen den Stein umschlang. »Hildegard«, schrie er und ein schwacher Gegenruf:

»Immo, rette mich«, klang in sein Ohr. Den Wilden, welcher die Arme nach der Liegenden ausstreckte, schleuderte er zur Seite, daß [] dieser das Aufstehen für immer vergaß, seine heranspringenden Genossen verscheuchten den fremden Schwarm. Er hielt die Gerettete in seinen Armen, küßte das bleiche Antlitz und rief sie mit den zärtlichsten Grüßen, und als sie die Augen aufschlug, da hob er sie lachend empor, während ihm die Tränen aus den Augen stürzten, und mit dem Schildarm sie umschlingend, hielt er am Kreuze die Wache für das geliebte Weib, das an seinem Hals hing und sich fest an seine Brust drückte. Über ihm wirbelte der glühende Rauch, um ihn krachten die stürzenden Balken, und das Kampfgetümmel wälzte sich durch die Straßen der Stadt, er aber stand, umgeben von Tod und Vernichtung, wie ein Sieger, und er sah, wie die hohen Engel mit flammenden Schilden und Speeren durch die Lohe schwebten und um ihn und die Geliebte eine feste Schildburg zogen.

An der Ecke des Marktes wehte ein Banner, auf welchem er das weiße Roß der Sachsen erkannte, da rief er: »Glückauf, mein Geselle, dort nahen die Helden, denen ich am liebsten vertraue, damit sie dich zum König geleiten.«

Die Not des Grafen

Der Kampf um die Krone war entschieden. Mit unwiderstehlicher Gewalt trieb der König den Markgrafen der böhmischen Grenze zu, eine Burg nach der anderen fiel in seine Hände, die Flammen, welche aus den gebrochenen Mauern aufstiegen, verkündeten dem erschreckten Lande den Sturz eines edlen Geschlechtes und die Rache des Königs. Schonungslos wollte der König alles mit Feuer und Schwert tilgen, was an die Herrschaft seines Feindes erinnerte, und die harten Vollstrecker seines Willens fühlten zuweilen ein Mitleid, das er nicht kannte, und milderten in der Ausführung sein Gebot. So scharf war des Königs Zorn, daß sich jedermann über die Schonung wunderte, die er einem der Verschworenen zuteil werden ließ. An dem Grafen Ernst wurde das Todesurteil nicht vollstreckt, der Held büßte nur mit einem Teil seines Schatzes und wurde in milder Haft gehalten. Und die Leute rühmten den Erzbischof Willigis, weil seine Bitten den Haß des Königs gedämpft hätten.

Während der Markgraf als landloser Flüchtling in Böhmen umherirrte und die übrigen Empörer demütige Boten sandten, um die Gnade des Königs zu gewinnen, hielt Heinrich seinen Hof in Babenberg, der Stammburg seines Feindes. Dort sammelte sich das siegreiche Heer, der Belohnung und Entlassung harrend, auch die Königin Kunigund kam von Regensburg an; mit großem Geleite holte sie der König ein, und die Edelsten des Heeres begrüßten die Herrin nach altem Heldenbrauch auf ihren Rossen im Eisenhemd, indem sie, zu zwei Scharen geteilt, in gestrecktem Lauf [] durcheinanderritten und dabei die Gerstangen durch wilden Wurf an den Schilden der Gegner zerbrachen.

Immo hatte in dem Kampfspiel seine Reitkunst rühmlich erwiesen, die Jungfrau aber, in deren Augen er am liebsten sein Lob gelesen hätte, blickte nicht auf den glänzenden Zug. Er wußte, daß Hildegard auf Befehl des Königs unter der Aufsicht einiger frommer Schwestern in der Stadt weilte, aber ihm war trotz aller Mühe nicht gelungen, zu ihr zu dringen. Als er jetzt vom Rosse stieg und in die Herberge trat, fand er den Spielmann Wizzelin, der in neuem Gewande und mit klirrendem Goldschmuck, das Saitenspiel in der Hand, seiner wartete, umdrängt von Kriegsleuten, welche mit dem wohlbekannten Mann Scherzreden tauschten und ihn mahnten, seine Kunst vor ihnen zu erweisen.

»Gutes Glück bringe mir das Wiedersehen, du flüchtiger Wanderer«, rief Immo.

»Auch Euch ist alles gelungen«, antwortete der Spielmann, »und als ein Glückskind rühmen Euch die Leute, während Ihr heut so hurtig rittet. Liegt Euch noch am Herzen zu erfahren, was Ihr einst von mir begehrtet, so vermag ich Bescheid zu sagen.«

Immo führte ihn schnell in seine Kammer.

»Sie ist hier«, sprach Wizzelin leise, »sie will Euch sehen, und ich vermag Euch zu ihr zu führen. Die alten Nonnen, bei denen sie weilt, sind keine strengen Wächter, auch sie vernehmen gern, wenn ich vor ihnen die Saiten rühre. Folgt mir sogleich, wenn es Euch gefällt, doch haltet Euch eine Strecke hinter mir zurück, denn ich bin den Helden hier nicht unbekannt«, fügte er stolz hinzu, »und muß auf viele Grüße antworten.«

Sie traten auf die Straße, der Spielmann glitt behend durch das Gewühl von Reitern und Rossen, von Burgmannen und Landleuten, welche herzugeströmt waren, den Einzug zu sehen. Oft wurde er angerufen, auch Gelächter und Spottreden klangen ihm entgegen. Gegen die Huldreichen verneigte er sich und versprach Besuch und Lied, den Spöttern antwortete er mit dreister Gegenrede, so daß er die Lacher stets auf seiner Seite hatte. Endlich bog er in eine stille Seitengasse und fuhr durch das Tor eines dürftigen Hofes. Er wies auf eine niedrige Fensteröffnung, hob einen Zipfel der Decke, welche das Innere verbarg, und sagte zu Immo: »Springt dreist durch die Tür, ich halte Wache.«

Immo eilte in das Haus. Mit einem Freudenschrei warf sich Hildegard in seine Arme und drückte sich an seine Brust.

»Wie bleich du bist, Hildegard, und gleich einer Gefangenen sehe ich dich bewahrt.«

»Sie sind nicht hart gegen mich, und wären sie es auch, ich würde es wenig beachten, wenn ich an dich denke und dein Antlitz zu sehen hoffe. Denn sooft mich die Einsamkeit ängstigt und die Gefahr [] bedroht, bist du mir in meinen Gedanken nahe, du Lieber, mich zu trösten. Bald aber werden sie mich von hier fortführen zu der Königin, in ihrem Gefolge soll ich bewahrt werden.«

»Das ist gute Botschaft«, rief Immo, »dort vermag ich dir eher nahe zu sein.«

Aber Hildegard schwieg, ihr Haupt lag schwer an seiner Brust, und ihr junger Leib bebte in seiner Umarmung. »Hoffe das nicht, Immo, denn nicht für ein fröhliches Leben denkt mich der König zu retten, nur weil der große Erzbischof Mitleid mit mir hatte. Sie halten mich fest, wie die frommen Mütter sagen, damit ich nicht gleich einer Dirne auf die Straße geschleudert werde. Mein unglücklicher Vater!« rief sie mit gerungenen Händen. »Geh von mir, Immo, denn Elend ist mein Los, und meinem Vater droht das Verderben.«

Immo wußte wohl, daß der König damals, als er dem Geschlecht des Hezilo Abzug aus der Festung gestattete, den Grafen Gerhard mit seinem Gesinde aus dem Zuge der Entweichenden herausgerissen hatte, um ihn für seine Rache zu bewahren. Seitdem konnte niemand sagen, was mit dem Grafen geschehen war. Deshalb fragte Immo sorgenvoll: »Vernahmst du, wo er weilt?«

»Er liegt im Turm der Stadt gefangen, ich war bei ihm, und er begehrt in seiner Not nach dir. Eile, Immo, denn kurz ist, wie sie sagen, die Frist, welche ihm noch auf dieser Erde gestattet wird. Tröste ihn, wenn du vermagst, und dann komm noch einmal zu mir, damit ich dich segne und dir für deine Liebe danke. Denn, Immo, merke wohl, die Tochter eines entehrten Mannes kann nicht ferner dein Geselle sein. Suche dir die Braut unter den geschmückten Frauen, welche mit der Königin eingezogen sind und sich gleich dir des Sieges freuen; ich aber und mein Geschlecht schwinden dahin wie die flammenden Häuser und die Weiber und Kinder, die ich mit der Peitsche hinaustreiben sah.«

Immo rief unwillig: »Ich hörte immer, die durch ein Band gebunden sind, sollen auch Leid und Liebe miteinander teilen, solange sie leben. Meinst du, Hildegard, daß ich dich losbinde von deiner Pflicht gegen mich? Mein bist du, aus der brennenden Stadt habe ich dich getragen, und was sie auch über dich ersinnen, solange ich atme, darfst du dich niemandem geloben als mir, nicht der Königin und nicht den Heiligen. Zur Stelle suche ich deinen Vater auf, ob ich ihm nützen kann.« Er hob ihr gesenktes Antlitz mit der Hand zu sich herauf und sah ihr in die Augen. Lange dachte er an die heiße Liebe, mit der sie ihn bei diesem Scheiden ansah. »Morgen bei guter Zeit bringe ich Botschaft«, rief er noch an der Tür.

Am Fuß der Turmtreppe sprach der Wärter zu Immo: »Ihr werdet den Grafen in unehrlicher Gesellschaft finden, wenn Euch beliebt, jetzt hineinzugehen. Einer seiner Fechter ist bei ihm, er [] hat ihn gefordert, ich rate, daß Ihr harret, bis der ruchlose Mann gewichen ist.«

»Öffne doch«, versetzte Immo, »er hat mich dringend begehrt.«

Als Immo mit dem Schließer eintrat, sah er den Grafen auf einer Holzbank sitzen, und vor ihm stand Sladenkop, der Fechter, ein unförmlicher Gesell mit Armen und Beinen, die aussahen, als ob sie von einem riesigen Tiere genommen wären, mit kleinen scharfen Eberaugen, kurzer Stirn und borstigem Haar. Die Miene des Mannes war verlegen und sein Gesicht gerötet. Immo wandte den Blick mit mehr Teilnahme auf den Grafen. Denn sehr bekümmert erschien dieser, die Augen lagen tief und fuhren ängstlich umher, er war hagerer geworden, und sein Kopf stand nicht mehr so trotzig zwischen den Schultern wie sonst, sondern hing ein wenig nach vorwärts. Immo grüßte und winkte dem Schließer abzutreten, welcher mit einem argwöhnischen Blick auf den Fechter sagte: »Ich harre draußen an der Tür, wenn Ihr mich ruft.«

»Ich freue mich, Immo«, antwortete der Graf dem Gruße, »daß du nicht verschmähst, mich aufzusuchen, obwohl ich im Unglück bin. Immer hat dein Geschlecht mir edle Art gezeigt, und gute Freunde sind wir von neulich, wo du in meiner Halle saßest und wo du in meinem Lager den Würzwein trankest. Jetzt verläßt mich alles, sogar dieser Köter«, er wies auf den Fechter. »Betrachte seine Arme, so habe ich ihn gefüttert, und mir hat er sein Leben gelobt, jetzt aber sträubt er sich, mir im Kampfe einen Vorteil zu geben.«

»Verhüten die Heiligen, daß Euch jemals das Los zuteil werde, diesem da im Kampfe gegenüberzustehen.«

»Emsig flehe ich zu den Heiligen, daß sie es verhüten mögen; aber es scheint, daß sie Lust haben, es zu gestatten. Denn wisse, Immo, der König hat Übles gegen mich im Sinn, und weil wir am Idisbach in der Übereilung dem Erfurter Kaufmann seine Ballen genommen und den Mann dabei beschädigt haben, so will der König mir die Ehre nehmen, ich soll als gerichteter Räuber um mein Leben kämpfen, und weil ich Fechter gehalten habe, so fordert er in seinem Zorn, daß Ich vor dem Ringe seiner Edlen gegen meinen eigenen Fechter streiten soll.« Immo trat erschrocken zurück. Der Gefangene erkannte die Teilnahme und fuhr vertraulicher fort: »Aus deinem Auge sehe ich, Immo, daß ich dir alles sagen darf; merke wohl, dieser Undankbare, der meinen Silberring am Arm trägt und der mir gelobt hat, um Geld und Nahrung in jedem Kampfe sein Leben für mich zu wagen, er will sich jetzt von mir nicht treffen lassen.«

»Wie kann ich eine Abrede mit Euch machen, Herr, da Ihr kein Fechter seid und des Handwerks nicht kundig«, fiel gekränkt der Fechter ein. »Wäret Ihr einer von meinen Genossen, so wollte ich einen Arm oder ein Bein wohl daran wagen. Ihr aber würdet mir, [] wenn ich Euch einen Vorteil gäbe, das Eisen in die Glieder treiben, daß ich des Aufstehens für immer vergäße.«

»Du bist ein Narr, das zu fürchten. Ich war in meiner Jugend ein Schwerttänzer und treffe, wohin ich will, wenn mein Gegner Bescheidenheit erweist. So nimm doch die besten Gedanken in deinem dicken Kopf zusammen. Wenn ich dich wirklich ein wenig zu sehr träfe, durch die Hand eines Edlen zu fallen, wäre für dich das ehrenvollste Ende, das du finden könntest.«

Der Mann stand mit zusammengezogenen Augenbrauen und überlegte. »Ja, Herr«, sagte er zögernd, »Ihr sprecht nicht ohne Grund, auch der Fechter hat seine Ehre. Und wenn Ihr mich trefft, so soll dies mein Trost sein, und es wird Nachruhm gewähren bei allem fahrenden Volk. Doch wenn Ihr mich nicht trefft, sondern ich Euch, dann wäre der Ruhm noch größer.«

»Du aber hast dich mir gelobt, wie kannst du mich treffen, du Schuft?« rief der Graf zornig.

Der Fechter sah finster vor sich nieder. »Ich weiß, was Ihr meint«, begann er endlich, »und ich merke, daß ich in der Klemme bin wie ein Marder. Sie sollen nicht sagen, daß ich gegen meinen Herrn unehrlich gehandelt habe. Solange ich Euren Ring trage, seid Ihr sicher vor meinem Eisen; feilen sie mir den Ring ab, so fechte ich als des Königs Kämpe, und dann, meine ich, darf ich Euch treffen.«

»Weiche hinaus, du Elender«, rief der Graf zornig, »mich reut's, daß ich so manches Kalb und Rind in deinen Magen gestopft habe, und mich reut's, daß ich in meiner Not bei einem Ehrlosen Hilfe suche.«

Der Fechter sah verlegen und unschlüssig auf den Zornigen, dann wandte er sich trotzig zum Abgang. Als sich hinter ihm die Tür geschlossen hatte, saß der Graf eine Zeitlang schweigend auf der Bank, und Immo sah, daß ihm große Schweißtropfen von der Stirne rannen. Endlich begann er mit gebeugter Haltung: »Wundere dich nicht, Immo, daß ich gerade dich bitten ließ. Du kennst den Brauch in heiligen Dingen, du bist selbst ein halber Geistlicher, obgleich du das Schwert führst, und vor allem bist du jung, erst aus Wigberts Zucht gekommen, du kannst noch nicht sehr viel Böses getan haben, und die Heiligen werden dir eher etwas zugute halten als einem anderen. Darum möchte ich dir Vertrauen schenken in der Sache, die mir zumeist am Herzen liegt. Willst du mir geloben, eine Bitte zu erfüllen, so tue es.«

Da Immo erwartete, daß der Graf an seine Tochter denken würde, so war er gern bereit und sprach, an sein Schwert fassend: »Ich will, wenn ich es ohne Schaden für meine Seele tun kann.«

»Es ist ein frommes Werk«, versetzte der Gefangene traurig. »Wisse, Immo, daß es schwer ist, auf Erden ohne Sünde zu leben. So habe auch ich, wie ich fürchte, zuweilen etwas getan, was mich den Heiligen verleiden kann, ich sorge, daß es ihr Zorn ist, der mich [] in diese Gefahr gebracht hat, und daß sie mich gar nicht gutwillig hören werden, wenn ich sie hier aus diesem Loche um meine Rettung anflehe. Denn in meinem Jammer bekenne ich, wenig habe ich ihrer im Glück geachtet. Dem Gebet der Mönche mich zu übergeben, kann gar nichts frommen, denn auch diese sind mir zum Teil verfeindet, und sie beten nur eifrig, wenn sie Hufen und reiche Gaben erhalten. Meines Gutes aber wird, wie ich fürchte, der König mich entledigen. Darum ist mir eingefallen, was mich wohl retten könnte. Ich habe meine Sünden aufschreiben lassen; nicht gerade alle, denn mit den kleinen will ich den großen Fürsten des Himmels nicht lästig werden, aber die schwersten. Drei Tage und drei Nächte habe ich zwischen diesen Steinen darüber nachgedacht, sie zu finden und zu bereuen. Dem Beichtiger der Gefangenen – er ist ein ausgelaufener Mönch und ein guter alter Mann – habe ich sie hergesagt, und er hat sie auf mein Drängen niedergeschrieben und versiegelt.« Er holte ein zusammengelegtes Pergament unter seinem Sitze hervor, wies es dem erstaunten Immo und sprach feierlich: »Hierin sind meine Sünden, nämlich die groben. Mir kann Rettung bringen, wenn du sie zu den wundertätigen Reliquien großer Heiligen trägst und sie in ihrem Schrein oder doch darunter birgst, damit die Heiligen selbst mein Bekenntnis empfangen und, wenn sie es lesen, sich meiner erbarmen.«

Immo trat erschrocken zurück und sah scheu auf das zusammengelegte Pergament. »Wie darf ich mich unterfangen, dies Blatt den Heiligen zu übergeben, da ich kein Priester bin?« versetzte er. »Und wie kann ich einen Reliquienschrein erreichen, da ich selbst kein solches Heiligtum besitze?«

»Schaffe das Blatt an einen Ort, wo große Heilige hausen«, raunte der Graf ängstlich.

»Ich selbst bin aus dem Kloster in Unfrieden geschieden«, antwortete Immo, »und weiß nicht, ob mir die Mönche dort gestatten werden, dem Altar des heiligen Wigbert oder gar den hohen Aposteln zu nahen.«

»Auch erwarte ich wenig Gutes von diesen Heiligen«, versetzte der Graf zerknirscht, »denn ich leugne nicht, alte Händel habe ich mit ihnen, und sie möchten mir das gedenken. Auch in Fulda, fürchte ich, hat man schon manches von mir vor den Altären geraunt. Wandle leise zu einem hohen Heiligtum, wo man mich weniger kennt. Einen Reliquienschrein weiß ich, den besten von allen«, und er hob seinen Mund zu Immos Ohr und flüsterte: »das ist der Himmelsschatz unseres Herrn, des Königs. Er ist hier zur Stelle, und schnelle Fürbitte tut mir not, sonst kann sie mir für dieses Leben nichts mehr helfen.«

»Wie vermag ich zu dem Heiligtum des Königs zu dringen?« rief Immo.

[] »Ich weiß, daß du zu den Auserlesenen gehörst, welche die Wache in seiner Behausung haben, da mag dir wohl möglich werden, daß du das Pergament ungesehen unter die Decke schiebst. Vielleicht gelingt dir auch, den Geschorenen des Königs, der über dem Schrein wacht, durch Flehen und Gabe zu gewinnen. Versprich ihm Großes; denn wisse, einen Goldschatz, der nicht klein ist, bewahre ich unter einem Baume verborgen; wird der Priester zu der Guttat geneigt, so will ich den Schatz daran wenden und ihm die Stelle offenbaren.«

»Um die Heiligtümer des Königs sorgt jetzt der fromme Abt Godohard«, versetzte Immo kummervoll, »der Goldschatz wird ihn nicht locken, den hohen Himmelsfürsten, die für den König bitten, in deiner Sache so zudringlich zu nahen.«

»Ich finde dich kalt, Immo, wo es gilt, einen alten Genossen deines Vaters aus der Angst zu retten«, klagte der Graf und griff sich nach der feuchten Stirn. »Besseres hatte ich von dir gehofft und anderes hatte ich auch mit dir im Sinne. Denn als ich dich neben Hildegard, meinem Kinde, sitzen sah, wie du als Geselle ihr zutrankest, da fiel mir einiges ein, was ich mit deinem Vater beredet hatte, als ihr beide noch klein waret, und ich dachte, was nicht geworden ist, vielleicht kann es doch noch werden, wenn die Heiligen es fügen und auch dein Wille dahin geht. Jetzt freilich bin ich arg verstrickt, du aber bist im Glücke. Dennoch erinnerte ich mich an die Augen, die du damals machtest, als ich dich in meinen Saal laden ließ. Aber ich sehe, der Menschen Sinn ist veränderlich, zumal wenn sie jung sind.« Er setzte sich seitwärts auf die Bank und faltete die Hände, aber er sah von der Seite scharf nach dem offenen Antlitz des Jünglings, in welchem der innere Kampf sichtbar war.

Wild stürmte es durch Immos Seele, Hoffnung, die Geliebte durch den Vater zu erwerben, und wieder Mißbehagen darüber, daß der Vater sie ihm für eine heimliche Tat verkaufen wollte. Er stand in innerem Ringen, und dabei fiel ihm die Lehre ein, welche ihm der alte Bertram für sein Leben mitgegeben hatte, daß er dem Gelöbnis eines Mannes, der in Todesnot sei, niemals trauen solle. »Wegen deiner Tochter fordere ich keinen Eid von dir, und du gedenke mich nicht durch ihren Namen zu beschwören, daß ich dir helfe. Denn deine Not will ich nicht mißbrauchen zu einem Gelöbnis.«

»Du denkst edel, Immo«, rühmte der Graf, »sei auch barmherzig.«

»Gib mir das Pergament«, rief Immo entschlossen, »ich will tun, was ich kann, wenn auch nicht gerade so, wie du meinst, doch nach meinen Kräften; obwohl ich zage, daß mir die hohen Gewalten deshalb zürnen werden. Vermag ich nichts, so lege ich deine Sünden wieder auf deine Seele, wie ich sie empfing.«

»Ganz hochsinnig finde ich dich, Immo, und ich vertraue deinem Mut und deiner Klugheit«, rief der erfreute Graf. Er legte das [] Pergament in die Hand des anderen und hielt sich mit beiden Händen an seinem Arme fest. Immo schob das Pergament vorsichtig in die Tasche seines Gewandes und wandte sich zum Abgange. »Ich fürchte, das Blatt verbrennt mir den Rock«, sagte er unruhig, »lebe wohl, soweit du es hier vermagst. Ich kehre wieder, sobald ich die Tat versucht habe.« Den wortreichen Dank des Grafen unterbrach das Klirren des Schlosses.

Als der König am Abend nach dem Mahle in seine Herberge kam und durch den Haufen der Edlen und Geistlichen schritt, welche ihn erwarteten, um Segen für seine Nachtruhe zu erflehen oder ihm aufzuwarten, da sah er huldvoll, wie seine Gewohnheit war, nach allen Seiten umher, grüßte und nickte. Die neu Angekommenen aber, wenn sie Edle waren oder Geistliche, faßte er bei der Hand und küßte sie. Als der König Immo erblickte, der sich in die vorderste Reihe gestellt hatte und ihn bei dem Gruße flehend ansah, da merkte er wohl, daß dieser Huld begehre, winkte ihm gütig zu und sprach:

»Als ein stolzer Held hast du dich heut getummelt, edler Immo, hell klangen deine Speere an den Schilden.« Und weil er gern daran dachte, daß Immo ein Gelehrter war, fügte er, um ihn vor den anderen noch mehr zu ehren, einen lateinischen Vers hinzu: Stolz schwingt der Held Ascanius die Waffen im Kampffeld. Und nachdem er, wie dem Könige geziemt, jedem seinen Anteil an Ehren gegeben hatte, trat er in sein Schlafgemach. Als er sich dort ermüdet niedersetzte, begann der Kämmerer zu ihm: »Der Thüring Immo fleht um die Gunst, deiner Hoheit etwas zu sagen.«

»Hat er es so eilig, Lohn zu fordern für seinen Sprung von der Mauer, ich habe ihm ja soeben vor allen Leuten wohlgetan.«

»Er sagte«, antwortete der Kämmerer sich entschuldigend, »daß er dem König etwas Geheimes vertrauen müsse.«

»Die Geheimnisse des Jünglings hättest auch du empfangen können.«

»Das meinte ich auch«, versetzte der Kämmerer, »er aber flehte. Gefällt's dem König, so sende ich ihn fort, den er harrt vor der Tür.«

»So führe ihn herein«, befahl der König und stützte müde das Haupt in die Hand.

Immo trat ein, kniete nieder und zog das Pergament des Grafen aus seinem Gewande.

»Was bringst du mir so spät, Immo«, fragte der König und sah kalt auf den Knienden.

»Die Sünden des Grafen Gerhard«, antwortete Immo und legte das Pergament zu den Füßen des Königs.

»Verhüten die Heiligen, daß ich so unselige Gabe annehme«, versetzte der König, mit dem Fuß das Pergament wegstoßend, »Unheil bedeutet solche Spende, sprich, was soll der Brief?«

[] »Die Beichte ist es des Grafen«, sagte Immo feierlich, indem er das Kreuz schlug. Der König folgte schnell seinem Beispiel. »Der Graf zweifelt in seiner Not, durch die Mönche bei den Himmlischen Gnade zu finden, zumal er ihnen nichts mehr zu spenden hat, denn sein Gut und Geld liegen in des Königs Hand. Da ließ er in der Herzensangst durch einen armen Priester seine Sünden niederschreiben und forderte von mir, daß ich sie heimlich zu den Heiligtümern meines Herrn und Königs trüge, damit die gewaltigen Nothelfer sich seiner erbarmten.«

»Und da hast du ihm den Sündenbrief nicht zur Stelle vor die Füße geworfen, Verwegener?«

»Zürne, mein König, nicht, wenn ich gefehlt habe, mich erbarmte seine Angst. Wohl weiß ich, daß es ein Unrecht wäre, zu dem heiligen Geheimnis meines Königs zu schleichen und den Brief des armen Sünders dort zu verstecken, wie er begehrte. Dennoch wagte ich nicht, seiner Seligkeit hinderlich zu sein, und ich meine als redlicher Mann und nicht als Hehler zu handeln, wenn ich von der Gnade des Königs erbitte, daß mein Herr der Seele des hilflosen Mannes beistehe und seinem Priester gestatte, das Pergament zum Heiligtum des Königs zu tragen.«

»Und was hat dir der Graf versprochen, damit du diese freche Bitte wagst«, fragte der König hart, »denn meine Edlen pflegen nichts für nichts zu tun.«

»Man hat mich gelehrt, von einem Manne in der Todesnot nicht Gabe und nicht Versprechen anzunehmen«, antwortete Immo.

»Der dich so seltene Vorsicht gelehrt hat, hätte dich auch lehren sollen, gegenüber deinem Könige die Scham zu bewahren. Wie mögen die hohen Gewaltigen des Himmels, deren Gnade ich selbst froh bin, wenn sie sich zu meinem Heiligtum herniederneigen und mich schützend umschweben, wie mögen diese zugleich die Beschützer meiner Feinde werden? Und wie kannst du das wollen, wenn du kein Verräter bist?«

»Ich vernahm die hohe Lehre«, versetzte Immo kniend, »daß der Himmelsherr gern Erbarmen mit dem Sünder hat, und wenn der König, der des Herrn Schwert auf Erden hält, hier den Schuldigen richten muß, so mag ihn doch in seinem Amte trösten, daß die Bitte seiner Heiligen den armen Sünder aus den Krallen des üblen Teufels errettet.«

»Mir aber liegt gar nichts daran«, rief der König ungnädig, »den untreuen Mann dereinst an der Himmelsbank wiederzufinden, wenn die Himmlischen mir dort den Herdsitz bereiten wollen. Das mußtest du wissen, du Tor, bevor du seine Sünden mir auf die Seele legtest. Denn wenn ich nach seinem unverschämten Verlangen tue, so schaffe ich einem, der mein Feind war, Hilfe in jenem Leben und vielleicht auch noch in diesem. Und wenn ich ihm dagegen [] seinen Willen nicht tue, so mögen die Heiligen mir zürnen, weil es mir an Erbarmen fehlt. In solche Gefahr setzt mich dein dreistes Verlangen. Entweiche mit dem Briefe und trage ihn zu einem anderen Heiligtum, zu welchem du willst, wenn dir an der Gunst des Grafen mehr gelegen ist als an dem Vorteil deines Königs. Doch halt«, rief der König noch zorniger, »wer weiß, ob der Bösewicht nicht manches hineingesetzt hat, was mir selbst zum Schaden gereichen könnte, wenn die Unsichtbaren darauf hören.« Der König neigte sich schnell zu Boden, faßte den Brief und erbrach das Siegel. »Die Beichte des Grafen Gerhard will ich zuerst vernehmen, ehe sie zu den Heiligen dringt.« Er bekreuzigte sich und setzte sich nahe zu der Kerze. »Schwach war die Kunst des Geschorenen, der diese Krähenfüße hingesetzt hat«, murmelte er. »Mit seiner letzten Verräterei fängt der Sünder an, ich glaube wohl, daß sie ihn am meisten ängstigt. Sie reut ihn, solange er im Turm sitzt. – Dann kommt der Kaufmann. Der Goldstoff, den er geraubt hat, war für die Königin bestimmt, und er hat ihn noch nicht einmal herausgegeben.« Und er las fort mit gespannter Aufmerksamkeit. Immo merkte, daß der König seine Gegenwart ganz vergessen hatte, denn er sprach zuweilen laut von den geheimen Taten.

»Den Grafen Siegfried im Walde überfallen, wobei ihn leider mein Mann Egbert erschlug. Die Missetat blieb ungerochen«, rief der König, »die Leute sagten damals, der Gefällte sei von Räubern erschlagen worden. – Hier folgen Sünden gegen die Wigbertleute. Es ist eine ganze Reihe. Schwerlich würde Abt Bernheri dafür Absolution erteilen. – Mit Herzog Heinrich, dem Zänker – der dreiste Bösewicht, meinen Vater so zu nennen.« – Der König sah um sich, und als er Immo noch auf den Knien fand, sprang er auf und winkte ihm zornig die Entlassung. Dann ergriff er wieder das Pergament.: »Mit Herzog Heinrich verschworen gegen Kaiser Otto.« Der König warf das Pergament auf den Tisch und schritt heftig im Zimmer auf und ab. »Das Unrecht meines eigenen Vaters soll ich zum Schrein der Heiligen tragen, damit die Heiligen es wissen und an mir rächen. Unerhört ist die Bosheit.« Wieder eilte er zum Tisch. »Und hier steht es, meine eigene Sünde«, und er las: »Mit Herzog Heinrich, der jetzt König ist, Verabredung getroffen gegen seinen Vetter, den jungen Kaiser Otto.« Der König faßte das Pergament, drückte es mit der Faust zusammen und schleuderte es in den Kamin. Er riß die Kerze aus dem Leuchter, hielt sie daran, bis das Blatt sich bräunte und knisternd verkohlte, und stieß heftig mit dem Fuß in die Asche. »Dies sei der Heiligenschrein, zu dem ich deine Sünden trage, du Ruchloser. Mich selbst soll ich verklagen vor meinen Nothelfern um deinetwillen. Lieber lasse ich dich unter deiner Sündenlast leben wie bisher, als daß ich dir den Himmel öffne. Siehe selbst zu, ob du auf dieser Erde das Erbarmen der [] Himmlischen gewinnst, ich weigere dir die Hilfe, die du begehrst.« Der König stand finster vor dem Kamin. »An mein eigenes Unrecht mahnt er mich, und ich fühle den Schrecken und die bittere Reue. Für mich selbst will ich zu den Ewigen flehen wegen alter Sünden und daß ich jetzt dem Flehen einer armen Seele nach der Seligkeit meine Hilfe verweigerte.« Und Heinrich eilte zu dem vergoldeten Schrein, um den, wie er meinte, die hohen Fürsten des Christenhimmels unsichtbar walteten, enthüllte die heilbringenden Reliquien und warf sich mit gerungenen Händen vor ihnen nieder.

In der Frühe des nächsten Tages begann die Feier der Heerschau. Unter den Mauern der Festung Babenberg waren auf freiem Felde Schranken errichtet, die Pfosten mit grünen Zweigen umwunden, die Treppen mit kostbaren Teppichen belegt, an einer Seite stand auf hohen Stufen der goldene Königsstuhl. Dort wollte der König die Gaben verteilen und sein siegreiches Heer entlassen. Als die Sonne aufging, zogen die Scharen von allen Seiten der Ebene zu und lagerten bei ihren Bannern in weitem Ringe um den eingefriedeten Raum. Eine unzählige Menge Volkes drängte an den Schranken, um den König und das Festgepränge zu schauen. Die Helden des Heeres ritten in ihrem besten Schmuck herzu, stiegen von den Rossen und sammelten sich in der Umzäunung. Als der König auf seinem Schlachtrosse herankam, in Königstracht, die Krone auf dem Haupt, begleitet von der Königin und einem endlosen Gefolge geistlicher und weltlicher Herren, da brauste der Heilruf durch die Scharen, und auch die Landleute schrien und hoben die Arme, obgleich viele von ihnen über das Schicksal ihrer alten Herren bekümmert waren. Der König und die Königin stiegen die Stufen hinauf und setzten sich würdig auf den Königsstuhl, um sie herum saßen auf niedrigen Stühlen die Edelsten des Reiches. Nachdem der Rufer Stille geboten hatte, erhob sich der Erzbischof von Mainz, sprach das Gebet, segnete den Tag und verkündete mit mächtiger Stimme, die weit in das Feld schallte, den Willen des Königs. Zuerst die Strafen, welche der königliche Richter über die Empörer verhängt hatte. Jeden derselben nannte er beim Namen, dann seine Missetat und die Strafe, welche nicht sanft war. Nur den Bruder des Königs nannte er nicht, um das hohe Geschlecht zu schonen.

Immo stand in den Schranken nahe den Stufen und lauschte gespannt auf jedes Wort des Erzbischofs. Als in der unseligen Reihe der Besiegten der Name des Grafen Gerhard gerufen wurde, hielt er ängstlich den Atem an, denn er wußte, daß der Geliebten unsägliches Wehe bereiten würde, was darauf folgte. Aber ihm schoß vor Freuden das Blut ins Gesicht, und durch die ganze Versammlung ging ein leises Summen, als der Erzbischof aus dem großen Pergament verkündete, daß die Gnade des Königs die Missetat des Grafen nicht an seinem Leben und seiner Ehre, sondern nur an [] einem Teile seines Gutes rächen wolle, und daß dem Treulosen gestattet werde, seinem Lehnsherrn aufs neue den Treueid zu schwören. Immo machte eine heftige Bewegung, um aus den Schranken zu eilen, und der alte Hugbald, welcher als Führer der Klostermannen auch die Ehre genoß, in den Schranken zu harren, mußte ihn am Arme halten, daß er die Feierlichkeit nicht störte. Sorglos und mit lachendem Munde vernahm er eine lange Reihe von Belohnungen, welche der Erzbischof verkündete, denn der König teilte die großen Lehen der Babenberger unter seine Edlen. Jeder, der ein Herrenlehn empfing, ritt mit seinem Gefolge in gestrecktem Lauf dreimal um die Schranken, stieg am Eingange ab, trat die Stufen hinauf, empfing kniend die Fahne und schwor den Eid in die Hand des Königs. Das währte lange, und die Sonne brannte heiß, bevor alles nach Gebühr vollendet war. Aber die Krieger und das Volk ertrugen gern den Sonnenbrand, denn was darauf folgte, war der freudigste Teil der Begabung. Der Kämmerer des Königs schritt in die Schranken, gefolgt von einer langen Reihe wohlgekleideter Diener, welche an Stangen große Truhen trugen, die sie vor den Stufen des Königsstuhls nebeneinander niedersetzten. Die Decken wurden abgehoben, und ein Goldschatz, wie ihn wenige Menschen geschaut hatten, blinkte in der Sonne. Große Kannen, Becher und Schalen, Dolche und reichgeschmückte Helme, Ketten und Armringe lagen kunstvoll geschichtet übereinander. Nach der Enthüllung scholl ein lautes Geschrei und zahllose Heilrufe, die Zuschauer drängten ganz außer sich an die Schranken, die zahlreichen Trabanten mußten stoßen und sich entgegenstemmen, um den Einbruch abzuwehren. Und die Verteilung der Ehrengeschenke an die Tapferen des Heeres begann. Der Kanzler trat vor und öffnete eine Pergamentrolle, welche bis an den Boden reichte, laut rief er den Namen jedes Helden und die Gabe, womit er geehrt wurde. Die rechte Seite innerhalb der Schranken war durch den Rufer geräumt; wer von dem Kanzler geladen wurde, trat vor den Stuhl des Königs, empfing sein Geschenk, huldigte und schritt vergnügt der anderen Seite zu. War er aber aus vornehmem Geschlecht, so überreichte der Kanzler dem König die Spende, und dieser teilte sie selbst dem Glücklichen zu und sprach, wenn er ihn hoch ehren wollte, einige huldreiche Worte. Auch das Heer und Volk begleitete mit lautem Zuruf die Gaben, wenn der Empfänger rühmlich bekannt und im Heere beliebt war. Aus der Nähe Immos wurden viele Helden gerufen, Hugbald trat vor und empfing seine Kette, nicht lange darauf hörte Immo den Namen seines Gespielen Brunico, welcher ganz hinten an den Schranken stand, und als dieser einen schweren Goldring erhielt, sprach der König vom Throne: »Den Schmied hast du mir gerettet, trage dafür seine Arbeit.« Aber Immo wurde nicht gerufen. Die Truhen[] leerten sich, die Unruhe in der Umgebung des Königs zeigte an, daß der Aufbruch nahe war. Immo stand mit einer kleinen Zahl anderer unbeachtet an seiner Stelle. Er merkte, daß sich verwunderte Blicke nach ihm richteten, und er begann zornig die Kränkung zu fühlen. Hatte ihn auch der König am letzten Abend ungnädig entlassen, er wußte doch, er hatte dem König gut gedient und war oft vor anderen ausgezeichnet worden. Zwar um den Goldschatz hatte er wenig gesorgt, aber auch er hatte zuweilen daran gedacht, daß ein Schmuckstück eine gute Erinnerung sein werde. Jetzt erkannte er, daß der düstere Blick Gundomars von der Höhe auf ihm haftete, und er fühlte, ärgerlich über sich selbst, daß er errötete und den Leuten ein gleichgültiges Gesicht zu zeigen nicht vermochte. Er merkte auch, daß Herzog Bernhard, dem seine Würde erlaubte, in der Nähe des Königs sich freier zu rühren, hinter den Stuhl des Königs trat, und daß der König sich einen Augenblick nach rückwärts wandte. Er verstand die Worte des Königs nicht, und sie hätten ihn auch nicht erfreut, denn Heinrich antwortete der gutherzigen Frage des Herzogs nach Immo: »Er hatte bereits weit mehr erhalten, als er verdient.« Da stieg der Herzog die Stufen herab und schritt über den Platz dahin, wo Immo allein stand, stellte sich behaglich neben ihn hin und sagte lächelnd: »Für uns beide, für dich, Held Immo, und für mich, klingt heute das Goldblech nicht.«

»Euch, erlauchter Herr«, versetzte Immo mit einem dankbaren Blick, aber mit zuckenden Lippen, »vermag keine Königsgabe an Ehren etwas zuzusetzen, mir aber, hoffe ich, soll die Verweigerung der Gabe die Ehre nicht mindern.«

»So ist es recht, Held«, mahnte der Herzog, »sieh trotzig geradeaus. Vernimm ein Gesuch, das ich dir zur Stelle ausspreche, weil ich erkenne, daß du schwerlich im Dienst des Königs beharren wirst. Komm als mein Gast mit mir in mein Sachsenland, wir jagen miteinander die wilden Ochsen in der Heide. Du sollst das Weidwerk bei uns nicht schlechter finden als in deinen Bergen. Und noch anderes begehre ich von dir. Die Burgen, welche fremde Seeräuber an der Küste im Wasser geschanzt haben, will ich brechen, sobald der Eisfrost eine harte Bahn zu ihren Holzringen bereitet, dabei sollst du mir helfen. Ist dir's recht, so schlage ein.« Er hielt ihm die Hand hin, welche Immo freudig ergriff. Und der Herzog fuhr fort: »Der König erhebt sich, das Heer zu entlassen. Unsere Krieger sind ungeduldig, die Herden der Beutetiere und der gefangenen Böhmen zu teilen.«

Der König und seine Edlen bestiegen die Rosse; die Helden sprengten auseinander zu ihren Haufen. Vor jeder Schar hielt der König an, zollte seinen Dank und sprach die Worte der Entlassung. Auch als er zu dem kleinen Haufen der Bogenschützen kam, welke [] Immo führte, neigte er das Haupt und rief: »Treu erfüllt habt ihr den Eid, den ihr freiwillig gelobtet, ich löse euch von der Pflicht, zieht in Frieden heim zu euren Bergen.« Aber dabei ruhte sein Blick kalt und feindselig auf ihrem Führer, und dieser erkannte, daß der König ihn ungnädig von sich entfernte, und daß sein Schicksal ihn anders, als er selbst gedacht hatte, aus dem Königsdienst löste. Er grüßte zum letztenmal mit seiner Waffe den Kriegsherrn und führte seine Knaben nach der Stadt zurück.

Aus der Herberge eilte er zum Grafen Gerhard, bayrische Königsmannen hielten die Wache und weigerten ihm den Zutritt; er stürmte zu dem Hofe der Nonnen, die frommen Mütter waren mit Hildegard durch Reisige aus der Stadt geleitet, niemand wußte zu sagen, wohin. Da suchte er den Kanzler auf, dieser empfing ihn kalt. »Soll ich dir Gutes raten, so entziehe dich dem Auge des Königs, denn ich fürchte, er sinnt dir nichts Günstiges. Für die Jungfrau wird der König selbst sorgen; wie ich vernehme, will mein Herr, daß sie geschleiert werde, damit sie für die Missetaten des Vaters von der Heiligen Verzeihung erwerbe.«

Mit Mühe bewahrte Immo die Kraft, den Segen des Kanzlers zu erbitten, den dieser mit einer nachlässigen Handbewegung erteilte. Er kam verstört in seine Herberge und trat in die Kammer, in welcher Heriman, der Goldschmied lag, der von seiner schweren Wunde langsam genas. Oft hatte Immo während der Belagerung in der Hütte des Kranken gesessen und dem klugen Landsmann vertraut, was ihm auf der Seele lag, jetzt setzte er sich bleich und erschöpft neben ihn. »An einem Tage habe ich alles verloren, worauf ich hoffte, und wenn ich von hier weiche, wie ich soll, so nehme ich ein Herz voll Angst und Sorge mit mir. Dennoch vermag ich das Land nicht zu räumen, bevor ich die Jungfrau wiedergesehen habe.«

»Ich bleibe zurück«, versetzte Heriman tröstend, »dir danke ich, Immo, daß ich lebe und meine Glieder wieder zu regen beginne. Diese Schuld danke ich dir jetzt oder wann du verlangst. Besser vielleicht als du selbst vermag ich dir zu nützen. Denn Kundschaft habe ich beim Könige und vielen Großen, und mancher Stolze beachtet in der Stille meine Worte. Ziehe mit dem Herzog, denn weilst du hier, so wird es dein Verderben. Du läßt einen zurück, der ein wenig die Weise kennt, wie man die Geheimnisse der Mächtigen erkundet. Noch ist die Jungfrau nicht geschleiert. Und was ich erfahre, Günstiges oder Ungünstiges, das sollst du wissen.«

Während der Burgmann dem jungen Helden Trost einsprach und dieser gern seinen Worten lauschte, scholl in der Haustür und auf der Straße ein wirres Getön von Pfeifen, Fiedeln und Menschenstimmen, ein wilder mißtönender Lärm von allerlei Weisen, welche durcheinanderklangen, von Gelächter und trunkenem Geschrei [] Immo eilte die Treppe hinab. Im Hausflur saß Brunico an der weitgeöffneten Tür, eine Trinkkanne in der Hand, umgeben von seinen Bogenschützen, vor ihm auf der Schwelle und auf der Straße stand ein großer Haufe fahrender Spielleute, von denen jeder unbekümmert um die anderen in seiner Kunst das Beste tat, so daß ein unordentliches und greuliches Getöse durch das Haus und über die Straße schallte. »Schneller«, trieb Brunico, »ihr zirpt wie die Mädchen, die zum erstenmal im Reigen springen. Wer um die Wette läuft, darf seinen Atem nicht sparen.« Von neuem begann das tolle Gefiedel und Geschrei. »Jetzt merkt auf«, mahnte Brunico lachend, »der schnellste fängt den Preis.« Er zog den goldenen Ring vom Armgelenk und hielt ihn in die Höhe, schleuderte ihn über die Köpfe der Spielleute in den Staub der Straße und rief: »So wirft der Bauer von Friemar den Armring des Königs.« Gleich Hunden sprangen die Fahrenden nach dem Ringe, sie fielen und überschlugen sich in wirrem Knäuel, das Volk schrie, jauchzte und balgte sich mit den Unehrlichen, bis endlich einer der Spielleute den Goldschmuck faßte, emporhielt und schnellfüßig mit dem Preise entrann. Und als Immo den Gespielen schalt: »Wie magst du eine wertvolle Gabe vergeuden, die dein Geschlecht und dein Mädchen lange erfreut hätte?« da antwortete Brunico: »Ich warf sie fort, damit sie mir nicht die Augen blenden sollte. Denn übel stände mir an, das Ehrengeschenk eines Königs zu tragen, der dich gekränkt hat, während er mir spendete.«

Unter dem Rößlein der Horsila

Die Felder in Thüringen waren geleert, die Viehherden weideten auf den Stoppeln, und die Jäger zogen mit ihren Hunden in den Bergwald. Auch die Brüder Immos hatten durch einige Wochen den Heerschild getragen, sie waren gegen die Elbe gezogen, um einen Einbruch der Böhmen zu rächen, aber der Feind war ihnen eilig hinter seine Berge ausgewichen, und sie fanden nur die verkohlten Trümmer der niedergebrannten Höfe. Da waren sie unzufrieden heimgekehrt und sannen mit ihren Landsleuten auf einen vergeltenden Zug für das nächste Frühjahr.

Als sie an einem hellen Herbstabend von der Jagd zurückkamen und gerade über die Brücke eines Nachbardorfes ritten, fanden sie den Weg durch Gedränge der Einwohner gesperrt, und noch immer liefen die Leute aus den Höfen, einander zurufend und heranwinkend. In der Mitte hielten Reiter, und um diese schloß sich der Ring. Die Jagdhunde der Brüder fuhren mit wütendem Gebell gegen den Haufen, und Erwin hatte Mühe, die Zerrenden an ihren Riemen zurückzuhalten.

[] »Es sind Fremde, welche ausgefragt werden«, rief Ortwin, und schneller trabten die Rosse. Die Dorfleute machten den Jünglingen grüßend Platz, und diese fanden in der Mitte den Spielmann Wizzelin, der wie ein Herr gekleidet und von einem dienenden Genossen begleitet war, welcher das Saitenspiel bewahrte. Zwei Landleute hielten das Roß des Spielmannes am Zügel, vor ihm standen die Ältesten des Dorfes und in großem Kreise alt und jung mit aufgerissenen Augen, Verwunderung und helle Neugierde in den Gesichtern. »Sei gegrüßt, Spielmann«, rief Odo lächelnd, »wer die Pferde betrachtet, muß rühmen, daß du Glück im Kriege gehabt hast.« Wizzelin neigte sich artig und trieb sein Pferd, damit es die wohlgeformten Glieder rege. »In dem siegreichen Heere findet auch ein armer Spielmann etwas Gutes«, versetzte er stolz.

»Wunderbares erzählt er von dem Glück des Königs und wie die Burgen des Markgrafen brannten«, berichtete ein alter Bauer.

»Tag und Nacht könnte ich euch erzählen, niemand vermöchte in einem Niedersetzen alle Heldentaten herzusagen«, fuhr Wizzelin fort. »Auch bei euch raste ich wohl einmal und singe unter der Linde; jetzt aber öffnet den Weg, denn ich begehre dringend weiterzuziehen.«

»Ich hoffe, du herbergst heut bei uns im Hofe«, mahnte Odo. Doch unter den Dorfleuten erhob sich Gemurr. »Er hat noch wenig gesagt«, riefen mehrere Stimmen. »Wir verlangen von den Nachbarn zu hören, welche freiwillig zu König Heinrich gezogen sind«, schrien andere.

»Als Helden kehren sie zurück, ihre Wagen sind schwer mit dem Kampfgewinn beladen, und Beuterosse führen sie in langer Reihe, auch böhmische Knechte, welche ihnen der König zugeteilt hat, wenn sie dieselben nicht bereits an die Händler verkauft haben; denn ihnen wird mühsam sein, die Menge der Sklaven auf der Reise zu ernähren.«

Ein lauter Schrei der Verwunderung antwortete, und die Knaben schlugen in ihrer Aufregung Purzelbäume im Staube.

»Sahst du den Dindo, den Sohn meiner Schwester Wendilgard?« fragte eine stattliche Bäuerin.

»Dindo?« versetzte Wizzelin, »der Held mit den runden Backen, sicher kenne ich ihn. Er kehrt ganz heil zurück, und ich meine, in seinem Reisegepäck liegt auch eine Spange, welche das stolze Herz seiner Base erfreuen wird.«

»Was weißt du von Engilbrecht«, klang es aus dem Haufen, »und vom Vortänzer Richilo?«

»Engilbrecht kommt ohne Wandel, so wie er gegangen ist, und der schnelle Richilo hat neue Reigen getanzt von der Mauer in eine brennende Stadt, beide schreiten mit gebauschten Taschen einher und bringen für manche, die ihnen lieb sind, Gutes in ihren Säcken; geduldet euch jetzt, und ihr alle werdet erstaunen.«

[]

Wieder ging das frohe Schwirren durch die Versammlung, und aller Blicke richteten sich nach den Brüdern. Niemand wollte die Frage tun, die zuerst ihnen gebührte. Da sie aber schwiegen, rief Sigilind, ein mutiges Weib: »Weißt du etwas von Brunico, dem Sohn des alten Baldhard?«

»Ha«, rief Wizzelin, »du nennst einen von den großen Helden des Königs Heinrich; laut hörte ich seinen Goldschatz rühmen, denn Armringe aus Königsgold, die wohl ein halbes Pfund schwer waren, hat er meinen Genossen auf die Straße hingeworfen als Lohn für ihre Lieder.«

Da scholl wieder ein lauter Schrei des Erstaunens, und Sigilind, Gisa, Engiltrud und die anderen Weiber hoben die Hände zum Himmel und rannten von dannen, um den Höfen die unglaubliche Kunde zuzutragen.

»Schnatternd wie Gänse fahren sie mit gereckten Hälsen auseinander«, spottete Wizzelin leise zu Odo, »die Bahn ist gefegt, gefällt's euch, so dringen wir durch.« Und nach allen Seiten grüßend und Rückkehr verheißend, trabte er mit den Brüdern von dannen.

Kaum war der Spielmann in das Tor des Herrenhofes geritten, da flog die Kunde von seiner Ankunft durch jeden Stall und jede Kammer; auch hier drängten die Leute heraus, die Knechte waren beflissen, ihm und seinem Gefährten die Pferde anzubinden, und die Mägde steckten die Köpfe zusammen und bewunderten sein schönes Gewand und die klirrende Kette. Nur Murhard, der Hofhund, und sein Geschlecht waren nicht willig, zu wedeln, sie bellten wütend und unablässig und sprangen feindselig an den Spielleuten herauf, und Wizzelin klagte gegen Odo, welcher die Hunde scheuchte, mit finsterem Lächeln: »Der Fahrende vermag die Gunst der Männer und Frauen zu gewinnen, die Köter aber bleiben seine Feinde, sie erkennen ihn in jedem Gewande.« Er ordnete Haar und Rock und zog sein Gesicht in ehrbare Falten, als er in den Saal vor die Augen der Herrin Edith trat. Hinter ihm sammelten sich die Dienstleute, alle in froher Erwartung der Kunst, die er nach dem Mahle spenden würde. Den Spielleuten wurde ein besonderer Tisch gestellt, aber Edith winkte, daß ihnen gute Kost geboten wurde und der beste Met des Hauses. Und Wizzelin erhielt den Met in einem Silberbecher, welcher ihm der Ehre wegen noch lieber war als der Trank.

Nach dem Mahle begann Edith: »Da du beim Heere des Königs weiltest, so gib uns Kunde, soweit du vermagst. Denn nur Undeutliches hörten wir von seinem Siege und dem Unglück der Feinde.«

Der Spielmann erhob sich und begann seine Sage vom Raub des Schatzes, von Belagerung der Feste und von den Kämpfen gegen Hezilo. Er sprach langsam und feierlich, und seine Rede tönte zuweilen wie Gesang; vieles berichtete er getreu nach der Wahrheit, [] anderes, wie es ihm in den Sinn kam. Den Namen des Mannes aber, an den jeder in der Halle dachte, nannte er nicht. Regungslos, mit verhaltenem Atem lauschten die Zuhörer, nur wenn er vom Schlachtgewühl erzählte, rührten sich die Männer, ihre Augen glänzten, und sie nickten einander zu, und sooft er den Fall der Helden und den Brand der Burgen beklagte, seufzten die Frauen. Als er seinen langen Bericht beendet hatte, sprach Edith: »Füllt ihm aufs neue den Becher. Du aber bewahre das Silber mit unserem Dank, denn große Dinge hast du uns verkündet, die wir alle im Gedächtnis behalten, solange wir leben.« Da sprang Gottfried auf, überreichte dem Spielmann den Becher und begann: »Weißt du etwas von meinem Bruder Immo, so verkünde auch das, denn an ihn dachten wir alle, als wir dich hörten.« Bei diesen Worten des Knaben brachen die Dienstleute in einen Freudenschrei aus, es war ein kurzer Ruf, der schnell verhallte, aber er kam aus bedrängten Herzen, die von einer Last befreit wurden. Wizzelin hob den Becher und rief: »Heil sei dir, junger Held, daß du als der erste nach ihm fragst im Saale seiner Väter.« Er ergriff sein Spiel, fuhr schnell über die Saiten und sprach: »Dieses Spiel hat oft von seinem Namen getönt, denn wir Fahrenden singen mehr als ein Lied von ihm auf den Märkten und am Herdfeuer. Wollt ihr das eine hören, wie er den Grafen Ernst schlug?« Und die Saiten rührend, stimmte er die Weise an: »Einen Helden weiß ich, Immo aus Thüringeland. So lautet das Lied«, erklärte er, »höre, Geschlecht Irmfrieds!« Und er begann seinen Sang, wie Immo an der Furt des Baches die Helden des Babenbergers schlug, den Waltram, Hartwin und den jungen Hadamund, und wie er darauf die Wache am Felsentor hielt, um durch seinen Leib den König zu decken. Dort lief der edle Graf Ernst gegen ihn an, die Speere flogen, die Schilde krachten, und aus den Schwertern fuhr die feurige Lohe, bis der Babenberger mit zerschlagenem Helme betäubt zurückfuhr. Da warf Wolfere von fern her den Hammer und traf dem jungen Helden das Haupt, daß er blutend zurücksank. Aber den Fall seines Edlen zu rächen, sprang König Heinrich selbst in den Kampf.

Oft hatte der Spielmann die Herzen der Hörer bewegt, wie er wollte, und er war gewöhnt, daß sie durch hellen Ruf und leises Stöhnen ihren Anteil kundgaben. Heute aber freute sich der Schlaue über das Entzücken, welches er erregte. Die dienenden Frauen streckten in ihrer Aufregung die Hände immer wieder dem Himmel zu, Gertrud schluchzte vor Freude, und die Dienstmannen schnoben heftig mit den Nasenflügeln und griffen mit den Händen um sich. Der Knabe Gottfried stand wie verzückt mit glühenden Wangen und aufgerissenen Augen, seine schlanke Gestalt schien zu wachsen, und sein goldenes Haar sträubte sich um das Haupt. Auch andere sah der Sänger, welche sich gegen die Gewalt seiner Töne wehrten, [] bis ihr stolzer Groll dahinschmolz in der heißen Freude über die Ehren eines Haussohns. Die Mutter barg nach den ersten Tönen ihr Gesicht in der Hand, und als er den Sturz Immos verkündete, erhob sie sich von ihrem Sitz und trat zurück in das Dunkel. Die Brüder saßen im Anfange mit zusammengezogenen Brauen gleich Männern, welche gefaßt sind, Unwillkommenes zu hören. Doch auch ihr Widerstand wurde schwach, in ihren Augen leuchtete die Freude, die jüngeren sprangen auf und traten nahe zu dem Sänger, nur Odo blieb sitzen, aber um seinen Mund zuckte die Bewegung. Und als der Sänger endete und ein Jubelgeschrei der Dienenden, welches nicht enden wollte, durch den Saal brauste, da trat Odo zu dem Spielmann, bot ihm den Becher, aus dem er selbst getrunken hatte, und spach: »Nimm noch dies Silber, das dir die Söhne Irmfrieds spenden. Leben wir auch in Zwist mit dem Bruder, wir freuen uns doch, wenn der Name unseres Geschlechtsgenossen im Lande gerühmt wird.«

»Weißt du mehr von ihm?« rief Gottfried.

Der Spielmann rührte sogleich wieder die Saiten. »Ihr mögt wählen unter den Liedern, die ich von ihm habe.« Und er verkündete ihnen nach der Reihe alles, wie Held Immo unter den Sachsen ritt, wie er den Dienstmann Egbert schlug und wie er als erster sich mit seinen Genossen in die Festung schwang.

Der Sang war verklungen, die Hörer saßen schweigend, ganz aufgelöst von der starken Bewegung. Da ergriff Wizzelin seine Fiedel und begann mit dem Bogen die Saiten zu rühren, langsam, in einer rührenden Weise, aber er sang und sprach nicht mehr. Auch die Versammelten saßen still, und wenn einem das Herz zu weich wurde, so wischte er verstohlen die Träne ab.

Das war die erste Kunde von Immo, welche in sein Vaterhaus drang. Nicht lange darauf kehrten die Bogenschützen in ihre Dörfer zurück mit hochbeladenen Wagen und manchem schönen Beutestück. Mehr als einer wurde nach dem Hofe geladen und erzählte, so gut er vermochte, von sich selbst und von seinem Anführer, und daß Immo mit dem Sohne Baldhards am Main von ihnen geschieden war, um zu den Sachsen an die See zu fahren. Seitdem kam keine Nachricht von dem Helden, auch die Eltern Brunicos wußten nichts zu erkunden. Die Blätter fielen, und der Sturmwind tobte um die Mauern der Mühlburg, von welcher der alte Dienstmann Berthold täglich nach seinem Herrn aussah. Berg und Wald lagen unter weißer Schneedecke. Jeder, der einen warmen Ofensitz erlangen konnte, schlüpfte hinein und lauschte vergnügt auf das Brodeln im kupfernen Topfe. Aber der Stuhl, den Edith täglich dem Herrensohne rückte, blieb leer, und niemand wußte zu sagen, ob er unter dem Dach eines Gastfreundes geborgen saß, oder ob er auf wilder See umhertrieb in rasendem Sturm und wirbelndem Schnee.

[] Die weiße Decke, welche den Bergwald verhüllte, schwand im Frühlingswind. In tausend Rinnen rieselte und strömte das Wasser zu Tale, jeder kleine Quell wurde zum Bach, die Waldbäche fluteten wie große Ströme, die Weiher und Seen am Fuß der Berge überschwemmten Ried und Wiesen, und dem Fremden, welcher von einer Höhe auf die thüringische Ebene herabsah, glitzerte überall zwischen Wald und Ackerbeeten eine gewundene Wasserfläche entgegen, aus welcher die Dorfzäune hervorragten, und er konnte zweifeln, ob er einen ungeheuren See vor sich sah mit zahllosen Inseln oder einen breiten vielarmigen Strom. Dann lagerten am Morgen und Abend dichter Nebel auf der Flut, und bei Tage flatterten ungeheure Schwärme von Wasservögeln darüber hin. Aber nach wenigen Wochen war der Schwall vermindert, Sonne und Wind verscheuchten den Wasserdunst, die Erde sog begierig das befruchtende Naß, und während die Knospen der Bäume schwollen, hob sich der Wiesengrund wieder aus der Flut, und die Waldbäche zogen, gebändigt durch ihre Ufer, den Flüssen zu und strudelten, wo ein Baumstamm oder eine Erdscholle in ihrem Bett haftete. Dies war die Zeit im Jahre, wo die Männer aus den Waldlauben sich ihrer Schiffahrt freuten. Denn auch ihnen war ein Fluß zuteil geworden, nur klein, aber ehrwürdig dem ganzen Lande, welcher aus den Waldbächen zusammenrann und zwischen dem Gebirge und steilen Hügeln der untergehenden Sonne zufloß. Die Horsila war damals kein unscheinbarer Bach, sie trug befrachtete Kähne in die Werra, und weit von Norden her kamen Fahrzeuge der Sachsen und Friesen die Strömung hinauf bis an den Wald. Dort war bei dem alten Dorfe Horsilgau der kleine Hafen, wo sie ein- und ausluden; eine wertvolle Stätte für die Waldleute, denn die Landfracht vom Norden her war teuer und der Weg oft unsicher. Das Wasser brachte ihnen die kunstvolle Arbeit der friesischen und flämischen Weber und manches Kaufmannsgut, das ihre Frauen ungern entbehrt hätten; sie aber tauschten dagegen ein, was ihr Land an Waren bot: Honig und Wachs, Pelzwerk und Tierhäute. Auch die Erfurter kamen heran, sooft die Kähne abfuhren und anlegten, sie schlugen am Ladeplatz ihre Bänke auf, kauften und tauschten und führten die Fracht auf hochbepackten Karren nach ihrem großen Markt. Vor anderen aber freuten sich die Mönche des heiligen Wigbert der Schiffahrt, sie waren seit alter Zeit die Herren der kleinen Wasserstraße, und sie hielten die Burg Gotha zumeist darum hoch, weil diese eine Feste ihres Hafens war und ihr Herrenrecht über den Fluß behaupten half. Denn der Zehnte, welchen die Mönche von allem Schiffsgut erhoben, war eine wertvolle Einnahme des Klosters, er lieferte die Wolldecken ihrer Lager, Stoff zu ihren Kutten und vor allem die geehrte Fastenspeise, den gesalzenen Heerfisch, welcher ihnen das ganze Jahr Freude an ihrem [] Trunk gab. So wertvoll war dies Herrenrecht, daß sie durch viele Jahre blutige Kämpfe darum geführt hatten. Dennoch vermochten sie es nicht ungeschmälert gegen einen Nachbar zu bewahren, welcher, klug gleich ihnen und stärker als sie, ebenso auf der Nordseite der Horsila herrschte, wie sie längs dem Walde. Ihr Feind war das Kloster von Fulda, in welchem der heilige Bonifazius beigesetzt war. Und die beiden Glaubensboten, Winfried und Wigbert, kämpften aus ihren Klöstern zweihundert Jahre nach ihrem Tode grimmige Fehden um die Heringstonnen der Nordsee und um die Gewebe derselben Friesen, deren Vorfahren sie einst bekehrt hatten. So heftig tobte der Kampf zwischen den Bewaffneten der beiden Klöster, daß die Sachsenkönige mehr als einmal gezwungen waren, sich zwischen die Streitenden zu stellen. Endlich hatten die Mönche von Fulda das Recht erworben, daß auf ihrer Uferseite Kähne frei von dem Zoll der Wigbertleute fahren durften. Aber der Haß der Klöster wurde durch den Schiedsspruch des Königs, nicht gestillt, und fast in jedem Jahre wurden Männer erschlagen und Häuser niedergebrannt.

Diesmal brach das Eis und schmolz der Schnee früher als sonst. Das Tauwetter vereitelte einen Rachezug, den König Heinrich über die gefrorenen Sümpfe in das Slawenland gerüstet hatte. Dafür bereitete es den Waldleuten die Freude, daß sie am Fest der Tagund Nachtgleiche auf schneelosem Anger ihre Reigen sprangen, und daß sie an demselben heilbringenden Tage auch die Kahnfahrt auf ihrem Fluß eröffneten. Die Fahrt war eine Woche vorher zu Erfurt und auf dem Lande angesagt worden, damit sich beizeiten rüste, wer Gut und Ware nach der Werra zu den Hessen und Sachsen abwärtsführen wolle. Schon hatten die Erfurter ihre Lastwagen zu einer kleinen Wagenburg beim Dorfe vereint. In langer Reihe lagen die Kähne, welche von den Waldleuten die Wasserrößlein genannt wurden, am Ladeplatz, neu geteert, lang und schmal, zum Teil beladen auf die Abfahrt harrend, während die anderen durch Schiffer und starke Lastträger gefüllt wurden. Aber auch von der Mündung des Flusses waren bereits einige Kähne stromauf geführt, die Schiffer hatten ihre Güter an dem Ufer geschichtet und harrten der neuen Ladung, sie waren an ihren Strohhüten, den langen weißen Röcken und den breiten Schwertmessern als Sachsen zu erkennen. Ein weiter Raum war auf dem Anger abgesteckt und mit einem Seil umfriedet, dort standen das Marktkreuz und St. Wigberts Banner, und daneben hielt der Hauptmann mit seinen Bewaffneten und dem Büttel, um den Marktfrieden zu erhalten und von Vieh und Waren den Zoll zu erheben. In der Ferne auf der andern Seite des Baches wehte neben einem Schuppen das Banner von Fulda, geschützt durch Gewappnete, welche der großen Familie des heiligen Bonifazius angehörten. Doch auf der Wigbertseite war der rege Verkehr.

[] Auch die Landleute, welche nicht selbst um Schiffahrt sorgten, eilten an diesem Tage gern zu der Stätte. Wer Freunde und alte Genossen begrüßen wollte, konnte sie dort finden, wer sich einem Herrn zum Dienste geloben wollte, suchte dort die Gelegenheit, Rosse und Herdenvieh wurden aus den Winterställen zum Verkauf herangetrieben. Die Edlen der Umgegend kamen im Eisenhemd mit ihrem Gefolge, und das Volk der Fahrenden fehlte nicht mit seiner Musik, mit neuen Liedern und Kunststücken. Im ganzen Lande war die Lust dieses Tages berühmt, und sie erschien den streitbaren Männern um so ehrenvoller, weil selten ein Fest verging ohne Schwerthiebe und tiefe Wunden.

Die Sonne schien hell, und größer als seit langer Zeit war das Gewühl der zugewanderten Gäste. Nicht allein an dem Flusse, in allen Dörfern längs dem Bergwald wurde der Ausgang des Winters und die junge Herrschaft des Sommers gefeiert, man sah lange Reihen geschmückter Dorfleute im Freien tanzen und vernahm ihren Gesang und das Getön der Fiedeln und Pfeifen, überall auf den Hügeln und den Vorsprüngen der Berge waren Holzstöße errichtet, welche nach Untergang der Sonne brennen sollten, denn die ganze Nacht galt für günstig und heilbringend, sie wurde beim Trinkkrug, unter Gesang und Reigentanz durchwacht und war vielen der liebste Teil des Festes.

Zwischen den Bänken, worauf die Erfurter ihre Ware ausgelegt hatten, zogen die Dienstmannen der Edlen mit ihren Knechten, daneben junge Dorfhelden vom Nesselbach; auch die Leute aus den Wendendörfern waren mit ihren Frauen gekommen, und neben thüringischer Sprechweise vernahm man sächsische Worte und die feintönende Rede der Slawen. Durch das Gewühl sprengten sechs hochgewachsene Reiter, die Söhne Irmfrieds, unter ihnen Gottfried, der heut zum erstenmal im Schwertgurt über das Land ritt und stolz auf die Grüße und Glückwünsche antwortete, welche ihm hier und da aus den Haufen zugerufen wurden. Neugierig blickte der junge Krieger auf die fremdländischen Männer und Waren, aber die neue Würde hielt ihn ab von freudigem Ausruf und Fragen. Die Brüder stießen auf einen Trupp berittener Spielleute, darunter auch Weiber in fremder Tracht, welche ihre Pferde in künstlichem Tanze trieben, während die Männer um die Raststelle handelten. Als die sechs einen Augenblick in der Nähe hielten, scheute das Roß eines fahrenden Weibes, und sie glitt dicht vor den Brüdern auf den Boden. Mitleidig sprang Gottfried ab, um sie vor den Pferdehufen zu bewahren, aber wie ein Federball hob sich das Weib vom Boden, und bevor er sich's versah, fühlte er einen leichten Schlag auf seiner Wange, das Weib schwang sich in den Sattel, und davonsprengend, rief sie lachend: »Gesegnet seien dir die hübschen und roten Wangen.« Da lachten die Leute ringsumher, Gottfried aber wurde [] vor Zorn noch röter und warf einen feindlichen Blick auf die Dirne. Noch grollte er über die Dreistigkeit, da hörte er, wie Graf Markwart von Tonna spottend den Brüdern zurief: »Seit wann treibt ihr Helden Kaufmannschaft wie die Krämer zu Erfurt?«

Odo sah ihn befremdet an. »Nichtige Worte redest du.«

Der Graf wies auf Ballen und Tonnen, welche am Ufer lagen. »Sie tragen das Zeichen, womit ihr marktet, was euer ist. Ich rühme die Klugheit, welche das Erbe durch Handel zu mehren weiß.«

Odo versetzte: »Rühmlicher wäre es, das Erbe durch Kaufmannschaft zu mehren als durch raubgierigen Wolfssprung auf der Heide, den die Leute dir zu trauen.«

Markwart hob zornig den Arm, doch als sechs hochstämmige Helden nahe um sein Roß drängten, begnügte er sich, Feindseliges zu murmeln, und wandte sich zur Seite. Die Brüder aber ritten zu den Tonnen und sahen erstaunt die Runenmarke, welche mit weißer Farbe den Stücken aufgemalt war. »Das ist Immos Zeichen«, riefen sie wie aus einem Munde, und Odo fragte den Schiffer, welcher dabei stand: »Woher kommst du, und für wen bringst du das?«

»Mein Wasserroß trug es vom Norden, drei Wochen haben wir gegen den Strom gerungen, und mancher treibende Baumstamm streifte an den Bord, bevor wir ausluden. Für einen Burgmann im Lande ist es bestimmt.« Die Brüder bestürmten ihn mit Fragen, aber von Immo wußte der Mann nichts zu berichten.

In der hölzernen Halle, welche unweit des Baches errichtet war und im Sommer allerlei Frachtgut bewahrte, saßen heut die Häupter der Landschaft, Edle und Grafen, welche dem Feste zugeritten waren. Markwart von Tonna war da mit seiner ganzen Sippe und seinen trotzigen Dienstmannen, die Grafen aus dem Nordgau und andere, neben den Thüringen auch Hessen, unter diesen Graf Gerhard aus den Buchen. Ihn hatte die Gnade des Königs wieder zu einem stattlichen Herrn gemacht, denn obgleich ihm die Waldwiesen und mancher andere schöne Acker abgenommen waren, galt er noch immer für reich an Erbe und Lehen, auch in Thüringen hatte er unweit der Horsila Hufen und hörige Leute. Heut begrüßte er die edlen Thüringe zum erstenmal seit seinem Unglück, er war leutselig und mild gegen jedermann, und wenn einer auf die letzte Gefahr anspielte, so zuckte er nur wehmütig mit den Achseln. Aber die meisten der Anwesenden vermieden, davon zu sprechen, denn sie wußten wohl, daß sie selbst um ein kleines in derselben Not gewesen wären. Der Raum war mit Tischen gefüllt, und der Schenkwirt, auch ein Knecht des heiligen Wigbert, lief mit den Kannen umher und drehte fleißig am Hahn seiner Fässer. Die Sonne sank hinter die Berge, und es dämmerte in dem fensterlosen Raume, als die Söhne Irmfrieds eintraten. Odo grüßte, und von mehreren Tischen klang der Gegengruß, aber Markwart und sein Geschlecht, [] welches mit dem Grafen Gerhard unweit des Einganges saß, sperrte, sich breit setzend, den Weg zu den Tischen. »Gib Raum, Markwart«, sagte Odo, »damit wir dir nicht die Knie scheuern.« Aber der Held streckte sein Bein kräftig aus und versetzte: »Mich wundert, daß die Söhne Irmfrieds begehren, ihren Sitz unter den Edlen des Landes zu nehmen, da sie sonst häufiger die schwieligen Hände der Bauern drücken als die unseren.«

»Harre, bis wir für ehrenvoll halten, deine Hand zu fassen«, versetzte Odo, »unterdes wundere dich nicht, daß ich deinen Stuhl schwenke, da du selbst das nicht tun willst.« Mit einem kräftigen Ruck drückte er den beschwerten Stuhl beiseite. Markwart hielt sich mit Mühe im Gleichgewicht; er fuhr auf und mit ihm sein Geschlecht, die Hände griffen an die Schwerter, und das Eisen klirrte in der Halle. Aber der Hauptmann des heiligen Wigbert rief mit lauter Stimme: »Gedenkt des Marktfriedens«, und Gerhard sprang begütigend dazwischen und rief: »Wer eine Hand zuviel hat, der greife an das Schwert, ihr anderen aber hütet euch, denn jedes Tun hat seine Zeit, und jetzt ist die Zeit, friedlich zu trinken.« Dieser Rede riefen viele Stimmen Beifall, der Tumult wurde gestillt, und der Wirt lief wieder mit den Kannen. Gerhard aber begann in der schweigenden Versammlung versöhnliches Gespräch: »Obgleich an dieser Stelle die Mönche Wigberts ihr Rauchfaß schwingen, so will ich doch über sie die Wahrheit sagen. Ich weiß manchen, der größeres Vertrauen zu anderen Fürbittern hat. Darum möchte ich dich, Held Odo, fragen, was dir von neuen Wundern des Glaubenshelden Meginhard bewußt ist. Denn auch davon hören wir gern beim Trunke.«

Bevor Odo die Antwort gab, rief der Mönch, welcher während des Sommers als Aufseher im Dorfe wohnte: »Ungewaschenes Zeug kommt aus Eurem Munde, Gerhard, weil Ihr unserem Heiligen in seiner eigenen Halle die Ehre vermindern wollt. Achtet lieber auf anderes, was draußen vorgeht. Denn wundervolle Kunde vernehmen wir, die jedermann mit Staunen erfüllt. Ein fremder Spielmann sagt sie den Leuten, auch euch, ihr Herren, wird es freuen, sie zu hören. Dich aber, du Geschlecht Irmfrieds, geht sie noch mehr an als die anderen.« Der Mönch steckte eine Fackel an, daß ihr rotes Licht die Halle erleuchtete, und in das Tor sprang ein Spielmann, gefolgt von einem großen Haufen Neugieriger, er schwang sich auf eine Bank, die einer seiner Genossen vor den Eingang stellte, und lud mit heftigen Armbewegungen alle edlen Herren und jedermann ein, die unerhörte Neuigkeit zu vernehmen, welche aus dem Nordmeer gekommen war, vom Kampfe der Sachsen gegen die Seeräuber. Bei hartem Winterfrost hatten die Sachsen den Sieg gewonnen, indem sie über das Strandeis zogen und die festen Burgen der Räuber zerbrachen, und unter ihnen stritten die Helden der [] Thüringe, der edle Immo, Irmfrieds Sohn, und Brunico, sein Genosse. Grimmig war die Not der Helden im Streit gegen die Seegespenster und gegen die Riesen unter dem Räubervolk, die mit Eisenstangen auf sie schlugen. Und er schrie: »Alles, was je von Kämpfen gesungen wurde, ist wenig gegen diesen Kampf, und alles, was je von einem Schatz geschaut wurde, ist ganz wenig gegen den unermeßlichen Goldschatz, den die Helden aus den Burgen der Räuber gewannen. Von ihm will ich euch jetzt erzählen, soweit ich ihn selbst mit meinen Augen erkannt habe, denn alles vermöchte einer nicht zu schauen. Zuvor aber spendet mir etwas, denn später, wenn ihr gehört habt, lauft ihr auseinander.« Da lachten die Zuhörer, und viele griffen nach den Ledertaschen, der Spielmann hob einen Beutel an einer langen Stange und fuhr damit durch die Versammlung, er überging keinen, und wenn jemand mit dem Kopf schüttelte, so schnitt er ihm ein Gesicht oder sagte ihm etwas Boshaftes, wenn er das wagte, so daß die Herren lachten und williger gaben. Und als er eingesammelt hatte, erhob er sich wieder, beschrieb die Herrlichkeit des Goldgerätes und schätzte es nach hundert Pfunden recht genau, bis die Leute an der Tür vor Erstaunen die Hände zusammenschlugen. Als er geendet hatte, schied er von seinen Zuhörern, indem er schrie: »Jetzt ziehet dahin, ihr edlen Herren und guten Leute, und verkündet es jedermann im Lande, denn selig sind die Eltern und selig ist die ganze Verwandtschaft der Helden, die mit so teurem Goldschatz heimkehren.«

Die Zuhörer am Eingange liefen auseinander, in der Halle vernahm man durch das Gesumme halblauter Reden Rufe des Erstaunens. Aller Augen hefteten sich auf die Brüder, und mancher trat an ihren Tisch und rief ihnen scherzend Heil zu; auch neidisches Gemurr und mißgünstige Blicke stachen gegen sie. Odo aber sprach verwundert: »Ist auch der Fahrende ein verlogener Mann, vielleicht ist doch manches wahr. Haltet fest an euren Sitzen und wehrt euch mit scharfer Zunge gegen jede Ungebühr, denn ich merke, nicht in Frieden reiten wir heut nach Hause.«

Graf Gerhard aber eilte aus der Halle, gefolgt von einem vertrauten Dienstmann, denn es zog ihn mächtig zu den geheimnisvollen Ballen und Fässern, welche, wie er vernahm, dem glücklichen Immo gehörten. Er wandelte längs des Bachs, und sein Mann wies auf den geschichteten Haufen und die weißen Zeichen. »Alles riecht nach Fastenspeise, die von der See kommt«, begann der Graf, und seine Nasenflügel zuckten. »Das ist die Schlauheit. Sie haben den Schatz ganz unscheinbar unter Eßbarem oder auch unter anderen Waren geborgen. Von je waren die Sachsen ein listiges Volk, obgleich sie sich ganz einfältig zu stellen wissen. Viel Wunderliches hörten wir längst über den Goldschatz der Seeräuber. Aus allen Meeren haben ihn die Wilden zusammengeraubt, durch viele Geschlechter [] haben sie gesammelt, wie Könige saßen sie in ihren Strandburgen, sie tranken ihr Bier aus goldenen Schüsseln, welche mit Edelsteinen besetzt waren, und man sagt, daß sie die Hufe ihrer Rosse nur mit Silber beschlugen. Dies alles hat ihnen Herzog Bernhard und dazu Held Immo genommen, und was hier liegt, mag diesen zum reichsten Mann im Lande machen, wenn er es auf seine Burg heimführt.«

Er blickte scharf um sich, in der Nähe war niemand zu erkennen, auf den Bergen flammten die Osterfeuer, aus den Hütten klang Geschrei und Jauchzen und weiter abwärts am Bache lautes Gezänk und der Ruf nach Waffen.

Die Wächter der Ladungen waren sorglos zusammengetreten und schauten nach der Stelle, wo wilde Worte und Schläge getauscht wurden. Der Dienstmann traf eine kleine Tonne, welche von den anderen abgerollt war, mit einem Stoß, daß sie zur Seite fuhr. »Gefällt's Euch, Herr«, sagte er lüstern, »so gebe ich der Runden noch einige Tritte, und Ihr könnt in Ruhe prüfen, wie dieser Schatz der Räuber aussieht.«

Unwillig entgegnete der Graf: »Willst du mich im Königsfrieden zum Diebe machen, du Wicht? Wie darf ein ehrlicher Mann fremdes Gut nehmen, wenn er es nicht durch Gewalt und Schwertschlag gewinnt? Hallo Wächter! Hütet euer Gut, die Fässer kollern.«

Ein Mann in langem Mantel, den Hut tief in das Gesicht gedrückt, sprang herzu, hob das Faß an seine Stelle und brummte:

»Hütet Euch selbst, daß Ihr nicht auf den Boden kollert.«

»Enthalte dich der Grobheit, Freund«, versetzte der Graf sanftmütig, »denn ich meine es gut. Ich hoffe, Held Immo läßt seinen Goldschatz nicht lange im Wind und Mondenschein liegen.«

»Habt auch ihr gehört, daß der Held seinen Schatz in diesen Tonnen bewahrt?« fragte der Mann. »Wir harren der Wagen: noch während dort die Feuer brennen, wird alles hinter Tor und Riegel geborgen.«

»Ich lobe die Vorsicht«, bestätigte Gerhard. »Die Osterfeuer werden heut nacht den Weg zur Mühlburg erleuchten. Wer aber schreit dort und schlägt so wild?« fragte er einen der Wächter, welcher herantrat.

»Es sind wieder die Knechte der Heiligen, welche einander bei den Haaren fassen«, antwortete dieser lachend, »die Fuldaer sind über das Wasser gekommen, um die Dorfmädchen im Reigen zu schwingen, und die Knaben Wigberts wollen das nicht leiden.«

Der Graf schüttelte mißbilligend das Haupt. »Uns schelten die Mönche, wenn wir einmal das Schwert ziehen, aber niemand von uns hegt einen solchen Grimm gegen seinen Feind wie die Heiligen gegeneinander. Wollen sie selbst nicht Frieden halten, so sollen sie sich nicht wundern, wenn auch wir zuweilen einer dem andern den [] Weg verhauen.« In schweren Gedanken schritt er der Halle zu, hinter ihm ballte Brunico, der Mann im Mantel, die Faust.

Auch auf dem umfriedeten Raum der Halle hatte der nächtliche Jubel begonnen. Überall loderten hohe Freudenfeuer, die Bänke, auf denen die Krämer gute Bissen feilboten, waren umdrängt von Begehrlichkeiten; was stolze Knaben gern ihren Mädchen schenken: bunte Bänder, Glasringe, Halsperlen und kleine Metallspiegel, wurde eifrig gekauft, am dichtesten umlagert waren die Stellen, wo aus Fässern und großen Kannen Bier und Met geschenkt wurde; überall, wo ein Spielmann geigte, ein Sänger sang, sammelten sich die Zuhörer. Um die Feuer aber schwangen frische Knaben die Mädchen im Tanze, gesondert nach Gauen und Dörfern; zwar fehlten ihnen die Abzeichen aus Baumlaub und Blüten, durch welche sie sich im Sommer unterschieden, aber viele trugen das rote Kreuz Wigberts, andere das Rad, mit welchem Erzbischof Willigis seine Angehörigen bezeichnete, und die aus dem Nessebruch führten ein Büschel roter Wolle, mit grünem Band umwunden, statt der Distel, welche sie zu anderer Zeit auf ihren Mützen trugen. Viele tanzten in Eisenhemd und Helmkappe, alle die klirrenden Schwerter an der Seite, zu ihren hohen Sprüngen schrien Pfeife und Fiedel in gellenden Tönen. Von allen Feuern erklangen Heilrufe und markdurchdringende Jauchzer, welche die Thüringe vom Walde gewaltiger auszustoßen wußten als andere Helden.

»Mich wundert, daß diese hier so sanft sind und sich ganz ohne Messer ergötzen«, bemerkte Gerhard im Durchschreiten zu seinem Dienstmann, »sonst waren sie behender, das Eisen von der Hüfte zu holen.«

»Die einander raufen wollen, springen jetzt noch über den Zaun ins Feld«, lachte der Dienstmann, »weil sie sich scheuen, ihre Hand unter das Beil zu legen. Später reißen sie wohl die Schranken nieder, dann klingen auch hier scharfe Weisen.«

Am Tor der Halle stieß Gerhard auf den Mönch, welcher, von zwei Dienern begleitet, den großen Zinnbecher trug, in welchem St. Wigbert an diesem Feste ansehnlichen Gästen den Ehrentrunk bot. Diese Spende war den Herren der Halle die wichtigste Handlung des Abends, denn stets empfing der zuerst den Becher, welcher seinem Geschlecht nach der Edelste war. Viele der stolzen Herren erhoben den Anspruch und fühlten Eifersucht gegen andere, darum schuf der Becher jedes Jahr, wenn nicht zufällig einer von den höchsten Herren des Reiches anwesend war, dem bevorzugten Geschlechte Händel und Feindschaft. Gerade deshalb war der Vortrunk um so ehrenvoller. Der Mönch stand mit dem Becher in der Mitte der Halle, segnete den Wein und begann: »Da unter den edlen Herren, welche St. Wigbert begrüßt, niemand dem Königsgeschlecht der Sachsen angehört, so reiche ich den Becher heut dem [] Helden aus dem ältesten Geschlecht der Thüringe.« Und er trug den Becher zu Odo. Einzelne Stimmen riefen Beifall, aber lauter war das mißfällige Gemurr und Geschrei. Die Gegner steckten die Köpfe zusammen und fuhren von ihren Sitzen. Odo aber erhob sich, trank der Versammlung Heil und reichte den Becher seinem Bruder Ortwin. Da rief Graf Gerhard, den die anderen zu ihrem Wortkämpfer gewählt hatten: »Sehr ungeschickt ist die Wahl des Mönches und eine Kränkung für uns alle. Einen Jüngling hat er zum Vortrunk gerufen, während hier nicht wenige sitzen, deren Haar im Rat und Kampfe ergraut ist.«

»Eure Klage nenne ich ungerecht«, rief Odo zurück, »denn nicht den jungen Krieger soll der Trunk ehren, sondern das Geschlecht, für welches ich hier als Ältester stehe.«

»Wir aber vermögen nicht die Ehren deines Geschlechtes zu rühmen«, entgegnete Gerhard. »Haben deine Ahnen auch hier und da das Schwert mannhaft geschwungen, was keiner von uns ableugnet, so führt ihr doch kein Banner, welches der König euch in die Hand gelegt hat, wie wir anderen, die wir als Herren das Schildamt üben. Und wenn ihr auf eure edle Herkunft pocht, so wisset, daß man hier und anderswo euren Bauernadel belacht.«

Die jüngeren Brüder sprangen von ihren Sitzen, und Odo rief: »Wenn der König unsere entlaufenen Knechte mit Lehen und mit einem Banner begabt, so rühmen sich die Knechte, große Herren zu sein. Wir Bauern aber meinen, der König kann zum Grafen und Markgrafen ernennen, wen er will, aber niemanden zu einem Edlen.«

»Euch aber«, rief Graf Gerhard wieder, »haben die Mönche zu Edlen gemacht, ja man sagt auch, daß sie euch in der Stille zu kleinen Königen gekürt haben, nur daß man nicht laut davon reden darf.«

Odo schlug an sein Schwert. »Ich erkenne, daß Ihr selbst Lust habt, von dem Königsstabe, den wir in der Hand führen, die Belehnung zu erhalten.«

Da erhob sich wieder der Hauptmann von St. Wigbert und rief mit mächtiger Stimme durch die Halle: »Übel fügen sich heiße Worte zu starkem Trunk, ich rate, daß ihr beide in dieser Nacht euren Wortkampf stillt, morgen aber, wie euch Herren gebührt, an Versöhnung denkt oder an Schwertschlag.«

Aber Gerhard fuhr eifrig fort: »Nicht wir andern haben den Unfrieden begonnen, sondern diese, vorhin, als sie hier eintraten. Und es ist wohlbekannt im Lande, daß ihr sogar untereinander nicht Frieden halten könnt. Schon zur Zeit eurer Väter raunte man im Volke mancherlei von der Brudertreue, welche die Männer eures Geschlechtes einander beweisen, und jetzt hören wir wieder, daß ihr eurem ältesten Bruder Unheil gesonnen habt, so daß dieser als ein fahrender Recke in der Welt herumschweift.«

[]

Da winkte Odo finster dem jungen Gottfried, daß dieser vor den versammelten Edlen seine erste Kampfprobe ablege, denn er war schneller Worte mächtig. Und in der Stille, welche dem kränkenden Vorwurf des Grafen folgte, sprang Gottfried vor und rief laut:

»Eure Rede ist unwahr, Graf Gerhard, nie haben wir gegen unseren Bruder Immo Untreue erwiesen, und jetzt leben wir in großer Sorge um den Abwesenden. Deshalb ersuche ich Euch, daß Ihr die Kränkung zur Stelle widerruft.«

»Ein Hähnchen höre ich krähen«, versetzte der Graf lachend.

»So vernehmt, ihr edlen Herren«, fuhr Gottfried fort, »daß ich vor euch allen den Grafen Gerhard einen Verleumder nenne, und überall außerhalb des Marktfriedens will ich mit meinen Brüdern das an seinem Leib und Leben erweisen, wo ich ihn treffe.« Er löste seinen Handschuh und warf ihn vor den Grafen, dieser aber stieß verächtlich mit dem Fuß daran.

Da flog ein anderer Eisenhandschuh zu dem kleinen des Jünglings Gottfried; und von dem Eingang her rief eine tiefe Stimme:

»Nehmt auch den meinen.« Ein hoher Krieger schritt auf den Grafen zu, dieser fuhr zurück wie vor einem Geiste, als er die zornige Entschlossenheit in einem wohlbekannten Antlitz sah, und vermochte nur zu antworten: »Dich habe ich hier nicht erwartet, und dich habe ich nicht gemeint, Held Immo.«

Als er den Namen nannte, der heut in aller Munde war, regten sich die Anwesenden, viele sprangen auf und drängten heran, um den Helden zu sehen. Immo aber wies auf die Fehdezeichen:

»Widerruft die Kränkung und gebt vor allen Edlen meinen Brüdern ihre Ehre, oder nehmt den Streit auf auch mit mir.«

Gerhard blickte scheu auf den neuen Gegner: »Du selbst magst wissen, Immo, daß ich ungern gegen dich kämpfe, wenn ich an Vergangenes denke; und du weißt auch, daß meine Ehre mir nicht gestattet, Kampfesworte, die vor den Edlen gesprochen sind, zu widerrufen.«

»Ob wir Gutes oder Arges in vergangener Zeit miteinander gehandelt haben«, versetzte Immo, »das alles sei vergessen in dieser Stunde. Als Sohn meines Geschlechtes stehe ich dir gegenüber, und Abbitte fordere ich von dir, oder ich suche an deinem Leben die Rache.«

Da rief Gerhard mit querem Blick: »Meine nicht, mir durch dein stolzes Drohen den Willen zu beugen, ich widerstehe dir, wenn du auch jetzt auf deinen Goldschatz vertraust«; und die Handschuhe vom Boden hebend und auf den Tisch werfend, rief er: »Du denke daran, wenn du den Schaden trägst, daß nicht ich die Fehde gefordert habe, sondern du. Und darum sei Unfriede zwischen uns statt Friede, sobald wir den Schranken den Rücken kehren, und Kampf sei um Leib und Leben, Gut und Habe zwischen mir [] mit meinen Helfern und dir mit deinen Helfern.« Er wandte sich trotzig ab, setzte sich zu seinem Genossen Markwart und verhandelte leise mit diesem. Immo trat zu dem Tisch der Brüder, und den Jüngling Gottfried küssend, sprach er: »Ich grüße euch, meine Brüder. Gewährt mir einen Sitz in eurer Mitte und einen Trunk aus eurem Becher, damit die Fremden erkennen, daß sich die Söhne Irmfrieds in der Not nicht voneinander scheiden.«

Die Brüder rückten zusammen, Ortwin trug ihm den Stuhl, und Odo goß ihm den Trank ein, der Stolz wehrte ihnen zu reden, und sie saßen schweigend beieinander. Doch von den anderen Tischen eilten Bekannte des Geschlechts mit den Trinkkannen heran, den Helden zu begrüßen, und er stand, von vielen umgeben, und antwortete auf die neugierigen Fragen. Aber sein Blick flog prüfend durch den Raum und nach dem Tische des Grafen Gerhard, bis er an der Tür seinen Vertrauten Brunico erkannte, da winkte er diesem und trat mit ihm zur Seite in heimlichem Gespräch.

Brunico drängte sich hinaus ins Freie; nicht lange, so klang in dem Gewirr von vielerlei Tönen ein neuer Gesang, ähnlich dem Quarren eines Frosches; bald hier, bald dort schrie einer aus dem Volk der Langschenkel, so daß die Leute einander lachend fragten; »Ist auch der brüllende Held Reginheri in seinem Sumpf erwacht?« Doch als sich der Froschgesang auf einer Stelle außerhalb der Schranken vereinte und mit einem lauten Heilruf endete, da dachten die anderen, daß dies ein Zeichen übermütiger Genossen war, welche miteinander zu den Bergfeuern ausschwärmten.

Die Helden in der Halle aber, welche nicht selbst der Fehde teilhaftig waren, freuten sich, daß der Festabend so rühmlich verlief und daß man davon im Lande singen und sagen würde. Sie saßen jetzt friedlich bei ihren Kannen, denn ihr Gemüt war erfrischt wie die Flur nach einem Gewitter.

Plötzlich klang in das wilde Geschwirr des Marktes ein Klageschrei und der Ruf nach Rache. Der Gesang verstummte, die Pfeifer und Fiedler setzten ab, die Krämer liefen zur Abwehr vor ihre Bänke und warfen mit ihren Knechten die Waren schnell in die geöffneten Kasten. In die Halle sprang ein verstörter und blutender Mann und schrie: »Die Hunde des Bonifazius sind über das Wasser gedrungen, einer von uns liegt erschlagen, rächet den Schaden, ihr Wigbertmannen.« Und unter die verstörten Haufen springend, rief der Mann dieselbe Klage. Da schwand die Freude in wildem Zorn, die Frauen wichen in das Dunkel zurück, die Männer fuhren zusammen, rissen flammende Brände aus den Feuern und stürmten dem Flusse zu. Vergebens sprengte der Vogt mit seinen Mannen dazwischen und schrie den Frieden aus, die Wütenden lösten die Halteseile der leeren Kähne und drängten sich hinein, mancher Wilde sprang ins Wasser und rang sich hinüber [] auf die Seite der Fuldaer. Dort stürmten Bewaffnete entgegen, um die Einbrecher in die Flut zu werfen, und dicht am Ufer entbrannte der Kampf. Aber neue Haufen folgten über den Fluß, auf Tonnen und Bänken suchten sie durch das Wasser zu schwimmen; die Fuldaischen wurden rückwärts gedrängt, die rote Lohe flammte an dem Holzhaus, über welchem das Banner des heiligen Bonifazius wehte, und das Banner selbst verschwand in den aufsteigenden Flammen.

Auch die Herren in der Halle waren an das Ufer geeilt, die einen in bitterer Sorge, die anderen schadenfroh. Da sprach Immo zu seinen Brüdern, und es waren die ersten Worte, die er seit dem Eintritt mit ihnen wechselte. »Gefällt es euch, Söhne meines Vaters, so reiten wir. Laßt euch nicht beschweren, wenn ich euch begleite; denn ich merke, andere sinnen darauf, uns außerhalb des Friedens zu treffen.«

Und Odo antwortete mit derselben Zurückhaltung: »Da der Unfriede uns alle angeht, so sei auch die Abwehr und der Angriff gemeinsam.« Sie verließen zu sammen die Halle und eilten zu ihren Rossen. Erstaunt fanden die Brüder Immos, daß bei ihren Knechten und Rossen eine reisige Schar von Landleuten aus den freien Dörfern hielt.

Nicht lange nachher knarrten die Räder beladener Wagen auf dem Wege, welcher zwischen dem Leinbach und einem Waldhügel nach der Mühlburg führte. Nur zwei Reiter bildeten die Bedeckung, die Knechte hatten Mühe, die Pferde in dem aufgeweichten Wege bergan zu treiben, sie schrien laut und knallten mit den Peitschen. Endlich kam an einer kleinen Steile der Zug ganz in das Stocken. Da rasselte und klang es im Holz, eine Anzahl Reiter sperrte die Straße und warf sich gegen die Wagen. Die berittenen Wächter flohen ohne Kampf talab, auch die Knechte sprangen flüchtig dem Bach zu. Als Graf Gerhard heransprengte, war das Werk getan, die Wagen im Besitz seiner Reisigen. Er lachte und rief: »Leichten Kaufes wurde großes Gut in ehrlicher Fehde gewonnen. Lenkt die Wagen seitwärts in das Holz, treibt, meine Mannen, in einer Stunde haben wir es hinter Wasser und Mauer geborgen.« Die Pferde wurden einen Waldweg bergan geführt, sie schritten jetzt rüstiger als vorher, und der Graf brummte vergnügt vor sich hin. »Ich hörte zuweilen rühmen, junger Immo, daß dein Schwert gut schneidet, aber in Listen bist du schwach, und der Alte hat dir behende abgeführt, worauf du mit trotzigem Mute vertrautest.« Der Zug betrat eine kleine Lichtung des Waldes, welche in hellem Mondschein lag, umgeben von dichtem Niederholz, dessen laublose Äste die lichte Stelle mit dunklem Grau einfaßten. Da flimmerte es in dem Holze hier und da wie von blankem Eisen, die Reiter, welche die Vorhut bildeten, jagten zurück und meldeten atemlos, daß der [] Weg durch Gewappnete versperrt sei; auch hinter der kleinen Schar des Grafen klang ein Kriegsruf, Hörner und laute Stimmen antworteten, und mit Erstaunen sah der Graf sich rings eingehegt durch Fußvolk und Reiter. Er riß die Pferde des vordersten Wagens herum auf die Mitte der Waldwiese und gebot den Reisigen, einen Ring um die Wagen zu ziehen. Er umritt seinen Haufen, hob den Speer und erwartete mutig den Anlauf.

Aber der Angriff erfolgte nicht. Den ganzen Rand der Lichtung hielten schnellfüßige Knaben umstellt, auf dem Wege stampften die Rosse der Gegner, und man vernahm ein Rollen und Dröhnen, als ob Baumstämme gewälzt würden. Jenseits des Weges zog sich ein offener Wiesengrund dem Gebirge zu, dort hatten die Dorfleute der Umgegend einen mächtigen Holzstoß getürmt, welcher in dieser Nacht als Freudenfeuer aufflammen sollte. Um den Stoß schwebten die Schatten, er wurde zusehends kleiner. »Herr«, warnte den Grafen sein vertrauter Dienstmann »sie sperren die Wege, denn durch das Niederholz vermögen unsere Rosse schwerlich zu dringen. Brecht durch, bevor sie uns einhegen.«

»Soll ich den Schatz im Stich lassen«, fragte der Graf unwillig, »was in den Wagen liegt, gibt Gold und Ehre für euch alle«, und er schrie hinüber zu den feindlichen Reitern: »Was säumen die Helden, heranzusprengen, offen ist das Kampffeld. Trotzige Worte hörten wir in der Halle, hier aber, merke ich, schlottern euch die Beine im Bügel.«

Da rief Brunico zurück: »Schlecht kämpft sich's im Waldesdunkel, harret noch ein wenig, bis wir euch die Osterfeuer anzünden.«

»Brecht durch, Herr«, rief der Vertraute aufs neue, »denn sie schichten das Holz auf der Wegseite zu einem Walle.«

»Pfui über dich, Immo«, rief der Graf, in dem jetzt die Sorge mächtig wurde, »unritterlichen Brauch übst du, ich harre deiner, komm heran und schlage dich um den Schatz.«

Immo rief zurück: »Auch euch war der Pfad zum Kampfe geöffnet, allzulange habt ihr euch um die Tonnen gedrängt, jetzt rate ich, mit uns in Bauernweise den Festbrauch zu üben. Die Flammen lodern, schwingt euch zum Tanze über die Scheite.« Eine kleine Flamme leckte auf, die zweite, die dritte, bald sperrte das Feuer wie ein Wall die Belagerten von dem Wege ab. Aber auch längs dem ganzen Rande des Niederholzes leuchteten die Funken, jeder der Knaben, welche dort die Wache hielten, schwenkte Kienfackeln, denen gleich, womit sich die Dorftänzer auf den Bergen um die Flammen drehten; und jeder schleuderte mit wildem Geschrei und Jauchzen die lodernden Brände gegen die Rosse der Belagerten. Die Rosse scheuten und stiegen, die Reiter selbst, entsetzt über das feurige Gefängnis, vermochten der wütenden Tiere [] nicht Herr zu werden, mehr als einer wurde abgeworfen und lag ächzend am Boden. In diesem Augenblicke brachen die Söhne Irmfrieds mit ihrer Schar wie ein Wettersturm durch die Flammen, im Nu waren die Helfer des Grafen überrannt, gefangen und gebunden. Der Graf selbst schlug tapfer mit dem Schwert um sich, aber durch eine mächtige Faust wurde er am Nacken gepackt und von seinem Rosse geschwenkt, daß er schwertlos auf den Boden fiel. »Ergebt Euch, Gerhard«, rief Immo, »gelobt, als mein Gefangener zu folgen, damit ich Euch die Schmach der Weiden erspare.« Betäubt gelobte der Graf.

In wenig Augenblicken war das Werk getan, behend rannten die Thüringe, die flüchtigen Rosse der Gebundenen einzufangen. Sie bändigten die Pferde an den Lastwagen und zerwarfen das Holz des brennenden Walles, und nachdem sie sich auf ein Zeichen Brunicos mit hellem Jubelruf um die Brüder gesammelt hatten, brach der ganze Zug mit den Wagen und den Gefangenen nach der Mühlburg auf.

Längs der Freudenfeuer, welche überall auf den Hügeln und um die Dörfer flammten, zogen die Sieger jauchzend und singend dahin. Es war tief in der Nacht, als sie in die Burg kamen. Immo, der während der Fahrt sich von den Brüdern ferngehalten hatte, ritt jetzt zu ihnen, als sie im Hofe auf den Rossen hielten, und sprach grüßend: »Seid willkommen im Hause unserer Väter, nehmt vorlieb mit karger Bewirtung, denn erst beim Licht der letzten Sonne ist der Wirt aus der Fremde heimgekehrt. Gefällt es euch, so enden wir unseren Handel mit den Gefangenen noch während der lustigen Nacht, wie er begonnen wurde.«

»Du warst beim Sprung um die Scheite der Vortänzer«, versetzte Odo lächelnd, »wir vertrauen, daß du auch gegen die Gefangenen unser Recht wahren wirst.«

Im Hofe der Mühlburg wurde ein großes Feuer entzündet und herbeigeholt, was der Vogt aus dem Keller zu liefern vermochte. Kräftig tranken die Thüringe, und auch den Gefangenen, welche kummervoll auf den Stufen der Halle kauerten, wurden die Kannen geschwenkt. In der Halle aber saßen die Söhne Irmfrieds mit ihren Dienstmannen und die Landleute von der Nesse, unter ihnen mit gebeugtem Haupt der waffenlose Graf. Da rief Immo ihm zu: »Hebt den Becher, Graf Gerhard, und trinkt trotz Eurer Not. Einst lag ich als Gefangener in Eurem Turm, da ludet Ihr mich in Eure Halle und botet mir den Trunk an Eurem Tisch. Heut tue ich Euch mit Freuden dasselbe zur Vergeltung.«

»Ich lobe dich, Immo«, antwortete der Graf trübe, »daß du in dieser Stunde an den Wechsel des Glückes denkst, beide haben wir ihn seit jenem Abend in der Halle erfahren. Vergiß auch nicht, daß dem Sieger eine Ehre ist, Maß zu halten in allem, was [] er dem Gefangenen auflegt. Behandelt mich mit Billigkeit, ihr edlen Herren, denn glaubt meiner Erfahrung, die ich mir zu meinem großen Kummer erworben, wer allzuviel für sich begehrt, fühlt zuletzt selbst den Schaden.«

Immo versetzte ernsthaft: »Meine Brüder und ich, wir sind Herren geworden über Euren Leib und Euer Leben, und wir vermögen Euch jetzt zu zwingen durch Haft und Bande und zu schatzen an Habe und Gut, weil Ihr wider die Wahrheit und wider eigenes Wissen das Ansehen und die Ehre unseres Geschlechtes mit gehässigen Worten angefeindet habt. Dennoch sollt Ihr erkennen, daß die Söhne Irmfrieds gegen einen bezwungenen Feind Billigkeit üben. Eure Zunge hat Euch in Unfriede gebracht, Eure Zunge soll Euch auch den Frieden wieder gewinnen, wenn Ihr sie weise gebraucht, solange die Thüringe sich in dieser Nacht um die Festfeuer schwingen.«

In dem Grafen erwachte eine frohe Hoffnung, und er rief: »Sage mir, was ich reden soll, damit ich mich aus der Not löse.«

Und Immo fuhr fort: »Wollt Ihr Abbitte tun wegen aller kränkenden Worte und wollt Ihr mit allen Euren Helfern schwören, nichts von dem, was in dieser Nacht gegen Euch gesagt und getan worden ist, an uns oder einem unserer Helfer zu rächen, sondern in Zukunft Frieden und guten Verkehr zu bewahren, so mögt Ihr mit unseren Gefangenen, mit Waffen und Rossen, frei und ledig von hinnen reiten, sobald der erste Sonnenstrahl unsere Dächer bescheint.«

Graf Gerhard sprang erfreut in die Höhe und rief: »Wahrlich, Immo, manchen Beweis deines guten Verstandes habe ich erhalten, aber diesen will ich dir niemals vergessen. Ich bin bereit zu allem, was du von mir verlangst, zu Abbitte und Gelöbnis.«

»Wohlan«, gebot Immo, »ladet jeden in die Halle, der jetzt im Hofe weilt, zuletzt die Gefangenen. Und mit diesen werdet Ihr Euch barhaupt und stehend demütigen.«

Ein Hornzeichen rief die Gäste und das ganze Gesinde zusammen, und als alle versammelt waren, führte Immo den jungen Gottfried auf den Ehrensitz, und zu diesem sprach der Graf barhaupt die Abbitte: »Alles, was ich gegen Ehre und Ansehen deines Geschlechtes jemals gesagt und getan habe, das sei ungesagt und ungetan, alle edlen Rechte erkenne ich ihm zu und auch den Vorsitz und Vortrunk. Denn wisset, ihr Herren, wenn ich auch manchmal im Ärger anders sprach, immer habe ich das Geschlecht Irmfrieds vor anderen hochgeschätzt. Und ich bin bereit, nachdem ich Vergangenes abgebeten habe, alles Gute für die Zukunft zu geloben, nicht nur weil ich in Not bin, sondern auch weil ich merke, daß dies in Wahrheit meines Herzens Wunsch ist.«

[] Als der Graf dies nach Gebühr vollendet hatte und seine Worte durch die anderen Gefangenen bestätigt waren, wurde er mit ihnen in die kleine Kapelle vor den Altar geführt, dort gelobten die Helden für alle Zukunft, jedem Rachegedanken zu entsagen. Darauf ward der Graf auf den Ehrensitz in der Halle geleitet, und jetzt trat Gottfried vor und bot ihm den Friedensbecher. Gerhard tat einen tiefen Trunk und seufzte, aber er wurde mild und froh, ja er lachte ein wenig über sein Unglück und sprach allerlei Vertrauliches zu Immo.

Beim Aufgang der Sonne wurden die Rosse der Gäste vorgeführt, und Immo geleitete den Grafen selbst in den Hof. Als dieser aufsteigen wollte, sah er die beladenen Wagen, und mit einem sehnsüchtigen Blick sprach er zu Immo: »Hätte ich diese in ehrlicher Fehde gewonnen, so würde ich fortan meinen Met aus goldenem Becher trinken.«

Da antwortete Immo: »Eifrig habt Ihr darum geworben und als ein Held euer Leben dafür gewagt. Wisset, Ihr habt gefochten wie der alte Hildebrand, um wollene Decken, welche die Sachsen mit guter Kunst verfertigen, und zumeist um den gesalzenen Seefisch, welchen die Leute den Hering nennen.«

Als die Entledigten abgezogen waren, dankte Immo mit freundlichen Worten die Landleute ab, welche als freiwillige Helfer herangeritten waren. »Da die Gefangenen gegen den Gebrauch kein Lösegeld gezahlt haben und auf ihren Rossen davonreiten, so nehmt dafür mit meinem Dank einen Teil der Waren aus dem Sachsenland, welche ihr wiedergewonnen habt; nicht als Entgelt, sondern zur Verehrung.« Das waren die Nachbarn wohl zufrieden, und Immo gebot dem Brunico, einen billigen Anteil auszuscheiden. Diesen luden sie vergnügt auf einen Karren und schieden mit Heilruf zu ihren Dörfern.

Die Entführung

In der Halle standen die Brüder zum Aufbruch gerüstet, als Immo ihnen entgegentrat. »Den großen Goldschatz der Räuber hat der fahrende Mann mir angelogen, doch brachte ich reiche Beute und die Gastgeschenke der Sachsen heim; nicht die Wasserrosse führten meinen Kampfgewinn der Mühlburg zu, sondern die Packpferde, welche Brunico leitete. Für euch, Söhne Irmfrieds, sind die Ballen geöffnet, damit ihr daraus wählet, was jedem von euch gefällt, und ich bitte euch, diese Gabe anzunehmen anstatt der Schatzung, die ich den Gefangenen erließ, ohne euch zu fragen.«

»Solches Angebot ist gebührlich gegen Fremde, nicht gegen die Genossen des eigenen Geschlechts«, antwortete Odo finster, und [] Ortwin rief: »Du tust uns weh, wenn du uns Gold bietest, wo wir brüderlichen Gruß erwarten.«

Da flog helle Freude über Immos gramvolles Angesicht. »Wollt ihr freundlich zu mir reden und brüderlich gegen mich handeln, so wißt, meine Brüder, daß mein Herz sich viele Jahre nach eurer Liebe gesehnt hat. Schon im Kloster fühlte ich traurig unter Fremden die Einsamkeit und dachte mich täglich heim in eure Mitte, und auch jetzt unter den Gastfreunden vermochte ich nicht die frohen Spiele ihrer Knaben zu sehen, ohne daß sich mir das Herz in Gram zusammenzog. Denn wie ein Ausgestoßener lebte ich, weil mir eure Freundschaft fehlte. Begehrt ihr, liebe Knaben, daß ich euch brüderlich begrüße, so springt heran wie einst, denn die Arme des Bruders sind geöffnet, euch zu empfangen.«

Ortwin warf sich um seinen Hals und küßte ihn, und wie er taten die jüngeren, nur Odo stand zur Seite. Gottfried aber ergriff Immos Hand und legte sie in die Hand des andern. Odo drückte sie und begann: »Der Zorn ist geschwunden mit dem grünen Laub dieses Sommers, beide wollen wir vertrauen, daß in dem neuen Lenz unter uns sieben sich die Treue bewähre.« Und auf Gottfried weisend, fuhr er fort: »Du siehst, wir haben ihn gewappnet, und da du zu uns zurückgekehrt bist, vermögen wir jetzt in Frieden das Erbe zu teilen. Vor einem Jahre widerstand ich dir, als du das Recht des Ältesten fordertest, fortan bin ich gleich meinen Brüdern bereit, dir zu folgen, wenn du uns führst.«

Aber Immo rief mit ausbrechender Leidenschaft: »Leite du die Brüder und bewahre du die Ehre des Geschlechtes, denn ich kehre nicht zurück, um in Frieden unter euch zu leben. Ein großes Leid berge ich in meinem Herzen, und mein Leben muß ich wagen in wilder Tat, noch bevor die nächste Sonne aufgeht. Wisset, der Tochter des feindlichen Mannes, den wir heute demütigten, habe ich heimlich mein Leben gelobt, der König aber will sie schleiern, ob es ihr und dem Vater lieb oder leid sei. Bevor sie morgen früh zu Erfurt die Klosterschwelle betritt, hole ich sie auf die Mühlburg, was mir auch darum geschehe. Dem Zorn des Königs trotze ich, und dem Rechte des Landes widerstehe ich, um sie zu erwerben, denn ohne sie ist mir mein Leben verhaßt.«

Die Brüder sahen betroffen einander an. »Zu früh habt ihr mich brüderlich begrüßt, ihr Söhne Irmfrieds«, fuhr Immo heftig fort, »mich wundert nicht, wenn ihr euch von mir abwendet wie von einem Kranken, dessen Berührung Unheil bringt. Meint auch nicht, daß ich euch mahnen will an die Hand, die ihr mir jetzt gereicht habt, und an den brüderlichen Kuß. Denn eure Hilfe bei der Tat fordere ich nicht, den Raub wage ich wohl allein mit denen, die sich mir gelobt haben. Euch aber sage ich vorher, was ich tun werde, damit ihr mir tröstlich seid, soweit ihr es vermögt, ohne [] euch zu verderben. Doch nein, liebe Brüder«, unterbrach er sich selbst, »aus Klugheit und Vorsicht hätte ich's euch nimmer bekannt, aber eure Freundlichkeit hat mir die Seele weich gemacht. Denn Sommer und Winter habe ich die Last allein getragen. Selig macht der Gedanke an das geliebte Weib, aber furchtbar quält die Angst, sie zu verlieren, und man che Nacht habe ich in der Fremde auf meinem Lager die Faust geballt oder kindisch geweint, wie mir jetzt geschieht.« Er wandte sich ab, hielt die Hände vor das Antlitz, und sein starker Leib bebte im Krampf.

Es war totenstill in der Halle. Endlich begann Odo: »Wenn unsere Eltern einen Rat hielten, der ihr Wohl und Wehe anging, so saßen sie vertraulich nebeneinander am Herdfeuer nieder. Führe auch du uns zum Herde der Burg, an dem unsere Vorfahren beraten haben, damit wir die Flamme aufzünden. Dort erzähle du uns von dem Weibe, welches dir lieb wurde, und wie alles gekommen ist bis heut, damit wir es wissen, denn auch das ist ein Recht der Deinen.«

Da führte Immo die Brüder über den Hof zu dem Flur des Saales, worin der Herd stand, er entzündete das Feuer und schloß die Tür. Die sieben Brüder lagerten am Herde, und Immo begann leise seinen Bericht, zuerst, wie Hildegard unter den Buchen sein Geselle wurde, und wie er ganz plötzlich sich glückselig fühlte, und darnach alles andere. Und er zeigte ihnen auch das Pergament mit den Goldfäden, welches alle betrachteten, während er es in seiner Hand hielt, bis er es wieder im Gewande barg. Die stolzen Knaben Irmfrieds vernahmen vorgebeugt mit leuchtenden Augen die Kunde, welche auch ihr Leben nahe anging, und Gottfried saß zu den Füßen des Bruders, hielt die Hände über dem Knie desselben gefaltet und blickte ihm unverwandt in das bewegte Antlitz, während Odo zuweilen einen neuen Span in das Feuer legte. Immo aber wurde froh, daß er von Hildegard erzählen durfte, und lachte dabei treuherzig wie ein Kind. Er schilderte ihr Aussehen und ihre Art, so daß sie auch seinen Brüdern gefiel, obwohl sie die Tochter eines wunderlichen Mannes war.

Als Immo geendet hatte und alle in warmer Teilnahme schwiegen, begann Odo nachdenkend: »Sage uns, welche Meinung hat Graf Gerhard zu dir?«

»Du kennst ihn ja auch«, versetzte Immo, »daß er hastig nach jedem Vorteil züngelt und schmeichelnde Worte nicht spart; aber ich fürchte, im Grunde seines Herzens ist er mir abgeneigt, da er schon mit unserem Vater in Unfrieden lebte.«

Odo nickte. »Klein ist der Funke, welcher ein großes Feuer entzündet, auch uns bedroht die Flamme. Gegen dich stehen der König und der Erzbischof, das Recht des Vaters und der Friede der Stadt, und es wird ein Kampf gegen große Übermacht um Gut und Leben, [] für ich und deine Helfer. Aber der König ist, wie wir hören, auf dem Wege nach Italien, das Recht des Erzbischofs beginnt erst mit dem nächsten Morgen, das Recht des Vaters werden wir alle ungern ehren, und wegen des gebrochenen Stadtfriedens werden die Erfurter vielleicht mit sich handeln lassen, zumal wir selbst einen Hof in ihren Mauern haben. Doch, wenn auch all diese Hoffnung trügt, hartnäckiger Wille eines Mannes vermag viel. Und zuletzt hast du noch deine Brüder. Denn ich denke nicht, daß diese hier den Bruder in der Not verlassen werden.«

Da sprangen die Jüngeren alle in die Höhe, zuckten an den Schwertern und riefen: »Nimm den Schwur.« Und Odo fuhr fort: »Lüfte dein Schwert, mein Bruder, damit wir alle unsere Hände zugleich darumwerfen. Während das Herdfeuer lodert und das Dach unseres Hauses uns bedeckt, geloben wir, dir mit Leib und Leben, Gut und Ehre zu helfen, damit du die Braut heimführst. Denn wir alle wissen, daß wir im Tode zu dir gehören, wie du zu uns.«

So schworen die Sieben sich zusammen und küßten einander am Herdfeuer. Danach setzten sie sich wieder zu geheimer Beratung.

Eine Stunde darauf ritten die Brüder den Mühlberg hinab, Immo mit Gottfried nach der Stadt Erfurt, die anderen nach dem Herrenhofe. Immos Seele hob sich in neuer Hoffnung, als der warme Frühlingswind um seine Wangen wehte, und als der Bruder, welcher ihm am vertrautesten war, ihn immer wieder an der Hand faßte und durch seine vertraulichen Fragen lockte, von Hildegard zu reden. Sie ritten durch das offene Tor in die große Marktstadt, die der ganzen Landschaft für ein Wunder galt, obgleich sie in vielem einem ungeheuren Dorfe ähnlich war. Denn hölzern waren die Häuser, neben den meisten öffnete sich ein Hoftor, durch welches man auf die Dungstätte und die Ställe sah, die Gänse wateten durch den Kot der Gassen, und das Borstenvieh lief schonungslos umher. Aber die Mauern und Tortürme ragten gewaltig, von den großen Kirchen und Kapellen läuteten fast den ganzen Tag die Glocken, auf den Marktbänken der freien Plätze war eine unendliche Fülle begehrenswerter Sachen zum Verkauf gestellt, und wer selten nach der Stadt kam, der wurde nicht müde, nach der Heimkehr von dem Unerhörten zu erzählen.

Diesmal achteten die Helden wenig auf die Waren und wenig auf die stattlichen Männer und Frauen, welche in den Gassen ihren Geschäften nachgingen, sie stiegen in dem Hofe ab, der dem Geschlecht seit alter Zeit gehörte, und eilten zu Fuß nach dem Hause des Goldschmieds.

Der Hof Herimans war leicht kenntlich durch das große Wohnhaus, welches sich neben dem verschlossenen Hoftor erhob. Denn ein Stockwerk ragte über dem Flur vorspringend in die Straße und [] trug noch einen Giebel mit mehreren Bodenräumen. Schon auf der Straße vernahm man Hammerschläge; als Immo das Gatter öffnete, welches bei Tage den unteren Teil der Türöffnung verschloß, fand er im Hausflur einen schlanken Knaben im Schurzfell, der mit Raspel und Feile an einem Metallgerät arbeitete. Auf die Frage nach dem Herrn führte der Knabe eine kleine Treppe hinauf in den hinteren Teil des Hauses, wo die Werkstatt des Goldschmieds sich nach dem Hofe öffnete. Heriman saß mit seinem Knappen über der Arbeit, im Takte schlugen die kleinen Hämmer, um glänzendes Silberblech zu runden. Als er die beiden Krieger im Kettenhemd erkannte, sprang er auf, warf den Hammer in eine Ecke, fuhr sich heftig durch die wallenden Haare, und über sein mannhaftes Gesicht flog ein Schatten von Besorgnis. Aber er bot mit ehrlichem Gruß seinen Gästen die Hand und geleitete sie aus der Werkstatt nach dem oberen Stockwerk. Durch die Lichtöffnungen der verschlossenen Läden fielen die Sonnenstrahlen in ein großes Zimmer, auf viele Truhen und Schränke und auf die schmale Bettstelle, in welcher Heriman selbst als Wächter seiner Waren zu ruhen pflegte. Während Gottfried sich neugierig nach dem Silber- und Goldgerät umsah, welches der reiche Goldschmied in seinem Hause verwahrte, stieß Heriman einen Laden auf, doch so, daß das Innere des Zimmers den Nachbarn gegenüber verborgen blieb, und rief: »Bei Tageslicht will ich mit Euch verhandeln, obwohl es ein nächtliches Werk ist, an welches Ihr denkt.« Er holte tief Atem und fuhr sich wieder durch das Haar. »Bevor Ihr mir's sagt, weiß ich, weshalb Ihr im Kriegskleide kommt, denn durch meine Base Kunitrud erfuhr ich, daß heute abend ein Gast in der Stadt einzieht, um den Ihr Sommer und Winter gesorgt habt.«

»Sie darf die Schwelle des Klosters nicht überschreiten; und ich will es hindern oder meinen Leib in euren Mauern zurücklassen.«

Heriman setzte sich auf einen Schemel und neigte betäubt das Haupt. Aber gleich darauf erhob er sich. »Ihr fordert, daß ich heut meine Schuld bezahle? Ihr sollt Euch in mir nicht geirrt haben, was mir auch darum geschehe. Doch bevor ich Euch meinen guten Willen erweise, frage ich: Ist es nötig, daß Ihr im Frieden der Stadt wagt, was Ihr tun wollt?«

»Sie kommt mit reisigem Gefolge ihres Vaters und des Erzbischofs. Ganz unsicher wäre das Gelingen bei einem Speerkampf auf offener Heide.«

»Dann also muß es hier sein. Sie rastet heut nacht im Hessenhofe, wo ihr Vater immer einliegt, ein Reisiger hat die Ankunft gemeldet. Morgen reitet der große Erzbischof in unsere Stadt, er selbst soll sie nach dem Willen des Königs den frommen Müttern zuführen. Noch andere Neuigkeit weiß ich: morgen früh wird die Heerfahne des Königs auf seiner Burg ausgesteckt, und die Boten werden durch das Land rennen, den großen Kriegszug nach dem Land Italien[] anzusagen. Denn der König will sich dort die Lombardenkrone holen. Das geht euch an wie uns alle.«

»Dieser Abend aber gehört noch mir«, versetzte Immo finster.

»Die Burgmannen sind in Bewegung wegen der Kriegsreise, heut abend werden die Straßen und Schenken gefüllt sein. Das mag Euch frommen oder auch hindern. Wollt Ihr Eure Hand um die goldene Spindel legen, die Euch im fremden Hause gehört, so müßt Ihr sie nicht nur aus dem Hause holen, auch sicher aus Tor und Mauer schaffen. Die Erfurter aber halten an ihren Toren gute Wache und fordern Zoll von jeder Ware, die aus- und eingeht.«

»Kannst du mir helfen, was mein ist, aus dem Hause zu schaffen, so trage ich's mit meinen Schwurgenossen unter den Schilden durch das Tor.«

Heriman schüttelte den Kopf. »Kommt Ihr mit einem Haufen, so findet Ihr hier einen größeren, und bringt Ihr ein ganzes Heer, so werfen Euch meine Mitbürger Speer und Axt, den Sturmgesang vom Turme und ihre Lärmhörner entgegen.«

»Nicht mit einem Heerhaufen gedenke ich auszubrechen. Nur sieben haben ihr Leben für die Tat gelobt, und zwei davon stehen vor dir.«

»Und Ihr wollt, daß ich der achte sei?« fragte Heriman, »reicht das Kreuz Eures Schwertes, ich bin bereit.«

Immo zog das Schwert und hielt den Griff in die Höhe, Heriman murmelte sein Notgebet, dann legte er die Schwurfinger auf das Kreuz und sprach die Worte, durch die er sich Immo gelobte. Seine Unsicherheit war geschwunden, er warf das Schurzfell von sich, holte Mantel und Mütze vom Haken, gürtete sein Schwert um und begann: »Vertauscht auch Ihr den Eisenhut mit dieser Mütze, ich hoffe, sie soll Euch passen, und schlagt den Mantel zusammen, damit Ihr den Nachbarn weniger auffallt. Euch aber, junger Held, ersuche ich, die Helmkappe des Bruders in der Herberge zu bewahren, während wir beide durch die Straßen gehen, denn zwei Wölfe sind nur ein Paar, aber drei eine Rotte. Ich geleite Euch zu dem Hofe, in welchem die Jungfrau heut nacht rastet, damit Ihr die Gelegenheit selbst erkennt, denn lichtlos wird am Abend Hausflur und Treppe sein; seht scharf um Euch und achtet auch auf Kleines.«

Sie verließen das Haus. Mit Mühe hemmte Immo in den Gassen seinen Schritt zu dem langsamen Gange, in welchem sich Heriman, seiner Würde gedenkend, bewegte. »Dies ist der Hessenhof«, murmelte Heriman, »der Wirt ist ein Mann des Erzbischofs, aber ein redlicher Nachbar.« Immos Blick achtete forschend auf die Umgebung und auf das Haus, welches dem des Goldschmieds ähnlich, nur kleiner war, und auf das Hoftor, durch welches man die Hintergebäude und Ställe sah. Sie traten in den Flur, stiegen unaufgehalten die Treppe hinan, fanden die Tür eines Zimmers offen und darin [] eine kräftige Frau, welche mit dem Besen umherfegte und den Heriman vertraulich grüßte. »Dies ist Base Kunitrud, die Witwe eines wackeren Burgmanns, sie ist dem Wirt dieses Hofes befreundet und steht seinem Haushalt vor. Dir aber, Base, führe ich den edlen Helden Immo zu, weil er deinem guten Gemüt vertraut, das ich ihm gerühmt habe, und einen Dienst von dir begehrt.«

»Auch wir in Burg Erfurt haben von Held Immo mancherlei vernommen«, antwortete Kunitrud geschmeichelt, »und ich gedenke vor allem der Guttat, die Ihr diesem hier erwiesen habt.«

»Um dir alles zu sagen, Base«, fuhr Heriman auf einen bittenden Blick Immos fort, »der Held trauert, wie du ihm leicht ansiehst, darüber, daß das Grafenkind geschleiert werden soll. Denn er hat sie im Hause ihres Vaters und auch sonst liebgehabt, wie die Art junger Leute ist; und darum möchte er ihr durch deinen Mund noch einen Gruß sagen, bevor sie bei den frommen Schwestern eingeschlossen wird.«

Kunitruds Augen glänzten von Neugier und Teilnahme. »Verliert nur nicht den Mut, edler Herr, ich habe mehr als eine Nonne gekannt, welche vom Erzbischof Urlaub erhielt und als ehrliche Hausfrau lebte mit Kindern, so drall wie die Äpfel. Denn in dem Erdgarten ist alles möglich, wenn man's nur erlebt.«

Während ihr Immo für die Teilnahme zu danken suchte, fuhren seine Augen rastlos um die offene Tür, das Türschloß und die Treppe. Beim Herabsteigen mahnte Heriman leise: »Achtet auf die ausgetretene Stufe, ein falscher Schritt mag den Erfolg verderben. Und jetzt schnell vom Hause weg und in gerader Richtung dem Tore zu, durch das Ihr entrinnen sollt. Einreiten müßt Ihr bei Tage, solange das Tor geöffnet ist. Eure Brüder sind hier wohlbekannt, und ihre Ankunft wird in der Aufregung des Tages niemand auffallen. Mit Sonnenuntergang wird das Tor gesperrt und den Ausreitenden geöffnet; wenn die Nacht so weit heraufgestiegen ist, daß die Bürgerglocke zum zweitenmal läutet und die Schenken geschlossen werden, dann wird auch die Brücke gehoben, und von da vermögt Ihr nur mit Heeresmacht hinauszureiten. Ihr müßt also die Tat zwischen Sonnenuntergang und dem zweiten Glockenklang vollbringen. Ich sende, wenn die rechte Zeit gekommen ist, meinen Knappen nach Eurem Hofe, ich selbst warte Eurer in der Nähe des Hessen. Und noch eins habe ich auf dem Wege bedacht«, fuhr Heriman fort, »gelingt es Euch nicht, zum Tor hinauszuschlüpfen, so müßt Ihr die Hälse wagen auf einem anderen Wege, den schwerlich jemand ohne Not wählt. Ein Stück der Stadtmauer ist verfallen, gerade jetzt bessern sie an dem Schaden, die Stelle ist nicht auf Eurem Wege, sondern nordwärts und nahe der Königsburg. Dennoch sollt Ihr sie beschauen, ob sie in der Not Euch Rettung gewährt.« Er führte vom Tore längs der Mauer zu einem wüsten Platz, unter Schutthaufen.

[] Die Trümmer der eingestürzten Mauerwand ragten aus dem Grabenwasser, und die Arbeiter hatten Bretter darübergelegt, auch an der Böschung der Außenseite sah man den Fußsteig, durch welchen sie aus und ein liefen.

»Lacht der Mond freundlich, so ist der Angstpfad wohl zu durchreiten«, entschied Immo. »Jetzt weiche von mir, Heriman, damit du dich nicht ohne Not gefährdest, denn deine Burgmannen werden bald mit Argwohn meiner gedenken.« Nach kurzem Gruß entfernte sich der Goldschmied, Immo eilte in die Herberge und sprengte gleich darauf mit dem Bruder aus dem Tor.

Eine gute Wegstunde von Erfurt lag unweit dem Grenzwall, welcher die Güter des Geschlechtes von der Stadtflur schied, ein Hügel, der, mit Eichen bewachsen, auf seinem Gipfel ein altes Blockhaus trug, in welchem die Jäger und Hirten zu rasten pflegten. Im Sommer war die kleine Lichtung von dichtem Schatten umhüllt, auch jetzt bot das Geflecht der Äste und Zweige ein sicheres Versteck. Zu dieser verborgenen Stelle hatte Immo die Brüder und die Getreuen von der Mühlburg geladen, wenn die Sonne die Mittaghöhe erreichen würde. Er fand bei seiner Ankunft Brunico mit den Waffen und frischen Rossen, und den Vogt der Mühlburg, welcher die letzten Befehle des Herrn empfangen sollte. Als Immo absprang und seinem Bruder Gottfried zunickte, erkannte er in dem erblichenen Antlitz des Jünglings die Erschöpfung, er hob ihn in seinen Armen vom Pferde und streichelte ihm die Wangen. »Zwei Tage und eine schlaflose Nacht im Eisenhemd waren für meinen Liebling zuviel, noch hast du Zeit, ein wenig zu ruhen, damit dir am Abende nicht die Kraft versagt.« Und mit freundlichem Zureden nötigte er den Widerstrebenden auf ein Lager von Waldheu, das er im Blockhaus breitete, er rückte ihm das Haupt zurecht und deckte ihn mit dem Wollmantel. Dann trat er ins Freie und blickte unverwandt nach dem Wege, der vom Herrenhofe herzulief.

Die Brüder stoben in ihrer Rüstung heran; als sie den Bruder auf der Höhe erkannten, wirbelten die jüngeren lustig die Speere. Odo führte sein Roß zu Immo und bot diesem den Zügel. »Nimm heut den Sachsen zurück«, sagte er, »denn die Braut, welche wir einholen, soll von diesem Tiere getragen werden, welches der Stolz des Hofes war. Die weiße Farbe ist gedeckt, damit es im Dunkeln nicht jedermann erkennbar schimmere.« Da schlang Immo den Arm um den Hals des Bruders und antwortete: »Die Gabe nehme ich nicht, edler Odo, denn größere Gunst fordere ich von dir selbst. Nicht meine Arme dürfen die Braut, um welche wir reiten, aus der Stadt tragen, sondern du selbst sollst es tun. Mir gebührt die Abwehr, der Kampf und die Nachhut auf der Flucht. Dir aber übergebe ich die Geliebte, daß du nur um sie sorgst und sie rettest, was uns anderen auch geschehe.« Da nickte Odo: »Es sei, wie du willst.«

[] Schweigend standen die Männer und schauten zuweilen durch die Baumäste nach dem Stand der Sonne. Endlich hob Immo den Arm nach dem Himmel, da neigten alle die Häupter und flehten leise zu den hohen Engeln um Rettung aus der Not, in welche sie ritten, dann traten sie an die Rosse. »Wo bleibt Gottfried?« fragte Odo.

Immo sprang in das Blockhaus. Der Bruder lag in festem Schlummer, er hielt die Hände gefaltet und lächelte. Als Immo das Kind so im Frieden liegen sah, wurde ihm plötzlich das Herz weich, er trat leise zurück, und zu den Brüdern kehrend, sprach er: »Er liegt in süßem Schlafe, ich traue mich nicht, ihn zu wecken.«

»Bleibt er zurück, so wird er uns immerdar zürnen«, versetzte Odo und wollte hinein, aber Immo hemmte ihn und sprach: »Denket daran, Schwurgenossen, daß unsere Mutter einen Sohn behalte«, und dem Dienstmann Berthold die Hand zum Abschiede reichend, bat er: »Wenn er erwacht, so sage ihm, daß wir einen von uns gewählt haben, für unsere Mutter zu sorgen, und der eine sei er.« Wieder hob er den Arm zur Sonne, und die Helden sprengten den Berg hinab, der großen Stadt zu.

Im Walde vor Erfurt teilte sich die Schar, denn nicht zu gleicher Zeit und zu einem Tor wollten sie einreiten. Die fünf Brüder zogen auf dem nächsten Wege durch dasselbe Tor, zu welchem sie die Geraubte hinausführen mußten, Immo aber mit Brunico betrat die Stadt durch das Tor im Osten. In der Herberge trafen alle zusammen, sie fanden viel Volk in den Straßen und in den Schenken, auch Bewaffnete aus der Umgegend klirrten einher. Die Brüder aber gingen einzeln und zu zweien durch die Menge und betrachteten die Gassen, durch welche sie reiten, und die Ecken, an denen sie sich aufstellen sollten.

Die Sonne sank, in den Straßen wurde es dunkel, die Gassen leerten sich, doch aus den Häusern glänzten die Herdfeuer, und aus den Schenken klang der Lärm lustiger Zecher. Die Brüder standen im Hofe ihrer Herberge bei den gesattelten Rossen, sie wechselten gleichgültige Worte, aber in der langen Erwartung hämmerte ihnen das Herz in der Brust. Und wenn ein Laden oder die Flurtür geöffnet wurde, so kam ihnen bei dem matten Lichtschein vor, als ob sie alle bleich wären wie Leblose. Da fuhr eine dunkle Gestalt von der Gasse in den Hof, und der Knappe des Goldschmieds flüsterte Immo zu: »Der am Idisbach lag, grüßt Euch und läßt Euch sagen, es sei an der Zeit. Der Graf und sein Gefolge sind beim Vogt des Erzbischofs zum Nachtmahle.« Gleich darauf ritten die Brüder langsam aus dem Hofe, voran Immo neben dem Boten, nach ihm Odo und Brunico, die anderen Brüder folgten ganz allmählich zu zweien.

Vor dem Hessenhofe war die Straße leer, aus dem Hofraum aber vernahm man Stimmen und das Stampfen der eingestallten Pferde.

[] An dem Kellerhals des Nachbarhauses tauchte ein Schatten auf und glitt neben Immo bis nahe zu der Haustür. Den Zügel des Rosses ergreifend, mahnte Heriman mit heiserer Stimme: »Steigt ab.«

Immo sprang in das Haus; langsam ritt Odo bis dicht vor die Haustür. Das Zeichen der Nachtglocke klang gellend vom Turme, in den Höfen rührte sich's und vom Markte her vernahm man den schweren Tritt und das Klirren Bewaffneter. »Er ist verloren«, stöhnte Heriman. Da sprang Immo über die Schwelle, eine verhüllte Gestalt im Arme, er schwang sie dem Bruder auf das Roß, und der Sachsenhengst fuhr in gestrecktem Lauf die Gasse entlang, dem Tore zu. Als Odo um die Ecke bog, war er nicht mehr allein, denn hinter ihm ritten Adalmar und Arnfried, und als sie dem Tor nahten, fanden sie Ortwin und Erwin schon in Verhandlung mit den Torwächtern, welchen Ortwin zurief: »Frisch, ihr guten Männer, beeilt euch aufzusperren, wir reiten zum Ehrentanze für eine Braut.« Odo hielt im Dunkeln, er hörte das Knarren der Torflügel und mahnte zurück: »Schließt dicht an.« Dann sprengte er hinter die vorderen Brüder, und die Schar ritt eilig durch das Tor auf die Brücke. »Haltet, halt! Was tragt ihr hinaus?« schrie der Wächter, aber der Ruf verklang hinter den Flüchtigen. Sie stoben gerettet unter dem Nachthimmel dahin und sahen rückwärts nach dem Bruder aus.

Als Immo vor dem Sachsenhofe nach seinem Rosse sprang, schrie aus dem Oberstock eine helle Frauenstimme: Raub, Zeter und Waffen. Die Scharwächter stürmten heran, aus dem Hoftor drangen die Knechte, auch diese riefen Feuer und Rache. Im Nu erhoben sich wilder Tumult und Waffengeklirr. Gegen Immo, der mit Mühe sein Roß gewonnen hatte, warfen sich die Scharwächter, er wehrte den Führer mit dem Speer ab, und als der Mann stürzte und die Genossen sich um ihn sammelten, riß Brunico das Pferd seines Herrn am Zügel und schrie: »Fort, die Bahn ist offen.« Aber indem Immo sich wandte, klang in seinem Rücken aufs neue Geschrei und Schwertschlag, und die Stimme Herimans rief flehend: »Verlaßt nicht Euren Helfer, der für Euch das Schwert hob.« Da merkte Immo, daß die Stunde gekommen war, in welcher eine Lehre des Mönches Gehorsam forderte und daß dieser Gehorsam ihn von Freiheit und Glück schied. Aber seiner Ehre gedenkend, rief er entgegen: »Des Rosses letzter Sprung sei für dich«, und er warf sich zurück in den wütenden Haufen, stach und schlug, bis er den Heriman herausgehauen hatte und dieser hinter dem Roß in der Dunkelheit verschwand. Jetzt wandte sich Immo aufs neue zur Flucht und stob mit Brunico dem Tore zu. Aber die Stadt war geweckt, hinter ihnen stürmten mit lautem Hallo die Verfolger, aus aufgerissenen Fensterläden fiel hier und da ein Lichtschein auf die Flüchtigen, die Trinker sprangen mit gezückter Waffe aus den Schenken und warfen sich ihnen entgegen.

[] Als sie das Tor vor sich sahen, erscholl auch von dort Alarmruf und Kampfgeschrei Bewaffneter, welche auf sie zurannten. Da fuhr Brunico in der Bedrängnis zur Seite, in eine enge Gasse der gebrochenen Mauer zu, Immo folgte. Der größte Teil der Verfolger lief nach dem nächsten Tor, um die Flüchtigen dort abzuschneiden, die Gehetzten gelangten bis zu den Mauertrümmern. Dort hielt Brunico. »Voran«, befahl Immo. Keuchend klomm das Roß des Mannes hinab, dieser gelangte glücklich über den Bretterstieg, indem er unterwegs brummte: »Nicht umsonst habe ich dich zum Feierabend zurechtgelegt«, und fuhr auf der anderen Seite in die Höhe. Ihm folgte Immo. Er sah sich auf der wüsten Stätte um, noch waren die Verfolger zurück, aber sein verwundetes Roß hinkte; als er es hinabtrieb, brach es an dem Trümmerhaufen, welcher aus dem Wasser ragte, zusammen, warf den Reiter hart gegen die Steine und glitt in das Wasser, in dem es angstvoll stöhnte und um sich schlug. Immo erhob sich, betäubt vom Fall, er merkte jetzt, daß er selbst hart verwundet war; mühsam wankte er auf den Steg und wand sich an der anderen Seite des Grabenrandes empor. Dort blieb er liegen.

»Fünf Jahre habe ich dich gezogen«, klagte Brunico zu seinem Hengst, »und jetzt rinnt dir's heiß von der Hüfte, und du ziehst auf dem Wege eine Spur gleich dem verendenden Wild. Einem ruhmlosen Tölpel gehörte der Speer, welcher auf das Roß zielte statt auf den Reiter.« Hinter sich vernahm er einen leisen Ruf, er sprengte zurück. Unweit des Grabens lag ein Mann am Boden, Brunico sprang ab. »Der Schildarm ist getroffen«, seufzte Immo, »und er hängt nach dem Sturz machtlos in der Achsel.«

»Ein wunder Mann und ein wundes Pferd sind einander jämmerliche Gesellen«, rief Brunico. »Dennoch helfe ich dir auf mein Tier, mich birgt die Nacht und der nächste Graben.« Er hob den Wunden mit starker Anstrengung auf sein Roß, aber Immo schwankte wie betäubt. »Halt aus, Brauner, bis zum nächsten Wald«, ermunterte Brunico, »dort lade ich ihn auf meinen Rücken.« Er schwang sich hinter dem Verwundeten auf, die Hinterbeine des Pferdes knickten unter der Last, Brunico trieb es mit den Sporen dem Saum des Gehölzes zu, welches in der Dunkelheit schwarz vor ihnen lag.

»Die Hunde werden im nächsten Augenblick hinter uns sein«, brummte der Knappe, nach rückwärts spähend, »und unsere Kunst geht zu Ende.« Er sprang wieder ab.

»Birg mich seitwärts vom Wege und rette dich, vielleicht vermagst du Hilfe zu bringen«, mahnte Immo.

»Der Mond scheint über kahles Land, sie finden dich, bevor ich ein Pferd schaffe.«

Vor ihnen knarrte ein Karren und knallte eine Peitsche. »Der Wagen fährt auf unsere Dörfer zu«, rief Brunico erfreut, »ich [] meine, es ist ein Nachbar, der sich in der Stadt verspätet hat.« Er rief den Wagen an und führte das Pferd zu ihm hin. »He, Landgenoß, kennst du den Freien Balderich im Dorfe vor uns?«

»Vielleicht kenne ich ihn«, versetzte der Mann, mit der Peitsche knallend.

»Willst du helfen, einen Verwundeten heimlich nach seinem Hofe zu schaffen, so soll dir ein guter Lohn werden.«

»Es kommt darauf an, wer der Wunde ist«, versetzte der Mann auf dem Karren. Als aber Brunico ihm näher kam, wandte er sich heftig ab. »Dies Gesicht kenn ich, ich sah dich unter den Disteln, verflucht sei die Hand, die sich dir zur Hilfe rührt.« Brunico zog sein Schwert.

»Laß den Mann in Frieden«, befahl Immo, aber er selbst glitt kraftlos vom Roß in die Arme des Getreuen. Der Fuhrmann beugte sich über ihn. »Halt«, rief er, »auch diese Stimme erkenne ich. Kann Euch mein Wagen helfen, Herr, so hebe ich Euch herauf. Es sind dieselben Räder, die Ihr in meiner Not aus dem Wasser hobt.«

Immo nickte schwach mit dem Haupt. »Ladet mich auf.« Die beiden Männer hoben ihn auf den Wagen, der Fuhrmann Hunold breitete eine Decke und rückte die Strohbündel. »Euch schaffe ich in das Dorf, der andere möge sich fernhalten von meinem Messer.«

Immo streckte die Hand über das Wagengeflecht. »Fort mit dir, Gespiele.« Der Knappe warf sich mit einem Seufzer auf das Pferd und trabte dem Holze zu, während der Fuhrmann ihm zornig nachsah.

Hinter dem Wagen klang schneller Hufschlag, Hunold sah sich um und zog die Decke über den Liegenden. Bewaffnete sprengten heran und fragten barsch nach Namen und Fahrt. Auf die Antwort des Führers, daß er ein Mann des großen Bischofs sei, klang die Gegenfrage, ob er Reiter gesehen habe.

»Sicher sah ich sie, kaum ein Viertel Weges zurück am Kreuze, zwei Männer auf einem Pferde«, und er wies rachsüchtig dorthin, wo Brunico in der Dunkelheit verschwunden war. »Ihr mögt die Spur erkennen, denn sie liegt rot auf dem Wege.« »Sie sind es«, riefen die Reiter und stoben zurück bis zum Kreuzwege.

Aber sie erreichten weder Roß noch Reiter. Denn Brunico war, als er sich in der Dunkelheit allein sah, vom Hengst gesprungen und hatte das zitternde Tier mit einem Schlage vorwärtsgetrieben. »Hilf dir allein, wenn du kannst, ich denke, den Weg nach deinem alten Stall kennst du. Ich laufe dem Karren nach Balderichs Hofe vor, damit der Alte und mein Mädchen über das Brautgeschenk, das ich ihnen sende, nicht allzusehr erschrecken.«

[]

Die Mutter auf der Burg

Von den Mauern der Mühlburg spähten Immos Brüder die ganze Nacht sorgenvoll nach der Tiefe, immer wieder erwogen sie, ob er getötet sei, ob er in Erfurt gefangenliege, oder ob er sich auf einem Umweg in die Berge schlagen und zu ihnen kehren werde. Jedes Rauschen im Holz, jede Tierstimme im Walde dünkte ihnen ein Zeichen des Nahenden. Als der Morgen graute, sandten sie Läufer in die Dörfer, welche ihnen gehörten, und forderten heimlichen Zuzug ihrer Dienstmannen, und zwei von ihnen warfen sich mit den Knechten in das Gehölz, wo ein gedeckter Anritt zu den Bergen möglich war. Aber friedlich lag die Landschaft, auch von dem Turm des vorderen Berges, der am weitesten die Ebene nach Erfurt überschaute, vermochten sie nichts zu erkennen, nur einzelne Reiter sahen sie hier und da auf den Feldwegen, und ihre spähenden Knaben verkündeten, daß es Reisige des Erzbischofs waren, welche vorsichtig bei den Bauern nach der flüchtigen Schar forschten, aber den Rand des Gehölzes vermieden. Als die Sonne im Mittag stand, rief Ortwin: »Nicht länger vermag ich die Unsicherheit zu ertragen, es bringt uns wenig Ehre, hinter den Mauern zu harren, während der Bruder in Not ist; ich sattle und reite nach dem Hofe der Mutter und weiter der Stadt zu, damit ich Bericht einhole, sei er böse oder gut.«

»Ich widerrate«, versetzte Odo, »daß du der Mutter unter die Augen trittst, denn besser ist es, daß sie völlig keinen Teil habe an unserem Handel und fortan ebensowenig der Jüngling Gottfried, so wollte es auch unser Bruder Immo. Der Jungfrau aber hier auf dem Berge dient die alte Gertrud, welche die Mutter auf meine Bitte gestern dem Bruder gesandt hat. Auch deinen Ausritt vermag ich nicht zu loben, leicht könnten wir noch dich verlieren; besser gefällt mir, daß wir den Müller Ruodhard schicken, er versteht die Leute auszufragen und hat überall eher Frieden als ein anderer.«

Der Rat gefiel den Brüdern, und Ruodhard stieg eilig von dem Berge. Auf dem Herrenhofe fand er alles in Schrecken und Verwirrung, Frau Edith hielt das Tor geschlossen, nur über dem Grabenrand konnte er mit den Knechten verhandeln. Niemand dort wußte etwas von Immo und seinem Knappen. Dann lief er bis Erfurt. Alle Schenken waren gefüllt, und jedermann sprach von dem Raube, aber die Leute stritten, wer der Räuber sein möge, und von Immo vernahm er völlig nichts, und er meinte, daß dieser schwerlich in Haft liegen könne, weil die Reisigen noch auf der Jagd wären.

Da beschlossen die Brüder, still zu harren, aber sie fragten unsicher, wie lange sie die Jungfrau bewahren sollten, wenn ein Landgeschrei erhoben würde und wenn gar die Mutter die Entlassung forderte.

[] Wieder am nächsten Morgen hielten zwei der Brüder auf dem Wartturm die Wache, da lachte Ortwin: »Den Kranich Ludiger hörte ich schreien, wie lief der Vogel aus unserem Hofe über das Land?« und als er hinabsah, erkannte er, daß an der Außenseite des Grabens mitten auf dem Wege etwas Fremdes lag. Er ließ das Tor aufsperren, die Brücke werfen, eilte hinab und hob vorsichtig den Fund in die Höhe, dann sprang er abwärts bis an das Gehölz, aber er vernahm nur noch ein Rasseln der Zweige, als ob jemand schnell hinabgleite, und versuchte vergebens den Springer zu erkennen. Er flog zurück, rief in den Hof: »Eine Botschaft bringe ich, was sie bedeute, mögt ihr selbst erkennen«, und hielt ein kleines dichtumwundenes Bündel in die Höhe. Das Gebinde ging von Hand zu Hand, und Odo sprach: »Sicherlich ist es ein Zeichen, ruft die alte Gertrud, denn sie versteht alles Geheime besser zu deuten als wir anderen.« Gertrud betrachtete mit scharfen Augen das fremde Stück, sie setzte sich nieder, murmelte Unverständliches darüber, löste behutsam das Band und dachte nach. Endlich hob sie die Hand und rief: »Ich verstehe den Gruß, Günstiges kündet er dem Hause; denn daß der Kranich rief, meldet euch, daß die Botschaft von einem Sohne des Hofes kommt; blau ist das Band, welches das Zeichen umschließt, und mit blauer Farbe malt ihr Helden eure Schilde, in der Schlinge liegen fünf Pfeile um ein Haselreis, und eurer sind fünf, und das Reis in der Mitte meint die Jungfrau. Der dies gesandt hat, will, daß ihr mit euren Waffen die Jungfrau umringt wie die Pfeile das Reis. Das Reis ist noch ganz frisch, darum ist, der es sandte, nicht weit entfernt.« Da rief Odo: »Geendet ist der Zweifel. Er lebt, und er denkt seine Beute zu bewahren, er soll erkennen, daß auch wir nach seinem Willen tun; wir halten die Jungfrau, und wir halten die Burg gegen jedermann; denn hoch ist der Berg und fest die Mauer, und viele Helmkappen mögen daran zerschellen, wenn die Grafen aus der Ebene sich gegen uns erheben.«

Der flüchtige Bote war ein junger Sohn des Bauern Balderich, in dessen Hofe Immo verborgen lag. Ungeduldig forderte der Verwundete, daß Brunico ihn nach der Mühlburg schaffe; sein verrenkter Arm war ihm eingerichtet, aber der Schmerz und Blutverlust einer tiefen Armwunde hinderten, das Roß zu besteigen, und Brunico merkte, daß die Wege auch in der Nacht von Reisigen umlauert waren. Da dachte Immo, daß der Balsam, welchen die Mutter bewahrte, ihm schnelle Heilung schaffen könnte, und er mahnte seinen Knappen, das Heilmittel mit Gottfrieds Hilfe zu gewinnen. Deshalb lief der Knabe von der Mühlburg nach dem Herrenhofe, um die Arznei, welche Brunico selbst nicht zu holen wagte, vertraulich zu erbitten.

Dem Knaben gelang es, in den Hof zu schlüpfen und den Herrensohn [] heimlich zu grüßen. Als Gottfried in den Saal trat, fand er seine Mutter in Unterredung mit einem Mönch des heiligen Wigbert, den er nicht kannte; es war eine düstere breitschulterige Gestalt, mehr einem Kriegsmann als einem Mönch zu vergleichen. Und er vernahm, wie die Mutter zu dem Fremden sprach: »Ich wußte längst, daß die Geweihten auch die hohe Pflicht üben, ihren Feinden zu vergeben und für sie zum Himmelsherrn zu bitten, aber daß Ihr, ehrwürdiger Vater, gegen den mein armer Sohn am ärgsten gefrevelt hat, so treu der hohen Lehre anhängt und ihm jetzt Eure Fürbitte zuteil werden laßt, das nimmt schwere Sorge von meinem Herzen.«

Gottfried winkte die Mutter zur Seite und sagte ihr heimlich: »Gib mir den Balsam der Kaiserin für einen Verwundeten, aber frage nicht, wer er ist.«

Edith sah ihn mit großen Augen an, dann eilte sie in ihre Kammer, riß die Büchse aus der Truhe, trug sie in den Saal und hielt sie dem Mönch hin, indem sie sprach: »Segnet die Arznei, ehrwürdiger Vater, denn vor jedem anderen Gebet mag das Eure dem Unglücklichen frommen, der sich dies begehrt.«

Der Mönch neigte sich darüber und segnete, Gottfried sprang hinaus und übergab dem Knaben die Büchse. Der Wigbertmönch aber sah mit finsterem Blick dem enteilenden Knaben nach.

Am nächsten Tage rief Ortwin von dem Turme in den Hof: »An das Tor, ihr Genossen, Staub wirbelt auf der Straße, einen riesigen Zug sehe ich mit Wagen und Herdenvieh, und Eisen blinkt über den Rossen.« Die Brüder sprangen herzu, in kurzem waren die fünf Kinder Irmfrieds auf der Höhe des Turmes gesammelt. »Ich sehe kein Banner wehen«, sprach Erwin, »und sorgenlos ziehen sie dem Gehölz zu.«

»Nur klein ist der Haufe, mehr Rinder und ledige Rosse als Männer«, rief Adalmar, »wie Flüchtige nahen sie und nicht wie Feinde.« »Weiber erkenne ich im Haufen und den jüngsten Bruder«, lachte Arnfried.

»Es ist die Mutter selbst«, rief Odo. Die Brüder sahen einander mit kummervollen Mienen an. »Sie naht mit ihrem Gesinde, die Bewaffneten des Gutes führt sie herbei.«

»Hart ist es, gegen die eigene Mutter zu kämpfen«, murmelte Erwin.

»Schwerlich dürfen wir den Zugang wehren«, sprach Ortwin, »aber wie sollen wir ihrem Willen widerstehen?«

»Alles hat seine Zeit«, rief Odo, »wenn sie fordert, mögen wir weigern, jetzt rate ich, ihr entgegenzugehen.«

Die Söhne eilten hinab. Das Tor wurde geöffnet, auf der Mauer drängten sich die Mannen, und die Herren traten vor die Brücke, um den Zug zu empfangen. Schweigend nahten die Reiter, ohne [] Gruß und Willkommen sahen die alten Bankgenossen einander ins Gesicht, schweigend traten auch die Söhne an das Roß der Mutter, sie aus dem Sattel zu heben. Als Edith den Boden berührte, begann sie: »Es ist mir lieb, daß ihr mich empfangen habt, geleitet die Mutter in das Haus des Bruders. Du aber, Odo, gestatte, daß deine und meine Leute den Hof betreten«, und nach rückwärts gewandt rief sie: »Gehorchet, wenn Herr Odo euch fordert, denn er hat hier zu gebieten.« An der Hand des Sohnes schritt sie in den Hof und grüßte die Kriegsleute, welche ihr jetzt zuriefen und die Waffen zusammenschlugen. Unterdes sprachen die jüngeren Brüder mit Gottfried. »Sie hat unseren Hof geräumt«, erzählte dieser, »alle, die treu an ihr hängen, führt sie unter Waffen her. Was sie hier begehrt, hat sie mir nicht vertraut.«

Edith blickte über den Hof auf das Gedränge von Männern, Weibern und Vieh, und auf die unsicheren und verlegenen Blicke, mit denen sie betrachtet wurde. »Harrt nur ein wenig, ihr Treuen; du, Odo, führe mich zu dem Herde, an welchem mein Sohn Immo gerastet hat, bevor ich ihn verlor.«

Die Brüder geleiteten sie in das Haus, Edith neigte sich zu dem leeren Herrensitze am Herde und ihre Lippen bewegten sich im stillen Gebet, dann trat sie unter ihre Söhne. »Euch wundert, wie ich erkenne, die Mutter hier zu sehen, und kalt ist der Willkommen, den ihr mir bietet, ich aber komme, bei euch zu bleiben und euer Schicksal zu teilen. Sorget nicht, daß ich euch den Sinn mit Klagen beschwere oder gar mit Vorwürfen, weil ihr gefrevelt habt gegen Frieden, Recht und die heilige Kirche. Andere werden euch darum bedrohen, ich aber will euch dienen, soweit eine Mutter vermag. Denn wir alle erkennen, daß wir in Todesnot stehen. Wisset, meine Söhne, der König naht mit großem Heergefolge, der Erzbischof und die Grafen im Lande haben ihre Mannen in den Sattel gefordert, heut oder in den nächsten Tagen wird der Feind die Burg umschließen, und die Kinder des Helden Irmfried werden hinter Mauern ihren letzten Kampf kämpfen, wenn sie nicht demütig ihr Haupt beugen und das Erbe ihres Bruders ausliefern.«

Die Brüder standen betroffen.

»Wir gedenken die Burg zu halten, Mutter, auch gegen den König«, antwortete Odo, »obwohl wir erkennen, daß wir in großer Gefahr stehen. Aber Mutter, daß ich alles sage, mehr als den König und den Erzbischof fürchten wir deinen Wunsch, daß wir die Braut des Immo den Feinden ausliefern.«

Da antwortete Edith: »Stets habe ich gehofft, daß mir die Heiligen gewähren würden, ohne große Missetat mein Leben zu beschließen; aber anders hat der üble Teufel es gefügt. Will ich meinem Geschlecht die Treue beweisen, so muß ich die Mitschuld auf mich nehmen zu meinem Schaden hier und dort. Eure Mutter bin ich, [] ihr Knaben, ich habe euch erzogen und über eurem Haupt gebetet von dem ersten Tage eurer Geburt. Darum will ich auch jetzt die Last mit mir tragen, du einsames, verfeindetes Geschlecht. Und die Engel mögen es wissen, und die Heiligen mögen mir verzeihen. Ich lasse euch nicht, und ich scheide mich nicht von eurem Los, wie es auch falle.« Da riefen ihr die Söhne Heil und hingen sich ihr um Hals und Hände. Edith aber fuhr fort:

»Laß uns an die nächste Arbeit denken, Odo, unsere Getreuen sollen wissen, daß die Herren einig sind. Alle, die ich dir herführe, sollen dem Herrn Immo in deine Hand sich zuschwören. Ich bringe auch, was zumeist die Sorge der Frauen ist, Vorrat von den Gütern für Küche und Keller, vertraue mir die Aufsicht darüber an, damit ich mit meinen Mägden dir nütze, und ich rate, laß abladen und einräumen, solange nicht größere Sorge bedrängt.«

»Gestatte, Mutter, daß ich dir die Jungfrau zuführe«, bat Odo. Das Antlitz der Edith erblich, ihre Hand zog sich zusammen, und sie rang nach Fassung, aber im nächsten Augenblick sprach sie lächelnd: »Erst machen wir das Haus fest, damit unsere Leute der Unsicherheit enthoben werden. Denn der Zweifel lähmt auch den Mutigen, aber wer seine Pflicht kennt, bewahrt leichter die Kraft. Ist Burg und Hof versorgt, dann denken wir des Gastes, der bei uns eingekehrt ist.«

Als Odo die Tür des Gemaches öffnete, in welchem Hildegard geborgen war, saß die Jungfrau gebeugt auf dem Lager, die Hände im Schoß gefaltet. Sie fuhr auf und sah erschrocken auf eine hohe Frauengestalt und den strengen Ausdruck eines edlen Antlitzes. »Es ist unsere Mutter«, sagte Odo, »welche zu dir kommt.« Da sank Hildegard vor Frau Edith auf den Boden, und Odo verließ leise das Zimmer.

»Steh auf, Jungfrau«, begann Edith, »ich bin nicht der Herr, welchen du dir gewählt hast.«

Hildegard sah furchtsam zu ihr auf. »Im Traume sah ich dein Angesicht, es gleicht dem seinen, aber feindlich blicken die Augen. O sei barmherzig, Herrin«, rief sie in ausbrechendem Schmerze, »der Sturmwind riß ein Blatt vom Baume, und es flatterte bis vor deine Füße. Zertritt nicht die Bebende!«

Edith hob ihr das Antlitz empor und sah scharf in die tränenfeuchten Augen. »Das sind die Züge, welche meinem Sohne lieber wurden als der Wille der Eltern und das eigene Heil. Waren es deine Tränen oder war es dein Lachen, womit du sein Herz umstrickt hast? Ich denke wohl, mit Lächeln begann's und die Tränen folgten; das ist das Schicksal aller, welche einander liebhaben auf dieser Erde. Leid brachtest du uns und Leid brachte er dir. Steh auf, Jungfrau«, fuhr sie milder fort, »ich komme nicht, dich zu schelten und zu richten, sondern damit ich dir Frauenrat gebe, sooft [] du ihn begehrst. Setze dich zu mir, und wenn du mir gefallen willst, so sprich mir von ihm!« Sie führte Hildegard zu dem Lager, aber die Jungfrau glitt wieder an ihren Knien herab und klagte: »Laß mich liegen, Herrin, und zu dir aufsehen wie zu einer Fürbitterin, denn mir ist, als hätte ich dir Großes abzubitten, daß ich hier bin und daß ich ihn liebe.«

Edith neigte sich zu ihr herab: »Rede nicht weiter, bevor du mir eins gesagt hast. Als meine wilden Knaben dich hertrugen, folgtest du mit gutem Willen, oder haben sie eine Widerwillige auf das Roß gehoben? Bist du als Braut meines Sohnes hier oder als Gefangene?«

Über das verstörte Gesicht der Hildegard flog eine holde Röte, und sie neigte das Haupt in den Schoß der Mutter. »Als er eintrat«, murmelte sie, »erschien er mir wie damals, wo er mich am Kreuz mit dem Schilde deckte. Gleich dem hohen Engel Michael stand er bei mir im Kriegskleide, und mir schwand die quälende Angst vor dem Kloster.«

Edith seufzte schwer, aber sie legte ihre Hand auf die feuchte Stirn der Jungfrau.

Hildegard warf ihre Arme leidenschaftlich um den Leib der Herrin und klagte: »Meine Mutter ist tot, und freudenlos lebte ich. Da trat er in unsere Halle. Holdselig waren seine Worte, fröhlich seine Art, und unter den Männern wußte er sich zu behaupten, daß ihm keiner zu widersprechen wagte. Er wurde mir schnell so vertraulich, lachte mich an und faßte meine Hand. Sein Lachen ist lieblich, Herrin. Er trank aus dem Becher, den ich ihm bot, und aß von meinem Teller.«

»Darum hat die Mutter ihm Becher und Teller vergebens gestellt«, murmelte Edith.

»Sie preisen ihn auch als einen Helden, Herrin, denn keiner kommt im Kampfe gegen ihn auf, und die kleinen Spielleute erzählen, daß er mit dem Speer sicherer als ein anderer auf die Stelle trifft, nach der er wirft. Jedermann wundert sich, wo er im Kloster so Schweres gelernt hat.«

»Er war schon als Knabe geschickt in aller Reiterkunst«, versetzte Edith, »und sein Vater staunte selber darüber. Ich sorge, auch im Kloster hat er mehr an Holz und Eisen gedacht als an die Bücher.«

»Dennoch, Herrin, versteht er ganz gut das Lateinische, obgleich er selbst sein Wissen nicht rühmt; und er weiß so geschickt mit Sprüchen und Versen zu antworten, daß es eine Wonne ist, ihn anzuhören.«

»Du warst auch in der Schule und verstehst das Latein?« fragte Edith. »Das war es, was ihm gefiel, ich dachte sonst, die heilige Sprache hilft nur dazu, den Glauben vertraulich zu machen, ich merke aber, sie verlockt auch Männer und Frauen zueinander.«

»Du sagst die Wahrheit, Herrin. Denn die in der Schule waren, [] verstehen einander leicht unter fremden Leuten. Damals, als ich ihn zuerst sah, wurde mir weh ums Herz, weil er mir gestand, daß er ungern im Kloster weilte. Aber später kam mir ganz andere Sorge.« Sie hielt an und sah vor sich nieder. »Denn als ich ihn im Kriegskleide wiedersah und erkannte, daß er dereinst mein Herr werden sollte, da erschrak ich über den schweren Gedanken. Und ich saß im Sonnenuntergang auf dem Idisberge, bis die Nacht heraufstieg; und als der Nachtwind in den Zweigen rauschte, hörte ich immerdar seine Stimme und daneben eine andere, als wenn ich selbst mit ihm redete, aber fern und leise wie oben aus dem Wipfel des Baumes, und die eine Stimme sprach: Selig war ich, Held, denn ich habe deine Liebe gefunden, und jetzt zittre ich, dich zu verlieren. Und die andere Stimme antwortete: Ruhm ersehne ich, und schrecklich will ich meinen Feinden werden, gedenkst du das Weib eines Helden zu sein, so darfst du nicht vor dem Tode beben. Wenn zwei einander liebhaben, sollen sie auch beten, daß sie miteinander sterben. Da merkte ich, Herrin, was es bedeutet, einen Mann im Herzen zu tragen. Mein Geschlecht habe ich verlassen um seinetwillen«, unterbrach sie sich selbst, »und jetzt ist er nicht hier, ich aber gehöre zu ihm, wo er auch weilen mag.«

»Allzu ungeduldig bist du, an seinem Hals zu hangen«, versetzte Edith finster. »Verwundet ward er in jener Nacht.«

»Die Brüder sagten mir's« antwortete Hildegard leise, »an sein Lager will ich, und fühlst du Erbarmen mit meiner Not, so sage mir, wo ich ihn finde.«

»Auch der Mutter bergen sie die Stätte«, rief Edith. »Meinst du, mich quält es weniger als dich, daß er unter Fremden liegt in traurigem Versteck?«

Hildegard sprang auf. »Wenn du ihn liebst, so komm mit mir aus diesen Mauern; wir hüllen uns in niedriges Gewand und suchen ihn, bis wir ihn finden. Denn der treue Mann, der ihn im Heereszug begleitete, weiß es, wo er weilt.«

»Eitel ist dein Wunsch«, antwortete Edith, »wenn wir diese Burg verlassen, so würden wir ihn eher verraten als retten. Denn wisse, Jungfrau, der König naht mit seinem Heergefolge in feindlichem Willen, um den Raub zu rächen. Meinen Sohn, seine Brüder und uns alle auf dieser Burg bedroht des Königs Zorn.«

Hildegard verhüllte das bleiche Antlitz und sank, abgewandt von der Mutter, auf die Knie. Edith saß lange Zeit schweigend, endlich begann sie forschend: »Klagst du, daß er und sein Geschlecht um deinetwillen an Leben und Ehre bedroht sind? Die Klage allein schafft keine Hilfe, auch der Himmelsherr erhört nur die Bitten derer, welche in Demut und Reue zu ihm flehn. Reut dich das Unheil, das allen droht, so denke auch auf die Rettung. Um dich allein geht der Kampf. Du vermagst ihm Leben und Freiheit zu bewahren. Denn [] milder wird die Strafe des Richters sein, wenn er Ergebung und Gehorsam findet.«

Hildegard lag unbeweglich, Edith trat näher und sprach über ihrem Haupte: »Liebst du ihn über alles, wie du sagst, so kannst du das jetzt erweisen: Kehre zurück zu deinem Geschlecht, wende deine Schritte dem Kloster zu und entsage ihm, damit du ihn rettest!«

Ein Schauer flog über Hildegards Leib, sie richtete sich auf, und ihre großen Augen starrten entsetzt auf die Mutter. »Ist deines Herzens Meinung, Herrin, daß ich tue, wie du sagst?«

»Ich sage dir's, du aber antworte!«

Hildegard fuhr in die Höhe. »Eine Feindin hörte ich des geliebten Mannes und eine Feindin meiner Liebe. In den Abgrund will ich tauchen, in die Flammen will ich springen, um sein Leben zu retten, bezeugt ihr guten Engel, die ihr meine Gedanken bewacht, daß ich die Wahrheit rede. Mein Leben nehmt für ihn, aber meine Liebe verrate ich nicht. Hat er alles für mich hingegeben, ich habe dasselbe getan. Gebunden bin ich an ihn, und solange ich atme, gehöre ich ihm zu. Jetzt ist meine Treue der Stab, an den er sich hält auf seinem Lager, in seiner Angst. Du aber willst mich zerbrechen und hinwerfen, damit ich erkenne, daß seine Liebe nichtig war, und die Jungfrau, der er alles geopfert hat, feige und schwach und seiner unwert. Und wenn alle Menschen auf uns blicken wie auf zwei wilde Tiere, welche von den Jägern umstellt sind, wisse auch, unter den friedlosen Tieren ist der Brauch, wenn der Bär verwundet ist und von den Hunden umstellt, so läuft die Bärin nicht abwärts, um ihn zu retten, sondern sie wirft sich der Meute entgegen. Die Kraft der Glieder ist mir versagt, aber mein Wille ist fest wie der seine. Sage mir, wie ich sterben soll, um ihn zu retten, aber mahne mich nicht, daß ich lebend ihm entsage.«

Da rief Edith: »Jetzt erkenne ich, wie du bist. Einer Taube siehst du ähnlich, aber wer dir die Kappe von dem Haupte löst, der erkennt die edle Art eines Falken. Zürne nicht, daß ich dich versucht habe. Denn ganz fremd warst du mir. Auch das Herz einer Mutter fühlt Eifersucht, und sie fragt zuerst, ob das Weib, das der geliebte Sohn sich erkor, würdig ist, seine Vertraute zu werden anstatt der Mutter. Gesegnet seist du, Jungfrau, und willkommen bist du mir als Braut meines Sohnes und als Genossin im Hause. Deine Mutter bin ich von heute und du mein Kind, und verteidigen will ich dich gegen den König der Welt. Komm zu mir, Hildegard, zusammen wollen wir den Himmelsgott anflehen, daß er mir das Glück gewähre, deine Hand in die meines Sohnes zu legen.«

Hildegard warf sich an die Brust der Mutter.

[] Frau Edith hatte recht verkündet. Als der König durch reitende Boten des Erzbischofs die Kunde von dem Raube der Jungfrau erhielt, da hemmte er, wie sehr auch sein Herz sich nach dem Süden sehnte, sogleich die Fahrt und kam mit den Edlen und den Heerhaufen, welche um ihn gesammelt waren, über die Werra zurück. Der Erzbischof ritt ihm entgegen. Er fand den König hocherzürnt und wortkarg, als er ihm von dem Raube berichtete, unterbrach ihn der König heftig: »Wer ist Kläger?« Und da der Erzbischof erwiderte: »Ich selbst durch meinen Vogt, und der Vater der Jungfrau«, hob der König drohend die Hand und rief: »Sagt dem Grafen, er soll seine Pflicht nicht säumig tun, denn des Königs Auge ist noch über ihm.« Zuletzt sprach der Erzbischof: »Ist auch die Stunde ungünstig, um die Verzeihung des Königs zu erbitten für einen anderen, der in Ungnade lebt, so darf ich doch dem Flehenden mich nicht versagen, da er ein Geweihter ist. Der Mönch Tutilo begehrt, sich vor dem König zu demütigen; unstet treibt er umher im Zwist mit seinem Abte, er kam von Ordorf zu mir und stöhnte, daß ich ihm die Huld des Königs wieder erwerbe.«

»Er hat also Lust, die Rute zu küssen, wie die anderen Empörer seines Geschlechtes getan haben«, spottete der König. »Manchen besseren Anblick weiß ich als einen hochfahrenden Mann, der widerwillig die Knie beugt und seine Miene zur Demut zwingt. Doch da dem Könige nicht ziemt, gegen einen Mönch zu hadern, so laßt ihn herein.«

Kaum hatte der Erzbischof das Gemach verlassen, so lag Tutilo vor dem Könige auf dem Fußboden. Als der Mönch nach kurzer Unterredung mit gesenktem Haupt, einem reuigen Manne ähnlich, entwich, trat Heinrich in den Saal, in welchem sein Gefolge harrte, und rief: »Ihr sagtet mir, ehrwürdiger Vater, daß der Räuber Immo spurlos verschwunden sei, wenn er nicht etwa bei seinen Genossen auf der Mühlburg hause; Ihr wart im Irrtum.« Und er rief Gundomar und gab ihm einen leisen Befehl.

An demselben Tage ritt eine Schar Königsmannen dem Dorfe zu, in welchem der Hof des Bauern Balderich lag. Die Reiter umstellten das Dorf und drangen unter harten Drohungen in den Hof. Gundomar trat mit dem Königsvogt von Erfurt in die Kammer, in welcher Immo saß. Dieser wandte sich finster ab, als er seinen Oheim erblickte, aber dem Vogt reichte er die Hand. »Mir tut's von Herzen leid, Held Immo«, sprach dieser traurig, »daß ich dich zur Stelle dem Könige überliefern muß.«

»Ich vermag mich nicht zu wehren, wie du siehst«, antwortete Immo ruhig, »nur eine Bitte erfülle mir, verhindere deine Reisigen, daß sie den Leuten hier einen Schaden an Leib und Gut zufügen, denn aus Mitleid haben diese mich aufgenommen, als ich hilflos vor ihrer Schwelle lag.« Das versprach der Vogt.

[] Am anderen Morgen sahen sie von der Burg in der Morgensonne blinkende Speere und wehende Banner; der König hielt mit seinem Heerhaufen bei dem nahen Dorfe, in welchem die Sachsenkönige seit alter Zeit einen Hof hatten, das Königsbanner ließ er auf einem Hügel errichten, der zu dem Erbe Irmfrieds gehörte, und ringsherum die Wagenburg schlagen. Aus dem Heerlager bewegte sich zur Mühlburg langsam ein friedlicher Zug, an dessen Spitze der Erzbischof Willigis ritt und neben ihm der Mönch Reinhard. Edith selbst mit ihren sechs Söhnen empfing die frommen Väter am Tor und geleitete sie in die Halle. Sie begann, auf ihre Söhne weisend: »Als ich zum erstenmal nach meiner Vermählung vor dem Altar kniete, erbatet Ihr, hochwürdiger Vater, den Segen der Himmlischen für mein Leben; hier seht Ihr, was ich von meinem Glück zu bewahren vermochte. Daß Ihr jetzt in unserer Not zu uns kommt, dafür danke ich dem Ewigen, denn als eine gute Vorbedeutung sehe ich Euer geweihtes Haupt in diesen Mauern.«

»Ich komme nicht als Bote des milden Himmelsgottes«, versetzte Willigis, »sondern als Diener eines strengen Richters. Eile hinauf, gebot er mir, zerwirf das Nest unholder Vögel und bringe mir die Brut herab unter meine Hand! Darum übergebt euch der Gnade des Königs ohne Widerstand, denn scharf ist sein Zorn und schnell folgt seinem Willen die Tat.«

Odo versetzte ehrerbietig: »Wir stehen hier in festen Mauern unter treuen Schwurgenossen, wir haben nicht die Wahl, ob wir die Feste und die Jungfrau dem König ausliefern wollen oder nicht, denn unser Bruder Immo, der hier gebietet und heut fern ist, befahl uns, beide zu halten gegen jedermann.«

Da entgegnete der Erzbischof: »Es ist eures Bruders Hals, um den ich sorge, wenn ich von euch die Ergebung fordere. Denn wisse, Geschlecht Irmfrieds, Held Immo liegt gefangen in des Königs Gewalt.«

Edith rang die Hände gegen den Himmel, und die Brüder traten bestürzt zusammen.

»Diesen Morgen brachten Reisige des Königs den Verwundeten in das Lager, sein Versteck wurde dem König durch einen Feind verraten.«

»Tutilo«, schrie die Mutter entsetzt.

»Seitdem hält der König fest, was euch zwingt. Liefere mir die Nestlinge des toten Irmfrieds, befahl der König, bevor die Sonne zur Mittagshöhe gestiegen ist; wenn sie länger zaudern, so lasse ich den Gefangenen an den Fuß der Mühlburg führen, wo man von der Höhe sein Haupt sehen kann, und ich werfe sein Haupt auf den Grund. Austilgen will ich den frechen Trotz, der Landrecht und Königsmacht mißachtet, und ausbrennen will ich die Mauern, hinter denen die Räuber mir widerstehen. Darum wollt ihr, junge Helden, [] den Bruder vor jähem Tode bewahren, so folgt mir aus der Burg zum Könige. Wenn er eure Ergebenheit sieht, wird sein Sinn eher der Gnade zugänglich und dem Rat solcher, welche euch Gutes wünschen.«

Da wandte sich Odo zu seinen vier Brüdern: »Unsere Lose warfen wir am Herdfeuer, als wir uns dem Bruder gelobten. Wenn wir willig waren, in den Gassen der Stadt unser Leben für das seine zu wagen, so müssen wir dasselbe vor dem Schwert des Königs tun. Ich bin bereit, den Priestern zu folgen. Vier von euch lade ich, daß sie zu mir treten.«

Da traten alle fünf auf seine Seite, Odo aber wies seinen Bruder Gottfried zu der Mutter: »Nach dem Willen des Gefangenen gehörst du zu ihr, und dir ziemt auch jetzt, diesen Willen zu ehren. Hochwürdiger Herr, wir sind gerüstet, Euch zu folgen. Wir allein, denn nur wir fünf waren Genossen des Bruders bei der Tat. Die Burg unseres Geschlechtes aber, die Dienstmannen und die Braut des Bruders vermögen wir Euch nicht zu übergeben; darüber zu entscheiden, steht bei unserem Bruder Immo, wenn er auch gefangen ist; und solange wir nicht deutlich erkennen, daß er die Übergabe fordert, dürfen wir Brüder sie nicht vollbringen. Darum lege ich die Gewalt über die Burg und über alles, was sie umschließt, in die Hand unserer Mutter. Sorge du, Mutter, für Braut und Erbe deines Sohnes Immo, uns aber segne, da wir von dir scheiden.«

Die fünf Brüder warfen sich vor der Mutter auf die Knie und küßten ihr Hände und Gewand. Sie riß bleich und tränenlos einen der Liegenden nach dem anderen an ihr Herz, ihre Lippen bewegten sich im Gebet, aber man vernahm keine Worte. Und als die fünf der Tür zuschritten, stürzte sie ihnen nach und umfaßte ihnen noch einmal Hals und Haupt, bis sich die Weinenden von ihr lösten.

Die geistlichen Boten hatten der Trennung teilnehmend zugesehen, obgleich sie gewöhnt waren, alle irdische Liebe als nichtig zu betrachten. Jetzt begann der Erzbischof: »Den redlichen Entschluß Eurer Söhne, edle Edith, will ich gern dem König rühmen; die Helden haben wohlgetan, dem Urteil der Mutter zu vertrauen, denn als fromm und weise wird sie im ganzen Lande geehrt.«

»Sechs junge Leben die mir gehören, hat König Heinrich für sich genommen, was will er von der verwaisten Mutter noch mehr?«

»Die Burg und die geraubte Jungfrau, die Eure Söhne darin bewahren, begehrt er von Euch.«

»Die Braut meines Sohnes Immo gehört in das Frauengemach, in welchem die Mutter gebietet, und nicht in das Heerlager des Königs. An die Burg aber hat der König völlig kein Recht, und ich bewahre sie selbst um der Lebenden und Toten willen.«

[] »Denkt in Eurem Schmerz auch daran, edle Frau, daß Eure Söhne durch ihre Missetat dem Spruch des Königs verfallen sind.«

»Sind meine Söhne schuldig, zu büßen für eine schwere Tat, so bin ich, ihre Mutter, in derselben Schuld. Denn Blut sind sie von meinem Blut, und wenn sie jetzt auch auf ihren eigenen Beinen dahinschreiten, wohin sie ihr Mut treibt, meine Seele wandelt mit ihnen allen bei Tag und bei Nacht. Dies Geheimnis einer Mutter vermag kein Priester zu begreifen. Haben sie Missetat geübt, so bin ich dem Richter verfeindet wie sie; und gleich ihnen will ich das Erbe des Geschlechtes bewahren gegen jedermann, auch gegen den König selbst.«

»Hütet Euch, Frau«, mahnte der Erzbischof, »freiwillig Eure schuldlose Seele mit derselben Schuld zu beladen, welche auf jenen liegt. Denn nicht nur den irdischen Richter haben sie erbittert, auch dem Himmelsherrn haben sie geraubt, was ihm zukam, als sie eine Jungfrau entführten, die geweiht werden sollte. Darum sorgt für das Heil ihrer Seelen, indem Ihr die Jungfrau zurückgebt, sonst möchte der große Richter des Himmels sich ungnädiger erweisen als der König Heinrich, und Eure Söhne für ihre Tat hinabstoßen in das Reich des üblen Drachen.«

Da rief Edith mit flammenden Augen: »Und wenn wahr wäre, was Ihr sagt, und wenn der große Himmelsgott ihnen die Wolkenhalle verschließt um so kleine Schuld, weil sie den Besitz eines geliebten Weibes begehrten und weil sie alle treu waren in der Not, meint Ihr, ehrwürdige Väter, daß die Mutter allein im Himmelssaal kauern wird, getrennt von ihren Kindern? Werden diese verworfen, so will auch ich verworfen sein; lieber will ich meinen sieben Knaben ihre Becher und Schüßlein in der finstern Hölle zureichen, als fern von meinen Kindern Euch, Ihr Heiligen, in der strahlenden Burg des Himmels.«

Der Mönch Reinhard warf sich auf die Knie, und Willigis schlug schnell das Kreuz. Er war ein alter und gestrenger Herr, der eifrig für die Kirche sorgte. Aber als Frau Edith so empört vor ihm stand, höher als sonst und einem Weibe aus der Urzeit ähnlich, da dachte er daran, daß sie von den wilden Sachsen herstammte wie er selbst auch; und obschon ihm graute, so kam ihm doch vor, als ob er wohl auch so reden könnte. Aber seiner Würde gedenkend, zog er sein Gewand zusammen und wandte sich zum Abgang. »Wer die Strafen der Menschen nicht scheut und die Strafen der Ewigkeit nicht über alles fürchtet, mit dem hat ein Priester nichts mehr zu reden.«

Edith jedoch faßte ihm das Handgelenk mit eisernem Griff. »Haltet an, ehrwürdiger Vater, Ihr selbst und wohl auch andere haben mich in meinem Glücke über Gebühr gerühmt als ein gottseliges Weib, das den Heiligen treu diene. Weshalb meint Ihr wohl, [] bin ich verwandelt? Den ältesten Sohn habe ich verloren, weil ich nach Eurem Rat forderte, daß er gegen seinen Wunsch der Kirche diene und diese Burg den Heiligen übergebe. Als er sich weigerte, habe ich ihm gezürnt, und mein Auge hat ihn seitdem nicht wieder gesehen. Finsteren Gedanken habe ich seine junge Seele preisgegeben, gerade als er den Rat und die Liebe der Mutter am meisten bedurft hätte. Untreu war ich als Mutter, weil ich den Heiligen zu getreu diente. Jetzt ist er, wie ich fürchte, in dieser Welt für mich verloren, und diese Burg, die der König ein Nest unholden Geflügels nennt, soll zerworfen werden durch Eisen und Feuer. Versucht das rühmliche Werk, laßt Eure Knechte kommen mit der Haue und dem Brande, stürmet die Mauern, erschlagt meine Getreuen und führt hinaus an Strick und Kette, was Ihr hier an lebenden Häuptern findet. Einen Leib werdet Ihr dennoch zurücklassen. Folgt mir, Ihr Geweihten, zu der Stelle, die auch Ihr ehren solltet, wenn Ihr Eures Amtes denkt.« Sie zog den Erzbischof aus der Halle über den Hof und öffnete die Tür der kleinen Kapelle. Es war nichts darin als ein Altar mit dem Kreuz darüber. »An dieser Stätte hat der große Verkünder Winfried einen Stein der Heiden geworfen, und sein Genosse Wigbert hat darüber den Altar geweiht. Euch, Erzbischof, und dem frommen Könige sollte dieser Ort ehrwürdig sein, und ich meine, Ihr solltet für Frevel halten, dies Mauernest zu zerreißen und den Flug der Vögel, welchen hier die Heiligen ihren Sitz geweiht haben. Was Ihr tun wollt, steht bei Euch, was ich tun will, berge ich Euch nicht. Brecht Ihr das Haus, dann wird dies die Stätte, wo ich ausharre unter berstenden Mauern und brennenden Balken. Sagt dem König, daß hier das Grab der Edith ist, und daß die Mutter der sieben Knaben keine andere Antwort für ihn hat.« Sie warf sich am Altar nieder, die Sendboten verließen schweigend den Raum.

»Wilde Worte hörten wir«, begann der Erzbischof zu Reinhard, als sie herabritten. »Doch auch der schüchterne Vogel wandelt seine Art, wenn ein Feind die Krallen nach seiner Brut ausstreckt.«

Reinhard antwortete seufzend: »In meinem Herzen fühle ich den Jammer über das Schicksal, welches diesem Geschlecht bereitet wird. Hochwürdiger Vater«, bat er, die Hände faltend, »wenn jemand den Helden Immo vom Tode zu retten vermag, so ist Eurer Weisheit diese gute Tat vorbehalten.«

Der Erzbischof schüttelte das Haupt. »Du kennst noch zu wenig den Sinn dieses Königs. Meinst du, daß Heinrich seine Reise unterbrochen und uns alle als Zeugen seines Tuns mitgeführt hätte, wenn er nicht seine liegende Macht erhöhen wollte, indem er die Häupter eines edlen Geschlechts auf den Rasen wirft. Selbst wenn er dem Schuldigen nicht feindlich denkt, ja auch, wenn er die Missetat in seinem Herzen entschuldigt, ihm ist doch willkommen, [] sich vor seiner Kriegsfahrt als strengen Richter zu erweisen. Denn die Trauer über des Richters Spruch fühlen nur wenige, die Kunde aber, daß er wieder einen Räuber aus der Zahl der edlen Schildträger getroffen hat, fliegt durch das ganze Land, sie schreckt die Argen und gewinnt dem König die Herzen der Friedlichen. Auch hat der König hier wenig um die Rache mächtiger Herren zu sorgen, denn einsam und ohne Anhang von Lehnsleuten haust das Geschlecht am Walde.«

»Dennoch vernahm ich, daß der König einst den Helden Immo wert hielt«, warf Reinhard bittend ein.

»Mir aber scheint sein Sinn gegen ihn verhärtet«, versetzte der Erzbischof, »vielleicht weil Held Gundomar dem Jüngling feind ist, vielleicht wegen anderem. Nicht umsonst wurde König Heinrich in Klosterzucht gezogen, er hat gelernt, was dem Manne am schwersten ist, seine Gedanken zu verbergen. Dreien Königen habe ich in die Tiefe ihrer Seele gespäht, jetzt handle ich mit dem vierten, und eifriger als die früheren dient er der Kirche durch Huldbeweis und reiche Spenden. Dennoch erkenne ich zuweilen unter dem Lammfell die Tatze eines Raubtiers, und ich merke, wenn er sich vor den Heiligen am tiefsten demütigt, denkt er am meisten an den eigenen Vorteil. Mich aber freut die kluge Art, denn auch wir sind nicht einfältig, und beide verstehen wir, wo unser Vorteil gemeinsam ist.«

Am Fuß des Berges gab der Erzbischof seinem Gefolge ein Zeichen, die Reisigen rückten im Kreis um das Geschlecht Irmfrieds, und Willigis begann zu Odo: »Steigt von den Rossen, daß er sie euch bewahre.« Die Brüder saßen unbeweglich, sahen drohend auf den Herrn und zogen ihre Schilde am Arm herauf. »Demut rate ich euch, wenn ihr dem Leben des Bruders nützen wollt; du selbst weißt, edler Odo, daß du nicht hoch zu Roß dem Könige vor die Augen reiten darfst. Denn er fordert, daß ihr euch ihm ergebt, und barhaupt, mit den Füßen im Staube müßt ihr ihm nahen.« Die Brüder sahen einander grimmig an, und Erwin gebot leise: »Schließt euch zusammen, damit wir wenden und rückwärts durchbrennen.« Aber Ortwin mahnte: »Dann stolpern die Rosse über das Haupt unseres Bruders«, und Odo sprach: »Der Pfeil flog vom Bogen, wir ändern nicht mehr seinen Lauf, taucht zur Erde und fügt euch.« Da sprangen sie von den Rossen, hingen die Schwerter ab, lösten die Helme und schritten zu Fuß unter den Bewaffneten dem Lager zu mit gerötetem Antlitz und Tränen der Scham in den Augen. Vor dem Lager ritt Willigis noch einmal zu ihnen und riet in guter Meinung: »Leichter biegt sich im Sturm der junge Stamm als der alte, und er schnellt auch wieder in die Höhe und breitet seine Wipfel lustig in die Sonne. Denket daran, daß der König vor allem Demut fordert; vermögt ihr sie nicht in [] eurer Rede zu erweisen, so werdet ihr euer Heil am besten bedenken, wenn ihr schweigend kniet.«

Der König hielt auf seinem Roß mit großem Gefolge, er sah finster über die Söhne Ediths, welche schwerfällig die Knie beugten. »Trotzig finde ich die Waldleute noch in ihrer Haft. Wo habt ihr die Jungfrau? Auch erkenne ich nicht des Königs Banner auf der Burg.«

Willigis antwortete: »In der Burg gebietet die edle Edith, und sie weigerte mir die Jungfrau, welche, wie sie sagte, in Frauenzucht gehöre und nicht in ein Heerlager, da sie die Braut ihres Sohnes sei. Und weil Frau Edith aus edlem Sachsengeschlecht stammt, welches in alter Zeit mit dem Hause des Königs befreundet war, so hielt ich für recht, daß der König selbst gebiete und der Sachsenfrau seinen Willen verkünden lasse. Denn schwere Worte sprach die Mutter in ihrem Schmerz, und ich fürchte, sie begehrt sich den Tod im brennenden Hause.«

Der König zog den Mund zu einem herben Lächeln. »Ich sah Frau Edith einst, als ich ein Knabe war. Meint sie mit dem König zu streiten, weil er sie damals im Kinderspiel auf die Hände schlug? Ist sie so bereit, die Pfänder zu verlieren, welche ich von ihr in der Hand habe? Ein Ende will ich machen mit dieser Widersetzlichkeit. Führt die Räuber ab, doch so, daß sie sich nicht ihrem Bruder gesellen. Euch, hochwürdiger Vater, bitte ich, zur Stelle mit den Fürsten und Edlen, welche mir folgten, im Rat niederzusitzen über den Raub der Jungfrau, damit Ihr mir Eure Meinung erklärt, die ich beachte, soweit ich vermag. Denn ich selbst will richten.« Und sein Pferd wendend, rief er Gundomar zu sich. »Dies geht dich an«, sprach er gütiger, »denn ist dir das Haus des toten Irmfried auch verfeindet, so wirst du doch um deiner eigenen Ehre willen dafür sorgen, daß die Frauen nicht in ihrer Torheit das Schicksal der Männer teilen. Reite hinauf und sage ihnen mein Gebot, daß sie vor mir erscheinen.«

Gundomar vernahm die Botschaft mit umwölkter Miene. »Hartes gebietet der König«, murmelte er, »mein Fuß betrat die Mauer nicht seit den Jahren mei ner Jugend.«

Aber mit blitzenden Augen rief der König: »Willst auch du mir widerstehen? In guter Meinung sprach ich zu dir. Wahrlich, es ist Zeit, eine Warnung zu geben, denn unbändig und eigenwillig gebärdet sich jeder in dieser Waldecke.«

Da warf Gundomar sein Roß herum, winkte mit der Hand, daß seine Ritter ihm folgten, und sprengte dem Berge zu. Weit vor den anderen fuhr er dahin, und die Hofleute sahen freudig auf den streitbaren Helden. Doch hätten sie sein Antlitz geschaut, die Angst darin hätte sie gewundert. Als er den steilen Bergweg hinaufritt, sank ihm das Haupt auf die Brust, und er seufzte schwer. Vor dem Wallgraben hielt er still wie einer, der nicht ganz bei sich ist, [] er vergaß sein Begehr, zum Turme hinaufzurufen, und vernahm auch nicht, daß der Vogt ihn anschrie. Erst als der drohende Ruf zum zweiten Male erklang, hob er das Haupt und starrte wie ein Träumender um sich. Da rief der alte Berthorad: »Ein Antlitz sehe ich, das ich vorzeiten fröhlicher schaute. Bringst du Frieden, Herr, so harre, daß ich dich unserer Herrin verkünde.« Er eilte von der Mauer, nicht lange, und das Tor wurde geöffnet, Gundomar winkte seinem Gefolge, zurückzubleiben, und ritt allein in den Hof. Auch dort zögerte er, abzusteigen, und zuckte am Zügel, als ob er wieder hinauswenden wollte. Aber neben ihm erhob sich die alte Gertrud am Boden: »Graues Silber glänzt in deinem Haar, aber deine ersten Locken wuchsen, als ich dich auf dem Arme trug. Kannst du dem Weibe deine Hand reichen, das allen Söhnen Irmfrieds als Wärterin diente, so sei gesegnet.«

Gundomar schüttelte das Haupt, und Gertrud rief zornig: »Sieh dorthin, du Held, der Schlehenstrauch steht noch an der Mauer. Weiß ist die Blüte, aber schwarz die Frucht; dort trank der Boden das Blut zweier Brüder, die im Todeshaß gegeneinander schlugen. Dort binde dein Pferd an, du Feind des Geschlechtes. Sechs Söhne Irmfrieds sind deiner Rache verfallen, nur das jüngste Kind ist noch übrig; ich denke, du kommst, auch mit dem letzten den Kampf zu beginnen.«

»Schweig, Alte«, versetzte Gundomar grimmig, »führe mich zu deiner Herrin!«

Gertrud wies auf die kleine Kapelle. »Traust du dich, den Ort zu betreten, wo die Sünden vergeben werden, wirst du sie finden.«

Schwerfällig stieg der Held ab und trat in das Heiligtum. An einer Ecke des Altars saß Edith auf den Stufen, sie wies auf die andere Seite. »Dort sitze nieder, Gundomar, denn die Nähe der Heiligen tut uns beiden not, wenn wir miteinander reden.«

Gundomar warf sich [DM1]auf die Stufen des Altars, und es war ein langes Schweigen im Raume. Als er sich aufrichtete, warf er scheue Blicke nach Edith und sprach abgewandt: »Eine Lüge ist es, daß die Zeit das Herz des Menschen wandelt. Die Wunde brennt heut, wo ich dich wiedersehe, wie vor fünfundzwanzig Jahren. Die Krallen des Hasses und der Eifersucht fühle ich wie damals, wo ich dich verlor; und was die Priester als schwere Sünde strafen, das hege ich unablässig in meinem Innern, den heißen Wunsch, der mich zu dir treibt.«

Edith wandte ihm ihr Antlitz zu: »Du siehst eine Mutter, die ihre Söhne großgezogen hat, und im Witwenschleier des toten Gemahls gedenkt.«

»Blicke mich nicht an mit deinen Augen, deren lichter Glanz mich einst selig machte. Nicht die Mutter erkenne ich und nicht die Witwe eines anderen, nur das Weib, das ich selbst begehrt habe.«

[] Edith schob ihr Gewand zusammen und wandte sich ab.

Aber Gundomar fuhr fort: »Wie im Traum habe ich dahingelebt alle diese Jahre, nur meine Sehnsucht nach der einen und mein Haß gegen einen anderen haben wahrhaft in mir gebrannt; alles übrige war mir wie ein Spiel der Gaukler. Oft habe ich gebüßt und die Geißel über meinem Rücken geschwungen, aber fruchtlos war das Fasten und vergeblich die Schläge, denn die bösen Feinde versuchten mich immer wieder. Noch hier merke ich sie«, raunte er, scheu um sich blickend. »Vieles habe ich auf Erden erlebt, sündige Liebe und sündigen Haß, ich sah, wie man eine Krone gewinnt und was die Herrlichkeit der Welt wert ist. Unterdes, wenn die warme Himmelssonne mich bescheint, fühle ich den Eisfrost in meinen Gliedern, verleidet ist mir diese Erde, und ich schmecke die Galle aus dem Honig. Mich jammert, daß die Menschen so begehrlich sind nach Goldschmuck und Kampfspiel und nach nichtiger Ehre. Das sage ich dir, da ich dich wiedersehe gegen deinen Willen, damit du mich nicht hassest, wenn du an mich denkst. Denn nur an deiner Meinung ist mir gelegen, um die anderen sorge ich wenig. Ich ringe und suche, was mir die Kraft gibt, zu überwinden, damit mir das ewige Erbarmen nicht fehle.«

Edith wies nach dem Kreuz auf dem Altare: »Meide den König und suche dir einen anderen Herrn.«

»Ich denke daran bei Tag und Nacht«, antwortete Gundomar leise. Und sich erhebend fuhr er mit verändertem Tone fort: »Der König sandte mich. Forderst du meinen Rat, so weißt du, daß ich dir nichts berge.«

»Rate mir, so wahr du ein Sohn dieses Geschlechtes bist.«

»Dem Könige liegt am Herzen, seine Hoheit in einem Herrengericht zu erweisen. Dazu bedarf er die Geraubte, und dich ladet er zur Mehrung seines Ansehens. Ich rate dir, daß du gehst. Denn der wird den Königen am meisten verhaßt, der sie hemmt, wo sie vor dem ganzen Volk ihre Würde erweisen wollen.«

Edith machte eine abweisende Bewegung, und Gundomar fuhr fort: »Willst du dem König in der Burg widerstehen, so vermagst du das ganz wohl; denn ihm fehlt alles Sturmgerät, und er kann nur wenige Tage vor diesen Mauern liegen, weil die Königspflicht ihn übermächtig nach dem Süden treibt. Beim Abzug wird er dem Gerhard und den Grafen in der Ebene die Fehde gegen dich und die Deinen übergeben. Auch diesen Feinden kannst du siegreich entgegentreten. Merke, Edith, die Burg und den jüngsten Sohn vermagst du lange gegen den König zu bewahren, nicht die Häupter der Söhne, welche in seiner Gewalt sind. Denn diese wird er Rache heischend werfen. Kommst du dagegen mit der Jungfrau in sein Heerlager, so denkt er vielleicht auch an deinen Wert und [] an dein Herzeleid. Darum flehe ich dich an, Edith, daß du mir folgst.«

»Rate anderes, Gundomar; die Braut meines Sohnes und die Burg übergebe ich nicht.«

»Was frommt die Brautschaft, wenn der Bräutigam schwindet, und wie kannst du ihm die Burg bewahren, wenn du ihn selbst verlierst.«

Edith barg ihr Antlitz in den Händen. »Du sprichst die Wahrheit. Aber wo die Gedanken in der Seele feindlich gegeneinander ringen und der Mensch angstvoll zweifelt, was ihn retten werde, da findet er einen Trost, wenn er treulich die Pflicht tut, welche ihm auferlegt ward. Der Herr dieser Burg und der Jungfrau hat uns geboten, beide festzuhalten; seinem Gebot folge ich, was uns allen auch darum geschehe.«

»Du verdirbst dich und andere«, rief Gundomar heftig. »Wohlan, manchen Dienst habe ich dem König geleistet, und ich meine, er wird sich scheuen, mir die Ehre zu kränken. Um deinetwillen will ich wagen, was Heinrich mir nicht befahl. Ich biete dir mit der Jungfrau und dem jüngsten Sohne freies Geleit zum Gerichte des Königs, und wenn du es nach dem Gericht begehrst, wieder in die Burg zurück. Bis zu deiner Rückkehr mögen deine Dienstmannen die Burg halten, nur daß sie friedlicher Botschaft des Königs den Zutritt nicht weigern, wenn er sich Zeugen rufen will zu seinem Gericht.«

Da erhob sich Edith: »Gelobe mir, Gundomar«, und er warf sich am Altar nieder und legte die Finger auf sein Schwert.

Unterdes war der König nach dem Hofe gesprengt, in welchem er rasten wollte. Als er durch das Gedränge von Edlen und Landleuten schritt und hier und da anhielt, um einem ehrenwerten Mann Gnade zu erweisen, erkannte er Heriman, den Goldschmied, welcher sich demütig verneigte. Der König winkte ihm ein wenig zu. Und da er seltene und kostbare Waren, wie sie der Goldschmied häufig aus der Fremde brachte, gern ansah und kaufte, so befahl er seinem Kämmerer: »Frage den Heriman, ob er etwas begehrt oder etwas bringt; begehrt er, so laß du dir seinen Wunsch sagen, und bringt er, so führe ihn zu mir.« Dem Eintretenden rief er gütig entgegen: »Wie gedeihen dir deine Fahrten auf des Königs Straße?«

»Wir Thüringe danken dem König, daß er die Raublust der Schildträger gebändigt hat«, versetzte Heriman.

»Dennoch wagt sich freche Gewalttat auf die Straße, sobald der König nur den Rücken kehrt. Ich bin hier, um über einen Friedensbruch zu richten, der euch Erfurter nahe genug angeht; und ich denke eine Warnung zu geben, welche andere Missetäter abschrecken [] soll, damit friedliche Leute wie du zu Ehren des Königs gedeihen. Was birgst du Gutes in deinem Sack, laß sehen.«

»Nur wenig habe ich, was wert ist, von dem König betrachtet zu werden«, versetzte der Goldschmied, öffnete einen Lederbeutel und breitete seine Schätze auf den Tisch: geschliffene Edelsteine, goldene Borten und zierliche Ketten, Gewürze und Balsam aus dem Orient und seltsame Kapseln, Schnitzwerk aus Elfenbein, Dolche und Messer mit kostbarem Griff und Scheide.

Der König betrachtete mit Kennerblick Schmuck und Steine und schob hier und da ein Stück zurück. »Was bewahrst du in dem Kästlein?«

»Es ist ein Ring«, versetze Heriman, »mit dem Stein, den sie Saphirus nennen, er verändert die Farbe, wenn der Ringfinger einen Becher berührt oder auch einen Teller, in welchem Gift ist. Der Stein wird jetzt sehr begehrt von vornehmen Geistlichen und Laien.«

Der König warf einen gleichgültigen Blick darauf und wies an seinem Finger einen Ringstein derselben Art. »Nicht jeden Helden meines Geschlechtes hat dieser Stein vor dem Verderben bewahrt, Heriman, es ist sicherer, den eigenen Augen zu vertrauen als der Warnung, welche aus Steinen kommt.«

»Besseres hoffe ich dem König zu bieten«, versetzte Heriman, »sobald ich von der nächsten Fahrt über den Rhein zurückkehre. Denn was hier im Lande Pilger und fremde Händler zutragen, das gelangt meist in die Hände der ungläubigen Juden, und diese legen es zuerst dem ehrwürdigen Herrn Willigis vor, weil er ihr Schutzherr ist; ich aber dem Könige.«

»Du meinst also, die Juden stören dir das Geschäft«, fragte der König, einen Edelstein gegen das Licht haltend.

»Sie haben das Geld, und wer mit kostbarer Ware handelt, vermag sie nicht zu entbehren. Auch klage ich nicht über sie, zumal Herr Willigis ihnen günstig ist, weil sie seiner Macht in der Stadt nützen.«

»Und dir gefällt die Macht des Erzbischofs in der Stadt Erfurt«, warf der König hin, in Betrachtung des Steines vertieft.

»Ein weiser Herr ist Willigis; bald werden die Mauern der Stadt zu enge sein für die Zahl der Unfreien, welche er von den Hufen des Stiftes und anderswoher unter seinem Gericht versammelt. Wir alten Burgmannen aber, die wir uns rühmen, von den Vätern her freie Leute zu sein, sehen ungern, daß der Vogt des Königs nicht mehr allein zu Gericht sitzt, denn es fehlt nicht an Schlägereien zwischen unseren Leuten und den Zugehörigen des Erzbischofs. Ich fürchte, in kurzem sind wir die Minderzahl. Doch wir wissen, es ist schwer, den Heiligen zu widerstehen.«

Der König legte den Stein weg und fragte in verändertem Ton: [] »Wie wars mit dem Raub der Grafentochter? Erzähle, was du davon weißt.«

»Die Leute des Erzbischofs haben die Nachtglocke geläutet«, entgegnete Heriman vorsichtig, »sonst würde die Stadt wenig davon wissen, zumal da niemand erstochen wurde. Selten vergeht eine Woche, wo nicht größerer Lärm in den Gassen ist. Unter den Burgmannen sind viele dem Helden Immo und seiner Sippe wohlgeneigt; denn diese gelten sonst im Lande für redliche Männer, und wer ungerecht bedrückt wird, findet zuweilen bei ihnen Schutz.«

Der König sah mit großen Augen auf den Goldschmied und befahl streng: »Packe deinen Kram ein, ich will heut deine Steine nicht sehen; denn du kommst nicht um des Kaufes willen, sondern du begehrst etwas anderes von mir.«

»Als ich todwund am Idisbach lag«, antwortete Heriman, seine Steine langsam in den Sack sperrend, »da war es Held Immo, der mich aufhob, und ihm verdanke ich, daß ich heut vor den Augen des Königs stehen kann. Ich wäre niederträchtig, wenn ich nicht gut von ihm redete, da der König zuerst mich seinetwegen gefragt hat.«

Heinrich nickte: »Du hast recht, laß nur liegen.« Heriman packte aus, und der König sah wieder auf die Steine. »Also die Leute des Erzbischofs schlugen an die Glocke. Ich höre, daß einige aus der Stadt den Räubern Vorschub leisteten und sogar mit ihren Wehren die Bewaffneten des Herrn Willigis an der Verfolgung hinderten. Weißt du auch darüber etwas?«

Heriman besann sich. »Sie sagen, daß scharfer Schwertschlag getauscht wurde, und daß Held Immo nur darum ins Unglück kam, weil er einen anderen, der, wie sie sagten, ein Erfurter war, nicht unter den Schwertern der Reisigen zurücklassen wollte. Und da manche in Erfurt glauben, daß der Held wegen seiner Treue gegen ein Stadtkind verwundet und gefangen wurde, so trauern diese über sein Unglück.«

Da schob der König den Kram heftig von sich und stand auf. »Räume fort, ich will gar nichts mit dir zu tun haben.«

Heriman öffnete zum zweitenmal seinen Beutel und packte ruhig ein. »Wenn der Herr König meint, daß die Erfurter Lämmern gleich sind, welche sich scheren lassen und dann noch aus der Hand, die sie geschoren hat, das Futter nehmen, so kennt er seine treuen Bürger nicht. Bei uns lebt mehr als einer, der einen Racheschwur gegen den Grafen Gerhard getan hat, weil dieser ein raubgieriger und ungerechter Mann ist.«

»Jetzt verstehe ich«, versetzte der König, sich setzend. »Das an dem Dolch ist ja wohl Byzantiner Arbeit, laß sehen.« Und Heriman packte wieder aus. »Wie kommt's, daß man den Mann nicht mit Weiden geschnürt hat, der, wie du sagst, für den Räuber Immo [] das Schwert zog, und dem Räuber, wie du sagst, seine Treue erwies. Mich wundert's, daß einer, der des Königs Frieden so frech gebrochen hat, frei in den Gassen wandelt.«

»Die Wächter des Erzbischofs waren Stadtfremde«, entgegnete Heriman, argwöhnisch nach dem König blickend, »und die Erfurter haben vielleicht nicht sehr nach dem Einheimischen gesucht. Auch hat der Bürger eine Gewohnheit. Bevor er im Zwielicht das Schwert zieht, so streift er sein Haar, wenn er es lang trägt, über das Gesicht; vielleicht birgt er auch seine Glieder in einem wendischen Kittel.« Er trat an den Tisch, bereit, die Steine wieder einzupacken.

»Laß nur liegen«, sagte der König, »ich sehe, dein Haar ist kurz genug. Sagtest du nicht, daß sich die Dienstleute des Erzbischofs zu eurem Schaden in der Stadt mehren?«

»Herr, die Stadt wird dabei groß, und wenn auch schlechtes Volk unter den Zugewanderten ist, so muß man doch zugeben, der Stiftsvogt des Mainzers hält über seine Leute strenges Gericht. Nur sorgen bei uns die Alten, welche Bescheidenheit haben, daß die Königsmacht dadurch kleiner wird, und daß sie vielleicht einmal ganz schwindet.«

»Denken viele wie du, daß sie lieber dem König dienen wollen als dem Erzbischof?«

»Das Mehrteil wird sagen, es kommt darauf an, wie der König ist und wie der Erzbischof ist. Dennoch, wenn der König eine starke Hand hat und sein Vogt billig denkt, so wird der Bürger freudiger einem Helden dienen, der ein Schwert trägt, als einem geschorenen Haupte.«

»Ihr selbst sitzt am liebsten daheim; aber ihr hört es gern, wenn der Spielmann vor euch singt, wie die Knie des Königs im Drange der Schlacht wundgerieben wurden«, sagte der König mit trübem Lächeln. »Gemächlicher ist dein Herdsitz, Heriman, als der Sitz deines Königs, welcher das ganze Jahr im Sattel reitet. Geh in Frieden mit deinen Waren, dies hier habe ich für die Königin ausgewählt, laß dir den Preis von meinem Kämmerer zahlen. Und vernimm noch eins, was ich dir in deiner Redeweise vertrauen will. Die bescheidenen Leute in Erfurt und anderswo meinen, der Mann handelt unweise, welcher mit unbedecktem Haupt auf der Straße läuft, wenn der Hagel herunterschlägt. Besser täte er, sein Antlitz zu bergen, bis das Wetter vorübergerauscht ist.«

»Das ist gute Lehre«, versetzte Heriman demütig, »zumal wenn sie ein König gibt. Aber wir im Lande haben ein Sprichwort, womit wir uns trösten: Je treuer der Sinn, desto dicker der Kopf.«

Als Heriman das Gemach verlassen hatte, sprach der König zu dem eintretenden Kämmerer: »Das ist ein redlicher Thüring. Sorge, daß er sein Geld ohne Verzug erhält.«

[]

Das Gericht des Königs

Auf niedriger Anhöhe stand unweit dem Mühlberg eine große Linde; dort wurde innerhalb gezimmerter Schranken dem Könige der Richterstuhl erhöht und Sitze für die Großen des Reiches, welche in seinem Gefolge ritten. Die Diener breiteten Teppiche und Polster auf das Holzwerk, das Banner des Königs ward aufgesteckt, der Rufer trat an den Eingang des Geheges, und die Leibwächter schritten mit ihren Spießen in die Runde, das versammelte Volk abzuwehren. Die Frühlingssonne schien warm, und die Lerchen sangen freudig von der Höhe, aber Landleute und Burgmannen, welche in großen Haufen herzugeeilt waren, hielten sich abseits, sprachen leise miteinander und sahen scheu nach dem Gerichtsbaum und zurück nach dem Dorfe, bei welchem das Lager des Königs war. Nicht die Ehrfurcht allein bändigte ihnen Stimme und Gebärden, sonst zogen sie wohl einem scharfen Gericht wie einem Feste zu und freuten sich, wenn das Haupt eines Missetäters auf den Rasen fiel; diesmal war den meisten der Mut beschwert, entweder, weil sie dem Helden Immo wohlgeneigt waren, oder weil sie dem Grafen Gerhard geringes Glück gönnten.

In gesondertem Haufen standen die freien Bauern vom Nessebach, in ihrer Mitte der alte Baldhard mit Brunico und seinem Geschlecht, und Baldhard streckte den Arm nach dem Ring der roten Berge aus, auf welchen die Mühlburg ragte: »Seht dorthin.«

Auf dem Grunde lag der weiße Wasserdunst, darüber strahlten die Höhen wie abgelöst vom Erdboden und wie von eigener Glut durchleuchtet. An den waldlosen Stellen schimmerte das Erdreich hier rosenfarben und blau, dort blutigrot. »Schaut alle«, rief Baldhard, »gleich rotem Golde glänzt Erde und Stein. Manches Mal sehe ich den alten Götterschein an den Höhen, und jedermann aus der Umgegend kennt das Gleißen, das man schwerlich an anderen Bergen schaut. Aber niemals erblickte ich solches Feuer, und bekümmert fragen wir, was das blutige Licht dem alten Landgeschlecht bedeute, gegen welches heut der Richterstuhl gezimmert wird.«

Alle starrten mit scheuer Verwunderung nach den Hügeln.

Und Ruodhard, der Müller, begann: »Die letzte Nacht war still und der Mond stand am wolkenlosen Himmel, dennoch hörte ich im Berg ein Dröhnen und Brechen; wie mit schweren Hämmern arbeiteten Riesenhände in dem Gestein, und ich sah, daß die Grauwölfe heulend die Nasen hoben und in den Berg hineinfuhren.«

Da rief eine rauhe Stimme: »Die in der Tiefe hausen, rüsten sich, um junge Helden zu empfangen, welche vom Tageslicht geschieden werden.«

Brunico stöhnte und wandte sich ab.

[] »Beklagst du die Söhne Irmfrieds?« fragte die Stimme neben ihm. Brunico sah auf eine riesige Gestalt in einem Rock von Wolfsfellen, das buschige Haar des Mannes starrte wild um das Haupt, in dem Gurt steckte eine Axt mit neuem Stiel. »Jammervoll ist dieser Tag, Eberhard«, murmelte der Knappe.

»Du hattest dich einem von ihnen gelobt«, versetzte der Hirt finster, »ich aber war allen sieben ein Knecht von den Vätern her. Darum bin ich neugierig, zu sehen, wie meine Herren auf ihrem eigenen Grunde von einem Fremden geschlagen werden.«

»Wisse, Eberhard, der König selbst ist gekommen, zu richten.«

»Bis heut waren die Söhne Irmfrieds Könige des Waldes, trifft ein fremder König die Sieben in den Nacken, wie mag ihr Knecht sich noch seinen Herrn suchen? Der Stiel ist neu, und das Eisen ist scharf. Schwingt keiner der Herren die Axt in den Baum, so hebt der Knecht selbst die Axt zu einem Herrenwurf, und er wählt sich das Ziel. Von meinen Ebern bin ich entwichen, damit ich den fremden Richter schaue, weißt du mir ihn zu zeigen?«

»Du wirst ihn erkennen, wenn er auf dem Richterstuhl sitzt«, antwortete Brunico und wandte sich scheu von dem Wilden ab.

Der König ritt aus seinem Hofe auf das Feld hinaus.

Die Leute sahen, daß er einen Hauptmann der Reisigen zu sich winkte, und daß dieser nach dem Lager der Königsmannen eilte. Gleich darauf tönten von dem Anger Hörner und das Getöse einer aufbrechenden Schar.

Als der König herankam mit großem Gefolge von Geistlichen und Laien, klang der Heilruf nicht freudig wie wohl sonst, und der König merkte das und schaute düster über die Haufen. Die Leute vernahmen, wie der Rufer Stille gebot und des Königs Gericht nach den vier Winden ausrief, und sie drängten schweigend an die Schranken. Als darauf Immo zum Hügel geführt wurde zwischen entblößten Schwertern und nach ihm seine Brüder, da hörte man trotz dem Gebot des Schweigens lautes Klagen und Jammern der Weiber, und viele knieten nieder, hoben die gefalteten Hände und taten Gelübde, damit die Heiligen sich der Angeklagten erbarmten.

Der König setzte sich auf den Richterstuhl und ergiff den weißen Stab, an welchem das goldene Königszeichen einer Lilie ähnlich glänzte. Erzbischof Willigis trat mit den Bischöfen und Edlen, welche der König zu Ratgebern gewählt hatte, vor den Stuhl und begann: »Da des Königs Würde selbst den Spruch tun will gegen den edlen Thüring Immo wegen Raubes einer Jungfrau und wegen Friedensbruch, so ist uns das Vorrecht geworden, im Rat zu sitzen über die Tat und die Rache. Denn so ist es Brauch, wenn der Spruch des Königs gegen das Leben eines Edlen geht. Was wir befunden haben, verkündet jetzt mein Mund dem Könige, [] wenn Seine Hoheit es vernehmen will.« Der König winkte, und der Erzbischof fuhr fort: »Gegen die ruchbare Tat des Helden Immo und seiner Brüder hat Graf Gerhard Klage erhoben wegen des nächtlichen Raubes seiner Tochter Hildegard aus dem Dach der Herberge, und daneben mein Vogt zu Erfurt wegen Friedensbruches und schwerer Verwundung seiner Reisigen. Darum möge die Gerechtigkeit des Königs erwägen, ob die schwere Tat verübt wurde gegen die Jungfrau selbst, gegen den Vater und gegen den Frieden der Stadt. Bekunden ehrliche Zeugen, daß der Mann Immo ein Räuber der Magd war, so büße er mit seinem Haupt und Leben. Hat er nur durch gezücktes Schwert den Frieden der Straße geschädigt, so möge der König ihn strafen, nicht an seinem Leben, aber an seinen Gliedern, an seiner Freiheit, an Gut und Habe, wie es dem König gefällt. Seine Gesellen aber, weil sie als jüngere Brüder die Treue des Geschlechtes erwiesen haben, möge der König strafen oder verschonen.«

Der König antwortete: »Ich rühme den Rat, den ihr Bischöfe und Herren gefunden, als gerecht und billig.« Aber hart war der Ausdruck seines Angesichts, als er auf die Gefangenen hinsah.

»Sind hier alle Söhne des toten Irmfried versammelt? Von sieben Nestlingen hörte ich singen und sagen.«

Gundomar trat heran. »Einer ist zurück, der jüngste Sohn Gottfried; schuldlos ist er, Herr, und hat keinen Teil an diesem Frevel seiner Brüder.«

»Ist er schuldlos, warum wird er dem Auge des Königs entzogen?« fragte Heinrich, »brachtest du ihn von der Burg, so führe ihn her.«

Gundomar eilte aus dem Ring, und Gottfried trat in die Schranken. Er trug das Panzerhemd, das ihm die Brüder geschenkt hatten, um das runde Gesicht ringelten sich die goldenen Locken. In holder Scham stand er da; auf eine leise Mahnung seines Begleiters trat er näher, kniete vor dem König nieder und senkte sein Haupt.

Der König sah überrascht auf den Knaben. Im Kreise der Herren erhob sich ein beifälliges Gemurmel, und aus dem gedrängten Volke klangen Heilrufe der Männer und Segenswünsche der Frauen. Der König erkannte, daß die Edlen und das Volk ihn rühmen würden, wenn er dem Unschuldigen seine Gnade erwiese. Und da ihm der Knabe gefiel, so gedachte er bei sich, das Geschlecht nicht ganz zu vernichten, sondern diesen zu bewahren, und er sprach gütig zu ihm: »Steh auf und sieh mir ins Gesicht.«

Gottfried starrte aus seinen grauen Augen so erstaunt den König an, daß dieser lächelte. »Tritt näher«, gebot er, faßte den Knaben bei der Hand und strich ihm über die Wange. »In jungen Jahren trägst du das Eisenhemd, wer hat dich so früh mit dem[] Schwert gewappnet, du Singvogel? Noch ziemt dir nicht der wilde Flug. Danke den Heiligen, daß jene dich bei ihrem nächtlichen Ritt zurückließen.«

»Gern wäre ich mitgeritten«, antwortete Gottfried arglos, »und mich reut gar sehr, daß ich's verschlafen habe.«

Da lachten die Herren ringsum über die Kinderstimme und nickten einander zu. »Ich merke«, sagte der König, »wir sind hier in dem Lande, wo schon die Nestvöglein trotzig singen, wenn auch ihre Stimme noch fein ist. Daß du den Ritt verschlafen hast, Knabe, war dir diesmal größeres Glück als die beste Heldentat. Sieh auf deine Brüder; der einzige bist du aus deinem Hofe, der ein Schwert trägt, obgleich es in deiner Hand noch schwerlich tiefe Wunden schlagen wird.«

Gottfried sah erschrocken auf seine Brüder, gürtete sich schnell das Schwert ab und legte es dem König zu Füßen. »Verzeiht mir, Herr König, ich will nicht anders gehalten sein als meine Brüder, laßt mich das Unglück, das sie trifft, auch teilen«, und er lief von dem König zu den Gefangenen und stellte sich als letzter in ihre Reihe. Aber Gundomar ergriff ihn bei der Hand und führte ihn zum Stuhl des Königs zurück. »Hebe dein Schwert auf«, befahl der König gnädig, »damit ich dich selbst damit umgürte; als Kriegsmann sollen dich, Gottfried, Sohn des Irmfried, von heut an meine Edlen ehren.«

Da erhob sich ein Summen und Brummen in der versammelten Menge, und es verstärkte sich zu einem donnernden Heilruf für den König, so daß dieser wieder befremdet über das Volk sah. Denn die Leute hofften, daß die Huld, welche der König dem Jüngsten erwies, eine gute Vorbedeutung sei für das Schicksal der anderen Brüder. Aber solche, die den König zu kennen meinten, urteilten anders.

Der König gebot: »Führt die Jungfrau herein.«

Gestützt auf Edith trat Hildegard in die Schranken. Ein beifälliges Murmeln ging durch die Versammlung, als die Frauen vor den Königsstuhl traten. Würdig verneigte sich Edith und stand mit gehobenem Haupt in der Versammlung; und der König, welcher gedachte, daß sie sich stolz hielt, weil sie von den Ahnen her dem königlichen Stamme verwandt war, faßte mit der Hand an die Lehne seines Stuhls und hob sich ein wenig aus dem Sitz, indem er sich gegen sie neigte, um die Ankunft zu ehren. Ediths Augen suchten die Söhne. Als sie Immo erkannte, das bleiche Antlitz und die schmerzvollen Züge, da tat sie einen Schritt auf ihn zu, aber sie bezwang sich und hob nur die Hand segnend gegen ihn. Neben ihr stand Hildegard, die Augen zum Boden gesenkt, ängstlich griff sie nach der Hand ihrer Begleiterin, um sich daran zu halten. »Dies ist deine Tochter Hildegard, Graf Gerhard?« [] fragte der König, und als der Graf sich bejahend verneigte, fuhr er fort: »Wenig gleicht sie dir, doch auch vom knorrigen Stamme kommt süße Frucht. Wahrlich, mancher von meinen jungen Helden wird über die Missetat des Räubers nicht erstaunen. Fasse Mut, Jungfrau, denn der Richter, welcher jetzt fragt, ist dir wohlgesinnt. Über dem Thüring Immo hängt die Klage, daß er dich mit Gewalt und entblößtem Schwerte aus dem Frieden meiner Burg Erfurt geraubt und durch seine Gesellen in sein festes Haus geführt hat. Ob es Raub einer Jungfrau war, die widerwillig der Gewalt folgte, das erkennt der Richter aus dem Notschrei der Geraubten; denn wie dem Mann das gezückte Eisen, so hilft der Jungfrau die Stimme. Hast du dich gesträubt gegen die Entführung durch abwehrende Hand, und wenn die Hand gebändigt war, durch den Mund, so sprich, damit wir dein Magdtum ehren und die Tat des Räubers erkennen.«

Hildegard hielt sich an Edith fest. Es wurde so still im Raum, daß man das Summen einer Mücke gehört hätte, aber kein Laut drang aus den zuckenden Lippen der Jungfrau.

Da trat Erzbischof Willigis zu der Schweigenden und sprach mit väterlicher Milde: »Zum Dienst der Heiligen bist du bestimmt; deshalb mahne ich dich freundlich, daß du alle Furcht abtust, denn du sprichst jetzt für deine eigene Ehre. Der Richter fragt, ob der Mann, der zu dir in die Herberge drang, dein Trauter war oder dein Räuber. Darum, hast du dir Hilfe gefordert, so antworte nur ein: Ja, ich habe.«

Im Angesicht der Jungfrau wechselte Blässe und hohe Röte, aber sie schwieg. Wieder ging ein Geflüster durch die Versammlung, und manche Lippe verzog sich zum Lächeln. Graf Gerhard aber drängte sich vor und rief ängstlich: »Möge die Hoheit des Königs Nachsicht üben mit meinem armen Kinde, dem jetzt die Angst und Scham den Mund verschließt. In jener Nacht aber hat sie gerufen, wie einer sittsamen Jungfrau geziemt, Zeter und Waffen, und hat sich gesträubt, sosehr sie vermochte, als die Räuber sie auf das Roß schwenkten.«

»Da du selbst den Schrei nicht gehört hast und die Jungfrau nicht reden will, so rufe Zeugen, wenn du deren hast«, gebot der König.

Graf Gerhard eilte an die Schranken und führte den Wirt des Hessenhofes herbei. Der Mann kniete nieder und bekannte: »Laut gellte der Notschrei einer Weiberstimme aus dem Gemach, in welchem die Jungfrau rastete, und als ich vom Lager sprang und mit meiner Waffe in das Zimmer eilte, fand ich es leer, auf der Straße sah ich Reiter davonsprengen und erkannte, daß einer die Jungfrau vor sich auf dem Rosse festhielt.«

»Der Notschrei klang von den vier Wänden«, bestätigte der [] König, »doch sah der Zeuge nicht, ob es die Jungfrau war, welche rief. Hauste das Grafenkind allein in der fremden Stadt?«

»Nur ihre Dienerin kam mit ihr«, antwortete der Graf, »ein unfreies Mädchen.«

»Warum ist sie nicht zur Stelle?« fragte der König. »Du hörst, Beklagter, etwas fehlt an dem Zeugnis gegen dich. Vermagst du den Spruch gegen dich weniger schwer zu machen durch deinen Eid und den Eid deiner Helfer, so darfst du schwören, daß die Jungfrau dir ohne die Notklage gefolgt ist.«

»Ich schwöre nicht gegen ihre Ehre«, antwortete Immo, »was mir auch darum geschehe.«

Da hob Hildegard das bleiche Antlitz ein wenig und begann leise: »Einen Goldfaden sandte ich ihm, und er bewahrt ihn an seinem Herzen, die Sommerlinde auf der Idisburg sah es und weiß es, daß er mich küßte. In der brennenden Stadt stand ein steinernes Kreuz, so wahr das Kreuz dort steht, so wahr ist es, daß er mich aus den Händen der Mörder gelöst hat durch seinen Arm und sein Schwert. Dann kam er in der Nacht, in der ich angstvoll am Boden lag, weil ich die Liebe zu ihm im Herzen trug und doch am nächsten Morgen zu den Heiligen sollte; er weiß es wohl, daß ich schwieg, als er mich auf das Roß seines Freundes hob.«

In der Stille, welche diesen Worten folgte, hörte man nur das Stöhnen des Vaters, welcher sich abwandte und die Hände vor sein Antlitz hielt.

»Folgtest du freiwillig, ohne deiner Kindespflicht zu gedenken«, fragte der König, »wer denn tat den Klageschrei? Weiß jemand Antwort zu geben, der antworte, damit der Zeuge nicht als meineidig erkannt werde.«

An den Schranken rührte sich's unter den Bürgern, welche aus Erfurt herbeigeeilt waren. Frau Kunitrud wurde von Heriman und anderen vorgeschoben, und der Rufer öffnete ihr auf einen Wink des Erzbischofs die Schranken. Sie warf sich auf die Knie und begann mit geläufiger Stimme, während sie mehrmals aufstand und wieder niederkniete, bis sie in der Nähe des Königsstuhls beharrte: »Es wird kein Brei so heiß gegessen, als er gekocht ist, und ein Kind aus Burg Erfurt traut sich auch noch vor dem Könige zu reden, zumal wenn er jung ist. Alles kann ich auf das genaueste verkünden, Herr König, denn ich selbst habe die Entführung erlebt, und sie war das ärgste nicht, was ich erlebt habe; schlimmere Gewalttat geschieht in der Welt, und noch dazu von Leuten, welche weniger gutherzig sind als dieses junge Blut. Ihr sollt wissen, Herr König, daß ich in jener Nacht bei der edlen Hildegard war. Reisemüde saß sie, oder sie lag auf dem Boden und rang die Hände, wie es ihr gerade gefiel. Da vernahm ich draußen Getümmel und Klappern von Pferdehufen, und ich tröstete die [] edle Hildegard und sagte ihr: Das tut nichts, es sind nur tolle Brüder, welche gegeneinander die Messer zücken, und es ist des Königs Wache, sie werden sich untereinander raufen, wie sie oft tun. Da sprang die Tür auf, und der Held Immo trat ein, ganz in Eisen, und er fuhr auf die Jungfrau zu, welche wie ein Rohr wankte, da sie ihn sah; er faßte sie und rief: ›Mußt du Zeter schreien, Kunitrud, so harre, bis ich zu Rosse bin.‹ Ich schlug erschrocken die Hände zusammen und lief an das Fenster, riß die Decke weg und sah hinab, aber ich sah nur Undeutliches in der Finsternis, bis ich mich endlich besann und das Geschrei erhob, wie sich geziemte.«

Der König winkte, und der Rufer bedeutete der behenden Frau, zu schweigen, worauf sich diese wieder mit Kniebeugungen aus den Schranken zurückzog.

»Folgte das Weib widerstandslos dem heischenden Manne«, entschied der König, »so vermag der Richter nicht ihre Ehre zu rächen, sie selbst hat sich ihres Rechtes begeben und ist Mitschuldige der Gewalttat. Denn nicht ihr stand zu, sich den Gemahl zu wählen, sondern ihrem Herrn und Vater. An der Jungfrau hast du, Schwertloser, durch den Raub keinen Frevel geübt; der Richter fragt, ob du ihn geübt gegen Gerhard den Grafen. Dieser aber hat, wie du selbst sagst, dir sein Kind nicht verlobt, sondern er wollte es nach dem Wunsch des Königs geschleiert den Heiligen weihen. Weißt du, Immo, was dich von dieser Missetat entschuldigt, so verantworte dich.«

Die Lippen Immos bewegten sich, aber er schwieg.

Da Immo auf die Frage, welche für sein Leben entscheidend war, nicht antwortete, hob Edith mit einem Klageschrei die Hände zum Himmel, eilte durch die Versammlung zu ihrem Sohn und umschlang ihn mit ihren Armen. Er aber warf sich vor seiner Mutter nieder und barg sein Gesicht in ihrem Gewande.

Unter den Brüdern entstand eine Bewegung, Odo trat ein wenig vor und begann auf einen Wink des Richters: »Immer wünschen wir, daß der König uns gnädig sei, zumal wenn wir vor ihm sprechen sollen und doch behender Worte nicht sehr mächtig sind. So geht es jetzt mir. Was aber die Klage des Grafen Gerhard angeht, so behaupte ich, Odo, Irmfrieds Sohn, und mit mir meine Brüder Ortwin und Erwin, Adalmar und Arnfried, daß die Klage völlig eitel und nichtig ist, und wenn des Königs Huld uns Schwert und Roß gewähren will, so sind wir fünf, die wir jetzt schwertlos stehen, bereit, dies gegen den Grafen Gerhard und vier ehrliche Kämpfer seiner Freundschaft zu erweisen, überall, wo die Sonne scheint, die Luft weht und der Anger grünt.«

Der König sah verwundert auf den jungen Helden, dem man wohl anmerkte, wie er die Worte bedächtig erwog, während er die [] grauen Augen und das unbewegte Gesicht auf die Versammelten richtete. »Du bist ein verwegener Gesell, daß du die Klage über eine ruchbare Missetat ungehörig schiltst. Du selbst hast die geraubte Jungfrau auf der Burg verschlossen.«

»Ich bin nicht mein Bruder«, versetzte Odo trocken, »mir war auch bisher ganz wohl in meiner eigenen Leibeshülle. Die Klage aber geht gegen den Helden Immo und nicht gegen mich. Darum ist sie grundlos, und für jedermann ist deutlich, daß mein Bruder die Jungfrau nicht geraubt hat. Sie hat den Rücken seines Rosses nicht berührt; als sie in der Nacht unter den Sternen dahinfuhr, war er gar nicht in ihrer Nähe, als sie hinter dem Burgtor abgehoben wurde, lag er weiter von ihr entfernt als die Stadt von der Burg. Wir im Lande aber strafen nur die schwere Tat, nicht schweren Willen. Was er gewollt hat, darum mögen sich die Unsichtbaren kümmern, welche, wie uns die Priester sagen, sogar die Gedanken eines Mannes er spähen, der Richter unter der Linde spricht nur über ruchbare und greifbare Tat.«

Der König musterte mit scharfem Blick den stattlichen Jüngling. »Wenn ich dich und deine Brüder betrachte, so wundert mich nicht, daß ihr die Sache wieder von des Königs Bank hinweg auf die Beine eurer Rosse bringen wollt. Ich merke, du wagst vor dem König Haare zu spalten. Was jener nicht vollbrachte, tat einer seiner Blutgesellen.«

»Dies gerade ist es, was ich der Gerechtigkeit des Königs sagen wollte. Ungern redet ein Mann gegen sich selbst. Auch ich erinnere hier nur daran, daß er schuldlos an der Tat erkannt werden möge, weil er der älteste von uns Brüdern ist, und wie ich wohl weiß, unserer Mutter der liebste. Und ich fürchte, sein Tod würde ihr das Herz brechen. Muß also Strafe das Haupt eines Mannes treffen, weil das Grafenkind auf ein Roß geschwenkt wurde, so darf doch nicht mein Bruder für die Tat büßen, die ein anderer vollbrachte. Hätte Graf Gerhard diesen anderen verklagt, so dürfte der andere sich nicht beschwert fühlen.«

»Du selbst warst der andere?« fragte der König.

»Die Jungfrau wurde dem gereicht, der das stärkste Roß hatte«, versetzte Odo vorsichtig. »Das Roß wurde vor Jahren von dem Weidegrund des Königs nach Thüringen geführt, es ist vom besten sächsischen Schlag.«

»Auch der Reiter, wie ich merke«, versetzte der König. »Tritt zurück, Jüngling; die Klage nennt nach Recht den Urheber, er gab den Rat, er stiftete die Tat, ihm frommte das Vollbringen. Du aber warst nur sein Gehilfe. Zum anderen Mal frage ich dich, Immo, weißt du etwas, was dich entschuldigt, so sprich.«

Immo stand in hartem Kampf, er wußte wohl, daß Gerhard in Wahrheit niemals der Vermählung günstig gewesen war, er selbst [] hatte früher dem König gestanden, daß der Graf ihm kein Versprechen getan habe, und obwohl er jetzt in Todesnot war, so erschien ihm doch nicht mannhaft, an nichtige Worte des Gegners zu mahnen. Während er mit seinen Gedanken rang, ob er reden sollte oder schweigend den harten Spruch erwarten, begann der König, zu dem Erzbischof gewandt: »Als die Ratgeber mir durch Euren Mund, hochwürdiger Vater, ihren Rat kündeten, haben sie, so scheint mir, eines nicht erwogen. Der Thüring Immo war es, welcher dem Grafen zu Hilfe kam, als dieser in Kerkernot saß. Denn hätte der Jüngling nicht vor mir das Knie gebeugt, so würde der Graf einem schweren Schicksal nicht entgangen sein. Damals nun hat, so scheint mir, der Jüngling von dem Grafen selbst ein Versprechen erhalten, welches die Tochter betraf. Hat aber der Jüngling den Raub verübt auf Grund eines Gelöbnisses, das er von dem Vater empfing, so würde seine Verschuldung gegen den Gerhard gering erscheinen, denn er hätte durch empfangenes Versprechen ein Recht auf die Jungfrau gewonnen, wenn auch der Raub ein Frevel gegen den König und den Stadtfrieden war.«

Da drängte sich Graf Gerhard eilig hervor und rief laut in dem Ringe: »Keinerlei Gelübde hat der Räuber erhalten, und kein Schwur vermag ihm zur Entschuldigung zu gereichen; weder die Tochter noch irgend etwas anderes habe ich ihm verheißen, damit er tue, was mir zum Heil helfen konnte. Ganz ohne Entgelt wagte er, was für ihn kein schwerer Dienst war, da des Königs Gnade über denen, die im Unglück sind, ohnedies barmherzig waltet. War ich ihm einen Dank schuldig, so hätte ich ihm wohl etwas Gutes erwiesen durch ein Roß oder ein stattliches Gewand, wie es im Lande Brauch ist, nur nicht durch so unerhörten Lohn, wie das Magdtum meines Kindes.«

»Wie!« rief Heinrich, »war er so töricht, deine Sünden zum Könige zu tragen, ohne den Brauch der Welt zu üben und an den eigenen Vorteil zu denken? Ungern mag ich das glauben, wenn auch du es sagst. Sprich selbst, schwertloser Mann, redet der Graf die Wahrheit?«

Durch Immos Seele fuhr ein heißer Schmerz; hätte er den Schwur des Grafen angenommen, vielleicht wurde er jetzt der Gefahr enthoben und zuletzt doch mit der Geliebten vereinigt. Die Lehre, welche er vom Vater Bertram gekauft hatte, mochte Unglück und Tod über ihn bringen. Und doch hörte er in diesem Augenblicke der Entscheidung wieder das feierliche Flüstern des alten Mönches, das ihn damals mit Ehrfurcht erfüllt hatte, und in seiner Seele schrie es, daß der Rat hochsinnig und ehrlich gewesen war. Darum sprach er leise in der Versammlung: »Der Graf redet die Wahrheit, ich empfing keinen Schwur von ihm, weder um seine Tochter noch um etwas anderes, und ich habe sie mir geraubt, wie [] Kriegsleute in der Not tun, weil sie mir lieber ist als mein Leben.«

»Nun denn«, rief der König, »so sprich, was trieb dich damals, ein unholder Bote des Grafen zu werden?«

»Mich jammerte, daß der Edle gegen einen Ehrlosen kämpfen sollte, und mehr noch als das Schicksal des Gebundenen ängstigte mich die Trauer der Jungfrau. Und Herr, wenn ich alles sagen darf, wie es mir damals erging, ich trug den Brief wahrhaftig in Einfalt und treuem Sinn, denn ich wußte und bedachte nicht, daß ich meinem huldreichen Herrn Ungünstiges reichte.«

Da flog ein heller Schein über das Angesicht des Königs. War es ein Sonnenstrahl oder ein Wetterleuchten aus seinem zornigen Gemüt, das wußten die Herren nicht, die den König mit gespanntem Blick betrachteten.

Nur der Erzbischof erkannte, daß in dem Gemüt des Königs etwas vorging; und da Willigis ein sehr kluger Herr war, so dachte er der veränderten Meinung des Königs Genüge zu tun, um zugleich sich selbst einen Gewinn zu schaffen, den er sich seit langem ersehnte. Deshalb begann er: »Alle preisen wir des Königs Huld, welche auch an dem schuldigen Mann das Ehrenwort zu ehren weiß, und viele gibt es hier, welche ein mildes Urteil für ihn ersehnen. Keiner aber wagt für ihn zu sprechen, weil er an der Kirche und den Heiligen gefrevelt hat, indem er ein Weib entführte, welches der König dem Herrn verloben wollte. Darum ziemt vor anderen mir, meinen Herrn und König flehend zu mahnen, daß er sowohl der Kirche eine Sühne gewähre, als auch dem Schuldigen Leben und Ehre erhalte. Möge der Weisheit des Königs gefallen, den Berg und die Burg, welche Held Immo verwirkt hat, den Heiligen zu übergeben, damit sie fortan dem Erzbistum gehören und damit ich einen Lehnsmann hinaufsetze, entweder den Helden Immo selbst oder einen anderen, wie es dem König gefällt.«

Der König sah überrascht auf den Erzbischof. Er gedachte der Worte welche ihm Heriman zugetragen hatte, und ihm gefiel gar nicht, den mächtigen Priester zum Herrn im Lande zu machen. Dennoch konnte er die Hilfe desselben nicht entbehren, und so saß er, das Gesicht freundlich ihm zugewandt, aber in seinem Herzen meinte er es weit anders. Denn ihm hatte noch diesen Morgen im Sinne gelegen, die Mühlburg für sich selbst zu behalten, aber sie vielleicht als Lehen des Reiches einem Manne aus Irmfrieds Geschlecht zu übergeben. Darum hatte er heimlich seinen vertrauten Kriegsmann auf die Burg gesandt, welcher in Abwesenheit der Herrin einen Versuch machen sollte, die Besatzung zu täuschen und zu überwältigen, und er hatte ihm geboten, stracks eine Stelle der Mauer zu brechen, damit des Königs Macht sichtbar werde. Jetzt gefiel ihm dieser Gedanke noch mehr.

[] Während der König auf die Antwort sann, hörte er das Rauschen eines Gewandes. Ein Mönch kniete zu seinen Füßen, es war Reinhard aus Heroldsfeld, der Vertraute seines Kaplans, des frommen Godohard. Er winkte dem Demütigen zu: »Was begehrst du, Vater Reinhard, der du jetzt durch Herrn Bernheri zum Präpositus deines Klosters ernannt bist?«

»Nicht aus eigenen Gedanken, sondern nach dem Willen meines Herrn Bernheri wage ich Unwürdiger in dieser hohen Versammlung zu bitten, zunächst, daß Herr Willigis mir verzeihe, wenn ich anders spreche, als ihm selbst gefällt. Die Mühlburg liegt nahe den Hufen und Wäldern, welche dem heiligen Wigbert gehören, und keine Sicherheit hat das Kloster in Thüringen zu hoffen, wenn nicht der Gewappnete, welcher auf der Mühlburg haust, dem Kloster gehorcht. Auch ist bereits ein Heiligtum auf dem Berge, welches Sankt Wigbert selbst geweiht hat, und das edle Geschlecht des Helden Immo betet seit der Urzeit an den Altären des Klosters. Darum flehe ich, daß es der Gnade des Königs und auch der Weisheit des Erzbischofs gefallen möge, den Berg und die Burg meinem Kloster zu gewähren, damit dieses einen treuen Kriegsmann hinaufsetze, der auch dem König wohlgefällig ist.«

Der König sah das zornige Gesicht des Willigis, und um seinen Mund zuckte ein schadenfrohes Lächeln, denn ihm war lieb, daß die zweite Bewerbung leichter machte, dem Erzbischof für jetzt seinen Wunsch zu verweigern. Er hinderte also die Gegenrede, welche der Erzbischof vorbereitete, indem er antwortete: »Uns ziemt demütige Erwägung, wenn zwei so fromme Väter sich dasselbe Gut begehren. Da du aber mir sagst, daß das Geschlecht des edlen Immo sich längst den heiligen Wigbert zum Beschützer und Fürbitter erwählt hat, so will ich dich, Immo, selbst fragen: We kommt es doch, daß ihr seither vermieden habt, den heiligen Wigbert als Herrn zu erkennen. Übel hast du, so scheint es, dich beraten, daß du dich der Lehnshoheit des Heiligen entzogst, denn er vermöchte dir jetzt vielleicht die Mauern zu erhalten.«

Was der König sagte, fiel schwer auf das Herz des bedrängten Mannes, dennoch trat er mit gehobenem Haupte vor: »Herr, was ich als freies Erbe von meinen Vätern übernommen habe, das wollte ich in Ehre und Wert unvermindert den Nachkommen überlassen; immer war der Stolz meiner Ahnen, keinem Lehnsherrn zu dienen.«

»Und doch würdest du jetzt froh sein«, warf ihm der König prüfend entgegen, »wenn du dein Erbe wenigstens als Besitz aus der Hand der Kirche zurückerhieltest, damit du hättest, wo du dein Haupt birgst.« Immo schwieg. »Antworte mir«, befahl der König. Immo kniete nieder. »Da mein Herr und König mich fragt, so will ich, obwohl in Todesnot, eine ehrliche Antwort geben. Kleiner [] wird jährlich die Zahl der Freien im Lande, mein Geschlecht aber saß seit der Urzeit auf diesem Grunde. Nicht vom König und nicht von der Kirche stammt unser Recht, sondern von der milden Himmelssonne selbst erbaten meine Ahnen ihr Eigen, bevor König und Kirche im Lande herrschten. Wenig liegt mir am Leben, da ich doch alles verloren habe, worauf ich hoffte, aber ein Vasall werde ich nicht.«

In dem Kreise der Edlen entstand eine Unruhe, und Heinrich rief: »Wahrlich, der König mag zufrieden sein, daß das Erbe deines Hauses nur klein ist, denn du steigst über den Adler und fährst höher in deinen Gedanken als die Großen des Reiches, welche selten verschmähen, auch von anderen als dem Könige Land und Leute zu empfangen. Nicht unwahr reden die Menschen, wenn sie euch die kleinen Könige aus dem Walde nennen. – Jetzt aber gedenke vor allem, ob du der Not dieser Stunde entrinnst. Als den Räuber seiner Tochter hat dich Gerhard verklagt, und zum drittenmal warne ich dich. Rede, wenn du etwas weißt, was dich gegen ihn entschuldigt, denn du redest für deinen Hals.«

Da sprach neben dem Könige eine leise Stimme: »Lieber Herr König, ich weiß etwas.« Heinrich winkte den jungen Gottfried an sein Ohr, dann befahl er ihm, laut zu reden. Der Knabe trat in den Ring vor den Grafen und begann mutig: »Was mein Bruder verschweigt, daran will ich ihn mahnen: Gedenke, Graf Gerhard, daß du einst meinen Bruder Immo einen Frosch nanntest, der aus dem Weiher zu der Königstochter hinaufhüpft. Damals fordertest du selbst, daß mein Bruder ihr Geselle werden sollte, und du befahlst der Hildegard, weil sie den kalten Frosch nicht anrühren wollte, daß sie es doch tun mußte. Aus einem Becherlein haben sie getrunken und aus einem Schüßlein gegessen, und mit einem Goldfaden haben sie sich gebunden, den sie meinem Bruder Immo geschenkt hat. Heute widerstrebst du mit Unrecht, daß er ihr Gemahl wird, denn du selbst hast deine Tochter dazu angestiftet, daß sie ihn wert halten sollte.«

Der König fragte ergötzt: »Was weißt du auf die Sage des jungen Helden zu antworten? Hast du selbst den Jüngling und die Jungfrau vertraulich gemacht, wie darfst du dich beschweren, daß sie auch später sich zueinander gesellten?«

Da rief Graf Gerhard zornig: »Habe ich jemals einiges von dem Frosch gesagt, so vermag der König leicht zu ermessen, daß dies nur scherzweise und beim Trunk geschehen ist, wie man mit Kindern wohl zuweilen handelt. Im Ernst aber habe ich nie daran gedacht, den Helden aus den Waldhecken zum Gemahl für mein Kind zu wählen, denn damals stand er noch in Klosterzucht, und später hatte er die Gunst des Königs verloren. Auch war dieses Geschlecht eines Zaunkönigs, welcher hier gegen mich piept, mir und meinen Mannen oft feindselig und abgeneigt.«

[] Da errötete Gottfried im Eifer und rief: »Darf ich ihm noch einmal antworten, Herr König? Eine andere Sage hörte ich in den Waldhecken, die er schmäht, daß einst Wolf Isegrim, ein Graf unter den vierfüßigen Tieren, das Nest der Zaunkönige verspottete, aber teure Buße zahlte er dafür. Denn die Vögel aus den Lauben begannen einen Streit gegen ihn, und als sie in einer Waldlichtung aufeinander trafen, da wurde dem Wolf das Fell gerauft, und Isegrim stand am Abend mit entblößtem Haupt an dem Nest der Zaunkönige und bat demütig vor allem Volk die kränkende Rede ab. Laßt Euch erzählen, wie Wolf Isegrim da mals Abbitte tat. Der jüngste Nestling aus dem Geschlecht, das er geschmäht hatte, wurde ihm gegenübergestellt, und vor ihm mußte der Wolf sich demütigen. Merke wohl, Graf Gerhard, ich weiß das genau, denn der junge Vogel war ich, und du warst der Wolf.«

Der Graf wurde zornrot, und unwillkürlich tastete seine Hand nach der Schwertseite. Aber im Kreise der Herren erhob sich ein schallendes Gelächter, und Gottfried fuhr fort, indem er dem Grafen näher trat und nach dem Schwerte desselben wies: »Bei diesem Kreuz wurde beschworen, daß die Fehde abgetan sein sollte und aller Groll vergessen. Und beim Mahle trug ich dir die erste Kanne Wein zu, und ich, den du jetzt wegen seiner Stimme schmähst, sang dir den Willkommen. Denke auch daran, Graf Gerhard, wie du damals zu meinem Bruder sprachst: ›Sehr leid tut es mir, Immo, daß der König mit meiner Tochter anderes im Sinne hat; wenn ich mit ihr verfahren könnte wie ich wollte, so meine ich, sie würde es nirgends besser haben als bei euch in den Waldlauben, und gern würde ich sie dir gewähren, da ich weiß, daß sie dir lieb ist.‹ So hast du geredet, und so hast du selbst ihm den Mut gegeben, sich die Braut zu holen.«

Wieder ging ein Summen und Lachen durch den Ring, der Graf suchte ängstlich im Angesicht des Königs zu lesen, und niederkniend sprach er: »Ich flehe, daß die Weisheit des Königs nicht vergangene Rede zu meinem Schaden gelten lasse. Denn wenn ich auch hier und da bessere Gesinnung gegen den Helden Immo hatte, durch den Raub der Jungfrau und durch den Friedensbruch sind er und sein Geschlecht aus Frieden und Ehre gesetzt, und kein Edler kann billigen, daß ich mein Kind, auch wenn es nicht geschleiert wird, einem von jenen dort vermähle.«

»Du hast ein Recht, so zu sprechen«, versetzte der König ernsthaft, »und mich freut's, daß du gelernt hast, strenge über einen Mann zu urteilen, der geraubt hat. Nicht vergebens hast du mich gemahnt, denn der König ist dazu gesetzt, jedem sein Recht zu geben, das er sich verdient hat.«

Draußen klang Hufschlag; der Hauptmann trat gegenüber dem König in die Schranken und warf einen ausgebrochenen Mauerstein [] vor dem Richterstuhl auf den Boden, zum Beweis, daß des Königs Befehl vollführt sei. Da hob Heinrich seinen Arm und rief den Söhnen Irmfrieds zu: »Die Burg eurer Väter ist in der Hand des Königs, und harte Hände meiner Krieger werfen die Steine der Mauer, damit das Volk erkenne, daß der König Herr ist im Lande.« Die Versammlung erhob sich, die Gewappneten schlugen an die Waffen und riefen dem Könige Heil. Aber die Söhne Irmfrieds sprangen erschrocken zusammen, und Edith sah bekümmert nach dem Helden Gundomar, der bei den Worten des Königs zuckte wie von einer Natter gestochen.

Und der König fuhr fort: »Die Mauer breche ich so weit, daß der König mit seinem Heergefolge unter freiem Himmel hereinreitet; du, Gottfried, magst die Mauer wieder aufbauen und für dein Geschlecht bewahren. Was dem König anheimgefallen ist durch den Frevel deiner Brüder, das gebe ich dir, dem Schuldlosen, zurück in deine Hand als dein freies Eigen, das du fortan behaupten sollst als ein Geschenk, das nicht von der Sonne stammt, sondern von der Gnade des Königs. Denn dem Könige liegt auch am Herzen, die alten Landherren zu schützen, wenn sie nicht Bedrücker ihrer Nachbarn werden.« Er wandte sich zu dem Erzbischof und zu Reinhard und fuhr weiter fort: »Darum mögen mir auch heilige Männer meines Landes nicht übel deuten, wenn ich ihren frommen Wunsch für die Kirche diesmal nicht gewähre. Oft habe ich gewährt, da sie oft bitten. Hier aber geht, wie ihr alle merket, der Handel um Königsgut zwischen zwei Königen; der eine bin ich, und der andere ist hier der kleine König aus den Waldhecken, und darum will ich einem Herrn meinesgleichen nicht zuwider sein, wenn sein Krönlein auch nur klein ist.«

Da der Erzbischof sah, daß der König ihm die Mühlburg versagte, so war ihm lieb, daß die Mönche von St. Wigbert sie auch nicht erhielten, sondern ein Knabe, den er sich einst geneigt machen konnte, und er antwortete lächelnd: »Der König hat weise entschieden und uns allen das Herz erfreut, indem er das Geschlecht eines seligen Bekenners vor den Edlen ehrte. Du aber, Jüngling, denke daran, daß du fortan als Herr auf eigenem Grunde gebietest.«

Der Knabe stand nachdenkend, dann trat er vor den König. »Ist's an dem, lieber Herr König, daß ich jetzt Herr bin über die Mühlburg?«

Der König zog einen Ring vom Finger und faßte die Hand des Knaben. »Schwach ist deine Hand, du mußt ihn auf dem Daumen tragen«, sagte er. »Wie ich diesen Ring hier abziehe und dir anstecke, so übergebe ich, was dem Reiche an Berg und Burg deiner Väter gehört, dir zu freiem Eigen.«

Gottfried küßte die Hand des Königs und rief freudig: »Und ich [] darf mit dem Gut beginnen, wozu nur immer ein Herr sein Gut gebrauchen will?«

»Das darfst du, Jüngling«, versetzte der König unruhig, denn er sah den jungen Burgherrn zwischen dem Erzbischof und dem Mönch Reinhard stehen. »Nur beachte wohl, daß du es nicht zum Schaden des Königs gebrauchst.«

Da schlug der Knabe froh die Hände zusammen und rief: »Nicht zum Schaden des Königs, sondern zu seinem Nutzen, denn ich will der Burg einen Herrn geben, der dem Könige besser dienen kann als ich.« Und er zog den Ring von seinem Daumen, lief damit durch die Versammlung zu seinem Bruder Immo, kniete vor diesem nieder und rief: »Nimm den Ring, mein Bruder, und nimm den Berg aus meiner Hand und dulde, daß ich dich als meinen Herrn ehre, denn lieb bist du mir, und gütig warst du mir immer wie ein Vater.«

Immo warf seine Arme um den Bruder, die Tränen brachen ihm aus den Augen, und beide hielten einander umschlungen. Alles in den Schranken war still, die Augen des Königs leuchteten hell, aber auch er schwieg, bis Gottfried seinen Bruder an der Hand nahm und zum Könige fortriß. Dort warf sich der Knabe nieder, umfaßte die Knie des Herrn und wollte ihn anflehen, aber er legte das Haupt auf die Knie, hielt den König umklammert und schluchzte in seinem Schoß.

Der König, dem ganz ungewohnt war, daß ihn Kinderarme umschlangen, machte zuerst, seiner Würde gedenkend, eine Bewegung, den Weinenden abzuschütteln. Aber das Zutrauen und das heiße Weinen bewegten ihm das Herz, und er sprach leise: »Habt ihr je, edle Herren, bessere Rede eines Bittenden gehört? Auch du schweigst, Immo, und auch dir rinnt Tau von den Wangen? Ist das euer Lied, womit ihr die Herzen rührt? Noch mehr!« fuhr er fort, als er sah, daß die Brüder und die Mutter vor ihm knieten, »ihr versteht gut, wie man eines Königs Gnade gewinnt, leise nur dringt der Gesang in das Ohr, aber er vermag wohl den Zorn zu tilgen. Steh auf, Knabe; und du tritt näher, Immo, dein Recht sollst du erhalten im Guten und Bösen, wie du verdient hast.«

Mit bleichem Antlitz trat Immo vor den Stuhl des Herrn und beugte das Knie. »Ich sehe dich vor mir«, fuhr Heinrich fort, »wie an jenem Abende, wo du den Brief des Grafen zu meinen Füßen niederlegtest. Damals war ich unwillig, weil du zum Vorteil eines anderen schwere Sorge auf mein Haupt sammeltest, und ich habe seitdem in meinen Gedanken mit dir gezürnt. Denn, Immo, ich war dir von Herzen zugetan, und ich vertraue ganz fest deiner Treue und deiner guten Gesinnung zu mir. An jenem Abend nun meinte ich mich von dir verraten, und daß du, um das Grafenkind zu gewinnen, die Treue gegen mich verleugnet hättest. Das tat mir [] von dir weh, und darum war seitdem dein Tun mir verhaßt. Heut aber habe ich erkannt, daß du redlich gegen mich warst, wenn auch unbedacht. Darüber bin ich froh. Und obgleich du gegen den Frieden des Landes gefrevelt und meinen Willen gekreuzt hast, und obgleich ich einen Spruch gegen dich finden muß als Herr, der über Recht und Frieden zu walten hat, so will ich dir doch vorher die Ehre geben, die der König einem Edlen gibt, der ihm lieb ist.« Der König erhob sich schnell, streckte die Hand nach dem knienden Immo aus, hob ihn auf, küßte ihn auf den Mund und lachte ihn freundlich an, und sein Antlitz, das sonst bleich war wie das eines leidenden Mannes, rötete sich, wie einem geschieht, der sich heimlich freut.

Als der König so huldreich dem Gefangenen seine Ehre gab, schlugen die Gewappneten mit den Waffen zusammen und riefen dem Könige Heil, und um die Schranken erhob sich ein Jubelgeschrei, welches nicht enden wollte.

Aber den Freudenlärm übertönte ein so gellendes und ungefüges Jauchzen, daß auch eifrige Rufer erstaunt innehielten, und eine blinkende Axt flog aus dem Volkshaufen nach dem Gerichtsbaume und schlug krachend in das Holz des Wipfels. Als um den Werfer ein Tumult entstand und der König verwundert auf das Gedränge sah, eilte Brunico heran, und auf einen Wink des Königs in die Schranken gelassen, erklärte er begütigend: »Der wilde Sauhirt tat es in übergroßer Freude, weil er den Hofbrauch wenig kennt.«

Heinrich sah über seinem Haupte das Eisen durch die Äste blinken, er ahnte eine überwundene Gefahr und sprach lächelnd zu Immo: »Subulcus curculos secat Der Sauhirt schneidet Reiser.. Ist das eure Art, Ruten zu schneiden, wenn ihr einen widerwärtigen Schüler strafen wollt?« Und er nahm ein abgeschlagenes Reis, welches an seinem Gewand haftete und schlug damit auf Immos Finger.

»Jetzt aber höre in Demut, auch was dir leidvoll wird«, begann er wieder mit Königsmiene und setzte sich auf dem Stuhl zurecht: »die Jungfrau, welche du entführt hast, damit sie dein Gemahl werde, verweigert dir der Vater, und du mußt ihr entsagen, wenn dir nicht gelingt, den guten Willen des Grafen für dich zu gewinnen. Bist zu zufrieden mit dem Spruch, Graf Gerhard?«

Der Graf stand in großer Verwirrung. Daß der König den Gefangenen durch einen Kuß ehrte und ihm seine Ehre vor der Versammlung bestätigte, ängstigte ihn sehr, weil er die geheimen Gedanken des Königs falsch gedeutet hatte; und er vermochte, wie gewandt er sich sonst zu biegen wußte, doch nichts Schickliches zu erwidern, sondern stieß nur heraus, nach Art der Thüringe, welche ungern ja sagen: »Hm«, und »Allerdinge, es ist, wie der König [] meint«; aber ihm ahnte, daß er in einem üblen Handel war, und daß der Richter ihm noch Arges sann. Dabei fiel sein umherirrender Blick auf Heriman, welcher außerhalb der Schranken dem König gerade gegenüberstand, und seine Angst wurde noch größer. Der König aber fuhr gegen Immo fort: »Da mein Vogt von Erfurt keine Klage gegen dich erhoben hat wegen deines nächtlichen Rittes, so besteht gegen dich die Klage der Erzbischöflichen wegen Tumults und schwerer Verwundung. Die Wunden wirst du nach Landesbrauch entschädigen, wegen des gebrochenen Stadtfriedens sollst du ohne Schaden an Leib und Leben das Land räumen. Und ich versage dir deine Heimat, Dach und Herd auf ein Jahr und einen Tag von morgen an.« – Ein leiser Klageton des Gefangenen zitterte durch die Luft.

»Und nach Jahr und Tag«, fuhr der König fort, »falls die Heiligen uns gnädig sind, sollst du, Held Immo, deinen König zu dem Hochfest laden, das du feierst, wenn du dich vermählst. Ich selbst will zur Stelle sorgen, daß ich dir deine Braut werbe, denn ich habe nicht vergessen, daß du einst zwischen mir und meinen Feinden standest. Deshalb gedenke ich jetzt mit dem Grafen zu reden, ob er mir Gehör gibt. Manches weiß ich von seinen Gedanken und Taten, was vertraulich zwischen uns beiden bleibt, und ich weiß auch, daß er dir im Grunde wohlwill, nur daß er des Königs Zorn scheut. Denn er hat nicht nur günstig über sein Kind zu dir gesprochen, er hat sogar damals, als du am Main vom ihm rittest, schon den Goldstoff erworben, den ein Grafenkind schwerlich tragen würde, außer wenn sie sich einem König vermählt; und der König konntest doch nur du oder ich sein, ich aber habe meine Königin und du noch nicht. Habe ich deinen Sinn recht gedeutet, Graf Gerhard, so sprich.« Und Heinrich warf einen Herrenblick auf den Schuldigen, so daß dieser, sich niederbeugend, nichts weiter sagen konnte als: »Des Königs Weisheit rät immer das Beste.«

»Dann rate ich dir auch, dem Goldschmied Heriman den Stoff zu bezahlen, und daß du ihm zu dem Preis das Fünffache darauflegst, damit der Schmied eine reiche Spende in die Hand meines hochwürdigen Vaters Willigis von Mainz opfere. Denn auch Heriman hat Ursache, den Heiligen dankbar zu sein, weil sie ihn damals und später aus großer Gefahr befreit haben. Du aber, Held Immo, sollst, bis Jahr und Tag vergangen sind, mit deinem Könige reisen, der jetzt seine Kriegsfahrt rüstet. Unterdes wird die Jungfrau im Hause der edlen Edith zurückbleiben, wenn der Vater, wie ich wünsche, die Herrin gleich zur Stelle darum bittet und diese es ihm gewährt. Du, junger Gottfried, bewahrst bis zur Heimkehr des Bruders sein Erbe und legte es ihm in seine Hand zurück, wie du schon heute getan; ihr anderen Söhne des Helden Irmfried aber steigt auf die Rosse und folgt dem Bruder in meinem Heere. Sooft [] die Speere an den Schilden der Welschen dröhnen, hoffe ich euren Gesang zu hören.«

Der König erhob sich, legte den Richterstab in die Hand des Erzbischofs und trat vor Edith.

»Und jetzt, Base Edith, wenn der König durch die gebrochene Mauer reitet, willst du ihm dennoch freundlichen Willkommen sagen? Mit großem Gefolge komme ich, und nur wenige Stunden werden wir dich beschweren; doch man rühmt ja, daß Speicher und Keller, wo du waltest, reichlich gefüllt sind. Heut sollst du deinen Stammgenossen und Vetter gastlich empfangen, denn als Freund schwingt sich des Reiches Aar zu dem Nest der Zaunkönige.«

Schluß

Im Lande der Alemannen weilte der gebannte Immo auf einem Hofe des Königs, bis seine Wunde geheilt war und seine Brüder mit reisigem Gefolge dem Heere zuzogen. Als Heinrich über die Alpen nach Italien drang und durch Überraschung und Gewalt den Widerstand seiner Feinde brach, da führte Immo das Banner der freien Thüringe vom Walde, wie einst sein Vater getan; er und seine Brüder fochten in den Straßen Pavias gegen die empörten Welschen, und als König Heinrich von einem treuen Bischof in Pavia zum König des langobardischen Italiens geweiht wurde, klang auch Immos Heilruf unter den Säulen und Steintrümmern der alten Königsstadt. Heinrich kehrte im Sommer nach Deutschland zurück, aber er ließ die Brüder als Wächter gewonnener Burgen durch den Winter in Italien.

Seit jenem Gericht waren Jahr und Tag vergangen, ein neuer Sommer zog ins Land, und kleine Blätter schlüpften aus den Baumknospen, da legten die Mannen Immos der Mühlburg festlichen Schmuck an, sie hefteten Fichtenkränze an Tor und Zinnen und breiteten schöne Teppiche aus dem Lande Italien an die Wände und über den Fußboden. Denn im Ringe seiner Edlen vermählte König Heinrich den Burgherrn mit der Tochter des Grafen, und der große Erzbischof erteilte den Vermählten den Segen der Kirche. Edith schritt im Brautzug an der Hand des Königs, gefolgt von sechs Söhnen; auch Graf Gerhard trat hinter dem König einher, er lächelte nach allen Seiten und freute sich, aber er war verfallen und gar nicht in seiner alten Kraft, denn auf dem Kriegszuge hatte ihn ein Pfeilschuß verwundet, und im Heere sagten sie, daß der Pfeil nicht aus welschem Köcher gekommen sei, sondern hinterrücks aus dem eines heimlichen Feindes. Da der Graf an der Wunde kränkelte, so sprach er öfter vertraulich mit dem Mönch Reinhard, denn ihn ängstigte jetzt seine Feindschaft mit den Wigbertleuten.

[] Als am Abend des festlichen Tages der König in seinen nahen Hof zurückkehrte, folgte ihm Gundomar, welcher dem Feste ferngeblieben war, in das Gemach. Heinrich hielt dem Helden den Becher entgegen: »Heut bin ich fröhlich, auch du glätte die Falten auf deiner Stirn, denn Gutes bedeutet dieser Tag deinem Geschlechte.«

»Alles ist dem König wohlgelungen«, versetzte Gundomar. »Ich aber flehe jetzt zu meinem Herrn, daß er mir nicht zürne, wenn ich mein Schicksal von dem seinen scheide.«

Heinrich sah betroffen auf die ernsthafte Miene: »Unverständiges sprichst du. Da ich noch ein Kriegsmann war wie du, gelobten wir einander Gesellen zu sein; an den Eid habe ich gedacht, auch wenn ich dir einmal zürnte. Wie willst du dich von mir scheiden?«

»Als ich gestern durch die neu geflickte Mauer ritt, dachte ich daran, daß sie von einem Herrn gebrochen wurde, obwohl ich der Frau, die dort oben gebot, angelobt hatte, daß der Bau meines Geschlechtes ihr unversehrt zurückgegeben werden sollte.«

»Du hast es gelobt, nicht ich«, unterbrach ihn Heinrich.

»Du hast getan nach Art der Könige. Denn sie üben das Vorrecht, das Gute für sich zu begehren, das Unrecht auf das Haupt ihrer Diener zu wälzen. Auch klage ich nicht darüber, denn ich weiß; auch den König zwingt die Königspflicht. Ich aber sah zerbrochen, was zu bewahren meine Pflicht war, und mir war diese Tat eine Mahnung, daß ich genug für meinen Herrn getan und gesündigt habe. Und ich saß im Abendlicht am Fuß der Mauer und sah in die untergehende Sonne, da erkannte ich, daß auch für mich das Tor des Himmels geöffnet wird.«

»Du willst der Welt entsagen?« rief der König bestürzt. – »Ich aber brauche dich; ein Undankbarer bist du, daß du mich verlassen willst, denn gütig war ich dir, und oft habe ich deine harte Meinung mit Geduld ertragen.«

»Gütig war mein Herr, auch wenn er fragte, ob die Treue des anderen ihm nütze, gütiger noch ist der Herr in der Himmelshalle.«

»Bist du unzufrieden, weil ich andere mehr ehre als dich, so fordere, Gundomar.«

»Was du von dem einen nimmst, gibst du dem anderen, das ist die Art der Mächtigen; ich aber wähle mir jetzt den Herrn, der jedem zu spenden weiß aus dem Schatz seiner Liebe.« Er hob eine goldene Kette vom Halse und legte sie zu den Füßen des Königs. »Dies war die erste Spende, die du mir gabst, und vor allem Schmuck habe ich sie hochgehalten. Wie dieses Gold, so will ich hinfort alles entbehren, was ein Mensch dem anderen zu schenken vermag.«

Heinrich wandte sich gekränkt ab. Gundomar kniete an seiner [] Seite nieder und faßte seine Hand: »Laß mich dahinfahren. Gleichgültig ist mir alle Freude der Welt geworden. Wenn ich deine Ritter im Kampfspiel reiten sehe und die langen Züge der Wallenden in ihren Festgewändern, so scheinen sie mir wie spielende Kinder gegenüber den hohen Engeln, die ich im Abendlicht dahinschweben sehe.«

Der König hielt traurig die Hand des Knienden fest, und dieser fuhr fort: »Alle Liebe, die du je zu mir in deinem Herzen gehegt, laß sie den Knaben meines Geschlechts zugute kommen. Der junge Held, dem du heut deine Huld erwiesen, wird ihrer würdig sein. Er hat sich gesträubt gegen den fremden Willen, der ihn in das Kloster warf, damit er für die Schuld anderer büße. Jetzt tausche ich mit ihm. Der jüngere Held in blühender Jugend soll meinem König unter Waffen dienen, ich aber wende als müder Mann meine Schritte dem Kloster des heiligen Wigbert zu.«

Auf der Mühlburg saß Edith in dem hohen Herrenstuhl, zu ihren Füßen die sieben Söhne, und im Ringe umher die vertrauten Gäste des Geschlechts: Heriman, das Haus Baldhards, worin Brunico und der Mönch Wigbert, auch Balderich mit seiner Tochter und andere Freie aus den Nachbardörfern. Die Gäste schwenkten fröhlich die Festbecher, welche die junge Wirtin Hildegard ihnen mit holdem Lachen darbot. Als sie den Becher zu Brunico trug, reichte sie ihm die Hand: »Das nächste Hochfest feiern wir im Hofe deiner Braut und erflehen Segen für euch beide.« Und Immo mahnte seinen Klostergenossen Rigbert: »Jetzt ist die Stunde gekommen, wo du vom Kloster und von den Vätern berichten sollst.«

»Gutes und Böses habe ich zu künden«, begann Rigbert. »Ganz verwandelt kehrte Tutilo vor einem Jahre in das Kloster zurück, er hatte mit König Heinrich seinen Frieden geschlossen und demütigte sich bei seiner Ankunft vor Herrn Bernheri. Dieser aber wurde täglich kränklicher, er stieg niemals mehr von St. Peter herab und warf in seinem Gemach mit dem Krückstock nach den Hirschgeweihen, weil er den Stock für einen Speer hielt. Der König jedoch wollte nicht leiden, daß dem Herrn Bernheri, solange dieser lebte, sein Amt genommen würde. Da nun Reinhard fast immer in der Nähe des Erzbischofs weilte, so wurde Tutilo wieder zum Präpositus erhoben, und er herrschte in ganz neuer Weise; denn sonst hatte er wenig auf die Regel geachtet, jetzt aber wurde er hart und eifrig und versagte den Brüdern auch Erlaubtes. Du selbst magst ermessen, ob er das getan hat aus frommem Eifer oder aus einem anderen Grunde. Darum wurde der Widerwille der Brüder groß, und mehr als einmal kehrten Unzufriedene dem Heiligtum den Rücken und liefen aus. So verbot Tutilo im letzten Herbst dem Vater Bertram, fernerhin in seinem Garten zu arbeiten, weil dieser [] sein Herz in sündiger Weise an die Obstbäume gehängt habe. Da stieß Bertram seinen Spaten in die Erde und ging schweigend in die Klausur zurück, Sintram aber saß seitdem kraftlos in seinem Garten und vermochte nicht mehr zu graben. Tutilo herrschte auch diesen an und bedrohte ihn mit Buße und Geißel. Als Bertram das vernahm, erhob er sich, und weil gerade wieder Brüder in Empörung von St. Wigbert scheiden wollten, schritt auch er trotzig aus der Klausur in den Garten, nahm seinen Spaten auf den Rücken und winkte Sintram, dasselbe zu tun. So zogen die beiden Alten in die wilde Welt, traurig war ihr Anblick für die wandernden Brüder, denn beide wankten vorwärts wie unter schwerer Last. Als sie nun zur Höhe gekommen waren, wo am Birkengehölz das steinerne Kreuz errichtet ist als Grenzzeichen unseres Glockenschalls, da läutete gerade die Glocke vom Turme des heiligen Michael. Der wandernde Haufe wandte sich um, und manche klagten und weinten. Bertram aber sprach: ›Weiter vermag ich nicht zu gehen, und von der ehernen Stimme des Engels will ich mich nicht scheiden; wandelt ihr dahin und sucht Frieden in der Fremde, mir gefällt diese Stätte und hier will ich bleiben.‹ Auf der Stelle begann er eine Grube zu graben, und die Brüder vermochten ihn nicht abzuhalten, denn er antwortete ihnen nicht mehr. Endlich verließen ihn die anderen, nur Sintram blieb bei ihm. Am nächsten Morgen läutete dieser an der Klosterpforte und berichtete, daß sein Geselle Bertram in Frieden geschieden sei und daß er neben einem Grabe liege, das er sich selbst geschaufelt hatte. Sintram wankte in die Klausur zurück und blieb darin, bis sie ihn nach wenigen Tagen auch hinaustrugen. Der gute Vater Heriger setzte durch, daß die beiden an der Stelle bestattet wurden, wo die Glocke von St. Michael sie gemahnt hatte. Und gerade jetzt wird dem hohen Erzengel eine Kapelle über ihrem Grabe erbaut. Jetzt ist Herr Bernheri von uns geschieden, eine neue Ordnung beginnt für St. Wigbert und ein heiliges Leben. Auch ich fahre jetzt dahin zurück.«

Immo hob die Hand gen Himmel. »Unter den Engeln weilt ihr, liebe Väter, blickt günstig auf den Mann herab, den ihr als wilden Schüler gesegnet habt. Den guten Lehren, die ihr mir übergeben habt, verdanke ich Leben und Glück. Einem Spruch habe ich nicht gehorcht, der Mutter und den Brüdern habe ich zu lange meine Kriegslust geborgen, dadurch habe ich uns allen das Herz krank gemacht. Daß ich aber in der eigenen Bedrängnis meinen Helfer Heriman nicht im Stiche ließ, sondern die letzte Kraft daran setzte, ihn zu retten, das hat, wie ich merke, dem König bessere Gedanken über mich eingegeben, gerade als er mir am meisten zürnte. Und daß ich mir von Gerhard, als er in Not lag, nicht die Tochter angeloben ließ, das hat mir die Neigung des Königs und die Braut wiedergewonnen. Mein Erbteil habe ich nicht in fremde Hand gelegt, darum stehe ich [] jetzt als froher Herr auf freiem Eigen. So hat sich jede Lehre als heilbringend bestätigt.«

Da rief Edith ihm zu: »Zornig trugst du das Schülerkleid. Dennoch sollst du heut die Mutter preisen, daß sie dich, den Widerwilligen, zu den Altären sandte. Denn nicht die Weisheit allein, sondern auch, was wenigen glückt, die liebe Hausfrau gewannst du dir unter den Mönchen durch die Klosterschule.«

[]

Die Brüder vom deutschen Hause

Im Jahre 1226

Auf dem Wege von den roten Bergen nach Erfurt lag in einer Niederung der Hof von Ingersleben, umflossen von einem Gebirgsbach, dessen Wasser die schützenden Gräben füllte. Dahinter ragten die festen Mauern, an den Ecken und über dem Tor runde Türme, geräumig genug, um einen Standbogen oder eine große Schleuder aufzunehmen. Wer über die Zugbrücke durch das Torgewölbe trat, der sah vor sich einen weiten Hof von niedrigen Wohngebäuden, Ställen und Vorratsräumen eingefaßt, zur Seite das ansehnliche Herrenhaus; im Unterstock wölbten sich Steinhallen, der vorspringende Oberstock war aus großen Holzbalken und Ziegeln zusammengefügt. An der Sonnenseite des Hauses lief eine zierlich geschnitzte Galerie entlang, und vor der Haustür standen zwei alte Linden, deren Stämme mit Bänken umgeben waren. Neben dem Herrenhause erhob sich ein mächtiger viereckiger Turm, von welchem die Sage kündete, daß er so alt war als der Herrensitz des Geschlechtes. In seinen geschwärzten Mauern liefen hier und da Risse, aus denen kleines Gesträuch und Grasbüschel wuchsen, aber im ganzen war das feste Gefüge erhalten, noch stand der Turm trotzig und kriegerisch da, gleich einem Hünen der Vorzeit, und er vermochte wohl bei einer Belagerung als letzte Zuflucht zu dienen.

Von der Höhe des Turms übersah man eine fruchtbare Landschaft, zur Linken die Waldhügel von Erfurt, zur Rechten südwärts die roten Berge mit drei Burgen und mehreren Warttürmen. Einst waren der ganze Talgrund und alle Berghöhen dahinter Eigentum desselben edlen Geschlechtes gewesen, welches für eines der ältesten in Thüringen galt. Aber was ihm von je Ehre gegeben hatte, daß es frei auf eigenem Grunde saß, das hatte ihm die Dauer des zusammenhängenden Besitzes vermindert. Denn nach thüringischer Volkssitte war das freie Erbe unter die Kinder geteilt worden, vieles Land war durch Heirat und Schenkung, durch Fehde und Krieg in fremde Hände gekommen, und man hatte in dem Herrenhofe zuweilen erfahren, daß gerade freie Erbschaft Habe und Gut zersplittert und die Angehörigen scheidet, während Dienstbarkeit und Lehnsitz die Stammgenossen zusammenhält und ein Geschlecht erhöht.

[] Auch das Schicksal der großen Landschaft Thüringen war dem Wachstum der Familie hinderlich gewesen; die Häupter hatten in alter Zeit treu zu den Sachsen gehalten und zweimal war die Blüte der männlichen Jugend in den Kämpfen der Sachsen mit den Franken auf dem Schlachtfelde dahingeschwunden. Unterdes kam durch die Gunst der Frankenkaiser ein anderes Herrengeschlecht herauf, welches von dem Landgrafenstuhl gewaltig herrschte, nicht nur in Thüringen, auch über Hessen und Meißen, und welches gerade jetzt die stärkste Fürstenmacht im Reiche innehatte.

Die Edlen aber, welche sich rühmten, Nachkommen eines alten Helden Ingram zu sein, hatten Herrenrecht an Dörfern und Höfen, welche im Besitz ritterlicher Dienstmannen und höriger Leute durch ganz Thüringen zerstreut lagen; die Herren selbst saßen, in zwei Häuser geteilt, noch auf altem Erbe ihrer Ahnen. Doch auch zwischen dem Hofe von Ingersleben, in welchem Herr Ivo waltete, und zwischen der Mühlburg, auf welcher Graf Meginhard hauste, bestand kein gutes Einvernehmen. Der alte Meginhard galt für einen harten eigennützigen Mann, der seinem Neffen Ivo wenig Gutes gönnte, und da er selbst kinderlos war, seinen Besitz dem zugebrachten Sohn seines Weibes verlassen wollte, einem ungefügen Gesellen, der nicht einmal aus altem Rittergeschlecht war. Der Graf hatte es freilich verstanden, durch Hilfe der Landgrafen seinen Besitz zu mehren, er trug Güter von ihnen zu Lehn und ritt gern als Vasall in ihrem Dienst und Gefolge. Aber die Leute wußten, daß die beste Kraft des Geschlechtes in dem Hofe des jungen Herrn Ivo fortlebte, welcher noch nach der alten Weise freier Landherren auf seinem Grunde gebot. Ivo war fröhlich aufgeblüht, seine Eltern, die er kurz nacheinander verlor, hatten ihn als das einzige Kind sorglich in allem Hofbrauch erzogen; seit er zum Mann erwachsen war, wurde er von den Landgenossen als ein ehrbarer Nachbar gerühmt, der jede Bedrückung der Schwächeren mied, und von den fahrenden Sängern als ein ritterlicher Held, der milde und sorglos spendete und nach Ehren strebte, wie einem edlen Herrn geziemte.

Heut hatte die Frühlingssonne ihre Fahrt am Himmel in heller Freude begonnen; zuerst umzog sie die Zinnen des alten Turmes mit rosigem Schimmer, kurz darauf strahlte ihr rundes Antlitz in den Hof, und sie sah lachend zu, wie auch der Hof sich zu glänzender Ausfahrt rüstete. Zwischen den Wohnhäusern und den Ställen eilten geschäftig die Männer und Knaben, der eine in buntem Festkleid, der andere noch in Hemdsärmeln; die Knechte zogen starke Turnierpferde an der Trense ins Freie und hingen die geschmückten Decken, welche den Leib der Rosse umhüllen sollten, über die Holzgestelle. Behende Knappen trugen in den Armen das Festgewand ihrer Ritter nach den Herrenkammern und tauschten im Lauf neckenden Zuruf mit ihren älteren Gefährten, welche Harnisch, [] Schwert und Dolch der Herren putzten und zuweilen gegen die Sonne hielten, um den Glanz zu prüfen. Auch drüben in der Küche tummelte sich der Koch mit seinen Gehilfen, um ein Frühmahl zu bereiten für das edle Hofgesinde und für die Vasallen, welche erwartet wurden. Durch die Knechte und Rosse schritt gewichtig Herr Henner Marschalk, der ansehnlichste Ritter des Hofes und Aufseher über alles Ritterwerk, ein langer Mann mit scharfblickenden Augen und graulichem Haar und Schnurrbart, dem die strenge Amtsmiene den gutherzigen Ausdruck nicht zu bannen vermochte. Der kleine Hof, mit welchem er belehnt war, lag seitwärts im Dorfe, dort sorgte seine Hausfrau um Küche und Stall, schalt die Mägde und strafte ihre Knäblein, während der Herr in dem Edelhofe herrschte und mit seinem Gebieter auf reisigen Fahrten umherzog. Herr Henner warf seine schnellen Blicke in jede Ecke, untersuchte jedes Roß bis auf die Hufe und gönnte den Knechten strafende oder ermunternde Worte, je nach ihrem Verdienst. Längere Zeit beschaute er mit stillem Behagen die neuen Gewänder, in welche die Pferde gehüllt werden sollten, die schöne blaue Leinwand, welche mit goldener Borte umsäumt war, und die kunstvoll aufgenähten Waffenbilder des Hofes.

Endlich trat er in ein Seitengebäude, die Herberge der ansehnlichen Hofleute. Es war ein großes schmuckloses Gemach, in einer Ecke ragte der rundliche Ofen mit seiner vielbegehrten Bank, der übrige Raum war mit starken Tischen und Schemeln besetzt, in der Höhe stand auf Wandbrettern kleines Hausgerät, darunter hingen Waffen, Harnischteile und anderes Rüstzeug des Krieges und der Jagd. Am Tische saß ein junger Krieger, der sich in einem Handspiegel betrachtete und seinen Schnurrbart mit den Fingern abwärts zu drehen suchte. »Gefällt es Euch, Herr Lutz«, begann der Marschalk streng, »so streicht Euer Haar tiefer in die Stirn und gewöhnt ihm sein Gekräusel ab; nicht ohne Absicht habe ich Euch eine scharfe Bürste als Präsent geboten. Denn übel stände Euch heut die bäurische Unordnung, wenn wir zum Hofe des Landgrafen reiten.«

Der Jüngling errötete ein wenig und strich eilig mit Bürste und Hand, indem er murmelte: »Keine Salbe aus Wachs und Butter vermag sie zu zwingen.«

Henner schwenkte zierlich einen Schemel, ließ seinen langen Leib darauf nieder und sah der Arbeit des andern mit väterlichem Anteil zu. »Es ist Eure erste Fahrt unter die Mannen des Landgrafen, seit der Herr Euch den Rittergurt angelegt hat, und ich sorge um Euch, mein Knabe, daß Ihr uns auch Ehre macht. Denn nur widerwillig lobt das stolze Gesinde des Landgrafen unsere Ritterzucht.«

»Sorgt nicht, Herr Henner«, tröstete der Junge, »ich will Eurer Lehren gedenken.«

[] »Ich bitte dich, Lutz«, fuhr der Marschalk vertraulicher fort, »halte dich courtois, sprich wenig und floriere deine Rede zuweilen mit einem neuen Wort. Sage nicht Roß, sondern Pferd, und daß du mir nicht von Roßdecken sprichst, sondern von Kuvertüren, und vor allem warne ich dich, daß du während des Mahls den Becher nicht öfter hebst als dreimal und daß du dir nicht einfallen läßt, jemandem zuzutrinken, wie du gestern abend in unserer Kompanei wagtest. Drängt Euch auch nicht unter den andern vor, Herr, laßt Eure Blicke nicht unverschämt umherschweifen und glotzt nicht auf die Frauen, sondern steht bescheiden hinten, Eurer Jugend eingedenk, denn nicht Euretwegen seid Ihr dort, sondern um Eurem Herrn die Ehre zu vermehren. Und vernehmt noch ein nützliches Wort. Unser Herr Ivo reitet heut ungerüstet zum Landgrafen, denn so ist es Brauch bei einem Herrenbesuch; wir aber als sein Hofgesinde tragen Helm und Eisenhemd, damit wir zur Ehre unseres Herrn die Landgräflichen mit dem Speer begrüßen, wenn sie ein ritterliches Rennen von uns begehren. Sollte jedoch der Landgraf selbst Lust gewinnen, sich in unser Spiel zu mischen, so denkt daran, daß wir nicht mit unserm Kernholz gegen ihn rennen, sondern mit leichten Speeren, die bei sanftem Stoß zersplittern. Denn der Landgraf ist zwar ein tapferer Herr, aber bei starken Stößen, wie sie auf unserm Hofe geübt werden, würde er wohl im Sattel schwanken. Uns aber wäre der Festtag verstäubt, wenn wir den Stolzen vor seinem Schlosse in den Staub legten. Gegen erlauchte Herren muß man geziemende Nachsicht üben. Sie lohnen es wieder durch ihre Gnade, wenn man sie nicht merken läßt, daß sie wenig vermögen.«

»Nun, Marschalk«, versetzte der Jüngere, »bei unserm Herrn trifft Eure Rede nicht zu.«

»Bei unserm«, rief Herr Henner, sich aufrichtend, »das ist ein ganz anderes Ding. Habe ich ihn nicht selbst auf der Rennbahn unterrichtet seit dem Jahre, wo er seinen kleinen Kinderspieß zuerst auf das Rüsteisen legte? Und doch, Lutz, er ist auch nicht zum stärksten Speerbrecher des Landes geworden, ohne daß ich ihm etwas nachgegeben habe. Denn als ich merkte, daß ihm noch eines zu vollkommenem Vertrauen fehlte, nämlich daß er mich, seinen Lehrer, nicht in den Sand zu rennen vermochte, da kann es wohl sein, daß ich mich einigemal mit gutem Willen hinter das Roß auf den Grund setzen ließ. Es war, wie du dir denken kannst, für meinen Leib ein schwerer Fall, aber es half, denn seit der Zeit hat er seinen Löwenmut. Dabei merkt, junger Herr, daß auch eine Ehre des Dienenden ist, den Herrn stark zu machen, wo es ihm fehlt.«

Der junge Ritter ergriff achtungsvoll die Hand des Älteren: »Lieber Herr und Vater, es ist ein heimlicher Streit in unserer Kompanei und oft wird darüber geredet, wer jetzt der stärkere im [] Anritt ist, ob unser Herr oder Ihr; denn selten fordert Euch Herr Ivo auf, gegen ihn zu reiten, und dann scheint es immer ein gleicher Kampf.«

Herr Henner zog sein Gesicht in Falten und sah vor sich nieder. Als er endlich zum Jüngling aufblickte, glänzten die grauen Augen in guter Laune. »Es bleibt am besten unentschieden, auch du unterfange dich nicht, darüber zu reden und zu grübeln. Denn manche Dinge gibt es, die ein höfischer Mann sich selbst und anderen bergen muß, wenn er die Treue bewahren will.«

»Ich weiß«, versetzte der andere leise, »keiner von uns wagt zu fragen, wohin unser Herr reitet, wenn er zuweilen allein seinen Hof verläßt, ohne Gefolge, ja sogar ohne seinen Knaben. Obgleich alle sich verwunderten, als er neulich zurückkam mit durchnäßtem Gewande, wie ein armer Mann, der zu Fuß durch tiefe Pfützen gewatet ist.«

Der Alte sah finster auf seinen Schüler. »Ich ersuche Euch, Herr Lutz, angenehm zu reden und statt Pfütze lieber Riviere zu sagen, und ich mahne Euch, daß Ihr solche dreiste Rede überhaupt völlig meidet. Wir alle haben die Ehre, die wenigen in diesem Lande zuteil wird, daß wir einem Frauenritter angehören, welcher Leib und Leben seiner Herrin gelobt hat. Das ist sein und unser Ruhm unter den Leuten; will einer darauf merken und spähen, wer die Herrin ist und wie er ihr dient, ob mit Erhörung oder ohne Lohn, dem möchte seine Neugier Verderben bereiten, und wenn er zu unserm Hofe gehört, so dürfte sein Sitz in der Tafelrunde bald leer werden.«

»Ich will alles tun, wie Ihr verlangt«, antwortete der Jüngling lächelnd. »Es wird heut ein warmer Ritt, darf ich für Euch, lieber Vater, noch einen Frühbecher ausbitten? Dort geht Herr Godwin, der Kämmerer, und hinter ihm der Schüler Nikolaus mit der Kanne.«

»Möge diesem seine Schreiberei übel gedeihen«, rief der Marschalk, »der Unheilstifter hat das Ohr des Herrn. Ärgerlich ist es für einen Kriegsmann, wenn ein müßiger Schreiber im Hofe stolziert. Lieber will ich einen Schwerthieb abwehren als den Schlag seiner Zunge. Wendet Euch weg, damit er nicht hier eindringe.«

»Er trägt aber die Kanne«, erinnerte der Jüngere.

Herr Henner warf durch das Fenster einen strengen Blick nach dem Schüler, doch die Miene wurde friedlicher, während er die Kanne beobachtete, denn er erkannte die gute Meinung seines Gesellen. Dennoch fuhr er grollend fort: »Ein Schadenfroh ist er, und ich hoffe den Tag zu erleben, an dem er ohne Ehren aus dem Hofe weicht. Er gehört unter die Fahrenden, und ein ehrlicher Trunk wird in seiner Nähe vergällt.«

Aber der junge Ritter hatte hinausgerufen, und gleich darauf trat der Schüler mit der großen Kanne ein. Nikolaus war ein Mann in [] mittleren Jahren mit einem runden rötlichen Gesicht; Nase und Mund waren etwas zu voll und zu sehr gerötet, um hübsch zu sein, aber zwei strahlende Augen standen darüber, deren Brauen sich schräg nach der Nase hinunterschwangen. Er trug das Haar nach Pfaffenweise kurz geschnitten, sein Schülermantel war von dunklem Stoff, aber von sorgfältiger Arbeit, und er hatte ihn selbstgefällig zurückgeschlagen, damit man das schöne blaue Futter sehe; an seinem Gürtel hing ein Messer in silberner Scheide und eine Kapsel, welche das Tintenhorn und die Rohrfedern enthielt. »Benedicta sit sodalitas«, begann der Eintretende mit leichter Verneigung, »ich grüße die edle Kompanei, gefällt den Herren ein Frühtrunk, so sei mir die Ehre gewährt, ihn einzuschenken.« Ohne sich an das feierliche Aussehen des Marschalks zu kehren, welcher steif auf seinem Stuhle saß, setzte er die Kanne auf den Tisch, holte vom Holzgesims drei zinnerne Becher, rückte sich einen Schemel, goß ein und schob die gefüllten Becher den Rittern zu, indem er mit der Miene eines Wirtes einlud: »Wohl bekomme den Herren der Trunk. Es ist Würzwein, Herr Marschalk, und ich selbst habe ihn gebraut, darum mögt Ihr ihn für gut halten. Denn diese Kunst lehrte mich eine Herzogin in Ungarland, die deshalb unter Christen und Heiden berühmt ist.«

Herr Henner hörte mit Verachtung die Rede und widerstand eine Weile dem Wohlgeruch, der aus dem Becher aufstieg. Doch hob er ihn langsam: »Wer Euch auch die Kunst lehrte«, entschied er absetzend mit einem leisen Seufzer, »der Trank ist erträglich.«

»Und niemand ist würdiger, den besten Wein vom Rhein und Welschland zu kosten als Ihr«, schmeichelte der Schüler. »So sprach auch neulich unser Herr, als er Euch mit seinen Rittern reiten sah: dies ist die Blumenkrone, worauf ein Herr stolz sein kann, und der Marschalk gleicht immer der Rose in der Mitte. – Noch eine gute Neuigkeit habe ich mitzuteilen, Herr. Ich vernahm zufällig, daß Ihr ein starkes Rennpferd begehrt und daß Dunkelbraun Euch die liebste Farbe ist. Vorgestern sah ich auf der Weide eines Bauern ein Tier, ganz wie Ihr es zu einem Pferde für Euch gebraucht, einen unmäßig starken Hengst. Der Bauer weiß schwerlich, wieviel sein Roß wert ist, und ich denke es Euch billig zu schaffen, vielleicht gegen Tausch.«

»Wenn Ihr es ernsthaft meint, so ließe sich darüber reden«, versetzte Herr Henner freundlicher. »Nur daß Ihr nicht einen der Streiche spielt, wie Ihr neulich gegen Frau Jutte, meine Hausfrau, wagtet. Denn als sie mit unerträglichem Zahnweh behaftet war, legtet Ihr neunerlei Kräuter, wie Ihr sagtet, auf eine Kohlenpfanne und gebotet der Frau, Tür und Fenster zu schließen und so lange rings um die Pfanne zu wandeln, als sie es irgend ertragen würde. Über dem greulichen Dunst kam sie ins Straucheln und schlug an die [] glühenden Kohlen. Sie behielt ihren Schmerz und hatte den Schaden dazu, und der garstige Dampf wollte nie wieder aus dem Gemach weichen. Ihr habt fortan geringe Huld von ihr zu erwarten.«

»Warum ging sie links im Kreise statt rechts, das hat die gute Wirkung völlig verdorben, und ich hatte sie doch dringend gebeten«, antwortete Nikolaus bedauernd. »Immer trägt der Arzt die Schuld, wenn der Kranke etwas versieht.«

»Ihr habt vielerlei Künste, Nikolaus«, warf der junge Ritter ein, indem er mit einiger Scheu nach dem Schüler hinsah.

»Wäret Ihr wie ich viele Jahre durch die weite Welt gewandert, so würdet auch Ihr noch andere Dinge gelernt haben als Rosse zu zäumen und Holz zu verstechen«, antwortete der Schüler übermütig, »denn wenig Länder der Erde gibt es, die ich nicht kenne, und keine Kunst der Weisen, in der ich nicht ein wenig unterrichtet bin. Nur den Hafer im Sieb schwingen und mit dem Flegel auf die Tenne schlagen, vertrage ich nicht, dann überfällt meine Glieder ein gefährliches Reißen. Aber zu reden vermag ich in vielen Sprachen der Welt, Lieder singe ich lateinisch und deutsch, und ich möchte den sehen, welcher mehr Geschichten am Herdfeuer zu erzählen weiß als ich, Briefe kann ich schreiben von jeder Art, Rosse kann ich heilen und den Hunden die Ohren stutzen, geheime Mittel kenne ich gegen das Fieber und viele andere Leiden, und wenn Ihr es einmal von mir begehrt, so verstehe ich auch Euer Mädchen zu zwingen, daß sie Euch am Abend die Kammertür williger öffnet. Wer in Not ist, dem bin ich hilfreich, und ich kenne die Zeichen und Wappen aller edlen Geschlechter im Lande. Solche Kunst macht, daß ich nicht nötig habe, auf einem Hofe zu beharren wie andere. Wo mir's gefällt, bleibe ich, und wo ich kalten Gruß finde, da gehe ich, wenn nicht zu Roß, doch zu Fuß.«

»Dann müssen wir Euch dankbar sein«, spottete Henner, »daß Ihr gnädig bei uns aushaltet und nicht verschmäht, unsern Wein zu trinken und unseren Weibern allerlei in das Ohr zu flüstern. Ich meine, Herr Ivo preist die Heiligen, daß er Euch erstarrt im Schnee gefunden hat.«

»Vielleicht dankt er den Heiligen«, versetzte der Schüler mit verändertem Tone, »wie auch ich tue, daß er damals Erbarmen bewiesen hat. Denn um Euch alles zu sagen, ich habe einen Feind, der mich zwingt, und dieser ist der kalte Winter; wenn die Stare fortgezogen sind, wird mir schwer ums Herz und meine Kunst wird schwach, erst der Mai macht mich wieder zu einem Helden. Manches Mal habe ich im Winter meine Kunst vor dummen Dorfleuten geübt und an ihrem Herde gesungen.«

»Jetzt aber ist Maienzeit«, mahnte Herr Henner, »ich hoffe, daß Ihr jetzt ausfliegt.«

»Ihr vergeßt, daß ich erst dem Bauer das Roß verleiden muß, [] das Ihr begehrt«, antwortete der Schüler lächelnd, »auch bin ich nicht unempfindlich gegen die gute Behandlung, die ich bei euch, ihr Herren, gefunden habe. Denn glaubt mir, Schüler und Ritter gehören zusammen, was der eine nicht übt, versteht der andere.« Er holte ein kleines Buch aus der Tasche, schlug die Pergamentblätter auf und begann eifrig zu lesen. Herr Henner aber schob seinen Sessel näher an den des jungen Ritters und fuhr leise in seinen Ermahnungen fort. Allmählich vergaßen die Herren, auf den Schüler zu achten, der, über das Buch gebeugt, lauschte, und dieser vernahm, daß Herr Lutz unvorsichtig äußerte: »Wenn nur dem Landgrafen heut nicht einfällt, daß er uns beim Mahle auf der Erde sitzen läßt, was man jetzt champieren nennt. Denn die Edlen und ihre Frauen empfangen dicke Polster oder auch Stühle, wir aber müssen uns im Eisenhemd auf dem dünnen Teppich lagern, und von unten dringt die Kälte in den Leib.«

Diese Rede mußte dem Marschalk mißfallen, und er mahnte wieder mit umwölkter Miene: »Solange Ihr auf dem Pferde sprengt, Chevalier, will ich Euch vertrauen, aber wenn Ihr an der Tafel sitzet oder zum Tanze schreitet, und wenn die Herren und Frauen mit artigen Reden schimpfieren, dann fürchte ich, daß Ihr nicht joly antwortet, sondern gleich einem Tölpel. Denn an gefügiger Rede und vollends an süßen Worten für die Frauen leidet Ihr noch Mangel.«

»Ich weiß eine, die diese Meinung nicht hat«, versetzte der Jüngere gekränkt.

»Meint Ihr, Herr Gelbschnabel, daß Ihr den Frauen dort oben dasselbe bieten dürft, was Ihr Eurem Dorfmädchen in die Ohren raunt? Schämt Euch, Herr Lutz, von Eurer Kundschaft im Dorfe zu prahlen.«

Aber der Jüngling sang leise: »Sind ihre Füßel auch zerkratzt vom Stroh, ihr roter Mund, ihr weißer Leib, sie machen froh.«

»Noch einmal sage ich Euch, Chevalier, schämt Euch und schweigt. Ihr mögt Eurem Berchtel oder wie sie sonst heißt, in Erfurt einmal eine seidene Borte kaufen oder einen Ring von Glas und Silber, und Ihr möget sie heimlich herzen, soviel Ihr wollt, niemand wird Euch das verdenken; ja Ihr dürft sie auch, wenn Ihr erst in die Jahre gekommen seid und gewürdigt werdet, ein Hofgut zu erhalten, zu Eurer ehelichen Hauswirtin machen und zur Mutter Eurer Kinder; aber niemals werdet Ihr Euch einfallen lassen, sie als Eure Frau zu rühmen, der Ihr ritterlich dient. Das bringt Euch arge Unehre. Siehe, Lutz, das ist der Punkt, wo ich an dir auszusetzen habe. Du reitest im Gefolge eines Herrn, der dem ganzen Lande ein glänzendes Vorbild von Ehre und Zucht ist, auch von dir wird gefordert, daß du um die Minne einer edlen Frau wirbst, sei sie Herzogin oder Gräfin.«

»Ich weiß aber keine«, versetzte Lutz. »Die Hennebergerin ist [] zu alt, die von Orlamünde hat nur ein Auge, und die Gleichen gilt für ein böses Weib. Ich kenne niemanden, der mir gefiele, als Frau Else, die Landgräfin.«

Henner machte schnell eine abwehrende Bewegung und blies durch die Zähne, daß sich sein Schnurrbart sträubte. »Von dieser rate ich Euch abzusehen. Dennoch eilt, eine andere zu finden; bei Männern und Frauen werdet Ihr erst Geltung gewinnen, wenn man erkennt, daß Ihr hoch von Euch denkt und edle Minne begehrt.«

Der Jüngling saß gedrückt und überlegte. Da begann der Schüler mit freundlicher Stimme: »Darf ich in dieser Not einen Rat geben, obwohl ich nicht dem Schildamt angehöre? Ganz in der Nähe weilt eine ritterliche Frau, und für jedermann wäre es ehrenvoll, um ihre Huld zu werben. Wählt Frau Jutte zu Eurer Herrin.«

Henner starrte in maßlosem Erstaunen bald auf den Schüler und bald auf seinen Zögling; allmählich zog sich sein Gesicht finster zusammen und er griff an sein Schwert. »Wollt Ihr alt werden im Sonnenlicht, so enthaltet Euch, solchen Unfug zu sagen oder zu denken, Ihr Tropf, dies Eisen hier würde schnell jeder Werbung ein Ende bereiten.«

»Er würde doch nur tun, was Ihr von ihm fordert«, versetzte der Schüler.

»Gestattet, wenn ich Euch in aller Höflichkeit sage: Ihr seid ein Unverschämter, und ich bin nicht der Mann, welcher ruhig zusieht, wenn in seinem Hofe ein fremdes Hähnchen kräht. Doch ich erweise Euch zu viel Ehre, daß ich über Euren törichten Einfall zürne; auch ist Frau Jutte nicht so sanft geartet, daß sie irgendwelche Frechheit mit Wohlgefallen ertragen würde, denn sie schwingt kräftig ihren großen Kochlöffel, wie wir alle wissen, und auch ich lasse mir das gefallen, weil sie ein redliches Weib ist.«

»Das denke ich auch«, versetzte der junge Ritter, »und ich will Euch nicht kränken, wenn ich tue, was Ihr gebietet.«

»Es freut mich, daß Ihr Euren verständigen Sinn bewährt«, antwortete Henner ruhiger. »Auch würde Euch dieser Frauendienst nichts nützen; denn Frau Jutte genießt die Ehre ihres Hauswirtes und war eines Ritters Kind, doch sie wurde in Dienstbarkeit geboren wie Ihr und ich, sie ist gar keine Freie, und sie selbst wird sich auch im Traume nicht berühmen, vom Adel zu sein. Ihr aber vermögt durch Frauendienst nur dann Ehre zu erwerben, wenn Ihr einer edlen Herrin gefallt.«

»Es ist mir auch ganz recht, daß Ihr mir den Dienst verwehrt«, erklärte der andere ehrlich.

Dem Marschalk jedoch war die Laune verdorben, er erhob sich, winkte seinem Genossen und schritt mit diesem klirrend aus der Tür, ohne den Schüler weiter zu beachten.

[] Während der Hof um die Ausfahrt sorgte, stand Herr Ivo allein auf der Galerie seines Hauses, die über den kleinen Hofgarten vorsprang. Aus den üppig geschwellten Knospen der Sträucher brachen die zarten Blätter und umhüllten als grüner Flor das Geflecht der Äste. Ivo stand wie im frohen Traume und tippte mit dem Finger im Takt auf das Geländer, während ganz nahe vom höchsten Zweige ein Vogel mit schmetterndem Schlage sang. Sooft der Vogel schwieg, spitzte Ivo seinen lachenden Mund und pfiff leise eine Melodie dem Vogel zur Antwort. Das freute wieder den Vogel, er neigte den kleinen Kopf und hörte zu; und wenn Herr Ivo aufhörte, begann er aufs neue und noch kunstvoller seinen Sang, breitete dabei seine Flügel und hob das Krönlein. Dann tippte Ivo wieder auf das Holz und lachte selig vor sich hin. So trieben es die beiden längere Zeit miteinander, während die Himmelssonne alle umstrahlte, die brechenden Knospen, den Finken und den jungen Hofherrn. Gleich hellem Gold glänzten die Locken um das edle Antlitz des Mannes, welcher im langen Festgewande, wie es vor nehme Herren damals trugen, lichtumflossen dastand, als ein schönes Bild männlicher Kraft und Hoheit.

Am Eingange regte sich's leise, der alte Kämmerer Godwin war eingetreten; er neigte das Haupt mit dem weißen Haar und Schnurrbart, hielt in der Hand einen kleinen Silberbecher und erwartete achtungsvoll die Anrede seines Herrn.

Ohne sich umzuwenden, fragte Ivo zurück: »Bist du's, Nikolaus? Ich hoffe, ich habe das Lied im rechten Tone zusammengebracht, nimm schnell dein Rüstzeug und schreibe, bevor mir die Worte entweichen.«

»Es ist diesmal der alte Godwin«, antwortete der Kämmerer und stellte den Becher auf einen Tisch.

Ein leichter Schatten flog über das freudige Antlitz des Hausherrn, denn die Störung war ihm peinlich, aber er faßte sich sogleich, und dem Alten die Hand bietend, sprach er gütig: »Ihr bemüht Euch meinetwegen selbst, dann bitte ich, Herr, denkt auch an Euch, damit Ihr mir Bescheid tun könnt.«

»Ich danke meinem Herrn«, versetzte der alte Kämmerer. »Eure Hofleute verstehen ohnedies besser für sich zu sorgen, als Ihr für Euch; von den großen Kannen, die Nikolaus bereitet, gelangt nur ein kleiner Napf, der kaum für einen Vogel im Bauer reichen würde, bis an den Mund meines Herrn. Solche Enthaltsamkeit ist neuer Brauch, und ich fürchte, das junge Geschlecht wird ihn nicht ohne Schaden ertragen. Die alte Sitte war: Der beste Mann, der stärkste Trunk.«

»Bleibt bei Eurem Brauch«, versetzte Ivo lächelnd, »und laßt mir den meinen. Doch wie, mein Vater? Ich sehe Euch im Hauskleide, ich hoffe, Ihr versagt Euch nicht der Fahrt.«

[] »Ein Alter bedarf wenig Zeit, sich zu bereiten, die Frauen lächeln ihm nicht mehr zu.«

»Was beschwert Euch den Sinn, Vater? Ihr seht ernsthafter drein, als mir heut lieb ist.«

»Verzeiht. Ich dachte, wie das Alter pflegt, an die Zeit der Jugend. Euer Vater ritt ungern in die Höfe des stolzen Geschlechtes, welches sich über den Freien im Lande gelagert hat, und er verschmähte es zuweilen, dort im Frühling den Ehrentrunk zu holen, den der Landgraf Eurem Geschlechte schenken muß.«

Ivo ergriff die Hand des Alten. »Ich verstehe, worauf Ihr zielt. Soll ich dem Landgrafen Fehde ansagen, und soll ich mit den Goldketten, die aus dem Erbe meiner lieben Mutter übrig sind, Reiter zu einem Heere anwerben, um ihn aus Burgen und Land zu treiben? Wollte ich das, ihr alle würdet mich unsinnig schelten.«

»Das könnte Euch niemand raten«, versetzte der Alte. »Doch Euer edler Vater diente im Heere des großen Kaisers und brachte reichliche Beute heim.«

»Wo ist unser Kaiser Friedrich?« fragte Ivo wieder, »weit von hier sitzt er am welschen Meere, und der Knabe Heinrich, der als König in seinem Namen über das Reich walten soll, hat bisher wenig getan, wofür ein Edler freudig ins Feld ziehen könnte. Nein, mein Vater, ich bin zu stolz, um fremder Begehrlichkeit zu dienen; ich vermag nicht als Gesinde eines Fürsten, und sei er der reichste, im Harnisch zu reiten, damit seine Herrschaft größer werde und er sein Haupt höher hebe, während ich als Diener die Knöchlein benage, die der Löwe dem Fuchs übrigläßt. Und ganz unwürdig dünkt mir, auf eigene Faust Beute zu gewinnen, wie wohl der Oheim auf der Mühlburg und mancher andere Edle tut. Werdet Ihr, Herr Godwin, mich loben, wenn ich die Erfurter ihrer Ballen beraube oder den Bauern Rosse und Rinder bei Nacht davontreibe?«

»In ehrlicher Fehde einen Warenballen gewinnen«, versetzte der Kämmerer mit einem sehnsüchtigen Blicke nach der Gegend von Erfurt, »ist nicht so übel, Herr; man weiß nicht, was darin ist, das Aufschneiden hat schon manchen gefreut, freilich auch geärgert, wenn er Sackleinwand fand. Und was ein gutes Pferd auf fremder Weide betrifft, so wird kein bedächtiger Mann leugnen, daß der Raub ein Unrecht ist; doch freilich kommt es manchem frischen Knaben hart an, daran vorüberzutraben. Denn das Roß gehört zum Reiter, und man sagt, daß auch die Pferde denselben Stolz haben. Von Rindern aber und vollends von Schafen rede ich gar nicht, es bringt geringe Ehre, sich deshalb dem Richter in die Hände zu geben. Nur über den Krieg denke ich anders, Herr; Ihr wißt ja selbst, daß dieser die hohe Schule ist für alles Heldenwerk.«

»Ja«, rief Ivo stolz, »wenn ich in die Schlacht reite für meinen Ruhm und mein Recht; nicht aber, wenn ich für einen Gierigen, den [] ich nicht ehre und nicht brauche, Seele und Leib daransetze. Und ich sage Euch, Vater, auch ich habe wilde Stunden gehabt, in denen ich Fehde und Krieg ersehnte, und ich habe in Gedanken meine Ahnen verklagt, daß sie dies Geschlecht der Ludwige zu übermütigen Landesherren heraufwachsen ließen. Jetzt aber sehe ich die Welt froh im Frieden; alle preisen den jungen Landgrafen als einen guten Herrn; weiß nicht, ob ich ein besserer wäre. Da habe auch ich mir gewählt, was für mich übrigbleibt und was mir Ehre gibt im Lande. Ich mühe mich, redlich zu sein, wie meine Väter, und mild gegen jedermann. Geringere Freude macht mir der Goldschmuck, den ich in der Truhe berge, als das Lachen und der herzliche Gruß der Kleinen, wenn ich das Gold in höflicher Weise austeile. Der Gewaltigste vermag ich nicht zu sein zwischen Saale und Werra, sie sollen von mir sagen, daß ich der Adligste bin. Darum haltet die Truhen geöffnet, denn wenig liegt mir, solange der Sommer lacht, an Sparen und Knausern. Und wißt, mein Vater, wenn ich zum Landgrafen ziehe, um mir den Festtrunk zu holen, so tue ich das gerade heut in heimlicher Freude. Darum, wenn Ihr mich liebt, laßt auch Ihr die Sorgen zu Hause, ungern möcht' ich heut meinen lieben Vater unzufrieden sehen.« Und er faßte den Alten bei seinem weißen Haupt und küßte ihn.

Der alte Kämmerer blickte seinen Herrn mit feuchten Augen an. »Auch ich widerspreche nicht mehr«, sagte er bedächtig, »denn ich vertraue der guten Art meines Herrn. Solange Ihr habt, um zu spenden, werdet Ihr den Stolz bewahren, anderen auszuteilen, und wenn Ihr merkt, daß Euch die Habe fehlt, dann wird Euch derselbe Stolz treiben, Habe und Gut von anderen wiederzugewinnen. Es gibt auf den Burgen ein Sprichwort: Wer sich in der Jugend dem Dienst einer Frau angelobt, der wird im Alter entweder ein Mönch oder ein sparsamer Herr.«

Von unten klang Hufschlag und lauter Zuruf, der Alte trat auf den Söller und blickte zur Seite nach dem Brückentor. »Sie kommen«, rief er, »die Ihr zur Ausfahrt geladen. Ich erkenne Herrn Diether vom roten Spring, Herrn Werner und den jungen Eberhard mit ihren Knechten. Der Marschalk begrüßt die Vasallen, Euer Gefolge ist versammelt.«

»Eilt, Vater, sie an meiner Statt in die Halle zu führen, ich folge Euch, sobald ich vermag. Doch vorher, bitte ich, sendet mir noch Nikolaus den Schreiber.«

Als Nikolaus von seinem Herrn entlassen war, eilte er, während die Ritter und Knappen beim Frühmahl saßen, nach der Küche, wo er größeres Ansehen genoß als in der Herrenstube. Nachdem er einige gute Bissen erlangt hatte, holte er sein Rößlein aus dem Stall und ritt allein auf die Landstraße hinaus, denselben Weg, welchen Herr Ivo einschlagen wollte. Er trabte lustig dahin, summte und [] sang bald lateinisch, bald deutsch und verzog das Gesicht über die Worte des eigenen Liedes. Dann sah er wieder ungeduldig nach dem Stand der Sonne und trieb seinen Gaul zu schnellerem Lauf. So kam er in die Nähe des Dorfes Friemar, wo Herr Ivo nach alter Gewohnheit zu rasten pflegte, sooft er gen Westen zog. Der Schüler aber bog ab von der Straße und ritt nach einem Gehölz, welches in der Niederung dicht am Anger lag; dort stieg er ab, band sein Tier in dem Dickicht fest und eilte an den Rand des Gehölzes, wo er den Anger und das Dorftor übersah. Nicht lange und er vernahm vom Dorfe her den Klang einer Sackpfeife und bald darauf die laute Stimme, mit welcher Berthold, der Vortänzer, durch die Gassen sang: »Aus der Stube, ihr stolzen Kinder, zieht euer bestes Gewand an. Urlaub nahm der Winter von der Heide, zum Reigen ladet euch der Mai.« In der Gasse rührte sich's, und die Landleute kamen durch das Tor auf den Anger, je zwei, die einander die liebsten Gespielen waren, oder in kleinen Haufen; viele Mädchen mit ihren Müttern, welche den Reigentanz nicht weniger begehrten als die Töchter. Auf dem Anger standen sie nach Würden gesondert, die Frauen erkennbar an dem Hut oder Tuch, womit sie ihr Haar verhüllten, die Freien unter ihnen, in bunte Farben gekleidet, traten voran und hielten zusammen, wie sich's gebührte. Die Mädchen trugen über den Zöpfen einen Kranz von jungem Grün oder auch von schön gewundenem Schleier, bunte Leibchen mit Spangen, faltige Röcke und Halsbänder von buntem Glas. Auch die Männer schritten ansehnlich daher, jeder führte die Waffe am Gürtel. Es war ein großes Dorf, und es war eine zahlreiche Versammlung, denn nur wenige der Ältesten waren zurückgeblieben, um die Höfe zu behüten. Mitten im Haufen bewegte sich der Vortänzer Berthold, der Sohn des Richters Bernhard, mit dem Selbstgefühl, das ihm sein Ehrenamt gab, ein hübscher Knabe, der seinen roten Hut schräg über das krause Haar gesetzt hatte; das gestickte Wams umschloß ein silberbeschlagener Gürtel, an seinem grünen Rock flatterten die langen Hängeärmel, und vor dem Ohr hing ihm eine lange Locke bis auf den Hals hinab, an der er zuweilen zierlich drehte, wie freie Hofherren zu tun pflegen.

Der Schüler musterte, hinter einem Strauch kauernd, die wohlbekannten Gesichter, endlich erhob er sich freudig.

»Dort kommt Friderun«, erscholl es aus dem Haufen.

Aller Blicke richteten sich nach dem Rain, auf welchem die Tochter des Richters, von einer jüngeren Gespielin begleitet, mit schnellen Schritten herankam. »Guten Tag, Gesellschaft«, rief sie, die Hand erhebend, den Dorfleuten zu, »Heia tirilei, gelobt sei der Mai.«

Die Burschen jauchzten und eilten ihr entgegen, die Mägde drängten sich um sie, und wie eine Herrin empfing sie Gruß und Huldigung, eine hochgewachsene kräftige Gestalt von vollen Formen, [] in dem runden Gesicht strahlten zwei tiefblaue Augen, ihr blondes Haar war so lang, daß sie die Zöpfe um das Haupt geschlungen trug, und doch hingen sie ihr bis tief über den Gürtel hinab. Die hohe Stirn, die starken Brauen gaben ihr einen ernsthaften Ausdruck, darunter aber lachten rosige Wangen, ein kleiner Mund und das Grübchen am Kinn. Sie trug ein rotes Kleid von feinem Wollstoff, die blaue Jacke an den Rändern mit bunter Seide gestickt, über den Zöpfen einen Kranz von jungem Grün und blauem Schleier und einen andern, der in derselben Weise gewunden war, am linken Arm. Sie neigte sich ein wenig vor den Frauen und trat, ohne die Knaben sonderlich zu beachten, unter die Mägde, nach allen Seiten grüßend und Scherzworte tauschend. »Freut euch, ihr stolzen Kinder, ich sehe, Ruprecht, der Spielmann, ist hier mit seiner Geige, heut wollen wir nach dem Reigen auch ein Hoftänzel treten.«

»Womit fangen wir an?« fragte Berthold in Amtseifer die Schwester.

»Der Ball ist immer das erste Spiel«, riefen viele Stimmen.

»Tretet auseinander«, gebot Berthold, den Stab des Vortänzers erhebend. »Die Weiber hierhin, die Männer dort in die Reihe, so ist Wind und Sonne gleich geteilt, damit wir vor allem erfahren, welche Paare heut zusammen tanzen. Wer von euch Kindern den Ball fängt, den ich in meiner Hand halte, der will heut mit mir im Reigen springen.« »Wirf, liebes Berthel, wir fangen«, schrien einige halbwüchsige Mädchen aus seiner Verwandtschaft. »Wirf hierher, Gevatterlein«, bat auch die alte Frau Herburg, welche noch gern mit den Jüngsten sprang, und alle lachten. Der schmucke Gesell stand vor der Reihe der Männer, hob neckend den großen Ball und neigte sich zum Wurfe, doch warf er nicht, sondern freute sich über die gehobenen Arme und die Gesichter, welche zum Himmel starrten; endlich schleuderte er geschickt der Magd zu, die er am liebsten hatte; diese fing, und während er jauchzte, trat sie vor und warf den Ball hoch in die Höhe, zum Zeichen, daß ihr nichts mehr daran liege, wer von den Männern ihn erhalte. Dennoch fing ihn beflissen ein anderer Dorfknabe. So ging das Spiel weiter, lauter wurde das Lachen und schneller die Bewegungen. Wenn der Ball einmal auf den Boden sank und in Sprüngen dahinhüpfte, liefen Frauen und Männer, so schnell sie vermochten, ihm nach, denn es war Ehre für jede Partei, ihn der anderen abzugewinnen. Als er einmal so auf dem Boden rollte, sprang Friderun allen vor, und ihn vor der Reihe schwingend, sang sie: »Ich stehe auf der Brücke und harre auf einen Tanz, ich bin ein tapfer Mägdlein und behüte meinen Kranz.« Und sie warf den Ball mit einer Kraft, um die sie mancher beneidete, so weit, daß niemand ihn erreichen konnte, denn er sprang abwärts über den Graben auf den staubigen Weg. Dennoch blieb er nicht ohne Bewerber. Auf der Landstraße waren Reiter [] herangesprengt, einer von ihnen war abgestiegen und sah dem Spiele zu. Er lief nach dem Ball; aber von der andern Seite flog auch der Schreiber Nikolaus herzu, und dieser hob den Ball, doch der Reiter riß ihn aus seiner Hand und gebot: »Hinweg, Schüler!« Und von dem zornigen Nikolaus verfolgt, eilte er in den Haufen der Spielenden und rief: »Wer den Ball fängt, hat das Recht mitzuspielen, ich hoffe, auch ihr Bauern ehret den Brauch«, dabei grüßte er herablassend den Vortänzer Berthold. Die Männer murmelten unzufrieden: »Ritter Konz«, und ein trotziger Geselle entgegnete: »Wir Bauern begehren nicht, auf der Mühlburg mit euren Weibern den Ball zu werfen, uns liegt wenig daran, daß ihr herabsteigt, um unter uns zu springen.« Aber Berthold entschied eifrig: »Der Brauch ist für Herrn Konz, wir dürfen's nicht wehren, seid willkommen.«

»Ich aber widerspreche«, rief Nikolaus zornig, »denn wie ihr alle sahet, fing ich den Ball.«

»Den Ball fing keiner«, rief Friderun herüber, »Nikolaus aber hat ihn aus dem Staube gehoben.«

»Das graue Mehl soll ihm nicht umsonst den Ärmel beschüttet haben, der Schüler soll gleiches Recht gewinnen«, entschied Berthold, und das Spiel ging weiter. Herr Konz stellte sich in die Mitte und begann: »Jetzt stehe ich auf der Brücke und werfe den Ball zurücke; fange ihn, schöne Friderun«, – und da er den vierten Reim nicht sogleich fand, warf er ihr schnell den Ball zu, aber unglücklich; denn Friderun hob nicht die Arme, sondern neigte sich zur Seite, und der Ball fuhr bei ihr vorüber, einem kleinen Mädchen an den Kopf. Der Schüler jauchzte, sprang auf seinem Platze und sang: »Herr Konze warf mit gutem Glücke, er wählte die kleine Grasemücke«, und alle lachten.

»Ich werde einen Herrn über dich schicken, der Knüttelholz heißt«, rief Herr Konz dem Schüler zornig zu.

»Ich kannte einen bösen Hofhund«, entgegnete Nikolaus, »der den Knüttel einen Herrn nannte, weil er ihn am Halse trug.«

»Haltet Frieden im Spiel«, geboten die Dorfknaben. Und der Ball flog wieder hin und her unter frohem Zuruf und Gelächter.

Endlich klatschte Berthold in die Hände und warf den Ball zur Seite. »Tretet zusammen, ihr, die der Ball gesellt hat, und ihr Mädchen, übet Huld und gönnt euren Gesellen die Kränze für den Reigen. Hat aber eine keinen Tänzer gefunden, dem sie ihren Kranz aufsetzen kann, die harre, ob einer kommt und darnach begehrt.«

Jetzt entstand ein Suchen und Drängen, Friderun hielt vielumworben den Kranz an dem Arme. Von der einen Seite redete Ritter Konz in sie hinein, und von der andern der Schüler, dieser aber mit größerer Vorsicht, wobei beide einander feindselige Blicke zuwarfen. Herr Konz wiegte selbstgefällig sein Haupt auf den hohen Schultern und faßte an seinen Schwertgriff: »Sehet her, [] schöne Magd«, sprach er herablassend, »an der Seite des Knopfes ist ein kleines Spiegelglas ganz kunstvoll eingefügt, Ihr könnt Euch selbst schauen, wenn Ihr hineinblickt«; und da Friderun den Kopf schüttelte, fuhr er drängend fort: »Seht doch hinein, Ihr werdet darin einen roten Mund erblicken, den ich gern küssen würde, wenn er sich mir zuwendete.«

Friderun aber antwortete über die Achsel: »Herr, ich sehe am liebsten in den eigenen Spiegel, und ich wünsche niemals Euer Bild darin zu schauen.« Und als Herr Konz sich gekränkt abwandte, raunte ihr der Schüler zu: »Achtet nur, wie er den Kopf zurückwirft! Gleicht er nicht einem satten Täuberich, der mit vollem Kropf auf einem Kornkasten sitzt?«

Konz trat zu Berthold. »Du hast dein Versprechen übel gehalten. Deine Schwester zeigt mir keineswegs günstigen Sinn, denn sie verweigerte mir sogar, in meinen Spiegel zu sehen, und deutete ganz merklich an, daß sie gar nichts mit mir zu tun haben wolle. Wenn dir an meinem guten Willen liegt, wie du sagst, und wenn du den Wunsch hast, einmal in meinem Gefolge eine rühmliche Ritterfahrt mitzumachen, so sorge dafür, daß sie freundlicher mit mir spricht. Denn obwohl sie mir sehr gefällt, so ziemt es mir doch nicht, daß ein Bauernmädchen ihr Spiel mit mir treibt, und ich sage dir, ich bin beleidigt.«

»Ihr wißt ja, Herr, daß die Schwester sich anders hält als die übrigen Mägde. Auch ich vermag wenig über sie. Schon als Kind, als sie auf dem Edelhofe bei der Mutter des Herrn Ivo hauste, hat sie gegen den jungen Herrn ihre trotzige Art bewiesen, denn sie raufte ihm eine Locke aus, als er hübsch mit ihr tun wollte, und die Edelfrau sandte sie kurz darauf nach Hause zurück. Doch daß ich meiner Schwester nichts Unrechtes nachsage, die Edelfrau hat auch später viel von ihr gehalten, und in ihrer letzten Krankheit verlangte sie die Schwester zur Pflegerin. So hat diese sich gewöhnt, den Herren dreist zu antworten, und jetzt sieht ihr der Vater vieles nach, weil sie ihm statt einer Wirtin den Hof in Ordnung hält. Darum rate ich, daß Ihr nicht die Geduld verliert, wenn Ihr im Ernste an sie denkt, denn jede Magd will, daß man um sie werbe.«

»Hat deine Schwester den Ivo feindselig an seinem Kopf gefaßt, so ist sie mir deshalb um so lieber«, antwortete Herr Konz vergnügt. »Ich kenne mehr als eine Gräfin, welche froh wäre, wenn ich sie ebenso begrüßte, wie ich mit deiner Schwester tue; aber ich weiß nicht, was mir die Hexe angetan hat. Und wenn der alte Herr Meginhard einmal die Augen schließt, so mag ihr das Glück blühen, daß sie die Hausfrau eines edlen Ritters wird, und auch du wirst der Gemeinschaft mit diesen Dorftölpeln enthoben. Daran rate ich dir zu denken.«

Berthold trat eifrig zu seiner Schwester. »Herr Konz will mit [] uns im Reigen springen und begehrt dich; ich fordere, daß du dich ihm nicht versagst, denn ehrenvoller ist es für uns, wenn du dich an der Seite eines Ritters schwingst, als mit einem von unsern Tölpeln.«

»Gehörst du nicht selbst zu denen, die du schiltst?« versetzte Friderun unwillig. »Hat er dir gesagt, daß deine Gespielen von ungeschlachter Art sind, so gilt vielleicht er selbst unter seinesgleichen für nichts Besseres. Hüte dich, Berthold; dir bringt das Geschwätz mit den Mühlburgern und das heimliche Reiten unter den wilden Gesellen keinen Segen. Ich hörte wohl, wie du dein Roß in der vorletzten Nacht erst gegen Morgen in den Stall zogst.«

Berthold wandte sich verlegen ab und Friderun setzte ihren Kranz einem ehrbaren Nachbar auf, und sich verneigend, sprach sie: »Gefällt's Euch, Herr Gevatter, so führt Ihr mich zum Reigen.«

»Wo ist der Vortänzer? Berthold, führe den Reigen!« riefen die Dorfknaben ungeduldig. Der Spielmann strich auf seiner Geige, die Paare liefen, sich in die Reihe zu stellen, und Berthold ergriff die Hand seiner Tänzerin, nachdem er noch leise mit dem Ritter gesprochen hatte, der, seinen Ärger bezwingend, sich herabließ, einem andern Dorfkind die Hand zu reichen. Auch dem Schüler blieb nichts übrig, als eine rundliche Bäuerin zu werben, die ihm schon früher zuweilen zugelacht hatte und im letzten Winter mit Kesselfleisch und Wurst freundlich gewesen war. Der Vortänzer stimmte den Reigen an, und alle sangen in herzlicher Freude nach, die Männer laut mit Jauchzen, aber die Frauen zarter. Darauf schwangen sich die Paare zuerst einzeln im Kreise, dann alle miteinander in vielen Windungen des langen Zuges, bis Ruprecht, der Spielmann, sich an die Spitze stellte und die Kette vom Anger aufwärts führte, einen Feldweg entlang, zu dem lichten Gehölz und zu dem flachen Hügel, auf welchem eine große Linde ragte, das Wahrzeichen des Dorfes, weit sichtbar im Lande. »Haltet zusammen«, rief Berthold vor dem Holze, »daß keiner mit seiner Tänzerin aus dem Reigen breche, sonst zahlt er die Buße.« So führte er hinauf; um die Linde schlang sich der Reigen, in hohen Sprüngen zeigten die Männer ihre Kraft, obgleich viele die Schwerter an ihrer Seite führten, die Wangen glühten und die Haare flogen in der Frühlingssonne. Endlich hielt der Vortänzer den Stab in die Höhe, der Spielmann setzte die Geige ab, die Kette löste sich, und die Tänzer schwirrten lachend und rufend durcheinander.

Friderun stand unter dem Baume und fächelte sich mit einem gepflückten Zweige Kühlung zu, sie beugte sich schnell zur Erde und rief, die geschlossene Hand emporhebend: »Wer vermag zu raten, was ich in meiner Hand festhalte? Vernehmt die Frage: Aus der Erde sprang es, auf niederem Stuhle saß es und trug in milder [] Sonne sein winterlich Gewand, doch kündet's Heil und Wonne dem, der es fand. Was ist das?«

»Wenn es aus der Erde sprang und Gutes bedeutet, so mag es wohl ein Wiesel sein«, rief der stolze Adelhun, einer von den freien Knaben des Dorfes, welcher auch beim Tanze sein Eisenhemd trug und ein langes Schwert, das an den Fersen klirrte.

Friderun schüttelte den Kopf. Da riet der Schüler: »Es ist ein weißes Veilchen.«

»Ihr habt's getroffen, und Ihr sollt es haben, möge es Euch Glück bringen«, antwortete Friderun, ihm zunickend, und gab dem Frohen das Veilchen.

Darüber wurden die Dorfknaben unwillig. »Kein Wunder, daß der Schreiber den Preis davonträgt«, höhnte Adelhun, »er ist gewöhnt, nach Hofbrauch in allerlei Zungen zu reden, aber es gibt manchen, der seinen Worten mißtraut.«

»Herr Adelhun ist eine Blume des Dorfes«, versetzte der Schreiber ärgerlich, »seine Locken wehen in solchen Loden, wie man an dem Haupt des Löwen sieht, der auf der Burg des Landgrafen gehalten wird.«

»Adelhun spricht recht«, riefen einige drohende Stimmen.

»Was ein öder Gänserich schreit, schnattern die andern nach«, entgegnete der umstellte Nikolaus, indem er sich hin und her wandte.

»Adelhun hat dennoch recht«, rief auch Herr Konz.

Der Schüler beachtete ihn nicht und sprach zu Friderun: »Könnt auch Ihr erraten, was ich in meiner Hand halte: Ich weiß ein festes Haus, der dicke Wirt zog aus, er aß das volle leer; die Tür steht offen, nur Kehricht fliegt umher.«

»Der Spruch meint die hohle Nuß«, riet Friderun lachend. Nikolaus öffnete seine Hand, in welcher eine Nuß lag, aber er versetzte, nach dem Ritter Konz blickend: »Nein, der Spruch meint einen Kopf auf hohen Schultern, welchen ich sehe; denn keine hohle Nuß ist so leer als dieser.«

»Wie, du Schandfleck!« rief Herr Konz, »ich will sogleich den Leuten zeigen, was in deinem Kopf zu finden ist«, und er zog sein Schwert.

»Sie erregen Streit an unserer Linde«, schrien die Knaben von Friemar, »wollen die Fremden unser Spiel stören, so weist ihnen die Messer und scheucht sie über die Grenze.« Von allen Seiten blitzten die Waffen. Da entriß Friderun ihrem Bruder den Stab, und unter die Zänker springend, hieb sie auf die Schwerter und schalt: »Wer das Spiel verdirbt, zahlt die Buße, wir Frauen schlagen ihn mit dem Stock über die Hände.«

Die Männer wichen zurück, und das Mädchen stellte sich schützend vor den Schüler, der behend hinter den Baumstamm schlüpfte.

[] »Steckt das Eisen ein«, gebot eine tiefe Stimme. Ein Reiter ritt in den Haufen, gefolgt von seinem Knechte. »Der Richter«, murmelten die Dorfleute und wichen zurück.

Ein breitschultriger Mann mit harten Zügen und langem weißem Haar stieg ab und trat in den Kreis. »Wer erhob den Streit?« fragte er, finster umhersehend.

Niemand antwortete, nur Friderun schnipste mit den Fingern: »Es war nicht der Rede wert, Richter, sie sind noch vom Tanze heiß, und weil einige von ihnen nicht Witz genug hatten, mit Worten zu treffen, griffen sie an das Eisen; wir Frauen sind ihnen geringen Dank schuldig.«

»Ich grüße Euch, Richter«, begann Konz, um sich vor den andern vornehm zu erweisen, nachdem er vorher weislich sein Schwert eingesteckt hatte, »der Streit war, wie Euer Kind sagt, nicht der Rede wert, denn er ging um den Schüler dort und seine ungewaschenen Worte.«

»Kommen Fremde ungeladen in die Flur, um an unseren Spielen teilzunehmen«, antwortete der Richter ernsthaft, »so gebührt ihnen vor andern, mit Mund und Hand den Frieden zu bewahren, damit auch wir das Gastrecht ehren; denn Ihr wißt, Herr, wer Streit aufregt, verliert den Schutz.«

»Wollt Ihr sagen, daß wir ungebetene Gäste sind«, versetzte Konz hochmütig, »so wartet, bis wir Euch in die Häuser treten. Kommt Ihr einmal der Mühlburg nahe, so wird auch Euch nichts daran gelegen sein, wenn Ihr kalten Willkommen findet.«

»Wenn ich durch das Land reite«, entgegnete der Alte ruhig, »tue ich es in des Kaisers Amt, und wer mit dem Fronboten naht, der sorgt nicht um kalten Gruß.«

Herr Konz sah düster auf den berittenen Knecht, von dessen Sattel das Strangbündel herabhing, die furchtbare Waffe des Richters. »Wohl, Richter, ich kam durch Zufall hierher und sah das Spiel eine Weile an, wie Nachbarn zu tun pflegen, und ich meine, die Luft ist für jedermann frei und frei die Straße.« Er nickte stolz mit dem Haupte und wandte sich abwärts.

Der Richter trat unter die älteren Bauern. Aber die Nähe des strengen Mannes wirkte erkältend auf die Lust der Jungen, sie sprachen leise miteinander und zerstreuten sich in das Gehölz. Friderun wandte sich zu dem Spielmann: »Zeige deine Kunst, Ruprecht, mit Singen oder Sagen, damit das junge Volk auf andere Gedanken kommt.« Der Spielmann nickte dienstbeflissen, fuhr mit dem Bogen auf der Geige umher, und nachdem er eine alte Weise gespielt hatte, begann er mit lauter Stimme, halb singend, halb sprechend eine lange Sage von einem Lindwurm, der einst in den Steinen dieses Berges gehaust hatte, und von einem fremden Ritter, der in das Land kam und das Ungeheuer erlegte.

[] Friderun saß auf einem Steine, sie hielt die Hände über dem Knie gefaltet und hörte mit strahlenden Augen dem kunstlosen Gesange zu, obgleich er ihr wohlbekannt war. Auch als sie viele Roßtritte hörte und über die Achsel blickend erkannte, daß Herr Ivo mit großem Gefolge herangeritten war und mit dem Vater sprach, blieb sie allein sitzen, während die Landleute neugierig zu den Reitern traten, Grüße tauschten, Waffen und Gewand musterten. Sie mahnte den Spielmann durch ihr Kopfnicken, fortzufahren, bis ein Herrenpferd dicht neben ihr den Dampf aus seinen Nüstern blies und eine Stimme sie scherzend anredete: »Guten Tag, stolze Friderun, der junge Mai sitzt auf grünen Zweigen, wie kommt's, daß Ihr allein auf alte Mären lauscht? Ist kein frischer Gesell zur Hand, der Euch ein neues Lied in das Ohr singt?«

Friderun stand errötend auf, aber ihre Brauen zogen sich finster zusammen: »Wenn Euch die alte Sage wenig gilt, weil sie nicht vornehm klingt, so wäre doch freundlicher, wenn Ihr Eure Verachtung vor uns bergen wolltet. Denn die Sage kündet etwas von Eurem Geschlechte, und wir im Dorf denken gern daran. Hier, wo der Baum steht, lag einst Euer Ahn im giftigen Dampfe des argen Wurms, und um ihn loderte die rote Flamme.«

»Und ein Weib aus Eurem Dorfe half ihm ins Freie«, versetzte Ivo, »ich habe den Sang der Spielleute oft genug vernommen.«

Ruprecht fiel mit kräftiger Stimme ein:

»Eine Magd sprang durch die Flammen mit Namen Friderun,
Sie sah auf dem Leib des Drachen den müden Ritter ruhn,
Sie schlang um ihn die Arme, sie hob den jungen Leib,
Sie trug ihn aus der Lohe, das wunderkühne Weib.«

»Dies ist die Sage«, fuhr Friderun ernsthaft fort, »und Euer Roß würde schwerlich gegen mich fauchen, wenn nicht ein Weib unseres Hofes Eurem Ahnherrn seine Treue bewiesen hätte. Denn wir im Dorfe meinen, daß es ohne Eltern keine Kinder gibt und daß die Enkel guttun, an die Mühen ihrer Vorfahren zu denken.«

»Ihr habt recht, Friderun«, antwortete Ivo, ergötzt durch den Eifer des Mädchens. »Und wenn Eure Ahnin, die der Fiedler rühmt, noch am Leben wäre, so würde ich vor der alten Frau mich in Ehrfurcht neigen. Dennoch gestehe ich, daß ich lieber Eure rosige Wange sehe, wenn Ihr auch mit mir unzufrieden seid.« Er rührte mit der Hand leise an ihren Kranz. »Wenn Euch einmal der trotzige Mut in Sehnsucht dahinschwindet, und wenn Eurem Vater gefällt, daß Ihr den Kranz in Eurem Haar mit dem Hütlein vertauscht, so bitte ich, gestattet auch mir, bei eurem Hochfest Brautführer zu werden, denn ich denke gern daran, daß meine liebe Mutter Euch wert gehalten hat.« Er wandte sein Roß, die Schar stob abwärts, Friderun [] stand allein, sie nahm den Kranz, den seine Hand berührt hatte, vom Haupte und schleuderte ihn hoch in den Wipfel des Baumes. Dann setzte sie sich wieder auf den Stein, drückte ihre Hände zusammen, daß das Blut daraus wich, und rief dem Spielmann gebietend zu: »Singe weiter, Ruprecht!«

Am Hofe des Landgrafen

Der junge Landgraf Ludwig war ein Herr ganz nach dem Herzen seiner Zeitgenossen: scharf, hart, gewaltsam und eigennützig, wo es galt, seine Herrschaft zu vergrößern, redlich und gutherzig in seinem Hause, gegen die Getreuen und gegen das arme Volk. Sein verstorbener Vater, ein kraftloser Mann, hatte den fahrenden Sängern für ein Musterbild ritterlicher Tugenden gegolten; auch der junge Fürst machte in müßigen Stunden gern den modischen Ritterbrauch mit, dem sich kein großer Herr entziehen durfte, wenn ihm an seinem guten Rufe etwas lag; aber im Grunde dachte er lieber an die ausgestreckten Hände bezwungener Burgmannen, welche ihm den Treueid leisteten, als an die behenden Finger der Sänger, welche das Saitenspiel rührten. Alles war ihm bisher wohl gelungen und seine Gedanken flogen hoch. Gerade jetzt bereitete er einen Zug nach Welschland zum Kaiser Friedrich, seine Boten waren seit dem Winter hin und her geritten, und seine Hofleute erzählten sich, daß ein fremder Gast, die Gräfin Hedwig von Meran, eine Nichte des Kaisers, nicht allein deshalb an den Hof gekommen sei, um ihre Base, die Landgräfin, zu besuchen, sondern auch, um dem Landgrafen geheime Botschaft des Kaisers zu überbringen.

Doch heut war im Hofhalt nichts von den Sorgen um Herrschaft und Reich zu merken, der Landgraf war mit großem Gefolge von der Kreuzburg nach Gotha geritten, wo er vor der Stadt einen schönen Meierhof besaß, um dort nach alter Gewohnheit den Mai zu begrüßen.

Bei dem einsamen Hofe drängte sich ein zahlreiches Gefolge, geschmückte Frauen, edle Herren im Festkleid, Ritter im Kettenhemd und Troß der Diener. Die Rosse, welche in den Ställen nicht Unterkunft fanden, stampften in langer Reihe an den Pfählen eines Geheges; auf dem Küchenherde loderte das Feuer, und die Köche bereiteten Speisen, welche ein geduldiges Eselpaar im Rüstwagen herangeführt hatte. Rudolf, der Schenk, ließ die Fässer mit Wein und starkem Bier anzapfen und zählte den Knaben, welche bei der Tafel aufwarten sollten, die Silberbecher zu. Aus der kleinen Stadt Gotha liefen die Leute schaulustig herbei und stellten sich in ehrfurchtsvoller Entfernung auf. Sie wiesen einander die berühmten Mannen ihrer Herrschaft und die vornehmen Gäste, zumeist aber [] staunten sie über schwarzbraune Männer im Turban, mit blitzenden Augen und mit Krummschwertern, welche zum Gefolge der fremden Gräfin gehörten.

Unterdes führte der Landgraf die Frauen aus dem Hofe einige Schritte aufwärts, wo sie Hügel und Tal überschauen konnten, und erklärte ihnen vergnügt seinen Besitz, die alte Burg, welche einst die Mönche von Hersfeld erbaut hatten, und eine Stelle auf der Höhe, welche der Landgräfin gerade jetzt sehr am Herzen lag, weil sie dort als gutes Werk einen kleinen Hof für die armen Siechen zu bauen gedachte.

Plötzlich verdüsterte sich das freundliche Gesicht des Landgrafen, er berührte die Schulter eines alten Hofherrn und wies nach der Landstraße. »Seht, Herr Walter, dort naht der König Mai mit Helm und Schildrand wie zum Kampfe gerüstet.«

Walter von Vargula lächelte. »Es ist Herr Ivo mit seinen Hofgesellen, der bei meinem Herrn ein altes Recht, den Ehrentrunk, sucht.«

»Mir mißfällt ein Vorrecht, welches den Landesherrn daran mahnt, daß andere in seinem Lande sitzen, die sich ihm gleich dünken«, versetzte der Fürst. »Dennoch, was er zu fordern hat, soll ihm gewährt sein, aber nichts darüber.«

»Dann gestattet auch«, ersuchte Herr Walter wohlmeinend, »daß ich ihm Anruf und Gruß entgegensende, und daß ich unsere jungen Hofherren auf die Pferde mahne. Denn nicht umsonst wollen diese mit Helm und Schild hergeritten sein, und eine Kränkung wäre es für Euren Gast, wenn Ihr seinem Gesinde den ritterlichen Willkommen versagtet.«

»Denkt an uns Frauen, Vetter, und daß wir zuweilen gern das Brechen der Speere hören«, bat eine wohlklingende Stimme mit fremdländischer Betonung. Eine Frau in langem weißen Gewande, die nach dem Gebrauche des Südens Haupt und Hals mit dichtem Schleiertuch umwunden trug, trat zum Landgrafen und wandte die Augen nach dem Wege, auf welchem die Reiter herankamen.

»Es geschehe, was Euch gefällt, Base Hedwig«, antwortete der Landgraf wieder in guter Laune, »wisset, der junge Held, welcher meinen Wein begehrt, ist mit seinen Dienstmannen im ganzen Lande wohlbekannt, weil er ruhelos sein Roß auf der Rennbahn treibt.« Herr Walter hatte unterdes den Speerruf nach dem Hofe gesendet; von dort erklang ein vielstimmiges »Urra wurra!« als Antwort, die Knechte liefen zu den Rossen, die Ritter schnallten an ihrem Harnisch und schrien nach den Speeren. Gleich darauf sprengte eine kleine Schar, geführt von Rudolf Schenk, dem Sohne des alten Walter, grüßend vor dem Landgrafen und den Frauen in den Grund, der zu dem Rennen geeignet war. Herr Rudolf ritt voraus, tauschte mit den Fremden die übliche Begrüßung und [] besprach in der Eile mit Henner Marschalk das Rennen, sechs Kämpfer von beiden Seiten und jedem zwei Speere.

Auf der andern Seite des Kampfplatzes hielt Ivo mit seinem Gefolge, während die Bewaffneten in scharfem Anlauf mit den Speeren gegeneinander ritten, zuerst Herr Henner und Herr Rudolf, nach ihnen die übrigen einzeln, dann sechs gegen sechs. Die Rosse schnoben, die Speere krachten und die Reiter erwiesen ihre Kunst, es war ein untadeliges Rennen, ehrenvoll für beide Höfe; auch der Landgraf freute sich und wurde warm. Und als Ivo abstieg und vom Herrn Walter geleitet näher kam, da trat er ihm freundlich entgegen.

»Dein Hauswirt spricht lange mit dem Fremden«, begann Frau Hedwig zu Else und sah mit ihren großen Augen neugierig auf die Schar der Männer, »der Gast steht, wie ich sehe, in stolzer Haltung.«

»Er ist gut beleumdet im ganzen Lande, und die Leute rühmen ihn als einen freudigen Helden«, antwortete Frau Else, und leiser setzte sie hinzu: »Er dient einer Herrin in Zucht und Ehre, doch wunderlich dünkt es allen, daß niemand erraten kann, wer sie ist.«

»Geheimer Dienst ist nur halber Dienst«, versetzte Hedwig lachend; »wenn wir einem Ritter erlauben, uns zu dienen, so ziehen wir mit der einen Hand den Schleier über unsere Neigung, mit der andern lüften wir den Zipfel, denn eines Helden Huldigung mehret auch uns die Ehre.«

»Sicher bringt sein Dienst Ehre«, fuhr Else fort, »denn für den stärksten Speerkämpfer gilt er im Lande und ist voran bei jeder rühmlichen Tat. Sieh dort die bunten Bilder auf dem Gewande der Herren in Farben gemalt und gestickt. Wenn Herr Ivo jedem, den er im Speerwurf besiegt, nur ein Bild aus dem Gewande schneiden ließe, er könnte seiner Herrin einen weiten Mantel machen lassen, der sie vom Kopf bis zu den Füßen bedeckte.«

»Wahrlich«, rief Hedwig spottend, »wenn seine Herrin nicht ein fahrendes Weib ist, welches gelernt hat, mit wilden Tieren durch das Land zu ziehen, so würde ihr mühevoller werden, seinen Mantel zu tragen, als ihm, das Tuch zu gewinnen.«

»Die Schüler und Spielleute singen auch Lieder, die er selbst erfunden hat, denn er ist des Gesanges wohl mächtig; wir merkten, daß seine Frau sich ihm züchtig versagt, denn voll Sehnsucht und Klage sind seine Töne, und er ist uns deshalb um so werter.«

»Nun er sieht nicht aus wie einer, der ohne Erhörung wirbt«, antwortete Hedwig trocken.

»Dennoch ist es so«, erklärte die Landgräfin eifrig, und mit zartem Erröten fügte sie hinzu: »Es gab bereits müßiges Geschwätz, daß er eine, die uns nahe ist, in seinem Sange preist. Aber mein Hauswirt und ich, wir wissen beide, daß die Meinung falsch ist.«

[] Hedwig sah scharf in das unschuldige Gesicht und berührte leise die Wange der Landgräfin. »Er hätte keine holdere Herrin finden können. Sieh, dein Wirt führt ihn zu uns, laß sehen, ob er auch zu sprechen vermag.«

Der Landgraf wies nach der Begrüßung auf die Frauen. »Folgt mir, daß ich Euch zu denen geleite, welche Euer Lob am liebsten verkünden. Ihr findet einen seltenen Gast, des Kaisers Nichte Hedwig, sie und die Frauen in ihrem Gefolge sind wohl wert, daß Ihr ihnen huldigt.«

Ivo berührte mit der Hand ein Tuch, welches er um den Hals geschlungen trug. »Habt die Güte, mich bei den edlen Frauen zu entschuldigen, wenn ich ihnen unhöflich diene. Mir ist verboten, meinen Blick zu einer Frau Eures Hofes zu erheben, und ich darf nur vor sie treten mit gesenktem Haupt und niedergeschlagenen Augen; unlieb wäre mir, wenn sie mich für kindisch hielten.«

»Nun beim heiligen Georg«, rief der Landgraf erstaunt, »Eure Herrin übt eine harte Herrschaft! Selten haben unsere Frauen sich über niedergeschlagene Augen der Gäste und der Schildtragenden zu beklagen.« Doch ernsthafter fuhr er fort: »Wir wissen den Dienst eines verlobten Mannes zu ehren, mögen die Gäste sich streiten über die Farbe Eurer Augensterne.«

Mit tiefer Verneigung trat Ivo vor die Fürstin, das lockige Haar, welches er nach Gebrauch seines Hauses lang trug, umsäumte ein männliches Antlitz. Als er so schweigend stand, ruhig, von hohem Wuchs, ein Bild der Kraft und vornehmen Zucht trotz seiner niedergeschlagenen Augen, da wandten sich alle wohlgefällig ihm zu, und die Frauen im Gefolge der Fürstinnen nickten und flüsterten einander in die Ohren. Sogar die alte Dame Wendelmuth, welche den Kammerdienst und das Hüteramt bei Frau Hedwig hatte, gönnte ihm einen teilnehmenden Blick und sprach halblaut zu ihrem Begleiter, dem fremden Kämmerer Volko, der mit düsterer Miene unter den Thüringen stand: »Wahrlich, manchem von unseren jungen Rittern wäre so züchtige Scham zu wünschen«, und dieser bestätigte es durch ein leises Brummen.

»Es ist ihm durch ein Gelübde verboten, euch, edle Frauen, anzusehen«, erklärte der Landgraf, »dennoch gönnt ihm eure Huld, denn allen Frauen gereicht zum Ruhme, daß der Held einer in Züchten dient.«

»Das sagen wir zuweilen«, antwortete die klangvolle Stimme der Hedwig, »doch wir denken nur so, wenn wir den Ritterdienst einer andern lieber gönnen als uns selbst. Verlangt Ihr solche kalte Huld für Euern Gast, so wird sie gern gewährt.«

»Ihr versteht zu demütigen, indem Ihr Gnade übt«, versetzte Ivo stolz.

[] »Verzeiht, Herr, wie kann ein Gast gefallen, der uns nicht gestattet zu prüfen, ob sein Blick treuherzig oder falsch ist?« entgegnete die Fremde, und sich zum Landgrafen wendend, rief sie: »Seht Herr Ludwig, gerade über euch schwebt ein Reiher, ist niemand da, der Eurem Edelfalken die Kappe löst?« Alle sahen nach der Höhe, doch Ivo widerstand der neckenden Versuchung. »Nichts für ungut, Vetter«, fuhr die Dame lachend fort, »es war nur eine Probe für Euren Gast.«

»Da er die Probe bestanden hat, Base Hedwig, sollt Ihr die Buße zahlen. Ich bitte Euch, legt den Schleier ab, der Euch Stirn und Kinn verhüllt, und laßt meine Helden Euer Angesicht schauen. Ist auch in Eurer Heimat die Sitte strenger, wir in Thüringen sind gewöhnt, beim Feste das Antlitz schöner Frauen zu betrachten. Gestattet unserer Sonne, daß sie Euch die weiße Haut bräune.«

Die Verhüllte berührte schmeichelnd die Wange der Herrin Else. »Deinem rosigen Antlitz sieht man nicht an, daß die Maiensonne ihm sein Weiß und Rot gemindert hat. Nur wir Verschleierten tragen den Schaden, denn Nase und Wänglein verbrennen doch, und wenn wir einmal das Schleiertuch lüften, so sind wir in der Mitte des Antlitzes rot gemalt. Das aber ist die Wappenfarbe, die unsere Hausherren an uns am liebsten sehen, obwohl jeder Blick auf den Spiegel uns weinen macht.« Sie löste die Enden des Schleiers, schlug sie über den weißen Nacken zurück und wies ihr edles Angesicht, an dem von Sonnenbrand freilich nichts zu merken war. Als sie so neben der Landgräfin stand in voller gereifter Schönheit und mit ihrem Arm die Hausfrau umschlang, da freuten sich die Herren über den Anblick, und unwillkürlich erklang ein lauter Heilruf von den Lippen der Hofleute; selbst die Augen des Herrn Ivo zuckten, aber er bezwang sich, und der Landgraf rief: »Wahrlich, das ist Frühlingswonne, und wir wollen den Tag in einer Tafelrunde feiern. Den Hofhalt des Königs Artus spielen wir heut, und Ihr, edler Ivo, sollt Ritter Iwein sein oder ein anderer Held, der Euch am besten gefällt. Breitet die Teppiche, rüstet das Mahl, und ihr, edle Frauen, windet Kränze für euch und uns.«

Die Frauen flogen summend wie Bienen durch Garten und Anger. Doch waren der Blumen nur wenige außer Veilchen und Himmelsschlüsseln, und die zarten Hände mußten zum Schlehdorn und Weißdorn hinauflangen, deren Blüten noch die kalte Farbe des Schnees trugen. Dagegen verteilte Frau Else bunte Bänder aus einem Korbe, den eine ihrer Frauen vom Rüstwagen zutrug, und lachend mühten sich die Sammelnden um die Wette, Blumen und Bänder auf biegsame Ruten zu binden und diese in runde Kronen zusammenzufügen. Frau Else bot selbst dem Gaste den Kranz, und die Fremde drückte den ihren auf das Haupt des Landgrafen.

[] Auf sonniger Anhöhe stand ein mächtiger Ahorn, niedrig gewachsen, aber mit breitem Wipfel. Daß seine Laubknospen noch wenig Schatten gaben, war keinem unlieb, denn zartes Gewölk wehrte die Strahlen der Sonne ab und barg das Antlitz der milden Herrin, so daß man nur in dämmrigem Licht und mattem Schatten ihre Gegenwart merkte. Unter den Ahorn wurde die Tafelrunde gesetzt, genau so, wie der junge Lutz geargwöhnt hatte, die edlen Gäste auf niedrige Sessel, die Frauen auf kleine Schemel und nur die Helden auf einen Teppich, der über den Rasen gebreitet war; denn die Landgräfin sah ungern, wenn ihre Frauen sich neben den Männern auf den Boden lagerten, obwohl dies sonst Brauch war. Rudolf Schenk hatte heute den Dienst, die Paare zu gesellen, nicht gerade wie es jedem der Gäste am liebsten gewesen wäre, sondern mit bedächtiger Rücksicht auf die Ehren, welche jeder zu fordern hatte: zwischen den Hofherrn und Frau Else die fremde Gräfin, und auf die andere Seite des Landgrafen den Herrn Ivo, neben die Landgräfin aber seinen eigenen Vater, den alten Herrn Walter von Vargulu, welcher der würdigste Ritter des Landgrafen war, ein Hüter der Frau Else und zugleich ihr ergebener Freund. Auch die aus Ingersleben erkannten, daß sie durch ihre Sitze vom Landgrafen geehrt wurden. Denn der Kämmerer Godwin saß, allem Frauendienst enthoben, neben dem Herrn Walter, und die beiden freundlichen Herren mit dem weißen Haupthaar tauschten gute Gedanken aus über die Abrichtung der Falken, welche in den Höfen ihrer Herren auf der Stange saßen. Herr Henner aber erhielt die alte Frau Wendelmuth zu seiner Kranzgenossin, und Herr Lutz die junge Berta, die Tochter des Kämmerers von Fahnern, welche für die schönste Magd am Hofe galt. Und Herr Henner drückte den Kranz, den ihm Frau Wendelmuth mit steifem Arm reichte, recht zart in das grauliche Haar, indem er sprach: Belle graze, nahm ihre Fingerspitzen in die seinen und führte sie zu dem niedrigen Tische. Er dachte wohl daran, daß er sie vor vierzig Jahren zu Mainz am Hofe des alten Kaisers Friedrich Rotbart gesehen hatte, aber er hütete sich, das zu sagen, um ihr nicht durch sein gutes Gedächtnis verleidet zu werden. Doch begann er von alter Zeit zu sprechen, spielte sich mit gewandter Rede nach Mainz auf das größte Kaiserfest, welches jemals in deutschen Landen gefeiert worden war, und erzählte, wie er damals als Knappe einer Magd des Hofes, die von einem Ritter gerade zum Tanz aufgeführt wurde, den Mantel vom Boden gehoben hatte, als ihr dieser im Gedränge durch einen ungefügen Helden abgestoßen, war; und der Schlaue setzte hinzu: »Ach und weh! Sie erschien mir als die schönste Magd von allen, und ich gedenke noch, von roter Seide war der Mantel.« Da trat Frau Wendelmuth in die Falle, welche er ihr stellte, denn als eine scharfe und [] gewissenhafte Frau versetzte sie nicht unfreundlich, doch noch säuerlich: »Wenn Ihr Euch der Magd so wohl erinnert, wie Ihr sagt, so müßtet Ihr auch wissen, daß der Mantel goldgelb war«, worauf Herr Henner siegesfroh ausrief: »Nie hätte ich gewagt, Euch an den armen Knappen zu erinnern, der Euch die Hülle aufhob. Da Ihr aber selbst des gelben Mantels gedenkt, so darf ich Euch sagen, daß ich heut beim ersten Blick Euch wiedererkannte, so wie Ihr damals waret, und daß ich Euch in meinen Gedanken mit derselben goldenen Hülle vor mir sehe.« Durch diese Rede machte er die stolze Frau vertraulich, und sie sprachen seitdem wie alte Bekannte von den ruhmvollen Tagen des Kaisers Barbarossa und von vielem Ärgerlichen, das sie später erlebt.

Dazwischen aber blickte Herr Henner sorgenvoll über den Tisch, ob sein junger Geselle sich auch bescheiden auf dem Teppich lagere, und wie er sich gegen seine Nachbarin gebärde. Ihn freute, daß beide leise miteinander redeten, aber er sah mit Entsetzen, daß Herr Lutz plötzlich die Beine unter das Gesäß zog, weil ihn der Erdboden zu sehr kühlte; und er hustete leise. Seine Nachbarin, welche mit spähendem Blick das Ereignis in der Tafelrunde beobachtete, erkannte sogleich den Grund seines Hustens; und da sie alle Not bei Hofe verstand, so tat sie für ihn selbst, was noch niemals ein Fremder von ihr genossen hatte: sie faßte hinter sich nach einer Decke, die zusammengebunden im Bereich ihres Armes lag, schob sie leise an den Sitz des Herrn Henner und winkte ihm, daß er sie unterlege. Und der Marschalk, der die Wohltat zu würdigen wußte, half mit der Hand ganz unmerklich nach und warf ihr einen dankbaren Blick zu, während ihm die welken Schlüsselblumen über die Augen hingen.

Aber die Herrschaft am oberen Tische saß unterdes sehr feierlich, nur der Landgraf sprach einiges zu seinen Gästen, bis er endlich zufrieden von dem ausruhte, was der Koch für das Fest bereitet hatte. Da erhob er die Stimme: »Und alle will ich mahnen, daß wir den jungen Sommer begrüßen, wie es einer frohen Tafelrunde gebührt. Bringt das Saitenspiel und legt es in die Hände des Gastes. Gefällt es Euch, Herr Ivo, so laßt unsere Frauen, denen Ihr nicht zulachen dürft, doch Euren Gesang vernehmen.«

Ivo hatte bis dahin in stolzer Zurückhaltung vor sich niedergesehen und nur auf die Fragen des Landgrafen geantwortet, so daß die Landgräfin heimlich zu Frau Hedwig sagte: »Sieh, gleicht er nicht unter den Sorglosen einem Leidtragenden, der sein geheimes Weh mit Mühe bändigt?«

»Oder einem Gefangenen, der widerwillig beim Mahle des Siegers sitzt«, versetzte die Fremde.

Jetzt antwortete Ivo, wie sich's gebührte: »Die Bitte des erlauchten Wirtes ist dem Gaste Gebot; übt Nachsicht, denn meine [] Stimme ist rauh und meine Weise nicht so kunstreich wie andere, die ihr zu vernehmen gewöhnt seid.« Er griff kräftig in die Saiten, spielte ein wenig und sang, was damals aus seinem Munde den Zuhörern weit lieblicher klang als jetzt aus dem Buche:

»Bote, geh und künde meiner Fraue:
All mein Hoffen hat der Reif zerstört;
Da die Blumen lachten auf der Aue,
Harrt' ich, ob sie noch mein Flehn erhört.
Trostlos find' ich, wenn der Morgen tagt,
Vereist die Heide,
In Sehnsucht und Leide
Vergangen die Freude, das sei vor ihr geklagt.«

Er hielt inne. Die Herren murmelten ihr Lob deutlich, die Frauen leise, aber nicht weniger ehrlich, und der Landgraf rief: »Wohlgesungen! Wir hörten die Klage; ist niemand unter den Frauen, der ihm Antwort gibt? Base Hedwig, vielleicht beliebt es Euch, dem edlen Gast das Widerspiel zu halten.«

Hedwig rückte das Saitenspiel zu sich, mit nachlässiger Handbewegung fuhr sie über die Saiten und sang eine Antwort, indem sie die fremde Weise, welche sie eben gehört hatte, wiederholte und zierlich wandelte:

»Weh, des Mannes Sehnsucht schuf mir Sorgen,
Sprach die Frau, verschlossen bleibt der Mund,
Meine Liebe trag' ich still verborgen,
Wie das Meer die Perle birgt im Grund.
Trost noch findet, wer sein Lieben klagt;
Die sich sehnt und leidet
Und Rede meidet,
Der Armen ist ihr letzter Trost versagt.«

Als sie geendet hatte, summten alle warmes Lob, auch Herr Ivo lächelte, und der Hofherr sprach: »Gern wird unser Gast Euch den Preis geben, Base, denn Ihr habt seinen Sang geehrt, indem Ihr ihn zur Stelle nachahmtet.«

Und Ivo versetzte: »Auch ich danke meiner Siegerin, obgleich ihr Lied den Trost nicht verheißt, um den ich flehte. Ich merke, daß sie der Kunst des Saitenspiels mächtig ist wie wenige. Vielleicht, wenn Ihr, erlauchter Herr, und Euer Gemahl die Dame bitten, versagt sie uns nicht die Freude, ihr Spiel zu hören.«

Die Gräfin nickte gleichgültig und faßte sogleich nach der kleinen Harfe, die sie vor sich niedergesetzt hatte. Und sie spielte in Wahrheit mit solcher Kunst, wie die meisten aus der Gesellschaft noch niemals gehört hatten.

Der Landgraf war voller Bewunderung, ergriff seinen goldenen [] Becher und rief: »Hebt euch von den Sitzen, ihr stolzen Helden; nie sah ich und nie hörte ich die Finger einer Frau so behend durch die Saiten greifen, denn schnell wie der Blitz bewegtet Ihr die kleine Hand, Base, und ich vermochte mit den Augen kaum dem Spiele zu folgen. Darum trinken wir Heil der Herrin, welche so seltener Kunst mächtig ist.« Als der Beifallssturm sich gelegt hatte, fuhr der Wirt fort: »Gern vernähmen wir noch mehr von Euch, und unser Ohr würde nicht müde vom Zuhören. Laßt singend oder sagend Eure Stimme noch weiter tönen, denn am Hofe unseres Herrn, des Kaisers, habt Ihr, wie ich weiß, jedes Werk der Sänger geübt, so daß auch die Welschen über Euch staunen.«

Hedwig lachte. »Ihr wollt's, nehmt vorlieb. Und da wir hier unter Blumen und Klee im Baumschatten sitzen, so hört ein kleines Abenteuer, es heißt wie dieser Baum, der Ahorn.« Und sie hob die Hand nach der Höhe. Darauf begann sie mit klangvoller Stimme eine Geschichte in Reimen, welche folgendes verkündete: »Ein König im Lande Spanien hatte eine Tochter, welche so stolz war, daß sie sich selbst in den Arm zwickte, wenn sie einmal einen Mann gegrüßt hatte. Sie ritt am liebsten allein auf ihrem Rößlein durch Anger und Wald. Im Holze stand ein alter Ahorn, ein kaltes Brünnlein quoll an seinem Fuß, und blaue Glockenblumen blühten darum. Als die Magd einst an einem heißen Tage dort anhielt, löste sie die Spangen ihres Gewandes und kühlte Wangen und Brust am klaren Quell. Da hörte sie ein leises Atmen, sie glitt um den Stamm und sah auf der andern Seite desselben einen Jüngling, der sich am Brunnen gekühlt hatte und mit offenem Gewande unter den Blumen entschlafen war. Sie konnte die Augen nicht von ihm abwenden, bis er aufwachte und sie ansah. Da sprach das Königskind: ›Du siehst das Mal an meiner Brust, wie ich das deine sah; küsse mich oder ich küsse dich.‹ Von diesem Tage trafen die beiden einander oft unter dem Baume, und sie wurden eins dem andern lieb vor allem auf der Welt. Unterdes überzog ein wilder Mohrenfürst den Vater des Königskindes mit Krieg, so daß dieser ihm einen Teil seines Reiches und die Tochter zur Gemahlin verhieß. Die beiden Trauten saßen sorgenvoll unter dem Baume, daß Herz wollte ihnen vor Gram zerspringen, und ihre Tränen flossen in den Quell. Da erhob sich vor ihnen die Wasserfrau, welche in dem Brunnen wohnte, aus der Flut: ›Salzig wird mein süßer Quell durch eure Not‹, und sie bot jedem von ihnen einen hölzernen Armring, in welchen ein Zauberdorn geflochten war. ›Legt ihr den Ring um, so vermag er euch Seele und Leib zu scheiden, so lange ihr es begehrt, und als Dämmervogel fliegt ihr ins Freie über Berg und Tal zu meinem Baume; doch hütet euch, daß der Rückweg euch nicht gesperrt werde.‹ Da besprachen die beiden Traurigen, daß sie einander am Baum wiedersehen [] wollten in jeder Sommerzeit, bei jedem vollen Mond. Der Mohr aber schloß die Königstochter auf seiner Feste ein, die er sich auf steilem Felsen erbaut hatte, und sie durfte niemanden sehen und sprechen, nur eine treue Magd, welche ihr gefolgt war. Als nun der volle Mond in ihre Schlafkammer schien, da sprach sie zu ihrer Genossin: ›Schließe die Tür und öffne das Fenster. Wache und sorge nicht um mich, ich weiß eine, die mit dem Mondenstrahl fliegt, wenn die Leibeshülle leblos liegt.‹ Und sie legte den Armring an. Da sank sie sogleich auf ihr Lager zurück, und aus ihrem Munde flog ein winziges Vöglein und verschwand durch das offene Fenster in der Dämmerung. Die Dienerin wachte in Sorgen, denn ihre Herrin lag wie tot, das Herz schlug nicht, und sie atmete nicht. Als aber die Tagesdämmerung am Himmel aufstieg, schwebte wieder ein kleiner Schatten durch das Fenster, und das Königskind richtete sich von dem Lager auf und sprach: ›Am Astloch saß der Geselle mein, ihm troff der Tau vom Flügelein.‹ So trieb sie es den ganzen Sommer. Doch als die Nächte lang wurden und weißes Gespinst um die dürren Halme glänzte, da wurde der Dienerin mühsam, im Vollmond den Schlaf von ihren Augen fernzuhalten; und als die Königstochter sich aufrichtete, sprach sie: ›Ein Bahrtuch sah ich weben über Flur und Hain, meinem Gesellen hing die Flocke am Bein.‹ Und wieder schien der Vollmond in langer banger Nacht, der kalte Sturmwind fuhr durch das Land, er heulte um die Burg und schlug das geöffnete Fenster zu. Die Dienerin aber hatte ihr Haupt verhüllt und war entschlummert, der Morgen kam und sie merkte es nicht, und als sie erwachte, schien die bleiche Wintersonne in das Gemach. An die geschlossene Tür schlug der Mohrenfürst, bis sie aufsprang, und er sah das Königskind leblos liegen, den Zauberring am Arme. Da riß er ihr zornig den Ring ab und befahl, den Leib in einem steinernen Sarg zu bergen, wo nicht Mond, nicht Sonne ihn beschien. Und als die Kunde durch das Land lief, daß die Königstochter gestorben war, da fanden die Knappen des Ritters am nächsten Morgen ihren Herrn regungslos auf dem Lager, sein Herz schlug nicht, und er atmete nicht. Wer aber am Vollmond zu dem Quell kam, der sah um den Baumeswipfel einen kleinen Schatten schweben, und sie sagen, es war der treue Geselle, welcher sich sehnte und harrte.«

Die Erzählerin hielt inne, über ihrem Haupte zwitscherte es in den Ästen. »Seht«, rief sie mit veränderter Stimme, »dort ist das Astloch, und dort hebt ein Sänger den Fittich, vielleicht ist es eine der beiden liebenden Seelen, welche einander suchen. Sei tausend mal gegrüßt, du Armer, der du einsam dahinziehen mußt.«

Sie schwieg, und alle lächelten über das Ende, welches anders war, als sie erwartet hatten. Doch zeigten sie auch, wie sich für Hofleute schickt, daß sie gerührt waren, und bedauerten das [] Schicksal der Liebenden. Frau Wendelmuth begann leise zu ihrem Kranzgenossen, indem jetzt sie die Falle stellte: »Auch zu Eurem Amt, Herr Marschalk, gehört, daß Ihr bisweilen einem Vogel das Fenster offen haltet. Fliegt Euer Vogel in weite Ferne und müßt Ihr lange harren, bis er zurückkehrt, so habt Ihr einen sorgenvollen Dienst.« Aber Herr Henner erkannte die forschende Neugier und antwortete behutsam: »Wir Thüringe hängen an der Heimat; ja selbst wenn wir ganz außer uns sind und wenn wir vor Liebe aus der Haut fahren, wir kommen in kurzer Zeit wieder zu uns selbst.« Da nickte Frau Wendelmuth und blickte nach der Landgräfin hinüber, denn in ihrem Ohre klangen noch die herrlichen Worte, mit denen Frau Else vor kurzem den Gast gelobt hatte.

Die Landgräfin aber war still geworden und sah mit geröteten Wangen vor sich nieder. Doch auch sie erhielt ihren Anteil von den Ehren des Mahles. Seitwärts der Tafel saß auf der Bank ein geistlicher Herr, dem sein Amt die Teilnahme an der bekränzten Gesellschaft verbot. Daß der Herr zum Hofe gehörte, verriet die tiefe Verneigung, welche die aufwartenden Diener nicht unterließen, sooft sie bei seinem Sitze vorübergingen. Er aber sah von seinem Buche häufig nach der Artustafel. Jetzt erhob er sich geräuschlos, ging nach dem Hofe, wo die Kinder des Landgrafen mit ihren Wärterinnen weilten, der vierjährige Sohn und die kleinere Tochter, gebot, die Kleine ihm nachzutragen, und faßte selbst den Knaben bei der Hand. Als dieser ungern folgte und schrie, wollte der Geistliche ihn heftig fortziehen, aber er bezwang sich, freundlich zu reden, gab ihm einen grünen Zweig in die Hand, hob ihn auf seine Arme und trug ihn einige Schritte. So trat er hinter den Landgrafen und begann mit gedämpfter Stimme, welche aus dem Munde des Priesters feierlich in das Ohr drang: »Auch die Kinder wagen im Mai ihren lieben Vater zu begrüßen, und sie erbitten für sich die Liebe der Eltern.«

Der Landgraf wandte sich überrascht um, sein Gesicht verklärte sich, als er die Kleinen sah, er küßte den Sohn auf den Mund, nahm die Tochter in seine Arme, lachte ihr zu und rief über die Tafel: »Verzeiht, edle Brüderschaft des König Artus, wenn ich Ungehöriges vollbringe; hier aber sind Geschenke meiner Else und mir lieb vor allem«, und die Kinder der Wärterin zurückgebend, nickte er dem Geistlichen dankend zu, welcher noch leise sagte: »Auch Ihr werdet im heiligen Psalter begrüßt mit diesen Worten: Wohl dir, wenn du den Herrn fürchtest, dein Weib wird sein wie ein fruchtbarer Weinstock und deine Kinder wie die Ölzweige um deinen Tisch her.« Als der Priester darauf den Knaben zur Mutter führte, grüßte Frau Else den klugen Mann mit inniger Dankbarkeit und sprach: »Ihr tut immer das Gute«; sie beugte sich tief auf seine Hand hinunter, daß er sie schnell wegzog und zurücktrat.

[] Die düstere Gestalt des Geistlichen und seine Schriftworte verdarben den Artusrittern die poetische Stimmung. Ivo starrte noch ernsthafter vor sich nieder als vorher, sogar die Nichte des Kaisers betrachtete erstaunt das große Gesicht mit geschwollenen Stirnadern und mit zwei tiefliegenden, mächtigen Augen, um welche Schwermut und geheime Trauer zuckten, und sie fragte den Landgrafen, »Wer ist dieser Unglücksvogel mit geschorener Krone?«

»Es ist Meister Konrad von Marburg, ein Richter des Heiligen Vaters über Glaubenssachen und uns ein vertrauter Ratgeber.«

»Dann möge sein Rat Euch alles Glück bringen, das ihm selber fehlt; denn ihn anzusehen macht traurig.«

Der Wirt aber winkte dem Schenken Rudolf, welcher aufsprang und einen großen Becher herantrug. Der Landgraf erhob sich und zugleich mit ihm die Herren, und den Becher haltend, begann er: »Altem Brauche zu Ehren sei dieser Wein Euch, edler Ivo, geboten, denn es ist ein Recht Eures Geschlechtes aus der Väter Zeit, daß der Landgraf selbst Euch einmal im Jahre, wenn der Kuckuck ruft, den Becher schwenke, ein Edler dem andern, damit er die Ehrbarkeit Eures Geschlechts vor seinen Mannen bestätige.« Und er reichte ihm den Becher.

Ivo verneigte sich, und den Becher fassend, sprach er dagegen: »Aus erlauchter Hand empfange ich die Gabe, damit ich Heil trinke für Euch, den mächtigen Gebieter in diesem Lande, für Euer edles Gemahl und Euer ganzes Geschlecht.« Er trank, die andern riefen das Heil nach, und der Landgraf bot ihm die Hand.

Als alle saßen, fuhr der Landgraf fort: »Ich danke Euch, Herr Ivo, daß Ihr mir Gutes wünscht. Und da wir hier zwischen Wald und Flur unserer Heimat in Frieden gesellt sind, so laßt Euch noch etwas sagen, was mir längst im Sinne liegt. Ungern sehe ich, daß Ihr Euch von meinem Hofe fernhaltet. Ihr findet hier manchen, der Euch wohlgeneigt ist, auch mir ist es eine Freude, Euch bei mir zu haben. Ungern entbehre ich auch Euren starken Speer, wenn ich einmal gegen meine Feinde in den Stegreif trete.«

Tiefe Stille entstand, und aller Augen richteten sich auf den Gast, welcher ruhig entgegnet: »Laßt mich antworten so offen, als Ihr fragt. Ihr seid ein gnadenvoller Herr, kein Fürst auf beiden Seiten des Rheins darf sein Haupt höher tragen als Ihr, und oft hörte ich preisen, daß Ihr guten Dienst reich zu belohnen wißt. Dennoch zürnt nicht, wenn ich meine eigenen Wege reite, nicht umsonst botet Ihr mir heut den Becher. Ich habe nicht gelernt zu dienen, sondern als Herr über Dienenden zu walten, und ich vermag keinem Sterblichen den Treueid zu leisten, als meinem und Eurem Herrn, dem Kaiser.«

Frau Else sah besorgt, daß das Antlitz ihres Gemahls sich rötete, [] und als sie sich hilfesuchend zu der Fremden wandte, wurde sie wieder durch das kalte Lächeln derselben gekränkt.

»Stolze Worte sprecht Ihr, Herr«, rief der Landgraf gereizt, »und wenn der Becher, den ich bot, Euch so hohen Mut verleiht, kann ich den nichtigen Brauch fernerhin nicht loben. Ihr selbst wißt, wer als Landgebieter seine Macht bewahren will, den kränkt es, wenn zwischen seinen Vasallen und Gerichtsstühlen kleine Herren sitzen, welche bei jeder Fehde stolz überlegen, ob sie zu Hause bleiben oder vielleicht gar gegen den Landesherrn reiten.«

»Beschwert Euch das, Herr«, versetzte Ivo fest, »so zürnt nicht mir, sondern der alten Ordnung des Landes.«

»Ich will Euch nicht kränken, edler Ivo«, fuhr der Landgraf fort, »denn mir liegt daran, Euch zu gewinnen. Doch gibt auch der Kaiser mir recht, wenn ich dafür eifere, daß der Eigenwille mancher Edlen im Lande gemindert wird. So ist des Kaisers Wunsch, daß der große Stand der Reisigen, welche den Rittergurt tragen, in seiner Ehre erhöht werde. Denn die ärmlichen Ritter, welche jeder der Edlen und Freien sich nach seinem Belieben ernennt, bringen dem Stand arge Unehre, schweifen durch das Land und schädigen als Räuber das arme Volk. Auch Euer Oheim Meginhard verzichtet darauf, seinen reisigen Knechten den weißen Gurt umzulegen, und er überläßt mir diese Begabung. Ich weiß wohl, Herr, daß Ihr auf Rittertugend achtet, dennoch würdet auch Ihr guttun, wenn Ihr in Zukunft Eurer Hofjugend die Ehre gönntet, daß der Landgraf selbst sie aus Knechten zu Herren macht.«

Ivo drängte mit starker Anstrengung den Zorn zurück, der in ihm aufstieg, und er sah nur etwas bleicher aus als sonst, indem er ruhig erwiderte: »Es war bei diesem Frühlingsfeste schon allzuviel von alter Zeit die Rede; doch zürnt mir nicht, wenn ich noch einmal daran mahne. Es geht die Sage im Lande und meinem Hofe, daß der erste Ludwig, den Ihr als Euren Ahnherrn auf dem Landgrafenstuhle ehrt, Sohn eines fränkischen Vasallen aus den Buchen war. Den Knaben zog ein Ahnherr meines Hauses, seit er den Vater verloren hatte, getreulich auf, und als der Knabe zu seinen Jahren kam, bekleidete er ihn mit dem Schwertgurt. Da Euer eigener Vorfahr seine Ritterwürde meinem Hause zu danken hat, so bitte ich, ertragt in Huld, daß auch ich fortfahre, die Ehre zu verleihen, die Eurem Geschlechte so gut gefrommt hat.«

Die Landgräflichen sahen vor sich nieder, denn die Antwort war allen peinlich. Ivo aber erhob sich und fuhr fort: »Ich kam hierher, erlauchter Herr, als Euer Gast, ich fürchte, daß meine Fahrt Euch unwillkommen war. Doch bevor ich bitte, mich und die Meinen zu entlassen, will ich auch noch sagen, wie mir gegen Euch zumute ist. Und da heut in dieser Runde ein Abenteuer von einem Baume erzählt wurde, so gestattet mir huldreich, daß ich ein [] anderes berichte, kunstlos und in wenigen Worten, welches Ihr die Eiche benennen mögt: – Zwei junge Edle, von denen der eine reich und mächtig war, der andere auf mäßigem Erbe saß, lebten in Unfrieden, wie Nachbarn oft geschieht. Vieles irrte die beiden, am ärgerlichsten war ein Streit über die Hirschjagd im Waldgebirge. Der Mächtige hatte mit seinen Jägern und Hunden den Wald des andern durchzogen und auf die Beschwerde, die dieser erhob, eine stolze Antwort gesendet. Da ging der Gekränkte allein mit Schwert und Armbrust in den Wald, um sein Recht zu behaupten und die Einbrecher zu strafen, wo er sie fände. Sein Mut war zornig, und er dachte am liebsten daran, seinen Gegner selbst zu treffen und auf grünem Moose Mann gegen Mann den Streit zu entscheiden. So stand er mit wilden Gedanken lauernd hinter einem Urbaum, an dem die Mönche ein Bild der Gottesmutter befestigt hatten zum Nutzen der frommen Waller, welche auf dem Fußsteig über die Berge ziehen. Der Harrende vernahm, daß Zweige brachen, sein Gegner trat bewaffnet wie er selbst aus dem Dickicht. Da wollte er aus dem Versteck springen, der andere aber legte ahnungslos die Waffen ab, warf sich mit entblößtem Haupte vor dem Heiligenbild auf die Knie, betete dort inbrünstig mit seinen eigenen Worten und tat ein Gelübde in großer Bewegung. Der Rachelustige trat zurück und vernahm wider Willen die Worte des Betenden. Ich darf nicht künden, Herr, was ein Geheimnis des Waldes bleibt, aber ich sage, das Gebet drang aus der Seele eines warmherzigen und ehrlichen Mannes, welcher den lieben Heiligen für alles Glück seines Lebens dankte, vor anderem für sein liebes Ehegemahl und für die Hoffnung auf einen Erben, in der er damals lebte. Und er flehte zu den Fürbittern, daß sie ihn vor argen Gedanken behüten möchten und vor arger Tat, damit er würdig werde seines Glückes und ein rühmlicher Herr für alle, die ihm angehörten. Und als er sein Flehen und Gelübde vollendet hatte, schritt er ohne Kenntnis der Gefahr bergab. Der andere aber, welcher wider Willen ein Vertrauter geheimer Gedanken geworden war, kniete an seiner Stelle nieder, faßte an den Baum und gelobte, daß er selbst dies Vertrauen ehren wolle und gegen den andern nur solchen Widerstand üben, wie man ihn gegen einen befreundeten und zugeneigten Mann übt, mit Schonung und Geduld und indem er die Dienste von Vermittlern erbitte. Diesen Schwur hat er gehalten; der Streit um die Hirsche wurde bald durch gute Gesellen vertragen, ohne daß der Geschädigte sein Recht verlor. So lautet das Abenteuer von der Eiche. – Und jetzt, erlauchter Herr, erbitte ich Urlaub für mich und die Meinen.«

Die ganze Tischgesellschaft erhob sich, der Landgraf aber breitete die Arme gegen den Gast aus und rief: »Nein, bleibe, Ivo, [] jetzt, wo ich dich kenne, wie du gegen mich gesinnt bist, lasse ich dich nicht mit kaltem Gruß von mir ziehen. Leid tut mir meine Heftigkeit, und ich muß erfahren, daß du mir darum nicht grollst. Noch einmal rücken wir die Sitze zusammen, nicht als Artusbrüder, sondern als Nachbarn, welche einander in Glück und Unglück vertrauen. Setzt Euch zu uns, Herr Walter von Vargula, Ihr wart es, der damals wegen der Hirsche dem Übermütigen die Besinnung zurückgegeben hat. Helft mir heut einen festhalten, der unter uns ein seltener Gast bleiben will, damit wir uns noch mit redlichem deutschen Herzen an einem guten Trunk erfreuen.«

So geschah es. Die Männer setzten sich, das Spiel vergessend, näher aneinander, und auch Ivo hob jetzt im Kreise guter Gesellen die Augen und sah freimütig umher.

Als die Frauen allein waren im Gemach der Landgräfin, trat Else heftig vor Hedwig. »Schöner bist du als ich, und unter den Männern weißt du die Worte zierlich zu setzen, des Sanges bist du kundig, und deine Stimme dringt in das Herz. Auch meinem Gemahl gefällst du gar sehr, und ich merkte wohl, wie er bewundernd auf dich sah. Allen Ruhm gönne ich dir, jedem magst du besser behagen als ich, denn einfach ist mein Sinn und ungeübt bin ich in aller höfischen Kunst; nur einen laß mir, daß ich nicht unselig werde; von meinem Hauswirt wende deine Augen und deine Kunst, denn damit quälst du mich. Nichts habe ich auf Erden als ihn und die Kinder, verliere ich seine Huld, so bin ich elend. Eine Feindin sollst du in mir finden, anklagen will ich dich im Himmel, und mein Recht will ich gegen dich verteidigen vor den Menschen!« Sie warf sich in einen Sessel und verbarg das Gesicht in den Händen.

Hedwig vernahm erstaunt diesen Ausbruch der Leidenschaft und rief, die Achseln zuckend: »Sie liebt ihren eigenen Hauswirt!« und der Weinenden die Hand auf das Haupt legend, sang sie leise: »Lieb Elselein, laß die Sorgen sein. Auch ich saß unter dem Baume, wo der Zauberbrunnen quillt; dort schau' ich im Wachen und Traume eines trauten Gesellen Bild.«

Die Helden von Ingersleben aber freuten sich der gelungenen Fahrt, als sie bei sinkender Sonne heimritten. Das Gefolge rühmte die tapfere Haltung des Herrn, und Ivo sang und lachte wie ein glücklicher Knabe. Als Henner ihm anvertraute, daß auch die Frauen am Fürstenhofe sich wohlgefällig über seine Höflichkeit geäußert hätten, versetzte er gleichgültig: »Zuweilen gefällt man am leichtesten, wo man am wenigsten um den Beifall sorgt.« Und als sie zum nächsten Dorfe kamen, lenkte er sein Pferd neben das des Marschalks und gebot: »Ich raste mit meinem Knaben hier im Dorfe. Mir sang ein Vogel gute Nachricht in das Ohr und kündete [] mir eine Stelle, an welcher ich geheime Botschaft finde; führet Ihr die Schar nach unserm Hofe, morgen früh bin ich daheim.« Henner nickte gehorsam und trieb die Pferde zu schnellem Lauf, während Ivo mit dem Knaben allein durch das Dorftor ritt.

Der Ritt nach dem Mantel

Mit glühenden Wangen sprengte Ivo am nächsten Morgen in seinen Hof, er hob die Hand zum Gruß gegen seine Dienstmannen und fragte atemlos: »Wo ist der Schreiber?«, sprang aus dem Sattel und eilte in sein Gemach. Als Nikolaus eintrat, stieß der Herr den entblößten Dolch in den Tisch, um den Schreiber an seinen schweren Treueid zu mahnen, und ein zusammengefaltetes Pergamentblatt aus dem Gewande ziehend, gebot er: »Tritt vor das Messer und lies mir, was in diesem Briefe geschrieben steht, treu und genau, so wahr du leben willst«, und Nikolaus las folgendes:

»Ein armes trauriges Käuzlein schrieb an seinen Gesellen diesen Brief. – Ich, das Käuzlein, vernahm, wie zwei Frauen zueinander von einem Ritter redeten. Die eine lobte in guter Meinung seine Kunst im Speerkampf und sagte: er vermöchte wohl die Wappenzeichen am Gewande der Helden, welche er vom Pferde wirft, zu sammeln und seiner Herrin daraus einen wallenden Mantel zu gewinnen. Die andere Frau aber, welche aus der Fremde gekommen war, lachte spöttisch in argen Gedanken. Dennoch sage ich, könnte dieser Frau ihr Ritter einen ähnlichen Mantel erwerben, sie würde ihn mit Freuden statt ihres Gewandes umtun, wenn sie einmal mit ihrem Gesellen allein wäre. Manche, die sich hart gebärdet, verbirgt mit Mühe vor ihren Hütern Leid und Sehnsucht. Liebe Du mich, wie ich Dich. Der Brief muß liegen auf grünem Ast, ob ihn ein günstiger Wind erfaßt, ob ihn die Pfote des Katers packt, oder ob ihn der Specht zerhackt. – Der Brief ist zu Ende«, schloß Nikolaus verwundert.

»Lies noch einmal«, gebot Ivo, der neben ihm mit heißen Wangen auf das Pergament starrte. – »Und zum drittenmal, damit ich jedes Wort festhalte.« Darauf riß er den Dolch aus dem Tisch und winkte dem Schüler Entlassung. Als er allein war, barg er den Brief nahe bei seinem Herzen und rang die Hände. »Ja, du sagst es, arme Nachtvögel sind wir beide, endlos treibt die Sehnsucht, verhaßt ist mir das Leben, solange ich von dir getrennt bin, und wenn ich einmal vor dein Angesicht trete, wird auch das Wiedersehen zur Qual, denn das eherne Gitter ragt bis zum Himmel zwischen uns beiden, und kein Flügelschlag vermag darüber zu erheben.« Er warf sich in den Sessel und barg das Gesicht in den Händen. Doch nicht lange unterlag er dem Schmerze, denn ihm fiel,[] wie Liebenden geschieht, wieder etwas Günstiges ein, er sprang auf und lachte: »Verstehe ich meinen Kauz recht, so wäre ihm die Kappe lieb, von der die beiden Frauen zueinander sprachen. Eine frohe Verkündigung finde ich in den Worten, daß sie sich darein hüllen will, wenn das Glück uns zusammenführt. Ich denke, Geliebte, daß ich dir den Mantel gewinne. Einen Mairitt wage ich dir zu Ehren, und das Tuch für dich hole ich mir im Speerkampf von den Edlen dieses Landes.« – Er schritt hastig auf und ab und überlegte.

Endlich lud er seine Getreuen, Godwin und Henner, zu geheimer Beratung.

Die wilden Kampfspiele zu Pferde, durch viele Jahrhunderte Stolz und Leidenschaft der Deutschen, waren in der Zeit des Herrn Ivo sehr ungleich dem Speerkampf späterer Zeiten, wo dicke Eisenschienen den ganzen Leib des Reiters schützten und wo das gepanzerte Roß manchen Stoß der feindlichen Speere auszuhalten hatte. In jener alten Zeit war nur Haupt und Hals des Reiters durch einen Eisentopf geschützt und die obere Brust durch eine Eisenplatte, die über das Kettenhemd geschnallt wurde; der Stoß des Speeres, welcher mit kurzer stumpfer Spitze bewehrt war, wurde durch einen hölzernen Schild aufgefangen. Das Roß trug keine Eisenrüstung, der Ritter beugte sich beim Antritt stark nach vorwärts, die hohe Rücklehne seines Sattels half verhüten, daß er durch einen kräftigen Stoß hinter das Pferd geschleudert wurde. Schon damals waren die Spielkämpfe mit Helm und Schildrand ein Vorrecht aller, welche den Rittergurt trugen, das höchste und am meisten beneidete Vorrecht, welches einen Stand, der zu den dienenden gehörte, in die Kampfgenossenschaft der Edlen heraufhob.

Der Mairitt aber, den Herr Ivo beschlossen hatte, galt für die ruhmvollste Aufforderung zum Speerkampfe, welche sich an alle Ritter des Landes richtete. Das Spiel selbst wurde in der Hofsprache Forest, Waldrennen, genannt und verlief nach herkömmlicher Spielordnung. Wer zu solchem Rennen herausforderte, der zog mit seinem Gefolge durch das Land und hielt zu vorbestimmter Zeit an bezeichneten Raststellen, um dort Gegner zu erwarten, denen der Ort gut gelegen war. Zu Raststellen wurden gewählt ebene Gründe am lichten Laubwald, wo ein klares Bächlein rann oder ein Quell zum Tränken der Rosse. Unter dem Grün der Zweige wurde ein Zelt aufgeschlagen, in dem der Held sich wappnete; auch die Gegner brachen am liebsten aus einer Lichtung des Waldes hervor. Dann ritt der Herausforderer mit den einzelnen Gegnern im Speerkampf um einen begehrenswerten Preis, den er ausgesetzt hatte. Am letzten Tage pflegte dem Rennen gegen einzelne – welches in der Sprache des Herrn Henner Tjost genannt [] wurde – ein Massenkampf zu folgen, das Turnier, ebenfalls nach strenger Spielordnung.

Ivo gab seinem Mairitt solche Gesetze, wie sie einem vornehmen Herrn gebührten. Für jeden Renntag setzte er vier Raststellen, an jeder Rast war er verpflichtet, dreimal zu rennen, und nur wenn er wollte, öfter; an jeder Rast erhielt einer von den Gegnern, welche ehrenvoll widerstanden hatten, nach Ivos Wahl einen goldenen Fingerring. Wer vom Pferde geworfen wurde oder sonst nach Rennbrauch für besiegt galt, der sollte nicht Roß und Rüstung verlieren, wie in der Regel geschah, sondern nur ein Stück des langen Überwurfs, den der Ritter damals über dem Kettenhemd und den eisernen Beinstrümpfen trug. Denn der Herausforderer verkündete, daß er seinen Mairitt unternehme, um von den Helden des Landes Tuch für einen Frauenmantel zu erbitten. Am letzten Tage der Fahrt sollte ein Turnier in der Nähe von Erfurt den Einzelkämpfen folgen.

Sogleich begann in dem Hofe ein emsiges Rüsten. Ivo selbst ritt nach Erfurt, goldene Ringe für die Gegner, Gewänder und Zierat für sich und sein Gefolge zu bestellen. Der Kämmerer Godwin hatte die schwierige Aufgabe, das Geld für die Fahrt zu gewinnen, und dieser sah einige Tage sorgenvoll aus, bis es ihm endlich bei den Juden in Erfurt und bei den Mönchen in Reinhardsbrunn gelang. Die größte Arbeit aber fiel dem Marschalk zu, und vom Morgen bis zum späten Abend klang seine befehlende Stimme um die Ställe und auf der Rennbahn am Hofe. Die Pferde wurden geprüft, die Knechte und die jungen Knaben zum neuen Spiel angelernt, und eine ganze Wagenladung Speerstangen wurde geschnitzt, sorgfältig geprobt und zuletzt mit blau und weißer Farbe schön bemalt.

Nikolaus schnitt unterdes eine große Rolle Pergament zu zahlreichen Briefen und Zetteln an die Herren in den Höfen und an die Burgmannen der Städte, und schrieb die Aufforderung so oft ab, daß ihn die Finger schmerzten. Im Hofe aber sammelte sich an den nächsten Morgen ein Haufe von fahrenden Leuten, welche hier und da im Lande hausten und welche bei ritterlichen Festen als Rufer und Boten zu dienen pflegten. Sie empfingen die Briefe und lernten eine mündliche Verkündung, die ihnen der Schüler oft vorsagte. Damit zogen sie durch das Land zwischen dem Bergwald und dem Harz, sangen ihren Spruch in den Burgen und übergaben die Briefe an vornehme Edle und an die Obrigkeit der Städte.

Sogleich rührte sich's in der ganzen Landschaft, ehrenvoll und lustig erschien der angebotene Wettkampf, in wenigen Tagen war er in aller Munde als das große Ereignis des Frühlings. Wer den Rittergurt trug, erkannte eine Mahnung, der er sich ungern entzog, und nicht weniger ungeduldig wurden die Tage des Spieles von [] anderen erwartet, welche als Zuschauer daran teilnehmen wollten, besonders von den Frauen.

Aber am Hofe des Landgrafen brachte das Ausschreiben nicht jedermann Freude.

Als der Kanzler die schön geschriebene Einladung vorgelesen hatte und Herr Ludwig beifällig ausrief: »König Mai will eine neue Ausfahrt halten!« saß Frau Else erschrocken mit zusammengeschlagenen Händen, ohne ein Wort zu sagen, die Frauen flüsterten einander leise zu, und Frau Wendelmuth lächelte spöttisch.

»Was hast du, Base?« fragte Hedwig leise.

»Gedenkst du der Worte, die ich neulich im Scherze zu dir sprach? Jetzt will er tun, was mir damals einfiel, und was doch niemand aus meinem Munde vernommen hat als du und etwa unsere Frauen. Wer hat ihm meine törichte Rede zugetragen, und was meint er damit, daß er sie durch das Land rufen läßt?«

»Manches Ohr hat deine Worte gehört«, tröstete Hedwig, »wie darf dich wundern, daß sie ihm gefielen? Er selbst hält es sicher für eine Huldigung gegen dich und deinen Gemahl, daß er seinen Willen nach der guten Meinung richtet, die du von ihm hegtest.« Und zum Landgrafen gewandt fuhr sie fort: »Wir wissen auch, Vetter, wie Euer Herr Ivo auf den Gedanken gekommen ist, um einen Mantel für seine Herrin zu reiten. Denn Else und ich waren es, welche damals, als er hier weilte, zuerst im Scherz die Kappe für seine Herrin forderten. Will er Euch und uns dadurch ehren, daß er den lustigen Einfall Eures Hofes zu einem Gesetz macht für seine Ritterfahrt, so haben auch wir Grund, ihm Gutes zu wünschen.«

»Wenn Frau Hedwig mit meiner Else zu der Kappe geraten hat«, versetzte der Landgraf sorglos, »so wünsche ich ihm, daß seine Herrin das nicht erfährt, damit ihr die Freude an der bunten Hülle nicht durch Eifersucht verdorben werde. Doch rühmlich ist die Fahrt auch für uns andere, sie gibt meinen Thüringen Ehre unter den Fremden, den Edlen aber und ihrer Ritterschaft durch einige Wochen Arbeit und Unterhaltung, während ich abwesend bin. Vielleicht reite ich vorher selbst noch gegen ihn.« Und kampflustig ging er mit Herrn Walter nach den Ställen.

Auch auf der Mühlburg erwachte die Kampflust, aber mit gehässigen Gedanken gegen den Niederhof. Der alte Graf Meginhard war im Dienste des Landgrafen nach dem Süden gezogen, Herr Konz saß an seiner Stelle gebietend unter den Dienstmannen und hielt mit ihnen vertraulichen Rat über eine Ritterfahrt. Da ihm aber seine eigenen Gedanken nicht recht gefielen, so ritt er abwärts nach Friemar, lud den jungen Berthold aus dem Hofe und verhandelte heimlich mit diesem, daß er den Schüler Nikolaus versöhnen und zu einer Unterredung bestimmen möge. »Vermagst du mir diesen Gefallen zu tun, so sollst auch du dem Kampfe zusehen, nicht von der [] Heerstraße, sondern als unser Geselle im Festkleide mit meinen Farben.« Der Jüngling war freudig bereit, den Schüler zu gewinnen, und Nikolaus willigte schneller ein, als der Bote gehofft hatte, mit dem Ritter in einem Gehölz zusammenzutreffen, das zwischen dem Niederhofe und der Mühlburg lag.

»Berthold von Friemar hat dir gesagt, daß ich einen Dienst von dir begehre«, begann Herr Konz, von seiner Höhe auf den Schüler herabblickend.

»Er hat mir etwas gesagt«, versetzte Nikolaus kühl.

Konz griff in seine Tasche, suchte aus der hohlen Hand einige Silberstücke und bot sie mit gespitzten Fingern. »Wenn etwa früher Widerwärtiges zwischen uns gesprochen wurde, so soll es ungesagt und vergessen sein. Nimm dies, damit du mir in einer Sache, die mir am Herzen liegt, Gutes rätst.«

Nikolaus wog das leichte Silberblech in seiner Hand: »Von Fremden nehme ich ungern gebotenes Geld, zumal wenn es wenig ist. Doch noch unlieber ist mir, das Geld abzuweisen«, und er versenkte das Silber nachlässig in sein Gewand. »Fragt, und ich will antworten, soweit ich darf; aber wißt, auf leichte Münze folgt leichter Dienst.«

»Du sollst mehr erhalten, wenn ich erkenne, daß dein Rat mir frommt«, ermunterte Konz. »Bevor ich aber meine Frage stelle, gelobe mir Stillschweigen auf dieses Kreuz, du kannst in dem Schwertknopf deine schlauen Augen sehen, wenn du schwörst.« Und er hielt ihm den Kreuzgriff des Schwertes hin.

Nikolaus gelobte bereitwillig Verschwiegenheit.

»Sage mir, in welcher Farbe und mit welchen Zeichen wird Herr Ivo seinen Speerritt durch Thüringen vollbringen?«

»Niemand weiß das, Herr, als die in seinem Vertrauen sind.«

»Darum gerade sollst du es mir sagen«, versetzte Herr Konz ungeduldig, »denn ich gedenke ihm einen guten Possen zu spielen, wenn ich in denselben Farben und Abzeichen gegen ihn reite.«

Nikolaus überlegte. »Ihr mögt denken, daß Herr Ivo solchen Schimpf nicht freudig aufnehmen wird.«

»Das eben will ich«, rief Konz. »Sein Zorn ist mir ganz recht, und ich hoffe ihn auf den Grund zu stechen, daß er dem Rennen für lange entsagt, denn unerträglich ist sein Hochmut, und ich gönne ihm wenig Gutes.«

»Wenn Ihr so kühn seid, so fragt den Schneider in Erfurt«, antwortete Nikolaus mit ausbrechendem Unwillen.

»Das steht mir nicht an, wohl aber dir; darum eben begehre ich deinen Dienst.«

Der Schüler dachte nach, und in seinen Augen glänzte die Schelmerei. »Ich vernahm, daß er sich und sein Roß mit den Farben decken wird, die er sonst trägt, und nach dem neuen Brauch, der [] jetzt aufkommt, wird er auch sein Wappentier, den Raben, auf seinem Gewande führen und auf der Roßdecke.«

»Das ist gute Botschaft«, versetzte Herr Konz vergnügt, »denn wir von der Mühlburg vermögen dieselben Farben und dasselbe Zeichen zu führen, und ich bedarf in diesem Fall deiner Dienste nicht mehr.«

»Dennoch mögt Ihr mir einen Einwurf gestatten, zumal mir der Ritterbrauch aus manchem Lande bekannt ist«, warf Nikolaus demütig ein. »Die vom Niederhofe wollen nicht leiden, daß Ihr selbst den Raben als Zeichen führt, wie Herr Ivo mit seinem Gesinde tut, da Ihr nicht von seinem Geschlechte seid. Kommt Ihr damit vor allem Volk zum Spiel geritten, so wird Ernst aus Scherz.«

»Das ist mir recht«, versetzte Konz, die starken Arme aus seinen Schultern reckend.

»Vielleicht werden sie Euch ganz den Kampf versagen, und alle Herren, welche etwa gegenwärtig sind, werden ihnen beistimmen. Möglich auch, daß sie Euch wegen dieser Kränkung zu scharfem Speerstoß fordern, nicht nur Herr Ivo, auch seine Dienstmannen.«

»Du meinst doch nicht, daß ich die fürchte?« fuhr Konz auf, aber seine Augen blickten unsicher umher.

»Auch werdet Ihr vor dem ganzen Lande wenig Ehre gewinnen, wenn Ihr das Ritterspiel unhöflich verderbt.«

Das gab Herr Konz durch sein Schweigen zu. »Dennoch gedenke ich den Raben nicht zu meiden«, versetzte er endlich mit Trotz.

»Dann rate ich, daß Ihr wenigstens sein Aussehen ändert. Auch die Brüder des Landgrafen geben dem Löwen auf ihrem Schilde ein Abzeichen, damit man sie unterscheide. Was diese tun, wird Euch ohne Minderung Eurer Ehre erlaubt sein.«

»Damit bin ich zufrieden«, versetzte Konz, »doch welches Abzeichen denkst du dir?«

Nikolaus überlegte wieder. »Die Alten im Lande nennen die Mühlburg das Vogelnest, und sie wissen darüber auch eine Sage. Darf ich Euch Gutes raten, so laßt unter dem Raben sein Nest oder doch ein Ei anbringen. Führt Ihr solch eigenes Abzeichen, so dürfen jene Euch das Kampfspiel nicht weigern, wie sehr sie sich auch darüber ärgern.«

Konz erwog die Sache, ihm selbst fiel durchaus nichts Besseres ein. Deshalb gab er seine Einwilligung und verpflichtete den Schüler noch einmal zur höchsten Verschwiegenheit, und dieser erbot sich endlich gutwillig, selbst den Schneider des Ritters anzuweisen.

Es war ein wonniger Morgen, oben am blauen Himmel zogen in langer Reihe kleine Lichtwolken, und unten auf der Landstraße zog die geschmückte Schar des Frauenritters dahin, an der Spitze Herr Henner, hinter ihm der Posaunenbläser und der Rufer, dann[] Ivo mit Seinem Gefolge, zuletzt ein Haufen Knechte und Diener, welche ledige Rennrosse und ein Reihe Rüstwagen führten.

Sooft die Fröhlichen durch ein Dorf zogen, rannten die Leute an die Straße und starrten neugierig auf den glänzenden Zug. Viele riefen Heil und Siegwunsch zu, wenn sie den Herrn der Schar erkannten, denn die ganze Landschaft war stolz auf seine Reitertugend. Barbeinige Dorfknaben liefen den Reitern meilenweit nach, um auch etwas von dem Rennen des großen Herrn zu schauen.

Als sie an eine Krümmung des Weges gelangten, wo ein lichtes Gehölz die freie Umsicht verbarg, da klang durch die lachende Landschaft der Ton einer Posaune, und aus dem Holz ritt ein Rufer ihnen entgegen und hielt auf der Höhe, so daß sein reiches Gewand und die Posaune, welche er hoch emporstreckte, in der Morgensonne glänzten. Die Fahrt wurde gehemmt, der Gegenruf erscholl. »Schlagt den Pavillon auf unter dem Baumschatten«, gebot Herr Henner, nahm den schweren Helm aus der Hand seines Knaben, stürzte ihn auf und band ihn mit der seidenen Schnur am Halse fest, dann ließ er sich Schild und Speer reichen und ritt vor. Der fremde Rufer grüßte und verkündete mit lauten Worten, daß sein Herr, der Ritter vom gekrönten Löwen, in dem Holz lagere und von Herrn Ivo Ritterspiel begehre. Und der Marschalk antwortete, wie sich gebührte, daß jenem das Ritterspiel gewährt sei, drei Rennen nach Brauch ihm und seinen Begleitern, und daß Herr Ivo den Löwen erwarte. Im nächsten Augenblick regte sich's in dem grünen Holz, und aus dem Waldversteck brach eine geschmückte Schar von Rittern und Knappen, die Helme aufgebunden, so daß ihr Antlitz verborgen war; alle in rotem Gewande, gestreifte Löwenbilder auf den Schilden und auf den langen Roßdecken, in ihrer Mitte mit glänzender Rüstung der Herr, kenntlich durch ein Krönlein auf dem Helm. Ivo rief mit strahlendem Antlitz dem meldenden Marschalk entgegen: »Gutes Glück, es ist der Landgraf selbst, der uns die Ritterfahrt einweihen will. Sein Wappenbild soll, wenn mir die Heiligen beistehen, das erste Stück Tuch zu dem Mantel geben.« Henner hörte bekümmert diese Rede, doch wagte er nicht zu widersprechen, er wandte sich wieder der fremden Schar zu, von welcher jetzt ein Hofherr sich ablöste, um mit dem Marschalk den Rennplatz auf dem ebenen Rasengrund zu bestimmen. Feierlich begrüßten die beiden Würdenträger einander mit ritterlichen Worten. »Seid willkommen, Messire Chevalier du Lion«, begann Henner, »ich sehe, aus fremdem Lande kommt Ihr und sucht Goldringe als Beute.«

»Der König Löwe«, versetzte der andere stolz, »ist nicht um die Ringe zur Jagd gezogen, er begehrt sich Eure Rosse und Euer Heergewand, wahret Euch vor seinen Sprüngen.«

Nach diesem feierlichen Gruße ritten beide seitwärts, um auf ebener Stelle die Stäbe zu stecken, damit Wind und Sonne unter die [] Kämpfer gleich verteilt sei. Unterdes lagerte der Haufe des Herrn Ivo auf der andern Seite der Straße, und Ivo wappnete sich in dem schnell aufgeschlagenen Zelte. Als aber die beiden Helfer des Kampfes sich von der übrigen Schar getrennt hatten, begann Henner in ganz anderem Ton: »Wir freuen uns nach Gebühr der Ehre, Rudolf Schenk; dennoch wäre besser gewesen, wenn Ihr den Löwen überredet hättet, sich dieser Sprünge auf grüner Heide zu enthalten, denn Ihr wißt ja selbst, daß es für Euren Herrn ein ungleicher Kampf wird, und ich bin von Eurer guten Gesinnung versichert, auch Ihr wollt nicht, daß der Landgraf meinem Herrn einen Groll nachtrage, was er sicher tun wird, wenn er auf den Grund rollt.«

Der Schenk von Vargula zuckte die Achseln. »Er war so begierig nach dem Abenteuer, daß ihm keiner zu widersprechen wagte, an Euch ist es, dafür zu sorgen, daß Euch nicht später ein Schaden entsteht.«

»Ihr sprecht gut«, bestätigte Henner, »aber auch meiner ist so begierig nach Beute, daß alles Zureden nichts fruchten wird. Es ist unmöglich, daß er der Ehre entsagt, die Haut des Löwen für das Gewand zurechtzuschneiden.«

»Ihr seid scharf, Henner. Solltet Ihr ja vielleicht gegen den Herrn das bessere Glück haben, so sind andere unter uns, um seinen Fall zu rächen.«

»Nun, Schenk«, versetzte Henner, »Ihr habt eine feste Faust, aber wenn Euch gelänge, was Eurem Herrn mißglückt, so würde Euer gutes Glück Euch selbst kalten Dank bei Eurem Gebieter eintragen.«

»Dann müssen wir zusehen, wer den Schaden trägt«, antwortete der Schenk zornig. »Auch die Frauen haben den Landgrafen bestärkt, Frau Hedwig bat sich den Fingerring aus, den er gewinnen wird, und Frau Else sah zwar anfangs traurig drein, doch im Grunde vertraut sie fest ihrem Gebet und der unübertrefflichen Tugend ihres Hauswirtes.«

Henner nickte. »Dennoch muß hier Hilfe geschafft werden. Tut, was Ihr vermögt, ich will's an mir nicht fehlen lassen.« Die beiden drängten die Rosse aneinander und verhandelten leise durch die Helmlöcher.

Nach dieser Beredung verliefen die drei Rennen besser, als Henner gefürchtet hatte. Hell klangen die Posaunen, die Herren sprengten auf ihren Stand, der durch ein Fähnlein bezeichnet war, sie grüßten einander mit würdiger Neigung des Hauptes, senkten die Speere, hoben die Schilde und rannten von der Stelle in gestrecktem Lauf gegeneinander. Aber während dem schnellen Ritt hob Ivo seinen Speer, setzte ihn auf das Knie und empfing ohne Gegenstoß den Anritt des Landgrafen. Dieser traf mit der stumpfen Spitze auf die Eisenplatte, welche als Bruststück über das Panzerhemd gelegt war, die Stange zersplitterte, Ivo saß unbeweglich und neigte das Haupt tiefer, als die Reiter so nahe aneinander vorüberflogen, [] daß ihre Knie streiften. »Speere her«, riefen beide, und die aufgeregten Helden, welche in zwei Scharen geteilt um den Kampfplatz hielten, schrien ihnen die Worte nach. Die beiden Marschälle ritten herzu, prüften mit scharfem Blicke die Rüstung der Kämpfer und die Riemen des Geschirres und legten die neuen Speere in die Hand der Leibknappen. Diesmal antwortete der Löwe auf die Huldigung im ersten Rennen dadurch, daß er seinen Speer aus der eisernen Auflage hob und unter den Arm schlug. Ivo erwies sogleich dieselbe Artigkeit, und auch dies Rennen blieb, wie zu erwarten war, ohne Gefahr, der schwache Stoß des Landgrafen traf wenigstens den Schild des Gegners, so daß der Speer zerbrach, und Herr Ivo hatte nach der Mitte des Schildes gehalten, wo die Widerstandskraft des Gegners am größten war. Beide Kämpfer saßen, als sie aneinander vorübergejagt waren, fest im Sattel. Wieder riefen die Mannen Heil! und Waffen!, aber eine Unruhe war erkennbar, jeder wollte den Ernst des Spieles sehen. »Jetzt kommt's«, seufzte Henner; sorgfältiger prüfte er den Harnisch seines Herrn, und damit beschäftigt, sprach er leise: »Von Eurem Vater und von Eurem Großahn vernahm ich, sooft sie gegen einen gekrönten Helm ritten, stachen sie nach der Krone. Da auch heut der Löwe sich nicht enthalten konnte, zu zeigen, daß er ein Herr sein will über uns alle, so wäre es ein gutes Werk, ihm das Krönlein zu kappen.« Der kluge Rat half, beide Herren trieben ihre Rosse weiter rückwärts von den Fähnlein, um stärkeren Anlauf zu gewinnen, und sprengten kräftig gegeneinander. Der Speer Ivos traf genau die Krone, das vergoldete Holz flog rückwärts und fiel in Trümmern zur Erde, der Speer des Landgrafen brach regelrecht an dem Schilde, der Graf schwankte im Sattel, aber er hielt sich. Und beide Kämpfer warfen die Endstücke der Speere auf die Bahn und neigten sich grüßend gegeneinander. Wieder klang lauter Beifallsruf, der Landgraf nahm seinen Helm ab und streckte mit gerötetem Antlitz lachend seinem Gegner die Hand entgegen, welche dieser ehrerbietig ergriff.

Dem Kampf der Gebieter folgte eifriges Rennen des Gefolges, viel Eschenholz wurde kunstvoll zerbrochen, und kein größeres Unglück war zu beklagen als einige verstauchte Daumen und ein harmloser Fall auf den Rasen. Darauf rasteten die Rosse, die Herren saßen am Birkengehölz auf weichen Polstern, tranken vergnügt welschen Wein und sprachen von Rüstungen, Pferden und Falken, wie Brauch. Mit ehrlichem Heilwunsch schied der Landgraf, nachdem er noch Herrn Ivo eine gute Strecke begleitet und vergnügt den Ring empfangen hatte.

Auch an den nächsten Raststellen wurden die Reisenden von rüstigen Rittern der Umgegend erwartet, und die von Ingersleben merkten mit stolzer Freude, daß der Beginn ihrer Rennen glück- und ruhmverheißend war.

[] Es war am zweiten Tage der Fahrt, als die Schar zu einem Platz auf einsamer Heide gelangte, wo sie keinen Gegner zu finden glaubte. Dennoch hielt auch dort ein kleiner Haufe mit gehobenen Waffen. Es war Herr Konz mit seinem Gefolge, er ritt vor und schwenkte seinen großen Speer, hochragend auf starkem Rosse, ein gefährlicher Gegner, in seiner Rüstung ganz ähnlich dem Herrn Ivo, nur breitschultriger und plumper. Jedoch die Zeichen auf seinem Wappenrock und auf dem Behang seines Pferdes waren übel geraten. Allerdings war ein Rabe sorgfältig aus schwarzem Tuch geschnitten und über den blauen Perkan genäht, auch ein Krönlein trug er aus vergoldetem Taft, aber da der Schneider den Vogel gewissermaßen in häuslicher Tätigkeit dargestellt hatte, über seinem Nest schwebend, so hatte er ihm den Schwanz gehoben, und was darunter lag, als Ei und Nest, war weißlich, undeutlich und erregte Zweifel über die Beschäftigung des Vogels. Und wie Herr Konz selbst waren auch seine Begleiter gezeichnet.

Die Schar des Herausforderers sah befremdet auf die ungewöhnlichen Wappenzeichen. Einer wies dem andern den Vogel, bald hefteten sich aller Augen darauf, zuerst lachten die von Ingersleben, bald aber erkannten sie in dem Reiter und seinem Vogel eine Kränkung, die ihnen angetan wurde, sie schrien laut Hui! und Pfui! und faßten nach den Schwertern. Henner ritt vor und rief seinem Herrn zu: »Erlaubt, daß ich den Dreisten für seine Frechheit bezahle, denn unwürdig ist er Eures Speeres, und schnell soll die Unehre getilgt sein, die er Euch bereitet hat.« Ivo winkte Gewähr, und Henner spornte sein Pferd zum Anritt. »Den Herrn Ivo begehre ich zum Kampf!« schrie Konz aus der Ferne; doch Henner rief: »Zuerst den Marschalk, ob Euch dann noch ein zweiter Ritt gelüstet! Heran, wenn Ihr kein Feigling seid, oder ich kehre den Speer um und schlage Euch mit dem Holz, wie Ihr verdient.« Da erhob sich lautes Getümmel, von beiden Seiten klang wilder Zornesruf. Die beiden Kämpfer fuhren gegeneinander, nicht zum Heil für Herrn Konz, denn wie stark er sich dünkte, er war im Nu rückwärts aus dem Sattel geschleudert und lag betäubt auf dem Grunde. »Die Schere her«, rief Henner vom Rosse. »Und ihr, Mannen des edlen Ivo, rückt im Kreise um die Spießgesellen des Geworfenen, laßt keinen entweichen, der das Zeichen unseres Herrn so unhöflich führt. Euch aber, ihr Fremden, fordere ich auf, gutwillig abzusteigen und euer Gewand abzulegen, oder bei allen Heiligen, die Schäfte unserer Speere sollen euch den Rücken bleuen.« Doch die Begleiter des Mühlburgers spornten ihre Rosse, und eine helle Stimme rief: »Nimmer gebe ich Euch Gewalt über Kleid und Leib trotz Eurem Drohwort, Marschalk; wahret Euch vor dem Freien.« Es war Bertholds Stimme, er riß sein Schwert von der Seite und fuhr gegen den Marschalk los. Aber im Nu war er umringt, vom [] Rosse geworfen, des Gewandes entkleidet und geschlagen, und wie er die andern. Und Henner warf die Streifen der zerschnittenen Decken hoch in die Luft, indem er rief: »So sei der Hohn gerächt nach Reiterbrauch, vorwärts, ihr Herren, zu einer Stelle, wo man höflichere Sitte übt; ihr aber tragt den Schaden.« Herr Ivo winkte ihm dankend zu und ritt davon. Flüchtig im Reiten sah er noch das Antlitz des jungen Berthold bleich und verstört, er sah einen Arm, der sich wie zum Schwur gen Himmel hob, und ein Auge voll Zorn und Seelenqual, das auf ihn starrte. Und wieder bliesen die Pfeifen, spielten die Geigen und dröhnten die kleinen Trommeln, die bunte Schar flog lachend und jauchzend über den grünen Grund und ließ gebrochene Speere, geknickten Stolz und todwunde Herzen an der Erde zurück.

Größer wurde der Zug und lauter die Fröhlichkeit, als sich die Sonne abwärts neigte; die Schar war fast zu einem Heere gewachsen, einige der Herren, welche im Rennen rühmlich ihren Ring gewonnen hatten, schlossen sich dem Gefolge an, viele Landleute, die an den Kreuzwegen gewartet hatten, begleiteten meilenweit die Mairitter. Vollends die fahrenden Leute waren aus der ganzen Landschaft zusammengeströmt, die ansehnlichen auf Pferden und Eseln, die Mehrzahl zu Fuß: Spielleute mit ihrem Gerät, Gaukler und Luftspringer, Weiber in buntem Gewande mit herausforderndem Blick, auch solche, welche ein Gewerbe daraus machten, Pferde zu heilen und kranke Pferde um ein Billiges zu kaufen, dazu alle, die mit dem Brauch der Speerrennen und Turniere vertraut waren und als Rufer und gewandte Diener ihren Lohn zu gewinnen hofften; diese scharten sich achtungsvoll um ihre Genossen, welche dem Herrn Ivo während der Fahrt treuen Dienst geschworen hatten und einen schönen blauen Überwurf sowie am Arme einen silbernen Ring trugen mit dem Bilde eines Raben als Abzeichen. An sie schloß sich ein ruhmloser Haufe von verlorenen Kindern der Heerstraße, welcher keinerlei Kunst, aber große Begehrlichkeit besaß und durch Heilrufe und Geschrei seine Spende zu verdienen suchte. Hinter dem Zuge der Herren und Knechte wälzte das fahrende Volk sich mit Lachen, Geschrei und Zank dahin, lauernd spähten die Augen aus den sonnenverbrannten Gesichtern, und der erste Rufer des Herrn hatte Mühe, die Frechen, welche sich mit Scherzreden und Schmeicheleien an die Reiter drängten, durch eine zähe Gerte zurückzuhalten, die er über ihnen schwenkte.

Die Abendsonne schien golden auf die Türme und Mauern einer ansehnlichen Stadt, auf dem Felde davor sprengten Reiter, und große Haufen von Neugierigen harrten der Gäste, denen die Luft ein Getöse von Hörnern, Pfeifen und kleinen Handtrommeln grüßend zutrug. Henner ritt zu seinem Herrn: »Das sind die lustigen [] Bürger von Mühlhausen, ansehnlich wissen sie sich zu halten, und nicht wenige treue Gesellen erkenne ich, welche ihre Ritterschaft erweisen wollen. Sie haben Euch, wie ich vernehme, gute Herberge bereitet und hoffen auch bei einem Abendtrunk Ehre einzulegen. Da das Volk hier drängen wird, so umzäune ich mit der Schnur einen Rosengarten, in dem Ihr reiten könnt.« Er winkte den Rufern, und eilend liefen diese hinter ihm mit den spitzen Stäben und der roten Schnur; nach artiger Begrüßung wurde der Plan abgesteckt und das Zelt des Herrn aufgeschlagen. Die Burgmannen, welche den Ritterschild führten, waren zahlreich gekommen, unter ihnen hielt auf einem mächtigen Rosse Johannes der Kaufmann, den sie Langhans nannten, und sogar der alte Bertram Schultheiß, ein runder Mann mit fröhlichem Gesicht, als kluger Sprecher wohlbekannt in den Städten. Ihm wurde nicht bequem, auf das Roß zu steigen, aber man wußte auch, daß er nicht leicht herunterzubringen war, wenn er einmal fest saß.

Als Ivo gewappnet aus seinem Zelte trat und sich auf das Pferd schwang, begrüßten ihn wieder lauter Zuruf, Geschrei und Getöse der fahrenden Musiker, und als er in die Schranken ritt, drängten sich von allen Seiten die Zuschauer heran, und ihre Augen richteten sich auf den entgegengesetzten Eingang, wer zuerst gegen den berühmten Kämpfer ansprengen würde. Es war der dicke Schultheiß Bertram unter einem schweren Helm in schönem feuerfarbenem Überwurf, zwar mit verdecktem Antlitz, aber wohl kenntlich an seiner Rundung; darüber freuten sich die Mühlhäuser, jauchzten und nickten einander zu. Alles glückte in dem Speergarten, zumal Herr Henner die Speere in freundlicher Gesinnung wählte und seinem Herrn auch einmal zuraunte: »Seid nicht zu scharf.« Die Burgmannen aber erwiesen sich gewaltig, der Schultheiß gewann den Fingerring und rief fröhlich dem Ivo zu: »Den trage ich, dieweil ich lebe, zu Eurem Gedächtnis.« Nur Herr Langhans entging dem Unglück nicht, er wurde aus dem Sattel geschleudert, daß er der Länge nach auf den Rücken fiel und mit den Händen in der Luft fingerte. Aber da er in der Stadt nicht sehr beliebt war wegen übergroßer Hoffart, so hielten die von Mühlhausen seinen Fall für keine Kränkung, auch er selbst trug's leidlich, da ihm Ähnliches schon früher begegnet war. Ja, er versuchte sogar trotz seinem Schmerz zu lächeln, als Henner sich über ihn beugte und dem Knappen mit der Schere zuwinkte, den vorderen Teil eines Überwurfs von kostbarem Samt wegzuschneiden, indem er artig sagte: »Gestattet, Chevalier, daß wir nach unserem Devoir tun, wenn wir auch weniger geübt sind, Gewand zu schneiden, als Ihr selbst.«

Jedesmal, wenn Herr Ivo von einem Rennen auf seine Stelle zurückritt, erhob sich das Freudengeschrei des Haufens, der mit ihm gekommen war, zumal der fahrenden Leute, welche dichtgedrängt [] am Eingange standen und einander stießen, um den Schranken am nächsten zu sein. Denn alsbald griff Herr Henner in die Geldtasche, welche er an der Seite trug, und warf kleine Silbermünzen in den Haufen. Sobald er an die Tasche rührte, hoben sich die Arme der Fahrenden, und sie schrien: »Segen über Euch, Herr Ritter, hierher, hierher!« Sie bückten sich nach der fallenden Münze, schlugen und balgten sich zum Ergötzen der Zuschauer. Als Ivo einmal so an den Schranken hielt, unter dem Helme tief atmend und sich mit einem Tuch durch die Helmlöcher Kühlung zuwehend, hörte er neben sich eine bebende Stimme, welche wie die andern rief: »Spendet mir!« Er sah die zitternde Hand eines alten Mannes in elendem Reisekleide, und als die Hand nichts zu fangen vermochte, den matten Blick eines Entsagenden. Da fragte er über die Schranken: »Wer bist du, Alter?«

»Ein Elender, den der Hunger zwingt, während er sich nach der Heimat sehnt«, klang es leise zurück.

»Er gehört nicht zu uns«, schrien die Fahrenden neben ihm, feindselige Blicke auf den Fremden werfend, der sich in ihre Brüderschaft drängte.

In dem Klang der Stimme und dem gramdurchfurchten Angesicht war etwas so Verzweifeltes, daß dem Herrn das Herz weich wurde, er lenkte, seiner Ritterpflicht gedenkend, das Pferd zum Marschalk, griff in die Ledertasche und holte einen Goldgulden heraus. Als er sich wieder zu dem Fremden wandte, war dieser vor Erschöpfung an den Schranken zusammengebrochen. Da winkte er einem Knechte, dem Liegenden beizuspringen, und warf ihm das Goldstück in den Schoß. Gierige Hände der Umstehenden griffen darnach, aber der Knappe eilte dem Manne zu Hilfe, und dieser rief, die Hand hebend: »Möge der Himmelsherr dich bewahren, daß du selbst jemals in so bitterer Not für eine Gabe danken mußt, wie ich dir danke.« Die Fanfaren klangen, Ivo wandte sich ab, faßte nach dem Speere und hatte bald unter den Grüßen der Mühlhäuser und beim festlichen Abendtrunk in der Ratsstube den Jammer des fremden Bettlers vergessen.

Es war am vierten Tage der Maienfahrt, die ritterliche Schar kehrte von Norden her in die Umgegend von Erfurt zurück; wieder trug die Natur ihr schönstes Feierkleid, die Tautropfen blitzten wie Edelsteine an Gras und Blumen, die Amsel pfiff im Gehölz, und von der Höhe trillerte die Lerche. Harte Stöße hatte der unermüdliche Speerbrecher empfangen, aber noch stärkere hatte er ausgeteilt, mit Stolz blickte er rückwärts auf ein Bündel, welches mit seidener Decke umhüllt an seinem Sattel befestigt war, denn es enthielt zehn Stücke bunten Stoffes, die sein Marschalk aus den Wappenröcken geworfener Ritter geschnitten hatte. Beinahe war der Stoff gesammelt für einen Mantel, und doch war im Turnier noch der meiste [] Zuwachs zu erwarten. Sah man dem Herrn und seinem Gefolge auch die Anstrengung der letzten Tage an, sein Herz war froh, denn sein Ruhm war hoch gestiegen, die stärksten Ritter der Landschaft hatten vergebens ihre Rosse gespornt und mächtige Speere gegen ihn eingelegt, und die Spielleute zählten bereits in langen Gedichten seine Gegner auf, den Schmuck ihrer Rüstungen und den Verlauf seiner siegreichen Kämpfe.

Ivos Lippen bewegten sich, und er sang leise vor sich hin. Da hielt der Zug. Auf einer kleinen Anhöhe standen Rosse, Helme blinkten, und Bewaffnete lagerten am Rand eines Gehölzes. »Gutes Glück«, rief Herr Henner, »dort harren edle Gäste, weckt sie aus ihrer Ruhe, denn mir scheint, sie haben den Ausguck versäumt und wir überraschen sie.« Herausfordernd klang die Posaune, aber kein Gegenruf antwortete, und die fremden Reiter traten nicht einmal an die Rosse. »Sie schlafen«, rief Ivo verwundert, »blast zum zweiten Male.« »Sie haben sich träge verlegen und vermögen die Glieder nicht zu rühren«, spotteten seine Ritter. Auch der zweite Klang weckte keine Antwort. Der Marschalk ritt vor, aber nach wenig Roßsprüngen wandte er um und rief seinem Herrn zu: »Sie führen nicht Wappen, nicht Decken, nur ein schwarzes Kreuz erkenne ich an den Mänteln und die Vollbärte der Gesichter. Es sind Marienbrüder vom deutschen Hause in Jerusalem.«

Mehrere aus dem Gefolge bekreuzigten sich. Ivo hielt sein Pferd an: »Wir vernehmen zuweilen von ihren Taten im Gelobten Lande, doch wir selbst sehen wenig davon; denn bei uns schleichen sie wie die Mönche, bergen ihr Antlitz in den Siechhöfen und stellen sich, wie man sagt, ungern zum Speerkampf. Dennoch begehre ich ihr schwarzes Zeichen als Beute, wenn es auch nur ein trauriger Schmuck ist. Wir reiten näher, ob wir sie herauslocken.«

Er ritt, vom Marschalk begleitet, zu den Fremden. Aus dem kleinen Haufen der Gelagerten erhob sich ein Bruder und antwortete ernsthaft dem Gruße, ein Mann von mittleren Jahren, der über dem Kettenhemd einen braunen Überwurf von grobem Wollstoff trug, über der Brust ein großes Kreuz von schwarzem Tuchstreifen und um die Schultern einen weißen Mantel. Sein voller Bart war mit Grau gemischt, die festen Züge des Antlitzes von südlicher Sonne gebräunt.

»Geschlossene Helme sehe ich hier«, begann Ivo, »und Schwerter, welche am Rittergurt hängen, aber auf die Ladung meines Rufers kam von euch keine frohe Antwort. Ist keiner unter euch, ihr Herren, der sich einen goldenen Fingerring begehrt, wenn er mir ehrlich widersteht, oder meine Rosse und Rüstungen, wenn er mich wirft? Schwingt euch vom Boden und ergreift die Speere.«

Einige der Jüngeren sprangen auf, der Führer aber hob die Hand, und die behenden Knaben traten zurück. »Euer Ring, edler Herr, [] soll die Brüder nicht locken, sie dürfen kein Gold tragen, nicht am Finger, nicht am Harnisch und Gewand; auch eure Rosse und Rüstungen dürfen sie nicht erwerben, denn sie führen nicht eigenes Roß und nicht eigene Waffen, sie gebrauchen nur, was ihnen die Bruderschaft zuteilt.«

»Lockt euch der Preis nicht«, rief Ivo wieder, »so kämpft, wenn euch an der Huld guter Frauen gelegen ist; einer Herrin zu Ehren fordere ich euch, habt ihr eine Frau, welcher ihr dient, so streitet für ihren Ruhm; denn ich hoffe, Ehre erwirbt bei Männern und Frauen, wer mich aus dem Sattel zu schwingen vermag.«

Aber ungerührt antwortete der Bruder: »Keiner von uns dient einer irdischen Frau, und das einzige Weib, welches wir anflehen, ist die hohe Gottesmutter. Auch Euch, Herr Ivo, ziemt nicht, die Himmelskönigin gegen ein irdisches Weib herauszufordern.«

»Nun denn«, versetzte Ivo gereizt, »wenn ihr nicht um Beute kämpfen wollt und nicht für Frauenminne, so schwingt euch in den Sattel, weil ihr Ritter seid, damit euch die Leute nicht schelten, daß ihr ruhmlos die Waffen führt.«

Wieder regten sich die Jüngeren, und zornige Blicke drohten dem Herausforderer. Doch der Bruder wies auf einen Speer im Boden, an welchem die scharfe Spitze glänzte. »Wir treffen mit dem Speere nur, wenn wir den Tod geben und erwarten, zu Reiterlust und Spiel führen wir die Waffen nicht.«

»Wohlauf, ihr Herren, ist euer Brauch so unmild, so weiß ich euch mit gleicher Waffe zu begegnen; auch ich führe Speerholz, an welchem der Todesstachel befestigt ist. Ihr seid geladen zum Kampf nach eurer Weise.«

»Wir töten Ungläubige, wenn sie uns trotzig wider stehen«, versetzte der Bruder. »Unter den Christen ist unser Amt nicht, Wunden zu schlagen, sondern zu heilen. Wir üben hier die Bruderpflicht.« Er trat zurück und wies auf die Gruppe am Boden. Ivo hob sich im Sattel und sah, daß zwei Brüder einen entblößten und blutigen Mann in den Armen hielten, während ein dritter mit dem Verband beschäftigt war. Er war als Sohn einer harten Zeit gewöhnt, ohne Schrecken auf Wunde und Tote zu sehen, aber der schweigsame Ernst, mit welchem die Brüder um den Kranken bemüht waren, und ihr fremdartiges Aussehen fesselten seinen Blick, er zwang sein bäumendes Roß zu halten. »Ist der Sieche von eurer Gesellschaft?«

»Es ist ein armer Landfahrer, den andere schlugen, welche an Nächstenliebe und Gnade ärmer waren als er.«

»Und was wollt Ihr mit ihm beginnen, Herr?«

Der Bruder zeigte in das Gehölz, wo zwei der Jüngeren Holzstangen zu einer Trage zusammenbanden. »Wir tragen ihn, bis wir gute Leute treffen, welche ihn um Christi willen aufnehmen.«

[] »Und wenn ihr die Höfe an der Landstraße verschlossen findet?« fragte Ivo. »Wer kennt das Schicksal, das der Arme sich bereitet hat, und wer weiß, welchen Fluch er mit sich durch das Land trägt?«

»Einer weiß es, der uns Barmherzigkeit geboten hat«, versetzte der Bruder feierlich.

Ivo schwang sich aus dem Sattel und trat näher, aber er fuhr unwillkürlich zurück, denn der Verwundete hob gegen ihn das Haupt, wimmerte leise und streckte die geöffnete Hand in die Höhe; Ivo erkannte jenen Dürftigen, dem er vor wenigen Tagen ein Goldstück in den Schoß geworfen hatte. »Ich gab ihm Geld vor vieler Augen«, murmelte er, »und ich fürchte, um des Geldes willen liegt er heut am Boden.«

Der Krieger, welcher den Verband angelegt hatte, erhob sich und sprach zu dem Führer einige Worte in fremder Sprache.

»Mein Bruder sagt, daß dies Leben bei guter Pflege vielleicht erhalten wird«, erklärte der Anführer und neigte das Haupt zum Abschiede, während die jüngeren Brüder den Kranken vorsichtig auf die Trage aus Baumästen hoben. Ivo warf noch einen traurigen Blick auf das Opfer seiner Milde, bestieg das Roß und sprengte nach dem Wege. Lauter Zuruf der Seinen grüßte ihn, die Spielleute bliesen auf den Pfeifen und schlugen die kleinen Handtrommeln. Er aber hielt still und senkte das Haupt: »Fröhlich sangen die Sommervögel in mein Herz, da klang der Schrei eines Habichts durch die Luft, die kleinen Sänger bergen sich im Laub, und ich vernehme ihre Stimme nicht mehr.« Er sah um sich und erkannte das große Dorf, welches im Grunde vor ihm lag, wandte das Pferd und ritt schnell zu den Brüdern zurück.

»Sucht ihr ein Obdach für euren Schützling, so nehmt freundlich mein Fürwort an. Ich kenne den Richter im nächsten Dorfe und hoffe ihn zu bereden, daß er dem Kranken und euch Herberge schafft; gefällt es euch, so geleite ich euch dorthin.« Er wies auf das Tor von Friemar, aus dem die Landleute in hellen Haufen strömten, um die Herrlichkeit der geschmückten Rosse und Reiter zu schauen. Der Fremde verneigte sich dankend, die dunklen Gestalten folgten dem festlichen Zuge, vier Brüder trugen den Verwundeten.

Als die Reiter den Anger betraten, wurden sie auch hier durch Heilrufe und vertrauliche Grüße empfangen. Die Kinder liefen zu beiden Seiten der Schar auf und ab, schrien vor Aufregung und zeigten einander die bekannten Herren. Die Frauen standen mit untergeschlagenen Armen, und manche hübsche Magd errötete und schlug ihre Zöpfe auf die Schulter zurück, wenn die jungen Ritter ihr grüßend Scherzworte zuriefen. Im Dorf warteten auch die Alten neugierig vor ihren Höfen; die Hunde bellten, die Spielleute bliesen und sangen. So kamen die Gäste vor den großen Hof, der mitten im Dorfe am freien Platz lag. Dort aber war das Tor geschlossen, [] kein Menschenhaupt an Tür und Fenstern zu sehen, vergebens suchte Ivo nach den langen Zöpfen der Magd Friderun; die Landleute traten scheu zurück und tauschten kopfschüttelnd leise Worte. Der Knappe Ivos stieß mit der Speerstange an das Tor, aber alles blieb still. »Ist der Richter daheim?« rief Ivo in den Haufen.

»Ich vermute, daß er im Hause ist«, versetzte ein alter Bauer.

Der Knappe öffnete die kleine Torpforte, Ivo stieg ab, bedeutete die Brüder, seine Rückkunft zu erwarten, und trat ein. Auch im Hofe war niemand zu finden, nur der Hahn rief mißtrauisch sein Federvolk zusammen, und der Hofhund zerrte wütend an seiner Kette. Ivo öffnete den Drücker der halben Tür, welche in das Wohnhaus führte, trat auf die Schwelle und sah in den dämmrigen Hausflur. Im Holzstuhl am Herde saß der Richter und starrte mit gebeugtem Haupt vor sich hin, das weiße Haar hing ihm über sein gramdurchfurchtes Gesicht. Neben ihm auf den Stufen der Bühne saß die Tochter, bleich und verweint, beide unbeweglich in stillem Jammer. Als die Gestalt des Eintretenden den Raum verdunkelte, hob der Richter sein Haupt und blickte auf den geschmückten Ritter, sein Antlitz rötete sich, die buschigen Brauen zogen sich zusammen, und indem er sich langsam erhob, fragte er mit rauher Stimme: »Was wollt Ihr, Herr, in dem Trauerhause?«

»Wo ist Euer Sohn Berthold?« rief Ivo.

»Tot«, antwortete der Bauer und schlug mit der geballten Faust auf den Herd.

»Er ist fortgeritten von uns nach der Mühlburg«, sprach die Tochter leise, »weil er den Hohn Eurer Ritter nicht ertragen konnte.«

»Trieb ihn der Groll über die erlittene Kränkung in den Hofdienst?« versetzte Ivo betroffen. »Dann ist mir von Herzen leid, daß es die schnellen Hände meines Gefolges waren, die ihn aufschreckten. Denn seit unserer Kinderzeit war ich ihm freundlich gesinnt.«

»Für Euren freundlichen Sinn sage ich Euch geringen Dank, Herr«, begann der Richter wieder, »und wenig liegt mir daran, wenn Ihr mir und denen, die mir gehören, lächelnd zunickt. Zu ehrlicher Arbeit hatte ich mir einen Sohn erzogen und nicht zur Gesellschaft für Euresgleichen. Ob er jetzt als ein Gauch durch das Land zieht, mit bunten Lappen behangen, oder ob er in der Dämmerung dahinreitet, um die Rinder des Landvolkes fortzutreiben, das ist für mich ein geringer Unterschied. Und ich sage Euch, edler Herr im lichten Sommerkleide, ich bin nicht dankbar dafür, daß Ihr Euch herablaßt, mich in meinem Hause zu begrüßen. Haben auch die Kornsäcke lange meinen Nacken gedrückt, Euch gegenüber ist er steif, wenn Ihr Willkommen von mir begehrt. Denn Ihr und Euresgleichen habt mir den Sohn genommen, für dessen Ehre ich mich gemüht habe, solange ich meine Bauernschuhe trage.«

[] »Ich aber denke daran«, antwortete Ivo gemessen, »daß Ihr ein alter Mann und in schwerem Kummer seid, wenn ich Eure Rede ohne die Antwort ertrage, die ich Euch leicht geben könnte. Heut, Richter, kam ich nicht um meinetwillen, sondern weil ich Eure Hilfe für einen andern begehre. An der Grenze Eurer Flur lag ein Schwerverwundeter, den die Brüder vom schwarzen Kreuz aufgehoben haben; schon allzulange harren sie mit dem Kranken vor Eurem Tor. Sie werden Euch fragen, ob Ihr den Armen aufnehmen wollt. Mich reut's, daß ich unternahm, bei Euch Fürsprech zu sein; dennoch mahne ich Euch an Eure Pflicht, tretet hinaus und gebt den Fremden Bescheid.«

»War's auf unserer Flur«, murrte der Alte, »kennt Ihr so genau das Maß der Bauernäcker?«

Die Tochter ergriff seine Hand: »Geht vor das Tor, Vater.«

Als der Alte die Hand der Tochter an der seinen fühlte, faßte er heftig darnach, die Tränen stürzten ihm aus den Augen, er zog sein Kind zu sich, legte sein Haupt auf das ihre und schluchzte laut. Ivo trat leise in den Hof zurück und sah über Holzhaufen und Scheuern, der Hahn schritt stolz, ohne ihn zu beachten, durch das Stroh, der Hund knurrte ihn aus seiner Hütte mißtrauisch an; hinter dem Hoftore ragten die buntbemalten Speerstangen und klang das Summen der Menge, aber ihm kam vor, als gehöre er selbst nicht zu der Genossenschaft, welche draußen auf Ritterspiele hoffte.

Nicht lange, und der Richter schritt aus dem Hause und öffnete mit fester Hand die Pforte.

Als er vor die Menge trat, hochaufgerichtet, mit seinem weißen Haar und dem runden großen Haupte, war er in seiner Trauer so ehrwürdig, daß ihn alle mit Scheu betrachteten. Die kleine Schar der Brüder hielt unbeweglich, der Führer lenkte schweigend sein Roß zur Seite, so daß der Richter den Wunden auf der Trage vor sich sah. Er betrachtete den Mann. »Es ist ein Fremder«, sagte er kalt.

»Es ist ein Todwunder«, antwortete der Bruder, »unser Amt ist, den Kranken zu heilen, und wir bitten Euch, daß Ihr uns dafür Obdach gewährt.«

»Wollt Ihr bezeugen, daß er auf unserem Dorfgrunde lag?« fragte der Richter.

»Wir kommen nicht, für ihn zu zeugen, sondern ihm Liebe zu werben. Zum andern Mal bitte ich Euch, nehmt ihn unter Eurem Dache auf und uns dazu, damit wir ihn pflegen. Denn unser Erlöser spricht: Was ihr dem Geringsten auf Erden tut, das habt ihr mir getan.«

Doch der Bauer hob abweisend die Hand und versetzte finster:

»Tragt ihn unter das Dach der ritterlichen Herren, welche bereit sind, solche Wunden zu schlagen.«

[] »Wir aber stehen vor Eurer Tür«, fuhr der Bruder fort, »und dreimal zu bitten, ist uns befohlen. Darum flehe ich zum drittenmal, daß Ihr ihn aufnehmt und uns dazu. Und wir mahnen Euch mit den Worten, die unser Herr Christus selbst gesprochen hat, als er sagte: Ich suche nicht meinen Willen, sondern ich handle nach dem Willen meines Vaters, der mich gesandt hat.«

Der Hofwirt sah schnell auf und fragte: »Steht das geschrieben in dem heiligen Buche, aus dem wir nur dann in unserer Sprache hören, wenn die Pfaffen sich ein Roß begehren oder ein Stück unseres Ackers? Steht das in Wahrheit geschrieben, so ist es eine weise Rede, denn auch der Sohn Gottes dachte daran, daß er der Sohn war, und gab seinem Vater die Ehre. Und weil Ihr mir diese Worte sagt, so will ich Euch aufnehmen als ein Vater, der seinen Sohn verloren hat, und ich will Euch einführen in das verlassene Haus.« Er schlug den Holzriegel des Tors zurück. »Tretet ein, ihr Herren.«

Die Bärtigen betraten hinter dem Richter den Hof, die nachdringenden Dorfleute wies dieser mit einer Handbewegung zurück und führte die Gäste zu einem Gebäude, welches, kleiner als das Wohnhaus, mit der Langseite an der Straße stand. Auf der Schwelle hielt er und begann finster: »Hier wohnte einst mein Vater, als er mir den Hof übergeben hatte. Dann ein Jüngling, den seine Mutter, während sie lebte, zu adlig hielt in Kleidung und Sitte.« Er öffnete zögernd die Tür. In dem leeren Gemach waren die Fensterladen geschlossen, durch die Ritze fiel ein spärliches Licht auf die Dielen und das Lager an der Wand. Der Richter riß den Laden auf, die Bewegung wollte ihn übermannen, und er gebot mit heiserer Stimme: »Dort ist das Bett, legt den Elenden hinein, und dies ist eure Herberge, wenn sie euch, ihr Fremdlinge, genügt.« Er wandte sich zur Tür. »In meinem Pferdestall ist seit der letzten Nacht Raum geschafft für zwei Rosse; begehrt ihr sonst noch etwas, so ist mir eine Tochter geblieben, sie soll für euch sorgen.«

»Ich danke Euch, Richter«, versetzte der Anführer. »Einem Bruder mit seinem Knecht und zwei Rossen bitte ich Obdach zu geben und so viel Kost, daß sie nicht Not leiden, bis wir jenen dort in unser nächstes Haus schaffen können. Wir andern reiten zur Stelle unsern Weg. Für Euer Erbarmen können wir Euch nichts bieten; wir werden jeden Abend für Euch beten, daß der Himmelsherr Euch Gnade erweise und die Trauer von Eurem ehrwürdigen Alter nehme.«

Der Richter neigte das Haupt ein wenig, schritt zu seinem Herde zurück und saß dort wie zuvor.

Während der Alte mit den Bärtigen verhandelte, trat Ivo zu Friderun: »Der Vater hört auf Eure Worte; sorgt mit gutem Bedacht, daß er nicht ungerechten Groll gegen mich und meinen Hof [] bewahre. Denn sein altes Haupt ist mir vertraut und ehrwürdig. Und Euer Bruder war es, der zuerst das scharfe Schwert gegen die Meinen entblößte.«

»Als ein Freier ritt der Bruder mit dem Mühlburger, Euer Ritterspiel in der Nähe zu schauen«, antwortete Friderun, »fremd war er und unbeteiligt an Euren Händeln; da haben Eure Dienstmannen ihn vom Rosse gerissen, und ihre unfreien Hände haben den Freien geschlagen. Die Alten im Dorfe gedenken noch, wie der Großvater Eures Herrn Henner, der jetzt so ritterlich prangt, im schmucklosen Kleid eines Knechts die Hammel durch unsere Dorfgasse trieb.«

»Ihr irrt«, versetzte Ivo, »nicht als ein Freier zog der Bruder in der Schar meines Gegners, sich und sein Roß hatte er in die Farben des andern gekleidet, und ein fremdes Abzeichen trug er wie ein Dienender.«

»Fremde Farben und fremdes Abzeichen!« wiederholte Friderun leidenschaftlich. »Waren es nicht auch Eure Farben, die er trug? Und ist der Rabe darauf Euch so unbekannt? Was konnte mein lieber Knabe dafür, daß Euch die Bilder seines Begleiters nicht gefielen? Oh, du mein armer Bruder! Als du noch ein Kindlein warst, hat man dich gelehrt, deine kleinen Armen auszustrecken und zu jauchzen, sooft das blaue Herrengewand und sein Wappenbild in unserm Dorf zu sehen war. Teuer hast du für die Zuneigung bezahlt, die du in deinem treuen Gemüte bewahrtest. Denn aller Trost, den Herr Ivo unseren Herzen zu geben weiß, sind nur die stolzen Worte: Es ist ihm recht geschehen.«

»Nicht so, Friderun; Euren Bruder erkannte nicht ich und kaum einer von den Meinen, als er verkleidet im Haufen ritt. Erst als er auf dem Boden saß, sah ich sein verstörtes Angesicht, und glaubt mir, ich dachte dabei an Euch und den Vater, und sein Unfall tat mir wehe.«

»Ihr aber rittet hoch zu Roß vorüber, statt anzuhalten und ihn mit Eurer Hand hochzuheben.«

»Wie durfte der Verletzte, wenn er ein Mann war, in der Stunde der Kränkung die Hand des Gegners fassen?«

»Wundert Euch also«, rief Friderun, »daß in dem Bruder die Scham brennt und daß er darauf denkt, die Schmach zu rächen in Eurer Weise? Hat Euch der Vater schwere Worte gesagt, so haben Eure Dienstmannen die verschuldet, denn einsam habt Ihr sein Alter gemacht und auf sein weißes Haupt das bitterste Leid gehäuft. Sie sagen, daß Euch der Mantel, um den Ihr stecht, hohen Ruhm schaffen werde, wenn Ihr ihn Eurer Herrin um die Schulter hängt; denkt auch daran, daß Eure Fahrt Trauer unter Leute gebracht hat, die bisher treu zu Eurem Hause hielten und die sich in der Stille freuten, wenn Euch alles im Leben gut gelang.«

[] »Bei allen Heiligen«, erwiderte Ivo unwillig, »selten hörte ich ein Weib, das so scharf mit seiner Zunge zu schneiden versteht als Ihr, schon da Ihr ein Kind wart, haben sich die Leute gewundert, und auch die Mutter hat Euch darum gescholten.«

»Eure liebe Mutter ist zu den Engeln heimgegangen, von denen sie zu uns kam. Meint Ihr, daß sie sich über alles freuen würde, was Ihr tatet, um Gold und Silber für Eure Ritterfahrt zu gewinnen? Von einem Manne aus Erfurt erfuhren wir, daß Ihr den alten Stadthof Eures Geschlechtes aus der Hand gegeben habt; und doch hielt Eure selige Mutter viel auf den Hof, und sie sagte zuweilen, daß der Turm im Stadtfrieden ihrem Geschlecht einmal wertvoller sein könne als manche Hufe auf dem Lande.«

Ivo fühlte ein scharfes Mißbehagen über die dreiste Rede, doch antwortete er gutherzig: »Heut darf ich Euch nicht zürnen, wenn Ihr scheltet, Ihr übt in Eurem Schmerze nur ein altes Vorrecht; und ich weiß wohl, Eure Meinung ist gut, wenn Ihr auch um die Ehren des Ritteramtes wenig sorgt.«

Aber seine freundlichen Worte bezwangen nicht den Zorn der Jungfrau.

»Mögen andere Euer ritterliches Abenteuer preisen, unsere freien Bauern wundern sich, daß Ihr, der Edle aus dem alten Blut der Thüringe, Eure Habe und Eure Glieder übermütig preisgebt dem Speerholz jedes groben Gesellen, dem einmal sein Herr den weißen Riemen um seinen Knechtsleib geschnallt hat. Geringen Ruhm finden wir darin, daß Ihr solche wie Euresgleichen ehrt, die als Kuhdiebe durch die Nacht reiten, Unfreie, deren Leib und Leben unter dem Hofrecht eines Herrn steht, die als Knechte Schläge und Fesseln ertragen müssen und die in Wahrheit nur wie Roßknechte gebraucht werden, auch wenn Ihr sie nach Eurer höflichen Sitte Herren nennt. Und wir Freien halten es für einen schlechten Brauch in der Welt, daß der unfreie Knecht, wenn er den Eisenhelm empfängt, sich unter die Edlen setzt und über die Schulter auf die Freien im Bundschuh herabsieht. Auch Ihr helft dazu, daß die alte Freiheit im Lande untergeht, und mancher trauert, daß wir das von Eurem Geschlecht erleben.«

»Oft habe ich vernommen«, versetzte Ivo erstaunt, »daß die Bauern mit Mißgunst und Neid nach den Höfen der Ritter schauen und auch gegen die Edlen geheimen Haß bewahren, aber in Eurem Hofe, Friderun, hätte ich bessern Verstand gehofft.«

»Meint Ihr so«, rief Friderun mit blitzenden Augen, »dann reut mich jedes Wort, das ich Euch sagte. Bin ich Euch nur die Magd aus dem Bauernhofe, so fahrt dahin in Eurem Stolz, ich behalte den meinen.« Die Tränen stürzten ihr aus den Augen, aber gleich darauf zog sich ihr Gesicht finster zusammen, und sie wandte sich ab.

Noch einen düstern Blick warf Ivo auf die Gespielin seiner [] Kinderzeit, dann schritt er durch das Tor und schwang sich auf sein Pferd.

Gegen Abend kam der Richter aus seinem Hause in den Hof, er sah zuerst, wie er gewohnt war, nach dem Stand der Sonne, an der Tür des Stalles fuhr er zurück, doch bezwang er sich und trat hinein. Schweigend betrachtete er die fremden Rosse, denen der junge Knecht das Futter schwang. »Woher kam der Braune in unsere Täler?« fragte er endlich den Knecht.

»Aus dem Heiligen Lande«, antwortete dieser unterwürfig.

»Du aber stammst, wenn ich deine Sprache richtig erkenne, aus Thüringen. Hast du einen Vater, und wo lebt er?«

»Mein Vater war ein Schmied von der Naumburg, die Eltern starben an der Pest, da nahm mich mein Herr Arnfried aus dem leeren Hause und zog mich bei der Bruderschaft auf.«

»Ich hoffe, er war strenge gegen dich.«

»Er ist gut wie ein Engel des Himmels, aber der Orden ist streng«, versetzte der Jüngling mit weicher Stimme.

»Ich denke mir's«, sprach der Richter zu sich selbst, »darum gefielen mir die Männer. Ist jener, der bei dem Kranken sitzt, dein Herr Arnfried?«

»Nein, Herr«, antwortete der Knecht, »der andere war's, welcher mit Euch am Tore sprach, er ritt von dannen. Der jetzt am Lager wacht, ist Bruder Gottfried, der von den Sarazenen stammt.«

Der Richter sah verwundert auf das Pferd: »Laß mich seinen Braunen von vorn sehen.« Er schüttelte den Kopf und schritt nach der Gastwohnung.

Der Bruder grüßte vom Lager des Verwundeten mit einer Handbewegung und wandte sich wieder dem Kranken zu. Der Richter aber setzte sich abseits und bedeckte das Gesicht mit der Hand. Als der Kranke einmal stöhnte, richtete er sich auf und betrachtete das dunkle Antlitz und den schwarzen gekräuselten Bart des Bruders, welcher die Lippen des Liegenden mit einem Trank anfeuchtete und vorsichtig die Decke zurechtrückte. »Fremdländisch ist Euer Roß und fremd seid Ihr selbst, ich hoffe, Ihr seid ein Christ.«

Der Bruder antwortete, das Haupt neigend, mit fremder Betonung: »Ich glaube an Gott den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, und sie sind eins und in gleicher Hoheit anzubeten.«

Der Kranke seufzte und machte eine Bewegung, der Richter schlug sein Kreuz und sprach: »So sind auch wir im Glauben gelehrt. Von Euch aber vernahm ich, daß Ihr aus der Heidenschaft stammt; gibt es bei Euch Söhne, die ihren Vätern ungehorsam sind?«

»Auch dort ist ein Gesetz, daß der Sohn den Vater ehre, solange dieser lebt, und wenn er getötet wird, seinen Tod an dem Feinde räche.«

[] »Habt auch Ihr so gehandelt gegen Euren Vater?«

Der Bruder wies auf sein Haupt, an welchem eine rote Narbe vom Scheitel nach der Stirn herablief. »Ein Edler meines eigenen Stammes erschlug meinen Vater. Ich nahm an seinem Leben die Rache und verfiel darum den Schwertern seiner Blutgenossen. Als ich mit solchen Wunden in der Sonne lag, fanden mich die Brüder, in ihrem Hause erwachte ich zum Leben, seitdem diene ich ihnen.«

Der Richter nickte beistimmend: »Ich merke, Ihr seid ein treuer Bruder. Ein geistliches Leben führet Ihr, aber anders als unsere Mönche und Pfaffen, denn ganz verdorben sind diese, nur auf Wohlleben denken sie, auf kostbare Gewänder und schöne Weiber, und ich sorge, kraftlos sind ihre Gebete für uns Laien. Für den Reichen beten sie aus Habgier, um den kleinen Mann kümmern sie sich wenig. Doch vernahm ich, daß jetzt allerlei neue Brüder in das Land kommen, welche als armselige Leute leben, sich ihre eigene Kost an den Türen betteln und am liebsten für die armen Laien beten. Ich denke, auch Ihr gehört zu diesen Bittenden.«

Der Bruder erhob stolz das Haupt. »Ich bin ein Krieger und kein Bettelmönch, ich diene nur durch gute Werke im Hospital oder mit den Waffen auf dem Schlachtfeld.«

»Und wer sind Eure Feinde?«

»Die der Meister uns nennt.«

Der Richter schüttelte sein weißes Haupt, aber er blieb sitzen, bis er draußen den Peitschenschlag seiner heimkehrenden Knechte hörte. Nach Sonnenuntergang kam er zurück, begleitet von seiner Tochter, welche den Tisch mit einem weißen Tuch bedeckte und kräftige Kost aufsetzte, der Alte selbst brachte eine Kanne vom besten Bier, das er in seinem Keller bewahrte, stellte sie vor den Gast und schüttelte wieder das Haupt, als dieser sich mit wenigen Bissen begnügte und auch dem starken Trunk nicht volle Ehre erwies. Eine stämmige Magd trug dem Fremden Streu in eine Ecke und breitete darüber das Polster, die Decke und ein weiches Kopfkissen. Der Richter blieb schweigend auf seinem Schemel, endlich begann er: »Gedenket der Ruhe, Bruder«, und als der Sarazene auf den Kranken wies, fuhr er fort: »Sagt mir, was ich diesem tun soll. Denn ruhelos ist für mich die Nacht, und ich sorge, wenn ich allein liege, werde ich einem fluchen, der nicht hier ist. Darum laßt mich an Eurer Stelle sitzen, Fremder. Ihr seid Eurem Vater treu gewesen bis über den Tod, darum sollt Ihr jetzt schlafen, und ein armer Vater will statt Eurer wachen.«

Der Bruder sah ihn dankend an und gab in wenigen Worten die Anweisung. Dann sprach er, am Lager kniend, leise die Gebete und schob, bevor er sich ausstreckte, das weiche Kopfkissen, welches ihm nicht erlaubt war, beiseite. Der Richter aber saß bei dem Kranken und starrte auf das hagere Gesicht des Liegenden, [] der zuweilen zuckte und stöhnte. So durchwachte der Alte die Nacht, zuweilen aufgerichtet mit finsterer Miene und geballter Faust, dann wieder mit gebeugtem Haupt und gefalteten Händen.

Ivo hatte sich mit kurzem Abschied von den Bärtigen getrennt und zog in seiner lustigen Schar dahin. Aber er nahm nicht teil an der geräuschvollen Fröhlichkeit der anderen. Dem hochherzigen Manne waren die harten Reden des alten Bauern und seiner Tochter lästiger, als er irgend jemandem gestanden hätte, auch das Unglück des Knaben Berthold beschwerte ihm den Sinn. Seit der Kinderzeit hatten ihn die Tränen, welche andere in seiner Nähe vergossen, beunruhigt, manchem Knechte hatte er die verdiente Strafe abgebeten und dem Traurigen heimlich gute Bissen zugetragen. Auch Friderun bewahrte in ihrer Lade ein Geschenk, das er ihr als Knabe aus gutem Herzen gemacht hatte, eine bunte Holzpuppe, welche ein lustiges Männlein vorstellte. Zog man an einem Faden, so bewegte das Närrchen den Kopf und die Arme. Ivos Mutter hatte es einst dem Sohne von Erfurt mitgebracht, und der ganze Hof hatte sich gefreut, wenn der Knabe mit dem Gaukelmann spielte und aus dem Stegreif possierliche Worte dazu sprach, wie er sie von fahrenden Leuten gehört hatte. Gerade damals war die kleine Friderun nach dem Tode ihrer eigenen Mutter auf den Hof gebracht worden, weil die Edelfrau ihre Pate war; das Kind saß in einer Ecke, bangte sich unter der fremden Umgebung und weinte, als wollte ihm das kleine Herz brechen. Da ging Ivo leise zu ihr und legte sein Spielzeug in ihren Schoß. Das Geschenk hatte sie auch ein wenig getröstet, nicht sowohl wegen des närrischen Gesichtes, als deshalb, weil ihr die gute Meinung des Knaben wohltat, und die Mutter, welche von ihrem Ehrensitz die Kinder beobachtete, hatte genickt und dem Mädchen erlaubt, das Bild zu behalten. Heut, wo Ivo die Jungfrau in Tränen gesehen hatte, mußte er immer wieder an jenen Tag denken, an dem das fremde Kind mit seinen großen Augen so verstört zu den Füßen der Mutter gesessen hatte. Er fühlte ihr Leid mit wie damals als Knabe, und ihm war, als müßte er ihr etwas recht Gutes erweisen. Doch er selbst hatte ihr den Bruder aus dem Hause getrieben, und er hatte Schuld an den Tränen, die sie heut weinte. Vergebens spornte er sein Roß, um der schwächlichen Gedanken ledig zu werden.

Henner aber, der seinen Herrn nicht aus den Augen ließ, sprach bekümmert zu seinem Genossen Lutz: »Ich sorge um ihn, er ist triste und pensant, er sieht müde aus, er hat heimliche Maladey. Die Bärtigen und die Bauern haben ihm seine Kraft gemindert, und er wird sie jetzt mehr brauchen als zuvor. Denn wißt, Kumpan, wir sind seither fast nur gegen gute Gesellen geritten, die außer der Ehre nur den Ring begehrten. Jetzt kommen wir unter die Erzbischöflichen von Erfurt und werden mit den Grafen von [] Gleichen und ihren Dienstmannen zusammenstoßen, von denen viele einen alten Groll gegen uns bewahren; harte Rennen stehen uns bevor, ungefüge Speere und böse Absicht, welche unserm Herrn den Mairitt verderben möchte. Strengt Euren Witz an, daß wir erfinden, was ihn wild macht, denn zu hurtigem Rennen gehört ein ganzer Mann und ein scharfer Wille, sonst helfen nicht starker Rücken, nicht feste Schenkel.«

»Ich habe ihm die zwei besten Pferde gespart«, tröstete der ruhige Lutz, »auf den Fuchs kann er sich verlassen.«

»Aber nicht auf sich selbst«, entgegnete Henner. – »Alle guten Geister, mir ahnte, daß uns Unheil bevorsteht. Dort hält der Rettbacher am Wege, der alte Rennteufel bringt uns heut in Not.«

»Er kommt nicht um zu stechen, er ist ganz allein.«

»Er kommt zu spähen und sinnt Arges. Reitet flugs zu den Knechten, welche die Pferde führen, und leidet nicht, daß er sich an die Tiere herandrängt.«

»Guten Tag, Henner«, grüßte der Rettbacher, ein stämmiger Mann mit einem Stiernacken, kurzem Oberleib und starken Schenkeln, der im Lande für einen der gewaltigsten Speerkämpfer galt und ein Schrecken in den Rennbahnen war, weil er sich wenig um die Ehre, aber sehr um die Kampfbeute kümmerte. »Ein schöner Zug«, fuhr er fort, »ich sehe viele Hufe, die Ihr dem Sieger als Preis gestellt habt. Wieviel mögen ihrer wohl sein?«

»Gewinnt den Preis, und Ihr könnt sie gemächlich zählen«, spottete Henner. »Doch ich sehe, daß Ihr ohne Speer kommt.«

»Vielleicht reite ich doch«, lachte der andere schlau.

»Dann rüstet Euch, wir haben nicht weit bis zur nächsten Raststelle.«

»Sie liegt einsam im Felde«, versetzte der Rettbacher. »Manchem wird lieber sein, vor einer großen Menge zu stechen. Auf der Heide könnte es dem Sieger schwer werden, Euch von den Rossen zu heben und aus den Rüstungen zu schälen.«

»Was wollt Ihr damit sagen, Ihr Kobold?«

»Nichts gegen Eure Ehre, Henner. Doch Vorsicht ist gut. Nicht jedermann hat aus Eurer Aufforderung verstanden, ob auch die Rüstungen und Rosse der Dienstmannen in den Preis gestellt sind oder nur die des Herrn und seiner Knechte.«

»Nehmt an, daß der Sieger alles erhält, was unter dem Wappenzeichen unseres Hofes reitet.«

»Herr Ivo handelt immer großartig. Gebt Ihr die Beute selbst oder zahlt Ihr den Wert in Geld?«

»Wie dem Sieger beliebt«, antwortete Henner unwillig.

»Schätzt der Sieger nach eigenem Ermessen?«

»Ihr wißt ja selbst, daß er das Recht hat«, rief Henner noch zorniger.

[] »So ist's in Ordnung«, bestätigte der andere und sah mit Luchsaugen auf die vorbeischreitenden Pferde. »Da ist ja auch der Fuchs«, sagte er nachdenklich und ritt heran.

»Zurück, Wilhelm, oder Euer Pferd macht einen Bocksprung ins Grüne«, rief Lutz, den Zudringlichen mit der Speerstange abtreibend, »wir leiden nicht, daß eine Bremse um die Ohren unserer Rosse summt.«

»Vorsicht ist immer gut«, wiederholte der Ritter, ungerührt durch den Verweis. »Die Zahl stimmt mit meiner Rechnung. Eure letzte Rast haltet Ihr ja wohl in Erfurt?«

»Habt Ihr gezählt? Dann beeilt Euch, heut die Beute heimzutreiben«, höhnte Henner, »denn morgen würde die Zahl nicht stimmen.«

»So?« brummte der Rettbacher, »ich verstehe, Ihr wollt heut noch in Euren Hof führen, was Ihr morgen nicht gebraucht.«

»Dürfen wir den Erfurtern weniger Pferde zeigen als den Bauern im Lande? Unser Herr denkt weit anders, wir hoffen, morgen mehr und Besseres zu weisen, als Ihr hier seht. Meint Ihr, daß wir unsere besten Pferde wie Roßtäuscher durch das Land führen?«

»Euer Fuchs ist doch hier«, bemerkte Rettbacher.

»Es ist wohl möglich, daß der morgen Ruhe hat. Den Stolz des Stalles hebt jeder für das Ende auf. Die vier Pferde, welche uns morgen zugeführt werden, findet Ihr nicht im Zuge.«

»Vier?« fragte der Schlaue. »Wir haben doch nichts von neuen Rennpferden bei Euch gehört.«

»Wir wissen einen Vorteil geheim zu bewahren«, versetzte Henner.

»Ihr seid nicht von gestern«, schloß der Rettbacher achtungsvoll. »Also vier? Gute Fahrt, Herr, vielleicht sehen wir uns wieder.« Und er trabte mit kurzem Gruß nach Erfurt zu.

»Was wollt ihr mit den vier Pferden?« fragte Lutz neugierig.

»Vielleicht meine ich die Gäule, welche uns den Hafer nach Erfurt schaffen«, lachte Henner. »Merkt auf, Lutz: er wollte heut abend gegen uns reiten, und es ist wohl möglich, daß unsere Feinde ihm allein die drei Speere gelassen hätten. Unser Herr aber darf heute diesem alten Stoßvogel nicht im Kampfe begegnen, sonst erleben wir Malheur. Über Nacht findet Ivo wohl sein Vertrauen wieder und morgen ist großes Gedränge, da muß der Habgierige sich mit einem Speer begnügen, deshalb habe ich ihm die Beute, die er sich bereits gezählt hat, so stattlich gemehrt.«

So geschah es. Der kluge Henner wußte bei dem letzten Rasten seinem Herrn leichten Kampf zu verschaffen, die Schwäche Ivos ging vorüber. Am nächsten Morgen freute sich der Marschalk über das Feuer, mit welchem er in den Sattel sprang, und über die Gewalt der Stöße, welche er austeilte.

[]

Der Herrin Dank

Eine halbe Wegstunde von Erfurt waren auf großer Wiese die starken Pfähle der Turnierschranken errichtet und durch Querriegel verbunden, mit zwei Eingängen auf den entgegengesetzten Seiten. Der freie Raum ringsumher stieg allmählich zu den bewaldeten Höhen. Dort standen unter den ersten Bäumen die buntfarbigen Zelte der Kämpfenden; wo ein Edler sich gelagert hatte, wehte ein Banner mit seinen Farben und Wappenzeichen, bei jedem Zelte stampften Rennpferde und drängten sich buntgekleidete Knechte, Spielleute und neugierige Zuschauer. Dazwischen hatten die Erfurter Buden und Tische aufgestellt, in denen sie Speise und Trank feilboten, hier und da war in Holzhütten ein Herd errichtet mit dem Blasebalg, und die Schmiede warteten mit ihren Hämmern am Amboß, um an Rüstungen und Hufbeschlag ihre Kunst zu erweisen. Zwischen dem Waldesrand und den Schranken trieben sich Städter und Dorfleute umher zu Fuß und zu Roß, viele waren aus großer Entfernung aufgebrochen und hatten die Nacht bei Bekannten in der Nähe oder gar im Freien am flammenden Feuer zugebracht. Lange vor Beginn des Festes schallte der Lärm zum Himmel; die Sänger, welche die Fahrt begleitet hatten, sangen von den Taten ihrer Helden, die Geiger spielten lustige Reigen, Rosse wieherten, die Verkäufer luden schreiend zu ihren Buden, die Menge schwatzte und lachte; um jeden, der Bescheid wußte, sammelte sich ein Haufe Neugieriger, der sich die Wappen und Namen der Ritter erklären ließ und seine Vermutungen über das Glück der einzelnen austauschte.

Während Herr Godwin mit seinen Knechten in den Schranken umherritt, dieselben von Knaben und vorwitzigem Volk frei zu halten, standen die fahrenden Leute, welche als Turniergehilfen der Kämpfer in Sold genommen waren, in großen Haufen unweit der Eingänge, denn als Helfer der Knappen mußten sie sich in das Gewühl der Männer und Rosse werfen, um Geworfene zu retten, Speertrümmer aus dem Wege räumen, Speere aufzuheben, kleine Schäden an Riemzeug und Rüstung zu bessern; und sie taten dies nicht stillschweigend, sondern mit Geschrei. Die Übung half ihnen, aalgleich wußten sie sich zwischen den Reitern und unter den Rossen durchzuwinden, wenn aber einer von ihnen getreten und verwundet wurde, hatte er den Schaden und geringen Dank.

Unterdes trugen in Erfurt die Knappen der Ritter, welche an dem Turnier teilnehmen wollten, die Schilde anmeldend nach der Herberge, in welcher der alte Graf von Orlamünde als erwählter Turnierrichter saß. Durch ihn wurden die Kämpfer in zwei Parteienge teilt und nach ihrem Wunsch entweder Herrn Henner oder einem Dienstmann der Grafen von Gleichen zugewiesen. Denn [] Markwart von Gleichen hatte die Führung der Gegner übernommen und alle, welche dem Herrn Ivo abgeneigt waren oder ihre Kraft gegen die Herausforderer versuchen wollten, sammelten sich unter seinem Banner. Die Mehrzahl der Kämpfer aber ging zur Messe und tat heimliche Gelübde für einen guten Ausgang, denn der Kampf im Turnier bedrohte mit weit größerer Gefahr als das Speerrennen der einzelnen. Wer in die Hände der Gegner fiel oder gar vom Roß geschleudert wurde, der hatte schlechte Behandlung und Schaden an Leben und Gliedern zu besorgen.

Lange harrten die Zuschauer auf dem Rennplatz, endlich klangen die Posaunen und vier Scharen Geharnischter sprengten mit geschlossenen Helmen auf der Straße heran, jede gefolgt von ihren Knappen. Die Kämpfer im Helm hielten, von den Marschällen geführt, durch die beiden Tore ihren Einritt; es waren im ganzen etwa achtzig Speere, welche sich so aufstellten, daß die Herausforderer den Osten und Süden, die Gegner den Norden und Westen des umhegten Raumes erhielten, die gegenüberstehenden hatten abwechselnd gegeneinander zu reiten. Wer den Speer verstochen hatte, oder wer sich an die Schranken drängen ließ, galt für wehrlos und durfte nach Turnierrecht durch Schläge gezwungen werden, den Helm abzubinden und sich gefangenzugeben. Roß und Rüstung verfielen dem Sieger.

Die vier Scharen ordneten sich jede in zwei Glieder, die Partei Ivos kenntlich durch einen weißen Schleier, die Gegner durch ein Tannenreis an den Helmen. Als die Herren so hielten und die Rosse schnoben und stampften, da dachten die Zuschauer mit Stolz daran, daß sie die Blüte ihres Adels und der waffentüchtigen Helden vor sich sahen, im Heergewande, in ihrem schönsten Kriegerschmuck, die großen Helme zum Teil bemalt mit den Wappenfarben, bei manchen Edlen gekrönt durch einen Aufsatz, der ein geschnitztes Wappentier wies, einen Fächer, einen Mohrenkopf, oder was sonst den Herren als Zierat gefiel. Die Holzschilde, mit schwarzem, grauem oder weißem Pelzwerk überzogen und zuweilen mit dem Wappenzeichen versehen, die langen Gewänder über Rüstung und Roß, von farbigem Stoff, mit Bildern geschmückt, waren den Leuten ein prachtvoller Anblick.

Posaunen und Pfeifen erklangen, das Kampfspiel begann. Ivo ritt mit seinem Haufen in schnellstem Lauf gegen die Schar des Grafen Markwart von Gleichen, die ihm entgegensprengte, um den Anprall nicht stehenden Fußes zu erwarten. Laut krachten die Speere des ersten Gliedes in jeder Schar, die Trümmer sanken zu Boden, und im Nu fuhr das zweite Glied durch die Zwischenräume des ersten in den Vorkampf, damit die speerlosen Genossen Zeit erhielten, von den Knappen, welche sich in das Gewühl stürzten neue Speere zu empfangen. Mit diesen Waffen drängte, wer [] von der ersten Reihe freie Hand behielt, wieder den Genossen nach, um die Reihen der Gegner zu durchbrechen und die Hintersten des feindlichen Haufens an die Schranken zu drücken. Ein wildes Getümmel erhob sich, von allen Seiten ertönte der Schlachtruf und das Geschrei nach Speeren, und an der einen Seite des Kampfplatzes wogte ein unsägliches wirres Durcheinander von Rossen und Menschenleibern. Auch die Zuschauer schrien und jauchzten in wilder Aufregung, bis sich die beiden kämpfenden Scharen nach den entgegengesetzten Seiten der Schranken auseinanderzogen, während ihre Gefangenen von den Knappen gewaltsam aus der Umfriedung gezerrt wurden. Jetzt sprangen die fahrenden Leute in den Rennplatz und säuberten ihn von dem gebrochenen Holze und den gestürzten Rossen, die sich nicht aufzurichten vermochten. Wieder rief die Posaune, die beiden anderen Scharen, welche gegenüber hielten, rannten ebenso wie die ersten zusammen; unterdes zogen sich die Kämpfer des ersten Rennens hinter ihnen auf den früheren Stand. In solcher Weise wurde viermal gerannt, damit jede der Scharen ihren langen Anlauf er hielt. Dann erhob sich nach einer Pause, in welcher nur einzelne gegeneinander ritten, ein allgemeiner Kampf der beiden Parteien. Die Zahl der Streitenden war kleiner geworden, aber der Eifer gestiegen, die Reihenfolge im Abritt war nicht mehr zu bewahren, auch der Zusammenhalt der Scharen wurde gelockert, von allen Seiten stießen die Wilden nach der Mitte und suchten sich die Gegner, welche ihnen am leidigsten waren; immer schärfer gellten die Rufe der Kämpfenden, die Pfeifen und Posaunen schrien dazwischen und gleich dem Gebrüll empörter Meereswogen tönte Zuruf, Jubelgeschrei und Klage der Schauenden um das sinnbetörende Schauspiel. Der Rettbacher stieß mit Henner zusammen. »Wo sind Eure neuen Rosse?« schrie er, sein Pferd zum Anlauf wendend. »Am Heuwagen«, rief Henner zurück, »hütet Euch, daß Ihr heut Euren Gaul bewahrt.« Und sie stießen zusammen wie zwei Felsblöcke, welche gegeneinander geschleudert werden, beide blieben unbewegt sitzen und beiden kamen die nächsten Genossen zu Hilfe, während sie sich, neue Waffen suchend, dem Getümmel zu entziehen suchten. Aber die von Ingersleben waren zahlreicher, Lutz schleuderte mit seinem Rosse die herzueilenden Knappen des Rettbachers zur Seite und der Waffenlose mußte, indem er unablässig nach einem Speer schrie, den Rücken wenden und durch die Windungen seines Pferdes den Verfolgern zu entrinnen suchen, welche ihn den Schranken näher trieben.

Unterdess blieben die Führer im dichten Kampfgewühl, denn um beide scharten sich am engsten die Genossen, weil die Ehre der Partei daranhing, daß ihr Vorkämpfer nicht gefangen wurde. »Gebt Raum«, rief Ivo, den zugereichten Speer einlegend, »jetzt [] bring' ich's zum Ende«, und er fuhr mit so gewaltigem Roßsprunge auf Herrn Markwart zu, daß diesem das Tier auf das Hinterteil gesetzt wurde und mit dem Ritter zu Boden rollte. Hilflos lag der Graf unter dem Rosse und um ihn begann das Stoßen und Zerren, so daß die Zuschauer in dem tollen Gewirr nichts deutlich erkannten, nur einen Strudel von Helmen und Roßhäuptern, der sich kreisend um den unsichtbaren Mittelpunkt bewegte. Aber die Mannen von Ingersleben drängten mit ihren Speeren dicht um den liegenden Grafen, und Ivo rief ihm zu: »Nur das Wappenbild auf Eurem Gewande begehre ich. Gebt Euch, Graf Markwart, damit meine Knaben Euch nicht die Arme schnüren.« Der Betäubte vermochte kaum zum Zeichen der Ergebung die Hand zu heben. Ivo sprang herab, löste ihm die Schnur des Helms und half ihm auf das zitternde Roß, aber die behende Schere seines Knappen hatte dem Gefallenen bereits den seidenen Überwurf gekürzt.

Da gab der Kampfrichter den Bläsern ein Zeichen, das Ende auszurufen. Wer nach dem letzten Posaunenton noch weiterkämpfte, verlor seine Rüstung, darum schwand allmählich das Getöse, die Kämpfer banden ihre Helme ab und suchten ihre Stelle in den geminderten Haufen. Ivo aber sprengte mit entblößtem Haupt in die Mitte des Raumes, rief den Teilnehmern am Turnier seinen Dank aus und zog dann langsam mit seiner Schar in den Schranken umher, während der Beifallsruf der Zuschauer wie Donner erklang. Die Gefangenen entließ er, soweit er Macht über sie hatte, ohne Lösegeld.

Es war ein kleines, aber ruhmvolles Turnier. Die Gegner Ivos hatten den größten Verlust an geworfenen Helden, wie an zerbrochenen Rippen, und die Erfurter rühmten als besonderen Zufall, daß kaum zwei gefährlich verwundet waren. Nur die Beutelustigen grollten dem Sieger, weil er das Waffenspiel allein auf Speere und nicht auch auf die stumpfen Schwerter eingerichtet hatte, welche sonst nach dem Speerkampf geschwungen wurden und reichlicher zu Gefangenen verhalfen. Ganz unzufrieden war der Rettbacher, denn die Herren von Ingersleben hatten ihn gefangen, und weil er sich sträubte, mit Riemen geschnürt.

Am Abend lag Ivo müde auf seinem Lager, Henner hatte sich nicht nehmen lassen, den Herrn eigenhändig mit wohlriechendem Öle zu salben, er umhüllte ihn sorglich mit der weichen Decke und mahnte: »Gönnt Euch die Ruhe. Nie wurden Stöße ruhmvoller empfangen, und die Anstrengung dieser Tage war größer, als wohl ein anderer Mann ertrüge.«

»Wahrlich«, lachte Ivo, sich mühsam ausstreckend, »an den Blumen rühmen wir im Liede die Farben Rot, Blau und Braun, aber auf der Haut bereiten sie nicht das größte Behagen.«

Unterdes kniete Nikolaus auf dem Boden und breitete vor dem [] Herrn den Gewinn des Kampfes, die bunten Stücke Tuch und Pelzwerk aus, er rief dabei noch begeisterter als der Marschalk: »Das Leid währte nicht lange, denn nicht ein Finger wurde gebrochen, und selig preisen wir den Helden, der dafür Ruhm in allen Landen davonträgt. Es wird ein Mantel, den eine Königin mit Stolz tragen kann, oben das weiche Pelzwerk und unten die wilden Tiere, und in der Mitte die ganze Herrlichkeit des Himmels, Sonne, Mond und Sterne.« Und er summte vor sich hin:

»Non leo rugiens, neve bos mugiens,
nec hircus hinniens, cornibus quatiens
insanit totiens, quam miles saliens dominae serviens Nicht der brüllende Löwe, noch der brummende Ochs und nicht der meckernde Bock, der mit den Hörnern stößt, begeht soviel Unsinniges, als der Speere verstechende Ritter, welcher seiner Herrin dient..«

Henner verließ das Zelt mit einem argwöhnischen Blick auf den Schüler, und Ivo sprach müde zu Nikolaus: »Sage mir, was du lateinisch gesungen hast.«

Die Miene des Schülers änderte sich, als er mit Ivo allein war, und an das Bette tretend, antwortete er nicht wie ein Dienender, sondern wie ein Sänger, der zu seinem Genossen redet: »Es gibt nichts auf Erden, was sich solchem Ritterspiel vergleichen läßt, als der Kampf zweier Stiere auf dem Anger oder auch zweier übermütiger Böcke, wenn sie mit den Hörnern zusammenschlagen. Um fünfzehn Lappen Zindel und Perkan habt Ihr Euch fünfzehn Todfeinde gemacht; seid sicher, sie werden's Euch nachtragen.«

»Mögen sie«, versetzte Ivo gleichgültig, »nicht alle bewahren ihre Tücke so dauerhaft als du; und wenn sie es tun, so weißt du auch, daß ich wenig darnach frage.«

»Nur eines mindert Euren Ruhm«, fuhr Nikolaus fort, »daß Ihr mit ziemlich heiler Haut davongekommen seid, weit ritterlicher wäre es, wenn Ihr wenigstens ein Bein gebrochen hättet.«

»Ich bin dir dankbar für die guten Wünsche.«

»Nicht ich denke so, denn das Schicksal hat mich davor bewahrt, ein Reiter zu werden, aber Euresgleichen hegt solche Gedanken. Es ist Art der Welt, Herr, die Liebenden zu bewundern, wenn sie Unglück haben. Der junge Held Leander schwamm zu seiner Herrin Hero über ein großes Wasser, wäre er nicht ertrunken, so würde kein Hahn nach ihm krähen. Jetzt rühmen die Sänger in allen Landen seinen Heldenmut. So würden auch Euch die Frauen lieblicher zulächeln, wenn Ihr wenigstens halbtot am Boden liegen wolltet, denn das brächte ihnen mehr Ehre.«

»Eine weiß, daß mir wenig am Leben gelegen ist«, versetzte Ivo lachend.

[] »Wäre es noch auf dem Wege zur Herrin oder lieber von ihr«, antwortete der Schüler. »Aber für ein Gewand das Leben zu wagen, solcher Dienst ist nicht nach meinem Sinn.«

»Nein«, murmelte Ivo, »sonst wärest du schwerlich ein fahrender Schüler.«

»Was kann ich dafür?« fragte Nikolaus. »Jedes Geschöpf hat seine eigene Natur, und ich bin nicht in die Welt gesetzt, um mit Schwert und Spieß zu hantieren. Das merkte ich neulich, als Ritter Konz und die Dorfknaben ihre Schwerter gegen mich zogen und die Magd Friderun dazwischensprang. Mich ängstigte das kalte Eisen, dennoch freute ich mich über das Weib, denn sie achtete um meinetwillen die Schwerter weniger als Rohrhalme.«

»Um meinetwillen?« wiederholte Ivo, aus seiner Mattigkeit erwachend.

»Ja, Herr«, versetzte der Schüler, »ich hoffe, daß sie mir wohlwill, und wenn mir einmal besseres Glück zuteil werden sollte, so denke ich, sie als meine Hausfrau heimzuführen.«

Ivo richtete sich auf. »Du?« fragte er kalt.

»Warum nicht? Jedermann denkt in der Stille gut von sich und rechnet auf besseres Glück.« Und wieder an das Bett tretend, fuhr er eifrig fort: »Ich weiß, auch Ihr achtet mich im Grunde nicht viel mehr, als Eure Ritter tun, die einen leeren Kopf in dickem Eisentopfe verstecken. Und trüget Ihr Euren Rittergurt gerade so wie die andern, ich würde Euch nicht lange dafür danken, daß Ihr mich aus dem Schnee gehoben habt, sondern ich würde meinen Stab weitersetzen und das Zauberweib Fortuna anflehen, daß sie mir anderswo ein Unterkommen bereite, am Küchentisch eines lustigen Bischofs oder in einer kalten Schneewehe. Aber Herr, obwohl Ihr so fleißig Speere zerstecht, daß die Spreizel durch das ganze Land fliegen, so habt Ihr doch andere Gewohnheiten, welche ich lieber verehre. Wenn die Nachtigall singt, so zwitschert auch in Eurem Herzen ein kleiner Vogel, wenn Ihr einen Notleidenden seht, so rötet sich Eure Wange in Mitgefühl, wenn Ihr lacht, so klingt das herzlicher als bei den meisten Menschen und es macht auch andere froh. Und nicht zum wenigsten dankbar bin ich Euch deshalb, weil Ihr den Witz habt, mich zu ertragen, wenn ich rede, wie ich denke, und weil Ihr einmal zu mir gesagt habt: Nur die Lüge will ich nicht leiden, sage mir die Wahrheit und ich gelobe, dir niemals zu zürnen und dir auch Unrecht zu verzeihen, solange ich das vermag. Das spracht Ihr, Herr, und ich tue dar nach. Andere habe ich oft belogen, gegen Euch bin ich ehrlich gewesen. Wollt Ihr mich so nicht mehr dulden, so sagt mir's, ich laufe von dannen. Für Eure Lieder werdet Ihr leicht einen andern fahrenden Sänger finden, der sie Euch zurechtsetzt und im Lande verbreitet, und für [] Eure vertraute Schreiberei noch eher einen gefälligen Pfaffen, den Ihr durch Eide festbinden könnt.«

Ivo streckte den Arm von seinem Lager: »Bleibe bei mir, Nikolaus.«

Der Schüler beugte sich über die Hand und verließ leise das Zimmer. Ivo legte sich seufzend zurück. Die Siegesfreude, welche er eben noch empfunden hatte, war ihm geschwunden. Vergebens mühte er sich, das Bild der Herrin festzuhalten und an die Überraschung zu denken, die ihr der Mantel bereiten werde; immer wieder kam ihm das zornige Antlitz des Landmanns vor Augen, dem der Sohn entwichen war, und dazwischen hörte er die klagenden Worte der Magd Friderun. Er machte mit der Hand eine heftige Bewegung, um die fremden Gedanken loszuwerden, aber sie warfen ihn lange umher, bis sie endlich als undeutliche Traumbilder entschwebten.

Einige Tage darauf traten Frau Else und Hedwig aus den Frauengemächern der Wartburg in den kleinen Hof, welcher zu ihrem Gebrauch abgegrenzt war. In den Steinhallen der Burg loderten die Kaminfeuer, aber draußen schien die Abendsonne warm auf den Felsen. Der Landgraf war mit großem Heergefolge nach Italien zum Kaiser gezogen, auch Hedwig rüstete sich zur Abreise nach Augsburg an den Hof des jungen Königs Heinrich, wo sie zu weilen pflegte. Die Frauen waren allein, nur in einer warmen Mauerecke kauerte, das rote Turbantuch über der braunen Stirn, fröstelnd ein stummes Sarazenenmädchen, die vertraute Dienerin der Fremden.

Beide stiegen aus dem Hofe einige Stufen hinauf zu einem Söller von zierlichem Schnitzwerk, der oben an die Mauer gefügt war; von dort sahen sie über Felsen und Baumwipfel hinab auf ein enges Tal, in welchem die Hirten mit ihrem Herdenvieh lagerten. Durch die stille Luft klangen einzelne Töne der Sackpfeife wie ein Gruß, den das Tal der Höhe zusandte.

»Es ist niedrige Kunst, die jene dort üben«, begann Hedwig, »aber fröhlicher ist ihr Mut als der meine, denn hinter vergoldeter Pforte stehe ich in der Klausur und der Blick ins Freie macht mich traurig. Du bist glücklich, Else, daß du ohne Wächter mit offenem Antlitz über Berg und Tal ziehen darfst. Es ist lange her, seit ich mit meinen Füßen auf offenen Anger trat und für mich Blumen zum Kranze las.«

Nahe vor ihren Füßen ertönte leiser Gesang, die Frauen sahen einander an. »Das klingt nicht wie das Lied eines Bauern, es ist eine ritterliche Weise«, sagte Hedwig und beugte sich über die Brüstung. Unter dem Söller fiel der Fels steil zur Tiefe. Auf einem Vorsprung, der kaum dem Stehenden Raum gab, lehnte ein Mann in ärmlicher Tracht, dem das Haar wirr um das Gesicht [] hing; einen großen Filzhut, wie ihn die Landfahrer trugen, hatte er abgenommen und hielt ihn, nach der Höhe blickend, über sich, als wollte er eine herabgeworfene Gabe auffangen. »Klimmen bei euch die Bettler mit Lebensgefahr nach Almosen?« fragte Hedwig. »Kann ich ihm spenden, so tue ich's, denn er wagt seinen Hals oder doch seine heile Haut, wenn ihn die Wächter auf der Zinne erblicken.« Sie suchte in der Tasche, welche ihr an der Seite hing. »Fange auf«, rief sie hinab und warf etwas in den Hut, ein undeutlicher Dank wurde gehört, dann klang die frühere Weise fort. Während die Frauen lauschten, schwebte plötzlich ein dunkler Gegenstand vor ihnen in der Luft, ein Bündel, mit Stoff umwickelt, sank vor ihre Füße; die Frauen sprangen auf und sahen über die Mauer, der Felsblock war leer, der Fremde verschwunden. »Ihn deckt der Laubwald, wir aber haben ein Gegengeschenk empfangen«, rief Hedwig mutwillig, »bücke dich nicht darnach, Else, wer mag wissen, was darin ist.«

»Ich sehe silberne Borten glänzen«, versetzte Frau Else erstaunt.

»Rufen wir eine unserer Frauen, daß sie es öffne.« Sie klatschte schnell in die Hände, ihre Dienerin flog von der Mauerecke herzu, Hedwig gebot ihr in fremder Sprache. Die Dienerin löste die Bänder und entrollte einen bunten Mantel, seltsam aus vielen Stücken zusammengenäht, mit allerlei ritterlichen Zeichen, Sternen und Fabeltieren bedeckt. Die Landgräfin sah erschrocken darauf und rang die Hände. »Das ist der Mantel, den Herr Ivo im Kampfe für seine Herrin erworben hat.«

»Weißt du, wer die Herrin ist?« fragte Hedwig mit blitzenden Augen.

Else neigte wie betäubt das Haupt. Wieder machte Hedwig eine heftige Bewegung, die Dienerin raffte den Mantel zusammen. »Was soll aus der Speerbeute werden?« fragte sie wieder.

»Nie habe ich ihm ein Recht gegeben«, klagte Else, »nicht durch Wort, nicht durch Miene, mir so dreist sein Geschenk zu senden. Rein hielt ich mich vor dem Himmelsherrn und vor meinem lieben Hauswirt.«

»Eine andere Frau würde stolz sein, so teuer gewonnene Spende zu empfangen«, versetzte Hedwig kalt. Frau Else aber stieß mit dem Fuß an das Bündel. »Hinweg damit, eine Versuchung erkenne ich, die mir der Böse sendet, meinem Hausherrn will ich die Kränkung klagen.«

»Willst du Herrn Ivo töten oder deinen Gemahl und vielleicht beide, weil ein Ehrengeschenk über die Mauer geflogen ist, welches keine Königin mißachten wird? Wahrlich, bescheiden und demütig rollte der Bund vor unsere Füße. Merke auf, Else, kränkt dich das Gewebe, so strafe den, der es gesandt hat, durch Kälte in Blick und Wort; aber mache keinen Mann zum Vertrauten, keinen, Else, [] denn du selbst möchtest die Folgen beweinen. Von der Gabe, die der Werber vor unsere Füße gesandt hat, denke ich dich schnell zu befreien.« Sie fragte die stumme Dienerin: »Brennt das Kaminfeuer in meiner Kammer? Trag den Bund eilig hinauf, schließ die Tür, wirf ihn in die Flammen und harre, bis er zu Zunder verbrannt ist.« Und sie fügte einige fremde Worte hinzu.

Als das Sarazenenmädchen die Treppe hinaufeilte, trat ihr ein Mann in dunklem Priesterkleide entgegen, es war Meister Konrad. Er riß das Bündel aus ihrer Hand, und während die Stumme heftig mit den Armen gegen ihn schlug und mißtönendes Geschrei ausstieß, lüftete er das lose Band, sah die Zipfel des zusammengerollten Tuches und gab es mit finsterer Miene zurück. Als das Mädchen entsprungen war, blickte er forschend in die Landschaft hinaus.

Unterdes standen die Frauen einander schweigend gegenüber. Endlich wies Hedwig nach einer Esse, aus welcher ein dicker Qualm aufstieg. »Dort schweben in braunem Dampfe Greifen und Löwen den Wolken zu«, rief sie übermütig. »Getilgt ist der Zauber, mit dem der Kühne edle Frauen umstricken wollte. Stecht Ihr wieder einen Mantel zusammen, Herr Ivo, so sorgt dafür, daß er unverbrennbar werde. Sei ruhig, Else, wären wir Bauernkinder, wie die dort unten, so würden wir den Glasring, den uns ein kecker Werber an den Finger drückt, entweder in den nächsten Bach werfen oder auch heimlich bewahren, und uns fröhlich im Reigen weiter schwingen. Küsse du deinen Trauten um so herzlicher, wenn er zur Heimat kehrt, schweig und vergiß. Denn wir sind nicht allein, dort naht der finstere Meister, der wenig spricht und auf alles merkt, und der in diesem Hause mehr gebietet, als einem leichten Herzen frommt.«

Konrad verneigte sich gemessen vor den Frauen. »Ein Bauer rief klagend in den Schloßhof, daß ihm ein Bär aus den Bergen in seinen Zaun gebrochen sei, Herr Walter rüstet eine Jagd gegen das Untier.« Und zu Frau Else tretend, fuhr er leise fort: »Was soll mit dem Mantel werden?«

Else wies nach der Höhe. »Er ist verbrannt, mein Vater.« Der Meister nickte zufrieden mit dem Haupt.

Als Frau Else sich nach demütigem Gruß dem Hause zugewandt hatte, trat Konrad zu Hedwig, die ihn mit zusammengezogenen Brauen erwartete. »Enthaltet Euch, edle Frau, Eure Kunst an meiner Herrin Elisabeth zu üben. Sie ist seither unsträflich gewandelt in einer verdorbenen Welt, die Unschuld eines Kindes hat sie sich als Hausfrau und Mutter bewahrt, ihr Sinn ist völlig lauter, ihre Rede wahrhaft, und sie gleicht einem Engel des Himmels, soweit irdischer Unvollkommenheit solche Hoheit gegönnt ist. Ich aber habe vor Gott und den Heiligen gelobt, ihr Gemüt dem [] Himmel rein zu bewahren, wie ich es empfing. Darum rate ich Euch, verlockt sie nicht in das weltliche Treiben, das Euch die Seele füllt. Denn obgleich ich selbst ein sündiger Mensch bin, bei dieser Reinen will ich stehen wie der Wächter vor dem Paradiese, der den Gefallenen wehrt, das Heiligtum zu betreten.« Er sprach in großer Bewegung und seine Augen flammten.

Hedwig antwortete stolz: »Seid Ihr zum Wächter einer Frau gesetzt, die in weltlichen Freuden leben darf, so hütet Euch, Herr, daß Ihr nicht Eifer für den Glauben nennt, was Herrschsucht und Neid gegen andere ist. Wisset, daß ich unter den Sündern die Kunst gelernt habe, durch die Augen der Menschen in ihr Herz zu schauen. Ich sah zuweilen, daß ein Priester ein Weib mit der Geißel zur Nonne schlug, weil er sie anderen Männern nicht gönnen wollte und daran verzweifelte, sie für sich selbst zu gewinnen.«

Aus den Augen des Priesters brach ein heißer Blick des Zornes, aber er erblaßte und sprach leise: »Ich sagte Euch, daß ich ein sündiger Mensch bin. Habe ich mit schweren Gedanken zu ringen, so wissen meine hohen Fürbitter, daß ich mich selbst mit strenger Buße strafe. Ihr aber sprecht nur wie ein böser Feind von den geheimen Sorgen einer frommen Seele, denn Ihr vermögt nichts von der heiligen Freude zu ahnen, die ein Lehrer haben darf über eine Schülerin, wie jene ist. Verständet Ihr die Kunst, in dem Gemüt anderer zu lesen, so würdet Ihr auch in meinem Herzen erkennen, daß ich ein treuer Diener meines Gottes bin und daß ich keine Schonung übe, wo ich Unglauben und Herrschaft des Teufels erkenne, sei der Sünder hoch oder niedrig, Landfahrerin oder Fürstin.«

»Ihr sprecht zu einer Nichte Eures weltlichen Herrn, des Kaisers«, versetzte Hedwig kalt, »und zu einer Frau, welcher der Heilige Vater selbst ihre Rechtgläubigkeit bereitwillig bestätigt hat. Und ich rate Euch, daß Ihr Euer menschenfreundliches Werk zu Rom beginnt unter den Großen der Kirche; denn man sagt, daß Hoffart, Geldgier und was Ihr als Sinnenlust und Werke des Teufels verfolgt, nirgend mehr in Blüte stehen als dort.«

Sie wandte ihm den Rücken und er sah ihr zornig nach.

Die Nacht war gekommen, der Vollmond ging am Himmelsgewölbe, das wolkenlos wie ein dunkler Kristall die Erde umschloß. Nur hoch über der Burg schwebte eine schwarze Wolke, vielleicht war es der zusammengeballte Dampf eines verkohlten Gewebes. Auf den Höhen und im Tal war kein Windeshauch zu spüren, regungslos starrte das junge Laub an dem Gehölz, welches den Fuß des Burgfelsens umgab. Auch der Hof hinter der Mauer lag einsam mit dunklen Schatten und hellen Lichtern. Da klang eine Frauenstimme leise wie ein Hauch von der Mauer herab: »Ein Käuzlein ruft das andere.«

[] Von unten aus dem Schatten des Felsen kam ebenso die Antwort zurück: »Dein Geselle hängt am Steine, er hört die Stimme, die ihn selig macht, das Antlitz vermag er nicht zu schauen; denn dunkler Schatten birgt das Licht deiner Augen, und ich erkenne nicht, ob dein Mund mir zulacht.«

Und von der Höhe sprach's wieder: »Ich aber möchte alle Finsternis der Nacht über dich decken, denn mir bangt um dich, und mich ängstet dein Stand auf dem schmalen Stein. Schnell weichen die Schatten, der erste Mondenstrahl, der auf dich fällt, verrät dich den Wächtern.«

»Sorge nicht«, antwortete es, »grau ist der Stein und grau das Gewand deines Kauzes. Ach, eine Lüge war unser Spiel mit dem Käuzlein, so klein ist der Raum, der mich von dir trennt, und doch fehlen die Flügel, auf denen ich mich zu dir schwinge.«

»Harre unten, Geselle«, flüsterte es, »die Späher wachen. Ich weiß eine, die ihrem Ritter dankbar ist und die ihre Kappe treu bis zu der Stunde bewahrt, wo sie sich damit umhüllen darf. Wisse auch, arge Not bereitete das Geschenk, welches zwischen zwei Frauen fiel, und nur eine List vermochte es vor dem Feuer zu retten. Wie gefiel dir's, mein Kauz, als die fremde Frau in der Tafelrunde eine Geschichte erzählte, die wir beide am Baume erlebt? – Die Heiligen mögen uns vor einem gleichen Ende bewahren.«

»Sinnvoll sprach die Frau, denn in dem Astloch fand ich den Brief meines Gesellen. Aber hart war dein Gebot, die Augen zu senken.«

Oben klang leises Lachen. »Arme Schattenvögel sind wir. Wenn wir bei Sonnenlicht gegeneinander blinzen, erraten uns die Späher. Ich bewahre geduldig die Kappe, ertrage auch du das Geheimnis um meinetwillen.«

»Ob ich in deiner Nähe atme«, antwortete der Mann, »oder ob ich von dir getrennt bin, immer fühle ich den Zauberring, den du um meinen Arm gelegt hast. Auch, wenn du in der Ferne weilst, ist der beste Teil meines Lebens bei dir. Und ich sage dir, Herrin, ganz wie im Traume wandle ich dahin, unablässig schweben meine Gedanken um den Baum und den Quell, an dem ich dich küßte, als du noch frei durch Flur und Hain zogst. Alle meine Sinne sind durch deine Macht gefangen, und mir ahnt, nicht eher werde ich den Frieden wiederfinden, als bis ich dich an meiner Seite schaue, wie einst in seligen Tagen am Quell.«

In der Höhe schwieg's, erst nach einer Weile hauchte es leise, mit bebender Stimme: »Ich aber sorge anders um dich, du kindischer Mann; auch unter den Fremden freue ich mich in meinen Gedanken des Geliebten; wenn ich dein Lob höre, so pocht mir das Herz, und gern sinne ich darüber, wie ich alle Herrlichkeit um dein Haupt sammeln könnte. Deinen Ruhm will ich erhöhen und als [] sieghaften Helden will ich dich unter deinesgleichen sehen. Ich hoffe, bald kommt der Tag, wo du dem großen Herrn der Christenheit wert bist; vielleicht, daß du durch die Gunst des Kaisers einen Preis gewinnst, den du dir, wie du sagst, am meisten ersehnst.«

»Ungleich ist unsere Liebe«, sprach es traurig in der Tiefe, »du begehrst für mich Kampf und Heldentat, damit du stolz sein kannst auf einen Ritter, der dir dient. Ich aber sehne mich in deine Arme, dein holdes Lachen will ich hören und die süßen Worte, die du mir einst in das Ohr sprachst. Lade mich, daß ich das Mohrenschloß breche, welches dich umschließt, und ich will, wie hoch die Mauer auch rage, zu dir eindringen, dich auf mein Roß heben und meine Beute behaupten gegen jedermann, ja auch gegen Kaiser und Reich. Aber tröste mich nicht mit der Gunst anderer und hoffe nicht, Geliebte, daß Fremde für meines Herzens Seligkeit tun werden, was wir selbst nicht zu tun vermögen. Allein sind wir beide auf der Welt mit unserer Liebe, und nur auf uns selbst dürfen wir vertrauen.« Die Frauenstimme antwortete nicht, nur ein Seufzer drang in das Ohr des Mannes, der ernsthaft fortfuhr: »Bitter und schwer wird mir die Entsagung, in der ich wie ein Mönch lebe, und für meine Liebe ist es die härteste Prüfung, daß ich deinen Willen ehre, auch wenn du dich mir versagst. Wisse, du Holde, wenn ich mein Haupt hoch trage unter den Edlen dieses Landes und wenn ich gering achte, was andere mit wilder Begier erfüllt, so gewinne ich die Kraft nur darum, weil ich mich würdig halten will für den holden Gruß, den ich von deinen Lippen hoffe, und für das Umfangen deiner Arme.«

Eine kleine Hand hob sich wie zum Segen über die Mauer. »Nicht um meinetwillen sollst du stolzer sein als deinesgleichen, und nicht mir verdankst du es, wenn du dich edler hältst als andere, denn du folgst nur dem hohen Sinn, der dir selbst eigen ist. Ja, du hattest recht, den Ehrgeiz zu schelten, mit dem ich dir durch Fremde eine größere Herrschaft bereiten möchte. So, wie du bist, sollst du dich mir bewahren. Glücklich war ich in der Stunde, in welcher du dem Herrn dieser Burg antwortetest, du, ein hochsinniger Edler einem Begehrlichen. Daß du nicht um Gunst und Lohn der Mächtigen sorgst, darum will ich dich lieben, und wie ein Lied in reinem Ton soll dein ganzes Leben erklingen nach deiner eigenen Art. – Wehe mir, die Schatten schwinden, und das Mondenlicht umsäumt dein bleiches Antlitz. Drücke dich an den Felsen und vernimm meinen letzten Gruß. Immer liebe ich dich. Selig fühle ich mich in deiner Heimat, selten verging ein Tag, wo nicht unter den Frauen dieses Hauses von dir die Rede war, aus der Ferne sah ich die Stätte, wo deine Wiege stand, und sie zeigten mir den alten Turm deines Hofes. Täglich habe ich dir mit dem Schleier Grüße zugeweht und deine Liederweise vor den kleinen Vögeln deines [] Landes gesungen. Ist deine Sehnsucht heiß, so wisse, auch ich gehe jetzt in das Elend, da ich dich meiden muß.«

Von unten hob sich ein Arm in die Höhe, vergebens bemüht, der Geliebten Hand zu fassen, welche sich nach ihm ausstreckte. Da erscholl vom Turme ein feindlicher Ruf und ein Pfeil flog zwischen den ausgestreckten Armen an den Felsen. »Lebe wohl, gedenke mein«, flüsterte es noch traurig hinauf. Im nächsten Augenblick glitt die Gestalt eines Mannes abwärts, von der Höhe starrten zwei Frauenaugen angstvoll in die Dämmerung hinab.

In harter Zeit

Auf den sonnigen Mai folgte ein regenloser Sommer, jeden Tag warf die Sonne feurige Strahlen auf die trockene Erde. Die Obstbäume in den Gärten hatten überreichlich geblüht, jetzt fielen die grünen Früchte welk auf den Boden; auf den Ackerbeeten hatte die Saat wie ein grünes Meer gewogt, jetzt sah man graue Schollen zwischen den ährenlosen Halmen; der bunte Blumenteppich der Wiesen war geschwunden und verbrannt lag der Rasen auf dem Anger und der Heide; die Quellen versiegten, in dem Bett der Gebirgsbäche rann die dünne Wasserader kaum sichtbar zwischen kahlen Steinbänken; das Herdenvieh drängte sich hungrig an die schattigen Ränder des Laubwaldes, sogar das grüne Gewand der Bäume hing dünn und durchsichtig um die Zweige. Den Menschen schwand der kecke Sommermut in banger Sorge um die Zukunft, wenn sie über die lechzende Flur sahen, auf hungrige Herden und in leere Scheuern. Aber noch war das Schlimmste zurück, denn als die Landleute gerade ihr Werkzeug schärften, um die spärliche Ernte einzubringen, barg sich die Sonne hinter dicken Wolkenmassen und der Regen strömte herab, täglich ohne Ende. Der Donner krachte und die Blitze zuckten um das Waldgebirge, das Wasser stürzte in Strömen durch die Täler; wieviel auch der versengte Boden einsog, der Schwall rauschte doch aus den Ufern, übergoß die Felder und wälzte sich zerstörend durch die Dörfer, er hob die Brücken, schwemmte Ställe und Hütten von ihrem Grunde und riß Tiere und Menschen in tollem Strudel abwärts. Da kam der größte Schrecken über das Land, ein Gefühl menschlicher Ohnmacht gegenüber den feindseligen Gewalten der Natur. Die Leute liefen zu den Heiligtümern, beteten und taten Gelübde. Überall erschienen neue Mönche in braunen Kutten, mit einem rohen Riemen oder Strick gegürtet; unter den Dorflinden und auf den Kirchhöfen der Städte, wo sich sonst die Paare im Reigentanz geschwungen hatten, hielten sie ihr kleines Holzkreuz in die Höhe und schrien den Zorn des Himmels aus, mahnten zur Buße [] und verkündeten die Schrecken des Jüngsten Gerichts. Viele von den armen Laien verzweifelten am Leben, die Trotzigen gesellten sich zu Haufen, welche gegen die Höfe der Wohlhabenden die Fäuste erhoben und auszogen, um durch Raub und Einbruch ihrer Not abzuhelfen; die Schwächeren unterlagen dem Mangel und den Seuchen, welche sich plötzlich mit furchtbarer Macht in Stadt und Dorf ausbreiteten. Jedermann litt und klagte, auch der Reichste fragte bekümmert, wie das Volk die lange Zeit bis zur nächsten Ernte ertragen werde.

Von der Wartburg stieg Frau Else jeden Tag nach Eisenach herab, dort loderte das Feuer in vielen Küchen, für welche sie sorgte, und vielen hundert Notleidenden wurde dort täglich die Kost bereitet. Aus den Scheuern und Ställen ihres Gemahls ließ sie herbeifahren, was sie vermochte, um unter der Aufsicht des Meister Konrad den Darbenden zu spenden. Vergebens mahnte Herr Walter, Maß zu halten, und vergebens zürnten die Brüder des Landgrafen, daß sie das Gut des edlen Hauses vergeude, ihr Herz war ganz aufgelöst von Angst und Mitleid, sie saß selbst bei den Kranken in den Siechhöfen, fastete und büßte in härenem Gewand, um den Zorn des Himmels von ihrer Landschaft abzuwenden. Dabei grämte sie sich über die Abwesenheit ihres Gemahls, dem seine Kriegsfahrt in Italien gar nicht glücken wollte.

Auch auf dem Hof des Herrn Ivo sah man ernste Gesichter, die Ausgaben in der Maienzeit waren groß gewesen, jetzt kamen statt neuer Einnahmen von allen Seiten Klagen der Vasallen und Notrufe der hörigen Leute. In dem eigenen Dorfe, welches seitwärts vom Hofe lag, hatten die Bauern in milder Dienstbarkeit gelebt und sich lange wohlgefühlt, jetzt sah Ivo täglich bleiche Kinder und Frauen mit Herrn Godwin verhandeln, und wenn die Armen ihn selbst erblickten, so faßten sie ihm flehend an Hände und Gewand und schrien um Nahrung für sich und für die letzten Häupter ihres Stalles. Er öffnete warmherzig seine Scheuern, und mit Mühe rettete der Kämmerer dem Herrenhofe den notdürftigen Winterbedarf; aber was Ivo auszuteilen vermochte, wollte nirgend reichen, und oft stand er bei Herrn Godwin in sorgenvoller Beratung.

Zum ersten Male in seinem Leben empfand er bitteres Weh darüber, daß er nicht reicher und mächtiger war und daß er nicht als Herr für andere, welche auf ihn hofften, so zu sorgen vermochte, wie ihm sein milder Sinn gebot. Er dachte auch zuweilen daran, daß jenes Gold, welches im Frühling vom Schmiede zu Fingerringen geschlagen war, jetzt manchen aus der letzten Not erlöst hätte. Aber solcher Gedanke erschien ihm wieder als ein Unrecht gegen die Herrin, und er bat sie in der Stille um Verzeihung. Nur einmal war er heimlich nach dem Süden geritten und hatte aus der Höhlung eines Baumes, den er kannte, einen Brief geholt; daraus [] wußte er, daß auch die geliebte Frau mit schweren Sorgen rang. Deshalb war ihm das Herz selten so leicht, daß er nach dem Saitenspiel griff, und Nikolaus, der ihm sonst die Lieder schrieb und mit seiner schönen Stimme vorsang, hatte müßige Tage.

Oft zog den Schüler der Wunsch, Friderun zu sehen, nach ihrem Dorfe; doch trotz seiner Dreistigkeit wagte er lange nicht, den Hof des Richters zu betreten, denn sein arglistiger Rat hatte das Unglück Bertholds herbeigeführt, er hatte wohl gemerkt, daß seit jener Zeit der Verkehr zwischen den Herren von Ingersleben und dem Hofe des Richters aufgehört hatte, und er fürchtete für sich schnöde Behandlung, die ihn anderswo weniger gekümmert hätte. Von den Dorfleuten vernahm er, daß der fremde Bruder mit dem schwarzen Bart noch immer bei dem Richter hauste und daß zu dem einen Kranken ein zweiter gekommen war, ein hilfloser Mann aus dem Orte selbst. Um seine Feinde auf der Mühlburg sorgte er nicht sehr. Denn Ritter Konz hatte sich mit Berthold und einigen Knechten dem Zuge des Landgrafen nach Welschland angeschlossen, weil ihm nach seiner Niederlage ganz lieb war, für längere Zeit der Heimat den Rücken zu kehren.

Als nun Nikolaus einmal im Spätsommer das Haus des Richters spähend umkreiste, sah er durch die offene Pforte, daß Friderun über den Hof nach dem kleinen Garten schritt. Da konnte er sich nicht enthalten, ihr nachzuspringen, und er begann verlegen: »Guten Tag, Magd Friderun. Ich wollte sehen, ob der wilde Birnbaum, unter dem Ihr steht, in diesem traurigen Jahr Früchte trägt. Ich denke wohl daran, daß Ihr mich einmal spottend mit einer wilden Birne verglichen habt, die erst genießbar wird, wenn sie Runzeln bekommt, und dann auch nicht sehr. Beim lichten Himmel, der Baum trägt über und über, ich glaube, er ist der einzige in der Welt.« Sein Gesicht verklärte sich, als Friderun ihm eine freundliche Antwort gab und sogar fragte, wie es während der langen Zeit im Edelhof ergangen sei. Sogleich schnellte sein Selbstgefühl in die Höhe. »Ich habe wenig Gelegenheit, dort meine Kunst zu üben, auch die behelmten Raubvögel, welche dort sitzen, lassen die Flügel hängen, und Herr Ivo hat den Gesang fast verlernt.«

Friderun nickte: »Er singt Euch zuerst seine Lieder vor, weil Ihr selbst ein Sänger seid.«

»Ich helfe ihm auch, wenn ihm eine Silbe fehlt oder ein Reim nicht säuberlich klingt, denn er arbeitet liederlich, wie Herren pflegen.«

»Ist er immer gütig gegen Euch?« fragte Friderun schnell.

»Fragt lieber, ob ich es gegen ihn bin«, versetzte Nikolaus übermütig. Aber er bereute zur Stelle diese Worte, denn die Augen der Friderun blitzten so scharf gegen ihn, daß er zurücktrat.

»Ihr seid in seinem Dienst und Ihr sollt Euch nicht vor Fremden [] gegen ihn erheben, das ist nicht redlich, Nikolaus, denn Ihr vermögt seine edle Gesinnung besser zu verstehen als mancher andere.«

»Ihr habt recht«, bekannte Nikolaus reuig, »doch bedenkt, daß auch ich ein Sänger bin und nicht geringer als er.«

»Seid Ihr ihm im Gesänge überlegen«, fuhr Friderun mahnend fort, »so zeigt das ihm allein mit Bescheidenheit, damit seine Kunst sich mehre.«

»Ich spreche auch nur gegen Euch so, weil ich Vertrauen zu Euch habe«, sagte Nikolaus und setzte mit stockender Stimme hinzu: »Denn glaubt mir, vor allen anderen möchte ich Euch gefallen.«

»Euer Handwerk verlangt, daß Ihr vielen zu gefallen sucht«, antwortete Friderun freundlicher, »und Ihr wißt, daß ich Euch zuweilen gerne sehe und Eure lustigen Reden anhöre.« Sie nickte ihm zu und wandte sich abwärts zu den Häusern der Bienen, welche ihr und dem Vater Ehrfurcht bewiesen, aber dem Schüler furchtbar waren.

Nikolaus folgte ihr mit den Augen, bis ihre Gestalt hinter den Stöcken verschwand. Dann glitt er auf eine Bank, barg trübselig seine Augen mit der Hand und lange Zeit zwitscherten seine kleinen Kumpane im Laube, ohne daß er darauf achtete, endlich summte er leise: »Die Schwalbe baut aus Lehm ihr Häuselein, ich aber habe keins. Wirt und Wirtin fliegen aus und ein, ich aber schweife durch die Welt in Lieb' und in Leide allein, allein.«

Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter, er fuhr in die Höhe, der Richter stand vor ihm. Der Schüler zwang sich zu sorglosem Ausdruck und suchte in den Zügen des Alten zu lesen, ob dieser ihm Übles sinne, aber er sah eine nachdenkliche und trübe Miene.

»Man sagt von Euch, Nikolaus, daß Ihr weit in der Welt umherkommt und daß Ihr auch einmal geistlich gewesen seid.«

Nikolaus antwortete mit mehr Aufrichtigkeit, als er sonst einer forschenden Frage vergönnte: »Ich saß zu Würzburg in der lateinischen Schule, und mit manchem, der jetzt als ein stolzer Bischof durch die Länder fährt, habe ich zusammen gelernt. Ich war auch zwei Jahre in Paris bei weisen Meistern. Und ich meine, nicht vergebens habe ich die Dichter gelesen, denn einige Lieder, die ich erdacht habe, singen die Schüler noch heut an den lateinischen Bänken.«

»Dann sagt mir doch, wenn es Euch gefällt, warum Ihr ein schweifender Landfahrer geworden seid, statt eines feisten Pfaffen oder Mönches.«

»Ich schäme mich der Wahrheit nicht, ob Ihr sie glaubt oder bezweifelt«, versetzte der Schüler stolz, »ich konnte das Haupt nicht [] lange demütig beugen und das Schafskleid tragen, ganz zuwider wurde mir ihre Heuchelei und ihre Falschheit.«

»Wir sind nicht gewöhnt, an fahrenden Leuten die Wahrhaftigkeit zu loben«, sagte der Alte.

»Dennoch dürft Ihr mir glauben, Vater. Läuft meine Rede auch nicht immer auf geraden Wegen, meine Verachtung kann ich nicht hinter der Zunge bewahren. Unser Herr Christus ging, wie die Schrift verkündet, demütig zu Fuß und ritt höchstens auf einem Esel, käme er jetzt, die Pfaffen in Seide und Purpur würden ihn nicht als ihren Herrn erkennen.«

Der Bauer ergriff kräftig die Hand des Schülers. »Ihr sprecht gute Worte. Wir haben Wunderliches an den neuen Mönchen gesehen, welche jetzt unter den Armen predigen. Wißt Ihr, wie es mit diesen steht?«

Vorsichtig versetzte der Schüler: »Es sind heilige Männer unter ihnen, aber auch unverschämte Bettler; als die Hündlein des Papstes laufen sie spähend und bellend durch die Christenheit, mancher hofft, daß sie uns ein neues Heil bringen, zumeist solche, denen daran gelegen ist, daß der Kasten unseres Vaters, des Papstes, mit Geld gefüllt wird.«

»Mich dauert das Los der Laien«, fuhr der Richter fort. »Manchmal rühmen die Pfaffen, daß der Himmelsherr unser Vater sei, voll Liebe und Erbarmen, und manchmal scheuchen sie uns mit seinem Zorn und seiner Rache, wir aber müssen dies leiden, denn sie allein bewahren die heiligen Bücher, in denen, wie wir vernehmen, das ganze Gesetz verzeichnet ist und auch die Rechte, die wir als Christen an den Himmel haben. Ich muß den selig preisen, der selbst die Wahrheit zu erkunden vermag, weil er der Schrift mächtig ist und der heiligen Sprache, und ich möchte wohl von Euch wissen, Schüler, ob Ihr so glücklich seid.«

Nikolaus hob sich und seine Augen glänzten. Der Vater des Mädchens, welches er sich ersehnte, pries seine Vorzüge, und er antwortete schnell: »Ich bin der Schrift kundig und oft habe ich in den heiligen Büchern gelesen, nicht nur in der Schule, auch sonst.«

Der Richter schwieg lange Zeit und der innere Kampf verriet sich in seinem Gesicht, während er zuweilen forschend auf den Schüler blickte, endlich faßte er die Hand des Erstaunten und führte ihn an seinen Herd. »Ich gedenke Euch noch etwas zu fragen«, begann er feierlich, »wenn Ihr mir schwören wollt, daß Ihr gegen jedermann schweigt von dem Geheimnis, das ich vielleicht bei Euch suche. Wird Euer Sinn und Eure Zunge untreu, so wisset, daß ich Euch schädlich sein will, wo ich kann und darf.«

»Schon andere haben erfahren, daß ich Geheimes zu bewahren weiß«, antwortete der Schüler. »Und mit Freuden gebe ich Euch den Schwur.«

[] »Ich würde mich lieber offenbaren«, sprach der Bauer mißtrauisch, »wenn Ihr weniger leichtfertig gelobtet. Dennoch muß es sein.« Und zögernd fragte er: »Ist es schwer, des Lesens kundig zu werden«

»Es ist jahrelange Arbeit für einen Jüngling, und einem älteren Manne wird die Mühe nur selten gedeihen.«

»Ich aber will es versuchen; vielleicht gönnt mir der große Gott, daß ich's erlange.«

Der Schüler frohlockte: »Und Ihr wollt, daß ich's Euch lehre?«

»Wenn Euch das gelingt«, versetzte der Richter, »so bin ich bereit, Euch ansehnlichen Lohn zu geben. Ein gutes Roß oder zwei Rinder, sofern Ihr die begehrt, dazu ein neues Gewand. Und Ihr sollt, solange Ihr mich lehrt, an jedem Sonntag, wenn Ihr vorsprecht, die beste Kost finden.«

»Ich begehre nicht Rosse, nicht Gewand«, rief Nikolaus feurig, »ich will mich auf den Lohn besinnen. Zuvor aber sagt mir noch eins: wozu ersehnt Ihr Euch die schwere Kunst? Es ist nicht unnütz, daß ich es weiß. Denn wollt Ihr Briefe lesen über Verleihungen und Schenkungen, wie ich annehme, so sind diese in lateinischer Sprache geschrieben, und es würde Euch wenig frommen, wenn Ihr auch der Schrift kundig wäret, Ihr könntet die fremden Worte doch nicht verstehen.«

Der Richter antwortete zögernd: »Ich begnüge mich, wenn ich deutsche Worte zu lesen vermag.«

Nikolaus lachte. »In deutscher Mundart aber ist wenig anderes zu finden als die Lieder und Brieflein, welche einander solche zusenden, die gerade in Liebe sind, ich denke nicht, daß Ihr daran Freude haben könnt; oder seid Ihr im geheimen nach Sagen begierig, wie von Herrn Siegfried und von Kaiser Karl? Ich habe niemals bemerkt, daß Ihr mir freundlichen Gruß geboten habt, wenn ich einmal vor den Bauern sagte und sang.«

»Vielleicht will ich alte Sagen lesen«, antwortete der Richter.

»Dann wird Euch am besten frommen, wenn ich des Sonntags an Eurem Herde das Saitenspiel rühre oder Euch aus geschriebenem Buche vorsage, denn viele haben meine Kunst darin gerühmt.«

»Euren Gesang begehre ich nicht, selbst will ich lesen.«

Der Schüler sah noch immer erstaunt auf den Alten, der in tiefem Ernst vor ihm stand, aber die Hoffnung, der Tochter mit gutem Rechte nahe zu sein, war ihm so erfreulich, daß er in die dargebotene Hand schlug und fragte: »Und wann wollt Ihr das schwere Werk beginnen?«

»Am nächsten Sonntag, sobald das junge Volk auf den Anger zum Reigen geht. Ihr habt mir Geheimnis gelobt, hütet Euch, gegen irgend jemand ein Wort von unserer Schule zu sprechen.

[] Fragen die Neugierigen, so mögen sie erfahren, daß Ihr mir alte Urkunden deutet.«

Am Abend saß der Richter neben seiner Tochter am Herdfeuer und sah durch die Türöffnung schweigend in den dämmrigen Hof, auf welchen wieder ein dichter Regen herabströmte. Da begann Friderun: »Vater, wie soll es werden zwischen uns und dem Herrn Ivo?«

Der Richter strich mit der Hand über die Ecke des Herdes. »Es ist aus zwischen uns. Seine Ritter haben deinen Bruder geschlagen, als er noch in unserm Hause war, und ich habe dagegen den reisigen Herren unsern Hof gesperrt, keiner von beiden kann das ungeschehen machen.«

»Er aber hat sich gegen uns entschuldigt, denn der arme Berthold trug in seinem Unbedacht das Kleid eines fremden Dieners.«

»Ist der Bauer schärfer gewesen als der Edle«, entgegnete der Alte, »und hat der Edle die bessere Entschuldigung, so haben wir den härteren Stolz. Vielleicht tut mir manches Wort leid, das ich in meinem Zorne sprach, aber einem Edlen gegenüber bitte ich es niemals weg. Das lobte auch der fromme Bruder drüben, mit dem ich neulich den Streit besprach.«

»Der Bruder mag ein guter Mann sein«, antwortete Friderun lebhaft, »aber er ist ein Mohr und kann nicht Ratgeber werden für die Höfe der Thüringe. Dies ist keine Zeit, Vater, in welcher redliche Leute einander feindlich den Rücken zukehren dürfen.« Der Richter schwieg und beide hörten auf das Rauschen des Regens. »Ich denke, Vater«, begann Friderun wieder, »wenn Herr Ivo durch unser Dorf reitet, so dürft Ihr am Tore stehen, und wenn er Euch zuerst grüßt, so dürft Ihr ihn einladen, in Euren Hof zu treten, und von den harten Worten braucht nicht mehr die Rede zu sein.«

»Er aber wird ebensowenig anhalten und grüßen«, entgegnete der Vater, »wie ich es tun würde.«

»Ich will ihn fragen«, entschied Friderun. »Morgen gehe ich die Nesse hinauf zur Base nach Frienstädt, da will ich am Edelhof vorsprechen, wenn Ihr nicht dawider seid.«

»Du?« fragte der Vater befremdet. »Hüte dich, Friderun, ein Kind ist mir in den Ritterburgen geschwunden, der Verlust des zweiten wäre ein ärgeres Leid und könnte traurig enden für dich und mich.«

»Sprecht nicht solche Worte, Vater«, versetzte Friderun, ihren Arm um seine Schulter legend, »Ihr wißt recht gut, daß Ihr mir vertrauen könnt. Ich aber erkenne, daß Euch die Feindschaft mit Herrn Ivo fast ebensoviel Sorge macht wie mir, und was ich tun will, ist gut für uns alle; darum laßt mich gehen.«

Der Alte schwieg, und beide saßen wieder nebeneinander am [] Herde, zu ihren stillen Gedanken knisterte das Feuer und rauschte der Regen.

Am nächsten Nachmittage trat Herr Godwin eilig in die Galerie, von welcher Ivo auf die Nebelwolken sah, wie sie im Regen über dem Boden sich ballten und die Niederung mit wogendem Schleier bedeckten. »Verzeiht, Herr, draußen vor der Brücke steht im Regen eine Magd, die einst ein lachender Gast des Hofes war; sie weigert sich einzutreten und doch begehrt sie mit Euch zu reden.«

»Das ist Friderun«, rief Ivo, Hut und Kappe ergreifend.

Friderun stand an der Landstraße, gehüllt in einen grauen Regenmantel, das Wasser rieselte ihr über Stirn und Wange. »Ich wußte, Ihr würdet zu mir herauskommen«, begann sie in tiefem Ernst. »Bevor ich Euch meine Botschaft sage, möchte ich gern von Euch hören, daß Ihr mir wegen der heftigen Worte nicht zürnt, die ich in meinem Schmerze gegen Euch sprach. Ich hatte in manchem recht, und zurückdeuten kann ich nichts, aber ich hätte Euch nicht so dreist mahnen sollen.«

»Ihr wart durch unsere Schuld in Trauer versetzt«, antwortete Ivo freundlich. »Heut aber ist es unrecht, daß Ihr in Regen und Wind vor meiner Schwelle steht.«

»Ich darf nicht näher treten an Euer Haus als drei Schritt vom Wege, denn zwischen unserm Hofe und dem Euren ist der Friede geschwunden.«

»Kommt Ihr als freundlicher Bote, um ihn wiederzubringen, so dürft Ihr auch die Halle besuchen«, ermahnte Ivo, »im Kamin brennt ein Feuer, legt die Hülle ab, denn Ihr gleicht einer Wasserfrau mit triefendem Gewande.«

»Das Himmelswasser ist ein guter Freund der Bauern, wenn es uns auch dies Jahr ängstigt; es hilft heut unserer Rede, denn es mahnt zur Eile. Ich komme, Euch zu ersuchen, daß Ihr meinem alten Vater nicht nachtragt, was er Euch an rauhen Worten gesagt hat.«

»Ich habe immer an sein weißes Haar und seinen Verlust gedacht«, versetzte Ivo.

Friderun sah ihn dankbar an. »Wenn Ihr das nächste Mal durch unser Dorf reitet ohne Eure Herren, so bitte ich, haltet an unserm Hoftor, und wenn der Vater in die Pforte tritt, so grüßt ihn zuerst, weil er ein Greis ist. Vielleicht dankt er Euch und fordert Euch auf, einzutreten. Dann bitte ich, reitet ein und sitzt an unserm Herde nieder, und von dem alten Zorn soll nicht mehr die Rede sein. Denn dem Vater tut manches leid, aber sein Stolz ist alt und der Eure ist jünger; Ihr seid der Edle, er ist der Freie, und da Ihr über ihm sitzt, fühlt er sich leichter beschwert. Der Stolz eines wackeren Mannes geht nach oben und nicht abwärts, und [] deshalb könnt Ihr dem Vater mehr nachgeben als er Euch, ohne daß Eure Ehre gemindert wird.«

Ivo überlegte: »Ich komme morgen, Friderun.«

»Ich danke Euch, Ivo«, rief das Mädchen, und in ihren Augen leuchtete so warme Freude und Rührung, daß Ivo hingerissen ihr die Hand entgegenstreckte. Sie aber trat zurück und schlug den nassen Mantel dichter um sich. »Ihr werdet morgen den Vater allein finden, denn ich habe auswärts zu tun. Lebt wohl, Herr. Der Weg in der Niederung ist übergossen, ich muß einen Umweg nehmen. Der liebe Gott segne Euch.« Sie hob die Hand gegen ihn, dann wandte sie sich schnell um und schritt im Regen auf der Landstraße dahin.

Am nächsten Tage hielt Ivo zu derselben Stunde mit seinem Knappen vor dem Hofe; der Alte öffnete die Pforte, die Männer tauschten ernsthaften Gruß, und der Bauer lud den Edlen ein, in seinen Hof zu reiten. Bald saßen die Männer am Herde, ihre Gedanken über die Not des Jahres austauschend, und Ivo erkannte, daß der verständige Rat des andern auch ihm für die Sorgen seines Hofhaltes nützlich war. Seitdem lenkte er zuweilen, wenn er allein ausritt, dem Hofe des Richters zu.

Der Winter kam, der Frost bändigte den Sturz der Wasser, der Sturmwind fegte die dürren Blätter vom Waldesrand über die mißfarbige Flur; dann fiel der Schnee in großen Flocken und barg die spärliche Wintersaat unter seiner weißen Decke. Auch im Hofe Ivos glitzerten die weißen Schneekappen auf den Zinnen der Mauer und auf dem alten Turme; der junge Hofherr sah statt der bunten Sommervögel jetzt schwarze Krähen um die entblößten Äste schweben und hörte statt des fröhlichen Liedes der kleinen Hofsänger das Gezänk der Sperlinge, welche nach den Körnlein am Boden pickten. Herr Henner hauste in seinem Hofe bei Frau Jutte, in der Wolljacke saß er am Herde und schnitzte seinen Söhnen Armbrust und Pfeile, damit sie sich an den Krähen übten; wenn er aber in den Herrenhof kam, schritt er in Pelzrock und Mütze wie ein wohlhabender Landmann. Die jüngeren Gesellen des Hofes ritten zuweilen auf dem Anger, wo sie sich mühsam eine Bahn gefegt hatten, und Ritter Lutz zimmerte mit eigener Hand einen Holzschlitten, übte zwei Rosse, das leichte Geschirr zu ziehen, und freute sich auf den Tag, wo er neben seinem Mädchen über die Flur gleiten werde. Nur Herr Godwin sah strenger aus als sonst, und die Hofleute klagten, daß er sehr genau war im Zumessen von Getreide und Küchenkost, selbst die Kannen, in denen Nikolaus den Würzwein braute, wurden kleiner.

Jeden Sonntag trabte der Schüler nach dem Hofe des Richters, aber er sah Friderun selten daheim und fand allmählich langweilig, [] neben dem düstern Alten zu sitzen, dem es gar nicht gelingen wollte, die Striche der Buchstaben auf vorgelegtem Pergament zu unterscheiden, obgleich er mit finsterem Eifer darauf bestand. Auch wenn der Schüler vor den Hofleuten sang oder abenteuerliche Geschichten erzählte, wurde ihm schwerer, seinen Zuhörern ein herzliches Lachen abzugewinnen als in der Sommerzeit. Der Verkehr zwischen den Höfen der Umgegend war dürftiger als einst, denn jedermann saß mit trübem Mut bei den lodernden Holzscheiten, und wenn die Männer zum Jagdspieß griffen und mit ihren Hunden in den Bergwald zogen, so hatten sie auch dort geringe Freude; das Wild war durch die Ungunst des Jahres ebenso gemindert wie die Herden der Landleute; nur die Wölfe trotteten frech um die Dörfer und wagten sich bei hellem Tag an die Höfe.

Die Sonne schien leidlich warm, und die Bäume trugen ihren Winterschmuck, die Reifkristalle, als Ivo nach längerer Zeit wieder einmal am Hoftor des Richters hielt. Verwundert sah er an dem Nebenhause, welches längs der Straße lag, ein Holzschild mit großem schwarzen Kreuze und eine neue Tür, welche nach dem Dorfplatz führte. Noch befremdlicher war ihm der Ton einer Geige, die aus dem stillen Hof klang. An der Tür des Wohnhauses drängten sich Knechte und Mägde, und in ihrer Mitte sprang eine vermummte Gestalt in einem umgewendeten Pelzrock mit einer roten Kappe, an welcher zwei große Ohren und lange Loden von Werg befestigt waren. Das Ungetüm hob bisweilen die Beine zum Sprunge, begleitete sich aber selbst die wilden Bewegungen durch wohlklingendes Saitenspiel. Als Ivo herantrat, wichen die Zuschauer zurück, der Vermummte begrüßte ihn durch lächerliche Verbeugungen, und eine Magd des Hofes redete ihn gewichtig an: »Meine Herrin Friderun findet Ihr heut nicht, sie ist zur lichten Himmelsfrau geworden und bereitet sich, die Dorfkinder zu besuchen.«

In der Mitte des Hausflurs stand Friderun, ein weißer Mantel, mit glänzenden Sternen verziert, wallte bis zum Boden, die Fülle des langen blonden Haares hing gelöst über den Mantel und umgab ihr Haupt und Leib wie ein goldener Schleier. In solcher Hoheit stand das Mädchen, daß Ivo sich unwillkürlich bekreuzigte und rief: »Sei gegrüßt, Maria, du Stern des Meeres.« Auch Friderun empfing seinen Gruß anders als sonst, denn sie gedachte in frommem Sinne, daß sie sich zu halten habe, wie einer Himmelsherrin gebührt, deshalb neigte sie sich mit gefalteten Händen ein wenig gegen ihn, nur daß sie dabei errötete. Doch sogleich fiel ihr aufs Herz, daß er, der vor ihr stand, ein Gast des Hofes war, und sie fügte vertraulicher hinzu: »Der Richter wurde gefordert und ritt mit seinem Knecht über Land, und mir ist's zugeteilt, den Kindern im Dorfe zu erscheinen. Sonst ging ich in größerem Zuge, aber die [] Könige habe ich dies Jahr gebeten, wegzubleiben, weil einer von ihnen fehlt.« Der Gast erriet an dem Zucken ihres Mundes, daß Berthold der Fehlende war. »Auch die Narren und Wichtelmänner sind zu Hause geblieben, weil manchem die Lustigkeit mangelte, doch Ruprecht, der Geiger, ist da, die Frau erscheint heut nur bei der Freundschaft des Hofes und wo in den armen Hütten kleine Kinder sind. Deshalb zürnt nicht, wenn Ihr niemand am Herde findet.«

»Gestattet Ihr's, so folge ich Euch«, bat Ivo.

Aber Friderun versetzte: »Die Frau muß allein gehen, nur unter den Leuten, welche sich an der Schwelle drängen, dürft Ihr stehen.« – Sie gebot dem Haufen an der Tür: »Tretet näher, ihr Mädchen, und hebt eure Last, denn die Kleinen harren und sehnen sich.« Als zwei handfeste Mägde die gefüllten Säcke, welche am Herd lehnten, gefaßt hatten, neigte die Jungfrau das Haupt und die Männer zogen die Mützen; sie sprach leise ein Ave Maria, dann winkte sie zum Aufbruch; der Kobold Ruprecht begann kräftig auf der Geige zu streichen und der Zug setzte sich in Bewegung. »Schweig still in den Dorfgassen, nur in den Höfen darfst du springen und spielen«, gebot Friderun am Tore. So schritt sie mit ihrem Gefolge hinaus in den Schnee, auch der fremde Bruder vom deutschen Orden trat aus dem Vorderhause und folgte mit entblößtem Haupt. Als er neben Ivo dahinging, begann dieser: »Wie ich sehe, habt Ihr hier eine Heimat gefunden.«

»Gutes brachte uns Euer Geleit«, antwortete der Fremde, »der Richter hat die Bruderschaft begabt mit dem Vorderhause und mit einer Wiese für zwei Rosse.«

Sobald der Zug in einen Hof trat, empfing ihn der Wirt fröhlich an der Hausschwelle, Ruprecht sprang, nachdem er sich der Geige entledigt hatte, zuerst in die Stube, sagte lustige Reime her und fragte, ob die Kinder säuberlich waren und ob sie züchtig ihren Eltern dienten. Und die er als unordentlich erkannte, bedrohte er mit Gefängnis in seinem schwarzen Sack, so daß über Gute und Böse ein heilsamer Schrecken kam. Dann erst trat die Jungfrau ein und mahnte durch einen alten Spruch jedermann zum Fleiß im Stall und am Rocken. Endlich lud sie die Kinder zu sich, und wenn diese mit gefalteten Händen herumstanden, teilte sie ihnen zu, was ihr die Mägde aus den Säcken reichten, am häufigsten süßes Pfeffergebäck, zu dem die Bienen ihres Gartens den Honig geliefert hatten. Ivo gedachte, daß auch ihm seine Mutter als lichte Himmelsherrin erschienen war und Geschenke gebracht hatte, und sah in dem Haufen der anderen von der Schwelle zu, ohne daß jemand auf ihn achtete.

So kamen sie auch in eine niedrige Hütte; der Span, welcher am Herde steckte, warf sein flackerndes Licht auf eine Stätte der Armut, [] der Hausherr fehlte, die Wirtin lag krank in dürftigem Bett, fünf Kinder kauerten in der Ecke und erwarteten mit starren Blicken die vornehmen Gäste. Da winkte Friderun dem Kobold, sich seiner Sprünge zu enthalten, sie trat an das Bett, sprach leise den frommen Gruß, und auf dem Schemel sitzend, hielt sie die Hände, welche die Kranke ihr entgegenstreckte. Die Kinder schnellten eins nach dem andern aus ihrer Ecke auf und kamen langsam, mit stockendem Schritt, näher zu der vornehmen Frau, nur das kleinste stand fern und hielt bedenklich den Finger im Munde. Plötzlich rannte es mit ausgebreiteten Armen auf die Jungfrau zu und umschlang ihre Knie. Da lachte Friderun ihm entgegen und hob es in ihren Schoß, und das Kind wand sich zu ihr hinauf und versuchte die Arme um ihren Hals zu schlingen. Im Nu war auch den anderen Kindern das Bangen geschwunden, sie schmiegten sich von allen Seiten an die Sitzende, umfaßten ihr Hände und Knie und tauchten unter ihrem Mantel empor, so daß das Antlitz der Jungfrau mit seinem wallenden Haar ganz umgeben war von den hellockigen Kinderköpfen. Sie winkte ihren Begleiterinnen und teilte reichlich aus, während die kranke Frau den Segen des Himmels auf sie herabbetete. Kobold Ruprecht, welcher still an der Tür stand, vergaß ebenfalls seine Bosheit und teilte dem Herrn Ivo mit: »Hier ist die Not am größten, aber die Jungfrau kehrt jeden Tag zweimal ein, bringt Speise und Trank und erhält die Zucht. Wundert Euch nicht, daß sie die Kinder so herzlich küßt, denn sie selber hat sie heut wie alle Tage gewaschen.«

Als Ivo näher trat und eine Spende auf das Bett der Kranken legte, wandte Friderun sich ihm zu, und ihr Auge ruhte wie verklärt auf ihm. Mit schnellen Schritten verließ er den Raum.

Am Abend saß er in seiner Halle an dem großen Kamin, in welchem die Holzklötze brannten; der Wintersturm fuhr um das Haus und stieß zuweilen in den Schlot, daß der Rauch in das Zimmer schlug. In tiefen Gedanken starrte Ivo auf die züngelnde Flamme und auf die glühenden Kohlen. In dem Feuer sah er den hellen Mantel der Jungfrau Maria wallen und viele blondhaarige Kinderköpfe um sie herum, welche sehnsüchtig zu ihr aufblickten. Als aber der Luftzug die Flamme niederdrückte und eine dunkle Rauchwolke in das Zimmer trieb, fuhr er in die Höhe, und ihm kam vor, daß der dämmrige Raum öde war und daß er einsam auf seinem Sessel saß. Da fiel sein Blick auf Herrn Henner, der leise eingetreten war und den Fensterladen öffnete, um den wirbelnden Rauch zu entfernen.

»Es tobt ein wilder Kampf um die Höfe und auf dem Anger«, begann Ivo, »der bittere Frost und sein Gefährte, der Hunger, bedrängen das Volk, und alle Fröhlichkeit der Welt schwand in [] Dunkelheit und Not. Setzt Euch zu mir, Henner, es ist einsam in der alten Halle, auch das Feuer will nicht wärmen.«

»Den Knechten drücke der üble Teufel den Kragen, weil sie meinem Herrn nasses Holz in den Kamin geschichtet haben; ich wollte, eine Hausfrau wie Frau Jutte führe ihnen über die Köpfe.«

Ivo lächelte und starrte wieder in die Flamme. »Sagt mir, Henner, welchem Heiligen vertraut Ihr Euch am liebsten?«

Henner räusperte sich und dachte nach. »Es kommt darauf an, Herr, in welchen Nöten ich bin. Da ich jung war, suchten unsere Hofleute noch zuweilen die Fürbitte des Hersfelder Wigbert, aber ich fürchte, daß dieser Heilige träge und säumig geworden ist, die Bitten der Gläubigen anzuhören. Die auf der Mühlburg priesen mir vor Jahren sehr ihren Meginhard, aber wie er auch sei, wo die vom Berge ihre Not klagen, vermögen wir im Talhofe für uns wenig Gutes zu erhoffen. Am besten hat sich mir immer noch St. Georg erwiesen, er hat ritterliche Gewohnheiten, und ich hoffe, er ist gutherziger als andere gegen die kleinen Sünden, welche einem Reiter über den Weg laufen.«

»Viele weiß ich«, fuhr Ivo in seinen Gedanken fort, »welche Sinn und Herz der reinen Jungfrau zugewandt haben, die als Himmelskönigin waltet, denn sie beschützt nicht nur die unschuldigen Kinder, auch den Kriegern neigt sie sich huldreich zu und hebt sie von dem Schlachtfelde hinauf in den Saal der ewigen Freude.«

»Ich höre, daß die bärtigen Brüder ihr vertrauen und auch die Schiffer in den wilden Nordmeeren«, warf Henner ein, ganz erstaunt über die schweren Gedanken des jungen Helden. »Doch weiß ich nicht, ob die Jungfrau auch dem zulächelt, welcher sich einer irdischen Herrin gelobt hat, denn die Frauen verlangen gern, daß die Gelübde der Männer ihnen allein zukommen.«

Ivo seufzte: »Es naht die gnadenvolle Zeit der zwölf Nächte, in welcher einst unser Herr Christus geboren wurde; er lag als Kindlein in ärmlicher Hütte, und als er ein lachender Knabe war, hielt ihn die Jungfrau in ihren Armen. Mich wundert nicht, daß so viele Helden der Christenheit nach dem Heiligen Lande gefahren sind, denn wahrlich, es muß Wonne sein, an den Stätten zu knien, wo einst der Herr leibhaftig gewandelt ist.«

»Die Pfaffen sagen, daß solche Fahrt alle Sünden eines Mannes austilgt. Auch Godwin und ich hatten ein gutes Vertrauen, als wir mit Eurem Vater das Kreuz nahmen, doch blieben wir auf halbem Wege in Italien sitzen, und ich bin unsicher, ob die im Himmel den Willen für die Tat nehmen.«

Ivo sah wieder in das Feuer. »Den Mantel sehe ich und die Kinderköpfe darunter, und darüber holdselig das Antlitz der reinen Magd.« Beide saßen in langem Schweigen, das Feuer brannte herunter, die blauen Flammen züngelten aus den glühenden Kohlen, [] sie schwanden und fuhren aufs neue empor, wenn die Luft stärker in den Schlot wehte. Endlich rüttelte sich Ivo auf und blickte in dem dunklen Raum umher und über die lange Gestalt des Treuen, welcher achtungsvoll auf dem Schemel saß und den nächsten Einfall seines Herrn erwartete. »Wie steht es drüben in Eurem Hofe?« fragte Ivo.

»Ich denke, Frau Jutte schafft am Herde und sorgt für die Abendkost«, versetzte Henner gleichgültig, »und die jungen Wölfe werden nicht weit ab sein, denn sie sind eßlustig.«

»Ist es Euch recht, Herr, so will ich heut Euer Gast sein und eine Kanne Wein zum Abendtisch steuern, wenn Frau Jutte mich sehen will.«

»Das ist hohe Ehre«, rief Henner, »erlaubt, daß ich vorausgehe und die unartigen Knaben auf ihr Lager scheuche, damit sie nicht um Euch glotzen und heulen, denn sie gleichen noch zu sehr ungeleckten Wildtieren.«

»Nein, laßt sie, wo sie sind. Der Knecht mit der Kanne soll uns begleiten, ich will nicht, daß Eure Hausfrau mich anders halte, als einen guten Gesellen ihres Wirtes.«

Die Männer brachen auf, und Ivo saß den Abend am Herde seines Dienstmannes, rief die Knaben zu sich, hörte auf ihre kindlichen Reden und erzählte ihnen Geschichten, die er als Kind vernommen hatte, bis er selbst in die Stimmung kam, zu spielen und zu lachen wie ein sorgloser Knabe.

Die Tage wurden länger, der Winter, der grausame Herr, mußte mit seinen Rittern Reif und Frost das Land räumen, und die kleinen Vögel, denen er lange den Gesang gewehrt, flatterten wieder durch die grünen Baumknospen. Die Schneewurz und das Veilchen hoben ihre Häupter aus dem Grunde, und der Frühlingswind wehte warm über Berg und Tal. Wieder tummelte sich die Dorfjugend auf dem Anger und der Ball flog zur Lerche empor. Aber die Zahl der Springenden war gemindert, mancher, der sich im letzten Mai mit stolzem Mut über die Genossen gehoben hatte, lag still unter grünem Rasen, viele saßen kummervoll in dem leeren Hofe und andere schweiften mit wilden Gedanken in der Ferne und mieden die Nähe des Richters und seiner Schergen.

Ivo stand im Bergwalde, auf dem Grund seiner Väter, gelehnt an den Stamm einer alten Eiche, deren Äste der Sturmwind durchfahren hatte, bevor die ersten Kirchenglocken in den Tälern erklangen. Die Zügel des müden Rosses hatte er um eine aufspringende Wurzel des Baumes geschlungen, er selbst sah über die Wälder hinab nach der Gegend, in welcher sein Hof lag; um ihn rauschten die Wipfel, am Himmel trieben die Wolken schnell unter der Sonne dahin und warfen Schatten und dämmrige Lichter auf die[] Landschaft. Auch die Gedanken des Mannes flogen unstet umher; wieder war sein heimlicher Ritt nach dem Quell und Baum fruchtlos gewesen, er hatte keinen Brief der geliebten Frau gefunden und von den Leuten der Umgegend erfahren, daß man sie nach Welschland geführt habe. »Der Sonne lichter Schein vergeht«, sprach er leise, »und graue Schatten fahren durch meine Seele, der fröhliche Mut ist geschwunden, mit dem ich im vorigen Jahr über die Flur ritt. Der Rettbacher höhnte meine Hofleute mit einer Sage, die durch das Land geht, daß die Frauen auf der Landgrafenburg ein Gewebe verbrannt haben. Ist das Geschwätz auch unwahr, mir tut es doch wehe. Oh, zürne mir nicht, geliebte Herrin, wenn ich sorge, daß der Mantel ein kindisches Werk und des langen Reitens nicht wert war. – Aus dem Harzwald weht der Duft, und die Vöglein im Laube singen wie sonst, der Frühling hat jedes Festgewand in Wald und Flur wohlbereitet, aber die Menschenwelt um mich sehe ich verwandelt, und verwandelt bin ich selbst. Langweilig wird mir das Reiterspiel unter meinen Gesellen, und wenn ich in der Halle meiner Väter sitze, empfinde ich die kalte Öde des Winters. Im Herzen schelte ich eitel und nichtig, was ich gerade treibe, mir zucken die Glieder, und die Faust ballt sich, als könnte ich etwas Großes tun und mein Leben wagen für ein heilbringendes Werk. Wahrlich, Gefahr würde mich trösten und heißer Kampf. – Wofür? – Sie sagen, daß der Mann den höchsten Preis erringe im Kampfe um die heiligen Stätten, wo die Gottesmutter unsern Herrn auf ihren Armen trug. Manches Geschlecht vergangener Helden ist nach dem Osten gefahren und hat fruchtlos sein Blut vergossen, zwei meiner Ahnen sind denselben Weg gezogen und mit gebrochener Kraft zurückgekehrt. Aber auch der Glaube ist kalt geworden, und wir zweifeln, ob es in Wahrheit Gottes Wille ist, daß wir im Heergewande über das Meer ziehen. – Hier ist die Stelle, wo ich den Landgrafen knien sah. Jetzt ist er aus Welschland zurückgekehrt, es war ein kühles Wiedersehen, sein Mut war beschwert und gern habe ich ihm in diesem Jahre den Ehrentrunk erlassen. Man sagt, daß er jetzt eine neue Fahrt rüstet.«

Aus der Tiefe läuteten unablässig die Klosterglocken. »Zu welchem Feste laden die lustigen Mönche von Reinhardsbrunn so dringend?« Er neigte sich vor dem Bilde der Gottesmutter am Baum, band sein Pferd los und ritt langsam über seine Mark dem Kloster zu. Als er in die Waldlichtung hinabkam, welche das Kloster umgab, fand er den Grund mit Rossen und Reisigen gefüllt und erkannte das Gefolge vieler Edlen aus der Umgegend, darunter auch die Knechte seines Oheims Meginhard. An der Klostermauer war ein großes rotes Kreuz aufgerichtet. Dort drängte sich das Landvolk um einen Bettelmönch in brauner Kutte, der mit heftigen Armbewegungen eine neue Kreuzfahrt ausschrie und hohen Lohn [] jedem verkündete, der mit seinen Waffen zur Befreiung des Heiligen Landes ausziehen werde, völlige Vergebung aller Sünden und dreijährigen Frieden und Schutz für Habe und Eigen, Weib und Kind in der Heimat. Einige der Zuhörer waren niedergekniet, hoben die Arme nach dem Kreuz und begleiteten die Worte des Mönches mit Stöhnen und Ausrufungen des Entzückens. Die meisten aber standen schweigend in stumpfer Neugier, oder schüttelten den Kopf und sprachen zueinander. Da übergab Ivo einem Knaben sein Pferd und schritt durch das offene Tor zu dem Klosterhof, in welchem die Kirche lag. Leise trat er ein und blieb unter den Knappen an der Tür. Er fand eine erwählte Gesellschaft. Der Landgraf selbst stand auf den Stufen des Chors, ein rotes Kreuz an der Schulter, aber er blickte zerstreut und in trüben Gedanken um sich. Neben ihm lag Frau Else vor dem Altar, bitterlich weinend und ganz aufgelöst in Schmerz. Denn lange hatte der Gemahl ihr verborgen, daß er schon in Welschland sich der Kreuzfahrt zugelobt, und hatte das Zeichen der Fahrt heimlich auf dem Unterkleide getragen. Dort hatte sie es in vertrauter Stunde entdeckt, und jetzt fühlte sie ihr Elend. Auf der andern Seite der Altarstufen aber sah Ivo einen fremden Mann in der Rittertracht der Marienbrüder, mit einem großen goldenen Kreuz am Halse, umgeben von Zugehörigen des Ordens. Der ganze Raum der Kirche war von knienden Edlen und ihren Rittern angefüllt, gegen welche Meister Konrad oben am Altar stand. Von den Knienden erhob sich einer nach dem andern und stieg zu dem Priester hinauf, der ihm das rote Kreuz anheftete und ihn segnete, während rings umher feierlich der Chorgesang der schwarzen Mönche erscholl. Ivo sah, wie sein Oheim Meginhard das Kreuz empfing und nach ihm Ritter Konz und noch ein junger Knappe, Berthold, der Sohn des Richters. Als Meister Konrad die Knienden sämtlich gezeichnet hatte, erhob er mächtig seine Stimme und rief:

»Ihr aber, die ihr von fern steht, bedenket euer Heil. Wer ein Schwert zu schwingen vermag, der rüste sich zum Kampfe, denn der Herr spricht: Vater und Mutter sollt ihr verlassen und mir nachfolgen, von Haus und Hof sollt ihr euch scheiden und mein Kreuz auf euch nehmen, damit die Welt erkenne, wer zu mir gehört. Auf, auf, ihr Helden, zur heiligen Reise, Gott will es!« Und die Versammelten riefen, die Arme hebend: »Gott will es!« Da eilten noch manche aus dem Hintergrunde zum Altar, warfen sich vor die Füße des Priesters und ließen sich zeichnen. Aufs neue erhob Konrad die mächtige Stimme und rief zum Kreuze, und Ivo meinte zu erkennen, daß der Priester mit finsterem Blicke, nach ihm hinsah und ihn durch seine Rede anmahne. Er aber neigte das Haupt und blieb stehen. Als die Mönche einen neuen Gesang begannen, trat er leise zurück und verließ die heilige Stätte, schwang sich auf sein Roß und ritt in tiefen Gedanken seinem Hofe zu.

[] Am nächsten Tage saß er auf der Galerie seines Hauses und sprach zu Nikolaus: »Du selbst warst im Heiligen Lande, wie kommt es, daß du lieber von anderem erzählst als davon?«

»Ich war jung«, antwortete Nikolaus, »mich bedrückte meine Sünde noch wenig, auch stand ich mit leerem Magen auf dem Ölberg, und der Hunger ist der Andacht hinderlich. Das Beste, was man dort fühlt, läßt sich nicht sagen, und was man erlebt, ist nicht viel Gutes.«

Ivo fuhr in seinen Gedanken fort: »Als ich aus dem Klosterhofe trat, schrie der Mönch draußen an der Mauer gerade wie Meister Konrad drinnen: ›Wer kommt noch mehr?‹ Und als er einen ernsthaften Mann nahe bei sich stehen sah, rief er diesen vor anderen zu sich: ›Kommt, Freund, und nehmt das Kreuz auf Euch.‹ Der Mann aber antwortete: ›Ich war bereits dort.‹ Da wandte sich der Mönch ab und der andere auch, und sie hatten nichts mehr miteinander zu reden. Das wunderte mich. Weißt du, was das bedeutet?«

Der Schüler sah nach, ob die Tür geschlossen war, bevor er die Antwort gab: »Ich traf einst einen fahrenden Mann, der gegen eine kleine Spende den größten Narren auf Erden zu zeigen versprach. Wer die Tasche auftat, dem öffnete er einen verhüllten Kasten und sprach dazu: ›Haltet's geheim vor jedermann.‹ Alle schieden verlegen von dem Kasten. Was meint Ihr wohl, was in dem Kasten war? Ein kleines Spiegelglas. Jeder behielt für sich, daß er sich als Narren geschaut hatte. Jener Mönch und der andere, beide wußten, was in dem Kasten zu finden war. – Dennoch wünsche ich Euch, daß Ihr einmal die heilige Fahrt unternehmt. Macht's auch nicht froher, es macht klüger.«

Ein Hornruf des Türmers verkündete das Nahen Bewaffneter. Die Knechte des Hofes liefen zu der Brücke, und Herr Godwin trat in das Tor. Ivo vernahm die Hufschläge der Einreitenden, im nächsten Augenblick kam die Meldung, daß Hermann von Salza, der Meister der Marienbrüder, im Hofe sei. Er eilte dem berühmten Herrn auf die Schwelle entgegen und geleitete ihn in das Gastgemach, während das Gefolge durch die Dienstmannen in der großen Halle begrüßt wurde. Neugierig betrachtete Ivo den vielgenannten Helden in der Nähe, und er war überrascht, daß dieser, den er sich wie einen stolzen Krieger gedacht hatte, als ein Herr von mittlerer Größe vor ihm stand, mit einem Gesicht, dessen vorstechender Zug gutherzige Freundlichkeit war; nur die klugen Augen und die Falten der Stirn verrieten, daß große Gedanken und schwere Sorgen durch sein Haupt gegangen waren. Einfach wie das Aussehen des Fremden war auch seine Anrede, und seine Sprache klang so vertraulich in das Ohr, daß dem jungen Hofherrn vorkam, als begrüße ihn ein alter Bekannter: »Ihr habt Euch dem Kreuze versagt, edler [] Herr. Als ich in meine Heimat ritt, um dem Zuge des Kaisers ritterliche Schwertgenossen zu gewinnen, da hoffte ich, daß Ihr in der frommen Schar nicht fehlen würdet, denn ich weiß, Euer Beispiel gilt viel in den Burgen.«

»Ich sah eine große Zahl bewährter Krieger, welche Eurem Rufe gefolgt ist«, antwortete Ivo, »ich aber habe nur geringe Erfahrung auf dem Schlachtfelde gewonnen.«

»Soll ich Euch in das Gesicht rühmen?« fragte der Meister mit einem wohltuenden Lächeln. »Was einen Helden locken kann, biete ich Euch; ersehnt Ihr Heldentat und Ruhm, kein Kampf ist ehrenvoller als gegen die Ungläubigen, und die Sänger verkünden das Lob des Siegers in allen Sprachen der Christenheit. Ihr wißt, daß auch der Heilige Vater hohen Preis auf solche Fahrt gesetzt hat, wie ihn die Kirche zu spenden vermag.«

Ivo versetzte mit höflicher Zurückhaltung: »Vieles hören wir von Frevel und Torheit der Christen im Morgenlande, was uns das Herz erkältet.«

»Ihr könnt nur wenig von dem gehört haben«, versetzte Hermann ernst, »was ich selbst mit Sorgen erlebte. Wilde Missetat der Eifrigen und harte Klugheit der Großen, welche mehr an den eigenen Vorteil denken als an die Pflicht des Kreuzes. Um unserer Sünden willen hat, wie ich fürchte, der große Gott uns entrissen, was die Frömmigkeit eines früheren Geschlechtes gewann. Aber gerade darum, weil die Argen dort zahlreich sind, sollen die Redlichen der Fahrt nicht widersprechen, damit der Himmel wieder gnädig unseren Waffen beistehe.«

»Uns aber, Herr«, entgegnete Ivo, »bedrängt jetzt die Not in der Nähe. Ohne Freude sage ich, was ich doch nicht verschweigen darf, die Ritterfahrt in das Heilige Land gilt bei uns für kostbar, und wohlbekannt ist der Wucher und die Bosheit, mit welcher die Christen auf dem weiten Wege den Wallenden betrügen.«

»Hindert Euch diese Sorge, welche ich verständig nenne, so wißt, edler Herr, der Kaiser hat mich nicht ohne Goldschatz in das Land gesandt, und ich vermag Euch an Geld zu bieten, was die Rüstung und Reisezehrung kostet.«

»Wie darf ich Gold nehmen, damit ich mich dem Dienst des Himmelsherrn gelobe?« rief Ivo verletzt. »Mich wundert, daß Ihr mir ein solches Angebot tut.«

»Ich wollte Euch nicht kränken«, versetzte der Gast ruhig. »Doch wisset, edler Ivo, solche Reisespende ist ein gewöhnlicher Handel, und die höchsten Herren begehren ihn, denn an Geld zur Rüstung fehlt es ihnen immer, und manchmal ist das für andere ein Glück. Auch Graf Meginhard, Euer Oheim, bereitet sich zur Kreuzfahrt mit dem Golde, welches ihm der Landgraf aus dem Schatze des Kaisers zahlt.«

[] »Es tut mir wehe, wenn ich nicht loben kann, was mein Oheim tut«, antwortete Ivo finster. »Mir verbietet die Ehre, das Werbegeld des Kaisers zu empfangen, und ich denke, Herr, auch Ihr würdet an meiner Stelle fremdes Gold nicht nehmen.«

»Ich bin nur ein Dienstmann der Jungfrau«, sagte der andere, »und ich denke ungern daran, was ich tun würde, wenn ich nicht in den Schuhen des Bruders Hermann stände. So wie ich bin, lobe ich den edlen Stolz, der sich weigert, um Gold zu pilgern, aber verzeiht mir, wenn ich den Rittersinn eines Christen nicht preise, der sich weigert, für den Himmelsgott die Waffen zu tragen, weil ihn solcher Dienst zuviel Geld kostet.«

Ivo errötete bis an die Schläfen, und Hermann fuhr fort: »Der kühne Turnierkämpfer, welcher, um seiner irdischen Herrin im Spiel zu gefallen, Goldringe austeilte, wird mir nicht im Ernst sagen, daß seine Truhen leer sind, wenn es eine Fahrt zu Ehren des Erlösers gilt.«

Ivo fühlte tief den Vorwurf, doch er antwortete ehrlich: »Streng sind Eure Worte, Herr, aber Ihr habt recht. Ich selbst, wenn ich unzufrieden war mit mir und mit anderen, habe zuweilen daran gedacht, daß ich den freudigen Mut wiedergewinnen könnte durch guten Schwertschlag am Ölberge. Dennoch, Herr, darf ich Euch nicht bergen, daß ich in meinem Innern auch eine warnende Stimme vernehme, welche mir diese Speerreise widerrät. Wenn der Himmelsherr das Gelobte Land der Christenheit gönnen wollte, er vermöchte das zu tun ohne unsere Waffen.«

»Sprecht diese Worte nicht nach, edler Ivo, ein satter Pfaffe hat sie erdacht, und Ihr scheltet dadurch mich selbst einen Toren«, antwortete der Meister mit Nachdruck. »Gott wirkt seine größten Werke durch die Gedanken und den Willen der Menschen, welche ihm dienen. Seit zwanzig Jahren fahre ich rastlos über die wilde See und durch die Länder der Christen und Heiden, um die Kreuzfahrt möglich zu machen, zu welcher ich Euch lade. Darum habe ich verzichtet auf Gut und Eigen, auf ein Ehegemahl und auf Söhne aus meinem Blut. Ich habe gekämpft gegen den Eigennutz und die Bosheit der Mächtigen und gegen die dumpfe Trägheit der Reichen.«

Er war aufgestanden wie Ivo, jetzt wies er auf die Sessel: »Gönnt einem Vielgeschäftigen noch einmal Rast unter Eurem Dache. Ihr wißt, ich bin ein Thüring wie Ihr, der Hof, in dem ich geboren wurde, liegt so nahe an dem Euren, daß ein Roß den Reiter in einem Tage hinträgt. Ich sah einst Euren Vater, und was ich von ihm kennenlernte, machte mir den Sohn wert. Darum vernehmt mit günstiger Gesinnung eine Mahnung, die ich nicht in die weite Welt hinausrufen darf. Als ich, fast noch ein Jüngling, nach dem Morgenland kam, fand ich allen Landbesitz der Christen und alle Gewalt in den Händen der Welschen, zumal der Gallier. Französisch waren [] Sprache und Sitte, mit Hochmut und Verachtung blickten sie auf die Männer unseres Volkes herab. Auch die beiden mächtigen Bruderschaften vom Tempel und St. Johannes gehörten den Fremden, kam einer unserer Landsleute zu ihnen, so mußte er sich schnell der heimischen Weise entledigen, wenn er unter ihnen gelten wollte. Ihrem Schwert allein und ihrer Heldenkraft schrieben sie die Eroberung des Heiligen Landes zu. In Jerusalem sah ich das Grabmal des stärksten Helden im Kreuzheere, des Schwaben Wigger, der mit seinem Schwert einen raubenden Löwen zerschlug und unter König Gottfried zuerst über die Mauer von Jerusalem sprang, durch die Eitelkeit der Fremden zerschlagen und geschändet, damit die unwillkommene Erinnerung an unser Volk dahinschwinde.«

»Die gottlosen Buben«, murmelte Ivo zornig.

»Meine Faust ballte sich, als ich den Frevel sah, wie jetzt die Eure beim Hören«, fuhr Hermann fort. »Da lernte ich unsere heimische Art mit der fremden vergleichen, und ich fand, daß wir nicht schlechter waren als jene. Ich erkannte auch, wie Jerusalem durch Schuld der Christen verloren ward. Zuchtlose Kreuzfahrer aus allen Ländern der Christenheit saßen dort durcheinander in Hader und Untreue, in Wahrheit heimatlose Abenteurer, nur auf den eigenen Vorteil bedacht, oft einer im Kampf mit dem andern und den ungläubigen Heiden verbündet. Soll Jerusalem wiedergewonnen werden und die Herrschaft der Christen dauern, so müssen sie alle einem starken Herrn dienen, der seine Macht nicht ihnen dankt, sondern der sie selbst zu schützen, zu bändigen und zu strafen vermag. Dieser Herr aber ist unser Kaiser Friedrich. Und gegen die Verdorbenheit und Untreue der Fremden sollen Männer eines Volkes, dem die Redlichkeit nicht zum Spott geworden ist, als Hüter des Heiligen Grabes gesetzt werden, und diese Männer sollen Eure und meine Landsleute sein. In solcher Meinung will Kaiser Friedrich die neue Kriegsfahrt rüsten, auf die Wehrhaften unseres Volkes hat er sein ganzes Vertrauen gesetzt. Vor anderen aber sind es Edle und Ritter des Thüringer Landes, auf die er hofft. Denn wie ein Herzland liegt es in der Mitte und die größte Kraft ist hier gesammelt, ich darf das zum Lobe meiner Heimat wohl sagen. Wenn wir jetzt in edler Schar über das Meer ziehen, so tun wir dies auch, um den Namen der Deutschen zu Ehren zu bringen und eine Herrschaft unseres Blutes über die Länder am Südmeere zu begründen. Das zu bewirken, ist das hohe Ziel meines Lebens. Darum bin ich vor Euch getreten mit hoher Mahnung, als Thüring, und als Meister einer Bruderschaft, welche sich vom deutschen Hause nennt. Und darum strecke ich jetzt bittend meine Hand gegen Euch aus, damit Ihr ein Jahr Eurer Jugend dem heiligen Werke weihet als ein Christ und als ein Edler unseres Volkes.«

Gefesselt durch die warme Rede des mächtigen Mannes saß Ivo [] mit geröteten Wangen. Zum ersten Male, seit er lebte, wurde er gerufen, weil er ein Deutscher war; und verwundert dachte er nach, welchen Wert solche Aufforderung für ihn haben könne. Aber während er den Grund eines tiefen Quells erschauen wollte, gewahrte er darin plötzlich sein eigenes Bild. Ihm stieg das Blut ins Gesicht, als er fühlte, daß eine Kränkung seines Volkes auch Kränkung seiner eigenen Ehre war; und die Hand erfassend, antwortete er: »Ihr habt meine Seele nicht vergebens daran gemahnt, daß ich als ein Kriegsmann meinem Volke zu dienen schuldig bin. Denkt nicht gering von mir, wenn ich heut das Ja nicht ausspreche, das ich gern geben möchte. Ich bin nicht ganz so frei, wie Ihr meint, auch ich stehe unter einem Gelübde; und ich darf nur sagen, daß Ihr meinen guten Willen gewonnen habt; entscheiden über meine Zukunft kann ich erst, wenn ich da gefragt habe, wo ich diene.«

Der Meister bewegte beistimmend das Haupt: »Ich ehre die Rücksicht auf ältere Pflicht. Habe ich Euren guten Willen gewonnen, so vertraue ich, daß ihm die Tat nicht säumig folgen wird.« Und nachdem er noch einiges über Zeit und Ort der Heeresversammlung mitgeteilt hatte, brach er auf, und die Hand Ivos festhaltend, sagte er: »Es war eine kurze Begrüßung, aber ich werde mit Freude daran denken. Auf Wiedersehen, will's Gott, im Hafen, wenn ein guter Fahrwind dem Heiligen Lande zuweht.« Damit schied er vom Hofe.

Eher als Ivo dachte, erhielt er einen Gruß seiner Herrin, der die Unsicherheit beendete. Von Gotha ritt ein Knecht des alten Walter von Vargula bei ihm ein mit der Nachricht, daß Frau Else ihm mündlich eine Botschaft mitzuteilen habe. Ivo schwang sich auf sein schnellstes Pferd und traf vor der Stadt mit Herrn Walter zusammen, der nach der Begrüßung klagte: »Meine Herrin weilt unter den Siechen, dort will sie Euch sehen. Ich fürchte, Ihr werdet sie verändert finden, die Trennung von Herrn Ludwig hat ihr diesmal fast das Herz gebrochen, drei Tage dauerte der Abschied, seitdem lebt sie nur für ihre Kinder und die Armen.«

Am Bette der armen Kranken sah Ivo die Landgräfin in klösterlicher Tracht, verweint und erblichen, hinter ihr stand wie ein dunkler Schatten Magister Konrad. Als Frau Else ihm entgegentrat, zog eine flüchtige Röte über ihr vergrämtes Gesicht, und mit einem Blick auf den Priester begann sie: »Man hat mir gesagt, daß ich ein gutes Werk tue, wenn ich Euch spreche. Es war der Wunsch meines lieben Hauswirtes, Ihr möchtet Euch der Fahrt, welche sie die gnadenvolle nennen, nicht entziehen, denn er sagte mehrmals, lieber würde er Euch in seiner Nähe sehen als daheim. Auch Frau Hedwig, die Ihr einst bei uns getroffen habt, schreibt mir durch einen Boten vom Kaiserhofe diese Worte über Euch: ›Sorge nicht, denn alles verheißt der Schwertreise ins Gelobte Land gutes Glück, und am ruhmvollsten [] zieht ihr Thüringe daher. Manche unter uns meinen auch, daß Euer starker Speerbrecher, Herr Ivo, nicht fehlen wird, da es jetzt gilt, der Heiligen Jungfrau zu Jerusalem statt des alten Gewandes, das die Sarazenen zerrissen haben, ein neues zu erkämpfen.‹ Nur das wollte ich Euch ausrichten, Herr; verzeiht, daß ich Euch bemühte«, schloß die Landgräfin, das Pergament zusammenlegend, und verneigte sich wie zum Abschiede.

Diese Worte entschieden den inneren Kampf Ivos. Mit Entzücken erfüllte ihn die Hoffnung, daß er seine geliebte Herrin in Welschland treffen könne, ja daß sie vielleicht, wie Frauen oft taten, selbst die Pilgerreise im Gefolge des Heeres wagen werde; deshalb antwortete er zur Stelle: »Die Mahnung, die mir durch Euren Mund kommt, soll nicht verloren sein. Ich denke mich zur Fahrt zu bereiten.«

Mit großen Augen, wie erschrocken über seine schnelle Bereitwilligkeit, sah ihn Frau Else an, und wieder rötete sich ihre Wange ein wenig; dem Scheidenden folgte der finstere Blick des Priesters Konrad.

Kaiser Friedrich

Die Reisewege nach dem Gelobten Lande waren zur Zeit Ivos den Leuten besser bekannt als in späteren Jahrhunderten, jedes Kloster bewahrte Beschreibungen der Fahrt; kaum einen Hof und kein größeres Dorf gab es, aus welchen nicht seit Menschengedenken einzelne die Pilgerreise gemacht hatten, entweder im Kreuzheer oder als friedliche Waller. Die Burgmannen von Köln, Bremen und Lübeck fuhren auf ihren hochbordigen Seeschiffen, den Koggen, häufig mit Pilgern und Waren in das südliche Meer, kämpften dort gegen die Seeräuber und warfen ihre Anker an den griechischen Inseln und der syrischen Küste neben den Galeeren der reichen Handelsherren von Pisa, Genua und Venedig. Auch im Innern des Landes waren die Waren des Orients begehrte Handelsartikel; in jedem wohlhabenden Haushalt besserten die Frauen den herben Wein mit indischem Pfeffer und Zimt; die Goldarbeiten, Rüstungen und Seidengewebe der Griechen und Syrer galten für den wertvollsten Schmuck der Vornehmen, und Ivo selbst dachte jetzt gern daran, daß er mit Wasser aus dem Jordan getauft war, welches ein Bruder seiner Mutter heimgebracht hatte. Seit mehr als hundert Jahren war die christliche Ritterschaft nach dem Morgenlande gefahren, jetzt hatte sich die fromme Begeisterung in den Herzen gemindert, aber die Abenteuer und Heldentaten früherer Geschlechter wurden doch in den Edelhöfen und unter der Dorflinde gern als Sagen erzählt. Zumal die Thüringe waren stolz auf die Reisen ihrer [] Herren ins Heilige Land, denn jeder der letzten Landgrafen hatte mit seinem Heeresgefolge sich dort kriegerisch gerührt. Man wußte in den Burgen auch Bescheid über die christlichen Herrengeschlechter, welche noch im Osten herrschten: auf Cypern, im Herzogtum Antiochien und dem syrischen Tripolis, man kannte den Namen des Sarazenensultans Elkamil, welcher jetzt um den Besitz des Königreichs Jerusalem mit seinen Verwandten haderte, und man hatte vernommen, daß der neue Zug von der Hafenfestung Accon, die noch in den Händen der Christen war, nach Jerusalem gerichtet würde.

Ivo fand schwer, seine Fahrt in der Eile zu rüsten, und sein Kämmerer Godwin hatte weit größere Mühe als im vorigen Jahre, durch Verkauf und Verpfändung von Dörfern und Hufen das Reisegeld zu beschaffen. In den letzten Tagen vor der Fahrt ritt Ivo nach dem Hofe des Richters. Der Alte schloß auf einen Wink des Edlen die Tür des Hauses, und in geheimem Gespräch vertraute dieser seine letzten Sorgen um Habe und Hof dem Nachbar. Als er sich zum Abschied erhob, war Friderun verschwunden, und der Vater mußte wiederholt ihren Namen rufen, bevor sie aus dem Garten trat. Bleich und ohne ein Wort zu sprechen, legte sie ihre Hand in die des Scheidenden, und als Ivo ernsthaft sagte: »Auf Wiedersehen im nächsten Mai, will's Gott«, da sah sie so starr und angstvoll in seine Augen, daß Ivo den Blick gar nicht vergessen konnte.

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne vergoldeten den First des Herrenhofes, und die Rosse stampften ungeduldig unter den gewappneten Reitern, als Ivo, zur Reise gerüstet, über die Schwelle trat. Er streckte die Hände nach den Leuten des Hofes und Dorfes aus, welche sich in dichtem Haufen herandrängten. Den alten Kämmerer Godwin küßte er herzlich und empfing mit gesenktem Haupte den Segen des schluchzenden Greises. Sobald er sich auf das Pferd geschwungen hatte, stimmte Nikolaus das fromme Kreuzlied an: ›In Gottes Namen fahren wir‹, und als er sich vom Wege nach seinem Hofe umwandte, sah er den alten Godwin inmitten der Brücke auf den Knien und um ihn die Weiber und Kinder, mit aufgehobenen Armen des Himmels Segen für ihn herabrufend. Über die Mauern und Dächer des Hofes aber ragte der alte Turm seines Geschlechtes in düsterm Grau, nur die Zinnen leuchteten in feurigem Scheine.

Das erste Lebende, welches dem Ausfahrenden im Freien aufstieß, war ein Habicht, der vor ihm aufflog und hoch in der Luft über ihm kreiste. Während er dies gute Vorzeichen seinen Genossen wies, gesellte sich ein zweiter Raubvogel zu dem ersten und beide entschwebten miteinander in schnellem Flug nach dem Osten, so daß Henner kopfschüttelnd sagte: »Sie weisen nach dem Morgen, aber nicht über die Alpen.«

[] Es war ein kleiner Haufe, der unter dem Kreuze dahinfuhr, außer den Dienstmannen Henner und Lutz noch ein Vasall, der junge Eberhard, welcher freiwillig folgte, zusammen vier Ritter und ebensoviel Knechte mit zwölf Rossen und drei Rüstwagen, von denen zwei, welche Reisevorrat führten, nur so lange zu fahren hatten, bis sie geleert waren. Nikolaus aber sollte, weil er der fremden Sprachen am besten mächtig war, die Gesellschaft bis zu ihrer Einschiffung im Hafen von Brindisi begleiten und dann, wenn es ihm gefiele, in den Hof zurückkehren und dort den Winter verbringen. Aber schon an den ersten Raststellen vergrößerte sich die Zahl der Begleiter, denn hier und da schlossen sich ritterliche Pilger an, und diese wählten Ivo zu ihrem Führer und sie gelobten einander bis zu den Schiffen treue Genossenschaft.

Solange die Reisenden durch deutsches Land zogen, war es eine fröhliche Fahrt, Ivo selbst fühlte eine Zufriedenheit, die ihm lange gefehlt hatte. Vor sich sah er ruhmvolle Arbeit eines Kriegers, und dabei träumte er von dem Wiedersehen der Geliebten. Die Freude lachte ihm aus den Augen und er sang mit Nikolaus um die Wette. Als die Waller aber über die Alpen in das Land der Lombarden hinabstiegen, wurden die Mienen ernster, denn ihre Rosse zogen müde dahin im Sonnenbrand, und die Pilger fanden fast überall kalte Blicke, vernahmen spöttische Reden und ärgerten sich über unchristliche Preise, welche die Welschen von ihnen forderten.

Und wie scharfe Windstöße schlugen üble Nachrichten von dem Kreuzheer ihnen entgegen: daß die Schiffe nicht zur rechten Zeit gekommen, daß das Heer Hunger leide, daß ein großes Sterben ausgebrochen sei, daß auch der Kaiser und der Landgraf von der Krankheit ergriffen worden. Bald sahen sie selbst die Bestätigung. Elende Haufen von Männern und Frauen zogen ihnen auf der Landstraße entgegen, zuweilen in stummem Jammer, die meisten mit Geschrei und Klage, sie versammelten sich um die Reiter, hoben flehend die Hände, drängten sich an die Rüstwagen und griffen gierig hinein; es waren Fremde von allerlei Volk, meist Engländer und Franzosen, in ihrer Sprache verwünschten sie den Kreuzzug und schrien Rache über Geistliche und Laien, welche so viele fromme Seelen in das Verderben geführt hätten. Je näher die Pilger der Stadt Brindisi kamen, desto kläglicher wurde, was sie erblickten. Die Landschaft sah aus wie ein ungeheures Schlachtfeld, überall Kreuze an unordentlich geschichteten Erdhaufen, Leichen von Pferden, bald auch von Männern und Frauen, beraubt und entblößt. Schwärme von Geiern und kleinen Raubvögeln schwebten träge auf, sobald die Reisenden vorüberkamen, und kehrten dreist zu ihrer eklen Beute zurück. Den mißfarbigen Boden bedeckten widerwärtige Lagertrümmer, dort rauchten noch die verkohlten Bretter einer Holzhütte, hier schlichen um Strohdächer bleiche Gestalten, [] und aus den Fensteröffnungen drang das Ächzen der Kranken, welche zusammengeschichtet darin lagen.

Am Wege stand ein Franziskaner, der einen schweren Quersack trug; er schrie den vorbeireitenden Schüler mit mißtönender Stimme an: »Hallo, singender Klaus, kommst auch du zum Gastmahl, welches hier für alle unnützen Vögel bereitet ist? Die vornehmen Wirte sind weggezogen und haben nur noch den Küchenabfall zurückgelassen. Deine Schelmenlieder kannst du hier vor den Toten und Sterbenden singen.«

Nikolaus verfärbte sich: »Bist du es, Dorso? Seit wann trägst du die Kutte?«

»Seit du dich dem Teufel verschrieben hast«, war die unhöfliche Antwort.

Als Ivo die deutsche Rede vernahm, lenkte er sein Pferd heran; vor ihm stand ein vierschrötiger Mann mit gekrümmtem Rücken und starken Armen und Beinen, der auf dem kurzen Hals einen übermäßig großen Kopf trug, so daß er aussah wie ein verknorzter Riese. »Wo ist das Heer?« fragte Ivo.

Der Mönch wies höhnisch auf einige helle Punkte in der glitzernden See: »Die letzten, welche noch leben, fahren dort hinaus. Wollt Ihr nach dem Gelobten Lande, so mögt Ihr auf euren Gäulen durch das Meer schwimmen.«

»Wo ist der Kaiser?«

»Wenn Ihr die Heiligen des Himmels nach ihm fragt, so werden sie Euch schwerlich guten Bescheid geben, denn seine Untreue hat die frommen Gläubigen in Not gebracht.«

»Bist du ein Deutscher, du Schuft, so sprich mit Ehrfurcht von unserm Herrn«, rief Ivo, seine Gerte erhebend.

»Ihr selbst werdet, hoffe ich, Eure Ehrfurcht völlig verbrauchen, wenn Ihr erst einige Wochen in diesem Rosengarten lagert«, versetzte der ungeschlachte Mönch. »Der Herr verleihe Euch christliche Geduld, und wenn Ihr bei diesen Hütten in den letzten Zügen liegt, so vergeßt nicht, den Schuft holen zu lassen, damit er Euch den letzten Segen erteile; sonst wird St. Peter Eurer armen Seele die Himmelstür zuschließen, weil Ihr einen Diener des Herrn gelästert habt.« Er rückte seinen Quersack auf die Achsel, so daß das Metall darin klirrte, und kehrte den Reisenden seinen Rücken.

Schweigend ritten die Genossen der großen Stadt zu, das Tor war bewacht, mit Mühe erhielten sie Einlaß. Aber in der Stadt fanden sie gehäuftes Elend. Längs der Mauer lagen die armen Kranken unter Dächern von Brettern und Segeltuch, durch die Straßen zogen Mitglieder der frommen Bruderschaften mit Kreuzen und Lichtern, alle Häuser waren mit traurigen Fremden gefüllt, die Straßen durch Unrat und umgestürzte Karren fast unwegsam. Und als sie zu dem Hafen durchgedrungen waren, fanden sie ihn leer, kein Segel darin, [] die ganze Umgebung wie ausgestorben. Unten schlugen die Wellen an die kahle Steinmauer und darüber wehte der Seewind an verstörte Gesichter.

»Harret hier«, gebot Ivo den Genossen, »wo die Luft rein ist und der Jammer nicht den Sinn betäubt.« Er selbst ritt mit Nikolaus zurück in die Straßen der Stadt, sie hielten oft an und fragten, vernahmen aber nichts Tröstliches. Endlich lenkte Ivo zu einem kleinen Hause, an dem ein weißes Schild mit schwarzem Kreuze hing, dem Spital der deutschen Marienbrüder. Ein alter Ordensmann, der dort unter den Siechen zurückgeblieben war, gab willigen Bescheid: »Der Kaiser und der Meister hatten eine Kriegsfahrt waffentüchtiger Männer aus unserer Heimat gerüstet; dem Heiligen Vater aber lag eine allgemeine Fahrt der Christenheit mehr am Herzen, und er sandte daher die Bettelmönche durch alle Länder. Denn es gab manche, welche uns Deutschen die Ehre beneideten. Da sammelte sich gleich Heuschrecken ein ungeheurer Schwarm wilden Volkes aus jedem Lande, außer Männern und Weibern auch Kinder. Für ihn reichten weder Schiffe noch Lebensmittel. Der verlorene Haufe lagerte sich um die Stadt, zuerst sang er, dann raubte er, bis er aus Mangel verging und uns die Seuche zurückließ. Jetzt erhebt sich Geschrei und Fluchen gegen die, welche die Kreuzfahrt zugerichtet haben. Darf ich Euch raten, Herr, so weicht ohne Zaudern von dieser Stätte des Unheils. Ich vernahm, daß zwei Tagereisen südwärts, im Häfen von Otranto, Schiffe aus Bremen angelegt haben; auch der Landgraf wollte landen. Vielleicht gewinnt Ihr dort die Überfahrt.«

Ivo schied mit Dank von dem Landsmann, und die Reiter wendeten sogleich die Häupter ihrer Rosse dem Süden zu und atmeten frei auf, als sie dem Dunst und dem Gestöhn des Kreuzlagers entronnen waren.

Als die Reisenden sich am zweiten Tage darauf der Burg Otranto näherten, fanden sie den Weg durch ein hölzernes Gatter gesperrt, dahinter lag ein steinernes Wachthaus, vor welchem ein Wächter mit Schwert und kurzem Spieß auf einer Bank saß. Henner ritt vor und forderte Durchlaß, der Wächter schrie, ohne aufzustehen, in welscher Sprache nach dem Wachthause zurück, gleich darauf traten zwei Männer heraus, mit dunklen, faltigen Gesichtern, und riefen in strengem Tone über die Schranken Befehle, die Herr Henner nicht verstand. Hilflos sah er sich nach dem Schüler um, welcher vorreitend erklärte: »Sie gebieten uns, abzusteigen.« »Wie«, rief Henner entrüstet, »diese Männlein wagen uns von den Pferden zu drängen? Sagt ihnen, wenn sie ihre schlotternde Haut unversehrt nach Hause tragen wollen, so sollen sie sich beeilen, die Sperre zu öffnen.«

»Ich widerrate solcher Drohung«, sagte Nikolaus ernsthaft, [] »soweit ich den Brauch dieses Landes kenne, sind es Beamte des Kaisers, und sie haben ein Recht zu ihrer Forderung.«

»Beamte?« fragte Henner verächtlich. »Seit wann lungern die Herren, welche dem Kaiser dienen, an der staubigen Landstraße?«

Der Schüler rief in Latein zurück: »Wir sind Kreuzfahrer und reiten im Gefolge eines edlen Herrn.«

Aber ungerührt entgegnete einer der Schwarzhaarigen mit einem Wirbel fremder Worte und begleitete seine Rede mit drohender Gebärde.

»Was sprudelt der Zwerg?« fragte Henner, aufs höchste entrüstet.

»Sie wollen unser Reisegerät durchsuchen, ob etwas Zollbares darin ist, und fordern unsern Passierschein.«

»Zollbares? Wir sind nicht Kaufleute; und was bedeutet ein Passierschein? Wenn das Geschriebenes ist, so mögen sie sich bei einem Pfaffen darnach erkundigen.«

»Das ist in Apulien und Sizilien so Brauch«, belehrte der Schüler. »Überall hält der Kaiser Bewaffnete zu Roß und zu Fuß, welche die Reisenden nach Freibriefen fragen und solche in Haft nehmen, denen das fehlt, was sie die Legitimatio nennen. Ich rate Euch, Herr, nachzugeben, sonst entsteht Unheil.«

»Bei St. Georg«, schwor Henner, »das mag unter Sarazenen und Mohren gebräuchlich sein, aber einem christlichen Deutschen wäre es Schmach, sich solcher Zumutung zu fügen. Öffne, du Mißgestalt«, rief er, »oder ich renne dir das Gitter ein.«

Als der Apulier die drohende Bewegung des Reiters sah, winkte er seinen Begleitern, welche sich in achtungsvoller Entfernung vor dem Schlagbaum quer über den Weg stellten, worauf die beiden Beamten sich hinter diese Hecke zurückzogen und heftige Worte gegen die Fremden richteten.

»Hier muß ein Ende werden«, rief Henner, »dort naht bereits unser Herr; habt die Güte, Lutz, die Valets anzurufen, daß sie eine Axt vom Rüstwagen bringen.« Mit mächtigem Satze trieb er das Pferd über das Gitter, brach durch die Bewaffneten und packte mit jeder Faust einen der Beamten beim Kragen, schwenkte sie an den Sattelknopf und drückte sie fest, daß sie jämmerlich schrien. Als Lutz seinen Marschalk im Angriffe sah, zögerte er nicht, ihm auf demselben Wege zu folgen, er riß dem einen Wächter den Speer aus der Hand und stieß den andern beiseite, so daß beide brüllend davonliefen. »Ich erbitte Euren Riemen, Herr Lutz«, fuhr Henner erfreut fort, »damit ich meine Hasen am Sattel befestige.« Unterdes sprengte ein Knecht durch Axtschläge das Gitter, und als Herr Ivo, den der Schüler ängstlich geholt hatte, herankam, war das Werk getan. »Ich sorge, Marschalk, dies wird ein böser Handel«, sagte Ivo, »und ersuche Euch, die beiden Männer loszubinden, denn[] sie haben, wie ich vernehme, nur nach dem Befehl des Kaisers gehandelt.« Als Henner zögerte, nahm er ihm die Riemen aus der Hand, und da ihm der Schüler zuflüsterte: »Gebt ihnen Geld, das ist hier das letzte Mittel, solchen Streit zu vergleichen«, griff er in die Tasche, drückte jedem der Männer ein Silberstück in die Hand und löste die Riemen. Die Beamten schlossen die Finger über dem Gelde, aber nur, um die Faust zu ballen, sich feindlich auf den Weg zu stellen und die flüchtigen Wächter zurückzurufen. Von neuem begann das Geschrei, und der Schüler riet ängstlich: »Gebt ihnen mehr, noch sind sie nicht zufrieden.«

»Sie haben doch Geld genommen«, versetzte Ivo, und rückwärts rief er: »Schließt euch um den Wagen zusammen, mögen sie es jetzt versuchen, uns zu hindern.«

Auf einem Hügel in der Nähe wurde ein Trupp Reiter sichtbar, die Abendsonne vergoldete Rüstungen und Gewänder, Ivo grüßte, den Speer senkend und die Reisekappe lüftend. Er bemerkte, wie die Wächter zu dem Trupp liefen, dort niederfielen und die gehobenen Arme heftig bewegten. Gleich darauf lösten sich einige Reiter von der Gesellschaft und sprengten auf die Fahrenden zu. Ivo ritt ihnen entgegen, nannte seinen Namen und die Absicht der Fahrt und entschuldigte die Gewalttat seiner Mannen, so gut er vermochte. Die strenge Miene des Anführers entwölkte sich, und er antwortete in deutscher Sprache: »Ihr werdet Euch gefallen lassen, daß die Beamten mit ihren Augen Euer Reisegerät mustern, damit dem Gebot des Kaisers Genüge geschehe, ich will sorgen, daß sie Euch nicht weiter belästigen. Vermeidet, in der Stadt Herberge zu suchen, sie ist überfüllt durch das Gefolge des Kaisers und der Kaiserin; habt Ihr Zelte, so schlagt sie nahe am Hafen auf. Einer meiner Speerreiter soll Euch begleiten.« Ein junger Krieger jagte pfeilschnell an die Spitze des Zuges. Der Turban, den er über der Eisenkappe trug, sein runder Schild und sein Speerschaft aus Rohr verrieten, daß er zu der maurischen Leibwache des Kaisers gehörte. »Wenn Ihr aus Thüringen seid«, sprach der Reiter beim Abschiede mit ernster Miene, »so kommt Ihr nicht zu froher Stunde.« Bevor Ivo weiter fragen konnte, war der Herr zurückgesprengt.

Die Reisenden zogen im Abendlichte dem kleinen Hafen zu. Auf der dunklen Flut schwebten eine Anzahl Schiffe, welche der Kreuzflotte angehörten, längs dem Hafendamm lagen sizilische Galeeren, dahinter an ihren Ankern rundliche Kielschiffe aus den Nordmeeren; Boote fuhren hin und her, ein Teil der Reisenden war ausgeschifft und hatte die Zelte am Strande aufgeschlagen. Aber der freudige Ruf, mit welchem die Ankommenden die ersehnten Fahrzeuge begrüßten, wurde sogleich gedämpft, denn sie erkannten Verwirrung und Trauer an den Borden und am Ufer. Über den Schiffen wehten die schwarzen Flaggen, die Bewaffneten am Ufer rannten [] durcheinander oder standen in unordentlichen Haufen, und von den Verdecken erscholl Trauergesang und laute Totenklage. Henner ritt zu einem Haufen der Landgräflichen, und als er zurückkam, lasen die andern die Schreckenskunde in seinen Zügen, bevor er noch zu rufen vermochte: »Der Landgraf ist tot.« – Schweigend hoben sich die Reiter aus den Sätteln und warfen sich auf den Boden, für die Seele des Herrn zu beten. Jedem kam vor, als ob die blutlose Hand des Todes sich drohend gegen ihn selbst erhebe, Ivo dachte, während ihm die Tränen von den Wangen rannen, an die Stunde, wo er den Herrn zuletzt vor dem Altar gesehen hatte, wie in düsterer Vorahnung seines Endes, und neben ihm am Boden die verzweifelnde Gemahlin.

In ihrem Kummer achteten die Pilger nicht darauf, daß die Reiter, an denen sie vorübergezogen waren, näher herankamen und unweit ihrer Raststätte hielten, während zwei Männer von den Rossen stiegen und, in ihre Mäntel gehüllt, dem Uferdamm zuschritten.

Der eine von ihnen war Hermann, der Meister des Deutschen Ordens, und der andere ein Herr von mäßiger Größe und zarten Gliedern. Sein Antlitz, fahl wie das eines Erkrankten, erschien noch bleicher durch die rötlich-blonden Locken des Haupthaars, aber die Krankheit hatte nicht vermocht, die stolze Haltung zu beugen, in welcher er daherging. Dieser Herr war Kaiser Friedrich.

»Es war ein heller Frühlingsmorgen, der dort in Trauerwolken untergegangen ist«, begann Hermann, zu den Schiffen gewandt.

»Wahrlich«, antwortete der Kaiser, »nicht wie einen Fürsten des Reiches, sondern wie einen König betrauert das Volk diesen Toten. Einem sonnigen Morgen vergleichst du sein Leben, aber ein heißer Wettertag wäre es für den Kaiser und das Reich geworden, denn in seiner Seele lebte der Herrenstolz. Ein Glück, daß seine Brüder ihm nicht gleichen. Mancher wird sagen, daß sein Tod eine Strafe des Himmels war. Denn höheren Preis als jeder andere hat er von mir erzwungen, bevor er das Kreuz auf sich nahm; das Land Meißen, welches er dem Söhnlein seiner Schwester mit den Waffen entriß, habe ich ihm bewilligen müssen samt allen Einkünften des Reiches; vergebens hat die fromme Else sich geweigert, das Brot aus den geraubten Kornkammern zu essen, und vergebens hat sie, wie man erzählt, einen kranken Bettler in das Bett ihres Gemahls gelegt, um durch schwere Liebeswerke die rächende Vergeltung von seinem Haupte abzubitten.«

»Und doch hat Eure Majestät ihm selbst seine Würde erhöht.«

»Auch du hast deshalb meine Klugheit gelobt. Wie kann ich in dem fernen Deutschen Reich die Ordnung erhalten, Sicherheit auf der Landstraße und Ehrfurcht vor meiner Würde, wenn nicht durch die Fürsten und Bischöfe, welche als Gebieter mächtig auf ihren Stühlen sitzen. Hier in Apulien und Sizilien bin ich Herr,[] ich allein, und sie nennen mich einen scharfen Herrn, der ihnen in jeden Topf guckt. Daher gehorcht mir das ganze Land wie ein gut geschultes Roß. Auch für meine Deutschen hoffe ich eine bessere Zeit. Bin ich erst Gebieter über die Ostländer an diesem blauen Meer, dann sollen die Deutschen erkennen, daß ihre Fürsten ohnmächtig sind gegen den Kaiser.«

»Mehr vermögt Ihr als ein anderer Mann auf Erden«, versetzte Hermann, »dennoch seid auch Ihr ein sterblicher Mensch, und die Jahre bändigen Eure Kraft. Ihr seid einer, die Fürsten aber gleichen zusammen einer großen Bruderschaft, die Brüder wechseln und sterben, die Bruderschaft dauert.«

Der Kaiser lächelte. »Das spricht einer, der selbst ein Ordensbruder ist. Dennoch merke, Meister, alles Große und Dauernde auf Erden hat nicht eine Gesellschaft von Schwachen geschaffen, die sich zusammenschwor, sondern ein Held, der höher dachte als die andern alle. Du vertraust deinem Orden, deine Brüder jedoch hoffen auf dich, du bist der Starke, welcher Kleine großzumachen versteht, weil du klüger und fester bist als die andern.«

Der Meister schwieg, Friedrich lauschte auf den Trauergesang, welchen die Abendluft von den Schiffen herübertrug. »Auch ich war in seiner Gesellschaft zuweilen fröhlich. Noch war er des Kaisers Freund. Uns beiden wurde Antwort erspart auf die Frage: Wie lange?«

Hermann wies auf die Stelle, an welcher der Haufe Ivos die Zelte aufschlug: »Nicht alle Herren aus Thüringen folgten dem Banner des Landgrafen.«

»Das ist der Recke, dessen Heldenkraft meine Gitter zerbrach und meine Wächter schlug«, versetzte der Kaiser unfreundlich.

»Er war der einzige unter den Edlen aus Thüringen, der meine Goldgulden ablehnte, obgleich er nicht auf reichem Erbe sitzt.«

»Botest du ihm zu wenig?«

»Er meinte, es mindere seine Ehre, wenn er Geld nehme, um für den Himmelsherrn zu reiten.« Und der Meister berichtete einiges über Ivo.

»Ha«, rief Friedrich, das Haupt hebend. »Schon früher habe ich aus anderem Munde sein Lob gehört; ruf ihn her.«

Hermann eilte nach den Zelten. Die Sonne war untergegangen, aus dem Meere stieg die Dämmerung schnell am Himmel empor, als Ivo seinem Kaiser gegenübertrat. »Aus Thüringen seid Ihr, Herr«, begann Friedrich, »und doch rastet Ihr abseits von dem trauernden Haufen am Strande; seid Ihr jenen verfeindet?«

»In der Heimat habe ich Herrn Ludwig als meinen Nachbar geehrt, jetzt traure ich über seinen Tod. Zur Kreuzfahrt aber zog ich aus eigenem Willen, und das Schwert würde ich ungern unter einem andern Banner schwingen als unter dem meines Kaisers.«

[] »Bewahrt diesen Stolz«, sagte Friedrich schnell. »Wer hoch von sich denkt, der steckt sich wohl auch ein großes Ziel. Wird Euch das Erbe Eurer Väter zu klein, für treue Dienste kann der Kaiser es mehren.«

»Wenig habe ich bis jetzt um Gut und Eigen gesorgt«, antwortete Ivo ehrlich. »Bevor ich das Kreuz auf mich nahm, diente ich in freiem Jugendmut da, wo mir mein Herz gebot.«

Friedrich lächelte. »Hat Euch die Herrin in die Fremde geschickt? Ich meine, solche Entsendung gleicht dem Torenwerk eines Mannes, der mit der Säge den Ast abschnitt, auf dem er saß.«

»Beide begehren wir vom Himmel, daß er uns gnädig sei.«

Wieder lächelte der Kaiser und betrachtete den jungen Helden, dessen Antlitz durch den letzten Abendschein gerötet wurde. »Auch einen Mann macht es fröhlich, Euch in die Augen zu sehen, Herr; mich wundert nicht, daß die Frauen Euch preisen; ich hoffe, Ihr sollt den braunen Damen im Harem des Sultans manche Angststunde bereiten, wenn Ihr gegen ihre Helden sprengt. Trägt man in Thüringen solch buntes Tuch als Kollier, wie Ihr um den Hals geschlungen habt?«

Ivo antwortete errötend: »Des Kaisers Majestät weiß, daß Wallende die Gabe einer geliebten Frau unter dem Kreuzeszeichen tragen, wenn sie der Herrin Anteil geben wollen an dem Heil, welches ihnen die Fahrt bereitet.«

Der Kaiser nickte: »Auch ich trage den Schleier meiner Herrin«, und er wies auf ein feines Gewebe aus Goldfäden, welches ebenso unter dem Kreuz an der Schulter befestigt war. »Doch ich sorge, die Unbekannte, welcher Ihr dient, ist eine ungläubige Sarazenin; denn auf dem Zipfel unter dem heiligen Kreuze sehe ich fremde Buchstaben in Gold gestickt; versteht Ihr die verschlungenen Linien zu deuten?« Und den Zipfel fassend, fuhr er spottend fort: »Es sind arabische Worte, sie bedeuten: Allah ist Gott und Mohammed ist sein Prophet. Ich hoffe, der Spruch, dem unsere Pfaffen fluchen, wird Eurer Seligkeit nicht schaden. Zufällig vermag ich dies Geheimnis zu künden, denn ich selbst schenkte einst ein Tuch, diesem ähnlich, einer edlen Frau, die mir verwandt ist. Noch vor wenig Tagen hättet Ihr Euer Tuch mit dem ihren vergleichen können. Jetzt ist die Dame durch ihren Herrn nach Deutschland zurückgefordert.« Ivo zuckte und trat einen Schritt zurück. »Bleibt ruhig, Messire Ivo«, fuhr der Kaiser lachend fort, aber seine Augen sahen scharf auf den Betroffenen. »Ich verrate die Helden meiner Tafelrunde nicht.«

Er winkte Entlassung und sprach auf dem Wege zu seinem Begleiter: »Diesem kann man vertrauen, und ich gedenke ihn in meiner Nähe zu behalten. Aber ich fürchte, er ist von einfältigem Herzen.«

»Er ist ein Deutscher«, antwortete der Meister.

[] »Das bin auch ich«, versetzte der Kaiser schnell. »Wie, Hermann, du birgst dein Lächeln nicht? Was meinst du, sprich, bin ich ein Deutscher oder nicht?«

»Verzeiht, wenn ich in einem Gleichnis antworte. Als ich zuerst nach dem Morgenlande zog, empfing ich als Geschenk eine Silberplatte aus Goslar. Ein arabischer Goldschmied schlug sie mir zu einem Becher, mit römischen Goldmünzen, die ich ihm gab, überzog er das Silber, und fügte in der Kunst, welche die Ungläubigen verstehen, zierliche bunte Farben zu dem Golde. Jetzt hat der Becher langen Reiterdienst getan; die arabischen Farben und das römische Gold sind an vielen Stellen abgescheuert, und das deutsche Silber kommt zum Vorschein; möglich, daß der Becher für Fremde unscheinbar ward, mir ist er jetzt teurer als ehedem. Ich weiß nicht, ob ich zu den Heiligen flehen darf, daß auch bei Eurer Majestät durch den Druck der Jahre das deutsche Metall ans Tageslicht gebracht werde.«

Friedrich lachte. »Ich hoffe, deine Treue wünscht mir kein Unglück. Immerhin danke ich dir, daß du mich wenigstens mit einem silbernen Napfe vergleichst. Doch meine ich, Meister, du trinkst aus zwei Bechern, der eine heißt Kaiser, der andere heißt Papst. Aus welchem Metall ist der alte Mann, welcher grollend in Rom sitzt, der dein zweiter Herr ist und dazu der meine?«

»Da er mein Herr ist, wie Ihr sagt, so verbietet mir die Ehrfurcht, gegen Euch sein Metall zu schätzen. Doch der hochwürdige Vater, welcher auf dem Stuhl St. Peters sitzt, darf sagen: Wie auch das Gefäß sein mag, der Wein, den ich berge, ist immerdar ein Himmelstrank und das Heil der Christenheit.«

»So laß du dir in deinem Gleichnis sagen«, rief der Kaiser eifrig, »daß drei Töpfe aus schlechtem Ton von den törichten Völkern der Erde angebetet werden als die Bewahrer göttlichen Segens. Der erste stammt von Moses und der letzte von Mohammed, und der mittlere ist der, den der Alte zu Rom so herrisch schwenkt. Könnte ich wie ich wollte, ich zerschlüge alle drei, um die Welt von finsterer Tyrannei zu befreien.« Hermann bekreuzigte sich. »Sei ruhig und entsetze dich nicht, du weißt, ich bemühe mich um die Gunst der Heiligen und bin zur Zeit in dem frömmsten Geschäft meines Lebens. Verliere nicht das Zutrauen zu mir, vielleicht kommt die deutsche Einfalt, die du bei deinem Herrn Ivo rühmst, auch an mir noch einmal zutage, so daß ich dahinfahre als ein treuer und hochgelobter Sohn der Kirche wie der junge Landgraf. – In Wahrheit, gerade jetzt wäre willkommen, bei unserem Vater Papst einigen guten Willen für mich zu finden.« Er blieb stehen. »Vernimm du zuerst, was bald ruchbar sein wird. Die Kreuzfahrer, welche hier versammelt sind, führst du nach dem Gelobten Lande, nicht ich. Ich folge dir erst im nächsten Frühjahr.«

[] Der Meister stand still, und in seinem Gesicht zuckte eine heftige Bewegung, der staatskluge Mann fand keine Antwort. Sieben Jahre waren es her, seit der Kaiser den Kreuzzug gelobt hatte, immer hatte er ihn verschoben, und Hermann hatte mehr als einmal seine ganze Kunst aufgewandt, den erzürnten Papst zu neuem Aufschub zu bewegen; jetzt, wo die Fahrt begonnen war, sah er die reifende Frucht mühevoller Arbeit durch einen Einfall des Kaisers verdorben. »Du zürnst mir in deinen Gedanken«, begann Friedrich endlich, »niemand hat so viel Recht dazu; denn dir, Hermann, danke ich, daß ich in den letzten Jahren frei von Bann und Verwünschung des Alten die zuchtlosen Füllen dieses Landes an meinen Zaum gewöhnen konnte. Alles, was du sagen kannst, um mich zu treiben, weiß ich selbst, und glaube mir, heißer ist mein Drang, im Morgenlande die Krone über dies Inselmeer zu holen, als dein Wunsch, deinen Brüdern dort Burgen und eine Herrschaft zu gewinnen. Darum vernimm du allein, was mich hindert. Zwei Frauenlippen waren es und wenige holde Worte, die mir in das Ohr geflüstert wurden, aber sie wiegen schwerer als die alte Pflicht und als der Kriegsruf aus dem Heere, das du für mich gesammelt hast. Ja, und auch du, der du dem Weibe entsagt hast, wirst mich nicht schelten. Denn eine neue Zeit kommt heran, und alte Verkündigung wird zur Wahrheit. Wisse, sechs Wochen sind es jetzt, daß mein Gemahl, die Erbtochter des Königreichs Jerusalem, zum letztenmal an meinem Halse lag. In derselben Nacht stand mein weiser Omar auf der Zinne des Schlosses und spähte nach dem Stand der Himmelslichter, an denen unser aller Schicksal hängt. Gerade als wir uns von Brindisi eingeschifft hatten zur gelobten Fahrt, brachte mir eine schnelle Galeere auf der See den Gruß der Kaiserin: die goldene Kapsel, in der sie sonst ihre Reliquien bewahrt, ein aufgebrochener Granatapfel lag darin. Verstehst du dies Zeichen? Es bedeutet geheimes Hoffen. Und der Bote verkündete, daß sie hier meiner harre. Darum sind wir gelandet. Der Landgraf vermag nicht mehr die Pilger zu führen, das macht auch mir leichter, zu bleiben, denn ungern hätte ich den jugendlichen Helden unter meinen Deutschen allein im Gelobten Land gesehen – obgleich er nicht der Mann war, mit den Kindern Mohammeds zu handeln. Sieh hinauf, Hermann«, er wies nach dem dunklen Himmel, an welchem einzelne Sterne sichtbar wurden, »dort wandeln unter den andern Gestirnen die großen Wahrsager unseres Schicksals ihre geheimnisvollen Bahnen, dort glänzt der Stern meines Geschlechtes, Almustari, den die Römer Jupiter nennen. Lautlos ziehen sie, und doch enthüllen sie dem Kundigen, daß in wenig mehr als sieben Monden der heiße Wunsch meines Lebens erfüllt wird, der König über Gläubige und Ungläubige wird geboren, die Herrlichkeit eines neuen Reiches wird heraufsteigen aus dem Meere, und in neuem Glauben werden die [] Stämme mit schwarzen und blauen Augen einträchtig beieinander wohnen.«

»Zürnt mir nicht, mein kaiserlicher Herr«, entgegnete der Meister traurig, »wenn ich Euch nicht folge zu den Luftbahnen, welche die Sterne wandeln. Ein deutscher Ordensmann bin ich, und mein Amt ist, nicht an mich zu denken, sondern an das Wohl meiner Bruderschaft. Für diese aber sind Eure Majestät und Papst Gregor die beiden Leitsterne, welche unser Schicksal da bestimmen, wo unsere eigene Kraft nicht reicht. Und deshalb gestattet mir noch einmal, Euch zu mahnen. Sieben Monate sind von Euren Wahrsagern als Frist gegeben für die Fahrt, in heißen Landen für uns die beste Jahreszeit, nach dieser Zeit mögt Ihr zurückkehren und Euch des Glückes freuen, das Ihr so sicher erhofft.«

»Doch wenn ich nimmer zurückkehre?« fragte Friedrich mit finsterem Blick. »Du weißt, Hermann, nicht jedem meines erlauchten Stammes glückte, aus dem Gelobten Lande den Rückweg zu finden. Und wenn ich heimkomme, wähnst du, daß ich die Kaiserin und die Hoffnung, die mich jetzt froh macht, ungeschädigt wiederfinde?«

»Man sagt, daß des Kaisers Frauengemach einer zugemauerten Burg gleicht, so unzugänglich wie der Harem des Kalifen, und daß die fremden Wächter den Zudringlichen mit scharfer Waffe begrüßen.«

»Die Feinde, welche wir beide kennen, dringen durch jede Tür, sie geben Siechtum mit der Hostie und raunen Tödliches in das Ohr der Betenden. Hermann, ich darf mein Weib in dieser Zeit nicht verlassen.«

»Wenn aller Welt verborgen bleibt, was Euch bis zu nächstem Frühjahr bei Eurem Gemahl festhält, einen gibt es, dem dies Geheimnis dennoch zugetragen wird, und dieser eine ist der Heilige Vater. Den Erben begehrt Ihr dem Volke zu zeigen, bevor Ihr ihm das Gelobte Land gewinnt, Eure Gegner in Rom aber drängen, daß Ihr das Land erwerbet, nicht für Euer Geschlecht, sondern für einen Oberherrn, den Heiligen Vater selbst. Keinen Grund des Zögerns weiß ich, der den Zorn des Papstes so heftig entflammen muß wie dieser geheime, der dem Kaiser so wichtig ist. Bei Strafe des Bannes habt Ihr Euch verpflichtet, in diesem Sommer zu segeln; wird der Bann gegen Euer hohes Haupt geschleudert, so verdirbt er Euch die heilige Fahrt und verdirbt die Arbeit und die Hoffnungen vieler Jahre.« Und vor dem Kaiser niederkniend, rief er in heißem Schmerze: »Oh, laßt Euch warnen, Herr; wenn Ihr je Treue und gute Meinung in meinen Worten erkannt habt, so hört jetzt auf mein Flehen, setzt nicht alles aufs Spiel um einer unsicheren Hoffnung willen, die jeder kommende Tag vereiteln kann.«

»Steh auf, Hermann«, sprach der Kaiser, den Knienden erhebend, [] »du sprichst redlich, wie du immer gegen mich gesinnt warst. Aber du begreifst nicht, wie dein Kaiser denken muß. Hoch über alle Häupter der Christenheit hat der Erhalter der Welt mein Geschlecht erhöht, an dem neuen Leben, welches er in mein Haus sendet, hängt das Schicksal von Millionen. Nicht ein Kind wie jedes andere ist der Sohn, welcher dem Kaiser geboren wird, sondern eine Verheißung für die Völker der Erde. Du mahntest mich an meine Sterblichkeit und mein Alter, in meinen Söhnen liegt die Verjüngung meiner selbst und die Bürgschaft dafür, daß die Gedanken, die ich in mir trage, und mein Wille, eine neue Ordnung in die zuchtlosen Seelen der Menschen zu pflanzen, nicht mit meinem Leben vergehen. Nur auf zwei Augen, auf dem Knaben Heinrich allein, ruhte bisher die ganze Zukunft meines Geschlechts. Jetzt ist die neue Hoffnung verkündet. Darum sage ich dir, der König wird geboren werden, so wahr ich unter dem Schein dieses Sternes vor dir stehe. Ich werde ihn den Völkern zeigen, und ich werde für ihn die Krone der heiligen Stadt gewinnen, gebannt oder nicht, mit gutem Willen des Papstes oder mit bösem. Wie mein Sohn Heinrich die Diademe des Deutschen Reiches tragen wird, so soll ein anderer Sohn als Meerkönig die Kronen von Sizilien und Jerusalem auf seinem Haupte vereinigen. Und ich mit meinem Geschlecht, wir werden die Welt befreien von der Tyrannei des Alten, der zwischen den sieben Hügeln thront und der sich zum Herrn gemacht hat über die Majestät der Könige und über das Schicksal der Völker.«

Hermann bewegte abweisend das Haupt. Da faßte Friedrich die Hand des Vertrauten am Gelenk und schüttelte sie in leidenschaftlicher Aufregung. »Die Völker leben in Siechtum und die Könige werden Sklaven. Da ich noch ein Knabe war, haben die Priester mich gezwungen, ihrer List und Untreue zu begegnen mit gleicher Verstellung. Du hast zuweilen die Kunst gerühmt, mit welcher ich meine Gegner überrasche, und die Mäßigung, mit der ich für mich nur begehre, was erreichbar ist; wisse, mein Freund, teuren Preis habe ich für diese Kunst gezahlt, es ist die Schlauheit eines Unfreien, der unablässig die Kette fühlt, die er mit sich schleppt. Durch sie bin ich gescheuert wie dein Becher, von dem du sprachst, und wenn ich jetzt in der Stille vor dir tobe, so nimm an, daß es mein deutsches Silber ist, ein empörtes Gemüt, was an mir zum Vorschein kommt.« Und seine Bewegung bezwingend, schloß er: »Gib dich, Hermann, sprich mir nicht mehr von dem, was unabänderlich ist, sondern vernimm, was ich noch von dir begehre. Die Luft wird kühl und der kranke Leib fordert Ruhe.«

Das Dunkel der Nacht lag über dem Hafen, aus dem die Masten der Schiffe schwarz gegen den Sternenhimmel ragten; die Totenklage war verstummt, nur die Flut rauschte aus der Tiefe. Ivo stand am [] Ufer, sein Auge haftete an einem bleichen Lichtstreif, der ostwärts auf hoher See glänzte. »Dort hinaus liegt das Land der Verheißung. Eine hohe Pflicht habe ich auf mich genommen, und ich ahne, daß sie mir den freien Sinn einhegt und mich enge und düster umschließt wie die Schwärze dieser Nacht. Von den Freuden meiner Jugend habe ich mich geschieden, auch von der geliebten Herrin soll mich weites Land und wildes Meer trennen. Wer mag sagen wie lange? Das Tuch mit den fremden Zeichen, welches uns beide einem Fremden verriet, löse ich vom Halse, heimlich will ich es an meinem Herze bewahren als die einzige Habe, die mir aus seligen Tagen geblieben ist. Still berge ich fortan meine Liebe und meine Sehnsucht, nur für mein neues Amt will ich leben, damit der Himmelsherr meinen Dienst gnadenvoll annehme und mit mir tue, wie ihm gefällt, ob die furchtbare Todesmahnung, die mir auf dem Wege hierher wurde, auch an mir in Erfüllung geht oder ob mir gestattet wird, die Treuen zur lieben Heimat zurückzuführen.« Er kniete nieder und betete für alle, die er in der Heimat liebhatte.

Als der Meister des Deutschen Ordens am Abend in seine Herberge kam, gelang es ihm, wie sehr er gewöhnt war, sich zu beherrschen, dennoch nicht, seine Bewegung den harrenden Brüdern zu verbergen. Mit stummem Gruß winkte er die Entlassung, lange saß er schweigend gebeugten Hauptes, während Arnfried, sein Neffe und liebster Gesell, ehrerbietig an der Tür harrte. »Wie lange ist es her, daß wir vom Mastkorb auf die Mauer von Damiette sprangen?« fragte er endlich. »Seitdem trage ich rollende Steine den Berg hinauf in mühsam fruchtloser Arbeit. Der Kaiser ist anderen Sinnes geworden und verweigert die Kreuzfahrt.«

»Wir vernahmen Ängstliches von der Krankheit des Kaisers.«

»Er ist krank, und seine heidnischen Ärzte raten ihm Ruhe, obgleich sie ihn schwerlich von der Falkenjagd abhalten werden. Doch nach einem Aufschub von wenigen Wochen vermöchte er dem Kreuzheer zu folgen, und diese Verzögerung würde wenig schaden. Er aber hat den Willen, erst im kommenden Jahre zu fahren.« Arnfried starrte erschrocken den Meister an, und dieser fuhr leise fort: »Der Grund des Aufschubs ist Geheimnis. Er ist nicht auszutilgen und erfüllt ihm die ganze Seele. Drei Kronen schweben über seinem Haupte, aber sein edler Geist erträgt nicht ohne Schaden diese irdische Verklärung; ihm schwillt das Herz bei dem Gedanken an die Majestät und den Pomp seines Amtes. Jetzt bleibt er zurück, weil er die Hoffnung hegt – wahrlich, eine unsichere Hoffnung –, im nächsten Frühjahr der staunenden Welt von hohem Gerüste großartige Worte zu verkünden. Schon heut freut er sich des Tages. Alles, was inzwischen geschehen muß, erscheint ihm gering gegen diese Verkündigung vor dem Volke. Er ist ein weiser und kühner Herr, und doch leidet er durch geheimen Schaden. Kennst du sein [] Unglück, Arnfried? Ihm ist in die Wiege gelegt, daß er elf Stunden des Tages klüger, stärker und größer sein soll als wir anderen alle, die zwölfte Stunde aber ein unartiges Kind. – Wir fahren morgen, um zu retten, was möglich ist; nur du folgst später. Dich sende ich vorher auf den Wunsch des Kaisers zum Heiligen Vater, um Entschuldigungen hinzutragen. Leichtherzig hofft er den Greis Gregor für neuen Aufschub zu gewinnen, er will nicht wissen, wie groß die Ungeduld, das Mißtrauen und die Abneigung des Papstes sind. Ein neuer Streit wird entbrennen zwischen den beiden Häuptern der Christenheit, und die Heiden werden frohlocken, denn nie war eine Fahrt so furchtbar für sie und so glückverheißend für uns wie diese.« Und als der Meister seinem Vertrauten vieles andere aufgetragen hatte, fügte er noch hinzu: »Sorge auch, soweit du vermagst, für unsern Landsmann, welcher jetzt mit seinen Rittern vergebens nach einem Fahrzeug ausspäht.«

»Ihr meint den Edlen von Ingersleben?«

»Der Kaiser möchte ihn in seiner Nähe festhalten, aber der junge Held wird unter den Welschen und Sarazenen schwerlich gedeihen. Ich habe ihn auf meine Seele genommen, denn ich habe ihn durch hohe Mahnung zu der Fahrt geladen.«

»Ihr wißt, daß die Spielleute in der Heimat ihn den König nennen. Leidet auch er an dem Fluch, der nach Eurer Meinung an der Königswiege hängt?«

»An einem andern, mein Bruder. Wer den Sinn eines Königs hat ohne die Macht, der vermag schwerlich zu bestehen im Kampfe gegen die wilde Welt.«

Bei Accon

Auf dem Deck einer starken Kogge aus Lübeck saßen die Pilger, den Blick nach der aufsteigenden Küste von Cypern gerichtet. Ihre Wangen waren gebleicht durch den Meerwind und das ungewohnte Schaukeln des großen Wasserrosses, und oft hatten sie sich reisemüde gewundert, daß es so viel wildes Gewässer auf Erden gebe. Jetzt harrten sie schweigend des Landes, nur der sorglose Lutz sang leise einen heimatlichen Reigen. »Wer kann hier tanzen«, sprach Henner unzufrieden, »wenn er nicht vom Geschlecht der Meerweiber oder Seehechte ist, denn großmäulige und habgierige Gesellen wälzen sich um uns.« – »Segel ahoi«, rief der Maat über die Brustwehr des Gerüstes, welches oben am Mastbaum ragte. Gleich darauf schrillte derselbe Ruf wieder und wieder. Der Schiffer trat zu Ivo. »Es sind Schiffe des Kreuzheeres, welche von Accon heimkehren, Ihr werdet im Hafen Neues aus dem Heiligen Lande erfahren.« Bald sahen die Pilger eine ganze Flotte, welche von [] Osten her einfuhr oder bereits landete, viele Boote fuhren an das Land, und doch standen die Leute auf den Fahrzeugen Kopf an Kopf gedrängt.

»Geht der Kreuzzug rückwärts?« fragte Ivo verwundert, »auch Banner der Edlen sehe ich an den Mastbäumen; die Krieger hasten, nach dem Ufer kommend, aber sie ziehen nicht gleich Siegern daher.«

Als er mit seinen Begleitern im Boot durch das Gewirr der Schiffe ans Land fuhr, riefen ihm Stimmen entgegen: »Kehrt um, nutzlos ist eure Reise, die Kreuzfahrt ist vergangen.«

Henner wies zur Seite. »Seht dort Gesichter, die wir in der Heimat nur zu gut kannten. Graf Meginhard, Euer Ohm, hebt sich an den Strand.«

Ivo sprang aus dem Boote. War auch daheim nur geringe Freundschaft zwischen ihm und seinem Verwandten gewesen, hier pochte ihm doch freudig das Herz, als er dem Mann seines Blutes entgegentrat. »Seid gegrüßt im fremden Lande«, sagte er fröhlich.

Der Graf antwortete kalt der Begrüßung. »Ihr kommt zu spät, Ivo, wenn Ihr gesonnen seid, weiter ostwärts zu fahren. Wir Thüringe haben geringe Ursache, die Treue des Kaisers zu rühmen, er hat uns verlassen, und der Zorn des Papstes hat die gewappneten Pilger von ihrem Gelübde gelöst. Das ganze Heer läuft auseinander. Umsonst haben sich die Pfaffen in der Heimat heiser geschrien, und ganz umsonst haben wir unser Geld aufgewandt.«

»Der Kaiser aber wird kommen.«

Der Graf lachte. »Dann mag er allein die Heiden in ihre Sandwüste scheuchen, die Hilfe der Christen hat er verloren. Eilt Euch«, rief er seinen Begleitern zu, »damit wir Herberge in der Stadt finden, bevor der Schwarm der Fahrenden eindringt. Wundert Euch darum nicht«, schloß er, seine Mütze gegen Ivo lüftend, »wenn ich Euch verlasse. Wollt Ihr Euch weise beraten, so wendet den Kiel Eures Schiffes einer anderen Ritterfahrt zu.«

Ivo erkannte im Gefolge des Grafen den leidigen Herrn Konz und den jungen Berthold, welche mit den Herren vom Niederhof feindliche Blicke tauschten. Er rief dem Oheim nach: »Wollt Ihr mir noch sagen, wo der Meister des Deutschen Ordens weilt?«

»Er müht sich zu Accon, Wasser in einem Siebe zu tragen«, antwortete der Graf über die Achsel zurück.

Da sprach Ivo zornig zu seinen Gesellen: »Ich aber meine, daß jetzt ein anderes Sieb geschwenkt wird, welches die Spreu des Heeres vom Weizen sondert.«

Am dritten Tage darauf lag die Küste des Heiligen Landes vor den Augen der Pilger; alle knieten auf dem Verdeck, ein alter Priester sprach die Gebete und stimmte den Hymnus an, zu welchem die Laien das Kyrie sangen, indem sie sehnsüchtig die Arme [] gegen das Land streckten. Als der Gottesdienst mit heißer Andacht vollendet war, deutete der Geistliche den Thüringen die sichtbaren Strecken des Landes. »Dort gegen Norden ragen die beschneiten Gipfel des Libanon, jener blaue Fels im Süden ist der heilige Berg Karmel, und hier vor uns liegt Accon, der eherne Schirm der Christenheit, denn dreieckig, gleich einem Schilde, liegt es da, an zwei Seiten von den Wellen umspült.« Er wies auf einen alten Turm, der auf einer Klippe trotzig in die See hinausgebaut war, als äußerste Wacht des Außenhafens. »Dies ist der Fliegenturm, dort hinten ragen die Zinnen der Königsburg, dies sind die starken Türme und die Basteien der Brüder von St. Johannes, und weiter abwärts hinter den Hügeln liegt das Pilgerschloß, die Burg der Templer, welche nicht ihresgleichen auf Erden hat.«

Als das Schiff in den Binnenhafen fuhr, läuteten die Glocken und dröhnten große eherne Pauken den Gruß der Stadt. Eine unzählbare Menge war zusammengelaufen und antwortete den winkenden und grüßenden Pilgern durch lautes Geschrei. Wie Gestalten einer fremden Sage schwebten und drängten die Menschen vor den erstaunten Augen der Landenden, sie fanden sich umgeben von Trachten, die sie niemals geschaut, und angerufen durch Laute menschlicher Rede, dergleichen sie niemals gehört. Neben dem Griechen in langem bunten Gewande standen der Jude im Kaftan, der syrische Christ mit weißem Turban und Wollgürtel, Frauen, welche Stirn und Kinn verhüllt trugen, aber mit Auge und Hand zu sich heranwinkten, und Lateiner aus jedem Volk des Abendlandes vom braunen Portugiesen bis zum hagern Schotten. Unter den Erwachsenen wanden sich aalgleich halbnackte Kin der, weiß, braun und schwarz, und hoben begehrlich die geöffneten Hände. Abseits von dem Volksgetümmel aber harrten stolze Krieger des Christenheeres, viele im schwarzen Mantel der Johanniter oder im weißen der Templer, Leibwächter des Patriarchen mit vergoldeter Rüstung und georgische Reiter, Mann und Roß in glänzende Schuppenpanzer gehüllt. Zwischen die Menschen schoben sich Esel und Maultiere der Führer, welche die Reisenden und ihr Gepäck in Empfang nehmen wollten, dahinter ragten die langen Hälse und Höcker der Kamele. Und der ganze seltsame Schwarm grüßte, winkte, schrie. »Wir hörten eine Sage über den Turmbau zu Babel«, murmelte Henner, »hier ist einiges aus dem Wirrwarr übriggeblieben. Weiche zurück von meiner Tasche, Gesindel.«

»Heil sei allen tapferen Deutschen!« schrie ein vierschrötiger Mann, seine Nachbarn zurückstoßend. »Hierher, ihr Herren, hier steht der echte Blitzschwab, bei mir findet ihr Herberge und heimische Kost, berühmt sind die Klöße und vielgepriesen ist der Wein des Wirtes zum Greifen.«

»Segen über Eure goldnen Locken, Ihr edler Herr!« rief von der [] andern Seite eine ältliche Frau, die ein rotes Turbantuch um die Schläfen trug und am Halsbande ein großes silbernes Kreuz. »Nimmer hätte ich mir träumen lassen, euch, ihr ruhmvollen Helden, hier zu sehen. Habt ihr nie von der Wirtin zum heiligen Georg gehört? Ein Erfurter Kind bin ich, und ich sah manchen von euch, da er nicht größer war als so hoch.«

Ein Ritterbruder von St. Johannes nahte hinter einem Knappen, der mit seinem kurzen Spieße rücksichtslos auf die Schienbeine der Zudringlichen schlug, so daß sie scheu zurückfuhren und dem Ritter eine Gasse bis zu Ivo öffneten. »Seid willkommen, edler Herr«, begann der Bruder höflich zu Ivo, »der hochwürdige Meister sendet Euch und den Herren seinen Gruß und erbietet sich zu jedem guten Dienst, den ein Fremder in diesem Lande begehren mag. Gestattet Ihr's, so führe ich Euch vor seine Augen, denn er selbst ist zur Stelle.«

Ivo trat mit seinen Rittern zu einer Gruppe von Johannesbrüdern, aus deren Mitte der berühmte Meister Bernard ihm entgegentrat. Der Lothringer segnete ihn in deutscher Sprache und bot ihm verbindlich das Gasthaus des Ordens zur Herberge an. Da Ivo sich aber nicht in der ersten Stunde seiner Ankunft einer Bruderschaft verpflichten wollte, so dankte er artig, und der Meister, ein geheimes Mißvergnügen verbergend, entließ ihn mit wiederholtem Angebot ritterlicher Dienste. Sogleich hingen sich wieder die Erfurterin und der Schwabe an ihn.»Begehrt Ihr den Greif oder St. Georg«, fragte Henner, »mir scheint, die Ehrbarkeit ist in beiden gleich.«

»Die Landsmännin soll uns haben«, versetzte Ivo lachend, »wie sie auch sei.«

»Sehr klug tatet Ihr«, lobte vertraulich die Frau, »daß Ihr die Skorpione in den Strohsäcken der Weißkreuze vermieden habt, die vom Johannes sind gieriger als alle anderen und mißgönnen sogar einer ehrlichen Frau ihre kummervolle Nahrung. Heda, Jakob, wo bist du und wo sind die Esel?«

Ein syrischer Mann zerrte seine Tiere am Halfter herzu, und mit vielem Aufwand von Worten und Gebärden führte die Wirtin ihre Gefangenen triumphierend in die Stadt. Durch enge, schmutzige Gassen, zwischen den rückströmenden Haufen drängte und stieß sich der Zug bis zur Herberge, während Henner und Lutz mit den Knechten im Hafen zurückblieben, um das Ausschiffen der Rosse und der Heeresrüstung zu überwachen.

Der Abend kam heran, bevor die Thüringe sich mit ihren Tieren unter dem Schutz des heiligen Georg geborgen hatten, und in einem weiten Hof, der mit Fliesen gepflastert war, an Tischen und Bänken zusammen saßen. Der ganze Raum füllte sich mit Gästen; auch hier schwirrten viele Sprachen des Abendlandes durcheinander, doch blieb das Deutsche obenauf. Es waren zum Teil Leute von achtbarem [] Aussehen, neben ihnen andere mit deutlichen Gaunergesichtern und gefällige Weiber, bunt aufgeputzt, mit frechen Blicken; auch deutsche Spielleute fehlten nicht, bald klang die Sackpfeife und die Flöte, bald sang ein Wanderer, der den silbernen Armring seines Herrn trug, zu der kleinen Harfe. Auf allen Tischen standen Kannen mit dem feurigen Wein Palästinas, oft gefüllt von den gefälligen Töchtern des Gasthofes, die zwar einer Mutter gehorchten, aber in verschiedenen Mundarten auf die Befehle der Gäste antworteten.

Die Angekommenen hatten keinen ruhigen Sitz, denn um sie kreiste neugierig und begehrlich der Schwarm. Manche fragten wehmütig nach der Heimat, andere priesen ihre Waren, die sie in Körben vorzeigten, oder erboten sich zu jeder Art von Diensten, auch zu unsäuberlichen. Sogar Brüder von St. Johannes saßen in dem Haufen, und Ivo wunderte sich, daß die Ordensregel das lustige Zechen nicht hindere. Aber er war doch froh, als derselbe Bruder, der ihn am Hafen begrüßt hatte, zu seinem Tische trat, denn der schwarze Mantel desselben scheuchte sogleich alle Zudringlichen aus der Nähe, und dem Bruder höflich Sitz und Becher bietend, sprach er: »Mit frommen Gedanken betraten wir das Land der Verheißung und erwarteten Bußgesänge zu hören, aber wir vernehmen hier weltliches Getöse, lauter und wilder als daheim.« Der Bruder lachte. »Jeder Ankommende hegt dieselben Gedanken, und mancher, der betend landet, lernt hier das Fluchen. Doch«, fügte er höflich hinzu, »Eure Frömmigkeit ist zuverlässig größer als die der meisten Pilger, da Euch das Herz treibt, zu kommen, während die anderen abziehen.«

»Wir vernahmen auf dem Wege, daß der Heilige Vater aus Zorn gegen den Kaiser die Waller von ihrem Eide entbunden hat.«

Der Bruder versetzte vorsichtig: »Traurig war für uns der Tag, wo die Botschaft verkündet wurde. Was soll aus dem Weinberge werden, wenn der Aufseher selbst die Arbeiter hinausscheucht? – Jetzt aber sind wir alle begierig, Neues zu hören, und Ihr werdet auch deshalb meinen Brüdern eine Freude machen, wenn Ihr unseren Hallen die Ehre Eures Besuches vergönnt.«

Ivo neigte sich stumm, der Bruder fuhr fort: »Ihr habt heut, edler Herr, den Antrag meines Meisters zurückgewiesen, sicher aus wackerem Stolz. Verzeiht aber die Frage: gedenkt Ihr lange in dieser Herberge unter Dieben und Trunkenbolden auszuharren?«

»Wir kamen hierher, mit den Ungläubigen zu kämpfen.«

»Kämpfen?« antwortete der Bruder verwundert. »Wir leben seit Jahren im Waffenstillstand oder im Frieden mit den Sarazenen, nur daß wir eingeschlossen sind. Die Ruhe soll dauern, bis der Kaiser kommt. Wer weiß, wann?«

Die Thüringe sahen einander betroffen an. »Wurde das Kreuzheer dazu aufgeboten, um hier ruhmlos zu liegen?« fragte Ivo.

[] »Das Heer ist zum großen Teil verlaufen«, erklärte der Bruder, »was noch kampflustig unter den Waffen steht, vermag den Kampf im freien Felde nicht aufzunehmen. Derweil vertreiben wir die Zeit, indem wir miteinander zanken, und da Fehde und Zweikampf unter dem Kreuze verboten sind, so müssen wir uns begnügen, mit der Zunge zu stechen. Hätten wir nicht die Frauen, welche uns zuweilen ein Lächeln gönnen, so wäre das müßige Sitzen gar nicht zu ertragen. Wir haben eine Tafelrunde als Liebeshof eingerichtet, die Nichte des Patriarchen Gerold ist Großmeisterin. Jeder Neue wird geprüft, ob er hoher oder niederer Minne dient, und erhält alsdann eine Lehrmeisterin.«

»Die haben wir Thüringe nicht nötig«, bemerkte Lutz. »Sitzt Ihr dabei auf dem Erdboden?«

»Die Paare, welche sich gesellen, ruhen auf weichem Polster, sie schmiegen sich nahe zueinander, und die Leuchte brennt zuweilen dunkel. Seid Ihr dem Sange und fröhlichem Minnespiel nicht abhold, so könnt Ihr Euch dort manche Stunde verkürzen.«

Ivo sah vor sich nieder, und Henner brummte: »Ich hoffe, Ihr brecht unterdes fleißig Eschenholz.«

»Ihr wißt ja selbst, daß der Heilige Vater die Turniere verboten hat, dafür stechen wir in der Rennbahn nach hölzernen Mohrenköpfen.« Der Brust des Marschalk entrang sich ein beistimmender Laut, der einem Stöhnen glich.

Auf der Straße gellte ein verzweifelter Schrei nach Hilfe, mancher Gast wandte das Gesicht neugierig dem Eingange zu, aber die lärmende Unterhaltung wurde nicht unterbrochen, bis zwei Männer einen Verwundeten, dem das Blut aus großer Brustwunde lief, in den Hof trugen. Die Wirtin stürzte sich wild aus ihrer Burg, einem hohen Verschlage nahe der Tür, von dem sie mit scharfem Blick alle Tische überschaute, und die Eintretenden abwehrend, schrie sie: »Hinaus, ihr heillosen Tröpfe, wollt ihr mir den Fußboden beschmutzen? Legt ihn auf die Straße und ruft die Wache des Balif.«

Henner erhob sich und durchschritt das Gewühl: »Es sind Schiffskinder des Lübeckers.«

»Er ist von unserer Back«, klagten die Seeleute gegen Ivo. »Er wankte allein wenige Schritte vor uns durch die Gasse, da warfen sich die Mörder über ihn und raubten ihn behende aus. Unsere Gesellen verfolgen die Feiglinge.«

Der Johannesbruder beugte sich über den Erschlagenen. »Es ist vorbei mit ihm, der Stoß kam von geübter Hand«, sagte er achselzuckend. »Warum trug er kein Stahlhemd unter der Jacke? Sorgt für die Bestattung, ihr guten Männer, und wenn ihr Rache begehrt, so nehmt sie an der ersten Nachtmotte, der ihr begegnet; es ist kein Mangel daran.« Noch andere Matrosen traten ein, verstört und grimmig. »Wir verfolgten die Bösewichter bis zu einem großen [] Hause, sie sprangen hinein, vor uns schlug man die Tür zu; das weiße Zeichen von St. Johannes hing darüber.« Die zornigen Gesichter der Seeleute wandten sich gegen den Bruder, welcher stolz entgegnete: »Sie haben das Asylrecht gefordert. Das weiße Kreuz schirmt jeden, der ihm vertraut. Naht morgen bei Tage höflich der Pforte und klagt bei dem Hauskomtur.« Und zu Ivo gewandt, fügte er entschuldigend hinzu: »Wundert Euch nicht, wenn Ihr hier mehr von heimlichem Überfall vernehmt als daheim. Der heilige Friede, welcher hier geboten ist, trägt die Schuld. Denn wer sich mit dem Schwert nicht rächen darf, bezahlt zuweilen ein Messer.« Doch als er aus der ernsten Haltung Ivos erkannte, daß auch dieser gekränkt war, leerte er sein Glas und empfahl sich mit zierlichen Worten künftiger Gunst. Auch der Tote wurde hinausgeschafft, eine schwarze Tochter der Wirtin fuhr mit einem großen Schwamm über den Fußboden, und der Lärm tobte weiter.

Die Wirtin im Turban aber trat zu Ivo, und auf den leeren Sitz des Bruders deutend, sprach sie leise: »Da Ihr ein Thüring seid, so traut diesem Ritter nicht, denn er ist aus Franken, und selten bezahlt er einen Becher, den er bei mir trinkt. Ihr habt wohl selbst gemerkt, daß er nur gekommen ist, um Schakale zu locken.«

»Was bedeutet das?« fragte Ivo.

»Verzeiht, wir nennen die neuen Pilger so. Denn Schakal ist hier ein Tier, dem Fuchs ähnlich, welches hinter dem Löwen hertrabt und diesem das Wild jagen hilft, dafür läßt der Löwe dem Schakal den Abfall der Beute.«

»Begehrt die große Bruderschaft den Beistand der Pilger, damit diese unter ihrem Banner fechten?«

»Fechten? Hier wird seltener gefochten als daheim«, versetzte die Wirtin. »Gewöhnlich müssen die Fremden ihnen um Gotteslohn Säcke tragen, Mörtel mischen und Steine heben für ihren Burgenbau. Wie könnten die Brüder als Herren unter uns sitzen in ihren Palästen, wenn die Pilger ihnen nicht mit ihrem Schweiß die Mauern zusammenfügten?«

»Das mag gute Arbeit sein für die armen Waller, die in ihrer Heimat Ähnliches getan haben, doch schwerlich für solche, welche das Waffenkleid tragen.«

»Ihr irrt, Herr. Wisset, daß für den Pilger in diesem Lande jede Arbeit, die er den Heiligen zur Ehre tut, ein gutes Werk ist, welches ihm den Himmel öffnet, und die niedrigste Arbeit das heilsamste. Ich selbst sah Fürsten und Grafen die Mauerkelle schwingen, und auch mich dünkt es ein rühmliches Tun, wenn gerade die Not bedrängt. Die Bruderschaften aber sinnen unablässig auf Vergrößerung, und deshalb fangen sie den neuen Pilger in ihren Herbergen ein, damit er sich ihnen gelobe und ihnen diene, wozu sie ihn gebrauchen. Erst vor wenigen Tagen haben die Templer einige tausend [] Mann des Kreuzheers entführt, damit sie ihnen die Mauern der Stadt Saida wieder aufrichten.«

»Wie kommt's, daß die Brüder vom Tempel nicht auch in Eurer Herberge werben?«

»Die sind zu stolz, um in die Schenken zu gehen«, antwortete die Wirtin, »sie verstehen darum den Fang nicht weniger gut.«

»Und haben die Brüder vom deutschen Hause denselben Brauch?«

Die Wirtin zuckte mit den Achseln. »Diese sind stille Männer, aber sie sind arm und haben wenig Gewalt. Ihre kleine Herberge ist überfüllt durch die Kranken. Wollt Ihr den Rat einer geringen Frau beachten, so traut hier niemandem, denn jeder sorgt nur für sich selbst.«

»Auch Ihr, Mutter?« fragte Ivo lächelnd.

»Ach, edler Herr«, rief die Frau beweglich, »Ihr werdet es mit einer Witwe nicht zu genau nehmen. Bedenkt, wir sind hinausgestoßen an die äußerste Grenze unter die Heidenschaft, wir sind es, welche für die ganze Christenheit das Ärgste wagen und dulden, damit wir frommen Pilgern hilfreich sein können.« Ihre Rede störte ein plumper Gesell mit borstigem Haar, einem Schlächter ähnlich, welcher, die Mütze in der Hand, herzutrat: »Solltet Ihr selbst einmal eine sichere Hand bedürfen, bei Tage oder bei Nacht, so gebt mir und meinem Gesellen den Vorzug, weil ich ein Deutscher bin und in diesen Hof gehöre.«

»Was ist dein Amt?« fragte Ivo mit Widerwillen. Der Mann wies auf das breite Messer an seiner Seite und machte eine kurze Bewegung mit der Hand. Da winkte ihm Ivo, zu entweichen, und sprach finster zu der Wirtin: »Herbergt Ihr auch ehrlose Gesellen dieser Art?«

»Heilige Magdala«, rief die Wirtin, »scheltet mir nicht meine Sangliers. Wie soll eine fromme Frau unter dem wilden Volke haushalten, wenn sie nicht einige Trotzköpfe hat? Die meisten Prälaten und die großen Laien halten sich dergleichen. Ich nähre nur zwei, damit sie dort vor meinem Stuhl sitzen und die frechen Trunkenbolde schrecken. Der Wirt zum Greifen aber bewahrt ein ganzes Rudel und vermietet sie auch, was ich niemals tue. Denn ich achte, soviel ich vermag, auf Ehrbarkeit.«

Am nächsten Morgen begann Ivo zu seinen Gefährten: »Wir sind in dies Land gekommen, um allerlei zu lernen. Was die Kreuzespflicht gebietet, das wollen wir tun bis aufs äußerste, fremdem Brauch fügen wir uns nur, wenn er unserer Ehre nicht zu nahe tritt. Wir schlagen noch heut Zelt und Hütte draußen im Lager auf und verhalten uns dort nicht als Werkleute, sondern als Krieger. Denn darum sind wir gekommen, und die Heiligen werden uns nicht zürnen, wenn wir uns nach der Sitte der Heimat unedler Arbeit versagen. Immer aber laßt uns, ihr Herren, treu zusammenstehen und ein gutes Vertrauen bewahren.«

[] Als die Pilger aus der Herberge traten, umfing sie wieder betäubender Lärm der großen Stadt. Von dem Syrer Jakob, ihrem Dragoman, geführt, wanden sie sich durch das Gewirr der engen Gassen und kletterten halsbrechende Stiegen zwischen den Häusern, welche gleich zahllosen Burgen um sie ragten, weiß getüncht, mit spärlichen Lichtöffnungen und platten Dächern. Unter den schmucklosen Wohnungen kleiner Leute standen mächtige Steintürme und reichverzierte Paläste, die Burgen edler Geschlechter, dazwischen eine große Anzahl Kirchen und Kapellen, deren Glocken fast unablässig läuteten. An den freien Plätzen aber lagen die stattlichen Höfe der Kaufherren aus Pisa mit gewölbten Lauben, wo hinter metallenen Gittern Waren des Morgen- und Abendlandes ausgestellt waren. Bei jedem Schritt haftete der erstaunte Blick der Thüringe auf feilgebotenen Früchten und Lebensmitteln, von denen heimkehrende Pilger Wunderbares berichtet hatten; auf kostbaren Stoffen und edlem Metallschmuck, von deren Pracht und Fülle ihnen selbst das Lied des Sängers nichts verkündet hatte. Sie sahen die reiche Stadt, von Meer und Ebene abgeschlossen durch zwiefache hohe Mauern, die aus Felsstücken wie für die Ewigkeit gebaut waren, darüber ragten mächtige Türme und als Vorwerke große Bastionen, die Barbakanen, welche gerundet oder im Winkel gegen den Strand und die Ebene vorsprangen; jede war selbst eine kleine Festung, trug auf der Plattform ihre Wurfgeschosse und enthielt im Innern große gewölbte Räume und Gemächer, in denen sich eine ganze Schar bergen konnte. Auf diesen Basteien wehten die Banner der Bruderschaften und einzelner Edlen, an der nördlichsten Ecke, beim Tore von St. Leonhard, auch das Banner der Marienbrüder. Draußen in der weiten Ebene aber lagen einzeln an Quell und Bach die burgähnlichen Wohnhäuser der syrischen Landbauer zwischen großen Wein- und Orangegärten, in der Niederung breiteten sich Feigenbäume und Olivenwälder, am Rand der Bäche wuchs der Oleander, auf den Höhen ragten Zypressen und flachgewipfelte Pinien. Der Syrer wies in die Ferne: »Dort hinter den Bergen liegt Jerusalem.« Und die Pilger neigten sich ehrfürchtig der heißersehnten Stadt zu.

In der Barbakane der Marienbrüder fand Ivo ihren Meister. »Ich dachte wohl, daß Ihr beharren würdet«, rief ihm dieser grüßend entgegen.

»Der Kaiser kommt zum Frühjahr«, sprach Ivo, »er hat es mir, da ich Urlaub nahm, feierlich bestätigt.«

»Er kommt als ein Gebannter«, murmelte Hermann. »Euch aber, edler Herr, beweise ich meine Achtung, wenn ich in diesem Lande den Rat gebe, helft Euch selbst und schlagt Euch als ein Freier durch alle Hindernisse. Sucht Ihr den Beistand eines erfahrenen Mannes, so werde ich immer bereit sein. Meine Bruderschaft aber [] gehorcht einem strengen Gesetz, sie naht freiwillig nur dem Kranken und dem Feinde, und sie verrichtet ohne Entgelt nur Werke des Erbarmens und des Krieges. Wer uns sonst gebraucht, muß uns rufen, und wer von uns begehrt, muß uns leisten. Denn nur unsern Dienst vor Augen, gehen wir still unseren Weg zwischen den Guten und zwischen den Argen und suchen beide für uns zu benützen. Deshalb ist der beste Wunsch, den ich für Euch hege, daß Ihr niemals unsern Beistand gebrauchen mögt.«

Ivo meinte, daß dies kalte Worte eines Mannes waren, den er im Herzen verehrte, und er nahm sich vor, die Dienste des Meisters und seiner Brüder solange als möglich zu entbehren. Er meldete seine Ankunft dem Herzoge von Limburg, welcher an Kaisers Statt Führer des Heeres war, und rückte mit seinem Gefolge an demselben Morgen auf die Ebene unweit des Strandes, wo die Zeltgassen verödet lagen. Sein Zelt wurde aufgeschlagen, einige leere Hütten gesäubert und ausgebessert, und es war für alle der erste frohe Augenblick seit vielen Tagen, als Henner das Wappenschild seines Herrn auf der gemalten Speerstange befestigte und, sein Haupt entblößend, rief: »Fliege in Ehren über getreue Herzen.«

Das Jahr neigte zum Ende, die Pilger freuten sich über die milde Luft der ersten Wintermonate, und Henner richtete hinter den Hütten eine kleine Rennbahn ein, auf welcher die Thüringe sich und ihre Rosse eifrig im Speerkampf übten. Wurde das ritterliche Stechen auch von der Kirche nicht gelobt, die Krieger durften sagen, daß sie es als Übung nicht entbehren konnten. Bald war die Bahn in dem trägen Lager ein gesuchter Ort, nicht nur Landsleute, auch Fremde sammelten sich darin, und über den Trümmern der gebrochenen Speere gewannen die Thüringe gute Kundschaft mit vielen fröhlichen Gesellen. Der Herzog von Limburg verstach selbst zuweilen gegen Ivo seinen Rohrschaft und rühmte den Helden und seine Ritter vor den Häuptern des Heeres.

Aber die Ungunst des Winters störte das sorglose Treiben. Ein kalter Nordost hinderte die Schiffahrt, die Zufuhr blieb aus, eine unleidliche Teuerung begann. Denn Weizen und Gerste, die unentbehrlichen Lebensmittel, wurden zumeist mit den Summen er kauft, welche fromme Christen des Abendlandes zu dem Kreuzzuge gesteuert hatten. Immer war die Verteilung unbillig gewesen, der kleine Haufe, für welchen Henner zu sorgen hatte, wurde gegen andere Scharen zurückgesetzt, die großen Bruderschaften und die mächtigen Gebieter nahmen gern das Beste vorweg, und mit viel scharfem Wortgefecht hatten die Thüringe kaum das Notdürftige behauptet. Jetzt war gar nichts zu erhalten, alle Beschwerden Ivos blieben fruchtlos; der Herzog schalt heftig auf die Verteiler, vermochte aber die Parteilichkeit nicht zu brechen. Und Henner mußte aus der Geldtasche, welche er als leichte Last über seinem Herzen [] bewahrte, den Tagesbedarf zu unerhörten Preisen einkaufen. Sein Zorn wurde größer, wenn er sah, wie wohlgenährt die Pferde vom Tempel und Johannes waren. Denn die Brüder hatten durch große Magazine weislich für ihren Bedarf gesorgt, sie besaßen eigene Lastschiffe und Unterhändler in anderen Häfen. Darum ging der Marschalk mit umwölkter Miene einher, bemüht, seinem Herrn die Not zu bergen. Unterdes suchten Lutz und Eberhard, die jungen, durch Jagdbeute der Küche zu helfen. Doch in der Nähe des Lagers war das Wild fast gänzlich getilgt, sie mußten weit in das Land ziehen und stießen mehr als einmal mit feindlichen Bodwinen zusammen, welche auf ihren Rossen schweifend das Lager umlauerten, und unter den braunen härenen Mänteln gerade dann hinter einer Erdwelle auftauchten, wenn die Pilger ein Rudel Rehe oder Gazellen beschlichen hatten. »Ein Glück, daß diese Heidetraber im weißen Hemde niemals einen Pfeil versenden«, tröstete sich Lutz, als er einen Rehbock durch einen Lanzenstich im Arme erkauft hatte.

Als Ivo einst in der Rennbahn ritt, erkannte er unter den Zuschauern weiße Mäntel der Templer, und Herr Peter von Montague, ihr Meister, kam grüßend heran und rühmte die gute Hofzucht der Pferde. »Sie haben nicht ihre volle Kraft«, antwortete Henner, ein wenig getröstet durch das Lob des stolzen Helden, der von dem ganzen Kreuzheere mit Scheu betrachtet wurde. »Schwer haben sie sich an das Futter des Landes gewöhnt, und jetzt wird es ihnen knapp zugemessen.«

Der Meister lächelte ein wenig und sagte im Davonreiten: »Solltet Ihr einmal Lust haben, Pferde Eurer Zucht zu verkaufen, so bitte ich, denkt vor andern an die Brüder vom Tempel.«

Henner sah ihm finster nach. Wenige Tage darauf begann Ivo beim Lageressen: »Feiern wir im voraus das Osterfest, ihr Herren? Täglich bietet der Koch gesottene Fische. Wie kommt es auch, Herr Eberhard, daß Ihr so verstört sitzt und den Arm verbunden tragt.«

»Ich fiel, als wir Fische aus der Bucht holten, von der Klippe in die See«, antwortete der Vasall, »und ich wäre nimmer aus der kalten Flut getaucht, wenn mich mein Geselle Lutz nicht an den Haaren herausgezogen hätte.«

Da stieß Henner plötzlich sein Schüßlein beiseite und große Tränen liefen ihm aus den Augen. »Es ist mir nur um die Pferde«, seufzte er, »sie wollen durchaus nicht mit Gräten vorliebnehmen.«

Ivo stand auf und winkte dem Marschalk ins Freie. »Sagt mir alles, Henner.«

»Die Geldtasche ist leer«, versetzte Henner, »wir sind am Ende.«

Ivo nahm die schwere Goldkette vom Halse, den einzigen Schmuck, welchen er trug: »Nimm.« Henner wog die Kette in der Hand. »Oft habe ich sie in Gedanken geschätzt, sie ist die letzte Bürgschaft für Eure Heimkehr.«

[] »Für die Zukunft vertrauen wir dem, in dessen Dienst wir hierhergekommen sind«, antwortete Ivo.

»Sie hilft auch nur auf kurze Zeit, Herr. – Eberhard trägt eine Schiene um den gebrochenen Arm und wird ihn den Sommer schwerlich im Ernste gebrauchen. Er sehnt sich heimlich nach Hause, nur daß ihn die Scheu abhält, Euch das zu sagen.«

»Und Ihr, Henner?«

»Ihr werdet doch nicht ohne mich und meinen Gesellen Lutz in Jerusalem einziehen wollen?«

Ivo zerriß die Kette in zwei Teile. »Die Hälfte sei für Eberhard und seinen Knecht zur Heimfahrt, die andere Hälfte für uns, damit wir aushalten. Zwölf Rosse hatten wir bis jetzt, verkauft die Hälfte den Templern, so bleibt dem Manne ein Pferd.«

Es war für Henner der schwerste Ritt seines Lebens, als er am Nachmittage in die Burg der Templer zog, die Pferde anzubieten. Der Meister empfing ihn mit ausgesuchter Höflichkeit. »Schätzt die Pferde selbst und empfangt zur Stelle den Preis. Wir füttern und gebrauchen sie für euch, begehrt ihr sie einst zurück, so mögt ihr sie wiederkaufen. Und findet ihr es zu schwer, unter eigenem Banner bessere Zeit zu erwarten, so wißt, daß meine Brüder sich freuen werden, euch von unseren Vorräten mitzuteilen, soviel ihr wollt.«

»Diese verstehen besser als andere, für sich zu werben«, sagte Ivo mit trübem Lächeln, als ihm Henner die Unterredung berichtete. »Mein Stolz gleicht einer Espe, von welcher der Sturmwind einen Ast nach dem andern bricht, unruhig zittern die Blätter der letzten Zweige, wie lange, und die karge Frist, welche wir erlangt haben, wird verronnen sein.«

Die Worte sollten bald Wahrheit werden. Die warme Frühlingssonne umkleidete wenige Tage darauf die Landschaft mit buntem Farbenglanz. Während in der Heimat die ersten Veilchen und Schneeglocken sich furchtsam an die kalte Luft wagten, leuchtete hier die Ebene gleich einem gestickten Teppich, die weißen Lilien und die Rosen öffneten die geschwellten Knospen, die Turteltauben girrten auf den Sykomoren und die Nachtigall schmetterte aus dem Zitronenhain ihre Lieder. In dem Lager liefen die Krieger zusammen, denn aus der Stadt bewegte sich unter Glockengeläut und geistlichem Gesange, geführt von dem Herzoge von Limburg und dem Patriarchen, ein langer Zug mit dem wallenden Banner der Marienbrüder; sie kamen nicht im kriegerischen Schmuck, sondern trugen Schanzzeug und Baugerät, und in langer Reihe folgten Lasttiere und Karren. Mit düsterem Blick sahen die Templer, welche bei Ivos Rennbahn hielten, auf den großen Schwarm, als er, das Kreuzlied singend, durch die Ebene zog, und der Johannesbruder barg nicht den Ausruf: »Niemals hätte ich gedacht, daß das Marienspital eine solche Schar für sich erbeuten würde.« Da dachte Ivo, daß es [] Deutsche waren, welche auszogen, und er folgte mit seinen Rittern. Eine gute Meile landeinwärts erhob sich ein ansehnlicher Hügel, an dessen Fuß mehrere weiße Häuser syrischer Landbauern glänzten. Der Zug erstieg die Höhe, die Karren wurden zusammengefahren, das Heer umschritt singend den Gipfel, dann trat es in großem Ringe zusammen, und der Patriarch rühmte, daß das beabsichtigte Werk eine heilige Tat und die Teilnahme daran für jeden heilbringend sei; er weihte die Stätte und erteilte den Segen. Darauf wurde die gesamte Schar unter Ordensbrüder verteilt und zur Arbeit geführt. Um den abgesteckten Raum begann ein Teil der Pilger den Graben zu ziehen und einen Wall zu erhöhen, während andere Haufen die Abhänge des Berges von Bäumen und Gestrüpp reinigten. Der Herzog von Limburg und der Ordensmeister taten den ersten Spatenstich, und beide arbeiteten tapfer mit Hacke und Grabscheit, ringsum klangen die Äxte und Hauen laut an Holz und Stein, denn wohl mehr als tausend kräftige Männer schufen am Werke.

Ivo sah eine Weile schweigend zu. Als dem Meister ein großer Stein, den er aus dem Boden heben wollte, abglitt, sprang er herzu, hob die Last und lachte, als der Meister ihn mit freundlichem Kopfnicken grüßte. Bald faßte er selbst eine Haue und half frisch bei der Arbeit. In der Rastzeit trat er zu Hermann und sprach, das Haupt neigend: »Nehmt mich zum Arbeiter an, auch für mich ist die Zeit gekommen zu dienen, und ich will es am liebsten für Euch tun, da Ihr mich im Namen unseres Volkes zur Pilgerfahrt geladen habt.«

Der Meister antwortete ernsthaft: »Ich empfange Euren Dienst, den Ihr mir als ein Freier bietet, Ihr aber nehmt, solange Ihr an unserem Werke schafft, auch unsere Hilfe für Euer Leben. Keine unrühmliche Arbeit ist es, edler Ivo, der Ihr Euch weiht. Dies ist streitiges Land zwischen uns und den Sarazenen, uns aber gehören die Meierhöfe, welche Ihr in den wonnigen Tälern vor uns seht. Starkenburg soll dies Kastell heißen, ein Schutz für Accon und zur Behauptung der Landschaft. Vielleicht sind auch schon die Stätten bestimmt, an welchen weiter abwärts die nächsten deutschen Burgen gebaut werden. Meine Brüder leiten die Arbeit, denn sie haben darin Erfahrung; Bruder Arnfried von Naumburg gebietet den Maurern auf der Höhe – Ihr seht ihn mit Richtscheit und Meßstock schreiten –, und dort unten bereitet Bruder Sibold aus Bremen ein Heerlager für die Arbeiter; diesem will ich Euch zuteilen.«

Ohne Freude empfing ihn der Alte: »Was fiel meinem Meister ein, daß er mir einen Gehilfen sendet, der zuverlässig nichts versteht als Rosse zu drücken und der außerdem ein Edler ist? Kennt Ihr das Geheimnis der Zahlen?«

»Wie der Knabe es auf dem Zahlbrett lernt.«

»Wißt Ihr die Zahlzeichen auf eine Wachstafel zu schreiben?«

[] Das wußte Ivo nicht. »Versteht Ihr die Linien auf diesem Pergament zu deuten?« und er hielt ihm einen gezeichneten Plan hin. Ivo fand die Linien unverständlich. Der Bruder bewegte mißbilligend das weiße Haupt: »Ich dachte mir's wohl, es ist geringe Freude, einen Ungeschickten zu lehren.«

»Habt Geduld mit mir«, bat Ivo, den aufspringenden Stolz unterzwingend. »Ich will mir eifrig Mühe geben, Euch zu gefallen.«

»Haltet wenigstens die Meßschnur«, gebot der Bremer, und Ivo faßte an.

Am Abend war es ihm gelungen, dem strengen Alten so weit zu gefallen, daß dieser sagte: »Ich sehe, Ihr seid willig. Dafür will ich Euch Zeichen in den Sand ritzen und erklären, damit Ihr sie morgen bei Sonnenaufgang merkt. Legt ein Brett darüber, sonst tilgt Euch ein plumper Fußtritt die Wissenschaft.«

Früh am nächsten Morgen saß Ivo auf dem Sande in der Wolljacke, ein Schurzfell um die Hüften, er zog mit einem Schnitzmesser gerade Linien auf ein dünnes Brett, sägte vorsichtig das umrissene Stück ab und rief, seine Arbeit in die Höhe haltend, dem Marschalk zu: »Wißt Ihr, Henner, was ein Winkel ist?« Er mußte die Frage wiederholen, denn rings um ihn krachten die Äxte; auch seine Ritter und Knechte waren in Werkleute verwandelt, welche Balken und starke Pfosten zurechthieben. Endlich antwortete Henner, seine lange Gestalt reckend und den Schweiß von der Stirne wischend: »Ich kenne nur einige Winkel in Erfurt, in welchen nicht viel Gutes zu finden ist. Doch die Heiligen hier haben andere Gewohnheiten als bei uns, für die Seele mag ihre Sitte heilsam sein, aber dem Rücken tut sie weh. Wir merken, Herr, daß dies die Heimat des heiligen Joseph ist, der, wie sie sagen, ein Zimmermann war.«

Wieder half Ivo dem Alten und war eifrig bei der Arbeit, denn er erkannte allmählich das Sinnvolle der Zeichen, welche er machen half. In der Mitte des Lagers sah er einen großen freien Raum, den Ring zum Marktverkehr und zur Sammlung beim Alarm, in der Mitte des Ringes das Wachthaus und dahinter nach der Zahl der Apostel die Stellen der zwölf Schenken und Kaufbuden, seitwärts den Kirchhof, auf dem die Kapelle der Jungfrau Maria gezimmert werden sollte. Von den vier Ecken des Marktes liefen vier Lagergassen nach zwei gegenüberliegenden Toren, und kleinere Gassen nach den Pforten auf den beiden anderen Seiten, längs der Gassen wurden die Hüttenräume für je zwölf Schüsselgenossen abgesteckt und in Quartiere geteilt; um den ganzen Raum wurde die Furche für den Wall und Graben gezogen.

Mit dem Werke gewann Ivo auch den Bruder lieb, denn er merkte wohl, daß dieser in seiner Art ein vielerfahrener und weiser Mann war. Als sie alles abgegrenzt hatten und die Pfähle mit verschiedener Farbe bezeichnet in Reihen standen, sah der Alte [] zufrieden auf sein Werk und sprach im Selbstgefühl eines Meisters: »Auch Ihr habt jetzt die Kunst gewonnen, ein Lager abzustecken, welches so groß ist, daß zweitausend Mann darin bequem wohnen und zugleich den Wall verteidigen können. Glaubt aber nicht, daß Ihr deshalb versteht, auch das Lager für weit größere Anzahl zu errichten, indem Ihr nach Eurer Willkür die Quartiere vergrößert, Ihr würdet nur ein ungefüges Werk zustande bringen und die Mannschaft würde sich entweder drängen oder nicht imstande sein, den ganzen Wall zu verteidigen. Denn jedes Maß ändert das andere, und eine Zahl hängt von der andern ab. Dies größere Geheimnis aber darf nur ich wissen und der Orden, denn der Lehrherr muß etwas vorausbehalten vor dem Lehrling.«

Das gab Ivo ergeben zu, und Sibold fuhr fort: »Diese Kunst, die wir jetzt üben, vermag man hier im fremden Lande nicht zu gewinnen, wo vieles unordentlich zugeht. Sie ist aber ein Geheimnis, das wir Nordfahrer und zum Teil Eure Nachbarn, die Magdeburger, ergründet haben, wenn wir mit unseren Meerschiffen den Strand der Heiden im kalten Osten anliefen oder unter den Fremden handelten. Merket auch, daß dieses Lager zugleich eine Stadt werden kann für die Siedler, wenn diese hier dauern. Wo wir das große Alarmhaus gesetzt haben, wird ein Stockwerk übergebaut für den Rat der Gemeinde, und die zwölf Apostel dahinter werden zwölf Kaufhäuser, aus den Lagergassen erstehen die Straßen und aus den Hütten die Wohnungen mit ihrem Hofraum. Dann mögen sich die neuen Burgmannen statt des Holzgerüstes eine Kirche bauen und statt des Pfahlwerkes eine Mauer errichten. Solche Werke gedeihen bei uns überall, wo die Kaufleute ihre Bank unter den Ostleuten aufschlagen und die Bauern ihnen nachziehen, um auf neuer Scholle zu siedeln.«

Ivo sah über das Lager auf die fruchtbare Landschaft, um sein Haupt sangen die Sommervögel, die Natur blühte und duftete, und er rief begeistert: »Wahrlich, keinen besseren Wohnsitz kann ich denken für Männer meines Volkes. Bald soll, wenn unser Schwert hilft, hier ein neues Heimwesen gegründet werden. Und ich denke, auch Euer Meister hat das gewollt, als er die Arbeiter bei der neuen Burg ansiedelte.«

Der Alte schwieg, endlich sprach er in seinen Gedanken: »Viel bin ich umhergezogen über das salzige Meer in Sturm und Eisfrost unserer Heimat. Und in manchem Lande fremder Menschen habe ich, als ich noch ein freier Mann war, die Warenballen aufgeschnürt, gekauft und getauscht, um in Reichtum meine Tage zu enden. Wisset, Herr, eine Sturmnacht vertilgte die Hoffnungen meiner Seele, zwei gewappnete Söhne versanken mir mit ihrem Schiffsvolk im Ostmeere. Seitdem wurde mir die Sorge um mein einsames Leben verächtlich und ich dachte oft an den Saal der [] ewigen Freude, in dem ich meine lieben Jungen wiederfinden könnte. Da übergab ich mich und mein Gut der Bruderschaft und kam in dieses Land. Mit gutem Grunde sagt Ihr, daß das Land erfreulich ist für Auge und Herz, und doch kennt Ihr noch wenig davon. Ich aber habe das Schönste darin geschaut, was einem Paradiese gleicht.«

»Ihr meint das heilige Jerusalem?« fragte Ivo.

Bruder Sibold schüttelte das Haupt. »Dort wurde der Herr gemißhandelt und gekreuzigt, und wenn sie auch sagen, daß große Verheißung an der öden Stätte hängt, mir war, als ich dorthin pilgerte, das Herz schwer bedrückt. Nein, ein anderes Tal preise ich, wo ich selbst sterben möchte. Seht dort, gerade vor uns, hinter den Bergen, liegt das gesegnete Nazareth, in wenigen Stunden könnte Euch ein Roß hintragen. Dort wuchs unser lieber Herr bei seiner Mutter und dem treuen Joseph auf. Dort stand ich mehr denn einmal als Waller, und ich sage Euch, nichts auf Erden gleicht der Seligkeit dieser Stunden. Denn ich sah in meinem Geiste das liebe Kind mit seinen treuen Augen vor mir, als es vor dem Hause saß und spielte, wie Kinder tun, und ich kniete an der Quelle, zu der ihn gewöhnlich seine Mutter schickte, das Wasser zu holen, und hörte in meinem Geiste, wie die Himmelskönigin, wenn er das Krüglein brachte, zu ihm sprach: ›Lütte Putje, wat vorsumst du di?‹ Da dachte ich an meine eigenen Jungen.«

Den Alten übermannte die Bewegung, er setzte sich auf einen Stein zur Seite und faltete die Hände. Ivo stand still neben ihm und legte den Arm über seinen Hals. Auch er dachte an die Heimat, obwohl kein blondhaariger Knabe seine Rückkehr erwartete. Nach einer Weile fuhr der Bruder traurig fort: »Ihr saget, aus diesem Lager hier mag eine Stadt unseres Volkes werden, und wie Ihr, denken vielleicht andere; ich aber sorge, diese Hoffnung wird nicht in Erfüllung gehen.«

»Die Ankunft des Kaisers steht bevor, Vater; vertraut auch Ihr, daß die träge Ruhe ein Ende nimmt und die Heiden vor unseren Waffen entweichen.«

»Wenn Waffen dies Land festhalten könnten«, entgegnete der Alte kopfschüttelnd, »so wäre es nicht verloren worden, trotz unserer Sünden. Wir Kaufmänner aus Bremen haben darüber andere Gedanken. Die Edlen und Ritter haben durch das ganze Land unablässig Burgen erhöht und unzählige Christen haben ihr Blut vergossen, sie zu behaupten. Aber das Beste wollte nicht gelingen, die Christen haben nirgend im Lande eine Stadt gebaut, und nur die Küste vermochten sie festzuhalten, weil die Schiffahrt und der Handel ihnen gehören. Denn eines fehlt hier, unsere Bauern und Arbeiter, die hinter dem Stadtwall hausen und von da das umliegende Land in Frieden bezwingen.«

[] »Mögen sie hier beginnen«, rief Ivo. »Viele kräftige Ackerleute unseres Volkes kommen in den Kreuz heeren.«

Da sprach der Alte leise: »Sie gehen wieder oder verderben, denn sie vermögen hier nichts. Wundervoll ist, was dieses Land den Menschen gewährt, und zwiefältig ist der Segen. Denn die Wolle wächst nicht nur auf den Schafen, sondern noch zarter auf einem Gesträuch des beackerten Bodens; den süßen Seim sammelt nicht nur die Biene, auch die Menschen kochen ihn aus einer kostbaren Rohrpflanze, die sie im Sumpfe bauen. Fremdländisch ist der Bau, und unsere Landsleute sind den fleißigen Syrern an Kunst nicht überlegen, sondern die Syrer ihnen. Und ebenso sind diese hier in vieler Handwerksarbeit voraus. Darum können unsere Landgenossen sich nur mühsam durch ihrer Hände Arbeit behaupten, und sie finden es leichter, als müßige Herren über den Arbeitern zu sitzen. Dies ist der Grund, daß unsere Hüttenlager sich niemals in Städte verwandeln, und deshalb wird um die Burgen der Kampf toben, solange wir hier sind.«

»Solange wir hier sind?« wiederholte Ivo. »Meint Ihr, Vater, daß die Christenheit einmal aus dem teuren Lande entweichen wird?«

Der Alte vermied die Antwort. »Ein Bremer Kaufherr hatte, da ich jung war, ein Sprichwort, welches viele verlachten: Der Untreue vergeht, der Redliche besteht. Ihr seid ein billig denkender Mann, und auch ich gehöre zu einer Bruderschaft, welche auf Treue hält, aber ich hörte manchen frommen Mann bitterlich klagen, daß die Sarazenen gerechter und wahrhafter sind als die Lateiner, denen auch wir zugezählt werden. Das beachten die alten Einwohner dieses Landes sehr wohl, auch wenn sie Christen sind; und sie werden darum den Sarazenen williger dienen als uns Abendländern. Wenige wagen davon zu reden, einer aber weiß es, der vorsichtig für uns alle denkt.« Und der Alte wies nach dem Hügel, auf dem der Meister seiner Bruderschaft stand.

Während Ivo in der Fremde, da, wo er kühne Rittertat gehofft hatte, die Meßschnur hielt und den friedlichen Lehren des alten Bürgers lauschte, war in seiner Heimat der Friede geschwunden und eine gepanzerte Faust hob sich gegen die andere. Vor andern erfuhr die schuldlose Frau Else mit ihren Kindern die Rache des Schicksals. Wie ihr Gemahl sein Schwesterkind aus den Burgen von Meißen verjagt hatte, ebenso trieben jetzt die Brüder des Landgrafen sie mit ihren Kindern aus der festen Wartburg, und die Thüringe erzählten einander mit Schrecken, daß die Landgräfin zu Fuß aus der Burg gewandert war und wie eine Bettlerin mit ihren Kleinen Obdach in der Stadt Eisenach erbeten hatte. Der tote Landgraf hatte aber auch als strenger Herr die Raublust in den Bergen gebändigt und mehr als einen frechen Missetäter gezwungen, [] barbeinig und auf den Knien Genugtuung zu geben. Jetzt brannten überall neue Fehden auf, man sah den Himmel oft von niedergesengten Höfen gerötet und vernahm von geblendeten Bauern und weggetriebenen Herden.

In dem Hofe Ivos stand der alte Godwin trübe zwischen Ställen und Scheuern. Von den entfernten Dörfern kamen unwillkommene Nachrichten, noch hielt die Teuerung an und viele Hintersassen waren nicht imstande, dem Herrenhofe die Gebühr zu leisten, andere entzogen sich aufsässig ihren Pflichten, da die Hand des Gutsherrn nicht über ihnen war. Zwar sollten Hof und Gut den hohen Frieden genießen, welchen die Kirche verkündet hatte, aber mancher gewalttätige Nachbar umlauerte die Grenzen und enthielt sich durchaus nicht eigennütziger Eingriffe. Auch der alte Graf Meginhard kam mit seinem Gefolge über die Brücke geritten, rief die Hofleute herrisch an, sah in die Ställe und saß in der Halle nieder, weil er bei der langen Abwesenheit seines Neffen um das Erbe des Geschlechtes zu sorgen habe; und am greulichsten war dem Kämmerer, daß sogar Ritter Konz unverschämt über den Hof schritt und ein junges Roß von der besten Zucht am Halfter aus dem Stalle führte, um es nach der Mühlburg zu nehmen. Nur mit Mühe vermochte Godwin durch den alten Grafen diese Gewalttat zu hindern.

Lange hatte der Kämmerer ungeduldig nach Nikolaus ausgesehen, der ihm lieber gewesen war als den anderen Rittern des Hofes und der ihm jetzt Nachricht aus Welschland bringen sollte. Aber der Schüler blieb lange aus. Und als er endlich spät im Winter zurückkehrte, war sein Übermut ganz geschwunden und er wollte wenig von dem berichten, was er selbst erlebt hatte.

Auch ihm war nicht alles wohlgelungen. Ivo hatte, während er, vom Kaiser festgehalten, bei Otranto auf die Abfahrt wartete, zuweilen wieder die Saiten der Harfe gerührt und ein neues Lied an die Herrin erdacht. Vor dem ersehnten Tage der Abreise legte er seinem Liedergesellen Nikolaus die Verse ans Herz, damit dieser sie, wie er bisher getan, vor den Landsleuten singe, und Ivo machte ihm vor allem zur Pflicht, nach Augsburg an das Hoflager des jungen Königs Heinrich zu gehen, sich dort in den Haushalt der Gräfin von Meran zu schmeicheln und das Lied vor ihr und ihren Frauen zu singen. Dies war für Nikolaus ein willkommener Auftrag. Denn er ließ seine Stimme am liebsten vor schönen Frauen ertönen. Als er nach Augsburg kam, erkundete er leicht das ansehnliche Turmhaus, in welchem die Herrin wohnte. Er fand einzelne aus dem Gefolge, denen er schon einmal bei den Landgräflichen in Thüringen vorgesungen hatte, und gewann den Eintritt in die untere Steinhalle. Schnell machte er die Hofleute, welche darin saßen, durch seine Lieder und Scherzreden gutwillig und [] lauerte auf eine Gelegenheit, die ihm das Gemach der Herrin öffnen würde. Als Frauenrosse an das Tor geführt wurden und zierliche Hofknaben zur Schwelle eilten, um der Gebieterin aufzuwarten, trat er aus der Halle in den Flur, stellte sich so auf, daß man ihn sehen mußte, griff in die Saiten der Harfe und hob mit lauter Stimme den Ton des Herrn Ivo an. Eine verhüllte Frau, welche, gestützt auf den Arm ihres Kämmerers, herankam, hielt still, sobald sie den Gesang vernahm, und hörte einem Verse aufmerksam zu, dann winkte sie mit der Hand und sprach: »Eine wohltönende Stimme ward Euch zuteil, Sänger, und gern vernehme ich bei Gelegenheit mehr davon, meldet Euch, wenn Ihr wiederkommt, vor meiner Kammer.« Sie rauschte vorüber und wurde auf das Roß gehoben, während der Schüler, seines Glückes froh, sich tief verneigte. Aber sein Behagen ward jämmerlich gestört, als ein Herr mit braunem, gefurchtem Gesicht, welcher einem Welschen glich, in den Flur trat und mit scharfer Stimme gebot: »Führt den Fahrenden in mein Gemach und harret vor der Tür.« Sogleich fühlte sich Nikolaus gepackt und widerwillig fortgeschoben. Als er im verschlossenen Gemach dem Fremden gegenüberstand, sprach dieser: »Auch ich bin ein Freund des Gesanges. Sing mir das Lied, das du unten an der Tür erschallen ließest.« Der Schüler hielt für das beste, dem unfreundlichen Mann seinen Willen zu tun. Dieser hörte abgewandt zu. »Ich kenne die Weise deines Liedes, denn öfter wird nach derselben in diesem Hause gesungen. Mit welchem Namen benennt ihr Sänger die Weise?«

»Es ist der Ton des Herrn Ivo«, versetzte Nikolaus, »und er heißt so, weil der edle Ivo von Ingersleben in diesem Tone zu dichten pflegt.«

»Du aber bist der Fahrende, der in seinem Solde singt?«

»Ich bin, wie Ihr seht, ein lateinischer Schüler und singe seine Lieder.«

»Und dein Herr hat dich gesandt, damit du sie in diesem Hause singen sollst?«

Solche Frage dünkte den Schüler ungehörig. »Ich sang das Lied hier, wie ich es überall singe, wo man mich hören will.«

Im nächsten Augenblick fühlte er die Spitze eines Dolches an seinem Halse und vernahm entsetzt die Worte: »Gesteh, oder dies Eisen durchbohrt dir die Kehle.« Da vermochte er in der Todesangst die Wahrheit nicht zu bergen, zumal sie ihm nicht verboten war, und seufzte: »Es ward mir befohlen.«

»Und wie heißt die Dame, vor der du singen solltest?« Da nannte er traurig den Namen. Der Herr öffnete die Tür und gebot den Dienern: »Faßt die Riemen und geißelt ihn hinaus. Läßt du dich noch einmal in diesem Hause oder in der Nähe blicken, so hast du zum letzten Male das Sonnenlicht geschaut.«

[] Behende entsprang Nikolaus den Knechten, eilte in die Herberge und kehrte noch an demselben Tage der ungastlichen Stadt den Rücken. Lange war ihm aller Gesang verleidet, auch die Rückkehr in den Edelhof mißfiel ihm, denn er gedachte, daß er in seiner Angst die Wahrheit gesagt hatte, wo sie seinem Beschützer nicht frommte. So flatterte er unstet umher wie ein Vogel, dem der Marder das Nest zerrissen hat, und erst die Winterkälte trieb ihn unter das schützende Obdach.

Er hütete sich, Herrn Godwin etwas von seinem Abenteuer zu gestehen, als er aber in den Hof des Richters kam und Friderun ihn mit herzlicher Freude empfing und das Beste hervorholte, was sie aus Küche und Keller ihm anzubieten hatte, da ging ihm das Herz auf, und nachdem er die ganze Reise des Herrn Ivo bis zum Hafen berichtet und vielen Fragen der Magd geantwortet hatte, vertraute er ihr auch über den Herd hinüber einiges von seinem späteren Schicksal, vor allem den Unglimpf, welchen er im Dienste des Herrn Ivo erfahren hatte, und er freute sich, daß Friderun ihn dabei aus ihren großen Augen so entsetzt anstarrte, als hätte sie selbst das Unglück erlebt. Da er aber zuletzt gedrückt hinzufügte: »Ich sorge, die Dame selbst oder eine ihrer edlen Frauen ist seine Herrin«, und darauf zu der Magd hinübersah, war ihr Sitz leer und sie selbst wie ein Geist verschwunden.

Dagegen stand in der Tür eine große Gestalt und die Hand des Richters fiel schwer auf seine Schulter. »Ihr haltet übel den Vertrag, dem Ihr Euch gelobtet.«

Beunruhigt durch die finstere Miene des Alten, sagte Nikolaus: »Ich dachte, Herr, die mühsame Arbeit sei Euch selbst verleidet.«

»Ich aber rate Euch, daß Ihr Eures Eides gedenkt«, versetzte der Alte feierlich. »Folgt mir, denn die Zeit ist gekommen, wo Ihr mir deuten sollt, was ich selbst nicht zu lesen vermag.« Er führte den betroffenen Schüler in die Kammer, öffnete die Truhe, hob einen Pack heraus, den er sorgfältig in Leinwand geschlagen hatte, und enthüllte eine Anzahl Pergamentblätter, gebräunt und vielgebraucht, das Außenblatt durch dunkle Flecke entstellt. Der Richter setzte den Daumen an die Flecke. »Der mir dies gab, sagte aus, daß hier Blut eines Mannes ist, welcher getötet wurde, weil er diese Blätter zu lesen vermochte.«

Nikolaus sah entsetzt auf das Pergament, sein Grauen überwindend, schlug er die Blätter um, aber er legte sie nach wenigen Augenblicken wieder weg, sein rötliches Antlitz war erblichen und seine Augen fuhren angstvoll umher, während er den durchbohrenden Blick des Richters auf sich gerichtet fühlte.

»Versteht Ihr, was in dem Buche steht?«

»Es ist die Verkündigung, welche sie das Evangelium des Markus nennen, und es ist in deutscher Sprache geschrieben. Diese [] Bücher sind ein Geheimnis der Unseligen, welche von den Pfaffen Abtrünnige und Ketzer genannt werden. Ein solches Buch lesen, bringt, wie ich fürchte, den Tod.«

»Gilt bei den Schriftkundigen für Wahrheit, was hierin geschrieben steht?«

»Es ist ein Teil der heiligen Offenbarung.«

»Dann will ich es verstehen trotz aller Pfaffen«, rief der Richter mit starker Stimme, »was mir auch darum geschehe. Denn ich erkenne, nicht umsonst wurde das Buch in mein Haus getragen. Vernehmt, Nikolaus, am Tage, wo ich meinen Sohn verlor, forderten mich die Kreuzbrüder zur Hilfe bei einem guten Werke. Einen Landfahrer, der auf der Straße verwundet worden, nahm ich auf und half ihm zur Genesung. Er war ein Mann, der wegen der Pfaffen aus seiner Heimat am Rhein entwichen war, flüchtig zog er gen Osten, um sein Haupt unter dem Böhmervolk zu bergen. Das einzige, was ihm die Räuber gelassen hatten, war diese hohe Verkündigung. Ich habe manche Nachtstunde neben ihm gesessen und seltsame Worte gehört, und ich sage Euch, er, der heimatlos auf Erden umherirrte, war ein frommer Mann, der unserm himmlischen Vater unter Tränen diente. Vieles hat er mir gesagt, was hier ungesprochen bleibt, und große Worte hat er mir zugeraunt von dem Tage, an welchem Himmel und Erde vergehen werden und den niemand weiß, nicht die Engel, auch nicht der Sohn, sondern nur der Vater; und dazu andere Worte, die zu seiner Zeit der Herr Jesus in Todesnot gesprochen hat: ›Vater, nicht wie ich will, geschehe, sondern wie du willst.‹ – Habt Ihr jemals diese hohe Rede vernommen?«

»Ich kenne die Worte«, antwortete der Schüler mit gesträubtem Haar.

»Diese Stellen in dem Buche will ich selbst erkennen, damit ich die Wahrheit erschaue. Dies sind Worte, die ein treuer Sohn zu seinem Vater sprechen muß, und sie sind der Grund eines echten Glaubens; denn ich hoffe, auch im Himmel gilt der Vater mehr als der Sohn, und was uns die Pfaffen von der gleichen Würde des Sohnes vorreden, ist Trug.«

»Schwer ist es, Richter, die Verkündigung zu verstehen, und ich lobe die Bescheidenheit des Mannes, der in so großer Sache der Deutung weiser Lehrer vertraut.«

»Wer sind die weisen Lehrer?« fragte der finstere Richter. »Sind es die Mönche, welche betteln, oder die andern, welche sich mit den größten Weinfässern im Lande berühmen? Ist es der Papst, der unsern Herrn Kaiser in den Bann getan hat, während dieser die Fahrt zum Heiligen Grabe bereitet? Die Welt ist zerrüttet und die Rachsucht tobt, wo Liebe herrschen soll und Erbarmen. Ich aber bin ein Richter und führe Schwert und Strang gegen die Missetäter, [] ich will auch Richter sein über Recht und Unrecht in dem Glauben, an dem meine eigene Seligkeit hängt. Wenn mir jemand klagt, dieser Mann hat Missetat geübt, so lade ich die Zeugen; jetzt will ich Zeugen rufen in einer Sache, die mir zumeist am Herzen liegt.« Und er legte die Faust auf das Pergament.

Bis zu den Messern am Grenzstein

»Der Kaiser kommt«, riefen die Kreuzfahrer einander freudestrahlend zu, als ein schnelles Ruderschiff die Nachricht von Accon gebracht hatte, daß Friedrich mit seiner Flotte auf Cypern gelandet sei. Mit gehobenem Haupt schritten die Deutschen einher, auch die Partei des Papstes: Lombarden und Provenzalen, Templer und Johannesbrüder vermochten das frohe Gefühl nicht zu unterdrücken, daß jetzt die träge Ruhe zu Ende sei und eine große Entscheidung bevorstehe. Der Kaiser kam als Gebannter und kam gegen den Willen des Papstes, der den verspäteten Kreuzzug vor der gesamten Christenheit als neuen Frevel und Ungehorsam verklagt hatte. Aber daß er dennoch sein Gelübde erfüllen wollte und daß er in stolzem Mute wagte, trotz der Verdammung des Heiligen Vaters im Dienst des Erlösers zu kämpfen, das fesselte für den Augenblick die Herzen der Menschen in Bewunderung und hemmte die Bosheit der Unversöhnlichen. Und als Kunde auf Kunde einlief, daß der gewaltige Herr das ganze Königreich Cypern ohne Schwertstreich, nur durch die Wucht seines Willens und durch blitzschnelle Überraschung unter seine Gewalt gezwungen habe und daß er seine hochfahrenden Gegner gleich Unterworfenen mit sich führe, da bezwang die Furcht selbst die Unbotmäßigsten; die Fürsten von Antiochien und Tripolis, alle Grafen und Barone des nördlichen Syriens riefen nach ihren Rossen und beeilten sich, gen Accon hinabzuziehen, um dem Oberherrn der Christenheit zu huldigen. Die Johannesbrüder luden ihre Komture aus den großen Burgen am Libanon, um dem Kaiser die Helden ihrer reichen Genossenschaft vorzustellen, und sogar die hochfahrenden und eigenmächtigen Templer beschlossen, sich vorläufig vor der überlegenen Macht zu beugen. Da endlich seine Flotte in Sicht kam, strömte alles nach dem Hafen, die Edlen, die Kreuzfahrer, die Bürger der Stadt, und er setzte seinen Fuß auf den Boden des Gelobten Landes unter einem Jubelgeschrei, das bis zum Himmel stieg. Auch der Patriarch mit seinen Bischöfen stand grüßend am Ufer, und der Kaiser beachtete wenig, daß der Stellvertreter des Papstes ihm, weil er gebannt war, den Friedenskuß versagte. Sein Antlitz strahlte vor Freude, als er die Führer der Christenheit und einen unzählbaren Schwarm des Volkes vor sich sah, wie sie niederknieten und begeistert [] die Hände zum Himmel hoben, um ihn als Kaiser und Herrn und als ihren Retter zu begrüßen.

Groß war die Freude der Christen, doch noch größer die Bestürzung der Mohammedaner. Zu ihnen flog die Kunde, daß der große Emperor gekommen sei, wie ein Wüstensturm, der den Horizont mit rotem Dampfe verhüllt, Wolken von heißem Sande aufwühlt und durch seinen Atem das Mark der Glieder und das Grün des Bodens versengt. In jedem Weiler und in jeder Burg der Sarazenen lauschten die Leute der Verkündigung, in den Oasen der Wüste saßen die Haufen der Bodwinen, nachdenklich die Bärte streichend, und die wilden Krieger des Libanon, die den Sarazenen verfeindet waren wie den Christen, sprengten durch die Felsschluchten und schrien die Neuigkeit in die Täler. Es war nicht das kleine Kreuzheer, welches den eingeborenen Söhnen des Ostens solche Scheu einjagte, ihre Späher hatten oft in die leeren Lagergassen der Christen geschaut und auch die Schiffe der kleinen Flotte gezählt, welche der Kaiser heranführte. Es war der Name des einen Mannes, der die Kühnsten mit banger Sorge erfüllte. Nicht grundlos war die Scheu, mit welcher sie ihn betrachteten, denn sie hatten im Guten und Bösen die Gewalt seines Wesens erfahren. Er hatte Sizilien den Helden ihres Volkes entrissen, jeden Widerstand niedergeschlagen, alle seine Feinde vom Erdboden vertilgt. Sie wußten, daß er erlittene Kränkung nicht vergaß und daß er Untreue zu rächen wußte, ausdauernd, kalt die Stunde erwartend, aber sicher und erbarmungslos gleich einem Geiste der Luft, der unsichtbar den tötenden Hauch entsendet. Doch wie er sie mit Schrecken erfüllte, so verstand er ihnen auch zu gefallen durch vornehmen Stolz, durch sein prachtvolles Wesen und durch das hochsinnige Vertrauen, welches er den unterworfenen Bekennern des Islams schenkte. Denn aus ihnen wählte er die Leibwache, die ihn immer umgab. Mit den Sultanen der Sarazenen verkehrte er durch Gesandte wie mit stammverwandten Fürsten, und gern tauschte er mit ihnen Geschenke; die arabischen Gelehrten und Dichter pilgerten zu seinem Hofe, er selbst kannte ihre heilige Sprache und hatte Verständnis für die Weisheit und Kunst des Morgenlandes. Wo er als Herr waltete, hielt er streng darauf, daß die Mohammedaner in ihrem Glauben nicht gestört wurden, ihre Muezzins riefen in Palermo und Messina zum Gebet wie in Kairo und Damaskus, und gern verkündeten ihre weisen Männer, daß er kein Christ sei wie die andern, sondern eher ein Bekenner des Propheten. Während das Mißtrauen der päpstlichen Partei jede Tat seines Lebens feindselig deutete, empfing ihn die Bewunderung der Ungläubigen als einen Mann, der an Stärke und Weisheit allen überlegen sei.

»Hier hast du mich«, rief Friedrich fröhlich dem Bruder [] Hermann zu, »denke an den Abend von Otranto, es ist gekommen, wie ich hoffte.«

»Auch wie ich fürchtete«, antwortete der Meister ernst.

»Ja«, sagte der Kaiser, »der Alte hat mir Not genug gemacht; dennoch verspreche ich dir, ich gehe nicht eher von hier fort, bis ich dich und deine Brüder in Jerusalem eingeführt habe. Vermögen wir nicht mit dem Blitz zu treffen, so wollen wir durch Donner betäuben. Vor allem will ich deinen Mißgönnern von St. Johann die Herrenfaust zeigen. Beim Einfahren sah ich Brüder vom weißen Kreuz in der Maut lagern, sie sollen sogleich erfahren, daß dieser Hafen mit seinen Einkünften mir gehört. Und wir werden das Geld gebrauchen. – Das Heer muß aus der verdorbenen Luft hinein ins Land.«

»Die neue Burg ist geschanzt, welche des Kaisers Heerlager gegen Sultan Elkamil decken soll«, versetzte Hermann.

»Du tust immer still das Richtige«, lobte der Kaiser. »Wo lagern die Sarazenen?« Und zur Stelle begann ein eifriger Austausch von Nachrichten.

Unterdes stand Ivo in der Halle des Königsschlosses unter einer glänzenden Versammlung von Edlen. Als der Kaiser mit seinem Gefolge eintrat, erscholl wieder donnernder Jubelruf, und er dankte mit sichtlicher Freude. Einer der Herren nach dem andern nahte huldigend, und da auch Meister Montague vom Tempel sein Knie beugte, flog ein Lächeln des Triumphes über das Antlitz Friedrichs, und er ließ ihn einen Augenblick knien, bevor er ihn aufhob und küßte. Während er den knienden Ivo erhob und mit einem Kuß ehrte, sagte er leise: »Ihr seid einer von den Treuen, und hier gedenke ich Euch nicht von mir zu lassen. Denn Ihr seid erwählt, die deutschen Ritter anzuführen, mit denen ich mich umgeben will. Einst wart Ihr zu stolz, die Reise mit meinem Golde zu rüsten, jetzt lege ich Euch an eine goldene Kette.«

Als Ivo in das Gemach des Kaisers trat, sich für den neuen Dienst zu melden, fand er den Herrn im Gespräch mit einem Edlen, dem sein schwarzes kurzgeschnittenes Haar und das hagere, gefurchte Gesicht das Aussehen eines Italieners gaben. »Kennst du den Edlen von Ingersleben, Humbert?« fragte Friedrich und setzte, zu Ivo gewandt, hinzu: »Mein Vetter, der Graf von Meran.«

»Ich sah den Herrn niemals vor diesem Tage«, antwortete der Graf stolz.

Der Kaiser setzte sich und betrachtete mit stillem Behagen die beiden Helden, welche sich förmlich gegeneinander neigten. »Vertragt euch unter dem Kreuz als gute Gesellen«, riet er gemütlich. Als er den Grafen entlassen hatte, berührte er mit der Hand die Schulter Ivos da, wo er einst die Stickerei eines Tuches gemustert hatte, und sagte, auf die Tür deutend, vertraulich: »Er ist still und [] scharf. Mir hat er gute Dienste geleistet, da wir beide jünger waren und ich im Kampf gegen die empörten Sarazenen Siziliens. Diese haben zuweilen erkannt, daß er Feinde nicht schont. Ihr wißt vielleicht, daß er durch Heirat mei nem Hause nahe verbunden ist; ihn und sein Gemahl habe ich nach Deutschland weggegeben, damit der junge König Heinrich, der die Nähe des Vaters entbehren muß, von Angehörigen meines Geschlechtes beraten sei. Zu der Kreuzfahrt lud ich den Grafen, weil er mit Sprache und Brauch der Sarazenen so gut bekannt ist wie wenige. Könnt Ihr nicht sein Freund sein, Ivo, so seht zu, daß er nicht Euer Feind wird, denn er ist seinen Gegnern lästig. – Aber ich habe noch jemanden, der Euch kennen muß.« Er schlug dreimal an eine tönende Erzschale. Durch eine Seitentür trat ein alter Mann herein mit scharf geschnittenen Zügen und forschenden Augen in langem wallenden Gewande. »Dies ist mein Lehrer Omar«, sprach der Kaiser herzlich, »einer von den Weisen, der die tiefen Geheimnisse der Zahlen und der Sterne versteht und der auch aus den Seelen der Menschen Geheimes zu lesen weiß. Betrachte diesen, Omar, und suche von ihm die Konstellation zu erfahren, wenn er selbst die Stunde seiner Geburt kennt, denn meine Deutschen sind darin sorglos.«

Der Araber schaute prüfend auf den jungen Helden, dem dabei gar nicht wohl zumute war, er bat ihn, seine Hand zu öffnen, und nickte zufrieden, als Ivo nicht nur das Jahr der Geburt zu sagen vermochte, sondern auch, daß er am hohen Pfingstsonntag geboren sei, gerade als das Glöcklein zur Mette läutete.

Seit diesem Tage wurde Ivo von dem Kaiser mit so gütigem Vertrauen behandelt, daß er sich selbst darüber wunderte und daß der Neid anderer erwachte. Vielleicht verdankte er die unerwartete Gunst einem Horoskop, welches Omar anfertigte, vielleicht einem andern geheimen Bande, welches ihn nach der Meinung des Kaisers zu treuem Dienst fesselte.

Im glänzenden Kriegerschmuck, mit wehenden Bannern rückte der Teil des Kreuzheeres, welchem der Kaiser am meisten vertraute, aus der Nähe des Hafens zwei Tagemärsche in das Land. Am Ufer eines klaren Baches wurden die Gassen gezogen, die Zelte geschlagen; jeder lebte in ungeduldiger Erwartung des Kampfes, denn drei Sarazenenkönige zogen mit ihren Heerhaufen heran, und der mächtigste von ihnen, Elkamil, Sultan von Ägypten, welcher die Herrschaft über Palästina an sich gerissen hatte, lagerte so nahe, daß jeden Tag ein Zusammenstoß zu erwarten war. Doch keine Posaune rief zum Kampf, nur Gesandte der Christen und Sarazenen ritten zwischen den beiden Heerlagern.

Unterdes wurde es nicht leicht, das Heer zu ernähren, am schwersten, den Rossen das Futter zu schaffen, die leichten Reiter der Sarazenen streiften umher, lauerten hinter Felsen und Sandhügeln, [] und die ausgesandten Haufen der Christen hatten fast täglich kleine Kämpfe zu bestehen und kehrten oft vergeblich zu rück, gemindert an Zahl und Vertrauen. Einst erhielt Lutz den Befehl, mit einer Anzahl Knechte nach Lebensmitteln auszureiten. »Ich denke mit gefüllten Karren heimzukommen oder gar nicht«, sagte er, des Auftrages froh, zu Henner. Bei früheren Jagdfahrten war er viel durch das Land gestreift, auch diesmal wußte er seinen Zug auf Umwegen weit hineinzuführen, bis er von der Höhe auf ein Tal blickte, das, von einer reichen Quelle bewässert, in tiefem Frieden dalag. »Hier hat noch niemand gesengt, die Häuser sind unversehrt, ich sehe Kamele und weidende Rosse.« Die Reiter wanden sich durch ein Gehölz vorsichtig in den Grund, wo ihr plötzliches Erscheinen arge Verwirrung hervorbrachte. Eine kleine Karawane hatte sorglos am Quell gerastet, verhüllte Frauen rannten zu den Kamelen und ihre Wächter sprangen zu den angepflöckten Rossen. Doch sie wurden umringt und entwaffnet, bevor sie zum Widerstand bereit waren, und Lutz rief ihnen durch den syrischen Dragoman zu: »Werft euch mit den Gesichtern auf den Boden und rührt euch nicht, an euch ist uns wenig gelegen.« Die Knechte durchsuchten die Häuser und öffneten die gemauerten Gruben, in denen das Getreide lag. Während sie aber hastig die Karren beluden, kam von der entgegengesetzten Seite ein anderer Haufe des Kreuzheeres herangejagt mit ähnlicher Absicht; Lutz erkannte die Mäntel der Johanniter und ritt ihnen entgegen: »Sucht euch andere Gelegenheit, hier sind wir Wirte.«

»Wir teilen die Beute«, rief ein Bruder, »oder, beim heiligen Kreuz, ihr sollt gar nichts erhalten, denn wir sind die stärkeren.«

»Wir aber waren die ersten«, versetzte der Thüring, »und deshalb füllen wir vor euch.« Er gab seinen Begleitern das Zeichen, vorzusprengen, und gebot, die Karren zum Schutz des kauernden Haufens an den Seiten aufzufahren. »So halte ich meine Speerbeute in der Wagenburg geschlossen«, rief er; »will einer von euch durchbrechen, so erhält er Hiebe.«

Die Brüder ritten scheltend und drohend durcheinander, ihr Führer schrie zornig herüber: »Hört meinen letzten Vorschlag, nehmt eure Säcke und macht euch davon, uns aber laßt die Weiber und Kamele.«

»Ihr seid gütig«, spottete Lutz. »Ich will euch nicht in Versuchung bringen, euer Gelübde zu brechen. Wir halten Quell und Tal besetzt und haben keine Eile, abzuziehen, seht zu, ob ihr's so lange aushaltet wie wir«, und er rief zu den Karren zurück: »Nehmt einen Hammel, ihr Knaben, und bereitet säuberlich eine Mahlzeit, denn wir fühlen Hunger.«

»Ihr seid ganz nahe an dem Lager der Sarazenen«, mahnte der Bruder, »jeder Augenblick Säumen kann euch die Todespforte [] öffnen. Ganz unsinnig muß ich euch schelten, daß ihr so sorglos lagert.«

»Bedrängt euch die Nähe, so macht euch fort«, antwortete der Thüring, »ich gedachte euch, wenn ihr ruhig harret, von dem gebratenen Hammel anzubieten.«

Die Brüder zögerten, Gewalt zu brauchen, denn obgleich ihr Gewissen sie nicht gehindert hätte, den Gegner anzufallen, so scheuten sie doch das strenge Lagergesetz.

»Wisset, starrköpfiger Deutscher, daß wir ausgeschickt sind, den Haufen zu fangen, welchen ihr zwischen den Karren festhaltet. Es ist wertvolle Beute, denn die Weiber sind aus dem Harem des Sultans, und uns ward ihre Reise verraten, Wagt ihr sie zu weigern gegen den Befehl unseres Feldherrn?«

»Gewiß weigere ich sie«, entgegnete Lutz. »In meiner Heimat ist nicht Brauch, daß ein Ritter auf den Fang von Weibern ausgeht, sondern diese haben Frieden bei den Fehden der Männer, zumal edle Frauen. Gehören die Verhüllten zum Hofhalt des Sultans, so sollt ihr sie erst recht nicht erhalten.« Und als er so für die fremden Frauen sprach, fiel ihm der Vorwurf ein, den sein Lehrer ihm zuweilen machte. »Niemals trifft sich eine bessere Gelegenheit, dem Mangel abzuhelfen.« Er gebot seinen Begleitern: »Fällt die Speere, daß sie nicht gegen euch vorbrechen«, und den Dragoman rufend, ritt er zum Haufen der Gefangenen und begann mit höflicher Handbewegung: »Ist eine Edle unter den Frauen hier, so ersuche ich sie in allen Ehren, daß sie für mich ein Stück ihres Schleiers abschneide und mir freiwillig übergebe, damit ich ihr als Ritter dienen kann, denn ich gedenke nicht zu leiden, daß jene schreienden Helden euch wegführen.«

Eine der Frauen, welche mit verhülltem Gesicht an dem Kamele lag, erhob sich, riß einen Zipfel ihres Schleiers ab und hielt ihn dem Ritter hin; Lutz erkannte, daß zwei dunkle Augen ängstlich auf ihn starrten. Er dankte ehrbar. »Dagegen weihe ich mich Eurem Dienste, habt die Güte, jetzt ein wenig aufzublicken«, und sein Roß spornend, rief er den Brüdern entgegen: »Wisset, ich bin Ritter jener weißen Taube geworden, und wenn ihr etwas gegen ihre Freiheit und Ehre sinnt, so werdet ihr mir einen Speerkampf nicht versagen. Werft ihr mich, so folgt euch die Dame, werfe ich euch, so laßt mich die Schweife eurer Rosse so bald als möglich sehen. Das ist ehrliche Bedingung.«

Die Langmut des Johanniters war zu Ende, mit einem lauten Fluch wandte er sein Pferd zum Anlauf, beide rannten gegeneinander, und als die Speere gebrochen waren, zogen sie die Schwerter und schlugen, daß die Helme klangen. Da gab einer der Brüder ein schrilles Zeichen, der Johanniter wandte sein Pferd, und alle jagten, so schnell sie vermochten, von dannen.

[]

»Ich sehe, was Euch den Kampf verleidet«, rief Lutz, als eine Schar Sarazenen in der Entfernung sichtbar wurde. »Ihrer sind viele, und wir müssen auf den Rückzug denken.« Er berührte den alten Haremswächter mit der Speerstange. »Ihr Fledermaus, der Ihr weder Vogel noch Maus seid, nehmt Eure Damen unversehrt in Empfang«, und sich zu der Verhüllten wendend, welche dem Kampf vom Rücken des Kamels zugesehen hatte: »Ihr seid frei, Herrin, erweist auch mir die Gunst, jenen dort Stillstand zu gebieten, während ich meine Karren abwärts führe. Lebt wohl, ich fürchte, daß ich Euch niemals wiedersehe und mein Lebelang die Sehnsucht nach Euch herumtrage.«

Die Frau sprach einige arabische Worte zu dem Alten, welcher den Sarazenen entgegenritt. Lutz aber gebot, noch schnell auf die Karren zu werfen und über die Sättel zu hängen, was erreichbar war, deckte die abfahrende Ladung und gelangte glücklich an das Lager, ohne von den Feinden verfolgt zu werden.

Als er, durch Ivo und Henner eingeholt, den Zelten nahte, begegnete den Thüringen der Kaiser. Ivo berichtete zur Stelle den Ritterdienst seines Mannes und wies auf den Schleier. Da dem Kaiser die gute Behandlung des Harems sehr willkommen war, so lachte er und redete das Gefolge an, was er sonst selten tat: »Erkanntet Ihr ein wenig, Herr, wie Eure Dame aussieht?«

»Ich sah nur zwei Augen wie die einer Eule«, versetzte Lutz ehrlich, »und zwei trippelnde Füße. Wenn sie unter der Dorflinde im Reigen spränge, würde sie Mühe haben, sich neben unseren stolzen Mägden zu behaupten.«

Henner wurde traurig über die ungefüge Antwort. Der Kaiser bemerkte die strenge Miene des langen Ritters und fragte ergötzt: »Wie behagt es meinen Thüringen im Gelobten Lande?«

»Da dies ein heiliges Land ist«, antwortete der Marschalk ehrerbietig, »so darf ein billig denkender Mann nicht zu viel weltliche Ergötzlichkeit erwarten. Dennoch ist es ein jämmerlicher Gedanke, daß zwei würdige Heilige, wie die Jungfrau Maria und Joseph, in ihrem Leben hier soviel Herzeleid erduldeten. Sicher wäre ihnen auf Erden manches besser gediehen, wenn sie aus dieser dürren Gegend fröhlich nach Deutschland ausgewandert wären, sie hätten dort größere Courtoisie gefunden, und dazu mehr Redlichkeit.«

»Ihr vergeßt, Marschalk«, mahnte der Kaiser, »daß in diesem Falle die Kreuzigung und die Erlösung ausgeblieben wären, und wir müßten alle miteinander zur schwarzen Hölle fahren. Obwohl es auch in Deutschland an Pfaffen nicht gefehlt hätte, denen die Heiligen verdächtig geworden wären. Denn auch deutsche Priester sind begierig, Holz zum Scheiterhaufen zu schichten.«

Als die Lagergenossen verwundert den goldgestickten Schleier musterten, erklärte Lutz zufrieden: »Die Herrin ist bräunlich und [] sitzt in einem Harem, ich hoffe, das wird meinem Berchtel um so lieber sein.«

Aber er wurde noch an das Abenteuer erinnert. Denn als kurz darauf ein Gesandter der Sarazenen in das Lager kam, öffnete der Dragoman des Kaisers die Tür seiner Hütte und führte einen nubischen Knaben herein, welcher vor dem jungen Ritter niederkniete und einen Selam sprach, zuerst arabisch, dann ziemlich verständlich in der Sprache der Lateiner, daß die Herrin des Schleiers dies ihrem Ritter als Dank sende, worauf er sich selbst und einen zierlichen Kasten vor die Füße des Thürings setzte.

»Der Knabe ist aus der lateinischen Schule des Sultans Elkamil«, erklärte der Dragoman, »wie ich selbst aus der arabischen zu Messina; er ist zum Erklärer erzogen, und vermag Euch und dem Herrn wohl zu dienen.«

Lutz sah die Sendung bedenklich an. »Öffne den Kasten.« Als er eingemachte Datteln darin fand, schob er ihn dem Sklaven hin: »Iß von diesen Pflaumen, solange sie reichen, denn weiter habe ich dir nichts anzubieten«; er selbst ergriff eine Bürste und rieb ihm damit kräftig die Haut. »Lange begehre ich diese Probe zu machen. Die Schwärze geht über alle Schornsteinfegerei, sie ist untilgbar, und dies ist das echte Rabenkind und ganz sicher ein Heide und Höllensohn.«

Verlegen brachte er den Knaben seinem Herrn. Der Schwarze erwies sich als anstellig und empfänglich für die Freundlichkeit, mit welcher ihn die neuen Herren behandelten, er wurde bald der verzogene Liebling der Hütten, und Ivo vertrieb sich manche müßige Stunde damit, den jungen Ali Reiterdienst zu lehren und sich arabische Worte vorsagen zu lassen.

Die gehobene Stimmung, in welcher die Kreuzfahrer den Kaiser begrüßt hatten, sollte nicht dauern. Friedrich hatte einen großen Kriegsrat nach Accon berufen und ritt frohen Mutes hinab. Es war eine erlauchte Versammlung: der Patriarch und die Bischöfe des Gelobten Landes, die Meister der drei Orden, die Edlen des Kreuzheers und der christlichen Besitzungen in Syrien. Als der Kaiser die Verhandlungen über den Feldzug eröffnen wollte, erhob sich der Patriarch und meldete eine Botschaft des Heiligen Vaters, welche an die Versammlung gerichtet sei. Zwei Franziskaner traten ein und überreichten kniend das Schreiben des Papstes. Feierlich begann er zu lesen, daß der Statthalter Christi den Geistlichen und Laien des Kreuzheeres verbiete, dem eidbrüchigen und gebannten Kaiser, dem nach seinem ersten Ungehorsam die Pilgerreise versagt worden und der in ungehorsamem Trotz dennoch gefahren sei, irgendwelchen Gehorsam zu leisten. Damit aber das versammelte Kreuzheer nicht führerlos werde, bestelle der Heilige Vater selbst zu Feldherren des Heeres für die Abendländer Hermann von Salza, [] für die Morgenländer zwei andere edle Barone. Als die Vorlesung beendet war, herrschte Totenstille im Saale, und Ivo, der hinter dem Stuhl des Kaisers stand und gesehen hatte, daß dieser wie im Krampf die Lehne des Thronsessels packte, war erstaunt, als er mit ruhiger Stimme begann: »Der Heilige Vater ist trotz seiner hohen Jahre eifrig für das Wohl der Christenheit besorgt. Mir möge die erlauchte Versammlung nicht verdenken, wenn ich den Eifer seiner Mahnung für allzu groß halte, nicht meinetwegen, denn als ein treuer Sohn weiß ich mich auch, wenn er zürnt, seinem Willen zu fügen; wohl aber sorge ich um die begonnene Kreuzfahrt und unser aller Ehre. Denn das Heer ist klein, und jeder Zwiespalt in demselben nimmt die Hoffnung auf Sieg. Erachten die hochwürdigen Väter der Kirche und meine Edlen für heilsam, dem Wunsche des Papstes zu gehorchen, so werde ich nicht widerstehen; aber ich werde als Streiter Christi und weltlicher Oberherr dieser Länder mit dem Heere ziehen, selbst gegen den Willen des Heiligen Vaters, denn dies ist mein Recht als Kaiser und König, als Ritter und als Christ.«

Da erhob sich unter den Deutschen ein Summen des Beifalls, und auch die Welschen waren durch die Nachgiebigkeit des Kaisers freundlich gestimmt. Doch Peter von Montague zerriß die Versöhnung, welche sich anknüpfte, indem er hochfahrend begann: »Die Brüder vom Tempel sind nur dem Gericht und der Oberhoheit des Papstes untertan und vermögen nicht im Rat zu sitzen und nicht in einem Lager zu dienen mit einem weltlichen Fürsten, den unser Oberherr gebannt hat. Wir versagen uns seinem Befehle, wie der Teilnahme an seinen Verhandlungen mit den Feinden, und wir schlagen unsere Zelte gesondert von den seinen auf.« Dasselbe erklärte Bernard der Johanniter, die Geistlichen und die meisten Laien des Morgenlandes. Heftig eiferten die Parteien gegeneinander, während der Kaiser, ohne ein Wort in den Streit der Meinungen zu werfen, auf seinem Stuhle saß; mit Mühe vermochte Hermann von Salza durchzusetzen, daß die Herren, welchen der Papst den Oberbefehl überwiesen hatte, von der Versammlung als Feldherren ausgerufen wurden.

Schweigend ritt der Kaiser in das Lager zurück. Aber als er mit wenigen Getreuen in sein Zelt trat, sagte er heiter: »Lange Jahre spiele ich mit dem Alten von den sieben Hügeln das Königsspiel, welches sie Schach nennen, und ich habe manches von ihm gelernt; jetzt hat der hitzige Spieler einen falschen Zug mit seinem Elefanten Gerold getan, er soll mich nicht verleiten, in den gleichen Fehler zu fallen. Du, Humbert, hast von je gute Freundschaft mit Templern und Johannitern gehalten, bewahre die Vertraulichkeit, sosehr du kannst, damit wir zu rechter Zeit erfahren, was sie in ihrem Lager ersinnen.«

[] Ivo wollte das Zelt mit den anderen Herren des Gefolges verlassen, da hielt ihn der Kaiser durch ein Zeichen zurück, und als sie allein waren, sagte er herzlich: »Bleibe noch, mir ist heut einsam zumute, erzähle mir, was du willst, am liebsten Fröhliches.« Er reichte ihm die Hand, und als Ivo sich gerührt darüber beugte, preßte er ihm heftig die Finger zusammen. »Und du weißt nicht einmal das Ärgste, denn während ich hier mit Christen und Heiden streite, rüstet der fromme Vater der Christenheit daheim ein Heer, um mich aus meinem Erblande zu verjagen. Dennoch hoffe ich, daß ich diesmal sein Meister bleibe.« Und er saß im nächsten Augenblick mit Königsmiene auf seinem Stuhl, ließ sich von der Jagd im Bergwalde Thüringens erzählen und belehrte Ivo über die Vorzüge der norwegischen Schneefalken.

Unterdes erhob sich in den Zeltgassen Lärm und Getümmel, die Krieger eilten auf den Erdwall, welcher das Lager umgab, starrten in die Ferne und riefen einander heftig zu, während ausgestellte Wachen auf schäumenden Rossen vor das Zelt des Kaisers jagten. Als dieser heraustrat, empfing er von den Aufgeregten die Nachricht, daß ein fremder Krieger sich einen Ritter aus dem Christenheer zum Zweikampf fordere. Geringschätzig sagte Friedrich: »Ich denke, er wird nicht vergeblich schreien, die Helden in unserem Heere haben so lange über unsern Müßiggang geklagt, daß sie in einen Baumstamm hacken würden, dem man einen Turban aufsetzt«, und zu dem sarazenischen Leibwächter gewandt, fragte er: »Kennst du deinen Glaubensgenossen? Wer ist der brüllende Wüstenlöwe?«

Mit einer Gebärde des Abscheues antwortete der Mann: »Kein Bekenner des Propheten, Herr; sie sagen, daß es Hassan der Ismaelit ist, einer von den Verfluchten, welche dem Scheik in den Bergen dienen.«

»Wie«, fragte der Kaiser neugierig, »senden auch die Assassinen des Libanon ihre Helden gegen uns herab? Ich rate, ihr Herren, daß wir den Unhold betrachten.« Er ritt mit seinem Gefolge aus dem Tor; auf der Höhe vor ihnen ragte im Sonnenlicht ein Reiter, Mann und Roß in hellglänzendes Metall gehüllt, über der Stahlkappe trug der Fremde eine spitzige rote Mütze und über der Rüstung einen schneeweißen Überwurf. Hinter ihm hielt ein kleiner Trupp seiner Genossen in ähnlichem Kriegsschmuck, näher am Lager schrie ein Syrer in der Sprache der Morgenländer und Lateiner die Ausforderung gegen das Christenheer, und zwei Reiter mit Pauken und langen Posaunen begleiteten die Verkündigung durch mißtönenden Lärm. Die Kreuzfahrer drängten sich mit zornigen Gesichtern um das Gefolge des Kaisers, und der Herzog von Limburg meldete: »Derselbe Fremdling war gestern vor Accon bei den Zelten der Johanniter, er hat einen der Bruderschaft geworfen und erlegt [] und ist darauf schnell wie ein fallender Stern in der Ferne verschwunden.«

»Vieles haben wir im Abendlande von den unholden Bräuchen der Rotmützen vernommen und von der Dreistigkeit, mit welcher sie das Messer führen«, versetzte der Kaiser, »ich merke an den bestürzten Mienen, daß sie auch von meinen Helden mit Scheu betrachtet werden.«

»Ihr Messer hat den Grafen Bohemund von Tripolis getötet«, rief einer der Edlen, und ein anderer: »Zwei Komture von St. Johannes und ein Meister der Templer sind durch sie gemordet.«

»Es ist eine Bruderschaft ehrloser Schufte«, erklärte der Graf von Meran, »die Meuchler, welche sie gegen ihre Feinde aussenden, schleichen durch jede Tür und dringen durch den Ring der Leibwache. Auch die Sultane des Islams hegen in ihrem Harem Angst vor ihnen und kaufen sich durch Jahrgeschenke los von der täglichen Sorge um heimlichen Mord!«

»Dann sind diese Heiden in der Kunst des Messers besser erfahren als deine Welschen, Humbert, denen es an gutem Willen auch nicht fehlt«, versetzte der Kaiser ungerührt.

»Die Templer haben ihren Brüdern verboten«, fuhr der Graf fort, »gegen das Ungetüm dort zu kämpfen, weil sie demselben ritterliche Ehre nicht zugestehen. Sie allein unter allen Anwohnern des Libanons werden von den Mördern gefürchtet, denn sie haben ihnen Land abgenommen und die Burg Safitah darauf erbaut.«

»Wir haben zuweilen die Redlichkeit kennengelernt, mit welcher die Templer ihre Gegner in Worten und Werken behandeln«, sagte Friedrich verächtlich; »und es gibt ein Sprichwort, daß auch der üble Teufel nicht so schwarz ist, wie die Leute ihn schildern. Jener dort kommt doch nicht mit dem Messer, sondern mit dem Speere, und fordert ritterlich zum Kampfe, ich denke, wenn er einen Johanniter geworfen hat, werden meine Deutschen ihm den Gegengruß nicht schuldig bleiben.« Er sah im Kreise umher, eine Zahl Edler sprengte aus dem Haufen, des Kaisers Blick haftete auf Ivo. »Reitet hinaus, Herr, und faßt mir diesen Uhu, gegen welchen alle meine Raubvögel die Federn sträuben.«

Ivo winkte seinem Marschalk und eilte sich zu waffnen, während Henner mit dem Dragoman und einem Rufer in das Feld ritt. Das ganze Heer sammelte sich zu dem bevorstehenden Streite, auch der Kaiser hielt erwartungsvoll auf der Stelle; der Fremde aber sprengte, als der gebotene Kampf angenommen war, von der Höhe herab und tummelte stolz sein Roß, den Anritt des Gegners erwartend. Als Ivo im Harnisch aus dem Lager kam, laut begrüßt von den Kreuzfahrern, begann Henner, der den Ismaeliten seither nicht aus den Augen gelassen hatte, vertraulich: »Er ist ein kräftiger Gesell, und im Schwertkampf wird er Euch Not machen. Aber er ist noch [] jung und versteht seine Kunst nicht zu bergen, immer wieder wirft er sein Pferd zur rechten und gleich darauf zur linken Hand, um dann ein Stück in Rabbia geradeaus zu sprengen. Er will das Tier an seine Kunst mahnen. Kommt Ihr ihm im Anritt nahe, so wird er das Pferd umlenken, das gerade Rennen vermeiden und Euch wie ein Blitz à travers anfallen. Solche Künste sind auf unserer Rennbahn auch bekannt, nur daß sein Tier mehr einem Aale gleicht als einem Pferde. Seht, Herr, wie ein Wunder schwingt es sich. Wenn Ihr im rechten Augenblick zum Gegenstoß dreht und Euer Fuchs nicht versagt, so mögt Ihr ihn wohl überrennen.«

»Ihr ratet gut«, versetzte Ivo eifrig, »laßt blasen, ich bin bereit.«

Die Kämpfer ritten auf den Platz, Ivo grüßte, die Lanze neigend, der Ismaelit antwortete in derselben Weise. Der Fremde wandte sich nach Norden und Ivo nach der Gegend, wo Jerusalem lag, während beide ihr Gebet sprachen. Dann klangen hell die Fanfaren und beide rannten gegeneinander; unterdes hielt der Marschalk die Hand auf sein klopfendes Herz. Aber der lautlosen Stille im Christenheere folgte helles Siegesgeschrei, denn dem gefährlichen Anfall auf die ungedeckte Seite begegnete Ivo durch schnelle Wendung im Laufe, sein Speer zerbrach am Metallschild des andern, aber die Wucht des schweren Reiters und seines mächtigen Pferdes warf wie der Stoß eines Sturmbocks den Gegner und sein schwächeres Roß zu Boden. Der Ismaelit lag, von dem Rosse geklemmt, der Helm war ihm abgesprungen, und aus seinem jugendlichen Gesicht starrten die dunklen Augen auf Ivo, den Todesstoß erwartend. Dieser war zu Boden getaucht und hielt die Schwertspitze über den Hals des Gegners, welcher kein Zeichen gab, daß er Schonung begehre. »Gut geritten, Ivo«, rief der Kaiser herzureitend, »schenke mir sein Leben, wenn er es selbst nicht begehrt. Löst ihn vom Rosse, entwaffnet ihn und schafft ihn zu unseren Zelten, mein arabischer Arzt soll nach seinen Schäden sehen. Ich bin dir dankbar, Ivo, daß du diesen Scheucher für meinen Vogelherd eingefangen hast.«

Die Begleiter des Fremden waren während des Kampfes näher geritten, sie stießen nach dem Fall ihres Gefährten einen gellenden Klageschrei aus und verschwanden hinter den Hügeln. Der Geworfene, welcher schwer am Bein beschädigt war, wurde auf einer Trage zu den Hütten geschafft, welche das kaiserliche Zelt umgaben, und Friedrich trug dem Sieger die Sorge und Wache über den Kranken auf.

Als Ivo mit einem Dragoman an das Lager des Ismaeliten Hassan trat, begegnete seinen forschenden Augen ein wilder Blick voll geheimer Seelenqual, aber seinem gehaltenen Gruß antwortete der Fremde in gleicher Würde, indem er mit der Hand an Brust und Haupt rührte. Der Wächter meldete: »Er hat sich geweigert, Nahrung zu nehmen, und hat auch den Trank zurückgewiesen, den [] der Arzt bereitet hat.« Da sagte Ivo: »Während du als Gefangener des Kaisers unter uns weilst, habe ich die Pflicht, für deine Sicherheit und für dein Wohl zu wachen. Ich bitte dich, erschwere mir nicht mein Amt.«

Der Fremde antwortete finster: »Habt Ihr mein Leben bewahrt, um ein Unterpfand zu erhalten, durch welches Ihr meinen Stamm demütigen könnt, so ist Eure Hoffnung vergeblich. Sind mir auch die Waffen genommen, ich weiß auf dem Lager die Lösung zu finden, die mir dein Schwert versagt hat.« Er legte sich zurück und wandte sein Haupt ab.

»Du sprichst, wie einem Tapferen gebührt«, versetzte Ivo, erfreut über den Stolz des anderen, »doch du kennst unsere Sitte nicht. Wer im ritterlichen Kampf Gefangener des Kaisers wird, dem mutet dieser nichts zu, was für einen Helden schmachvoll wäre. Unterdes rate ich dir, für deine Genesung zu sorgen, denn gerade so wie jetzt, bist du auch später Herr deines Schicksals, wenn dir das Leben verleidet wird.«

»Wenig liegt an dem Leben eines Besiegten«, rief der Ismaelit.

»Du hast dich unserm Kampfbrauche gefügt und mein Roß stärker gefunden als das deine; hätten wir den Kampf ausgefochten in der Weise deines Volkes, so würdest vielleicht du der Sieger sein«, tröstete Ivo. »Darum verzweifle nicht, sondern denke mutig auf neuen Streit. Bringt ihm Trank und Kost, damit ich's ihm anbiete.« Ivo aß ein wenig von der Speise und setzte den Trank an die Lippen. »Nimm«, lud er freundlich ein, »und laß dir die Heilung gefallen. Beide sind wir jung und haben in unserem Leben noch Ruhm und gutes Glück zu hoffen.«

Der Fremde empfing den Becher aus der Hand seines Wirtes und sah ihn mit dankbarem Blicke an.

Einige Tage darauf sprach Ivo am Lager des Ismaeliten: »Bei uns ist Sitte, daß ein gefangener Held sich durch hohen Eid verpflichtet, während der Haft nichts gegen das Wohl seiner Wirte zu tun und nicht durch Flucht zu entweichen. Gern würde ich dir deine Gefangenschaft erleichtern, wenn ich wüßte, ob dich ein Eid bindet und wie dieser Eid lautet. Doch zürne mir nicht, wenn ich dir auch sage, daß viele unter uns den Männern deines Volkes nicht vertrauen, weil ihr fremde und unehrliche Bräuche übt und heimliche Todesboten gegen eure Feinde sendet.«

Der Ismaelit sah finster vor sich nieder: »Ich bin ein Krieger und gehöre nicht zu der kleinen Zahl der Geweihten, denn nur diese dienen unserm Scheik mit dem Messer. Wisse, Franke, verschieden sind die Pflichten des Lebens unter uns, geradeso wie bei euch. Stehen wir auch alle als Schwurgenossen zueinander, so folgt doch jeder dem Gesetz, welches seinem Berufe gegeben ward. Sieben sind der Stufen zu dem höchsten Amt, auch bei uns arbeitet der [] Landbauer sorglos auf seinem Acker, der Edle bewahrt seine Ehre, die Weisen hüten die Gedanken des Volkes, und unser Vater, der Scheik, sorgt als ein Heiliger über alle. Die Krieger und Weisen geben ihm Rat, wenn er ihn verlangt, sie sprechen Recht in den Tälern und kämpfen mit den Feinden. Nur was gegen die Fremden geschehen muß zur Ehre des Glaubens und der ganzen Bruderschaft, darüber waltet der Scheik allein, denn dazu ist er von Gott begnadet, und sein Ausspruch, an dem wir nicht deuten, ist unfehlbar.«

»Wie mögt ihr euch, wenn ihr Männer seid, solcher Herrschaft eines Mannes fügen, der eure Seelen und Gedanken führt, wie der Hirt die Schafherde?«

»Auch ihr gehorcht, wie wir vernehmen, einem Scheik, den ihr den Heiligen Vater nennt, er öffnet und schließt euch die Tore des Christenhimmels, und auch ihr dient ihm willenlos auf den Knien.«

Erzürnt rief Ivo: »Wage nicht, eure teuflische Lehre mit dem milden Gesetz der Christenheit zu vergleichen. Unser Glaube ist durch heilige Verkündigung festgesetzt, und alle unsere Bischöfe und frommen Väter haben darüber zu wachen, daß er rein bewahrt werde. Unser Heiliger Vater ist nur der Erste unter ihnen, und wir dienen ihm, soweit er weise und redlich ist. Mehr als einem Papst haben Geistliche und Laien widerstanden, und er wurde herabgeworfen von seinem Stuhl, weil er unwürdig war.«

Der Fremde legte sich, ohne zu antworten, auf sein Lager zurück.

Als Ivo dem Kaiser die Unterredung berichtete, sprach dieser: »Zeige ihm Vertrauen, ich wette, es ist mehr Redlichkeit in diesem Heiden als in manchem Christen.« Und auf Ivos ehrerbietige Mahnung, daß die Sicherheit des Kaisers Vorsicht gebiete, versetzte er gleichgültig. »Wisse, du sorgsamer Deutscher, wenn Messer und Gift eines Meuchlers den Kaiser zu erreichen vermöchten, so wäre er längst aller irdischen Sorge enthoben. Oft war ich begierig, das Geheimnis zu erkunden, welches die Bruderschaft vom Messer verbindet, denn ihr Scheik, wie er auch sei, hat doch etwas Großes bewirkt, sein ganzes Volk gehorcht ihm bis zum Tode. Wären sie die Bösewichter, wozu ihre Nachbarn sie gern machen, so hätten sie sich längst untereinander gleich Ratten vertilgt. Bist du des Helden Hassan besser gesichert, so will ich ihn selbst ausfragen. Denn er gilt in seinem Volke für einen großen Mann, und er ist, wie die Templer behaupten, ein Schwestersohn und Liebling des Scheiks.«

Friedrich widerstand der Versuchung nicht lange; eines Abends trat er verhüllt in die Hütte, redete den Ismaeliten in arabischer Sprache an, und als er nach langer Unterredung schied, sagte er befriedigt zu Ivo: »Sie haben verrückte Bräuche, und ihre Messer sind in Wahrheit unhöflich. Die Scheiks haben für sie einen eigenen Glauben gemacht, indem sie vorgeben, daß die göttliche Offenbarung von Moses zu Christus gekommen sei, von diesem zu [] Mohammed und daß sie jetzt aufs neue verkündet werde von ihnen selbst. Dennoch sind sie nicht ganz Teufelskinder. Dein Gefangener fragte ganz verständig nach dem Gesetz der Christen. Ich habe ihm seine Freiheit angekündigt, und sobald er genesen ist, mag er zu seinen Bergen ziehen. Vielleicht gelingt es uns, diese Wilden an bessere Sitte zu gewöhnen.«

Trotz dem Vertrauen des Kaisers bewachte Ivo doch sorgsam die Hütte des Fremden, denn ihm kam vor, als ob dieser geheimen Verkehr unterhalte, und die Wachen mußten einigemal fremdartige Gestalten verscheuchen, welche sich in die Nähe drängten. Aber der Argwohn gegen den Ismaeliten schwand in größerer Sorge. Eine Gesandtschaft des Sultans Elkamil war in das Lager gekommen, und als Ivo bei dem Kaiser eintrat, fand er diesen in einer zornigen Aufregung, welcher der kluge Fürst selten unterlag. »Weißt du, was der Bote des Sultans mir zugetragen hat? Daß die Treue von den Christen gewichen und zu den Heiden gezogen ist, ich stehe hier von meinen Mitchristen preisgegeben und verraten, und ich verdanke nur dem Hochsinn eines Sarazenen, daß ich nicht ein Gefangener bin. Zwei Briefe sendet der höfliche Sultan, welche Christen an ihn geschrieben haben, der eine ist von dem Heiligen Vater selbst, welcher den Sultan warnt, mit mir zu verhandeln, denn ich sei gebannt, und alle Verträge, die ich schließe, seien nichtig; der andere Brief des Schurken Montague verrät dem Heiden gar die Stunde, in der wir täglich mit kleinem Gefolge in das nahe Tal reiten, um dort zu baden, damit der Sultan uns durch seine Reiter ergreife. Wie gefällt dir, du deutscher Sänger, die neue Weise, in welcher meine Feinde den Sarazenen ins Ohr singen? Und wer hat den Templern zugetragen, daß wir im Bade zu fassen sind?«

»Gebt uns Deutschen die Erlaubnis«, rief der empörte Ivo, »den Bösewicht Montague zu greifen, und wir reißen ihn mitten aus seiner Bruderschaft und führen ihn gebunden an die Sättel unserer Pferde in dies Lager und vor Euer Gericht.«

»Ich weiß, daß ihr Thüringe behende seid, widerwärtige Leute an eure Sättel zu binden«, antwortete der Kaiser, ein wenig besänftigt durch den Zorn des Getreuen. »Aber solange du mir diesen Ritterdienst nicht gegen alle Feinde erweisen kannst, danke ich dir dafür, denn er würde das Übel nur ärger machen und uns schnell aus dem Heiligen Lande hinaustreiben. Anderes gebietet dem Kaiser sein Amt. Willst du wissen was?« Er nahm zwei Briefe von der Tafel, warf sie in einen Kasten und schlug den Kasten zu. »Schweigen und stillhalten, bis der Tag der Rache kommt. Unterdes sind diese Briefe für mich nicht geschrieben, und auch du vergiß, daß du von ihnen gehört hast.«

Der Kämmerer trat ein. »Zürnt nicht, wenn ich Nichtiges melde. Zwei Fremdlinge, die mehr bartlosen Knaben als Männern gleichen, [] erflehen Zutritt. Sie tragen sich wie syrische Landleute, doch sprechen sie nur Arabisch, und auch davon kam wenig über ihre Zunge.«

»Frage selbst, was sie begehren«, befahl Friedrich abweisend.

»Nur dem großen Emperor dürften sie den Auftrag sagen.«

»Dann kommen sie wegen geraubter Frauen oder Hammel. Der Sarazene Abdallah soll mit ihnen reden.«

Aber im nächsten Augenblick trat der gerufene Leibwächter ein, entsetzt, als hätte er einen Geist gesehen. »Sie kommen vom Scheik aus den Bergen, es sind verkleidete Fedavie mit den Messern. Gestatte, daß wir sie niederhauen, bevor sie stechen.«

»Ich bin dem Alten dankbar, daß er gleich zwei seiner Wespen an uns verschwendet«, sagte Friedrich betroffen. »Torheit«, unterbrach er sich selbst. »Ich habe ihm nie etwas zuleide getan. Ladet den Helden Hassan zu mir, doch geleitet ihn durch den anderen Eingang; alsdann führt die Boten herein, ich will sie selbst sehen.«

Als Hassan waffenlos, mit tiefer Verneigung eintrat, hob der Kaiser ein reichgeschmücktes Krummschwert, wie es die Morgenländer zu führen pflegten, aus den aufgestellten Rüstungen und reichte dasselbe dem Ismaeliten. »Ich empfange Boten deines Scheiks, sie sollen dich als freien Mann unter uns erkennen, nimm die Waffe und stelle dich neben mich.«

Ivo warf einen flehenden Blick auf den Kaiser und beugte das Knie. »Gut«, nickte Friedrich, »ich halte mich seitwärts, du magst an meiner Statt in die Mitte treten; ihr Wachen lüftet die Klingen und bringt sie her.«

Zwei unansehnliche Gestalten mit fahlen, verlebten Gesichtern und glanzlosen Augen traten herein, warfen sich am Eingang zur Erde nieder und schlugen mit dem Haupt auf den Teppich, dann griff der eine in das Gewand, brachte einen Brief, der mit goldener Schnur umwunden war, hielt ihn an Herz und Haupt und legte ihn ehrfurchtsvoll in Ivos Hand. Dieser überreichte den Brief dem Kaiser. »Der Alte führt ein Siegel wie andere große Herren«, murmelte Friedrich neugierig, »und sogar sein Wappenzeichen, das Messer.« Er las, ihm entschlüpfte ein Ausruf des Erstaunens, und er gab den Brief an Hassan. »Lies, Held, und sage mir, ob alles ehrlich gemeint ist, was in diesen Zeilen steht.«

Der Ismaelit rührte mit der Hand an seinen Hals und versetzte stolz: »Mein Haupt sei dir Unterpfand, verächtlich ist die Lüge in den Bergen, auch unsere Feinde haben nie an der Wahrheit unserer Rede gezweifelt.«

Der Kaiser blickte ihm scharf in die Augen. »Ich vertraue dir. Wisse, Ivo«, begann er gutgelaunt in deutscher Sprache, die keiner der Anwesenden verstand, »dieser Tag bringt vieles Unerwartete; nicht nur der Sultan, auch der Scheik aus den Bergen erweist sich als ein wohlgefälliger Nachbar. Er dankt ganz höflich für die gute [] Behandlung seines Neffen Hassan, schreibt Ehrenvolles über die Hochherzigkeit, die ich diesem bewiesen habe, und bittet mich, einen Weisen zu senden, der mit ihm und seinen Gelehrten über den Glauben der Christen verhandeln könne. – Er weiß nicht, daß ich gebannt bin und daß ich nicht sogleich einen frommen Vater auftreibe, der in arabischer Sprache zu streiten vermag. – Zuletzt beweist er seine Achtung vor unserem Christentum dadurch, daß er mir diese hier zum Geschenk sendet.« Er wies auf die beiden Boten, welche am Eingange des Zeltes kauerten mit gesenkten Häuptern und stieren Augen gleich Stumpfsinnigen. Ivo sah in Widerwillen auf die Gesandten. »Was sollen Eurer Majestät diese kraftlosen Männer?«

»Auch der Alte wird schwerlich auf ihre Stattlichkeit stolz sein, aber er hält sie für nützlich. Zwei Seelen seiner Geweihten schenkt er mir und zwei Messer, damit ich sie, wie der wilde Heide schreibt, gegen meine Feinde gebrauche. Denn wisse, so kläglich sie aussehen, sie sind begeistert in ihrem Glauben, kein Hindernis und keine Gefahr hemmt, wie er behauptet, den Todesgruß, welchen sie tragen, und keine Marter lockt ihnen ein Geständnis ab. Wunderlich ist eine Macht, welche so über das Leben anderer verfügt, schneidende Werkzeuge sind diese Knaben in der Hand ihres Herrn, und dieser Herr soll fortan ich sein.«

»Mein Kaiser aber wird dem Geber die fluchwürdige Gabe zurücksenden«, bat Ivo.

»Du bist schnell«, versetzte Friedrich, mit düsterm Behagen auf die Willfährigen blickend. »Wer die Geschenke eines Morgenländers ablehnt, beleidigt ihn schwer, und der Alte in den Bergen vermag ein wertvoller Freund zu werden, ja noch mehr, er findet sogar ein Wohlgefallen an unserem Glauben.«

»Begehrt er in Wahrheit gutes Einvernehmen mit den Christen«, fuhr Ivo flehend fort, »so ist die erste Bedingung, daß er dem teuflischen Gebrauche der Messer entsage, denn kein Zutrauen ist möglich zu einem Volk, dessen Glaube ehrlose Taten heiligt. Niemand aber vermag ihm das so eindringlich zu sagen als des Kaisers Majestät, wenn Ihr seiner Sendung entgegenhaltet, daß sie mit dem Gesetz unseres Glaubens unverträglich sei.«

»Du hast ganz recht«, versetzte der Kaiser ruhiger, »wenn du ihre Messer ehrlos nennst. Handeln aber die Christen anders?« Er wies auf das Kästchen. »Waren das nicht auch ehrlose Dolche, die gegen mich geschwungen wurden?«

»Viele Missetat geschieht unter uns, welcher wir fluchen«, entgegnete Ivo, »doch die Missetäter trifft in dieser Welt Zorn und Verachtung der Redlichen und vielleicht der Arm des irdischen Richters; und in jenem Leben, wie wir belehrt sind, die Schrecken der Ewigkeit.«

[] »Dein Kaiser ist auf Erden der höchste Richter«, antwortete Friedrich, »und er hat oft gefühlt, daß in Notzeiten sein Arm schwach ist, die Missetäter zu strafen. Da die Römer noch Heiden waren, bildeten sie ihren höchsten Gott Jupiter ab, wie er ein Bündel rächender Blitze in der Hand hielt, sie konnten kein besseres Zeichen göttlicher Macht erfinden. Wahrlich, diese Knaben, welche sich für ihren Herrn dem Tode geweiht haben, sind solchen Blitzen vergleichbar.«

Erschreckt durch diese Worte, warf sich Ivo dem Kaiser zu Füßen und rief: »Oh, mein gnadenvoller Herr, bannt die finsteren Gedanken aus Eurem edlen Geiste, denn der üble Teufel versucht die Guten durch seine Unholde, die er ihnen in den Weg sendet. Auch der Höchste und Beste auf Erden soll sich hüten, daß ihm nicht in schwerer Stunde die dienstwilligen Boten der Hölle als gute Gehilfen erscheinen für eine ehrliche Tat. Eurer Rache dienen die Schwerter der Redlichen und die Gewalt des laut verkündeten Richterspruches, nicht die heimliche Waffe der Verschwörer; ein heller Tagesfürst seid Ihr uns und nicht ein Gebieter finsterer Schatten.«

»Erhebt Euch, Herr«, rief der Kaiser unwillig, »allzu dreist mahnt Ihr vor Zeugen Euren Gebieter.« Da Ivo traurig zurücktrat, fügte er freundlicher hinzu: »Du meinst es gut, das weiß ich wohl, aber hege ein besseres Zutrauen zu mir. Seh' ich aus wie einer, der Meuchler sendet, um sich lästiger Feinde zu entledigen? Wahrlich, meine Gegner dürfen sich nicht beklagen, daß ich ihnen die Freude, mir zu schaden, unredlich verkürze. Wenn ich etwas von Notfällen sagte, so waren es nur solche, die ein König allein versteht. Tröste dich, Ivo, jene Stummen mögen abwarten, bis wir den Alten selbst auf bessere Gedanken gebracht haben, vielleicht behältst du recht, und ich kann sie ihm zurücksenden, ohne daß er sich gekränkt fühlt. – Du, Hassan, sprich zu den verlorenen Kindern deines Volkes, ihr anderen aber achtet darauf, daß sie nicht im Lager umherschweifen, und überlaßt sie sonst ihren eigenen tiefen Gedanken.«

Der unablässigen Sorge, mit welcher Ivo die Behausung der unheimlichen Gesellen bewachte, wurde er bald darauf durch den Kaiser selbst enthoben.

»Sattle, Held«, rief Friedrich dem Eintretenden zu, »du sollst einen weiten Weg für mich reiten. Nach dem Norden entsende ich dich mit einer Botschaft an den Sultan von Damaskus, du wirst ihn und sein Heer am Libanon finden, wo er mit den Johannitern um die Grenzsteine hadert. Von dort magst du ihn nach Damaskus begleiten, dort kannst du den Hofhalt eines reichen Morgenländers schauen, Geschenke bringen und empfangen.«

Ivo dankte durch einen frohen Blick. »Deine Augen sind unhöflich«, lachte der Kaiser, »sie verraten, wie glücklich du bist, meiner [] Nähe zu entrinnen. Entschuldige dich nicht«, fuhr er gütig fort, »und eile zurückzukehren. Auch deinen Schützling, den Ismaeliten, wirst du entlassen; ich sende zugleich mit dir den Grafen Humbert nach dem Libanon, er soll dem Scheik seinen Helden übergeben und meinen Dank für die Messer zurücktragen, die der Alte mir gesandt hat. Ich meine, dir wäre der Auftrag unwillkommen.«

»Ich danke, daß des Kaisers Majestät mich dieser Fahrt enthebt«, versetzte Ivo aufrichtig. »Möge Eure Huld dem Hassan eine ehrliche Heimkehr sichern, denn er hat sich unter uns unsträflich gehalten und doch geringe Freundlichkeit gefunden.«

»Du selbst kannst für deine Speerbeute sorgen, denn du reitest bis zu den letzten Burgen der Christen mit dem Grafen Humbert zusammen.«

Ivo machte eine Bewegung. »Ihr lebt beide unter dem Kreuz«, mahnte Friedrich ernsthaft. »Die Heiligen, denen ihr jetzt dient, fordern mancherlei Entsagung. Das Land ist unsicher, und ihr werdet guttun, scharf auszusehen.«

Der Graf trat ein mit anderen Herren des Gefolges. Bevor der Kaiser sie anredete, schlüpfte aus der Seitentür ein maurischer Knabe und übergab kniend ein kleines Pergamentblatt. Friedrich las, seine Miene umwölkte sich, er setzte sich schweigend in den Sessel, las wieder und sah prüfend auf Ivo und den Grafen. Endlich erhob er sich, und nachdem er die Aufwartenden entlassen hatte, begann er in gebietendem Tone gegen beide von der vertrauten Sendung. Aber Ivo vermochte seine Überraschung nicht zu bergen, als der Kaiser dem Grafen Humbert die Gesandtschaft an den Sultan von Damaskus auftrug, ihm aber die Reise zu dem Alten vom Berge. Der Graf warf von der Seite einen wilden Blick des Triumphes auf Ivo und verneigte sich dankend gegen den Herrn. Als der Thüring folgen wollte, trat Friedrich auf ihn zu, und ihn scharf anblickend, sprach er: »Ich habe dir zuweilen gezeigt, daß du mir wert bist. Wenn du jetzt in stillem Verdruß die unwillkommene Reise antrittst, so wisse, Ivo, daß ich dir einen größeren Beweis meiner Neigung nicht geben konnte, als gerade den, daß ich dein Amt und das eines andern vertauschte.« Er gab ihm mündliche Aufträge, das Schreiben an den Scheik, das Verzeichnis der Geschenke und schloß: »Deine Ritter würden dir in dem fremden Land ohne Nutzen sein, nimm statt ihrer einen Beritt meiner Leibwächter, welche Sprache und Sitte des Morgenlandes kennen, du kannst dich für Leben und Tod auf sie verlassen. Um deine Thüringe werde ich unterdes sorgen. Sende mir den Hassan, damit ich selbst ihn entlasse.«

Sonst war Ivo jedem neuen Abenteuer fröhlich entgegengezogen, als er heut aus dem kaiserlichen Zelt trat, war ihm das Herz so schwer wie niemals in seinem Leben, und er schalt sich selbst darüber. Auch seine Ritter trauerten. »Zum erstenmal reitet mein Herr [] ohne mich unter Feinden«, klagte Henner, und Lutz bat: »Nehmt wenigstens den Rabensohn mit Euch, der uns aus dem Harem zugeflogen ist, denn er versteht das Schnarren und Krächzen alles Geziefers in diesem Lande.«

Mit sechs maurischen Leibwachen und den Saumrossen ritt Ivo, begleitet von Hassan und dem jungen Nubier, zum Sammelplatz des Lagers, gleich darauf kam der Graf von Meran mit großem Gefolge, darunter Brüder von St. Johannes und dem Tempel, welche nach ihren Burgen im Norden reisten. Ivo sah, daß in der ganzen Gesellschaft kein Deutscher war, nur Provenzalen und Welsche. Graf Humbert gab das Reisezeichen, und die kleine Schar sprengte aus dem Lagerwall der Küste zu. Als sie eine Strecke geritten waren, trieb der Graf sein Pferd zu Ivo heran. »Der Kaiser will, daß Ihr die Reise bis zu den Grenzburgen in meiner Gesellschaft macht. Da Ihr ein Deutscher seid, so ist nicht unnütz, Euch zu erinnern, daß ich den Befehl habe und daß Ihr Euch meinem Gebot fügen werdet wie ein anderer.«

Ivo antwortete: »Der Oberbefehl gebührt Euch mit Recht, da Ihr der Ältere seid. Was Ihr zum Nutzen der Fahrt meinen Leuten gebieten müßt, das laßt mich wissen, und zwar mit der Höflichkeit, welche ich im Amt des Kaisers von Euch zu fordern habe. Außer durch mich kommt kein Befehl an den Ismaeliten Hassan und an meine Lanzenträger, denn die Leibwache führe ich, und für den Fremden bin ich dem Kaiser verantwortlich.«

Mit hoher Miene antwortete der Graf: »Ich bin nicht gewöhnt, den Befehl mit andern zu teilen.«

Ivo wandte sein Roß. »Dann gestattet, daß ich zur Stelle zurückreite und den Entscheid des Kaisers erbitte.«

»Ihr wißt das Vorrecht eines Günstlings keck zu benutzen«, versetzte der andere mit Hohn und sprach Arabisch zu dem Führer der Leibwache. Dieser antwortete ehrerbietig und machte gegen Ivo den Gruß des Untergebenen. »Da die Leibwachen sagen, daß sie an Euch gewiesen sind«, schloß der Graf unzufrieden, »so überlasse ich Euch der Gesellschaft Eurer Ungläubigen.« Er sprengte vorwärts, die Schar bewegte sich in zwei Haufen dahin, die Genossen des Grafen lachend und in sorglosem Gespräch, Ivo allein unter den Morgenlandern in trüben Gedanken.

»Meiden sie dich«, fragte Hassan, »weil du mit einem Sohn der Berge reitest?« und sein Flammenblick folgte dem Grafen.

»Ich fürchte vielmehr, Held Hassan, daß deine Reise beschwerlich wird, weil ich selbst jenem verfeindet bin.«

»Und warum reitet Ihr nicht seitwärts in ein Tal, um Euren Streit auszufechten?«

Ivo wies auf das Kreuz an seiner Schulter. »Beide haben wir der Rache entsagt, solange wir das heilige Zeichen tragen.«

[] »Solches Gesetz verdirbt den, der es am meisten ehrt«, versetzte der Fremde.

Fünf Tage zogen die Gesandten längs der Küste dem Norden zu. Oft ritten sie auf hartem Ufersand, umweht von dem milden Seewinde, oder blickten von der Höhe weit hinaus auf das blitzende und wogende Meer. Sie kamen durch die berühmten Hafenburgen der Christenheit, welche von früheren Kreuzfahrern über den Trümmern vergangener Städte Phöniziens aufgemauert waren, vor ihnen aber erhob sich zur Rechten gewaltig das Gebirge des Libanon, unten fruchtbare Gelände, darüber Höhen mit dunklem Bergwald und alles überragend die langgestreckten Schneegipfel.

Am sechsten Tage lenkten die Reisenden vom Küstenpfade den Bergen zu, welche rings um sie aufstiegen, hier als steile Felsklippen, dort durch dunkles Nadelholz gekrönt. Sie betraten das Grenzgebiet, welches die Templer den Ismaeliten entrissen hatten und durch ihre Burgen festhielten. Beim Aufbruch aus dem Nachtlager bemerkte Ivo, daß der Ismaelit nicht mehr das reichverzierte Krummschwert trug, welches ihm der Kaiser geschenkt, sondern eine Waffe, die er im Zweikampf verloren und bei der Entlassung zurückerhalten hatte, und er fragte: »Willst du die Ehrengabe ablegen, jetzt, wo wir deinen Bergen nahen?«

»Für den Kampf vertraut der Krieger am liebsten dem Stahl, welchen er erprobt hat«, versetzte Hassan.

»Sinnst du auf Schwertschlag?« fragte Ivo. »Wir ziehen im Frieden, und du weißt, daß ich dem Kaiser mit meinem Leben für deine Heimkehr hafte.«

Hassan neigte höflich das Haupt. »Vor mir liegt das Land meiner Väter, und bei uns gilt das Sprichwort, daß der Fuß des Heimkehrenden am leichtesten an der Schwelle des eigenen Hauses strauchelt.« Sie ritten den Tag menschenleere und öde Höhen entlang, zwischen Felsen, welche steil gen Himmel ragten, zuweilen sahen sie ein lachendes Tal, welches noch im Spätherbst mit hellem Grün prangte, aber die vereinzelten Steinhäuser, welche gleich Burgen an den Felsen hingen, waren durch Feuer ausgebrannt, und die verkohlten Balken lagen umher. Hier und da erschienen und schwanden Reiter auf den Höhen, einigemal glaubte Ivo die Tracht der Templer zu erkennen. Am Abend kamen sie an einen großen Chan und traten in niedrige Hallen, welche sich nach einem weiten ummauerten Hofraum öffneten, an dem Eingange hing das rote Kreuz der Templer. Dort wurden die Reisenden von einigen Brüdern des Ordens begrüßt, Tische waren aufgestellt und ein reiches Mahl gerüstet für die Herren und Knechte und gesondert für die maurische Leibwache nach dem Brauch ihres Glaubens, diese bedienten ein sarazenischer Koch und ein Bruder des Ordens.

Die Sonne war untergegangen und große Feuer verbreiteten im [] Hofe Licht und Wärme, als eine Schar von Templern heransprengte, in ihrer Mitte sah Ivo mit Erstaunen die düstere Gestalt des Meisters Montague, den er weit im Süden beim Kreuzheer verlassen hatte. Der mächtige Mann begrüßte als Wirt die christlichen Gäste, auch zu Ivo trat er: »Da hier die Wegscheide ist für die beiden Boten des Kaisers, so bin ich zur Grenze gekommen, um für die edlen Herren zu sorgen, soweit die Bruderschaft vermag. Wisset, Herr, Ihr zogt bis jetzt im Schutze des Tempels, denn meine Brüder haben die Bergpfade bewacht.«

Bald schwirrte laute Unterhaltung in verschiedenen Sprachen, Graf Humbert war in besserer Laune als sonst, und Ivo beachtete wohl, wie vertraulich er mit den Templern lachte und Scherzworte tauschte. Auch Ivo wurde von einem Bruder deutscher Zunge, der mit dem Meister gekommen war, in ein leichtes Reitergespräch gezogen, und die Gäste rühmten freudig die leckere Kost, während behende Knaben der Templer den heißen Wein des Libanon schenkten. Dennoch war bei dem Gelage ein Zwang erkennbar, öfter als sonst geschieht, sprachen einzelne leise miteinander, und lautes Gelächter wechselte mit unheimlicher Stille. Als Ivo aufstand, nach dem Helden Hassan zu sehen, fand er ihn allein neben dem nubischen Knaben auf dem Boden sitzen, mit dem Rücken an die Mauer des Chans gelehnt. Da nahm er einen gefüllten Becher und bot ihn dem Ismaeliten: »Du verschmähst unter uns nicht den Lieblingstrank der Christen, trinke nach unserem Brauch auf ein gutes Ende der Fahrt.« Hassan wies dankend den Becher zurück. »Auch nicht, wenn ich dir zutrinke?«

Der andere weigerte sich wieder und wies nach den Templern. »Ich und jene schenken einander nichts als den Tod. Willst du dein eigenes Wohl beraten, so halte dich fern von mir.«

Da gebot Ivo dem nubischen Knaben, daß er ihm das Nachtlager an der Seite des Ismaeliten bereite, er selbst trat zu den Leibwachen und fand, daß auch diese stumm vor unberührten Speisen saßen. Als er fragte: »Verbietet heut euer Gesetz das Nachtmahl?« antwortete der Führer düster: »Sonst, wenn uns der Knappe des Meisters zum Mahle lud, kostete er von Speise und Trank vor, wie sich's gebührt, heut unterließ er die Höflichkeit. Dagegen forschte er prüfend, ob wir im Fall eines Kampfes das Schwert für den Ismaeliten ziehen würden.« – »Und was sagtest du ihm?«

»Daß wir tun werden, was du gebietest.«

Ivo nickte. »Achtet auf die Pferde, daß ihnen kein Gegner nahe. Du, Abdallah, wende deine Augen nicht von dem Fremden und schütte dein Lager dicht an unserer Seite.« Als er sich dem Tisch zuwandte, trat der Meister der Templer ihm entgegen. »Gefällt's Euch, Herr, so gönnt mir auf einige Augenblicke Eure Gesellschaft«, und das Tor des Chans öffnend, lud er ein: »Folgt mir hinaus in [] die Nachtstille.« Ivo sah zögernd nach dem Ismaeliten; da setzte der Templer hinzu: »Ihr werdet ihn hier wiederfinden, wie Ihr ihn verlaßt.« Im Freien begann er: »Euer Kaiser erforscht gern die Zukunft aus den Sternen; auch meine Brüder ehren diese Wissenschaft. Sie fragten die Himmelslichter nach dem Schicksal jenes Sohnes der Messer, den Ihr mit Euch führt, und ihnen wurde verkündet, daß dies seine letzte Reise ist und daß er gefällt wird, bevor er eine Burg seiner Genossen betritt.«

»Ich bin des Kaisers Bote, Herr«, antwortete Ivo, »und der Fremde ist meiner Ehre anvertraut.«

»Die Macht des Kaisers ist nichtig in diesem Lande, keinen andern Gewaltigen gibt es hier als den scharfen Stahl. Jener aber gehört zu einer Rotte von Mördern; sie werden von ihren Nachbarn erlegt, wie man den Wolf und die wilde Katze erschlägt, welche, allen Waldtieren schädlich, im Dunklen schleichen. Ein unchristlicher Einfall des Kaisers war es, dem Heiden das Leben zu bewahren, als er unter Eurem Schwerte lag, und Ihr begeht ein Unrecht gegen die Christenheit, wenn Ihr ihn heimzuführen strebt.«

»Ihr wißt, Herr, daß mir als einem Gesandten nicht ansteht, den Wert des anvertrauten Mannes zu schätzen.«

»Dann fürchte ich«, antwortete Montague ruhig, »daß Ihr selbst durch Euer Amt belästigt werdet. Denn als meine Brüder in den Sternen lasen, daß jener dort dem Tode verfallen ist, da erspähten sie auch, daß jeder, der für ihn das Schwert zieht, von dem gleichen Schicksal bedroht wird. Da Ihr ein Edler und ein Christ seid, so hielt ich für recht, Euch zu warnen.«

»Wisset auch, Herr«, rief Ivo stolz, »daß Ihr selbst Euch durch diese Rede in meine Hand gebt.«

Der Meister lächelte finster. »Ein Tor warnt, wo er verderben will, ich spreche in guter Meinung. Und ich sage Euch nur, was unsere Weisen aus den Sternen erforscht haben. Tut mit der Warnung, was Euch gefällt, ruft sie in die Berge, klagt sie dem Himmel oder schreit sie laut in den Hof. Blickt um Euch, Herr, die grauen Mäntel, welche Ihr vielleicht ringsum im Dämmerlichte seht, mögen Euch die Sicherheit geben, daß die Templer in dieser Nacht um Euch wachen. Zuletzt vernehmt noch dies: Meinen Brüdern verbietet ihr Eid, einen Christen, zumal wenn er das Kreuz trägt, mit ihren Waffen anzugreifen, außer in eigener Not zur Verteidigung. – Gefällt's Euch, so kehren wir zum Abendtrunk zurück.«

Ivo schritt im Hofe zum Grafen von Meran und rührte ihn am Arm. Dieser zuckte, als er den Mahnenden erkannte, aber so feierlich war der Ausdruck und die Haltung des Gegners, daß er sich erhob und zur Seite trat. »Ich bin gewarnt«, sprach Ivo, »daß [] mir und meinen Begleitern vor dem Ende der Reise ein Überfall droht, und ich hege Verdacht, daß er von Christen ausgeht, welche Gegner des Kaisers sind. Wie denkt Ihr Euch dabei zu verhalten?«

»Mich zwingt mein Amt, zum Sultan von Damaskus zu reiten«, versetzte Graf Humbert, »scheut Ihr Euch, Eure Reise zu wagen, so schließt Euch meinem Gefolge an, und wenn ich Euch gesund heimbringe, sagt dem Kaiser, daß Ihr Furcht hattet.«

»Solche Antwort habe ich erwartet«, versetzte Ivo ruhig, »doch war es meine Pflicht, von der drohenden Gefahr gegen Euch zu reden; denn es handelt sich hier um das Wohl eines Fremdlings, der in kaiserlichem Schutze reist, und um die treuen Leibwächter, für deren Heil ich zu sorgen habe.«

»Da Ihr Euch den Befehl über den Fremden und die Mauren vorbehalten habt, so müßt Ihr auch allein die Verantwortung für ihr Heil übernehmen.«

»Ihr sprecht wieder, Herr, wie ich erwartete«, antwortete Ivo, »und damit alles zwischen uns geordnet sei, bevor Ihr Euren Weg fahrt, so vernehmt noch die letzten Worte, welche ich Eurem und meinem Herrn durch Euch sende, da Ihr vielleicht dem Kaiser eher vor Augen treten werdet als ich. Der hochwürdige Bruder Montague sagte mir, daß die Templer einen Kreuzfahrer nur in eigener Not zur Verteidigung angreifen. Werde ich aufgehalten, so sind andere Christen weniger bedenklich gewesen.« Er kehrte dem Grafen den Rücken.

Der Graf von Meran trat zurück und sah unwillig nach dem Meister der Templer, der daneben stand und, die Worte Ivos bestätigend, mit dem Haupte nickte. »Seit wann haben die Brüder vom Tempel den Brauch zu warnen, bevor sie treffen?« fragte er leise.

»Seit sie für unrecht halten, in diesem Lande alte Kränkung zu rächen. Und ich sage dir, Humbert, meine Brüder sollen seinen Tod nicht auf ihre Seele nehmen, wenn es zu hindern ist.«

Die Feuer brannten nieder, der Meister brach mit seinem Gefolge nach der Burg Safitah auf, die Gesandten des Kaisers bereiteten in den Hallen ihr Nachtlager. Ivo streckte sich neben dem Ismaeliten auf den Teppich und befahl dem jungen Nubier, zwischen ihnen zu kauern, damit er im Notfall leise Worte von einem Ohr zum andern trage. Der Knabe erwies sich herzhaft und flüsterte: »Schlaft, Herr, ich wache.« Es war eine stille, bange Nacht, Ivo lag, auf den Arm gestützt, unbeweglich, aber seine ganze Seele war gespannt in Auge und Ohr; der Lärm in den Mauern war verstummt, er vernahm nur das Stampfen der Rosse und leise Seufzer der Schlafenden, und draußen in der Wildnis den Schrei eines Nachtvogels und das Gebell der Raubtiere. Zuweilen erhob [] sich der Knabe und warf ein Scheit in das niedergebrannte Feuer. So verging die Nacht den Schlaflosen. Als kaum der erste Tagesschimmer über den Himmel flog, rief der Marschalk des Grafen von Meran zum Aufbruch. Eilig wurden dem Grafen und seinem Gefolge die Rosse gesattelt, die Herren schwangen sich auf und ritten ohne Abschiedsgruß davon. Jetzt erst erhoben sich die gewarnten Helden, sie waren allein und Ivo atmete auf, als er ins Freie trat; vor der Herberge war alles still, nirgend ein Feind zu sehen, der Bergwind wehte frisch an die heißen Schläfen, und das aufsteigende Tageslicht weckte in allen Herzen neues Vertrauen. Ivo ergriff die Hand des Ismaeliten: »Vermögt Ihr allein Euch leichter zu retten als in unserer Gesellschaft, so laßt mich das wissen.«

»Säße ich auf meinem Roß, das die Berge kannte wie ich selbst, so würde ich die Verfolgung der Templer verlachen, aber dieses Tier ist aus der Ebene und nicht behender als die Euren.«

»Dann reiten wir als treue Genossen zusammen«, entschied Ivo. »Euch, Held Hassan, gebührt, uns zu führen.«

Hassan winkte zu den Pferden, er selbst ritt voran und lenkte seitwärts in die Berge. Es war ein heißer Ritt um das Leben, Felsen hinauf und hinab, zwischen die Stämme mächtiger Zedern, in grüne Täler, durch angeschwollene Waldbäche und wieder steile Berglehnen hinauf. Die Rosse schnoben und strauchelten, hoch aufgerichtet saß der Sohn der Berge, seine Augen fuhren spähend über Nahes und Fernes, oft änderte er die Richtung oder lenkte zurück auf bereits durchlaufenen Weg. Als Ivo ihn bei solcher Umkehr fragend ansah, wies er in die Ferne, und da Ivo nichts zu erkennen vermochte und mit dem Haupt schüttelte, hob er zwei Finger in die Höhe und rief mit einem Blick wilden Abscheues:

»Es sind Templer, sie verstehen sich auf Jagd in den Bergen.« Die Sonne stieg höher, die Pferde ermüdeten und traten unsicher, Ivo fühlte unter den Leichtbewaffneten den Druck seiner schweren Rüstung. Und wieder wies er warnend auf die stöhnenden Pferde.

»Sie müssen aushalten, oder wir verderben«, versetzte der Ismaelit. Weiter ging die Fahrt über Steine und durch stürzendes Wasser. Endlich hielt Hassan vor einer stillen Klippe, schwang sich vom Roß, zog ein rotes Tuch aus dem Gewande, und in die Höhe klimmend, ließ er das Tuch ins Tal wehen. Als er zurückkehrte, blickte Ivo in ein freudiges Gesicht. »Noch sind wir nicht am Ziele«, sagte Hassan, »aber Kinder der Berge wissen, daß wir nahe sind, und ihre Reiter jagen mit der Botschaft in die nächste Burg.« Und sich wieder auf das Pferd schwingend führte er einen Bergrücken entlang durch den Hochwald. Vor ihnen fiel die Höhe steil ab in ein kleines Tal, welches von einem reißenden Gebirgsbach durchströmt wurde. »Dort liegt das Land meiner Väter«, sagte er, mit einem Blick des Triumphes hinüberweisend, »der Bach ist die [] Grenze. Vermögen wir vor einem Anfall der Feinde hinüberzudringen, so sind wir der Gefahr enthoben, denn dort sammeln sich jetzt meine Brüder.« Vorsichtig stiegen die Reisenden in das Tal, drangen durch den kalten Bach, der seinen Schaum zu den Schaumflocken der zitternden Pferde warf, und trabten, die letzte Kraft aufbietend, den Hügel hinan, auf welchem ein hoher Grenzpfeiler stand, der ihnen ein Kreuz als Zeichen zukehrte. Ivo neigte sich vor dem heiligen Symbol, bevor er es hinter sich ließ, dann glitten sie in eine Senkung des Bodens hinab, die von hohen Zedern umschlossen war. Hassan hielt sein Roß an, sein dunkles Antlitz strahlte vor stolzer Freude, er wies nach dem Grenzstein zurück, in welchem auf dieser Seite zwei Messer eingehauen waren: »Hier ist meine Heimat.« Und würdig grüßend, sprach er: »Seid willkommen. Wir lagern und harren der Meinen. Mir deucht, schon höre ich den Klang der Hufe durch den Wald.« Die ermüdeten Reiter stiegen von den Pferden, Ivo band den Helm ab, warf sich erschöpft neben den andern auf den Boden und faltete seine Hände zu stillem Gebet.

Plötzlich stieß Hassan einen wilden Schrei aus, Ivo fuhr auf, die Stätte war von dunklen Gestalten in schwarzer Kriegertracht umringt, von allen Seiten flogen die Wurfspeere, und ein gellendes Kampfgeschrei folgte der Stille. Er zog sein Schwert und eilte dem Ismaeliten zu Hilfe, der, am Boden liegend, gegen einen ganzen Haufen Feinde rang. Da sprang ein einzelner Gegner auf ihn zu, diesem war die schwarze Kurdenmütze abgefallen, und Ivo starrte in ein Angesicht, das er wohl kannte; er rief, sein Schwert wegwerfend: »Nimm dein Recht«, und das Messer des andern bohrte sich durch die Rüstung in seine Brust. Seufzend sank er über den Leib des Isameliten. Im nächsten Augenblick waren die Mörder verschwunden, die Rosse der Getöteten entführt, lautlose Stille lag wieder über dem Tale des Todes, nur der Bergwind rauschte in den Wipfeln der Bäume.

Ungeduldig erwartete der Kaiser die Rückkehr seiner Gesandten. Er war mit dem Heere nach Süden aufgebrochen und lag bei Jaffa an der Straße nach Jerusalem. Seinem Vorsatz getreu, vermied er den Kampf mit den Sarazenen, aber er wußte trotz der Schwäche seines Heeres die Zauberkraft zu bewahren, die sein Wesen auf die feindlichen Fürsten ausübte, und benützte in den Verhandlungen meisterhaft die Uneinigkeit, welche die Sultane des Morgenlandes an gemeinsamer Tat hinderte. Endlich ritt der Graf von Meran in das Lager ein mit guten Versprechungen und reichen Geschenken des Sultans von Damaskus, ihm war alles wohlgelungen; von der andern Gesandtschaft wußte er nichts zu berichten, als daß er sie in der Herberge einer Grenzburg zurückgelassen hatte. Vergebens ließ der Kaiser durch ihn bei Templern und Johannitern, den nächsten [] Nachbarn der Ismaeliten, umfragen. Endlich kam vom Norden her ein Gerücht in das Lager, die Gesandtschaft sei von wilden Kurden, welche in dem Grenzland nach Raub umherstreiften, getötet worden. Da sprach der Kaiser traurig zu seinem Vertrauten Omar: »Du hattest falsch gerechnet. Nur was du mir prophezeitest, als er zuerst in mein Zelt trat, ist zur Wahrheit geworden, daß sein Dienst kurz und wohltätig für mich sein würde. Aber das Ende hat sich weit anders gefügt.« Der Araber eilte bestürzt zu seinen Kreisen und Sterntafeln, kehrte zurück und behauptete, der Geschwundene müsse noch wiederkehren. Da hoffte Friedrich aufs neue. Als aber Woche auf Woche verrann, sah er sich nach einem andern Boten in die Berge um und fand endlich einen redlichen Mönch aus sächsischem Kloster, der des Arabischen mächtig war; ihn sandte er mit einem Briefe heimlich über Damaskus in das Gebiet des Scheiks. Doch der Mönch brachte den Brief zurück, den Herrn der Berge hatte er gar nicht gesehen, denn er war in einer Grenzburg desselben aufgehalten worden, über das Schicksal der Gesandtschaft hatten die Ismaeliten ein finsteres Schweigen bewahrt und nur mündlich die stolze Antwort gegeben: sie wünschten dem Kaiser als einem hochsinnigen Helden Glück gegen seine Feinde, aber sie hätten erkannt, daß er zu schwach sei, um Treulosigkeit und Verräterei der Christen zu bändigen. Und der Glaube, dem so viele Schlechte vertrauten, sei ihnen verleidet und verhaßt.

Als die erste Nachricht von dem Überfall der Kurden zu den Zelten der Thüringe kam, schritt Henner schweigend in den Stall, sattelte sein Pferd und sprengte aus dem Lager, um seine Verzweiflung den Jüngeren zu verbergen. Da Lutz, besorgt um seinen Gesellen, nacheilte, fand er ihn auf der Höhe unter einem blätterlosen Baume sitzen, ganz verwandelt und weit älter als sonst. Er setzte sich zu ihm und faßte schweigend die Hand. »Du bist jung und du wirst wieder lachen«, sprach Henner, »ich aber habe ihn auf meinem Arm gehalten, da er ein Kindlein war, mir ist unerfreulich, daß ich ihn überleben soll, und ich sah aus, ob ich einen schweifenden Haufen von Bodwinen oder ähnlichem Heidenvolk erblicken könnten, um an diesen die Rache zu nehmen und ihm nachzufolgen.«

»Denkt auch daran, Marschalk, daß er vielleicht noch lebt«, tröstete Lutz, »und daß er Euch finden muß, wenn er zurückkehrt.«

»Tröstet Ihr Euch mit dieser Hoffnung!« stöhnte Henner, schlug die Hände vor sein Gesicht und weinte.

»Wir vernehmen oft«, begann der Jüngere wieder, »daß die Wüstenräuber gierig nach Lösegeld sind und lieber gefangennehmen als töten.«

»Unser Herr ist nicht leicht zu fangen«, versetzte der Marschalk rauh, »Ihr solltet doch wissen, daß er sich nicht ergibt und am wenigsten diesen unritterlichen Bösewichtern.«

[] Das mußte Lutz seufzend zugeben, und sie saßen wieder schweigend beieinander.

»Wenn er aber dennoch am Leben wäre und zu den Seinen zurückkäme«, begann Henner endlich, »so soll kein Auge ihn eher erblicken als das unsere, und wenn er zu Fuß kommt als ein müder Wanderer, so soll er hier eines unserer Rosse finden, damit er in das Lager reiten kann als ein Krieger. Merkt, Herr, daß dies von heut an unsere Warte ist, von der wir nordwärts blicken, denn hinter jenen Bergen ging verloren, was die Freude und Ehre unseres Lebens war.« Seit diesem Tage ritt der Marschalk täglich hinaus zu dem Baume und führte ein leeres Pferd an der Trense mit sich. Bald wußte man im Lager, daß die beiden dort auf ihren Herrn harrten; die Christen, welche des Weges zogen, sahen scheu hinüber und mancher sprach ein stilles Gebet für den Verlorenen.

Der Vertrag des Kaisers mit dem Sultan war geschlossen, der Kaiser erwarb die heiligen Städte Jerusalem und Bethlehem, und die Herbergen auf dem Wege von der Küste bis Jerusalem. Als ihm das große Werk gelungen war, ließ er die beiden Dienstmannen vor sich laden und sprach:»Die Kreuzfahrt wird vollendet, wir brechen morgen nach Jerusalem auf, und auch ihr Herren werdet mich um des Verlorenen willen begleiten, denn ich verspreche euch, durch die Fürsten der Sarazenen unter den Horden, welche im Lande umherziehen, nachzuforschen, damit wir Sicherheit gewinnen über sein Leben oder seinen Tod.«

Da riet Lutz ehrerbietig: »In der Begleitung des Herrn war ein schwarzer Knabe. Das Heidenkind ist schlau und vermöchte wohl Auskunft zu geben; ich denke, daß es nicht getötet ist, sondern irgendwo als Sklave weilt.«

Der Kaiser nickte: »Ich kenne den Knaben. Zwar ist die Hoffnung gering, hier im Lande einen Neger bei den Händlern aufzufinden, dennoch will ich auch daran denken.«

Als die Kreuzfahrer die Kuppeln und Mauern Jerusalems vor sich sahen, loderte in dem müden und entzweiten Heere die fromme Begeisterung aufs neue in hellen Flammen empor, die Pilger warfen sich zur Erde, küßten den Boden, schlugen die Brust, seufzten, ächzten und weinten und zogen unter Bußgesängen in ungeheurer Prozession durch die Tore. Der Kaiser aber stellte überall seine bewaffneten Haufen auf, damit die Entzückten den Sarazenen in der Stadt nichts zuleide täten. Da ihm die christlichen Priester zürnten und das Hochamt zu seiner Krönung verweigerten, so erstieg er selbst in der heiligen Grabskirche die Stufen des Hochaltars, hob die Königskrone Jerusalems vom Altar und setzte sie sich auf unter dem hellen Jubelgeschrei des Heeres. Den deutschen Ordensbrüdern aber verlieh er zur Belohnung für ihre Treue die Königsburg von Jerusalem und setzte die Bruderschaft, welche sich [] bis dahin mühsam gegen die anderen behauptet hatte, in den berühmtesten Herrensitz als Wächter der Heiligen Stadt. Und während seine Kreuzfahrer in vielen wallenden Haufen vor den zahlreichen geweihten Stellen knieten, tauschte er selbst höfliche Grüße und Versicherungen der Freundschaft mit den Sarazenen und veranstaltete zu seinem Vergnügen Wettgespräche, in denen die Weisen aus dem Morgen- und Abendland mit den schärfsten Waffen ihrer Dialektik und Rhetorik gegeneinander kämpfen mußten. Heimlich aber blieb sein Sinn auf die Heimkehr gerichtet, denn was er längst befürchtet hatte, war geschehen, sein Erbland, das Königreich Sizilien, war von einem päpstlichen Heere überschwemmt.

Die Ritter des Herrn Ivo hielten sich auch in der Heiligen Stadt gesondert von den übrigen unter traurigen Gedanken, und Henner fand seinen einzigen Trost in den Reden seines Gesellen Lutz, welcher fest an der Meinung hielt, daß ihr Herr noch am Leben sei. Auch aus Jerusalem ritten die beiden täglich zu der Straße, welche von Norden heranführte, sie hatten ihren Sitz auf hohem Felsblock gewählt, von dem sie ein weites Land übersahen. Dort begann einst Lutz: »Ich rate, Marschalk, daß wir bisweilen an das Heil unserer Seelen denken, damit wir nicht den Segen verlieren, der dem Pilger zuteil wird, wenn er an den heiligen Stätten kniet.«

Doch der Marschalk entgegnete finster: »Tut Ihr, was Euch frommt, ich aber vertraue, daß die Heiligen mein Gebet auch von diesem Stein erhören werden. Denn ich habe nicht viele Bitten an sie zu richten, sondern nur die eine, daß ich bald ebendahin fahre, wo mein Herr weilt, sei es auf Erden oder im Himmel oder sonstwo.«

Am Tage vor seiner Abreise ritt Friedrich mit Hermann von Salza aus den Mauern von Jerusalem. »Hier ist meine Arbeit getan«, begann er, »eine härtere erwartet uns in der Heimat. Das Banner des Kaisers weht über der Heiligen Stadt und die Abendländer können auf den heiligen Steinen ihre Knie wund reiben, ohne von den Ungläubigen gemißhandelt zu werden. Ich habe für mich und meinen Sohn die Krone vom Altar gehoben, und dich und deine Brüder habe ich ansehnlich gemacht vor den Leuten; ich höre, die deutschen Ritter drängen sich jetzt an die Pforten deines Hauses, um bei euch die Gelübde abzulegen. Beide haben wir gewonnen, was die Herzen der Gläubigen an uns fesseln muß, und die hohe Meinung der Welt soll uns Bürgschaft werden für künftige Siege. Wir brauchen Sie, Hermann«, fuhr er mit düsterm Lächeln fort, »denn in Wahrheit reitet jetzt der Kaiser neben dir als ein König ohne Land. Und ich würde teuren Preis dafür bezahlen, wenn ich mit dir auf dem Zaubermantel eines weisen Meisters nach Italien fliegen könnte, denn mir brennt das Herz darnach, an meinen Feinden Rache zu nehmen. Wer sind jene«, unterbrach er sich, nach [] der Höhe weisend, »die über dem Grabe der alten Kaiserin Helena die Speerwache halten?«

»Es sind die Dienstmannen des edlen Ivo«, antwortete der Meister ernsthaft, »sie wollen der Hoffnung nicht entsagen, daß ihr Herr zurückkehre.«

Friedrich ritt an die Traurigen und sprach zum Marschalk: »Vergeblich war alles Hoffen, ihr Treuen; gern werde ich selbst euch in meinem Dienste behalten, in Italien habe ich scharfe Arbeit für eure Schwerter. Auch Held Ivo würde mir seine Waffe gegen die welschen Feinde nicht versagt haben.«

Henner antwortete mit bebender Stimme: »Möge der Majestät des Kaisers alles wohl gelingen. Uns zürnt nicht, wenn wir noch hier beharren, bis wir untrügliche Kunde erhalten, ob unser Herr aus dieser Welt geschieden ist. Denn ganz Verworrenes reden die Leute. Wir aber meinen, daß er uns in diesem Lande finden muß, wenn er dennoch zurückkehrt, und wenn die Kunde erschallt, daß er irgendwo am Leben ist, so müssen auch wir zur Stelle sein, um sie sogleich zu vernehmen. Sobald wir unserer Pflicht gegen das Kreuzheer enthoben sind, denken wir nordwärts zu reiten, und selbst im Grenzlande zu suchen.«

Da gebot der Kaiser, daß sie sich noch bei seinem Kämmerer melden sollten, um Reisegeld zu empfangen, und sprach traurig zu Hermann: »Dies ist das Land, wo sich jeder für seinen Glauben unsinnig gebärdet. Aber das törichte Vertrauen dieser zwei armen Männer ist ehrwürdiger als manches Pochen auf hohe Verheißung.«

Friderun

Jahraus, jahrein säten die Thüringe die goldenen Halmfrüchte in den Ackergrund, aber die alte Fruchtbarkeit des Bodens, durch welche sie kräftig und stolz geworden waren, wollte nicht zurückkehren. Die Sommerglut dörrte, die schützende Schneedecke blieb aus, der Rost befiehl die Ähren und die Feldmaus tilgte das Saatkorn. Darum blieben die Leute ärgerlich und fuhren unruhig durcheinander. Noch anderes kränkte die alten Bauerndörfer am Nessebach. Als die Landgenossen sich einst versammelt hatten zu gebotenem Ding unter der Gerichtslinde in der Nähe von Friemar, kam ein Zug landgräflicher Reiter herangesprengt mit Edlen der Umgegend, mit Geistlichen und Hofherren. Und der Kanzler las dem erstaunten Ring der Versammelten große Briefe vor von Kaiser und König und von dem Landgrafen, in denen verkündet wurde, daß das kaiserliche Gericht der freien Thüringe aufhöre und daß alles Recht fortan im Namen des Landgrafen verkündet werde. Denn der Kaiser hatte den großen Gebietern in Deutschland dies [] Herrenrecht mit vielem anderem gewähren müssen, damit sie auf seine Seite traten und bei dem Heiligen Vater die Lösung vom Banne betrieben.

Als die Briefe gelesen waren und die Landleute schweigend und erschrocken standen, ritt Graf Meginhard vor und sprach gegen den Richter: »Wollt Ihr dem Landgrafen den Eid leisten, wie Ihr ihn einst dem Kaiser geleistet habt, so möget Ihr Euer strenges Amt auch in der neuen Ordnung bewahren.«

Da antwortete der Richter, sein Haupt erhebend: »Viel Neues ereignet sich jetzt auf Erden und alter Brauch vergeht schnell; ob das Neue besser sein wird, darüber mag ein jüngeres Geschlecht urteilen, wenn es den Schaden fühlt. Ich aber stehe unter dieser Linde als ein alter Mann; im Namen meines Herrn, des Kaisers, bin ich geritten mit meinem Knecht, bis mein Haar weiß wurde. Soll der Name des Kaisers fernerhin verschwiegen bleiben, wenn die Schöffen unter der Linde sitzen oder stehen, so tue ich mich ab von meinem Amte, und ein anderer mag mit meinem Werkzeuge reiten, wenn es ihm gefällt.« Er legte den Strang und das Schwert auf die Gerichtsbank und trat finster zurück in den Ring.

Friderun stand auf dem Hügel unter der Linde, der Herbstwind schüttelte den Wipfel, und sie sprach Else vor sich hin: »Ich weiß eine Magd, die einst in stolzem Mute ihren Kranz auf die Zweige warf, das ist lange her. Seit ich traure, trug die Linde dreimal ihr grünes Kleid und dreimal zerriß es im Wintersturm. Als er hinausritt in die Fremde, sprach er: Auf Wiedersehen, will's Gott, im nächsten Mai. Es währte lange, da kam der Mai ins Land und mancher frohe Sommervogel flog heran und baute sein Nest in der Linde. Er aber blieb aus, und wenn die Magd die Kleinen im Laube nach ihm fragte, so sangen sie ihr die Antwort: Er ist nicht da, so kommt er wohl bald. Die Sänger flogen davon und die Krähen schrien auf den Ästen. Doch als die Tagvögel zum andernmal kamen, und die Magd wieder fragte, klagten sie traurig; Weit ist die Reise, nicht jeder, der ausflog, kehrt zurück. Und da sie zum drittenmal Bescheid geben sollten, flatterten sie scheu davon und weigerten die Antwort; und wenn die Magd hinaussah auf die grüne Heide, standen die Blumen welk und fahl, und sie hatte niemand, den sie fragen konnte, als die Wolken und Wind. Der Sturm fegte die Blätter hinab, die Wolken fuhren um den bleichen Mond, und sie rief in den wilden Sturmwind hinein: Dir will ich klagen, du sollst von dem einen Botschaft sagen. Da war ihr, als rufe aus den Wolken zur rechten Hand ein Reiter auf grauem Nebelrosse: Er liegt gefangen im Heidenland. Doch von links rief ein schwarzer Reiter: Er liegt still und tief unter dem Rasen. Seitdem war alles Hoffen der Magd geschwunden und sie weinte, wo [] niemand ihre Tränen sah.« Friderun setzte sich auf einen Stein und barg das Gesicht in den Händen.

Aus der Ferne klang Hufschlag. »Die Reiter kom men«, rief sie aufspringend.

Auf dem Wege von Erfurt nahte ein Ritter mit seinem Knecht, er stieg am Holze ab, warf dem Begleiter die Zügel zu und eilte zu dem Steine.

»Berthold mein Bruder!« grüßte Friderun, »du trägst den Rittergurt?«

»Meine Lehrzeit ist vorüber«, versetzte Berthold stolz. »Und auch die drei Jahre gingen zu Ende, in denen jene dort der heilige Frieden beschützte.« Er wies zornig nach der Gegend des Niederhofes.

»Die Rache hinkt, welche gegen die Toten reitet«, antwortete Friderun.

»Noch leben manche, welche meine Faust fühlen sollen. Das ganze Erbe gehört jetzt zu Recht dem Grafen Meginhard, und es ist wohl möglich, daß er einen seiner Getreuen ausstattet mit dem Hofe, in dem meine Feinde stolzierten.«

»Du denkst dich selbst in dem fremden Hofe niederzulassen, du ritterlicher Knabe?« fragte Friderun zornig. »Was der Graf tut, mag er vor dem Himmelsherrn verantworten. Wenn aber du aus dem Bahrtuch eines edlen Geschlechtes für dich ein neues Knechtsgewand zu schneiden hoffst, so wisse, Berthold, daß du einen Feind finden wirst, der dich als untreu verklagt, und dieser Feind will ich sein.«

»Du!« rief der junge Ritter unwillig. »So höre auch du, Schwester, was ich dir ungern sage, die Zeit ist vorüber, wo ich deine stolze Weise geduldig ertrug. Ich bin ein Mann geworden, und nach dem Vater, der grollend in seinem Hofe sitzt, werde ich dein Herr, und mir steht es zu, über deine Zukunft zu beschließen.«

»Und was hast du beschlossen?« fragte Friderun, die Arme übereinander schlagend.

»Ich meine es gut mit dir und will, daß du die Frau eines ehrlichen Ritters wirst. Mein Geselle Konz, gegen den du dich immer so hochmütig hältst, kann das Wohlgefallen an dir nicht verwinden und sprach erst gestern von seinem Wunsche, dich zu freien. Ich denke, der Vater wird sich fügen, wenn du nur willst. Sollte aber der Alte widerstehen, so ist mein Geselle auch bereit, seine Zeit abzuwarten, sobald du ihm nur gutwillig zulachst.«

»Ich bin euch beiden, ihr strengen Ritter, dankbar für das Los, welches ihr mir bereiten wollt«, antwortete Friderun verächtlich. Doch sogleich fuhr sie in anderm Ton fort: »Mein armer Bruder! Es war ein schweres Schicksal, das dich unter dies Reitervolk geschleudert hat. Dennoch hätte ich von dir mehr [] Liebe erwartet, als daß du mich dem ungeschickten Manne vermählen wolltest.«

»Er ist immer freundlich gegen mich gewesen«, versetzte der Bruder, »weil er auf dich gehofft hat; auch daran solltest du denken.«

»Ja, Berthold, die Schwester ist der Preis gewesen, durch den du dich in der Gunst deines Genossen eingekauft hast. Das war nicht treu gegen mich, und du mußt es jetzt tragen, wenn er dir wegen meiner Weigerung zürnt. Denn niemals werde ich seine Hausfrau.«

»Was soll aus dir werden?« fragte der Bruder zornig.

Die Magd sah zum Himmel hinauf. »Ich bleibe bei dem Vater, er bedarf meiner Dienste mehr als sonst, denn sein Mut ist beschwert, und er grübelt über die arge Zeit. Auch um deinetwillen bleibe ich. Täglich, wenn ich deinen Sitz an unserm Herde leer sehe, denke ich daran, wie wir als Kinder miteinander im Herdloch kauerten, ich als Hauskatze und du als Schäferhund. Jetzt ist mein Hündlein unter die Wölfe geraten, und ich fürchte, es wird entweder seinen frommen Sinn verlieren, oder die Argen werden es zerreißen.«

»Sprich nicht so wehmütiges Zeug, das hier ganz ungehörig ist«, versetzte Berthold unruhig, »und höre verständig auf meine Worte.«

»Ich bin verständig, Bruder«, sprach Friderun, seine Hand festhaltend. »Setze dich zu mir, Berthold. Mutterlos wuchsen wir zwei Geschwister auf, und wenn der Vater hart war, suchten wir Trost beieinander. Mir ist oft einsam im Hofe, und die Sehnsucht nach dir und deinem sorglosen Lachen verläßt mich nicht. Ich denke mir, daß auch du unter den Fremden keine Schwester gefunden hast, mit der du vertraulich reden kannst, wie du einst mit mir tatest.«

Berthold setzte sich willig zu ihr, sie sah ihn liebevoll an. »Du bist mannhaft geworden, und ich muß dich loben, du eitles Kind, deine Löckchen hängen dir lustig um die Wange. Aber dein Auge fährt unruhig umher, und ich fürchte, sie haben dich zu mancher Tat verleitet, deren ein redlicher Mann ungern gedenkt.«

»Jeder Dienst verlangt Gehorsam«, sagte der Bruder trübe.

»Du warst ein Freier und an friedliche Sitte gewöhnt. Doch Vergangenes macht niemand ungeschehen«, fuhr sie seufzend fort. »Da du ein Ritter geworden bist, müssen wir beide darauf denken, daß dir dein Leben nicht in fremdem Dienst verdorben werde. Vernimm, mein Bruder, was dich trösten soll. Du hast jetzt keine Hoffnung, den Zorn des Vaters zu versöhnen, aber was ich als seine Tochter tun darf, um dir dein Erbe zu bewahren, darauf bestehe ich. Deshalb verpflichte dich nicht gegen die Mühlburger.«

[] Berthold erhob sich: »Du bist eine treue Schwester, doch du verstehst nicht, was ritterliche Pflicht gebietet.«

»Kannst du dich nicht heut und nicht morgen von ihnen befreien, so tue es allmählich. Denke immer daran, daß deine Zukunft nicht von ihrer Gunst abhängt und daß es noch andere gibt, die um dein Glück besorgt sind. Und laß mich dein vertrautes Gesicht bald wiedersehen, mein Bruder.«

Friderun sah dem scheidenden Berthold traurig nach. »Ein ungetümer Drache wälzt sich um den Edelhof, nicht lange, er dringt hinein und verzehrt Habe und Gut. Der Held aber, der diesen Drachen erlegt, ist geschwunden. Auch dem Hofe des Bauern wird der Untergang des edlen Hauses zum Verhängnis, der Sohn zieht unstet auf den wilden Wegen, und die Tochter wird auf dem Steine ein altes Lied singen, bis ein neues Geschlecht sie und ihren Gesang verlacht.« Sie sprang erschrocken auf. »Eine Mahnung erhalte ich vom Schicksal, schwarz ist das Roß, welches dort herankommt, und schwarz ist der Reiter; ich weiß, was mir der Hufschlag bedeutet.« Bleich und starr sah sie auf den Weg.

»Seid gegrüßt, Magd Friderun«, rief ein bärtiger Krieger ihr zu, »ein gutes Vorzeichen soll es für mich sein, daß ich zuerst Euch finde.«

»Lange weiltet Ihr in der Fremde, Bruder Gottfried«, antwortete die Magd tonlos, »das Kreuz der Bruderschaft hing über leerem Hause.«

»Wir kommen und gehen, wie der Meister gebietet, diesmal denke ich nur kurze Zeit bei Euch zu bleiben.«

»Ihr kommt aus dem Morgen, bei uns wurde es Abend. Was bringt Ihr Neues für die Meinen und mich?«

»Aus Accon, einer Burg der Christenheit, bin ich herzugereist, und Euch bringe ich Botschaft aus dem Libanon.«

»Sprecht, ich höre«, murmelte Friderun unbeweglich.

Der Bruder griff in sein Gewand und bot ihr ein seidenes geknotetes Tuch, das mit vielen Schnüren umwunden war. »Ein sächsischer Mönch, der als Waller von Antiochien nach Damaskus zog, empfing dies heimlich in einem Tal der Ismaeliten von einem thüringischen Manne; traurig war der Geber und ein Notzeichen nannte er die Gabe, er gebot dem Mönch, sie in einem Haus unseres Ordens abzugeben zugleich mit dem Wahrspruch: Friderun aus Friemar sprang in die Flamme.«

Die Jungfrau stürzte auf die Knie, die zitternden Finger lösten und rissen an der Schnur, sie schlug das Tuch zurück, ein Strang Menschenhaare ringelte sich in ihrer Hand, und sie schrie: »Die Haarlocke ist es, das letzte Notzeichen des Bedrängten. Sein Haar ist es, er weiß, daß ich die Farbe kenne, er lebt und ruft nach Hilfe.« Sie warf sich an dem Baume nieder, hob die Arme gen Himmel, lachte und weinte zu gleicher Zeit.

[]

Am Abend saß eine kleine Zahl älterer Männer am Herdfeuer des Freihofes, die Tür war verschlossen gegen Regen und Sturm, die Flamme schien auf graue Häupter und gefurchte Gesichter; es waren Bauern des Dorfes, die meisten seit alter Zeit dem Geschlechte des Richters Bernhard verwandt. Hinter ihnen auf der Bühne stand Friderun, den Arm auf das Geländer gestützt, sah sie zu, wie die Flamme loderte und der Rauch in der Höhe sich zu dicken Wolken ballte. Und ein alter Bauer begann. »Über dem Wald sieht man hellen Feuerschein, dort werden Häuser gesengt und neue Frucht verbrannt, denn es ist Fehde zwischen den Dienstmannen des Hennebergers und den Landgräflichen.«

»Nie dachte ich zu erleben«, fuhr der Schöffe Isenhard fort, »daß der grobe Mann, den sie Ritter Konz von der Mühlburg nennen, jemals auf dem Grafenstuhl Gericht halten sollte über freie Bauern; sonst ehrte der Richter in Wort und Gebärde den höchsten Herrn der Christenheit, diesmal war von dem Herrn nicht mehr die Rede. Ganz unordentlich und greulich hielt der Plumpe das Gericht, denn er mengte die Worte und herrschte die Schöffen an, als ob sie von seinem Gesinde wären.«

»Ich gedenke noch der Zeit«, sprach Hartmann, ein treuer Nachbar des Hauswirts, »wo die Leute bei uns lachten und fluchten, wenn jemandem einfiel, den Herrn Papst zu rühmen. Damals war ein großer Streit in der Christenheit, wer stärker sei, der Kaiser oder der Papst, doch jetzt ist dies anders geworden, man vernimmt wenig vom Kaiser und viel vom Papste.«

»Vielleicht ist das besser, vielleicht auch nicht«, antwortete vorsichtig der erste Bauer.

»Damals«, fuhr Hartmann nachdrücklich fort, »fragten die Leute, ob der Vater der Christenheit zu Rom mit seinem Gefolge in Wahrheit die Gewalt habe, das Himmelreich den armen Seelen zu öffnen oder zu sperren. Ich merke, daß jetzt niemand darüber spricht, und ich möchte wohl wissen, ob es noch viele gibt, die den Zweifel hegen.«

»Die meisten fürchten sich, zu fragen«, versetzte der erste Bauer. Die Männer sahen einander bedeutsam an.

Da sprach Bernhard mit starker Stimme: »Eine Verkündigung vernahmen wir, daß vor dem Ende der Welt eine neue Ordnung kommen soll und eine Herrschaft des Antichrists, welcher sich auf dem Stuhle niedersetzt, der für unsern Herrn Jesus, den Sohn des Himmelsgottes, errichtet ist; in dieser Zeit wird der Sinn von Geistlichen und Laien verkehrt, und sie werden dem falschen Gott dienen, der sich frech vermißt, an Stelle des Herrn zu herrschen. Manche von uns sorgen, daß diese Zeit der Betörung nahe sei, denn der Acker beharrt darauf, die Frucht zu versagen, das alte Recht schwindet und ärger als je zuvor reiten die Diebe aus den Burgen [] und schnüren dem Landmann das Haupt mit seiner Peitschenschnur, damit er ihnen das Versteck eröffne, in dem er sein Geld birgt. Braune Mönche schweifen durch das Land, rufen die armen unfreien Leute, welche uns seither dienten, auf, daß sie die echten Gotteskinder seien, und hetzen die einfältige Menge gegen uns.«

»Wir wissen«, sprach Isenhard tröstend, »daß vieles auf Erden in das Arge verkehrt ist. Aber manche schwere Zeit erlebten wir, und ihr folgten bessere Tage. So denke auch ich, daß die beiden neuen Bedrücker, welche uns den Frieden in Unfrieden verkehrt haben, die schweifenden Bettler, welche sich Mönche des Heiligen Vaters nennen, und die schlechten Richter, welche den Kaiser verleugnen, nicht ewig dauern werden. Denn wir sind nicht herrenlos, noch lebt unser Kaiser. Alle verkünden, daß er ein weiser und machtvoller Herr ist, der den Pfaffen und Mönchen gewaltig widersteht. Aber er ist fern von uns, und er weiß in der Fremde nicht, was uns, den Freien am Walde, Sorgen bereitet. Käme er zu uns und sähe das Leiden, er würde es an sich nicht fehlen lassen. Denn das ist sein Amt; und wir alle haben von unsern Vätern gehört, daß die Kaiser einst durch das Land geritten sind mit großem Gefolge, den raubenden Rittern haben sie die Burgen gebrochen und die Missetäter an die Bäume gehenkt, an grüne und an dürre, je nach dem Maß ihrer Untaten. Darum soll, soweit ich erkenne, unsere Sorge sein, ob wir den Kaiser zur Hilfe rufen können gegen die wilden Mönche, welche mit dem Holzstoß drohen, und gegen die Räuber, welche prahlen, daß sie im Dienste eines Herzogs oder Landgrafen mit unserer Habe und unseren Kindern zu schalten vermögen, wie ihnen beliebt.«

»Ihr sprecht verständig«, versetzte Bernhard, »aber wer wagt so laut zu schreien, daß seine Klage über deutsches und welsches Land hinausschallt bis an das Meer, wo die Heiden wohnen, denn dort waltet der Kaiser. Vieles und Schweres haben wir ihm zu künden, vielleicht«, fuhr er mit leuchtenden Augen fort, »auch manches, was ihm selbst ein teurer Gewinn sein kann. Denn er lebt in starker Feindschaft mit dem Manne zu Rom, der sich für den Herrn der Welt ausgibt, weil er ein Nachfolger der heiligen Apostel ist. Die Apostel aber haben wieder die Herrschaft empfangen von dem Sohne des Himmelsherrn. Darum erlügen die Pfaffen, daß der Sohn gleiche Macht und Herrlichkeit habe wie der Vater, damit sie den Mann in Rom und seine Gebote gleichmachen dem Himmelsherrn und den Geboten des alten Gottes selber. Wir aber haben erkannt und wir wissen, wie unser lieber Herr und Heiland in seiner Demut selbst bezeugt hat, daß sein Vater mehr ist als er. Hat der Herr Papst seine Macht von dem Sohne, so hat unser Herr Kaiser sein Recht und seine Macht von dem Vater; denn der Vater selbst hat in dem Erdgarten die Menschen geordnet und jedem sein [] Amt und seine Arbeit festgesetzt. Dies heilige Geheimnis haben wir erkundet, und wir sind bereit, dasselbe vor aller Welt zu bezeugen. Denn wir besitzen einen unumstößlichen Grund dafür, das eigene Wort des Herrn, wie es niedergeschrieben wurde und besprengt mit dem Blute eines redlichen Bekenners. Das könnte dem Kaiser zum Siege verhelfen in seinem harten Streit mit dem Papst zu Rom, wenn er die heiligen Worte erfährt, welche sein Recht besser machen als das des andern, und wenn er solche Wahrheit verkünden läßt durch alle Lande, damit jedermann sie wisse. So vermöchten auch wir dem Kaiser zu helfen, wie er uns helfen soll. Und wieder beklagen wir, daß der Kaiser uns verlassen hat; denn wer von uns Bauern kann mit solchem Gruß viele hundert Meilen über ungeheure Berge und über das wilde Meer zu ihm dringen?«

Die Männer sahen in die Flamme und schwiegen; von oben klang eine Frauenstimme: »Die Freien von Friemar hatten einst unter den Edlen einen Genossen, welcher bei den Königen das Wort für sie führte.«

»Die wir einst hatten, wir haben sie nicht mehr, sie sind verdorben und gestorben«, versetzte der Vater.

»Hat auch die Grafen auf der Mühlburg ihr Hofdienst verdorben, die Herren im Niederhof haben uns billigen Sinn bewährt, sie vermöchten am ersten ihre Stimme für euer Recht zu erheben und den Kaiser, dem sie lieb sind, an eure Not zu mahnen.«

»Was rufst du die Toten, Friderun, der letzte von ihnen, der unter uns sein Haupt hoch trug, ist getilgt.«

»Er lebt«, rief Friderun, »so wahr auf die Nacht der Morgen kommt und auf Wettersturm das milde Sonnenlicht! Er lebt, aber er liegt in Not und Gefängnis, und er fordert von uns Hilfe für sich.« Sie stieg die Stufen herab und zog aus dem Gewande ein seidenes Tuch hervor, schlug es auseinander und hielt eine Locke in die Höhe. »Dies ist Haar von seinem Haupte, welches er in unsern Hof sandte, damit wir ihn retten. Der Bärtige brachte diesen Gruß aus dem Heiligen Lande, ein Pilger empfing ihn von Herrn Ivo, der in Haft liegt bei dem wilden Heidenvolk, welches sie die Ismaeliten nennen. Dies ist in Wahrheit seine Locke, und als er sie dem Boten gab, sprach er einen Wahrspruch dazu, welchen nur wir kennen. Darum, mein Vater, beschließt, wie Ihr ihm helfen mögt.«

Die Landleute sahen scheu auf das ehrwürdige Notzeichen, welches Friderun unter ihnen in der Hand hielt.

»Ist das Zeichen echt«, begann der Richter, »so mahnt die Tochter nicht ohne Grund; denn wisset, ihr Freunde und Eidgesellen, ich bewahre einiges von seiner Habe, was er mir beim Abschied anvertraute. Ist er ein Gefangener, der durch Lösegeld befreit werden kann, so mag ihn vielleicht retten, was er meinem Herde übergab.«

Wieder saßen die Männer nachdenklich, bis Isenhard begann:

[] »Ihr dachtet daran, ihn als Helfer zu gewinnen, und er begehrt Eure Hilfe für sich, so wächst zu der alten Sorge die neue. Schon war der Wagen überladen, wie vermögen die Rosse zu ziehen, wenn eine größere Last dazu kommt?«

»Darf ich sprechen in Eurem Rat, Vater?« fragte Friderun.

»Wollt ihr mein Kind hören? Ist sie auch ein Weib, so wurde ihr doch die Gabe nicht versagt, guten Rat zu finden.«

Die Männer nickten bedächtig. »Wir wissen, daß etwas in dir ist, Friderun«, ermunterte Hartmann, »was manchen mit Scheu erfüllt, mich aber mit Freude.«

»Sendet einen Boten zum Kaiser«, rief Friderun mit blitzenden Augen, »vertraut dem Boten an, was euch beschwert, und vertraut ihm den Schatz an, damit er ihn in die Hand des Kaisers lege. Denn wenn irgendein Mann, so vermag der Kaiser den Herrn Ivo zu lösen. Seine Herrlichkeit ist gefürchtet im Abend und im Morgen, und man sagt, daß auch die Heidenkönige sich vor ihm neigen wie vor einem Herrn und ihn durch reiche Geschenke ehren. Und, Vater«, rief sie begeistert und kniete nieder, seine Hand ergreifend, »der Bote will ich sein, laßt mich ziehen.«

»Du?« rief der Richter, und sein Antlitz erblich in der heftigen Bewegung. »Du bist mein letztes Kind, und du bist ein Weib. Soll ich auch dich verlieren?«

»Nicht verlieren sollst du mich, Vater, sondern besseres Glück durch mich gewinnen. Pilgern nicht alljährlich viele Frauen nach Rom und kehren ungekränkt zurück. Warum soll mir es schwer sein, zu unserm Kaiser zu dringen? Bedenke, Vater, daß wir bessere Hilfe haben als viele andere«, und sie legte schnell die Hände zusammen, wie die Bärtigen taten, wenn sie mit den Zugewandten der Bruderschaft Gruß tauschten. »Ich bin ein Kind der Thüringe und fürchte mich nicht vor den Fremden.«

Da der Richter nicht antwortete, so erhob sich der alte Hartmann und sprach feierlich zu seinem Genossen: »Ob Ihr als Vater die Tochter an solche Botschaft wagen wollt, das steht bei Euch allein, und wir andern dürfen nicht zureden und nicht abmahnen. Doch es handelt sich um ein großes Werk, und das Schicksal von manchem unter uns mag daran hängen. Und deshalb sage ich hier nach meinem Gewissen, daß die Freien von Friemar keinen besseren Boten durch die wilde Welt senden können als unser Kind Friderun. Denn wir alle wissen und vertrauen, daß sie eine reine Magd ist, welche niemals einem Manne heimlich zugelächelt hat wie andere Mädchen im Dorfe. Einer solchen gelingt aber auf Erden, was einem starken Manne versagt ist, und sie ist begnadigt vor anderen Menschen, daß die Argen sie scheuen und die Gefahr von ihr weicht und die liebe Sonne freundlicher auf ihrem Wege scheint als vor anderen. Darum sorge ich auch nicht übermäßig um die Gefahren [] einer weiten Fahrt, nicht wegen der Räuber, wenn sie einen Schatz trägt, und nicht wegen der Heiden, wenn sie durch ihre Schwerter wandelt. Einen Edlen vermögen wir dem Kaiser nicht zu schicken, aber wir senden ihm das Vornehmste, was wir haben, eine Jungfrau, welche den Menschen und den Engeln lieb ist und welcher die Gabe der Rede zugeteilt wurde und zuweilen große Gedanken, denen auch wir Alten willig Gehör geben.«

Friderun stand mit gesenktem Haupt, während der Alte sprach, jetzt neigte sie sich wieder zu ihrem Vater herab und faßte Knie und Hand. Dem Alten rannen die Tränen über sein ehrwürdiges Angesicht, er legte den Arm um sie, küßte sie auf die Stirn und sprach: »Geh, und sage auch unserem Kaiser, daß Bernhard, der sein Richter war, ihm das Liebste sendet, was er noch auf Erden sein nennt.«

Am nächsten Morgen ging Friderun nach dem Edelhofe. Der Hof war leer, wie ausgeräumt, die Stalltüren standen offen, die Rosse waren bis auf zwei Klepper entführt. Als die Magd ein klägliches Brüllen hörte, trat sie in den Kuhstall, dort fand sie die letzte Kuh vor leerer Krippe. Sie sprang auf den Futterboden, holte von dem geringen Heuvorrat und legte der Hungrigen vor. Dann eilte sie über den öden Hof nach dem Herrenhause, öffnete die Tür der Stube, in welcher Herr Godwin hauste, und rief auf der Schwelle: »Er lebt.«

In seinem Bett lag Godwin, schwach und verfallen, an der Seite saß Nikolaus und las ihm aus einem kleinen Pergamentband Gebete vor. Als die beiden Friderun erkannten, welche freudestrahlend mit gehobener Hand die Verkündigung brachte, erhoben sie sich aus ihrer Bekümmernis, Godwin starrte mit gefalteten Händen nach der Tür, und Nikolaus sprang auf, um der Magd entgegenzueilen, aber er hemmte den Schritt, da er ihre Verklärung erkannte, denn ihm kam plötzlich die Erkenntnis, daß die Magd um einen andern mehr sorge als um ihn. »Der Herr lebt«, wiederholte Friderun, zu dem Lager tretend, »er liegt im Morgenlande gefangen, und ein Bote wird zu unserm Kaiser wandern, damit sein Wort die Befreiung verschaffe. Ihr zuerst sollt das wissen, Herr Godwin, und niemand anders, denn schädlich wäre es, davon zu reden; nur damit Ihr ausdauert, sage ich's Euch; will's Gott, kehrt er dennoch wieder.«

Der Alte hatte sich aufgerichtet, er beugte jetzt schweigend sein Haupt über die heftig zitternden Hände.

»Die Mühlburger haben den Hof geräumt«, sagte Nikolaus leise, »seitdem ist seine letzte Kraft gebrochen, und ich fürchte, es geht bald mit ihm zu Ende.«

Godwin faßte die Hand der Magd und wollte sie an sein Lager ziehen, sie aber sprach, über ihn gebeugt: »Ich darf mich nicht [] setzen und ich darf nicht rasten, denn Großes liegt mir auf der Seele, und ich bin nur hier wie die Schwalbe, wenn sie sich im Fluge durch den Hof schwingt, bevor sie den weiten Weg in die Fremde beginnt. – Wie kommt's, Nikolaus, daß Frau Jutte nicht nach dem Vieh im Stalle sieht? Ihr müßt sie bitten, ich darf nicht zu ihr gehen, weil ihr Hauswirt unser Geschlecht gekränkt hat.«

»Auch dort ist Not und Kummer«, klagte der Schüler, »die Knaben sind krank.«

»Ich sende Euch noch heut aus unserem Hofe, was Ihr zunächst brauchen mögt, später soll der Vater für Euch sorgen.«

»Ich frage nicht«, begann Nikolaus traurig, »wer der Bote zum Kaiser sein soll. Laßt mich Euch begleiten, Friderun.«

Die Magd schüttelte das Haupt. »Nimmer, Nikolaus; Ihr habt einmal von Eurem günstigen Willen zu mir gesprochen, und ich habe Euch Bescheid gegeben, wie ich mußte. Wollt Ihr dem Herrn, dem Ihr Euch einst gelobt habt, Eure Treue erweisen, so verlaßt den Kranken nicht, und gewinnt Ihr Zeit, so seht nach meinem lieben Vater, denn in schwerer Sorge um ihn ziehe ich aus dem Lande.«

»Wie wollt Ihr allein über Berg und Tal in die Fremde?« fragte Nikolaus, die Hände ringend.

»Es ist für mich gesorgt, ein Bruder von den Bärtigen geht von der Naumburg zu seinem Meister nach Welschland, ihm vertraue ich mich, damit sein Kreuz mich schütze.«

Wenige Tage darauf hielt ein alter Ritterbruder mit seinem Knecht vor dem Hofe Bernhards und sah schweigend zu, wie die weinende Friderun sich vom Halse des Vaters löste und noch von ihrem Rößlein den Segen des Himmels für den Hof erflehte. Erst als sie eine gute Wegstrecke geritten waren, redete er die Traurige an: »Die Sorge für Euch ist mir von Bruder Arnfried auferlegt, und was ich bis jetzt von Euch gesehen habe, gefällt mir recht wohl. Doch mögt Ihr selbst denken, daß es mir geringe Freude ist, mit einem Weibe durch das Land zu ziehen, zumal ich in gewichtigen Sachen reise und eilig bin. Ich fürchte, Ihr werdet mich aufhalten.«

»Duldet mich, solange Ihr dürft«, bat Friderun. »Auch ich habe Eile und reite für Leben und Freiheit eines andern.«

»Sagt mir nichts, was ich nicht zu wissen brauche, denn wir Brüder kümmern uns nicht um fremde Geschäfte; nur was für den Weg nötig ist, laßt mich erfahren. Wollt Ihr auf Eurer Pilgerfahrt bei Heiligtümern eintreten oder sonstwo?«

»Nein, ehrwürdiger Bruder, zwischen Euch und mir muß Vertrauen sein«, antwortete Friderun, »sollt Ihr für mich sorgen mit freudigem Willen, so müßt Ihr vorher wissen, daß ich Eurer Sorge nicht unwert bin. Wenn Ihr auch rauh zu mir sprecht, so habe ich doch bemerkt, daß Ihr ein gutherziger Mann seid, als Ihr im [] letzten Dorfe dem Knaben über die Wange stricht. Darum verschmäht nicht mein Geheimnis zu hören, soweit ich es sagen darf. Ich ziehe aus der Heimat, um Hilfe zu werben für einen Gefangenen im Morgenlande, und ich gleiche dem Mädchen, das über die Erde bis an den Himmel ging, um die drei segensreichen Gestirne zu fragen. Mein Mond ist Frau Else, die Landgräfin, welche jetzt auf der Marburg wohnt, der Morgenstern ist eine Verwandte des Kaisers, zu der mich die Landgräfin weisen soll, und das dritte Gestirn ist die lichte Sonne, unser Herr Kaiser selbst, zu dem ich dringen muß, um zu verkünden, daß ein Verlorener wiedergefunden ist, und daß er, den seine Freunde als tot beweint haben, Botschaft aus dem Berge Libanon gesandt hat.«

Der Bruder hielt sein Pferd an. »Meint Ihr einen Thüring, den edlen Ivo?«

»Ihr kennt ihn?« rief Friderun in heller Freude.

»Gewiß kenne ich ihn«, versetzte der Bruder, »und manchen Tag habe ich mit ihm vor Accon an demselben Werke geschafft. Einiges, was wir damals miteinander redeten, ist jetzt der Erfüllung nahe. Wagt Ihr die Reise für ihn, um den auch ich getrauert habe, so sollt Ihr mir lieb sein, und ich will treu für Euch sorgen, bis ich Euch zum Meister bringe, welcher jetzt bei dem Heiligen Vater weilt oder doch in der Nähe.«

Im sichern Schutz des Bruders Sibold gelangte Friderun bis zu der Marburg, wo neben den frommen Stiftungen der Landgräfin auch ein Spital des Deutschen Ordens war. Der Bruder führte Friderun in die Burg und empfahl sie dort dem Meister Konrad, welcher mit den Bärtigen in gutem Einvernehmen lebte. Prüfend fragte der strenge Priester: »Was begehrst du, Pilgerin, von der gottseligen Frau?«

»Verzeiht, ehrwürdiger Vater, wenn ich meine Bitten zuerst der Herrin selbst anvertraue. Doch darf ich Euch sagen, ich komme um Leben und Freiheit eines armen Kreuzträgers im Morgenlande.«

»Du berätst dich übel durch dein Mißtrauen. Doch bittest du für einen, der unter dem Kreuzeszeichen gelitten hat, so will ich dir den Zutritt nicht wehren.« Er schritt vor ihr in das Gemach.

Die Landgräfin saß in Nonnentracht unter den dienenden Frauen, der rosige Schimmer ihrer Wangen war geschwunden, ihr Leib hager von Gram und strengen Büßungen, und ihre Augen strahlten in dem Glanze, welcher zuweilen das Antlitz des Menschen verklärt, wenn ihm nur noch ein kurzes Leben bestimmt ist. Sie hob die Magd, welche an der Tür niedergekniet war, gütig auf: »Du kommst aus Thüringen, wo ich oft mit meinen Gedanken weile, gutwillig höre ich, was du mir zu sagen hast.« Sie setzte sich, und Friderun begann ihren Bericht, daß sie der Mutter des Verlorenen großen Dank schuldig sei und daß sie jetzt Fürsprache für sich selbst [] ersehne durch die Landgräfin und durch Frau Hedwig, damit sie bei dem Kaiser gnädigen Empfang finde.

Während sie erzählte, flog ein heller Schimmer wie vom Abendlicht über das Antlitz der Frau Else, und der Priester, welcher zur Seite stand, betrachtete besorgt die Miene der Herrin. Als Friderun geendet hatte, antwortete die Landgräfin: »Es ist lange her, seit ich mit meiner Base die letzten Briefe getauscht habe. Doch um des Herrn Ivo willen will ich dir gern einige Zeilen anvertrauen, denn ich kannte ihn, als ich hier auf Erden im Glücke war«, und mit leisem Lächeln fügte sie hinzu: »Er war auch mir wohlgesinnt, und dies ist eine Gelegenheit, wo ich ihm als Christin meinen Dank dafür erweisen darf.« Sie erhob sich; doch als sie zu dem Schreibpult trat, stand der Priester neben ihr, legte seine Hand auf das leere Pergamentblatt und fragte in gebietendem Tone: »Ziemt der Gedanke an eitle Ritterdienste einer gottgeweihten Seele?«

Frau Else hob das Haupt, und in ihren Augen blitzte der Stolz einer Fürstin: »Nehmt die Hand vom Pergament, Herr, mein Berater und Lehrer seid Ihr, und wahrlich, die Heiligen wissen es, ein strenger Lehrer, doch zu ihrem Hüter hat Euch die Landgräfin nicht bestellt.« Als er erstaunt und mit gefurchter Stirne wich, tat der Herrin die eigene Strenge leid, und sie fuhr demütig fort: »Einst war ich nicht nachsichtig mit einer weltlichen Huldigung, obgleich sie in Ehrerbietung dargebracht wurde; aber hartherzig kann ich nicht werden gegen die wenigen, welche meinem lieben Gemahl und mir redliche Gesinnung erwiesen haben.«

Sie schrieb den Brief, übergab das geschlossene Pergament Friderun mit einem Segenswunsch für Ivo, und fügte hinzu: »Die Gräfin ist, wie ich vernehme, mit dem Königshofe nach Speyer gezogen, dort wirst du sie finden.« Aber die Magd bemerkte wohl, daß Frau Else bedrückt war durch ihren eigenen Widerstand gegen den mächtigen Meister, und als sich die Tür hinter ihr schloß, vernahm sie laute Worte des Mannes.

»Gütigen Schein spendete mir das Mondenlicht«, sprach Friderun, dem Bruder das Pergament weisend, »aber der Priester Konrad entließ mich feindselig.«

»Er ist heiß in allem Tun«, antwortete der Bruder, »und viele halten ihn für furchtbar. Doch unserer Bruderschaft ist er ein treuer Gehilfe, denn er spricht für uns bei den Großen und im Volke, und ich denke, wir werden in kurzem seinen mächtigen Beistand gebrauchen.«

Die Reisenden zogen in Frieden südwärts; als sie sich aber der ruhmvollen Königsstadt Speyer näherten, begann der Bruder, den stolpernden Gaul der Magd am Zügel fassend: »Wer zu Rosse sitzt, ringt nicht ohne Gefahr die Hände. Verändert finde ich Euer Wesen, Friderun, der Weg zu dem goldenen Stuhle, dem Ihr jetzt nahet, wird Euch mühevoll.«

[] Friderun sah den Bruder mit so bitterer Seelenqual an, daß dieser ihren Kummer durch Schweigen ehrte. »Gern würde ich mich an den Weg setzen und ausweinen«, sagte sie.

»Manchem hilft das«, ermunterte der Bruder, »ich warte auf Euch.«

»Vorwärts!« rief die Magd, tief aufatmend.

Kurze Stunden darauf stand sie in einem reichgeschmückten Gemach der Gräfin von Meran gegenüber. Hoch aufgerichtet, sah sie von der Schwelle auf die vornehme Dame, so daß sich diese verwundert erhob, doch im nächsten Augenblick neigte sie sich tief und überreichte den Brief der Frau Else. Hedwig ging zum Fenster, las und faßte mit dem Arm die Stuhllehne, so stand sie lange Zeit abgewandt, und die Magd fragte sich, ob sie vor Freuden weine. Endlich trat sie zu der kleinen Harfe, welche auf einen zierlichen Tisch gestellt war, und fuhr mit der Hand durch die Saiten. Friderun wußte wohl, daß dies die Weise des Herrn Ivo war, und dachte bei sich: ich höre sie oft erklingen, auch wenn niemand an die Saiten rührt, doch in den letzten Wochen habe ich nicht an seine Lieder gedacht. Plötzlich wandte sich die Gräfin zu ihr, faßte ihre Hand und sah sie so weich und dankbar an, daß Frideruns Trotz dahinschwand. »Seit wann kennst du ihn?«

»Da ich ein Kind war, weilte ich einige Jahre im Edelhofe«, antwortete die Magd, vor dem forschenden Blick die Augen niederschlagend.

»Wann hat er dich zum letztenmal geküßt?« fragte Hedwig lächelnd.

»Nimmer seit ich heranwuchs«, rief Friderun gekränkt. Beide schwiegen und betrachteten einander mit geröteten Wangen.

»Weiß jemand in diesem Hause, weshalb du zu mir kommst?«

»Nur wenige erfuhren, weshalb ich reise, in dieser Stadt seid Ihr die einzige.«

»Du sprichst verständig. Wenn dir sein Leben lieb ist, birg das Geheimnis vor jedermann. Jetzt setze dich zu mir und erzähle, wie du die Nachricht erhieltest und zu dem Entschluß kamst, für ihn, der einst dein Gespiele war, die weite Fahrt zu machen.«

Niemals zeige ich ihr die Haarlocke, dachte Friderun, ihr Auge soll nicht darauf sehen, und sie soll mein Eigentum nicht von mir fordern. Deshalb sprach sie vorsichtig: »Einer von den Bärtigen, der im Hofe meines Vaters Kranke gepflegt hatte, brachte uns die Botschaft, daß er als Gefangener im Libanon lebe, und als Wahrzeichen Worte eines alten Liedes, das in unserem Dorfe bekannt ist. Denn bevor Ivo unter dem Kreuze auszog, übergab er meinem Vater Goldschmuck und edle Steine, das Erbe seiner Mutter, damit der Vater den Schatz in unserem Herd berge bis zu seiner Rückkehr. Diesen Schatz soll ich zum Kaiser tragen als Lösegeld.«

[] Hedwig lächelte. »Und warum wurdest du der Bote und nicht dein Vater?«

»Der Vater ist alt und der Hof kann ihn nicht entbehren.« Hedwig nickte: »Du warst seiner Mutter vertraut. Sprich mir von ihr.«

»Sie war aus dem Grafenhaus von Orlamünde, wie Ihr wissen werdet, und eine stolze Wirtin, doch klüger als andere und von gütigem Herzen. Daß sie starb, war ein Unglück für den Hof, Herr Ivo lebte sorglos und ritt durch das Land, und ein Herrenhof bedarf Hände, die sparsam zusammenhalten, denn wo viele begehren, wird leicht unnütz verschwendet, und auch die Treuen gewöhnen sich, aus dem vollen zu leben.«

Wieder lächelte Hedwig. »Wie war der Herr Ivo als Knabe?«

Friderun schwieg. »Fragt mich, was Ihr über ihn wissen wollt«, sprach sie endlich mit Zurückhaltung.

»Sage mir, wie er gegen dich war.«

»Wir spielten miteinander. Wer die Gerte in der Hand hielt, führte den andern als Roß an der Leine.«

»Doch als du größer wurdest?«

»Wir zankten uns zuweilen, doch saßen wir auch beieinander und sangen Lieder um die Wette. Als Knabe hatte er eine liebliche Stimme«, berichtete Friderun kurz.

»Und wann schiedest du aus dem Hofe?«

»Da er in die Zucht des langen Marschalks kam und der Väter meiner bedurfte.«

»Ich erkenne«, begann Hedwig überlegend, »daß du schnell und klug zu antworten weißt; ich hoffe, du verstehst ebenso zu sehen und zu hören. Frau Else schreibt mir, daß du mein Fürwort beim Kaiser gebrauchst. Ich gebe dir keinen Brief, doch ein Zeichen, daß du von mir kommst.« Sie zog einen Ring vom Finger. »Auch den Ring bewahre geheim vor jedermann. Willst du dem Kaiser angenehm und wertvoll werden, so mußt du ihm einiges von seinem Sohne, dem König Heinrich, berichten können, denn wenn du ihm meinen Ring gibst, wird er auch darnach fragen. Ich will dir Gelegenheit verschaffen, den jungen König zu sehen und zu hören, ohne daß er und seine Herren dich mit Fragen belästigen, doch mußt du dich vorsichtig still halten. Verweile hier, bis ich dich rufe, mich zwingt meine Pflicht als Hauswirtin, dich zu verlassen; laß dir die Zeit nicht lang werden und wundere dich nicht, wenn ich die Tür zusperre, damit die Diener nicht eindringen.«

»Ich ginge lieber«, versetzte Friderun.

»Wenn du für Herrn Ivo sorgen willst, so bleibe«, sprach Frau Hedwig mit so hohem Ernst, daß die Magd schweigend einwilligte.

Hedwig verließ das Zimmer, und Friderun hörte, daß die Tür gesperrt wurde. Lange saß sie in unruhigen Gedanken. Endlich kehrte die Gräfin zurück. »Folge mir schnell und vorsichtig«, gebot [] sie, und Friderun erkannte, daß eine finstere Entschlossenheit auf dem bleichen Antlitz lag. Sie folgte der Führenden wenige Stufen einer Seitentreppe hinab und wurde erst ihrer Sorge enthoben, als sie ganz in der Nähe Gelächter und das frohe Geräusch eines Gastmahls vernahm.

Vor drei großen Herren

In einer dürftigen Herberge der syrischen Hafenstadt Tripolis saßen Henner und Lutz einander gegenüber. Jedermann merkte, daß sie nicht im Glück lebten, ihr Gewand war abgetragen, das Eisenhemd darunter rostig und an den Rändern zerrissen, und ihre Miene sehr bekümmert. Sie waren ruhelos am Libanon umhergeritten und hatten vergeblich in allen Burgen nachgeforscht. Als das reiche Geschenk des Kaisers aufgezehrt war, hatten sie in der Not einem der syrischen Barone bei seinen Grenzfehden gedient, um sich rittermäßig durchzubringen. Öfter waren sie mit Kurden und Arabern zusammengestoßen und mit Mühe der Knechtschaft entgangen, zweimal auch waren sie in das Land der Ismaeliten eingedrungen, aber die Grenzwächter hatten sie trotzig abgewiesen, denn jedem bewaffneten Fremden blieb das Gebiet des Scheiks verschlossen. »Das letzte Pferd ist verkauft«, begann Henner.

»Dann brauchen wir's nicht zu füttern«, versetzte Lutz, »und sind die größte Sorge los.«

»Das Geld fordert der Wirt«, fuhr Henner fort, »er behauptet, ein Thüring und ein Ei aus den Dörfern des Hennebergers zu sein. Aber die heiße Sonne hat ihn hart gesotten und von Erbarmen ist nichts mehr an ihm zu finden.«

Lutz, welcher unnötige Worte gern vermied, schwieg still, und Henner begann nach einer Weile wieder: »Ein Krieger, der Knecht und Roß verloren hat, ist nicht glückselig zu preisen; wir sind jetzt Bettler, Chevalier, von dem Orden der armen Ritter, denen ich daheim manchmal mit Mißvergnügen ein Almosen zugesteckt habe. Darum frage ich Euch, was soll aus uns werden?«

»Wir fasten wieder wie einst«, riet Lutz, »im Meer sind Fische genug, es ist hier nicht leicht zu verhungern.«

»Ich sorge nicht um unsern Magen, Herr«, antwortete der Marschalk, »aber Tag und Nacht muß ich an den Brief denken, den uns unser Geselle Godwin durch Nikolaus schreiben ließ. Denn was die deutschen Brüder vorlasen, war ganz widerwärtig; die Mühlburger wollen unsern armen Herrn bei lebendigem Leibe beerben.«

»Wüßten wir nur erst sicher, daß er lebendig ist«, bemerkte Lutz verständig, »dann wollten wir die Mühlburger flugs von Hof und Gut jagen.«

[] »Seit dem Briefe verläßt mich der Gedanke nicht, daß wir zu Hause nötiger sind als hier, und die Angst um den Hof wächst mir mit jedem Tage, den wir in diesem bösartigen Lande verweilen. Auch Frau Jutte mit den Knaben jammert mich.«

»Der Schiffer aus Bremen war hier«, warf Lutz ein, »er will Euch mitnehmen, wenn Ihr Euch während der Fahrt dem Schiffe als Kriegsmann gelobt.«

»Mich?« fragte Henner unwillig, »wir sind aber zwei.«

Lutz antwortete ausweichend: »Denkt daran, Herr, daß Weib und Kinder an Eurem Herde sitzen, und daß der alte Godwin sich nicht auf dem Gute behaupten wird, wenn nicht Eure Fäuste ihm helfen. Ich aber habe nur eine, um die ich sorge. Seht Ihr mein Berchtel, Henner, so sagt ihr, daß sie das Strumpfband losbinden soll, welches ich ihr um ihr weißes Bein gelegt habe; denn ich kehre schwerlich zurück.« Er stützte den Kopf in die Hand.

»Laßt Euch sagen, Lutz«, sprach der Marschalk gerührt, »daß Ihr gewissermaßen besessen seid. Ich lobe die Treue, Ihr aber werdet hartnäckig ohne Nutzen.«

»Vielleicht kommt er doch wieder«, versetzte Lutz. »In seinem Hofe bin ich erzogen, und er hat mich bei sich behalten und einen Mann aus mir gemacht, deshalb denke ich in seiner Nähe zu bleiben. Sprecht mir nicht dawider, Marschalk, Euer Amt ist, den Hof zu bewahren, und meines ist, auf den Herrn zu warten.«

Henner erhob sich. »Wahrlich, Geselle, Ihr habt das Richtige gefunden; was geschehen muß, soll geschehen ohne viele Worte, und wenn wir es beide vermeiden können, ohne Wehmut. Begleitet mich, wenn's Euch beliebt, zum Schiffe.«

Als Lutz von seinem Gefährten Abschied genommen hatte und das Schiff zum Hafen hinausfuhr, stand er am Strande und starrte nach der hageren Gestalt des Marschalks, der immer wieder die Hand nach ihm ausstreckte, bis ihm das Schiff und der Freund darauf wegen rinnender Tränen undeutlich wurden. Bald aber fand er seine bedachtsame Ruhe wieder und sprach zu sich selbst: »Bisweilen ist einer mehr als zwei. Mein Geselle war allzu ritterlich. Wir haben seither vielerlei Umwege gemacht, ich gehe geradeaus zu dem grimmigen Messerschmied in den Bergen und sage ihm auf den Kopf zu, daß er den Herrn gefangenhält und daß es endlich Zeit ist, ihn zu entledigen.« Er eilte in das kleine Hospital, welches die deutschen Brüder vor kurzem in Tripolis gegründet hatten, bat um ein altes Pilgerkleid und gab dafür sein Ritterschwert zum Pfande. So verließ er die Stadt als ein armer Waller und zog längs der Küste nordwärts, um das Grenzgebiet der Templer und Johanniter zu vermeiden; denn diese hielten scharfe Aufsicht über alle Reisenden, die nach den Bergen der Ismaeliten oder von dort nach der Küste gingen. Zwei Tage lief er in Pilgerweise und nahm Kost [] und Herberge bei barmherzigen Leuten, am dritten kam er an eine kleine Hafenstadt Valenia, welche früher den Ismaeliten gehört hatte und jetzt von den Johannitern und einem Bischof bewacht wurde. Dort schlug er sich in die Berge. Als er die Grenzwächter der Ismaeliten erblickte, eilte er auf sie zu und sagte, so deutlich er es mit arabischen Worten vermochte, daß er zu ihnen gedrungen sei, um in einer großen Sache ihren Vater, den Scheik, zu sprechen. Er wurde auf ein Pferd gesetzt und durch das Land geführt bis zu einer großen Burg, welche mit Türmen und Mauern auf steilem Fels ragte, so daß man nicht erkannte, wo die weiße Klippe aufhörte und wo das Menschenwerk begann. In der Burg blieb er strenge bewacht bis zu dem Tage des Verhörs. Endlich wurde er in eine weite Halle geführt, zwischen reichverzierte Säulen und Bögen; in einer Nische auf erhöhtem Raume stand ein Haufe der Geweihten im weißen Kaftan, kenntlich an der spitzen roten Mütze und dem roten Leibgurt, und längs den Wänden saßen auf Polstern Weise und Edle des Volkes. Lutz sah nach dem furchtbaren Alten umher, von dem er gehört hatte, aber vor ihm waren viele bejahrte Männer, er fand viele blitzende Augen auf sich gerichtet und nicht wenige weiße Bärte hingen bis zu den Gürteln herab, so daß er dachte: wenn ich nicht wüßte, wie rachsüchtig sie sind, würde ich sie für die ehrbarste Gesellschaft halten, die ich je geschaut. Doch wer unter wilde Tiere geht, hüte sich, ihren Zorn zu erregen, und er verneigte sich tief zu beiden Seiten.

Nach langem Schweigen winkte ein Greis dem Dragoman und begann: »Freiwillig kamst du in unsere Berge, o Franke, verkünde, wer du bist und was du begehrst.«

»Ludwig von Ingersleben ist mein Name, ein Dienstmann bin ich des edlen Ivo, den ihr, wie ich vernehme, gefangenhaltet; seinetwegen komme ich, euch zu bitten, daß ihr ihn freigebt.«

»Wer hat dir die Kunde zugetragen, daß dein Herr als Gefangener bei uns weilt?«

»Unter den Christen an der Grenze läuft die Sage«, behauptete Lutz kühnlich, und er hatte in der Tat unter vielem anderem auch dies vernommen.

»Wer von Fremden holen will, muß vorher bringen. Was gedenkst du zu bieten?« fragte der Alte weiter.

»Geld bringe ich nicht«, versetzte Lutz ehrlich, »doch vermag mein Herr euch Lösegeld zu zahlen, wenn ihr ihn nicht unmenschlich schätzt; ich aber erbiete mich, an seiner Statt als Gefangener bei euch zu bleiben, bis ihr das Geld empfangt.«

»Wenn Geld die lösen könnte, welche wir festhalten, so wäre mancher frei, der hinter Mauern weilt.«

Ein langes Schweigen folgte, dem Thüring aber kam vor, als ob sein Herr wahrhaftig hier in Gefangenschaft sei, und er hütete sich, [] seine Freude zu verraten und Ungeduld zu zeigen. »Hast du sonst etwas zu bitten und zu bieten«, fragte der Greis wieder, »so sprich, doch meide unnütze Worte.«

»Wohlan, ihr Herren, wenn ihr ein Recht zu haben glaubt an seinen Leib, so fordere ich, gewährt auch mir ritterliches Recht und stellt mir einen Kämpfer, damit ein Gottesurteil entscheide, ob das Leben meines Herrn euch gehört, oder seinen Freunden.«

»Gering ist dein Aussehen, wie magst du wagen, unsere Helden zum Kampfe zu fordern?«

Lutz öffnete sein Pilgerkleid und wies auf den weißen Rittergurt. »Ich bin schwertlos gekommen, um euch nicht zu erzürnen, aber ich trage die Ehrenzeichen eines Ritters, und kein Fürst darf mir den Kampf verweigern, wenn ich ihn in ehrlicher Sache fordere.«

»Meinem Volke aber wird deine Forderung verächtlich; nur ein Unsinniger kämpft ohne Not um ein Gut, das ihm bereits gehört.«

»Ich dachte mir's«, murmelte Lutz. »Dann also, alter Herr, laßt mich mein letztes Gebot tun. Wenn euch so viel daran liegt, einen Ritter aus Ingersleben in eurem Turm zu bewahren, so laßt meinen Herrn frei, behaltet statt seiner mich und macht mit mir, was ihr wollt.«

»Du nennst dich selbst seinen Diener, ihn deinen Herrn, auch bei euch tauscht der Jäger nicht den Falken gegen die Amsel.« Wieder folgte langes Schweigen, endlich begann der Alte: »War der, welchen du deinen Herrn nennst, ein Christ?«

»Gewiß war er das«, versetzte Lutz.

»Wie kam es doch, daß wir ihn am Grenzsteine gefällt fanden ohne einen Glaubensgenossen, mitten unter Bekennern des Islam?«

»Er war von dem großen Kaiser zu euch gesandt mit maurischen Leibwächtern, weil diese eurer Sprache und Sitte mächtig sind. Hätte ich mit meinen Gesellen ihn begleitet, dann wäre die Missetat nicht vollbracht, oder ich würde nicht lebend vor euch stehen.«

Der Ismaelit gab ein Zeichen, einer der Geweihten trug ein blutgetränktes Tuch herzu, welches der Dragoman dem Thüring wies, und dieser vermochte seine Bewegung nicht zu bergen, als er das Tuch erkannte, welches sein Herr einst am Halse getragen hatte.

»Auf dem Gewebe steht ein Spruch, den die Mohammedaner für heilig halten; bewahren die christlichen Franken ein solches Amulett über ihrem Herzen?«

Erstaunt vernahm Lutz die Bedeutung der goldgestickten Zeichen. »Ich weiß nur, daß das Tuch eine Gabe der Herrin ist, welcher er sich geweiht hatte; wer die Herrin war, blieb sein Geheimnis. War sie eine Sarazenin, so wisset, daß wir auch fremdländischen Frauen unseren Dienst widmen. Ich selbst bewahre das Schleiertuch einer Dame, der ich diene, obwohl sie im Harem eines Sultans lebt.«

[] Und er brachte bereitwillig aus seinem Gewande den zerrissenen Schleier hervor, den er einst bei den Kamelen gewonnen hatte.

Zum erstenmal bemerkte er unter den Ismaeliten eine Regung der Neugierde, leise Ausrufe wurden gehört und mehrere strichen zufrieden die Bärte. »Du selbst bist der Ritter, welcher mit den Johannitern kämpfte, um die Mutter des Sultans Elkamil vor der Gefangenschaft zu bewahren?« fragte der Alte.

Lutz hatte bis jetzt nie erfahren, daß die Herrin des Schleiers so ehrwürdig war, und er fand seltsam, daß die Wilden im Libanon das wußten. Als er in den Mienen der Ismaeliten die Billigung erkannte, dachte er: Ihr würdet anders denken, wenn ihr jünger wärt, aber antwortete beherzt: »Ich bin der, welchen du meinst.«

Da traten die Geweihten auseinander, er sah auf der Höhe einen Greis im weißen Gewande sitzen und merkte, daß ihm erst jetzt der Anblick des Scheiks vergönnt wurde. Der Weißgekleidete schlug in die Hände, zwei Gewappnete führten einen jungen Neger herein, der mit ausgebreiteten Armen auf Lutz zueilte, sich vor ihm niederwarf und das Gesicht an sein Gewand drückte. »Ali, mein Rabenkind«, rief Lutz, die ganze Umgebung vergessend, »wo weilt unser Herr?«

»Sprich nicht mit dem Knaben«, warnte der Dragoman dazwischentretend. Die Stimme von der Höhe fragte: »Du kennst den Sklaven?«

»Er war ein Geschenk, welches mir die Frau, von der ich sprach, in das Lager des Kaisers sandte, und er war der einzige aus unseren Zelten, der meinen armen Herrn auf der Reise begleitet hat.«

»Im Tal des Todes fanden meine Söhne den Schwarzen«, sprach der Scheik. »Sprich wahrhaft, Franke, was hast du im Lager des großen Emperor über die Bluttat vernommen?«

»Daß umherziehende Kurden die Missetat verübten.«

»Unschuldig sind die Kurden an der Tat, Held Hassan und dein Herr fielen unter den Messern deiner Glaubensgenossen.«

Der Thüring sah erschrocken um sich. Was der Scheik behauptete, klang ihm nicht fremd in das Ohr, schon im Lager war allerlei über die Templer geflüstert worden, und er selbst hatte sich mit seinen Gesellen schwere Gedanken gemacht wegen der Feindschaft, die zwischen Ivo und einem Verwandten des Kaisers bestand. Nachdrücklich fuhr der Scheik fort: »Rache begehren wir für den Tod des Helden Hassan und für die Missetat, welche hinterlistig von Christen auf unserem Grunde verübt wurde. Darum handelt der Christ töricht, welcher von uns hohen Dienst begehrt, ohne den Gegendienst zu leisten, welcher uns wertvoll ist. Das Gesetz in den Bergen lautet: Leben für Leben; begehrst du deinen Freund lebendig zu schauen, so hilf uns, daß ein anderer erlegt werde.«

[] Lutz überlegte. »Vieles darf ich für meinen Herrn tun und willig gab ich Freiheit und Leben in eure Hand, aber wenn ihr mich gebrauchen wollt, daß ich an Stelle eurer Knaben irgendwie einen Christen oder Heiden hinterrücks treffe, so habt ihr euch gröblich in mir geirrt, und ich antworte euch, ich tue es nimmer und um keinen Preis. Darum macht mit mir, was ihr wollt, aber ein Mörder werde ich nicht.«

»Meine Söhne gebrauchen nicht fremde Hilfe, um einen Feind, der ihnen gewiesen wird, zu verfolgen; sie tragen die Rache über Land und Meer und wissen in Alexandrien und Messina den Todesgruß zu bieten. Die Missetat aber, um welche wir trauern, blieb auch uns geheimnisvoll. Darum begehren wir deine Hilfe, daß du den Mann erkundest, welcher die Tat geleitet hat, und daß du nach den Gebräuchen des Abendlandes das Leben des Mörders austilgst. Wir fordern von dir nur, was in deinem Volke für ehrenwert gilt; willst du den Gefangenen befreien, so sei unser Kämpfer, um die Bluttat zu rächen.«

Nachdenkend versetzte der Thüring: »Wegen der schweren Tat, welche an dem Gast und dem Gesandten meines Kaisers verübt wurde, darf ich den Gerichtskampf fordern als Christ und Ritter. Doch, Herr, erst muß ich glauben, daß ein Christ Anstifter und Vollbringer wurde, und ich muß wissen, wer der Täter war. Wie könnt ihr mir Sicherheit darüber geben, da Ihr selbst, wie Ihr sagt, in Zweifel seid?«

Der Scheik neigte das Haupt. »Zwei Zeugen übergebe ich dir, der eine ist der schwarze Knabe, den wir in dem Tale des Todes fanden, er weiß von der Untat zu berichten, doch ist er ein Sklave. Der andere Zeuge aber ist dieses Werkzeug.« Er winkte, einer der Geweihten trug ein Dolchmesser herbei, dessen Spitze durch eine goldene Kapsel gestochen war, wie sie kaiserlichen Briefen angehängt wurde, um das Siegel zu bewahren. »Dies Messer durchbohrte das Tuch und den kaiserlichen Brief, welchen dein Herr auf der Brust trug, beide hemmten die tötende Gewalt des Stoßes. Den Knaben und das Messer sollst du ohne Säumen zu deinem Kaiser bringen mit dieser Botschaft aus unseren Bergen: Gemeinsam sei der Schimpf, den er und die Ismaeliten erduldet, darum senden wir an ihn die Zeugen und den Rächer, nach der Sitte seines Landes, damit er selbst für unsere und seine Rache sorge. Dies ist der Dienst, den wir von dir begehren, denn wir haben erkannt, daß du nicht zu den Argen gehörst, sondern zu den Treuen. Leiste uns einen Eid nach deinem Glauben, daß du von hier ohne Aufenthalt über das Meer vor das Angesicht des Kaisers eilen willst.«

Da hob der Thüring die Hand in die Höhe und sprach den Eid. »Gestatte mir, bevor ich scheide, mei nen Herrn zu sehen.«

[] »Du wirst ihn wiedersehen«, antwortete der Scheik, »wenn er durch dich entledigt zwischen Messer und Kreuz am Grenzsteine steht, nicht eher. Geendet sei die Rede, meine Söhne geleiten dich. Nimm die Zeugen mit dir und gedenke deines Eides.«

Während Lutz mit dem Knaben Ali zum Tor der Burg hinausritt, lag der Gefangene wenige Bogenschüsse von ihm entfernt auf dem Dach eines morgenländischen Landhauses. Vor ihm öffnete sich ein lachendes Tal, tief in das Gebirge eingesenkt, von allen Seiten mit hohen Felsen umschlossen. Überall brachen starke Quellen aus dem weißen Gestein, sie strudelten und rauschten, bis sie sich unten zu einem See vereinigten. Bei dem milden Herbstlicht wies der Grund ein üppiges Grün, denn kleine Rinnen, von Menschenhand gezogen, verbreiteten weithin das lebenspendende Wasser. In heiterer Ruhe lag das Tal wie geschieden von der Welt. Über mächtige Fruchtbäume ragten auf kleinen Anhöhen die Turmhäuser der Landleute, am Fuß der Felsen kletterten genäschige Ziegen, und große Koppeln edler Rosse tummelten sich im Gehege.

Der Gefangene war nur an dem blonden Bart und der helleren Hautfarbe als der Fremde zu erkennen, er trug das reiche Gewand eines Morgenländers und redete arabisch mit seinem Wächter Achmed, einem Jüngling, der seinem älteren Bruder Hassan in Gestalt und Gebärde ähnlich war. »Lange weilt der Knabe Ali auf der Burg«, begann Ivo.

»Unser Vater, der Scheik, hat ihn zu sich befohlen«, antwortete Achmed.

»Es geschah zum erstenmal«, murmelte Ivo unruhig, und da er die verwunderte Miene seines Gefährten sah, setzte er lächelnd hinzu: »Wer nicht von großer Sorge bedrängt wird, der schafft sich kleine.«

Der Jüngling wies hinab in den Hof, wo braune Mädchen in leichtem Gewande sich zum Klange einer arabischen Laute zierlich im Kreise drehten. »Sie zeigen dir ihre beste Kunst; es wird sie kränken, daß du so wenig auf sie achtest, denn der Sklavin ist der freundliche Wink des Herrn der beste Lohn.«

»Auch süßer Trank wird verleidet«, antwortete Ivo mit ernstem Lächeln, »ihre behende Kunst gleicht dem Gesange der Nachtigallen in deinem Tal. Bei mir daheim gilt derselbe Vogel für den lieblichsten Sänger und wir lauschen ihm freudig. Hier aber hörte ich im Frühling nicht einzelne singen, sondern scharenweis schmetterten sie im Laube und nahmen mir jede Nacht den Schlummer. Viel Wonniges ist hier gehäuft. Zürne mir nicht, Achmed, wenn ich, des Reichtums überdrüssig, mich nach der Armut meines Landes sehne.«

»Kommt dich die Schwermut an«, versetzte der Jüngling, »so lasse ich dein Roß satteln und wir reiten durch das Tal.«

[] »Auch die Wege dieses Tals haben wir durchmessen. Von Balsam duftet der Grund, und täglich erblühen neue Blumen, dennoch ist es für den Gefangenen ein geringer Unterschied, ob er die Schritte zählt von einer Kerkerwand zur andern oder die Sprünge des Rosses von Fels zu Fels.«

»Sonst warst du anders«, rief unzufrieden der Jüngling.

»Habe Geduld, du treuer Wächter. In Thüringen erzählen die Leute, daß eine holde Göttin, Frau Minne, im Innern der Berge wohnt und junge Helden zu sich lockt, sie beharren lange bei ihr in Freuden, zuletzt verzehrt sie doch der Kummer nach der Oberwelt. So habe ich hier gelebt wie im Traume, und wenn du mich den Sinn eurer Lieder lehrtest, so war mir zuweilen, als könnte ich im Morgenlande heimisch werden; jetzt ist auch für mich der Zauber gelöst. Wisse, mir gelang es, aus deinen Bergen einen heimlichen Gruß in die Heimat zu senden; ich sage dir nicht wie, damit du niemandem zürnst. Mit dem Gruß wandert jetzt meine Seele jeden Tag, ungeduldig folge ich dem Boten auf Schritt und Tritt; ich sehe ihn am Hafen und auf dem wilden Meer, und wie er die Botschaft in die Hand eines Weibes legt, der ich gern vertraue. Wahrlich, neulich am Abend erkannte ich die blonden Zöpfe der Magd Friderun neben der braunen Tänzerin dort unten, und ich schob das Mädchen zur Seite, um das Haar der Deutschen zu fassen. Zu Roß, Geselle«, schloß er, sich aufrichtend, »fliegt der Rappe dahin wie ein Pfeil, und saust die Luft um die Schläfen, so höre ich wohl auf, dir gleich einem Weibe Klagelieder zu singen.«

Von der Burg jagte ein Reiter heran, Achmed empfing die Botschaft und kehrte bestürzt zurück. »Unser Vater, der Scheik, fordert dich vor sein Angesicht.« Gleich darauf klang von der Höhe ein scharfer, eherner Ton über das Tal, und aus der Ferne antwortete der Gegenklang. »Die Männer meines Geschlechts werden aufgeboten zum Waffenritt.«

»Mir ahnt«, sagte Ivo ernst, »dies verzauberte Leben nimmt ein Ende. Ich bin bereit; nur mein altes Eisenhemd tue ich um, denn mir ziemt nicht, im Gewande dieses Tales vor deinen Herrn zu treten. Dir aber, Jüngling, danke ich, wenn ich nicht wiederkehre, für deine Sorge, denn treu wie ein Bruder warst du dem fremden Mann.«

Ivo hatte nur einmal, als er mit seiner Wunde in den Burghof getragen war, den Herrn der Berge undeutlich gesehen, denn der Greis stieg niemals von seiner Höhe in die Täler hinab. Als er jetzt in die Halle trat, fand er den Scheik allein auf seinem Polster sitzen, er sah eine hohe gefurchte Stirn und zwei Augen, welche scharf wie die eines Adlers nach ihm blickten. Dann senkte er nach der Sitte des Ostens sein Haupt und harrte der Anrede.

[] »Zwei Sommer weilst du bei uns, nicht als Gast, denn du beharrtest nicht freiwillig; nicht als Gefangener, denn meine Söhne haben dich geehrt gleich einem Gastfreund. Zwei Sommer war dein Mund verschlossen, und die Pforte deiner Heimkehr blieb verschlossen, weil du dich geweigert hast, vor deinem Kaiser und deinem Volk Kläger zu werden über verruchte Missetat. Doch bevor das Laub vom Baume fällt, wandelt es sein Grün in bunte Farben; auch du wandelst wohl, bevor du aus dem Tal des Lebens scheidest, deine Gedanken. Darum frage ich dich in der letzten Stunde: Willst du ungesprochen mit dir nehmen, was nach der Sitte deines und meines Landes Racheruf fordert?«

»Ich muß schweigen, Herr«, antwortete Ivo, »was mir auch darum geschehe.«

»Dann scheidest du, Christ, wie du kamst, nicht Freund, nicht Feind, als ein Fremder, an den wir denken wie an die Wolke, welche vorüberzog. Meine Söhne gewähren dir die Entlassung, wandle dahin, ungescholten und ungegrüßt.«

Ivo vermochte nicht zu antworten, in der Freude bebte ihm das Herz; er sah sich in dem Hause seiner Väter, ihm war, als hörte er auf seinem Söller den Gesang der kleinen Vögel und den Speerruf seiner Ritter, und er neigte stumm das Haupt. Der Alte fuhr fort: »Einem Sohn meines Volkes hast du Treue bewiesen, wir fanden dich blutend über dem Leibe des Toten; die Männer des Geschlechtes Hassan achten darauf, dich in Ehren zu entsenden. Sie können dir nicht Gastgeschenke bieten, die der freundliche Wirt gibt und die der Gast nicht ausschlagen darf, du selbst magst dir vom Boden heben, was für dich bereit liegt.« Der Alte winkte und führte ihn in den Hof, dort waren zwei Teppiche gebreitet, auf dem einen seidene Gewänder, darüber ein Schwert in goldener Scheide, der Griff mit einem großen Edelstein geschmückt; daneben hielt Achmed das arabische Roß, auf welchem Ivo durch das Tal gesprengt war, und den ritterlichen Speer mit dem Rohrschaft. Auf dem andern Teppich lag ein Pilgerkleid mit Hut und Stock, wie arme Christenwaller trugen. »Wähle«, sprach der Scheik.

Ivo trat an die Seite des Rosses, strich am Halse herab und sagte ihm leise in das Ohr: »Lebe wohl, Rappe.« Dann hob er Pilgerkleid und Hut vom Teppich. Der Scheik neigte das Haupt, machte das Zeichen der Entlassung und trat in die Halle zurück. Ivo aber hob den Arm gegen das Tal, welches in der Tiefe vor ihm lag: »Möge der hohe Vater im Himmel auch hier die Guten beschützen und ihnen mildere Sitten verleihen.« Er zog das Pilgerkleid über sein Eisenhemd und ergriff den Stab, da führte Achmed traurig das Roß zu ihm und sprach: »Noch einmal soll es dich tragen bis zum Grenzsteine, denn ich und mein Geschlecht geben dir das Geleit.« Ivo schwang sich auf und sprengte aus dem Hofe, [] draußen hielt ein Haufe Bewaffneter, an ihrer Spitze flog er neben Achmed den Felsen hinab in das Tal.

Er zog still wie im Traume dahin, auch der Jüngling ehrte durch Schweigen die ernsten Gedanken, doch war er immer herzlich um ihn bemüht, und wenn der Christ des Weges nicht achtete, rief er dem Roß leise Mahnungen zu. So ritten sie Stunde auf Stunde in gestrecktem Lauf, bis sie an die Wildnis kamen, welche das Gebiet der Bruderschaft von dem Lande der Christen schied. Vor ihnen erhob sich weit sichtbar ein weißer Stein mit den Grenzzeichen, der Jüngling hob den Arm gegen sein Gefolge, die Ismaeliten riefen laut ihren Kriegsruf, fuhren auf ihren flüchtigen Rossen blitzschnell durcheinander und schleuderten das Holz der Wurfspeere an die metallenen Schilde, den Scheidenden im Getümmel umkreisend, dann hielten sie plötzlich still und Ivo neigte dankend das Haupt, Achmed sprang ab, ergriff den Zügel des Rappen und sagte, auf einen Haufen der Geweihten zeigend, der dicht geschlossen jenseit des Grenzsteines hielt: »Diesen muß ich dich übergeben«, und eine Tasche von der Seite lösend, setzte er mit stockender Stimme hinzu:

»Nimm hier und sei gesegnet.« Ivo sah ihn dankbar an: »Solange ich lebe, bin ich deiner eingedenk. Laß mich gehen, wie ich kam.« Doch der Jüngling hielt noch einmal mit gesenkten Augen die Tasche hin: »Nimm nur so viel von mir, daß du dir Nahrung kaufen kannst beim ersten Hunger.« Da hob Ivo aus der Tasche zwei der kleinsten Silbermünzen und sagte: »Einst mahnte mich ein Darbender, dem ich ein Goldstück zuwarf, an den Tag, wo auch ich eine Spende aus fremder Tasche suchen würde. Lebe wohl.« Der Ismaelit wich zurück, und Ivo schritt an dem Grenzstein vorüber gegen die Sonne, welche sich zum Abend neigte. Die Reiter vor ihm stoben auseinander, und er sah auf dem Felde den Knaben Ali stehen und neben diesem einen Christenpilger. Im nächsten Augenblicke fühlte er sich an der Hand gefaßt und vernahm mit Entzücken die deutschen Worte: »Guten Tag, Herr, seid willkommen zur Reise in die Heimat.«

Unterdes hatte Bruder Sibold seinen Schützling bis nach der Stadt Anagni geleitet, wo Papst Gregor am liebsten weilte. Dort hielt er vor einem Frauenkloster und eilte, nachdem er Friderun der Sorge frommer Schwestern empfohlen, zu seinem Meister, welcher ihn ungeduldig erwartete. »Bringst du die Urkunde aus dem preußischen Grenzlande, so sei dreimal gesegnet, denn der Heilige Vater ist feurig für unsere Fahrt gegen die preußischen Heiden und sorgt täglich um unsere Verträge mit all den christlichen Nachbarn, welche Anspruch auf das Heidenland erheben.« Mit der Urkunde ging der Meister zum Papst. Wenige Tage darauf stand er neben dem Heiligen Vater in einer Kapelle der Kathedrale, [] und Papst Gregor, ein stattlicher alter Herr mit großen munteren Augen begann:

»Du hast aufs neue deine Kunst bewährt, zu versöhnen. Ich habe den Kaiser bei unserem Wiedersehen demütiger gefunden, als ich erwartete; ich hoffe, der verlorene Sohn, welcher zu seinem Vater zurückgekehrt ist, hat in den Jahren des Bannes Bescheidenheit gelernt.«

»Oft habe ich seine Weisheit im Heiligen Lande bewundert«, antwortete Hermann. »Alles, was den Heiden abgerungen wurde, hat nur er durchgesetzt. Da er gebannt war, konnte er wahrhaftig nicht mehr erreichen.«

»Willst du mir andeuten, mein Sohn, daß die Zuchtrute zu schnell geschwungen wurde?« versetzte der Papst in guter Laune. »Du freilich hast immer zur Geduld mit diesem argen Weltkinde geraten. Gern vertraue ich deiner Einsicht und Redlichkeit, aber du gleichst nur einer von den vielen Pfeifen in dieser Orgel, andere sind die Bischöfe und Mönchsorden, und noch andere deine Gegner, die Johanniter und Templer. Ich aber gebrauche für das Hohe Lied, welches zur Ehre Gottes erklingt, alle Töne des heiligen Instrumentes, bald diesen, bald jenen. Jetzt ist die Stunde gekommen, wo ich dir, du wohltönendes Rohr der Kirche, den Mund öffne, damit du eine neue Weise zu Ehren der hohen Gottesmutter intonierst. Ich erkenne, daß für die nächste Zukunft in dem Gelobten Lande keine Mehrung unserer Würde durchzusetzen ist. Deshalb will ich die neue Kreuzfahrt in die Nähe richten und dir und deinen Brüdern die Unterwerfung der heidnischen Preußen anvertrauen. Ich habe auch die Urkunde erhalten, durch welche der Polenherzog Konrad deinem Orden seine Grenzen öffnen will, damit ihr ein Kreuzheer in das Preußenland geleitet. Aber eine so liederliche und törichte Schrift habe ich kaum jemals gesehen, das Datum fehlt und jede gebührliche Form, und sogar die Hauptsache ist verschwiegen, eure Kreuzespflicht, das Land Preußen zu erobern, damit ihr es unter meiner Oberhoheit besitzet. Ich fürchte, der Herzog und sein Kanzler waren nach ihrer Unsitte sauren Weines voll.«

»Die Brüder klagen, daß mit den Polen schwer zu verhandeln ist«, versetzte ehrerbietig der Meister, »am Morgen sind sie voll Argwohn und am Abend behende mit Umarmungen, aber unfähig zu bedachtsamer Rede.«

»Dennoch fordere ich, daß die Urkunde ein ehrbares Ansehen habe, denn sie soll uns in saecula saeculorum dienen. Er muß eine andere ausstellen und meine Kanzlei soll sie ihm selbst vorschreiben, damit er sie nur unterzeichne.«

»Meine Brüder werden auf eine Gelegenheit harren müssen, wo der Pole wieder einmal ihre Dienste ersehnt«, bemerkte Hermann.

[] »Wende nur einige edle Pferde oder auch Geld an den Kanzler«, riet der Papst, »von solchem Geschenk muß er seinem Herrn abgeben, dergleichen Linsengericht macht diese Söhne Esaus gutwillig. Dem Magister Konrad in Hessen habe ich gebieten lassen, das Kreuz zu errichten und eine Preußenfahrt zu verkünden. Er wird es an sich nicht fehlen lassen. Und wahrlich, es tut not, in Deutschland die Seelen an den Dienst der Heiligen zu mahnen, denn Trauriges vernehmen wir von Unglauben und ruchloser Ketzerei, welche dort heimlich in die Seelen schleichen. Du aber, mein Sohn, nimm als Lohn für die Versöhnung mit dem Kaiser das neue Amt auf dich. Gern vertraue ich dir, denn du hast immer den Frieden betrieben, während andere eifrig waren, den Zwist zu nähren. Auch deiner Bruderschaft vertraue ich gern, denn deine Deutschen sind, wenn sie etwas beginnen, hartnäckig und wütend gegen ihre Feinde, und lieber sehe ich die neue Eroberung in euren Händen, als in der Gewalt meiner Söhne von St. Johannes, welche allzu reich und weltlich werden. Und Bruder Peter vom Tempel läßt es zwar an Ehrfurcht gegen uns nicht fehlen, und sendet auch reichlicher Geld als ihr andern, aber ich fürchte, die Christenliebe gedeiht in seinen Konventen nicht allzu wohl. Doch wegen jenes Mordes, der vor Jahren an der kaiserlichen Gesandtschaft begangen wurde, haben sich die Templer entschuldigt. Denn durch sie wurden nur Ungläubige getötet, wie du wissen wirst.«

»Ich habe nur vernommen, was das Gerücht kündet«, versetzte Hermann vorsichtig.

Der Papst aber fuhr redselig fort: »Und wie der arme Bischof von Valenia meinem Kämmerer schrieb, soll jener Gesandte auch gar nicht tot sein, sondern den Mördern entronnen und bereits zu Schiff auf der Heimkehr. Hatte jemand bei dem schlimmen Handel schuld gegen einen Christen, so mag der Kaiser den Täter unter solchen suchen, die er für seine Treuen hält, obgleich die heilige Kirche manchen von ihnen besser kennt als er. Gehe also mit meinem Segen. Ich weiß, du kluger Rat, ich erfülle dir jetzt einen Herzenswunsch, den du lange in geheimer Seele bewahrt hast.«

Als der Meister in seine Herberge zurückkehrte, sagte er zu Bruder Sibold: »Nirgend erfährt man so viel Neues aus der Welt als hier, und dem Heiligen Vater macht es zuweilen Freude, davon zu erzählen. Sorge dafür, daß dein Schützling seine Worte in acht nimmt, denn die frommen Schwestern werden sie neugierig ausfragen. Schaffe ihr auch das Gewand einer Mitschwester, damit sie in meinem Gefolge nach Otranto reisen kann, dort werde ich den Kaiser treffen.«

Bange Wochen vergingen der Pilgerin, zuerst auf der Fahrt im Gefolge des Meisters, dann zu Otranto in einem Frauenkloster, bis Hermann sie in die kaiserliche Burg geleitete. Auf dem Wege [] wies der Meister nach dem Hafen: »Das Schiff, welches dort einfährt, kommt aus dem Heiligen Lande, die Kreuzfahne der Pilger steckt am Mast. Vielleicht bringt es auch dir Neues.«

Als Hermann für die Magd Zutritt erbat, fragte der Kaiser spöttisch: »Du, strenger Meister, führst mir ein Weib zu?«

»Sie ist im Geheimnis des schwarzen Kreuzes«, versetzte Hermann, »sie und ihr Vater haben der Bruderschaft Gutes getan.«

»Und du willst, ich soll für die Dienste bezahlen, die sie deinem Orden erwiesen hat? Ist sie jung und hübsch, eine Edle oder doch unter dem Ritterschild geboren?«

»Es ist Friderun aus Thüringen, die Tochter Bernhards, der des Kaisers Richter war. Sie kommt nicht mit leichtem Herzen; Eure Nichte, die edle Hedwig, übergab ihr ein Zeichen für Euch.«

Der Kaiser sah verwundert auf. »Laßt sie allein ihr Leid klagen.« Als Friderun in die Halle trat, kniete sie nieder, hob flehend den Ring in die Höhe und bot ihn dem Kaiser dar, der sie von seinem Sessel forschend ansah. Während Friedrich das Juwel betrachtete, wartete sie mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen auf die Anrede.

»Bringst du mir eine Botschaft von der Dame, welche dir diesen Ring gab, so sprich.«

»Ich komme eine Klage zu verkünden, welche die Landgenossen zwischen Berg und Tal einander leise in das Ohr sprechen. Die Welt ist in Not und Trauer; wenn die Bäume grünen und wenn der Wintersturm durch kahle Äste saust, jahraus, jahrein, harren wir vergeblich auf den höchsten Herrn der deutschen Erde, der über Recht und Frieden waltet.«

»Senden die Bauern aus Thüringen solche Botschaft an den Kaiser?« fragte Friedrich verwundert.

»Auf dem Berge steht der Baum«, fuhr Friderun begeistert fort, »an welchen der Kaiser seinen Heerschild hängen soll. So verkünden die Alten. Manche behaupten, daß dieser Kaiser längst gestorben sei und nur noch als Geist in der Tiefe des Berges hause; wenn der Nachtwind braust, meinen sie ihn zu hören, wie er herrlich durch die Lüfte fährt, und sie entsetzen sich. Der Vater aber sagt, nicht ein Nachtgeist, sondern unser Herr, der unter der welschen Sonne wohnt, werde über die Berge in das Land dringen mit seiner Heeresmacht, um sein armes Volk aus der Bedrückung zu retten, die wir von den falschen Richtern und von den raubenden Rittern erdulden. Ihr seid der Herr, und auf Euch hoffen wir.«

Friedrich sah sie betroffen an, er dachte daran, daß er erst vor kurzem die eigene Richtergewalt den deutschen Fürsten geopfert hatte. Und das Mißbehagen darüber niederkämpfend, spottete er: »Ich bin eurer Treue dankbar, daß ihr mir das Amt des großen Königs Karl zuschreibt, einmal aus dem Schlaf zu erwachen und [] eure Räuber an den Baum zu hängen. Unterdes saßen wir hier nicht müßig, du deutsche Sagenerzählerin. Euch aber fehlt, wie ich hoffe, in eurer Verlassenheit ein christlicher Trost nicht: Der Heilige Vater ist eifrig, die Guten zu locken und die Bösen zu erschrecken.«

»Wir vernahmen, daß zwei Schwerter vom Himmelsherrn in die Welt gesandt sind, um die Völker zu regieren, das eine führt Ihr und das andere der Papst in Rom, den sie den Heiligen Vater nennen.« Der Kaiser sah wieder auf. »Wir aber im Dorfe wissen, daß zur Zeit der Vorfahren nur ein Herr über uns gewaltet hat, der von deutschem Blute war, unser Kaiser.«

»Ist das Bauernmeinung?« fragte Friedrich, »hüt dich, du schöne Ungläubige, daß dich kein Pfaffe hört. Wisse, Kaiser und Papst sind wieder gut Freund.«

»Wir bewahren solche Gedanken vor jedermann, außer vor Euch, denn Ihr seid uns der Höchste auf Erden.«

Friedrich rührte mit der Hand an ihr Haupt und sprach gütig: »Steh auf und sprich mit deutlichen Worten, was du von mir begehrst. Denn nicht deiner Bauern wegen hast du den Ring empfangen.«

»Laßt mich knien, Herr«, bat Friderun, »Schweres habe ich Euch zu verkünden und Ihr sollt, wenn Ihr mir darum zürnt, nicht vergessen, daß ich eine arme Flehende bin.«

»Rede, wie du willst. Weshalb hast du die weite Fahrt zu mir gemacht?«

»Damit Eure Macht den Herrn Ivo befreie, denn er liegt gefangen am Berge Libanon.«

Friedrich fuhr auf: »Was soll die Rede? Du begehrst des Kaisers Hilfe für einen Toten?«

Die Magd zog die gebundene Locke aus ihrem Gewande. »Er lebt, so wahr dies Haar von seinem Haupte ist; dies Zeichen sandte er aus einem Volke, von dem sie Furchtbares erzählen.«

»Und dir sandte er den Notruf? Nicht du bist die Vertraute, welche die Farbe seines Haares kannte.«

Friderun senkte den Blick. »Ich lebte als Kind auf dem Edelhofe.«

»Wahrlich, dies ist kein Trug«, fuhr Friedrich fort, sie scharf betrachtend, »und mein alter Omar behält am Ende recht. Doch weshalb kommst du, für ihn zu reden, da du nicht von seinem Geschlechte bist?«

»Vor alter Zeit, als die Flamme loderte, die aus dem Rachen des ledigen Wurmes kam, rettete eine Frau meines Stammes seinen Ahnherrn, darum meinten wir, daß wir dem Nachbar die alte Treue erweisen müßten. Ich trage heimlich mit mir, was ihn befreien mag, wenn die Fremden Lösegeld nehmen. Seht her«, sie zog aus ihrem Gewande ein Tuch, knotete es am Boden auf und wies [] es gewichtig dem Kaiser, der darin edle Steine und Goldschmuck sah in derber Fassung, wie sie auf deutschen Edelhöfen bewahrt wurden.»Es ist der Schatz seiner Mutter«, erklärte Friderun, »ich bringe ihn Euch, Herr Kaiser, Ihr werdet am besten wissen, wie man ihn zu seiner Rettung verwendet.«

Friedrich sah lächelnd auf den Knäuel. »Packe ein, du Einfalt, und erzähle mir genau, was du von seiner Gefangenschaft erfahren hast.«

Die Magd berichtete, was ihr der Bärtige zugetragen hatte, und darauf von ihrer Reise. Unterdes hielt der Kaiser nachdenklich den Ring in der Hand. »Du sahst den König Heinrich?« unterbrach er ihre Rede.

»Ich sah ihn«, antwortete Friderun zögernd.

»Wie sah er aus, was sprach er zu dir? Rede, Magd, du warst erst so spruchreich, jetzt stockt dir das Wort in der Kehle. Durch den Ring weiß ich, daß du mir Ernsthaftes zu sagen hast.«

»Frau Hedwig zog mich auf eine Bühne; an der Wand eines großen Saales war diese erhöht und durch einen Teppich verschlossen. Hier harre und höre, flüsterte sie, verrätst du deine Nähe, so wird es dein Verderben. Durch eine Öffnung sah ich hinab in den Saal, wo fünf vornehme Herren beim Becher saßen. Vernimm auch die Namen, raunte sie mir zu, damit du sie melden kannst. Der bleiche Jüngling ist König Heinrich, und der Starke mit dem gelben Bart ist Herzog Ludwig von Bayern.«

Der Kaiser stand auf. »Weiter!«

»Jener ist der Bischof von Straßburg und der Rote im Pelzrock ein Gesandter aus Böhmen.«

»Wenn meine bittersten Feinde nach Speier reiten, um mit dem Sohne zu trinken, so wird der Vater wohl die Kosten des Gelages zu zahlen haben«, murmelte Friedrich. »Fahre fort.«

»Die Herrin verließ mich, ich stand allein und vernahm vieles, was ich nicht verstand, bis die Frau selbst durch eine Tür in den Saal trat und von ihrem Sitz den Namen unseres Herrn, des Kaisers, nannte. Da vernahm ich Gelächter und frevelhafte Reden, und einer rief: Das Roß des Deutschen Reiches ist es müde, zwei Reiter zu ertragen, der eine sitzt darauf, der andere will's von fern an der Leine lenken. Zerschneidet die Leine, daß der junge König frei durch das Land reite. Und ein anderer sprach: Unwürdig ist es, einen König am Gängelband zu führen, eine Königin begehrt er sich nach seinem Herzen, die verhaßte Gemahlin, welche ihm der Sarazene Friedrich aufgedrungen hat, jagt er aus seinem Hause und wählt sich ein schmuckes Königskind aus Böhmerland. Und ein dritter riet: Durch Seufzen und Schelten wird nichts gebessert, steht fest zusammen, werft die hohen Briefe, welche über die Alpen zu uns fliegen, ins Feuer und sperrt die welschen Tore.«

[] Der Kaiser faßte die Magd hart am Arme und schüttelte sie. »Und was sprach König Heinrich?« Friderun schwieg. »Rede, wenn dir dein Leben lieb ist, Horcherin.«

Friderun erhob sich. »Nehmt mein Leben, aber die Horcherin verklagt nicht den Sohn bei seinem Vater. Schon zuviel habe ich Euch von dem gesagt, was ich mit Unrecht hörte, und wer mir zornig droht, schließt mir die Lippen, auch wenn er mein Herr und Kaiser ist.«

Friedrich schritt heftig auf und ab, bis er vor Friderun stehenblieb, welche sich wieder auf ihre Knie niedergelassen hatte. »Du hast recht, Magd, es bringt Unglück, die Geheimnisse der Könige zu erlauschen. War keiner, der den dreisten Reden widersprach?«

»Keiner«, antwortete Friderun.

»Vier Namen nanntest du mir; wer war der fünfte?«

»Die Frau nannte ihn nicht.«

»Ein finsterer Mann mit schwarzem, geschorenem Haar, der Gräfin Hausherr.«

»So war er, und dieser gebot den Dienern. Als die Knaben mit goldenem Gerät eintraten, erhob sich die Frau, welche stumm unter den Männern gesessen hatte, und wieder trat sie an die Tür des Verstecks, zog mich hinaus und sprach: Was du vernommen hast, sei dein, verschweige es oder gebrauche es nach deinem Gefallen. Samen der Zwietracht schwenke ich aus dem Tor, ob er verwehe, ob er hafte, ob er Heil bringe oder Verderben. Und mit bleichem Antlitz ohne Gruß entließ sie mich. Auch ich sah nicht rückwärts, als ich aus dem Hause entfloh.«

Langes Schweigen folgte ihren Worten. Friedrich warf sich in den Sessel und beugte das Haupt. »Die undeutlichen Worte gleichen dem mißtönenden Schrei einer Eule«, sprach er zu sich selbst, »wer sie abwägen will, der vermag keinerlei Beweis zu finden, und doch regen sie eine wilde Flut von Schmerz und Sorge auf, denn sie stimmen zu anderen Berichten und sind Bestätigung einer Ahnung, die ich vor mir selbst verbarg«; und der große Herr der Erde barg das Gesicht in seiner Hand.

Es war so still in dem Gemach, daß man die Stechfliegen summen hörte, welche an dem Schleiertuch des Fensters auf und ab fuhren und Einlaß begehrten. Da drang aus den Lippen des Kaisers leise der Jammerlaut: »Heinrich, mein Sohn! Gegen den kinderlosen Alten stand ich in frohem Vertrauen auf den Nachwuchs meines Geschlechts. Mein Werk sollte fortleben in meinen Söhnen, die Fäden habe ich gezogen über Land und Meer, damit, wenn ich scheide, meine Knaben das Gewebe vollenden; jetzt zerreißt der eigene Sohn ruchlos die Arbeit meines Lebens.« – Draußen klang der Ruf der Wachen und kriegerische Musik, darauf Saitenspiel und das Schwirren und Lachen Sorgloser. Das Sonnenlicht fiel gedämpft [] durch den Vorhang in den Raum und umsäumte das Haar des Kaisers, im Schatten kniete das Mädchen aus Thüringen, der graue Mantel der Bruderschaft wallte ihr um den Leib, daß sie aussah wie ein Geist der heimatlichen Berge. Endlich erhob sich Friedrich, sein umherirrender Blick haftete auf der fremden Frau, und wild zogen sich seine Brauen zusammen. »Was kauerst du hier, Unglücksgestalt? Ich sage dir, daß es Tod bringt, in die Geheimnisse der Könige zu dringen.«

»Ich weiß, wie einem Vater ums Herz ist, der um den verlorenen Sohn trauert«, antwortete Friderun, »habe ich Euch Unglück verkündet, so zürnet dem Boten nicht, ich durfte nicht verschweigen, was ich widerwillig gehört; denn wie der Vater im Himmel größer ist als der Sohn, so soll auch auf Erden der Kaiser mehr sein als der junge König. Er ist jung, Herr, und er lachte sorglos wie ein leichtherziger Knabe. Er sieht Euch auch ähnlich, hoher Herr, und jedermann muß merken, daß er von Eurem Geschlecht ist. Leicht wird ein Sohn verlockt, wenn arglistiger Rat in sein Ohr dringt. Das haben auch wir in unserem Hofe erfahren.«

»Du sprichst gut«, murmelte der Kaiser, »gegen den Arglistigen hebt sich die Hand des Rächers.«

Aus dem Hofe klang vielstimmiger Freudenruf und gleich darauf die Totenklage, welche unter den maurischen Kriegern gebräuchlich war. Der Kaiser trat zornig an das Fenster: »Vergessen auch meine Leibwachen die Ehrfurcht vor ihrem Herrn? Was verstört ihnen die Zucht?«

Ein Leibwächter meldete eilig: »Der Knabe Ali steht unten und bei ihm ein deutscher Ritter.«

»Herein«, befahl Friedrich. Er öffnete die Tür eines Nebenzimmers und gebot der knienden Friderun: »Tritt zur Seite.« Als er sich umwandte, erkannte er den Thüring Lutz mit dem nubischen Knaben. »Steht auf, Mann. Ich sah Euch zuletzt auf trauriger Warte bei Jerusalem, und ich merke, nicht fruchtlos war Euer Harren, denn Ihr habt etwas von dem gefunden, was Ihr suchtet. Vernahmt Ihr von dem Gefangenen?«

»Mein Herr Ivo harrt am Tore auf die Erlaubnis, vor des Kaisers Angesicht zu treten.«

»Ihr bringt ihn«, rief Friedrich in freudigem Erstaunen, »warum sendet er Euch voraus?«

»Ich habe einen Handel gemacht wegen seiner Rückkehr mit dem weißbärtigen Alten im Libanon und gedachte zuerst dem Heiden meine Treue zu erweisen. Denn, Herr Kaiser, durch hohen Eid bin ich verbunden, die Missetat zu rächen, welche beim Grenzsteine der Messer verübt wurde an meinem Herrn, an dem Helden Hassan, an dem Mauren Abdallah und an dessen fünf Begleitern. Als Kläger stehe ich hier gegen einen Christen, den die Heiden im Gebirge [] mit ihrer schleichenden Rache nicht zu erreichen wissen. Ich bringe die Zeugen mit mir und fordere, wenn des Kaisers Majestät den Schuldigen erkennt, Kampf gegen ihn im Gottesgericht.«

»Du meinst Peter Montague vom Tempel«, rief Friedrich.

»Die Templer hatten teil an der Tat, denn ihr Meister selbst hat vorher meinen Herrn gewarnt; aber der Stifter und Führer des Überfalls war ein anderer.«

»Weißt du den Namen?« fragte Friedrich mit flammenden Augen.

»Ich denke, daß ich ihn kenne«, antwortete Lutz vorsichtig. »Möge mein Herr und Kaiser ihn selbst durch das Zeugnis erfahren. Die Mörder kamen als ein großer Haufe in der Tracht schweifender Kurden, nur der Knabe Ali entrann in den dunklen Wald. Die letzten Worte, welche er vernahm, rief ein Kurde in der Sprache der Lateiner, als er sich gegen Herrn Ivo warf, und die Worte waren: ›Hier, Minnesänger, nimm den Dank.‹ Als die Ismaeliten herzueilten, fanden sie die überfallenen Männer am Boden, die Rosse entführt, meinen Herrn über der Leiche des Helden Hassan, in seiner Rüstung diese Waffe.« Er wies dem Kaiser den Dolch, an dessen Spitze noch die goldene Kapsel steckte. »Die Ismaeliten meinten, der große Kaiser werde an dem Messer und an den Worten des Knaben den Täter erkennen.«

Friedrich warf einen Blick auf den kunstvoll gearbeiteten Griff der Waffe und schleuderte sie auf den Tisch. »Ich sah sie schon früher.« Er wandte sich zu dem Knaben und sprach Arabisch mit ihm. Dann trat er an den Tisch und starrte auf die Waffe. »Es ist lange her, mein Vetter, daß du deine Wahl getroffen hast zwischen Vater und Sohn. Den vereitelten Überfall im Bade darf ich wohl auch auf deine Rechnung schreiben. Seitdem habe ich manches Mal deine Falschheit geahnt. Was ich dir gewähren konnte, hattest du erreicht, als vertrauter Rat des Knaben Heinrich hofftest du der große Gebieter der Christenheit zu werden. Die Versuchung war für dich zu groß, und mein war die Schuld, daß ich dir zu lange vertraute. Immer warst du klug und ohne Bedenken, und fast hättest du mich überlistet. Aber einmal haben Neid und Eifersucht dir doch die kalte Ruhe genommen, eine Torheit war der kurdische Mummenschanz, durch ihn hast du dein Spiel verloren. Hinweg.« Er warf ein Tuch über die Waffe und trat zu Lutz: »Ihr habt als ehrlicher Ritter Eure Pflicht getan, die Vollstreckung der Strafe, welche Ihr den Ismaeliten gelobtet, nehme ich Euch ab, der Kaiser selbst wird Rächer der Missetat.«

Lutz griff verlegen an seinen Schwertgurt. »Verzeiht, Herr Kaiser, um meinen Herrn zu retten, habe ich bei meiner Ehre gelobt, gegen den Leib des Täters zu reiten.«

»Sorgt nicht«, versetzte Friedrich mit wildem Lächeln, »des Kaisers Rache zieht vielleicht nicht auf einem Ritterroß durch das [] Land, aber sie trifft das Leben.« Er faßte an sein Schwert. »Ich gelobe, Herr, Euch und Euren Heiden soll Genüge geschehen. Jetzt aber eilt, mir einen Lebenden herbeizuführen, an den ich lieber denke.«

Lutz und der Knabe verließen das Gemach, gleich darauf lag Ivo zu den Füßen des Kaisers, der ihm über sein Haupt strich und ihn küßte. »Daß du lebest, wurde mir wenige Stunden vor deiner Ankunft durch deine Haarlocke angekündigt. Eines sage mir vor allem, wie kam's, daß der wilde Alte dich nicht selbst als Rächer entließ?«

»Herr, ich durfte den Heiden niemals gestehen, daß ich Christen als Täter erkannt hatte und Euren Boten als Anstifter. Jener aber meinte nur mich.« Ivo berührte mit der Hand seine Schulter, an welcher der Kaiser einst das Tuch erkannt hatte.

»Ich verstehe«, sprach Friedrich, »aber wozu mußte der Bösewicht ein solches Gemetzel ersinnen? Konnte er nicht warten, bis es Zeit war, euren Handel zu einem ehrlichen Ende zu bringen? – Für dich, Ivo, bewahre ich zwei Getreue, welche sich deiner Rettung freuen werden, beide sind, wie ich fürchte, Ungläubige.« Er öffnete die Seitentür, winkte der Magd, einzutreten, und verließ das Gemach.

Als Friderun sich plötzlich dem Jugendgespielen gegenüber sah, stieß sie einen Schrei aus und lehnte sich an die Wand. Sie fühlte sich umfaßt und einen Kuß des Mannes auf ihrer Stirn, und sie ruhte einen Augenblick, alles vergessend, in seinen Armen, doch bald entzog sie sich ihm und sprach mit bebender Stimme und niedergeschlagenen Augen: »Die Bauern von Friemar grüßen Euch vor den anderen.«

Hinter dem Kaiser trat der weise Omar ein. Der Araber faßte die Hand des Wiedergefundenen und legte sie sich an Herz und Haupt. »Auch der Alte freute sich in seiner Weise«, sagte der Kaiser lächelnd, »denn deine Rückkehr hat seine Wissenschaft zu Ehren gebracht. Wisse, Ivo, als ich dich und zugleich einen anderen entsendete, suchte Omar, wie er zuweilen für mich tut, den Erfolg eurer Reise zu erkunden. Nachdem ich dir bereits den Auftrag gegeben hatte, erhielt ich das Prognostikum, welches mir und ihm seitdem Kummer gemacht hat, denn es lautete: Die Sendung zu dem Herrn der Messer mag vergeblich sein, doch der Bote kehrt gerettet zurück, und ferner: die Botschaft nach Damaskus schafft dem Kaiser Glück, aber dem Boten mag sie zum Unheil werden. Da tauschte ich dir zuliebe die Ämter, und ich habe mit diesem gegrollt, weil du nicht wiederkehrtest. Jetzt hat sich die Verkündigung, welche dich anging, als wahr erwiesen – und«, setzte er finster hinzu, »auch was dem andern gedeutet wurde, mag sich erfüllen. Du aber erzähle, wie du bei den wilden Männern im Berge gelebt hast, denn ganz als ein Sagenheld stehst du vor mir.«

[]

Die Heimkehr

Als Ivo einige Tage später mit Friderun zur Reise gerüstet vor dem Kaiser stand, sprach dieser: »Zwingt dich die Sorge um Hof und Gut in deine Heimat, so darf ich dich nicht festhalten. Doch wird dir einmal das Reiten unter den Nachbarn verleidet, so komme zu mir und versuche, wie sich's in meinem Dienste lebt. Für den Knaben Ali laß mich sorgen, er würde in euren Höfen schwerlich gedeihen.«

Als die Reisenden zum Abschiede die Knie beugten, flehte Friderun: »Die Dorfleute werden mich fragen, wann unser Kaiser zu uns kommt, um Frieden zu bringen und eine neue Herrlichkeit. Was darf ich den Alten sagen, Herr?«

Da lächelte Friedrich wieder über die treuherzige Frage, aber gleich darauf flog ein düsterer Schatten über sein Antlitz: »Ruhelos kämpft der Kaiser gegen seine Feinde, auch wenn die Deutschen nichts vom Waffenlärm vernehmen. Gerade jetzt steht ihm neuer Streit bevor. Du aber sage den Weisen deines Dorfes: der Kaiser vertraut, daß der große Himmelsgott, welcher ihn in sein Amt eingesetzt hat, ihm zuletzt Sieg verleihen wird über alle seine Gegner. Und solange dies Vertrauen mich erhebt, sollen auch meine Deutschen sich die Hoffnung bewahren, daß ich in besserer Zeit bei ihnen sitzen werde am Gerichtsbaume unter meinem Heerschild.«

Er stand in seiner Majestät vor ihnen, glanzumflossen und kraftvoll, umringt von seiner maurischen Leibwache, während unten in der Stadt die Glocken der bischöflichen Kirche läuteten. Oft gedachten die Reisenden an diesen Abschied.

Eilig zogen die Thüringe nordwärts. Es war kurz vor dem Winter, auch in dem warmen Lande trug der Herbstwind die Kälte von den Bergen und entlaubte die Bäume, mißfarbig war der Grund und graue Wolken deckten die Sonne, aber Ivo und Friderun achteten wenig auf die wilde Jahreszeit; sie zogen nebeneinander dahin so glücklich, wie sie in der Kinderzeit über Hügel und Feld der Heimat gewandert waren. Die Magd wurde nicht müde zu fragen, und während Ivo erzählte, durchlebte sie in Gedanken die Abenteuer der Kreuzfahrt; er aber freute sich an dem Verstand, mit welchem sie die Gebräuche fremder Menschen und das Leben im Morgenlande betrachtete. Auch sie berichtete von der Heimat; war auch vieles unerfreulich, er vernahm es aus einem Munde, der ihm dabei herzlich zulachte; alles, was sie sagte, klang ihm wie ein Lied aus Thüringen, entzückt lauschte er auf die heimische Sprache und die kräftige, treuherzige Weise, in der sie zu reden wußte. Und obgleich ihr Mantel grau war und ohne Flittersterne, so sah sie ihm doch zuweilen aus wie die Jungfrau Maria, welche zu armen Kindern herniedersteigt. Freilich dünkte sie ihm nicht [] immer so vornehm. Einst, als sie in der Mittagssonne auf einem Steine saßen, während Lutz die Pferde am nahen Quell tränkte, war ihr eine der Flechten, welche sie mühsam unter dem Pilgerhut zusammenhielt, am Rücken hinabgefallen, da konnte er sich nicht enthalten, die Flechte zu ergreifen und zu küssen, und als sie das merkte und mit heißem Erröten die verschobene zurechtrückte, gestand er ihr, daß er in der Ferne oft an sie gedacht hatte, zuweilen wie an eine gute Gespielin mit zwei langen Zöpfen, und ein andermal wie an eine übermenschliche Frau in wallendem Haarschleier, er wußte selbst nicht, ob Göttin, ob Heilige.

»Wie war Euch die Magd lieber?« fragte Friderun, mit abgewandtem Gesicht trockne Grashalme pflückend.

»Immer gerade so am liebsten, wie sie mir vorkam«, versicherte er ehrlich, »und wenn ich heut die Flechte berührte, so tat ich dies in Erinnerung an einen früheren Tag, wo sich ein wildes Mädchen zu mir gesellte und ich sie zur Seite schob, weil ich wahrhaftig beim Schein der Leuchte Euch neben mir sah.«

Da aber blickte ihn Friderun kummervoll an und sprach, schnell aufstehend: »Sagt mir so etwas nie mals wieder, Herr Ivo.«

Am nächsten Morgen ritt sie niedergeschlagen an seiner Seite, und als er nach dem Grunde ihrer Trauer fragte, begann sie errötend: »Viele Tage müßt Ihr mich mitnehmen und oft müssen wir bei fremden Leuten einkehren; sind sie auch fremd, mir tut weh, wenn sie Unrechtes von mir denken, denn einer Magd ziemt es nicht, so zu reisen, wie ich mit Euch fahren muß. Darum flehe ich, Herr, laßt mich in einem Frauenkloster, wo sie gegen arme Pilgerinnen gütig sind, bis ich eine Gelegenheit zur Heimkehr finde.«

»Wie dürft Ihr mich durch solche Gedanken kränken«, rief Ivo, »keine höhere Pflicht habe ich jetzt, als Euch unversehrt in den Hof Eures Vaters zu bringen.«

»Ich weiß, daß Ihr's gern tätet. Ich aber war mutvoll, da ich ging, und furchtsam kehre ich heim.«

»Sagt, wie Ihr mit uns reisen wollt«, bat Ivo, »wir haben den Schatz der Mutter, ich will Euch ein Gefolge werben, damit Ihr nach dem Brauch ansehnlicher Frauen, umgeben von Euren Hütern, dahinziehen könnt, und wir begleiten Euch als dienende Reiter.«

Friderun lachte trotz ihrer Sorge. »Das würde dem Bauernkinde nicht ziemen, auch würde es das Übel nur ärger machen, wenn uns ein Thüring begegnete und Kundschaft von uns erhielte, denn die Landsleute wandern sehr in der Welt umher, und da ich mit dem Bärtigen reiste, habe ich mehr als einen getroffen. Ich merke, Herr, ich bin in Not, es ist nicht die größte, und sie geht mich allein an, doch ist sie schlimm genug für mich und meinen alten Vater.«

»Mir fällt eine Hilfe ein«, tröstete Ivo. »Als Ihr bei uns im Hofe wart, spielten wir zuweilen, daß der Bruder verlorenging und die [] Schwester ihn suchte beim Traume, beim Baume und beim Rößlein im Stall. Jetzt seid Ihr wieder ausgezogen, mich zu finden, laßt uns denselben Brauch üben, wir reisen als Pilger und Geschwister, und Herr Lutz sei unser Hüter. Leicht werden uns die Leute dafür halten, und Ihr seid müßiger Fragen ledig.«

»Das würde mir gefallen«, sprach Friderun leise, »doch wenn zwei eine lange Fahrt zusammen tun, so verpflichten sie sich gegeneinander durch ein Gelöbnis, treue Gesellen zu sein. Wollt Ihr geloben, mich als eine Schwester zu halten und zu ehren, so will ich weiter mit Euch ziehen, und der liebe Gott möge unsere Reise behüten.«

Das gelobte Ivo. Am nächsten Tage trug er über dem Eisenhemd wieder ein Pilgergewand, und Friderun zog mit besserem Vertrauen neben ihm dahin.

Nur ein Erlebnis ihrer Reise hatte sie ihm verschwiegen, den Besuch bei Frau Hedwig. Sooft sie davon anfangen wollte, schnürte es ihr die Kehle zusammen. Endlich aber bezwang sie sich. »Er muß es wissen, da sie seine Herrin ist.« Und obgleich ihr vor kam, als verderbe solches Gespräch die ganze Seligkeit ihrer Reise, so begann sie doch: »Ich war auch bei Frau Hedwig, der Gräfin.«

»Ihr?« rief Ivo heftig. Sie sah, daß er tief errötete, und fühlte einen Stich im Herzen wie von einem Messer. »Sprecht, wie war die Begegnung?« fragte er nach einer Weile. – »Als ich ihr sagte, daß Ihr lebet, spielte sie Eure Weise auf ihrer Harfe. Dann fragte sie mich aus über allerlei, um zu erforschen, ob ich mit Bedacht reden könnte. Sie versprach mir auch, den König Heinrich zu zeigen, damit ich dem Kaiser von ihm erzähle, und ließ mich ein Gespräch belauschen, das ich lieber nicht gehört hätte. Auch davon mußte ich dem Kaiser wider Willen berichten.«

»Was vernahmt Ihr, Friderun?«

»Das bleibt mein Geheimnis, Herr«, antwortete die Magd. Ivo fragte nicht mehr, und beide zogen stillschweigend nebeneinander.

Lutz, welcher den Reisenden bald voraussprengte, bald den Rücken deckte, ritt zu seinem Herrn: »Ich sorge, unsere Fahrt wird beobachtet; blickt nach rückwärts. Seit zwei Tagen sehe ich einen Mann in unserer Spur, er hält sich fern, aber folgt jedem Schritt unseres Weges.«

Ivo wandte sich um. »Es ist ein einzelner Reiter, und soweit ich erkenne, klein und ohne Rüstung, wahrscheinlich ein furchtsamer Händler, der in einem Notfall unsere Hilfe begehren will.«

»Dann würde er näher heranreiten, denn wird er überfallen, so vermöchten wir aus der Ferne doch nicht zu helfen. Sooft wir halten, hält er auch, um uns nicht nahe zu kommen, und sobald wir aus dem Nachtlager aufbrechen, zeigt er sich in der Entfernung.

[] Merkt, Herr, er beachtet, daß wir nach ihm hinschauen, denn er hält.«

»Vielleicht werdet Ihr seiner in der Herberge habhaft«, versetzte Ivo gleichgültig.

Sie kamen in die lombardische Ebene und zogen den Alpen zu, da begann Lutz wieder: »Das dunkle Männlein folgt uns immer noch. Die Sonne bescheint ihn auf der Höhe, Ihr mögt ihn jetzt deutlich erkennen; ein Händler ist er schwerlich, denn er führt weder Pack- noch Saumtier, und sein Roß ist so beharrlich wie er selbst, denn es kann mit diesen Pferden aus dem kaiserlichen Stalle Schritt halten. Er schleicht hinter uns, wie im Morgenlande das Raubtier hinter der Karawane.«

»Bleibt bei der Magd«, gebot Ivo, »ich betrachte die Gestalt in der Nähe.« Er fuhr in gestrecktem Laufe zurück. Der Fremde wich der Bewegung nicht aus, sondern stieg vom Pferde und kauerte auf dem Boden, die Ankunft erwartend. Ivo sah einen dürftigen Gesellen vor sich in geringer Tracht, mit hagerem braunem Gesicht und stierem Blick. Er prallte mit seinem Roß entsetzt zurück, denn er hatte dieselbe Gestalt, ebenso kauernd, vor Jahren im Zelte des Kaisers gesehen; und an die Waffe fassend, fragte er in arabischer Sprache: »Was suchst du auf meinem Wege, Ungläubiger?«

»Mir ist geboten, auf deiner Spur nach Norden zu gehen«, antwortete der andere.

»Wohin und gegen wen?« fragte Ivo. Der Mann schwieg und sah gleichgültig vor sich nieder. »Hast du das Bellen verlernt, Schakal«, rief Ivo zornig und rührte ihn mit dem Fuß am Bein. Der Mann zog das Bein an sich und fragte gleichmütig: »Haben sie dich in den Bergen mit dem Fuße gestoßen, wenn du ihrer Frage die Antwort versagtest?«

Da ließ Ivo den Schwertgriff los. »Mir ist es greulich, dein Führer zu sein, darum weiche von meinem Wege, du Unglücksgestalt.«

»Mir aber ist geboten, auf deiner Spur nach Norden zu gehen«, wiederholte der Fremde und senkte, der Reden überdrüssig, das Haupt.

Ivo kehrte in finsterm Schweigen zu seinen Begleitern; als Lutz ihm fragend in das verstörte Gesicht sah, antwortete er nur: »Ihr nanntet ihn mit Recht ein Raubtier, hinweg aus seiner Nähe.« Eilig zogen sie vorwärts und hatten den Ismaeliten bald aus dem Gesicht verloren. Sie kamen in die Schneeberge und wanderten mit Führern mühsam auf rauhem Pfade, oft sahen die Männer, wenn der Weg abwärts lief, nach der Höhe zurück, aber sie erspähten die Schattengestalt nicht mehr. Als sie von der schweren Bergfahrt in deutsches Land hinabstiegen und die bleiche Novembersonne Tal [] und Hügel mit mattem Schein erhellte, atmete Ivo leichter und sprach leise zu Lutz: »Vielleicht hemmten ihm Eis und Schnee den Weg.« Aber Lutz wies rückwärts, auf der Höhe bewegte sich etwas durch den Schnee, kaum sichtbar dem Auge, und wieder spornte Ivo sein Roß, daß es bäumte.

Die Nacht verbrachten sie in der engen Herberge eines Gebirgsdorfes, die Männer hatten sich in ihren Mänteln auf den Boden gestreckt, Friderun saß am Ofen und hörte auf den Nachtwind, der um das Haus tobte. »Ich war ihm gut«, sprach sie zu sich selbst, »seit ich denken kann. Wie man der Sonnenstrahlen froh wird und des singenden Vogels, so freute ich mich, wenn ich von ihm hörte und an ihn dachte. Wenn ich ihn aber als erwachsene Magd im Hofe des Vaters sah, da kränkte mich, daß er als ein edler Herr anders zu mir sprach als damals, wo wir als Kinder zusammen spielten; und ich wurde trotzig gegen ihn und eine hochmütige Törin. Erst als die Trauer um den Geschwundenen über mich kam, merkte ich, wie sehr mein Herz an ihm hängt. Und seit er mir die Locke sandte, ist es mir angetan. Die haben wohl recht, welche sagen, daß von dem abgeschnittenen Haar ein Zauber ausgeht für den, der es bewahrt. Ich habe einen Teil von ihm, den ich an meinem Herzen trage und den ich niemandem gönne. Seitdem hat mich der Mut in seiner Nähe verlassen. Sonst wäre mir das höchste Glück gewesen, als seine Schwester neben ihm zu wandeln, jetzt macht mich auch dieser vertraute Gruß traurig.«

Ivo bewegte sich unruhig im Schlafe. »Peitscht mir den Hund aus meiner Seele«, murmelte er.

»Auch ihm ist das Herz schwer«, fuhr Friderun fort, »er merkt wohl, daß ihn Hartes in der Heimat erwartet. Aber dort ist er wieder der Edle, welcher im Dienste seiner Herrin reitet, und ich die ungeschickte Dorfmagd, welche das Drachenlied singt. Arme Friderun!«

Sie erhob sich, denn zwischen dem Brausen des Sturmes und dem Dröhnen im hölzernen Hause vernahm sie ein leises singendes Murmeln, wie von einer Menschenstimme, dicht an der Hauswand. Sie bändigte den ersten Schrecken, indem sie dachte: ›Bleibt ein Mensch in der kalten Nacht dort draußen, so wird es ihm schädlich.‹ Entschlossen drückte sie die Tür auf und trat in das Freie. Nahe der Schwelle am Fenster kauerte eine dunkle Gestalt, welche das Haupt hin und her bewegte und unverständliche Worte vor sich hin sang, ohne die Nahende zu beachten, Da schloß sie die Tür, rührte ängstlich an Ivos Arm und flüsterte: »Draußen unter dem Fenster sitzt einer, der trunken ist oder unsinnig, denn ganz verstört singt und gurgelt er vor sich hin.« Ivo stützte sich auf den Arm, um zu hören, aber im nächsten Augenblick sprang er auf und faßte ihre Hand: »Bete, Friderun, für eine arme Seele; denn dieser [] Nachtgesang bedeutet einem sündigen Menschen ehrlosen Tod.« Und beide flehten zu dem Gott des Erbarmens, während draußen der Bergwind tobte und ein Verzückter von den Freuden des Paradieses träumte.

Am Morgen sah Ivo vor die Tür, der Fremde war verschwunden. Da gebot er seinem Begleiter Lutz: »Wir reiten nach Speier, den Grafen von Meran zu grüßen.«

Einige Tage darauf hielten die Reisenden vor dem Hause, in welchem Humbert von Meran wohnte. Ivo winkte seinem Begleiter, beide stiegen ab und gaben die Zügel an Friderun. Dem diensttuenden Kämmerer rief Ivo zu: »Ein Pilger, der geheime Botschaft vom Kaiserhofe trägt«, und beide folgten dem Manne in das Gemach des Grafen. Ivo nahm den Pilgerhut ab, und als der Graf erschrocken zurückfuhr, rief er: »Ein Verräter seid Ihr an Eurem Kaiser, Graf Humbert, und für die heilige Woche der Kreuzigung und Auferstehung ladet Euch der Thüring Ivo zum letzten Kampfe.« Er warf ihm das Fehdezeichen hin und fuhr fort: »Wollt Ihr den Tag des Kampfes erleben und ein ehrliches Ende finden, so entweicht zur Stelle hinter geweihte Mauern und bergt Euer Haupt, wo kein Fremder Euch nahen kann; denn wisset, die Messer vom Grenzsteine sind über Euch.« Und bevor der Graf einer Antwort mächtig war, verließ er mit seinem Begleiter das Haus und ritt von dannen.

Jahrelang hatte Ivo mit heißer Sehnsucht an die Tage gedacht, wo ihn Gruß und Brauch der Heimat empfangen würden, wo er im alten Eichwald stehen und den Vogelgesang vernehmen würde, der ihm aus der Kindheit vertraulich war. Jetzt kehrte er gelöst aus wilder Fremde zurück, er ritt an der Seite eines Weibes, das ihm liebgeworden, und eines Treuen, dem er die Freiheit verdankte. Und dennoch wurde ihm das Herz immer schwerer, je näher er der Heimat kam; fremd und rauh war der Gruß der Leute, kalt der Himmel, die Bäume entlaubt und die Vögel entflogen. Die Schwermut und geheime Angst, welche den Deutschen beim Nahen des Winters überfällt, bedrückten ihn ärger als jemals zuvor. Auch wenn er an seinen Hof dachte und an die ritterlichen Genossen der Landschaft, wurde ihm nicht wohl. Zwar um den begehrlichen Oheim und um widerspenstige Vasallen sorgte er nicht allzusehr, denn er vertraute seinem Arm und guten Helfern, und er scherzte mit Lutz über das Erstaunen und die geringe Freude aller, welche sich frech in seinem Erbe niedergelassen hatten. Aber auch wenn er sich in sicherem Besitz des Hofes und der Turnierrosse dachte, mitten unter seinen Dienstmannen, und daß er vielleicht einmal dem Schüler Nikolaus ein neues Lied vorsagen werde, erschien ihm sein ganzes früheres Leben wie ein abgelegtes Gewand, und er empfand dasselbe Mißbehagen, welches ihn zu der Kreuzfahrt getrieben hatte, [] vorahnend wieder. Noch ein anderer Streit arbeitete in seiner Seele, alte Leidenschaft und wilde Hoffnungen waren lebendig geworden, und dazwischen fühlte er etwas Unheimliches, das zwischen ihn und seine Herrin trat, er wußte nicht zu sagen, was es war, aber sooft ihm dieser Schatten durch die Seele fuhr, wurde es sein bester Trost, die Stimme der Magd Friderun zu hören. Denn wenn sie von der Heimat erzählte, an der ihre ganze Seele hing, konnte er träumen, daß er dort sein Glück finden werde.

Als die Wanderer über den Main gedrungen waren und an dem Kirchhof einer ansehnlichen Stadt vorüberritten, wies Lutz zur Seite. »Wir kommen und diese wollen gehen«, und Ivo sah wieder ein rotes Kreuz aufgerichtet, dabei einen Bettelmönch, welcher dem aufgeregten Haufen neue Briefe des Heiligen Vaters vorlas und für den nächsten Mai große Vergebung der Sünden allen verkündete, welche einen Sommer unter dem Kreuz gegen das wilde Preußenvolk kämpfen würden. Da sprach Ivo lächelnd zu seinem Gefährten: »Ich denke, wir haben genug davon genossen«, und er wunderte sich, als Lutz antwortete: »Nach allem, was man hört, haben diese Heiden doch größere Lust zu fechten als die Sarazenen, und ein ehrlicher Kriegsmann könnte dort Sommerfreude finden.«

Die Reisenden waren um Gotha, die letzte Stadtburg ihres Weges geritten, und Ivo suchte von der Höhe die Stelle des Tales, wo der Ahorn stand, aus dem er einst den Brief seiner Herrin geholt hatte. Da scheute das Pferd der Magd an das seine, er fühlte sich beim Arme gefaßt und sah in das verblichene Gesicht seiner Begleiterin. Auf der andern Seite der Straße bewegte sich ein trauriger Zug; voran auf einem Esel ein ungeschlachter Bettelmönch, der ein rohes Holzkreuz wie eine Waffe auf der Schulter hielt, hinter ihm ein Mann und ein Weib, blutrünstig, mit Riemen aneinandergebunden, und um die Gefangenen ein Haufe bewaffneten Gesindels. Als der gebundenen Frau die Knie einknickten, zerrte sie der Mönch am Riemen, und der Haufe dahinter höhnte und piekte mit Speer und Schwert gegen sie. »Wie mögt Ihr ein Weib so rauh fortschleifen, Bruder«, rief Ivo, an den Mönch reitend. »Wie mögt Ihr so unverschämt fragen«, spottete ihm der Mönch nach. »Die Tiere, welche ich treibe, sind eine neue Art von Ungeziefer, welches in diesem Lande zum Vorschein kommt.«

»Wer seid Ihr, und mit welchem Recht führt Ihr diese?« fragte Ivo unwillig.

»Dorso haben mich die getauft, denen mein Rücken nicht gefiel, und ich rate Euch, nicht an meiner Heiligkeit zu zweifeln, denn ich bin der Handlanger meines hochwürdigen Meisters Konrad und führe hier Marktware für das Höllenfeuer. Verdammte Ketzer sind es, welche Meister Konrad zu Erfurt auf dem Holzstoß sengen wird. Soll ich Euch Gutes raten, so haltet Euch fern von ihnen, denn [] dies traurige Laster steckt an. Doch halt, Bruder Pilger, auch Ihr seid mir schon über den Weg gelaufen. Wart Ihr es nicht, der mich im Kreuzlager anherrschte und gröblich schmähte? Seid Ihr damals den Leichenvögeln entgangen, so seht zu, daß Ihr nicht jetzt den Krähen in die Hände fallt, welche nach meinem Gebote fliegen, denn sie verstehen mit den Schnäbeln zu hacken, und ihr Krächzen bedeutet ein feuriges Ende.« Seine Begleiter lachten und schrien Beifall; die Reiter spornten ihre Pferde, um der unheimlichen Nähe zu entkommen, während Ivo Friderun zu unterstützen suchte, welche sich kaum auf ihrem Rosse zu erhalten vermochte. Ivo aber sprach finster: »Wir haben auf dieser Fahrt die Rache des Kaisers und des Heiligen Vaters auf der Landstraße gesehen, die eine schlich scheu und verkleidet, die andere fährt trotzig am Tageslicht. Wir zweifeln nicht mehr, welcher der beiden Herren im deutschen Lande gebietet.«

Als sie an das Dorftor von Friemar kamen, bat Friderun, die bis dahin ihr starres Schweigen nicht gebrochen hatte: »Laßt mich allein meinen lieben Vater begrüßen; kommt aber bald, damit die Nachbarn sich Eurer freuen.« Sie wandte ihr Roß zum Tore, er sah ihr nach, bis ihre Gestalt zwischen den Höfen verschwand.

Ivo jagte in gestrecktem Lauf vorwärts, und als Lutz warnte: »Herr, den Pferden dünkt die Eile zu groß«, versetzte er: »Mit heißem Wunsch habe ich diesen Tag ersehnt und oft an das Glück gedacht, Berg und Tal der Heimat wiederzuschauen, heut ist mir alle Freude geschwunden, ein Unglücksahnen lastet mir auf der Brust, und ich höre die Warnung des toten Hassan: Der Fuß des Heimkehrenden strauchelt an der Schwelle des Hauses.« Er wies mit der Hand nach der Ferne. »Dort ragt der alte Turm, hinein in den Hof, denn nicht im Frieden finden wir ihn wieder.« Sie jagten bei bewaffneten Knechten vorbei, welche auf dem Anger hielten; schon vor dem Tore vernahmen sie Zank und wildes Geschrei; als sie einritten, fanden sie den Hof mit Bewaffneten zu Fuß und Roß gefüllt, und erkannten viele der Nachbarn: Dienstmannen der Grafen von Gleichen und den Rettbacher; auch Ritter Konz war da und Graf Meginhard, und dieser stand zu Fuß inmitten des Haufens gegenüber dem Turme. Der alte Graben um den Turm war vertieft, ein schmaler Steg darübergelegt, und auf der Turmseite stand Herr Henner mit wenigen Knechten bei einem Stellbogen, der so aufgerichtet war, daß er den Steg bestrich. Die Ankommenden drückten die Eisenhüte in die Augen, und niemand achtete auf sie, den Knechten im Hintergrund galten sie für Gesellen der Angreifer, und die vorderen haderten mit Herrn Henner.

»Zum letztenmal will ich Euch mahnen, Marschalk«, rief Graf Meginhard, »wie ein Toller gebärdet Ihr Euch; wir aber sind nicht hergekommen, um Märchen zu hören, bei uns werden die Toten [] nicht lebendig, und Eure Sommerritte mit dem leichtgeherzten Fant haben ein Ende. Im Namen des Landgrafen fordere ich, daß Ihr Euch ergebt, oder Ihr und die Toren, welche Euch folgen, büßen mit ihrem Leibe für den Ungehorsam gegen Euren Herrn.«

Henner aber rief zurück: »Nicht als Herr des Gutes kommt Ihr, Graf Meginhard, mit Euren Kumpanen, sondern als ein raublustiger Einbrecher, und wie Räuber will ich Euch empfangen. Wer Miene macht, herüberzudringen, den nagelt mein Pfeil an den Boden.«

»Macht ein Ende«, schrie der Rettbacher den Knechten zu, »schlagt Balken aus den Dächern und legt sie über den Graben, damit wir dem Schreier sei nen Mund stopfen.« »Macht ein Ende«, schrie auch Herr Konz, »Balken her!«

»Kommt nur herüber, Wilhelm«, entgegnete Henner zornig, »Ihr findet im Turm die vier Pferde, die Euch vor Jahren entgingen, und eine Halfter, mit der wir Euch am Halse schnüren.«

Da rief eine helle Stimme über den Haufen: »Was sucht ihr Herren in meinem Hofe? Ich grüße Euch, Oheim, vor dem Turm unserer Väter.« Durch die Bestürzten, welche nach allen Seiten zurückwichen, ritt Ivo mit seinem Begleiter an den Graben und stellte sich gegen sie auf, Lutz sprang vom Pferde, und das widerstrebende über den Steg treibend, rief er seinem Gesellen zu: »Bewahrt den Gaul, Henner, er kommt aus gutem Marstall.«

Mit geschlossener Faust stand der Graf und hörte finster auf den jauchzenden Heilruf, der von der andern Seite des Grabens für seinen Neffen erscholl. »Beweist, daß Ihr es seid«, murmelte er endlich, und der Rettbacher rief: »Er ist ein Betrüger, auf ihn, und macht ein Ende.«

Ivo nahm seinen Hut ab: »Wer mich nicht wiedererkennt, der reite heran, damit ich ihm mit der Schwerthand beweise, wer ich bin.«

Da kam niemand, aber mehrere der hintersten ritten weiter zurück und sprachen leise miteinander. Doch Graf Meginhard stand trotzig. »An Euren hohen Worten erkennen wir Euch, doch fürchte ich, daß Ihr Eurer Heimfahrt nicht so froh werdet, als Ihr meint; denn Euer Gut und Hof ist mir als Erbe zugefallen, und Ihr habt Euch mit mir zu vergleichen, bevor Ihr wieder in den Herrenschuh treten dürft.«

»Tut das, Herr, und zur Stelle«, rief Lutz, »es fehlt hier nicht an guten Gesellen, welche nach einem Vergleich begierig sind.« Und blitzschnell packte er den Grafen mit starkem Griff und schwenkte ihn auf den Steg. »Herbei, Henner, und haltet Eure Waffe über ihn.« So unerwartet war die kecke Tat, daß niemand sie hinderte, doch im nächsten Augenblick erhob sich helles Geschrei, und die Mühlburger drangen gegen Ivo, der sie mit seinem Schwert vom [] Stege abtrieb. »Weicht zurück«, rief Henner, »oder, bei St. Georg, euer edler Genosse zahlt zuerst für den Schaden.« »Weicht, ihr Herren«, rief auch Ivo, »daß ich mit dem Grafen friedlich verhandle; Ihr aber, Marschalk, geleitet ihn höflich an den Turm. Haltet hier Wache, ihr Treuen, und laßt niemand herüber.« Lutz sprang vor, und während die beiden Dienstmannen jenseit der Brücke gegen den unschlüssigen und schreienden Haufen Wache hielten, ergriff Ivo den bestürzten Oheim bei der Hand und führte ihn in das Turmgewölbe. »Ich bin im Vorteil, Graf Meginhard, und es bedarf zwischen uns nicht vieler Worte. Ungern übe ich gegen einen Verwandten Gewalt; Ihr selbst tragt schuld, wenn Ihr in diesem Turme, den Euer Ahn gebaut, als Gefangener bleiben müßt. Denn nicht lebend verlaßt Ihr diese Mauern, wenn Ihr nicht herausgebt von Hufen und Habe, was Ihr als zugefallene Erbschaft in Besitz nahmt. Ihr schaltet vor Fremden den leichten Sinn, mit dem ich sonst dahinlebte, Ihr zuerst sollt erkennen, daß ich aus der Fremde zurückkehre, scharf und hart, um mein Recht zu behaupten.«

Der Graf blickte in dem düstern Raume umher und erkannte in dem Gesicht seines Neffen eine finstere Entschlossenheit, darum versetzte er: »Ihr sprecht mit gutem Grunde, daß es zwischen uns nicht vieler Worte bedarf; und gern erspare ich Euch die Unehre, daß Ihr Euren Blutsverwandten im Kerker haltet. Schafft einen Schreiber und gute Männer von beiden Seiten, welche vermitteln und zeugen, ich bin bereit, mich dem Vorteil zu fügen, den Ihr über mich erlangt habt. Jedoch merkt, Neffe: Mich könnt Ihr zwingen, Frieden zu halten, nicht alle Feinde, welche über das herrenlose Gut eingebrochen sind. Ich will Euch loben, wenn Ihr scharf und hart auf Eurem Rechte besteht, aber ich sorge, die Erkenntnis ist Euch zu spät gekommen.«

Ivo stand wieder als Herr in dem Hofe seiner Väter. Der zudringliche Erbe war hinausgescheucht, ein Teil der entführten Rosse und Rinder zurückgegeben, den Schatz der Mutter hatte er zu Gelde gemacht, um Knechte zu werben und die Schäden der letzten Jahre zu bessern. Dennoch fand er es schwer, den alten Besitz, welcher durch die ganze Landschaft zerstreut lag und jahrelang für herrenlos gegolten hatte, wiederzugewinnen. Bauern, welche ihm zinspflichtig waren, hatten sich selbstwillig anderen Herren unterstellt, um Schutz für Leben und Habe zu finden, ritterliche Vasallen weigerten sich, ihre Lehnspflicht zu erfüllen, benachbarte Edle hatten sich Wälder, Weiden und Wiesen angeeignet und waren entschlossen, ihren Raub mit den Waffen zu behaupten. Viele Grundstücke waren vor der Kreuzfahrt durch Verpfändung und Leihkauf in andere Hände übergegangen, wo sollte Ivo die Summen schaffen, um das Verpfändete einzulösen, selbst wenn die Gläubiger guten Willen hatten, es gegen die gezahlte Summe zurückzugeben? Auf allen [] Seiten fand er sich in Händel verstrickt, und er empfand, daß er als freier Herr auf seinem Erbe viel schlimmer daran war als ein großer oder kleiner Vasall, denn er stand allein gegen zahlreiche Feinde. Ohne Hilfe vermochte er ihnen nicht zu widerstehen, und Verbündete konnte er nur durch neue Opfer an Geld und Hufen erhalten, weil niemand bereit war, im Harnisch für ihn Leib und Glieder zu wagen, wenn er nicht einen Vorteil für sich zu hoffen hatte. Die größten Herren der Landschaft, das Haus des Landgrafen und der Erzbischof von Mainz, welcher von Erfurt aus gebot, waren ihm abgeneigt und begünstigten seine Gegner, die Mühlburger und die Gleichen. Jeder der anderen großen Herren hatte seine Feinde, mit denen er in Händeln und Fehde lebte, und wenn ein solcher bereitwillig war, einen Vertrag zu schließen, daß Freunde und Feinde gemeinsam sein sollten, so war für Ivo sicher, daß er zu seinen Feinden noch zahlreiche neue erhielt, aber sehr unsicher, ob er gerade da, wo es ihm darauf ankam, die tatkräftige Unterstützung seines Verbündeten gewinnen würde. Ivo hatte früher mit Widerwillen die kleinen Fehden seiner Nachbarn betrachtet, das Niederbrennen der Dörfer und das Wegtreiben der Herden, jetzt fand er sich in der Lage, an dieselben rohen Zwangsmittel zu denken, denn wie konnte er seinen Gegnern anders furchtbar werden, als wenn er ihnen Schaden zufügte?

Sehr verändert war das Aussehen des Herrenhofes. Statt der zierlichen Knaben, welche sonst dem Herrn aufgewartet hatten, lagerten jetzt narbige Knechte mit harten Fäusten in Saal und Zimmern, die Boten, welche aus- und einritten, trugen nicht Einladungen zu ritterlichen Stechen, sondern Fehdebriefe oder Klageschreiben, an den Speerstangen blitzten scharfe Eisen, und statt der schnellen Turnierpferde stampften derbe Kriegsgäule in den Ställen. Oft trauerte Henner über diese Veränderung, und er wunderte sich, daß sein Herr unter allem Widerwärtigen die heitere Fassung nicht verlor. Gleich am ersten Tage, nachdem der Hof von Fremden gesäubert war, hatte er ihn in die Kammer geführt, wo der gute Godwin gestorben war: »Er hielt auf dieser Erde aus, bis ich in den Hof kam, ihm die Augen zuzudrücken, und er starb als Ritter und Christ mit einem Segenswunsch für seinen Herrn.« Da legte Ivo die Hand auf die Stelle, wo das Haupt des Alten geruht hatte, und sprach: »Ich gedenke deiner Worte, Vater, jetzt ist die Zeit gekommen, wo ich als sparsamer Herr um das Meine zu sorgen habe, und ich verspreche dir, muß ich Buße zahlen für das sorglose Treiben meiner Jugend, so soll niemand meine Trauer darüber erkennen. Ich sorge, Marschalk, wir werden fortan nicht um das Lächeln der Herrin unter dem Schilde reiten, und auch Nikolaus wird schwerlich Verse schreiben, sondern grobe lateinische Urkunden. Wo weilt der Schüler?« Er vernahm, daß Nikolaus seit Godwins Tode den Hof [] verlassen hatte und unstet in der Gegend umherzog. Ungeduldig erwartete Ivo das Eintreffen des Wandervogels. Aber Nikolaus beeilte sich nicht, in das alte Nest zurückzukehren, auch nachdem er vernommen hatte, daß sein früherer Liedergesell daheim sei. Erst an einem kalten Abend, als Ivo allein bei der knatternden Flamme des Kamins saß, vernahm er draußen die wohlbekannte Stimme, welche durch ein Lied Einlaß begehrte. Seinem warmen Gruß antwortete Nikolaus in einer gedrückten Weise, die dem Dreisten sonst fremd gewesen war, bis er nach den ersten Reden vor den Hausherrn trat und fragte: »Soll zwischen uns beiden auch ferner gelten, was wir einst wegen meiner Wahrhaftigkeit besprochen haben?« Und als Ivo antwortete: »Es soll«, da begann Nikolaus die Erzählung von seinem Abenteuer in dem Hause der Frau Hedwig und schloß: »Vielleicht wäre ich in der rauhen Nacht lieber woanders eingekehrt als bei Euch, aber heut erfuhr ich, was mir allerlei Gedanken macht und wohl auch Euch. Jener grobe Mann ist still geworden, und das Eisen, welches er damals mir gegen die Kehle zückte, hat er mit besserem Recht gegen sich selbst gebraucht. Ein Kaufmann, der von Frankfurt über den Main kam, erzählte mir neue Mär. Man fand den Unhöflichen in dem Flur seines Hauses auf den Steinen und ein Messer in seiner Brust, und als die Leute näher zusahen, war es seine eigene Waffe. Doch vernahm der Kaufmann auch Wunderliches von dem Messer, denn der Tote soll es seit Jahren vermißt haben, und man sagt, kurz vor seinem Ende sei ihm ein Geist erschienen, habe ihm das Messer zurückgebracht und sein bevorstehendes Ende angezeigt.«

Ivo sank schweigend auf seinen Sitz, und Nikolaus fuhr schadenfroh fort: »Wer jetzt eine ritterliche Weise in dem Hause singt, wird den Weg zur Herrin von Riemen und Eisen frei finden.«

»Er ist geschwunden und die Herrin ist frei«, hallte es in Ivos Seele nach, er stand auf und verließ das Zimmer.

Der Mitbruder

Wieder wehte der Mai mit warmem Hauch durch das Land und hing sein grünes Gewand um die entlaubten Bäume, wieder regte sich das frohe Leben auf Heide und Flur, und die Herzen der bekümmerten Menschen erhoben sich in neuer Hoffnung. Auch in dem Edelhofe war der goldene Schein zu erkennen, welchen das Sonnenlicht in die Seelen warf. Jedermann schritt stolzer einher; wer den ganzen Winter kein Lied gesungen hatte, der summte jetzt die fast vergessene Weise; aus den Kammern der Knechte erklang jeden Abend ein lustiger Rundgesang. Lutz, der sich wenig über den Winterfrost gegrämt hatte, bürstete viel über Bart und Haar und [] betrachtete vergnügt die glänzende Borte, welche er seinem Mädchen als Gürtel schenken wollte; Nikolaus war oft über seiner neubesaiteten Laute zu finden, und sogar der Marschalk ehrte die frohe Jahreszeit, indem er eigenhändig einen großen Topf mit Farbe über den Hof trug und den Knechten gebot, das Speerholz säuberlich mit den Wappenfarben des Herrn zu bemalen. Ivo blickte wieder von der Galerie herab auf das kleine Baumgehege an der Mauer und hörte lachend auf den Gruß des thüringischen Finken, den er jahrelang nicht vernommen hatte. Öfter als sonst ließ er sein Pferd satteln, um nach dem Hofe des alten Bauern zu reiten. Denn dort erwartete ihn ein Weib, das er seit der Heimkehr gern als seine Schwester begrüßte.

Aber mit dem Frühling kam auch die Unruhe und Reiselust in das Volk; überall sprachen die Leute von der neuen Kreuzfahrt, die den Seelen ebenso heilsam sein sollte wie die früheren und doch weit weniger mühsam. Oft verließ die Dorfjugend den Anger und das Spiel mit dem bunten Ball, um auf die heftigsten Mahnungen eines braunen Mönches zu hören, der auf dem Kirchhofe zur Fahrt in das Preußenland trieb und dabei von der Fülle guter Dinge berichtete, welche dort für begehrliche Weltkinder zu finden seien. Zuweilen zogen auf der Landstraße wandernde Haufen mit Gesang und Geschrei dem Ostlande zu, meist leichtfertiges und unstetes Volk, die ersten Schaumwellen der beginnenden Strömung, doch war auch mancher ehrenwerte Mann darunter, und in den Dörfern der Umgegend nannte man bereits die Namen seßhafter Wirte, welche ebenfalls daran dachten, sich zu erheben. Stärker als in anderen Jahren arbeitete das Sommerleben in der Natur und in den Seelen der Menschen, der Frühling war spät gekommen, aber als heißer und starker Gebieter. Fast plötzlich bedeckte sich der Grund mit Grün und die Obstbäume mit ihrem weißen Blütenschmuck; in unaufhörlichem Wechsel folgten heißes Tageslicht und befruchtender Regen, und wenn der Ackersmann auf die üppig wuchernde Saat schaute, so schüttelte er wohl das Haupt über die unerwartete Herrlichkeit und sorgte, daß der kalte Feind noch einmal zerstörend in das Land dringen werde.

Nach einem warmen Tage trat Ivo auf den Söller seines Hauses. Er staunte über den Wohlgeruch, welcher von der Wiese und den Blütenbäumen aufstieg, die Sonne war glühendrot gesunken, kein Tropfen Tau hing am Boden, und die stille Luft wurde ihm so schwül, daß er sein Gewand aufriß. In der Höhe zogen die Wolken hastig um die Mondsichel, unter den kleinen Lichtflocken schoben sich graue unförmliche Gebilde dahin, jedes mit lichten Rändern umsäumt, während über den roten Hügeln und dem Bergwald die schwere schwarze Finsternis lagerte; dort sammelten sich die Gewaltigen der Luft zu einer großen Schlacht, und die Kinder der Erde [] harrten in bangem Schweigen auf den bevorstehenden Kampf. Ivo war den Tag im Hofe Bernhards gewesen, und Friderun hatte zum erstenmal von ihrer Sorge um den Vater gesprochen, von seinem düstern Grübeln und von dem wilden Feuer, mit welchem er ihr und den Nachbarn das erforschte Geheimnis der heiligen Lehre verkündete. »Sie geht still durch Hof und Haus«, dachte Ivo, »schafft unablässig für den Vater und sorgt warmherzig um viele andere, immer ist ihre Rede mutvoll, aber ihr Lächeln wird traurig, ich sorge, ihr Herz ist schwer bekümmert und sie lebt in Erwartung eines Unheils.« Lange stand er und sah in die dunkle Landschaft, aus dem Hofe klang ein kriegerisches Lied, welches Nikolaus den Knechten vorsang, auf dem Lande lag tiefes Schweigen. Der Mond war verschwunden und dichte Finsternis deckte Himmel und Erde, vergebens sah er aus nach einem Blitz und hätte sich gefreut, das Rollen des Donners zu hören. Da suchte auch er mit einem Seufzer sein Lager.

Dort warf er sich unruhig umher, bis ihm endlich ein bleischwerer Schlaf die Glieder lähmte. Er vernahm nicht, daß sich der Wettersturm erhob, daß er die Baumblüten raufte und Äste brach und mit wilden Stößen um das Haus fuhr, durch den Hof fegte und an die Stalltüren schlug, bis die Rosse bäumten und die Rinder in Angst brüllten. Die Blitze zerrissen das schwere Wolkendach, der ganze Himmel loderte von Flammen und der Donner krachte und rollte unaufhörlich. Henner sprang auf dem schmalen Steg, der von seinem Hofe über den Wallgraben führte, zu den Kammern der Knechte, er fand die Männer wach und ermahnte sie, auf den Hof und das Herrenhaus zu achten. »Wir Thüringe wissen, was ein tüchtiges Wetter heißt, aber solche Wut der Wolken hat noch keiner erlebt, denn armesdick fallen die feurigen Strahlen«; Lutz, welcher Türme und Wall des Hofes beschritten und den erschrockenen Torwächter getröstet hatte, rief durch das Brausen:

»Von den roten Bergen hebt sich ein Feuerschein in den Himmel, dort liegt das Wetter über dem Talkessel, mir scheint, es versengt den Mühlburgern ihre Schlafdecken, und der Regen bleibt aus, der ihnen beim Löschen helfen sollte.« Im ersten Morgengrau öffneten die Männer das Tor und drangen mühsam durch den tobenden Sturm zu der nächsten Anhöhe, dort wiesen sie nach den Höhen und hoben die Arme. Als Henner zu ihnen kam, sah er von jeder der drei Burgen, welche auf den Bergen standen, eine Flamme und eine Rauchwolke aufsteigen zu dem schwarzen Himmel, aus dem noch immer die Blitze um den mißfarbenen Dampf zuckten. Da rief er bekümmert: »Dort fährt die Lohe aus den drei Steinringen, in denen vorzeiten das Geschlecht meines Herrn aufgewachsen ist, und Herr Ivo schläft. Ich war in seiner Kammer, doch ich scheute mich, ihn zu wecken.«

[] »Blieb doch unser Hof verschont«, tröstete Lutz.

»Dennoch darf er nicht liegen, während ihm der Himmel diese drei Lichter angezündet hat«, sprach Henner und kämpfte sich zurück nach dem Hofe.

Ivo fuhr empor, als ihn der Treue am Arm zog, er richtete sich auf und hörte erstaunt auf das Tosen im Freien. »Mir träumte so deutlich, wie ich Euch vor mir sehe, daß ich auf meinem Lager hingestreckt war, meine Hausfrau hielt ich im Arme, ihr Haupt und ihr langes Haar war an meiner Brust, und ich fühlte den Schmerz meiner Wunde. Um mich hörte ich Kampfgeschrei, über mir flammte das Hausdach und es knisterten die brennenden Balken. Doch war es nicht dieses Haus. Ihr aber, Henner, saßet abgewandt von mir am Fuß meines Lagers, das Schwert in den Händen. Der Donner dröhnte, da wecktet Ihr mich. Gern wüßte ich, was der Traum bedeutet.«

»Saht Ihr Flammen im Traume, so mag er Euch eine gute Neuigkeit verkünden«, antwortete Henner ernsthaft. »Dem andern aber, der abgewandt von Euch saß, weissagt er Übles. Steht auf, Herr, denn auch draußen hat das Wetter ein Zeichen aus den Wolken gesandt, das Euer Geschlecht angeht.«

Als der Morgen kam, sahen die im Hofe ringsum den Schaden der Sturmnacht: geworfene Baumstämme, niedergelegte Zäune, zerraufte Dächer und am Horizont hier und da aufsteigende Rauchwolken. Noch immer rollte der Donner, der Wind trieb die Wolken in hoher Luft und hinderte den Regen. Ivo stieg von dem alten Turme herab und winkte dem Schüler: »Es brennt in der Richtung von Friemar, wirf dich auf den Gaul, frage, wie es um den Hof des Alten steht.« Nikolaus sattelte willig sein Rößlein und trabte aus dem Hofe, während sein Schülermantel wie ein schwarzes Segel über den Kopf flog.

Die Sonne stieg höher, es sauste und pfiff in der Luft, und jedem war, als sei das ungeheure Wetter nicht zu Ende; da klang der Hornruf des Türmers, welcher das Nahen Bewaffneter anzeigte. Gleich darauf jagten fremde Reiter heran, und Lutz, der über dem Tore stand, erkannte mit Staunen die Turbane und Rüstungen maurischer Leibwachen. Er rief, alter Genossenschaft eingedenk, den Ungläubigen von der Zinne arabischen Gruß entgegen und empfing die Botschaft eines reichgeschmückten Knaben, der zwischen den Bewaffneten hervorritt und meldete, die Herzogin Hedwig von Staufen erbitte auf ihrem Wege nach Erfurt die Gastfreundschaft des Hofes.

Atemlos trug Lutz seinem Herrn die Nachricht zu. Ivo empfing sie schweigend, das Blut schoß ihm zum Herzen und übergoß gleich darauf seine Wangen mit dunkler Röte. »Bereitet Euch, sie zu empfangen«, rief er, sich umwendend, entließ den Boten und sprang [] auf das Tor, um dem Flüchtigen nachzusehen, ganz betäubt durch die große Erwartung. Henner kam eilfertig heran: »Der Hof ist übel für den Besuch einer Fürstin vorbereitet, darf ich Frau Jutte rufen, damit sie der erlauchten Frau zu Diensten sei?« Ivo wehrte: »Treibt Eure Hausfrau nicht in ihr Festgewand, ich denke, die Herrin wird Nachsicht in einem Reiterhaushalt üben.«

Ein glänzender Zug stob heran, Schleier und bunte Gewänder wehten im Winde, Henner erkannte Frau Wendelmuth und den Krämer Volko und hinter den maurischen Kriegern auch beladene Saumtiere. Ivo trat der Herrin auf der Brücke entgegen, und als er das Knie beugte, lachte ihn Hedwig von ihrem Rosse herzlich an: »Wir suchen bei dem ritterlichen Herrn Schutz gegen die wilden Wetter des Landes, nehmt gütig die Zudringlichen auf und bietet uns Willkommen wie alten Freunden.«

Ivo stand unter den strahlenden Augen des schönen Weibes und aufs neue umfing ihn der Zauber. »Nehmt vorlieb, der Wirt war lange in der Fremde und der Hof ist verwüstet«, rief er, indem die helle Freude sein Antlitz verklärte. Er selbst führte ihr Roß am Zügel in den Hof, und als er zur Seite trat, um sie herabzuheben, griff sie lachend in sein langes Haar und hielt sich daran, während sie zu Boden glitt. Als er sie in das Haus führte, warf sie einen schnellen Blick umher und sprach halb zu dem Gefolge: »Nicht lange denken wir Euch zu belästigen, und da dem Hause die Herrin fehlt, so bitte ich, gestattet meinen Frauen, daß sie mein Reisegerät in der edlen Herberge ausbreiten.« Ivo wies für das Gefolge auf die Hallen des Unterstocks und führte Frau Hedwig hinauf in seine Behausung, den einzigen wohnlichen Raum seit der Rückkehr. »Ich merke wohl, daß ich Euch nichts bieten kann, als meine Freude«, sagte er entschuldigend.

»Hier ist Euer Heimwesen? Nirgend will ich lieber weilen«, antwortete Hedwig. »Ich sehe die Rüstungen an der Wand, die Harfe, und hier einen Söller, den ich kannte, bevor ich ihn sah.« Sie winkte der stummen Dienerin, das Mädchen flog hinab, im nächsten Augenblick wurden umhüllte Ballen herzugetragen und die Kammern und das Gemach mit Polstern und Teppichen belegt. Wieder ein Wink der Herrin und die Diener verschwanden, Hedwig stand Ivo allein gegenüber. Sie sah ihn innig an und hielt ihm die Hand entgegen. »Da hast du das Käuzlein«, sprach sie mit zuckenden Lippen. Hingerissen von der holden Mahnung, senkte Ivo in tiefer Bewegung das Knie.

Leise berührte sie ihm das Haupt. »Steht auf, Ivo, uns beide hat die Zeit verwandelt und der Scherz des jugendlichen Frauendienstes mag uns nicht mehr geziemen. Kommt, setzt Euch zu mir und laßt uns beide wissen, wie jezt die alte Liederweise in unsern Herzen klingt. Heut ist der Tag, wo ich mein Trauergewand abgetan habe; [] dieser Tag sollte dem Manne gehören, der mir vor anderen vertraut war.«

»Liebe Herrin«, rief Ivo.

»Still, Geselle«, mahnte sie, »laß mich bedächtig reden. Es ist lange her, seit ich dich als fahrenden Helden bei der Burg meines Vaters entdeckte, wie du am Quell lagst und schliefst. Der erse Kuß, den ich einem Manne gab, haftet an deinen Lippen, das kann ich nicht vergessen, Ivo. Uns beiden ist dadurch das Leben schwer geworden. Der Kaiser zwang mich, einem verhaßten Manne zu folgen, und ich habe die traurige Kunst der Frauen geübt, mich zu verstellen und zu lachen, während ich in meiner Seele Bitterkeit fühlte. Du aber hast, als ich dir entfremdet wurde, treu zu mir gehalten; du weißt nicht, wie oft der Gedanke an deinen demütigen Dienst mein einziges Glück war, an dem ich mich aufgerichtet habe, indem ich unter den Argen lebte. Aber dir und mir hat unsere Liebe zuletzt Not gebracht, und scharfes Eisen hat in das Band geschnitten, welches zwischen uns geschlungen war. Ich bin hier, um zu prüfen, ob das alte Bündnis noch dich und mich zusammenhält.«

Ivo wußte nicht, daß sie in derselben Stunde, in der sie die Kunde von seinem Leben erhielt, einen andern dem Arm des Rächers preisgegeben hatte; aber ihm fiel aufs Herz, daß eine wahrhafte Magd in der Nähe mit Unwillen an die List dachte, durch welche sie damals zur Zeugin gemacht worden war. Und der Gedanke an Friderun hing sich wie ein Reif an die Freuden seiner Mailiebe. Darum erwiderte er mit Haltung: »Beide hatten wir einem Fremden Anrecht gegeben, unsere Liebe zu hassen; daß er die Rache nehmen würde in seiner Weise, haben wir erwartet, und wir mußten die Rache ertragen.«

Hedwig ahnte, daß ihr Falke anders flog, als sie wollte, und sie fragte sich in der Stille angstvoll, ob er alles wisse und ob er ihr deshalb zürne. Aber als sie Ivos Blick unsicher und fragend auf sich gerichtet fand, erhob sie stolz das Haupt: »Jetzt sind wir beide frei. Wisse, Ivo, ich war seitdem bei dem Kaiser. Er nannte deinen Namen nicht, als er von meiner Zukunft sprach, aber gleich darauf begann er in großer Güte von dir zu reden, daß er dir das Beste gönne und daß er dir Hohes gewähren würde. Und er sagte: Ich vernahm, daß ihm sein Haus zerrüttet ist, weil er in meinem Dienst überlange verweilt wurde, mir wäre ganz recht, wenn eine Frauenhand ihn dieser lästigen Sorge enthöbe.« Frau Hedwig sah auf ihre eigene Hand, als sie fortfuhr: »Sieh zu, Ivo, ob du eine solche Hand findest.«

Das waren ruhige Worte, aber sie regten in der Seele des Mannes einen wilden Sturm von Gedanken auf. Hier ein enges Leben, gefüllt mit Demütigungen und einem endlosen Streit gegen widerwärtige Nachbarn, an ihrer Seite Reichtum und Glanz des Kaiserhofes, Herrschaft und Kriegsruhm. Er atmete tief, als er wie im [] Scherz antwortete: »Wir loben den Heldenmut des Mannes nicht, der sich durch ein Weib aus der Bedrängnis retten läßt. Ist die Mitgift der Hausfrau zu groß und die Morgengabe des Gatten zu gering, wie kann der Wirt die Herrschaft im Hause bewahren?«

»Denke stolzer von dir, Ivo; du selbst rühmtest einst in meiner Gegenwart gegen den Landgrafen die Hoheit deiner Ahnen. Wisse, Held, dies Geschlecht der Landgrafen ist dem Kaiser verleidet, und wenig Gutes erwartet er in Zukunft von ihm, vielleicht ist der Tag nicht fern, wo er sogar gegen sie rüstet. Wer ihm das Heer führt und die stolzen Häupter dieser Herren wirft, der mag selbst in ihrem Stuhle niedersitzen.« Das sprach sie in tiefem Ernste, Ivo wußte recht wohl, daß es nicht eitle Worte waren, und in seinem Auge blitzte der alte Stolz seines Hauses. Doch während sich Hedwig über die Glut freute, die sie in ihm entzündet hatte, fühlte sie den festen Druck seiner Hand und vernahm die traurigen Worte:

»Lade nicht die Gewaltigen der Welt zu Bundesgenossen unseres Glückes. Aus Herrschsucht und Ehrgeiz darf ich dein Gemahl nicht werden, von solchem Elend hast du zur Genüge gekostet. Nur wenn wir beide uns im Herzen vertrauen, und wenn du in treuer Liebe zu mir stehen kannst, wie es mir auch in meinem Leben gelinge, nur dann sollst du dich zu mir neigen wie einst. Rühmte der Kaiser gegen dich meine Treue, so sage ich dir, ich ehre in Demut den großen Geist des Herrn, aber ich vermag ihm nicht zu folgen in seinen Gedanken und nicht auf seinen Wegen. Einfach bin ich in Sinn und Sitte. Wie enge und klein das Leben ist, in dem ich aufwuchs, habe ich in der Fremde völlig erkannt. Dennoch will ich die heimische Art nicht von mir abtun; redlich will ich bleiben in Liebe und Haß, die gewundenen Gedanken und die kalte List des Kaisers Friedrich kann ich nicht loben, und ich will keinen Teil daran haben. Frei gedenke ich zu leben nach meinem Gewissen auch gegenüber seinem Willen. Und darum sage ich dir, Diener und Werkzeug der Hohenstaufen wird der Mann nicht, welcher sich einst im Mairitt vor dir berühmte, ein Nachkomme des alten Helden Ingram zu sein.«

Hedwig trat abgewandt auf den Söller und blickte nach den geballten Wolken. »Du zürnst, Herrin«, fuhr Ivo traurig fort, »merke wohl, heut schaust du das Gewand deines Kauzes beim Tageslicht, da erscheint es dir weit anders als sonst im Dämmerscheine und ganz ins Fahle und Schmucklose gewandelt. Halte mich darum nicht für unsinnig, wie die Tagesvögel mit dem Käuzlein tun. Dort an der Seite siehst du den alten Turm, die einzige Erinnerung an meine Vorfahren, er ist zerrissen und geflickt, ein guter Aufenthalt für Nachtvögel, nicht lange, und er sinkt in Trümmer. Aber solange sein Haupt gegen die Berge ragt, bewahre ich mir den Stolz, ein kleiner Herr zu sein und nicht ein mächtiger Diener.«

[] Hedwig wandte sich zu ihm und lachte; so zutraulich und herzlich war ihr Lachen, daß auch er nicht ganz ernsthaft blieb. »Wir sind beide kindisch, daß wir in der ersten Stunde des Wiedersehens vom Kaiser und von den Vätern reden statt von uns beiden. Ivo, geliebter Mann, ahnst du nicht, was ich dir bringe? Es ist die Erfüllung des Versprechens, das wir als Frau und Ritter einander gaben, sieh her.« Sie öffnete die Tür des kleinen Gemaches, in welchem die stumme Dienerin geschäftig gewesen war; über das Lager, welches sonst dem Hausherrn diente, war ein großer Hermelinmantel gebreitet, und dabei lag die Speerbeute des Mairittes, die wallende Kappe, welche aus Wappenzeichen zusammengenäht war. Hedwig warf die Kappe um ihre Schulter. »So komme ich zu dir, mein Ritter, wie ich dir verhieß, Gabe um Gabe, du gewannst mir den Mantel, ich bringe dir die Frau.« Sie warf sich in seine Arme und drückte ihn fest an sich. Die heißen Küsse des Mannes schlossen ihr den Mund.

Ivo hörte nicht den Hufschlag des Pferdes und nicht die Menschenstimme, welche ihn aus der Ferne ängstlich anrief. Gleich darauf lärmte es im Hause und pochte wild an die Tür, und der Schüler rief: »Zu Hilfe, Herr Ivo.«

Als Ivo öffnete, stand Nikolaus ganz außer sich mit schlotternden Gliedern vor ihm: »Friderun und ihr Vater sind gebunden, der Teufel Dorso führt sie wegen Ketzerei nach Erfurt. Rettet sie«, schrie er, die Hände ringend, »sie werden zum Holzstoß getrieben.«

Ivo starrte wie einer, der aus dem Traume erwacht.

»Die Magd sprang in die Flamme«, murmelte er und fragte, nach dem Harnisch an der Wand greifend: »Welchen Weg ziehen sie?«

»Die Straße jenseits der Nesse; der Alte ist verwundet, beide sind auf einen Karren gesetzt. Seitdem ist fast eine Stunde vergangen, obwohl ich mit dem Winde ritt.«

»Rufe den Hof zu Pferde.« Nikolaus flog die Treppe hinab, gleich darauf klang der Ton eines Hornes über den Hof. »Verzeiht, Herrin«, sprach Ivo tonlos, »wenn ich Euch verlasse, gröblich fehle ich gegen die Pflichten eines Wirtes«, und er warf sich das Eisenhemd über.

Hedwig stand bleich wie er selbst. »Ist jene, um deren Rettung Ihr reiten wollt, die Magd, welche für Euch zum Kaiser ging?«

»Sie ist es«, antwortete Ivo über seiner Arbeit, »Ihr wißt, ich bin ihr Dank schuldig.«

»Sendet Eure Dienstmannen mit meinen Speerreitern«, rief Hedwig, ihn am Arme haltend. »Nur Ihr verlaßt mich nicht in dieser Stunde.«

»Die Hilfe der Heiden, welche einen Mönch angreifen, würde das Verderben der Gebundenen vollenden. Verzeiht mir, ich bitte«, [] wiederholte er, »unhöflich handelt der Hausherr, welcher den Gast allein läßt.«

»Nicht deinen Gast kränkst du, wenn du jetzt von mir scheidest, sondern ein Weib, welches, die Liebe im Herzen, zu dir kam.«

»Auch Ihr könntet mich nicht lieben und nicht ehren, wenn ich treulos handelte gegen meine Freunde.«

Und wieder faßte Hedwig ihn am Arm und rief mit blitzenden Augen: »Willst du der Nichte des Kaisers Schimpf antun in deinem eigenen Hause, um die Bauerndirne zu retten?«

»Ich gehe die zu retten, welche in Not ist«, antwortete er, sein Schwert umgürtend. »Übt Großmut, Hedwig, und entlaßt mich ohne Vorwurf.«

Sie aber hielt ihm den Arm fest. »Ivo, ich kenne den Priester Konrad, dem es eine wilde Lust ist, der büßenden Landgräfin den nackten Rücken zu peitschen. Du selbst wirfst dich, wenn du gehst, in Todesnot, aus welcher keine Erdenmacht dich erlöst.«

»Das ist wohl möglich«, antwortete Ivo zerstreut und suchte in seinen Waffen, »Meister Konrad versteht zu hassen.«

Hedwig trat zurück und neigte ihr Haupt über die Harfe, sie fuhr mit den Fingern heftig durch die Saiten, die Weise des Herrn Ivo spielend; immer schneller und stürmischer wurden die Griffe, bis die Saiten mit schrillem Mißton zerrissen, da fuhr sie auf und starrte nach ihm, und als er den Helm ergriff und die bergende Eisenhülle über sein Haupt legte, faßte sie das Saitenspiel und schleuderte es in wildem Schwunge vor seine Füße, daß es klirrend zerbrach. Sie aber warf sich auf das Lager und verhüllte das Haupt. Ivo sprang aus der Tür. Im nächsten Augenblicke dröhnte Hufschlag der Davonreitenden auf der Brücke.

Als Nikolaus am Morgen nach scharfem Ritt in das Dorf gekommen war, hatte er keinen Wetterbrand gefunden, aber eine aufgeregte Gemeinde. Schon in der Ferne vernahm er zu ungewohnter Stunde unablässiges Glockengeläut und bei der Kirche hörte er predigen und erkannte die mißtönende Stimme des Mönches Dorso. Dieser stand über der Kirchhofsmauer, umgeben von seinen Handlangern und von fremden Landläufern, welche mit dem roten Kreuz gezeichnet waren, und las einen Brief vor, in welchem Kaiser und König geboten, die Ketzer, welche Meister Konrad verklagen würde, in weltlichem Gericht abzuurteilen, damit sie an Leib und Leben gestraft würden. Und der Mönch rief: »Hier stehe ich in heiligem Amte, um die Böcke von den frommen Schafen zu scheiden und die Ruchlosen zum Holzstoß zu führen. Hohen Preis hat der Heilige Vater für die Treuen gesetzt, welche einen Irrgläubigen, den sie etwa kennen, anzeigen; denn Habe und Gut soll dem Untreuen genommen und den Treuen zugeteilt werden, Haus und Hof des Ketzers werden den eifrigen Kindern Gottes preisgegeben, [] damit sie sich daraus auch irdischen Lohn holen für ihre Frömmigkeit.« Und das Holzkreuz schwenkend, schrie er: »Darum weise ich das Kreuz und lade die frommen Zeugen zum ersten, zweiten und dritten Male vor mein Angesicht; scheuen sie sich, laut zu rufen, so mögen sie mir ihren Argwohn leise anvertrauen, denn dazu bin ich hier.«

Da erhob sich unter den Wirten, welche umherstanden, ein unwilliges Gemurr, und aus dem Haufen trat ein alter Mann mit weißem Haar und festen Zügen und sprach mit lauter Stimme:

»Wir aber halten Eure Verkündigung für ungerecht, denn leichtfertige Angeber und falsche Zeugen lockt Ihr durch wilden Preis, und jeden Herrn über Haus und Hof liefert Ihr in die Macht habgieriger Bösewichte. Wir Alten im Dorfe wollen uns wahren gegen so freche Forderung, und wir raten Euch, Euer Holzkreuz wieder auf die Schulter zu nehmen und abzuziehen aus unserer Flur.«

»Halloh«, rief der Mönch erstaunt, »ich höre, der schwarze Höllenmohr hat sich einen weißhaarigen Knappen geworben. Hast du nicht die Briefe gehört? Willst du es wagen, den Geboten des Heiligen Vaters und des Kaisers zu widerstehen? Mißfällt dir ihr Inhalt, so gibst du deine eigene Bosheit zu erkennen, und ich will sogleich mit dir den Anfang machen und forschen, wie es mit deinem Glauben bestellt ist.«

Da drang ein Weib durch den Haufen und Friderun faßte flehend den Arm des Vaters. »Antwortet ihm nicht, Vater, und kehrt dem Wilden den Rücken.« Aber der Alte schüttelte sie heftig ab: »Meinst du, ich werde schweigen, wo es gilt, die Wahrheit zu bekennen und die teure Offenbarung«, und er warf dem Mönch entgegen: »An die kaiserlichen Briefe glauben wir nicht, denn wir wissen besser, wie unser Herr und Kaiser gegen uns Landleute gesinnt ist. An der Aufforderung des Papstes aber, welchen Ihr den Heiligen Vater nennt, erkennen wir, daß sie hohem Zeugnis der Schrift widerstrebt.«

»Er lästert die Ordnung der hohen Apostel«, schrie der Mönch, zu seinem Haufen gewandt, »er bestreitet die Gewalt der heiligen Kirche«, und sein Gefolge heulte ihm die Worte nach. »Ein gottverdammter Ketzer bist du, Schriftgelehrter im Bauernrocke, und du selbst hast dir das Urteil gesprochen. Werft euch auf ihn und faßt mir den Schurken.«

Über die Kirchhofsmauer sprang der wütende Haufe gegen den Alten ein, um ihn sammelte sich ein Teil der Dorfleute und in wildem Tumulte blitzten die Waffen, der Mönch aber erhob sich auf der Mauer, streckte sein Kreuz in die Höhe und warnte mit dröhnender Stimme: »Verflucht sei, wer die Hand für ihn hebt, er ist gezeichnet und verdammt; weicht zurück, ihr Christenleute, flieht vor dem Kerker auf Erden und vor dem Höllenfeuer.«

Da wichen die Leute bleich und entsetzt zurück, auch die Alten [] des Dorfes standen finster zur Seite, und mancher schlich sich nach seinem Hause. Bernhard aber warf sein Schwert auf den Boden und rief: »Der Tag ist gekommen, Zeugnis zu geben; fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, denn die Seele vermögen sie nicht zu töten. Hier stehe ich als ein Bekenner des Herrn, Trotz zu bieten den Pfaffen und Pharisäern, welche uns die Herrlichkeit der Gotteslehre verderben.«

»Hört ihr den Empörer prahlen?« schalt der Mönch aufs neue. »Packt ihn und bereitet ihn für das Gericht.« Die Schar strömte gegen ihn, ein roher Gesell führte mit dem Hebebaum den ersten Schlag, daß der Alte in der tobenden Menge zu Boden sank. Über ihn warf sich die Tochter, um die Streiche mit ihrem Leibe aufzufangen, beide wurden emporgerissen und gebunden nach ihrem Hofe gezogen. Nikolaus sah noch, wie das Gesindel raublustig in Ställe und Kammern drang und wie der Mönch die Gebundenen auf einen Karren des Hofes heben ließ und mit einem Teil seiner Begleiter in der Richtung nach Erfurt abzog. Dann jagte der Schüler, fast besinnungslos vor Angst und Grauen, dem Edelhofe zu.

Als Dorso mit seinen Gefangenen in die Nähe von Erfurt kam, merkte er, daß jenseit der Brücke, welche über den Nessebach führte, ein Trupp Bewaffneter den Weg sperrte. Er ritt vor, hob das Kreuz und rief von seinem Esel: »Als Beamter des hochwürdigen Meisters Konrad reise ich, öffnet die Straße.« Aber die Hand eines Gehelmten fiel schwer auf seinen Arm und hielt ihn mit seinem Tiere fest, wie sehr er sich sträubte und schrie, während die übrigen Reiter schweigend um den Karren rückten, das andringende Gesindel mit den Speerstangen abtrieben und die Pferde des Karrens in einen Seitenweg südwärts lenkten. Auf einen Ruf des Anführers fuhr der Karren, umschlossen von den Reitern, in schnellem Lauf von dannen. Der Anführer, welcher bis dahin den wütenden Mönch mit eisernem Griff gehalten hatte, sprengte nach und durchschnitt mit dem Dolche die Riemen der Gebundenen.

Als Ivo mit dem Karren am Edelhofe ankam, fand er den Marschalk seiner wartend. »Kalt war der Abschied der hohen Gäste«, meldete dieser bekümmert, »im Sturme sind sie gekommen und verstoben. Dafür, Herr, werden sich jetzt andere Gäste in Kutten einfinden, welche uns fester um den Hals fassen.«

»Vielleicht vermögen wir jene dort noch in die Berge zu retten. Wir kennen manches Versteck«, sprach Ivo leise.

»Der Mönch ist nicht nach Erfurt gelaufen, wie ich hoffte«, wandte Lutz ein, »die ganze Meute trabt hinter uns her und wir werden sie in kurzem am Tore hören. Auf unsere Knechte ist kein Verlaß, Herr, sie stutzten und redeten leise miteinander.«

»Wer kann sie darum schelten?« sagte Ivo mit kaltem Lächeln. »Die Verfolgten bergen wir in dem Gewölbe des alten Turmes; die [] Leute unseres Dorfes entbieten wir nicht zur Verteidigung der Mauern, denn auch diese würden uns versagen. Unterdessen besetzt die Türme mit Wachen, hebt die Brücke und sperrt das Tor.«

Die Brücke stieg auf, kurz darauf klang von der Landstraße Gesang der Wallfahrer, eine rauhe Stimme sang vor und die andern wiederholten die Worte. Dorso ritt auf seinem Esel gegen die Zugbrücke und schrie über den Graben: »Wer mit Irrgläubigen Gemeinschaft hält, wer den Verdammten Obdach gewährt, Speise und Trank, und wer eine Hand hebt für ihre Verteidigung, der wird teilhaftig ihrer Missetat und teilhaftig der irdischen und der ewigen Flammen. Gebt heraus, ihr groben Burgleute, die ihr mir entführt habt.«

»Ihr seid ein unverschämter Narr«, sprach Henner zurück.

»Vernehmt die lustigen Worte des Abtrünnigen«, rief der Mönch zu seinem Haufen, »verflucht sei dies Ketzernest und preisgegeben euren Fäusten.« Ein gellendes Geschrei antwortete. Der Mönch ritt zurück, lud seinen Haufen zusammen, und Henner erwartete einen Anlauf. Aber nichts dergleichen wurde versucht, der Schwarm teilte sich wieder, ein Teil zog in das Dorf, andere bewachten in einiger Entfernung das Tor, noch andere drangen oberhalb durch den Bach und stellten sich dort als Wächter auf.

Unterdes war Friderun im Gewölbe des Turmes um den verwundeten Vater bemüht, welcher nach dem furchtbaren Schlage auf das Haupt lange in Betäubung gelegen hatte, jetzt aber in wilde und wirre Reden ausbrach; sie sah, wie dem Schüler, der ihr zu helfen bemüht war, die Hände in der Angst flogen, und sprach gefaßt: »Längst habe ich einen solchen Tag in der Stille gefürchtet; ich weiß, daß wir dem Tode geweiht sind und daß auch Herr Ivo uns nicht davor bewahren wird. Aber weshalb wollt Ihr Euch dem Mönche in die Hand geben? Vielleicht könnt Ihr Euch noch retten. Entflieht, auch um unsertwillen.« Sie holte aus ihrem Gewande ein kleines schwarzes Kreuz, welches in geschlossener Hand zu bergen war. »Eilt nach Erfurt, Nikolaus, zum Hause der deutschen Brüder, gebt dies dem ersten Bruder ab, den Ihr dort findet, und sagt ihm, wir senden dies und der Vater liege hier in Not. Vermögen die Brüder auch nicht, uns das Leben zu retten, lieber wollen wir in ihrer Haft vergehen, als unter den Händen des wütenden Mönches.«

Nikolaus nahm das Dargebotene und lief dem Stege zu, der nach dem Hofe des Marschalks führte; gerade als Lutz im Begriff war, den Steg zu heben, sprang er hinüber, wand sich unbemerkt hinter dem Dorfe herum und rannte der Stadt zu.

Es war still geworden im Hofe und draußen, nur der Wind heulte und in der Höhe flogen die Wolken. Ivo trat zu Friderun, und als er ihr liebevoll Trost zusprechen wollte, antwortete sie mit verklärtem Blick: »Ihr habt an uns gehandelt, wie Eurer würdig [] ist, ich klage auch nicht um Eure Gefahr, ich flehe zu unserm Vater im Himmel, daß er mich annehme als Opfer und Euch errette.«

So verrann Stunde auf Stunde, bis die Sonne sich zum Abend neigte.

Ivo stand bei Henner auf dem Torturm. »Sie haben sich Hilfe geladen und wollen wie Krieger uns belagern. Verstehen wir, sie bis zur Nacht hinzuhalten, so kann uns wohl gelingen, über sie hinwegzureiten.«

»Der Mönch kennt sein Handwerk«, versetzte Henner und wies auf den Weg, der von der Mühlburg heranführte. »Seht dort, Gewappnete, sie nahen schwerlich, um Euch das Gesindlein zu verscheuchen.« Lutz kam eilig herzu: »Von Gotha zieht ein Haufe Kreuzfahrer heran, ich vernahm das Lied der Wallenden, der Mönch ritt ihnen entgegen.«

»Was bringst du, Martin?« fragte Ivo einen handfesten Knecht, welcher das geworbene Gesinde im Hofe anführte.

»Herr«, begann der Kriegsmann bekümmert, »meine Kumpane im Hofe weigern sich zu fechten, sie sagen, ihr Eid verpflichte sie nur, gegen Eure irdischen Feinde das Eisen zu heben, nicht aber gegen die Heiligen des Himmels.«

»Und was wollen sie tun, um den Heiligen zu gefallen?«

»Sie gedenken, nichts gegen Euer Haupt zu wagen, aber sie werden sich abseit halten in ihren Kammern und sobald der Hof geöffnet wird, davonziehen.«

»Sage ihnen, sie mögen handeln nach ihrem Gewissen«, versetzte Ivo.

Als der Mann kummervoll die Treppe hinabstieg, sprach Ivo: »Wir sind allein, ihr Herren«, und beiden die Hände reichend, fuhr er mit stolzem Lächeln fort: »Es ist nicht nötig, daß wir alle drei bei dem alten Turm die Totenwache halten; Ihr seid jung, Ludwig, und Ihr, Henner, habt Weib und Kind.«

»Wir aber dachten nicht, daß unser Herr uns jemals den Dienst aufkündigen würde«, antwortete Henner gekränkt. »Wir sind nicht auf Zeit gedungen, Herr Ivo, sondern unsere Ehre ist, wenn wir nicht mehr auf Erden Euch begleiten können, Eurer lieben Seele nachzufolgen, wohin der große Gott sie fahren läßt. – Dort hebt sich das Banner des Landgrafen in der Faust eines Mühlburgers. Der Bannerträger blickt nach dem Raben unseres Hofes umher, denn er hat von je seine Freude an dem schwarzen Vogel gehabt.«

Von der andern Seite des Grabens rief eine befehlende Stimme: »Im Namen des Landgrafen, öffnet das Tor.«

»Wie kommt's, daß Ihr unter dem fremden Wappentier reitet, Ritter Konz?« fragte Henner von der Zinne. »Scheut Ihr Euch, unter Eurem Raben dahinzufahren, weil er den Schwanz gegen Euch hebt?«

Den höhnenden Worten folgte helles Geschrei der Mühlburger, [] die anderen Haufen antworteten, und im Getümmel breiteten sich die Angreifer gegen den Grabenrand.

»Sie wissen, daß es uns an Händen fehlt, sie abzutreiben«, sprach Ivo. »Zu unserer Feste, ihr Herren!«

Die Bedrängten eilten nach dem alten Turme, ihrer letzten Zuflucht. »Ich rate, den Steg nicht zu werfen«, sprach Henner, »damit den ritterlichen Feinden der Anlauf leichter werde.« Und er stellte sich mit Schild und Schwert am Grabenrande auf. Sie vernahmen das Geschrei und Brausen der Menge, welche von allen Seiten mit Balken und Dachleitern gegen Tor und Mauer anlief. Nicht lange, und sie sahen hier und da Bewaffnete über die Mauer springen, hörten das Klirren der Ketten und das Dröhnen der geöffneten Brücke. In hellen Haufen drangen die Belagerer über den Hof, ein Teil rannte nach Haus und Stall, Beute zu holen, der größere Schwarm zog sich zu dem Turme; voran Ritter Konz, der vom Pferde gesprungen war und in wildem Mute den Schild erhebend gegen den Steg lief. Als Henner den Verhaßten im Ansprunge sah, vermochte er sich nicht zurückzuhalten, er stürmte ihm über die Bretter entgegen und die beiden Starken schlugen aufeinander. Aber dem Marschalk war kein ritterlicher Kampf gestattet, die Knechte des Mühlburgers stachen mit ihren Speeren gegen ihn, und während er sich ihrer erwehrte, traf ein Schwertschlag des Ritters seine Schulter, daß er blutend zurücksank. Konz schrie freudig auf, doch es war sein letzter Ruf, denn in demselben Augenblick fuhr ein mächtiger Pfeil des Stellbogens ihm durch Harnisch und Brust, er stöhnte und fiel. Während die Mühlburger erschrocken zu ihm liefen, sprang Lutz vor, hob seinen Gesellen und half ihm über den Steg. Dann riß er das Brett, welches auf dem jenseitigen Grabenrande ruhte, zurück, und einen neuen Pfeil auf den Stellbogen legend, drohte er: »Heran, wer die zweite Gabe begehrt.«

Von der Landstraße ritt ein Geistlicher, begleitet von Dorso und einem andern Mönche, in den Hof. Es war Meister Konrad selbst. »Tretet zurück«, gebot er den Haufen, »damit nicht ohne Not das Leben frommer Christen gefährdet werde. Euch aber, der Ihr Herr dieses Hofes seid, mahne ich noch einmal, daß Ihr den ruchlosen Widerstand aufgebt gegen das Gesetz des Himmels und der Menschen und daß Ihr Euren Leib überantwortet dem irdischen Richter, damit die Fürbitte der Heiligen Eure Seele errette aus der ewigen Verdammnis.«

Vom Turme her antwortete Ivo: »Vergeblich ist Eure Ladung, Ihr stolzer Priester; die hier versammelt sind, vertrauen einem barmherzigeren Richter, als Ihr seid.«

Der Meister erhob die Hand. Die Mönche begannen ein Bußlied, zu welchem die anderen das Kyrie eleison schrien, und die Haufen strömten von allen Seiten gegen den Graben, schichteten [] Holzscheite, trugen Balken und schossen mit Brandpfeilen nach den Fensteröffnungen des Turmes. In dem Turmgewölbe war Ivo mit Friderun um die Wunde Henners beschäftigt, nur Lutz kniete, gedeckt von seinem Schilde, draußen am Standbogen und wartete auf die Gelegenheit, um an einem Verhaßten die letzte Rache zu nehmen.

Eine Dampfwolke brach aus dem Luftloch des Turmes. Brennendes Werg und Teer, die um einen Pfeil gewickelt waren, hatten in dem Raume gezündet, wo den Rossen für einen Fall der Not das Heu geschichtet war. Mit den Windstößen wogte der Dampf um die Mauern und umhüllte den Fuß des Turmes. Ein wil des Freudengeschrei erscholl aus dem Haufen.

Da schmetterte von draußen eine Posaune. Über die Brücke ritten vier Brüder vom deutschen Hause mit ihren Knechten, und Bruder Arnfried von der Naumburg rief über die Menge: »Wo weilt der Herr des Hofes, damit wir ihn grüßen und fragen?«

Meister Konrad antwortete: »Er birgt sich im Turme, verstrickt in dem Dampfe, den fromme Christen ihm entzündet. Was führt euch her, ihr Brüder?«

Arnfried versetzte: »Einer, der die Heimlichkeit des Ordens weiß, liegt hier in Not und sandte uns sein Zeichen.«

»Die dort liegen, sind Verbrecher an der heiligen Kirche und Verächter des Landesherrn, die Boten des Landgrafen und meine Schergen begehren ihren Leib, und ich vertraue, die frommen Brüder deines Hauses werden uns nicht hindern.«

»Du weißt, wir gehen in Frieden unsern Weg und üben unsere Werke. Wir hindern dich nicht in deinem Recht, wir suchen nur das unsere; wir kommen, weil wir gerufen sind, und wir begehren nur, was uns gehört.«

»Einen Alten und ein Weib, die meinen Boten höhnend trotzten und ruchlose Ketzerei ausschrien, hat der Mönch gefaßt für mein Gericht, beide gehören mir.«

»Ist der Alte mit dem Weibe ein Zugewandter unserer Bruderschaft und finden deine Späher Irrglauben in ihm, so soll ihn ein frommer Priesterbruder unseres Ordens belehren, und wenn er der Belehrung widersteht, so straft und richtet ihn die Bruderschaft, nicht du, nicht der Landgraf, auch nicht der Kaiser. Erst wenn er sich unserer Strafe versagt und aus dem Orden scheidet, magst du ihn nehmen und mit ihm tun, was deines Amtes ist.« Und er ritt vor gegen den Turm. Da sprang der Mönch Dorso wütend aus dem Haufen und schrie: »Hinweg, wagt es nicht, das brennende Ketzernest zu betreten, denn verdammt sind alle, die dort im Qualme hausen.«

»Ob die Flamme lodert, ob der üble Teufel im Wirbel fährt, wir reiten, wohin uns die Pflicht führt«, versetzte Arfried; und an den Grabenrand sprengend, rief er hinüber: »Ist ein Christenmann dort [] drinnen, so öffne er den Weg. Die Jungfrau mit dem Kinde begehrt Einlaß.«

Ivo trat aus dem Turme und grüßte den Bruder.

»Nicht freiwillig drangen wir in Euren Hof, edler Ivo«, sagte Arnfried, »wir kommen Euch nicht zu Hilfe und nicht zu Leide, nur Eure Gäste holen wir, weil sie sich das begehren.«

»Nehmt sie und seid gesegnet für Eure gute Tat«, sprach Ivo dagegen. Lutz hatte behend die Bretter des Steges zusammengefügt, er hob mit Ivo den alten Bernhard vom Boden, trug ihn über den Graben und legte ihn vor die Rosse des Bärtigen; Friderun folgte. Die Ritter traten zurück an den Turm, Bruder Arnfried, der Sarazene, stieg ab und schloß den Alten in seine Arme.

Da rief Meister Konrad unwillig: »Du hast genommen, Arnfried, was deiner Bruderschaft gehört; jetzt fordere ich, weiche von jenem anderen, der mir gehört.«

Friderun warf sich vor dem Rosse Arnfrieds nieder: »Rettet ihn, ehrwürdiger Bruder, nur weil er meinen Vater und mich dem rasenden Haufen entriß, hat der böse Mönch die Menge gegen ihn gehetzt.«

»Verteidige ihn nicht«, antwortete Arnfried traurig, »ich bin nicht Kläger und Richter über Unglauben, aber jene sind die Kläger, und sie üben ihr heißes Recht; ein freier Mann ist Herr Ivo und frei hat er sich sein Schicksal gewählt. Wir aber vermögen nur den zu schützen, der zu uns gehört.« Und er sprach über den Graben: »Habt Ihr, edler Ivo, mir noch etwas zu sagen, was man einem wohlmeinenden Manne vor dem letzten Scheiden anvertraut, so sprecht.«

»Sorgt mit der Treue, die ich an Euch kenne, für die Magd, die dort vor Euren Füßen liegt.«

Da ritt Meister Konrad aufs neue heran und begann. »Wieder bitte ich dich, Arnfried, daß du nicht freundlich zu dem Schuldigen redest, der gegen meine Rechte gefrevelt hat, denn du irrst mir die Menge und minderst das Ansehn meines heiligen Amtes.«

»Ich ehre und scheue dein schweres Amt, Konrad, wie dem frommen Christen gebührt. Aber denke auch, daß jener dort in unseren Augen nichts Arges tat, als er deinen Schergen die entzog, welche nicht vor dein Gericht gehörten, sondern vor das unsere. Hat er dir die Ehre des Amtes gekränkt, so siehe zu, was dir dein Amt und dein Gewissen gegen ihn erlauben; uns aber zürne nicht, wenn wir ihm in seiner letzten Not noch danken, soweit wir dürfen.«

Meister Konrad wandte sein Roß, redete leise zu dem Mönche Dorso, der ihm mit rachsüchtiger Freude zustimmte, und verließ darauf den Hof. Er hielt vor der Brücke bei dem Haufen der Mühlburger an, welche um den todwunden Konz versammelt waren, und sprach über diesem die Gebete, dann ritt er abwärts. Im Hofe [] hielten die Bärtigen finster gegenüber dem brennenden Turme; die Flamme schlug aus den Öffnungen und züngelte an dem Mauerwerk empor; Dorso aber und seine Begleiter türmten auf der Windseite Holzwerk und was sie sonst an Brennbarem fanden, zu einem Walle, und Dorso rief höhnend hinüber: »Ihr habt die Ketzerküchlein mir entführt, jetzt halten wir euch in eurem Bau umschlossen, kommt ihr nicht gutwillig heraus, so räuchern wir euch«, und er hielt eine Pechfackel an den Holzstoß. Ivo legte die Hand auf die Schulter des jungen Ritters, der sich hinter seinem Schilde am Graben niedergesetzt hatte, und wies über den Steg; doch dieser schüttelte das Haupt. Da neigte sich Ivo gegen die deutschen Brüder zum letzten Gruß, und die Hand gen Himmel hebend, rief er mit heller Stimme: »Aus feuriger Lohe stieg mein Geschlecht hernieder in dies Land, hier stehe ich unter der letzten Mauer, die mir von dem Erbe meines Geschlechtes geblieben ist; in ihrem Brande will ich vergehen als ein Freier; ehrlich habe ich gelebt und ehrlich sterbe ich, und meine Seele empfehle ich der Gnade des erbarmenden Gottes.« Und er wandte sich nach dem Turme.

Aber ein alter Bruder ritt an den Grabenrand und rief zornig hinüber: »Willst du als ein König der Spielleute untergehen auf den Trümmern deiner Herrschaft? Ich denke, du hast gelernt, neue Burgen zu bauen. Ich mahne dich, Geselle, daß du mir im Preußenlande die Meßschnur haltest.«

Als Ivo die Stimme hörte, hielt er an und hob das Haupt, da sprang von der Seite des wunden Vaters Friderun empor und rief: »Vater, ich tue, was ich muß«, und über den Steg eilend, warf sie die Arme um den geliebten Mann: »Hast du den Willen, in den Flammen zu sterben, so will auch ich nicht leben. Darfst du im Leben mir nicht gehören, so will ich dein sein im Tode.« Ivo umschlang die Magd und küßte sie auf den Mund, er hielt sie in seinen Armen und rief: »Ich will mit euch leben, Sibold.«

Wie eine Beschwörung erklangen diese Worte zwischen Erde und Himmel. Einem Wunder gleich erschien es, daß zugleich das Tosen des Sturmes aufhörte. Die Flamme, welche der Mönch am Grabenrand entzündet hatte, um die Eingeschlossenen durch Dampf zu töten, flackerte aufwärts, und die Rauchsäule stieg gegen die Wolken.

Die Brüder aber rückten um den Steg, und Arnfried sprach: »Wer unser Bruder sein will, der muß um Bruderschaft bei uns werben.«

»Ich werbe«, antwortete Ivo.

»Wer Bruderschaft des Ordens begehrt und dabei in weltlichen Ehren leben will«, fuhr Arnfried fort, »der muß uns einen Anteil geben, groß oder klein, an seiner Habe und an seinem Gut, an seinen Gedanken und an seinem Willen, damit der Welt kundwerde, daß er mit uns diene, und ich muß Euch fragen, seid Ihr dazu bereit?«

[] »Ich bin bereit«, antwortete Ivo, der Magd in die Augen blickend. »Harret, während ich die Brüder frage, ob sie Euch als Mitbruder empfangen wollen in unserer Gemeinschaft.« Die Bärtigen stiegen von den Rossen, traten zusammen und verhandelten leise. Und Arnfried begann aufs neue: »Komm zu uns, Ivo, und knie nieder.« Da trat Ivo mit Friderun über den Steg und beugte das Knie, während Arnfried die Worte der Aufnahme sang: »Deus meus, salvum fac servum tuum, mein Gott, errette deinen Knecht.« Er segnete ihn mit dem Kreuz, hob ihn auf, küßte ihn auf den Mund und gebot: »Legt ihm das Gewand um.«

Dorso aber rief in Wut: »Heillos seid ihr selbst und mit Ketzern haltet ihr Gemeinschaft. Herbei, ihr frommen Pilger, helft gegen die Verräter.«

Da erhob sich unter den Brüdern ein zorniger Ruf: »Er lästert den Orden, werft den bellenden Hund in den Graben.« Doch Arnfried gebot: »Nicht so, führt den Mönch an der Hand über die Brücke und entlaßt ihn in Frieden, denn er hat nicht teil an unserer Arbeit, und wir nicht an der seinen. Ihr Brüder aber entrollt das Banner der Jungfrau und stoßt es in die Zinne des Tores, damit die Pilger und das Landvolk erkennen, daß die deutschen Brüder hier eine Heimat haben und ein Hospital. In dem Hause unseres Mitbruders bereitet die Lager und sorgt um die Verwundeten, denn das ist unser erstes Amt.«

Dem Befehl des Bruders gehorchten nicht nur die Bärtigen, auch viele der Eingedrungenen riefen ihm Heil zu, die erschrockenen Knechte kamen eifrig hervor, und dieselben Hände, welche vor kurzem das Holz geschichtet hatten, zerwarfen jetzt die Flammen.

Arnfried aber sprach zu Ivo: »In Freuden fasse ich deine Hand, mein Bruder; denn dieser Tag verbindet einen Mann von edlem Sinne zu ehrlichem Dienste mit anderen, welche auch zu den Guten unseres Volkes gehören. Du selbst magst den Anteil bestimmen, den du der Bruderschaft an deinem Erbe gewähren willst, und sei er groß oder klein, du wirst gut dabei fahren, denn der Orden vermag jetzt dein Recht zu vertreten, und unter dem schwarzen Kreuze wirst du der meisten Gegner ohne jeden Kampf ledig. Mit unserer Mitschwester Friderun wird einer von unseren alten Priestern gutwillig wegen ihres Irrglaubens sprechen, ihr Vater aber wird bald vor einem Richter stehen, der die Seelen und Gedanken der Menschen mit anderem Maße mißt, als wir zornigen Sünder.«

An Henners Lager kniete neben der Hausfrau des Ritters Friderun und klagte, über seine Hand gebeugt: »Für mich und meinen Vater empfingt Ihr die Wunde, und bitter schmerzt mich, daß ich Euch gezürnt habe.«

»Gehabt Euch darum nicht pleurant, liebe Magd«, versetzte Henner rücksichtsvoll, »ich tat Euch Willkommenes und Eurem [] Bruder Widerwärtiges, beides in meinem Amte.« Und die Hände Ivos festhaltend, sprach er mit Anstrengung: »Sorgt für die Kummervollen, welche ich zurücklasse. Zu den lieben Engeln nehme ich den Ruhm, daß ich mit dem adligsten Herrn in Thüringen geritten bin, keinem war er untreu und keiner hat ihn jemals vom Pferde gestochen, ich aber war sein Marschalk. Speere her! Lutz, mein Geselle, halte auf Kernholz!« Er sank sterbend zurück.

Aus den Wolken sank friedebringender Regen, und das Himmelswasser rauschte hernieder auf die Mauern des ausgebrannten Turmes.

Schluß

Aus dem Hügellande Thüringen bewegte sich ein reisiger Zug ostwärts nach den Ufern der Weichsel. In der Urzeit hatte das gelbe Wasser des großen Stromes die Vandalen und Burgunder getrennt von Slawen und anderen Völkern fremden Stammes. Damals hatten sich die Germanenkrieger aus ihren östlichen Sitzen erhoben und waren wie Meereswogen eingebrochen in den Ländern des Westens, mildere Sonne und ein reicheres Leben begehrend. Jetzt strömte die Volkskraft der Deutschen in vielen kleineren Wellen wieder zurück von Westen nach Osten, und tausend Jahre nach der Auswanderung jener alten Germanen begannen die Thüringe und Sachsen an der Stromgrenze aufs neue den Kampf gegen die Fremden, mit stärkeren Waffen und festerer Kraft.

Der Haufe, welcher von den roten Bergen und dem Nessebach über die Saale zog, glich in vielem den Schwärmen alter Germanen, welche tausend Jahre vorher aus dem Osten gekommen waren; denn nicht nur gewappnete Krieger bildeten die Schar, ein langer Troß von Wagen und Karren folgte mit Kindern und Frauen, gezogen durch starke Rinder, beladen mit Saatkorn, Hausrat und Feldgerät. Und es war nicht allein die unruhige Jugend, welche auszog, auch grauhaarige Bauern mit ihren Hausfrauen saßen auf den Wagen oder schritten, das Kreuzlied singend, nebenher. Der alte Hartmann aus Friemar ritt in dem Haufen, der Freischöffe Isenhard und andere ansehnliche Nachbarn von der Nesse, welche Baugrund in einem Lande begehrten, wo sie als Christen ehrwürdig waren und wo man um anderes sorgte als um ihre Gedanken über die Macht des Vaters und des Sohnes. Auch deutsche Ordensleute zogen in der Schar, Bruder Sibold führte sie, und Ivo ritt als Mitbruder neben seinem Gemahl Friderun, und in seinem Gefolge waren die Witwe Henners mit ihren zwei Knaben, Ritter Lutz und ein rotwangiges Dorfkind, das Berchtel aus Frienstädt.

Als der Zug über die Saale gesetzt hatte und auf der Höhe anhielt, damit die scheidenden Pilger noch einmal das Land ihrer Väter [] begrüßten, bestiegen Ivo und Friderun einen Felsen und blickten Hand in Hand hinüber nach dem blauen Streifen des Waldgebirges. Da klang in der Nähe Hufschlag eines einzelnen Reiters, und Berthold stand vor ihnen. Wild und drohend war sein Aussehen, als er die Hand der Schwester ergriff und sprach: »Du trägst den Segen des alten Mannes auf deinem Haupte, meiner hat er nicht gedacht. Ich aber war in dem Hofe, den die Horden des Mönches ausgeraubt hatten, ich kniete nieder am Herde und gelobte, den Vater zu rächen an seinem Mörder. Lebe wohl, Friderun, und Ihr, der Ihr über meine Schwester Herr geworden seid, macht an ihr gut, was Euer Gesinde an mir gefrevelt hat. Vernehmt Ihr von schwerer Tat, so wißt, daß es der Sohn des Richters ist, welcher eine Brandfackel in unserem Lande austilgt.« Und ohne Gruß trat er zurück und jagte den Bergen zu.

Je weiter die Fahrenden nach Osten drangen, desto größer wurde ihre Schar, mehr als einmal kamen sie bei ähnlichen Haufen gerüsteter Auswanderer vorüber, dann liefen die Fahrenden mit frohem Gruß zusammen als künftige Nachbarn und Streitgenossen. Während der Nächte rasteten sie in der Wagenburg, die sie aus ihren Karren zusammenstießen, auf einem Dorfanger oder in der Nähe einer ummauerten Stadt, bis sie das wilde Wasser der Weichsel erreichten. Dort lagerten sie am Ufer und zimmerten Fähren. Bruder Sibold aber fuhr mit Ivo über den Strom zu der Stelle, wo andere Brüder bereits um einen alten Eichbaum die kleine Holzburg gezimmert hatten. Dort steckten die beiden mit ihren Gehilfen Pfähle für ein Standlager, welches zu einer festen Stadt werden sollte und zu einer neuen Grenzburg der Deutschen. Den Brüdern gefiel, die neue Stätte Toron zu nennen, und sie dachten dabei mit Freude an einen Berg Accon, unter dem die Bremer vor vierzig Jahren das erste Spital des Ordens aus Segeltuch errichtet hatten. Die Kreuzfahrer aber taten jetzt am Gestade der Weichsel dieselbe Arbeit, welche frühere Waller im Heiligen Lande geübt hatten, sie zogen die Gräben, erhöhten den Wall, richteten darüber aus Pfählen den Zaun einer Stadt und bauten in dem umschanzten Raum ihre Hütten. Fehlten ihnen in dem Flachland die Steine, so schichteten sie die Baumstämme des Waldes. Wie durch Zauber wuchs das neue Menschenwerk aus dem Boden, und auf dem Markt und in den Straßen der Stadt bewegte sich wenige Monate nach der Ankunft geschäftig die wohlgeordnete Gemeinde, der Kaufmann bot seine Waren feil, der Handwerker schnitt und hämmerte, und der Landbauer fuhr auf seinem Erntewagen den ersten Hafer ein.

In dem neuen deutschen Lager gründete auch Ivo sein Heimwesen. Zuerst war es ein Blockhaus, bald wurde es ein künstlicher Bau, welcher ansehnlich unter den Hütten ragte. Als Kriegsmann ritt er mit dem Kreuzheer gegen die Heiden, und bei der ersten Ausfahrt [] führte er das Banner der thüringischen Pilger, wie einst seine Ahnen in den Kämpfen des Reiches das Banner ihrer Landschaft getragen hatten. Bald wurde er im Grenzlande ein vielgenannter Held, die Freude seiner Nachbarn und den Feinden furchtbar. Und ihm selbst hob sich das Herz in stolzem Behagen, als er sah, wie hier das Heidenland sich ganz nach dem Willen des weisen Sibold mit Burgen und Städten füllte, denn jeder Kreuzhaufe, der über die Weichsel kam, zimmerte eine neue Burg oder Feste und ließ Ansiedler für Dörfer oder eine neue Stadt zurück, und durch jede dieser Ansiedlungen wurden neue Meilen des Bodens den Heiden entrissen und mit deutschen Ansiedlern besetzt. Als Mitbruder blieb er auch den Bärtigen vertraut, und obgleich er nur ein Zugewandter war, welcher nicht im Rate der Bruderschaft stand und kein Ehrenamt bekleidete, so saßen die andern, welche sich der Jungfrau gelobt hatten und Eigentum und Haushalt entbehren mußten, doch lieber an seinem Herde nieder als anderswo, und mancher von ihnen betrachtete das Haus, in welchem Frau Friederun waltete, als seine Heimat.

Auch an wandernden Landsleuten fehlte es nicht, welche neue Kunde aus der Heimat zutrugen. Als erster kam Nikolaus mit seiner Laute. Ihn hatte die Furcht vor dem Mönche Dorso aus der Heimat vertrieben, er berichtete von dem frommen Ende der Frau Else, und von den wunderbaren Heilungen, welche sie in der letzten Zeit verrichtet, und klagte, daß seit ihrem Tode der Grimm des Priesters Konrad wie ein wildes Feuer durch das Land fuhr und unzählige Unglückliche zum Holzstoß führte. Als ihn Ivo aufforderte, im Preußenlande zu bleiben, wo seine Schreibekunst den neuen Bürgern wertvoll sein könne, da sah er traurig nach Friderun und schüttelte das Haupt. Doch einige Jahre später blieb er, und seit er das ansehnliche Amt des Stadtschreibers in einem neuen Burgsitz gewann, wurde er wohlhäbig und überwand seinen geheimen Gram, nur machte er zuweilen noch lateinische Verse, in denen die Anfangsbuchstaben, ohne daß es jemand merkte, zu dem Namen Friderun zusammenstimmten. Im nächsten Jahre zog ein anderer Gast, Berthold, mit einem sächsischen Kreuzhaufen durch das Stadttor. Aber erst am Abend betrat er Ivos Haus, dem Diener, welcher ihn ankündigte, nannte er einen fremden Namen, und im ersten Morgengrau ritt er, durch Ivo über die Stadtmark geleitet, zum Kampfe mit den Heiden von dannen. Die thüringischen Ansiedler aber erfuhren von anderen Wallern, daß Meister Konrad auf der Heerstraße durch unbekannte Rächer erschlagen und die Brandfackel Deutschlands in Blut ausgelöscht sei.

Als endlich der große Ordensmeister Hermann selbst über die Weichsel kam, da war Ivos Haus die erste Herberge, welche er auf dem neuen Grunde der Deutschen besuchte. Er saß zwischen Friderun [] und ihrem Gatten und begann: »Dir, Schwester, bringe ich einen Gruß der Herzogin Hedwig, welche am Kaiserhofe lebt, von vielen umfreit und von den Sängern gepriesen. Sie sprach zu mir: Grüßt die Hausfrau, und nicht ihn, damit sie erkenne, daß ich ihr Recht ehre und ihr Gutes wünsche.« Darauf erzählte er, daß Kaiser Friedrich über die Alpen nach Deutschland gekommen sei. »Wie war sein Heergefolge, Meister?« fragte Ivo.

»Er zog ohne Heer. Dreißig Kamele trugen ihm Kisten nach, darunter einige mit Gold gefüllte für die deutschen Fürsten.«

»Wie widersteht er bei uns der Herrschaft des Heiligen Vaters? Denn wir hören, daß die großen Häupter der Christenheit wieder uneinig sind.«

»Er hat, um seine Gläubigkeit zu erweisen, mit seinen Schultern den Sarg der Frau Else getragen, da diese als Heilige beigesetzt wurde«, antwortete der Meister ernsthaft. Die Männer sahen einander an. »Oft muß der große Kaiser tun, was er im geheimen mißbilligt oder verachtet«, fuhr Hermann traurig fort, »und doch wird seine Herrschaft im Reiche allmählich schwach und zu eitlem Scheine. Er ist so stolz auf die Majestät seines kaiserlichen Amtes, und doch wurde sein Schicksal, daß er sich selbst die Wurzeln seiner Herrenmacht zerstören muß.«

»Die Leute hier sorgen oft, daß die Herrlichkeit des Reiches klein werde, und sie befürchten Unheil auch für unsere Burgen im Preußenland.«

»Der bescheidene Mann meidet vergeblich Sorge. Du weißt, wir Brüder deuten nicht und grübeln nicht, wir schaffen schweigsam und warten überall unseres Amtes. Hier im Lande säen wir deutsche Saat. Wenn einst die Zeit der Ernte kommt, dann mögen andere zusehen, die nach uns leben.« Er wies auf zwei blondhaarige Knaben, welche an die Knie der Mutter geschmiegt, den fremden Herrn anstarrten.

Auch die deutsche Saat, bei welcher Ivo tätig war, wurde zuweilen durch die Kriegsrosse der heidnischen Preußen niedergetreten. Es war ein harter Kampf, und es war ein sorgenreiches Wachstum, aber ihm erschien er als groß und als heilsam für alle, die er liebhatte. Wenn er mit seinem treuen Gesellen Lutz gegen die Feinde ritt oder wenn er im Rate der Ansiedler tagte, sooft er den alten Sibold gleich einem Ahnherrn zwischen der Kinderschar sitzen sah, welche in seinem Hause aufblühte, und immer wenn er das mutige und hochgesinnte Weib im Arme hielt, welches sich ihm in der Todesnot verlobt hatte, freute er sich des Tages, wo er ein Mitbruder des deutschen Hauses geworden war und aus einem thüringischen Edlen der Ivo, den sie den König nannten, ein Burgmann von Thorn.

[]

Marcus König

Im Jahre 1519

Im Preußenlande ging die Herrschaft des kalten Winters zu Ende. Noch lastete auf Flur und Wald der Schnee, und über dem Wasser der Weichsel starrte geborsten und in riesige Schollen zusammengeschoben die Eisdecke. Aber ein lauer Westwind, der erste Vorbote des Frühlings, hatte zur Fastnacht mit neuem flockigem Weiß die mißfarbige Landschaft überzogen. Der leichte Flaum der Wolken deckte die kahlen Stellen der Heide, welche der Nordsturm gefegt, er verbarg die Fährten der Wölfe und die Stapfen der Raubvögel, die Gleise der Schlitten und die braunen Steige, welche der Fuß des Menschen gedrückt hatte. Jedes Turmdach und jeder Vorsprung der Häuser, die Kiefer im Walde und der Wacholder am Moor waren geschmückt mit glitzernden Kappen.

Am Ufer des Stromes lagen die Altstadt und Neustadt, welche den Namen Thorn führten und einem Rate gehorchten, noch durch Mauern voneinander geschieden und durch Tore, welche in der Nacht verschlossen wurden; nach außen aber gegen die Landschaft eine einige Burg mit vielen stolzen Türmen, von drei Seiten von einem breiten Graben umgeben; an der vierten wälzte sich unter der Eisdecke das wilde Weichselwasser. Ungern ertrug es die lange Brücke, welche die Bürger erst vor kurzem gezimmert hatten, damit ihnen der Verkehr nach Polen bequemer sei.

Dreihundert Jahre hatte dies feste Feldlager deutscher Arbeiter an der Slawengrenze bestanden, zuerst war es von Holz gewesen, dann hatten die Ansiedler sich eine Mauerbrüstung aus gebranntem Steine errichtet. Als Eroberer waren die ersten Burgmannen an den Heidenstrand gezogen, als Herren fühlten sich die Nachkommen noch jetzt zwischen Slawen und deutschen Edelleuten. Klugen Sinn im Rat und harte Faust zur Tat rühmte man an ihnen überall im Lande, doch wurden sie auch herrisch gescholten und eigennützig, aber sie behaupteten ihren hohen Mut unter lauernden Gegnern und offenen Feinden. Und wenn die Stadt aus ihrem Artushofe die Söhne alter Geschlechter zur Landesmusterung sandte, so trug der Fähnrich ein Banner von rotem Tuch, worauf ein Salamander zwischen Flammen gemalt war, mit der stolzen Umschrift: ›Ich werde [] dauern.‹ Saßen die Männer von Thorn auch nicht in der größten Stadt des Weichsellandes – denn Danzig an der See war mächtiger geworden –, sie freuten sich doch des Vorrechts der ältesten, ihre Bürgermeister führten den Vorsitz im gemeinsamen Rat der Städte, als Glieder der Hansa waren sie heimisch auf den Kontoren von Lübeck und Brügge und übten Herrenrechte an dem Strand von Schonen, wo das Stadtzeichen über den Lagerhäusern ihrer Fischer befestigt war.

Sie waren Deutsche geblieben und sahen mit geheimer Verachtung auf die polnische Unordnung jenseits der Weichsel, aber über ihrer Stadt schwebte gebietend der weiße Adler der Polen. Denn zur Zeit der Großväter hatte sich das ganze Weichselland von Thorn bis zur See gegen den verdorbenen Deutschen Orden empört und der Krone Polen untergestellt, weitab im Osten lag das verkleinerte Ordensland wie eine Insel zwischen dem Meere und dem slawischen Gebiet. Auch diesen Landrest sollte der Hochmeister nur als Vasall der Krone Polen regieren, und da der junge Herr Albrecht von Brandenburg, welcher jetzt auf dem Hochmeisterstuhle saß, die Lehnshuldigung noch nicht geleistet hatte, so wurde er in den Städten des polnischen Preußens mit Argwohn und Haß betrachtet. Denn überall zürnte und spottete man über den Verfall des Ordens, und die Bürger wurden nicht müde, arge Geschichten von Druck, Freveltat und nichtswürdiger Schwäche der alten Kreuzritter zu erzählen. Auch die weltklugen Männer, welche in dem Rate von Thorn saßen, haßten den Gedanken an eine Rückkehr der tyrannischen Ordensherrschaft und dachten feindselig an ihre Landsleute im Ordensland. Sie hofften für sich und ihre Stadt aus dem großen Polenreiche ein fröhliches Aufblühen, sie verstanden trefflich, sich von dem Könige als Belohnung ihrer Treue wertvolle Vorrechte zu erhandeln und sie wunderten sich zuweilen, daß ihrer Stadt ein völliges Gedeihen doch nicht wiederkehren wollte. So glichen sie Matrosen, welche sich beim Schiffbruch gegen den schlechten Schiffsmeister empört und auf einem Boot an das Land gerettet haben; und sie sahen hinüber nach dem verlassenen Schiff und auf die bedrängten Maate, welche bei dem Meister zurückgeblieben waren, in einem finsteren Groll, der vielleicht verstärkt wurde durch geheime Mahnung des Gewissens.

Wer aber heut die Gassen der Stadt betrat, der merkte nicht, daß die Bürger durch schwere Händel und Kriegsgefahr bedrängt wurden. Es war Wochenmarkt in der Fastnacht, das lustigste Frühlingsfest der Stadt. Durch die klare Luft klang das Morgengeläut der kleinen und großen Glocken, jede der metallenen Stimmen redete vertraulich dem Stadtsohne zum Herzen, denn in jeder vernahm er den Gruß eines Schutzheiligen der Stadt, und jede hatte hohe Stunden seines eigenen Lebens geweiht. Vor allem erhob den ehernen [] Gesang das schöne Geläut der Heiligen Jungfrau, welcher die erste Rede gebührte, da sie für die himmlische Gebieterin des ganzen Preußenlandes galt, wie im Wettstreit antworteten aus der Neustadt der große Jakob und die scharfe Stimme der Dominikaner von St. Nikolaus, gleich darauf folgten mit schnellem Schwunge und hellem Gebimmel alle kleinen Bethäuser und Kapellen. Aber am liebsten lauschten die Bürger in der Altstadt auf den Ruf der Pfarrkirche von St. Johannes, und sie hatten die Absicht, dort eine neue Riesenglocke aufzuhängen, welche zu allem Gesange der Luft den Baß hallen und die Ehre der Stadt in der Landschaft vermehren sollte. Denn weit über die Dörfer und Wälder, den Strom entlang und nach Polen hinein drang der Morgengruß der großen deutschen Burg, und das raublustige Gesindel, welches mit den Wölfen und Füchsen bei Nacht über die preußische Heide trabte, wandte sich mißvergnügt von dem Klange ab nach seinen wilden Schlupflöchern.

Als die ersten Festgenossen des Tages schwärmten die Kinder aus den Häusern, sie wateten lustig im weichen Schnee und sprangen im Reigen, viele mit Flittern und künstlichen Blumen aus buntem Papier geschmückt. Auch die Bürger beeilten sich, auf dem Markt und in den breiten Straßen Bänke aufzustellen und die Waren auszulegen; wer keinen Stand behauptete, der brachte doch seine Arbeit in den Hausflur oder hing sie an seine Tür, damit sie den Fremden gefalle. Denn auf allen Straßen zog das Landvolk der Stadt zu, die Bauern der Umgegend in ihren Korbwagen, die Junker mit ihren Knechten auf behenden Rossen, die gewöhnt waren, sich durch Kiefergebüsch und über das Moos der Sümpfe zu winden. Auch die Polen kamen über die lange Brücke in lodigen Schafpelzen auf kleinen struppigen Pferden; viele lagerten außerhalb der Mauern am Ufer wie ein Kriegshaufe bei rauchenden Feuern, und sie luden von ihren Karren ab, was sie zum Tausch gegen städtische Waren angefahren hatten: Honig, Wachs und Felle.

Zunächst nach den Glocken erhob der ehrbare Rat seine mahnende Stimme. Der erste Diener, gefolgt von zwei Hellebardieren, schritt vom Rathaus über den Markt und rief an den Ecken den strengen Frieden der Stadt aus: »Der Rat gebietet euch von Gottes wegen und von der Stadt wegen, verbricht jemand mit Worten, so gehe es ihm an seine Habe, verbricht er mit Werken, so gehe es ihm an seinen Hals.« Und jedesmal folgte den Worten ehrfürchtige Stille, darauf ein unterdrücktes Gemurmel.

Gleich darauf erklangen Trommeln und Pfeifen aus allen Stadtvierteln, Frauen und Mädchen traten in die Haustüren und blickten neugierig aus den Fenstern, denn die Viertel trugen heut nach altem Brauch ihre Fahnen vor das Rathaus, damit einer der Herren Bürgermeister das Fahnentuch mustere und den Trägern von Rats [] wegen eine Verehrung zuteile. Zu gleicher Zeit kamen aus beiden Städten die Fähnriche, begleitet von einem Zug Bewaffneter, herangezogen. Sobald der Fähnrich des Viertels, welches das Altthorner hieß, von der Heiligengeiststraße her den Markt betrat, hielt er vor einem Eckhause, das unter den ansehnlichen Steinbauten des Marktes als ein Überrest aus alter Zeit stand. Der Unterstock war dicke Mauer, die an der Straßenecke kreisförmig geschwungen war, gleich einem Festungsturme, darüber erhob sich ein hölzerner Giebelbau aus starken Balken, welche in jedem höheren Stockwerk über die unteren vorsprangen; das Holzwerk war geschwärzt durch Sonnenbrand und Wintersturm vieler Jahre. Eine gepflasterte Einfahrt mit hochgewölbtem Tor und im Giebel eine Luke, aus welcher an einem Kranbalken das Seil herabhing, ließen erkennen, daß das Haus einem Kaufherrn gehörte. Der Fähnrich sah scharf nach den Fenstern, entfaltete das blau und weiße Tuch der Fahne und streckte sich, um seine Kunst zu zeigen. Da öffnete sich die Tür, und auf die obere Stufe der Steintreppe trat ein Mann in der Tracht eines wohlhabenden Bürgers, den Hut auf dem Haupte, eine goldene Kette am Halse, über dem Hausgewande einen schönen Pelz, um den Leib einen breiten Gürtel, der mit Golde reich verziert war. Stolz stand er da, trotz seiner hohen Jahre ein kräftiger Mann, mit hagerem Antlitz von strengem Ausdruck und mit dunkeln Augen, denen die starken Augenbrauen einen düsteren Ausdruck gaben; dahinter ein Jüngling, dem Alten sehr ungleich, mit rundlichem Gesicht und lachendem Munde. Als der Fähnrich die beiden erblickte, hob er sich wie zum Tanz, senkte grüßend die Fahne und ließ das Tuch in kunstvollen Wellen durch die Luft sausen, endlich sprang er gar selbst über den Fahnenstock, und die Fahne stand erhebend aufrecht, so daß die Falten derselben ihn wie ein Mantel umhüllten. Dem Gruß antwortete der Mann auf der Schwelle, indem er seinen Hut abnahm und das Haupt ein wenig neigte, während der Jüngling dem Fähnrich vertraulich zuwinkte. Darauf traten die beiden zurück, die Tür schloß sich und kein neugieriges Gesicht erschien an den Fenstern, als hätte das Haus nur mit Herablassung die Ehre angenommen, welche ihm die Bürger erwiesen.

Unter den Leuten, welche den Fahnenzug begleiteten, ging ein Fremder; an dem langen Pelzrock, der Mütze mit einer Reiherfeder und dem krummen Säbel erkannten die Bürger einen polnischen Gast. Dieser wandte sich zu seinem Begleiter, dem Schreiber des Rates, und sagte spöttisch, auf die Haustür deutend: »Eure Stadt hat stolze Bürgermeister, mein Herr Seifried, es wird ihnen mühsam, das Haupt zu neigen.«

»Es war der reiche Marcus König, der dort heraustrat und verschwand wie das Männchen in der Uhr«, versetzte der Schreiber und verzog sein breites Gesicht; »er ist weder Bürgermeister noch [] Ratmann, doch rechnet er sich zu den Herren von edlem Blut, welche im Artushofe auf der Georgenbank sitzen.«

»So ist er ein Kriegsherr der Stadt?«

»Er ist auch nicht Hauptmann; das Fahnenschwenken vor seinem Hause dauert nur als alte Gewohnheit, und er bezahlt die Ehre dem Fähnrich jedes Neujahr mit einer Kanne Wein. Es geht die Sage, daß sein Haus noch von den Alten herstammt, die sich zuerst gegen die Heiden hier anbauten. Auch die Farben der Fahne sollen von seinem Geschlechte gegeben sein. Jetzt nährt der unnütze Brauch nur den Hochmut. Doch dünkt mich, daß Herr Marcus stolzer ist auf sein Geld als auf sein Wappen. Fragt nur Euren Großkanzler, er kennt sicher den Preis des Goldstoffes, welcher hier in dem Kaufhause zu finden ist.«

»Ihr sagt recht, Herr Stadtschreiber, daß es unser Geld ist, welches die Bürger von Thorn stolz macht«, versetzte der Pole lachend. »Wir Edelleute in unsern Palästen trösten uns damit, daß auch ein fester Kasten springt, wenn man mit der Axt darauf schlägt.«

»Laßt Eure Edelleute doch zuerst dafür sorgen, daß ihre Paläste ein festeres Dach erhalten als Euer Stroh. Wer die Kisten der Thorner begehrt, mag sich selbst vor den Brandkugeln hüten, welche unsere Bürger in die Raubnester der Edelleute schießen«, entgegnete der Stadtschreiber.

»Wir sind gute Brüder«, beruhigte der Pole, »und Federn im Schwanz desselben Adlers. Kommt, Bruder Stadtschreiber, und weist mir den Kram, den Eure Städter heut auslegen.«

Allmählich füllten sich die Straßen, zwischen geschäftigen Bürgern und Landleuten trieben einzelne Vermummte umher. Vor den Häusern stimmte ein Haufe Lehrlinge kräftigen Gesang an um Wecken und Würste, sie hatten die Gesichter durch Ofenruß geschwärzt und machten eine närrische Musik mit mißtönenden Instrumenten, mit Kuhhörnern, großen Trichtern und mit Pfannen, welche durch einen Kochlöffel geschlagen wurden; der Vorsänger hielt eine riesige Gabel in der Hand und spießte auf, was die Leute ihm darreichten. Wer nur wenig auf sich zu wenden vermochte, lief in der Jacke eines Bauern oder im Kittel eines Fuhrmanns oder band sich ein Strohseil um das Knie, zur Andeutung, daß er einen Landmann vorstelle. Sogar die Verkäufer hinter ihren Tischen gaben der Festzeit die Ehre, indem sie ihre Pelze umdrehten, so daß die Haare nach außen starrten, oder ein Band mit tönenden Schellen um das Handgelenk befestigten.

Bei einem Krämer an der Marktecke war jetzt der regste Verkehr. Dieser hatte an der Tür den lockenden Schmuck des Tages ausgehängt. Narrenkappen mit langen Zipfeln, breite Bänder mit Schellen für Knie und Arme, auch Larven für solche, welche ihr [] Gesicht nicht gern unter der Narrenmütze zeigen wollten. Wer nicht kaufen konnte, erhielt wohl auch geliehen, wenn er sicher war, und gab am Abend zurück, was er nicht verdorben hatte. Da das Haus einen Ausgang nach der Hintergasse hatte, so schritt mancher ernsthaft durch die Vordertür und sprang als Bär oder Stocknarr hinten heraus, nachdem er auf der hohen Düngerstätte des Hofes sein neues Wesen durch einige Sprünge eingeübt hatte. Wie die Sonne höher stieg, wurden die Vermummten dreister und beschwerlicher, als Mönche und Nonnen kamen sie paarweise mit wilden Gebärden, tanzend, Schelmlieder singend und bereit, jedermann zu umarmen. Noch unleidlicher waren die grauen Brüder, welche große Säcke mit Asche trugen und oft hineingriffen, am liebsten, wenn ihnen eine wohlgeschmückte Person aufstieß, der sie Kleider und Gesicht bestäuben konnten. Auch zierliche Gestalten sah man in rotem Hut mit Hahnenfeder, um den ein Schleier gewunden war, über der Haustracht ein buntes Hemd mit seidenen Nähten. Jeder, der sich als Maske betrachtete, arbeitete eifrig in seinem erwählten Berufe, der Bär im Pelz tanzte unermüdlich, das Kuhhorn blies, der Aschenmann stäubte, bis irgendein auffallender Narrenstreich und ein helles Gelächter dies geschäftliche Treiben unterbrach. Am meisten geplagt waren die Landleute, zumal die Polen, deren Schafpelze beliebt waren, um darauf schwarze und graue Streifen zu ziehen. Aber obwohl sie das wußten, freuten sie sich doch nicht weniger als die andern über das wilde Treiben, mancher vorsichtige Landmann polsterte sich seinen Rücken mit Werg, um durch die Schläge der Lederkolben und Pritschen weniger belästigt zu werden, und sie brachten sogar ihre Frauen mit, welche den Anfechtungen durch die Narren mit starken Ellenbogen zu widerstehen wußten. Eng zusammengeschart saßen die Bäuerlein um die Häuser, in denen Bier und Met geschenkt wurde, und boten ihren Nachbarn den Trunk, bis sie einander umarmten und küßten, oder bis ihnen das Herz aufging gegen die Frauen und Mädchen, dann brach die ganze Vetterschaft auf zu den Tischen, an denen der Schmuck für die Weiblein zu kaufen war: Ringe mit Glassteinen, Spangen, Rosenkränze und zierliche Kramtaschen. Dort feilschten sie mit dem Krämer, wehrten die Narren ab und blickten begehrlich auf die ausgelegten Schätze und mit erstauntem Grinsen auf die wunderlichen Masken der Bürger und auf das tolle Gebaren in der Stadt, die sonst so ernsthaft war.

Am Kirchhof von St. Johannes hatte Hannus, der Buchführer, seinen Tisch aufgeschlagen, einige gebundene Bücher lagen darauf und viele leichte Büchlein, wie sie das Volk gern kaufte, Kalender und Prognostika, in denen aus dem Stand der Gestirne die Fruchtbarkeit des Jahres und das Schicksal der Könige prophezeit wurden. Manche klagten über die Lügen der Kalenderschreiber, doch [] bedächtige Leute wußten, daß zwar die Vorhersagung nicht sicher war, aber die ganze Wissenschaft keineswegs verächtlich. Liebevoll behütete der kleine Hannus seine Waren: »Rühre mit deinen geteerten Fingern nicht an, was du doch nicht kaufst«, rief er, als ein Bäuerlein neugierig nach einem Blatte griff, auf welchem Sonne und Mond freundlich auf ein Totengerippe mit Sense herabsahen. »Es ist etwas Neues gekommen von Straßburg, Meister Schwertfeger, über die Kunst, Eisen zu härten«, empfahl er, ein Büchlein in die Höhe haltend, »die besten Rezepte und verborgenen Geheimnisse Eures Handwerks werden darin offenbart. Seid willkommen, hochgelehrter Herr«, begrüßte er einen ernsten Mann, welcher vorbeiging, »Ihr fragtet neulich nach dem Carmen des ruhmvollen Eobanus Hessus Poeta, welches betitelt ist: Beschreibung des Preußenlandes, es war nicht auf Lager, jetzt aber ist es mir zugegangen.«

Trotz der eifrigen Empfehlungen blieb der Stand in den ersten Morgenstunden wenig beachtet, und Hannus sah zuweilen abfällig hinüber nach dem umdrängten Tisch zur Linken, auf welchem bunte Bänder verkauft wurden, und nach dem Haufen, welcher sich an seiner Rechten um Kuchen und Pfeffergebäck sammelte. Aber nach und nach erhielt auch er Zuspruch, so daß, wer später in die Nähe kam, sich über die ansehnlichen Männer um den Tisch wunderte und eben falls herantrat. Doch hatte es mit den neuen Kunden eigene Bewandtnis. Hannus wählte sie sich gewissermaßen unter den Vorbeigehenden aus, indem er, wie in geheimem Einverständnis, mit dem Finger winkte, dann trat der Geladene hinter den Tisch, Hannus sprach leise mit ihm und wies ihm ein und das andere Büchlein, welches der Bevorzugte still in seiner Tasche barg, worauf er unweigerlich den Beutel zog. Dabei spähte der Buchführer vorsichtig umher. »Bonum matutinum, domine«, rief er einem Fremden zu, der mit einer verhüllten Frau langsam über den Markt schritt und an seiner Tracht und der Neugier, mit welcher er sich umsah, leicht als ausländisch erkannt wurde.

Der Fremde lächelte und steuerte mit entschlossenem Schritt dem Tische zu, gleich dem Schiffe, welches nach unsicherem Kreuzen die Einfahrt zum Hafen gefunden hat; ein kleiner Mann mit hagerem Gesicht und zwei lebhaften Augen, die durch zahllose Falten eingefaßt waren, er griff an die Mütze und antwortete mit heller Stimme, der man anhörte, daß sie gewohnt war zu befehlen: »Salve domine bibliopola.« Dabei versenkte er beide Hände in die Taschen seines Gewandes und suchte nach etwas, sah forschend unter sich auf den Boden, griff in andere Taschen und suchte wieder, bis eine Frauenstimme neben ihm mahnte: »Herr Vater, den Brief habt Ihr in die Ledertasche gesteckt.«

»Ganz recht«, bestätigte der Fremde und holte ein zusammengefaltetes Papier heraus. »Wenn ich in Euch, wie ich annehme, den [] fürsichtigen Hannus Buchführer begrüße, so nehmt dieses Schreiben Eures ansehnlichen Geschäftsfreundes aus Danzig.«

Hannus las und warf dabei prüfende Blicke auf die Fremden. »Seid willkommen in Thorn, wohlgelehrter Herr Magister Fabricius, ich empfehle mich Eurer Gunst zu guter Kundschaft. Und dies ist des Herrn Magisters Frau Liebste?« Da aber die Begleiterin des Fremden errötend den Kopf schüttelte, so sah der Händler wieder in den Brief und verbesserte sich: »Doch nein, es ist die Tochter, Jungfer Anna«, und er sprach heuchlerische Worte von einer Ähnlichkeit mit dem Vater. »Kann ich mit meinem Vorrat dienen? Hier das Neueste von Erasmus Roterdamus.«

Der Magister griff danach, doch das Buch haltend, sprach er ehrlich: »Wenn jemand eine weite Reise gemacht hat, so ist bei ihm die Lust zu kaufen vielleicht größer als das Vermögen.«

»Das tut nichts«, tröstete der Thorner wohlwollend, »mir ist ja bekannt, daß Ihr als neuer Rektor hiesiger lateinischer Schule von ansehnlichen Männern erwartet werdet. Was Ihr nicht kauft, seht Ihr Euch an.« Der Magister war sogleich in das Lesen einer lateinischen Vorrede vertieft. »Vielleicht gefällt es der Jungfer Anna, unterdes hier die Bilder zu betrachten«, riet Hannus der vergessenen Tochter, welche unruhig auf den Vater sah, und bot ihr ritterlich die Meerfei Melusine. Während er so für die Fremden sorgte, steigerte sich seine Teilnahme an ihrem Wohlbefinden, und er unterbrach den lesenden Magister, beugte sich über den Tisch und sprach leise: »Oder begehrt Ihr etwas von Wittenberg?«

»Mönchsgezänk«, versetzte der Magister, aber er legte doch den Erasmus auf den Tisch und fragte: »Wo?« und beide senkten die Nasen und sahen einander über die Brillengläser bedeutsam an. Hannus zog unter einer Decke kleine Büchlein hervor. »Sie sind alle von demselben Manne, von dem die Leute jetzt überall reden.«

»Diese sind deutsch«, rief der Magister verwundert: »Sermon von Ablaß und Gnade. Und was haben wir hier: Ohne Ablaß von Rom kann man wohl selig werden.«

»Es sind lauter Bibelsprüche, mit denen das bewiesen wird«, erklärte der Buchführer leise.

Die Augen des Magisters glänzten, er fuhr mit dem Büchlein schnell in die Tasche – die Tochter stieß ihn an –, »doch ich vergesse wieder«, entschuldigte er, den Fund herausziehend.

»Behaltet die Bogen«, ersuchte Hannus wohlwollend, »das Geld ist gut angelegt, denn Ihr werdet mich dafür bei vorkommender Gelegenheit gebührlich empfehlen.«

»Ich bleibe dafür in Eurer Schuld«, versetzte der Gelehrte mit Würde.

Unterdes betrachtete Jungfer Anna nicht ohne Störung die Holzschnitte ihres Buches. Sie hatte Aufsehen erregt, vielleicht wegen [] ihres anmutigen Gesichtes, vielleicht weil sie einen Beduinenmantel trug, welcher in Thorn bei ehrbarn Jungfrauen nicht gebräuchlich war, denn sie vernahm plötzlich neben sich die dreisten Worte eines fremden Mannes: »Was guckt Ihr in Gedrucktes, Ihr hübsches Fräulein; hört lieber auf die Rede eines Edelmanns, wenn er Euch sagt, daß Ihr selbst schöner anzusehen seid als die Weibsstücke, welche in diesem Buche abgebildet sind.« Anna sah neben sich den Schnauzbart des Polen, welcher in das Buch und auf sie starrte. Errötend wandte sie sich ab und faßte den Magister am Arm: »Herr Vater, gehen wir.«

Aber als der Magister sich zu der Verabschiedung rüstete, raunte Hannus: »Bergt die Bücher, dort schleicht ein Dominikaner herzu, es ist Pater Gregorius, der heftige Mann.« Er schob mit schneller Handbewegung eine Decke über die aufgelegte Ware und neigte sich vor dem Mönch, welchen der Beduinenmantel der Jungfrau und die weiße Feder auf der Mütze des Polen herangelockt hatten, damit er seine Gewalt erweise. Der Mönch sah unter der gerollten Krempe seines Hutes finster auf den Händler herab: »Ich sorge, Meister Hannus, Ihr bewahrt vieles in Eurem Kram, was die Seelen guter Leute zu Schaden bringen mag.«

»Ihr kennt ja mein Geschäft seit lange«, versetzte der Buchführer, »wenn Ihr mir auch selten Eure Kundschaft vergönnt. Wir armen Laien kaufen und verkaufen, was die Drucker von neuer Ware zusenden, uns fehlt die Zeit, um alles selbst zu lesen; auch haben wir nicht Witz genug, um zu verstehen, was den ehrwürdigen Vätern lieb oder leid ist.«

»Der Rat sollte Euch strenger auf die Finger sehen«, fuhr der Mönch tadelnd fort, »denn wie mir scheint, gleitet allerlei durch Eure Hände, was Euch einmal da Angst bereiten wird, wo Ihr Erbarmen nötig habt.«

»Ich halte auf reine Wäsche«, entgegnete Hannus gereizt, »erst gestern habe ich das Geld zu Eurem Tische getragen und meinen Zettel gelöst. Ist mir in meinem Geschäft zuweilen ein unrichtiges Buch durch die Hände geschlüpft, so habe ich diese Sünde durch richtiges Geld bei den Heiligen wettgemacht. Ihr selber wißt, daß ich Ablaß für alles habe.«

»Dennoch rate ich Euch, daß Ihr Euch vor der Versuchung wahrt; denn der böse Feind ist mächtig geworden unter solchen, welche Bücher schreiben, und zu der Rotte des Reuchlin und Erasmus gesellen sich jetzt andere Übeltäter, welche ärger sind als jene«, und er schlug im Eifer mit der Faust auf den Tisch.

Der Pole hörte ergötzt dem Eifer des Mönches zu. »Recht, ehrwürdiger Vater«, ermunterte er, »alles Gedruckte ist Unsinn.«

Diese törichten Reden der Dunkelmänner vermochte der Magister nicht geduldig anzuhören, er wandte sich mit herber Miene, um [] ihnen Bescheid zu sagen. Da aber erhob sich ein helles Geschrei, die Marktleute stoben vor einem fernen Schrecken auseinander, Weiber und Kinder rannten den Häusern zu und das Volk schrie: »Die Teufel kommen.« Anna drückte sich ängstlich an den Arm des Vaters. Ach, sie glich heut dem Schwan Hangan mit goldenen Federn, von dem die Thorner eine alte Geschichte wußten, wer ihn berührte, blieb an ihm hängen. Auch an die Jungfer heftete sich der Pole, an diesen der Mönch und an den Mönch leider viele Teufel.

In der weiten Gasse, welche durch den Schrecken des Volkes geöffnet wurde, sprang etwa ein Dutzend wilder Gestalten heran in roten Kamisolen und engen schwarzen Hosen, vor den Gesichtern braune und schwarze Teufelslarven mit großen Hauzähnen, zwischen denen eine Zunge von rotem Tuch heraushing, die Häupter durch schwarze Ziegenfelle verhüllt, aus denen die Hörner ragten, in den Händen schwenkten sie Lederkolben und rasselnde Schweinsblasen. Der gute Stoff ihrer höllischen Gewänder und der kecke Übermut, mit welchem sie auf die Menge schlugen, ließen wohl erkennen, daß sie gewöhnt waren, sich als Herren in den Straßen der Stadt zu fühlen, aber die Leute vergaßen vor den greulichen Gestalten, daß heut Fastnacht und daß diese Maske in Thorn nicht ungewöhnlich war. Viele empfanden ein Entsetzen, als wenn Luzifer mit seinem Gesinde leibhaftig aus dem Abgrund aufgestiegen wäre, vollends die Landleute, welche zum erstenmal die Schreckbilder sahen, verfielen in Not und Angst, mehr als einer kniete nieder, und die Weiber auf den Karren schrien zum Himmel, rangen die Hände oder bargen die Gesichter in Stroh, je nach ihrer Gemütsart. Als Hannus den Aufstand und das Drängen des Volkes sah, warf er behend die wertvollsten Bücher in den Kasten. Doch daß er so eifrig seinen Tisch räumte, gedieh ihm nicht zum Heil. Denn als die Teufel herankamen, erkannte einer den geleerten Tisch und schwang sich hinauf; ein kleiner dienender Satan, der mit zwei Widderhörnern auf dem Kopfe und einem großen Kuhschwanz am Hinterteil sehr bösartig aussah und während des Laufes zuweilen Kobolz geschossen hatte, brüllte im nächsten Augenblick den Buchführer so grimmig an, daß auch dieser erschrocken zurückfuhr, ergriff den Schemel, auf dem Hannus auszuruhen pflegte, und hob ihn auf den Tisch als Thron des Oberteufels. Dieser setzte sich darauf und rief, seinen Kolben schwingend, mit hohler Stimme über den Platz: »Wohl her, wohl her, mein teuflisches Heer, aus Sümpfen und Moor, aus Brüchen und Rohr.« Und auf den Dominikaner weisend, fuhr er fort: »Hier haben wir Mönch und Nonne beieinander, das Sprichwort sagt wahr, daß die Heiligen nicht einzeln wandern, sondern zu zweien; ist das zweite nicht ein Männlein, so ist es ein Fräulein; heran, meine Teufel, ehrt die Frommen durch einen Tanz. Denn auch wir gehören zur Kirche, überall, wo die heiligen Väter sich ein [] Haus errichten, bauen sie dem Teufel daneben eine Kapelle. Sa, sa, rund um.« Der Mönch und der Pole, der Magister und seine Tochter wurden, bevor sie sich's versahen, von den Teufeln in einen Kreis gezogen und mit wildem Tanze umringt. Das Mädchen barg entsetzt über den Anblick und empört über die Schmach in der fremden Stadt das Gesicht in ihren Händen, der Magister starrte durch seine Brille erstaunt auf die unerhörte Gesellschaft, der Pole fluchte und der Mönch begann einen zornigen Verweis, aber die Worte wurden übertönt durch den lauten Gesang der tanzenden Teufel: »Luzifer auf deinem Höllensitz, rivo, rivo, rivo; einst warst du ein Engel von gutem Witz, jetzt bist du greulich und gar nichts nütz, pfu Deubel, pfu Deubel.« Der Mönch, übermannt von Zorn, ballte die Faust, um sich tatkräftig der Andringenden zu wehren, welche mit ihren Schweinsblasen seinen Rücken zu treffen suchten, aber der kleine Satan mit dem Kuhschwanz sprang ihm wie ein Bock gegen die Beine, so daß der würdige Herr stolperte und sich auf den Boden niedersetzte. Da erhob sich unter dem zuschauenden Volk ein wildes Gelächter, in dem die geheime Abneigung laut wurde. Doch die Teufel wichen zurück. »Ihr seid ungeschickt«, rief der Oberteufel, »daß ihr unsern lieben Vater an den Boden setzt, helft ihm säuberlich auf und entlaßt ihn aus unserer Mitte, denn ich hoffe, er und wir bleiben gute Freunde.« Der Mönch erhob drohend den Arm und entwich aus dem Kreise.

»Wer aber ist der polnische Hahn, der so wild in unserm Ringe kräht?« fuhr der Anführer fort und sprang vom Tische dem Polen entgegen. Doch in demselben Augenblick blitzte ein geschwungener Säbel in der Luft und traf seine Larve; die festen Hörner minderten die Wucht des Hiebes, aber die Larve klaffte und glitt vom Haupte, und ein gerötetes Jünglingsgesicht wurde sichtbar, dem das Blut von der Stirne rann. Ein lauter Schrei erscholl, die Umstehenden riefen einen wohlbekannten Namen, und gleich darauf erhob sich der zornige Ruf: »Greift den Polen, er hat den Frieden der Stadt gebrochen.« Eine Anzahl fester Fäuste packte den widerstrebenden Fremden und riß ihn zur Seite. Der Teufel hatte im Nu seine Larve wieder befestigt und schrie: »Führt jeden zur Hölle, der die Rechte der Kinder von Thorn kränkt, heran, meine Gesellen, erhebt noch einmal den Gesang. Zwei Gefangene sind uns geblieben und der eine gleicht einem Gelehrten.« Er wies auf den Magister, welcher den Arm um seine Tochter geschlungen hatte und schrie: »Latine loquamur, ut vir doctus gaudium habet.«

»Nicht habet, sondern habeat, du höllischer Abcschütz«, rief ihm der Gelehrte unwillig entgegen. Doch ungerührt durch den Verweis fuhr Luzifer fort: »Schwand auch der Mönch, die Nonne blieb«, und dabei legte er den Arm um die Kappe der Jungfrau, aber er stand wie versteinert, als er ein verblichenes junges Antlitz sah, die [] verstörten Mienen und den entsetzten Blick, und er rief zurücktretend und die Hand hebend: »Diese gehören nicht zu uns, hinweg, ihr Gesellen.« Mit großen Sprüngen fuhr er an die Spitze des Schwarms und schwang sich mit ihm durch die Haufen in die nächste Gasse, die gehobenen Kolben fielen auf die Rücken der Landleute, und das Gelächter der Zuschauer begleitete die Unholde, bis Geschrei in der Ferne verriet, daß die Teufel wieder mit einem Gegner zusammengestoßen waren.

»Furor diabolicus«, rief der Magister, »blicke auf, mein Kind, sie sind fort, komm nach der Herberge.« Er vergaß den Scheidegruß an den Buchführer, welcher zerknitterte Bogen glättete, und verschwand mit seinem Kind in der Menge.

Am Nachmittage schlug der eiserne Klopfer stark an die Haustür des Marcus König, in dem Flur wurden Stimmen laut, Barbara, die alte Hausmagd, öffnete dem Ankommenden die Stubentür. Ein stattlicher Mann in höheren Jahren trat ein, das braune Haar mit Grau gemischt, in dem großen Antlitz runde, scharfblickende Augen; über dem langen, braunen Samtmantel trug er einen Kragen von Marderfell, an dem silberbeschlagenen Gürtel einen Degen in silberner Scheide. Er bewegte seinen gestickten Hut mit gemessenem Gruß gegen den Hausherrn und streckte ihm die Rechte entgegen. Mit langsamer Förmlichkeit ergriff der Wirt die gebotene Hand und lud den Gast auf einen großen Lederstuhl, den Ehrensitz. Er selbst rückte sich seinen Sitz gegenüber und winkte der harrenden Magd, welche eine Flasche und zwei kleine Silberbecher herzutrug und vor den Herren auf den Tisch setzte. Als sie die Tür geschlossen hatte, begann der Wirt, sein Glas hebend: »Dies bringe ich Euch zum Willkommen, namhafter Herr Bürgermeister Hutfeld.«

Der Gast antwortete ebenso bedächtig: »Ich denke in diesen Wänden an meine selige Schwester Martha, Eure Ehegattin, und gern würde ich vernehmen, daß Ihr mich wie sonst als Euren Schwager begrüßt.« Da Marcus schweigend das Haupt neigte, fuhr der Gast lebhafter fort: »Ich bedaure, Schwager Marcus, daß Ihr mir so fremd gegenübersitzt. Tragt nicht mir nach, wenn Euch vor kurzem eine Weigerung des Rates gekränkt hat. Ihr erbatet aus dem Zeughause zwei Feldschlangen für das feste Haus Eures Landguts, aber Ihr selbst wißt, daß nur den Ratmännern zuweilen Geschütz in ihre festen Häuser geliehen wird.«

»Ich weiß«, versetzte der Hausherr. »Die Bürger klagen zuweilen, daß die ehrbaren Herren vom Rat nur deshalb die Geschütze der Stadt auf ihre Landhäuser ziehen, um die Gastgelage, welche sie dort ausrichten, durch Freudenschüsse den Untertanen zu verkünden. Mir aber hatten, als ich die Herren durch meine Bitte beschwerte, fremde Wegelagerer eine Scheuer meiner Dorfleute [] ausgebrannt und mit fernerer Rache gedroht. Die wilde Reiterei ist gemein geworden im Lande, und darum meinte ich, der Stadt werde nicht gleichgültig sein, wenn das Gut ihrer Bürger zugrunde geht. Ich will fernerhin versuchen, mich selbst zu beraten; ich habe durch mein Leben gelernt, fremder Hilfe nicht zu trauen.«

»Wenige in der Stadt werden bezweifeln, daß Ihr in Ratschlag und Tat wohlbedacht seid. Doch verzeiht, Herr Schwager, wenn ich Euch in treuer Meinung sage, nicht immer frommt es dem Bürger, seine Meinung von denen seiner Nachbarn zu trennen, und leichter gewinnt man Gutes für sich selbst, wenn man sich gutherzig in andere schickt. Das Geschütz hättet Ihr erhalten, und ein Sitz im Rate würde Euch nicht fehlen, wenn Ihr williger der Stadt Eure günstige Gesinnung erweisen wolltet.«

Der Hausherr richtete sich in seinem Stuhle hoch auf: »Sprecht weiter, gebietender Herr Bürgermeister, Ihr habt zuviel gesagt, um aufzuhören.«

»Ich rede vertraulich, mein Schwager«, fuhr der andere fort. »Vielen fällt auf, daß Ihr in dieser Zeit, wo es sich um Gedeihen oder Untergang der Stadt handelt, in Rede und Tat so wenig Haß und Liebe erkennen laßt: und sie wissen darum nicht, ob sie Euch vertrauen dürfen oder nicht.«

»Ich bin gelehrt worden«, versetzte der Wirt, »daß dem Bürger ziemt, um das eigene Wohl zu sorgen, und daß ein ehrbarer Rat die Sorge um die Stadt als sein Vorrecht betrachtet.«

»Dem Rat aber vermöchte Eure Einsicht zu nützen. Ich weiß am besten, Schwager Marcus, wie hoch der Sinn des Mannes ist, mit welchem ich rede. Nie werde ich vergessen, daß ich meinen Wohlstand den Jahren verdanke, in denen ich als Euer Geselle Handelschaft trieb.«

»Vergeßt die alte Zeit, Herr Bürgermeister, und wenn Ihr redlich an mir handeln wollt, so müht Euch zu vergessen, was Ihr vielleicht von mir kennengelernt habt, als wir beide jünger waren. Ich bin alt geworden, es ist einsam in meinem Hause; ich denke, die Stadt kann mich leiden, wie ich bin, bis ich in der Marienkirche beigesetzt werde gleich anderen meines Geschlechts. Dann mag Euer Pate, mein Sohn Georg, versuchen, dem Rat besser zu gefallen.«

»Wenn ich unwillkommen zu Euch kam«, antwortete der Bürgermeister, gekränkt durch die Abweisung, »so kam ich um Eures Sohnes willen. Ein Haufe Vermummter in der unheiligen Tracht von Teufeln hat heut in den Gassen Ungebühr geübt, hinter der Larve ihres Anführers ist mein Pate Georg erkannt worden. Es geschieht nicht zum erstenmal, daß der Rat Ursache hat, auf ihn zu merken. Diesmal hat er der Kirche Ärgernis gegeben und ist auch mit dem Polen Pietrowski zusammengestoßen, welcher als Gesandter des Großkanzlers dem Rate am Herzen liegen muß. Vielleicht [] gefällt es Euch, Herr Schwager, den Sohn auf einige Tage zu versenden, bis der ärgerliche Fall vergessen ist.«

»Hat der Knabe einen polnischen Abgesandten auf offener Straße gekränkt, so soll er auf offener Straße die Buße zahlen«, versetzte Marcus finster, »ich will nicht, daß um meines Blutes willen die Stadt in Ungelegenheiten gerate. Erlaubt, daß ich ihn in Eurer Gegenwart abhöre.« Er schritt zur Tür und rief nach sei nem Sohne. Es verging einige Zeit, in welcher die Herren schweigend einander gegenübersaßen; endlich öffnete sich die Tür, und herein trat ein junger Gesell, hoch aufgeschossen, mit blondem Kraushaar und mit einem runden, rosigen Antlitz, in dem zwei schlaue Augen unruhig über die ernsten Gesichter der Herren fuhren; man sah dem Eintretenden die Verwirrung an, sein Wams war unordentlich genestelt und eine Seite der Stirn mit einem Pflaster gedeckt, aber um den Mund zuckte doch die Schelmerei, als er, sich verneigend, grüßte: »Guten Abend, Herr Vater, guten Abend, Herr Pate.«

»Wer hat dir die teuflische Fratze gemacht«, fragte der Vater streng, »in der du heut vor den Bauern getanzt hast?«

»Lorenz, der Läufer, hat sie von Danzig zugeführt.«

»Und wer hat dir das Geld dazu in die Hand gelegt?«

»Der Danziger wartet noch darauf, Herr Vater«, gestand Georg mit geringerer Zuversicht. »Da ist der Gewinn vom letzten Vogelschießen.«

»Der ist schon mehr als einmal in Rechnung gebracht«, unterbrach ihn der Vater. »Wer hat dich an der Stirn getroffen?«

»Der Säbel des Pan Pietrowski, aber er soll dafür bezahlen. Eisen um Eisen ist ein Thorner Sprichwort.«

»Schweig, du dreister Knabe. Ihr hört, Herr Bürgermeister, er hat bekannt, nehmt ihn und tut mit ihm nach Ermessen des ehrbaren Rats.«

Dem Bürgermeister war die kurze Bereitwilligkeit des Vaters nicht willkommen, und er fragte nach einer Weile: »Als der Fremde den Säbel zog, was hatten ihm die Vermummten angetan?«

»Sie hatten ihn umtanzt wie viele andere, die heut in fremder Tracht auf unsern Gassen wandeln. Das ist ein altes Recht der Fastnachtsteufel, wenn es den Fremden nicht gefällt, mögen sie draußen bleiben«, antwortete Georg trotzig.

»Haben Stadtleute gesehen, daß die Wunde geblutet hat?«

»Er hieb die Bänder der Larve durch und entblößte mein Gesicht, und einige schrien Gewalt, als das Blut rann.«

Hutfeld sah den Vater ernst an? »Dies mag das Recht des Polen mindern und dein Unrecht bessern. Euch, Herr Schwager, ersuche ich, diesen unterdes in Eurem Hause festzuhalten, wenn etwa der Rat ihn Euch abfordern läßt.« Er wandte sich zum Abgange.

[] »Darf ich noch etwas reden, lieber Herr Pate«, bat Georg demütig, und als Hutfeld nickte, fuhr er fort: »Mir wäre wirklich lieber, wenn statt meiner der Pietrowski verhaftet, verstrickt und eingesetzt würde. Denn nicht ich habe das Gesetz mit dem Säbel gebrochen, sondern er, und nicht er trägt die Schmarre, sondern ich, und deshalb kann mir nicht gefallen, daß ich in der Klausur sitzen soll, während er in der Schenke die Stiefel zusammenschlägt; zumal heut, wo alle Brüderlein lustig sind.«

»Du bist Sohn eines Hauswirts, er ist der Gast«, antwortete Hutfeld ernst. »Nicht immer trinken Wirt und Gast das gleiche Maß. Dir aber kann morgen vor dem Rate frommen, wenn du heut nicht im Artushofe beim Abendtanz gefunden wirst.« Er verließ grüßend das Zimmer. Der Wirt folgte ihm bis zur Haustür.

Als Marcus zurückkam, schritt er schweigend zu einem kleinen Wandschrank, hob ein Schlüsselbund heraus und gebot dem Sohne:

»Folge mir. Hole zuvor dein Gebetbuch, denn es wird dir heilsam sein, um den Himmel zu sorgen, nachdem du dich im Dienst der Hölle so lustig bemüht hast.«

Georg trug mit düsterer Miene ein kleines Buch herzu und folgte dem Vater die Treppe hinauf in den Oberstock. Dort hielt Marcus vor einer eisenbeschlagenen Tür und faltete, bevor er das Schloß öffnete, die Hand über dem Schlüssel. Der Sohn aber trat einen Schritt zurück, der stumme Trotz, mit welchem er die Einsperrung erwartete, schwand in unverhohlenem Schrecken. Denn das Gemach war, obwohl stattlich in der Mitte des Hauses nach dem Markte gelegen, doch bei den Hausgenossen und auch unter den Nachbarn übel beleumdet als Behausung eines polternden Geistes, welchen alte Leute als einen gepanzerten Mann geschaut hatten, andere aber als einen braunen Kobold. Georg hatte nur selten den Raum betreten, und gerad heut, wo er sein Gewissen ein wenig bedrängt fühlte, war ihm der Aufenthalt unheimlich, aber die Scheu vor dem Vater schloß ihm den Mund, und er preßte die Lippen zusammen. Die Tür knarrte in den Angeln, der Sohn trat auf die Schwelle, und sein Blick irrte in dem dämmrigen Raume umher. Es war ein Gewölbe mit dicken Mauern, durch die trüben Rauten des Fensters fiel ein Sonnenstrahl und zeichnete auf die Dielen ein Netzwerk aus mattem Gold, an den Wänden standen Schränke und eiserne Kästen, auf einem Tisch hing am kleinen Ständer eine goldene Haube und anderer Schmuck, wie ihn die vornehmen Frauen zu Thorn trugen. Der Vater blieb vor einem großen Schrank stehen. »Tritt näher«, begann er feierlich, »du hast heut Heilloses getrieben in dem Übermut, den ich wohl an dir kenne und lange mit Nachsicht getragen habe, ich will dich zur Vorsicht und Bescheidenheit mahnen durch ein ernstes Beispiel.«

[] »Sagt mir vor allem, Herr Vater, ob Ihr selbst sehr böse seid wegen des Teufelskrams«, bat Georg.

»Daß mein Sohn in der unheiligen Maske als Narr vor den Bürgern gespielt hat, war für uns beide Unehre, und noch größer war die Torheit, daß er sein Gesicht sehen ließ.«

»Der Pole soll mir's bezahlen«, murmelte Georg.

»Was ist der Pole?« fragte der Vater, »der Diener eines Dieners. Wer seinen Zorn an kleinem Gesindlein verzettelt, gleicht dem Bussard, der nach Mäusen stößt.« Er öffnete die Schranktür. »Du warst oft begierig, in Blechkappe und Krebs eines Gewappneten zu reiten, weißt du mir zu sagen, wer einst diese Rüstung getragen hat?« In dem Schranke stand eine altertümliche Rüstung, graues Eisen mit Gold verziert, dabei ein hoher Schild mit dem Zeichen, welches in Thorn verhaßter war als irgend etwas anderes. Es war das schwarze Ordenskreuz, in dessen Mitte ein goldenes lag.

»Ein Weißmantel trug die Rüstung«, antwortete Georg, »und sehe ich recht, so war es ein Hochmeister des Ordens.«

»Es war ein Meister des Ordens«, bestätigte der Vater, »und er war von unserm Geschlecht. Vernimm, was von ihm die Chronik kündet. Herr Ludolf wurde zu seiner Zeit gerühmt als ein weiser und kriegstüchtiger Herr. Er führte ein großes Kreuzheer gegen die Heiden in Litauen, wohlüberlegt war der Kriegsplan, und er hoffte Ruhm für sich und Landgewinn für den Orden. Aber die große Hoffnung erwies sich als eitel, die Litauer wichen weit rückwärts in ihre Sümpfe, und während er mühsam durch die Wildnis nachzog, brachen andere Heerhaufen der Heiden in das preußische Land und verwüsteten erbärmlich Gut und Volk des Ordens. Als er auf die Trauerbotschaft umkehrte, verlief sich unzufrieden das Kreuzheer, und von allen Seiten erhoben sich Klagen gegen ihn selbst. Das Unglück des Landes fraß ihm am Herzen, so daß er in Trübsinn verfiel und in schwarzer Stunde mit dem Messer nach einem Ordensbruder stach. In seinem Gram über die Missetat entsagte er selbst einer Herrschaft. Nach Jahren schwand die Wolke von seinem Geiste, und die Brüder, welche seinen Wert wohl kannten, wollten ihn wieder auf den Herrenstuhl setzen, er aber weigerte sich. Und als er von dieser Erde schied, umgeben von trauernden Brüdern und Männern unseres Geschlechts, da sprach er, wie die Sage meldet, eine schwere Besorgnis aus: Oft ist das Schicksal der Könige von Thorn gewesen, daß durch den Lauf der Welt vereitelt wurde, was sie redlich wollten, ihnen ist, wie ich fürchte, kein Glück auf Erden beschieden. Sorgt dafür, Kinder meines Geschlechtes, daß ihr im Himmel euch gute Fürbitter gewinnet. Was der Sterbende sprach, hat die folgende Zeit erfüllt. Einst saß unser Geschlecht ehrenvoll in den großen Städten und in der Landschaft, [] es sind wenige davon übriggeblieben, hier in Thorn sind wir beiden die letzten.« Er sah finster vor sich nieder.

Dem Sohn tat der Kummer des Hausherrn leid, und er versuchte gutherzig zu trösten: »Ach, Herr Vater, hätte der arme selige Vetter Hochmeister doch, bevor er schwermütig wurde, noch einmal auf die hinterlistigen Heiden losgeschlagen. Blieben sie stärker, so starb er im Felde mit leichtem Herzen. Und wegen seiner Prophezeiung grämt Euch nicht. Euch ist doch auch manches gelungen in Eurem Leben, und im Artushofe schweigen alle mit Achtung, wenn Ihr einmal das Wort ergreift. Waren die Alten trübselig, warum sollen wir's sein.«

»Du sprichst in kindischem Mut«, antwortete Marcus, »höre weiter. Du hast deinen Großvater nicht gekannt, auch von ihm bewahre ich ein Gewand.« Er öffnete die andere Hälfte des Schrankes, ein Büßerkleid hing darin. »In seiner Zeit war der Deutsche Orden schwach und hilflos, die Ordensherren verdorben durch Schwelgerei und Unzucht, wie sie in der Mehrzahl noch jetzt sind; hochmütig pochten sie auf ihren Adel, sie versagten uns alten Geschlechtsgenossen aus den Städten die Aufnahme in die Bruderschaft, weil wir Kaufmannschaft trieben und Bürger waren, und verteilten die Ämter des Ordens an fremde Abenteurer aus dem Reiche, die gewöhnt waren, von Raub zu leben, und die auch als Ordensritter gleich Räubern in unserm Lande hausten. Die Tyrannei wurde dem Lande unleidlich, zum Unheil war der Orden geworden, und ein Unheil war die Hilfe, welche das Land zur Zeit deiner Großväter dagegen fand. In offener Empörung kämpften Städte und Landschaft gegen den Orden, und sie, die sich Deutsche nannten, gaben ihr Geld und ihr Blut dafür, daß der Pole ihr Schutzherr wurde. Damals war im Lande alles feindlich geteilt, Brüder und Nachbarn in grimmigem Kampf gegeneinander. In unserer Stadt gab es viele, welche dem Hochmeister anhingen und die Stadt der deutschen Herrschaft bewahren wollten. Auch dein Großvater gehörte zu den Freunden des Ordens. Da ich ein kleiner Knabe war, wurde ich vor ein Gerüst geführt, das dort vor unserem Hause gezimmert war, und sah, wie die Häupter ansehnlicher Bürger in den Sand fielen. Zuletzt erkannte ich meinen Vater. Er ließ mich durch den Mönch, der neben ihm stand, auf das Gerüst heben, küßte mich, sah mich aus hohlen Augen an und sprach mir leise in das Ohr: ›Du wirst mich rächen, Marcus.‹ Seitdem sehe ich zuweilen am Boden das schwarze Blut, und ich höre, wenn ich allein bin, die heisere Mahnung in meinem Ohr.« Er hielt inne, auch der Sohn starrte bleich auf das blutgetränkte Gewand. Endlich fuhr Marcus fort: »Der Bruder meines Vaters, der mein Pate war, hielt zur polnischen Partei, er rettete mir das Erbe und erzog mich in Treue. Wundere dich nicht, Georg, daß dein Vater ein schweigsamer [] Mann geworden ist, nur kurz war das Glück, welches mir mit deiner lieben Mutter, der Schwester meines Spielgesellen Hutfeld, in das Haus geführt wurde, sie ging zu den Engeln und ließ dich mir zurück. – Ungern gieße ich den bittern Trank in den Becher deiner Jugend, aber der Tag ist gekommen, wo dein sorgloser Mut durch ernste Gedanken gebändigt werden soll. Erkenne, daß ich dich nicht wie einen ungezogenen Knaben behandle, und hüte dich, mir fernerhin zu mißfallen.«

Er wandte sich zum Gehen, Georg eilte ihm nach und sprach mit tränenden Augen: »Ich danke Euch, Herr Vater, für Eure Liebe und Euer Vertrauen und daß Ihr mich so gütig straft. Gefällt es Euch, Herr, so sagt mir noch eins, worum ich in Demut bitte: Ist's nach Eurem Wunsche, wenn ich mich für einen Deutschen halte gegen die Polen?«

Der Vater hielt an und antwortete mit Überwindung: »Ich denke, dir ist nicht not, darum zu sorgen. Du bist ein Sohn, der im Hause des Vaters lebt, und der Vater richtet dir den Willen. Zuerst gebietet dir der Vater, dann der Rat. Wirst du einst zum Ratmann der Stadt erkoren, dann erst darfst du deine eigenen Gedanken betätigen.«

Als Marcus die Tür verschlosesn hatte, fragte Georg erstaunt: ›War dies mein Vater? Er sah höher aus als sonst, und so gewaltige Rede habe ich nie aus seinem Munde vernommen; er wäre wohl strenger gewesen, wenn er gewußt hätte, daß wir den Frauenbruder garstig vexiert haben.‹ Scheu blickte er durch die Dämmerung nach dem offenen Schrank, dessen Tiefen wie schwarze Schlünde gegen ihn gähnten. ›Vom Großvater hat mir oft die selige Tante erzählt, und meine Gesellen haben mir sonst sein Schicksal vorgeworfen. Jetzt wagt es keiner mehr. Dennoch ist es hart, mit diesen Totengewändern eingesperrt zu sein.‹ Er drückte die Schranktüren zu, eilte an das Fenster und zog, bis es ihm gelang, zu öffnen. Dort atmete er frische Winterluft, sah die heimziehenden Landleute, die geschäftigen Bürger, welche Tische und Kasten vom Markte in die Häuser trugen, und hoch über den dunklen Schatten der Erde den lichten Abendhimmel; da wurde ihm leichter zu Sinn. ›Also ich bin von dem Blute, dem Hochmeister entstammen? Ich grüße Euch, mein Kumpan, Herzog Albrecht von Brandenburg! Der Vater trägt, wie ich merke, seinen Stolz in der Tasche, ich wollte, er zeigte ihn auf dem Markte. Meine Ahnen haben als die Vornehmsten dem Adel geboten, jetzt drängen wir uns mit den Junkern vom Lande, wenn wir zufällig auf derselben Bank sitzen, und höhnen einander in wilden Reden. Der lange Henner Ingersleben, der weder Gut noch Geld hat und als Einlieger bei seinen Spießgesellen auf dem Lande haust, weigert sich höhnisch, mit uns Stadtknaben im Ringelrennen zu reiten und schalt uns Bürgerpack. Treffen wir uns auf der Heide, so ist ausgemacht, daß wir einander schlagen, bis einer [] unter dem Pferde liegt. Auch mit dem Polen und seiner Sippschaft hängt jetzt ein Handel, den wir in Frieden schwerlich zu Ende bringen; aber Junker und Polen sollen merken, daß wir Kinder von Thorn uns gegen sie zu behaupten wissen.‹ Drohend hob er die Faust, aber er sah gleich darauf wieder scheu in der Stube umher. ›Als ich vor Jahren auf dem Danziger Schiff nach Schonen fuhr, um unsere Heringstonnen heimzuholen, und der dänische Seeräuber uns anlief, da sprang ich mit den andern auf sein Verdeck, obwohl ich ein Knabe war, und der Schiffer Hendrik rühmte die Hiebe des Dussek, den ich gegen die Dänen schwang.‹ Doch trotz dieser tapfern Reden hielt er sich vorsichtig in der Nähe des Fensters. Draußen war es finster geworden, nur einzelne Tritte klangen auf den Straßen, in den Häusern glänzten Lichter und flackernde Herdfeuer, um die Schänken summte das Geräusch lustiger Gesellschaft, und vom Artushofe her klang die Tanzmusik. ›Die Pfeifer hätten auch nicht nötig, so gellend zu locken, ich vernehme die Ladung ohnedies. Ob Eva Eske wohl nach mir fragt? Ich denke, sie erwartet, daß ich mit ihr tanze. Wäre ich dort, ich hätte den Vortritt, weil ich beim letzten Stechen das Beste gewonnen habe. Jetzt wird sich Vetter Matz Hutfeld, die teige Bürgermeistersemmel, obenan auf das Brett schieben. Matz stolperte neulich beim Tanze über mein ausgestrecktes Bein und fiel hin, mich soll wundern, ob sein Vater trotzdem im Rate für mich sprechen wird.‹ Auf der Straße sangen vorübergehende Gesellen ein Liebeslied, Georg summte es leise mit. ›Ach, das fremde Mädchen hat ein holdseliges Gesicht, und mich ärgert sehr, daß ich sie gekränkt habe, sie starrte mich an in Schreck und Scham, ich kann den Blick nicht vergessen; ich muß erfahren, wer sie ist und bei wem sie haust, ich möchte nicht, daß sie mich für ganz unbändig hielte. Vielleicht berede ich meine Genossen, daß sie ihr eine Nachtmusik bringen, dann spiele ich die Laute, und Lips Eske streicht das Bassettel.‹ Lange erfreute ihn dieser Gedanke, und er summte eine zierliche Weise, die zu dem Ständchen paßte. Auch als die Abendglocken läuteten und er das Gebetbuch in der Tasche fühlte, dachte er: das läuft niemals weg, und begann eine neue Melodie. Zuletzt aber fühlte er die Kälte und den Hunger, und auch die finstere Stube bereitete ihm Sorge. ›Der Herr Vater sitzt wohl im Artushofe bei seinem Trunke, und Barbara getraut sich nicht ohne seine Erlaubnis, Licht und Nachtkost zu bringen. Es ist zuweilen mühseliger, ein Sohn zu sein als ein Vater.‹

Da knarrte es leise längs der Hauswand, an dem Seile, welches aus der Giebelluke hing, glitt ein dunkles Bündel herab, und eine Stimme flüsterte vor dem Fenster: »Seid Ihr noch bei Leben und Gesundheit, Junker?«

»Bist du's, Dobise?«

[] »Niemand sonst. Wenn Ihr Euren Arm ausstreckt, könnt Ihr den meinen fassen und mich ans Fenster ziehen.«

Das tat Georg. Der Ankömmling, dessen Fuß in dem Haken des Seils haftete, klammerte sich an das Fensterbrett und blickte ängstlich in den Raum. »Was bringst du, Hausteufel?« fragte Georg.

»Nichts vom Teufel«, warnte der andere, »denn es ist Nacht, und die schwarzen Geister wandeln. Eure Gesellen grüßen Euch, sie ziehen nach dem Abendtanz in die Trinkstube zu Jan Rike, dort erwarten sie Euch. Haltet das Seil fest, Ihr könnt nach mir auf den Boden steigen und durch das Hinterhaus ins Freie. Schlagt den Haken an das Fenster, so findet Ihr Euch auf demselben Wege zurück, und kein Herr merkt Eure Fahrt.«

»Wo ist der Vater?«

»In seiner Kammer, die er nicht mehr verläßt.«

Georg dachte sehnsüchtig an die harrenden Genossen, aber er ermannte sich: »Ich bin hier verstrickt und darf nicht entweichen.«

»Bindet Euch ein Strick, so löst Euch der andere«, erinnerte Dobise, an dem Seil schüttelnd.

»Dennoch bleibe ich hier, man muß seinem Alten auch einmal etwas zu Gefallen tun. Den Gesellen sage, daß der Rat über uns ist; und hör, mahne heimlich die Magd, daß sie mir ein Licht und gute Kost zuträgt, denn es ist einsam im Finstern.«

»Ihr wollt doch die Nacht nicht allein bleiben mit den Unholden der Stube?«

»Willst du zu mir hereinkommen und bis zum Morgen hier weilen, so habe ich nichts dagegen«, versetzte Georg.

»Lieber wollte ich sterben«, raunte Dobise in ehrlichem Grauen und ließ das Fenster los, so daß er an dem Seile baumelte.

»So fahr dahin, du Narr.«

»Auf der Treppe will ich die Nacht sitzen um Euretwillen«, flüsterte der andere handelnd, »dafür bitte ich Euch, morgen um Silber bei den Pfaffen einen Zettel für mich zu kaufen. Denn sie sagen, daß die Teufel Macht über jeden erhalten, der ihren Rock anzieht, und da ich Euch zuliebe mit Kuhschwanz und Hörnern gesprungen bin, so hoffe ich, werdet Ihr Euch meiner Seele erbarmen. Alle vierzehn Nothelfer! Seht Ihr die feurigen Augen hinter Euch?«

Georg wandte sich erschrocken um. »Es ist die Goldhaube der Mutter«, sagte er beruhigt.

Dobise schwieg und sah spähend in den Raum.

Auf dem leeren Markt klangen Tritte, welche sich näherten. »Schnell, mach dich fort«, mahnte Georg und trat vom Fenster zurück. Im nächsten Augenblick vernahm er Gebrüll und einen Schreckensruf und sah den Dobise schleunigst am Seil nach der Höhe klimmen. Unten murmelte es leise, dann wurde alles still,[] der Nebel quoll in den Straßen, die roten Lichter, welche hier und da blinkten, schwanden eines nach dem andern, in der Ferne schlug dumpf die Uhr von St. Johannes, und zuweilen blies der Türmer die gewohnte Weise. Spät kam die alte Barbara, sie trug die Abendkost, eine Lampe, Strohsack und Decke. Georg antwortete ihrem bekümmerten Nachtsegen mit freundlichem Lachen, warf sich auf sein Lager am Boden und entschlief ruhig.

Der Vater aber in seiner Kammer wachte, er saß über ein Buch gebeugt, dessen Seiten er mit vielen Zeichen beschrieben hatte, zählte zusammen und rechnete. Die Zeichen und Zahlen des Buches, unverständlich für jeden andern, bedeuteten nicht Kaufmannsgüter und Summen seines irdischen Handelsgeschäftes, es war die Rechnung, die er als frommer Christ für das ewige Leben führte. Die frommen Bruderschaften standen darin, denen er angehörte, jede mit vielen Tausenden Paternoster und Ave-Marias, mit ganzen Rosenkränzen und anderen Hilfsmitteln zur Seligkeit, welche die Bruderschaft als gemeinsamen Schatz für ihre Mitglieder gutgemacht hatte. Auch seine eigenen guten Werke waren darin verzeichnet, die frommen Spenden und Almosen, die er ausgeteilt, und die Bußübungen, denen er sich unterzogen. Seite auf Seite überschlug er und rechnete zusammen, am sorgfältigsten, was er der Mutter Gottes und seinem Schutzpatron, dem heiligen Johannes, zu Ehren erwiesen hatte, damit sie ihm ihre besondere Neigung zuwendeten. Es war eine große Summe von Gebeten und von guten Werken. »Wir flehen und opfern unablässig«, seufzte er endlich, »aber nimmer erfahren wir, wie hoch die Heiligen den Aufwand schätzen, den wir für sie gemacht, und wir müssen den Priestern vertrauen, wenn sie uns gute Vertröstung geben und bestätigen, daß unsere Rechnung mit dem Himmel günstig für uns stehe. Ich bin ein alter Mann geworden über der Arbeit dieses Buches, aber den größten irdischen Wunsch, um den ich flehe, entbehre und opfere, haben die Heiligen nicht erhört.« Er barg das Buch in seinem Schrein und ging mit großen Schritten und gehobenem Haupte in der Kammer auf und ab, die Augenbrauen zogen sich finster zusammen, die Faust ballte sich, und wenn das Licht seine düstern Züge erleuchtete, sah er einem harten Kriegsmanne ähnlicher als einem friedlichen Kaufherrn.

Der Herr Magister

Marcus König galt für den reichsten Großhändler der Stadt, er war Herr eines Landgutes mit befestigtem Hause, er besaß Wälder, Wiesen und Mühlen nicht nur im Stadtgebiet, auch jenseit der Brücke in Polen, ihm gehörten mehrere Bordinge und Frachtkähne [] auf der Weichsel, und man wußte, daß er in Gesellschaft mit großen Kaufherren aus Danzig und Lübeck weit über die See handelte. Wer in sein Kontor, ›die Kammer‹, trat, erkannte, daß der Hausherr sich viel in der Welt versucht hatte; neben den Schränken mit Handelsbriefen und Warenproben hingen zwei halbe Rüstungen aus schwarzem Eisenblech, wie die Seefahrer im Kampfe zu tragen pflegten, darunter ein Feuerrohr, Piken und Enterbeile, an der Decke zusammengerollte Wimpel und Flaggen verschiedener Schiffe; in der Ecke lehnten gewaltige Wurfspeere, welche der Nordländer zum Streit gegen Seeungeheuer gebraucht, und zwischen ihnen das riesige Horn eines Ungetüms. Auch das Marienbild, welches über dem Weihkessel an der Tür hing, war mit einem Rosenkranz von großen roten Korallen umgeben, die nur im Südmeer erfischt wurden. Die oberen Stockwerke des Hauses, die Keller und die Speicher in dem langen Hof waren mit Kaufmannsgut gefüllt, dort lagerten Kupfer und Pelzwerk, Wachs und Honig der Ostländer, aber auch die köstlichen Waren, welche aus dem fernen Westen herzugefahren wurden, süßer Wein und Gewürz, teure Gewebe, Samt und goldgemusterte Stoffe aus Flandern und Genua. Dennoch war es ein stilles Haus und eine kleine Dienerschaft, mit welcher der reiche Mann seinen Handel betrieb. In der Kammer saß nur ein Gehilfe ihm gegenüber, Bernd Gusek, ein demütiger Mann, welcher ›der Lieger‹ hieß, weil er eigenen Anteil an vielen Geschäften hatte und das Vorrecht, gleich dem Herrn mit der Marke der Handlung zu zeichnen; er war wohlbekannt in allen Oststädten von Lemberg bis Danzig und galt unter den Polen soviel als der Herr selbst. Ein niedriger Seitentisch war für Georg aufgestellt, der als Gesell in der Handlung diente. Im Hofe und in den Speichern aber wirtschaftete mit einigen Packern der Hausknecht Dobise, ein Unfreier vom Gute des Hausherrn. Sonst wußten die Neugierigen weniger von dem reichen Marcus zu erzählen als von andern Brüdern des Artushofes. Denn er war nach dem Tode seiner Hausfrau viele Jahre auf Handelsfahrten in der Fremde gewesen, während seine unverheiratete Schwester ihm den einzigen Sohn erzog. Erst als die Schwester starb, war er heimgekehrt, ein ernster, schweigsamer Herr, der sich stolz hielt gegen die Bürger, aber auch unter den Brüdern des Artushofes, wo er von seinen Vorfahren her einen Ehrensitz an der vornehmsten Bank innehatte.

Am Tage nach dem Teufelstanz schrieb Marcus in der Kammer über Geschäftsbriefen, auch Georg, der seiner Haft entledigt war, saß mißvergnügt auf dem Schemel, als der Ratsbote eintrat und den Hausherrn mit seinem Sohne vor den Rat lud. Die alte Magd reichte dem Herrn klagend seinen Hut: »Das wird für Euch ein saurer Gang. Sonst, wenn Lischke, der Bote, in das Haus kam, hielt er gern bei der Küchentür an, er saß auf dem Schemel nieder [] und erwartete, daß ich ihm ein Glas Danziger zutrug, heute sah er feindselig um sich und wich vor dem Schemel zurück, wie ein Kater vor dem heißen Rost.«

Nicht nur der Diener war in Aufregung, auch die Herren des Rates saßen steif auf ihren Stühlen, und sogar der älteste Bürgermeister, Burggraf Friedewald, der allen ehrwürdig war mit seinem langen weißen Haar und dem freundlichen Antlitz, begann feierlicher als sonst: »Bevor der Rat Euren Sohn straft, Herr Kumpan, muß ich Euch vorhalten, daß heut Barthel Schneider mit seinem Gesellen eine Anzeige vor uns gebracht hat. Als er gestern in später Abendstunde bei Eurem Hause vorbeiging, hat er nahe an Eurer Wand über sich in der Luft eine schwarze scheußliche Gestalt gesehen, die ihm als der leibhaftige Teufel kenntlich wurde. Diese Gestalt hat sich in der Luft überschlagen und gegen die redlichen Männer, den Schneider und seinen Gesellen, so greulich gebrüllt, daß beide entsetzt auseinanderfielen, bis sie auf dem Boden lagen. Von dort, sagt Barthel, habe er noch gesehen, daß der böse Geist an Eurem Hause in die Höhe flog, wobei sein Schwanz immer länger wurde, bis er endlich in Eurer Giebelluke verschwand. Der Geselle sagt aus, daß er ein unmenschliches Gelächter vernommen habe und daß obenerwähnter Schwanz, welcher gerade herabhing, am Ende gekrümmt gewesen sei wie bei einem Fleischerhunde. Ungern teile ich Euch das mit, da Ihr als ruhiger und gottesfürchtiger Mann bekannt seid, doch Euch selbst wird nicht verborgen bleiben, was viele meinen, daß der Frevelmut Eures Sohnes und sein Spiel mit dem Teufel dem Bösen Zugang in Euer Haus bereitet habe. Arges Gerücht aber verdirbt den besten Mann, und des Rats Verpflichtung ist unter anderem auch, Beunruhigungen christlicher Seelen zu verhindern, deshalb werdet Ihr wohltun, unverzüglich die frommen Väter zu laden, damit sie dem Bösen Euer Haus verleiden, und werdet fortan Eure Hausgenossen in strenger Zucht halten, damit das Geräusch in der Stadt wieder gestillt werde und unsere und Eure Ehre im Lande nicht durch schädliches Gerücht gekränkt.«

Marcus warf einen forschenden Blick auf seinen Sohn, der betroffen an das Seil des Dobise dachte, und schwieg eine Weile, wie einem bescheidenen Manne schicklich war, wenn ihm Gewichtiges in das Ohr klang. Endlich begann er: »Ich bedanke mich bei dem ehrbaren Rat für die Vermahnung, und ich werde zur Stelle bei den ehrwürdigen Dominikanern um die Hilfe der Heiligen anhalten. Ich selbst habe in meiner Kammer, wo ich gerade besser als mit weltlichen Dingen beschäftigt war, einmal ein fernes Brummen vernommen und mich dabei beruhigt, daß es vom Markt herkomme. Gegen die Aussage des Barthel Schneider vermag ich nichts vorzubringen, er ist aus der Neustadt und deshalb geneigt, von unserer Altstadt Unfreundliches zu vermelden, und er ist zwar bekannt als [] ein redlicher Mann, aber nicht als ein herzhafter. Einen ehrbaren Rat bitte ich nur, wohlmeinend zu erwägen, daß der nächtliche Spuk nach Aussage nicht in meinem Hause sichtbar wurde, sondern außerhalb, und wenn er sich unter meinem Dach verloren haben soll, so mögen vielleicht die Erschrockenen dies nicht deutlich gesehen haben, zumal die Nacht finster war.« Darauf wandte sich der Burggraf gegen Georg und strafte diesen stärker mit Worten: »Denn obwohl die Maske des Teufels in der Fastnacht von Thorn nicht unerhört ist, so bleibt sie immer bedenklich, vor anderen für junge Gesellen des Artushofes; und obwohl das Vexieren mit Schweinsblasen und Lederkolben ebenfalls gebräuchlich ist, so ist dabei doch billige Rücksicht zu nehmen auf fremde Gäste und zumeist auf heilige Männer. Beide aber sind durch den Narrentand gekränkt worden, und der Rat muß Euch, weil Ihr den Frieden der Stadt durch Wort und Gebärde geschädigt habt, zu einer starken Pön verurteilen, zumal uns allen wohlbewußt ist, daß Ihr nicht zum erstenmal wegen Ungebühr vor dem Rate steht. Da Ihr öfter gemahnt worden seid und doch nicht Ruhe haltet, so muß der Unwille der Stadt um so größer werden.«

»Hochgebietender Herr Burggraf«, antwortete Georg mit aufrichtigem Kummer: »Mich selbst verwundert sehr, daß gerade ich zuweilen das Unglück habe, einen Anstoß zu geben, denn ich möchte gern in Frieden leben.Wenn die anderen Vögel davonfliegen, an meinen Federn haftet das Pech, daß zuletzt der Bote des Rats seine Mütze über mich wirft.«

»Wollt Ihr damit sagen«, versetzte der Bürgermeister, »daß Ihr von anderen angestiftet seid, so mögt Ihr in diesem Fall vielleicht Eure Strafe mildern, wenn Ihr die Rädelsführer angebt.« Und als der alte Herr so sprach, zuckte trotz der strengen Worte doch ein Lächeln um seinen Mund. Georg errötete über die Zumutung: »Ihr wißt selbst, hochgebietender Herr, daß mir nicht ziemen würde, einen meiner Gesellen zu verraten oder gar das Urteil, welches gegen mich gefällt ist, andern an den Hals zu reden.«

Da Herr Friedewald dasselbe wußte und auch daran dachte, daß die andern Teufel zum Teil Söhne von Ratsherrn gewesen waren, so begnügte er sich zu sagen: »Wenn Euch der Rat nach dem Namen Eurer Kumpane fragen wollte, würdet Ihr ihm die Antwort nicht weigern, diesmal geht die Klage gegen Euch allein. Dagegen ist wieder dem Rate berichtet, daß ein Bäuerlein von den Stadtgütern mit einem eisernen Flegel gefährlich gegen Eure Genossen losgeschlagen und daß der fremde Pole Euch mit gezückter Waffe angefallen hat. Beide haben den Frieden der Stadt gebrochen, das Bäuerlein, welches uns angehört, wird nach Gebühr gerichtet werden, und gegen den Polen steht Euch selbst eine Klage zu wegen des Hiebes, welcher dem Vernehmen nach zweizöllig und blutig war.

[] Da der Pole als Gast der Stadt anwesend ist und sich als fremd zu unserm Brauch und Recht bekannt hat, so will der Rat ein übriges tun und Eure Strafe erlassen, wenn Ihr davon absehet, den Gast zu verklagen.«

»Ich denke, gebietende Herren«, versetzte Georg, »mein Recht mir selbst von dem Pietrowski da zu holen, wo der Friede der Stadt mir nicht die Waffe bindet.«

»Ich merke«, sagte Herr Friedewald strafend, »daß Ihr geringe Ursache habt, friedliche Gesinnung vor uns zu rühmen. Wahrt Euch auch auf fremdem Grunde vor Händeln und Rache, damit der Stadt nicht Euretwegen neue Sorge entstehe. Heut aber entnehme ich aus Euren Worten, daß Ihr der Klage entsagt. Fertigt die Vergleichung zu Papier, Stadtschreiber.«

Als Vater und Sohn das Ratszimmer verließen und der Vater schweigend mit gesenktem Haupt über den Markt schritt, dachte Georg reuig, daß er sehr zornig sein müsse, und der Kummer des Alten tat ihm von Herzen weh. Erst als sie vor ihrem Hause standen, sah Marcus nach der Höhe und sprach, seinen Sohn scharf anblickend: »Dort hängt der Haken mit dem Seil aus der Luke, sage dem Dobise, daß er ihn zur Stelle einzieht; ich gehe zu den Predigermönchen.«

»Herr Vater«, bat Georg, »warum wollt Ihr nicht bei unserem Pfarrer von St. Johannes Hilfe suchen, was kümmern uns die Mönche in der Neustadt.«

»Sie kümmern uns, weil sie gegenwärtig die Herrschaft unter den Geschorenen führen. Der Pfarrer von St. Johannes ist beargwöhnt als ein Unzufriedener.«

Kurze Zeit darauf bewegte sich ein heiliger Zug von der Neustadt über den Markt, zwei Predigermönche, vor ihnen die Knaben mit Lichtern, der Sakristan mit Wedel und Sprengkessel, ein junger Bruder mit dem großen Buche. An der Tür empfing der Hausherr die hilfreichen Gäste, die Knaben zündeten die Lichter an, welche der Wind ausgeblasen hatte, und die Mönche umschritten feierlich die versammelten Hausgenossen, sprachen die lateinischen Gebete und besprengten die Knienden mit dem Weihwasser, wobei Georg ohne Freude erkannte, daß der Zorn des Pater Gregorius ihm das ganze Gesicht mit dem Wedel bestrich. Als die Menschen notdürftig gegen die Einwirkungen des Satans geschützt waren, durchzogen die Brüder das Haus, forderten in jedem Raume den Bösen auf, zu entweichen, sprengten und räucherten jede Ecke. Der Demütigste von allen war Dobise, er hatte sich aus eigenem Triebe ein Wachslicht angezündet, das er mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen vor sich hertrug, er murmelte das Ave-Maria, dessen er mächtig war, unablässig vor sich hin und benutzte jede Gelegenheit, sich auf die Knie zu werfen.

[] Als alles nach Gebühr vollendet war, führte der Hausherr die Brüder zur Wohnstube, wo bereits der Weinkrug mit den Bechern stand, er bedankte sich wieder ehrerbietig wegen Säuberung seines Hauses und empfahl sich und die Seinen dem Gebet der Mönche. »Und jetzt bitte ich, daß die ehrwürdigen Väter eine Stärkung nicht verschmähen.«

»Noch haben die Heiligen nicht die Sühne, welche sie sich begehren müssen nach der Kränkung, die einem Geweihten zugefügt wurde«, versetzte Pater Gregorius feindselig abweisend.

»Mein armer Sohn ist bereit, sich jeder Buße zu unterwerfen, welche Ihr ihm auferlegen werdet.«

»Wenn er an drei Festtagen vor dem andächtigen Volke büßend befunden wird, nicht auf den Stufen des Altars, sondern auf dem Fußboden, nicht auf seinen Knien, sondern ausgestreckt, und wenn er darauf gebührlich opfert, so mag die Kirche ihn seiner Sündenschuld erbarmend entledigen.«

Das Antlitz Georgs rötete sich und er ballte die Faust, aber der Vater hob die Hand, daß er schweige. »Wenn er auch tut, was Ihr frommen Väter ihm auferlegt, so weiß ich doch, daß Euer Gebet heilkräftiger für ihn sein wird als seine eigene Buße, und vor allem möchte ich Euren guten Willen erwerben. Deshalb flehe ich, daß Ihr als Zeichen günstiger Meinung nicht verschmäht, von diesem Sekt zu trinken, welcher das Beste meines Kellers ist.«

Pater Gregorius ergriff nachlässig den Wedel, sprengte um den Wein, wobei er sich hütete, Wassertropfen in den Trunk zu werfen, leerte vornehm das Glas und wandte sich dann im stillen Gebet vor das Muttergottesbild in der Nähe der Tür. Als Dobise, welcher dort unter den Knaben stand, die neue Andacht des großen Mannes sah, hielt er es für nützlich, ihm wieder zu leuchten, und warf sich mit seiner Kerze vor den Füßen des Mönches zu Boden. Unterdes nahm Marcus den anderen Bruder, der dem Wein volle Ehre erwiesen hatte, ans Fenster und sprach bekümmert: »Ich bitte Euch, ehrwürdiger Bruder, mir zu sagen, wie ich den guten Willen unseres Vaters gewinnen kann; gern würde ich ihm meine Verehrung erweisen, damit er des Mutwillens nicht mehr gedenkt und fortan mit treuer Gesinnung für mich und meinen Sohn zu bitten vermag. Denn hart ist die Buße, welche die Heiligen meinem armen Georg auferlegen wollen, und gern vermiede ich die Unehre.«

»Vielleicht«, versetzte der Mönch wohlwollend, »wenn Ihr ein ansehnliches Faß von demselben Wein an unserer Pforte abladen ließet, würde mein Bruder besseres Vertrauen gewinnen.«

»Ein ansehnliches Faß«, wiederholte Marcus erstaunt, »Ihr wißt, daß dieser Wein nur in kleinen Tonnen aus Welschland zu uns kommt. Doch bin ich bereit, gegen Abend zwei Legel nach St. Nikolaus zu schaffen, diese soll mein Knabe selbst überbringen.«

[] Der Mönch winkte mit einem Blick des Einverständnisses, und die frommen Brüder verließen das Haus im Zuge, nachdem sie die Hausbewohner gesegnet hatten.

Georg trat mit flammendem Blick vor den Vater. »Niemals unterwerfe ich mich der Buße des boshaften Mannes.«

»Wer länger gelebt hat als du, der erkennt, daß alles seinen Preis hat. Am kostbarsten aber ist der Zoll, den wir auf dem Wege in jenes Leben zu entrichten haben. Gibt jemand den Pfaffen ein Recht über sich, so darf er sich nicht wundern, wenn sie den Vorteil unmäßig benutzen. Denn die Geistlichen, wie sie auch sein mögen, haben die Macht, jedem in diesem und noch mehr in jenem Leben zu schaden oder zu nützen. Kein Kaiser und kein König vermag ohne ihre Hilfe und Fürbitte zu bestehen, und die von St. Nikolaus sind, obgleich schärfer als andere in Thorn, doch noch nicht so unersättlich als größere, und kluger Sinn vermag sie noch zu gewinnen. Und ich sage dir«, fuhr er befehlend fort, »du wirst dich vor ihnen demütigen, sie aber werden, wie ich hoffe, dir die öffentliche Unehre erlassen.«

Als Georg gegen Abend mit Dobise den Wein vor der Klosterpforte abgeladen hatte, senkte er, seinen Stolz mühsam bändigend, vor dem Pater das Haupt und bat mit höflichen Worten, die er sich mühsam überlegt hatte, um Verzeihung. Der finstere Blick des Paters glitt auf die Tönnlein herab und wurde etwas freundlicher, so daß er dem Sünder nur als stille Buße auflegte, an drei Tagen eine vorgeschriebene Anzahl von Gebeten vor jedem Altar der Klosterkirche zu sagen. Mit diesem Bescheid ging Georg mißmutig heim.

An einem der nächsten Tage saß Georg in der dunkeln Hinterstube des Hauses und berechnete die Unkosten, welche eine Kiste Samt und Brokat von Venedig bis zur Ankunft in Thorn verursachen würde. Die Arbeit rötete ihm die Wangen, und da er sich mehrmals in das Haar gefahren war, stand es ihm aufgeregt um den Kopf, er sah zuweilen auf ein Rechenbrett mit wunderlichen Zeichen und war unzufrieden mit dem Schreiberohr, der Tinte und der schweren Rechnerei. Unvermerkt war der Vater herangetreten; als Georg das Rohr weglegte und tief aufatmete, ergriff er das Blatt und sah die Rechnung durch: »Samt und Brokat haben klein Gewicht, das konntest du wissen«, tadelte er, »auch hast du vergessen, daß die Herrschaft von Venedig dem deutschen Kontor beim Zoll zehn Prozent vom Werte der Ware nicht in Rechnung bringt. Die Berechnung über Augsburg ist richtig, der Danziger nimmt die Lagermiete nach dem Wert der Ware, sobald er die Kiste unter sein Dach bringt, und es ist deshalb unsere Sache, mit dem Bordschiff bei der Hand zu sein, damit wir vom Deck einladen.« Das Blatt weglegend, fuhr er fort: »Wie lange ist es her, seit du die lateinische Schule von St. Johannes verlassen hast?«

[] »Drei Jahre, Herr Vater, und ich mußte länger dort sitzen als ein anderer, ich war der größte Schüler, und die kleinen Schützen lachten, wenn ich einmal nicht Bescheid wußte«, versetzte Georg mit ehrlichem Abscheu.

»Ich habe mit Bürgermeister Hutfeld, deinem Paten, deinethalben gesprochen; einiges, was er mir sagte, vermag er mit guten Gründen zu stützen; jetzt sitzest du im Artushofe unter den jüngsten, ich denke, du hast den Willen, einen Ehrensitz zu erwerben.«

»Ich will der Stadt keine Schande machen, Herr Vater.«

Marcus nickte. »Es kommt eine neue Zeit, und wer jetzt über das Wohl der Stadt verhandeln will mit den Polen oder auch fern im Reiche, der muß des Lateinischen mehr mächtig sein, als du bist. Gern hätte ich dich an die Oder nach Frankfurt geschickt, damit du dort bei den Juristen das Recht lerntest. Aber die Handlung konnte dich nicht entbehren. Noch andere Knaben aus dem Artushofe sind in derselben Lage, daß die Väter sie im Hause nicht ganz missen wollen. Darum haben einige von uns vereinbart, euch dem neuen Magister der Johannesschule in der Art zu übergeben, daß ihr gesondert von den andern in Stil und lateinischer Kanzlei belehrt werdet. Es wird dem Magister sowohl durch Geld als auch durch Getreide gutgemacht werden.«

Georg vernahm bekümmert diesen Befehl, aber im nächsten Augenblick erhellte sich sein Gesicht, und mit größerer Freudigkeit, als der Vater erwartet hatte, antwortete er: »Ich bin willig, Herr.«

Am Nachmittage saß Konrad Hutfeld wieder seinem Schwager gegenüber, diesmal in besserem Einvernehmen; beide in der Absicht, den geladenen Magister zum lateinischen Lehrer ihrer Söhne zu werben. Der Gelehrte wurde eingeführt und begrüßte geziemend die beiden. »Hochansehnlicher Kaufherr und Wirt, namhafter Herr Bürgermeister, es geschieht auf Grund einer Aufforderung, daß ich hier eindringe. Gern bin ich bereit, zu vernehmen, womit ich meinen günstigen Herren zu dienen vermag. Sind hier auch meinerseits Bitten statthaft, so wollte ich mit gebührendem Respekt anheimgeben, daß der Ofen in der mir überwiesenen Schulstube qualmt und daß meine Schützen Rauch schlucken, was ihre Aufmerksamkeit nicht befördert und auch mir erschwert, in dem schwarzen Dampf die Übeltäter zu erkennen, obgleich dies wegen der Abrechnung am Samstage notwendig ist.«

Der Bürgermeister stellte Abhilfe in Aussicht; der Magister nahm auf dem bereitstellenden dritten Stuhle Platz und empfing den Wein, welcher ihm von dem Hausherrn eingeschenkt wurde. Er kostete, setzte erfreut ab, leerte das Glas und rief: »Dieser Rivesalt hat lange Jahre in einem guten Keller gelegen.«

Da lächelte der Hausherr ein wenig, und der Bürgermeister machte den verabredeten Vorschlag. Doch der Magister vernahm die [] Zumutung ohne Freude: »Ungern nehme ich erwachsene Jünglinge in die Lehre, noch unlieber teile ich ihnen besondere Stunden zu, denn selten lernt etwas Ordentliches, wer gewöhnt ist, am Abend mit der Laute durch die Gassen zu ziehen und auf das Frauenvolk an den Türen zu blicken.«

»Dennoch würdet Ihr manchen durch diese Gefälligkeit verpflichten, der Euch von Nutzen sein kann«, mahnte Hutfeld, verletzt durch die kühle Haltung.

»Es ist nicht meine Sache, gebietender Herr«, versetzte der Magister, ihn steif ansehend, »als Lehrer anderen angenehm zu sein, sondern die Knaben, welche ich lehre, sollen mir angenehm werden, das will sagen, sie sollen etwas Ordentliches lernen, denn das ist die Freude des Lehrers; wollen sie das nicht, so kränkt mich die verlorene Zeit, selbst wenn die Faulen, mit Verlaub zu sagen, Söhne eines Bürgermeisters sind.«

»So mögt Ihr mit mir reden«, antwortete Hutfeld mit Haltung, »nachdem Ihr Eure Schüler als träge erkannt habt, jetzt rate ich doch, die Sache erst zu versuchen.«

Der Magister fühlte, daß er zu eifrig gewesen war, und diese Erkenntnis bändigte den Stolz, den er als Feldherr im Kriege gegen bäurische Unwissenheit gewonnen hatte; er fuhr ruhiger fort: »Auch was Ihr von der Zulage zu meiner Besoldung gesagt habt, kann mich nicht locken. Wenn ich Eure alten Knaben in meine Lehre nehme, so tue ich es nur auf meine Bedingungen.«

»Nennt diese«, mahnte Hutfeld.

»Zunächst nehme ich sie nur auf Probe, und ich selbst bestimme am Ende des Vierteljahres das Geld, welches jeder zu zahlen hat; wer nichts lernt, zahlt doppelt, und wer mir Freude macht, weniger; denn bei den Schlechten habe ich Ärger und Mühe.«

»Ihr habt recht, Herr Magister«, lobte Marcus, dem die Gesinnung des Alten gefiel, »um das Schulgeld wollen wir also nicht streiten.«

»Noch bin ich nicht fertig«, fuhr der Magister ungerührt fort, »ich nehme keinen Knaben an, den ich nicht vorher gesehen habe, denn wir Schulmänner lesen aus den Linien des Gesichtes manches, was die Eltern nicht erkennen.«

»Einer wenigstens ist zur Stelle«, sagte Marcus aufstehend und rief in die Kammer nach seinem Sohne.

Georg trat eilig ein in dem Wams, das er in der Schreibstube trug, und grüßte den Paten; als sein Blick auf den Magister fiel, errötete er ein wenig, denn er erkannte sein Opfer vom Fastnachtsspiele. Da der kleine Magister die hohe Gestalt sah in voller Jugendkraft, die Stirne von blonden Locken umgeben, stellte er sich dicht vor den Jüngling und stützte die Arme unter. Sein scharfer Blick wurde heiter: »Einen so langen Bacchanten habe ich noch niemals [] unter meinem Zepter gehabt«, begann er endlich und lachte so laut, daß er schütterte und sich beugte, und daß Georg von der Fröhlichkeit angesteckt wurde. »Doch wie geschieht mir«, unterbrach sich der Magister, »diesen Lateiner habe ich bereits gesehen; richtig, er ist es«, und er faßte ihn am Wams und schüttelte ihn. »Ihr wollt den Teufel spielen, Ihr seid in der höllischen Kanzlei schlecht bewandert, meint Ihr, ich habe vergessen, daß Ihr in Eurer Rede ut mit dem Indikativ konstruiert habt? Ihr werdet Eurem Lehrer Not machen.« Er wandte sich kurz ab und setzte sich stracks auf seinen Stuhl.

Jetzt lächelte auch Hutfeld und fragte, um die Verhandlung zu enden: »Wollt Ihr es nicht dennoch mit ihm und den andern versuchen?«

»Die Frage ist jetzt, gebietender Herr Bürgermeister, ob er es mit mir versuchen will.« Er sprang wieder vor Georg und sprach, mit dem Finger gegen die eigene Brust stoßend: »Ich gehe nicht in die Häuser, um die Söhne reicher Leute zu unterrichten wie ein verlaufener Bettelmönch; wer bei mir lernen will, der muß zu mir kommen, und wer in meine Lehre eintritt, der wird mein Schüler und ich werde sein Meister. Lasse ich vor dem Schüler, welcher bereits ein Jüngling ist, meinen Stock in der Ecke, so muß der Schüler seinen Hochmut zu Hause lassen! Willst du ein Lehrling werden in der Grammatik und in den Skriptoren, so mußt du mir die Ehre eines Herrn zugestehen und von mir den Gruß annehmen, den ich meinen Knaben gebe; denn nur in der Zucht gedeiht die Lehre. Wollt Ihr das nicht, Junger, so bleibt zu Hause oder lauft als Teufel durch die Gassen, wie es Euch gefällt.«

Da der Gelehrte Georg als Knaben anredete, hob sich dieser trotzig, aber im nächsten Augenblick beugte er das Haupt und sprach: »Ich will, mein Herr Magister.«

Der Magister wandte sich wieder kurz um und setzte sich: »Wenn die andern nicht ärger sind als dieser hier, so will ich's versuchen.«

Dem Bürgermeister gefiel die Art des Fremden gar nicht, doch er bedachte, daß derselbe als ein gelehrter Mann und trefflicher Lehrer empfohlen war, und so wurde zuletzt mit höflichen Worten eine Schule für Knaben des Artushofes verabredet.

Der vornehmen Schüler sollten außer Georg noch zwei sein. Der eine war Matthias Hutfeld, der nächste Vetter Georgs; doch bestand zwischen ihnen keine Herzlichkeit, denn Matz sorgte lieber für sich selbst als um andere; er war ein rundlicher Gesell, der in engen Kleidern daherging wie ausgestopft, hatte ein milchweißes Gesicht mit roten Backen, große wasserblaue Augen unter weißlichen Brauen und trug sein hellblondes Haar zu einem Kolben geschnitten, der ihm die Stirn bis zur Mitte verdeckte. Er hielt [] sich für einen sehr hübschen Knaben, und weil sein Vater mächtig war, galt er auch bei vielen Mädchen dafür. Da er vorsichtig Händel und gemeine Gesellschaft mied, so wurde er als wohlgezogen gerühmt und hatte gute Aussicht, dereinst in die Ratsstube seines Vaters zu treten. Ein besserer Gesell war Philipps Eske, Sohn des Dritten Bürgermeisters, ein langer hagerer Knabe, der sich gern zu Roß mit der Stechstange sehen ließ, er sprach wenig, und es war ihm lieb, wenn Georg für ihn dachte, denn er hielt treu zu diesem. Beim Abendtanz im Artushofe suchte er mit seiner Tänzerin hinter Georg zu stehen und sprang genau wie sein Vormann, nur daß er wegen seiner Hagerkeit die Glieder in scharfen Ecken hob; er trieb auch wie Georg die Musica und strich am liebsten die Standgeige, das Bassettel, mit einem starken Bogen, der zum Krähenschießen brauchbar gewesen wäre, seine Kunst war nicht groß, aber ihn freute mehr als alles das Gebrumm der dicken Saiten. Der Magister merkte in den ersten Stunden, daß Philipps die lateinische Weisheit seines Freundes Georg bewunderte und gern einige Körnlein davon für sich aufpickte, und er änderte ihm deshalb den Vornamen in Pylades.

Da die Decke in der Schulwohnung von St. Johannes eingefallen war, weil der vornehme Rat lange die Zudringlichkeit des Regens mißachtet hatte, so wurde jetzt über einen Neubau verhandelt und der Magister mußte mit einer andern Behausung vorliebnehmen, welche nach einiger Mühe bei einem Diener des Rates beschafft wurde. Es war der ganze Oberstock des Hauses: eine große Stube, in welcher vorläufig die Schule abgehalten wurde, daneben eine Studierkammer für den Magister und auf der andern Seite der Treppe die Wohnstube, Kammer und Küche. Anna freute sich über das gute Gelaß, zumal auch der Ratsdiener und dessen Frau sich als dienstfertige Leute erwiesen. Das Haus lag unweit der Stadtmauer zwischen Altstadt und Neustadt, aus den Fenstern der Vorderseite sah man auf einen stillen Platz mit zwei alten Linden, von der Hinterseite auf einen ummauerten Raum, in welchem Karren und Feuertonnen des Rates bewahrt wurden. Seitwärts lag ein ungeheurer Schutthaufen wie ein Berg, aus welchem ein geborstener Turm und Mauertrümmer ragten. Das war die Stätte der Ordensburg, welche die Thorner vor sechzig Jahren zerstört hatten, weil sie ihnen eine verhaßte Zwingfeste geworden war. Aber auch die Umgebung der wüsten Stätte war durch Frauensorge ein wenig verschönt. Hinter dem Hause hatte die Ratsbotin, ohne daß die Herren vom Rat widersprachen, allmählich bei den Feuertonnen einen kleinen Garten angelegt mit einer schönen Sommerlaube, sie zog dort nicht nur rankende Bohnen, auch wohlriechende Kräuter und Blumen, und ein großer Fliederstrauch in der Ecke, welcher noch aus der Ordenszeit stammte, war in der ganzen Stadt [] rühmlich bekannt, so daß Frau Lischke alljährlich Kampf mit den Kindern hatte, wenn diese über die Mauer klommen, um die heilkräftigen Blüten abzureißen. Und als sie an einem warmen Tage des März ihrem Gaste die kleinen Beete wies, aus denen das erste Grün hervorsproß, vertröstete sie gutherzig: »In einigen Wochen ist alles grün, und Euch, Jungfer Anna, soll der Garten immer geöffnet sein und auch die Laube, wenn Ihr einmal den Sitz unter Blumen begehrt, wie junge Fräulein gern tun.«

So richtete Anna mit gutem Mute die neue Behausung ein. Und eines Mittags rief ihre Stimme fröhlich über den Flur: »Herr Magister!«

»Quid vis, Annule?« antwortete der Magister aus der Schulstube, »denn einem Ringe kann ich dich vergleichen, den mir der grundgütige Gott an den Finger gesteckt hat zur Ehre und Freude meines Lebens.«

»Will der Herr Vater mir helfen, die Truhe in die Kammer tragen?«

»Sogleich, meine Tochter, ich muß nur erst den wilden Dampf hinaussenden, welchen diese teutonischen Buchschützen in dem Museum zurücklassen.« Er kam eilig heraus, rückte die Truhe und fuhr lächelnd fort: »Doch habe ich auch einige glatte und wohlgeputzte Patricios, ich denke, es wird ihnen sauer, an der beklexten Schulbank zu sitzen. Es sind lange Götzen darunter, vorab dieser Georg Regulus, dem du schon begegnet bist; in Wahrheit ein hübscher Junge und nicht ganz übel im Wollen, wenn auch nicht stark im Können. Hast du ihn dir betrachtet?«

»Nein, Herr Vater«, versetzte Anna kurz, »mir kommt ein Schauder, wenn er die Treppe heraufkommt, und ich sehe ihn in Gedanken immer, wie seine Larve gegen uns die Zähne fletscht. Ich sorge, Vater, sein Eindringen in die Schule bedeutet nichts Gutes.«

»Possen«, versetzte der Magister überlegen. »All dieser Satyrkram wird ohnmächtig in dem Raume, in welchem die oberen Götter walten: Jupiter, Phöbus Apollo und die herzerhebende Minerva. Hat der Gesell dich geängstigt durch das Brüllen seiner Teufel, so ängstige ich ihn durch den Accusativus cum Infinitivo, diese Konstruktion ist allen Teufeln lästig.« Er trat an den Tisch, auf welchem Anna das einfache Mittagsmahl zurechtgesetzt hatte, und faltete die Hände, während die Tochter den Tischsegen sprach. »Wenn wir allein sind«, ermahnte er, seinen Stuhl rückend, »habe ich nichts dagegen, daß du dein Sprüchlein in gemeinem Deutsch sagst, wenn aber arme Schüler mit uns essen, so fordere ich des guten Beispiels wegen das angenehmere Latein, denn nicht umsonst will ich dich darin unterrichtet haben. Wie?« fuhr er erfreut fort, »sogar ein schönes Stück Fleisch? Schade, daß ich das während [] der Schule nicht gewußt habe, denn unter meinen Schützen sind einige armselig.«

»Eßt es nur lieber selbst, Herr Vater, denn Ihr habt die größte Mühe.«

»Natürlich«, stimmte der Magister essend bei. »Der Lehrer darf auch sie nicht vergessen«, und behaglich fuhr er fort: »Im ganzen hoffe ich, Kind Anna, daß uns das Leben hier wohl gedeihen wird.«

»Beruft es nicht, Vater«, mahnte die Tochter, »wir kennen noch wenig davon.«

»Unsinn«, entschied der Magister vergnügt, »wir wissen, daß wir dreißig Schock erhalten und ziemliches Holz, wenn auch nicht ganz reichlich. Die Schulstube mag in Zukunft zu klein werden, aber unsere Wohnung ist hell und es ist eine ruhige Stätte. Der Hauswirt sagte mir etwas von dem Steinhaufen nebenbei, daß darin zuweilen Ungetüme poltern, aber ich merke, auch dies Geschlecht nächtlicher Schatten erweist seine Achtung vor dem Musensitz, welcher hier eingerichtet wird; wenigstens habe ich gestern, als ich am späten Abend in meiner Kammer las, von den Steinen her ganz wohlklingende Musik gehört. Wenn die Kobolde so artig zwischen dem Gestein umgehen, habe ich nichts dawider.«

Die Tochter sah finster auf den Teller, auch sie hatte die späte Musik gehört und mußte der Warnung gedenken, welche die Hauswirtin gleich in den ersten Tagen vertraulich gegeben hatte: »Hütet Euch zumeist vor den stolzen Knaben aus dem Artushofe. Denn diese werden leicht unverschämt. Wie sie zur Fastnacht als Teufel springen, so schwärmen sie auch des Abends in den Gassen und suchen Eingang durch Liebeslieder und Saitenspiel, wo ihnen eine Jungfer gefällt. Dann gibt es zuweilen Lärm mit den Wächtern, und uns armen Weiblein entsteht üble Nachrede.«

Trotz dem weiblichen Widerwillen klang auch ferner aus den Steinen der zerstörten Burg das Spiel einer Laute; niemand wußte, wer der Spieler war, auch der Ratsdiener schüttelte unsicher den Kopf. Denn von Mauer und Graben umgeben lag der Burghof nahe am Strome zwischen Altstadt und Neustadt, den Schlüssel zu der einzigen Pforte bewahrte Lischke selbst, in der Dämmerstunde schloß er ab und sperrte die Trümmer für jedermann. Und obgleich er vertrauter mit den Schrecken des Platzes war als andere, hinderte auch ihn die Furcht vor den Unholden, in der Finsternis unter den Steinen zu suchen. Nur aus seinem Hofe hatte er einmal dunkle schwebende Schatten erkannt. Wer sich aber auch die Mühe gab, dort im Nachtwind die Saiten zu rühren, eines Gewinns konnte er sich nicht rühmen, denn das Haus verriet nicht, daß es sich um diese luftige Artigkeit kümmerte, kein Fenster wurde aufgesperrt, kein Licht erschien in der Nähe der Scheiben und kein Frauenkopf wurde sichtbar.

[] Georg öffnete zögernd die Pforte der Dominikanerkirche, um seine Buße an den Altären abzutun; er meldete sich, wie Brauch war, bei dem ab- und zugehenden Bruder Sakristan, dieser nickte gleichgültig mit dem Kopf, sah noch zu, wie der Büßer in einer dunklen Ecke an den Stufen des Altars niederkniete, und verschwand dann in einem Nebenraum. Als Georg die dicke Weihrauchluft atmete, wurde ihm fühlbar, daß er im Hause und unter Herrschaft der Heiligen war, er faßte seinen Rosenkranz, neigte das Haupt und begann mit gutem Willen die Gebete. Aber die ehrfürchtige Stimmung hielt nicht vor, die Kugeln glitten langsam durch die Finger, er begann die Augen um sich zu werfen, starrte auf die künstlichen Blumen, welche die Landleute gestiftet hatten, auf den dunklen Trauerbehang, der über den Altar gebreitet war, und ihm fiel der Handel ein und die Fäßlein mit Sekt, durch welche er sich die mäßige Buße verschafft hatte. Da kam ihm das Lachen an und zugleich ein Zorn gegen die Mönche. »Den Wein trinken Gregorius und Pankraz miteinander aus, möge er ihnen den Schlund verbrennen. Das ist nicht recht und wird nimmer recht. Wahrlich, die Heiligen gehen mit bösem Beispiel voran, wenn sie durch ihre Büttel, die Mönche und Pfaffen, Bestechung nehmen, wie manche unserer Herren vom Rat tun. Das meiste nimmt, wie man hört, der Heilige Vater selbst, wenn er um Ablaßgeld die Türen des Himmels öffnet.« Er sah mißfällig auf eine arme Frau, die heranschlich, sich am nächsten Altar auf die Stufen warf und die Hände rang. »Das Weib kenne ich, ihr Sohn sitzt im Turme, weil er zur Fastnacht das Eisen schwenkte, um sich gegen die Schweinsblasen meiner Teufel zu verteidigen. Man sagt, der Hieb mit dem Flegel wird ihm die Hand kosten, gewiß schreit sie deshalb zu den Heiligen. Warum hob der Tor seine Waffe gegen Stadtkinder. Wäre er wie der Pole Pietrowski, so würde er frei ausgehen. Wohl dem, der reich ist, die armen Leute mögen sehen, wie sie in diesem und jenem Leben zurechtkommen. – Vielleicht kann ich dem Vater Gregorius einen Possen spielen. Ich weiß, daß er gern ein frommes Weiblein besucht, es wäre gut, ihm aufzulauern, wenn er einmal in der Dämmerung von ihr weicht.« Dieser Gedanke machte ihn eine Weile lustig, bis ihm einfiel, daß die Rachsucht an diesem Orte eine neue Sünde sei; und er fing wieder an, die Kugeln des Kranzes zu bewegen. Da vernahm er in seiner Nähe leisen Tritt, er sah auf, ob Vater Gregorius komme, sich an seiner Demütigung zu weiden, aber er drückte sich tiefer in die dunkle Ecke, denn an die Stufen des Altars trat eine verhüllte Magd, es war Jungfer Anna. Seine Andacht hatte ein Ende. Erblickte scharf nach dem holden Angesicht, das sich einst im Zorn über ihn gerötet hatte. Sie war ihm noch nie so schön vorgekommen; mit gefalteten Händen stand sie vor dem Altar, nicht gebeugt, wie [] sonst die Frauen pflegten, denn sie sah über das Kruzifix weg nach der Höhe, sie bewegte auch nicht betend die Lippen, sondern sprach ihre Bitte ganz still. Georg sah aus seiner dunklen Tiefe zu ihr auf, und ihm kam etwas wie Ehrerbietung vor solcher Andacht. »Sie hält sich auch vor den Heiligen fremdländisch«, dachte er; »ich höre, daß es Ketzer gibt, welche den Bildern die gebührliche Demütigung weigern«, und er erschrak bei dem Gedanken, daß sie zu diesen Verdammten gehören könne. Nicht zum erstenmal kam ihm die Sorge, denn er hatte bereits bemerkt, daß auch der Magister sich auffällig gegen die Werke der Pfaffen verhielt. Einst, als während der Lektion auf der Straße das Glöckchen tönte und Georg mit den andern Schülern sich schweigend über die Bücher neigte, tat der Lehrer, als vernehme er nichts von dem Wandel des Allerheiligsten, sondern erklärte die Worte Augur und Haruspex und erzählte aus dem alten Rom: wenn zwei solche Männer einander begegneten, vermochten sie sich des Lachens nicht zu enthalten. Und Georg dachte wieder, daß Gregorius und sein Geselle einander auch angeblinzt und gelächelt hätten, als der Wein in das Kloster gerollt wurde. Die aber jetzt vor ihm stand, war sicher fromm.

Als sich Anna vom Altar abwandte, erhob sich auch Georg, sah auf die liegende Frau und ging mit leisen Schritten zum Ausgang, wo er sich an dem Weihbecken aufstellte; ihm schlug das Herz, und seine Verlegenheit war größer als seit lange, da er auf Anna zutrat. Das Mädchen fuhr zurück, und sein furchtsamer Blick las in ihren Augen leider Schrecken und Abneigung. Mit stockender Stimme begann er: »Da ich wegen der neulichen Teufelei hier bin, um die Heiligen zu versöhnen, so möchte ich auch Euch, liebe Jungfer, bitten, daß Ihr mir verzeiht, wenn ich Euch in der Fastnacht kränkte, ich versichere Euch von Herzen, es reut mich sehr, daß ich Euch unhöflich an den Mantel gerührt habe.«

Anna wollte ihm streng entgegnen, aber weil er mit niedergeschlagenen Augen demütig vor ihr stand, antwortete sie nur:

»Tut es Euch leid, so darf auch ich als Christin Euch verzeihen.«

»Reicht mir die Hand«, flehte Georg, »zum Zeichen, daß Ihr mir nicht mehr böse seid.«

Diese Gunst konnte ihm Anna nicht gewähren, obgleich er verschüchtert aussah; sie zog die Hand zurück und sprach hastig: »Laßt mich gehen, Junker, redet nicht zu mir im Heiligtum und nicht auf der Straße, dann werdet Ihr mir besser gefallen; denn Ihr wißt selbst, Eure Nähe kann mir nicht frommen.«

Der arme Georg dachte, daß er gern in ihrer Nähe weilen und ihr sehr gern gefallen wollte, und ihm kam ein verzweifelter Einfall. »Dennoch bitte ich Euch, mir einen Augenblick Gehör zu geben. Der Sohn jener Frau, welche dort vor dem Altar fleht, sitzt im Turme und ist in Gefahr, wegen desselben Fastnachtsfrevels seine [] Hand zu verlieren, weil er gegen mich und meine Gesellen die Waffe gehoben hat. Als ich Euch bei dem Altare sah, fiel mir ein, daß Ihr vielleicht der Frau helfen könntet. Denn wenn sie den Mönchen eine ansehnliche Spende opfert, so werden diese ein Fürwort beim Rate einlegen, weil der Sohn sich nur als guter Christ gegen solche gewehrt hat, die er für Teufel hielt. Ich darf der Frau die Anweisung nicht geben, denn die Mönche wollen mir nicht wohl und könnten sie ausfragen; darum flehe ich, sprecht Ihr zu der Armen.«

»Wenn die Mönche nur gegen Spende ihr Fürwort geben, wie kann ich der Frau helfen, da ich so wenig das Geld habe wie sie?«

»Gerade deshalb ersuche ich Euch, daß Ihr dieses hier in ihre Hand legt, damit sie es zum Opfer trage«, und er bot ihr ein großes Goldstück, ein Patengeschenk des Bürgermeisters, welches er als Opfer für sich selbst mitgenommen hatte.

Diese List Georgs erwies sich als Ungeschick, denn Anna trat zurück und lehnte mit einer Handbewegung das Geld ab. »Wenn die Mönche um Geld ihre Fürbitte gewähren, so ist dies ein Unrecht vor unserem lieben Gott, und mein Gewissen sagt mir, daß ich nicht dazu helfen darf. Wisset aber, Junker, daß es Eure Pflicht ist, nicht durch andere der Frau etwas in das Ohr sagen zu lassen, sondern selbst Mühe anzuwenden bis zum äußersten, damit ihr Sohn entledigt werde. Unrecht ist es, wenn Ihr ertragt, daß der Arme Euretwegen in Not kommt, denn jedermann wird sagen, daß Ihr schuld seid an dem Unglück des Bäuerleins.« Sie nahm ihr Gewand zusammen und verließ das Heiligtum.

Georg sah ihr betroffen nach und murmelte: »Mich soll's nicht wundern, wenn ihr im Rücken zwei Flügel herauswachsen.« Er trat hinter den Pfeiler und überlegte, endlich schlich er mit unhörbarem Tritt in die Nähe des Altars, an dem die Frau noch immer jammervoll über ihrem Rosenkranz kauerte. Plötzlich vernahm diese eine flüsternde Stimme von der Seite über sich: »Weib, willst du Gnade finden, so wandle von hier zu dem frommen Bruder Gregorius, flehe ihn an, daß er beim Rate für deinen Sohn spricht. Denn der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe, und dein Sohn ist nur in Not gekommen, weil er als frommer Christ gegen einen Teufel das Messer gezückt hat. Damit die frommen Väter erkennen, daß die Heiligen dir gnädig sind, so empfange hier, was du der Kirche opfern sollst.« Ein großes Goldstück fiel klirrend auf die Stufen des Altars. Das Weib, welches bei dem ersten Laut sich niedergestreckt hatte, fuhr auf, als das Metall klang, und faßte das Gold, hob es entzückt gegen den Altar, sprang auf und lief dem Kloster zu. Georg aber stahl sich schnell nach Hause: »Ich hoffe, Bruder Gregorius merkt nicht, daß ihm von der einen Seite abgeht, was ihm von der andern zukommt. Wenn ich meine [] Büchse ausfege, finde ich immer noch, was mich zur Not von den Habgierigen löst.«

Die Frau stammelte vor den Mönchen einen verwirrten Bericht von der himmlischen Stimme, die sie gehört, und von dem Engelsantlitz, das sie einen Augenblick über sich am Altar gesehen, sie wiederholte, so gut sie vermochte, die Worte und bot das Geld. Die Mönche schüttelten den Kopf, erforschten das Weib kreuz und quer und prüften das Goldstück. Da sie sahen, daß die arme Frau nicht täuschen wollte, so überlegten sie, wer der Geber sein könne, und es ist wohl möglich, daß sie auf Georg rieten. Aber sie erkannten auch, daß der Vorfall wunderlich und ihrem Kloster nützlich sei, darum beschlossen sie nach langer Erwägung, die Sache mit Vorsicht auf sich zu nehmen, und geleiteten die Frau nach dem Rathause. Dem Rat gefiel im Grunde gar nicht, daß die Predigermönche durch ein Wunder die Stadtjustiz hindern wollten, auch erschien ihm seltsam, daß die Heiligen mit dem Goldstück sich gewissermaßen selbst ein Geschenk machten. Dennoch wurde die Fürbitte des Pater Gregorius mit Achtung angehört; denn dieser sprach bescheidener als wohl sonst und stellte die Angelegenheit gänzlich der Weisheit des Rates anheim. Zuletzt wurde, nachdem die Mönche abgetreten waren, die Sentenz gefällt, daß das Bäuerlein seine Hand auf den Klotz legen, und daß Hans Buck, der Scharfrichter, die Schneide des Beils darüberhalten und dann wegziehen solle, damit der Bauer gnädiges Recht erhalte und die Unehre fühle, doch ohne Leibesschaden.

Konrad Hutfeld sah genau auf das Goldstück, bevor es in die Kutte der Mönche fiel, doch schwieg er und billigte den Beschluß. Nur der Stadtschreiber Seifried wollte seine Verachtung nicht bergen, als er am Ende halblaut fragte, ob er den Vorfall unter der Rubrica Gaunerei oder Gewalttat gegen den Rat in das Stadtbuch eintragen solle, und erst ein strafender Blick des Burggrafen wandelte ihm die spöttische Miene. Die Thorner liefen in hellen Haufen zu, um Hans Buck mit seinem Beil zu sehen; die Predigermönche aber hatten den größten Vorteil, denn um den Altar, auf welchem das Engelsgold aufgestellt wurde, war seitdem ein Gedränge von Betenden, und alle, die in Not waren, lauschten nach dem Klange eines Geldstücks. Doch der Engel hatte keines mehr, das er zu werfen vermochte.

Georg ging am nächsten Tage zufrieden in seine Schule, er sah nach dem Zeiger der Uhr auf St. Johannes, um ein wenig vor der Zeit einzutreffen. Denn er hatte bereits gemerkt, daß Anna zuweilen vorher im Museum des Vaters beschäftigt war; entwich sie auch schnell, wenn ein Schüler nahte, so hatte er doch bei solcher Gelegenheit die Freude, sie zu grüßen und in ihre Augen zu sehen. Auch heut glückte es ihm, denn Anna trat aus dem Raume, als [] sie seinen Tritt auf der Treppe hörte; aber als er ihr mit höflichem Gruß zu sagen wagte: »Dem Bauer ist es wohl gelungen, er hat seine Faust gerettet«, da versetzte sie traurig: »Wenn Ihr meinen Vater fragt, wird dieser Euch sagen, daß es vielleicht noch größere Sünde war, den Engel zu spielen als den Teufel.«

»Der Junge ist doch mit seiner Mutter ganz voll von Met und Bier aus der Stadt gefahren, mit Semmeln und Würsten beladen, die ihm als Ehrengeschenk wegen des Wunders von den Leuten zugetragen wurden.«

»Ein anderer aber hat das Heiligtum gemißbraucht zu losem Streich und die Mönche und Stadtleute in falschem Glauben bestärkt, und er trägt die Verantwortung, wenn die Seelen in ihrem Irrtum verhärtet werden.« Damit ließ die Eifrige den Verdutzten stehen. Er schlug auf den Pfosten der Treppe, auch seinerseits unwillig, und dachte: »Ihr ist nichts recht; nie habe ich eine Jungfer gekannt, welche eine so scharfe Bürste führt. Ich weiß nicht, warum ich mich um sie kümmere, es gibt wohl noch andere, welche freundlicher gegen mich sind.«

Er bestand den Tag schlecht in der Lektion, und die ärgerliche Gemütsstimmung hielt bis zum Abende an. Denn als Anna spät in ihre Kammer kam, hörte sie wieder die Laute aus dem wüsten Gestein eine bekannte Weise spielen, und sie vernahm zum erstenmal, daß der Lautenspieler auch zu singen vermochte – nicht schlecht – die Worte klangen undeutlich, aber ihr war wohlbekannt, daß sie lauteten: »Ich armes Käuzlein kleine, wo soll ich fliegen hin, ich muß mich von dir scheiden, ganz traurig ist mein Sinn, es geschah mir nie so Leides. Ade, ich fahr' dahin.«

Da setzte sie sich auf das Bett, schlug die Arme übereinander und sang den letzten Vers leise vor sich, so daß niemand als sie selbst etwas davon vernehmen konnte: »Ade, er fährt dahin! – Ich merke, er wird nicht wiederkommen«, sagte sie, indem sie ihr Haar löste und in Gedanken die langen braunen Flechten durch die Finger gleiten ließ.

Es blieb auch wirklich mehrere Abende still, und Anna dachte jedesmal, wenn sie zur Nacht ihr Haar aufband: Es ist gut, daß der Gesang zu Ende ist! Aber die Zufriedenheit dauerte nicht lange, denn am nächsten Sonnabend, als sie in ihre Kammer getreten war und gerade vor sich hinsummte: »Ich armes Käuzlein kleine«, wurden die Geister wieder unruhig, und diesmal erklang nicht nur die Laute, sondern auch die Pfeife und ein Bassettel. Sie sprang vom Bett und eilte an das Fenster, aber sie fuhr sogleich zurück und dachte ärgerlich, daß sie die Dreistigkeit ruhig ertragen müsse. Da rührte sich's auch im Museum, und der Magister rief in den Flur hinaus: »Hörst du die Geister lärmen, mein Kind? Einer spielt gar das Bassettel.«

[] »Ich höre, Vater«, antwortete Anna bekümmert, »was werden die Leute sagen?«

»Sie werden wohl wieder ein Wunder daraus machen«, versetzte der Magister in guter Laune, »kannst du dir denken, was die Musica soll?«

»Ich weiß es nicht, Herr Vater, wir sind ja fremd hier.«

»Das ist richtig«, sagte der Magister. »Sollten unter meinen Schülern einige sein, welche mir und dem Museum zu Ehren dies Nachtstück aufführen? Das war sonst nicht die Art meiner Schützen; aber jede Stadt hat ihre Bräuche, und ich habe unter ihnen bereits zwei Musensöhne zur Strafe notiert, welche ihre Lust so wenig bezwingen konnten, daß sie während der Lektion auf einem Kamme bliesen.«

»Vater, ich glaube nicht, daß diese es sind.«

»Jedenfalls muß der mit dem Bassettel ein starker Gesell sein; ich möchte wissen, wie sie das Instrument über Wasser und Steine hineingebracht haben.«

Unten bellte ein Hund, die Hoftür öffnete sich und der Ratsdiener drang in den Hof in nächtlicher Tracht mit einer großen Schlafmütze und einem Feuerrohr, hinter ihm seine Frau, welche die Laterne hielt, aber den mutigen Gatten am Bund seiner Beinkleider zurückzog. »Wer erkühnt sich, wer unterfängt und wer unterwindet sich, den Frieden der Nacht zu stören?« fragte Lischke gegen das Gemäuer, doch hörte man seiner Stimme die Aufregung an. Er rief umsonst, die geisterhaften Musiker fuhren fort, ganz versunken in ihre Kunst, die liederliche Weise zu spielen: Wer hier mit mir will fröhlich sein, das Glas will ich ihm bringen, trink, mein liebes Brüderlein, so wird dir's wohl gelingen. Der Ratsbote, welcher sich bis dahin hinter dem Zaun des Gartens gedeckt hatte, drang kühn noch einen Schritt vor und rief wieder gegen die wüste Stätte: »Seid still oder ich feuere«, und er hob sein Rohr. Da schwieg die Musik einen Augenblick und eine hohle Stimme tönte gewaltig zurück: »Der Rat hat alles Schießen in der Stadt verboten«, und sogleich ging der Lärm weiter. Lischke setzte verdutzt das Rohr ab und sagte, sich zu seiner Frau umwendend: »Sie wissen Bescheid und sie haben recht.«

Oben lehnte sich der Magister zum Fenster hinaus und lachte laut: »Laßt sie gewähren, Herr Hauswirt, ich freue mich der Ehre«, und er rief ihnen den Vers eines lateinischen Dichters hinüber, in welchem die stygischen Schatten aufgefordert werden, sich in den Orkus zurückzuziehen.

Das Erscheinen des Magisters und die lateinische Beschwörung bewirkten, was dem Ratsdiener nicht gelungen war, die Musik verstummte plötzlich. Die Lauschenden vernahmen nur noch den Abendwind, der über den Strom wehte, und sahen nichts als [] ragende Trümmer und oben die kleinen Sterne, welche durch die Wolken blinzten. Der Hund bellte noch einmal gegen die Ruinen und Lischke ging laut scheltend in das Haus zurück. Der Magister schloß zufrieden das Fenster. »Den Virgil vermochten sie nicht auszuhalten, er hat sie verscheucht; er soll noch manchem von ihnen schrecklich werden.«

Anna aber sprach in der Kammer zu sich selbst: »Das kann und darf nicht so fortgehen, und es muß dem Dreisten verboten werden. Doch gegen den Vater traue ich mich nicht davon zu reden, da ich doch nichts Sicheres weiß, und ich fürchte seine Heftigkeit.« Da kam ihr wieder der Rat zu Hilfe. Denn die trotzigen Neustädter, welche weniger Mitleid mit nächtlichen Musikanten hatten als die in der Altstadt, und außerdem jetzt durch die Erscheinung von Teufeln und Engeln aufgeregt waren, trugen eine Klage über Unruhe in dem verwünschten Schloß aufs Rathaus; und weil der Rat sich um alles kümmerte, was das Gemüt der regierten Bürgerschaft aufregen konnte, so wurde Lischke als Hüter der Stätte ernsthaft ermahnt, dies Getöse junger Gesellen zu stillen. Als der Diener nach Hause kam, war er wegen der Ermahnung widerwärtig gegen seine Frau und sprach strafend: »Ihr Weiber fürchtet die Geister, wo gar keine zu finden sind, auch der Rat meint gerade wie ich, daß es nur Unruhestifter sind, und sie sollen den Ernst erkennen.« Das klagte wieder Frau Lischke gegen Anna: »Meiner ist ganz wild, und der Rat hat ihm erlaubt, wenn sie nicht gutwillig weichen, das Rohr zu gebrauchen; wandeln sie in Fleisch und Bein, so mögen sie den Schaden tragen. Selbst wenn Georg König zu ihnen gehört.«

Anna fragte erschrocken: »Warum denkt Ihr auf diesen?«

»Weil er bei jedem Schabernack geschäftig ist«, versetzte die Wirtin, »und schlimmer als andere im Gassieren und Anlachen der Mädchen und Frauen.«

Die Miene Annas wurde sehr streng, und die Wirtin, welche selbst eine zierliche Frau war, fuhr verschämt fort: »Auch Euch hat er gekränkt, und Ihr seid nicht die einzige, denn voriges Jahr beim Vogelschießen wagte er sogar im Vorübergehen seinen Arm um mich zu schlingen und, ich glaube, er hätte mich geküßt, wenn ich mich nicht ihm entwunden hätte. Doch durfte man ihm das nicht so übel deuten, denn er war gerade frohen Mutes, weil er einen glücklichen Schuß getan hatte. Und die Bürger halten ihm auch mehr zugute als anderen.«

Da erkannte Anna aufs neue, daß der Schüler ihres Vaters ein gefährlicher Hausgast war, den ein Mädchen sich fernhalten mußte; sie hatte die Absicht gehabt, der Wirtin eine vertrauliche Warnung für Georg anzuempfehlen, aber die Art, in welcher Frau Lischke von der Dreistigkeit des Gesellen gesprochen hatte, mißfiel [] ihr heimlich, und sie bedachte seufzend, daß sie selbst die Musik ihm wehren müsse. »Noch dies eine Mal rede ich mit ihm und nicht wieder.«

Deshalb geschah es, daß sie ihm begegnete, als er in die nächste Lektion kam, und da er sie mit leuchtenden Augen grüßte, begann sie leise: »Mein Vater und ich sind fremd hier, und es liegt uns daran, die gute Meinung der Thorner zu gewinnen; wir werden sie aber verlieren, wenn in den wüsten Steinen neben uns zur Nachtzeit Musik gemacht wird, wie seither öfter geschah. Da Ihr in der Stadt wohlbekannt seid, so werdet Ihr für die Ruhe und den guten Ruf meines lieben Vaters und aller Hausleute sorgen, wenn Ihr den Anstifter erkundet und ermahnt, daß er unsern Nachtfrieden nicht mehr stört.«

Georg sah zu Boden, endlich fragte er ergeben: »Sagt mir nur, ob Euch das Lautenspiel auch lästig wäre, wenn es von niemandem vernommen würde als von Euch allein.«

Anna erschrak über die dreiste Frage und antwortete tonlos:

»Ja.« Da zuckte ein so tiefer Schmerz über sein Gesicht, daß sie fast die kurze Antwort bedauert hätte, er wich zurück und sprach mit mühsam gedämpfter Bewegung: »Die Musik soll Euch nicht mehr stören.« Gern hätte sie ihm für die Bereitwilligkeit gedankt, aber sie fand nicht Worte und schied mit stummem Gruß.

Seitdem hielten die Geister Ruhe, und Lischke triumphierte über ihre Furcht. Georg aber stampfte mit dem Fuße heftig auf den Boden, als er die Schule verließ: »Es gedeiht nimmer zwischen ihr und mir und ich will gar nicht mehr an sie denken.«

Bevor er seinen Beschluß ausführte, beschwerte er sich noch einmal bei seinem Vertrauten Philipps: »Sie spricht anders und sie hält sich anders wie unsere Mädchen.«

»Sie ist aus Kursachsen«, erklärte Lips.

»Sie hat auch andere Gedanken. Keine unserer Jungfern hat so stolzen Sinn und so vornehme Art.«

»Soll ich dir meine Meinung sagen«, entschied Lips, »sie ist eines Magisters Kind, Topf wie Kessel, sie ist eine Schulmeistersche.«

»Dir stände besser an«, rief Georg, »wenn du sie mit einer Herzogin verglichst.«

»Eine Herzogin, die ich gesehen habe«, antwortete Lips, »trug einen Schleppenpelz und blies über beide Achseln. Das ist nicht nach meinem Gefallen. Wie ich gewachsen bin, so tanze ich. Mir ist die Jungfer am liebsten, die mich haben will, so wie ich bin.«

»Sie gleicht einem Heiligenbilde«, klagte Georg wieder, »kannst du dir ihre Augen denken, daß sie holdselig anlachen, kannst du ihren Mund denken, wie er küßt? Und kannst du dir denken, daß sie abends die Tür öffnet?«

»Warum nicht«, versetzte Lips.

[] Da aber fuhr Georg zornig auf ihn los. »Willst du an so etwas denken?«

»Das ist ja deine Sorge«, entschuldigte sich Lips. »Aber darf ich dir einen Rat geben, denke auch du nicht mehr an die Fremde, denn sie macht dich ärgerlich. Und wenn meine Geige bei der nächtlichen Reise über Graben und Mauer zerbricht, dann werden alle Ständchen in Thorn ein jämmerliches Ende finden. Darum sage ich, schlage sie dir gänzlich aus dem Sinn.«

Das versprach Georg aufs neue. Und es wäre ihm vielleicht gelungen. Aber die Jahreszeit war dazu nicht geeignet. Es kam ein Mai, so lind und froh, wie er im Nordlande seit Menschengedenken nicht gewesen war. Die Vögel sangen wunderschön, die Sonne lachte, und die Bäume blühten, alle Locken flogen in dem warmen Hauch, durch alle Sinne drang die Wonne des Frühlings in die Seelen, und die jungen Gesellen und die Mädchen schwangen sich in Wohlgefühl und Überkraft dahin wie zum Tanze. Das war keine Zeit, einen roten Mund zu vergessen und zwei tiefblaue Augen, und am wenigsten wollte das ihm gelingen, der jeden Tag in die Gefahr kam, die Geliebte wiederzusehen. Oft wenn Georg unglücklich darüber grübelte, daß eine, welche schöner war als alle andern, ihn in der Stille mit Abneigung betrachtete, fielen ihm die Worte ein, mit denen sie ihn gescholten hatte, dann sprang er leicht wie ein Ball über die Gasse und rief: »Solch hohen Mut und solch redliches Herz gibt es nicht weiter auf Erden«, und war auf kurze Zeit so froh, als ob ihm die fremde Jungfrau einen Kranz von Rosen aufgesetzt hätte. In der Schule aber war er in dieser Zeit nicht gerade lustig und hielt sich stiller als sonst. Aus diesem Benehmen erriet Anna endlich, daß es nicht mehr nötig war, ihn durch Strenge abzuschrecken, und sie vernahm auch ohne Widerwillen, wenn der Magister einmal Georgs Vortrag lobte. Denn der Magister ließ seine Patrizier gern Reden aus dem Livius memorieren und vortragen. Dann ergriff er seinen Stock und setzte sich mit übergeschlagenen Armen vor sie hin. »Hier sitzt euer Konsul Fabricius. Da ihr dereinst als Oratores vor dem polnischen Senat eure Worte stellen sollt, so sorgt jetzt, daß ihr vor dem römischen Rate wohl besteht.« Wenn nun Anna in Küche und Flur beschäftigt war und die Stimme Georgs hörte, so unterbrach sie die Arbeit, um zu vernehmen, ob er auch gewichtig und ohne Stocken die schweren Worte herausbrächte, ja, es geschah, daß sie die Küchentür öffnete und harrte, bis er an die Reihe kam. Dann stand sie an den Pfosten gelehnt und lauschte mit vorgebeugtem Haupt, und wenn der Magister zuletzt urteilte: satis bene, flog ein Lächeln über ihr Gesicht, und sie nickte zufrieden.

[]

Die Fahrt aufs Land

Der Sommer kam, im Garten bei der Schule blühten die stolzen Lilien; wer ein Liebchen hatte, war selig, wenn er sie küßte, und wer um die Neigung einer Jungfrau warb, der dachte in der Stille darauf, ihr seine Liebe zu erweisen.

Der Buchführer hatte dem Magister neue Büchlein zur Ansicht geschickt, und da der Bote die alten zurücknehmen sollte, gedachte Anna, daß sie heut wohl in das Museum des Vaters dringen dürfe, weil gerade nur einer von den drei Patriziern anwesend war, Georg König, der ihren Eintritt unmöglich übel auslegen konnte.

Der Magister ergriff die Sendung, betrachtete die Holzschnitte der Titel und sagte zufrieden: »Auch diese Bilder werden jetzt kunstvoller gemacht als ehedem; sieh hier ein zierliches Weib, an welchem das Hündlein heraufspringt.«

»Es ist ein hübsches Hündlein«, bestätigte Anna.

»Da du klein warst, hatte die selige Mutter lange Not mit dir, weil du durchaus einen solchen Zwerghund zum Spielgenossen haben wolltest. Endlich gab die Mutter dir nach und betupfte, um einen Hund hervorzubringen, das weiße Fell deines hölzernen Schafes mit braunen Flecken. Aber als sie dir das neue Wunder darbot, wolltest du kluges Kind nicht an die Verwandlung glauben.«

»Ich würde mich auch jetzt über ein solches Hündlein freuen«, sagte Anna arglos, »doch es ist nur ein Spiel für reiche Leute.« Sie trug die Antwort des Vaters hinaus, aber Georg war durch ihre Worte in tiefes Nachdenken versetzt, und als er von dem Magister entlassen wurde, sprang er die Treppe hinab in dem Entschluß, der Jungfrau einen kleinen Hund zu verschaffen. Die Sache erwies sich schwierig, denn in der Stadt waren zwar Hunde genug, aber nur von ungefügem Schlage, wie sie an der Kette lagen, mit den Metzgern liefen, oder wie der Hirt sie hielt zum Kampf gegen Wölfe. Nur zwei Frauenhunde wußte er in der Stadt, ein Wachtel und ein Windspiel, welche der Stolz ihrer Herrinnen und von jedermann gekannt waren. Diese durch Bitten oder List aus ihren Burgen zu entführen, war unmöglich, auch um den Nachwuchs stand es bei beiden verzweifelt. Als er unsicher um sich blickte, sah er sich selbst am Fährtor und vor sich den Mast eines wohlbekannten Bordschiffes; mit geflügelten Schritten eilte er darauf zu, kletterte die Leiter hinan und traf auf dem Deck den Schiffer Hendrick, seinen alten Bekannten. Diesen nahm er beiseite und beschwor ihn im höchsten Vertrauen, bei seiner nächsten Fahrt einen kleinen Frauenhund von Danzig oder Lübeck mitzubringen.

Hendrick stemmte beide Arme über seine dicken Hüften und zog schnaubend einen Strahl Luft ein, als wollte er den neuen Fahrwind einfangen. »O Jörge, lieber Jörge, was forderst du von mir? Noch [] niemals ist ein Frauenhund zwischen Haupt und Sterz meines Bordings gelaufen, die Schiffskinder sind argwöhnisch, und ich weiß nicht, wie sie einen solchen Gesellen ihrer Fahrt ertragen werden. Er könnte bei Nacht über Bord fallen. Warum willst du nicht lieber eine bis drei junge Robben? Sie drehen sich auch ganz behende und sie sind fetter.«

Da Georg diesen Vorschlag mißbilligte, fuhr der Schiffer überredend fort: »Ich weiß im Danziger Hafen einen Papagei mit wunderschönem Gefieder, Schnabel wie ein Adler und beißt dir jede Nuß.«

»Hendrick, es muß ein Wachtel sein mit Loden an den Ohren und am Schwanze.«

»Das ist das Schlimmste«, versetzte der Schiffer, »denn wenn ich auch einen meiner Jungen mit dem Fangnetz in die Straßen von Danzig ausschicke, er wird mir eine ganz andere Art von Schwanz zurückbringen.«

»Du mußt den Hund von den Kaufleuten erbitten, das Geld dafür verlegst du, was er auch koste.«

»Ich merke, wohin die Fahrt geht«, schloß Hendrick bekümmert, »ich tät's für keinen als für dich.« Und er versprach mit Handschlag das mögliche.

Einige Monate vergingen, in welchen die Thorner vergebens auf hohes Wasser hofften, damit die tiefen Bordschiffe sich von der See stromauf steuern könnten; endlich kam doch der Tag, wo Hendricks Mastkorb wieder über das Zollhaus ragte.

Am nächsten Morgen hatte Lischke in der Dämmerung die Haustür geöffnet und war gegangen, die Mauerpforten zwischen den beiden Städten aufzuschließen. Als er zurückkam, stand etwas Helles auf der Treppe zum Oberstock, er erkannte die Henkel eines Korbes, der mit einem weißen Tuche lose verdeckt war. Zuerst erschrak er und bekreuzigte sich, dann ergriff er den Korb und trug ihn in seine Kammer vor das Bett seiner Frau, welche erstaunt dem Abenteuer entgegensah. Beim Schein des Lichtes erblickte er ein beschriebenes Papier auf dem Tuche, er trug es vorsichtig zum Licht und buchstabierte laut die Worte: »Dies gehört dem Herrn Magister.« Unter dem Tuche aber rührte sich's, und ein leises Winseln wurde im Zimmer gehört.

»Es ist ausgesetzt«, rief Frau Lischke, nach dem Korb starrend.

»Es ist ausgesetzt«, wiederholte Lischke, und beide fuhren fort, aus der Ferne den Korb zu betrachten, in welchem sich's unter der Leinwand wieder regte.

Endlich faßte der Mann ein Herz und griff nach der Decke. »Rühre nichts an«, rief die Frau, »wer es zu erst ansieht, muß ihm etwas Gutes wünschen und sein Pate werden.«

Lischke ließ die Hand fallen, aber er dachte daran, daß er ohne [] Leibeserben war, und sagte mitleidig: »Vielleicht geschah es mit dem Willen der Heiligen, daß es in unser Haus getragen wurde.« Da aber sprang Frau Lischke mit ihren nackten Beinchen aus dem Bette und stellte sich drohend vor den Gatten: »Was höre ich, du bist gar nicht verwundert über dies Eingebrachte?«

»Es ist ja dem Magister zugeschrieben«, versetzte Lischke kleinlaut.

»Das ist nur Hinterlist«, rief die Frau in hellem Zorn, »der Herr Magister gleicht nur einem Sack, auf den geschlagen wurde, aber ein anderer ist gemeint. Ach, wenn du so ein gutes Gewissen hättest als der Magister.«

»Wo denkst du hin«, antwortete der bestürzte Lischke, »wir vom Rat –«

»Schweig mit deinem Rate«, befahl die Frau, »die Herren vom Rat sind auch nicht besser als du. Zur Stelle nimmst du den Korb und trägst ihn hinauf.«

Das hielt auch Lischke für das beste. Er trug den Korb die Treppe hinauf und pochte, während die Frau mit fliegender Eile die nötigsten Gewänder umlegte und ihm nacheilte. Anna öffnete und der Zug bewegte sich nach dem Museum des Magisters, der verwundert über den aufgeregten Besuch aus seiner Kammer kam. Er las den Zettel und riß das Tuch von dem Korbe, ein kleines zottiges Ungetüm von dunkler Farbe lag darin und winselte. Frau Lischke fiel entsetzt auf die Knie und hob die Arme in die Höhe: »Hilf Maria Jacobe, hilf Maria Salome, helft ihr heiligen Marien alle drei, hier ist ein neugeborener Teufel.«

»Wie?« fragte der Magister, erschrocken seine Brille suchend, »werden hierzulande die Teufel in Körben ausgetragen?«

Anna fühlte einen Stich in ihrem Herzen, sobald die Hauswirtin des Teufels gedachte; ihr fiel sogleich ein, wie Georg mit großen Augen zugehört hatte, als der Vater einmal von ihren kindischen Wünschen sprach, und sie rief: »Herr Vater, dies ist nur ein kleiner Wachtelhund.« Sie beugte sich nieder, hob das Tier heraus und löste die Bänder, mit denen die Füße festgebunden waren. Das Hündlein fiel aus ihrem Schoß auf die Diele, schüttelte sich und lief laut bellend im Kreise.

»Canis pusillus«, bestätigte der Gelehrte.

»Es ist ein vornehmer Frauenhund«, rief Lischke bewundernd, und auch seine Frau begann sich ihres Argwohns zu schämen. Anna aber saß schweigend und stützte den Kopf in die Hand.

»Das ist die Tücke eines meiner ungeschlachten Schützen«, erklärte der Magister, »erst gestern habe ich ihnen die Stimmen der Tiere im Latein beigebracht, er hat den Hund aus einem Patrizierhause entwendet.«

Aber Lischke verneinte. »Der Hund ist nicht von hier, er hat [] einen weißen Brustlatz; er ist, wie der Zettel besagt, ein Geschenk für den Herrn Magister.«

»Wir haben bereits Esser genug an unserm Tisch, welche ungern zahlen.« Doch das Wachtel selbst machte der Verlegenheit ein Ende, denn es setzte sich vor Anna nieder, wedelte mit seinem buschigen Schwanz und winselte bittend. Da faßte Anna den Hund schnell in die Arme, trug ihn in die Küche und setzte ihm ein Schälchen Milch vor, während der Magister mit den Wirtsleuten nachträglich den geziemenden Morgengruß wechselte und sie dankend entließ.

Aber den ganzen Morgen erfüllte der Ankömmling die Gedanken des Hauses, Frau Lischke vertrat im Unterrock die Meinung, daß der Magister das vornehme Tier nicht behalten dürfe, weil Anna dadurch in den Verdacht des Hochmutes kommen müsse. Auch der Magister entwich einige Male seinen Amtsgeschäften, um seinen Gast zu betrachten, der neben der Küche auf einem Stühlchen saß, aber jedesmal auf den Gelehrten lossprang und die runden Brillengläser anbellte. Am größten war Annas Not, welche niemand kannte. Daß Georg König in solcher Weise ein Geschenk zu machen wagte, ärgerte sie, daß er so eifrig gewesen war, ihr einen Wunsch zu erfüllen, ängstigte sie; und doch fühlte sie eine geheime Freude, dann streichelte sie das Hündlein und drehte ihm seine Locken. Als sie ihren Gast über der Schüssel liebkoste, fand sie, daß ein Faden um seinen Hals gebunden war und daran ein schmales, zusammengerolltes Pergamentblatt. Auf dem Streifen stand geschrieben: »Mein Name ist Amor.« Diese Andeutung hatte sich Georg ausgedacht. Anna wich bestürzt von dem Kleinen und ihr Antlitz rötete sich bis an die Schläfe. Ein solcher Name war eine deutliche Anspielung vor jedermann. Sie löste den Faden, versteckte den Zettel in ihrem Gewande und sah aus der Ferne starr auf den Hund. Es war ein hübsches Tier, es drehte sich zierlich und schnoberte am Boden umher, und sie rief es halb bewußtlos leise mit dem geschriebenen Namen. Doch der Hund beachtete den Ruf nicht. Da atmete sie tief auf, er wenigstens wußte von nichts. Aber je höher der Tag heraufstieg, desto größere Beklemmung fühlte sie bei dem Gedanken an die Dreistigkeit des fremden Knaben und daß sie jetzt mit ihm ein Geheimnis teile und Mitschuld trage an der Täuschung ihres lieben Vaters. Als die Tischgenossen sich bedankt hatten und geschieden waren, holte sie das Pergament heraus. »Herr Vater, dies trug das Hündlein um den Hals.«

Der Magister las und nickte sorglos. »Es ist ein lustiger Name.« »Wir dürfen das Tier nicht Amor nennen, das würde Gerede geben.«

»Worüber?« fragte der Vater verwundert. »Nenne ihn also Psyche.« – »Herr Vater!« – »Ja, so«, verbesserte sich der Magister, »es wäre gegen die männliche Würde. Was meinst du zu Cupido?«

»Das wäre nicht besser.«

[] »So soll er Ajax heißen wegen seiner Zornwut.«

Dem widersprach Anna nicht. »Herr Vater, auf wen mutmaßt Ihr wegen des Hündleins?«

Der Gelehrte beugte sich gewichtig zurück: »Es ist ein alter Brauch, daß Gelehrte einander etwas senden, ein neues Buch, oder auch einen Karpfen, oder gutes Getränk, dann schreiben sie eine Entschuldigung an das Ende des Briefes und ihren Namen darunter. Da aber der Geber des Hündleins nicht gewagt hat, mit seinem Namen zu zeichnen, so ist er noch kein Gelehrter, sondern wahrscheinlich ein Schüler, und ich vermute, daß es einer von meinen Patriziern ist, denn wie sollten die jungen Schützen eines solchen Geschenkes habhaft werden.«

»Und wem von den Großen traut Ihr die listige Sendung zu?«

»Dem Matz Hutfeld«, versetzte der Magister entschieden, »denn die andern haben sich sämtlich mehrmals durch Verehrungen bemerkbar gemacht, dieser aber noch nicht.«

Anna schlug die Augen nieder: »Ich dachte daran, Herr Vater, daß der Sohn des reichen König einmal gegenwärtig war, als Ihr ein solches Hündlein in einem gedruckten Buche fröhlich ansaht und rühmtet, und ich denke, der junge Georg ist der Geber.« Ihr wurde leichter, als sie den Vater in dieser Weise zum Mitwisser gemacht hatte, nur eines traute sie nicht zu sagen, daß die Sendung ihr gegolten hatte; und sie wurde deshalb aufs neue geängstigt, als der Vater zufrieden zustimmte. »Du bist mein bedächtiges Kind, und ich freue mich deines guten Gedächtnisses, denn ich weiß nichts mehr von jener Rede. Von meinem Regulus ist mir's, im Vertrauen gesagt, am liebsten, obgleich er seine Orationen gern kürzer macht als die andern.«

Als der Magister aber bei der nächsten Lektion der Großen den widerstrebenden Hund auf den Tisch stellte und dazu fragte: »Wer von euch hat mir diesen als Präsent geschickt?« antworteten alle einstimmig: »Nicht ich«, auch Georg, obgleich er scharf angeblickt wurde; und als der Magister zum zweitenmal fragte: »Wer von euch hat mir diesen Zettel geschrieben?« und alle wieder antworteten: »Ego, vero, minime«, da entschied er kräftig: »Dann also tat es ein anderer«, schob das Hündlein bis zur Tür hinaus, und die Sache blieb geheimnisvoll.

Anna lebte in der Sorge, daß Georg wegen des Geschenkes ihr eine größere Vertraulichkeit zeigen werde, und sie war entschlossen, in diesem Fall den Vater zu bitten, daß er die Gabe samt dem Korbe zurücksende, was auch daraus entstehen möge. Doch Georg verriet gegen sie niemals durch Wort oder Miene, daß er den Geber kenne, er blieb still und ehrerbietig und bewies dem Kleinen, welcher Ajax genannt wurde, weil er nicht Amor heißen durfte, nur kühle Freundlichkeit. Diese Klugheit wurde belohnt. Nämlich das Wachtel [] selbst hatte eine Vorliebe für ihn. Wenn die Stunde kam, in welcher die Treppe unter seinem Tritt knisterte, lief es nach der Tür und wedelte eifrig. »Das ist nicht zu verwundern«, dachte Anna, »denn er hat es zuerst gefüttert und sein weiches Fell gestreichelt.« Seitdem geschah es wohl, daß Anna einen Spalt der Tür öffnete und das Hündlein zur Begrüßung hinausließ. Bei dieser Gelegenheit gewann Georg einen flüchtigen Anblick ihrer Gestalt und zuweilen einen freundlichen Gruß. War das auch nur wenig, es gab ihm doch Mut, mehr für sich zu begehren.

Es kam ein Sonntag im Herbste, klar, warm und still, die Frucht der Felder war in den Scheuern geborgen, und viele kleine Vögel waren fortgezogen, aber große Flüge der Tauben lagen auf den Stoppeln, die grauen Stelzen liefen die Raine entlang, und die Stadtsperlinge von Thorn wiesen der jungen Brut die schönen Felder und Bäume, an denen sie altes Herrenrecht hatten, und zankten sich mit den Dorfspatzen. Da erbat Georg von seinem Vater, daß er dem Herrn Magister einmal auf dem Landgute Ehre erweisen dürfe, und der Vater war das wohl zufrieden: »Der Magister möge nicht für ungut nehmen, wenn ich nicht selbst komme.« Darauf sandte der vorsichtige Georg zuerst seinen Gesellen Philipps zu Frau Lischke, diese einzuladen, weil sie doch die Hauswirtin der Schule sei, und die Frau, geschmeichelt durch die Höflichkeit der vornehmen Knaben, erklärte ihre Bereitwilligkeit. »Lischke wird nicht übelnehmen, wenn er der Ehre nicht teilhaftig wird, denn er sitzt des Sonntags gern im Bierhause. Doch schickt sich nicht, daß ich allein unter jungen und alten Männern weile, und ich kann nur kommen, wenn Jungfer Anna zugleich eingeladen wird.«

Darauf lud Georg feierlich in lateinischer Sprache den Magister ein, welcher für sich und seine Tochter in einer wohlgesetzten Periode die Freundlichkeit annahm. Wie Georg die Treppe hinabstieg, erwartete ihn Frau Lischke: »Ihr wißt selbst, Junker, daß eine ehrbare Frau nicht mit euch wilden Brüdern durch die Gassen und Tore spazieren darf, und ich rate euch, vorauszuziehen und den Magister und uns am Birkenholz zu erwarten.« Damit war Georg einverstanden. Als der Gottesdienst beendet war und die Bürger in ihren Festkleidern durch die Straßen gingen, schritt auch der Magister mit den beiden Frauen langsam nach dem Tor. Er trug sein bestes Kleid und einen seltenen Stock von hispanischem Rohr mit einem Lederriemen, und grüßte würdig zur rechten und linken Hand. Hinter ihm kamen Anna und die Wirtin, ihre großen Regentücher auf dem Arme, beide mit Handkörben. Anna trug in dem ihren das Wachtel, und Frau Lischke hatte bedacht, daß es auf dem Lande Brauch war, den Gästen aus der Stadt etwas Zubeiße für den Heimweg mitzugeben.

[] Als sie beim Birkenholz um die Ecke bogen, blieben sie erstaunt stehen, denn auf der Straße hielten zwei Reiter, und zwischen diesen stand ein schöner Wagen mit zwei großen Gäulen bespannt. Auf dem Kutschersitz hockte Dobise und sah unter seinen buschigen Augenbrauen schlau auf die bevorstehende Ladung. Die Reiter sprengten ihnen entgegen, es waren Georg und Matz, während Lips im Wagen die Gesellschaft begleiten sollte. Das Antlitz Georgs war in heller Freude gerötet, als er vom Rosse sprang, um die Gäste zu begrüßen. Auch Anna lachte ihn froher an, als er bis jetzt an ihr gesehen hatte. Der Magister aber schritt bewundernd um den Wagen und die Pferde. Das Korbgeflecht war mit Hochrot und Gold bemalt, darüber trugen Reifen ein luftiges Dach von bunter Leinwand, welche sich an den Seiten zurück schieben ließ und oben noch mit einer Lederdecke überspannt war zum Schutz gegen ein Unwetter. Georg nötigte den Herrn Magister auf den Vordersitz. »Du, Lips, sitze daneben und sorge, daß unserm Herrn Vater die Unterhaltung nicht fehle.« Darauf öffnete er die Hinterwand des Wagens, zog eine kleine Leiter heraus und hakte den Polstersitz ab, damit den Frauen das Einsteigen bequemer sei, half ihnen ritterlich in das Innere, befestigte hinter ihnen Sitz und Rückwand und schwang sich wieder auf seinen Gaul, um nebenher zu reiten. Der Magister steckte den Kopf seitwärts heraus und rief vergnügt: »Wahrlich, wie ein römischer Gott fahre ich im Triumphwagen, zu beiden Seiten die Dioskuren.« Und auch Annas Augen leuchteten, als sie auf den bewaffneten Reiter an ihrer Seite blickte, der als Seitenwehr einen großen Dussek mit breiter krummer Klinge und in der Hand einen Kurzspeer führte, und sie unterdrückte mit Mühe einen Angstruf, als das mutige Pferd unter dem Reiter aufsprang, bis er es mit fester Faust bändigte. Dobise knallte, und in scharfem Trabe ging es vorwärts; der Staub wirbelte, der Wagen schütterte, und wenn die Räder über einen Stein hüpften, zuckten die Fahrenden von ihren Sitzen in die Höhe, so daß Anna sich am Holz des Wagens festhalten mußte. Aber das Schütteln gehörte zu vornehmer Fahrt, die Frauen überwanden bald den kleinen Schreck, lachten einan der zu und fanden endlich den Mut, die artigen Fragen Georgs zu beantworten. Und obgleich zuweilen der Staub durch die Fensteröffnung wehte, wollte Anna doch die Leinwand nicht vorschieben, wie Frau Lischke riet, und sie wurde auch nicht böse, als Georg ihr nach dieser Erklärung einen dankbaren Blick zuwarf. Unterdes hörte Lips ergeben die Bemerkungen des Magisters und nannte die Namen der Dörfer, deren Kirchtürme hier und da aus der Ebene aufstiegen. Es war Sonntagsstille über der Landschaft und auf den Feldern niemand zu sehen, nur hier und da rollten sie an einer weidenden Herde vorüber und hörten das Gebell des Hirtenhundes, der auf sie zulief.

[] Endlich fuhren sie über eine kleine Grenzbrücke in den Schatten wilder Birnbäume, welche zu beiden Seiten des Weges standen, der Wagen hielt, und Georg bat die Gäste, sich eine Weile zu gedulden, damit die Pferde verschnaufen und er vorausreiten könne, sie auf dem Hofe anzumelden. Die Fahrt war wundervoll gewesen, aber eine kurze Ruhe war nach der Erschütterung doch allen lieb. Dobise stieg ab und trat zu den Pferden, auch der Magister und Philipps kletterten über den Kutschersitz ins Freie, nur die Frauen blieben in dem Wagen und hatten einander jetzt leise viel zu erzählen. Plötzlich sprang Dobise auf seinen Sitz, ergriff die Zügel und wies mit der Peitsche in die Ferne: »Es kommt einer.«

Ein einzelner Reiter trabte über das Feld gerade auf sie zu. Es war auf magerem Pferde ein langer Mann in halber Rüstung mit Brustschiene und Helmkappe und einem langen Reiterspieß. »Wer ist es?« fragte Matz Hutfeld den Kutscher.

»Es ist eine Landfliege. Seht ihn nur an, Ihr kennt ihn gut genug.«

Der Reiter ritt ohne zu grüßen langsam im Kreise um die Gesellschaft, wobei sein Pferd wie ein Hund durch den Graben am Wege kroch, endlich hielt er, betrachtete unverschämt die erschrockenen Frauen und spähte in jede Ecke des Wagens. Der hagere, starkknochige Gesell mit schmalem Angesicht, das bleich und verbrannt und trotz der Jugend durch hartes Leben und Ausschweifungen gefurcht war, sah auf seinem struppigen Klepper gegenüber dem rundlichen Stadtreiter aus wie aus einem andern Lande. Matz hielt still auf seinem Platze, Lips aber entriß dem Dobise die Peitsche und rief dem Gefährten zu: »Hilf ihn zurücktreiben.« Da lenkte auch Matz sein Pferd heran: »Macht Euch fort, Henner, hier ist nichts für Euresgleichen zu holen.«

»Ich komme nicht zu holen, sondern zu geben; ich merke, Matz, Ihr seid nach Streichen begierig«, versetzte der Reiter verächtlich. »Redet höflicher auf der Landstraße, ihr stolzen Bürgermeistersöhne, es wird jedermann erlaubt sein, die Könige von Thorn anzustaunen, wenn sie im roten Wagen durch das Land traben. Potz Blitz, weg mit der Peitsche, du Narr, oder ich treibe dir das Eisen in die Rippen. Wo wollt ihr hin, ihr heldenmäßigen Kumpane des König Artus?«

»Das geht Euch nichts an«, rief ihm Matz zu, »wir haben auch Euch nicht gefragt, wo Ihr herkommt. Ich sage Euch, macht Euch fort. Dies ist Thorner Grund, und wir sind vier gegen einen.«

»Die vier sind auch danach«, höhnte der Fremde. »Schöne Samtmützen sehe ich auf euren gekräuselten Haaren. Wie hoch haltet Ihr das Stück, Junker Krämer? Ich habe Lust, meine mit Eurer zu vertauschen. Ist's nicht eine Schere, die Ihr an der Seite tragt?« Er rührte mit dem Spieß an Hutfelds Dussek.

[] »Die Thorner Schere hat schon mehr als einmal in Euer Wams geschnitten, ich denke, Ihr kennt den Käfig über unserm Kerkertore.«

»Ich weiß eure guten Herbergen zu rühmen«, antwortete der Reiter ungerührt, »auch die Thorner hängen keinen, den sie nicht haben. Meiner Treu, Ihr reitet ein starkes Pferd, Bürgermeister Matz, ich merke, Ihr wollt mir's zum Tausch anbieten; steigt einmal herunter, es ist nur zur Probe.«

Hutfeld errötete, aber er blieb unbeweglich sitzen. »Dort kommt Georg«, rief Eske.

»Das ist eine andere Art Apfel«, sagte der Reiter ernsthafter, lenkte sein Pferd zurück und legte den Bolzen auf die Armbrust. »Guten Tag, Jörge, gerade Euretwegen bin ich gekommen; ich ritt so am Rande Eurer Feldmark entlang und suchte jemanden, dem ich einen Gruß an Euch in den Kopf schlagen könnte, da ersah ich Eure Kardinalsfuhre; ich merke, Ihr wollt geistlich werden, weil Ihr schon zwei Weiblein unter Eurem roten Dach eingefangen habt.«

»Ich habe lange auf Eure Botschaft gewartet«, rief Georg, ihm nahe reitend, »Ihr hattet die Frechheit, mir vor der Fastnacht sagen zu lassen, daß Ihr mich unter freiem Himmel werfen wolltet, wenn ich den Mut hätte, gegen Euch zu sprengen. Jetzt habe ich Euch vor der Klinge, heraus mit dem Eisen, frisch gezückt ist halb gefochten.«

Er hob schnell den Dussek und schlug dem andern die Armbrust aus der Hand. »Laß ihn los, Lips«, rief er seinem Gesellen zu, der von der andern Seite mit kräftigem Griff das Bein des Reiters gepackt hatte, so daß dieser schief im Sattel hing. »Er soll herunter vom Gaule«, versetzte Eske festhaltend, »er trägt die Eisenplatten, und du bist wehrlos, ich leide nicht, daß Ihr Euch heute rauft.«

»Laß ihn los«, wiederholte Georg heftig.

»Er hat recht, Jörge«, sprach der Reiter zwischen Zorn und Lachen. »Steckt ein und wartet auf einen andern Tag. Ich verspreche Euch, heut Frieden zu halten, obgleich Ihr meine Armbrust zerhauen habt. Laßt das Bein los, Junker Klette, und gesegne euch der Teufel eure Lustfahrt.«

»War er unhöflich gegen die Frauen?« fragte Georg zurück, indem er mit drohender Gebärde vor dem Wegelagerer hielt.

»Wir erheben keine Klage gegen ihn«, rief der Magister, »wir haben am Tage des Herrn genug von Streit gesehen und schon zuviel für unser Vergnügen. Weicht von hinnen, Ihr Catilina aus Moor und Heide, excede evade, erumpe.« Er stand drohend mitten auf der Straße, und seine Brillengläser glänzten gegen den Reiter.

Unterdes ritt Henner näher an Georg und sprach leise: »Durch Eure Gesellen wollte ich Euch sagen, damit Ihr nicht unrichtig von mir denkt, daß ich seither Leib und Roß einem andern zum Dienst angelobt habe und meine eigenen Händel nicht betreiben darf, bis ich wieder mein eigener Herr werde.«

[] Georg antwortete ebenso: »Ihr hattet es heiß, den Brei zu kochen, jetzt stellt Ihr ihn kalt. Seid Ihr frei, so laßt mich's wissen, dann bestimme ich die Zeit, wo wir uns treffen, damit ich für mich dasselbe Recht behaupte, das heut Ihr Euch nehmt. Ich denke, wir sorgen alsdann dafür, daß einer von uns heimgetragen wird.«

Henner nickte einverstanden: »Macht euch zuerst fort, Jörge, obgleich ihr die Stärkeren seid; ich will nicht vom Pferde steigen und mich nach der Armbrust bücken, während die Stadtjungen zusehen.« Und lachend fuhr er fort: »Ihr hättet heut nicht viel Ehre mit mir gewonnen, denn ich reite in einem Auftrage, an dem gelegen ist; ich und das Pferd sind abgetrieben, und ich habe Nacht und Tag den Riemen über meinem Magen enger geschnallt, weil er knurrte. Jetzt habt Ihr mir zerschlagen, was zu einem Feldhuhn oder Hasen helfen konnte, und ich muß mir's zurechtbasteln.«

Georg wies auf einen alten Baum. »Da wir einander durch die Haut an das Leben wollen, kann ich Euch, obgleich Ihr hungert, nicht einladen, mein Gast zu sein, auch würde Eure Galle gegen die Kinder von Thorn uns das Mahl verbittern; aber ich sende vom Hofe einen Kober und Krug dort in den hohlen Stamm. Findet Ihr's, so nehmt Ihr's ohne Dank.«

»Euch wäre auch schicklicher, Georg, wenn Ihr als ein Reiter geboren wärt; Ihr würdet in dieser Zeit auf gezäumtem Pferde um anderes sorgen als um Frauenfuhren«, antwortete Henner, und beide lüfteten gegeneinander ein wenig die Mützen. Darauf rief Georg: »Vorwärts«, Dobise knallte stolz mit der Peitsche, und die Pferde liefen, daß den Fahrenden in der Anstrengung, die Sitze zu behaupten, alle Sorge um Vergangenes und Künftiges dahinschwand. Auch Georg ritt schweigend, überdachte die Reden des Henner und wunderte sich, daß der Buschreiter ganz gegen seine Art lieber hungere, als die Kost mit Gewalt von den Bauern nehme. Als er endlich wagte, in den Wagen hineinzusprechen und Anna zu fragen, ob der rohe Mann sie erschreckt habe, saß die Jungfrau mit niedergeschlagenen Augen und gab mit gleichgültiger Stimme den Bescheid: »Es waren ja Männer genug zur Stelle«, und er merkte, daß sie durch die Begegnung gekränkt war.

Vor ihnen erhob sich ein Herrenhaus, der Wagen rasselte über die Zugbrücke und fuhr in einen engen Hof, in welchem Ställe und Wirtschaftsgebäude von Graben und hoher Mauer umgeben standen. Das Haus selbst war ein schmuckloser Steinbau mit dicken Wänden, auf dem Unterstock erhob sich ein zweiter mit verschlossenen Fenstern und mit kleineren Öffnungen, über welche sich Schirmdächer wölbten; der Raum war zur Aufstellung von Sandbüchsen und Geschütz bestimmt, jetzt aber diente er als Kornboden. Der Vogt des Gutes trat mit seiner Frau achtungsvoll heran, Georg sprang vom Pferde und half den Gästen aus dem Wagen. Als er alle auf [] dem Erdboden versammelt hatte, nahm er die Mütze ab und begrüßte im Namen seines Vaters den Besuch, während ein Knecht mit Dobise die Pferde nach dem Stall führte. Auch der Magister lüftete seine Mütze und antwortete durch schönen Gegengruß, worauf Georg in das Haus geleitete. Unter Vortritt des Magisters stiegen die Gäste die steinernen Stufen hinauf und sahen neugierig in die Herrenstube und über die gedeckte Tafel, auf welcher ein kleines Vesperbrot aufgestellt war, dreierlei Weizengebäck, süße und saure Milch, und was dem Magister lieber war, große Tonkrüge, gefüllt mit starkem Bier und uraltem Met. Mit heißen Wangen erfüllte Georg die Pflicht des Wirtes, er bot dem Magister den Ehrensitz und lud ihm zu beiden Seiten die Frauen; da er als Wirt bescheiden unten sitzen mußte, konnte er nicht vermeiden, daß Matz Hutfeld seinen Platz neben Anna erhielt. Das war ihm unlieb, und ihn ärgerte auch, daß Matz sogleich mit großer Sicherheit die Speisen bot und die Frauen zum Met nötigte, als ob er selbst der Gastgeber sei, doch tröstete ihn wieder, daß Anna sich auch gegen diesen ernsthaft hielt, auf den Teller blickte und wenig beachtete, wenn Matz seine runde Hand zierlich schwenkte und den Frauen die Babe, den großen Napfkuchen, vorschnitt. Frau Lischke aber ließ vergnügt ihre Augen umherschweifen, ermahnte Anna, die große Menge blanken Zinns zu bewundern, welches auf dem Tische aufgesetzt war und noch reichlicher auf Gestellen an der Wand, und sie hob das Tischtuch und rühmte das feine Gespinst. Das mußte auch Anna loben, und sie sah ein wenig nach Georg hinüber, als dieser ernsthaft sagte: »Es ist aus dem Brautschatz meiner seligen Mutter.« Der Magister aber, als er einen tiefen Trunk getan hatte, richtete sich strack auf und begann das Gespräch: »Vor allem sage mir, mein Sohn Regulus, wer war dieser gewappnete Strolch, was wollte er von uns, und was hatte er gegen euch, meine Scholaren?«

»Es ist ein Adliger«, erklärte Georg, »den sie den langen Henner nennen, seine Väter waren im Lande angesessen, er aber schweift ohne Gut und Habe, liegt bei den Landherren ein und gelobt sich bald dem einen und bald dem andern zur kleinen Reiterei.«

»Er ist ein armseliger Latro und Buschklepper«, fiel Matz wegwerfend ein, »er ist in der Stadt übel berüchtigt wegen seiner Schamlosigkeit, und ich werde meinem Vater sagen, daß er unsern Freireitern befiehlt, auf ihn zu fahnden und ihn festzumachen.«

»Diesmal hat er nur mit losen Reden gefrevelt«, versetzte der Magister, »und mein Sohn Eske hat das richtige getan, als er ihm das Bein schwenkte. Dich aber, Georg, muß ich schelten, soweit sich bei diesem Vespermahle geziemt, denn auch du bist wie ein Heckenreiter gegen ihn gesprungen und warst nicht abgeneigt, mich und die Frauen in eine Katzbalgerei zu verwickeln.«

»Ich merke wohl, Herr Magister, daß ich mich ungebührlich [] geregt habe, und ich merke auch, daß die Frauen mir deshalb zürnen. Aber da ich ihn von ferne sah, bekam ich Angst, daß er gegen die Gäste unschickliche Reden führen könnte, denn sein Mundwerk mahlt nur groben Schrot, auch gibt es zwischen mir und ihm alte Späne, weil er uns Thornern feindselig ist.«

»Vernahm ich recht, so war von einem Duellium die Rede.«

»Es ist nichts damit«, entschuldigte sich Georg mit bösem Gewissen, »er hatte sich früher gerühmt, daß er jedem Kinde von Thorn feindlich sein wollte, und kam heut zu sagen, daß er verhindert sei, gegen uns zu reiten.«

»Der lange Henner ist mit allen jungen Gesellen vom Artushofe verfeindet«, erzählte auch Eske, der in der Rede häufig zu spät kam, »denn er hat sich geweigert, auf der Stechbahn gegen uns zu stechen, weil unser Adel, wenn unsere Väter ihn auch gehabt hätten, durch Tinte bekleckst und durch die Gewandschere zerschnitten sei. Es ist jedem unleidlich, das zu hören.«

»Darum also wollte er nicht mit Georg raufen?« fragte der Magister ernsthaft.

»Bei diesem«, fuhr Eske vorsichtig fort, »will er eine Ausnahme machen, weil ihre Vorväter Landsleute gewesen wären aus Thüringen, wir aber stammten aus Westfalen; und er sagt, ein Vorfahr des Georg hätte lange als Knecht gedient bei einem seiner Vorfahren, deshalb habe er ein Recht, sich mit Georg zu schmeißen und ihn zu schlagen, sooft es ihm gefiele.«

»Du könntest auch Besseres tun, Lips, als den Frauen die ungefügen Reden des wüsten Junkers vorerzählen«, unterbrach ihn Georg mit einem furchtsamen Blick auf das ernste Gesicht der Jungfrau. »Aber hier ist ein Gast, welcher sein Schüßlein noch nicht erhalten hat«, und er bückte sich zu Ajax, der wohl wußte, wer Wirt war, denn er saß still neben ihm und bat mit Schweif und Pfoten. Georg goß Milch in eine Schale, brockte Weißbrot ein und setzte das Gericht neben Annas Stuhl auf den Boden, aber er gewann keinen dankenden Blick.

Jetzt nahm der Magister das Wort und sprach Gelehrtes über den Unterschied zwischen deutschen Rittermäßigen und römischen Rittern, die deutsche Reitersitte sei ungeschickt und barbarisch, bei den Römern aber sei sie weit besser gewesen, »denn«, sagte er, »die römischen Reiter vergeudeten nicht, sondern sammelten Geld und hielten auch für ehrenvoll, durch Kaufmannschaft vorwärtszukommen«. Er wurde heiter durch seine Rede und den Met, und da unterdes alle dem Vesperbrot Ehre erwiesen hatten, und da die Vogtin mit einer Handvoll großer grüner Blätter hereinkam und den Frauen viel von dem Weizengebäck einpackte, damit sie es in den Körben heimtrügen, so erhob sich auch der Magister und erklärte seine Beistimmung, als Georg um die Erlaubnis bat, den [] Gästen das Gutsland und die Gegend zu zeigen. Die Gesellschaft brach auf, Georg gab dem Dobise, der unterdes vom hohlen Baume zurückgekehrt war, einen Wink, worauf dieser zwei Lauten aus der Kammer holte und hinter ihnen hertrug. So schritten sie aus dem Hofe und zwischen dürftigen Hütten des kleinen Dorfes dahin. Die Dorfleute saßen gedrängt in der Schenke, aus welcher eine Sackpfeife klang; wer in der Tür stand, grüßte unterwürfig den Herrensohn und mit finsteren Blicken den Vogt, der den Gästen mit seinem großen Amtsstock folgte. Die Kinder des Dorfes starrten von den Hausschwellen neugierig auf die Fremden, ein übel bekleidetes Völklein, die meisten barfüßig, die kleineren nur im groben Hemde, und als Anna sich nach den rundlichen Wangen und blauen Augen umsah und einem Krauskopf die Wange streichelte, kam die ganze Schar nachgezogen, aus Furcht vor dem Stock des Vogtes in geziemender Entfernung.

Die Gäste durchschritten einen Wiesengrund und betraten den hochstämmigen Laubwald. Der unebene Fußpfad führte zu einer Lichtung, in welcher eine riesige Eiche stand, die Herrin des Waldes, umgeben von ihrem grünen Hofgesinde. Zwischen den hohen Wurzeln des Baumes war ein Balkenstück als Holzbank eingeklemmt, auch in der Höhe sah man über den mächtigen Ästen die morschen Bohlen, einst Boden und Seitenwände eines Baumhauses, wie es hier und da als Sommerlaube in den Ritterburgen und als Jagdhütte in den Wäldern zu finden war. In der Lichtung war es still und feierlich wie in einer Kirche, nur zuweilen klang von dem hohen Gipfel der klagende Schrei eines Raubvogels. »Hier ist ein philosophischer Sitz«, rühmte der Magister, sich schnell setzend und die Mütze lüftend, da der unebene Pfad ihm warm gemacht hatte. Georg aber sah nach Dobise mit den Lauten zurück, und Anna erriet wohl seine Gedanken. Denn nachdem alle eine Weile still geruht hatten, begann sie: »Die Nachtigall höre ich nicht mehr, und auch der Kuckuck schweigt, er hat sich wohl, wie das Lied im Scherze sagt, zu Tode gefallen in einer alten Weiden«, und sie begann mit leiser Stimme die Melodie. Da faßte Georg schnell die eine Laute, reichte dem treuen Philipps die andere, und beide nahmen zur Stelle die Weise auf: »Wer soll uns nun, wer soll uns nun die liebe Zeit vertreiben.« Kräftig fuhren die Jünglinge fort: »Ei, das soll tun Frau Nachtigall.« Und Georg hörte während des Singens mit Entzücken, wie Anna mitsang und künstlich in hoher Stimme trillerte, ganz, als wollte sie die Nachtigall nachahmen. Auch der Magister summte im Baß »Kuckuck« dazu. Als das Lied zu Ende war, lachten alle gegeneinander, die Spieler begannen eine andere noch feinere Weise ohne Gesang, und darauf stimmten Wirt und Gäste in schöne Lieder ein, welche sie gemeinsam vermochten.

Anna wurde von Herzen vergnügt; Georg gefiel ihr heut ausnehmend [] gut, wie er in blühender Jugend mit dem Rosse sprang, daß er sich ritterlich gegen den Vater hielt, daß er so froh war, sie im Hause zu begrüßen, und so bescheiden den Wirt machte mitten in allem Überfluß des Reichtums. Wohl hatte er sie durch sein schnelles Losfahren gegen den Fremden geängstigt, und auch am Tische hatte der reiche Haushalt sie bedrückt, aber das alles war vergessen, seit sie miteinander sangen, und sie fühlte sich ihm so vertraulich, als ob sie zu ihm gehöre. Als sie während des Ausruhens fröhlich um sich sah, merkte sie, daß sie nicht allein waren, am Rande der Lichtung lagerten die Dorfkinder, die kleinen saßen auf der Erde, den Finger im Munde, alle staunten unverwandt die vornehmen Stadtleute an. Da ergriff Anna schnell einen Handkorb, der neben ihr stand, eilte zu ihnen und sprach: »In dem Korbe ist Süßes für euch, ihr Kleinen, seid fromm und sprecht ein Vaterunser.« Aber die Kinder glotzten sie an und regten sich nicht. »Die wissen nichts vom Vaterunser«, lachte der Vogt, »wo sollen sie es her haben, von den Eltern lernen sie eher Flüche und Schelmenlieder.«

»Lieber Gott«, rief Anna erschrocken, »so lebt ihr ja als kleine Heiden dahin.« Sie beugte sich nieder, legte den Kindern der Reihe nach die Hände zusammen und gebot: »Sprecht mir alle die Worte nach, welche ich euch vorsage, damit der liebe Gott doch wenigstens eure Stimmchen hört, so bekommt ihr den Kuchen«, und sie sprach ihnen die erste Bitte nachdrücklich vor. Da schrien die Kinder hoffnungsvoll den frommen Gruß nach, und die Jungfrau neigte das Haupt. Dann griff sie in den Korb und verteilte den Kuchen. Sie sah begeistert aus, wie damals in der Kirche.

Aber die Thorner sahen befremdet auf diese sorglose Verteilung, welche ihnen ungehörig und als eine Kränkung des Gutsherrn erscheinen mußte. Denn das Gebäck war aus Gastfreundschaft den Geladenen gewidmet, und es war ihnen feierlich als angenehme Erinnerung beigepackt worden. Am tiefsten gekränkt war die Ratsbotin, da es ihr Handkorb war, aus dem die Jungfer ihre Verschwendung betrieb. Sie faßte den Korb und sagte mit scharfer Stimme: »Hierzulande ist es nicht Brauch, Jungfer Anna, Ehrengeschenke der Hauswirte vor ihren Augen zu vergeuden, am wenigsten aus fremdem Korbe.«

»Nehmt dafür den meinen«, antwortete Anna, sich erhebend. Obgleich sie gutherzig lächelte, so dachten doch die Thorner, daß die Ratsbotin nicht ohne Grund ärgerlich war. Und Georg freute sich zwar, daß sie von den Kindern mit so sicherem Vertrauen zu ihm aufsah, als ob sie selbst die Gutswirtin wäre, aber er sagte doch leise zu seinem Gesellen Eske: »Ach, sie ist schön und hat als Nachtigall holdselig getrillert, aber ich fürchte, ihrem Gemüt ist alle irdische Freude gleichgültig.«

[] »Sie ist zu einer Nonne geboren«, versetzte Lips unwillig, und Georg dachte: ich will und muß erfahren, ob sie mich so geringachtet wie unsern Kuchen.

Anna hatte sich wieder zu den Kindern gebeugt, die ihr jetzt williger Bescheid gaben. Da rief eine schrille Stimme von der Seite: »Lehrt nur die deutschen Krähen singen, Junker Georg, hier vor Eurem Baume; der Tag wird kommen, wo die fremden Vögel wieder wegfliegen, große und kleine.« Eine alte Frau, verwittert und runzlig, wankte unter der Last eines schweren Korbes heran, stellte sich vor Georg hin, und die grauen Augen in dem wankenden Kopf sahen scharf nach dem Herrensohn.

»Wollt Ihr schweigen, Alte«, rief Dobise, herzueilend, und versuchte die Frau wegzuführen, sie aber hielt sich mit ihrer Hacke an eine Baumwurzel.

»Laß deine Mutter, Dobise«, gebot Georg, »ich weiß, sie wünscht mir nichts Böses.«

»Denkst du daran, Junkerlein, daß ich dich einst auf den Armen hielt? Lange hast du der Alten nichts Gutes in das Haus gesandt, und doch gehe ich hier Jahr für Jahr um den Baum und sehe zu, wie die Krähen kommen und fliegen; ich höre, wie das Holz im Sturme kracht, und ich fege den Schnee von den Wurzeln, damit die Seelen der Verstorbenen gute Bahn finden, wenn sie aus den Ästen zur Erde fahren.«

»Demens est«, rief der Magister.

Aber die Alte versetzte mit scharfem Ton, als wenn sie die Rede verstanden hätte: »Ich bin nicht schwachsinnig, deutscher Mann, und wenn die deutsche Glocke bimmelt, opfere ich den Heiligen mein Wachslicht so gut wie andere. Das Herrenkind versteht mich wohl, denn es ist von alten Leuten gesagt, als der Stamm in festem Holze stand, kamen seine Vorfahren in das Land, sie fällten ringsumher den Wald, sie zimmerten ihr grünes Lager unter dem Wipfel, und ihre Weiber und Kinder saßen in den Ästen. Von hier flogen sie über das Preußenland, ihrer wurden viele und unserer wenige. Solange der Baum grünt, soll das fremde Geschlecht in dem Lande herrschen. Grüßt Euren Vater, Georg, und sagt ihm, es rauscht in der Luft, und die Unsichtbaren brauen einen Sturm, der Moder frißt in der Eiche, er soll seinen Sohn hüten«, und mit veränderter Stimme wiederholte sie: »Warum hast du der alten Mutter so lange nichts Gutes hinausgeschickt, ich singe deinetwegen und gehe für dich um den Baum, aber ich kann das Volk der Würmer nicht mehr aus dem Holze bannen.«

»Gut, Mutter, daß Ihr erinnert; geht heut abend auf den Hof, der Vogt wird Euch geben, was Euch erfreut«, und während Dobise die Alte abführte, gebot er dem unwilligen Vogt: »Der Vater will, daß ihr von Euch kein Leid geschieht, wenn sie auch wilde Reden[] verführt; sie ist harmlos und war eine Zeitlang meine Wärterin.« Und zum Magister fuhr er fort: »Diese und ihr Sohn sind eigene Leute des Gutes und stammen von den alten Preußen. Die Leute sagen, daß einst meine Vorfahren, als sie unter dem Kreuz in das Land kamen, bei dem Baume gerastet haben, und darum prophezeien sie allerlei. Sonst war das Sommerhaus dort oben in besserem Stande, ich selbst habe oben mit dem Flitzbogen geschossen, jetzt hat niemand daran gedacht, neues Gebälk einzuziehen.«

Anna hatte mit Anteil die Erklärung gehört. Als sie nun zur Heimat aufbrachen, machte sich's, daß Georg neben ihr ging, er half ihr das grüne Regentuch umlegen, denn die Sonne stieg niederwärts, und es wurde kühl. Da begann sie: »Die Alte war doch eine schreckhafte Frau, und zu ihrem Sohne, Eurem Diener, könnte ich auch kein Zutrauen haben.«

»Er ist anstellig, und der Vater ist gewöhnt, ihm zu vertrauen.«

»Ich denke, Euer Vater kommt selten auf das Gut.«

»Er sorgt doch in der Stille um alles, was hier vorgeht, aber er lebt schweigsam vor sich hin. Es werden bei uns im Hause nicht mehr Worte gemacht, als gerade nötig sind. Immer freue ich mich, wie der Herr Magister mit Euch verkehrt; Ihr seid freilich an Hausfrauen Statt und seine Stütze.«

»Ihr könnt gar nicht denken, wie gut der Herr Vater gegen mich und alle Welt ist«, versetzte Anna eifrig.

»Gern wüßten wir, ob der Herr Magister auch mit uns zufrieden ist«, fragte der schlaue Georg.

»Er mag wohl manche Ursache haben, zu tadeln«, sagte Anna lächelnd.

Das gab Georg bescheiden zu, und sich ein Herz fassend, fuhr er fort: »Ach, liebe Jungfer Anna, mehr noch als die Gesinnung Eures Herrn Vaters kümmert mich die Eure, denn ich besorge, daß Ihr mir in Eurem Herzen abgeneigt seid.«

Anna zog an ihrem Tuche. »Warum denkt Ihr so?«

»Ich merke zuweilen, daß Ihr gegen meine Gesellen freundlicher redet beim Gruß und Abschied; denn den anderen, vorab dem Matz Hutfeld, sagt Ihr ganz fröhlich Dank und auf seine Frage auch einmal freundlichen Bescheid. Wenn ich aber die Treppe heraufkomme, so tretet Ihr in die Küche zurück, und wenn Ihr mir antworten müßt, so sind es nur kurze Worte. Ich weiß es wohl«, fuhr Georg in aufrichtiger Reue fort, »daß ich Euch schwer gekränkt habe, bevor ich Euch kannte, und ich fürchte, daß Ihr das nicht vergessen könnt.«

Da sah sie ihn schweigend an mit so warmem Blick, und ein liebreiches Lachen flog über ihr Antlitz, daß ihm sein Herz vor Wonne hüpfte. Sie waren von den andern durch ein Gebüsch getrennt, das [] oben in rotem Abendlicht glänzte und unten in bläulicher Dämmerung stand, er fühlte einen warmen Lufthauch an seiner Wange, und ein Vogel rief von dem Aste: Flink, flink! Da vergaß er sich ganz und gar, er vergaß, daß er als Wirt neben seinem Gaste ging, er schlang den Arm wieder um sie und neigte sich, um sie zu küssen.

Aber die Hülle sank zwischen ihr und ihm zur Erde, sie entwand sich ihm heftig, er sah zum zweitenmal ein verstörtes Gesicht und den starren Schrecken in ihren Augen, im nächsten Augenblick rannen Tränen auf ihre Wangen. Sie wandte sich ab und ging, ohne ihn noch eines Blickes oder Wortes zu würdigen, eilig den andern nach. Er stand am Wege, hob betäubt den Mantel auf und fühlte sich elend und verworfen. Er hatte schnell erfahren, was er durchaus wissen wollte, daß sie ihn anders achtete als sein Gastgeschenk, denn sie hatte seinetwegen geweint. Sie aber erkannte, daß er in dem Übermut eines vornehmen Knaben Dreistes gegen sie wagte, und ihr Herz empörte sich gegen ihn.

Obgleich sie kein Wort geredet hatte, behauptete Georg doch vor sich selber: ›Sie ist hart und scharf wie Riedgras. Ich möchte Matz Hutfeld Püffe geben, er ist geradeso kalt wie sie. Beide passen gut zueinander, ich merke auch, daß er sogleich gegen sie hübsch tut.‹ So schritt er finster und grollend hinterdrein und fühlte sich unglücklich wie noch niemals in seinem Leben. Erst im Hofe, als der Magister stehenblieb und ihn wegen der Heimfahrt anredete, gedachte er seiner Pflicht; er lüftete die Mütze und lud, wie alle erwarten mußten, zu einer Abendkollation ein. Wieder betraten sie die Herrenstube, aufs neue war der Tisch gedeckt und reichlich besetzt mit allerlei auserwählter Kost, worunter ein riesiger Schinken war, daneben Pfefferkuchen und sogar die neueste Erfindung, welche die Kaufherren aus Italien eingeführt hatten, heilkräftiger Marzipan, und zwischen den Krügen mit Bier und Met standen jetzt Flaschen mit süßem Sekt. Der Magister konnte einen Ausruf angenehmer Überraschung nicht unterdrücken, als er eine solche Besetzung der Herrentafel sah, und er merkte nicht, daß, was ihn mit stolzer Befriedigung erfüllte, sein liebes Kind noch mehr demütigte und ihr aufs neue Tränen in die Augen lockte. Alles war sehr festlich, und die meisten freuten sich der Ehre, nur zwei saßen bleich und verstört, und das Hündlein lief vergeblich zwischen ihnen. Da war es ein Glück, daß der Magister die Gesellschaft unterhielt von den Pfauenzungen seiner Römer und daß einer von diesen die Fische mit Sklaven gefüttert habe. Nur Frau Lischke antwortete: »Pfui, der Türke.« Als Dobise draußen knallte, stand der Magister auf, gerötet vom Sekt, und hielt die Dankrede an den Hausherrn und den gegenwärtigen Sohn Regulus, wobei er auch den Vogt und die Vogtin ehrenvoll erwähnte; und als sie zu dem Wagen traten, sprach [] er, an das Schüttern gedenkend, großartig wie ein römischer Feldherr: »Hinter uns liegt die Freude, jetzt kommt die Ehre«, worauf die Gäste zur Vorder- und Hintertür hineinstiegen. Es war eine schweigsame Fahrt, Dobise fuhr maßlos, denn es war spät geworden, und er dachte an die Heckenreiter. Georg trabte finster an der Seite, wo die Ratsbotin saß, und in ihm klang es zum Abendgeläut der Dorfglocke: Es ist vorbei und kann sich nimmer wenden. Als endlich der Wagen an dem Birkengehölz hielt und Frau Lischke der Gesellschaft Trennung gebot, sah er noch einmal in das verblichene Antlitz Annas und auf die niedergeschlagenen Augen, mit denen sie sich gegen den Abschiedsgruß der Schüler neigte, und ritt stumm neben seinen Gesellen, dem Reiter und Fußgänger, einem andern Tore zu.

Am Abend ging der Magister begeistert in seinem Museum auf und ab, während Anna schweigend nach den Trümmern des Schlosses starrte, von denen sich jetzt niemals mehr eine Abendmusik hören ließ. »Es war alles rühmlich und freudenreich«, triumphierte der Magister, »und der ansehnliche Herr Marcus König hat sich königlich gegen uns verhalten.«

»Er selbst war aber nicht da«, warf Anna ein.

»Dafür hat er seinen Sohn gesandt, der uns im Grunde vertraulicher ist«, verbesserte sie der Vater; »und ich habe beschlossen, den günstigen Gönnern meine Dankbarkeit zu erweisen durch Dedizierung und Überreichung eines elegischen Gedichtes zu Weihnachten; habe auch schon dem Hannus Buchführer davon Andeutungen gemacht, welcher sich bereit erklärt, die Kosten für einen Bogen Papier und Druck zu tragen, mir mehrere Exemplare gratis zu verabreichen, den Rest womöglich um drei Kreuzer zu verkaufen. Der Bogen muß in Danzig gedruckt werden, weil man hier in dieser Kunst nichts vermag.«

Als der verstörte Georg mit seinen Gesellen den Marktplatz betrat, standen die Leute in eifrigem Gespräch. Vor dem Rathause hielten polnische Reiter, im Artushofe saßen die Brüder dicht gedrängt, auch er vergaß auf Augenblicke sein Leid, als ihm seine Genossen zuriefen: »Es ist Botschaft gekommen vom polnischen König, der große Reichstag wird zum Winter nach unserer Stadt geladen, es geht gegen den deutschen Hochmeister.«

Und als der Winter kam, als Hannus einen Danziger Ballen auspackte und der Magister seine Bogen, welche er lange mit stillem Behagen betrachtet hatte, den Gönnern der Schule austrug, schritt er durch den Tumult fremder Haufen, er fand in den Häusern seiner Patrone sorgenvolle Gesichter, und ihrem Dank, den sie nicht vorenthielten, fehlte die Herzlichkeit.

[]

Der Hochmeister

Die vier Bürgermeister hielten im Artushofe mit den Ältesten der Bruderschaft vertraulichen Rat, wie die polnischen Herren bei den ansehnlichen Bürgern eingelegt werden sollten. Jeder der Anwesenden begehrte solche Gäste, die ihm bekannt waren, oder von denen er Vorteil hoffte. Marcus König war der einzige, welcher geduldig hinter seinem Becher saß, und wenn er einmal das Wort ergriff, nur für Abwesende sprach, damit diese nicht übermäßig beschwert würden. Es geschah wie durch Einverständnis, daß niemand das Haus des Marcus in Vorschlag brachte, entweder aus Achtung vor dem stillen Manne oder weil es unheimlich geworden war, denn gerade in den letzten Tagen hatten die Nachbarn wieder über nächtlichen Spuk geklagt. Doch nur hinter dem Rücken des frommen Hausherrn wurde dergleichen gemurmelt, denn man wußte, daß er Fragen darnach mit einem finstern Zornesblick beantwortete oder mit kalter Abweisung, welche noch mehr gefürchtet war. Endlich begann der alte Burggraf: »Die Kumpane haben jeder gewählt, nur Ihr, Bruder Marcus, seid noch zurück. Da Ihr nicht frei bleiben werdet, so ersuche ich Euch, das Recht unserer Bruderschaft zu gebrauchen.«

»Ich bin bereit, den Fremden zu nehmen, welchen Euer Wille mir zuteilt«, versetzte Marcus.

Der Bürgermeister nickte und sah in die Liste. »Was würdet Ihr zu dem hochwürdigen Bischof von Plozk sagen?«

»Da er von Euch kommt, will ich ihn und seine Begleiter, soweit das Gelaß reicht, gern beherbergen; doch zürnt nicht, wenn ich Euch sage, nur ungern öffne ich mein Haus den liederlichen Weibern, welche von den geistlichen Herren mitgebracht werden.«

»Der Mißbrauch verleidet vielen die Bischöfe«, gab der Burggraf zu.

»Vielleicht beschwert Euch das weniger als andere«, warf ein Bruder ein, »da in Eurem Hause die wilden Weiber keiner Hausfrau die Ehre kränken.«

»Martha Hutfeld hat in meinem Hause gewohnt«, entgegnete Marcus, »und ich will nicht, daß ihr Sohn ein täglicher Genosse der Unordnung werde.«

»Der Bischof bringt wohl seine Trauten in der Nähe unter«, entschied Hutfeld, »ich finde Gelegenheit, mit seinem Kaplan darüber zu reden.«

Die Stadt füllte sich mit Fremden, durch die Straßen schritten vornehme Prälaten mit ihrem geistlichen Gefolge und polnische Edle, begleitet von einem langen Troß Bewaffneter; vor den Schenken zankten, fluchten und umarmten sich Schlachtschützen mit großen Bärten und wilden Gesichtern. Die friedliche Stadt war in [] ein Feldlager verwandelt, auf den Straßen und in den Häusern klang lauter die polnische Rede als die deutsche. – Der Wintersturm fegte und heulte in den Schornsteinen, und Eisschollen trieben auf dem kalten Wasser, als Bürgermeister und Rat über die deutsche Brücke der Weichsel zogen, um an der Stadtgrenze den einziehenden König von Polen zu begrüßen. Unter einem seidenen Baldachin, den zwei Bürgermeister und zwei Herren von der Landschaft trugen, ritt der König in die Stadt, huldvoll nach allen Seiten lächelnd, ihm folgte polnisches Kriegsvolk, das den Thornern unendlich schien, stundenlang dauerte der Einzug. Den Bürgern war es nichts Neues, den König und den polnischen Reichstag in ihren Mauern aufzunehmen, sie hatten auch gelernt, die Augen zu schließen gegen fremden Brauch und zuchtloses Benehmen der Gäste, solange diese sorglos ihre Geldtasche öffneten, doch so große kriegerische Pracht und Menge hatte das lebende Geschlecht nimmer gesehen. Die Leute staunten über samtene Pelzröcke, silberne Rüstungen und edle Rosse, deren Reitzeug mit bunten Steinen bedeckt war, und sie schrien einander die Namen der vornehmsten Herren zu. Aber viele empfanden Schadenfreude, als ein kalter Sprühregen auf die Einziehenden niedersank und den Fremden die kostbaren Kleider verdarb, obgleich sie selbst nicht weniger naß wurden. Verständige Männer blickten mit geheimem Schrecken auf den Strom wilden Kriegsvolks, der durch die Tore eindrang, und fühlten sich erst erleichtert, als die Mehrzahl nach kurzer Rast auf der entgegengesetzten Seite der Stadt wieder hinauszog, um sich in den Dörfern der Umgegend zu lagern. Bis zum späten Abend wogte das Gewühl in den Straßen, und die Ratsbeamten verhandelten mit heißen Gesichtern und heiseren Stimmen gegen Haufen unzufriedener Gäste, welche viel mehr von der Stadt begehrten, als diese zu leisten vermochte.

Auch vor dem Hause des Marcus hielt ein stattlicher Zug; der hochwürdige Bischof von Plozk mit seinen Geistlichen und Edelleuten stieg ab und wurde an der Tür von dem Hauswirt empfangen, der sein Knie bis auf den Boden neigte, den Segen des Bischofs erbat und ihm demütig in der Gaststube den Willkommen bot. Unterdes geleitete der Ratsdiener einige vornehm geschminkte Frauen, welche auf Wagen und Rossen vor der Einfahrt hielten, um die Ecke in ein Nebenhaus der Hintergasse, obgleich die Weiber mit hellen Worten gegen die niedrige Herberge fochten. Aber auch die geistlichen Herren im Markthause erfuhren bald, daß ihre Wohnung Gäste ungern ertrug und daß sie widerwärtigen Heimsuchungen nicht entgingen, wenn schon ihr Hauswirt ein frommer und eifriger Christ war.

Am Abend schlich Dobise mit einer Laterne über den Bodenraum des alten Hauses, er sah scheu um sich, bevor er einen Bretterverschlag [] öffnete, der mit alten Kisten und Fässern gefüllt war. Dort wand er sich zwischen dem Gerät, hob an der Rückwand ein Brett und schlüpfte durch die schmale Öffnung in einen engen lichtlosen Raum, den er sich allmählich hergerichtet hatte und den nur er kannte. Es war darin gerade für einen Schemel Gelaß und für einige Kisten. Dobise hing die Laterne an einen Pflock, richtete sich so hoch auf, als er vermochte, und sah sich stolz in dem Verschlage um. ›Jetzt ist Dobise wieder ein Edelmann und Kaufherr von Thorn.‹ Er warf seine Jacke ab, hob aus der Kiste einen stattlichen Pelzrock und eine Mütze von Marderfell, tat beides an und setzte sich auf den Schemel, dann holte er aus einem anderen Behältnis einige Stücke schweren Seidenstoffes, die mit Gold durchwirkt waren, breitete sie um sich her und sah entzückt, wie die bunten Muster im Licht der Laterne glänzten. ›Dies ist der fürstliche Mantel für mich, und hier ist auch ein Prachtkleid für die Alte im Dorfe, das ich ihr aufhebe.‹ Er griff wieder in eine Ecke, holte einen Krug hervor, schwenkte ihn und murmelte: ›Dies trinke ich zu meinem eigenen Wohl, es ist das Beste aus dem Keller des Alten.‹ So saß er da, ähnlich einem Hauskobold, die kleinen Augen zwinkerten unter den schwarzen Brauen, und die schmalen Lippen in dem gelben Gesicht zogen sich in behaglichem Lachen zu beiden Ohren. ›Nie mand weiß es, daß ich hier sitze als der echte Herr der Stadt und des Landes, auch der Alte bildet sich ein, daß ich an unseren Kisten zimmere; drüben in der Kaufkammer rechnen sie, und der fremde Gast, der unter mir wohnt und aus seinem schwarzen Buch beten sollte, zankt sich mit seinen Dirnen; ich aber trete mit meinem Fuß auf ihre Köpfe und freue mich.‹ Wieder trank er und murmelte: ›Deutsche und Polen sind jetzt darüber her, einander umzubringen. Wenn sie abgewürgt sind, bleiben wir übrig und werden wieder Gebieter des Landes, wie wir einst waren. Vivat Rex, Dobise‹, rief er, den Becher hebend, ›möge allen Fremden scharfes Eisen durch die Hälse fahren.‹ Er trank und setzte ab. ›Meinen Alten nehme ich aus, dem gebe ich ein bis zwei Goldstücke zur Heimfahrt über das gelbe Weichselwasser, den Georg nehme ich aus, und vielleicht noch wenige Städter, darunter Barthel Schneider.‹ Er lachte über das ganze Gesicht. ›Den Schneider soll alle Tage der Teufel zwicken, wenn ich erst Herr von Thorn bin. Dann werfe ich auch dieses goldne Kleid der Jungfer Anna zu und mache sie zur Königin.‹ Er hielt an und lauschte. Der Bischof zankt noch immer mit seinen Weibern; es ist ein filziger Pfaffe, den sie in unser Haus gelegt haben, und meinem Alten liegt wenig an ihm, denn der Alte und ich, wir sahen einander an, und mein Alter fragte: ›Ob der Pole hier Ruhe findet? Mancher wird furchtsam, wenn die Katzen auf dem Boden springen.‹ Nach diesen Worten fuhr Dobise in die Höhe und sprang mit beiden Beinen kräftig gegen den Fußboden, saß nieder und fuhr verächtlich fort:[] ›Es ist ein schmutziger Pfaffe, der zu der schwarzen Maruschka von Czenstochau betet, obgleich dies Weib aussieht wie des Teufels Großmutter. Wie will das polnische Weibsstück wagen, sich gegen unsere Maria von Thorn zu brüsten, welche weiß und rot in der Kirche steht mit goldner Krone und blauem Mantel? Ich denke, es wird dem Alten ein Gefallen sein, wenn ich den Bischof aus dem Hause schicke.‹ Er kniete an der Seite nieder, wo er die Flasche unter dem Fußboden heraufgeholt hatte: ›Gepriesen sei mein Kellerloch. Mühsam habe ich den Schutt ausgewühlt bis zu den Deckbrettern über der Gaststube, dafür höre ich die Reden dort unten.‹ Er neigte das Ohr: ›Der Pfaffe zankt noch immer auf polnisch.‹ Dobise steckte den Kopf in das Loch, stieß ein wildes Gebrüll aus und schrie in polnischer Sprache: »Hoho, der Teufel ist über euch, ihr Satansbrut«, worauf er schnell das seidene Gewebe und den Krug versteckte und aus der Kammer sprang. Er stolperte noch zwischen den Kisten, löschte das Licht aus und fuhr unter dem Dach nach dem Hinterhause.

Am nächsten Morgen waren die geistlichen Herren in geheimnisvoller Unruhe, sie murmelten untereinander und schritten wieder mit Lichtern und Sprengwedel durch den Oberstock, doch wollte der Grund ihrer Bekümmernis nicht laut werden. Bis endlich der hochwürdige Bischof zu den Bürgermeistern sandte und sich eine andere Herberge forderte. So wurde Marcus schnell der Gäste enthoben; nur in seinem Hinterhause blieben einige Geistliche aus dem Hofhalt des Bischofs, welche in der gefährlichen Wohnung bei Tag und Nacht länger beteten, als sonst ihre Gewohnheit war.

Der Reichstag wurde eröffnet. Die Abgeordneten der deutschen Städte waren ebenso eifrig als die Polen, Krieg gegen den widersetzlichen Hochmeister zu fordern, und der König gab ihrem Drängen nach. Zum letztenmal wurde Herr Albrecht gefordert, den Lehnseid zu leisten, und als er nicht erschien, trugen die Fehdeboten des polnischen Adels zahlreiche Absagebriefe über die Grenze.

Der Krieg begann, ein seltsamer Krieg, denn weder der König noch der Hochmeister geboten über ein Heer, um ihren Willen durchzusetzen. Die Thorner hatten vor wenig Wochen eine große polnische Heeresmacht angestaunt; es waren fast nur Banden polnischer Edlen gewesen, und diese hatten zwar feurig nach dem Kriege geschrien, aber sie hatten wenig Lust, selbst Haut und Gut im Kampfe zu wagen; das polnische Heer ritt auseinander und verzog sich nach der Heimat. Der Hochmeister hatte seit Jahren um den bevorstehenden Kampf gesorgt, aber alles Mühen und Verhandeln war fruchtlos gewesen, sein Land war klein, arm, widerwillig, nur wenige der Ordensherren waren feldtüchtige Reiter, die Bürger weigerten sich, im Harnisch zu ziehen, das gedrückte Landvolk saß waffenlos, und es fehlte ohnedies an Händen, das[] Land zu bebauen; die Fürsten im Reiche hatten zwar Gutes versprochen, aber wenig gehalten. Zuletzt waren beide Herren in der Lage, nach geworbenen Söldnern auszuschauen, und keiner von beiden hatte das Geld, starke Fäuste zu bezahlen. Der Hochmeister fand einigen guten Willen bei der fränkischen Ritterschaft und ließ durch diese im Reiche Landsknechthaufen werben, der König von Polen wandte sich an die Böhmen und sogar an die Tataren, und diese Heiden, welche am schnellsten zur Stelle waren, fielen in das Ordensland ein, brannten, erschlugen und hausten so greulich, daß ein Schrei des Unwillens bis in das Reich drang und daß auch die Bürger von Thorn die Köpfe schüttelten und in den Schenken zur Beunruhigung des Rates gegen die polnische Zügellosigkeit ein Gemurr erhoben. Sie freilich saßen vorderhand in Sicherheit. Immer noch war der König in der Nähe, viele vornehme Herren ritten aus und ein, und gutes Geld wurde lustig ausgegeben und leicht verdient. Doch außerhalb der Mauern merkte man die Verstörung, oft sahen die Bürger den Himmel gerötet, Räuber und loses Gesindel wurden eingebracht, und Hans Buck hatte mehr Arbeit als sonst. Noch in anderer Weise empfand die Stadt den Krieg, die Bürger selbst lebten unruhig und wild, vom Morgen bis Abend waren die Schenken gefüllt, feste Arbeit wollte nicht gedeihen, wer unzufrieden war mit dem Rat, ballte nicht mehr die Faust in der Tasche, sondern schrie laut hinter seinem Kruge; wer zornig wurde, schlug schneller los als sonst, und das Schlichten und Rechtsprechen nahm kein Ende.

Zwischen Anna und Georg war seit jener Fahrt nach dem Gute kein Vertrauen mehr, der Herbstwind stürmte gegen die junge Neigung, alle Blüten welkten im Frost, und Schneegestöber wirbelte darüber. Georg litt zuweilen an unchristlichen Gedanken. »Die teuren Heiligen und wer sonst im Himmel Würde hat, werden jetzt zu oft durch Bitten beschwert. Viele, die am eifrigsten zu ihnen schreien, taugen wenig, und andere, die sich übrigens redlich halten, verlieren dadurch ihren Frohsinn. Ich lobe mir eine Magd, die vor einem frischen Knaben lieber daran denkt, ihre Arme um seinen Hals zu werfen, als die Hände zu falten. Als ich im letzten Winter mit Eva Eske aus einem Becher trank und sie küßte, lachte sie nur, und auch Dörte Mochinger, das Doktorkind, verzog nur ein wenig die Nase, obwohl sie ebenfalls eine Fremde ist. Und mich dünkt, sie ist auch hübscher.« Das konnte er freilich im Ernste nicht für wahr halten, und wenn er Anna vor der Schulstube sah – selten mehr als eine Wange und ein Ohr –, so fühlte er die bittere Reue in seinem Herzen. Anna aber dachte: seine Augenbrauen sind schräge, gerade wie sie auf der Teufelslarve waren. Nein, nicht ganz so, aber sie sind listig geschwungen, und man kann seinem Übermut niemals trauen. Ach, was ist es ein Unglück, wenn Leute [] so reich sind, die ganze Stube voll Zinn und alle Truhen voll feiner Wäsche, und sie sitzen triumphierend am reichbestellten Tisch und meinen mit uns Armen spielen zu können wie mit einem Hündlein. Bei solcher Mißachtung, welche in beiden arbeitete, war es ihnen lästig, daß sie doch nicht vermeiden konnten, eines um das andere zu sorgen. So war Ajax durch seine Zuneigung zu Georg verleitet worden, hinter diesem aus dem Hause zu laufen, und Georg, welcher gerade in trauriger Stimmung war, hatte nicht darauf geachtet, bis er ein klägliches Gewinsel hörte und den Kleinen zwischen den Pferdebeinen polnischer Leibwächter sah, welche die Straße hinabsprengten. Er warf sich zwischen die Reiter, die Pferde bäumten, die Polen fluchten, aber er riß, obgleich sein Arm durch einen Hufschlag getroffen war, das Tierchen aus der Gefahr und trug es in die Schule zurück. Schon im Hause hörte er Annas Stimme, welche ängstlich nach dem Kleinen rief, er sprang die Treppe hinauf, ließ ihn vor Annas Füßen nieder, sagte mit gleichgültiger Miene: »Ich fand ihn auf der Straße«, zog die Mütze und ging stolz hinab, bevor Anna mit ihrem Danke zurechtkam. Aber Lischke hatte etwas von der Rettung gesehen, und als Georg am andern Morgen den Arm in der Binde trug und der Magister bei Tische bedauernd erzählte: »Den Regulus hat ein Polenpferd geschlagen«, da sprach Anna zwar nichts, aber Ajax hatte es am Nachmittage gut, denn sie hielt ihn auf ihrem Schoße fest, damit er nicht in ein neues Unglück liefe.

Kurz darauf kam in die Stadt eine Schreckensbotschaft, daß fremdes Raubgesindel sich auf Stadtgrund eingenistet hatte und in den Dörfern plünderte und brannte. Da trat Georg mit anderen Knaben des Hofes, welche für Reiterdienst eingeschrieben waren, vor den Rat und erbot sich, freiwillig in Waffen auszuziehen. Das gefiel dem Rate, weil die geworbenen Freireiter in dieser Zeit nirgend ausreichen wollten. Die Knaben sollten unter Anführung eines Alten über das Land und durch die Wälder reiten, um die Wegelagerer einzufangen. Darunter litt natürlich die lateinische Schule. Als Georg von dem Magister kam, bei dem er sich und die Genossen auf einige Tage beurlaubt hatte, stand Anna an der Treppe, und da er vorübergehen wollte, redete sie ihn an: »Wer seinen Arm noch verbunden trägt, der sollte sich nicht wieder in Gefahr werfen.« Georg aber hob lachend den Arm aus der Binde und antwortete kurz: »Der Schlag war nicht der Rede wert, und es war der linke.« Rauh war die Anrede und rauh war die Antwort. Und als die Reiter zur Nacht nicht heimkehrten und Lischke allen, die ihn hören wollten, erzählte, daß man in der Ferne Schüsse aus Feuerröhren gehört habe, da ging in manchem Hause zu Thorn die Nachtruhe verloren, und es gab solche, welche bei brennender Lampe vergeblich auf den Hufschlag Heimkehrender lauschten.

[] Erst gegen Abend des nächsten Tages rief die Hauswirtin die Treppe hinauf: »Es schießt wieder, der Türmer schreit herunter, daß die Unsern sich mit fremden Reitern auf dem hohen Land herumtreiben«, und einige Zeit darauf rief sie wieder: »Sie kommen zum Jakobstor herein, schnell, Jungfer Anna, es sind nur wenige Schritte«, da ging Anna mit, nicht freiwillig, sondern von der Frau fortgezogen. Sie stand unter dem Volk unweit des Tores, und Georg ritt vor seinem Haufen bei ihr vorüber mit tiefliegenden Augen und einem wilden Ausdruck in seinem Gesicht, und neben seinem Rosse führte er an einer Halfter gebunden einen greulichen, barhaupten und blutigen Gesellen. Da riefen ihm die Bürger fröhliche Grüße zu, auch Frau Lischke rief, aber Anna vermochte keinen Laut hervorzubringen und sah ihn nur stumm an, und er sie ebenfalls, ohne daß er die Mütze schwenkte, was er sonst so bereitwillig tat. Und als der Ratsbote nach Hause kam und von den Abenteuern der jungen Reiter vieles berichtete, auch den Georg hoch rühmte, weil er nach hartem Strauß den Anführer der Bande bewältigt hatte, da blieb Anna still und finster, denn er war ihr furchtbar erschienen.

Bei solchem Zustande konnte der Frühling nicht gedeihen. Er kam zwar nach alter Gewohnheit, aber widerwillig, und er war auch danach. Unfriede und zerstörte Hoffnung in den Lüften wie auf der Erde. Wenn die Singvögel ihre Nester im Baumeswipfel fertig hatten, erhob sich ein Sturm und brach die Äste; als die Baumblüten gerade aufbrechen wollten, schütteten die Wolken eine Schneelast darüber; wenn die Leute einmal zum Reigen antraten, stießen sie einander mit den Ellbogen, und der Tanz endete in Schlägen. Die Sommerlust verlief nach derselben Weise. Alle kleinen Äpfel fielen grün von den Zweigen; sooft die Nachtigallen sich zu einem Wechselgesange zurechtsetzten, rauschte ein Wetter und Hagel hernieder und zerstäubte ihnen die Federn, und wenn Lips Eske einem guten Gesellen zuliebe des Abends mit dem Bassettel eine Musika anstellte, sprangen aus allen Schenken trunkene Schlachtschützen und begannen im Mondenschein mit wildem Geschrei einen ungefügen Krakowiak. Es war für jedermann ein schlechtes Jahr.

Als der Sommer kam, hatten Bürgermeister und Rat über neue Einquartierung zu beraten. Denn fürstliche Vermittler hatten dem Hochmeister Albrecht freies Geleit ausgewirkt, und dieser wollte selbst nach Thorn reiten, um wegen Krieg oder Frieden mit dem Könige, seinem Oheim, zu verhandeln. Diesmal berieten die Herren von Thorn weniger fröhlich. Die Stadt war des Kriegslärms müde, der Hader mit den einquartierten Polen nahm kein Ende, jedermann sträubte sich gegen neue Belästigung, zumal gegen Aufnahme der Feinde. Zuletzt erschien es der Mehrzahl als eine gute Auskunft, daß ein Ratmann begann: »Das Haus des Marcus [] König ist zu Unbill für andere wenig belastet, und Bruder Marcus hat erst gestern im Artushofe gesagt, ihn wundere selbst, warum man ihn vor andern verschone.« Da stimmten alle bei, den reichen Kaufherrn zu laden; nur Konrad Hutfeld schwieg, wie die andern meinten, deshalb, weil es ihm als dem Schwager des Marcus sowohl unziemlich war, beizustimmen als zu widersprechen.

Als Marcus vor den Rat trat, wurde er nicht wie früher um seinen guten Willen befragt, sondern der Burggraf eröffnete ihm als Gebot: »Da die ganze Stadt schwere Bürde trägt, Ihr aber weniger, so ist Beschluß des Rates, daß Ihr jetzt den deutschen Hochmeister und einen Teil der neuen Gäste empfangt.«

Auch Marcus war nicht mehr so willig wie ehedem. Er schwieg lange, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen, er sah, daß sein Schwager Hutfeld ihn forschend anblickte, endlich begann er: »Ich bin dem Rat Gehorsam schuldig, und ich kenne die Not der Stadt, doch bitte ich die ehrbaren Herren, in Zukunft daran zu denken, daß nicht ich die Fremden erbeten habe, sondern daß sie mir ohne meinen Willen in das Haus gelegt werden. Ich führe fürwahr ein friedliches Leben, dennoch höre ich, daß man mich hier und da für einen Gegner der Landesfreiheit hält. Die Nachrede wird sich mehren, wenn weiße Mäntel durch meine Tür aus und ein gehen. Dies mag mir selbst einmal bei dem Rate nachteilig werden, denn ich habe bereits zu meinem Schaden erfahren, damals, als die Scheuern meines Gutes angesteckt wurden, daß die hochmögenden Herren nicht bereitwillig waren, mein Eigentum zu schirmen. Darum erscheint mir das Gebot bedrohlich.«

»Ihr sprecht vorsichtig«, versetzte der Bürgermeister, »der Rat wird sich erinnern, daß Ihr heut bereitwillig ward; und da Ihr an die Sorge um das Geschütz rührt, so darf ich Euch sagen, daß auch die Stadt Euch gute Meinung beweisen wird, und ich hoffe, Herr Kumpan, daß Ihr die Feldschlangen aus dem Zeughaus erhaltet.«

Marcus vernahm die Kunde ohne ein sichtbares Zeichen der Freude und sagte nur: »Die gebietenden Herren mögen tun, was ihnen gerecht und billig dünkt.«

Er wandte sich auf der Treppe, da ihm jemand folgte. Es war Konrad Hutfeld. »Mich führt mein Amt nach dem Zeughaus, ist's Euch recht, Schwager Marcus, so begleite ich Euch.«

Marcus lüftete seinen Hut. Die Schwäger betraten nebeneinander den Markt. »Gern hätte ich Euch«, fuhr Hutfeld fort, »das lästige Einlager des Hochmeisters abgewehrt.«

»Ich weiß, Herr Bürgermeister«, antwortete Marcus, »daß Ihr den Fremden, den Ihr selbst nicht mögt, auch in meinem Hause nicht gern seht. Verzeiht einem Hauswirt die Frage: Erwartet Ihr, daß der Hochmeister lange hier verweilen wird?«

[] »Ihr fragt, welches Vertrauen ich zu der Friedenshandlung habe. Ich will offenherzig zu Euch reden, ich habe, wie alle Welt, geringe Zuversicht. Der König hielt es für klug, den deutschen Fürsten, welche für den Hochmeister verhandeln, nicht entgegen zu sein, aber der Krieg ist entbrannt, keiner von beiden hat dem andern obgesiegt, und wenn der Hochmeister auch erkannt haben mag, daß er der Schwächere ist, er hat zu stolz gehofft, des Lehnseides quitt zu werden, als daß er nachgeben sollte, solange ihm die Deutschen im Reiche noch ihre Hilfe nicht ganz versagen.« Und nachdrücklich fügte er hinzu: »Ich sorge, er hat Ratgeber, die ihn durch eitle Hoffnungen täuschen.«

»Ist seine Art so, daß er sich täuschen läßt?«

»Er ist einer von den deutschen Fürsten«, versetzte Hutfeld kalt, »und er hält sich für einen Meister der deutschen Adligen. Ihr wißt selbst, daß diese schlechte Ratgeber sind, außer da, wo es gilt, zu rauben oder zu trinken.«

»Vielleicht hofft der Hochmeister darauf, seinen Orden zu reformieren. Vieles, was zur Väter Zeit schlecht geworden ist, muß von den Enkeln gebessert werden.«

Hutfeld sah mißtrauisch auf seinen Begleiter: »Meint Ihr, daß der junge Albrecht ein Schwarzkünstler ist, welcher die abgestandenen Fische seines Sumpfes wieder lebendig machen wird? Doch, wenn es ihm auch gelänge, wozu keine Aussicht ist, des Lehnseides für seine kleine Herrschaft quitt zu werden, was kümmert uns Thorner und das ganze Weichselland solcher Gewinn?«

»Nichts, denke ich«, antwortete Marcus, »unsere Bürgermeister werden doch dem Könige von Polen den Baldachin tragen.«

»Nicht also, Marcus, sprecht lieber so: Wir Thorner werden doch die Freiheit, welche die Vorfahren mit Blut erkauft haben, gegen die Tyrannei der Ordensherren behaupten. Ich denke nicht, daß in der Stadt noch einzelne Träumer sich mit der Hoffnung getrösten, das Weichselland unter die Knechtschaft dieses Knaben Albrecht zurückzubringen.«

»Sind es einzelne und sind es Träumer, so hat der Rat sie nicht zu fürchten«, entgegnete Marcus kalt.

»Damit er sie nicht fürchten müsse, ist er genötigt, mit scharfem Auge auf ihren Weg zu sehen.«

»Wir Thorner vertrauen ruhig der Vorsicht des Rates«, antwortete Marcus.

Sein Schwager sah ihn besorgt an und ergriff die Hand des Widerstrebenden. »Ich bin Euch dankbar für große Treue, und ich dachte an die Zukunft des alten Hauses, vor dem wir stehen, als ich so offen zu Euch sprach; denkt auch Ihr daran, Schwager.«

»Ich denke daran, daß Ihr ein kluger Herr seid, namhafter Herr Bürgermeister, und daß Ihr entschlossen tun werdet, was Ihr tun [] müßt«, schloß Marcus, seine Hand zurückziehend, und verneigte sich höflich.

Es war mitten im Sommer an einem heißen Tage, als der Hochmeister, Herr Albrecht, in die feindliche Stadt einzog. An dem Tore begrüßte ihn der Kastellan von Dibow und ein Ratmann. Während der Herr unter ihrer Führung langsam aus der Mauerenge zwischen die Häuser ritt, hinter ihm die kleine Schar der Weißmäntel und die Frachtwagen, welche den Fremden ihren Reisebedarf in feindlichem Lande nachfuhren, standen die Leute wieder dicht gedrängt an den Türen und auf den Kellerhälsen, und ein aufgeregtes Summen ging durch die Menge. Aller Augen suchten das verhaßte schwarze Kreuz, aber sie fanden es nicht, und sie sahen, daß die Hüllen der Reiter weiße Tatarenmäntel waren, welche der Orden den Söldnern des polnischen Königs im Kampfe abgenommen hatte. Da fiel manchem aufs Herz, daß die Herren des Ordens doch als Christen gegen unmenschliche Heiden gestritten hatten, deren Bundesgenossenschaft die Thorner für eine Schande halten mußten, und ihr Unwille gegen die Einziehenden wurde ein wenig gedämpft. Einzelne Stadtleute, zumal Bürger aus der Neustadt, zogen sogar ihre Mützen, da der Hochmeister auf seinem schwarzen Streithengst bei ihnen vorüberkam, ein schlanker Herr, noch in jungen Jahren, mit einem Antlitz, das bleich aussah, vielleicht wegen Kränklichkeit, vielleicht wegen der Sorgen. Er dankte vornehm auf gebotenen Gruß, aber mit gespannter Aufmerksamkeit sahen seine hellen Augen auf das Volk zu beiden Seiten. Wie der Zug am Markte aufgeritten war, entdeckte Georg verwundert, daß unter den letzten im Gefolge auch sein Feind, der lange Henner, in dem fremden Mantel unter der Blechkappe hielt. ›Ich hoffe, er ist nicht so unverschämt, in unser Haus zu dringen.‹ Aber bevor Henner mit anderen seitab ritt, trieb er sein Pferd mit geschickter Wendung in die Nähe der Türtreppe und raunte, an die Wand geklemmt, in Georgs Ohr: »Wenn ich als Gast in Euer Haus komme, will ich Malvasier trinken, auch könnt Ihr mir einen neuen Marderpelz zurechtlegen, ich denke ihn anzunehmen.«

»Die Knechte führen lange Stöcke, mit denen sie die Motten ausklopfen, hütet Euch, daß Ihr ihnen nicht in die Hände fallt«, antwortete Georg.

Der Ratmann geleitete den Hochmeister zu dem Kaufherrn. Als Marcus den vornehmen Gast begrüßte, kam dem Sohne vor, als ob der Vater ebenso verblichen aussehe wie der Hochmeister. Aber beide hielten sich höflich zueinander, wie die strenge Sitte vorschrieb. Marcus geleitete die Gäste in den Oberstock, wo eine Reihe Zimmer für sie bereitet war, und während Rosse und Wagen in den Hof einfuhren und der vertraute Rat des Hochmeisters, Herr Dietrich von Schönberg, verbindliche Worte zu Georg sprach,[] tauschte Herr Albrecht selbst mit dem Hausherrn die gebührlichen Reden. »Wir vernahmen viel von dem Hasse, mit welchem die Bürger uns Brüder vom schwarzen Kreuz ansehen, wir freuen uns, daß wir das Gerücht als unwahr befinden und daß die Thorner ihren deutschen Nachbar gutwillig leiden wollen.«

»Die Welschen sagen uns Deutschen nach«, versetzte Marcus, »daß wir in Zorn und in Reue maßlos sind. Vielleicht aber vermögen die Deutschen deshalb auch in Reue wieder gutzumachen, was sie im Zorn verdorben haben.«

Der Hochmeister sah befremdet auf seinen Wirt, doch fragte er gleichgültig weiter: »Ihr ward selbst in welschen Landen, Herr?« und als er nach Fürstenweise auch den andern Ehre erwiesen hatte, verabschiedete er die Herren von Thorn, weil er dem Könige aufwarten müsse, und Dietrich von Schönberg versicherte dem Hauswirt mit einem Händedruck, daß seine fürstlichen Gnaden einer ernsten Zusammenkunft entgegengehe und wohl lieber noch unter den Hausgenossen weilen würde.

Förmlich, wie der Empfang, verliefen auch die folgenden Tage. Die Bürger mußten bekennen, daß die Fremden sich schweigsam und in guter Zucht hielten. Auch im Hause des Marcus gingen zwar Weißmäntel und fürstlicher Besuch häufig aus und ein, doch an Gelage und Gasterei war nicht zu denken, der Hochmeister blieb des Abends am liebsten allein oder zusammen mit wenigen Vertrauten. Marcus wartete jeden Morgen als Wirt seinem Gaste auf, fragte nach den Wünschen der Herren und erhielt jedesmal ein Lächeln und dankbare Reden.

Aber er beobachtete mit leidenschaftlicher Teilnahme jede Regung der Fremden und vermochte die geheime Freude kaum zu bergen, als ihre Mienen nach wenigen Tagen sorgenvoller wurden. Einst fand er den Hochmeister früher als sonst vom Rathause zurückgekehrt, der Herr saß in trübem Sinnen und antwortete dem Gruß des Wirtes: »Ohne Nutzen für das Land haben wir Euch bemüht, wir ziehen in Unfrieden ab, mein Oheim will, daß ich das blutige Schachspiel gegen ihn fortsetze.« Marcus schwieg, und der Hochmeister fuhr in seinen Gedanken fort: »Zehn Jahre trage ich dies Kreuz, und die Last war zuweilen schwer.«

Da vernahm er die Gegenrede: »Sechzig Jahre trage ich die Hoffnung auf Rettung und Rache still in mir herum, und mein heißestes Gebet war, daß ich nicht von dieser Erde scheiden möge, bevor die Ordensfahne wieder über der Burg von Thorn weht.«

Der Hochmeister sprang auf: »Der Ruf kam von Herzen. Wer seid Ihr, Herr, daß Ihr in Thorn solche Rede wagt?«

»Ein Mann aus dem Geschlecht des Ludolf König, der einst auf dem Hochmeisterstuhl zu schnell an seinem Glück verzweifelte.«

»Ich aber sehe heut in das Angesicht eines vertrauten Mannes«, [] rief der Fürst. »Nicht zum erstenmal vernehme ich den geheimen Gruß. Seit Jahren erhalte ich über Lübeck Briefe, deren Schreiber sich nicht nannte. Oft war ich ihm dankbar für klugen Rat und habe über seine gute Kenntnis des Weltlaufs gestaunt, seine Worte haben mich getröstet, wenn mir Ermutigung am meisten nottat. Jetzt frage ich nicht mehr, wer der unbekannte Freund war.«

Marcus verneigte sich ehrerbietig. »Seit Jahren erkenne ich, daß Eure fürstliche Gnade mit dauerhaftem Mut gegen Wind und Wogen zu steuern weiß, und oft habe ich im geheimen Euch gerühmt, weil Ihr unermüdlich ward und Euren Feinden widerstandet, obgleich das Unglück wie Wellen des Meeres über Euch hereinbrach.«

Der Hochmeister lächelte traurig: »Auch der Gleichmut in Welthändeln wird erlernt. Doch teuren Preis habe ich dafür bezahlt. Denn ich darf Euch, der gleich einem alten Freunde vor mir steht, auch bekennen, daß mir das Leben so sauer gemacht wird wie keinem andern deutschen Fürsten. Da ich mit dem Mantel bekleidet wurde, fast noch ein Knabe, schwoll mir das Herz bei dem Gedanken, daß ich als Landesherr mit einem ritterlichen Kreuzheer das Ordensland freimachen und die Fremden zurückwerfen könne. Es war ein törichter Wahn, mein Vater, und bitter war die Enttäuschung. Denn wie ich nach Preußen kam und die Helden betrachtete, welche die Ordensburgen und Pflegeschaften innehatten und durch ihr Amt und ihr Gelübde zum Kampf verbunden waren, fand ich sie bis auf wenige unkriegerisch, und als ich prüfend nach ihrem Willen forschte, empfing ich drei Grüße: Lachen, Stöhnen und Achselzucken. Der eine hatte die Gicht, dem andern hatte die Traute, die er sich in seinem Hause hielt, gänzlich verboten, auf das Pferd zu steigen, einige saßen schon vormittags in Trunkenheit, und manche, die noch auf Waffen und Gäule hielten, fanden es töricht, für den Hochmeister und den Orden ins Feld zu ziehen und zogen es vor, in der Dämmerung mit Heckenreitern gemeinsame Sache zu machen und Reisende auf der Heide ihres Geldes zu entledigen. Auch die Besseren waren müde und mutlos und lebten armselig im verarmten Lande. Dennoch, Herr, erkannte ich unter ihnen einige Männer von wackerm Mut und adligem Sinn. Und ich sage ehrlich, wie ich's gefunden, der deutsche Adel war immer noch meine beste Hilfe.«

»Weil der Adel am meisten verlieren wird, wenn der deutsche Orden vergeht«, warf Marcus ein. »Soll der Orden gedeihen, so muß der Bürger Anteil an seinem Regiment gewinnen.«

»Es mag so sein, wie Ihr sagt«, fuhr Herr Albrecht fort. »Denn die Bürger meiner Städte waren nicht willig gegen mich, jeden Groschen, den sie mir zahlten, rückten sie mir wieder vor, die kleinste Geldsumme sollte ich bezahlen durch ein Pergament, welches ihnen neue Rechte einräumte; jeder, der mir zu leisten hatte, [] wollte dafür haben. War doch alle Macht des Hochmeisters ohnedies zerstückelt in den Händen der Städte und Landschaft. Ich hoffte auf die deutschen Fürsten, auf meine Verwandten, auf den alten Kaiser Max, auf den jungen Kaiser Karl, auf den Heiligen Vater selbst. Ich bekam guten Rat so viel, daß ich damit eine Burg von Papier hätte aufbauen können, unsichere Versprechungen und nirgends Hilfe, und zu den kleinen Summen, die mir meine Verwandten etwa vorschossen, alsbald herrische Ermahnungen und Forderungen auf Ersatz. Niemand hatte, was mir allein helfen konnte: die Lust, meinetwegen in das Feld zu ziehen. Der Kaiser, ja der Heilige Vater selbst sandten mir zuweilen gute Vertröstungen, um den überlästigen Bettler loszuwerden, und in der nächsten Stunde dachten sie daran, daß der große König von Polen ihnen mehr nützen könne als der deutsche Ordensritter am fernen Meeresstrand.«

»Kämpfen zwei Adler miteinander in freier Luft«, antwortete Marcus, »so wird der den Gegner niederstoßen, welcher am höchsten fliegt. Der Hochmeister zu Königsberg, getrennt durch das polnische Weichselland vom Deutschen Reiche, hat nur geringen Wert für Kaiser und Reich, ein geehrter Landherr wird er erst, wenn ihm die Städte des Weichselstroms gehorchen; und niemals wird Eure fürstliche Gnade von der Schmach der polnischen Dienstbarkeit befreit werden, wenn Ihr nicht mehr begehrt als den Rest des alten Ordenslandes.«

»Ich vernehme die alte Mahnung Eurer Briefe«, rief der Hochmeister, »sie klang laut wider in meinem Herzen. Gegen die Polen, bei Kaiser und Papst habe ich das ganze Ordensland gefordert. Ich habe gefordert, doch ich vermochte nicht zu erringen. Und ich sorge, mehr noch als die polnische Macht hindert mich der Haß der Weichselstädte.«

»Ihr habt bei uns mehr Freunde, als Ihr wißt. Zwar die Geschlechter, welche in der Stadt regieren, sind Euch feindselig, aber sie werden von den Bürgern beargwöhnt, vorab in der Neustadt hausen viele Unzufriedene. Die große Masse endlich folgt dem, welcher die größere Stärke erweist. Wollt Ihr die Polen bewältigen, so müßt Ihr Thorn mit Kriegsmacht einnehmen, denn es ist die Pforte des Weichselstroms, und Euch mit den Danzigern freundlich vertragen, was sie auch für sich fordern mögen, dann fällt Euch das übrige Weichselland von selbst zu.«

»Könnt Ihr helfen, daß ich diese Stadt in meine Gewalt bekomme?« fragte Herr Albrecht schnell.

»Vielleicht ist die Stunde nicht fern, wo die Bürger freiwillig Euch die Tore öffnen. Vertraue Eure fürstliche Gnade, daß hier ein treuer Mann lebt, der jeden Tag darüber sinnt, Euch zum Herrn der Stadt zu machen.«

»Gut, Herr«, rief freudig der Hochmeister. Aber sogleich fuhr er finster fort: »Wir gebärden uns als Eroberer, und doch habe ich [] zur Zeit große Not, nur zu behaupten, was ich besitze. In Wahrheit hängt mein ganzes Glück an einem Sieg im Felde. Ihr aber versteht, wie ein Sieg erkauft wird, er ist teure Ware, und der Hochmeister ist der ärmste aller Landesherren; ich werbe Söldner, und es fehlt mir nicht an kriegsfesten Hauptleuten, doch an Geld, sie zu unterhalten. Kein Bettler und kein Heckenreiter, der gewöhnt ist, auf fremdes Gut zu lauern, hat so große Sorge um das Volk gemünzter Pfennige als ich; denn, mein günstiger Freund, zum Losschlagen sind die Deutschen wohl bereit, aber nicht, den Beutel zu öffnen. Und obwohl der König von Polen sein Geld lieber in der Truhe behält, als im Kriege verschwendet, so wird er doch länger Goldgulden besitzen, die er in das Spiel setzt, als ich. Und es ist ein alter Spruch, daß das letzte Geldstück das Spiel gewinnt.«

»Nicht so, edler Herr, der wird gewinnen, welcher den besseren Mut einsetzt. Denn wem das Herz fest bleibt in aller Not, der wird zuletzt nicht nur den lauen Freunden, auch seinen Feinden ehrwürdig.«

»Ihr sprecht mit gutem Vertrauen, Vater, aber auch Ihr wißt nicht, wie kränkend für fürstlichen Stolz dies Beharren ist; denn ich darf sagen, in Sorgen schwebe ich, vom Borgen lebe ich. Und wenn ich alles bedacht habe und Plan auf Plan geschmiedet, am Tage der Ausführung wird alles vereitelt, weil der Schatzmeister mir vorrechnet, daß ich nichts vermag. Es ist ruhmlose Arbeit, welche ich aufwende, um solcher Not zu widerstehen, die preist kein Sänger und rühmt kein Orator, und mächtigere Fürsten zucken die Achseln darüber. So sind jetzt stattliche Haufen von Reisigen und Landsknechten bereit, mir zu dienen, wenn ich ihnen Sold zahle, und ich ziehe von hier mit der bittern Sorge, daß ich sie nicht festzuhalten vermag.«

»Und wenn Ihr sie nicht festzuhalten vermögt, gnädiger Herr, was werdet Ihr dann tun?« fragte Marcus.

»Ich weiß es heut noch nicht zu sagen; aber eines darf ich kühnlich vor Gott behaupten: verzweifeln werde ich nicht. Ich habe in den zehn Jahren manchen bittern Trank der Demütigung getrunken; darum habe ich mich jetzt entschlossen, das Äußerste zu wagen; und ich denke lieber unterzugehen im Kampfe, als den Eid zu leisten, der den Meister des Ordens zum Diener eines fremden Königs macht. Ich will der letzte Hochmeister sein, wenn ich nicht dem Orden aufs neue eine geehrte Herrschaft erwerben kann.«

Da rief Marcus mit starker Stimme: »Seid gesegnet, Herr, um dieser Worte willen. Bewahrt Ihr in der Not den Sinn eines festen Mannes, so bewahre ich eine Waffe, die Euch aus der Not erlöst. Folgt mir, gnädiger Herr.«

Er öffnete mit einem Schlüssel die Tür, welche das Gemach des Hochmeisters von dem Gewölbe trennte, und führte den erstaunten [] Herrn zwischen die Schränke vor einen großen eisernen Kasten, dort hob er den schweren Deckel. Der Kasten war mit gemünztem Golde gefüllt, und Marcus sprach, darauf weisend: »Des Kaufmanns Truhe ist nicht groß genug, um alles Geld zu fassen, welches einem Kriegsherrn nötig ist, damit er den Krieg ernähre bis zum Siege. Aber ich denke, der Schatz, an welchem ich mein Lebelang gesammelt habe, ist keine verächtliche Ausstattung für einen jungen Helden; denn hat er sich seinen Feinden furchtbar erwiesen, so öffnen sich ihm auch wohl die Beutel zweifelhafter Freunde, und er selbst holt sich neue Kriegszehrung von den Feinden. Dies ist gesammelt, um Eurer fürstlichen Gnade zu dienen, wenn Ihr mir gelobt, zu beharren bei Eurem hohen Vorsatz und eher zu sterben, als ein Vasall der Polen zu werden. Dies gehört Euch und im Notfall noch mehr, soweit mein Vermögen reicht. Der Kaufmann verpfändet Euch seine Habe, Ihr setzt dagegen Ehre und Leben. Verleihen die Heiligen Euch Sieg, so werdet Ihr mein Landesherr und für diese Summe Schuldner eines getreuen Dieners, und endet Euer fürstliches Leben anders, so ist diese wie jede andere Erdenschuld getilgt.«

Der Hochmeister stand sprachlos. »In der Stunde, wo ich mich von allen verlassen wähnte«, murmelte er. »Mein Vater und mein bester Freund.«

»Ich bin nur ein Bürger von Thorn, den es schmachvoll dünkt, daß seine Vaterstadt einem fremden Volke dienstbar ist. Seht, Herr, das Eisen dieses Deckels ist scharf und vermöchte wohl meine Hand abzuschlagen, die ich hier zwischen Kasten und Deckel lege. Freudig will ich sie in den Kasten fallen sehen, wenn ich dadurch meine Vaterstadt von der Unehre des alten Treubruchs lösen könnte.«

Da legte Herr Albrecht, hingerissen durch die finstere Begeisterung, seine Hand zu der des Marcus auf den Eisenrand und rief:

»Auch der Hochmeister des deutschen Ordens will eher seiner Schwurhand quitt werden, als dem Polen dienen, das gelobe ich Euch.«

Marcus hielt die Hand des Herrn über dem Golde und sprach: »Der Schatz fand seinen Herrn, ich aber danke den Heiligen, daß ich diesen Tag erlebte.«

Stiller Vertrag

Der Hochmeister hatte die Stadt verlassen, der Krieg war aufs neue entbrannt und die gebietenden Herren zu Thorn erwarteten ungeduldig die Nachricht von der völligen Besiegung ihres Feindes. Aber es kam weit anders. Wie durch einen Zauber herangelockt, drang ein deutscher Heerhaufe nach dem andern an die Weichsel, [] der junge Hans Sickingen führte eine Schar Reiter herzu, darunter wohlbekannte Herren des fränkischen Adels, viele Fähnlein Landsknechte wälzten sich mit ihrem Troß über das polnische Preußen, und der Hochmeister stand auf einmal an der Spitze eines Heeres, dem die Polen nicht gleiche Kraft entgegenzusetzen hatten; er eroberte Städte zurück, welche die Kastellane des Königs vorher eingenommen hatten, säuberte den größten Teil des Ordenslandes von den Fremden, und tüchtige Hauptleute seines Heeres schlugen und fingen einen polnischen Trupp nach dem andern. Aufs neue wurde das Land durch Brand und Raub verwüstet. Traf der Verlust auch beide Teile, im ganzen war durch mehrere Monate Herr Albrecht der stärkere; die deutsche Partei erhob mit frischem Vertrauen das Haupt, und die Mienen der Polenfreunde wurden sorgenvoll.

Das Herz des Marcus pochte in stolzer Freude. Zwar in der Trinkstube des Artushofes hütete er sorgfältig Miene und Rede, er wußte wohl, daß er unablässig beobachtet wurde. Auch dem Sohne verhüllte er sein Gemüt, denn er wollte den einzigen Erben von den Gefahren entfernt halten, unter denen er selbst einherging; nur gegen den vertrauten Gehilfen Bernd, der heimlich zum Orden hielt, offenbarte er etwas von der stürmischen Bewegung, die er empfand. Der Rat hatte ihm als Entgelt wegen Verpflegung des Hochmeisters zwei Feldschlangen für sein festes Haus bewilligt. Damit erhielt er das Vorrecht, zum Schutz und zur Bedienung des kostbaren Stadtgutes einen Büchsenmeister und einige Söldner zu unterhalten. Georg bat den Vater ehrerbietig, die Sorge um die Kriegsleute ihm anzuvertrauen, und er war gekränkt, als der Vater ihm das kurz abschlug, zumal er bei einem Ritt auf das Gut wahrnahm, daß Haus und Hof für eine große Besatzung vorbereitet wurden. Zwar kamen die Nachrichten vom Heere des Hochmeisters nur undeutlich in die Stadt, was für den Feind ungünstig war, wurde laut berichtet und seine Siege gern vom Rat verschwiegen, aber Bernd war mit dem Volke der Schiffer vertraut und hatte Kundschaft mit kleinen Bürgern in der Neustadt, und was er dort erfuhr, lautete oft weit anders, als was in der Halle des Artushofes verkündet wurde.

Als Georg einst am Abend durch das Hinterhaus heimkehrte, vernahm er in der Kammer, in welcher sonst Dobise schnürte und hämmerte, den Gesang einer fremden Stimme, welche zu bekannter Weise ein neues Landsknechtslied sang, und er verstand Worte, in denen die Danziger und Elbinger übel gescholten und die Taten des Hochmeisters und seiner Scharen mit stolzer Freude gerühmt wurden. Er blickte erstaunt durch das Fenster, in der Mitte des Raumes stand sein Vater, und diesem leuchtete das Antlitz vor freudiger Aufregung, und ein Lächeln schwebte um seinen Mund. Gegenüber dem Vater saß ein fremder Gesell mit narbigem Gesicht in der Tracht eines Landfahrers, der das lange Lied fröhlich absang und nach dem [] Ende mancher Verse die Trinkkanne hob. Als der Sohn leise eintrat, zog sich die Miene des Vaters finster zusammen; er winkte ihm mit der Hand, sich still zu halten, und erst als das Lied beendet war, sagte er gemessen: »Es ist nützlich, neue Zeitungen auch so zu vernehmen, wie die Gegner sie berichten.« Er reichte dem Fremden etwas in der Hand und gebot dem Dobise, ihn in eine sichere Herberge zu führen. Und Georg erkannte aus der gezwungenen Haltung des Vaters, daß dieser ihm seine Gesinnung verbarg. – Aber nicht Marcus allein lauschte auf Kunde, welche dem Hochmeister günstig war, in der Neustadt saßen viele, welche den Polen nichts Gutes gönnten, entweder weil sie dem Regiment des Rates zürnten, oder weil sie daran dachten, daß ihre Vorfahren lieber zum Orden gehalten hatten als die Altstädter; und in den Trinkstuben der Neustadt bargen die Mißvergnügten ihre Freude nicht, wenn sie erfuhren, daß der polnischen Partei etwas mißlungen war. Dasselbe Lied, welchem Marcus zugehört hatte, war in der Schenke ›Zur blauen Marie‹ hergesungen und das Gemurr der Wohlgesinnten durch lauten Ruf der andern übertönt worden. Und als der Rat auf Anzeige nach dem Sänger suchte, war dieser verschwunden, obgleich keiner von allen Torwärtern einen Fremden seines Aussehens am Tore beachtet hatte. Solche Anzeigen machten dem Rat stille Sorge.

Aber als der Herbst kam und die gefüllten Erntewagen durch die Stadttore fuhren, und als die Schwalben ihre junge Brut über den geräumten Feldern den Kreistanz lehrten, da kam zu der alten Unruhe ganz allmählich noch eine neue in die Seelen der Thorner. Wenn angesehene Bürger auf der Straße einander begegneten, verweilten sie länger als sonst und sprachen leise miteinander, wenn an den Tischen der Stammgäste das Gespräch über die letzten kriegerischen Nachrichten aus dem Felde aufgehört hatte, vernahm man starke Worte gegen vornehme Geistliche, ja, was sonst jeder als Geheimnis bewahrt hatte, Gedanken über Kirchenlehre und Glauben, das lief ihm jetzt über die Zunge. Neben den alten Sprichwörtern, durch welche der Bürger seine Rede bestätigte, gebrauchten jetzt zuweilen auch Laien Sprüche aus der Heiligen Schrift, und Barthel Schneider geriet mit seinem Nachbar, dem Lohgerber, in heftigen Zwist, als er sich auf eine Aussage des Daniel berief, welche dem Lohgerber ungehörig erschien, weil der Jude Daniel Danziger ihn bei einer silbernen Kette betrogen hatte, Barthel aber nicht deutlich zu sagen vermochte, wer Daniel eigentlich gewesen sei. Wenn die Predigermönche zu zweien durch die Stadt gingen, lachten viele hinter ihnen her oder zuckten die Achseln und wandten sich ab wie von nichtsnutzigen Leuten. Und die Menschen wagten nicht nur, von anderem zu reden als seither, sie dachten sogar darauf, Neues zu fordern. Über das Regiment der Stadt wurde laut [] gehandelt, oft erfuhr der Rat, daß Unfreundliches über ihn in den Schenken verlautete. Sonst hatte der Bürger, auch der Neustädter, mit kaltem Hochmut auf den Bauer herabgesehen und ihn als das Lasttier der Erde betrachtet, jetzt sprach der Bürger mit freundlicher Herablassung zu dem Bäuerlein, welches in den Laden kam, eine Sense oder eine Pelzmütze zu kaufen, und wenn der Landmann zutraulich über unerträgliche Lasten klagte, so nickte der Bürger im Einverständnis. Sogar im Artushofe, wo die Herren der Stadt in drei Bänke geteilt saßen, war zwischen der vornehmen Georgenbank und den Bänken der Kaufleute und Schiffer eine stille Fehde erkennbar, und ungern vernahmen es die Alten auf der Georgenbank, daß Hendrick, der Schiffer, seinen Krug erhob und laut rief: »Dies bringe ich einem guten Steuermann, der uns alle durch die Brandung fährt«, und auf diese Anspielung klang in der alten Halle hier und da Beifallsruf.

In diesen Wochen wurde Hannus ein vielgesuchter Mann. Es war ihm nach langer Unterbrechung seines Geschäftes gelungen, einen großen Bücherballen von Danzig heraufzuschaffen, er war jeden Tag beschäftigt, seine Ware vertraulich vorzulegen und kleine Silberstücke in seinem Beutel zu bergen. Und er mußte die Mehrzahl seiner Kunden auf eine neue Sendung vertrösten, nach der er geschrieben. Was die neue Aufregung in den Seelen bewirkte, waren wieder unscheinbare Büchlein, die er aus dem Reiche eingeführt hatte, jetzt in der Mehrzahl nicht lateinisch für die Gelehrten; in deutscher Sprache berichteten sie jedem, der zu lesen vermochte, von einem Kampfe zwischen tausendjähriger Herrenmacht und dem kühnen Mute weniger, welche ihre Überzeugung gegen die Gewaltigsten der ganzen Welt zu verfechten wußten. Noch nie war die deutsche Sprache durch den Druck so stark in die Seelen gedrungen, der Zorn und die Klage, welche hier verkündet wurden, lagen in jedermanns Herzen, die Besserung des christlichen Standes, welche sie forderten, war aller Vernünftigen Wunsch, und die Erlösung der Christenheit aus der babylonischen Gefangenschaft, in welcher fremde Priester zu Rom die Gewissen hielten, längst die geheime Sehnsucht der Besten. Um so unwiderstehlicher war die Wirkung der kühnen Worte, weil die Leser wußten, daß den Männern, welche vor allem Volk zu lehren wagten, was Jahrhunderte nur unterdrücktes Murmeln gewesen war, wegen ihres Mutes der Tod drohte in seiner furchtbarsten Gestalt, daß ihre Seelen verflucht werden sollten und die Asche ihres verbrannten Leibes in alle Winde gestreut.

Aber auch für den Bürger von Thorn wurde es gefährlich, sich um die neue Lehre zu kümmern, und über den Büchlein des Hannus zog sich ein Wetter zusammen. Denn der polnische König, welcher nahe der Stadt auf seinem Schlosse Dibow weilte, kam oft über die [] Brücke und erhielt Kunde von allem, was die Deutschen aufregte. Als König Sigismund einst nach dem Rathause geritten war, und der Bürgermeister Hutfeld vor sein Angesicht trat, sah der König den Bürgermeister bei gnädigem Gruß mit seinen klugen Augen prüfend an und wandte sich wieder dem Markte zu, wo ein Haufe polnischer Reiter auf dem Durchzug rastete. Die müden Pferde ließen die Köpfe hängen, und die Polen schrien einander über den Futtersäcken zu oder lagen erschöpft auf ausgebreitetem Stroh. Da begann der König: »Aus dem Lande sind üble Nachrichten gekommen, wie Ihr wohl gehört habt, Bürgermeister; mein Vetter Albrecht spielt den Kriegsmann und ist ein Führer fremder Landsknechte geworden. Die deutschen Bremsen stechen übel im Lande. Briefe verkünden mir, daß im Reich unter dem Adel ein starkes Werben für den Hochmeister ist. Das Land aber liegt verwüstet, und die Polen sind ebenso säumig, ihre Haufen heranzuführen, als ihr Städter säumig seid, euer Geld in das Schatzhaus zu senden. Mein Neffe erweist größere Hartnäckigkeit, als ich ihm zugetraut, und ich sehe kein Ende des Raubes und Brandes. Auch unsere Freunde im Reich mahnen zur Nachgiebigkeit.« Da Hutfeld auf diese Rede nicht antwortete, fragte der König mit abgewandten Blicken: »Was ist Eure Meinung, Bürgermeister?«

Das behagliche Gesicht des Herrn Konrad rötete sich, als er antwortete: »Wie wir in Thorn wissen, sind es jetzt sechzig Jahre, da tat ein König von Polen einem Bürgermeister von Thorn dieselbe Frage, und der Enkel weiß Eurer königlichen Würde nur dieselbe Antwort zu geben. Wenn die Krone Polen dem Ordensmeister gestattet, eine freie Herrschaft zu behaupten, so opfert sie früher oder später das Weichselland, welches sich unter polnischen Schutz gestellt hat. Solcher Entschluß geht uns allen an die Hälse. Unsere Väter haben, um Städte und Land zu retten, der polnischen Treue vertraut. Schwere Verantwortung haben sie auf sich genommen und ein heißer Haß ist entbrannt, er glimmt noch heut unter der Asche. Wenn die Polen treulos gegen uns handeln, so bleibt uns nur übrig, um unser Leben zu kämpfen. Darum, entsagen die Polen dem Preußenlande, so werden wir sie als Meineidige vor aller Welt anklagen und überlegen, wie wir uns selbst bewahren vor der Rache unserer Feinde.«

Jetzt ruhte der Blick des Königs auf dem erregten Sprecher, er trat auf ihn zu, und ein Lächeln glitt über sein ernstes Gesicht. »Das war eine Sprache, die ich hören wollte; ich habe Euch nur durch Worte geprüft, zürnt mir darum nicht. Wisset, Herr, manche in meiner Nähe hegen Argwohn gegen euch Deutsche, weil ihr in vielem hartnäckig den Polen widerstrebt. Ich aber denke nicht daran, dem jungen Albrecht in seinem fadenscheinigen Ordensgewand zu schenken, was ich in meiner Hand halte, und Ihr mögt [] mir glauben, Herr Bürgermeister, daß ich lieber neuen Krieg wage, als das Anrecht opfere, welches die Krone Polen an dem Preußenlande erstritten hat.« Und da Hutfeld betroffen schwieg, fügte er hinzu: »Seid nicht gekränkt über meine Rede, wir wissen jetzt beide, daß wir gute Freunde sind, und Eurer Stadt soll nicht zum Schaden gereichen, daß ich Euch vertraue. Doch nicht alle in Thorn denken wie Ihr. Wer ist das Haupt der Unzufriedenen?«

Hutfeld antwortete zögernd: »Es sind außer den Schreiern in den Schenken nur einzelne der ansehnlichen Bürgerschaft, niemand vom Rate, und diese Unzufriedenen bewahren vorsichtig ihre Gedanken.« Und da der König ihn, Weiteres erwartend, anblickte, fügte er hinzu: »Ich denke, daß ich Eurer königlichen Würde bürgen kann für die Treue der Stadt.«

»Wollt Ihr die Bürgschaft auf Euer Gut und Leben nehmen, so frage ich nicht weiter.«

»Ich will die Bürgschaft übernehmen«, versetzte Hutfeld, »wenn Ihr, gnädigster Herr, meiner Treue fest vertrauen wollt.«

Der König nickte und fuhr nach einer Weile fort: »Ihr seid zu nachsichtig gegen die deutschen Ketzereien, welche sich aus dem Reiche einschleichen, sie mehren den Zwist mit meinen polnischen Herren.«

»Sie trennen uns auch für immer von der Möncherei des deutschen Ordens; darum sieht der Rat aller Weichselstädte in der Stille nicht ungern, wenn die Bürger etwas von der neuen Lehre in ihre Herzen aufnehmen. Zudem wird die Tyrannei und Habsucht der Pfaffen oft unleidlich. Auch für Eure königliche Würde mag der neue Glaube, wie ihn die Leute nennen, eine gute Hilfe werden gegen den Hochmeister und seine Ordensleute.«

»So denkst du als Bürger von Thorn«, antwortete der König vertraulich in lateinischer Sprache, »der König aber hat andere Rücksichten zu nehmen auf den Eifer der Magnaten und Bischöfe und vor allem auf den Kaiser und den Heiligen Vater selbst, und es ist mir gerade jetzt notwendig, mich als treuen Sohn der Kirche zu erweisen. Dem Rat wird ein scharfes Mandat zugehen gegen die Verbreitung der Irrlehren durch Predigt und Bücher, und ich fordere von den Städten, daß sie mir darin nicht widerstreben.«

»Der Rat wird das Mandat des Königs gehorsam ausrufen und anschlagen«, versetzte Hutfeld ehrerbietig. »Doch möge Eure königliche Würde auch gnädig bedenken, daß die Thorner sich nicht gern die freie Rede verbieten lassen.«

»Wir verstehen uns«, schloß der König huldreich, »sorge nur, du Treuer, daß kein Lärmgeschrei der Pfaffen zu mir dringt.«

Wenige Tage darauf schlug Lischke ein großes Mandat an das Rathaus, er läutete mit der Glocke durch die Straßen, und der Ausrufer schrie die Worte des Befehls in die Lüfte. Am Abend [] war in allen Schenken große Aufregung und manches heftige Wort gegen den Rat wurde laut, auch wurden einige junge Gesellen deshalb vorgefordert und streng vermahnt. Hannus raffte in dem ersten Schrecken alle verdächtigen Büchlein zusammen und versteckte sie unter seinem Bette, an den nächsten Markttagen fand man bei ihm außer den Kalendern und Wetterbüchern nur etwas von den Gegnern der neuen Lehre, von Dr. Eck und Cochläus, und wenn die Leute seinen Kram umstanden und neugierig fragten, so zuckte er abweisend mit den Achseln und wies nach dem Rathause. Als aber endlich die Bürger über seine Verzagtheit spotteten und er merkte, daß Lischke gar nicht nach seinem Tische hinsah, wurde er wieder mutiger und griff zuweilen, wenn ein sicherer Kunde kam, in die Tiefe seines Kastens, oder lud ein, ihn daheim zu besuchen, ob er vielleicht etwas Erwünschtes finden werde.

Niemand in Thorn war glücklicher über die neue Aufregung als der Magister. Zuerst hatte er vornehm auf den Streit der Mönche herabgesehen, dann hatte er dem Kampf eine wohlwollende Teilnahme gegönnt, jetzt aber umfing auch ihn die Macht des gewaltigen Geistes, welcher unablässig als Lehrer der Deutschen verkündete und mahnte. Er war der erste, welchem ein Einblick in die Sendungen des Buchführers vergönnt wurde, und seit die Traktätlein in deutscher Sprache durch die Länder flogen, wie die Bienen eines umgeworfenen Stockes durch den Garten, verlor er seinen lateinischen Stolz und trug ungelehrte deutsche Druckschriften in den Taschen umher. In der Schule zwar nahm er einige Rücksicht auf die Gewaltigen der Stadt. Anna aber war als sein einziges Kind auch die Vertraute seiner Gedanken, und es war für sie eine Herzensfreude, dem Herrn Vater zuzuhören, wenn er ihr des Abends vorlas; dann wurde er bei dem Streit der Theologen kriegerisch, er schlug auf den Tisch, sprang bei den Stellen, die ihm besonders gefielen, auf und pries mit gehobenen Händen den Schreiber und sein eigenes Glück, daß er solche Tapferkeit erlebe. Die Argumente der Gegner aber begleitete er mit verächtlichen Bemerkungen, warf ein Büchlein, das ihm mißfiel, in die Stubenecke und kämpfte gegen das liegende mit starken Gründen und seinem Stocke, bis er es endlich wieder aufhob, um weiterzulesen. Da war natürlich, daß Anna ebenso eifrig für die neue Lehre wurde. Und als ein redliches Weib mußte sie wünschen, daß auch andere von der verkündeten Wahrheit erfüllt wurden, mochten sie nun Schüler sein oder nicht. Bei den andern dachte sie zunächst an einen, für den sie in der Stille immer sorgte. Sie fürchtete, daß er sehr wenig um sein Seelenheil bekümmert sei und daß er sich aus den Streitbüchern der Gottesgelehrten und aus den Greueln des Papsttums gar nichts mache. Ihr schlug das Herz höher in dem Gedanken, daß sie ihm aufhelfen müsse. Aber wie durfte sie in sein Gemüt eindringen?

[] Wenn sie einmal zufällig ihre Meinung offenbarte und Georg etwas davon vernahm, dann trug der gute Samen bei ihm üble Frucht. So war Matz Hutfeld spät zu dem Entschluß gekommen, auch seinerseits einmal dem Magister und seinen Schulgenossen eine Kollation auf dem nahen Zinsgut zu geben, welches sein Vater von der Stadt innehatte. Und zwar sollte alles großartiger sein als im letzten Jahre bei den Königen. Nachdem Matz den Vater um einen Wildbraten aus dem Stadtwald gebeten hatte und um ein Fäßlein rheinischen Weins, geleitete er dieselbe Gesellschaft, die früher zusammen gewesen war, durch die Felder nach dem Herrenhof. Diesmal fuhren sie nicht zu Wagen, sondern kleine Polenpferde warteten vor der Stadt auf die Frauen und den Magister, und einige Freireiter geleiteten den Zug; denn Matz hatte vorsichtig die unsichere Zeit und die fahrenden Strolche bedacht. Es war vieles prächtiger; aber das vornehme Wesen und die schwere Zeit bedrückten die Herzen, und als die Gäste gar in den Gutshof traten und dort hinter der Mauer zwei Feldschlangen aufgepflanzt sahen und einige Kriegsknechte zur Bewachung, da verstummte die Unterhaltung, obgleich Matz mit Stolz zu den Geschützen führte und den Ruhm erklärte, welchen sie dem Hausherrn gewährten. Als der Wildbraten bei der Kollation aufgestellt wurde, schlug nur Frau Lischke die Hände zusammen; Matz aber hielt zum Ruhme des Magisters eine lateinische Oration, die er sich ausgearbeitet hatte, ganz ohne Fehler, und wie er den Becher hob und die Gesundheit ausbrachte, lösten die Kriegsknechte im Hofe ein Geschütz zur Begrüßung der Gäste, was sonst nur bei großen Gastmahlen für Bürgermeister und Rat gebräuchlich war. Obgleich Matz am Pulver gespart hatte, damit in der Stadt kein Gerede entstehe, sprangen die Frauen doch erschrocken von ihren Sitzen, und Georg vernahm mit grimmigem Zorn, wie der öde Bürgermeistersohn Anna in unverschämter Vertraulichkeit tröstete: »Das geschah vor allen anderen Euch zu Ehren, liebe Jungfer.«

Nach der Kollation führte Matz die Gäste ebenfalls ins Freie, um ihnen das Gut zu weisen, und da es ein Sonnabend war, fanden sie die Arbeiter über der letzten Ernte beschäftigt. Die Gäste sahen zu, wie die Bauern im Frondienst mähten und wie der Vogt sie scheltend trieb. Der Magister sagte bedauernd: »Der arme Karsthans arbeitet in saurem Dienst, damit wir unser Brot haben.« Doch Matz Hutfeld antwortete kalt: »Es sind Deutsche, ein störriges und widerwilliges Volk, weil sie sich rühmen, von den Vätern her freie Leute zu sein.«

Ein alter Mann konnte wegen Gebrechlichkeit nicht die Reihe halten, so daß der Vogt auf ihn eindrang und seine Gerte über ihm schwang. Da vergaß sich die Anna ganz und gar und rief mit geröteten Wangen und blitzenden Augen: »Wie darf der Vogt [] einen freien Mann schlagen, zumal dieser alt und gebrechlich ist?« Aber Matz lächelte, und der Magister kehrte dem Vogt den Rücken, um den Anblick zu meiden. Der Alte mochte etwas von dem Bedauern vernommen haben, denn er legte die Sense hin und wankte zur Seite in den Schatten des Gebüsches, bei welchem die Gäste eben gestanden hatten; da schrie der zornige Vogt: »Tut's die Gerte nicht, so soll dich die Peitsche lehren.« Er lief eine Wegstrecke zurück, wo sein Pferd angebunden war, um dort die Lederpeitsche zu holen. Der Magister, gekränkt durch die wilde Drohung, führte seine Begleiter mit starken Schritten von der Stelle weg. Anna aber wandte sich nach einer Weile um, denn Georg fehlte in der Gesellschaft. Sie sah den Weißkittel wieder tief gebückt mähen und wie der Vogt mit geschwungener Peitsche auf ihn losfuhr, aber im nächsten Augenblick stand der Mäher hoch aufgerichtet, sprang gegen den Vogt, riß ihm die Peitsche aus der Faust und hieb ihn mit seiner eigenen Waffe jämmerlich durch. Es war Georg in Mütze und Kittel des Bauern. »Du sollst fühlen, du wüster Tropf, daß Hiebe weh tun«, rief er, »nimm dies, weil du einen Freien geschlagen hast, und dies, weil du einen Alten geschlagen hast, und dies, weil du ein hartherziger Tyrann bist.« Der Vogt brüllte unter den Streichen, die Arbeiter standen still und sahen einander frohlockend an. Matz Hutfeld vergaß seine Ruhe und lief herzu. »Das sollst du büßen«, rief er seinen Mitschüler an.

»Halte dich zur Seite, junger Bürgermeister«, gebot Georg mit geröteter Wange, »verklage mich bei deinem Vater. Dir aber, Meister Vogt, rate ich, deine Rache an mir zu nehmen und nicht an dem Alten, denn wenn du ihm nur ein Haar auf seinem Haupte versehrst, so komme ich zum zweitenmal über dich und zahle dir, daß du das Aufstehen für immer vergißt.« Er warf dem alten Manne, der hinter einem Busche auf den Knien lag, Kittel und Mütze zu und schritt ohne Gruß nach dem Hofe. Gleich darauf sahen die Gäste ihn heimwärts reiten. – Das war ein klägliches Ende der Kollation. Matz enthielt sich nicht, mit bleichem Gesicht gegen den entfernten Georg loszuziehen, aber Lips Eske fand diesmal früher Worte als der Magister und sagte: »Hättest du dem Vogt seine Bosheit gewehrt, wie du wohl konntest, so wäre Jörge nicht in seinen Zorn verfallen.«

Verstört kehrte die Gesellschaft zurück und brach nach einigen höflichen Reden, welche die Bewegung verbergen sollten, zur Stadt auf. Georg aber dachte, als er heimritt: ihr schafft es kein Glück, mit mir über Land zu reisen. Sie sah erstaunt aus ihren großen Augen auf mich, ich habe sie gewiß wieder durch mein jähes Wesen erschreckt. Und doch kam mir ein, daß ihr ganz recht sein würde, wenn ich den Vogt abstrafte. Es ist möglich, daß ich wegen des Handels wieder vor den Rat komme, ungern bemühe ich die alten [] Herren. Ob Matz jetzt noch einmal aus der Feldschlange schießen läßt? Aber: daß ich den Vogt gestrichen hab', das freuet mich von Herzen. Dieser Satz gefiel ihm sehr, und er sang ihn zuerst nach der Weise: Tannhäuser war ein Ritter gut, und darauf wie das Lied: Frisch auf, du schöne Sommerszeit, und endlich nach dem ›Schloß in Österreich‹.

Er kam zufriedener nach Hause, als er ausgeritten war, und beschloß, während er das Pferd in den Stall führte, seinem Vater keine Mitteilung zu machen. »Nur nicht voreilig«, sagte er mit klugem Bedacht.

Als der Magister das Museum betrat und das zurückgelassene Wachtel seine Brillengläser anbellte, brach er ein langes Schweigen mit den Worten: »Nicht du solltest Ajax heißen, sondern ein anderer. Ich bin in großer Sorge um den zornigen Georg«, und er vernahm mit Erstaunen, daß Anna heftig antwortete: »Auch ich hätte den Vogt gestraft, wenn ich ein Mann wäre.« Sie war den Abend schweigsam, beeilte den Gutenachtgruß und ging in ihre Kammer. Dort warf sie ihr Regentuch zur Seite, und die helle Freude flog über ihr Gesicht. »Wilder Georg«, sprach sie leise vor sich hin und wiederholte oft die Worte, sie öffnete das Fenster und sah hinaus nach der wüsten Stätte der Ordensburg. Da fiel ihr alles ein, die Lieder und die große Musika, welche dort in den ersten Wochen erklungen waren, die Geduld, mit welcher er seit der Zeit um ihre gute Meinung geworben hatte, und seine Freude, als er im vorigen Jahr mit ihr zusammen sang. Auch der dreiste Arm, den er damals um ihre Hüfte gelegt und den sie durch so lange Strenge gestraft hatte, tat ihr heut gar nicht weh; ja ihr war, als fühle sie seinen Arm wieder, und sie wandte sich mit freundlichem Blick zu der Seite, wo sie ihn dachte, sie lächelte nur und sagte vor sich hin: »Er ist ein wilder Knabe. Heut tat er es um meinetwillen, weil ich mich über den harten Treiber erzürnt hatte, denn er sah vorher auf mich, ach so warm und treu.« In dieser Art trieb sie es lange, auch als sie die Flechten gelöst und ihren Gürtel auf den Schemel gelegt hatte, wollte sie das Fenster noch nicht schließen. Sie hielt zuweilen inne und lauschte, um ein Lied aus der Ferne zu vernehmen. Es war draußen alles still, aber in ihr klang eine holde Weise nach der andern. Und als sie im Bette lag und die Decke um sich zog, flüsterte sie noch lächelnd: »Gute Nacht, wilder Junker, schlafet in Frieden.« – Gute Nacht auch der Jungfer Anna. Sie war ein feines und sittsames Kind, aus Kursachsen oder Meißen, und hatte einen Widerwillen gegen rohe Taten der Männer, und doch war es ihr Schicksal, daß die Liebe in ihr aufblühte, weil ihr behender Knabe einen andern mit der Faust bewältigt hatte.

In den Ratsherren von Thorn wollte eine ähnliche Wohlmeinung [] nicht erblühen. Matz berichtete dem Vater gehässig gegen Georg. Am andern Tag kam jammernd der zerbleute Vogt, und die Geschichte wurde ruchbar. Da der Täter und der Herr des Gutes dem Artushofe angehörten, so ging der Handel vor das Gericht der Brüder, auf deren Bank Marcus König neben Hutfeld saß. Diesmal trat Georg keck unter die Augen seiner Richter, erzählte den Fall in seiner Weise, beschuldigte den Vogt und schloß: »Hochmögende Herren, Väter und Brüder, wenn ich wieder solches Unrecht sehe, werde ich wieder zuschlagen, was mir auch darum geschehe.«

Da furchte sich die Stirn Hutfelds, und der Burggraf Friedewald mußte dem Dreisten seine Rede verweisen. »Wenn der Vogt im Dienst seines Herrn allzu eifrig war, so stand nicht Euch die Strafe zu, mein Sohn, sondern dem Gutsherrn selbst.«

»Das bekenne ich, hochgebietender Herr«, versetzte Georg achtungsvoll, »vielleicht fühlte ich das Unrecht doppelt, da ich auf dem Gute meines Oheims und Paten war, und ich meinte nichts Übles zu tun, wenn ich als ein Mann aus der Freundschaft des Gutsherrn zur Stelle bewies, daß der Bürgermeister von Thorn seine Diener nicht gegen Recht und Gesetz an dem Leibe freier Arbeiter freveln läßt. Habe ich darin zuviel getan, so bitte ich um gnädige Strafe.«

Nach den kühnen Worten schwiegen alle, Hutfelds Gesicht rötete sich im Zorn, und er sah finster auf seinen Paten.

Darauf wurden die Zeugen gefordert. Von dem Magister sah man ab, da er kein Bankgenosse war, Lips Eske aber sagte genau aus wie Georg, und der Vogt konnte seine Hitze nicht leugnen, obgleich er viel über Widersetzlichkeit der Arbeiter zu klagen hatte, so daß die Herren mit düsteren Mienen zuhörten.

Als die Parteien abgetreten waren, bat zuerst Hutfeld um milde Strafe für seiner Schwester Sohn, was manchen wunderte, denn man wußte, daß er ungern verzieh. Doch der Burggraf fiel ihm bei. »Es würde dem Hofe in dieser Zeit verdacht werden, wenn er über solche Dreistigkeit strenger urteilte als die Bürger; die Leute sind jetzt durch neue Gedanken beunruhigt, und es wird uns wohl anstehen, zu zeigen, daß auch wir einer Bedrückung des gemeinen Mannes nicht gleichgültig zusehen.«

Darauf erhielt der Vogt einen scharfen Verweis und Georg als milde Strafe einige Tage Gefängnis in einer Kammer des Artushofes. Dort weilte er ohne Ungemach, denn Eske und andere gute Gesellen wußten zu ihm zu gelangen, er genoß fröhlich in ihrer Mitte allerlei Gutes, das sie ihm zutrugen, und der Hauswächter brachte ihm sogar einen Topf mit kunstvoll gebrautem Würzbiere, den die Stammgäste der blauen Marie in der Neustadt ihm wegen seiner Unerschrockenheit gestiftet hatten. Da merkte Georg, daß [] die Bürger ihn wert hielten, sein Mut stieg hoch, und er wurde ganz sorglos. Nur als er aus der Klausur nach Hause kam und seinem Vater gegenüberstand, fühlte er sich bedrückt. Denn der Vater warnte ihn in seiner ruhigen Weise: »Du trägst deinen Krug allzuoft zum Wasser, er wird zerbrechen. Diesmal hast du alle Brüder gekränkt, welche als Herren auf Stadtgütern sitzen, und du hast dir auch in unserer Freundschaft Gegner gemacht, denn Bürgermeister Hutfeld und sein Sohn werden dir die Kränkung im geheimen nachtragen.«

»Verzeiht nur Ihr, Herr Vater, es soll sicher das letztemal sein, daß ich als unbändig gescholten werde.«

Denselben Tag stand Anna allein im Hausgarten. Durch das Laub des Fliederstrauchs warfen einzelne Sonnenstrahlen goldenen Schein auf ihre langen braunen Zöpfe und auf das feine Rot ihrer Wangen und malten ihr bunte Muster über das dunkle Hauskleid. Hoch aufgerichtet hielt sie die gebogenen Zweige mit der Hand und sah nach einem Vogelnest: »Die Kleinen sind ausgeflogen, und ich werde ihr Gezirp nicht mehr hören; hütet euch, ihr Flatterer, daß euch die Menschen nicht einfangen und in ihre Bauer stecken. – Wie ist es doch traurig, im Gefängnis zu sitzen, wenn die warme Sonne scheint und der würzige Geruch von Blumen und Kräutern in der Luft schwebt.«

Da lief das Hündlein und bellte, kam zu ihr und zog sie am Gewande. Sie wandte sich um, an der Außenseite des Zaunes lehnte Georg und sah bewundernd nach ihr hin. Beiden röteten sich die Wangen höher, als sie einander gegenüberstanden; weil aber Georg, hingerissen von dem Anblick der Geliebten, stumm blieb, begann sie endlich verlegen: »Der Vater wird gern vernehmen, daß Ihr aus dem Gefängnis befreit seid.«

Ihr Gruß löste ihm die Zunge. »Es war keine schwere Haft, doch war sie nicht so lustig als der Zaun, von dem Ihr umschlossen seid. Dort kam ich heraus, hier möchte ich hinein, wenn Ihr es vergönnt.«

»Bleibt doch draußen«, versetzte sie ängstlich, »gute Nachbarn tauschen ihren Gruß auch über den Zaun.«

»Ach, liebe Jungfer Anna, meine Freude wäre groß, wenn Ihr mich für einen guten Nachbarn hieltet; dem Nachbar reicht man auch wohl etwas Gutes über den Zaun.« Er schwenkte seinen Hut. »Ich würde fröhlicher meine Straße ziehen, wenn ich einen kleinen Strauß aus Eurem Garten auf dem Hut tragen dürfte zum Andenken an dieses Wiedersehen.«

»Tragt Ihr einen Strauß am Hute, so wissen alle Leute, daß eine Magd ihn Euch gebunden hat, und sie raten, was jedes Kraut und jede Blume für Euch bedeuten.«

»Vermag doch niemand zu erraten, wer mir den Strauß angebunden [] hat, und jede Blume, die Ihr mir schenkt, bedeutet für mich Gutes.«

»Mich aber ängstigt, ob ich die rechten wähle«, antwortete sie befangen. »Dies hier wage ich Euch zu geben, nehmt das Eisenkraut, da Ihr doch ein stürmischer Junker seid«, und sie bot ihm den blühenden Stengel über den Zaun.

»Wie einen wilden Kriegsmann behandelt Ihr mich«, sprach Georg, den Stiel haltend. »Ich bitte herzlich, tut noch etwas Wohlriechendes hinzu, Salbei und Muskatkraut, damit ich Eure gute Meinung erkenne.«

Sie bückte sich zu den Beeten. »Nehmt auch noch die Sternblume, sie deutet auf die Sterne und daß die Geberin Gutes für Euch erfleht«, und sie wand ihm das Büschel mit einem Halm zusammen.

Er hob fröhlich den Hut. »Gesegnet sei der Garten, und gesegnet sei die Jungfrau darin, und mir sei es gute Vorbedeutung, daß ich Euch zuerst hier wiedersehe, allein, in freier Luft, wo die Vögel fliegen und die Sonne lacht.«

»Mit Recht lobt Ihr den Garten«, sagte Anna, um seine verklärten Augen von sich abzulenken, »denn ist der Raum auch nur klein, er birgt doch ein Wunder des Sommers, seht dorthin. Die Rosenzeit ist längst vorüber, und wenn ein König seine Boten aussenden wollte nach einem Rosenkranze, er würde weit umher suchen müssen, hier aber trägt ein Stock zum zweitenmal seine Blüte.« Sie wies nach der Seite.

»Ihr sagt es, daß die Rose blüht«, versetzte Georg bekümmert, »aber für einen, der draußen steht, ist sie vom Baumlaube verdeckt.«

Da rührte Annas Hand leise an der Gittertür, Georg sprang herein; sie trat zurück und wies nach der Blume. So standen sie im Garten, beiden bebte das Herz in Ahnung und freudigem Bangen, und beiden war der Blick wie mit einem Flor verhüllt und die Wange in freudigem Schreck verblichen. Sie traten zu der Rose, die am Gipfel des Strauches im Halbschatten leuchtete, und Georg begann leise: »Wo eine Rose einsam steht, da ist hier Brauch, daß man ihr Vertrauliches offenbart. Und wenn eines dem andern etwas zu sagen hat und die Scheu beim Anblick des andern die Lippen schließt, dann wenden sich beide voneinander ab und sprechen zu der Blume. So tue ich hier.«

Anna wandte sich ab und faltete die zitternden Hände.

»O liebe Rose Jungfer Anna, seit Jahr und Tag bin ich Euch gut und trage meine Sehnsucht still im Herzen. Einst war ich ein frecher Knabe gegen Euch, aber die Liebe hat meinen Sinn gewandelt; auch wenn Ihr streng gegen mich wart, seid Ihr mir immer lieber geworden, das Höchste seid Ihr mir, was ich auf der Erde habe, ich scheue Euch und ehre Euch und frage unablässig, was Ihr von mir denkt. Laßt's Euch gefallen, daß ich Euch im Herzen trage, seht [] mich freundlich an mit Euren treuen Augen und sprecht auch milde Worte zu mir, denn ich lebe in Unglück und Verstörung, wenn ich denke, daß Ihr mir zürnt.« In tiefen Atemzügen bebte seine Stimme, und bei dem zitternden Klange pochte das Herz des Weibes; sie stand unbeweglich und als er schwieg, antwortete sie fast unhörbar mit bebenden Lippen: »Ich sah, wie die Knospe aufschoß, und ich sah, wie die roten Blätter aus der Hülle brachen, und jetzt, da die Rose blüht, muß ich sorgen, fallen die Blätter in der Nacht, oder wird sie morgen noch blühen?«

Da wandte sich Georg zu ihr und rief: »Die Rose kommt und welkt in wenigen Tagen, mir aber wurde die Jungfrau lieb für mein Leben, und wenn ich sie missen muß, will ich nimmer leben.«

Auch sie sah zu ihm auf, ihre Augen strahlten von Liebe und Zärtlichkeit, aber sie hob die Hand abwehrend gegen ihn und sprach tonlos: »Liebt Ihr mich und ehrt Ihr mich, so flehe ich, daß Ihr geht.«

Und der wilde Knabe ging.

Aber der liebste Gang war ihm fortan in die Nähe der alten Burg. Dort saß der Magister zuweilen nach der Lektion im Schulgarten, und da er bei Georg eine besondere Ehrfurcht vor diesem Aufenthalt erkannte, so lud er ihn eines Tages ein, im Garten gewissermaßen zwanglos lateinische Reden zu üben, und er freute sich, daß die Übungen ganz nach dem Herzen seines Schülers waren, denn Georg kam seitdem regelmäßig. Zuerst verlief die Stunde lateinisch, dann brachte Anna dem Vater sein Vesperbrot herab, und der Magister forderte seinen Schüler auf, mitzuessen. Glückselig saßen die drei zusammen; es war ein stiller, abgeschlossener Raum, der nicht durch die Augen der Nachbarn zerstochen wurde, und nur zuweilen verriet sich die Gesellschaft dem Volke der Gassen, wenn Georg nicht vermeiden konnte, zur Laute zu singen. Doch tat er das selten, denn Frau Lischke, die jetzt ganz auf seiner Seite war, warnte ihn verständig, damit dem Hause keine üble Nachrede entstehe.

Bald wurde er der Vertraute bei einem geheimen Vorsatz des Magisters. Denn an einem friedlichen Nachmittage begann dieser: »Da wir hier zu dreien versammelt sind, so will ich ein Kollegium eröffnen, du, Regulus, und du, Kind Anna, ihr sollt meine Berater sein. Nämlich der neuliche Ehrentag hat mich, obwohl er jämmerlich auslief, doch wieder an meine Pflicht erinnert wegen eines kleinen Gedichtes zur Weihnacht. Hannus ist willfährig, einen Bogen drucken zu lassen. Aber nur unter einer Bedingung, sagte er: Die ganze Welt ist jetzt nach deutschen Büchlein begierig, das Lateinische vermögen nur wenige zu lesen. Wenn ich einen Bogen Deutsches erhielte, so könnte ich mich für die Kosten daran erholen, und etwas Deutsches würde auch Euch, Herr Magister, den Thornern wert machen, vornehmlich, [] wenn es einfältiger wäre und für die kleinen Leute. Er wies mir einen Holzstock, der ihm einmal zugekommen ist, darauf das Kind in der Krippe, Maria und Joseph, dabei Öchslein und Esel, Mond und Stern. Und er rühmte sich und mich, indem er sagte: Schreibt Ihr dazu etwas, so kann keiner widerstehen. Heut nun erinnerte ich mich an unsere Fahrt im vorigen Jahre zu dir, Regulus, welche vergnüglicher war, als die letzte, und ich bedachte, wie jämmerlich unkundig in der heiligen Geschichte das Volk hier dahinlebt. Darum will ich diesmal den Bürgern ganz schlicht aus Matthäus und Lukas die Kapitel von der Geburt des Herrn zusammenfügen und in gemeines Deutsch übertragen. Es ist keine vornehme Arbeit, und mancher wird es als Pfaffenwerk geringachten, jedoch es läuft unter anderem mit. Das ist meine Absicht; nun sagt ihr Kinder auch eure Meinung.«

Da fiel Georg sogleich mit warmen Worten bei, aber Anna schüttelte den Kopf. »Vater, wer kann wagen, die heiligen Worte in Deutsch zu verkünden, wenn er nicht geistlich und nicht in der Kirche angesehen ist. Die Pfaffen werden Euch jedes Wort aufmutzen, und ich fürchte, Herr Vater, Euch selber wird jedes Wort schwer auf dem Gewissen liegen, ob Ihr den Leuten alles richtig erklärt.«

Daran hatte der Magister nicht gedacht, und der Einwurf fiel ihm auf das Herz. »Es gibt jetzt andere, die noch Größeres wagen«, antwortete er endlich; »und die kleinen Bänkelsänger singen ja auch zuweilen ein Lied darüber, im Notfall kann ich meinen Namen weglassen, und obgleich ich's nicht gern tue, kann ich die Arbeit auch vorher unserm Pfarrer von St. Johann unterbreiten.« So beschloß er die kleine Übersetzung aus dem Griechischen, und Georg war sehr bereitwillig, ihm Bücher zu werben und heranzutragen.

Als der Nachtfrost das Grün des Gartens verdarb, wurde die gelehrte Unterhaltung in die Stube des Magisters verlegt. Hier war die Freude Georgs noch größer, wenn er zusah, wie sicher Anna in der Wirtschaft waltete, wenn sie sich im Gespräch vertraulich zu ihm wandte wie zu einem alten Freunde, und wenn er einmal wagte, einen Augenblick ihre Hand zu halten. Dann trieb auch er Possen wie ein kleiner Knabe, erzählte lustige Geschichten, und ein herzerfreuendes Lachen froher Menschen klang von den Wänden zurück. Nie hatte der Jüngling bis dahin das Glück empfunden, welches die Anmut einer Frau im Haushalt verbreitete, jetzt sah er die Geliebte an seiner Seite und fühlte den seligen Frieden in seinem Herzen. Und oft verstummte er plötzlich und saß in seinem Entzücken schweigsam mit heißen Wangen. Er half auch treulich bei der Übersetzung des Weihnachtsevangeliums, wenigstens als Zuhörer. Der Magister begann siegesgewiß, aber während der Arbeit wurde er immer unsicherer, er strich und änderte, klagte über die ungefüge [] deutsche Sprache alter Übersetzungen, die ihm Georg aus den Büchern einiger Ratsherren verschafft hatte, und war, wie Anna vorhergesagt, in seinem Gewissen beschwert, ob er die Worte geschickt deute und auch den Geistlichen kein Ärgernis gebe. Als er endlich den Druck der wenigen Seiten austrug, fand er diesmal Widerspruch, die Bürger zwar kauften das Blatt, aber seine vornehmen Gönner sahen unzufrieden auf die geistliche Arbeit, welche nicht seines Amtes gewesen sei, und vollends die Mönche von St. Nikolaus wollten das Werk gar nicht loben und warnten ihre Getreuen davor. Da war in seinem Ärger Georg der beste Trost, denn diesem gefiel jedes Wort, weil Anna mit ihrer klaren Stimme das ganze Büchlein an dem Abende, wo es dem Magister zukam, vorgelesen hatte.

Und da Georg bedachte, daß die Verhandlung Annas mit Dorfkindern auf dem väterlichen Gute die ersten Gedanken zu der Arbeit gegeben hatte, so bat er um den Bogen, aus welchem die Jungfrau vorgelesen hatte, faltete ihn eng zusammen und barg ihn mit den trockenen Blüten ihres Straußes an seiner Brust.

So kam und schied der Winter. In der Kammer des Vaters sah Georg jetzt gefurchte Stirnen, Marcus saß oft in finsterm Nachdenken, und auch der schweigsame Gehilfe konnte stillen Kummer nicht verbergen, Handwerker aus der Neustadt erschienen im Hause, mit denen der Vater sonst nicht verkehrt hatte; sogar der Stadtschreiber Seifried, der wegen seiner bösen Zunge im Artushofe nicht gut beleumdet war, kam zu geheimer Unterredung, und Georg merkte, daß der plumpe Gesell einmal einen großen Beutel Geld unter seinem Mantel hinaustrug. Ihm galt das wenig; auch was von den Weltläuften erzählt wurde, vernahm er ohne Sorge; daß der König und der Hochmeister nicht mehr Krieg zu führen vermochten und doch Frieden nicht schließen wollten, daß ein Waffenstillstand im Werke sei und daß für die nächsten Jahre alles bleiben solle, wie es vor dem Kriege gewesen. Als diese Nachricht zuerst im Artushofe verkündet wurde, sah er, daß sein Vater finster lächelte, und wunderte sich, daß der Alte zum Aufbruch ihn an seine Seite rief und sich beim Heimgange auf seinen Arm stützte, was er vorher nie getan hatte. Einen Augenblick ängstigte ihn das, aber er schlug sich's gern aus dem Sinn, denn sein junges Leben stand zum erstenmal unter der Herrschaft einer großen Leidenschaft, und alle seine Gedanken flogen der einen zu, von der er jetzt wußte, daß sie auch ihn im Herzen trug.

[]

Auf dem Kirchhofe von St. Johannes

In der kleinen Stube des Buchführers saßen der Magister und Anna als geladene Gäste. Hannus, der einsam in seinem Hause wohnte, machte selbst die Bedienung, putzte das Licht, füllte die Gläser, lobte Anna, daß sie ihm beistand, das Tischtuch aufzulegen und die Teller zu setzen, und erwies seinem Besuche jede gebührende Ehre. Denn der Gelehrte war ihm eine wichtige Person geworden, weil er nicht nur kaufte, sondern auch anderen mit Wärme empfahl. Unterdes sah der Magister unruhig nach einem großen eisenbeschlagenen Kasten in der Stubenecke. »Dort liegt die Arbeit der Weisen und der Esel friedlich zusammen.«

»Wenn mir Jungfer Anna den Tisch rücken hilft«, sagte Hannus lächelnd, »so will ich Euch als einem vertrauten Manne und guten Freunde meinen Schatz offenbaren.« Er hob den Deckel. »Es ist alles neue Sendung.«

Der Magister griff nach den obersten Blättern. »Wieder neue Zeitungen«, rief er bewundernd. »Es erscheinen jetzt jedes Jahr solche Bogen, und man erfährt, was an den Enden der Welt vorfällt, beim Türken und Spanier.« Die nächsten Hefte schob er unzufrieden beiseite. »Die leidigen Prophezeiungen.«

»Auch diese helfen einem redlichen Händler«, tröstete Hannus, »sie sind den Leuten um so lieber, je mehr Unheil sie verkünden. Wie ich hier sitze, habe ich zweimal den Untergang der Welt erlebt. Aber den harten Köpfen der Leute ist die Furcht heilsam, sie denken an ihre letzte Rechnung und werden barmherziger.«

»Sie essen auch ihre Würste vor Weihnachten auf und müssen, wenn die Welt nicht untergeht, im neuen Jahre fasten«, versetzte der Magister aufsehend. »Was gibt es hier Gutes?« fuhr er fort und las den einen Titel: »In diesem Büchlein wird bewiesen, daß der Apostel Petrus niemals in Rom gewesen ist.« Er lachte vergnügt: »Ob der Rat dies für gefährlich hält?«

»Dem Rat fehlt es nicht ganz an Einsicht«, beruhigte Hannus, »Lischke war mehr als einmal hier, er kam immer des Abends, klopfte an den Fensterladen und wartete draußen, bis ich ihm einen Trunk zurechtgestellt hatte. So machte sich's, daß ich vor der Obrigkeit bestand.«

Auf der Straße dröhnten schwere Tritte, es pochte am Fenster, und eine Stimme befahl: »Hannus, öffnet, ich komme auf Befehl des Rats.« Der Buchführer sprang erschrocken auf und fuhr mit beiden Händen in den Kasten, hob einige kleine Ballen heraus, lief in die Kammer und versteckte sie unter die Kissen des Bettes, indem er rief: »Ich komme, Lischke.« Zögernd öffnete er die Haustür, aber er fuhr entsetzt zurück, als er bei der Laterne des Ratsboten blinkende Hellebarden und die grimmigen Gesichter fremder Trabanten [] erkannte. Klirrend trat der Pole Pietrowski ein, hinter ihm zwei Mönche, und einer davon war Pater Gregorius. Dieser begann feindselig: »Der hochwürdige Legat des Heiligen Vaters gebietet Euch, Euren ganzen Kram aufzulegen, damit wir untersuchen, ob Ihr die Verbote der heiligen Kirche und das Edikt des Königs beachtet habt.« Der Pole aber befahl, an seinen Säbel fassend: »Wer nicht in dieses Haus gehört, der weiche von hinnen«, und er blickte heut fremd auf Jungfer Anna und ihren Vater.

»Macht fort«, raunte Lischke ängstlich dem Magister zu, »denn es wird diesmal ein großes Unglück.« Da trat der Magister traurig zu dem Buchführer, welcher gebeugt mitten unter den Feinden stand, drückte ihm teilnehmend die Hand, wechselte noch einen feindseligen Blick mit dem Frauenbruder und verließ, die Hand seiner Tochter fassend, das Haus des Heimgesuchten.

Am nächsten Morgen sprach Frau Lischke die Treppe hinauf zu Anna: »Ich weiß alles, nur daß ich nicht reden darf, weil es Geheimnis des Rates ist. Hannus ist sonst ein redlicher Nachbar, aber seine Verwegenheit hat ihn ins Unglück gestürzt. Ob es ihm an den Leib gehen wird, wußte Lischke noch nicht, aber sein ganzer Kram ist verloren. Warum hat er die verbotene Ware in seiner eigenen Stube verhalten, wie eine Braut ihre Ausstattung? Und er hat doch einen Gänsestall; unter den Gänsen hätte kein Pole nach Büchern gesucht.«

»Wißt Ihr, wohin sie die Bücher geschafft haben?« fragte Anna.

Frau Lischke kam die Treppe herauf: »Verratet's nicht, denn das Größte steht noch bevor; die Kiste ist zu den Predigermönchen geführt, obgleich der Handel vor den Rat gehört hätte. Die Bischöfe selbst nehmen sich der Sache sehr an; wenn Ihr heut abend hellen Schein vom Kirchhofe seht, wo der Hannus sonst seinen Stand hatte, so macht ein Kreuz und denkt, daß die Mönche Ketzerei brennen.«

Anna trat erschrocken zurück und rang die Hände, die Hausfrau fuhr fort: »So war auch mir, als ich's erfuhr, und ich sagte zu Lischke, wenn die geistlichen Väter brennen und nicht der Rat, so geht dich die Sache völlig nichts an, und du bleibst zu Hause. Er aber behauptete: Ich muß hin. Ihr mögt denken, daß ich deshalb in Ängsten schwebe, denn auch er kann sich an solchem Holzstoß das Wams versengen.«

Anna ging traurig in die Küche zurück, sie empfand tief die Kränkung, welche der neuen Lehre bereitet wurde, und dazwischen kam ihr heiße Angst, daß dem Vater eine Gefahr drohe; sie dachte auch, daß es ihm leidvoll sein werde, wenn einer von den Schülern, vielleicht ein kleiner, vielleicht ein großer, sich vermessen an das nächtliche Werk der Dunkelmänner wage. Die Hände flogen ihr zwischen den Töpfen, und das Essen war längst fertig, als das Mittagsgeläut [] die Schulstube leerte. Der Magister saß heute trübe über seinem Teller, während Anna begann: »Sagt mir, Herr Vater, haben die alten Römer auch Bücher verbrannt, die ihnen nicht gefielen?«

»Selten«, versetzte der Magister. »Die weise Sibylle verbrannte Bücher, aber das waren ihre eigenen, und es hatte niemand dareinzureden. Doch warum fragst du so? Es ist ein trauriger Streit, den heutzutage der Holzstoß gegen das Feuer des Geistes führt, und lange haben die Päpstlichen an guten Büchern greulichen Mord geübt, bis die Wittenberger ihnen die richtige Antwort gaben, indem sie die Bannbulle verbrannten. Mit den Büchern eröffnen die Mönche den Brand, aber mir ahnt, bald werden die Leiber redlicher Bekenner auf dem Scheiterhaufen brennen.«

»Wenn die Mönche am Abend den Kram des Hannus anzünden, so können sich Eure Schüler unnütz machen, und Euch wäre leid, wenn deshalb einer vor den Pfaffen in Not käme.«

Der Magister legte seinen Löffel weg und sah starr auf die Tochter, bis ihm diese die ganze Neuigkeit erzählte. »Ich fürchte, Herr Vater«, schloß sie bekümmert, »obgleich Ihr die Knaben in strenger Zucht haltet, so sind doch einige darunter vorwitzig, am meisten die großen.«

Diese bescheidene Warnung hatte zur Folge, daß der Magister am Ende der Nachmittagslektion seinen Schützen einschärfte, sich von allen Aufläufen fernzuhalten, und er drohte, jeden von der Schule auszuschließen, der heut auf der Straße umherschweifen werde. Er hätte ebensogut den Sperlingen auf dem Fliederstrauch verbieten können, um die Marktwagen zu hüpfen. Als darauf die großen Schüler kamen, wurde er deutlicher und stellte die Frage zur Disputation, wie sich ein Humanist verhalten solle, wenn Obskuranten an den Schriften eines verehrten Mannes durch Brand und Feuer frevelten. Aber er erhielt von keinem die Antwort, welche er begehrte. Matz Hutfeld empfahl Klage beim Rat, Lips riet zu einem Gegenfeuer mit den Werken der Dunkelmänner, und Georg wollte gar durch Hebebäume und starke Fäuste die Brenner verscheuchen. Der Magister hatte schweren Stand, als er bewies, daß einem Deutschen, der durch die lateinische Schule aus der heimischen Roheit herausgehoben sei, nichts so sehr gezieme als ruhige Verachtung der Auguren; und er selbst konnte nicht vermeiden, daß seine Augen zornig funkelten und seine Hand schwer auf den Tisch schlug, während er die Schüler beschwor, sich zu Hause zu halten, wenn ja in ihrer Nähe ein solches Feuer aufbrennen sollte.

So war wirklich das mögliche geschehen, um die Schule vor dem Lärm der Straße zu bewahren. Dennoch wollte das Schicksal, daß gerade diese Vorsorge Lehrer und Schüler dem lodernden Feuer nahebringen sollte. Von den Schützen dachte keiner an das Pensum für morgen, sie schwärmten wie die Hummeln um das Kloster der [] Predigermönche und an den Pforten zwischen Altstadt und Neustadt, und sogar Georg, der mit seinem Gesellen Lips eine Unterhaltung beim Bassettel verabredet hatte, schlug vor, heut auf die Musik zu verzichten.

»Wir wissen, daß es nicht gut ist, den geistlichen Herren in den Weg zu laufen«, mahnte Lips, ihn bedeutsam anblickend.

Georg nickte: »Auch ich will unsern Magister nicht kränken und nur aus der Ferne zusehen.«

Es war ein milder Frühlingstag gewesen, das Abendlicht vergoldete die Türme von St. Johannes, unter dem hellen Himmel lag der Kirchhof in rötlicher Dämmerung, aus welcher einzelne Kreuze und Steintafeln hervorragten. Die Bürger trieben in froher Bewegung umher. Denn die Mehrzahl der polnischen Herren, welche so lange unter ihnen gelegen hatten, war am Morgen mit dem Könige abgeritten, und sie freuten sich, wieder Herren in ihren Häusern zu sein. Zuerst hatten sie den guten Verdienst gelobt, welchen sie von den Fremden zogen, dann war die Last und Unordnung größer geworden als die Freude, und zuletzt erschien das Einlager den meisten ganz unerträglich. Heut verglichen sie Gewinn und Nachteil, säuberten ihre Häuser und eilten zum Tisch ihrer Schenke. Das junge Volk aber trieb auf dem Markte und den Gassen dahin wie an einem Festtage, viele im Sonntagsschmuck. Über den Kirchhof erklang frohes Geschrei der spielenden Kinder, um die Mauer saßen die Erwachsenen, hier sang ein munterer Bürgersohn zur Laute, und die Frauen seiner Bekanntschaft sangen den Kehrreim mit, in der andern Ecke schnarrte ein Dudelsack, und leichtes Volk sprang zwischen den Gräbern zusammen und ordnete sich zum Reigen. Es wußten nicht viele Leute von dem, was bevorstand, aber durch die einzelnen Haufen ging ein Summen, die Zahl der Anwesenden war viel größer als sonst wohl, und die Schützen der lateinischen Schule steckten ihre Köpfe hinter den Kirchenpfeilern hervor, bald auf das Abenteuer des Abends lauernd, bald ängstlich nach dem Herrn Magister spähend.

Auch für die Herren des Rats war es ein festlicher Tag, gegen Gewohnheit saßen sie noch spät versammelt. Die Bürgermeister hatten den König bis an die Grenze begleitet und freuten sich jetzt, seine letzten huldreichen Worte vor dem Rat zu wiederholen und, was allen wichtiger war, die Urkunden, welche der König beim Abschied der Stadt verliehen, feierlich in die eiserne Truhe einzuschließen. Denn da der König oft auf Kosten der Stadt gelebt hatte und ein sehr teurer Gast gewesen war, so hatte er als Gegengabe der Stadt auch Großes gewähren müssen, indem er Neues schenkte und alte Vorrechte bestätigte, und beide Teile hatten darauf geachtet, daß die Gaben der Stadt und die Bezahlung nicht ungleich waren; der König nahm's nicht von seinem eigenen, und die Mitglieder[] des Rats erhielten durch seine Begabung größeren Vorteil als andere Bürger. Als nun der Burggraf die Anwesenden auf die Stühle lud, um die Sitzung aufzuheben, da fing einer der jüngsten Ratmänner von dem Buchführer Hannus an und von Wegnahme der Bücher, und Lischke, der bei der Tür stand, merkte als vorsichtiger Beobachter großer Herren, daß diese Erwähnung den anderen ungehörig erschien. Denn zögernd sprach Herr Friedewald: »Der hochwürdige Legat hat gestern den Ratsboten gefordert, um in geistlichen Dingen bei einem Bürger zu untersuchen. Was er etwa gefunden, ist nicht vor uns gebracht worden; vielleicht ist es dem Rate genehm, daß er nicht genötigt wird, zu prüfen, ob ein Bürger gegen des Königs Mandat gefrevelt habe. Wir vermögen den Hannus nicht zu bestrafen, wenn die verbotene Ware nicht vor unsere Augen kommt, weil sie anderswo liegt, oder weil sie gar verbrannt wird.«

Aber der heftige Ratmann gab sich nicht, sondern fuhr fort: »Soll der Rat von Thorn dulden, daß Habe und Gut eines Bürgers ohne Urteil und Recht von den Pfaffen geraubt wird?«

Darauf antwortete wieder Herr Friedewald bedächtig: »Ob der Rat das dulden muß oder nicht, darüber, Herr Kumpan, werden wir erst befinden, wenn Meister Hannus vor uns eine Klage gegen die ehrwürdigen Väter oder gegen wen sonst erhebt. Zur Zeit wissen wir nichts.« Nach diesen Worten mahnten die Herren den Unruhigen durch Blicke, daß er schweige, aber dieser brach zum drittenmal los: »Und heut abend soll ein Feuer brennen, welches in der Stadt unerhört ist; es kann ein Unglück geben, denn in den Köpfen arbeitet Widersetzlichkeit.«

Darauf gab der Burggraf gar keine Antwort mehr, und Hutfeld fragte: »Widersetzlichkeit? Nicht gegen uns. Ihr selbst habt die Feuerwache, Herr Kumpan, vielleicht seht Ihr heut nach den Tonnen«, worauf die Sitzung eiligst aufgehoben wurde. Daraus entnahm Lischke, daß der Rat sich nicht einmischen wollte, und als Bürgermeister Hutfeld bei ihm vorüberschritt, wagte er die leise Frage: »Wenn ich heut abend nach St. Johannes gehe, soll ich von den Söldnern der Stadt mitnehmen?« Aber er vernahm die strenge Gegenfrage: »Hat jemand Bewaffnete gefordert oder erbeten?« Deshalb beschloß er, seinen eigenen Mut ebenfalls zu bändigen.

Vor dem Kloster der Predigermönche harrte erwartungsvoll die Menge. Die Klosterpforte war heut weit geöffnet und hell erleuchtet, Mönche liefen geschäftig aus und ein, und es war ein Verkehr in dem frommen Hause wie in einer Herberge. Aus der Altstadt kam in feierlichem Zuge Bischof Zacharias, Legat des Heiligen Vaters, er saß prächtig auf einem grauen Maultier, das mit seidener Decke und mit vielen bunten Quasten geschmückt war, er selbst ein hagerer Mann mit einer dünnen Nase und schielenden Augen, der[] hochmütig und quer über die gefurchten Gesichter der Bürger wegsah; vor ihm schritten vier Trabanten in roten Wämsern, welche das säumige Volk durch die Schäfte ihrer Hellebarden unsanft aus dem Wege trieben, zur Seite liefen zwei Knaben in buntem Festkleide, und hinter ihm zog eine lange Reihe von dienenden Geistlichen und Beamten. Die Leute lachten, wenn einmal das Maultier stärker ausschritt, und die frommen Väter mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen hinterhertrotteten. Aber das Gelächter verstummte, sooft der Pole Pietrowski mit seinen bewaffneten Begleitern den Zug entlang sprengte, denn die Polen ritten schonungslos gegen den Haufen als verwegene Gesellen, welche die adlige Feder auf ihren Pelzmützen nicht zum Scherz trugen. An der Klosterpforte wurde der Legat von dem Prior und den knienden Brüdern empfangen, er bewegte nachlässig die Hand zuerst über sie und streute dann den Segen über die Haufen der Zuschauer, von denen viele die Häupter nicht entblößten. Gleich nach ihm kam in ähnlichem Aufzuge, nur ohne Trabanten, der Bischof von Kaminiez, den die Thorner Stampe nannten, weil er kurz und dick war wie ein solches Trinkglas, die kleinen Augen in seinem roten Angesicht waren durch die schweren Lider fast ganz zugesperrt, denn das Fackellicht tat ihnen seit dem letzten starken Trunke weh. Schwerfällig plumpte er von seinem Gaule und wankte in das Kloster. Hinter den großen Herren drängte das Volk bis an die Pforte, staunte über die roten Trabanten und verlachte die gekrausten Lappen an ihren Gewändern. Als aber der gefürchtete Vater Gregorius am Eingange sichtbar wurde, schwieg alles erwartungsvoll; ein Mönch eilte geschäftig um die Ecke und brachte einen greulichen Zug heran, den Henker Hans Buck mit seinem Knechte, und der Knecht führte eine elende Mähre herbei mit einer Schleife, auf welcher eine Kuhhaut lag. Da Hans Buck vor die Augen des Paters trat, rückte er unbehilflich an seiner Mütze und vernahm die Anrede: »Du bist geladen zur Hilfe bei frommem Beginnen, und dein Dienst soll dir in diesem und jenem Leben helfen. Bist du bereit, den Holzstoß zu schichten und Werke des Teufels darauf zu brennen?«

»Es wäre nicht der erste Holzstoß, an den ich die Fackel halte«, versetzte Hans Buck mit Selbstgefühl. Er stand vierschrötig da und sah aus seinen scharfen grauen Augen dem Pater unerschrocken ins Gesicht. »Von welcher Art ist der Teufelskram, den Ihr abtun wollt?«

»Es sind ketzerische Bücher, von der heiligen Kirche für todwürdig erklärt, du sollst ihnen zu feurigem Ende verhelfen.«

»Papier brennt leicht, nur daß die Asche weit fliegt«, versetzte Hans vorsichtig. »Ich denke, daß dies freiwilliger Dienst ist, der nicht für meine Schuldigkeit gilt.«

[] »Nicht umsonst fordern die Heiligen deine Hilfe; entblöße dein Haupt, Mann, und empfange hier für dich und deinen Knecht, was dich von dem Höllenfeuer lösen mag.«

Hans lüftete wieder die Mütze und nahm zwei Ablaßzettel, die ihm der Pater wie einem Aussätzigen mit spitzen Fingern darbot. Hans hielt das Papier gegen das Licht der Fackeln. »Es sieht aus wie mein Name; kommt's dem Feuer zu nahe, so verfliegt auch dies zu schwarzer Asche«, sagte er schlau. »Doch man kann nicht wissen, wozu es gut ist«, und er steckte das Papier in sein Wams. »Zeigt mir meine Ladung.«

Der Pater winkte, die Mönche rollten einen großen Ballen herzu, der mit roten und schwarzen Stricken verschnürt war. Es war im Volk lautlose Stille, als die Mönche den Ballen auf die Kuhhaut wälzten. Aber gleich darauf erhob sich ein tiefes Summen, Gelächter und lautes Geschrei. Denn ein junger Mönch trug einen Stock mit eisernem Stachel herzu, an welchem eine lebensgroße Puppe mit Teufelshörnern befestigt war; auf die Brust der Mißgestalt war der Name eines Mannes geschrieben, und in dem ausgestreckten Arme hielt sie einen Holzschnitt, welcher das Gesicht desselben Mannes darstellte. Es war das Bild, welches jeder Thorner während der letzten Monate an dem Brettergestell des Buchführers Hannus gesehen hatte und das in manchen Häusern heimlich bewahrt und guten Freunden gezeigt wurde. Der Mönch stieß die Stange in den Ballen, so daß die teufliche Gestalt von jedermann gesehen wurde. Als die Nahestehenden allmählich beim roten Fackellicht den Namen und das Bild erkannten, wichen sie zurück, und dem Gelächter folgte ein dumpfes Gemurr, aber auch dies verstummte, als Pater Gregorius einen Schritt auf die Menge zutrat und mit gehobenen Augenbrauen hineinblickte. »Vorwärts nach dem Kirchhof«, gebot er dem Henker.

Doch Hans Buck stemmte die gespreizten Beine auf den Grund und sah sich den Teufel an. »Der Dienst ist freiwillig«, antwortete er endlich; »von dem schwarzen Butzemann war vorhin nicht die Rede.«

»Willst du mit den Heiligen um deinen Lohn feilschen?« fragte der Pater zornig.

»Ich bin Scharfrichter von beiden Städten, welche Thorn heißen, und ich bin Diener des Rates; ein Menschenbild, ob es lebendig oder von Papier ist, brenne ich nur, wenn der Rat befiehlt, sonst niemandem zu Liebe oder Haß. Klas«, gebot er seinem Knecht, »spanne die Mähre ab und führe sie nach Hause. Die Kuhhaut lasse ich Euch wegen der Zettel, denn eine Gabe ist der andern wert.« Er sah noch einmal nach dem Bilde, dann wandte er sich entschlossen und trat in den Haufen zurück, während der Knecht den müden Gaul von dannen trieb. Niemals war Hans Buck in ähnlicher Weise durch die [] versammelten Bürger von Thorn gewandelt; er war gewöhnt, daß ihm alle auswichen und seinen Blick vermieden, heut sah er viele freundliche Augen auf sich gerichtet und vernahm, wie er weiterschritt, von beiden Seiten grüßende Zurufe: »Wackerer Hans, treuer Mann. Gottes Segen über dich!« Da wurde ihm wohler als je in seinem Leben, und er schritt stolz bis an die Kirchhofsmauer. Auch dorthin folgten ihm Leute, und Barthel Schneider lief sogar in das Schenkhaus gegenüber und brachte ein großes Glas Danziger getragen, das er neben dem Mann auf die Mauer stellte. »Nehmt, Hans, und möge es Euch gedeihen.« Hans hob das Glas und rief: »Dies bringe ich allen freien Kindern von Thorn«, trank und schob das geleerte Glas unter den Arm, wie sein Recht war bei jedem gespendeten Trunk, da nach ihm niemand das Gefäß gebrauchen konnte.

»Die freien Kinder von Thorn danken dir, Hans, daß du ihnen einmal gutes Glück zutrinkst, ohne daß du deine Waffe an ihren Hälsen gefärbt hast«, sprach neben ihm eine lustige Stimme.

»Mancher, der heut den Kopf hoch trägt, denkt nicht daran, daß er morgen unter meiner Waffe liegen kann«, versetzte Hans ernsthaft.

»Darum sorgen wir nicht mehr«, lachte Georg, »denn wir hoffen, Hans, du wirst morgen den Kindern von Thorn dieselbe Schonung erweisen wie heut der Puppe.«

Hans Buck grinste und wandte sich zu Lischke, mit dem er so vertraut war, wie der Unterschied ihrer Ehre gestattete: »Ich würde mir lieber einen Finger abhacken, als den Pfaffen zuliebe jenes Mannsbild brennen.«

»Kümmert auch dich der Streit der Pfaffen?« fragte Lischke verwundert.

»Um das Gezänk dieser Mönche kümmere ich mich nicht, und ich mache mir auch wenig aus ihrem Glauben. Wenn ich einmal im Jahre zur Beichte gelassen werde, schieben sie einen kleinen Altar in die Armesünderecke und fassen die Kutte mit beiden Händen, damit ich sie nicht berühre. Jener Mann aber, von dem sie das Konterfei verbrennen wollen, hat ihnen die Wahrheit gesagt, darum hassen sie ihn.«

»Was weißt du von seiner Lehre?«

»Einer von seinen Jüngern, die man Prädikanten nennt, hat sich nicht gegraut, an meinem Tisch niederzusitzen, dieser verkündete mir und meinem Knecht soviel, als wir brauchen. Wißt, Lischke, er hat zwei Lehren, gleich den zwei Beinen eines Menschen, sich darauf zu stützen. Das erste Bein ist: Alle Menschen sind arme Sünder, und vor andern die vornehmen und reichen Hansen, die mit ihren guten Werken prangen; das andere Bein aber, welches dem ersten Widerpart hält, ist dieses: Kein Sünder ist so verworfen, daß er nicht [] durch seine Reue die Gnade unseres Vaters im Himmel erwerben kann. Daß dieses alles die Wahrheit ist, weiß der Henker am besten. Denn manchmal, wenn ich einen gerichtet habe, hätte ich mit besserem Recht den Stolzen abgefertigt, der den armen Sünder richten ließ; und wieder, mancher armen Seele habe ich zugesehen, die so friedlich den letzten Weg ging wie ein Kind, das zu seiner Mutter ins Bette kriecht.« Er nickte und verschwand in einer Seitengasse.

Aber der Widerstand des Hans Buck hemmte nur kurze Zeit die düstere Feierlichkeit, welche die geistlichen Herren zur Warnung der Bürger beschlossen hatten. Aus einem nahen Stall wurde ein anderes Roß herzugeführt, und der Zug setzte sich in Bewegung. Einen Bußpsalm singend, schritten die Mönche mit Kreuz und Fahne voran, die großen geistlichen Herren folgten; hinter ihnen kam die Schleife und ein Karren mit Brennholz, gedeckt von den Trabanten und Laienbrüdern des Klosters, längs dem Zuge sprengten gleich Marschällen der Pole und seine Begleiter. So bewegte sich die unheimliche Prozession vom Kloster der Predigermönche durch das Kerkertor nach der Altstadt und nach dem Kirchhofe von St. Johannes. Die traurigen wilden Klänge des lateinischen Gesanges beengten den Bürgern das Herz; das Licht der Pechfackeln beleuchtete mit grellem Rot die Gestalten der reitenden Bischöfe, welche über dem dunklen Haufen dahinfuhren wie der Erde enthoben; die kahlen Scheitel der singenden Mönche glänzten bald in rotem Schimmer, bald wurden sie von einer rußigen Wolke verhüllt. Am Eingange des Friedhofs empfing den Legaten demütig der Pfarrer von St. Johannes, der im Grunde den Mönchen zuwider war, sich aber heut vor der höheren Macht beugte. Der Zug stellte sich auf, ein neuer Psalm Davids, worin der Sänger seinen Feinden viel Böses wünscht, wurde angestimmt, junge Mönche luden die Holzbündel ab, schichteten den Stoß und wälzten den Ballen hinauf.

Der Magister konnte heut über seinen Büchern nicht ausdauern, er ging mit großen Schritten in der leeren Schulstube auf und ab, ergriff seinen Stock und tat gefährliche Stöße nach der dunklen Ecke, welche unter den Schützen gefürchtet war, weil dort die argen Frevler abbüßten. Als es finster wurde und das Gesumm von dem nahen Kirchhofe in sein Ohr drang, ergriff er den Hut. »Ich fürchte, meine Schüler vermögen heut nicht zu gehorchen, ich will selbst hin, sie wegzutreiben.«

Anna faßte flehend seinen Arm. »Bleibt nur heute, Herr Vater, mich quält den ganzen Tag die Ahnung, daß ein Unglück bevorsteht; warum wollt Ihr ansehen, was Ihr nicht hindern könnt?«

Aber der Magister wies sie kurz zurück und schritt eilig die Treppe hinab. Als Anna allein war, wurde ihre Angst unerträglich, sie sah die Hausgiebel vom Feuerschein gerötet und hörte aus der [] Ferne Bußgesänge. Da schlug sie ihren Mantel um und eilte zur Hauswirtin hinab. Sie fand diese in derselben Tracht zum Ausgange gerüstet. »Eilt, Jungfer Anna, wir dürfen die Männer heut nicht aus den Augen lassen.«

Auf dem Kirchhofe wanden sie sich durch dichtgedrängte Haufen, ängstlich nach denen suchend, die ihnen am Herzen lagen. Sie kamen, als gerade ein Mönch die Fackel zutrug und in den Holzstoß steckte. Als die Flamme aus der schwarzen Rauchwolke züngelte, wurde es so still im Volke, daß man den Schrei eines Kauzes auf dem Turmdach hörte.

Pater Gregorius trat an den Stoß, las laut die Titel der Bücher, welche in dem Ballen gebrannt werden sollten, und warf die letzten, welche er noch in der Hand hielt, eines nach dem andern in die Flammen. Er nannte wohlbekannte Schriften, welche vielen in Thorn für tröstend und heilbringend galten; darunter auch den Titel des fliegenden Blattes, welches der Magister zur Weihnacht hatte drucken lassen, und obgleich er den Namen des Autors nicht kündete, weil dieser in dem Blatt nicht zu finden war, so wußten die Thorner doch, wer es geschrieben hatte. Es erhob sich ein Gemurr, und einzelne Steine flogen von hinten her gegen den Holzstoß. Zuletzt rief der Mönch: »Wie diese in das irdische Feuer geworfen werden, ebenso mögen die Übeltäter, welche Ketzerei in der Welt verbreitet haben, dem Höllenfeuer verfallen.«

Der Magister stand, von den Flammen beleuchtet, zornrot in der ersten Reihe, seine Hände ballten sich, aber er vermochte nichts herauszubringen als ein lautes Pfui. Sein Schrei verhallte in neuem Gesang, den junge Klosterbrüder anstimmten, sie trugen die Teufelspuppe auf der Stange rings um den Scheiterhaufen unter dem Spottliede: »Ach du armer Judas, was hast du getan.« Das Lied wurde durch Gejohl und Schreien des Volkes begleitet. Die Mönche aber befestigten die Stange an dem brennenden Holzstoß, und jetzt trat der Legat selbst hervor und sprach in feierlichem Latein einen Fluch über den Mann, dessen Name auf dem teuflischen Bilde geschrieben stand. Da flog ein großer Mauerstein gegen die Puppe, daß sie aus dem Feuer fiel, aber der hochwürdige Bischof von Kaminiez bückte sich trotz seiner Schwere nach der Gestalt und warf sie von neuem in die Flamme. In diesem Augenblick rief eine helle Stimme – ach, es war die des Magisters –: »Ich protestiere gegen die Kränkung, welche hier einem würdigen Lehrer des deutschen Volkes zugefügt wird.«

Dieser Ruf war wie ein Windstoß, welcher ein Hagelwetter entladet, von allen Seiten flogen Erdballen und Steine gegen den Scheiterhaufen und gegen den geistlichen Herren. Der Rat selbst hatte dafür gesorgt, daß es an Wurfgeschossen nicht fehlte, denn er ließ noch immer über der lateinischen Schule bauen, und dicht [] am Kirchhofe war die Baustätte. Eilig entwichen die Geistlichen in das Dunkel, doch Pan Pietrowski fuhr mit seinem Gefolge auf den Magister los und gebot: »Dieser ist der Schreier, faßt ihn.« Der Magister stand ihm gegenüber, bereit, zu kämpfen und zu sterben, der Hut war ihm vom Haupte gefallen, einen Arm hielt Anna, den andern die Ratsbotin, um den Widerstrebenden zurückzuziehen. Aber gerade, als der Pole die Hand gegen ihn ausstreckte, trat Georg zwischen beide und warf den Pietrowski zurück, daß er taumelte. Der Pole stieß ein Schmähwort aus und sprang mit gehobenem Säbel wieder vor. Da traf ihn eine Rüststange am Haupt, daß er lautlos zu Boden sank, und die Stange schwingend, rief Georg: »Heran, ihr Schüler von Thorn, verlaßt euren Herrn Vater nicht in der Gefahr.« Auf diese Worte erhob sich ein so fröhliches Jauchzen und Geschrei, wie es zu diesem Abend gar nicht paßte, die Schützen, kleine und größere, tauchten aus allen Ecken hervor und sprangen über die Mauer. Viele sammelten sich um den Magister, andere holten ihre Waffen von dem Holzwerk des Gerüstes. Ihrem Beispiel folgte die Menge, auch bedächtige Bürger wurden fortgerissen und griffen nach Steinen und Stangen. Die frommen Väter mit ihrer Begleitung entwichen laufend dem Kirchhofe, der betäubte Magister aber sah sich der Gefahr enthoben und von seiner ganzen Schule umschwärmt. Lustig sprangen die Leute gegen das Feuer, stießen mit dem Rüstholz hinein, zerrissen den Scheiterhaufen und warfen die Brände auseinander.

Marcus saß an seinem Schreibtisch in finsteren Gedanken: »Ich höre die Bußgesänge der Mönche und sehe das rote Fackellicht heut, wie in jener Nacht, wo mein Vater endete. Damals ritt der Ahn des Pietrowski als Treiber des traurigen Zuges, gerade wie heut sein Enkel, und der Fremde fluchte und schmähte meinen Vater, als sie mich auf das Gerüst hoben. Die Kränkung blieb ungerochen; als Knabe vernahm ich sie, warum brennt sie heut auf der Seele des Alten?« – Da wurde die Tür hastig geöffnet, er wandte sich befremdet um, erkannte im trüben Schein der Kerze das verstörte Gesicht seines Sohnes und vernahm die Worte: »Verzeiht mir, Herr Vater, ich komme in einem bösen Handel. Die Bischöfe und Mönche haben zu St. Johann Büchlein der Wittenberger verbrannt, dabei wollten die Polnischen gewalttätige Hand an den Herrn Magister legen, ich aber habe den Pietrowski mit einem Rüstbaum niedergeschlagen, er liegt mit blutendem Kopfe, und die Polen brüllen Gewalt in den Straßen.«

Der Vater faßte mit der Hand das Pult, als er sich langsam erhob, er stand mit gesenktem Haupt und murmelte: »Unheilig war der Wunsch und die Hölle hat ihn erfüllt.« Er trat auf seinen Sohn zu und fragte bleich wie dieser: »Ist der Pole tot?«

»Ich weiß es nicht, Herr Vater.«

[] »Die wilde Tat geht noch einem andern an Hand und Hals. Warum warst du so hastig, zu begehren, daß dein Vater dich überleben soll? Gegen die Ketzerrichter hast du dich aufgelehnt, Unseliger! Die Heiligen des Himmels hast du erzürnt, und Gnade hast du nicht im Himmel und auf Erden zu hoffen!«

»Der Pole schmähte, Herr Vater, dem Schimpfwort folgte der Schlag.«

»Ich weiß«, sagte Marcus leise. »Vermagst du noch durch das alte Tor aus der Stadt zu entrinnen?«

»Ich hoffe, Herr Vater; der Pförtner ist uns zugetan.«

»So entweiche in die wilde Nacht, flieh nach unserm festen Hause und laß Wache halten, morgen früh sende ich dir durch Bernd Nachricht. Du gehst als Schiffer nach Danzig, von da nach Lübeck, dort weilst du, bis dein Schicksal hier entschieden ist. Als Flüchtling mußt du von dem Hause deiner Väter scheiden; wann wirst du es wiedersehen? Hinweg, jeder Augenblick vermehrt die Gefahr.«

»Laßt mich nicht ohne Segen von Euch, Vater«, rief Georg und warf sich vor ihm auf die Knie. Marcus legte ihm die zitternde Hand auf das Haupt und murmelte Unverständliches, und als Georg aufsprang und ihn umfaßte, hielt er den Sohn einen Augenblick an seinem Herzen, gleich darauf stieß er ihn heftig zurück: »Hinweg!« Georg sprang aus der Tür und aus dem Vaterhause. Marcus aber schlug die Hände zusammen und warf sich vor dem Marienbilde auf den Boden.

Georg eilte, in einen polnischen Mantel gehüllt, durch die Hintergassen dem Tore zu, scheu blickte er zur Seite nach den Verfolgern. Doch die Angst, ein neues Gefühl in seinem jungen Herzen, vermochte ihn nicht lange zu demütigen, er richtete sein Haupt auf, fühlte nach dem Messer an seiner Seite und dachte: »Leichten Kaufes sollen sie mich nicht fangen.«

»Euch wäre auch besser, Junker, wenn Ihr jetzt in einer Nebelkappe lieft«, raunte neben ihm eine warnende Stimme. Es war Barthel Schneider. »Wo wollt Ihr hin?«

»Habt Ihr gehört, was aus dem Herrn Magister geworden ist?« fragte Georg schnell.

»Ich sah ihn mit der Tochter zu seiner Schule wanken. Lischke sagt, es wäre sein Letztes, die Pfaffen würden ihn wegen Ketzerei richten.«

Georg drehte sich kurz auf das Haus des Magisters zu, aber Barthel faßte ihn am Arme. »Seid Ihr unsinnig? Sorgt um Euren eigenen Kragen. Kommt, Junker, hier ist dunkler Schatten, drückt die Mütze besser auf den Kopf, daß man Euer krauses Haar nicht erkennt.« Sie kamen an das Tor, Barthel klopfte an den Fensterladen des Wächters. »Gevatter, bemüht Euch um meinetwillen, mein Gesell hat eilige Botschaft aufs Land zu tragen.«

[] Aber aus dem halbgeöffneten Laden kam die leise Warnung zurück: »Laßt Euch Gutes raten und sucht für Euren Gesellen eine andere Öffnung.« In demselben Augenblick sprang die Tür auf, ein Haufe Bewaffneter brach aus dem Hause. Barthel umklammerte ängstlich den Arm Georgs und wehrte ihm, das Messer zu ziehen. Der Jüngling wurde bewältigt und vor den Säbeln der fluchenden Polen nur dadurch bewahrt, daß sich der Pförtner und Barthel fest an ihn hingen. Als Gefangener wurde er dem Rathause zugeführt.

In der kleinen Ratsstube saßen am nächsten Morgen die vier Bürgermeister zusammen; der Burggraf, Herr Friedewald, hatte das Antlitz über den Tisch gebeugt, daß ihm das lange weiße Haar über die Augen herabfiel, und zögerte, die Beratung zu beginnen. Achtungsvoll harrten die andern, und die beiden jüngsten, Herr Eske und Herr Seuse, richteten zuweilen neugierige Blicke auf ihren Kumpan Hutfeld, welcher aufrecht dasaß mit gefurchter Stirn, als ein Mann, der gewöhnt war, seine Ruhe im Kampfe zu behaupten. Endlich hob der alte Burggraf das Haupt und nach seinem ruhigen Nachbar sehend, fuhr er statt der gebührenden Einleitung in seinen Gedanken fort: »Ich gehöre nicht zu der Freundschaft seines Geschlechtes, aber ich habe den Knaben stets gern betrachtet. Die Bürger hatten auch nicht unrecht, wenn sie seinem Übermut etwas nachgaben, denn viele dachten wie ich, daß er eine Hoffnung der Stadt war. Mancher ist vielleicht umsichtiger und ebenso redlich im Gemüt, er aber hatte die Faust eines tapferen Mannes und sprang vor den anderen in die Gefahr. Er sollte eine Ehre werden für die Stadt und ein deutscher Hauptmann für die Landschaft.«

»Die schnelle Faust ist es, welche ihn von der Bruderschaft, von der Stadt und von dem Sonnenlicht scheidet«, antwortete Hutfeld ernsthaft.

»Ihr seid sein Freund und Pate und sprecht, wie Eure Pflicht ist«, fuhr der Burggraf fort. »Wundere sich niemand, daß ich als der Alte bei seinem Verderben auch den Schaden fühle, welcher unsere Stadt bedroht. Ich weiß nicht, ob wir bessere Zucht und mildere Sitten haben als unsere Väter, aber da ich jung war, zogen die Bürger selbst aus den Toren und schlugen auf ihre Feinde, wir greifen in den Beutel und bezahlen fremde Söldner. Die Alten unterfingen sich, weil sie der eigenen Kraft stolz vertrauten, ihr Recht gegen die Ordensleute und gegen die Polen zu vertreten. Wenn unsere Söhne zu klug und zu fein werden, um selbst den Spieß zu tragen, so, fürchte ich, könnten fremde Fäuste ihnen bald einmal das Geld aus den Truhen holen.« Die andern schwiegen. »Und darum«, schloß der Burggraf, »bedaure ich, daß wir guten Stahl zerbrechen müssen, weil er zu scharf geschnitten hat.«

»Das Edikt bedroht den Übertreter nur mit Verbannung«, warf Herr Eske ein. »Ich meine, dem Zorn des Königs geschieht [] Genüge, wenn wir den Jüngling aus der Stadt senden, weil er der Zerstörung von Ketzerbüchern widerstrebt hat.«

»Ob die Mönche Ketzerbücher verbrannt haben, wissen wir nicht«, antwortete der Burggraf, »aber er wird verklagt und durch Zeugen überwiesen, daß er zum Widerstand gegen den Legaten des Heiligen Vaters gerufen und selbst mit hölzerner Waffe den Schädel eines adligen Polen zerbrochen hat, welcher jetzt todwund bei St. Nikolaus liegt.«

»Es wird auch bezeugt werden«, versetzte Herr Eske, »daß der Pole als erster das Schwert gezogen hat, zum zweitenmal in unserer Stadt; der Pole selbst ist dem scharfen Gericht der Stadt verfallen.«

»Er war hier als des Königs Diener, und die Bestrafung der königlichen Diener steht beim Könige selbst, uns bleibt nur die Klage. Die Bestrafung eines Knaben aus dem Artushofe heischt der König von der Stadt, und er hat genügenden Grund dafür, denn noch stand die Stadt in seinem Frieden, und allen ist bewußt, Herr Kumpan, daß während dieser Zeit scharfes Recht gilt und jeder handhafte Widerstand gegen des Königs Boten am Leben gestraft wird.«

Und wieder neigte der alte Mann das Haupt und sah traurig vor sich nieder.

»Ist es an dem, daß Hans Buck Arbeit haben soll, so ist ein Opfer genug für den Zorn des Königs«, erinnerte Herr Seuse. »Die Schüler der Johannesschule haben die Steine geworfen, und ihr Magister hat sie angeführt. Muß ein Opfer fallen, so ist der Magister ein Fremder und gehört nicht zur Bruderschaft des Hofes.«

»Er hat nur mit Worten gehadert«, entgegnete der Burggraf. »Doch vergaß er die Bescheidenheit und gab seinen Schülern ein böses Beispiel vor allem Volke. Deshalb wird der Stadt unleidlich, daß er in seinem Amte beharre. Dazu hat er die Würde unseres geistlichen Vaters gekränkt, der an Statt Seiner Heiligkeit unter uns weilte, und die Stadt wird wohltun, ihm ihren Frieden zu versagen und ihn auszuweisen in kürzester Frist.«

»Er war ein guter Lehrer unserer Kinder und hat sich sonst unsträflich gehalten«, warf Herr Eske ein.

»Er war zu hitzig für uns«, entschied der Burggraf. »Vorschnelles Wort verdirbt auch gerechte Sache. Hat er durch zwei Jahre den Bürgerkindern Gutes getan, so erweisen auch wir ihm Gutes, wenn wir ihn unversehrt an Leib und Habe von uns entsenden, bevor die von St. Nikolaus ihn wegen ketzerischen Irrtums verklagen. Denn ich vernehme, es ist auch Gedrucktes, das aus seiner Feder kommt, gebrannt worden.«

Hutfeld stimmte bei: »Der Elbinger, welcher während des Winters im Hafen lag, hat das Großsegel zum halben Mast gezogen, er ist fertig zur Abfahrt; gefällt es den hochmögenden Herren, so legen wir den Magister und seine Hausgenossen diesem als Ladung[] auf. Es mag anderen zugute gerechnet werden, wenn die Stadt gegen ihn einen harten Ernst beweist, und den Magister selbst enthebt es größerer Not.«

Damit waren die vier einverstanden, und der Burggraf fragte: »Wer wird Kläger wider den Gefangenen?«

»Der edle Kastellan von Dibow«, antwortete Hutfeld. »Der König besteht darauf, daß die Stadt selbst über den Täter richte, damit der Haß nicht auf ihn falle.«

»Der König war übel beraten, als er beschloß, den Haß der Bürger gegen uns zu wenden«, rief Herr Seuse.

»Wenn der König sich selbst seines Gerichtes begibt«, mahnte wieder Herr Eske, »so rate ich, daß wir ihm dennoch widerstehen und den Täter verurteilen, wie es uns frommt, und nicht, wie es ihm gefällt.«

Die andern sahen finster vor sich nieder.

»Uns frommt, dem König nicht zu widerstehen«, entgegnete der Burggraf nachdrücklich. »Der Waffenstillstand mit dem Hochmeister ist beschlossene Sache, und der König ist mächtiger im Lande als je. Einst, zur Zeit der Großväter, als der Ordensritter zwischen uns saß, verging selten ein Jahr, wo die Ordensleute sich nicht ein Menschenleben als Beute holten, entweder einen Mann oder ein junges Weib, darum verjagten wir die Frevler. Müssen wir jetzt zuweilen ertragen, daß der polnische Bär ein Leben für sich fordert, es geschieht doch nur selten und nie in mutwilligem Bruch des Stadtrechts, denn er haust nicht unter uns.«

»Aber er lauert an unseren Grenzen«, sprach Eske.

»Wo ist bessere Sicherheit auf Erden, und wo ist Friede?« fragte traurig der alte Burggraf.

Kurz darauf öffnete die weinende Barbara dem Bürgermeister Hutfeld die Wohnstube, und wieder standen die beiden Schwäger einander gegenüber. Wer die beiden nicht kannte, durfte zweifeln, welchem von ihnen das Schicksal des Gefangenen mehr am Herzen lag. Denn Marcus stand, seine Angst kräftig bezwingend, gerade aufgerichtet da, und auf des Bürgermeisters Gesicht, das im Rate so unbewegt erschien, lag jetzt die Verstörung. Der Hauswirt enthielt sich nicht förmlicher Begrüßung und bot den Stuhl, Konrad aber beachtete nicht die Höflichkeit und begann sogleich: »Ich komme vom König, es ist dort keine Hoffnung.«

»Habt Ihr für meinen Sohn gebeten, hochmögender Herr?«

»Ich tat es.«

»Hast du dem König gestanden, Konrad, daß der Knabe ein Sohn deiner Schwester ist und du ihm vom Taufstein her an Vaterstelle?«

»Wenn das der König weiß, so erfuhr er es nicht durch mich«, versetzte Hutfeld mit gefurchter Stirn.

[] Marcus trat zurück: »Ich denke, Ihr tatet klug, Euch dem Polen nicht zu verleiden.«

»Ich schwieg nur, weil ich unserm armen Knaben mehr zu nützen glaubte, wenn ich als Bürgermeister von Thorn bat.«

»Und was hat der Rat über Georg beschlossen?« fragte der Vater kalt.

»Du weißt selbst«, antwortete Hutfeld mit zuckenden Lippen, »wie der Verlauf sein wird; morgen früh fällt der Spruch des Gerichtes; noch lag des Königs Friede auf der Stadt, der Verwundete gibt keine Hoffnung, der König, auch wenn er schonen wollte, ist gezwungen, die Steinwürfe zu rächen, welche den Legaten und die Priester getroffen haben.«

Marcus stützte sich mit der Hand auf die Tischplatte. »Die Stadt hat von dem Polen neue Gunst erfahren und wird eifrig sein, seinen Zorn zu besänftigen.«

»Aufschub wäre Rettung«, antwortete Hutfeld bedeutsam, »der König will ihn nicht gewähren. Die Priester haben ihn erzürnt, und er tat, daß ich's hörte, den Schwur: Nicht eher kehre ich den Schweif meines Rosses gegen diese aufrührerische Stadt, die ich eben erst durch Huldbeweise geehrt, bis Ihr die Kunde bringt, daß das Urteil vollzogen ist.«

»Wenn der Vater den hochmögenden Rat um Aufschub anfleht, würden Bürgermeister und Rat noch einmal den Ritt zum Könige über die Brücke wagen?«

»Wenn der Rat selbst solche Bitte tut und der König sie gewährt, dann übernimmt der Rat auch die Bürgschaft dafür, daß nach Ablauf der Frist der Gefangene zur Stelle ist«, versetzte Hutfeld ablehnend, und nach einer Weile fuhr er fort: »Als ich heimritt, dachte ich daran, daß du stets bemüht warst, dir den guten Willen der Geschorenen zu sichern. Ich weiß, daß sie dir als einem Rechtgläubigen vertrauen. Die guten Dienste des Vaters könnten wohl die Missetat des Sohnes überwinden, wenn du den Bischöfen jetzt eine goldene Sühne bietest.«

»Habe ich als treuer Sohn der Kirche von meinem irdischen Verdienst geopfert, so habe ich es getan, um die Gunst der Heiligen für mich zu gewinnen, nicht die der Priester. Ihr wißt so gut wie ich, daß es vergeblich wäre, Gold an den hochwürdigen Legaten Zacharias zu zahlen, da dieser ein Welscher ist. Denn er würde jede Gabe willig annehmen und auch mit lauten Worten Fürbitte einlegen, zu gleicher Zeit aber durch die geistlichen Väter der Polen den König aufstacheln, damit die Kränkung seiner Würde dennoch gerächt werde. Den polnischen Herren aber vermag man ihren Zorn nie in den ersten Tagen abzukaufen, sondern erst nach einiger Zeit.«

Die beiden Welterfahrenen sahen einander an. »Dann bleibt noch ein Mittel«, begann Hutfeld feierlich, »das letzte.«

[]

»Ihr sprecht zu einem Vater, hochmögender Herr.«

»Ich geleite dich zum Könige und schaffe, daß du vor sein Angesicht geführt wirst ohne Zeugen. Tu den Kniefall des Bittenden und gib dem König eine Verheißung. Ich weiß, er begehrt sich den Eichwald, der bei Nessau deinem Hause verblieben ist, beweise ihm darin guten Willen, und du magst von ihm gleiche Gefälligkeit erwarten. Du hast nie vor seinem Angesicht gestanden, und es ist wohl möglich, daß er den Namen deines Sohne ohne gute Meinung gehört hat; gewinnst du diese durch Demut und Gefügigkeit in seine Wünsche, so gewährt er dir, was er irgend vermag, nicht Verzeihung für Georg, aber längeren Aufschub und dadurch die Wahrscheinlichkeit, ihn zu retten, so oder so.«

Marcus sah vor sich hin, während Hutfeld warm auf ihn einredete. Als er das Haupt erhob, fand er die Augen des andern ängstlich und forschend auf sich geheftet. Er richtete sich hoch auf. »Gilt der alte Burgwald von Nessau für ein so königliches Geschenk, daß der König von Polen darum den Kopf eines Deutschen freigibt, den er werfen könnte? Ich bin nicht gewöhnt, königliche Herren durch Geschenke zu verpflichten, und ich fürchte, ich könnte straucheln, wenn ich den Wald in der Hand tragen und dabei niederknien sollte. Erlaßt mir die Kniebeugung, die ich bisher nur vor dem Himmelsherrn und seinen Heiligen geübt habe, und nehmt den Wald für das Haupt des Knaben, den Eure Schwester unter dem Herzen getragen. Nehmt den Wald, Ihr selbst, die Stadt, der König, ganz wie Eurer Weisheit am förderlichsten scheint.«

Hutfeld versetzte unwillig: »Wundert Euch nicht, wenn andere für Euren Sohn nicht tun, was Euch selbst zu tun nicht gefällt. Soll ein Angebot dem Leben des Sohnes frommen, so muß die demütige Bitte des Vaters dasselbe annehmbar machen.«

»Soll ich demütig flehen, so vertraue ich vor allen den heiligen Fürbittern.«

»Dann scheide ich von Euch mit noch größerem Leide, als ich herbrachte, denn ich sehe keine Hilfe, die Ihr und ich miteinander beraten könnten.«

»Ich danke Euch für Euren guten Willen, Herr Bürgermeister«, sprach Marcus; aber plötzlich, auf den andern zutretend, erhob er die Hand und rief drohend: »Wahrlich, Konrad, das Blut deines Schwesterkindes wird auf dein Haupt fallen, denn du bist es, der dem Dienst des Königs meinen Knaben opfert.« Seine Augen flammten, und die Faust bebte in starker Bewegung.

Hutfeld trat einen Schritt zurück, aber er wich nicht dem Zorn des Vaters, sondern entgegnete leise: »Hüte du dich selbst, Marcus, daß du nicht deinen Sohn um ein Traumbild hinopferst, das – wenn es etwas anderes wird als ein Traum, dein und deines Sohnes Haupt auf dieselbe Stätte führt, auf der dein Vater endete.«

[] »Damals stand Konrad Hutfeld neben mir und hielt meine Hand!«

»Damals machtest du es deinen Freunden nicht so schwer, dir zu dienen als jetzt«, antwortete Hutfeld bewegt.

»Wo liegt mein Knabe in Haft? Man hat mir den Zutritt zu ihm verweigert.«

»Nur bis der Spruch des Gerichtes gefallen ist«, versetzte der Bürgermeister. »Er ist in der Artuskammer des Kerkerturmes. Die Stadt hat bis jetzt die Pflicht, ihn zu bewahren. Da er unter alt und jung manchen verwegenen Freund zählt, werde ich den Kastellan von Dibow, der als des Königs Kläger in die Stadt geritten ist, heut, wenn die Abendglocke läutet, auffordern, den Zugang vom Turm von der Alt- und Neustadt her zu bewachen, damit die Stadt der Verantwortung enthoben werde.«

»Nehmt meinen Dank, namhafter Herr, für diese Vorsicht«, antwortete Marcus. Beide sahen einander schweigend an, endlich streckte Hutfeld die Hand aus, Marcus ergriff sie, und die beiden Schwäger tauschten einen Händedruck, doch wurde kein Wort mehr gesprochen.

Marcus blickte auf die geschlossene Tür und murmelte: »Ich kenne dich, und ich weiß, daß zwei scharfe Augen auf meine Wege spähen. Der Streit, welcher zwischen uns begonnen, wird einen von uns beiden verderben. Heut aber muß ich am Leben meines Sohnes prüfen, ob du ein redlicher Gegner sein kannst.« Er öffnete schnell die Schreibstube und rief seinen Gehilfen Bernd. Unterwürfig trat der stille Mann ein und erwartete in kummervollem Schweigen die Aufträge des Meisters. Sie verhandelten leise, dann rief Bernd den Dobise in die Stube und ließ den Herrn mit seinem Knechte allein. Endlich schlich Dobise in seine Geschirrkammer, und Bernd eilte aus dem Hause dem Strome zu. Als es dunkel wurde, verließ auch Dobise durch die Hintertür das Haus. Marcus schritt allein mit gerungenen Händen auf und ab. Die weinende Magd brachte das Licht und begehrte Trost von ihm. Er wies sie mit einer Handbewegung hinweg und hob aus dem geheimen Schranke das Buch, über dem er in stillen Stunden am liebsten saß, hastig wandte er die Blätter: »Zu dir flehe ich vor allen, Gebenedeite, holde Jungfrau Maria, du Königin von Preußenland. Oft haben meine Vorfahren und oft habe ich deine Gnade erfahren, auf deinem Mantel trugst du, wie die Sage kündet, die Seelen meiner Ahnen in die Himmelshalle, über dem Mastkorb unserer Schiffe schwebtest du und wehrtest der bösen Macht des Eises und des Sturmes, nach jeder Fahrt nahmst du huldvoll den Herrenzins von gewonnenem Gut. Du bist es, in deren Dienst ich lebe, damit dein Reich aufs neue erhoben werde vom Haff bis über den Strom, sei mir auch heut barmherzige Fürbitterin. Doch nicht dich allein bemühe ich für die Rettung[] meines Sohnes. Darum rechne mir meine demütigen Dienste nicht ganz auf gegen seine Rettung, damit ihm und mir noch eine Hoffnung bleibe für unsere Stadt und unser Land. Wenn ich Gnade bei dir gefunden habe, so erweise mir diese auch bei anderm Wunsch, von dem du aus ungezählten Bitten weißt.« Er schlug mehrere Blätter um. »Sei gegrüßt, St. Johannes, Prediger in der Wüste. Ich armer Sünder habe dir treu angehangen, denn immer dünkte mich meine eigene Sorge als ein Abbild der deinen. Auch ich habe gelebt in der Wüste, und ich bin in irdischem Kampf der Vorläufer eines Größern, der vollenden soll, was ich im kleinen begann. Das Haupt meines Vaters fiel unter dem Schwert, wie das deine, und ich, der Sohn, lebe, wie du gelebt hast, in der Sorge, daß mir dasselbe geschehe. Gedenke heut meines Flehens und der Werke, die ich nach Kräften deinem Heiligtum zugewandt, und schütze den Sohn in der Gefahr, die uns jetzt umgibt.« Und bei dem dritten Blatt sprach er: »Ich weiß, heiliger Nikolaus, daß manche in deinem Heiligtum meinem Knaben abgeneigt sind, laß ihn heut seine Vermessenheit nicht entgelten. Man rühmt von dir, daß du selbst fröhlicher Mummerei nicht abhold bist und dem Possenspiele der Kinder freundlich zusiehst; auch mein Sohn ist nur kindisch einhergesprungen auf den Straßen der Stadt, und als er sich gestern gegen den Zug auflehnte, der aus deinem Klosterhofe zog, tat er es nicht in hartem Unglauben, sondern als ein Schulknabe, der seinem Lehrer die Treue beweisen will. Ich habe Goldstoff auf deinen Altar gelegt und dir neue Kerzen angezündet zur Sühne für deine Priester. Darum sei auch du nicht strenge gegen ihn und widersprich nicht, wenn andere Heilige für ihn bitten.« Und er blätterte weiter. »Zu dir flehe ich heut vor andern, St. Jakob in der Neustadt, du bist als Helfer in Todesnöten weit berühmt und angerufen in der ganzen Christenheit. Sonst habe ich dich mit meinem Flehen selten beschwert, heut hebe ich als ein jammernder Vater zu dir die Hände.« Er warf sich auf den Boden. »Nimm gnädig das Gelübde an, das ich in dieser Stunde ablege. Dorthin, wo im Lande Hispanien dein großes Heiligtum errichtet ist, will ich büßend ziehen in Betfahrt nach armer Pilger Weise, wenn deine Fürbitte meinen Knaben vom Tode löst. Habe Mitleid mit seinem sorglosen Gemüt, er ist ein frischer Gesell, ich habe ihn streng gehalten und fern von dem gefährlichen Werk, das ich selbst betreibe, harmlos lebt er noch dahin in seiner Jugendblüte, und ich denke, keine schwere Sünde lastet auf seiner Seele. – Jeden von euch vieren flehe ich an und alle vier zusammen, ihr seid die großen Helfer von Thorn, in eurer Obhut steht die Mauer und der Strom, alle Herrlichkeit und Macht unserer Stadt, und in eurer Hand sind die Seelen aller Großen und Kleinen, der Lebenden und der Toten.« –

Das Dunkel der Nacht lag auf den Gassen, doch in der Stadt blieb [] es unruhig, die Schenken waren überfüllt, und wenn sich eine Tür öffnete, drang mit dem Lichtschein lautes Geräusch der Stimmen auf die Straße, häufiger als sonst schritten Ratsherren und ansehnliche Bürger mit ihren Dienern, welche die Laterne trugen, über den Markt; am lautesten schwirrten die Stimmen in der Nähe des Kerkertores zwischen alter und neuer Stadt. Dort erhob sich über dem Tore ein festes Haus mit dicken Mauern, zur Seite mit einem runden Turm, der wie viele andere über die Fluchtlinie der Stadtmauer ragte. Georg saß in dem Herrengelaß des Turmes, welches man im Spott die Artuskammer nannte. Es war ein kahler Raum mit hoher, schmaler Lichtöffnung, er enthielt einen alten Tisch und eine Lagerbank, die Wände waren bis zur halben Höhe verkleidet, nicht mit Holz, sondern mit Eisenplatten, an welche in regelmäßigen Zwischenräumen starke eiserne Ringe geschmiedet waren, um Ketten daran zu befestigen. Als vom Turme zu St. Johannes die Abendglocke läutete, zog eine Schar bewaffneter Polen vor das Kerkerhaus, geführt von dem Kastellan des Königs, geleitet vom Bürgermeister selbst. Hutfeld betrat mit dem Kastellan das Haus, rief den Schließer und gebot: »Weist dem edlen Herrn bei Lichte den gefangenen Mann, schließt die Tür vor seinen Augen und hängt das Schlüsselbund an den Haken. Das Gelaß gehört innen der Stadt, draußen den Wächtern des Königs.«

»Wenn ich gutstehen soll für den Gefangenen«, sagte der Kastellan, »so begehre ich auch die Treppe zu hüten, den Wächter und seine Schlüssel.«

»Es sei für diesmal«, versetzte Hutfeld, »doch daß es kein Beispiel gebe gegen die Rechte der Stadt.«

Der Kastellan ließ das Gefängnis öffnen, trat ein und sah, ohne den Gefangenen zu beachten, mit dem Grauen, welches auch ein wackerer Krieger in verschlossenen Mauern fühlt, die furchtbare eiserne Rüstung an der Wand. Er nahm das Licht und untersuchte die Wände, alles war fest gefügt. Er blickte nach der Höhe. »Durch das Luftloch könnte sich vielleicht ein schlanker Leib zwängen.«

»Es hat's nie jemand versucht«, antwortete der Schließer kopfschüttelnd. Das Gefängnis wurde verschlossen, zwei Bewaffnete auf die Stufen der Treppe gestellt, zwei andere in das Zimmer des Schließers vor das aufgehängte Schlüsselbund, und diese sahen lachend zu, wie der Schließer sich mit untergeschlagenen Armen niedersetzte und murrte: »Es geschieht zum erstenmal, daß der Schließer von Thorn durch polnische Säbel seines Amtes enthoben wird.«

In zwei Haufen lagen die Polen vor dem Gefängnis und bewachten von der Altstadt und Neustadt die geschlossenen Pforten, sie zündeten große Feuer auf der Straße an, und die rote Flamme erhellte die kleinen Fenster des Baues und die Mauer, so daß man selbst ein Wiesel erkannt hätte, welches auf der Höhe lief.

[] So verging Stunde auf Stunde; die Polen um das Gefängnis tranken, schrien und erhoben wilden Gesang, der die Bürger der benachbarten Häuser tief kränkte. Oben in der eisernen Kammer lag Georg auf der Bank. Von den Feuern drang ein rötlicher Schein durch die Fensterluke, zuweilen trieb der Wind eine Rauchwolke herein, dann starrte Georg in der Dämmerung auf die Wirbel des Dampfes. Er wußte wohl, daß er in üblem Handel war, aber die Größe seiner Gefahr kannte er nicht. Ihn wunderte, daß er den ganzen Tag ohne Zuspruch aus dem Vaterhause geblieben war, auch der trübe Ernst des Schließers hatte ihn für kurze Zeit nachdenklich gemacht, und als am Abend der Kastellan eindrang und das Gefängnis untersuchte, ohne ihn selbst zu grüßen oder wie einen Lebenden zu beachten, da fiel größere Sorge auf sein Herz, und das Geschrei der Wächter wie der Feuerschein wurden ihm unheimlich. Aber immer tröstete er sich damit, daß er ein junger Bruder des Artushofes sei und daß auch diesmal, wie bei allen früheren Händeln, die er mit der Stadt gehabt, das Drohen ärger sein werde als die Strafe. »Sie sagen, ich bin ein Sonntagskind«, sprach er endlich müde, »diesen kommt das Glück im Schlafe. Wenn ich nur wissen könnte, wie es ihr ergangen ist, ich wollte das harte Lager mir ganz vergnüglich gefallen lassen.« So entschlief er. Im Traume kam ihm vor, als ob er in seiner Kammer läge und Dobise mit der Leuchte hereinschliche, um ihn zu wecken, wie er jeden Morgen tat. Er weigerte sich, zu erwachen, und murmelte: »Tölpel, noch ist es nicht Zeit.« Aber die Leuchte fuhr fort zu flackern, er öffnete die Augen und sah in Wahrheit den Dobise mit einer kleinen Blendlaterne vor sich stehen. Erstaunt richtete er sich auf und rieb die Augen. »Nehmt hier dies in Eure Hand«, flüsterte Dobise mit heiserer Stimme und hielt ihm ein kleines Kruzifix hin. »Der Alte schickt es Euch, daß Ihr darauf schwört bei dem Manne am Kreuz und bei den vier großen Stadtheiligen, das Geheimnis dieser Kammer niemals zu verraten, auch nicht, um Euer Leben ~om Tode zu retten. Schwört, denn morgen mittag faßt Hans Buck Euren Hals, wenn Ihr nicht vorher entrinnen könnt. Auch Euer Großvater saß hier, bevor er gerichtet wurde; ihm aber hatten die Herren vom Hofe den Ausgang gesperrt.«

Georg sprang auf: »Steht es so, dann schaffe mich fort, wenn du kannst. Wo ist dein Schwanz, du Teufel?« Hastig sprach er den Eid, Dobise steckte das Kreuz ein. »Harret noch ein wenig«, flüsterte er, »erst muß ich den wilden Polen etwas vormachen.« Er schlang einen Strick in einen der Eisenringe an der Wand und warf das andere Ende, welches durch ein Gewicht beschwert war, aus der Fensterluke, das Seil zog sich straff. »Dort hinaus kann nur ein Kater, aber nicht wir beide. Mögen sie sich darüber die Köpfe zerbrechen«, raunte er mit schlauer Miene, »Ihr aber folgt mir.« Er [] ergriff an der andern Seite der Wand einen Ring, drückte und zog, ein Feld des eisernen Tafelwerks sperrte sich auf, und eine dunkle Öffnung, der niedrige Zugang zu einer engen Treppe, wurde sichtbar. Dobise wies in die schwarze Tiefe und lachte: »Nur die drei Ältesten der Bruderschaft kennen das Geheimnis, und der vierte bin ich, denn die Herren müssen einen haben, der mit dem Eisenwerk umzugehen weiß und der seinen Hals für sie wagt. Nehmt die Leuchte und kriecht voran, damit ich hinter Euch zusperre. Sie sagen, dies Kunstwerk wurde von einem Schlosser aus Nürnberg erfunden. Auch wer guten Witz hat, wird von der Kammer aus die Tür nicht erraten.«

»Fort«, mahnte Georg flüsternd; er tauchte in die dunkle Wölbung hinab und hielt auf der Treppe kniend die Leuchte, während Dobise die eiserne Tür von außen zuzog, verriegelte und noch durch eine hölzerne Tür verschloß. Tief gebückt strichen die Flüchtigen in einem schmalen Mauergang, die dumpfe Luft machte das Atmen schwer, und der Weg wollte kein Ende nehmen, zuweilen stiegen sie Stufen hinab, dann ging es wieder eine Weile eben fort. Zuletzt war der Gang durch eine Wand geschlossen, Georg fühlte an den kalten Stein. »Der Weg hat ein Ende.«

»Fallt auf die Knie und kriecht durch das Loch«, riet Dobise. Eine Maueröffnung, durch Entfernung einiger Steine gebildet, gewährte gerade Raum zum Durchkriechen. Georg schob die Leuchte voran und schlüpfte hindurch. Als er sich erhob, stand er in einem Gewölbe, das zum Aufbewahren von altem Gerät diente, Dobise kauerte am Boden, schichtete die herausgezogenen Steine wieder in das Loch, strich einen dunklen Kitt in die Fugen und häufte Holzbündel davor. »Dies ist Dobises Tür, niemand versteht sie zu öffnen als ich. Ihr aber gebraucht dies Bündel, es ist ein polnischer Mantel darin, Mütze und Stiefel, denn als Pole müßt Ihr entweichen.« Ohne Freude öffnete Georg den Pack und wechselte die Kleidung. »In dem einen Stiefelschaft ist das Leder doppelt, ich habe Geld eingenäht; der Alte schickt Euch außerdem zur Reise diesen Beutel. Es ist Gold darin«, sagte er mit lüsternen Augen.

»Das Siegel des Beutels ist erbrochen«, versetzte Georg befremdet.

»Ich mußte ihn doch öffnen, um Euch den Notpfennig in die Stiefel zu nähen; und wenn ein und das andere Stück dabei verlorenging, so werdet Ihr es dem Alten nicht klagen, denn ich habe noch manches bei Euch gut und muß mich bezahlt machen deswegen und wegen meiner Lebensgefahr. Jetzt aber rate ich Euch, Euer Gebet zu sprechen, wir sind hier über dem Graben auf der Neustädter Seite; diese Tür führt bei den Predigermönchen heraus, und Ihr müßt an dem Polenvolke vorüberstreichen.«

»Wo führst du mich hin?«

[] »In die Trümmer des Ordensschlosses, den Weg, welchen Ihr von der Musik her kennt; an der gelben Weichsel liegt unser Kahn im Versteck, Ihr sollt mit dem wilden Wasser abwärts treiben. Es wird Zeit, der Morgen ist nahe.«

»Schnell hinaus«, gebot Georg und lüftete den polnischen Säbel in der Scheide. Dobise schloß die Tür auf, löschte die Leuchte, und Georg atmete die frische Nachtluft. Er warf einen Blick zur Seite, die Polen lagen und saßen in einiger Entfernung müde um die niedergebrannten Feuer, die Flüchtigen glitten längs der Mauer des Klosters dahin, hielten eine Weile im Schatten der Klosterpforte und gingen von da mit festerem Schritt unangefochten durch die leeren Straßen. Stürmisch schlug das Herz des Jünglings, als er in der Dämmerung undeutlich die Schule erkannte, und er hielt an, aber Dobise rief ängstlich: »Vorwärts! Es ist nicht das erstemal, daß Ihr den Weg über die Burgmauer findet, hinweg, wenn Euch Euer Leben lieb ist.«

Sie kletterten auf den Steinhaufen der Ordensburg. »Heut könnt Ihr nicht weilen, um eine Musika zu beginnen, Ihr müßt auf der Flußseite wieder hinaus, die Mauer hinab. Folgt vorsichtig, denn die Steine sind locker, aber der Graben unten hat eine trockene Furt.« Dobise kletterte wie ein Kater voran, mühselig folgte Georg, indem er murmelte: »Du weißt hier gut Bescheid, bin ich erst Bürgermeister, so frage ich dich, wozu du diese Kenntnis gebraucht hast.«

»Ihr seid just auf dem Wege, Bürgermeister zu werden«, spottete Dobise. »Reicht mir die Hand«, und er half ihm vom Grabenrand ins Freie. »Haltet Euch fern vom Fährtor, bei der Färberei soll der Kahn liegen.«

Georg trat an den Strom, laut rauschte das Wasser, auf der geschwollenen Flut schwammen kleine Eisschollen. Der Schiffer erhob sich aus dem Fahrzeug: »Dies wird üble Fahrt zwischen treibenden Baumstämmen und Schollen, das Wasser reißt und kocht in den Strudeln wie in einem Topfe.« Sie bestiegen den Kahn, der Schiffer löste das Seil, und Georg trieb, dem Tode entronnen, von der Heimat geschieden, auf dem wilden Strom hinein in die unsichere Dämmerung.

Als am Morgen der polnische Kastellan die Zelle des Gefangenen betrat, fand er nur das Seil, welches über die Stadtmauer hinabhing. Da erhob sich großer Lärm, die Polen schrien Verrat, ihre Boten ritten über die Brücke zum Könige, das Gefängnis wurde wiederholt untersucht, aber nichts Unrechtes gefunden, die Wächter sämtlich verhört, doch es war auf niemanden etwas zu bringen, am wenigsten auf den Schließer und die Beamten der Stadt. Der Zorn des Königs legte sich erst, als am Nachmittag der Bürgermeister Hutfeld allein vor seinem Angesicht gestanden hatte. Die Thorner [] und die Polen stritten darüber, ob es einem Manne möglich sei, seinen Leib durch die Lichtöffnung des Kerkers zu zwängen, die Abergläubischen neigten zu der Annahme, daß der Teufel aus dem Hause des Marcus dabei wieder im Spiele gewesen sei, und die Klugen wunderten sich, daß die Verfolgung nicht eifriger betrieben wurde, denn der Wächter über dem Fährtore hatte Männer auf einem Kahne gesehen, der gegen Morgen stromab gewirbelt war.

Die Mönche aber hatten von ihrem feurigen Werk schlechten Gewinn. Viele unter ihnen waren durch Steinwürfe getroffen, dem hochwürdigen Legaten selbst war ein Stein an das Bein geflogen, und er ächzte, als er am nächsten Morgen in aller Frühe auf das Maultier gehoben wurde, damit er der zornigen Stadt entweiche. Ihre Absicht hatten die Eiferer vollends nicht erreicht. Zwar die Teufelspuppe fand man halb verbrannt im Grase, aber der Ballen des Buchführers war nur an den Rändern gesengt und verkohlt, die frommen Väter hatten vergessen, daß festgepackte Bücher der Flamme lange widerstehen. Hannus erhielt von seinem Krame kaum ein einzelnes Stück zurück, denn als das Volk den Holzstoß auseinanderwarf und den Inhalt des Ballens zerstreute, wurden die angesengten und gebräunten Büchlein wie eine wertvolle Beute aufgegriffen und in die Häuser getragen. Wer sich bis dahin um den Inhalt der neuen Lehre nicht gekümmert hatte, der las jetzt neugierig davon, es war wohl keine Familie, in welche nicht gerettete Bogen gelangten, und der Stadtschreiber Seifried hatte Grund, zu spotten, daß gerade durch den Scheiterhaufen jener Nacht die neue Lehre in Thorn eingebürgert worden sei.

Unter den Landsknechten

Während Georg im Kerkerturm lag, verließ der Magister mit seiner Tochter die Stadt.

Auf dem Deck des Elbingers war in der Eile eine Hütte errichtet, welche den Verbannten mit seinem Haushalt beherbergen sollte, bis er das Gebiet der Stadt Thorn geräumt hätte, dann mochte er auf dem Bordschiff weiterfahren oder aussteigen, wie es ihm gefiel. Die Hütte hatte Philipps Eske durch seinen Vater dem Schiffer anbefohlen, und der treue Knabe wich den Flüchtigen in den letzten Stunden ihres Aufenthalts nicht von der Seite. Doch nicht er allein war der Pflichten eingedenk, welche dem lateinischen Schüler gegen seinen Lehrer oblagen, auch ein Haufe der kleinen Schützen trug sich mit dem Reisegepäck des Vaters, und vor andern die Armen, welche an seinem Tische Kost und freundlichen Zuspruch gefunden hatten. Lips machte sich auf dem Schiffe bei dem Gepäck und den Schiffsleuten zu tun, um der Unterhaltung mit den Scheidenden [] auszuweichen, denn ihm war das Herz schwer, und er fürchtete wegen des Gefangenen ausgefragt zu werden. Er hatte dem Ratsdiener und dessen Frau ernsthaft geboten, die Traurigen nicht durch Reden über die Gefahr des Freundes noch tiefer zu kränken. Aber seine Vorsicht nützte wenig, denn wenn auch der Magister für seinen Schüler noch Gutes von der vornehmen Freundschaft hoffte, Anna erkannte deutlich aus den Mienen ihrer Wirte und aus den zögernden Antworten des Pylades, daß Georg in furchtbarer Bedrängnis zurückblieb. Sie saß stumm und teilnahmlos auf dem Verdeck, hielt das Hündlein in ihrem Schoß und blickte unverwandt nach den Türmen der Stadt, welche sie in Feindschaft verlassen sollte. Nur einmal, als Philipps vorüberging, fragte sie: »Wo weilt er jetzt?« Da vergaß der Gefragte selbst die Behutsamkeit und antwortete traurig: »Ihr könnt von hier den Turm nicht sehen«, sie aber senkte das Haupt und fragte nicht mehr. Als in den letzten Stunden des Nachmittags der Schiffer alle Fremden aufforderte, das Deck zu verlassen, bot Lips dem Magister und Anna die Hand und vermochte nichts vorzubringen als: »Ich danke für alles Gute Herr Vater; laßt mich in kurzem wissen, wohin ich Euch Nachricht senden soll«; dem Schiffer raunte er noch zu: »Sorgt für meinen Herrn Vater, wenn Euch an dem guten Willen der Thorner gelegen ist«, und schwang sich an Land. Die Schützen aber standen gedrängt am Rande des Ufers, und als der Magister ihnen vom Deck den Scheidegruß zurief und sie aufforderte, guter Lehre eingedenk zu sein, da schrien die größeren ihre lateinischen Abschiedsworte mit heiseren Stimmen und die Kleinen schluchzten. Der Elbinger rief seine Schiffskinder zusammen, sprach die Reisebitte zur Heiligen Jungfrau und drückte das Schiff vom Ufer in die Strömung. »Es ist gegen Schifferbrauch, bei sinkender Sonne an das Steuer zu treten«, sagte er im Vorübergehen zum Magister, »aber die Herren von Thorn haben es diesmal geboten.« Das Fahrzeug glitt schnell stromab, in grauem Nebel schwanden die Türme und Mauern der Stadt, die Gebannten saßen in trübem Schweigen vor ihrer Hütte und starrten hinab auf das Wasser und in die Ferne, welche undeutlich vor ihnen lag wie ihre eigene Zukunft.

Als Anna am nächsten Morgen aus der Hütte auf das Deck trat, lag das Fahrzeug an der deutschen Uferseite, und der Schiffer wies ihr eine Steinsäule auf der Höhe: »Dort ist die Grenze des Stadtgebietes.« Sie stand lange, die Augen zum Himmel gerichtet; ach, heut war bei ihren heißen Bitten das Antlitz verstört, die Augenlider vom Weinen gerötet, aber hätte Georg sie gesehen, sie wäre ihm noch ehrwürdiger erschienen als damals in der Kirche; sie dachte nur an ihn und bat für ihn. Bei dem stillen Flehen wurde ihr das Herz mutiger, und sie bot dem Vater, als er zutage kam, einen herzlichen Morgengruß.

[] »Wir treiben auf öder Flut, hier und dort unwirtliches Gestade, Szylla und Charybdis; aber ich bin besser daran als der alte Grieche Ulysses, denn ich habe mein liebes Kind bei mir, und ich denke doch, daß wir in diesem gelben Wasser nicht auf Menschenfresser stoßen werden.« Und gegen seine eigenen reuigen Gedanken ankämpfend, fuhr er fort: »Bei alledem kann ich nicht bedauern, daß ich den Obskuranten am Holzstoß meines Herzens Meinung deutlich gemacht habe.« Aber Anna, die noch in ihrer andächtigen Stimmung war, antwortete: »Ich aber, Herr Vater, habe an dem Unglückstage zu wenig daran gedacht, alles vertrauend dem lieben Gott zu überlassen, denn hätte ich mich vorher mit herzlicher Bitte an ihn gewandt, so würde ich bessere Ruhe und Bedacht genommen haben; ich hätte Euch nicht durch die Nachricht von dem Vorsatz der Feinde erschreckt, und es wäre Euch und der Schule leichter geworden, dem Feuer fernzubleiben. Jetzt sind wir beide der Gefahr entronnen, aber einer ist darin zurückgeblieben.« Da schlug der Magister die Hände zusammen und setzte sich stöhnend auf ein Faß. »Mein armer Regulus! Der römische Name, den ich ihm gegeben, ist für ihn von übler Vorbedeutung geworden. Denn wie jenen Konsul halten ihn die Feinde gefangen und wollen über ihn in scharfem Gericht erkennen. Wahrlich, auch dies war ein seltsamer Zufall: die letzte Oration, die ich ihm aufgegeben, war die hochherzige Rede, welche Regulus im römischen Senat halten mußte, da er als Gefangener der Karthager mit Urlaub nach Rom zurückkehrte; er mahnte seine Landsleute, nicht seinetwegen mit den Fremden Frieden zu machen, sondern ihn zum Tode zurückzuliefern. Georg war mit Lust bei der Arbeit, er forderte mit Begeisterung, in die Gefangenschaft zurückzukehren, und ich freute mich innig über den Vortrag.« Bei dem Gedanken verlor der Magister die Fassung und suchte in den Taschen nach seinem Tuche.

Da wagte das Hündlein zum erstenmal wieder zu bellen, und eine feierliche Stimme klang hinter den Traurigen: »Adsum, patres conscripti, adsum captivus et aegre e vinculis solutus. Ich bin da, Herr Magister, dem Gefängnis entronnen, aber ich habe gar keine Lust, dahin zurückzukehren. Guten Morgen, Herr Vater, guten Morgen, liebe Jungfer Anna.« Der Redner sprang über den Bord in das Schiff, aber er vermochte nicht weiterzusprechen, denn Anna wankte, im nächsten Augenblick hielt er sie fest in seinen Armen, er fühlte ihr Haupt auf seiner Brust und zwei Arme, die sich an ihn klammerten, und er küßte sie zum erstenmal auf den bleichen Mund. Der Magister aber saß unterdes wie betäubt auf dem Tönnlein, er hörte eine vertraute Stimme, aber er sah einen wilden Polen in das Schiff klettern, und griff krampfhaft nach seiner Brille, bis er den festen Händedruck seines Schülers fühlte und die heiteren Worte vernahm: »Jetzt ist die Schule wieder beisammen, [] Herr Magister, und ich denke, der Rat von Thorn soll die Lektionen nicht mehr stören.« Da ging auch dem Magister alle Würde verloren, und er umschloß, wie ein Kind weinend, den Geretteten.

Drei Heimatlose saßen zusammen in kalter Morgenluft über dem ungastlichen Wasser, aber sie dachten jetzt wenig an alles, was sie verloren hatten, und die Schule stimmte vergnügt bei, als Georg vorschlug: »Ist's Euch recht, Herr Magister, so bleiben wir beieinander; mein Vater will, daß ich zuerst nach Danzig fahre, von dort schreibe ich ihm und erwarte sein Gebot; Ihr aber werdet überall Schüler finden und bessere Dankbarkeit als in unserer Stadt.« So machten sie in gutem Vertrauen Pläne für die Zukunft; nur Georg sah zuweilen mißtrauisch nach rückwärts und auf die Wege am Ufer, ob er verfolgt würde.

Es war keine mühelose Reise. Das große Fahrzeug trieb bald mit reißender Strömung, bald langsam in seichtem Wasser zwischen angeschwemmten Inseln und zwischen kahlen Dämmen und Lehmhügeln dahin; hier kreiste die Flut in gefährlichem Strudel, dort streifte ein Baumstamm, welcher dahinschwamm oder im Grunde festgerannt war, die Seiten und den Boden. Unablässig arbeiteten die Schiffer mit Stangen und Haken, sich die Fahrt freizuhalten, sie ließen sich gern gefallen, daß Georg Hand anlegte wie einer von ihnen. Sogar der Magister stemmte Hände und Schultern gegen das Ruderholz. Wenn der Abend kam, wurde die Reise unterbrochen, der Schiffer suchte eine Stelle in der Nähe des Ufers, wo er das Tageslicht abwarten konnte, auch in der Nacht mußte ein Wächter Ausguck halten gegen Schollen und treibendes Holz. Der Magister mit seiner Tochter fand zuweilen Herberge am Lande, Georg vermied auf dem Schiffe die Augen der Späher.

So waren sie einige Tage ohne Abenteuer gefahren und trieben mit der Strömung am Ufer eines Landstrichs, welcher im Kriege zwischen dem Hochmeister und den Polen streitig gewesen war. Am Abend kamen sie an einen Ladeplatz, zu welchem von hohem Deiche zwei Wege hinabführten; dort stand am Wasser eine Schenke und Hütten für die Schiffer. Der Elbinger sah unruhig auf die öde Stätte: »Dies gehört noch zum Land des Bischofs von Pomesanien«, sagte er zu Georg, »Polen und Ordensleute sind hier widerwärtig, und beide wagen zuweilen Zoll zu fordern.« Georg sprang mit dem Schiffer ans Land, sie fragten in der Schenke, suchten in den Schoppen, bestiegen die Dämme und spähten in die dunkle Landschaft, es war nirgends etwas Unrechtes zu entdecken. Da legte der Ebinger an, der Magister und sein Kind suchten Unterkunft in der Schenke, Georg blieb mit einem Schiffsknecht als Wächter auf dem Fahrzeuge; er stand in der hellen Mondnacht lange auf dem Deck, stieg wiederholt hinab an das Ufer, umschritt [] die Hütten und sah von der Höhe in das Land, aber alles lag friedlich in grauem Dämmer. Als der Morgen nahte, hüllte er sich in einen Schiffermantel und legte sich in die Hütte zu kurzem Schlummer. Er erwachte von heftigem Gebell des Hundes, der bei ihm zurückgeblieben war, vernahm auf dem Lande das wilde Geschrei Zankender und erkannte in der Dämmerung auf jedem der beiden Wege, welche an den Deichen hinabliefen, Bewaffnete und Gespanne. »Wir waren die ersten«, schrie eine gebietende Stimme, »und wenn ihr nicht zurückweicht, so werfen wir euch zu den Fischen ins Wasser.«

Im nächsten Augenblick hörte er einen Angstruf Annas und sah die Jungfrau aus der Herberge dem Schiff zueilen. Da warf er sich in mächtigem Satze auf das Land und sprang mit geschwungenem Säbel einigen dunklen Gestalten entgegen, welche die Flüchtige verfolgten. Er schlug kräftig auf die Verfolger ein und schleuderte den ersten, welcher den Arm nach der Geliebten ausstreckte, durch einen Streich des Säbels zur Seite. Gleich darauf war er im Kampf gegen mehrere Feinde, aber wie wild er um sich schlug, er wurde im Rücken gepackt, entwaffnet und an den Händen gebunden. So blieb er mit Anna am Ufer unter Obhut eines finsteren Gesellen, der ihn mit der Hellebarde niederzuschlagen drohte, wenn er sich noch weiter rege. Unterdes dauerte um die Hütten der Zank und das Geschrei fort. Nicht lange, so sprangen Bewaffnete auf das Schiff, die Äxte krachten an Deck und Planken, Wagen rasselten vom Deich herunter an die Ladestelle, Laufbretter und Leitern wurden an den Schiffsbord gelegt, und ein Haufe von Männern und Weibern begann die Ladung auszuräumen, welche zum größten Teil in Getreide und in einigem Kaufmannsgut bestand. Beim aufgehenden Frühlicht sah Georg, daß eine ansehnliche Zahl ausgestellter Wachen die Beraubung deckte und daß sie Tracht und Waffen deutscher Landsknechte trugen. Zuletzt vernahm er wieder die Stimme, welche herrisch in dem Tumult gerufen hatte. Ein hoher, breitschultriger Mann mit großem rundem Kopf und grauem Bart trat auf ihn zu und rief befehlend: »Potz Velten, Ihr habt's uns sauer gemacht, Mann; schüttet aus, was Ihr in der Tasche habt, denn das ist unser Recht.« Er warf seinen Hut auf die Erde. »Ihr mögt selber Eure Tasche leeren, da Ihr Euch redlich gewehrt habt. Wollt Ihr Euch ergeben und Friede geloben, so steht es bei Euch, sonst schlagen meine Gesellen Euch nieder.«

»Ihr seid die Stärkeren«, versetzte Georg grimmig. »Löst mir die Bande, so will ich Euch für heut Frieden geloben.« Der Landsknecht winkte dem Wächter, Georg sprach das Gelöbnis und schleuderte sein Säcklein mit Geld in den Hut. Der Führer kniete nieder, zählte und teilte in mehrere Häuflein, das größte steckte er mit dem Beutel in die Tasche. »Und jetzt antwortet auf meine Frage, aber [] wahrhaft, wenn Ihr Leib und Seele zusammenhalten wollt: wer seid Ihr und woher kommt Ihr?«

Georg nannte Namen und Heimat und fragte trotzig dagegen:

»Und wer seid Ihr, daß Ihr es wagt, an Reisenden Gewalttat zu üben?«

»Holla«, entgegnete der andere, »Ihr seid der Gefangene, Ihr habt zu antworten und ich zu fragen, denn das Eisen hängt über Eurem Haupte. Doch da Ihr Frieden gelobt habt, sollt Ihr wissen, wem die Herrschaft über Euren Leib zugefallen ist. Ihr seid in der Hand freier Knechte aus dem Reich, und ich bin Hans Stehfest, ihr Hauptmann. Führt die Gefangenen das Ufer hinauf«, gebot er seinen Begleitern, »und haltet sie unter Wache, doch getrennt, damit sie sich nicht miteinander bereden. Zu der Frau setzt zwei von den Weibern, die ihr das Weglaufen wehren.«

Auf der Landseite des Deiches, schritt Georg die kurze Strecke, welche ihm sein Wächter freigab, in heißem Zorne auf und ab. In der Ferne sah er Anna zwischen Weibern der Bande, und ihn tröstete ein wenig, daß diese der Gefangenen gegen den Morgenfrost ein Tuch um die Glieder schlugen. Ajax kam ängstlich von der Höhe gelaufen, der Landsknecht schlug mit dem Spieße nach ihm. »Der Hund gehört der Jungfrau dort«, herrschte Georg den Wächter so gebieterisch an, daß dieser dem Kleinen den Weg freiließ. So verging Stunde um Stunde, vom Wasser her klang unablässig Geschrei und mahnender Zuruf. Endlich kamen die Wagen mit dem Raube beladen über den Deich und fuhren in Reihe auf. Auf einem lag der verwundete Landsknecht, mit welchem Georg zusammengestoßen war. Als dieser den Gefangenen sah, hob er die geballte Faust und stieß einen schweren Fluch gegen ihn aus. Georg zuckte verächtlich die Achseln. Darauf stieg ein Trupp der Bewaffneten von der Höhe herab, der Hauptmann blies in ein kleines Horn, das er am Halse trug, struppige Pferde wurden vom Grunde herangeführt, die Knechte warfen sich unbehilflich über die Rücken der Gäule, und der Hauptmann befahl: »Auf die Wagen mit den Weibern«, und nach Georg und einem leeren Pferde deutend: »Fort, wir haben Eile.« Der wilde Zug setzte sich, von den Landsknechten geleitet, in Bewegung; der Hauptmann ritt an den Wagen auf und nieder, unter Antreiben und Fluchen ging es vom Flusse ab in das Land hinein.

Georg, der hinter dem Hauptmann ritt, erkannte Anna auf einem Getreidewagen vor sich, und er sah, daß sie sich nach ihm umwandte. »Die Jungfrau begehrt uns«, rief er befehlend dem Hauptmann zu, und bevor dieser ihn hindern konnte, jagte er an den Wagen. Anna rang die Hände gegen ihn: »Wo ist der Vater?« Er suchte vom Pferde den Zug entlang, der Magister war nirgend zu finden. Da rief er den alten Landsknecht an: »Hochgebietender Befehlshaber, [] ist eine Frage an Eure Ehrbarkeit erlaubt? Wir waren drei Reisende auf dem Schiff, hier sind nur zwei, was ist aus dem dritten geworden?«

»Ich denke, er reitet ebenso gemächlich nach anderer Seite im polnischen Haufen, wie Ihr mit uns deutschen Knechten, und Ihr werdet ihn schwerlich so bald wiedersehen.«

»Mein Vater«, klagte Anna, und in dem Schrecken über ihre Hilflosigkeit sank ihr das Haupt auf die Brust.

»Also Ihr seid die Tochter jenes Mannes«, fragte der Landsknecht, »und gehört zu der Freundschaft meines Gefangenen?«

Anna antwortete nicht, doch Georg versetzte ungeduldig: »Die Jungfrau und ihr Vater sind mir wohlbekannt, und ich sage Euch, an ihrem Wohl ist mir mehr gelegen als an uns allen.«

»Dies also ist eine Jungfer, welche von ihrem Vater abgekommen ist«, wiederholte der Kriegsmann bedächtig und betrachtete die gebrochene Gestalt von der Seite. »Ihr könnt gemerkt haben«, fuhr er gegen Georg mitteilsamer fort, »daß wir es nicht allein waren, welche die Beute erwarteten, denn ein polnischer Haufe, bei welchem mein alter Gesell Heinzelmann mit seinen Knechten dient, lauerte gleich uns auf das Schiff, und wir stießen am Ufer mit ihnen zusammen. Doch wurde der Streit gütlich vertragen, sie haben einen Teil der Ladung genommen und auch einen Gefangenen gefordert. Den Polen gefiel der Mann, weil er sie lateinisch anrief, sie halten jeden für vornehm, der dieser Sprache mächtig ist, und sie werden ihn nicht schlechter behandeln, als sie müssen, denn sie hoffen von ihm gutes Lösegeld.«

Anna verbarg ihr Antlitz in den Händen. »Denkt daran, liebe Jungfer«, bat Georg, hingerissen von ihrem Weh, »daß Euch ein treues Herz geblieben ist. Solange ich den Arm rühren kann, sollen sie Euch kein Leid tun.«

»Versprecht nicht mehr, als Ihr halten könnt«, warnte der Hauptmann. »Heda, wer trabt dort über das Feld?« Er wies auf einen entfernten Reiter und gebot den Bewaffneten: »Treibt den Fremden mit Euren Spießen ab. Doch halt«, verbesserte er sich unwillig, »den langen Gesellen kenne ich. Ich dachte es wohl, das Junkervolk spürt auf Meilen, wo eine Beute zu nehmen ist. Dies ist einer von den Reitern unseres Ordenspflegers. Der Pfleger gedenkt nach seiner Art sich einen Anteil von der Mahlzeit zu holen, die er nicht kochen half.«

Der Reiter kam näher, der Tatarenmantel und die weiße Feder auf der Mütze gehörten einem Adligen im Dienste des Ordens. »Gutes Glück, Hauptmann«, rief er mit rauher Stimme. »Ihr versteht, das Wild schnell auszuweiden.« Sein Blick flog begehrlich über die lange Reihe der Wagen. »Hui, auch Gefangene.« Aber im nächsten Augenblick begann er hellauf zu lachen, sein Pferd [] sprang mit allen vieren in die Höhe und schlug darauf mit den Hinterbeinen aus, gleich einem ungezogenen Knaben, der sich über fremden Schaden freut. »Ihr seid es, Jörge, in den Fäusten der Landsknechte? Wo habt Ihr Euren vergoldeten Wagen, und wo sind Eure stolzen Artusbrüder? Doch ich sehe, wenigstens die Jungfer führt Ihr mit Euch über die Heide.«

Georg sah wild auf seinen alten Feind Henner, er vergaß, daß er ohne Waffen war, und trieb sein Pferd heftig auf ihn zu, aber der Landsknecht fiel ihm in die Zügel. »Hängt euch an ihn und haltet ihn zurück, denn er hat den Teufel im Leibe«, gebot er seinen Leuten. Er ritt dem Ankömmling entgegen und ließ das Pferd Georgs zwischen den Fäusten zweier Knechte. Während der Zug sich vorwärts bewegte, verhandelte er mit dem Adligen, und als Georg sich umwandte, merkte dieser, daß der Landsknecht auf ihn selbst zeigte und sich von dem zurückbleibenden Henner berichten ließ. Was er erfuhr, mußte ihm willkommen sein, denn er ritt wiederholt bei Georg vorüber, betrachtete ihn scharf und lachte still in sich hinein.

Sie zogen längere Zeit dahin, so schnell die Gespanne laufen konnten, bis sich vor ihnen die Mauern und Türme einer kleinen Stadt erhoben. Auch dieser Ort war einst von deutschen Kolonisten an dem Wall eines Ordenshauses gezimmert und umschanzt worden. Jetzt hatte das Kriegsfeuer die Scheuern und Außengebäude getilgt, und um die Mauern lag verkohltes Holz auf schwarzen Brandstätten. Das Innere bot ebenfalls ein Bild des Verfalls und der Zerstörung, den Kies der Gassen deckte eine Wust von Stroh und Dünger, die Mehrzahl der Häuser war beschädigt; hatten die Fenster einst Scheiben gehabt, jetzt waren sie zerschlagen, die Fensterläden hingen locker in den Angeln, sogar Haustüren waren zertrümmert und als Brennholz verbraucht. Viele Bürger hatten die Stadt verlassen, nur hier und da schlich ein altes Mütterlein oder ein Handwerksmann die Häuser entlang und sah furchtsam auf unwillkommene Gäste, welche herrisch in fremdem Eigentum geboten. Denn ein Fähnlein der Landsknechte hatte sich innerhalb der Mauern festgesetzt und führte seinen wilden Haushalt in den Bürgerhäusern. Wo einst fleißige Hände den Hammer geschwungen und den Hobel gezogen hatten, schlugen jetzt die harten Fäuste trunkener Kriegsknechte auf die Tische, und der wilde Troß des Fähnleins, Dirnen und Kinder, schrie aus den Fenstern und balgte sich vor den Türen. Mit hellem Freudenlärm empfing die Bande den heimkehrenden Haufen, Knaben und Mädchen, manche trotz der Kälte halb nackt, andere eingewurstelt in die Kleidung Erwachsener, kletterten an den Wagen hinauf, halbwüchsige Troßbuben griffen begehrlich über den Leiterbaum in die Ladungen, die Dirnen der Bande, bunt aufgeputzt, riefen die Einziehenden an und [] wechselten mit ihnen dreiste Scherzreden, und bewaffnete Landsknechte liefen aus den Häusern, boten den Genossen die Trinkkrüge und folgten lachend dem Zuge. Über den Markt drängte der lärmende Schwarm nach dem Schlosse, in welchem das Hauptquartier der Knechte war. Am Schloßtor machte der Hauptmann mit seinen Begleitern gegen den Haufen kehrt, gebot dem Troß mit Donnerstimme, zurückzubleiben, und schlug mit einem Stock unbarmherzig auf die Köpfe der Überdreisten, welche sich hinter den Wagen in den Schloßhof einschmuggeln wollten. Als das Fuhrwerk geborgen war, besetzte er das Tor mit Wächtern und ritt mit seinem Gefangenen in den Hof. Eine feste Mauer mit Scharten und einer Galerie, zur Verteidigung wohl geeignet, umfaßte den Hofraum, gegenüber dem Tor stand ein hohes Steinhaus und daneben ein dicker viereckiger Turm aus geschwärzten Ziegeln, zur Seite lagen Ställe und Scheuern und ein langes niedriges Gebäude mit Kammern und Gewölben zum Aufbewahren der Vorräte. Hans stieg schwerfällig ab und reichte seine große Hand grüßend einem Weibe, das ihm von der Schwelle des Hauses entgegentrat. Es war eine hagere ältliche Frau mit harten Zügen, die in einem verschossenen Gewand von schwerem Seidenstoff daherging, über welches sie vorsorglich eine Schürze gebunden hatte, sie trug am Gürtel neben ungeheurem Schlüsselbund ein langes Messer und schwenkte in der Hand einen großen Schöpflöffel. »Wir bringen«, grüßte der Landsknecht in guter Laune. »Gib auch du, Alte, was der Kessel faßt, denn wir sind hungrig.«

»Wer hat's dem Peter Meffert versetzt«, fragte die Frau, nach dem Wagen sehend, von welchem der verwundete Landsknecht durch schreiende Weiber herabgehoben wurde.

»Dieser«, antwortete der Hauptmann, auf Georg zeigend, und vertraulich setzte er hinzu: »Der Vogel hat goldene Federn, er soll dafür Gutes aus deinem Kessel erhalten.«

»Die Jutta wird wohl dafür sorgen, daß er's nicht lange genießt«, sagte die Alte und wies auf eine große, üppige Dirne, welche über den Leib des Verwundeten heftige Schmähreden gegen Georg ausstieß. »Aber Blitz und Hagel, was führst du hier für ein Milchgesicht heran?«

Anna wankte, von Georg geführt, zu der Alten, sie sank, die Hand der Widerstrebenden fassend, lautlos an ihr nieder und sah so flehend und beweglich zu ihr auf, daß die Frau eine mütterliche Empfindung nicht abzuwehren vermochte. Unterdes drückte Georg heftig die andere Hand und bat: »Würdige Frau Hauptmännin, erbarmt Euch der armen Jungfer mit gutem Herzen.«

Die Alte sah von einem zum andern und antwortete ohne Härte:

»Wer im Kriege gefangen wird, muß sein Schicksal tragen, wenn es ihm auch grausam erscheint. Steht auf, Jungfer, der beste Dienst, [] den ich Euch hier erweisen kann, ist der, daß ich Euch einsperre.« Sie hob Anna in die Höhe, führte sie in eine Kammer des Vorratshauses und schloß sorgfältig hinter ihr ab. Als Georg folgen wollte, legte sich ihm die Hand des Hauptmanns schwer auf die Schulter: »Euer Schlupfloch ist anderswo.« Er nötigte den Widerwilligen eine kleine Treppe zum Turme hinauf und barg ihn dort in dem untern Gemach. Bevor er die Tür schloß rief er noch tröstend hinein: »Verhungern und verdürsten sollt Ihr nicht.«

Nach einer Weile kam die Alte aus dem Gefängnis der Jungfrau, stieß den Hauptmann vertraulich in die Seite und sprach leise in ihn hinein; er zuckte mit den Achseln, maß mit seinen großen Augen die Höhe und Breite des Hauses und lachte schlau.

»Sie lag wieder vor mir auf dem Boden«, sagte die Frau, »es war ein trauriger Anblick, und sie sagte, daß sie zu mir Zutrauen hätte, da ich dein eheliches Weib sei und eine ehrsame Frau.«

»Na«, sagte der Hauptmann.

»Wie darfst du grienen, du Bösewicht«, fuhr ihn das Weib an, »als wenn ich nicht mit dir vor der Kirchentür gestanden hätte, da der Pfaff unsere Hände zusammenlegte.«

»Ich weiß zwei, die damals widerwillig waren, nicht nur der Pfaffe, auch noch ein anderer.« Und besänftigend fügte er hinzu: »Gib dich zur Ruhe, Alte, es ist einmal geschehen und geschieht nimmermehr.«

»Pfui, Hans, ich habe Besseres um dich verdient. Und was soll aus dem armen Kinde werden, denn sie ist ja noch ein Kind.«

Wieder verzog er das Gesicht. »Kann sie Lösegeld schaffen in nicht zu langer Frist, so bewahren wir sie nach unserem besten Vermögen, denn wir sind Christen und keine Mohren. Kann sie nicht zahlen, so muß aus ihr werden, was aus andern geworden ist. Sie wird einem freien Landsknecht die Grütze kochen.«

»Sie wird ins Wasser springen.«

»Das hat manche gewollt, die dort den Kochlöffel rührt«, entgegnete Hans gemächlich. »Sie mag sich einen aussuchen, der sie behaupten kann, an Begehrlichen wird es ihr nicht fehlen.«

»Sie hat gute Verwandte in Meißen.«

»Was können wir dafür; soll sie deshalb als alte Jungfer sterben?«

»Ich aber sage dir, sie ist nicht von dem Schlage wie diese dort.«

»Diese sind von gutem Schlage, wie er uns Knechten wohltut. Wenn das Schuhwerk fehlt, laufen sie barfuß, und wenn ihr Herr hungert, mausen sie für ihn. Du weißt ja selbst, daß die Fremde so bei uns nicht bleiben kann, und wenn's die Knechte ertragen wollten, die Dirnen würden's nimmer leiden.«

Was der Hauptmann mit seiner Ehefrau besprach, blieb kein Geheimnis; die Weiber, welche im Schloßhofe wirtschafteten, verließen die Feuerstätten, fuhren aufgeregt durcheinander und [] verhandelten eifrig; auch die Männer traten zusammen, zuchtlose Scherzworte flogen durch den Haufen, und mancher kecke Gesell reckte sich hoch auf und schritt dem Hause näher, um durch das Fenster einen Blick auf die Fremde zu gewinnen. Der Hauptmann stand noch immer vor dem Hause, lachte zuweilen und überlegte, endlich wandte er sich kurz um, schritt hinein und schloß hinter sich die Tür. Als er wieder herauskam, war er ernst und nachdenkend und winkte einige alte Würdenträger des Haufens zu sich heran. »Eine arme weiße Maus«, sagte er.

»Kann sie zahlen, was dem Haufen lohnt?« fragte Wuz, der Locumtenens.

Hans schüttelte den Kopf. »Wenigstens ist es ganz unsicher, sie hat ihre Verwandten weit von hier in Sachsen. Sie will von den Männern nichts wissen und betet zu ihrem Gott um ein barmherziges Ende.«

»Dergleichen kommt vor«, erklärte Benz Streitenberg, ein alter Doppelsöldner. »Ich gedenke wohl, bei einem Haufen in Friesland war in meinen jungen Jahren auch eine Magd, welche sich jedem versagte, und die Sache war nicht ohne«, fügte er geheimnisvoll hinzu, »das Fähnlein hatte Glück, bis es die Magd verlor.«

»Ohne Zweifel war die Friesländerin häßlich, diese aber ist es weniger. Wer soll unseren Eisenbüchsern wehren?«

»Kommt Zeit, kommt Rat«, beruhigte der Alte. »Unterdes übergebt sie Eurer Frau, bis Ihr wegen des Lösegeldes sichere Kundschaft gewonnen habt.«

»Soll ich wegen der Jungfrau gegen unsere frechen Knaben auf der Lauer liegen und mich außerdem mit der Alten zanken?« wandte Hans ein, offenbar am meisten beunruhigt durch die letzte Möglichkeit. »Wollt Ihr die Sorge für sie übernehmen?« fragte er seinen alten Genossen. »Lieber wollte ich einen Ameisenhaufen hüten«, versetzte Benz unwillig.

»Dann weiß ich keinen Rat«, entschied der Hauptmann, »und das Rad mag laufen, wohin es will. Aber noch ein anderes Urteil haben die Brüder zu fällen, über den Gesellen, den wir verstrickt halten. Der verwundete Peter hat ein Recht an ihm gewonnen, und er wird fordern, ihn niederzuhauen. Der Gefangene ist aber der Sohn eines reichen Kaufmanns aus Thorn und vermöchte sich hoch zu lösen.«

»Es gilt ein Sprichwort«, sagte der Alte: »Geld ist gut und Rache besser, doch die Rache dient nur einem, das Geld aber uns allen. Das erwägt.«

»Mir hat der Knabe unmäßig gut gefallen«, fuhr der Hauptmann fort, »er schlug um sich wie ein Satan, und drei von uns hatten Mühe ihn zu bändigen. Und als ich ihn an seinen Banden betrachtete, gefiel er mir noch besser, denn hochmütig trug er seinen[] Kopf, ein langer Gesell mit starken Gliedern, der scharf aus seinen Augen sieht, mit roten Backen und langem Haar und säuberlich in seinem ganzen Wesen, dazu von Geburt ein Junker, und ich dachte, das wäre der Fähnrich, den wir entbehren.«

»Ein reicher Junker gibt einen schlechten Landsknecht; er schämt sich, die Brüder an seinen Herrentisch zu setzen«, wandte Benz Streitenberg ein.

»Vielleicht mag ihn die Not, in der er unter uns liegt, dazu bringen«, meinte der Hauptmann.

»Wie dürfen wir die Fahne einem überlassen, der sie aus Furcht trägt?« fragte ein anderer bedenklich.

»Der Gesell tut nichts halb«, lobte Hans, »nimmt er die Fahne, so trägt er sie uns zur Ehre. Darum, bevor ich die Brüder in den Ring lade, bitte ich euch, sie geneigt zu machen, daß sie sich nicht auf die Seite des geschädigten Peters stellen; denn dieser ist uns nicht selten zuwider gewesen, und auf seinem Kerbholz ist mancher blutige Strich, den ein redlicher Knecht ohne Freude betrachtet.«

Darauf füllte Hans eine Holzkanne mit Bier, rief einen Buben, daß er sie hinter ihm hertrage, und schritt nachdenklich zu dem Turme, in welchem er seinen Gefangenen untergebracht hatte. Er öffnete mit der Erwartung, den Jüngling in einer Lage zu finden, welche er bei ähnlichen Fällen oft beobachtet hatte, auf dem Holzklotz sitzend mit gefalteten Händen; aber er vernahm schon an der Tür Gesang vieler Stimmen und dazwischen belehrenden Zuruf. Georg hatte sich auf eine Fensternische geschwungen und verkehrte durch das Eisengitter mit Kindern des Trosses, welche draußen an der Böschung des Walles saßen und mit heller Stimme das Lied vom gefangenen Knaben absangen, wobei Georg ihnen einhalf. Auf das Geräusch wandte sich der Jüngling um und sprang dem Landsknecht entgegen. »Würdiger Hauptmann Isegrim, wie geht es der Jungfrau? Ich rate Euch, sie säuberlich zu behandeln, wenn Euch Eure Ohren lieb sind.«

»Oho«, rief Hans, verwundert über den groben Empfang, »ich rate Euch, an Eure eigenen Ohren zu denken, die wahrlich in Gefahr sind.«

»An meinem und an Eurem Kopf ist jetzt wenig gelegen, und ich gebe Euch Eure Rede und den Trunk in der Kanne, die Ihr mit Euch tragt, keinen Bescheid, bevor ich nicht weiß, ob Ihr an dem Kinde als redliche Leute oder als Schelme handeln wollt.«

»Ihr waret wohl noch nie Gefangener?« fragte Hans, »daß Ihr Euch unterfangt, so gegen mich aufzupochen.«

Georg zuckte die Achseln über solche Unwissenheit. »Wenigstens noch nicht in den Fäusten Euresgleichen. Doch ich merke, ich muß Euch traben lassen, wie Ihr es gewohnt seid«, er machte eine Bewegung nach dem Holzklotz, »setzt Euch, beginnt Eure Rede [] und trinkt Euer Bier, aber schnell, denn ich habe nicht übermäßig Geduld.«

Der Hauptmann setzte sich gemächlich, stellte die Kanne auf den Boden und betrachtete in unverhohlenem Behagen den Jüngling, welcher mit gekreuzten Armen nachlässig an der Wand lehnte. »Ihr habt einen unserer Bruderschaft gefährlich verwundet, und er wird Euer Blut fordern.«

»Bringt Ihr die Kanne, um es mir abzuholen, Meister Fleischhauer?« fragte Georg zornig.

»Ich kam zu Euch in guter Meinung, und es wäre klug von Euch, wenn Ihr die scharfen Reden unterließet.«

»Ich bin Eurer Hauptmannschaft für die gute Meinung verbunden«, versetzte Georg, »und bin bereit, Euch zu hören, schon deshalb, weil ich verhindert bin, Euch hinauszuschicken. Gefällt es Euch, beantwortet mir nur eine Frage: Seid ihr Landsknechte die der Hochmeister geworben hat, oder seid ihr Räuber?«

»Darauf will ich Euch Bescheid geben aus guten Gründen, obwohl Ihr unhöflich fragt. Wir sind freie Knechte aus dem Reich und kamen hierher, vom Hochmeister geladen; wir dienten ihm, er aber zahlte uns nur kurze Zeit. Jetzt hausen wir hier und behelfen uns, so gut und übel wir können. Wir stehen unter dem Ordenspfleger der nächsten Burg und tun, wie er gebietet, wenn nämlich sein Gebot unserer Bruderschaft gefällt.«

»Ihr nehmt euch also, wo ihr etwas erhalten könnt, von beiden Teilen?«

Hans zuckte die Achseln. »Auch wir freien Knechte müssen leben und zu unseren Tagen kommen. Heut wollen die Fürsten und Herren sich schlagen und morgen vertragen; wenn sie schlagen wollen, dann locken sie uns mit schönen Worten und hohen Versprechungen, die sie selten halten, und wenn sie sich vertragen wollen, so wünschen sie uns zu allen Teufeln. Wir aber sind's, die den Krieg führen, und hätten sie uns nicht, um ihre Händel auszufechten, so bliebe ihnen nichts übrig, als zu fauchen wie alte Kater, und einander durch heimlichen Mord aus dem Wege zu räumen.«

»Wie mögt ihr, da ihr so gering an Zahl seid, hier an der Grenze euch behaupten gegen die Polen des Königs und die Deutschen der Städte?«

»Gegen das fremde Kriegsvolk hat uns bisher Eisen und Blei gute Dienste getan, und mit den deutschen Knechten, welche sonst im Lande sind, halten wir Kundschaft, wie sich gebührt, denn wir denken: Heut Feind, morgen Freund.«

»Ihr sagt, daß ein Ordensherr euch an Stelle des Hochmeisters gebietet. Wie kann dieser mit solchem Vertrage zufrieden sein?«

»Vielleicht ist dieser Vertrag ihm selbst nützlich. Kommt der Tag, wo der Kriegsherr uns gegen alte Genossen aufruft, so fragen wir [] zuerst, ob er sich ehrlich gegen uns gehalten hat mit Sold und Zufuhr und ob auch wir ehrlich gegen ihn sein müssen. Und wenn wir befinden, daß er ein Recht an unsere Hälse behaupten kann, so wagen wir uns für seine Sache, und die andern, gegen die wir losschlagen, handeln ebenso. Dann müssen sich alte Kameraden im Herrendienst einmal die Wämser zerstoßen und auf brauner Heide ihr Leben geben und nehmen. Das aber geschieht nach redlichem Handwerksgruß, und keiner darf dem andern wegen Leibesschaden und Tod einen Groll in jenem Leben nachtragen. Dort drüben der polnische Starost unterhält auch deutsche Landsknechte, die in ihrer Not zu den Polen übergetreten sind und die Ihr heut früh gesehen habt. Auf der Heide ist eine Stätte erkoren, welche Frieden hat, an dieser begrüßen wir uns zuweilen, und der eine erfährt im voraus, was ihm von der andern Seite gebraut wird.«

»Wo die Füchse einander gute Nacht sagen, finden die Hasen übles Lager. Verdammt, daß ich jetzt euer Hase bin. Auch der Gesang eurer Kinder hat aufgehört; zürnt nicht, wenn ich Euch bekenne, daß ich ihn lieber höre als Eure Erzählung.« Er schwang sich wieder auf das Fenster und rief hinaus: »Seid ihr da?«

»Ja«, schrien viele Kinderstimmen.

»So singt mir noch eins zum Angehör. Kennt ihr das: Ducke dich, Hansel, ducke dich, das Wetter wird vorübergehn.«

Kräftig schrie der Chor draußen die Weise.

»Und was denkt Ihr jetzt mit mir zu beginnen?« fragte Georg, zu dem Landsknecht zurückkehrend.

»Die Bruderschaft hat ein Recht auf Euch gewonnen, und sie wird sich's einfordern, so oder so.«

»Und was will sie mir antun?«

»Entweder wird sie Euch hinstellen vor den Verwundeten und seine Freunde, damit ihre Waffen Euch den Arm abhaue, den Ihr einem Knechte geschädigt habt.«

»Teufel, Hauptmann, Ihr übt groben Brauch, daran ist mir nichts gelegen. Und welches andere Recht könnten sie noch gegen mich behaupten?«

»Daß Ihr selbst in die Bruderschaft tretet.«

Georg lachte: »Und daß ich ein Mausekopf werde wie ihr andern. Auch dies steht mir nicht an, findet bessere Hilfe. Was sagt Ihr zu einigen Batzen Lösegeld? Laßt uns versuchen, ob gute Leute in meiner Vaterstadt das für mich aufbringen.«

Hans schüttelte den Kopf. »Ich sorge, daß die Knechte sich damit nicht zufriedengeben, zumal sie nicht alles erhalten würden; denn wenn Geld gezahlt wird, so nimmt sich einen Teil der deutsche Ordensherr.«

Georg stellte sich vor den Landsknecht und begann in verändertem Ton: »Ihr seid zu mir gekommen, wie Ihr sagt, in guter [] Gesinnung, und wahrlich, an Eurem breiten Gesicht erkenne ich, daß Ihr es nicht übel mit mir meint. Sprecht, ob Ihr mir und der Jungfrau von hier forthelfen könnt; denn obwohl ich jetzt so arm bin wie eine Kirchenmaus, glaube ich doch, daß ich Euch einen Zehrpfennig für Eure alten Tage schaffen kann, der Euch aller späteren Sorge entheben wird, wenn heute oder morgen diese wilde Wirtschaft aufhört.«

Hans hob die Kanne. »Das war ein verständiges Wort, und ich will Euch meine Meinung sagen, wenn Ihr mir erst willig Bescheid getan habt.«

Georg nickte. »Trinkt mir zu auf gutes Geschäft, ich folge Euch.« Sie tranken und schüttelten einander die Hände; darauf sagte Hans: »Ich kann Euch nicht von hier lösen, wie Ihr meint, und ich würde es auch nicht tun, selbst wenn ich's vermöchte. Denn ich will gegen meine Gesellen nicht unehrlich sein, und ich würde schwerlich lange am Leben bleiben, um das Geld zu genießen. Darum wiederhole ich mein Angebot. Ich will nicht, daß Ihr ein gemeiner Landsknecht werdet, sondern daß Ihr den Brüdern die Fahne tragt. Uns ist der Fähnrich gestorben, und Wuz, der jetzt an seiner Stelle das Tuch schwenken muß, taugt ganz und gar nicht dazu und begehrt sich selbst die Ehre nicht. Und um Euch alles zu sagen, Ihr habt mir gefallen, und ich möchte Euch darum retten und für den Haufen bewahren.«

Wieder lachte Georg. »Ich bin dankbar für die zugedachte Ehre. Doch ist mir noch undeutlich, für wen ich nach Eurem Willen die Fahne schwenken soll. Ist's der Hochmeister oder der Ordenspfleger oder Herr Omnes, der Hauf Eurer Knechte?«

»Das Fahnentuch weist die schwarzen und weißen Rauten und an der Ecke das Ordenskreuz«, antwortete der Hauptmann.

»Und wenn es den Knechten gefällt, ihren Herrn zu wechseln?«

»Der Fähnrich gelobt sich der Fahne; nur solange Ihr des Hochmeisters Farben tragt, seid Ihr gebunden.«

»Der Krieg ist beendet, ein Stillstand geschlossen. Wie lange denkt Ihr hier noch zu dienen?« fragte Georg.

»Bis der Hochmeister uns ablohnt«, versetzte Hans. »Zahlt er dem Fähnlein morgen aus, so seid Ihr morgen frei. Doch«, fügte er schlau hinzu, »es kann auch länger dauern.«

»Jedenfalls lange genug«, sagte Georg ernsthaft, »um Eurem Fähnrich Ehre und Gewissen in Bedrängnis zu bringen. Denn, Hauptmann, nach allem, was Ihr erzählt und was ich gesehen, haust ihr in einer Weise, die mir nicht gefällt.«

»Auch dabei hat der Fähnrich mitzureden«, antwortete Hans; »Euch steht es zu, die Ehre der Fahne gegen die Knechte zu vertreten, und dem ganzen Haufen liegt daran, daß Ihr selbst an unehrlichem Werke keinen Anteil habt. Wenn Ihr Euch weigert, [] die Fahne fliegen zu lassen, weil Unehre geübt ist durch einen oder viele, so muß der Haufe den Schaden bessern oder in Schimpf dahinleben. Ist vielleicht in dieser Zeit, wo uns ein sicherer Fähnrich fehlte, allerlei geschehen, was besser unterblieben wäre, so könnt Ihr helfen, daß es künftig vermieden wird. Laßt Euch sagen, daß Ihr mir gerade darum wohl ansteht, weil ich Euch als einen stolzen Gesellen erkenne. – Ich weiß jetzt auch durch die Gefangene, wer Ihr seid, und daß Ihr von Eurer Vaterstadt nur wenig zu hoffen habt, denn Ihr seid dort strengem Recht verfallen, und das Polenreich ist Euch zugesperrt.«

Zum erstenmal merkte Georg, daß er im Elend war, und sah schweigend vor sich hin, während der Hauptmann schloß: »Darum denke ich, daß Euch mein Angebot genehm sein könnte. Wollt Ihr nicht, auch gut. Dann bleibt mir nichts, als über Euch, wenn Ihr auf dem Boden liegt, das Kreuz zu machen.«

»Droht mir nicht, wenn Ihr mich haben wollt«, rief der Jüngling unwillig, »denn durch Schrecken gewinnt mich niemand.«

»Dann rate ich, daß Ihr an andere denkt, die Euch vielleicht am Herzen liegen. Denn diesen vermögt Ihr jetzt nur beizustehen, wenn Ihr meinen Vorschlag willig annehmt.«

Georg überlegte. »Ich habe Euch gehört, jetzt merkt auch auf mich. Ihr seid dem Ordenspfleger dieses Amtes unterstellt, laßt mich vorerst mit ihm verhandeln; es soll Euer Schade nicht sein.«

Hans vernahm mit Mißvergnügen diesen Vorschlag. »Ihr setzt Euch aus dem Regen in die Traufe. Dennoch mögt Ihr erkennen, daß ich Euch gern gefällig bin. Wir haben nicht nötig, deshalb Reisestiefel anzuziehen, denn er kommt sicher noch heut, um die Beute zu besehen.«

Vom Tore her tönte dumpfer Trommelschlag. Hans erhob sich ärgerlich. »Ich wußte, daß er gute Nachbarschaft halten würde; folgt mir und harret, bis ich Euch zur Unterredung führe.« Der Hauptmann trat mit seinem Gefangenen in den Hof, die Knechte in der Nähe des Tores liefen mit ihren Spießen und Rohren herzu und stellten sich auf. Durch die Stadt sprengte ein Trupp Reiter nach der Höhe, an ihrer Spitze der Pfleger der nächsten Ordensburg. Er trug wie mehrere seiner Begleiter, welche die Gelübde abgelegt hatten, auf dem weißen Mantel das schwarze Kreuz; neben ihm ritt seine Traute, ein prächtiges Weib im roten Samtpelze, mit wallenden Straußfedern auf dem Hute. Sie bändigte ihr mutiges Roß wie ein Mann und sah, an Bewunderung gewöhnt, herausfordernd in die Reihe der Knechte. Als die Schar im Hofe anhielt, rief der Pfleger mit nachlässiger Vertraulichkeit dem Hauptmann zu, indem er auf die Wagen wies: »Meine Bären kommen voll vom Honigbaum, und der Seim trieft ihnen vom Fell.«

»Herr Reinecke trabt auch herzu«, brummte der Landsknecht [] und zog den Hut ab. »Was wir gebeutet haben, ist fast nur Brotkorn; den Mäulern meiner Kinder tat es not, Euch wird es wenig frommen.«

»Mir ist von Kaufmannsgut berichtet«, versetzte der Ordensmann eifrig, »weist meinem Schreiber die Ware.« Als er vom Pferde stieg, fiel sein Blick auf Georg, und, unwillig über den fremden Zeugen, rief er: »Welchen unberufenen Gast habt Ihr hier? Seit wann ladet Ihr Gefangene zu den Geschäften mit meinem Amt?«

»Der Junker begehrte dringend, Euch selbst zu sprechen, und ich wollte nicht verhindern, was Euch lieb sein konnte.«

»Ihr also seid der Bürgersohn aus Thorn?« fragte der Pfleger mit finsterer Miene.

Georg las in dem harten Gesicht, aus welchem zwei scharfe Augen auf ihn stachen, nicht viel Gutes für sich, und sein Stolz bäumte sich auf: »Ich bin Georg König, einer von den Brüdern des Hofes zu Thorn; bei friedlicher Fahrt auf dem Strome wurde ich durch diese Knechte gefangen herbeigeführt, obgleich ein Stillstand geschlossen und die Stromfahrt freigegeben ist.«

»Uns ist darüber keine Nachricht zugegangen«, erwiderte der Ordensherr abweisend, »und Ihr seid nach Kriegsbrauch gefangen.«

»Ob ich mit Recht oder Unrecht angehalten wurde, das mag verhandelt werden zwischen dem Hochmeister, Eurem Gebieter, und meinem Geschlecht. Unterdes bitte ich Euch geziemend, daß Ihr es übernehmt, Seiner fürstlichen Gnaden, welcher ich von Angesicht wohlbekannt bin, ein Schreiben von mir zugehen zu lassen und bis zu der Antwort Eures Gebieters die Entscheidung über mein Lösegeld und über das meiner Mitgefangenen hinauszuschieben.«

»Ich bin kein Bote für Eure Briefe«, beschied der Pfleger geringschätzig. »Hat Euch der Hochmeister in Wahrheit je gesehen, so hat er Euch längst vergessen.«

»Herr Albrecht hat, da er als Gast in meines Vaters Hause weilte, mir wiederholt in Hulden sein Schloß zu Königsberg als meine Gastwohnung angeboten, wenn ich einmal das Ordensland beträte. Darum, meine ich, hat er ein Recht, zu erfahren, daß ich hier mit Gewalt zurückgehalten werde.«

Ein Weißmantel aus dem Gefolge ritt zum Pfleger und sprach ihm in das Ohr, das Gesicht des Ritters erhielt einen entschlossenen und bösartigen Ausdruck. »Es ist weit von hier bis nach Königsberg«, antwortete er endlich; »und ich versage Eurer Rede den Glauben.«

Da rief Georg zornig: »Ihr seid Pfleger dieses Amtes, damit Ihr im Namen Seiner fürstlichen Gnaden Recht und Gesetz handhabt; verweigert Ihr mir in meiner Bedrängnis, was mein Recht und Eure Pflicht ist, so mögt Ihr die Folgen auf Euer Gut und [] Leben nehmen; denn ich sage Euch, Herr, Ihr werdet es entgelten, entweder mir oder anderen, welche das Unrecht an Euch rächen.«

»Ihr kräht zu laut, junger Hahn aus dem Bürgerhofe«, entgegnete der Ordensherr mit unheilverkündendem Blick und wandte sich kurz ab. Aber Georg, dem das Blut wallte, fuhr heftig fort: »Außer mir ist eine ehrbare Jungfrau hergeführt worden; haben die Herren vom schwarzen Kreuz vergessen, daß Frauen frei ausgehen beim Streite der Männer? Wir in Thorn vernahmen, daß es einst Ritterpflicht war, Frauen und Jungfrauen zu beschützen.« – Er hörte hinter sich die leise Warnung: »Schweig, du Tor«, und erkannte die Stimme seines Feindes Henner, aber unbekümmert um die Folgen fuhr er fort: »Ist ein Adliger von Ehre in der Nähe, so fordere ich ihn auf, daß er an seine Ehre und an seinen Eid gedenke.«

Der Pfleger lächelte. »Ist sie vom Adel?« fragte er, sich zum Hauptmann wendend.

»Es ist die Tochter eines lateinischen Lehrers«, erklärte dieser.

»Wenn sie jung und hübsch ist, so wollen wir dem frechen Gesellen den Gefallen tun und selbst den Schutz übernehmen. Führt sie herbei.«

Hans eilte nach der Kammer und brachte die erschrockene Anna in den Kreis. Der Ordensherr sah sie sorgfältig an und nickte seinen Begleitern zu. »Seid guten Muts, Jungfer, Ihr sollt nicht lange in der Hut dieser bärbeißigen Knechte verweilen.« Er winkte dem Hauptmann, daß er die Gefangene zurückführe, und stieg, ohne Georg noch einmal anzusehen, auf sein Pferd. Die Frau im roten Samtpelz aber rief: »Wir danken für die Gesellschaft der bleichwangigen Dirne; wollt Ihr jemand von hier in das Schloß laden, so fordere ich diesen mit dem krausen Haare zu meinem Dienst«, und sie trieb ihr Pferd mit einer Wendung an Georg vorüber und schlug ihn mit ihrem Handschuh an die heiße Wange. Das Gefolge des Pflegers lachte, er aber warf ihr einen finstern Blick zu und ritt schweigend nach dem Tore. Dort sprach er längere Zeit mit dem Hauptmann, dann winkte er mit der Hand, und der Reiterzug sprengte abwärts durch die Gassen der Stadt.

Georg stand allein im Sturm seiner Gedanken, da trat der Hauptmann zu ihm und begann in guter Laune: »Ihr habt den Ordensleuten den Trunk vergällt. Sonst mußten wir ihnen jedesmal auftragen, wenn sie uns die Ehre ihres Besuches erwiesen. Wenn diese Weißmäntel untereinander sitzen, so reden sie verächtlich von uns Knechten, als von treulosen Buben und Strauchdieben; wie sie selbst aber sind, habt Ihr wohl gemerkt. Und ich sage Euch, der ganze Haufen meiner Knechte ist ausbündig erfreut, daß Ihr dem Pfleger aufgetrumpft habt.«

[] »Was hat er mit der Jungfrau vor?« fragte Georg wild.

Hans zuckte die Achseln und erklärte, das nicht zu wissen.

»Gestattet, daß ich mit Ihr rede«, bat Georg.

Der Hauptmann, welcher mißtrauisch die Folgen dieses Gesprächs erwog, schüttelte den Kopf. »Bedenkt, was ich einem Gefangenen gestatte, könnte ich den freien Knechten nicht verweigern. Die Magd bleibt heut im Verschluß meiner Alten. Wir aber kommen auf den Handel zurück. Auch die Knechte meinen jetzt, daß Ihr unser Fähnrich werden müßt. Ihr versteht die Worte zu setzen wie ein Schreiber, und das Feuer sprüht Euch aus den Augen. Ihr ward behende dabei, Euch den Pfleger zum Feind zu machen, und im Vertrauen, er riet uns, dem verwundeten Peter sein Recht an Eurem Leibe zu gewähren.«

»Um den Verwundeten sorge ich nicht schwer«, sagte der Jüngling, mit seinen Gedanken ringend, »gegen ein gutes Stück Geld verträgt er sich mit mir.«

»Vielleicht tut er das«, antwortete Hans, »vielleicht auch nicht; ich widerrate, daß Ihr Euer Schicksal in die Faust des wüsten Gesellen legt.«

»Hauptmann«, rief Georg, die Hand des Landsknechts ergreifend, »mein Roß stutzt und bäumt vor dem Graben, laßt mich kurze Zeit unter freiem Himmel allein, dann will ich Euch Bescheid sagen.« Der Landsknecht nickte und trat zurück, Georg schritt im Hofe auf und ab, endlich setzte er sich auf einen Stein unweit der Kammer, in welcher Anna verschlossen war. Es war still um ihn, am Abendhimmel trieben dunkle Wolken schnell dahin, darüber hellere in rötlichem Glanz; die Knechte standen mit untergeschlagenen Armen vor dem Tore, nur die Kinder des Haufens hockten nahebei auf den Balken, sie beobachteten den Gefangenen in Erinnerung an die gemeinsame Kunstleistung wie ein Flug Saatkrähen den Ackersmann. Jetzt benutzten sie die Stille, um zu seiner Unterhaltung das Lied: ›O Schiffsmann‹ anzuheben, und sie sangen von der Jungfrau, welche aus dem Schiff in die Tiefe versenkt werden soll und der Reihe nach ihre Lieben zu Hilfe ruft; der Bruder kommt nicht, der Vater kommt nicht, aber der Geliebte hört und löst sie aus der Todesnot. Und als die Kinder schrien: »O Liebste mein, Leib und Seel' verkaufe ich, dein junges Leben rette ich, ich will dich nicht verlassen«, da sprang Georg auf, und den Arm hebend, rief er: »Ich höre die Mahnung meiner Kantorei, und sie hat das Richtige getroffen.« Und während die Bande noch über dem Liede sang, trat er zu dem Hauptmann und begann fröhlich: »Ich will Euer Fähnrich werden, und ich will mich Eurer Bruderschaft geloben für Leben und Tod, wenn Ihr mir die Rechte abtretet, die Euer Haufe an die Jungfrau als Eure Gefangene beansprucht. Ihr mögt sie schätzen und das Lösegeld von mir nehmen, aber sie [] wird, soweit Ihr ein Recht an sie habt, mein eigen von der Stunde, wo ich mich Euch angelobe.«

»Sie soll Euer werden«, antwortete der Landsknecht, die Worte erwägend, »soweit der Haufe ein Recht an sie hat.« Und Georgs Hand schüttelnd, rief er: »Nichts Besseres konnte dem Fähnlein geschehen. Laß den Trommler anschlagen, Wuz, und die Alten zum Rate laden, denn ein wackerer Fähnrich ist gefunden.«

Unterdes saß Anna zwischen den Heubündeln ihrer Kammer; nach schlafloser Nacht und einem Tage unsäglicher Angst waren ihre Kräfte erschöpft, ihr Haupt auf ein Bund herabgeglitten und das Bewußtsein ihres Elends auf kurze Zeit geschwunden. Im Schlummer kam ihr vor, als ob Georg mit der Laute vor ihr stehe, und sie lachte ihn freundlich an. Da unterbrach Trommelschlag den friedlichen Traum, die Tür öffnete sich und die Frau des Hauptmanns trat ein, Anna fuhr in die Höhe. »Ihr habt nicht nötig, zu erschrecken, Jungfer«, begann die Alte freundlicher als bisher, »Euer Schicksal wendet sich zum Bessern; das Fähnlein ist dabei, sich einen neuen Fähnrich zu wählen; hat er sich erst der Fahne gelobt, so will er die Sorge für Euch übernehmen, und von morgen gehört Ihr ihm an. Entsetzt Euch nicht, Jungfer, der neue Herr ist Euer guter Freund, der Junker, welcher mit Euch gefangen wurde.«

Da stieß Anna einen gellenden Schrei aus, warf sich auf die Knie und verhüllte das Haupt, und die Alte, welche sich über sie beugte, vermochte ihr keine Rede abzugewinnen.

Am nächsten Tage wurde das ganze Fähnlein aus der Stadt und den nächsten Dörfern zusammengeboten und lange mit den einzelnen Haufen verhandelt. Endlich am Nachmittag war durch den Einfluß der Führer und Doppelsöldner die Einigkeit gewonnen, Georg trat in den Ring und legte das Gelöbnis ab, die Fahne wurde ihm angebunden, wie Brauch war, daß er sie in der Rechten trage und nach Verlust der Rechten in der Linken, daß er sie im Lager bewahre bei Tag und Nacht gleich einer Braut und beim Kampf sein Leben für sie lasse. Und als Georg die Fahne in der Luft schwenkte, so sicher wie ein alter Kriegsmann, freuten sich die Knechte. Er hatte bisher nicht gedacht, daß das Spiel des Artushofes bitterer Ernst seines Lebens werden sollte. War seine Wange auch fahler als sonst, er trug sein Haupt aufrecht und das Herz wurde ihm nicht schwer. Als alles nach Gebühr vollendet war und er die Knechte mit einer Ansprache begrüßt hatte, die dem Haufen wohlgefiel, löste der Hauptmann den Kreis und Georg begann: »Ich habe unsern Vertrag erfüllt, jetzt tut Ihr mir desgleichen und führt mich zu der Jungfrau.« Der Hauptmann nickte. Aber in demselben Augenblick rief die Wache vom Tor, daß ein Reiter herantrabe, und das Gesicht des tapfern Hans verzog sich in Unruhe und Verlegenheit. »Der Pfleger hat's eilig«, brummte er. »Gedenkt, Fähnrich, [] was ich Euch verheißen habe; das Anrecht, welches das Fähnlein an der Gefangenen behaupten kann, will ich Euch übergeben, mehr nicht; vielleicht ist es noch ein anderer, der ein Recht auf die Jungfrau für sich fordert.« Da faßte die Hand des Jünglings wie eine Eisenklammer in seinen Arm, daß er zuckte, und dem herantretenden Henner rief Georg entgegen: »Kommt Ihr, die Jungfrau nach dem Ordenshause zu holen, so steigt vorher ab und zieht Eure Waffe, denn ich weigere Euch das Weib.«

Aber Henner blieb sitzen und sah verwundert auf seinen Gegner, der die Fahne im Arm hielt und nicht als Gefangener, sondern in Waffen vor ihm stand. »Die Pest auf alle Weibernarren«, fluchte er; »meinetwegen behaltet Euer Liebchen, bis Ihr und sie mit Urenkeln gesegnet seid. Ihr habt heut nicht nötig, mich anzuschnarren, auch ich will Euch nicht auslachen, wie ich wohl könnte, daß Ihr ein Fähnrich dieser Klotzköpfe geworden seid; denn ich habe in meinen Tagen selber erfahren, wozu Not und Elend verleiten. Ich kam nur im Vorüberreiten herauf, um Euch zu winken, daß Ihr Euch mit der Jungfer fortmacht, was es den reichen Vater auch koste. Denn Ihr seid hier nicht gut daran, aber in dem Hause, aus dem ich komme, wäret Ihr oder eine andere, an der Euch liegt, völlig verloren. Doch ich sehe, Ihr habt Euch festgehakt und dem Teufel ein Recht über Euch gegeben«, und sich vom Rosse niederbeugend, sagte er leiser: »Die Jungfer wird dem Fähnlein abgefordert werden, und die Knechte werden sie Euch zuliebe schwerlich verweigern.«

»Ich aber«, rief Georg.

»Bah, wie vermögt Ihr das, sie ist ja nicht Euer Eheweib. Und ich sage Euch, die Ordensdiener wären bereits hier, wenn der Pfleger nicht in ein Hindernis gefallen wäre. Er geriet gestern beim Trunke mit einem Adligen in Streit, vielleicht war es Euretwegen und wegen des blassen Magisterkindes. Das Eisen fuhr zu schnell aus der Scheide und er liegt jetzt mit einem Ritz im Leibe, der andere aber hat sein Pferd gesattelt und ist dem Hause entwichen, sich irgendwoanders Unterschlupf zu suchen. Benutzt die Frist, die Euch durch den Schnitt geworden ist, denn ich denke, allzuviel Zeit wird Euch nicht bleiben.«

»Der andere wart Ihr, Henner«, sagte Georg und streckte die Hand nach ihm aus. Henner ergriff sie: »Der Krug ist bezahlt, die zerschlagene Armbrust habe ich bei Euch gut.« Er wandte sein Pferd, um wegzureiten. »Verweilt noch, Henner«, rief ihm Georg zu. »Ich gedenke Euch als meinen Zeugen zu laden, wenn ich mir ein Eheweib gewinne.«

»Ich bin ein schlechter Hochzeitsgast«, versetzte Henner, »und ich will heut nicht mit den Knechten beim Trinkkrug niedersitzen, nachdem ich mich gestern mit den Herren gerauft habe. Fahrt wohl, Ihr stolze Distel von Thorn«, rief er lachend, »niemand weiß, was [] auf Erden noch aus ihm werden kann.« Er grüßte mit der Hand und sprengte aus dem Tor.

Georg trat zu dem Hauptmann. »Wird der Haufe das Eheweib seines Fähnrichs gegen die Begier eines Fremden schützen?«

»Wenn Ihr ein Eheweib gewinnt in Eurem Amte, so gehört das Weib zur Bruderschaft und die Knechte müssen es schützen. Wollt Ihr mit der Jungfrau in den Ring treten, so steht das bei Euch, wir werden uns nicht versagen. Und darf ich Euch raten, so tut zur Stelle, was Euch am Herzen liegt.«

»Öffnet mir die Kammer der Jungfrau«, forderte Georg.

Er trat schnell ein, in dem dämmerigen Raum sah er eine helle Gestalt, welche scheu zurückwich und den Arm ihm abwehrend entgegenhielt, er sah das verstörte Gesicht der Geliebten und zwei Augen, welche ihn angstvoll anstarrten. Da hemmte sich sein Schritt, und er begann traurig: »Liebe Jungfer Anna, laßt Euch gefallen, was geschehen ist, bei schlechtem Wetter ist jedes Obdach eine Hilfe.«

»Armer Georg«, klagte sie, »Seele und Seligkeit habt Ihr in Gefahr gesetzt.«

»Nicht also, liebe Jungfer, Seele und Leben hoffe ich zu bewahren, wenn Ihr mich nicht verlaßt, und ich komme, Euch anzuflehen, daß Ihr bei mir aushaltet.« Er faßte ihre Hand, sie zuckte bei der Berührung, aber im nächsten Augenblick warf sie sich an seine Brust und weinte. Als sie sich aufrichtete, sah sie ihn zärtlich an, wie eine Mutter ihr Kind, und strich ihm mit der Hand über Haar und Stirn: »Armer wilder Knabe, was habt Ihr gewagt, warum habt Ihr Euch dazu gedrängt, das Opfer zu sein?«

»Nicht ich, Anna, das Größte müßt Ihr selbst wagen, denn Ihr könnt Euch nur retten, wenn Ihr Euch mir vermählt.«

Sie löste sich von ihm, und wieder sah er den scheuen Blick. »Der Ordenspfleger wird Boten senden, um Euch auf sein Schloß zu holen.«

»Habt Ihr kein Messer, das Ihr mir geben könnt?« rief sie mit rauher Stimme.

»Ich selbst und die draußen vermögen Euch zu schützen, wenn Ihr nach dem Brauch des Fähnleins mit mir in den Ring tretet und Euch mir zur Ehe angelobt.«

Sie sah ihn lange unsicher an, wie jemand, der den andern nicht versteht, bis sie heftig ausrief: »Wo ist der Brautkranz? Kommt!« Aber sie wankte, und er hielt sie in seinen Armen fest.

Im Hofe klang wieder die Trommel, und die Knechte traten zusammen, der Ring öffnete sich, als Georg das zitternde Weib in seinen Armen herausführte. Georg legte die Jungfrau seinem Gesellen Wuz an die Schulter, ergriff die Fahne und trat mit seinem Zeugen gegenüber; der Hauptmann stand in der Mitte, tat die Fragen und fügte die Hände zusammen. Wieder schlug die Trommel [] mit dumpfem Ton, Georg reichte die Fahne dem Hauptmann, und dieser schwenkte das Fahnentuch über den Vermählten, damit die Ehe ehrlich werde und in den Schutz der Bruderschaft aufgenommen.

Georg rief: »Seid bedankt, Hauptmann und gute Gesellen.« Er raunte der Bewußtlosen zu: »Mein Weib«, hob sie mit starkem Arme und trug sie in den Turm. Hier setzte er sich mit seiner süßen Last auf die Bank, bedeckte ihr bleiches Angesicht mit heißen Küssen und vermochte nichts anderes zu sprechen als: »Mein liebes Weib.« Sie hing hilflos in seinen Armen und widerstrebte nicht, wenn er sie küßte. Aber als er sie mit heißen Augen zu sich emporhob, glitt sie an seiner Seite nieder auf den Boden und lag, die gerungenen Hände flehend ausgestreckt: »Um meinetwillen seid Ihr aus der Heimat geworfen, um meinetwillen in Not und Elend geraten, um mich zu retten, habt Ihr Euer Leben den furchtbaren Leuten angelobt; hier liege ich vor Euch, Leib und Seele sind Euch verfallen, Ihr mögt mit mir machen, was Euch gefällt.«

Er fuhr erschrocken zurück vor dem jammervollen Blick und hob ihr leise das Haupt: »Anna, ich hoffte, daß Ihr mich liebhättet.« Sie seufzte fast unhörbar: »Wollt Ihr mich nicht ganz zerbrechen, so schont mich.«

Da wandte er sein Antlitz ab, um den Schmerz darüber zu verbergen, daß sein Weib sich ihm versagte, aber er vermochte nicht die Herrschaft über sich zu behaupten, der Sturm in seinem Innern hob ihm die Brust und er stöhnte laut. Sie lag regungslos vor ihm auf der Erde und heiße Tropfen fielen aus seinen Augen auf sie. So blieben sie lange.

Georg ermannte sich zuerst. Er berührte ihr leise den Arm: »Erhebt Euch, liebe Jungfer Anna, ich kann solchen Schmerz nicht ansehen. Dort über uns im Oberstock ist Euer Gemach, ward es auch nur notdürftig hergerichtet, es ist sicher. Zieht Ihr die Leiter hinauf, so vermag niemand zu Euch zu dringen. Gestattet mir, daß ich mit der Fahne hier unten hause, ich will Euch ein treuer Wächter sein.«

Sie erhob sich ohne seine Hilfe und wankte nach der Leiter, dort hielt sie sich fest, er aber stand abgewandt und starrte durch das Gitterfenster auf den grauen Wolkenhimmel; als er sich umwandte, war sie verschwunden. Da ergriff er seinen Hut und stürzte aus dem Turme.

Draußen empfing ihn der lärmende Zuruf seiner neuen Genossen, er sagte ihnen, daß sein Weib erkrankt sei, vernahm mit halbem Ohr ihre rauhen Scherze und ließ sich durch sie fortziehen zu dem Gelage, das der Hauptmann dem neuen Fähnrich zu Ehren für die Würdenträger des Haufens veranstaltet hatte. Erst in später Nacht kehrte er zum Turm zurück, er wankte in das Gemach, stieß hart [] gegen die Wand und sank mit einem unterdrückten Fluch auf sein Lager. Dort verlor er in bleiernem Schlaf die Empfindung seines Unglücks.

Es war still im Turme und man vernahm nur die schweren Atemzüge des Schlafenden; da fiel ein Lichtstrahl aus der Luke hernieder. Mit der Leuchte stieg ein angstvolles Weib herab, sie setzte sich an das Lager, rückte dem Schlafenden sorglich das Haupt zurecht und breitete eine warme Decke über ihn; lange saß sie auf dem Boden, lautlos mit gesenktem Haupte.

Das war für die armen Kinder der Tag ihrer Vermählung.

Die Ehe in der Wildnis

Georg erwachte spät am Morgen, fühlte nach seinem heißen Haupt und sah sich verwundert in dem kahlen Raume um. Neben seinem Lager saß Ajax und wedelte. ›Mir ist so, als wäre ich verheiratet und seit gestern ein Ehemann‹, sagte er zu sich selbst. Vor ihm stand Wasserkrug und Becken und dabei lag sorgfältig ausgebreitet ein Anzug aus seinem Reisebündel, den er bereits als verloren bedauert hatte. Er sprang auf und benutzte die Gelegenheit, sich in besseren Stand zu setzen. Als er umschaute, stand die Leiter zum Oberstock angelehnt; oben war alles still, er wagte nicht hinaufzusteigen, aber er rief: »Jungfer Anna«, doch kam keine Antwort.

Da klopfte es an der Außentür, und auf sein Herein trat Anna in den Turm, einen rauchenden Topf und ein Schälchen in der Hand. »Guten Morgen, Junker«, grüßte sie mit niedergeschlagenen Augen, »ich bringe die Morgensuppe.« – »Ei!« rief der erstaunte Georg. Sie rückte einen wankenden Tisch heran, setzte den Schemel, goß aus dem Topf in die Schale und kühlte den Trank mit dem Löffel.

Georg saß vor dem Frühstück. »Vor allem sagt mir, wer bin ich und wer seid Ihr?« Da ließ sie den Löffel fallen, ein trauriges Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Ihr seid mein Herr«, sprach sie leise. Aber als er ihre Hand ergriff, indem er die Frage wiederholte: »Wer seid Ihr?«, da entzog sie ihm die Hand und antwortete, niederblickend: »Ich bin Eure Jungfer Anna.«

»Hm«, summte er und trank aus der Schale.

Anna ergriff das Wams, welches Georg abgelegt hatte, setzte sich ihm gegenüber auf die Bank und holte Nadel und Zwirn aus der Tasche. »Dies Loch hat die Hellebarde des Hauptmanns gerissen; auf dem Wege hierher grauste mir, wenn ich es ansah und dachte, wie wenig gefehlt hat, daß er Euch am Leben traf.« Sie legte das Gewand in den Schoß und sah vor sich hin, aber sie faßte es sogleich wieder und nähte eifrig über dem Ritz. Georg sah ihr schweigend zu.

»Wißt, lieber Junker«, begann sie, »das Nötigste ist ein eigener [] Herd, auf dem ich für uns koche. Am Turme läuft ein Schlot hinauf, es wäre geringe Mühe, hier oder oben einen Herd oder gar einen Ofen zu setzen; vielleicht ist ein Töpfer in der Stadt zu finden. Ich habe ein wenig Geld gerettet, das in mein Kleid genäht war, ist's Euch recht, so sehen wir flugs, daß wir zu dem Herde kommen. Die Hauptmännin sagt, was wir an Essen gebrauchen, muß Euch das Fähnlein liefern. Du lieber Himmel, es wird wohl dürftig sein, aber ich will's Euch schon zurichten.«

»Um das Geld sorgen wir nicht«, antwortete Georg, »auch mich haben sie nicht ganz ausgeplündert, und wenn ich in die Stadt hinuntergehe, suche ich die Arbeiter.«

»Wenn Ihr geht und es Euch nicht uneben ist«, bat Anna, »so nehmt mich mit, damit das Gesindlein sieht, daß ich zu Euch gehöre; sie werden dann eher Scheu haben, wenn ich einmal allein unter sie treten muß.«

»Es ist also Euer Wille, zu mir zu gehören?« fragte Georg. »Und wofür sollen die Leute Euch halten?«

»Nun, da Ihr hier Fähnrich geworden seid, bin ich doch die Frau Fähnrichin«, antwortete Anna und stach heftig in das Wams.

»Das ist richtig«, sagte er.

»Ist der Herd das erste«, fuhr Anna fort, um ihn von seinen Gedanken abzuziehen, »so ist eine Mausefalle das nächste. Die Hauptmännin sagt, daß die Buben vom Troß darin großes Geschick haben. Die Falle aber ist dringend, denn das Mäusevolk rennt hier unverschämt, wahrscheinlich, weil es nichts zu knuspern findet, wobei es stillsitzen könnte. Heut nacht habe ich mich entsetzt, als ich sah, daß eine ganz frech über Euch weglief.«

Georg sprang auf: »Jungfer Anna, ich weiß jemand, der zur Nacht an meinem Lager war und der mir auch die warme Decke übergelegt hat.«

Anna ließ erschrocken das Wams auf die Erde fallen. Aber im nächsten Augenblick lag sie an seinem Halse und klagte mit bebender Stimme: »Armer wilder Georg.«

»Anna, mein geliebtes Weib«, rief er, sie umschlingend. Sie weinte still an seinem Herzen, er hielt sie fest und wollte sie küssen, doch wie gestern glitt sie an ihm nieder und sah mit gefalteten Händen zu ihm auf. »Ihr seid mein, und ich bin Euer«, sprach sie leise, »aber übt Nachsicht gegen mich; mir graut vor der Zuchtlosigkeit, die mich in Eure Arme geworfen hat; wenn ich sehe, wie die es hier treiben, die zusammengehören, so erscheint mir alles wie Sünde und Frevel; und wenn Ihr mich mit feurigen Augen küßt, so fühle ich bittere Angst über unser Elend. Duldet mich, Herzensjunge, wie ich bin, ich will Euch dienen und für Euch sorgen bei Tag und Nacht.«

Georg hob die Kniende zu sich herauf. »Und was soll zuletzt aus uns beiden werden, Anna?«

[] »Ich weiß es nicht«, antwortete sie tonlos, und in ihrem Blick fand er wieder die Angst, die ihn gestern erschreckt hatte. Er ließ sie los und setzte sich auf den Schemel. »Das wird eine Ehe wie im Himmel«, sagte er gutherzig und trommelte auf dem Tische.

Anna stand abgewandt und zog an den Falten ihres Kleides. Nach einer Weile kauerte sie hinter ihm an dem Schemel nieder, und er vernahm ihr Flüstern an seinem Ohr. »Gedenkt an den Garten. Dort stand ich und sah täglich, wie die Rose wuchs. Mit der Zeit wurde sie größer, und als die roten Blätter aus der Hülle brachen, da kamt Ihr zu mir. Und jetzt – « Sie schob ihm mit der Hand die Locke vom Ohr, doch sie schämte sich, zu sprechen, was sie meinte, und barg ihr Antlitz am Schemel. Er aber gewann neues Leben aus ihren Worten und fuhr fröhlich fort: »Und jetzt, Jungfer Anna, da Ihr meint, daß die Rose wieder aufblühen wird, will ich Euch als ein wackerer Knabe auch sagen, was ich denke«, und er sang: »Da das Röslein blühte zum ersten Male, kam ich zu ihr; wenn es wieder blüht zum andern Male, kommt sie zu mir.« Anna saß noch hinter dem Schemel und barg ihre Wange an der Lehne, er aber hielt ihr seine Rechte hin: »Traut mir, liebe Jungfer Anna, hier gelobe ich, ich will Euren Sinn ehren.« Da ergriff sie die Hand ihres Herrn und küßte sie. Darauf setzte sie sich still auf die Bank und faßte die Nähterei aufs neue an. »Darf ich noch ein Drittes sagen, Herr?« fragte sie nach einer Weile.

»Ja«, rief Georg. »Jetzt höre ich Euch vergnügt zu, denn jetzt weiß man doch, wie man daran ist. Also was hat die Frau Fähnrichin zu wünschen?«

»Du liebes Leben, zu wünschen wäre viel. Aber das dritte, was gleich nach dem Herde kommen sollte, ist dieses: Ihr müßt unsere Brautzeugen zu einer kleinen Gasterei oder Kollation auffordern. Vor allen andern jedoch die Frau Hauptmännin. Das muß sein, damit die Ehe bestätigt und ihnen lieb werde.«

»Ihr habt recht«, sagte Georg, »aber worauf einladen? Küche und Keller sind nicht vorhanden, und wären sie zur Hand, so würden sie leer sein.«

»Sagt ihnen nur in Eurer lustigen Weise, daß Ihr sie einladen wollt und daß Ihr auch etwas daranzuwenden habt, so werden sie Euch schon allerlei Gutes nachweisen; denn bei solcher Gelegenheit werden die Leute erfinderisch.«

Als Georg dem Hauptmann den Morgengruß bot, rief ihm dieser entgegen: »Der Forderung des Ordenspflegers bin ich zuvorgekommen, ich habe in der Frühe zwei von den Alten als Botschaft zu ihm gesandt, damit er wisse, daß unser Fähnlein Euch aufgenommen hat und daß die Jungfrau unter der Fahne Euer Eheweib geworden sei.«

»Wie wird der Arge das ertragen?« fragte der Fähnrich finster.

[] »Er wird gute Miene machen und seinen Grimm still bewahren«, antwortete der Hauptmann; »denn Eure Rede über den Hochmeister hat das Junkervolk in Verwirrung gebracht, und ich denke, sie brauchen uns nötiger, als wir sie.«

In dieser Weise wurden die jungen Gatten wenigstens für die nächste Zeit einer Gefahr enthoben.

Auch der kluge Rat, welchen Anna erteilt hatte, erwies sich als heilsam. Der Hauptmann und seine Frau ließen sich nicht nehmen, die neuen Würdenträger bei ihrem ersten Besuche in der Stadt zu geleiten, und diese Einführung war nicht unnütz, denn die Neulinge wurden mit großen Augen betrachtet; und wenn Anna auch bemerkte, daß Georg den Männern und Weibern ganz wohl gefiel und in seiner sorglosen Keckheit überall gut Bescheid zu geben wußte, so war das doch bei ihr selbst weniger der Fall; ihr zog sich das Herz zusammen vor der Roheit und Unsitte, welche sich so dreist auf den Straßen darbot, und sie vernahm zuweilen hinter sich freche Nachrede von wüsten Gesellen und Dirnen. Zu besonderem Kummer gereichte ihr, als sie ein Kleid aus ihrem eigenen Reisebündel auf fremdem Leibe über die Gasse laufen sah, und sie fühlte sich bitterlich gedemütigt, wenn die Hauptmännin aufforderte, vor der Dirne eines einflußreichen Doppelsöldners stehenzubleiben und mit dieser freundlichen Gruß zu tauschen. »Die armen Dinger sind nicht wie wir«, erklärte die gebietende Frau, »aber sie haben ein mühsames Leben, und manche von ihnen hätte ein besseres Schicksal verdient.« Dennoch schaffte der Gang den ersehnten Herd; denn in einem Winkel der Stadt fand sich im leeren Hause zwischen einem großen Hauf Scherben ein alter Töpfer, dessen Lebensmut zerbrochen war wie seine Ware. Als dieser später mit Anna im Turm eine vertrauliche Unterredung gehabt hatte, erklärte er sich zu jeder Leistung bereit, und es machte sich, daß er an einem dunklen Abend sogar das nötigste Kochgeschirr aus der Tiefe seines Scherbenhaufens auf den neuen Herd lieferte. Auch der Kriegszug gegen die Mäuse wurde durch einige braune, fingergewandte Buben auf der Stelle mit gutem Erfolge eröffnet. Vollends die Einladung zu einer Kollation fand bei allen Würdenträgern des Fähnleins günstige Aufnahme. Wuz, der Lokumtenens, schenkte als Angebinde in die junge Wirtschaft Tische und Stühle, die er, wie sich später ergab, einer Kammer des Rathauses entführte, und der Hauptmann erbot sich, ein Fäßlein guten Weines gegen gutes Geld zu beschaffen. Anna hegte den Verdacht, daß er es einem Winkel des Schloßkellers enthob, in welchem der Schatz vor den Luchsaugen der Knechte verborgen lag. Auch die Hauptmännin versprach der Jungen Frau jede Hilfe in der Küche; und als Anna sich eines Nachmittags aus der Schloßpforte ins Freie wagte, sah sie Buben der Bande mit einem Korb Hühner vom Lande her dem Schlosse zuziehen, und [] als sie die Knaben ausfragte, ergab sich, daß diese auf Befehl einen Beutezug in den Dörfern der Umgegend unternommen hatten. Da geriet für einige Stunden das ganze Fest in Gefahr, zu scheitern, denn Anna kränkte sich so tief über den unredlichen Erwerb der Mahlzeit, daß Georg ins Mittel treten und die wohlgemeinte Gabe ablehnen mußte, weil jedes Hochzeitsmahl Unglück verheiße, wenn es nicht um Geld erworben sei. Trotz dieser Störung verlief die Kollation besser, als Anna gehofft hatte, die Hauptmännin erschien in einem prächtigen Gewande mit Federn auf dem Hute, und die Landsknechte saßen, ihrer Würde froh, mit steifer Förmlichkeit am Tische, bis der Wein ihnen die Zunge löste. Aber obwohl sie weniger laut wurden als sonst und Flüche und rohe Reden nach Möglichkeit vermieden, weil sie sich durch die vornehme Haltung der beiden Wirte beengt fühlten, so waren sie doch eben darum sehr erbaut von den neuen Bekannten, und Wuz, ein alter Knabe, der in Stürmen und Streiten fast ein halbes Jahrhundert ausgehalten hatte, wollte beim Abschiede Annas Hand gar nicht loslassen und versicherte ein Mal über das andere, daß sie niemandem ähnlicher sehe als seiner Mutter. Der Hauptmann aber, stolz auf seine neuen Zugehörigen, erbot sich gegen Anna, Erkundigungen nach ihrem Vater einzuziehen, weil er am nächsten Tage das Lager des polnischen Haufens besuchen mußte, um mit Hauptmann Heinzelmann Streitigkeiten auszugleichen wegen der Grenzen, in denen das Fähnlein beuten durfte. Und als Anna ihn bat, ein Brieflein an ihren Vater mitzunehmen und sich wegen des Lösegeldes zu erkundigen, versprach er auch dies.

Am andern Tage legte Georg, der das Heiligtum des Haufens, die Fahne, nicht auf längere Zeit verlassen durfte, dem Hauptmann zwei Briefe an das Herz. Der eine war an Herzog Albrecht, worin er den Herrn um Schutz bat, auch einige vorsichtige Andeutungen über die abenteuerliche Lage des Fähnleins beifügte; der zweite aber war an seinen Vater. In diesem berichtete er sein Schicksal und wie er dazu gekommen sei, Anna zu seiner Frau zu machen, er entschuldigte den schnellen Entschluß, flehte um den Segen für die Ehe und daß der Vater von ihm in seiner bedrängten Lage nicht die Hand abziehen möge. Er bat den Landsknecht beim Abschiede dringend, die Briefe in der Stadt, welche die Polen besetzt hielten, an einen Kaufmann abzugeben, den er von der Handlung her als zuverlässigen Mann kannte. Der Hauptmann betrachtete die Briefe mit schlauer Miene, indem er das Beste versprach, und Georg sah dem Abreitenden vom Tore noch lange traurig nach. Denn erst jetzt, wo er seine Lage dem Vater berichten mußte, fiel ihm die Not in der Fremde schwer auf das Herz, und er wurde sehr unsicher, wie sein Vater die unwillkommene Kunde aufnehmen werde. Diese Sorge hätte er sich ersparen können; denn als Hans eine Wegstrecke [] geritten war, nahm er die drei Briefe der Fähnrichfamilie hervor und besah sie, da er des Lesens unkundig war, argwöhnisch aufs neue von der Außenseite. Endlich beschloß er, so redlich zu sein als irgend möglich, und wenigstens der Frau seinen ritterlichen Dienst nicht zu versagen. Die Briefe des Fähnrichs aber behielt er in der Hand, bis er in einem alten, einsamen Birnbaum hoch über dem Boden ein Loch entdeckte. Dort verbarg er sie, weil ihm unschicklich schien, die mühsame Arbeit eines guten Gesellen zu vernichten und weil er doch von Besorgung der Briefe Unheil für sich und das Fähnlein erwartete. Denn seine Hauptmannschaft und der gegenwärtige Zustand waren ihm gerade recht, und er fürchtete, durch das Papier die Fahne und den Fähnrich, auf den er bereits große Stücke hielt, in irgendeiner Weise zu verlieren.

In dem wilden Baume verfielen die Briefe, welche das Schicksal Georgs und Annas zum Bessern wenden sollten, dem kleinen Troß der braunen Heide; die Spinnen und Käfer krochen neugierig hinein, die Fledermaus nagte daran, und zuletzt kam das Eichhorn und benutzte sie bei seinem Wochenbett.

Als Hans zurückkehrte, begrüßte er im Turme die Frau Fähnrich, welche am Herde kochte; er setzte sich nieder und sah sie mit seinem schlausten Blick an, während sie mit gefalteten Händen und unsäglicher Angst vor ihm stand. »Könnt Ihr mir etwas Gutes erweisen, so tut es«, begann er, auf den Topf zeigend, »denn auch ich bringe gute Nachricht: Ein kleiner alter Herr mit scharfen Augen und heller Stimme, ist er das?«

»Mein Vater«, rief Anna.

»Seinem Zeichen nach ein Koch mit einer langen Fleischerschürze, welcher Arme Ritter buk«, fuhr Hans prüfend fort.

»Das ist der Vater nicht«, seufzte Anna.

»Mit seinem Namen heißt er Magister Fabricius«, schloß Hans siegreich.

Die Tochter umklammerte mit beiden Händen die große Faust des Landsknechts. »Aber der Vater in der Küche«, klagte sie.

»Er ist Koch, weil er zu den Waffen nicht tauglich ist, was konnte ihm Besseres begegnen? Ein kleiner behender Kerl, er ist ganz munter in seiner Art, und sie behandeln ihn gut. Ihr sagt ganz richtig, daß er schwach in der Küche ist, aber dafür versteht er zu lesen, besser als ein Ratsschreiber. Er ist bei ihnen Koch, Schreiber und Leser.« Hans schüttelte den Kopf und lachte. »Ich habe dort neuen Brauch erlebt, der seither unter den freien Knechten unerhört war: die Alten sitzen abends bei Lichte im Haufen, er in der Mitte, und er liest vor ihnen, so daß sie alle zuhören und zuweilen sogar ihr Karnöffelspiel vergessen. Auch mich haben sie aufgefordert, anzuhören, und um Euretwillen fügte ich mich in die Sitte und vernahm, wie Euer Vater von einem Bettelmönche las, welcher für [] sein Kloster sammeln wollte und zu einem Bauer kam. Der Bauer nahm ihn auch auf, gab ihm aber keine Eier und keinen Käse, sondern setzte ihm scharf zu mit subtilen Worten, indem er ihm die Nichtswürdigkeit seines Lebens und der ganzen Pfaffenwirtschaft vorhielt, so daß der Kopf des Mönches dick und rot wurde. Was der Bauer nach den Reden Eures Vaters über die Pfaffen zu klagen wußte, ist gar nicht wiederzusagen. Aber es ist alles wahr, und die Gesellen dort drüben hatten dieselbe Meinung.« Und leiser fügte er hinzu: »Zuletzt fing Euer Vater auch noch an, aus eigenem Kopfe zu reden, und ermahnte meine Kameraden mit hohen Worten, daß sie sich allerlei Unzucht abgewöhnen möchten. Manche lachten, andere hörten ihm zu, weil man merkte, daß er's ehrlich meinte. Ich denke, es wird nicht viel nützen, denn es sind Teufelskrabben unter ihnen, welche die andern anstiften. Doch muß ich sagen, Euer Alter gefiel mir nicht übel, und ich fragte die Knechte, welches Lösegeld sie von ihm hofften. Aber sie waren ganz eingebildet auf seine Leserei und wollten ihn ungern missen. Nur ein Schreiben habe ich mitgebracht, das er mir heimlich bei meinem Abgang zusteckte.« Er zog ein zusammengelegtes Papier heraus und legte seine Hände darauf. Anna faßte wieder flehend die Hand. »Haltet an, Weiblein«, sagte der Landsknecht, »so schnell geht das nicht, es könnte etwas darin stehen, was unserer Bruderschaft schädlich wäre. Denn wenn die drüben auch im ganzen sich gewissenhaft halten, es sind doch Feinde, und ich weiß nicht, wie ich Euch Macht über den Brief geben soll. Kommt herbei, Jörge, ich will Eurem Schwur trauen, wenn Ihr mit hineinseht und mich versichert, daß sie jedes Wort so vorträgt, wie es geschrieben steht.«

»Wenn Anna das will«, versetzte Georg.

»Tretet heran«, rief Anna hastig und öffnete den Brief. ›Liebe Tochter, meinen besten Gruß zuvor. In der Hoffnung, daß Herr Hans Landsknecht dies Brieflein an dich abgeben wird, schreibe ich Dir mit der nötigen Vorsicht aus meinem Gefängnis in der Höhle der Zyklopen.‹

»Er meint die schwarze Küche«, erklärte Hans.

›Liebes Kind, was Du mir über Dich und meinen lieben Sohn Regulus schreibst, das erlöst mich von der unablässigen Angst, welche ich bei Tag und Nacht Deinetwegen in mir herumgetragen habe. Freilich bereitet es auch Kummer von anderer Art, doch dieser ist erträglicher und geht zum größten Teil die Zukunft an. Geliebte Kinder, ich sende Euch beiden meinen väterlichen Segen aus gerührtem Herzen, und ich hoffe, was etwa noch an der Form und Ordnung fehlt, wird sich später nachholen lassen, zumal wenn auch mein Sohn Georg bei seiner Freundschaft das Nötige tut. Diesem vertraue ich gänzlich wegen Deines künftigen Glückes. Liebes Kind, um mich sollst Du Dir keinerlei Kummer machen, denn Pan Stibor,[] der hiesige Kastellan, ist nicht ganz ohne lateinische Zucht, und ich darf auf seinen Schutz hoffen, sowohl wegen seiner Wissenschaft als auch, weil er mich beim Lesen und Konzipieren der lateinischen Briefe verwendet. Und obgleich die Polnischen mir nicht zugeben wollen, daß ich widerrechtlich in Haft gehalten werde, weil sie nämlich auf die deutschen Städte und vorab auf die Thorner sehr zornig sind, so merke ich doch, daß sie sich heimlich meinetwegen in ihrem Gewissen bedrückt fühlen, und ich hoffe, sie werden mich zuletzt noch freigeben oder doch wenigstens gegen Gelöbnis der Wiederkehr entlassen, damit ich mich in Danzig nach einem mäßigen Lösegeld umtue. Auch tröstet mich, daß die Leute hier von den Auguren keinerlei gute Meinung hegen. Liebe Tochter, lieber Sohn, ich bitte täglich den allmächtigen Gott, Euch in seinem gnädigen Schutz zu bewahren und bin mit Anwünschung eines besseren Schicksals für uns alle meiner lieben Kinder getreuer Vater M. Fabricius.‹

Anna hielt den Brief lange in der Hand. So harmlos und warmherzig fand sich der Vater in die wilde Vermählung, er ahnte nicht, was ihr die Seele bedrückte! Und sie sagte zärtlich: »Ach, der liebe Vater, er behält auch im Unglück sein gutes Vertrauen zu aller Welt.« Georg aber rief fröhlich: »Gepriesen sei der Herr Vater, und bedankt für jedes Wort, das er im guten von mir schrieb.« Er wandte sich zum Hauptmann, der unterdes am Herde bei seiner Schüssel beschäftigt war. »Hat Euch nicht mißfallen, Hauptmann, daß der Herr Magister dem fremden Haufen vorlas, so vermag die Fähnrichin ebensogut vor Euch zu lesen. Denn ich bewahre ein Büchlein, welches noch besser ist als jenes dort drüben.« Er holte aus seinem Gewande den gefalteten Bogen, welcher dem Magister so leidvoll geworden war. Hans erkannte Sonne und Mond, Ochs und Esel und sagte erfreut: »Es ist richtig, das ist ganz dieselbe Art; aber wie getraut sich die junge Frau damit fertig zu werden?«

»Sie ist gelehrt wie ihr Vater«, erklärte Georg mit unverhohlener Bewunderung, »und sie vermag alles noch viel schöner zu verkünden als er.«

»Steht das so mit ihr«, rief Hans erstaunt, »dann lade auch ich die Ansehnlichen des Haufens, welche um das Schloß hausen, zu einem Faß Bier, und Eure Frau soll vor diesen ihre Kunst erweisen, wenn es ihr selbst genehm ist.«

So machte sich's, daß an einem der nächsten Tage Anna mit dem Büchlein in der Halle des Hauses saß: aus dem hohen Fenster fiel der Lichtstrahl auf ihr Haupt und die bedruckten Blätter. Hinter ihr stand Georg mit der Fahne, um sie herum saßen und kauerten Weiber des Haufens, weiter ab die wilden Gestalten der Männer, viele ihre Trinkgläser neben sich. Vorn auf einem Sessel, der sonst dem Bürgermeister gedient hatte, dehnte sich Hans, sein großes Schlachtschwert zwischen den Beinen.

[] Bevor Anna begann, sprach sie zu Georg: »Sagt ihnen, Herr, was es ist, das sie hören wollen.« Und Georg mußte erklären: »Was die Jungfrau aus dem Buche lesen wird, ist die Botschaft von der Geburt des Herrn, wie sie wahrhaft von seinen Schülern verzeichnet worden ist. Sie ist jetzt ganz neu in unserer Sprache ans Licht gebracht und soll eine Grundlage unseres Glaubens sein, darum ist es gut, daß wir alles vernehmen und wissen.«

Und Anna begann mit ihrer wohltönenden Stimme, langsam und laut, sie selbst in ehrlicher Andacht, so daß mancher narbige Sünder, welcher sie ansah, sich der Frau unter der Fahne freute.

Sie las von der Geburt des Kindes, von den Weisen aus dem Morgenlande und von dem argen König Herodes. Neugierig und mit vorgebeugten Hälsen hörten die verlorenen Kinder zum erstenmal in verständlichen Worten, die ihnen wie ein Lied klangen, den Bericht, von dem sie in der Kinderzeit eine undeutliche Kunde vernommen hatten. Als Anna nachdrücklich aussprach, wie der Herr heißen sollte, nahm Hans feierlich seinen Hut ab, und seine Getreuen folgten dem Beispiel, und als sie nach dem Besuch der Weisen einen Augenblick innehielt, erhob sich zu aller Erstaunen Wuz, der sonst schweigsam das Seine tat, und rief tief begeistert: »Ja, alles war so, wie es hier gelesen wird, denn, liebe Gesellen, ich selbst war auch dabei als einer von den drei Königen. Ich war noch halbwüchsig, und wir trugen an einer Stange den Stern, der sich drehte, wenn man einen Faden zog; einer aber von den dreien muß schwarz gewesen sein, denn ich war der Schwarze. Und auch das übrige, Ochs und Eselein, ist wahrhaft, denn es war viel davon die Rede, wie wir von Haus zu Haus zogen und Eier einsammelten.«

»Die wirklichen Könige aber haben nicht genommen, sondern gebracht«, erklärte Hans, um den Aufgeregten zu beschwichtigen, »und sie haben als Könige auch nicht Eier geboten, sondern, wie sich gebührt, Gold und kostbares Gewürz, womit man den Wein bessert.«

Doch Wuz ließ sich nicht abweisen. »Alles andere aber ist so, wie es im Buche steht, und wie diese drei heiligen Könige aus der Gesellschaft gingen, so grüßten sie höflich und sagten: ›Wir wünschen dem Herrn einen goldenen Tisch, an jeder Ecke einen gebratenen Fisch.‹ Das war damals, als meine Mutter noch lebte«, und er setzte sich schnell wieder hin. Als aber weiterhin König Herodes seine Rache übte und die unschuldigen Kindlein umbringen ließ, ergriff die Unruhe auch die Weiber, sie seufzten, einige hoben die Hände, und man vernahm den Ruf: »Was haben die armen Kinder verschuldet? Der Bösewicht!« Und Hans spuckte verächtlich aus und rief mit mächtiger Stimme: »Dieser König Herodes war zu seiner Zeit ein Mistfink. Ich denke, bei solchem Morde hat sich kein redlicher Landsknecht gebrauchen lassen.«

[] Zuletzt erhob sich Anna und sprach ein kurzes Gebet. Da standen auch die Zuhörer auf, die Männer entblößten die Häupter wie in der Kirche, und alle gingen vergnügt auseinander.

Dem Hauptmann aber war bestimmt, daß er noch weiter für die Erbauung des Fähnleins sorgen sollte, auch wo er selbst ganz andere Unterhaltung beabsichtigte. Wenige Tage nach der Vorlesung zog er mit einem Teil der Bande zu Pferde aus dem Schlosse, ohne seinem Fähnrich vorher eine Mitteilung über den Zweck der Reise zu machen. Denn er dachte wohl an das Versprechen, das er gegeben, die Fahne von Geschäften zweifelhafter Art fernzuhalten. Zu diesen Unternehmungen gehörte der Ausguck an der Weichsel auf vorüberfahrende Kähne und der unregelmäßige Zoll, welcher von diesen erhoben wurde. War auch seit dem Frieden größere Mäßigung nötig geworden und ein Ausrauben der Ladungen nicht mehr ratsam, so hielt doch Hans ebensogut wie die Polen darauf, einen kleinen Anteil als Steuer zu erheben, und er gedachte damit fortzufahren, bis die Klagen der Geschädigten übermächtig würden. Diesmal fand er an dem Ladeplatz nur geringe Beute: ein Fahrzeug, welches mit Ballast stromauf fuhr, und in dem Kahn einen einzelnen Reisenden, den das Unglück in der letzten Zeit hart verfolgt hatte. Es war der kleine Buchführer von Thorn.

Hannus, der sich auf dem Deck sorglos über seine Kiste gebeugt hatte, hob erschrocken das Haupt, ihn umgaben wilde Gestalten mit gezückten Waffen und rote Gesichter mit wütenden Augen beugten sich über seinen Kram. »Wer bist du und was führst du«, rief der Hauptmann, ihn an der Brust packend.

»Ich bin Hannus, der Buchführer von Thorn.«

»Was birgt er in der Tasche?« fragte Hans Stehfest einen Genossen.

»Leer wie eine Kirche«, versetzte Wuz.

»Hebt den Kasten auf und schüttet aus.« Der Deckel krachte, die Bücher kollerten auf die Planken, der Landsknecht störte mit seiner Hellebarde in dem Haufen, daß eine Anzahl Bücher in das Wasser fiel. Hannus sah die Holzbände aus der Flut auftauchen und vermochte einen Schrei nicht zu unterdrücken: »Die Adagia des Herrn Erasmus.«

Dem Landsknecht tat der Schmerzensruf leid, darum entschuldigte er sich, indem er den kleinen Mann anherrschte: »Untersteh dich nicht, zu winseln. Danke den Heiligen – wenn es welche gibt, die um deinesgleichen sorgen –, daß wir dich nicht in das kalte Bad tauchen, wohin deine Ware schwimmt, denn du hast uns betrogen.«

Hannus erhob flehend die Hände.

»Wir haben Besseres von deinem Kasten erwartet, und du hast uns in unnütze Mühe gebracht. Doch halt. Antworte mir, wenn du deine heile Haut liebst, wahrhaft auf eine Frage.« Er stampfte [] mit der Hellebarde vor ihm auf die Planke. »Führst du unter deinen Büchern auch solche, in denen von allerlei die Rede ist, was sie die neue Lehre der Wittenberger nennen, von Mönchen mit Eiern und von dem König Herodes und dergleichen?«

Hannus sah furchtsam auf den wilden Mann, er wußte nicht, ob die Wahrheit ihm zum Heil oder Verderben sein würde. »Wir führen Altes und Neues«, sagte er endlich demütig.

»So zeige mir das Neue.« Der Buchführer kauerte nieder und bot einige Büchlein dar.

»Narr«, schalt der Landsknecht, »würde ich dich fragen, wenn ich's selbst lesen wollte? Was ist dieses? Hier erkenne ich einen Mönch mit einem Katzenkopf und einen Bauer.« Er wies es seinen Gefährten. »So ungefähr sah das aus, was die drüben in der Küche bewahrten. Und liest denen dort der Magister Fabricius, so soll uns dieses seine Tochter lesen.«

Hannus horchte hoch auf, aber er fürchtete sich zu fragen, und in der Zerstreuung nahm er ein größeres und hielt es dem Hauptmann hin.

»Dies ist dicker und größer als das, welches die drüben haben«, entschied der Landsknecht zufrieden. »Um dieses Buch pfände ich dich, deine andere Ware magst du behalten.« Er wandte sich zum Abgange.

Hannus faßte ein Herz und rief dem Landsknecht nach: »Nehmt eine Frage nicht für ungut: Ihr spracht von einer Tochter des Magisters, welche bei Euch weilt; heißt sie mit Namen Anna, welche ehedem in Thorn war?«

»Wohl möglich, daß es dieselbe ist«, versetzte der Hauptmann.

»Das arme Kind«, seufzte Hannus.

»Ihr braucht nicht groß um sie zu klagen«, sagte der Landsknecht zornig, »sie hat es so gut wie das beste unserer Weiber. Der Fähnrich Görge selber sorgt für sie.«

»Barmherziger Gott«, klagte Hannus wieder. »Wollt Ihr mir noch sagen, wo der Vater ist?«

»Den halten die Polen dort hinten gefangen, bis er Lösegeld zahlt.« Hans Stehfest hielt bei der Leiter an: »Sieh zu, Wuz, ob die Luft rein ist.«

»Nichts zu sehen und zu hören«, antwortete der Genosse.

»Man hat Beispiele«, fuhr der Hauptmann fort, »daß es Unglück bringt, fromme Bücher ohne Entgelt zu gewinnen. Matz Rotkopf, der einem Pfaffen sein Brevier abgenommen hatte, plumpte in der nächsten Nacht vom Fußwege in den Sumpf, und als ich acht Tage darauf des Weges kam, sah ich verwundert ein Büschel rotes Gras im Moder, bis ich erkannte, daß es sein Haarschopf war, die arme Seele aber war irgendwohin gefahren.« Er griff in seine Tasche und brachte mit Mühe kleine Silbermünzen ans Tageslicht.

[] »Merkt auf, Männlein, wir wollen als redliche Knechte Euch Gelegenheit geben, Geld zu verdienen.« Er warf das Buch auf die umgestürzte Kiste. »Kommt heran, Ihr setzt das Buch, ich setze dagegen mein Silber, und wir würfeln darum.«

Hannus vernahm erschrocken die neue Zumutung. »Und sie würfelten um seine Kleider«, murmelte er, »behaltet das Buch lieber so.«

»Ich will aber nicht«, rief der Landsknecht und stampfte mit der Hellebarde auf. »Hat einer von euch Würfel? Nicht deine Schelmbeine, Wenzel, er soll ehrliches Spiel haben.« Er legte die Würfel, welche ihm Wuz reichte, auf die Kiste. »Frisch, Kleiner, und sperrt Euch nicht, wir haben keine Zeit.«

Hannus warf mit zitternder Hand.

»Daus und vier ist wenig«, sprach der Hauptmann, die Würfel in seiner großen Hand schüttelnd. Er schwenkte sie auf das Holz. »Fünf und sechs, Ihr habt verloren, Geld und Buch sind mein. Alles ist mit rechten Dingen zugegangen, und ich hoffe, Ihr seid jetzt zufrieden. Denn selbst der Kaiser darf sich nicht beklagen, wenn die Würfel gegen ihn fallen.« Und auf die schwimmenden Blätter weisend, schloß er gnädig: »Fische auf, Wuz, was du erreichen kannst, damit das Männlein durch uns in nichts zu Schaden kommt.«

Hannus empfing dankend einige triefende Bücher. »Er ist ganz vergnügt«, sagte der Landsknecht zu seinen Begleitern. »Fahrt wohl, Thorner, und sagt Euren Stadtleuten, wir hoffen bald einmal an sie zu kommen, und sie sollen ungünstige Gäste in uns finden, wenn sie in ihren Kisten nichts Besseres bewahren, als Ihr mit Euch führt.«

Als die Rücken der Knechte hinter dem hohen Uferrand verschwunden waren und die Schiffer schreiend und fluchend den Kahn wieder in Bewegung setzten, verließ Hannus seinen Kram, schlüpfte unter das Bretterdeck und fühlte in der Dämmerung nach dem Ritz, in welchem er einen schmalen Geldbeutel verborgen hatte.

Aber auch, da er beruhigt wieder auf das Deck kam, den Mönch mit dem Katzenkopf in die Kiste packte und die durchnäßten Bücher zum Trocknen ausbreitete, war er nicht mit ganzer Seele bei dem Werk, er seufzte, schüttelte den Kopf und suchte einen Ausblick auf das Land zu gewinnen, als vermöchte er den Magister und sein Kind an dem schwarzen Waldsaum zu entdecken, welcher auf beiden Seiten des Stromes die Ebene begrenzte.

Als der Hauptmann heimgekehrt war, fand er Anna auf der Außenseite des Schlosses hinter einem Strauch wilder Rosen, der wegen seiner krummen Stacheln dem Schicksal entgangen war, an den Kochtöpfen der Landsknechte verbrannt zu werden. Sie war von den Kindern des Trosses umringt, der Garde, welche sie sich zum Schutz in dem wilden Lager abgerichtet hatte. Wie Kletten hingen ihr die Kleinen den ganzen Tag an; auch jetzt lagerte der [] Haufe, blauäugig, rotbäckig, mit brauner Haut und hellen Haaren, um sie herum, die jüngsten spielten vor ihren Füßen im Sande und verfertigten unermüdlich kleine Backöfen, während ihre Väter die großen einschlugen; einige ältere Mädchen saßen dicht bei ihr, eifrig mit der Nadel beschäftigt. Denn diese Kunst wurde nächst der des Kochlöffels von Männern und Frauen des Haufens am meisten geehrt, weil in dem scharfen und stachlichen Treiben Wämser und Röcklein unablässig zerrissen. Sie aber schalt gerade den Purzel, einen kleinen Bösewicht, welcher einen andern noch kleineren Strolch von hinten beim Hemd gepackt und zerhämmert hatte. Hans winkte ihr, sitzenzubleiben, und legte feierlich das erbeutete Buch in ihren Schoß. »Ihr mögt es ruhig behalten«, sagte er, über das ganze Gesicht lachend, »es ist um seiner Heiligkeit willen ganz redlich gewonnen.«

Anna sah auf den Titel: »Eine schöne, nützliche Erklärung der zehn Gebote.« Da erhob sie sich schnell: »Und Ihr seid es, Herr, der dies Buch in meine Hände legt? Ach, Ihr wißt nicht, Hauptmann, wie groß die Freude ist, dir Ihr mir bereitet. Dies ist ein sehr heilsames Buch, und es ist von dem großen Doktor in Wittenberg selbst geschrieben.«

»Wenn diese neue Geschichte von dem starken Mann zu Wittenberg ist, so mag sie dem Haufen wohl frommen«, nickte Hans, erfreut durch ihre Dankbarkeit. »Und ich denke, Ihr sollt es vorlesen. Denn aus dieser Stadt ist der Pfaffe entwichen und die Knechte leben gottlos dahin. Ihr könnt statt des Pfaffen meine Knaben ein wenig an die Hölle mahnen, vielleicht gehorchen sie dann um so williger.«

In dieser Weise geschah es, daß Anna denen, welche zuhören wollten, aufs neue an einem Sonntagmorgen in dem Saale vorlas. Sie selbst kannte das Buch aus dem lateinischen Text, den der Vater ihr gelesen hatte, sie wählte mit Klugheit aus, was ihren Zuhörern verständlich und am nötigsten war, und wagte auch, fromme Bitten hinzuzufügen. Es wurde ein seltsamer Gottesdienst, denn die Bierkrüglein fehlten nicht, und die Andacht der Gemeinde ließ zu wünschen übrig. Aber der ernste Inhalt, welchem auch die Rohen eine widerwillige Achtung nicht versagten, gewann ihr doch die Aufmerksamkeit, und mehr noch als der Inhalt ihr eigenes Wesen; denn gehoben und glücklich über ihr frommes Amt, saß die Jungfrau dem Haufen gegenüber, und die klangvolle Stimme, welche aus bewegter Brust in die Seelen drang, übte auf solche, welche hoher Lehre ungewohnt waren, einen Zauber, dem sie sich im Augenblicke nicht entziehen konnten.

Aber leider! Auf die Länge vermochte Annas Begeisterung ihre Hörer nicht bei der neuen Lehre festzuhalten. Vom Anfang war ein Teil der Knechte aufsässig gegen das Pfaffenwerk gewesen; Peter [] Meffert fluchte auf seinem Lager über den Unsinn, welcher den Brüdern das Mark aus ihren Knochen ziehe, und seine Lagergenossin Jutta höhnte Anna hinter ihrem Rücken als alberne Pfarrköchin, auch Bruder Veit erwies geringe Andacht, er blieb in kurzem aus der Versammlung weg, setzte sich am Sonntagmorgen mit seinem Trinkkrug und gespreizten Beinen in die Schloßtür und verlockte junge Gesellen, mit ihm ein Schelmlied zu singen, welches die Aufmerksamkeit der Hörer in dem Saale bedenklich störte. Sogar Hans wurde zweifelhaft und mit ihm die alten Doppelsöldner, denn die Lehren des Buches gefährdeten die Einigkeit in der Bruderschaft. Einige nahmen sich zu Herzen, daß ihnen geboten wurde, sie sollten nicht fremdes Gut begehren; der stille Wuz geriet in einen schweren Handel, weil er einem Bruder sein gotteslästerliches Fluchen verwies, und es ereignete sich, daß eine Rotte, welche auf Beute in das Land geschickt war, beim Wegtreiben des Viehes uneinig wurde, weil die Mehrzahl den flehenden Dorfweibern eine Milchkuh zurückließ, so daß Veit in hellem Zorne die Kuh vor ihren Augen erstach. Deshalb erhob eines Abends im Rat der Vornehmen Benz Streitenberg, den alle mit Achtung hörten, ein schweres Bedenken. »Es ist ein neues Abenteuer unter uns gekommen, welches man das Lesen der Büchlein nennt, und es hat sich in der Bruderschaft deshalb allerlei Zwist erhoben. Es gibt mehr Rauferei als sonst, und wir haben Mühe, die Zornigen zu vertragen. Nicht wenige fangen an, um jenes Leben zu sorgen, und verlieren die Freudigkeit für diesen Stand. Ich sage nichts gegen das Weib, welches als Lesemeisterin bestellt ist, obgleich man von dieser Ordnung unter uns niemalen und nirgend gehört hat, und ich sage auch nichts gegen die neue Verkündigung, welche für solche, die an ihrem Samtwams einen runden Geldbeutel tragen, ganz heilsam sein mag. Aber ich halte für schädlich, wenn die Knechte mehr um die Gnade sorgen, als wie sie sich und dem Troß den leeren Magen füllen.«

Sogleich fielen ihm mehrere mit lautem Rufe bei, und ein andrer Landfahrer sprach: »Auch ich meine, daß Unfug aus dem Neuen kommt, denn seither, wenn jemand zuviel auf sein Gewissen geladen hatte, wandte er einiges Geld an die Pfaffen oder kaufte einen Zettel und ging rein gewaschen von dannen; jetzt soll er jammern und die Hände aufheben, welches einem Kriegsmann übel ansteht, und er soll auch vieles meiden, was er gern tut. Es wird uns gelesen von zehn Geboten, die wir halten sollen, wir aber vermögen kaum eins zu beachten, und darum meine ich, daß der neue Glaube für uns ganz verwerflich ist.«

Hans saß verlegen bei solchem Angriff, dessen Wahrheit ihm selber einleuchtete, und er versuchte die neue Einrichtung zu entschuldigen.

[] »Bedenkt auch dies, liebe Brüder und Gesellen, es ist keinem von uns zu verargen, wenn er zuweilen daran denkt, wohin seine Seele dereinst fahren wird. Darum meine ich, daß wir dem Gewissen eines jeden freistellen müssen, wie er sich seine Zukunft herrichten will.«

Und Wuz fiel ihm eifrig bei: »Man sagt freilich, daß einmal ein dummer Dorfteufel vor dreien aus unserer Bruderschaft erschrocken ist, als er unter der Ofenhölle auf sie lauerte, sie aber hatten einen schwarzen Hahn gebeutet und hinter den Ofen gehängt, und als sie untereinander sprachen, wir wollen den Schwarzen hinter dem Ofen schlachten, meinte der Teufel, daß ihn die Rede anginge, stieß eine Ofenkachel ein, entwich und warnte seine Kumpane, keinen von uns aufzunehmen. Aber obgleich es seitdem eine Rede ist, daß kein Landsknecht in die Hölle kommt, weil die Teufel mit uns durchaus nicht auszukommen wissen, so ist solche Verkündigung doch unsicher und nicht für jeden tröstlich, zumal uns auch berichtet ist, daß St. Peter die Landsknechte gleichfalls nicht leiden mag und ebenso vom Himmelstore zurückweist. Wohin soll einer fahren, wenn ihm alle Unterkunft versagt wird? Und ich fürchte, wir haben keine Bürgschaft dafür, daß uns das Höllenfeuer erspart bleibt. Darum bitte ich euch herzlich, verachtet nicht die Worte des Mannes, welcher in die Welt gesetzt ist, um uns das Himmelstor aufzuschließen, verlaßt euch auch nicht auf die Pfaffen und Bettelmönche der alten Lehre. Von diesen kann uns niemals Hilfe kommen, nur von uns selber, wenn wir, wie in dem Buche verkündet wird, uns redlich um die Gnade bemühen.«

»Was der Bruder sagt«, begann der alte Benz wieder, »hat guten Grund, und ich werde niemals raten, daß wir Mönche und Pfaffen unter uns leiden, darum aber brauchen wir auch das Lesen der Büchlein nicht zu vertragen; und ich mahne unsern Hauptmann, daß er die neue Sitte abstelle.«

Dieser Rat gefiel der Mehrzahl, und mit Betrübnis vernahm Anna die Entscheidung.

Aber dieser Kummer ging unter in einem größeren. Wochen verliefen, und um das verwünschte Schloß, in welchem die Liebenden zwischen den Stangen ungefüger Riesen hausen mußten, tobte der Kampf des Winters und des Frühlings. Unterdes war das öde Turmgelaß durch Annas Kunst in eine leidliche Wohnung gewandelt; wenn der Nordwind an die Mauern schlug und ein kalter Regen herniederrauschte, verbreitete das Herdfeuer behagliche Wärme und malte die Wände mit rötlichem Licht. Auch Georg hatte gefunden, was er lange gesucht, einer von den Knechten hatte ihm eine alte Laute überlassen; sooft er neben Anna am Herde seine Lieder sang, glänzte sein Auge wieder fröhlich wie ehedem, und der rosige Schein des Glückes färbte seine Wangen. Deshalb ermunterte [] sie ihn fleißig, seine Kunst zu üben, aber ihr selbst wurde schwer, in den Gesang einzustimmen, und nur wenn er sehr bat, entschloß sie sich dazu. Dann brachte nach einer Weile auch sie das neue Buch hervor und begann zu lesen. Georg legte still die Laute weg und hörte zu, er sah mit Bewunderung und heimlicher Sehnsucht in die edlen Züge ihres Angesichts und wohl auch auf den runden Arm, welchen sie beim Umwenden der Blätter regte. Wenn sie aber aufsah und ausrief: »Das sind große Worte und eine edle Verkündigung«, dann nickte er zwar seine Zustimmung, aber er bat, versunken in ihren Anblick: »Liebe Jungfer, legt Euer schönes Haar vorn über die Schultern, daß es Euch an den Wangen herunterläuft, denn so steht es der Frau Fähnrich am besten.« Dabei sah er sie wieder mit den heißen Augen an, die sie fürchtete. Sie konnte ja nicht böse darüber sein, daß sie ihm gefiel, aber sie merkte, daß er lieber an die Kreatur dachte als an den Schöpfer, und das wurde ihr ängstlich. Auch sagte er ihr das einmal geradezu, als sie mit ihm aus der Schloßpforte ins Freie trat, um den jungen Frühling zu begrüßen. Nach einem warmen Regen bereitete sich über der Heide eine grüne Samtdecke, kleine Schmetterlinge waren aus den Gehäusen geschlüpft, die Frösche begannen ihre Chorgesänge, und die Krähen flogen aus der Stadt zum Kiefernwalde. In einer Senkung des Bodens lag ein Weiher, welcher von Buschwerk und lichtem Gehölz eingefaßt war; dort hüpften und sangen die Vögel hinter dem dünnen Flor der jungen Blätter. »Sie sind da«, sagte Georg herzlich, »seid tausendmal gegrüßt.« Der Kuckuck rief. »Es ist der erste Ruf«, er fühlte in die Tasche. »Im Beutel ist etwas Geld, wenn auch wenig. Kuckuck von Heven, wie lange soll Jungfer Anna leben?« Da antwortete der stolze Vogel nur einmal und nicht wieder, und Georg sah erschrocken auf die Geliebte; als aber Anna für Georg dieselbe Frage tat, da geriet der Kuckuck in Eifer und wollte mit seinem Ruf kein Ende finden, und Anna lachte ihren Hausherrn an. Georg aber sagte ärgerlich: »Der Gauch ist ein unholder Vogel, und ich habe ihn nie gemocht, denn er sitzt unter den andern wie ein Pfaffe und weiß nichts zu schreien als: Tu Buß; viel lieber höre ich auf die Nachtigall, denn sie singt unablässig: Lustig, ihr lieben Leut', ach, wie ist es schön in dieser Welt.« Da merkte Anna, wie Georg im stillen dachte, und senkte das Haupt.

Ihr war es nicht zu verdenken, wenn sie sich in der unsicheren Wildnis, unter den rohen Leuten, fest an die Lehren des Buches hielt, welches jetzt ihr einziger Halt und Trost war. Täglich las sie in der Einsamkeit und grübelte darüber; dabei fiel ihr vieles ein, was sie in alter Zeit versehen hatte, sie wurde strenger in ihrem Urteil gegen sich selbst, und betrübte sich immer mehr über die Sünde, die sie an andern sah. Oft erwog sie kummervoll ihr Bündnis, [] dem noch der Segen des Priesters fehlte. Auch mit Georg war sie zuweilen unzufrieden. Sie fand ganz recht, daß er sich seines neuen Amtes kräftig annahm. Aber wie einem Fähnrich gebührte, lebte er auch sorglos mit seinen Genossen, und ihr tat weh, wenn sie aus dem Turmzimmer sein lautes Lachen im Hofe hörte und daß er mit den Ungeschlachten in derben Scherzworten verkehrte. Vollends am Abend, wo die Anführer im Trinkgelage zusammensaßen, fehlte Georg ungern. Er wußte wohl, weshalb er nicht mit Anna allein zu Hause blieb. Sie aber hörte von ihrem einsamen Sitz den Lärm der Zecher, sie unterschied zuweilen in dem Gesang der vollen Brüder die Stimme ihres Herrn, und lauschte ängstlich auf seinen schweren Tritt, wenn er spät nach Hause kam. Als er einst am Morgen mit schmerzendem Haupte am Herde saß und sie ihm zu sagen wagte: »Schont Euch, lieber Junker, mir tut es bitterlich leid, wenn Ihr Euch mit den andern gemein macht«, da vernahm sie die Gegenrede: »Ihr selbst wollt es nicht anders, Jungfer Anna«, daß ihr die Tränen aus den Augen brachen und sie still hinausging.

So legte sich ganz allmählich graue Asche über die Glut einer Leidenschaft, welcher die helle Flamme versagt war. Georg betrat seinem Versprechen getreu niemals den Oberstock des Turmes, und die Leiter wurde am Abend immer zeitiger heraufgezogen. Auch bei Tage, wenn beide einmal draußen vom Schloßwall auf die grünende Landschaft schauten, saßen sie voneinander getrennt, sie hier, er dort; so daß sogar Wuz, welcher vorbeiging, erkannte, daß etwas nicht richtig war und zu Georg sagte: »Warum sitzt die Fähnrichin allein? Wenn zwei zusammengehören, so gehören sie zusammen.« Diesem Rat, welcher viel mehr Weisheit enthielt, als Wuz ahnte, stimmte Georg trübe zu. Doch er blieb sitzen, und Anna kam nicht zu ihm.

Beide wußten nicht, wie sie miteinander daran waren. Georg fühlte ein unablässiges Weh, weil er sah, daß Annas Augen die Spuren geheimer Tränen zeigten, und er dachte: sie wird täglich unglücklicher in dem wilden Leben, und das Opfer, welches ihr zugemutet wird, hier mit mir auszuhalten, ist für ihr feines und sauberes Wesen zu groß. Aber er kannte nicht ihr ganzes Leiden. Ach, Georg wurde ihr immer lieber. Er kam ihr schöner vor als je, und immer wieder flogen ihre Gedanken den Augenblicken zu, wo er sie an seinem Herzen gehalten und wo sie seine Küsse gefühlt. Wenn sie des Abends allein saß, dann löste sie, was sie in seiner Gegenwart zu tun verweigerte, ihre braunen Flechten und legte sie an die Wange, weil ihm das so gefiel. Oft dachte sie, daß er einst in der Schule ganz außer sich gewesen war, als die Ratsbotin ihr im Scherz einen Blumenkranz in das Haar gesetzt hatte, und gar zu gern hätte sie wieder seine Worte gehört: »Wie steht Euch das [] gut, liebe Jungfer Anna.« Da sie allein nach dem Teiche ging, pflückte sie den Schoß voll Blumen und wand hastig für sich einen Kranz; aber als er fertig war, fehlte ihr der Mut, ihn aufzusetzen. Sie trug ihn zu der Stelle, an der Georg gestanden hatte, als der Kuckuck zum erstenmal rief, und legte ihn dort auf den Grund, wie vor seine Füße.

An einem Morgen trat sie in die Turmtür und sah dem Hauptmann zu, welcher unter die Knechte Brotkorn verteilte; da verkündete der Ruf vom Tore die Ankunft fremder Ritter. Als weiße Ordensmäntel in den Schloßhof sprengten, flüchtete sie erschrocken in ihr Gemach und spähte durch die Fensteröffnung nach den widerwärtigen Gästen. Sie erkannte den Pfleger und neben diesem einen kleinen Mann in bürgerlicher Tracht, und sah erstaunt, daß Georg dem Kleinen vom Pferde half und um den Hals fiel. Der Pfleger, welcher seit jenem Angsttage das Lager des Fähnleins gemieden hatte, wandte sich sogleich zu Georg und begann mit umwölkter Miene, der man den Zwang wohl ansah: »Habe ich Euch bei der ersten Begegnung rauhen Willkommen geboten, Fähnrich, so bringe ich Euch dafür heut einen Gruß Seiner fürstlichen Gnaden und diesen Boten aus Eurer Heimat.« Und Bernd Gusek, der Gehilfe des Vaters, schüttelte Georgs Hand und schalt ernsthaft: »Ihr habt uns mehr Kummer gemacht, als Ihr verantworten könnt.« Georg führte den treuen Mann zur Seite: »Was hat der Vater auf meinen Brief gesagt?«

»Einen Brief hat er niemals erhalten. Zuerst kam Botschaft von dem Elbinger Schiffer, daß sein Schiff geplündert sei und Ihr mit andern Reisenden weggeführt, und Euer Vater ängstigte sich, weil er Euch von den Helfern des Pietrowski aufgefangen glaubte. Dieser liegt noch mit einem Loch im Kopfe bei den Mönchen. Dann brachte der Buchführer Hannus ein Gerücht nach der Stadt, und so trostlos war die Kunde, daß Euer Vater in Zorn und Kummer mich aussandte, Euch aufzusuchen. Bevor ich zu Euch drang, mußte ich nach Königsberg zum Hochmeister, denn in Eurer Nähe fand ich üblen Willen, und ich wollte aus gutem Grunde nicht ohne Geleit unter dies ungeschickte Volk kommen.«

»Erzählt mir vom Vater«, bat Georg.

»Er ist finsterer und stiller, als er war, aber er trägt sich mit großen Gedanken. Euer Lachen täte dem Hause gut. Ich denke, wir müssen Euch nach Thorn zurückbringen, im guten oder bösen.« Er lächelte geheimnisvoll.

»Ich weiß, der Vater ist verwandelt, seit der Hochmeister bei uns in Herberge lag.«

Bernd sah ihn schlau an. »Wißt Ihr das nicht durch Euren Vater, so kann auch ich nichts darüber sagen. Ich bin nur hier, um Euch seinen Befehl auszurichten, daß Ihr Euch schleunig von [] dieser Bande lösen sollt«, und leiser setzte er hinzu: »Ich trage bei mir, was Ihr dazu braucht.«

»Sagt dem Vater, Bernd, ich bin als Fähnrich durch schweren Treueid an die Fahne gebunden; und wie die Männer auch sein mögen, denen ich die Fahne trage, daß ich eidbrüchig werde, wird mein Vater nicht verlangen.«

»Darum eben sollt Ihr ihnen Geld geben, damit sie Euch freiwillig vom Eide lösen.«

»Ihr kennt die Ordnung der Bruderschaft nicht. Noch sind es fast vierhundert Mann, welche an meinem Leib und Leben ein Recht haben; nur wenn das Fähnlein vom Hochmeister abgelohnt wird, bin ich wieder frei, und dazu vermag ich nicht zu helfen.«

»Wie behauptet Ihr Euch in dem Haufen«, fragte Bernd nachdenklich, »folgen sie Eurem Rat?«

»Der Hauptmann und die Führer haben Zutrauen zu mir.«

»Ihr habt mich noch nicht nach Thorn gefragt«, fuhr der andere fort. »Wisset, daß bei uns der Unfriede groß geworden ist. Vielleicht denkt mancher: Schade, daß Junker Georg mit seinen Knechten so weit von der Stadtgrenze steht.« Beide sahen einander bedeutsam an. »Doch nicht dahin geht mein Auftrag, sondern Euch zu mahnen und Euch Euer Lösegeld im geheimen zu übergeben.«

»Ich aber habe eine andere Bitte an Euch, mein alter Geselle. Helft mir den Magister mit dem Gelde lösen.«

»Verlangt das nicht von mir«, antwortete Bernd ernsthaft. »Euch soll ich das Geld übergeben und niemand anderem; wie Ihr es verwendet, ob nach des Vaters Willen oder wider seine Meinung, das ist Eure Sache. Zwischen Vater und Sohn setze ich mich nicht.«

»Dann also folgt mir in den Turm, damit ich Euch zur Fähnrichin führe; erzählt ihr Freundliches von unserer Stadt.«

»Ungern folge ich Euch«, sagte Bernd zögernd, »denn es wird niemandem etwas nützen. Doch da Ihr mich so traurig anblickt, merke ich, daß ich's Euch nicht weigern darf.«

Die Männer traten in den Turm, Georg schloß die Tür, und der Bote entledigte sich seines Geldes, welches Georg sorglich verbarg. Dann rief er Anna herab. Befangen trat sie dem Thorner gegenüber und holte, um den Gast zu ehren, nach der ersten Begrüßung herzu, was der Haushalt darbot. Bernd sah sich bekümmert in dem Turme um, und da er ein gutherziger Mann war, hütete er sich, beiden das Herz schwerer zu machen. Aber bald erhob er sich, weil der Geleitsmann wartete, um ihn nach dem Ordenshause zurückzubringen. Als er von Anna freundlichen Abschied genommen hatte und mit Georg im Hause stand, fragte er prüfend: »Wollt Ihr sie in diesem Turme bewahren, bis Ihr selbst frei werdet?«

[] Da antwortete Georg mit tiefem Ernst, »Ich danke Euch, Bernd, und ich danke meinem lieben Vater, daß mir seit heut möglich wird, besser für das Wohl meines Weibes zu sorgen.«

»Ich komme wohl wieder«, sagte der Gehilfe, ihm vom Pferde die Hand schüttelnd, »und ich wiederhole Euch meine Mahnung, die Handlung fordert sich ihren Erben.«

Als der Bürger die Stadt verlassen hatte, suchte Georg den Hauptmann auf und hatte mit diesem eine lange Unterredung, dann kehrte er zu seinem Weibe zurück.

Anna saß sinnend am Herde, das Feuer flackerte, das Holz knisterte, an den Wänden fuhren unruhig rote Lichter und Schatten dahin, und kleine Funkengarben sprühten aus der Flamme. Der Besuch eines Bürgers mit städtischer Sitte erinnerte Anna schmerzlich an das frühere Leben, von dem sie wie durch einen Abgrund geschieden war, sie bedachte alle Worte und Mienen des freundlichen Mannes, und ihr fiel schwer auf das Herz, daß er den stolzen Vater ihres Gatten gar nicht erwähnt hatte. Da trat Georg schnell ein, holte von seinem Lager den Schatz, welchen ihm Bernd zurückgelassen, und den Beutel vor Anna auf den Herd setzend, sagte er: »Er brachte das Lösegeld.«

»Ihr werdet frei?« schrie Anna aufspringend.

»Nicht ich«, antwortete Georg, »aber Euer Vater und Ihr. Morgen reitet Hans unter die Polen, den Herrn Magister zu lösen.«

Anna umfaßte mit ihren Händen den Arm des Gatten, aber indem sie ihn ansah, erkannte sie den tiefen Ernst in seinem entschlossenen Angesicht und sank, den Blick unverwandt auf ihn geheftet, in den Stuhl zurück. »Morgen kommt der Vater«, fuhr Georg fort, »ich hoffe, es bleibt genug von dem Gelde übrig, daß er mit Euch längere Zeit in größerer Sicherheit leben kann unter seßhaften Leuten. Die Stadt Elbing liegt in mäßiger Entfernung, und er sagte mir einst, daß er dort gute Kundschaft habe.«

»Ihr wollt mich von Euch fortschicken?« rief Anna.

»Ich will nicht, liebe Jungfer Anna«, antwortete Georg, vergebens bemüht, seine Bewegung zu beherrschen; »aber ich erkenne mit jedem Tage deutlicher, daß ich es muß, damit mir das Liebste, was ich auf Erden habe, nicht im Elend vergehe. Denn wenn Ihr mir Eure Tränen auch verbergt, ich fühle sie doch heiß auf meiner Seele, und ich weiß, wie unglücklich Ihr in dieser Wildnis geworden seid.« Anna saß unbeweglich, das Antlitz gerötet, und er fuhr nach langem Schweigen mit gebrochener Stimme fort: »Mich hält hier der Schwur, den ich abgelegt habe. Aber ich hoffe, das Fähnlein wird in kurzem ausgezahlt, unterdes behelfe ich mich; und an dem Tage, welcher mich frei macht, komme ich zu Euch. Bis dahin will ich sorgen, daß wir häufig voneinander erfahren.« Er wandte sich ab, setzte sich auf die Bank bei seinem Lager und [] kehrte das Gesicht dem Gitterfenster zu. Anna erhob sich, in fliegender Eile rückte sie an den Topfen, setzte ihm das Schüßlein mit seinem Abendessen an die Ecke des Herdes und entfloh aus dem Gemach die Leiter hinauf. Als Georg sich nach ihr umwandte, sah er nur noch den Saum ihres Gewandes. Er saß allein, das Feuer seines Herdes stieg und sank, es flackerte noch einmal, dann verging es in bläulichem Scheine. So heiß war die Flamme gewesen und so kurz das Licht und die Wärme, welche sie gab. Schweigend, ohne Klage und ohne ein Wort des Trostes, löste sich sein Weib von ihm. In rötlicher Dämmerung lag das Gemach, bald kam die schwarze, kalte Finsternis; er schlug die Hände vor sein Angesicht und warf sich auf das Lager. Draußen war es still, von der Stadt her vernahm man verlorene Klänge eines Liedes, das ein Landsknecht sang, und vom Wasser her tönten die Rufe der Nachtvögel.

Da stieg etwas die Leiter herab, es glitt am Herde vorbei und neigte sich über das Lager. Den Liegenden umschlangen zwei weiche Arme, er fühlte den warmen Hauch an seiner Wange und vernahm die flehenden Worte: »Ich komme zu dir. Du über alles Geliebter, behalte mich bei dir.«

Stille draußen und im Turme. Aber vom Weiher klang jetzt schmetternd wie Siegesruf Gesang der Nachtigallen.

Das Jahr der jungen Frau

Als die Vermählten am nächsten Morgen ins Freie traten, war die ganze Welt um sie gewandelt. Vom Himmel strahlte die Sonne, und warme Luft wehte sie grüßend an. Die langen Stacheln der wilden Rose am Wall, bisher das Kriegskleid der kahlen Zweige, waren durch unzählige Sträuße heller Blätter verdeckt, und draußen grünte und blühte Wiese und Wald. Anna hielt die Hand des Gatten fest und wollte sie nicht mehr loslassen, und da Wuz herzutrat, lachte sie den Zeugen ihres Gelübdes an und hielt sich noch fester an ihren Herrn, daß der Landsknecht etwas von der Seligkeit merkte und ihr zunickte: »Das ist recht.« Sobald sie auf das Feld kamen, stiegen die Lerchen von allen Seiten in die Luft, und wohin Anna den Schritt wandte, jubelten sie über ihrem Haupt. Wollte ja ein scheuer Vogel aus ihrem Wege fliegen, so sang diesem sein Gefährte zu: Die Federlosen fürchten wir nicht, sie bauen am Neste wie wir. Auch die brüllenden Landsknechte des Weihers, die Frösche, sahen schlau zu der jungen Frau empor, und ein alter Hauptmann dieses Volkes rief mit seiner quarrenden Stimme so deutlich: »Querkopf«, daß sie die Meinung verstand. An der Stelle, wo beide neulich die ersten Boten des Frühlings gehört hatten, breitete Georg sei nen Mantel aus, sie lagerten unter [] dem jungen Laubdach, und die trunkenen Augen flogen über das glitzernde Wasser und den blühenden Grund. Das Weib lag an seiner Achsel, und er lachte und sang laut sein altes Lied: »Der Kuckuck hat sich zu Tod gefallen in einer alten Weiden«, und als er nach dem neuen Zeitvertreibe fragte, hielt ihm Anna den Mund zu und sang weiter, und sie zog und trillerte übermütig wie ein Vogel, schob sich an ihm empor, faßte mit beiden Händen in seine Locken und küßte ihn, bis er rief: »Töricht war Lips Eske, als er behauptete, Jungfer Anna sei zu einer Nonne geboren.«

Da entsprang sie, pflückte Blumen und grüne Zweige und wand zwei Kränze. »Für dich und mich«, sagte sie ernsthaft, »es sind unsere Brautkränze, und heut abend im Turm trägst du deinen und ich meinen. Ach, Ihr habt lange Geduld mit mir gehabt, lieber Junker.«

»Kommt heut abend der Vater«, sagte Georg, »so wird ihm der Festschmuck recht sein, denn er denkt daran, daß auch seine Römer Kränze aufsetzten, wenn sie froh waren.«

»Der liebe Vater bleibt von jetzt als Gast bei uns«, entschied Anna, »ich schaffe ihm neben uns im Schloß eine Kammer. Der Hauptmann wird sie mir nicht wehren.«

Aber am Abend kehrte der Landsknecht ohne den Vater zurück und brachte auch das Geld wieder. Der Magister war von den Polen gegen Gelöbnis nach Danzig gesandt, um dort dem Kastellan in einem Geschäft mit dem Rate zu dienen. »Die Kammer richte ich dennoch morgen für ihn ein«, sagte die Tochter, »damit er bei uns jederzeit gutes Gemach findet.«

»Ich aber lasse morgen eine Treppe nach dem Oberstock zimmern und verbrenne die feindselige Leiter«, rief Georg entschlossen.

»Das wird dem Hündlein Amor lieb sein«, antwortete Anna, »er hat mir seither Not genug gemacht, denn er wollte jeden Abend zu Euch herunter, und ich mußte ein Tuch über ihn decken, damit sein Winseln den Herrn nicht störte«; und ihre Wange an die seine legend, gestand sie schüchtern: »Ich habe zuweilen das Tuch über uns beide gedeckt, um uns festzuhalten.«

Von dem Jahre, welches der weissagende Vogel den Liebenden vergönnt hatte, vollendete sich ein Mond nach dem andern; gleich einer Mauer umschloß sie der dunkle Ring der Kiefernwälder am Horizont, und nur selten und undeutlich drang Kunde von der Außenwelt zu ihnen. Aber in der Bruderschaft verlorener Leute, welcher sie angehörten, bewährten sich beide als gute Helfer. Georg besserte, wie der Hauptmann ihm zugetraut hatte, an der Zucht des Fähnleins, einigemal durch hohen Ernst, den er gegen Missetäter bewies, immer durch sein frisches Wesen und geschickte Worte. Er bestand darauf, daß das rohe Beuten abgeschafft wurde und regelmäßige [] Lieferung durch die geplagten Landleute eingeführt, und er gewöhnte den Hauptmann daran, auch den Einwohnern, wenn sie einmal gröblich verletzt wurden, einiges Recht zu bewilligen. Sogar die Kanzlei des Hochmeisters half zu größerer Ordnung; von vielem rückständigen Solde wurde etwas auf Abschlag gezahlt, und Georg meinte, daß sein Vater dabei die Hand im Spiele habe. Wer aber ist das schöne Weib, welches so stolz und sicher wie eine Herrin zwischen den ruchlosen Söhnen der Fremde einhergeht? Ist es die scheue Anna, das Kind des Schulmeisters? Höher scheint ihr Wuchs und gebietender ihr Auge, ihre Wangen färbt wieder ein mildes Rot, und wer in den festen Zügen zu lesen versteht, der kann die frohe Sicherheit, welche ein großes Glück verleiht, darin erkennen.

Mit der Hauptmännin ging sie durch die Gassen der Stadt und antwortete gehalten auf Anreden der Großen und Kleinen; gerade vor ihr hatte sich wildes Getümmel erhoben, trunkene Knechte zankten und schrien nach Hilfe und Waffen. Die Hauptmännin hielt Anna zurück: »Peter Meffert tobt in dem Haufen. Ich rate Euch nicht, weiterzugehen.« »Können wir auf anderem Wege zu der Dirne gelangen?« fragte Anna.

»Wir müssen hier vorüber.« »Dann gehen wir.« Und sie sprach laut: »Gebt Raum für die Frauen, ihr freien Knechte.« Da traten die ersten zurück bis zu dem zornigen Peter, der mit seinem langen Degen um sich fuchtelte. Anna stand ihm gegenüber: »Laßt uns vorbei, Herr, wir gehen zu Eurer Jutta.«

»Geht zum Teufel, aber nicht über meine Schwelle«, rief der Landsknecht.

»Wir würden Euch mit dem unwillkommenen Besuch verschonen«, sagte Anna, »wenn Ihr selbst am Lager Eures kranken Mädchens säßet, statt hier auf der Gasse zu streiten: denn die Arme gebraucht Hilfe, damit Ihr sie nicht verliert, und sie hätte es wohl um Euch verdient, daß Ihr jetzt ein wenig um sie sorgt.« Er sah die Frau des Fähnrichs gehässig an, und die Waffe zuckte in seiner Hand, aber er hob sie nicht, und Anna schritt vorüber. In der Wohnung des Landsknechts warf sich die Kranke in Fieberhitze auf ihrem Lager. »Weicht von mir«, rief sie Anna zu, »denn Ihr seid uns feindlich, und Ihr bringt mir Unglück ins Haus.«

»Sind die Männer Gegner, warum sollen wir Frauen es sein? Läge ich einsam auf dem Krankenlager, würde ich Euch bitten, mir zu helfen.«

»So geht, Ihr Stolze, und holt meinem Herrn Bier in seinen Krug, denn wenn er nach Hause kommt und den Krug leer findet, schlägt er mich.« Während die Frau des Hauptmanns die Aufgeregte beschwichtigte und eine Arznei einflößte, füllte Anna den Krug am Brunnen mit Wasser und setzte ihn auf den Tisch, dann holte sie den kleinen Purzel aus der Ecke, welcher dort jämmerlich [] im Sude lag, setzte sich so, daß die Mutter ihre Arbeit nicht sah, wusch und strählte ihn und zog ihm ein reines Hemd und Röcklein an, die sie mitgebracht hatte. Die Türe ging auf, und Peter drang herein; er sah finster und verächtlich nach den Frauen, warf sich auf den Schemel und hob die Kanne. »Mord und Tod«, fluchte er, »wer hat den Gänsetrunk eingegossen?«

»Ich«, antwortete Anna ruhig, an dem Knaben beschäftigt. Er schüttete das Wasser auf den Boden. »Wie könnt Ihr wagen, an dem Kinde zu hantieren, es geht Euch nichts an«, rief er streitlustig.

»Die Mutter kann ihn nicht wahrnehmen, und Ihr wollt es nicht. In ihren gesunden Tagen hielt die Jutta darauf, daß der Knabe säuberlich einherging. Die Leute sollen nicht über Euren Sohn die Achsel zucken.«

»Ich aber leide nicht, daß das Kind trägt, was aus Euren Händen kommt; und soll ich Euch Gutes raten, so nehmt Eure Lappen mit Euch und weicht aus meinem Hause.«

»Es kann doch nicht nackend gehen«, wandte Anna ein, knüpfte dem schweigenden Purzel das Jäckchen zu und küßte ihn auf die Stirn. »Ist's Euch widerwärtig, daß der Kleine die Kleider behält, so laßt sie ihn wenigstens tragen, bis seine Mutter wieder bei Kräften ist, dann mögt Ihr den Kram wegtun. Und ich sage Euch, Herr, die Hauptmännin und ich lassen uns nicht durch Euren Trotz abweisen, wir kommen jeden Tag, um nach Eurer Kranken zu sehen; gefällt's Euch nicht, mit uns zusammen zu sein, so erlaubt uns die Stube, wenn Ihr nicht daheim seid. Und ich bitte Euch, werbt eine Wärterin aus dem Troß, oder laßt uns das tun, denn ihr Männer bleibt ungeduldige Pfleger.« Als sie sich erhob und mit der Alten das Zimmer verließ, saß Peter auf seinem Schemel und antwortete dem Gruße nicht. Draußen sagte die Frau des Hauptmanns: »Niemals hätte ich gedacht, daß die schüchterne Taube zu einer so dreisten Krähe werden könnte. Ihr seid gemacht, den Befehl über ein Fähnlein zu führen.« Anna aber sah sie verwundert an.

Als Jutta genesen war, lag des Morgens früh ein Bündel auf der Turmschwelle. Anna löste die Schnur und fand das Wams des kleinen Landsknechts darin und dabei einen Rock, der ihr selbst bei der Plünderung geraubt war.

Der Hochsommer kam; über dem dunklen Kranz der Wälder wölbte sich der blaue, lichtvolle Himmel wie eine Halbkugel von blauem Glase; unten in der Mitte des großen Glasberges stand der Turm, in welchen die jungen Gatten gezaubert waren, und oben stieg die liebe Sonne täglich auf und ab und warf ihre heißen Strahlen auf den Boden des umschlossenen Raumes. Dort blühte das Heidekraut und deckte die wilde Landschaft mit rötlichen [] Farben, und über dem Blütenmeer wallte und zitterte die heiße Luft. An einer Stelle, wo Wald und Heide zusammenstießen, hob sich ein kleiner runder Hügel, der einst als Grabmal eines alten Preußen oder Goten geschichtet war; auf ihm standen Eibenbäume, zwischen denen die Zeidler, die den wilden Honig sammelten, eine kunstlose Hütte errichtet hatten, an der Sonnenseite offen und gerade groß genug, um wenigen Wanderern kurzes Obdach zu geben. Dort pflegte Georg zu rasten, wenn er einmal die Fahne dem getreuen Wuz anvertraute und mit der Armbrust dem Wilde nachging, um seiner Hausfrau die Küche zu bessern. Heute hatte ihn Anna begleitet; die Jagdbeute lag bei den Waffen, und beide harrten, im Heidekraut gelagert, auf den Niedergang der Sonne und die kühle Abendluft. Es war ein wonniges Lager, über den roten Büscheln flatterten die Schmetterlinge, die Bienen trugen den Seim zu ihrem Baume; die Wachtel schlug, Feldhühner schwirrten in langen Ketten, und hoch oben am blauen Gewölbe zog der Adler seine Kreise. Da kam eine große Hummel an die sitzende Frau, umkreiste sie unablässig und brummte mit schwerem Fluge an ihrem Haupt. Georg wollte die Lästige fortscheuchen, aber Anna hielt ihm den Arm: »Sieh, wie schön sie ist, sie trägt stahlblaue Panzerringe um ihren Leib, und schwer wird ihr der Flug, denn sie birgt unter ihrer Rüstung den süßen Honig. Ich verstehe wohl, Gevatterin, was du mir summend verkündest. Willst du es wissen, Georg? Oh, komm näher zu mir, wenn ich an deinem Herzen liege, getraue ich mich dir's zu sagen.« Und sie sprach leise zu ihm nur wenige Worte, aber sein Gesicht erglühte in freudigem Schrecken, und wie sie dasaß mit stolzem Lächeln, kniete er vor ihr nieder, bedeckte ihre Hände mit Küssen und küßte das Gewand ihres Leibes. Dann hielt er sie in seinen Armen, und sie saßen aneinandergelehnt, während sich der Abendhimmel rötete und von wolkenloser Höhe ein ferner Donner klang.

Wieder vergingen Wochen, die dürftige Halmfrucht in der Nähe der Stadt war eingebracht mit Hilfe der Knechte, welche den besten Teil selbst zu genießen dachten. Über die Stoppeln zogen die kleinen Spinnen ihr silbergraues Gespinst, und die Tautropfen glänzten als flüssige Edelsteine darauf. Die Blätter der Birke und Eberesche färbten sich mit Gelb und Purpur, dem letzten Festschmuck zur Ehre des scheidenden Sommers. Anna stand mit dem Gemahl an der Stelle des Weihers, welche beide wohl kannten, und begann mit trübem Lächeln: »Deine Nachtigallen sind fortgeflogen«, und als er antwortete: »Nein, eine, die ich liebe, bleibt treu bei mir«, wandte sie sich ab und fragte: »Wie lange noch? Ein Jahr gestattet der Kuckuck für mein Glück, und die Hälfte ist vorüber.« Georg erschrak, daß sie noch an die vorlaute Frage aus dem Frühjahr dachte. Sie bog ihr Haupt dem seinen zu; da sah er, wie die Tränen [] aus ihren Augen rannen. »Selig war die Zeit, und wie ein Engel sorgte mein Junker für mich; o Georg, wie ist das Leben schön, und wie traurig ist es, von dem Liebsten zu scheiden.« Er hielt die Schwermütige still an seinem Herzen. Auch er dachte daran, wie hart der Winter für sein liebes Weib werden müsse und wie gefährdet die Zukunft sei. Noch anderes bedrängte ihn. Sein Vater selbst hatte ihm niemals geschrieben, nur durch Bernds Hand war ein Befehl an ihn gekommen, daß er bei der Fahne bleiben möge; von Anna aber stand nichts in dem Briefe.

Kürzer wurden die Tage und rauher das nächtliche Dunkel; der Herbststurm fuhr wild um die Mauern des Turmes, er drehte die Wetterfahne am Schlosse, daß sie ächzte, und polterte wie ein unseliger Geist an den Türen und Fensterläden. Da sorgten die Menschen um die nahe Winterzeit, auch Georg sammelte als Hauswirt Vorräte und half selbst die Holzscheite um den Turm zu einem Wall häufen, damit in dem Ofen, den die Kunst des Töpfers für sein Weib hergestellt hatte, die Wärme nicht fehle. Doch die Knechte dachten am liebsten darauf, den Gewinn des Sommers lustig zu verwenden, viele Tönnlein Bier wurden gewälzt, um die Feuerstätten dufteten die Braten, und in lärmender Gesellschaft verzehrten sie sorglos, was kluger Bedacht des Erwerbenden auf den ganzen Winter verteilt. Auch im Schloßhofe war jetzt täglich reges Leben und Geschrei. Und oft schritt Anna durch gedrängte Haufen. Aber Männer und Weiber gaben ihr ehrerbietig Raum, wo sie ging, die Augen der Frauen ruhten mit Teilnahme auf ihr, sogar die derbe Jutta unterbrach das Gezänk mit einer andern Dirne und schwieg, bis Anna vorüber war; die Kinder des Trosses standen verschüchtert zur Seite und wagten nicht mehr, sich an ihre Arme zu hängen wie ehedem, auch die Männer, welche sonst das schöne Weib mit dreistem Blick betrachtet hatten, wandten jetzt unwillkürlich die Augen ab, als ob ihnen nicht gezieme, eine Geweihte anzustarren. Und kam sie langsam mit schwerem Tritt die Stufen hinauf in das Turmgemach, dann rückte Georg ihr den Stuhl zurecht und legte das Federkissen herein, welches die Hauptmännin in mütterlichem Wohlwollen herzugetragen hatte. So saß sie eines Tages und hörte zu, wie Georg ihr lachend sagte: »Henner, die rastlose Dohle, welche nur auf Augenblicke herzufliegt, ritt heut ein und fragte ernsthaft, wie es dir gehe.« Und sie antwortete: »Sage ihm nur, ich bin bei dir.«

Da öffnete sich schnell die Turmtür, und der Magister trat herein. Mit einem Freudenschrei erhob sich Anna und ging dem Vater entgegen. Diesen aber übermannte die Bewegung, als er die Tochter sah, denn sie war anders, als er sie immer in seinen Gedanken geschaut hatte. Er setzte sich sogleich auf einen Schemel an der Tür und bedeckte die Augen mit der Hand. Doch nicht [] lange, so fuhr er empor, faßte Georg um den Leib und rief: »Ich habe unrecht, mein Sohn, sie gehört jetzt dir«, und darauf erst begrüßte er gerührt sein liebes Kind. Anna saß zwischen dem Vater und dem Gemahl, jeder hielt eine Hand, beide sprangen auf, sooft sie meinten, daß ihr etwas zu bringen sei, und der Magister lief ungeschickt um den Herd herum und trug das Kissen des Hündleins statt der Fußbank. Als Anna inmitten der beiden ausruhte, welche ihr die Liebsten auf der Erde waren, und wieder das Lachen und die lateinischen Reden des Vaters hörte, sagte sie in inniger Freude: »Heut bin ich glücklich.«

»Ach, du armes Kind«, antwortete der Magister und suchte vergebens nach seinem Sacktuch, »euer Schicksal ist ganz ohne Beispiel, und ich weiß niemanden, mit dem ich dich vergleichen könnte, es müßte denn die deutsche Fürstin Thusnelda sein.«

»Diese aber, Herr Vater, wurde von ihrem Hausherrn getrennt.«

»Richtig«, versetzte der Magister, »dies stimmt nicht, aber anderes stimmt.« Und er sprang wieder auf und trug ihr das flackernde Licht aus den Augen. Bald jedoch war er fröhlich dabei, von den eigenen Abenteuern zu erzählen, und lobte den Pan Stibor sehr: »Zuletzt hat er mich ohne Lösegeld entlassen, nachdem ich ihm beim Danziger Rate die Auszahlung eines Erbteils durchgesetzt, und ich bin völlig frei. Freier als ihr, arme Kinder. Doch dies ist ein Jahr der Gefangenschaft; nicht nur uns erging es so, auch ein Größerer, der unser aller Hoffnung war, sitzt, der Menschheit entzogen, in Haft. Die Danziger glaubten ihn in dem Kerker seiner Feinde, aber jüngst ist Botschaft gekommen, daß er irgendwo verborgen lebt. Und da es ihm besser ergangen ist, als wir wähnten, so hoffe ich jetzt auch für euch Günstiges.«

»Und Ihr bleibt bei uns, Herr Vater«, bat Anna, »seit dem Frühling steht Euer Gemach bereit.«

»Natürlich bleibe ich«, rief der Magister, »ich darf doch meinem lieben Kinde die Ruhe nicht mitnehmen. Aber nur bis morgen, denn hier herrscht, wie ich merke, das Geräusch des Lagers und die Musen haben nicht viel Förderung zu erwarten. Es ist alles bedacht, ich finde Unterkunft in der ansehnlichen Stadt Elbing, und wenn ihr mich einmal begehrt, so kann ich jetzt, wo der Verkehr wieder eröffnet ist, leicht zu euch dringen.«

Trotz aller Bitten blieb der Magister fest, und er sagte beim Abschiede in seiner ehrlichen Weise den wahren Grund nicht der Tochter, aber seinem Schüler Regulus: »Auch die Kinder müssen zuweilen Nachsicht mit den Eltern üben. Du hast dir den Ring, den ich an meinem Finger trug, redlich verdient, ich lobe dich und ich segne dich; aber den Alten vexiert's, daß sein Kind nicht mehr ihm gehört, und er braucht Zeit, um das zu überwinden.«

Der harte Winter war gekommen. Das Himmelsdach umschloß [] schwarzgrau, wie ein ungeheures Kerkergewölbe, die Heide, den Turm und die beiden Gatten, nur am Morgen und Abend vermochte man an einem feurigen Scheine den Ort zu erkennen, in welchem die Wintersonne auf- und niederstieg. Über der weiten Ebene lastete tiefer Schnee, er glich nicht dem weißen Tuch, welches zum Schutz des schlummernden Lebens gebreitet ist; wie ein brandendes Meer war er von dem Sturmwind aus den Steppen des Ostens herangetrieben; langgestreckte Schneewellen hoben sich, so weit das Auge reichte, eine hinter der andern, und wie Wasserschaum der Wellen stoben weiße Wolken über dem Kamm der Schneehügel in die Luft, sanken in die Schneetäler, die der Wind eben erst gefegt, und erhoben neue Berge über den Grund. Hinter dem weißen Schneemeer aber ragte der schwarze Ring des Kiefernwaldes, auf welchen die Wolkendecke gemauert schien. Bei Tage kein Ton in der Luft als das Heulen des Windes, der Schrei eines Raubvogels und das Gekrächz eines Krähenschwarmes, welcher frohlockend der Stelle zuflog, wo ein Wild in den Schneehügeln verendet war. Auf wenige Stunden des dämmrigen Tageslichts folgte eine lange, bange Nacht, schwarz und sternlos, dann verstummten auch Adler und Krähen, nur die Wölfe heulten, und in dem fahlen Licht, welches die untergehende Sonne über den Schnee sandte, sah man die Herde der Hungrigen um die Mauern trotten, hinter denen die Menschen sich bargen. Dann läutete noch einmal die kleine Glocke der Stadt, zitternd und wehklagend war der Laut, ein Hilferuf gegen die Gewalten der Nacht, bis er unkräftig in wirbelndem Schnee und sausendem Wind verhallte; das Dach des Himmels wurde kohlschwarz, und die Erde begann gespenstisch zu leuchten, ein matter bläulicher Schein glomm von dem Schnee herauf gegen die Finsternis der Luft, und eisige Kälte, der Todfeind des Lebens, fraß sich in das Holz der Bäume, bis der Kern zersprang, sie drang durch die Mauern und machte die Menschen beben, auch wenn sie sich mit dichtem Pelz geschützt hatten.

Einsam und preisgegeben dem Zorn des Winters stand das Lager der Landsknechte zwischen den Schneebergen, selbst der Mauergraben war zugeweht, und durch die flache Rinne zogen sich lange weiße Bänder der Windwehen bis zu den Zinnen herauf. Innerhalb der Mauern drängten sich die Menschen zusammen, wo eine Feuerstätte war oder ein Ofen, und die Knechte haderten und schlugen sich um den wärmsten Platz; jeden Tag liefen Weiber und Kinder mit den Äxten, sie scheuten die Mühe und fürchteten die Gefahr, Brennholz durch den tiefen Schnee aus dem Walde zu schleifen. Die Balken der geworfenen Scheuern waren längst verbrannt, jetzt zerhieben rotgeschwollene Hände den Dachstuhl, die Türen und Fenster der leeren Stadthäuser, ja sogar das Gebälk der Wohnungen, in denen die Knechte selbst herbergten, so daß der [] Schnee in das Innere wehte und durch die erwärmten Decken tropfte. Mehr als einmal krachte ein Haus zusammen, und mit Mühe entrannen die Bewohner dem Verderben, dennoch wurden die Sorglosen nicht vorsichtiger, scharrten nach kurzem Geschrei ihre Habseligkeiten aus den Trümmern und drängten sich in eine andere Wohnung; bis der Hauptmann einen Rat der alten Knechte berief und durch diesen ein Verbot ergehen ließ. Hans selbst mußte, obgleich ihm der kalte Winter den Fuß gelähmt hatte, schwerfällig mit seinem Stock durch die Straßen schreiten und das Gesindlein züchtigen, das er über verbotenem Holzschlage traf.

Draußen aber in der Wildnis glitt ein Schlitten die Schneehügel abwärts und wieder hinauf. Um den einsamen Führer Finsternis und Öde, hinter ihm das Geheul des Sturmes und das Bellen der jagenden Wölfe; ungeduldig peitschte er die müden Pferde und richtete sich auf, um in der Ferne den Lichtfunken zu erkennen, der aus dem Turmzimmer blinkte und zu dem ihn Sehnsucht und heiße Angst zogen. Es war Georg, der im Auftrage des Hauptmanns zu den Knechten auf das Dorf geschickt war, um ernste Händel mit den Polen zu vergleichen. Ungern war er ausgefahren, denn sein liebes Weib war erkrankt. Doch sie selbst hatte ihn lächelnd fortgetrieben mit gutem Trost. Den ganzen Tag hindurch verweilte er bei den Zänkern, jetzt schnürte dem Heimkehrenden die Angst das Herz zusammen, wie er sein Weib wiederfinden werde. Er sah das Licht, er unterschied die Umrisse des schwarzen Turmes und jagte in den Schloßhof mit heißen Wangen.

Als er in den Turm trat, vernahm er den Schrei einer Stimme, die bis dahin noch niemals in den Wänden des Turmes erklungen war; er sprang die Treppe hinauf, sein Weib ruhte auf dem Lager, und die Hauptmännin hielt ihm einen nackten Knaben entgegen. Es war sein neugeborener Sohn. Da schlug er die Hände zusammen und rief außer sich: »Herr, mein Gott!« Scheu und ehrfürchtig empfing er das Kind in seine Arme und sank an dem Lager seines Weibes nieder. »Halte die Hand über ihn und mich und flehe zu unserm Vater im Himmel, daß ich würdig werde, sein Wunder zu bewahren.«

Auf der Heide

Georg saß am Herde, hielt sein Kind in den Händen und sah unverwandt auf das kleine Gesicht. »Das erste Lachen soll die Mutter sehen«, rief er freudig und legte den Knaben schnell in Annas Arme.

»Wie soll es mit der Taufe werden, lieber Herr?«

»Sobald die Frau Fähnrich Gäste vertragen kann.«

[] »Ich denke, wir laden die Gevattern«, riet Anna. »Zuerst den Vater, dann die Hauptmännin –«

»Der dritte muß Henner sein«, fiel Georg ein, »denn als er neulich heranritt, dich zu grüßen, forderte er dies Amt als sein Recht, weil wir doch von den Vätern her Landsleute wären und er, wenn es mit rechten Dingen zuginge, der Oberherr unseres Knaben; dabei kam er wieder mit seinem alten Unsinn.«

Anna nickte. »Die größte Sorge ist in dieser Wildnis der geistliche Herr. Doch die Taufe wird heilkräftig durch jeden Geweihten.«

»Dann also fahre ich mit dem Schlitten aus und suche einen Priester«, beschloß Georg.

Durch Henner selbst wurden die Gatten dieser Verlegenheit enthoben. An einem der nächsten Tage schalt die Stimme Henners im Hofe. Er hielt zu Pferde neben einem Bauernschlitten, auf welchem unter Stroh und Decken ein hilfloser Kranker lag. »Dies Ungeheuer fand ich beim nächsten Dorfe geduckt in einer alten Weide und auf dem Wege, zu erfrieren. Da gerade die Kirchglocke läutete und heut Sonntag ist, tat ich ein übriges und warf es einem vorüberfahrenden Bauern auf den Schlitten. Wollt ihr es wieder lebendig machen, so steht das bei euch. Jedenfalls schneide ich ihm ein Ohr ab, das habe ich allen Brüdern seiner Art zugeschworen, denn es ist ein Mönch.«

Georg beugte sich über den Korb und erkannte erstaunt die entstellten Züge des Bruder Pankratius aus Thorn. Der Arme wurde in die Turmstube getragen und dort mit Mühe wieder zu Sinnen gebracht, so daß er seine Glieder regen und den Trank, welchen Anna ihm bot, einnehmen konnte. Unterdes saß Henner dem Kranken, welcher die frühere Wohlhäbigkeit gänzlich verloren hatte, feindselig gegenüber und enthielt sich nicht, ihn zu höhnen: »Ich kenne diesen Gesellen, er trug seine Kutte so stolz wie ein Freiherr und am Handgelenk einen Rosenkranz von roten Korallen, den ihm sicher ein frommes Beichtkind geschenkt hatte, und er spielte mit dem Kreuze, das daran hing. Er hatte auch einen Bisamapfel von Silber in der Tasche, aus dem ein Wohlgeruch kam, und wenn der Apfel duftete und der Mönch die Augen verdrehte, dann fielen die Weiblein nur so vor seine Füße. Wo blieb der Wohlgeruch, Bösewicht? Du riechst mir jetzt sehr nach armen Leuten; und wo blieb der silberne Ohrlöffel, den du vordem in der Hand schwenktest?«

»Ich war in den Händen Eurer Gesellen«, seufzte der Mönch.

»Haben diese dir den Sack ausgefegt, so haben sie ein gutes Werk getan, hoffe deshalb bei mir nicht auf Erbarmen.«

»Schweigt mit den wilden Worten, Junker, und schont den Unglücklichen«, mahnte Anna unwillig.

»Ihr mögt gut reden. Ich aber habe eine alte Rechnung mit [] seinesgleichen. Denn sie sind schuld, daß ich als armer Reiter im Stegreif traben muß, was mir bei meiner Wiege nicht gesungen wurde. Wißt, junge Frau, ich wuchs auf als Erbe eines alten Oheims, der guten Anteil an Burgen und Mühlen hatte. Da dieser kränklich wurde, riet ihm der Böse, nach Thorn zu ziehen. Dort schlichen die Brüder dieses Gesellen an sein Lager und erboten sich zu allem Guten unter dem Vorwande, daß ihre Regel ihnen die Pflicht auflege, Bedrängte aufzusuchen. So nisteten sie sich in seinem Hause ein. Dazwischen klagten sie viel über das Elend der Welt, über die große Not ihrer Brüder, und sie beschrieben ihre Armut, die sie täglich ertrugen, und ihre strenge Regel mit vielem Fasten und langem Chorsingen. Dann lobten sie ihm die Privilegien und hohen Freiheiten ihres Ordens, die zahllosen Messen, welche jedem im Himmel gutgeschrieben werden, welcher dem Orden Gutes tut, auch zählten sie die frommen Bruderschaften auf, an denen sie nach dem Gebot des Papstes Anteil haben, und sie rühmten sich vieler frommer Kinder und Brüder, die so streng gegen sich selbst leben, daß sie gar wenig essen und trinken, und daß ihre Frömmigkeit im Himmel jedem andern zugute kommt, der in die Bruderschaft tritt. So verlockten sie den kranken Mann, daß er ihrem Orden sein Hab und Gut übermachte, und ich ging nach seinem Tode leer aus. Ich hatte eine Jungfer von Herzen lieb; dem Erben hätte der stolze Vater sie bewilligt, den armen Kalmäuser wies er zum Tor hinaus. Dadurch bin ich geworden, was ich jetzt bin, ein Heimatloser, der von heut auf morgen lebt.« Er stützte sich finster auf den Tisch.

»Ihr aber, Bruder«, fragte Georg, »was scheuchte Euch in dieser Jahreszeit aus dem Kloster?«

»Seit dem Scheiterhaufen, der Euch schädlich wurde, ist von St. Nikolaus der Friede gewichen«, klagte der Mönch. »Die Bürger mögen uns nicht mehr leiden, und kaum trauen wir uns auf die Straße; einige von uns sind ganz ausgelaufen, und wir übrigen leben in Furcht. Mich sandte der Prior nach Elbing; auf dem Wege wurden wir von Reitern überfallen, aus dem Schlitten geworfen und geplündert, die Räuber ließen mich nach harten Stößen frei, doch in dem Schnee schwand mir die Kraft, und ich war meiner letzten Stunde gewärtig.« Henner lachte verächtlich.

Zu diesem trat Anna, das schlummernde Kind in den Armen haltend, verneigte sich und begann herzlich: »Gestrenger Junker, für meinen Hausherrn und für mich erbitte ich als werte Gunst, daß Ihr es nicht verschmäht, das Amt eines Gevatters bei unserm Knaben zu übernehmen. Denn ich hoffe, der Priester ist gefunden.« Das umwölkte Gesicht Henners wurde freundlicher, er erhob sich und nahm die Stelle mit geziemenden Worten an.

Anna aber blieb stehen und sah flehend zu ihm auf. »Da wir wünschen, daß Bruder Pankratius den Kleinen zum Christen weiht, [] so bitte ich, daß Ihr der Gevatterschaft zu Ehren den Bruder mit Eurer Rache verschont.«

»Ihr wollt mich fangen, junge Frau«, versetzte Henner zwischen Unwillen und Lachen. »Ich sehe wohl, ich bin Euch einen Gevatterdienst schuldig; aber wenigstens ein Ohrläppchen muß er hergeben.«

Doch auch dies wurde dem rauhen Gesellen in den nächsten Tagen abgehandelt. Auf die Einladung seiner Kinder kam der Magister unter sicherem Geleit, er segnete gerührt den Enkel und nannte ihn einen Romulus, der, obgleich von Geburt ein Königssohn, unter die Wölfe ausgesetzt sei. Und der Bruder, welcher sich in guter Pflege wieder erholt hatte, vollzog die Taufe. Als dieser am nächsten Tage mit neuem Lebensmut unter dem Schutze eines sicheren Knechtes wegziehen sollte, nahm er von Anna wehmütigen Abschied. »Ich habe dem Bruder Gregorius vor dem Scheiterhaufen die Büchlein zugereicht, und jetzt danke ich Euch Leben und Gesundheit! Vielleicht schaffen die Heiligen, daß ich Euch wieder einen Dienst erweise.« Draußen aber winkte er Georg zur Seite und begann mit hohem Ernst: »Nehmt als Dank für Eure Gutherzigkeit eine Warnung: Euer Feind, der bisher krank im Kloster lag, ist endlich genesen und ist nach dieser Gegend zu dem polnischen Kastellan Pan Stibor aufgebrochen, um an Euch seine Rache zu nehmen, denn damit hat er Euch oft bedroht. Wisset, es ist ein Anschlag gemacht, entweder gegen Euch allein oder auch gegen Eure ganze Gesellschaft. Denn da ich um die Pflege des Kranken zu sorgen hatte, hörte ich etwas weniges von den Reden des Polen mit Herrn Hutfeld Bürgermeister, welcher jetzt Burggraf werden soll, weil den alten Herrn Friedewald der Schlag getroffen hat. Die beiden waren in Unruhe wegen Eures Fähnleins und überlegten, ob es von den Unzufriedenen einmal in unsere Landschaft geladen werden könnte. Darum traut dem Stillstande nicht und wahret Euch selbst, Euer liebes Weib und Kind vor Eurem Todfeinde.«

Aufgeschreckt durch die Nachricht, wollte Georg mehr erfahren, aber der Mönch verweigerte weitere Rede. »Das andere ist Geheimnis des Ordens, die Heiligen mögen mir verzeihen, wenn ich Euch schon zuviel gesagt habe.«

Diese Warnung des Mönches erhielt noch an demselben Tag von anderer Seite Bestätigung.

Der Wächter verkündete Gäste aus der Umgegend des Polenlagers. In den Schloßhof traten drei ausgewetterte Gesellen, über den geschlitzten Landsknechtshosen, deren bunte Farbe durch Wetter und Lager unscheinbar geworden war, trugen sie kurze Pelze, an den Beinen hohe Stiefel, und jeder von ihnen führte eine der Landsknechtwaffen: Spieß, Hellebarde oder Feuerrohr, woraus Hans schon von weitem erkannte, daß sie sich nicht zufällig zusammengefunden [] hatten, sondern als Erwählte ihres Haufens gekommen waren. Er richtete sich deshalb hoch auf und begrüßte sie am Tore mit größerer Förmlichkeit, als sonst Brauch war. »Seid willkommen, Hauptmann und gute Gesellen. Ob ihr einen Auftrag auszurichten habt oder nur als gute Nachbarn kommt, des letzten Zwistes soll nicht gedacht werden.«

Da Hauptmann Heinzelmann, ein hagerer Alter mit schlauem Gesicht, vorsichtig erklärte, daß sie im Auftrage kämen, so ließ Hans den Trommler anschlagen und die Führer und Doppelsöldner zum Rate laden. Als der Kreis geschlossen war, begann der fremde Führer: »Nehmt unsere Botschaft, ihr Landsleute, im guten auf, wie wir sie bringen. Wir haben lange einander gegenübergelegen ohne scharfen Gruß und haben uns als Nachbarn vertragen. Beide sitzen wir geldlos mit Vertröstung und dürfen fragen, wieweit wir den Herren, die uns geworben haben und nicht bezahlen, zu Dienste sein wollen, und wir haben gefunden, daß wir ihnen geringen Dienst schuldig sind, um geringen Lohn.« Er hielt an, die Knechte nickten ihre Beistimmung, und Hans bestätigte: »Es ist so, wie Ihr sagt. Ich hoffe, ihr habt uns treu gefunden, und auch wir wollen heut nicht Ursache suchen, über euch zu klagen.«

Der fremde Redner billigte die Worte mit höflichem Lächeln und fuhr fort: »Dieselbe Treue denken wir euch jetzt zu erweisen, wo der Mond wechselt und das Wetter sich ändern will. Nämlich, uns ist die Kunde zugegangen, daß Pan Stibor und seine Edelleute einen Wagen mit Geld heranfahren, und um gutes Geld eine Verschärfung unseres Gelübdes und unserer Arbeit fordern werden. Ihr Plan geht, wie wir meinen, gegen euch und den Garten, den ihr besetzt haltet. Da wir uns nun lieber mit euch vertragen, als gegen euch schlagen, so fragen wir euch im guten und in treuer Gesinnung, ob ihr von dieser Burg weichen wollt und uns das Land räumen, damit wir es ohne Blutvergießen behaupten. Ihr wißt, wir sind im Vorteil, dennoch bieten wir euch mit eurer Habe, mit Weib und Kind, mit Karren und Pferden freien Abzug.«

Ein Gesumm und Gemurr erhob sich im Kreise, und Hans antwortete: »Wir haben vernommen, was Ihr gesprochen; Ihr wißt, daß Brauch der Knechte ist, allein untereinander zu beraten, wenn nicht einmal, dann zweimal. Ich ersuche Euch also, daß ihr so lange aus der Runde weicht.« Er winkte einem der Rottenführer, welcher die Fremden zur Seite wies. Nach kurzer Beratung wurden sie wieder in den Ring geleitet und Hans sprach: »Günstige Gesellen, wir bedanken uns für eure Erinnerung und bitten, daß ihr euch nicht beschwert haltet, wenn wir euren Vorschlag nicht annehmen. Wir haben an unsern Brotherrn eine Forderung von Sold und Reisekosten, welche groß ist, wir können unser sauer verdientes Geld nicht im Stiche lassen; und ihr würdet ebenso handeln.«

[] Hauptmann Heinzelmann, der auf diese Antwort vorbereitet war, versetzte: »Wir verstehen wohl, daß ihr eures Beutels gedenkt, obwohl euer Brotherr schwerlich imstande sein wird, jemals nur einen Teil eures Soldes zu zahlen. Dennoch wollen wir euch noch weitere Kameradschaft erweisen und wollen den Pan Stibor drängen, daß er euch ein Drittel eurer Forderung zahlt und freie Zehrung auswirkt bis an die Grenze der polnischen Herrschaft, wenn ihr auf dem kürzesten Wege ohne Rasttage hindurchziehen wollt. Ihr aber bedenkt, daß der Sperling in der Hand auch etwas wert ist, zumal wenn man ihn ohne eigene Gefahr erfassen kann.« Er trat zum zweiten Male aus dem Kreise. Diesmal dauerte die Beratung länger, und mehrere Stimmen mahnten ernsthaft, daß man das Drittel nehme.

Georg stand im Ringe, die fliegende Fahne in der Rechten. Als die Knechte über den Abzug verhandelten, schlug er schweigend das Fahnentuch zusammen und steckte die Fahne verkehrt in den Boden. Da erhob sich lautes Geschrei, und Hans begann erschrocken: »Was tut Ihr, Fähnrich, daß Ihr die Fahne bergt wie vor Missetätern?«

Georg antwortete: »Liebe Gesellen, ihr fragt, was eurem Säckel frommt; mich aber habt ihr dazu gesetzt, daß ich die Ehre der Bruderschaft wahre, und da ich Worte höre, welche zu Meineid und Verrat an unserm Kriegsherrn führen, so behüte ich die Fahne und berge das Tuch, denn ihr wißt, daß es nicht über eure Schande wehen darf.« Wieder erhob sich lautes Geschrei, und einzelne griffen zornig nach den Waffen, aber Hans entschied mit starker Stimme: »Er übt sein Recht, und wir dürfen es ihm nicht wehren. Dennoch mahne ich Euch, Fähnrich, daß Ihr den Sinn der Brüder nicht mehr beschwert, denn noch ist nichts abgemacht.«

»Beschließt, Euch als fromme Knechte zu halten«, rief Georg, »dann werfe ich das Tuch in den Wind über ehrliche Leute.«

Darauf sprach Benz Streitenberg. »Vernehmet den Rat eines Alten. Daß der Stibor uns einiges Geld hinlegt, das können wir bewirken, wenn wir die Stadt preisgeben; aber wir können nicht hoffen, daß wir es in das Reich bringen. Denn sobald wir das Geld des Polen nehmen, verlieren wir die Fahne und den Schutz des Hochmeisters, und ohne Fahne sind wir ein armer Schwarm von Flüchtigen, welche des Befehls und der Ordnung entbehren. Wie wollen die einzelnen mit dem Troß unversehrt aus diesem Lande sich retten? Der gerade Weg hinaus führt drei Tagereisen durch ödes Heideland. Wer soll dort die hungrigen Mäuler verpflegen? Und das Geld in den Taschen wird uns Wegemüden von den polnischen Strauchdieben bald abgejagt werden.«

Dieser Meinung waren auch andere, es erhob sich lautes Geschrei und Getümmel und dazwischen der Ruf: »Stellt die Frage und hebt die Hände, damit wir nicht weiter beraten in Schande.« Als nun [] Hans fragte, erhob eine große Mehrzahl die Hand für Ablehnen, und Georg lachte und rief, das Tuch entfaltend: »Ich bedanke mich bei euch, Hauptmann und Gesellen.«

Als die Fremden wieder in den Kreis geführt wurden, sprach Hans feierlich: »Mein Volk muß ablehnen, was ihr geboten, um der Fahne und des Eides willen; wir aber sagen euch Dank und bitten, daß ihr nicht für ungut nehmt, was wir nicht mit leichtem Herzen beschlossen haben.«

Die fremden Landsknechte vernahmen den Entscheid ohne Verwunderung, und der Sprecher sagte nur: »Bestätigt auch ihr, daß wir euch, soweit wir vermochten, gute Nachbarschaft gehalten haben.«

»Das tun wir«, riefen die Knechte, und Hans gebot: »Geschlossen ist der Rat und geöffnet der Ring, euch aber bitte ich, daß ihr als unsere Nachbarn einen Trunk nicht verschmäht.«

Die Boten waren der Einladung nicht abgeneigt, und der Haufen geleitete sie in die Halle; ein Faß wurde herangeschleift und starkes Zechen begann. In heller Fröhlichkeit und mit hochroten Wangen tranken die Parteien einander zu auf gutes Glück und treue Nachbarschaft, am lautesten die Heimischen, weil sie eine Sorge im Herzen bargen. Der fremde Hauptmann lobte die feste Mauer und das Schloß und begann scherzend: »Wenn ja das Schicksal wollte daß wir noch einmal gegeneinander schlagen müßten, so wird euch der Vorteil der Mauern und des Grabens nötig sein, damit ihr die starken Fäuste meiner Knechte abwehrt. Denn obwohl wir an Zahl ziemlich gleich sind, so meinen unsere Gesellen doch, daß ihr im freien Felde euch niemals gegen uns wagen werdet.«

Da erwiderte Hans, gehoben vom Trunke: »Wir begehren gegen euch keinerlei Vorteil der Mauer und des Grabens; auch in gleichem Kampfe trauen wir euch obzusiegen nach unseres Ordens Brauch auf offener Heide, im gevierten Haufen, wann und wie ihr den Kampf begehrt.« Und seine Genossen riefen stürmisch die Bestätigung. Der Fremde aber sprach mit lauter Stimme: »Wenn sein müßte, was wir nicht begehren, soll alsdann das Wort gelten, ihr frommen Knechte?« Alle schrien: »Ja«, Hans schlug ein, daß es schallte und setzte lachend hinzu: »Wenn es sein muß.« Auch der andere lachte.

Erst gegen Abend brachen die Gäste auf.

Hans, der die Fremden bis zum Kreuz geleitet hatte, kehrte nachdenkend ins Lager zurück; am Tore erwartete ihn Georg: »Sie werden den Kampf fordern, Hauptmann.«

»Ich denke nicht«, versetzte Hans unsicher. »Sie werden sich ungern Schläge holen; sie wissen auch, daß wir kahl sind und daß sie bei uns nur geringe Beute finden.«

Als Georg am Abend in seine Behausung zurückkehrte, betrat er vorsichtiger als sonst die Frauenstube. Es war still darin, kein Gruß [] empfing ihn, er vernahm nur leise Atemzüge. Mutter und Kind lagen in friedlichem Schlaf, der Kleine näher der Wand, durch Betten gegen den kalten Zug aus den Steinen ge schützt, die Mutter vor ihm, noch im Schlaf mit ihrem Leibe seine Schützerin. Der Vater stand lange versunken in den Anblick des liebsten Lebens, welches in zwiefacher Gestalt vor ihm lag, und sein Auge wurde feucht. »Mein alter Feind gedenkt die Rache an einem zu nehmen, noch weiß er nicht, daß er mit einem Schlage drei Leben trifft. Ob er den Fähnrich allein sucht oder auch die Fahne, in jedem Fall hat er dafür gesorgt, daß er im Vorteil ist. Ich sah den hündischen Blick des fremden Landsknechts, als unser Hauptmann den Kampf auf der Heide versprach. Ich fürchte, er hat damit auch euch, ihr beiden süßen Schläfer, den Dritten abgesprochen, der zu euch gehört. Wenn das Fähnlein auszieht und der Fähnrich den Rückweg nicht findet, was wird alsdann aus diesen? Vater im Himmel, tu mit mir, was du willst, aber rette mein Weib und Kind.« Er kniete am Lager nieder und hob in bittrer Angst die Arme nach der Höhe, bis der kleine Sohn die geballten Händchen öffnete und schrie Da erwachte die Mutter, sie lächelte glücklich, als sie das Antlitz des Gatten dicht neben dem ihren sah, und sie fand noch Zeit, den Arm um seinen Hals zu legen und ihn herzlich zu küssen, bevor sie sich zu dem Schreier wandte. Da lachte Georg wieder und sagte ihr noch halblaut Lustiges von der Gesellschaft, aus welcher er kam, bis er sich auf sein Lager an der Tür warf und das Gesicht der Fahne zuwandte, um die wilde Neuigkeit weiter zu erwägen.

Am andern Morgen rief er den Magister in die Turmstube und berichtete seinem Weibe in Gegenwart des Vaters einiges von seinen Sorgen. »Es ist ein Anschlag im Werke, sich dieses Schlosses zu bemächtigen. Obgleich der Krieg durch Stillstand geendigt ist, so hoffen die Polen doch, bei einem künftigen Frieden zu behalten, was sie jetzt in Besitz nehmen, und es ist wohl möglich, daß diesem Schlosse eine Belagerung droht. Denn wir haben die Pflicht, die Stadt und das Amt dem Hochmeister zu bewahren. Da ist mir der Gedanke unerträglich, daß euch die Unruhe umfassen könnte. Wuz zieht morgen mit einigen Knechten nach der Seite hin, wo Elbing liegt. Vermagst du mit dem Kinde bei günstigem Wetter die Schlittenfahrt zu wagen, so will ich, daß du mit dem Vater dorthin aufbrichst und in den nächsten Tagen nicht zurückkehrst, sondern dort oder wo es dem Vater am sichersten erscheint, verweilst, bis über dieses Amt und das Fähnlein entschieden ist. Denn, wie man vernimmt, ist auch im Werke, das Fähnlein zu entlassen.« Als er so sprach, suchten zwei große Augen angstvoll seine ganze Meinung zu verstehen, der Magister aber fiel ihm eifrig bei. Anna sprach nicht ja, nicht nein, sie beugte sich über das Kind, und ihre Tränen fielen auf den Kleinen herab. Georg selbst mühte sich, die Bewegung, [] welche ihn fast übermannte, in der Geschäftigkeit zu verbergen, womit er den Aufbruch betrieb. Anna saß unterdes bleich und schweigend, das Kind im Arme, aber sie regte sich nicht, um für die Reise zu rüsten, wie Frauen pflegen. Nur des Kindes Bedarf, über dem sie im Herbste genäht, rollte sie in ein Bündel. Erst als Georg heraufkam, ihr zu sagen, daß der Schlitten seiner Ladung harre, erhob sie sich und trug ihm das Kind entgegen: »Vater, segne deinen Sohn.« Da verließ ihn die Fassung, die er bisher mühsam bewahrte. Er hielt den Knaben unter Tränen in den Armen, und sie sprach leise zu ihm: »Das Jahr ist zu Ende.« Und als er das Kind in die Hände des Großvaters legte, umschlang sie ihn mit heißer Leidenschaft und hing an seinem Halse, er aber hob sie in wildem Schmerze und trug sie nach dem Schlitten. Sie hielt die Augen starr auf ihn geheftet, bis die Pferde anzogen und der Weg ihr seinen Anblick entzog. Beide vernahmen nichts von den Grüßen und Abschiedsrufen der Männer und Weiber, welche sich um den Schlitten gesammelt hatten, denn in unsäglichem Weh und schwerer Ahnung schwanden ihnen die Gedanken.

In dem stillen Kontor des Marcus König fanden sich jetzt zahlreiche Besucher ein, doch kamen sie schwerlich als Kunden des Geschäftes. Es waren meist Zunftgenossen aus der Neustadt, sie traten vorsichtig von der Hintergasse in den Hof, und während sie in der Kammer mit dem Kaufherrn und dem Gehilfen verhandelten, hielt Dobise, über einem Frachtstück beschäftigt, an der Vordertür Wache und pochte, so oft ein störender Gast nahte. Als Marcus sich gegen Abend von seinem Sitz erhob, sagte er mit stolzem Lächeln zu seinem Vertrauten: »Die Flut steigt schnell, die Galeone von Thorn fühlt Wasser unter dem Kiel, es wird Zeit, daß wir alle Hände zuhauf rufen.«

Da meldete Dobise mit schlauem Augenzwinkern einen Fremden, der in dringendem Geschäft den Herrn allein sprechen müsse. Marcus trat eilig in den Flur, fand einen kleinen verhüllten Mann, der seinen Hut tief in die Augen gedrückt hatte, und winkte mit der Hand in die Wohnstube. Dort erst nahm der Gast den Hut ab, der Magister stand dem Kaufherrn gegenüber. Die Gestalt des Marcus hob sich wie zum Kampfe, und ohne dem andern einen gastlichen Sitz zu bieten, begann er: »Was führt den Herrn Magister in die Stadt, welche ihn gebannt hat, und was führt ihn zu dem Vater, welcher durch ihn seines Erben beraubt ist?«

Das Gesicht des Gelehrten war gerötet, und seine Stimme zitterte, als er zur Antwort gab: »Die Sorge eines Vaters zwingt mich zu Euch, auch ich habe ein Kind, welches durch Euren Sohn der Herrschaft des Vaters entzogen wurde, wahrlich ohne meinen Willen und in furchtbarer Notzeit. Als es sich für Euren Sohn und meine [] Tochter um Ehre und Leben handelte, haben die Armen sich vermählt. Sie mußten den Segen der Eltern entbehren, aber Gott hat ihre Ehe gesegnet, ein Enkel ist Euch und mir geboren, und ich bin in die Stadt gedrungen, um Euch, hochansehnlicher Kaufherr, als dem Vater und Großvater, dies anzuzeigen und Euch zu bitten, daß Ihr durch Eure Bestimmung und durch Euren Segen die Ehe bekräftigt.«

Marcus trat zurück, und ein düsteres Licht glomm in seinen Augen. »Sendet Euch der Fähnrich Georg König?«

»Er weiß nichts von dieser Reise.«

»Weilt Eure Tochter bei ihm?«

»Ich habe sie und das Kind mit seinem Willen zu besserer Sicherheit und Pflege nach Elbing geführt.«

»Dort mögt Ihr sie von jetzt an bewahren«, versetzte Marcus, »und redlicher, als Ihr seither getan.«

Den Magister ergriff unsägliche Angst bei der abweisenden Haltung des strengen Mannes, und mit heiserer Stimme fragte er: »Wie soll ich Eure Rede deuten, Herr?«

»Daß ich als Vater dem wilden Zusammenleben feindlich bin und daß ich einer Ehe meines Sohnes mit Eurer Tochter, von der Ihr redet, Einwilligung und Segen verweigere.«

Dem Magister bewegten sich krampfhaft die Hände. »So war meine Ahnung«, murmelte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Erst nach einer Weile fand er die Worte: »Obgleich ich kein großer Mann auf Erden bin, so wird mir doch schwer, mich zu demütigen; aber heut tue ich es, nicht für mich, sondern für mein armes unglückliches Kind, und ich flehe Euch herzlich und in Todesangst an, erweist uns Geschlagenen eine mildere Gesinnung, laßt meine Tochter nicht in Schimpf und Unehre vergehen, denn ich sage Euch, Herr, sie ist ein gutes Kind, und sie war der Stolz meines Lebens.«

»Auch Georg König war lange die Freude seines Vaters und dem einsamen Hause die einzige Hoffnung«, antwortete Marcus. »Wer trägt die Schuld, daß er von seinem Vater und aus der Heimat hinausgeworfen wurde in ein elendes Leben? Ihr, Herr Magister, und Euer Kind. Jahrelang habt Ihr Besuche meines Sohnes und heimliche Liebschaft in Eurem Hause geduldet; Ihr selbst habt in seine Seele Irrlehren und Unglauben gesäet, Euch zuliebe geschah es, daß er sich offen gegen die heilige Kirche empörte und der Blutrache des polnischen Königs verfiel. Und Ihr und Euer Kind habt bewirkt, daß er in wüstem Leben bei fremden Landsknechten festgehalten wurde. Durch Euch ist der Sohn dem Vater entfremdet. Mit Bitterkeit und Gram habt Ihr mein Leben erfüllt, und jetzt wagt Ihr vor mich zu treten und von mir zu fordern: Gib einen Segen, alter Mann, zu unserm Werke.«

[] Der Magister stand wie überwältigt durch die Vorwürfe des Gegners. »Unser Vater im Himmel weiß, daß ich von der Neigung Eures Sohnes nichts geahnt habe, solange ich mit ihm zusammen war, und unser Vater im Himmel weiß auch, daß meine liebe Tochter züchtig und ehrbar in Worten und Werken gelebt hat. Was ich Eurem Sohne beigebracht habe von Lehre und Gedanken, das ist wahrhaftig in guter Gesinnung geschehen; keiner vermag anderes zu geben, als er hat, und ich habe ihm in Latein und in Lehrmeinungen überliefert, was für den Magister Fabricius der Stolz seines Lebens war. Wenn Euch das nicht gefällt, Herr, so ist dies nicht die Schuld des Lehrers, denn Ihr habt mich geworben. Wenn Ihr mir sagt, daß wir Euch den Sohn entfremdet haben, so sage ich dagegen Euch, Euer Sohn hat auch mir mein Kind entzogen. Und ich weiß, wie wehe es einem Vater tut, wenn er sein Kind einem andern überlassen soll. Dies aber ist von dem Allmächtigen selbst geordnet, daß die Kinder Vater und Mutter verlassen um der Gatten willen, und weder Ihr noch ich haben ein Recht, darüber zu zürnen, wie wehe es auch tun mag. Darum, Herr, unternehme ich, was ich noch niemals in meinem Leben getan habe, ich flehe zum zweitenmal da, wo ich einmal abgewiesen bin, nicht für mich, sondern für mein Kind. Herr, Ihr bedenkt nicht, um was es sich hier für meine Tochter Anna handelt«, rief er mit stärkerer Stimme. »Die Frage ist, ob sie vor den Leuten ein redliches Weib sein soll, oder eine Dirne. Ihr habt oft Gut und Geld gewagt, Herr, aber niemalen wart Ihr in der Lage, daß der böse Wille eines andern Euch so elend und verworfen machen konnte, wie Euer böser Wille mein liebes Kind elend und verworfen machen kann; ein gutes Kind, Herr, und wie ich Euch sagte, die Freude meines Alters. Und wahrlich, Herr, für Euer stolzes Haus wäre es ein Segen und ein Glück, wenn mein Kind als Eure Schwiegertochter darin hauste. Und ich versichere Euch, Herr, hätte ich eine Ahnung gehabt, daß Euer Sohn heimlich meine Tochter im Herzen trug, ich hätte ihn, wie wert er mir auch als Schüler geworden war, aus dem Hause gejagt auf Nimmerwiedersehn. Denn nichts ist mir in meinen Tagen nächst den Lügen der Pfaffen so verhaßt gewesen, als der Dünkel der Reichen, und niemals, Herr, habe ich die Gesellschaft Euresgleichen geliebt und gesucht, denn ich weiß wohl, wie selten Nächstenliebe und ein freundliches Herz unter den Geldsäcken gedeiht. Und darum, Herr, mahne ich Euch noch einmal und zum letzten Male, nicht mehr um meines Kindes willen, sondern um Eures Sohnes willen, damit er nicht als Schelm und Bösewicht gegen meine Tochter fortlebe, und ich mahne Euch noch einmal um Euer selbst willen, damit Euch das Unglück, das Ihr über mein Kind bringen wollt, nicht in Eurer letzten Stunde das Scheiden schwer mache.«

Marcus, dem die steigende Heftigkeit des andern seine Ruhe [] zurückgab, antwortete ohne Härte: »Ich bin alt und denke zuweilen an meine letzte Rechnung. Der Sorge dafür enthebe ich Euch. Hat mein Sohn in dem Übermut der Jugend ein Unrecht an Eurer Tochter geübt, was ich nicht weiß, so muß er das Unrecht auf sein Leben nehmen und bei den Heiligen um Vergebung seiner Schuld werben. War es auch für Euch ein Unglück, was für mich leidvoll geworden ist, daß mein Sohn in Euer Haus kam, so bin ich bereit, Euch die Entfernung aus diesem Lande möglich zu machen, welche Ihr selbst wünschen müßt. Sagt mir, wo Ihr Euch hier verborgen aufhaltet, damit ich deshalb meinen Gehilfen zu Euch sende.«

Das gerötete Gesicht des Magisters erblich während der Rede des andern wie das eines Sterbenden. Er drückte seinen Hut in das Gesicht, rief mit heiserer Stimme: »Pfui! Sendet Euren Gehilfen in die Weichsel!« und stürzte aus dem Hause.

Unterdes ging Lips Eske, bei welchem der Magister das Versteck gefunden hatte, unruhig in seiner Kammer auf und ab und erwartete die Rückkehr des Lehrers. Als der Alte entstellt in Antlitz und Gebärde hereinwankte, erkannte der treue Knabe, daß alles gekommen war, wie er gefürchtet. Er rückte schnell dem Magister einen Sessel, der Alte hielt sich daran. »Schaffe mich fort, mein Sohn, denn der Boden dieser Stadt brennt mir unter den Füßen.«

»Ich leide nicht, daß Ihr so von mir geht«, bat Lips, und drückte den Gelehrten in den Stuhl, »hier sitzt nieder und nehmt diese Stärkung.« Er goß Vein in ein Glas und zwang den Alten, die Lippen zu befeuchten. »Und wenn Euch lästig ist, mir die Reden des harten Mannes zu wiederholen, so sollt Ihr stillsitzen; aber bleibt bei mir, Herr Vater, bis Ihr Euch erholt habt, hier seid Ihr sicherer als anderswo. Ich weiche nicht mehr von Eurer Seite, bis ich Euch wohlbehalten außerhalb des Stadtgrundes sehe.« Er setzte sich zu ihm, umfaßte die Hand des stöhnenden Alten, hielt sie fest und strich sie zuweilen mit seinen knochigen Fingern, wie ein Kind die Hand seiner lieben Mutter streichelt. Der Magister ließ sich das gefallen, und die beiden beharrten lange, ohne ein Wort zu sprechen. Endlich ermannte sich der Magister. »Du hast das Verzeichnis meiner Bücher, die ich in Verwahrung des Lischke zurückließ.«

»Ja, Herr Vater. Ich selbst bewahre den Schlüssel.«

»Gib das Verzeichnis an Hannus, er soll aus alter Gunst die Bücher hier oder in Danzig verkaufen, sich einen gebührlichen Vorteil nehmen und den übrigen Ertrag dir einhändigen.«

»Aber, Herr Vater, Eure ganze Liberei? Sie war für Euch ein Schatz.«

Der Gelehrte bestätigte durch ein Kopfnicken. »Sie ist mühsam zusammengebracht, und manches Geschenk ehrenwerter Gönner steht darunter. Aber sie muß fort, mein Sohn, und so schnell als [] möglich. Empfängst du das Geld, so trägst du es zu dem reichen Manne, von dem ich komme, und sagst ihm: dies sei die Summe, welche der junge König dem weiland Magister Fabricius damals auszahlte, als er sein Weib Anna, geborene Fabricius, und seinen Sohn Romulus König dem erwähnten Magister zu fernerer Behütung übergab. Ob das Geld im Betrage stimmt, wird unwichtig, da es alles ist, was ich besitze.«

»Das Geld will ich übergeben; aber was bedeutet weiland, Herr Vater?«

Finster antwortete der Alte: »Der lateinische Ehrenname Fabricius ist von heute ab verloren; der Mann, welcher unrühmlich und verborgen zu leben hat, heißt fortan mit gemeinem deutschen Namen Schmieder.«

Mit Betrübnis hörte Lips den verzweifelten Beschluß. »Vertraut mir, lieber Herr Vater, was wollt Ihr jetzt tun?«

Der Magister richtete sich auf und saß stolz vor ihm wie in der Schule: »Erinnerst du dich noch an den Römer Virginius, welcher seine Tochter vor Unehre zu bewahren hatte?«

»Herr Vater«, rief Lips, erschrocken aufspringend.

»Still«, gebot der Magister, »wir sind Christen, und es war nur ein Beispiel.«

Tag auf Tag verrann, und Georg erhielt von Anna und seinem Kinde keine Nachricht. Der Tauwind erhob sich und schüttete Regenwolken über das Stromeis und die Schneehügel der Heide. Auf die starre Ruhe des Winters folgte wilde Bewegung, in zahllosen Rinnen lief das Wasser, es tilgte den Schnee, hob die Eisdecke der Bäche und wälzte die Trümmer dem Meere zu. Georg sandte Boten über Boten nach der Stadt Elbing, aber keiner brachte Kunde von seinen Lieben. Wortkarg saß er unter seinen Gesellen, täglich ging er hinaus auf die Stellen, wo im vorigen Jahre Anna gern geweilt hatte; wenn er des Abends in dem öden Turm saß, hörte er die Stimme der Gattin und den Schrei des Kleinen, aber was von den Mauern widerklang, waren nur die Seufzer seiner eigenen Brust. Unterdes kam langsam die Gefahr heran, welche er vorausgesehen. Das gute Einvernehmen mit den polnischen Landsknechten hörte plötzlich auf. In den Grenzdörfern gab es täglich Zusammenstöße, Pferde wurden gestohlen, Knechte erschlagen, entlaufene Dirnen nicht zurückgeliefert, und auf die Beschwerden, welche Hans den Nachbarn zugehen ließ, kamen abweisende Antworten und höhnende Reden. So geschah es, daß die Knechte in kurzer Zeit zornig wurden und beim Hauptmann Rache forderten und daß dieser Mühe hatte, den Ingrimm der Seinen zu bändigen. Jeden Tag erwartete Georg, daß die Feindschaft zu heller Flamme aufschlagen werde. Als er einst draußen am Walle stand, unweit des [] wilden Rosenbusches, und an die Stunde dachte, wo er Anna in den Schlitten hob und an den Unheil ahnenden Blick, mit dem sie von ihm schied, da kam Henner durch die Pforte auf ihn zu; unsicher war der Schritt des rastlosen Gesellen und in Falten zusammengezogen sein Antlitz. »Habt Ihr Botschaft von Eurem Weibe?« fragte er mit heiserer Stimme.

»Ihr bringt die Botschaft«, schrie Georg.

»Ich ritt nach Elbing, obwohl es dort für unsereinen nicht geheuer ist, und fragte in den Herbergen des Hafens. Die Leute erzählten als Schiffernachricht, daß ein Weichselkahn umgeschlagen sei und die Fahrenden im Strome ertrunken: ein kleiner Alter, ein junges Weib und ein Kind. Ich lief zu dem Wirt, bei dem der Magister gewohnt hatte, er hielt mir den Brief eines Danziger Buchführers entgegen, den er eben erhalten, der Brief meldete dasselbe, mit dem Auftrage, Euch davon Nachricht zu geben.«

Georg stieß einen gellenden Schrei aus, daß Henner zurückfuhr, und stürzte wie ein gefällter Stamm zu Boden; er lag stöhnend und wandte das Antlitz vom Himmel ab, der Erde zu. Henner beugte sich an ihm nieder und versuchte unbehilflich Tröstendes zu sagen, aber der Liegende verstand ihn nicht und entzog ihm wild die Hand. Da setzte sich Henner schweigend neben den Geschlagenen, und während diesem der starke Leib zuckte und schauerte, schrieb er mit der Schwertscheide Totenkreuze in den Sand. Der Regen rieselte herab, er nahm seinen Mantel von den Schultern, warf ihn über den Fähnrich, setzte sich wieder auf den Stein und zeichnete von neuem viele Kreuze um sich und den andern, soweit sein Arm reichte. Als endlich ein Bube vorüberlief, ließ er den Hauptmann benachrichtigen und rief dem erschrockenen Hans zu: »Hier liegt, was von Eurem Fähnrich übrig ist; helft ihn nach dem Turm schaffen.« Sie hoben den Armen, der sie zuerst rauh abwehrte und sich dann schwerfällig wie im Traume zum Turm bewegte. Dort warf er sich auf sein Lager, das Gesicht der Wand zugekehrt, und Henner blieb neben ihm sitzen und mühte sich, den Fußboden aufs neue mit den Zeichen des Todes zu bedecken.

Als der Hauptmann am nächsten Morgen eilig eintrat, fand er einen bleichen, finstern Mann, der am Herde vor sich hinstarrte, während Henner an Stelle der Hausfrau Töpfe zum Feuer rückte. »Vermögt Ihr herauszukommen, Fähnrich, so gedenkt der Fahne«, mahnt Hans bekümmert, »es ist etwas auf dem Wege.«

»Der Pole kommt«, antwortete Georg mit rauher Stimme, »dies ist die rechte Zeit für ihn und mich.« Er legte schnell sein Schwert um, ergriff die Fahne und stieg mit seinem Gefährten die Mauer hinauf zur Stelle, wo die Wache stand, während Henner bei den Kochtöpfen zurückblieb.

Es war ein kalter Morgen, die Sonne stand gedeckt hinter einer [] dunklen Wolkenwand, über der kahlen Heide lag der Reif. Ein einzelner Reiter bewegte sich von dem polnischen Lager langsam heran.

»Er führt einen Kurzspieß und kommt als Bote«, sagte Wuz.

»Er reitet mit steifen Beinen«, fuhr der Hauptmann fort, »daran erkennt Ihr den Landsknecht, und wenn sie auf Kamelen und Seehunden ritten, sie müßten die Beine spreizen.« Er schüttelte den Kopf.»Es ist Tiele Storch, ihr Ausrufer, diesmal hat er's nicht eilig, alte Gesellen zu begrüßen.«

Argwöhnisch umschauend, ritt der Fremde in den Schloßhof. »Treibe deinen Gaul«, rief der Hauptmann von der Mauer herab, »der Morgentrunk ist bereit.«

Aber Tiele hielt mitten im Hofe an. »Ich bringe Botschaft an Euch und Eure Gesellen, gefällt es Euch, so hört sie unter freiem Himmel, wo die Sonne scheint und die Luft weht.«

Hans sah den Fähnrich mit düsterm Blicke an. »Der Wein ist ausgetrunken, werft die Gläser gegen die Wand und kümmert Euch nicht, wohin die Scherben fallen. Kommst du als Bote, so harre, bis ich die Brüderlade.« Er hob die alte Trommel, welche unter einem schützenden Dächlein stand, die dumpfen Schläge trieben die Knechte aus den Häusern, sie eilten an das Tor und traten mit ernsten Mienen in den Kreis, der sich nach der Seite des Fremden öffnete, so daß dieser dem Hauptmann und Fähnrich gegenüberstand. Er war vom Pferde gestiegen, hielt seinen Kurzspieß verkehrt mit der Spitze nach unten, und seine lauten Worte kamen mit Anstrengung aus der Kehle. »Ich grüße den Orden der freien und wehrhaften Knechte, tragen sie Spieße oder Rohr, ich grüße den Hauptmann, und ich grüße den Fähnrich, mit Gunst oder ohne Gunst bringe ich Botschaft von meinem Hauptmann und von meiner Bruderschaft, und sie senden euch, weil es nicht anders sein kann, dies rote Zeichen, nicht zu Liebe, sondern zu Leide, und sie sagen euch ab allen Frieden und bieten euch Unfrieden.« Er warf einen großen rotgefärbten Handschuh vor dem Hauptmann nieder. »Am dritten Morgen von heute wollen sie ausziehen gegen euch mit Harnisch und Wehr von Sonnenaufgang nach Untergang, um sich mit euch zu schlagen nach Landsknechtsbrauch. Am Kreuze auf brauner Heide, wo im Sommer die Blumen blühen und im Winter der Schnee weht, wollen sie den Grund rot färben mit eurem Blut. Ihr aber, Hauptmann, bestätigt, daß ich meinen Auftrag nach Gebühr verkündet, sei er mir oder Euch lieb oder leid.«

Hans trat einen Schritt vor und gebot: »Fähnrich, hebt das Pfand auf und bewahrt's. Wir aber bieten Euch und Euren Gesellen unsern Gegengruß ohne Gunst und in heller Feindschaft, die sie durch Euch gefordert haben. Am dritten Morgen von heut ab werden auch wir ausziehen mit Harnisch und Wehr von Abend gegen Morgen, damit [] wir euch treffen und auf brauner Heide schlagen nach Brauch freier Knechte. Euch aber bestätige ich, daß Ihr nach Gebühr abgesagt habt, wenn nicht zuliebe, dann zuleide, und die Bruderschaft verweigert Euch nicht den Botenlohn, der dem Absager gebührt als letzte Gunst. Holt einen Becher mit rotem Wein, damit er ihn trinke, abgewandt und ohne Bescheid.« Während ein Knecht den Trunk holte, standen die Männer einander schweigend gegenüber. »Ihr hattet es eilig, den Frieden aufzukündigen«, begann endlich Hans mit erheuchelter Ruhe, »ich selbst war gestern am Kreuz, aber ich sah keinen dürren Ast, der doch verabredet war als Warnung.«

Der Bote räusperte sich. »Der Pan Stibor kam erst gestern zu uns geritten, auf jeder Sattelseite einen Beutel mit Geld, er hat allen Rückstand bezahlt, doppelten Sold verheißen und ehrliche Ablohnung zum nächsten Monat, damit wir heimkehren, wenn wir vorher euch aus der Burg werfen und die Herrschaft über euren Garten in seine Hand geben.«

Hans wandte sich grimmig lächelnd zu seinen Gesellen: »Dann kommt ihr also schwer um die Hüften, mit gefüllten Taschen; meinen Knaben wird es wohltun, mit euch zu teilen. Nehmt den Becher und trinkt.«

Der Bote wandte sich ab, leerte das ansehnliche Gefäß, in dem aber nur Bier war, und goß die Neige in den Schnee. »Aus der Erde kam's, zur Erde fällt's«, sagte er, den Becher vor dem Hauptmann auf den Boden setzend.

»Aus der Erde wuchsen wir, und zur Erde sinken wir«, wiederholte Hans, das Haupt neigend, »unsern Seelen aber sei Gott gnädig. – Um die Männer haben wir gehandelt nach Brauch der gewappneten Knechte, sorgen wir jetzt um unsere Weiber und Kinder, daß sie Frieden behalten beim Sieger. Wollt Ihr einen Eid darauf geben und empfangen, damit ihr euch als ehrliche Feinde erweist? Denn ihr dient einem Fremden, der unlustig ist, unsern Brauch zu ehren.«

»Wir bieten Freiheit für die wehrlosen Weiber und Kinder, und von ihrer Habe Kochlöffel und Bett, ihr Gewand und was sie sonst unter dem Gürtel tragen.«

»Wir fordern auch Pferde und Wagen für die Unsern«, versetzte Hans, »und wir wollen sie den Euren gewähren.«

»Ihr wißt, daß dies gegen den Brauch ist«, antwortete der Bote rücksichtsvoll.

»Wir sind aber in fremdem Lande, und hundert Meilen über Heide und Schnee sind weit für kleine Füße.«

»Darf ich's nicht beeiden, so will ich doch bei meinen Brüdern dafür sprechen«, sagte der Bote.

Als der feindliche Rufer sich entfernt hatte, standen die Knechte auf ihre Wehren gelehnt und sahen bestürzt einander an.

[] »Die Hunde verlassen sich darauf, daß sie unser Gelöbnis in der Tasche haben«, murmelte Hans.

»Was werdet Ihr tun?« fragte Georg.

»Ihnen entgegenziehen, wie wir gelobten«, versetzte Hans düster. »Die Knechte können nicht in Schande leben.«

»Müßt Ihr das Fähnlein im Freien daran wagen, so dürft Ihr doch die Hilfe des Ordens anrufen, damit Euch der Rücken gedeckt werde.«

»Den Orden?« rief Hans verächtlich, »ich sage Euch, die Junker und alle ihre Kumpane werden froh sein, wenn man uns von hier vertreibt, und sie werden sich lieber mit den Polen vertragen, als uns helfen. Die Bürger aber und das Landvolk sind so armselig und zerschlagen, daß es ihnen geringe Sorge macht, wer aus der Burg nach ihren leeren Höfen sieht. Dies ist ein Streit, der nur uns Knechte angeht. Werden wir der andern Meister, so fegen wir ihnen die Taschen und ziehen in unsere Burg zurück, werden sie die Stärkeren, so ist ganz gleich, wer nach uns in diesen Steinen gebietet.«

»Dennoch mahne ich Euch, daß Ihr die Pflicht habt, diese Stadt und Burg unserem Kriegsherrn zu bewahren. Darum bitte ich, berichtet dem Pfleger ohne Verzug durch sichere Boten von dem drohenden Zweikampf.«

»Wozu dem Pfleger eine Freude machen? Sende ich einige aus meinem Haufen, so könnten sie fehlen, wenn ich sie brauche, und wir sind um keinen zuviel.«

»Wenn niemand reiten will, so entsendet mich.«

Hans sah ihn mißtrauisch an. »Wollt Ihr von uns weichen?«

»Ich hoffe, daß Ihr das nicht im Ernste meint«, rief Georg.

»Ihr aber sollt daran denken«, entgegnete der Hauptmann, »daß der Weisel den Stock nicht verlassen darf. Reitet Ihr ohne Euer Tuch, so geht es Euch an Ehre und Hals, und nehmt Ihr den Knechten das Zeichen weg, dem sie sich gelobt haben, so wird ihr Eid null und nichtig, und sie schwärmen auseinander wie Raubbienen. Was meine Knechte hier zusammenhält, ist nur der Glaube, daß sie im Haufen vor Eurer Fahne kämpfen müssen und Euch rächen, wenn Ihr auf dem Grunde liegt.«

»Wollt Ihr niemanden aus dem Fähnlein daran wagen, so gestattet, daß ich den Henner abschicke, damit er für Burg und Stadt eine Hilfe herbeiholt.«

»Die Helfer, wenn sie kommen, könnten uns bei der Gelegenheit selbst aussperren«, antwortete mürrisch der Hauptmann. »Doch tut nach Eurem Gutdünken.«

Georg kehrte zum Turme zurück und berichtete dem Reiter, welcher ruhig über dem Frühstück saß, in Eile die neue Gefahr. Henner erhob sich: »Zum Henker mit der ganzen Bruderschaft. Sie hätten sich dreimal besonnen, bevor sie für den Hochmeister ihre Hälse [] wagten, weil sie aber eine Bosheit gegen ihresgleichen gefaßt haben, stolpern sie wie Betrunkene in eine nutzlose Schlägerei.« Er stürzte die Blechkappe über sein Haupt. »Auch ich rate nicht, dem Pfleger zu vertrauen. Doch vernahm ich, daß der Hochmeister selbst zu einer Reise in das Deutsche Reich aufgebrochen ist und hier in der Nähe verweilt, vielleicht gelingt mir, ihn zu finden. Verlaßt Euch darauf, daß ich mein Pferd nicht schone. Tragt Euren Kummer wie ein Mann, Jörge, in drei Tagen hört Ihr von mir.« Er eilte hinaus, Georg warf sich in den Sessel, und sein Haupt sank ihm schwer auf den Herd.

Die drei Tage vergingen in stürmischer Vorbereitung. Schnelle Boten beritten die Dörfer der Umgebung und riefen die Rotten, welche dort mit ihrem Troß lagerten, nach der Stadt; die Waffen wurden gemustert, die Knechte neu eingeteilt und gezählt. Es waren noch an dreihundert Mann, welche unter die Fahne traten, und etwa ebenso stark sollte der feindliche Haufen sein. Aber die Knechte des Hans waren stolz auf größere Erfahrung im harten Kampfe.

Am Frühmorgen des dritten Tages stand Georg mit dem Hauptmann über dem Tore. Hans wies nach dem Osten, wo die Morgenröte feurig heraufstieg: »Dort oben brennt's rot genug, auf der Heide aber liegt der Reif. Noch niemalen habe ich vor einem Streite den Morgenschauer so tief im Mark gefühlt als heut.«

»Wenn unsere Knechte die Arme heben, werden sie wärmer werden«, versetzte Georg zerstreut und sah nach dem Wege, auf dem er die Rückkehr des Henner erwartete. »Er bleibt zu lange aus«, murmelte er.

»Ein Landsknecht soll sich niemals auf Pferdehufe verlassen, ist eine alte Rede«, sagte der Hauptmann.

»Wenn nicht Gewalt ihn zurückhält, so kommt er«, antwortete Georg.

»Wir aber können nicht warten, bis ihm gefällig ist, die Gesellschaft der Junker zu verlassen. Ich wollte, Fähnrich, eine, um die Ihr trauert, wäre heut hier. Sie würde einen Segen über unser Eisen sprechen.«

Er sah prüfend auf Georg. »Um Euch sorge ich nicht, obgleich Ihr zum erstenmal die Fahne im Sturme tragen sollt. Vergeßt nur nicht, sie hochzuhalten, die Spitze stracks nach vorwärts, denn auf dies Zeichen achten alle Knechte, und denkt auch daran, daß Ihr nicht in die erste Reihe gestellt seid und nicht in die zweite, sondern in die dritte, weil Ihr nicht selbst um Euch schlagen sollt, sondern das Tuch gegen den Wind halten. Nur wenn keiner mehr vor Euch steht und die fremden Fäuste nach Euch greifen, mögt Ihr die Fahne um Euch werfen und Eure Rechte gebrauchen, solange Ihr könnt.« Noch einmal sah er in die Runde und neigte sein Haupt. Dann gebot [] er mit mannhafter Stimme: »Laß die Trommel schlagen, Wuz, damit die Knechte ihren Frühtrunk verlassen.«

Die Trommel dröhnte, und Hans achtete scharf nach dem Ton; als die Schläge in der frischen Morgenluft kräftig über den Alarmplatz klangen, sagte er zufrieden: »Sie spricht an, ihr ist der Streit gelegen.«

In der Stadt wurde es laut, Weiber und Kinder schoben die Karren aus den Torwegen und warfen die Bündel hinauf, um sich in dem Schloßhofe zu bergen. Überall ängstliche Gebärden und wilde Rufe, die Knechte rannten zum Platze und stellten sich auf, viele mit bleichen Gesichtern und verstörten Mienen. Hans aber sprach zu seiner Frau, die gleich einem Mann bewaffnet zu ihm geeilt war: »Manches Jahr bist du Hauptmann gewesen in meiner Hütte und an meinem Feuer, heut übergebe ich dir, den Weibern und Troßbuben die Wache über das Schloß«, und leiser fügte er hinzu: »Auch die Wache über die Vorräte, welche ich hier zurücklassen muß. Stelle die besten der Weiber auf das Tor, laß Steine herzutragen und achte darauf, daß der Zugang und alles übrige verschlossen bleibt.«

»Sorge nicht um uns, Johannes«, versetzte das Mannweib, »achte auf dich selber, daß du nicht gerade mit dem Hauptmann zusammenstößt, denn er hat einen alten Groll auf dich noch vom Reiche her, und verdeckte Kohlen halten lange die Glut.«

»Euch haben sie Frieden gelobt. Wenn ich nicht wiederkehre, so gebraucht eure Zungen, damit sie ihr Wort halten; denn auch ein Unbändiger scheut sich vor eurem Geschrei und Fluchen. Ich denke, Alte, daran wirst du es nicht fehlen lassen, lange Jahre hast du dich bei mir redlich geübt.« Er hob ihr das Kinn und sah ihr vertraulich in das wettergebräunte Gesicht. Sie hielt seine Hand fest, und eine Träne lief langsam über die Wange.

»Sonst war ich näher bei dir auf dem Felde«, klagte die Frau.

»Unsere Spur ist breit genug, ich denke, du wirst noch zurechtkommen. Finde ich den Rückweg nicht, so findest du den Weg zu mir; ich hoffe, die Heiligen werden sich mehr um dich kümmern als um die an dern, weil du mit mir an der Kirchentür standest. Alles hat sein Gutes.« Er wandte sich ab und trat zum Haufen, dort gab er die letzten Befehle, dann hob er den Spieß, welchen er im Kampfe trug, lüftete seinen Hut und gab das Zeichen zum Aufbruch.

Langsam bewegte sich der Haufen aus dem Tore; im Schloßhof beim Trinkkruge hatten die Knechte sich für eine ansehnliche Schar gehalten, jetzt im Freien auf der weißen Decke, welche der Reif über das Land gelegt hatte, erkannten sie, wie klein ihre Zahl war, und besorgte Blicke spähten nach der Ferne, um zu erkunden, ob die Feinde in größerem Zuge entgegenkämen.

Kurz darauf sprengte ein Reitertrupp durch die Stadt, dem [] Schlosse der Landsknechte zu, die Weiber in der Burg erkannten weiße Mäntel und das Ordenskreuz. »Öffnet«, gebot die Stimme des Pflegers an dem geschlossenen Tore. Aber über die Zinne hob sich die Frau des Hauptmanns, eine Hellebarde in der Hand. »Weicht von hinnen, wer Ihr auch seid; hier gebietet niemand als Hans Stehfest und sein Volk.«

»Öffne, alte Törin«, wiederholte der Reiter ungeduldig und stieß mit dem Schaft seiner Lanze gegen das Tor, »oder meine Buben lassen dich ihr Speerholz fühlen.«

»Kommt der Ordenspfleger, um die geworbenen Knechte zu grüßen, so soll er hinausreiten auf die Heide, wo unsere freien Knaben zum Streite ziehen. Wollt Ihr kämpfen, so rückt gegen die Polen, nicht gegen uns Weiber. Macht Euch fort, sage ich, oder mein Troß wirft Euch mit Steinen.«

Der Reiter zog sich zurück. »Sprengt die hintere Pforte«, gebot er einem Trupp Knechte. Diese führte Henner um das Schloß herum, trotz dem Widerstand der Weiber rissen sie die Pforte auf. Nach längerem Verzug und vielem Lärm gelang es, den vorderen Zugang zu öffnen. Mühsam wanden sich die Reiter durch aufgefahrene Karren des Trosses, umtobt von dem Geschrei und Geheul der Weiber und Kinder.

Mit seinen Begleitern ritt der Hochmeister in den Hof. »Besetzt die Mauern und sichert die Pforte«, befahl Herr Dietrich von Schönberg, »wir kamen noch zu rechter Zeit.«

»Wohin zog der Hauptmann mit dem Fähnlein?« fragte der Hochmeister die Alte, welche mit ihrer Hellebarde feindselig vor ihm stand.

»Den Weg zum Steinkreuze findet ein Blinder. Seid Ihr der Herr, dem die Fahne gehört, so achtet darauf, daß Hans Stehfest mit seinen Knechten nicht unter Euren Farben erschlagen werde.« Sie wandte sich finster ab, stieg auf einen Karren, ergriff die Zügel und peitschte die Pferde zum Schloßtor hinaus.

Da gebot Herr Albrecht dem Pfleger: »Sorgt mit Euren Reisigen für die Sicherheit des Schlosses«, und dem Herrn Dietrich: »Laßt ihm an Mannschaft zurück, was die Mauer bedarf, und ihr Herren folgt mir, daß wir den Bruch des Stillstands verhindern.« Aber er sah rings um sich umwölkte Gesichter und widerwillige Mienen. Herr Dietrich bat mit höfischer Ergebenheit: »Wir dürfen nicht leiden, daß mein gnädiger Herr sich mit dem schwachen Haufen in freiem Felde einem polnischen Angriff preisgebe.« Von der andern Seite drängte der Pfleger sein Pferd heran. »Nichts Besseres kann Eurer fürstlichen Gnade und dem Orden geschehen, als wenn die fremden Ratten sich untereinander auffressen.«

»Ohne Befehl und wie Meuterer sind die Schelme ausgezogen, ganz eigenmächtig und in Rachsucht«, rief ein alter Komtur. »Das [] Schloß behaupten wir, wie mögen wir unsern Gebieter und unsere Waffen in unrühmlichem Kampfe gegen Knechte daransetzen.« Und mit Kopfnicken und Gemurmel fielen ihm andere bei. Da trieb Henner sein Pferd aus dem Kreise. »Ich bitte um Urlaub, Herr, daß ich zu dem Haufen reite, ich habe dort einen Gesellen, der zu mir gehört, und ich will ansehen, wie er im Sturm die Ordensfahne hält.«

»Nehmt mich mit, Junker«, gebot in bitterem Unwillen der Hochmeister, »wenn meine Ordensbrüder in bedächtiger Klugheit die Ehre ihres Herrn vergessen, so will ich allein dafür sorgen, daß meinem An denken die Schande erspart bleibe.« Und er ritt hinter Henner dem Tore zu.

Da blickte Herr Dietrich finster auf seine Kumpane und jagte mit einem Teil der Weißmäntel dem Herrn nach.

Gerade als sie aus den engen Gassen der Stadt ins Freie kamen, fuhr im gestreckten Lauf ein Schwarm polnischer Reiter ihnen entgegen. Die Polen stutzten und warfen sich seitwärts auf das Feld, dort hielten sie an, und ihre Führer berieten, endlich ritt ein einzelner Reiter auf die Ordensbrüder zu. Herr Dietrich löste sich aus dem Trupp und rief dem Fremden entgegen: »Ihr kommt zu spät, Kastellan, wenn Ihr ein Gastlager im Schlosse sucht; der Hausherr hat den Schlüssel abgezogen und bewahrt ihn an seiner Schwertseite.«

Aber Pan Stibor schwenkte lachend die Hand zum Gruße: »Dennoch komm ich nicht zu spät, Seine fürstliche Gnaden zu begrüßen und meine Landsleute zu entschuldigen. Denn nicht wir Polen sind darüber her, den Frieden zu brechen, sondern die fremden Knechte, welche untereinander in Zwist geraten sind und jetzt auf der Heide zusammen schlagen.«

»Wollt Ihr deshalb mit meinem gnädigsten Herrn verhandeln, so seid Ihr in unsern Reihen willkommen«, rief Herr Dietrich dagegen, »Ihr mögt uns helfen, den Streit zu hindern. Euren Haufen aber ersuche ich aus unsern Feldern heimzusenden, denn Ihr seht, Pan Stibor, wir sind hier die Stärkeren.« Der Pole überlegte, dann rief er einen Befehl zurück, der polnische Haufe stob von dannen, er selbst kam mit höflichem Gruß auf den Hochmeister zu.

Unterdes bewegte sich das Fähnlein der Knechte langsam nach der Stätte, wo auf öder Heide ein verwittertes Steinkreuz ragte. Die Gesichter der Wilden waren fahl, aber in den düstern Zügen lag mürrische Entschlossenheit. Georg trug die Fahne mit gehobenem Haupte, gleichgültig wie ein Traumwandler gegen alles, was um ihn vorging, denn immer schwebten zwei körperlose Gestalten vor seinem Auge, ein Weib und ein Kind, und kein Gedanke wurde in ihm lebendig als der eine, daß er auf dem Wege sei, sie[] wiederzufinden. Zur Seite sah er das Kreuz zwischen erstorbenen Distelstauden, und einen krächzenden Raben, welcher auf dem Kreuze saß, und er lächelte über den Vogel. Der Hauptmann rief Halt, denn wenige hundert Schritte vor ihm brach der feindliche Haufe aus einem Kieferngehölz. Auch dieser hielt. »Wir haben sie«, rief Hans mit starker Stimme über seine Schar, »dringt gegen sie und stecht in ihre vollen Taschen.« Ein wilder Schrei folgte der Mahnung, und von drüben antwortete ein gleicher Ruf. Der Trommler schlug, die Führer sprangen vor und ordneten ihre Rotten zu viereckigem Schlachthaufen; mitten auf der Seite, die dem Feinde zugekehrt war, hielt Georg die Fahne, umgeben von den stärksten Knechten, welche riesige Schlachtschwerter führten. Vor die Spießträger traten in gelöster Ordnung die Knechte mit Feuerrohr, um den feindlichen Haufen für den Einbruch zu lockern. Umständlich wurde die Schlachtordnung von beiden Teilen geformt. Endlich dröhnte die große Trommel zum zweitenmal, der ganze Haufen fiel auf die Knie, jeder der Knechte sprach mit gehobener Waffe ein stilles Gebet und warf, um sich für den Tod zu weihen, eine Handvoll Erde hinter sich. Als Hans aufstand, gab er dem Fähnrich das Zeichen. Da schwenkte Georg das Fahnentuch in der Luft und rief den alten Schlachtenruf der Knechte: »Wohl über sie, Herr«, und »Über sie, Herr«, schrie der Haufe nach. Von drüben klang derselbe Schrei, und langsam, mit schwerem Tritt, rückten die Fähnlein aufeinander zu, so daß beide in Schußweite hielten; die Schützen stützten sich auf ein Knie, bliesen das Zündkraut an, und die ersten Schüsse krachten aus den schweren Rohren. Aber nicht lange ertrug die grimmige Ungeduld das tatlose Harren, nach jeder Kugel, welche traf, tönte der Kriegsruf wilder aus den heiseren Kehlen. Die dichte Masse bewegte sich und drückte, bis der Hauptmann erkannte, daß der Augenblick gekommen sei; der Trommler schlug zum dritten Male in schnellem Sturmschlag, die Schützen liefen zur Seite, die Spießträger senkten die Waffen, und die Haufen brachen zum Sturm gegeneinander vor.

In dem Augenblick regte sich's hinter den Feinden am Holz, ein Schwarm berittener Polen trabte aus dem Walde und stellte sich zur Seite auf, den Reitern folgte fremdes Fußvolk, welches als Rückhalt für die Landsknechte den Waldrand besetzte. An der Spitze der Reiter meinte Georg seinen Feind Pietrowski zu erkennen. Hans aber stieß einen schweren Fluch aus: »Die ehrlosen, meineidigen Schufte!« Denn er verstand wohl, daß gerade in der Entscheidung seinem Haufen die Kraft des Stoßes zerbrochen wurde, und er schrie mit mächtiger Stimme zurück: »Drauf und dran.« Da stießen die Haufen zusammen, die Spieße krachten, Todwunde fielen, mit wildem Geschrei rückten und drängten die beiden zusammengeschobenen Massen gegeneinander, treibend und weichend, [] gleich zwei wütenden Stieren, deren Hörner sich nicht mehr zu lösen vermögen. Aber nur kurze Zeit behielt der Haufe des Hans Stehfest seine Stärke; an den scharfen Ecken, wo Wuz und Benz den Befehl hatten, vermochte ihr gutes Beispiel nicht zu verhindern, daß in der Sorge um die neue Gefahr die Kraft erlahmte. Dort begann die Flucht; nicht lange, und nur in der Mitte, wo der Hauptmann und der Fähnrich trieben, hielt noch ein Knäuel zusammen. Vor der Fahne lag eine Reihe der alten Doppelsöldner am Boden, und von den Starken mit den Schlachtschwertern sprang einer nach dem andern vor die Fahne, zerschlug Spieße und warf sich gegen die Leiber der Feinde; und einer nach dem andern wurde erstochen. Der letzte war Peter Meffert, wütend hieb er um sich, und sein Schwert traf den Heinzelmann, daß dieser in die Arme seiner Nachbarn sank. Als der Wilde zurücksprang, sah er seinen Hauptmann am Boden, den Haufen zerstreut und den Fähnrich, der, nur noch von wenigen Knechten umgeben, in der Linken die Fahne hielt und in der Rechten den geschwungenen Degen. Da schrie der Landsknecht: »Der letzte Streich sei für mich und die Rache«, und sich zur Flucht wendend, schlug er mit dem furchtbaren Schwerte gegen den Arm des Fähnrichs, daß diesem die Hand mit der Waffe zu Boden fiel und der Verstümmelte auf die Fahne hinsank.

Vom Walde flogen die polnischen Reiter heran, und ihr Führer senkte mit brennenden Augen die Lanze, um den Wunden auf dem Fahnentuch zu durchbohren. Aber von der Seite rief eine Stimme: »Hierher, du Henkersknecht, daß ich dir die adlige Feder ausraufe«, und Henner stürmte mit seinem Rennspieß gegen den Polen. Er stach ihn im Nu durch die Gurgel und vom Pferde, doch er selber stürzte gleich darauf, von einem polnischen Streitkolben getroffen, neben Georg auf die Heide. »Armer Henner«, seufzte Georg.

»Gehab dich nicht weinerlich, Jörge«, antwortete Henner leise, und ein Lächeln flog über sein entstelltes Gesicht. »Jetzt liegen zwei beieinander, die zusammengehören; ich aber hab dir meine Treue bewiesen als ein deutscher Edelmann.« Er zuckte, dann lag er still.

Unterdes dröhnte auf dem Felde der Hufschlag eines geschlossenen Reitertrupps, die Verfolger wichen zurück, da, wo der Fähnrich und die Fahne lagen, umschlossen die Reiter im Kreise den Hochmeister. Aber Albrecht stieg ab, beugte sich über den toten Henner, sprach herzlich zu Georg und übergab ihn der Pflege eines Arztes in seinem Gefolge. Und zu seinem Vertrauten gewandt, setzte er traurig hinzu: »Der Hochmeister kam zu spät, weil seinen Ordensbrüdern der Ritt nicht behagte; jeder Landesherr, der mit angeborenem Recht seinen Leuten gebietet, hätte williger Gehorsam gefunden.«

[] Der kurze Tag ging zu Ende, bewaffnete Ordensleute schützten die Stätte des Kampfes vor Raubtieren mit menschlichem Antlitz und vor den hungrigen Wölfen, während die Weiber des Trosses mit lauter Klage die Wunden und Getöteten auf ihre Karren luden. Da saß am Steinkreuz unter den Disteln eine alte Frau; über den Leib des starken Hans gebeugt, hielt sie sein Haupt in ihrem Schoße; sie saß unbeweglich und ohne Tränen, nur zuweilen strich sie mit ihren Händen sein graues Haar. Um sie flatterte und krächzte der Rabe, und über die Heide brauste mit mächtiger Stimme der Wind: Aus der Erde wuchset ihr, zur Erde sinket ihr.

Enttäuschung

Auf seiner Reise nach dem Deutschen Reiche ritt der Hochmeister in Thorn ein unter polnischem Geleit, das der König nicht hatte versagen können. Dem Rat war die Herberge des gefährlichen Nachbars unwillkommen, er trug Vorsorge, daß die Stunde der Ankunft vorher nicht ruchbar wurde, und öffnete den Gästen Zimmer des Artushofes, damit der Verkehr mit den Bürgern leichter beaufsichtigt werde. Trotz dieser Vorsicht fand der Hochmeister bei seinem Einzuge die Straßen mit Menschen gefüllt, empfing Grüße von allen Seiten und sah neben den ernsten Mienen der Polnischgesinnten viele erfreute Gesichter. Als er das Gastgeschenk der Stadt entgegengenommen und mit dem neuen Burggrafen Hutfeld höfliche Begrüßung ausgetauscht hatte, sagte er Herrn Dietrich:

»Ich trete heut nicht ohne Sorge unserm finstern Alten gegenüber, ich fürchte, er ist mit uns nicht zufrieden, und ich muß ein Bote werden, der ihm Unwillkommenes meldet.«

»Sein guter Rat, der unerbeten aus dem Winkel kam, ist Eurer Gnade oft lästig geworden. Wer nicht die Arbeit und Last der Verhandlungen auf sein Leben nimmt, der sollte sich hochtönender Ratschläge enthalten.«

»Ehre seine Klugheit und Treue«, gebot Herr Albrecht.

»Lieber ehre ich sein Geld, und deshalb bitte ich Euch, mit hoher Huld nicht zu kargen, denn Geld brauchen wir jetzt nötiger als je.«

»Wie darf ich ihm, der so große Opfer für uns gebracht, neue Zumutung stellen?«

»Was Ihr selbst nicht tun wollt, überlaßt getrost mir«, antwortete lachend der Vertraute, »da der Bürger die Ehre hat, Euer Bundesgenosse zu sein, so ist billig, daß er wenigstens zuträgt, was Euch fehlt.«

Auch Marcus erwartete den angekündigten Besuch nicht mit leichtem Herzen. Auf die begeisterte Hoffnung war Ernüchterung gefolgt, vieles war nicht gelungen, das Wichtigste noch unentschieden, [] und der Kaufherr hatte sich zuweilen gefragt, ob die rührige Geschäftigkeit des Hochmeisters nicht größer sei als sein festes Beharren. Aber als der edle Herr jetzt vor ihm stand und mit herzgewinnender Freundlichkeit seinen Gruß bot, da leuchtete doch die Freude im Angesicht des stillen Mannes.

»Ihr seid nicht einverstanden, Vater, daß ich in das Reich gehe«, begann Herr Albrecht nach dem ersten Austausch höflicher Worte.

»Verzeiht, gnädigster Herr, wenn ich mich zu der Meinung bekannte: der Herr gehört in sein Land und gute Helfer an fremde Höfe und Kanzleien.«

»Gute Helfer, selbst wenn ich sie hätte, werden meinen Bitten in der Fremde schwerlich geneigtes Gehör schaffen. Um den Hochmeister, welcher einsam in Königsberg sitzt, kümmert sich niemand; auch meine Vettern sind froh, wenn sie meine Mahnungen nicht hören. Allzu weit bin ich von den Reichstagen, von Rom und dem Kaiser entfernt. Die Reise ist lange bedacht, und meine beste Hoffnung ist, daß ich da, wo die letzte Entscheidung liegt, selbst für mich handle.«

Unzufrieden fragte Marcus: »Und hofft mein gnädigster Herr, daß in dem eigenen Lande, dem der Gebieter fehlt, Sicherheit und gutes Vertrauen zurückkehren werden? Vieles bleibt dort ungeordnet, und alle Gegner erheben ihr Haupt. Man erzählt, daß die neue Ketzerei in dem Ordenslande wenig Widerstand findet.«

»Wie vermag ich den Kampf aufzunehmen mit Gedanken, welche jetzt jeden erregen?« rief der Hochmeister lebhaft, und seine Vorsicht vergessend, setzte er hinzu: »Wie darf ich wehren, Vater, was beschwerte Gewissen für sich als ein Recht fordern? Jedermann weiß, daß die Kirche einer Besserung bedarf.«

Die Brauen des Marcus zogen sich finster zusammen: »Der Hochmeister des Deutschen Ordens ist verloren, wenn Mißtrauen und übler Wille des Heiligen Vaters sein Werk kreuzen. Nicht Eurer fürstlichen Gnade steht es zu, um die Schäden der Kirche zu sorgen; denn für das große Geschäft Eures Lebens ist der Heilige Vater ein Geschäftsfreund, den Ihr zur Zeit notwendig braucht. Dem König von Polen gelingt besser, sich in Rom guten Willen zu sichern.«

»Mein Oheim trennt sich ungern von seinem Golde, dennoch kann er leichter volle Felleisen über die Alpen senden als ich. In seinem Lande zeigt er zwei Gesichter, den Polen einen römischen Hofmann, den Deutschen einen nachgiebigen Schutzherrn. So muß auch ich tun, Herr, denn unter meinen Augen löst sich von dem alten Bau der Kirche ein Stein nach dem andern.«

»Der große Dom, welcher die Christenheit umschließt, wird durch keine Neuerung zerworfen werden«, antwortete Marcus mit gehobenem Haupt, »und ich flehe in Ehrfurcht, daß mein gnädigster [] Herr um des eigenen höchsten Vorteils willen auch im Reiche die Gemeinschaft mit den Sektierern sorglich meide. Denn von wildem Rausche sehe ich die Menschen erfaßt, Gelübde sollen nicht mehr gelten, frech verkünden die neuen Lehrer Befreiung von jeder lästigen Pflicht, überall ist der Friede in Unfriede verkehrt und Krieg zwischen den Herzen, welche zusammengehören, die Dienenden erheben sich gegen ihre Herren, die Kinder gegen die Eltern.«

»Dennoch werdet Ihr es nicht tadeln, wenn ich einen Unfrieden, den ich nicht zu schlichten vermag, für mich zu benutzen suche; Ihr selbst in Thorn setzt Eure Hoffnung darauf.«

»Ungern tue ich es«, entgegnete Marcus finster. »Auch ist es nicht das Gewissen des Unzufriedenen, auf welches Eure ergebenen Freunde Hoffnung setzen, sondern die Sünde und Schwäche unserer Gegner; und Euch, gnädiger Herr, würde, wenn Ihr im Lande geblieben wäret, wohl in wenigen Tagen die Kunde zugegangen sein, daß die Bürger von Thorn sich gegen das polnische Regiment erhoben haben und Euch zu dienen bereit sind. Vermögt Ihr auch während des Stillstandes Euch dieser Stadt nicht offen anzunehmen, so sind es doch Eure Freunde, welche die Macht erhalten; ihr Beispiel wird in andern Städten Nachahmung finden, und ihre Klagen gegen die Polnischen laut genug bis in das Deutsche Reich hinüberklingen. – Ich nehme an, Eure Gnade hat befohlen, die Landsknechte, deren Fähnrich Georg König geworden ist, abzuzahlen, damit den Hochmeister kein Vorwurf treffe, wenn die Bürger von Thorn sich einen Teil der Heimziehenden anwerben.«

Der Hochmeister erhob sich schnell. »War es unrecht, Euch die Nachricht bis jetzt vorzuenthalten, so zögerte ich nur, weil mir schwer wird, dem Vater Schmerzliches zu sagen. Das Fähnlein ist in Händel mit polnischen Landsknechten geraten und in offenem Kampfe zerstreut worden; Euren Sohn fand ich auf blutigem Felde. Ich hoffe, Herr, daß es der Kunst meines Arztes gelingt, ihn dem Vater zu erhalten; aber er ist schwer verwundet.«

»Noch habt Ihr nicht alles gesagt«, rief Marcus, in das bewegte Gesicht des Herrn starrend.

»Er hat seine Schwurhand durch den Schlag eines Schwertes verloren.«

Da sprach Marcus vor sich hin: »Der Vater setzte die Hand auf das Eisen, und dem Sohne wurde sie abgeschlagen.«

»Ich denke daran, Herr, daß Euer Sohn die Hand verlor, als er meine Fahne trug. Ich bitte, gebt mir Gelegenheit, ihm und Euch meine guten Dienste zu erweisen, soweit ich armer Mann das vermag. Ich habe meinen Medikus bei dem Kranken zurückgelassen; gestattet dem Sohn, wenn sein Zustand das erlaubt, mir in das Reich zu folgen, dort wollen wir ihn pflegen, und ich will ihn halten wie den liebsten meiner Diener.«

[] Der Vater stand abgewandt mit gebeugtem Haupte; als er das düstere Antlitz seinem Gaste zukehrte, zitterte seine Stimme: »Öffnen sich meinem Sohn die Tore der Vaterstadt, so soll er hierher zurück, denn der Vater vermißt ihn jeden Tag; bleibt der Bann, welcher über ihm hängt, in Kraft, dann möge er Eurer fürstlichen Gnade zu dienen suchen.« Er rang nach Fassung, aber der Hochmeister sah mitleidig den bittern Zwang, und aufbrechend sagte er traurig: »Was wir beide hoffen, werde unser Trost.«

»Auch gutes Glück gibt nicht jedem wieder, was er verlor«, antwortete der Alte. »Wenn die Heiligen unsere Wünsche nur gegen ein Opfer erfüllen, so möge das Unglück mich und die Meinen treffen und Ihr, gnädiger Herr, frei ausgehen. Denn Ihr seid immerdar die Hoffnung des ganzen Preußenlandes.«

Als Marcus allein in der Stube saß, das schwere Haupt in die Hand gestützt, vernahm er vor der Tür ein klägliches Seufzen, sein Knecht Dobise schlich herein, wischte die Augen bald mit der Mütze, bald mit dem Ärmel und brachte endlich heraus: »Meister, die Alte ist fort.«

»Wohin?« fragte Marcus in seinen Gedanken.

»Wer kann das sagen«, seufzte Dobise. »Sie verging ganz schnell, bevor sie den letzten Segen erhielt. Es gab im Holze ein großes Gekrach und Dröhnen, das man weit auf dem Felde hörte, und die Leute liefen ins Dorf und schrien, daß die Eiche umgestürzt war.« Marcus fuhr auf und sah ihn fragend an. »Ja, Herr, der alte Baum in der Lichtung. Es wehte kein arger Wind, und allen kam der Sturz wunderlich vor. Da schrie die Alte: ›Jetzt geht es zu Ende, und alle Seelen fliegen von dannen!‹ Wer weiß wohin, Herr. Aber der Baum ist zur Erde gefallen und die Alte auch.« Er wischte sich wieder die Augen. »Herr, wie wird's mit dem Sterbekleide? Ich denke, weil sie Euch gehört hat, ist das eher Eure Sache als die meine.«

Marcus bedeutete ihm durch eine Bewegung der Hand, zu entweichen, und Dobise setzte sich kummervoll in seine Kammer. »Ob ich ihr den Goldstoff zu ihrem Kleide einpacke und mitgebe, oder ob ich ihn behalte? Denn sie wäre eine vornehme Frau, wenn sich nicht vor ihrer Zeit manches in der Welt geändert hätte. Die Eiche und die Alte sind fort, Junker Georg ist verloren, die Jungfer Anna und das Kind sind tot, und mit diesem Haus geht es auch zu Ende, ich höre seit langem das Knistern im Gebälk. Dobise, sorge dafür, daß du deine Schätze anderswo versteckst. Niemand in Thorn weiß so viele Verstecke als ich«, fuhr er ruhmredig fort, »Geheimnisse des Hofes und andere, die ich als Erbteil von meinen Landsleuten überkommen habe. Auch diese sind jetzt verschwunden, und ich bin der einzige, der Bescheid weiß.«

Nach diesem Selbstgespräch geschah es, daß Dobise mit besonderer [] Heimlichkeit in dem alten Hause wirtschaftete, er trug zusammen und schnürte Bündel, wo ihn niemand sah, und begann am nächsten dunklen Abend mit seinem Kram auszuziehen. Er lief, scheu um sich blickend, zu den Trümmern der alten Burg, drang an der wegsamsten Stelle, zu welcher er einst die Musikanten geleitet hatte, über den Graben, kletterte die gemauerte Einfassung hinauf und verlor sich unter den dunklen Schatten des Trümmerhaufens. Wenn er dort in einer Ecke den Schutt entfernte, fand er eine niedrige Holztür und dahinter Zugang in den Keller des alten Schlosses. Früher hatten Schiffsleute das Versteck gebraucht, um geraubtes Gut zu bergen oder Waren dem Auge des Zollwächters zu entziehen, jetzt freute sich Dobise der günstigen Stelle. Aber nicht lange blieb ihm dieser Besitz; denn seit einiger Zeit achteten fremde Augen auf jeden seiner Wege, und als er zum drittenmal unter die Steine kam, sein Bündel niedergelegt und mit Hilfe der Blendlaterne die Tür geöffnet hatte, fühlte er sich von starken Fäusten gepackt, und aus dem Schatten der Mauer trat eine Gestalt, welche er trotz der Verhüllung zur Stelle erkannte, weil er sie nächst seinem Gebieter mehr fürchtete als jeden andern. Es war der Schwager seines Herrn, einst Genosse der Handlung. »Bindet ihn, Lischke«, gebot der Burggraf, »und steigt mit einem Trabanten hinab; ihr andern führt den Knecht ohne Lärm zum Kerkertor, dort will ich ihn selbst verhören.«

In der Neustadt lag unweit des Marktes die Schenke zur blauen Marie, in welcher ansehnliche Zunftgenossen am liebsten verkehrten. Sie war für Fremde von weitem kenntlich durch ein Holzbild der Himmelskönigin, welche im schönen blauen Gewande die geöffnete Hand über der Tür ausstreckte, als Zeichen, daß an diesem Ort den Neustädtern durch den frommen Wirt das Geld abgefordert wurde. In der großen Schenkstube standen Tische und Bänke aus Fichtenholz, dort saßen dichtgedrängt die Gäste, welche der Zufall oder alte Genossenschaft zusammenführte: Handwerksgesellen, Landleute aus der Umgegend mit ihren Weibern, dazwischen andere, deren Heimat und Amt unsicher war, leicht erkennbar an den herausfordernden Mienen, mit welchen sie ihre Nachbarn betrachteten. Aus dem Raume für das gemeine Volk führten mehrere Stufen zu einer Oberstube, welche stattlicher eingerichtet war, der untere Teil der getünchten Wände war mit gebohnten Brettern verschlagen, Tische und Bänke weiß gescheuert, auf dem Fußboden lag weißer Sand zu zierlichen Kreisen gesiebt, ein Ofen verbreitete behagliche Wärme und Talglichter in großen kupfernen Leuchtern erhellten den Raum, und wenn sie einmal dunkler brannten, so schneuzte sie der auf und ab gehende Wirt geschickt mit den Fingern. Aber heut tat er das nur aus alter Gewohnheit, denn [] die Stube war leer, und er selbst bewegte sich als Wächter, um fremde Kunden abzuhalten. Denn seine Stammgäste waren in geschlossenem Gemach dahinter versammelt, und durch die Tür tönte ein Durcheinander heftiger Stimmen. »Jetzt spricht Herr Seifried«, brummte der Wirt, »man merkt's an der Stille – er zählt die Summen auf, welche der Rat vergeudet hat, nicht umsonst hat er die Ratsbücher geführt – er verhöhnt das Vornehmtun – jetzt verklagt er den Rat wegen der Ungerechtigkeiten, welche dieser an Neustädtern verübt hat – das hat sie erzürnt, er versteht sein Handwerk. Er versteht sich auch auf Striche am Kerbholz, denn er ist mir am meisten schuldig.«

Ein untersetzter Mann in dunklem Mantel, den Hut tief über die Stirn gedrückt, stieg aus dem Dunst der unteren Stube herauf; der Wirt maß den Fremden mit ängstlicher Miene, und als dieser leise gebot: »Öffnet und haltet Euch in der Nähe«, da ließ der Wirt den Gast dienstbeflissen in das verschlossene Gemach und hielt sein Ohr an die Tür. Die meisten Viertelsmeister und Zunftältesten der Neustadt standen in dem Raume zu geheimer Beratung, beim trüben Schein des Lichtes erkannte man kaum die geröteten und eifrigen Gesichter. »Was braucht es noch vieler Worte, uns zornig zu machen«, mahnte ungeduldig Dendel, der Zinngießer, »wir haben lange genug die Fäuste in der Tasche geballt, jetzt gilt's, sie ihnen unter die Augen zu strecken. Meiner Zunft bin ich sicher, schlagt um und ruft zum Sturme.«

Und Herr Seifried rief übermütig einen Spottvers, der auf den Straßen gesungen wurde: »Auf und an mit frischem Mut wohl gegen das edle Blut, das wenig hat und viel vertut.«

»Auch meine Knappen sind bereit«, schrie Kunz, der Lohgerber, die Faust auf den Tisch setzend, »und sie haben nichts dagegen, ihre gelben Schürzen im Rathause rot zu färben.«

»Ihr wißt, Nachbarn«, rief Barthel, »daß die Schneider der Neustadt bei jedem Alarm den Vortritt haben.«

»Wenn Ihr sie führt, Barthel«, spottete der Lohgerber, »Ihr tragt ihnen die Quaste vor, die Eure Schere vor Zeiten dem Hausteufel der Könige von seinem Schwanz geschnitten hat.«

»Schweigt mit den Possen«, gebot in dröhnendem Basse Wolf, Obermeister der Schmiede, »verteilt lieber die Arbeit für morgen zur Mitternacht. Wer lockt mit der Feuerglocke?« »Wir Schlosser«, antwortete ein Meister. »Und wer öffnet das Kerkertor?« »Bilse, der Grobschmied«, rief ein anderer.

Da klang aus dem Hintergrunde eine helle Stimme: »Wollt ihr die alte Ordnung der Stadt zerschlagen, Nachbarn, so nehmt mich mit, denn ich gedenke euch zu helfen.« Zwischen den Bürgern trat der Verhüllte an das Licht und entblößte sein Haupt, es war der Burggraf Hutfeld. Flüche und zornige Rufe wurden laut, die [] Messer fuhren aus der Scheide, und vom Hintergrund schrie eine Stimme: »Auf ihn, er darf nicht lebendig von hinnen.«

»Laßt die Eisen stecken, günstige Nachbarn und gute Freunde«, gebot Hutfeld, »wenn scharfe Waffen diesen Streit beenden sollten, dann wäre euer Burggraf im Vorteil, und ihr wäret Gefangene des Rats. In der vordern Wirtsstube zechen Trabanten und andere bewachen die Tür, durch welche ihr eingetreten seid.« Die Gesichter wurden lang, die gehobenen Arme sanken herab. »Wie durftet Ihr wagen, hier einzudringen?« schrie der Lohgerber, welcher zwischen Zorn und Sorge zuerst Worte fand.

»Da ihr nicht zu mir an den Ratstisch kamt, um eure Beschwerden vorzutragen, so komme ich zu euch, und ich schwöre bei den Heiligen unserer Stadt, ich komme ohne Arg in guter Meinung. Denn ich wiederhole euch, wollt ihr den Rat werfen, wollt ihr alten Mißbrauch nicht ärger machen, sondern bessern, so bin ich auf eurer Seite, und ich, der Burggraf, will euch helfen mit meinem Leben nach meinem besten Vermögen. Ich denke, wir müssen den Streit untereinander ausmachen, damit wir weder den andern Städten noch der Landschaft, weder den Polen noch anderen Fremden ein Recht geben, sich in den Zwist der Kinder von Thorn einzumischen. Denn dies geht uns allein an. Es handelt sich um Stadtgut, und es handelt sich nur um unsere Hälse. Und darum bitte ich euch, hört auf meine Worte. Manches ist hier und anderswo geklagt worden über unser Regiment; ich weiß besser als ihr, daß vieles übel geordnet ist, und ich könnte zu euren Klagen noch andere setzen, die nicht weniger Grund hätten. Aber nicht die einzelnen Beschwerden sind das größte Leiden der Stadt, sondern der Rat selbst.«

Die Bürger trauten ihren Ohren nicht und standen in finsterm Schweigen, aber die Stimme des Schneiders rief: »Hört ihn, er hat das Richtige gesagt.«

»Liegt die Schuld am Rate«, fuhr Hutfeld fort, »so liegt sie doch nicht an den Männern, welche jetzt darin sitzen, denn diese sind nicht schlechter als andere in der Stadt; sondern der Schaden liegt darin, daß nach eingerosteter Gewohnheit nur wenige die Macht haben und zuweilen eigennützig gebrauchen und daß sie nicht immer erkennen, was der Bürgerschaft frommt. Vieles würde besser geschafft werden, wenn die Stadt den Beirat der verständigen Männer gewinnen könnte, welche hier versammelt sind, und einiger anderer aus der Altstadt, welche Einsicht und das Vertrauen ihrer Mitbürger besitzen. Darum ist meine Meinung, daß für die Thorner hohe Zeit ist, die Ratsstühle umzustellen, die kleine Zahl der Ratsherren zu vergrößern und euch und euresgleichen an den Ratstisch zu setzen, damit die Bürgerschaft das Recht erhalte, selbst für das Wohl ihrer Stadt zu sorgen. Mir ist nicht leicht geworden, [] euch dieses Angebot zu ma chen, denn ich gehöre zu den alten Regierenden, und ich und mein Geschlecht, wir hatten den Vorteil davon; aber ich erkenne die große Gefahr der Stadt, Fremde lauern darauf, sich einzudrängen, und der Unfriede frißt an eurem Wohlstand und ehrlichen Verdienst. Traut mir darum nicht weniger, weil ich mit schwerem Herzen komme, ich will euch ein ehrlicher Bundesgenosse sein, und ich hoffe, wenn ich am Ratstische mit euch sitze, daß wir das Beste der Stadt williger wahrnehmen, als der alte Rat vermochte. Wisset auch, günstige Nachbarn, in denen ich gern meine künftigen Ratsgenossen begrüße, ich bringe euch noch einen andern Verbündeten zu, und dieser ist König Sigismund von Polen.«

Ein Murren erhob sich, aber der laute Ruf: »Stille!« bändigte es. Und der Burggraf sprach weiter: »Der König weiß durch mich von vielem, was ihr mit gutem Grunde fordert, er ist gewillt, euch nachzugeben und eine Reformation der Stadt, die wir zusammen beschließen, durch sein Siegel zu bestätigen. Und darum frage ich euch jetzt noch einmal in Treue: Wollt ihr euren Burggrafen als Genossen annehmen zu gemeinsamem Werk?«

Alle schwiegen, aber Hutfeld erkannte in vielen Gesichtern die Befriedigung. Endlich begann Wolf, der Obermeister: »Da Ihr zu uns kommt als guter Nachbar, wie Ihr sagt, so sollt Ihr auch von uns ehrlichen Bescheid erhalten. Große Verheißungen haben wir von Euch gehört, und mancher unter uns meint vielleicht, daß es für ihn und die Stadt gut wäre, wenn wir auf Eure Worte achten; aber es besteht ein alter Verdacht zwischen uns und euch Herren vom Rat, und wir wissen nicht, wieweit wir der Vertröstung trauen dürfen. Darum suchen wir zuerst bei Euch Sicherheit, daß keinem von uns in Zukunft nachgetragen werde, was er bisher gehandelt hat, auch nichts von dem, was Ihr, Herr, heut bei uns vernommen habt; denn heimlich seid Ihr zu uns eingedrungen.«

»Was ich von eurer Heimlichkeit gehört«, antwortete der Burggraf, »das gelobe ich euch zu verschweigen und zu vergessen, wenn auch ihr in meine Hand gelobt, euch die nächste Nacht und fernerhin der Gewalt zu enthalten und fortan in guter Gesinnung mit mir zu verhandeln. Alle habt ihr gesprochen als freie Bürger, die in ihren eigenen Schuhen stehen, und keinen von euch soll deshalb ein Vorwurf kränken, nur diesen hier nehme ich aus«, er wies auf den Stadtschreiber Seifried. »Er war ein Diener des Rates, und er hat seinen Schwur gebrochen, denn er hat Ratsgeheimnis unter die Bürger getragen. War er unehrlich gegen den alten Rat, so wird er auch unehrlich gegen euch, die Herren vom neuen Rate, sein.«

Wieder erhob sich Gemurr, und einige riefen: »Wir dürfen unsern Genossen nicht preisgeben«, aber Herr Hutfeld gebot kurz: »Entfernt Euch, Ratsschreiber«, und als Seifried entwich, ohne ein Wort [] zu sprechen, beschwichtigte der Burggraf die andern: »Auch ihr sollt über sein Schicksal entscheiden.« Und siegreich an den Tisch tretend, fuhr er fort: »Wohlan, ihr Bürger von Thorn, bietet jetzt freundlich eurem Nachbar einen Sitz in eurer Mitte, damit wir nach guter deutscher Weise bei einem Trunke besprechen, was unsrer Gemeinde vor allem nottut.«

Da lächelte achtungsvoll die Mehrzahl der künftigen Ratsmänner.

Marcus durchschritt am späten Abend ungeduldig die Kammer, sein vertrauter Knecht, der um vieles wußte, war verschwunden. Zuerst hatten die Hausgenossen gemeint, daß er, durch den Tod der Mutter verwirrt, auf das Gut entwichen sei, und Bernd war deshalb hinausgeritten, aber im Dorfe wie in der Stadt wußte niemand, was aus Dobise geworden war. Jetzt erwartete, Unheil ahnend, der Kaufherr seinen Gehilfen: ›Auch die Neustädter beraten zu lange‹, sprach er vor sich hin, ›beim Trinkgelage vergessen sie, daß ihre Hälse in Gefahr sind.‹ Da pochte es stark an die Haustür, er vernahm den Schritt der Dienstmagd, welche öffnete, gleich darauf ihren Schrei und Geklirr von Waffen. Schnell erhob er sich und griff nach der Wand, wo sein Schwert hing, aber er trat zurück und sagte: ›Es kommt nicht unerwartet.‹

Die Tür flog auf, und der Burggraf stand vor ihm. »Verzeiht, Herr Schwager, wenn ich zur Unzeit störe, ich komme diesmal im Amte.«

»Dann ist mir, wie Euch, jede Stunde gleich, hochgebietender Herr«, antwortete Marcus und bot dem Gaste den Sitz.

Hutfeld neigte dankend das Haupt. »Ihr wißt, Herr Schwager, daß die Bürger sich zuweilen über nächtlichen Verkehr auf dem Burghofe beschwerten. Der Rat ließ die Stätte bewachen, die Wächter ergriffen Euren Knecht, welcher im Begriff war, dort in einem Kellerloch gestohlenes Gut zu bergen. Es wurde vielerlei gefunden, was er selbst versteckt, auch alter Raub, den er gehehlt hat. Manches ist aus Eurem Hause, und darüber wird Euch das Gericht gegen Euren Knecht zustehen; anderes ist nach seinem Bekenntnis an fremder Stelle entwendet und von ihm gehehlt; und darüber steht das Gericht bei der Stadt, die Vollstreckung des Urteils aber, da er ein Unfreier ist, nach unserer Gewohnheit bei Euch, der Ihr sein Gerichtsherr seid. Nach dem Recht und Urteil der Stadt gebührt seinem Halse der Strang. Die Trabanten führen Euch den Gefangenen zu, ob Ihr ihn gegen Eure Bürgschaft selbst bewahren wollt oder dem Gefängnis der Stadt übergeben, bis Ihr ihn richten laßt. Auch den Kram, den er Euch entwendet zu haben bekennt, trägt der Ratsbote in Euer Haus zurück.« Und leiser fragte er: »Ihr bewahrtet einst die Goldhaube Eurer seligen Frau in dem Gewölbe des Oberstocks, habt Ihr sie etwa vermißt? Sie findet sich unter seiner Beute.«

[] Jetzt vermochte Marcus den Schrecken nicht zu verbergen und stemmte die Hand auf sein Pult. »Die Neuigkeit, welche Ihr mir in das Haus bringt, gebietender Herr, erschreckt mich mehr, als vielleicht eine andere, die mir größeren Verlust verkündete; denn der Unglückliche ist ein Hausgenosse gewesen, dessen Ergebenheit ich fest vertraute.«

»Er war Euch ergeben, nur daß er die Art eines Raben an sich hatte«, antwortete der Burggraf mit flüchtigem Lachen.

»Kann ich ihn sehen?«

»Er ist zur Stelle.« Hutfeld öffnete die Tür und winkte. Als Dobise mit gebundenen Händen hereinwankte und auf die Knie fiel, hob Marcus gegen ihn den Finger: »Wie hast du die Haube entwendet?«

»Vom Seil durch das Fenster«, stöhnte Dobise, »sie blitzte mich beim Lichte an.«

Da wandte sich Marcus zu dem Burggrafen: »Ich übernehme die Bürgschaft für seinen Leib auf Habe und Gut, und ich lasse das Urteil gegen seinen Hals, wie ein ehrbarer Rat gebietet, vollstrecken auf der Gerichtsstätte seines Heimatdorfes.«

»Nehmt seinen Leib«, sprach Hutfeld.

Marcus hielt die Hand über den Gefangenen. »Er, der den Strang am Halse trägt, war durch viele Jahre ein heimlicher Knecht der Artusbrüderschaft, und die Ältesten des Hofes möchten ihm in seiner Not eine Gunst gewähren, soweit das strenge Recht verstattet. Ist's Euch genehm, hochgebietender Herr, wenn ich diese Gunst ihm biete?«

»Der Rat wird nicht dawider sein«, antwortete Hutfeld, und nachdrücklich fügte er hinzu: »Ich selbst habe ihn verhört und kein anderer.«

Ein düsterer Blick des Marcus antwortete der tröstenden Versicherung des Burggrafen, und er fragte den armen Sünder: »Begehrst du etwas Günstiges für deinen Leib und deine Seele, nur nicht dein verfallenes Leben, so sprich; dein Herr darf dir's gewähren.«

Zähneklappernd flehte Dobise: »Zum schwarzen Wasser im Walde, wo die vierzehn Nothelfer ihr Heiligtum haben, ziehen die Leute meines Volkes, wenn sie um ihre Seligkeit sorgen. Schickt mich dorthin, Herr, damit ich mir die Gnade des Himmels erwerbe.«

»Es sei«, antwortete der Herr. »Gelobe die Heimkehr, auf daß die Stadt ihr Recht an dir gewinne.« Er wies auf das Marienbild an der Tür, Dobise rutschte auf den Knien zum Bilde und hob die Hand.

»Du bist gebunden zur Wiederkehr, Tag und Stunde stehen bei dir, du darfst sie wählen nach deinem Gefallen. Kehrst du zurück, so verfällt dein Leib dem Richter.«

»Steh auf und entweiche«, gebot Hutfeld, »der Ratsbote öffnet dir das Tor.«

[] »Laßt mich noch einmal den Morgen in der Stadt erleben«, bat Dobise.

»In der Nacht bist du zu schädlichem Werk durch die Stadt geschlichen, darum versagen dir die Mauern den nächtlichen Schutz; zieh hinaus in die wilde Finsternis«, entschied der Burggraf.

Dobise sah sich mit irrem Blick in der Kammer um, dann schlich er schweigend hinaus. Die Schwäger standen einander allein gegenüber.

»Ich danke Euch, gebietender Burggraf, für Eure Mühe um mein Haus und meinen Knecht«, begann Marcus förmlich.

»Noch andern Dank möchte ich von Euch verdienen, Herr Schwager«, antwortete Hutfeld. »Ich hoffe, der Friede, welcher unserer Stadt lange gefehlt hat, soll zurückkehren. Ich habe heut mit den Häuptern der Unzufriedenen gehandelt, und wir haben uns über eine Reformation der Stadt friedlich geeinigt. An Stelle des alten Rates wird ein neuer treten. – Auch Euch geht die Neuerung an, Herr Schwager, und mir wird ein Wunsch erfüllt. Denn auch Ihr werdet zum Ratmann der Stadt erkoren.«

Marcus stand unbeweglich, aber dem forschenden Blick des Burggrafen antwortete ein flammender Blitz aus finsteren Augen. »Als Ihr über die Schwelle tratet, hochgebietender Herr, sah ich, daß Ihr als Sieger kamt.«

»Noch nicht«, entgegnete Hutfeld vorsichtig, »unser Schicksal wird nicht in Thorn entschieden.«

»Bis dahin laßt Euch meine Antwort genügen«, sprach Marcus. »Ihr könnt den letzten der Könige von Thorn zu der Stätte führen, wo sein Vater geendet hat, aber Ihr dürft ihn nicht mit dem Strang am Halse entlassen, wie seinen Knecht.«

Auf dem Wege

Jahre vergingen; langsam für einen heißblütigen Alten, welcher mit Ungeduld auf die Erfüllung seiner liebsten Hoffnungen harrte, langsamer noch für den Sohn, dem die Hoffnung und Freude seines Lebens im kalten Strome versunken war, endlos und unerträglich für einen entlassenen Knecht, dem alles Hoffen und Harren beendet sein sollte, wenn er in die Heimat zurückkehrte.

Wenige Meilen von dem Turme, in welchem einst die jungen Gatten ihr Heimwesen geführt hatten, lag mitten unter hohen Fichten ein kleiner Landsee, tief eingesenkt in rundem Talkessel. Vor Zeiten war dort ein Heiligtum der heidnischen Preußen gewesen, und die Leute der Umgegend wußten von dem See viel Unheimliches zu erzählen. Darum hatten christliche Priester die Stelle den vierzehn Heiligen geweiht, welche sich als hohe Nothelfer den [] schwer geängstigten Gewissen zuneigten. Am Rande des Wassers standen rohe Holzbilder der seligen Fürsprecher, mit bunten Farben gemalt, jedes unter einem kleinen Schirmdach; ein umhegter Raum mit einer Kanzel vereinte zu frommem Dienst die Wallfahrer, welche im Sommer aus der Nähe und Ferne herzukamen. Für diese Zeit lebte ein frommer Bruder aus dem Orden der Predigermönche in kleiner Holzhütte als Wächter des Heiligtums und als Geistlicher der Wallenden. Solange die Landsknechte in der Nähe lagen, unterblieben die Wallfahrten, denn niemand wagte sich gern in die Nähe der Gewalttätigen; seitdem prangten die Heiligen in neu gemalten Gewändern, und das Kloster genoß wieder die frommen Spenden. Auch Dobise schlich um das schwarze Wasser, er diente dem Mönch und flocht Fichtenkränze für die Heiligen. Jahr und Tag war er umhergeirrt, er selbst wußte nicht wo, bald hatte er armen Stammesgenossen, mit denen er sich durch Sprache und geheime Zeichen verstand, in ihrer Wirtschaft geholfen, bald war er mit heimatlosem Volk und Wegelagerern gewandert; aber nirgends vermochte er zu haften, denn immer zog es ihn in die Nähe der Stadt, in welcher Hans Buck, wie er annahm, seiner harrte. Zuweilen war er heimlich bis zur Grenze des Stadtgebiets gelaufen, hatte an den Steinpfeilern und Warten gekauert und nach der Stelle hinübergestarrt, wo die Türme von Thorn in der Dämmerung lagen. Im vergangenen Herbst war er dem einsamen Mönch ein willkommener Diener gewesen, den Winter hauste er allein unter dem Holzdach der Klause in furchtbarer Verlassenheit zwischen Wölfen und Krähen, fing Waldtiere in Schlingen und richtete Vögel im Bauer ab. Jetzt trieben die Fichten neue Knospen, in dem runden See spiegelten sich wie in einem großen Auge die Wolken des Himmels, der Mönch war angekommen, und Dobise vernahm wieder die Stimme eines Bekannten. Er saß am Saum des Waldes und erwartete die Heimkehr des Bruders, welcher am Morgen aufgebrochen war, ohne ihm zu sagen wohin, und sich den ganzen Tag verweilt hatte. Als er den leisen Schritt des Mönches hörte, wandte er den Kopf. »Ist es wahr, Vater Pankratius, daß die große Glocke, welche sie bei St. Johannes aufgehängt haben, ihre Stimme nur hören läßt, wenn zwölf Mann am Strange ziehen?«

»So ist es«, antwortete der Mönch.

»Und die Böttcher ziehen«, fuhr Dobise kopfschüttelnd fort. »Ich möchte wohl ansehen, wenn sie die Glocke schwenken, und ich möchte den Gesang hören.«

»Mancher sehnt sich nach dem, was er verloren hat«, sagte der Mönch traurig, und, erfüllt von den Ereignissen des Tages, setzte er vertraulich hinzu: »Es leben noch andere in der Gegend, welche sich um die Thorner in der Stille grämen, und sie gehen dich nahe genug an. Sieh dorthin, wo jetzt die Sonne schwindet; hinter dem Holze [] liegt eine Stadt, und in der Stadt steht ein Turm, dort hat einst dein Junker Georg mit Frau Anna, seinem Weibe, gewohnt.«

Dobises Augen zwinkerten: »Ihr kommt von dort, Vater?«

»Ich hatte mit dem neuen Stadtschreiber zu tun«, antwortete Pankratius, abbrechend, und schritt seiner Klause zu.

Am nächsten Morgen fand der Mönch das Lager des Knechtes leer, und niemand antwortete auf seinen lauten Ruf. Zu derselben Zeit lief Dobise wie ein Hündlein, welches eine Spur verfolgt, durch Wald und Heide der Landstadt zu. Sobald das Tor geöffnet wurde, wand er sich durch die Gassen, das Auge unverwandt nach dem Turme gerichtet. Als er Leute in den Schloßhof gehen sah, wagte auch er sich hinein und duckte sich hinter einem Haufen Bauholz in die Ecke. Nicht lange, und die Tür des Turmes öffnete sich, ein kleiner Mann mit faltigem Gesicht trat heraus, drückte ein Bündel Papiere unter den Arm und schritt über den Schloßhof der Stadt zu. Dobises Augen funkelten in der dunklen Ecke wie zwei Leuchtkäfer. Wie die Sonne höher stieg und ihr warmes Licht die düstere Masse des Turmes beschien, öffnete sich die Tür wieder, auf der Schwelle stand ein junges Weib in Witwentracht, sie hielt einen Knaben im Arme, der mit der Hand lustig eine Gerte schwenkte. Bald setzte sie ihn auf die Schwelle und ging an den Brunnen. Dobise lachte über das ganze Gesicht, er kroch hinter dem Holze näher heran, und da er die Frau in einiger Entfernung merkte, lief er schnell auf den Kleinen zu, hob die Gerte auf, welche diesem entfallen war, gab sie ihm in die Hand und schlüpfte in sein Versteck zurück. Am Abend saß er vor der Hütte des Mönches, schnitzelte über Holzstäben und sprach mit sich selbst: ›Ich habe unserm Junker den ersten Wagen gebaut, als er zu spielen anfing, jetzt mache ich einen neuen für den jüngsten Herrn. Wenn Lips Eske wüßte, was ich weiß.‹ Als der Mönch die kleine Glocke zum Abend geläutet hatte, fiel Dobise vor ihm nieder und bat: »Segnet mich, Vater.«

»Was liegt dir im Sinn, mein Sohn«, fragte Pankratius verwundert.

»Ich muß fort, ehrwürdiger Vater.«

»Wohin, du Tor?« fragte der Mönch.

»Wer weiß, wohin, Vater.« Am nächsten Morgen war der Flüchtling wieder verschwunden, und diesmal kehrte er nicht zurück. Aber auf der Schwelle des Turms stand ein kleiner, säuberlich geschnitzter Wagen als Spielzeug für das Kind.

Wenige Wochen später stand Georg zu Frankfurt am Main in der Herberge des Hochmeisters, breitete auf dem Arbeitstisch des Herrn neugefertigte Urkunden aus und stellte daneben einen Beutel mit Geld. Der feurige Jüngling war zu einem ernsten, stillen Manne[] geworden, lange hatte er an seiner Wunde gelitten und nach der Genesung viele Mühe darangesetzt, bevor seine Linke die Arbeit der verlorenen Hand verrichten lernte. Jetzt versah er bei dem Hochmeister, wenn dieser mit seinem unsteten Haushalt zu Frankfurt weilte, die vertraulichen Geschäfte der Kanzlei und arbeitete, sooft er Muße hatte, als freiwilliger Helfer bei einem angesehenen Kaufmann, welcher seinem Vater von Venedig her befreundet war. Heut sah er auf die Schrift der Urkunden, welche er nach Preußen senden sollte, und sagte trübe zu sich selbst: ›Die alte Handschrift ist wiedergewonnen, aber das Lautenspiel finde ich niemals wieder.‹ Er betrachtete den Beutel. ›Im sparsamen Hause zu Thorn wurde das Geld gesammelt, und in der Fremde verwendet's leichtherzig ein anderer.‹

Der Hochmeister trat ein und wog vergnügt den schweren Beutel. »Dies sind die Rößlein, welche mich eine Strecke Wegs vorwärtsbringen sollen, ich fürchte, sie werden nur allzu schnell auseinanderspringen. Nimm auch dir einen Anteil davon, Jörge, ich denke, daß ich in deiner Schuld bin; und hör, geh noch heut zum Goldschmied. Die goldene Kette, welche er mir wies, habe ich lange begehrt, jetzt will ich sie haben.«

Erschrocken vernahm Georg diesen fürstlichen Wunsch; er wußte, wie lange Fleischer und Bäcker, die für den Hofhalt geliefert hatten, nicht bezahlt waren. »Ich fürchte, gnädigster Herr«, wandte er bescheiden ein, »die Frankfurter, welche bis jetzt die Küche versorgt haben, werden neidisch nach der Goldkette schielen, sie drohen mit Klage.«

»Vertröste sie, versprich ihnen, was du kannst«, sagte der Hochmeister gleichgültig, »sie sitzen gemächlicher als ich und können warten.«

»Sie haben aber üblen Willen, und Herr Dietrich klagt, daß es unmöglich sei, den Herren und Knechten noch Kost zu schaffen.«

»Ich merke, auch du wandelst auf den Wegen des Marschalls und machst dich durch Widerspruch unleidlich, ich dachte besser von dir, Jörge.«

»Gestattet wenigstens, daß ich für mich nichts aus dem Beutel nehme, ich vermag mir durchzuhelfen, aber Euer Hofhalt vermag es nicht mehr.«

»Wie du willst«, versetzte Herr Albrecht gekränkt, »vergiß aber in Zukunft nicht, daß ich dir einen Teil angeboten habe.«

Georg beugte das Knie. »Ich dachte an das fürstliche Ansehen meines Herrn.«

»Mein fürstliches Ansehen«, brach der Hochmeister bitter heraus und ging, die Hände zusammenpressend, im Zimmer auf und ab. »Ich weiß, daß ich ein Bettler bin, und du brauchst mir es nicht vorzuhalten, ich weiß, daß mein ganzes Leben ein jämmerlicher[] Schein ist ohne Macht, daß die Fürsten über mich die Achsel zucken, die gemeinen Leute über mich spotten. Du hast nicht nötig, meinen Stolz zu demütigen, er wird täglich mit Füßen gestoßen. Du verstehst nicht, was es heißt, jahrein jahraus sich schwach und hilflos zu fühlen, alle Wochen neue Pläne zu machen und sich mit Hoffnungen zu trösten, die am nächsten Tage im Sande verrinnen. Dennoch bin ich ein deutscher Fürst, nicht schlechter als die andern, und ich habe, da ich den weißen Mantel nahm, ein Recht gewonnen auf Landherrlichkeit und Fürstenmacht. Bei aller Schmach hält mich nur der Gedanke aufrecht, daß ich für mich gewinnen will, was eines Edlen würdig ist. Wie vermag ich das, der Machtlose unter Hochfahrenden und Eigennützigen, wenn ich nicht wenigstens den Schein behaupte? Die Ordensbrüder haben mir bitter vorgerechnet, daß ich armer Mann unter den Fürsten Goldgulden verspielte. Es mag übler Brauch sein, daß edle Herren jetzt im Brett um Goldgulden spielen, und es mag ein frommer Schwärmer dagegen predigen, daß die vornehmen Leute goldene Borten und Ketten tragen, sie tun's aber alle, und wenn ich nicht mehr tun kann wie sie, werde ich ihnen vollends verleidet und sitze als ein Schuhu unter den Falken. Darum liegt mir mehr an der Kette und dir mehr an den Mienen des Fleischers und Bäckers.« Und heftig setzte er hinzu: »Du meinst es gut in deiner Weise, und du hast mir ohne Sorge um den eigenen Nutzen gedient; ich werde nicht zürnen, wenn dir das ewige Borgen, Feilschen und Vertrösten verleidet wird und du mich verläßt, wie mancher andere getan. Vielleicht wärst du mir lieber, wenn du nicht so ungeschickt ehrlich wärest, dann wüßte ich eher, wodurch ich dich festhalten kann.«

Gekränkt durch die Rede des Herrn, nahm Georg sein Bündel Papiere zusammen und verneigte sich, um das Zimmer zu verlassen, da rief Herr Albrecht: »Bleib, ich habe unrecht, dich mit übler Laune zu plagen, du hast ohnedies Mühe mit mir.« Er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Als du mir unzufrieden widerstandest, sah ich in dir den Sohn deines Vaters, der mich zuweilen auch durch seine Mahnungen quält. Ihm gegenüber aber fühle ich mein Gewissen bedrückt, und ich büße meine Unfreundlichkeit, indem ich dir das bekenne. Wisse, Georg, ich habe vor Jahren deinem Vater ein Versprechen getan, daß ich, der Hochmeister des Ordens, den Polen niemals huldigen werde. Das Gelübde war voreilig, unablässig habe ich bei aller Welt um die Freiheit meiner Herrschaft gehandelt, gedrängt und gefleht, es war alles vergebens. Der Kaiser und der Papst stehen auf seiten meiner Feinde, das Reich hat mich verlassen, der Orden in Deutschland ist mir feindlich und würde mich am liebsten aus der Welt schaffen. Der Orden in Preußen vergeht an seiner eigenen Schwäche, die starke Stimme von Wittenberg hat dringend geraten, mit dem Zwitterwesen ein Ende zu machen, [] und seit das Büchlein an die Herren des Deutschen Ordens im Druck ausgegangen ist, verändern die Brüder in Preußen eigenhändig ihren Stand, und schon mehr als einer hat sich ein Eheweib genommen. Darum bin ich jetzt dabei, mich in das Unvermeidliche zu fügen und mich mit meinem Oheim von Polen zu vertragen. Mein Gelöbnis halte ich nach den Worten, aber wie ich fürchte, nicht nach dem Sinn deines Vaters. Das lag mir heut schwer auf der Seele, und deshalb war ich gegen dich widerwärtig. Denke nicht mehr daran«, bat er und hielt ihm die Hand hin.

Herr Dietrich kam, eine Tasche mit Briefen in der Hand. »Gute Zeitungen!« rief er, »hier ist das Schreiben des Königs von Polen an Eure fürstliche Gnaden; die Entscheidung ist gefallen, wir reisen nach Krakau.« Und zu Georg sagte er leise: »Auch für Euch ist ein Schreiben darunter.« Georg trat in das Vorzimmer und öffnete den Brief. Es war die Handschrift seines getreuen Gesellen Lips Eske, und es waren nur wenige Zeilen, darin stand etwas von seinem Weibe, von seinem Sohn und von einem Turmgemach. Alles wurde undeutlich im wilden Sturme, der ihm die Gedanken umhertrieb, den Mund zum Lachen verzog und die Augen mit Tränen füllte; nur den Turm sah er vor sich, schwarz war die Mauer, und auf halber Höhe wuchs aus dem Stein eine Eberesche, welche die Vögel gesäet hatten. Dorthin ging jetzt sein Weg. Ihm war, als ob Herr Albrecht ihm zum Abschied sagte: ›Du glücklicher Jörge‹, und daß ihm selbst wegen dieser Worte die Stimme beim letzten Gruß versagte. Er merkte, daß er im Kontor des befreundeten Kaufmanns stand und auf die kunstvolle Scheide eines Messers sah, das ihm der Frankfurter zu seiner Reise verehrte; dann fand er sich im Stall, sein Pferd sattelnd, und darauf vor der Herberge, einen Fuß im Steigbügel, und ihm war, als ob Herr Dietrich ihn lustig auf die Achsel schlüge. Bald ritt er auf der Landstraße. In den Gärten blühten die Apfelbäume, es war hier wärmer als da, wo die Esche aus dem Stein wuchs. Denn er war erst im Anfang des Weges, der hundert Meilen über Berg und Tal dem Aufgang der Sonne zuführte. Und er meinte zu sehen, wie ihre ersten Strahlen das Dach des Turmes röteten und immer mehr von dem Gemäuer vergoldeten, bis die Schwelle im hellen Lichte lag; und auf der Schwelle saß sein Sohn. So schrieb Lips Eske. Wie konnte der Sohn auf dem kalten Stein sitzen? Oft hatte er ihn geschaut in schwerer, banger Zeit als ein kleines nacktes Kind, mit wenig Härlein auf dem Kopfe, wie es ihm von den Frauen entgegengehalten wurde. Nackt war das Kind und winzig klein, welches er wachend und träumend in sich herumtrug und das er jetzt wieder vor sich sah; ganz deutlich schwebte es ihm zugewandt in der Luft und zeigte ihm den Weg nach dem Turme. Wie konnte das Kleine auf der Schwelle sitzen und spielen? Da merkte er, daß er jahrelang einsam und elend gewesen war, [] und die Tränen stürzten ihm aus den Augen in Wehmut über sein langes Leid. – Er ritt weiter gen Norden und Osten; in den Dörfern klang Sturmgeläut, und Haufen bewaffneter Bauern umringten ihn, er vernahm drohenden Anruf, sah eiserne Flegel und Morgensterne gegen sich gehoben und bat herzlich: »Laßt mich ziehen, ich bin ein armer Vater, der sein Weib und Kind jahrelang als tot betrauert hat, und jetzt höre ich, daß sie leben, darum will ich zu ihnen.« Die Landleute senkten ihre Waffen und ließen ihn durch. Er kam in das Land des Kurfürsten von Sachsen und ritt längs der thüringischen Berge bei der Burg vorüber, in welcher ein anderer lange Zeit verborgen gelebt hatte, während das Volk seinen Untergang betrauerte. Er gedachte der Stunde, wo sein liebes Weib für den Verlorenen die Hände faltete, als sie im Turm zwischen ihm und ihrem Vater saß. Und in ihm klangen die Worte wider: ›Jener wurde damals bewahrt vor dem Verderben, auch wir dürfen wieder Gutes hoffen.‹

So drang er bis an die Elbe. Als er von seinem müden Pferde gestiegen war und am Ufer auf den Fährmann wartete, sangen die Kinder auf einem umgestürzten Kahn in der Nähe. Ihm fiel das Lied von der Jungfrau bei, welche im Strome versenkt werden soll und durch den Geliebten gelöst wird. Zum erstenmal seit Jahren vermochte er die Worte zu ertragen, und während er leise vor sich hinsang, überkam ihn wieder das Entsetzen jener Stunde, wo Henner von dem umgeschlagenen Kahn berichtet hatte; und er fuhr mitten im Liede wild empor, als er neben sich die Stimme seines alten Gesellen Wuz hörte, denn er meinte das Fürchterliche noch einmal zu erleben. Aber Wuz stand wirklich vor ihm und außer diesem noch einige Genossen aus dem Schloßhofe; rings um sich vernahm er frohen Zuruf, und auch er umarmte den Wuz und den Benz wie seine besten Freunde und sagte ihnen glücklich: »Verweilt mich nicht, liebe Gesellen, die Fähnrichin lebt, und mein Sohn lebt, und ich ziehe zu ihnen, denn sie wohnen im Turme.« Da freuten sich die alten Knechte über ihn; sie streichelten sein Pferd, einer lief und holte Hafer und Heu, und Wuz griff sogar in seinen Säckel, welcher leicht war, und wollte ihm daraus mitteilen. Er hörte, daß sie nach Torgau reisten, um sich dem Kurfürsten als Trabanten anzubieten; und wie er mit seinem Pferde auf der Fähre stand, erscholl ihr lauter Zuruf: »Grüßt die Frau Fähnrichin von der Bruderschaft, und sie soll unser im Guten gedenken.«

Durch Sand und Kiefernholz führte die Straße, die Gräben waren mit Winterschnee gesäumt, die Krähen flogen über das öde Land, und der Weg wurde mühsam, denn die Landschaft war auf mehrere Tagereisen berüchtigt als Aufenthalt grausamer Buschklepper; in den schlechten Herbergen verschwand mancher Wanderer für immer aus dem Tageslicht, und jeder Reisende mußte Not leiden. Aber die Sorge vermochte noch nicht aufzukommen, sein Rößlein wieherte, [] ein frischer Reisewind streifte seine Wange, und vor ihm schwebte wie leibhaftig eine Gestalt: das kleine nackte Kind glitt ihm zugewandt über Feld und Heide, über Wasser und Wald dem Turme zu. Deutlich schaute er das Kind, welches den Weg wies, und deutlich schaute er das dunkle Gemäuer, dem er zuzog; doch das Bild des Weibes sah er nicht außer sich, sie war bei ihm in seinen Gedanken, sprach ihm in das Ohr, lehnte an seiner Schulter und schlummerte an seiner Seite auf dem Lager.

Endlich stand er an dem Strome der Heimat und blickte über das wilde Wasser, dort lag die Schenke, und dort ragten die Deiche, wie an jenem Morgen, wo er mit Anna ein Gefangener der Landsknechte wurde. Jetzt legte sich die Angst um seine Brust, in welcher Gesinnung ihm sein Weib entgegentreten werde und ob er dem Magister die Feindschaft seines Vaters entgelten müsse. Denn durch seinen Gesellen Eske war ihm nicht verhehlt worden, wie grausam der Kaufherr mit dem Gelehrten gehandelt hatte, und zwischen ihm und seinem Vater war seit jener Zeit in Briefen kein vertraulicher Gruß gewechselt worden, nur mit kalter Vorsicht das Nötigste. Wild rief er nach dem Fährmann, sein Herz pochte, daß er den Atem verlor, und endlos dünkte ihm die Breite des tückischen Stromes. Dann trieb er sein Pferd auf dem Wege, den er einst neben dem toten Hauptmann durchmessen, und hob sich im Steigbügel, um über Heide und Holz das Schloß auf der Höhe zu erkennen. Vor ihm stieg es empor als ein dunkler Schatten, und er jagte darauf zu wie an jenem Winterabende, wo er nach dem Lichtschein im Fenster gespäht hatte. Alles Schauen und alles Denken ging verloren in dem heißen Fieber, welches ihn schüttelte. Er sprengte durch das Stadttor, undeutlich kam ihm vor, als ob andere Menschen wie sonst in den Gassen liefen und daß die Handwerker wieder in ihren Stuben bei der Arbeit saßen. Er spornte sein Pferd den Schloßberg hinauf, sprang ab und schlang den Zügel in den Ring des Pfostens. Wie gelähmt schritt er in den Hof, die Turmpforte stand geöffnet, und die Zweige der Esche bewegten sich im Winde, mattes Sonnenlicht lag auf dem Wege, und vor der Turmschwelle lief ein Knabe umher; er hatte kleine blonde Locken und rosige Wangen und stapfte mit den Beinchen kräftig auf die Erde. Georg stand erschrocken. ›Dort ist es; von ihr kam es, und mir gehört es; es gleicht einem Engel. Aber es sieht weit an ders aus als mein armes kleines Kind.‹ – »Romulus«, rief er, kaum brachte er das Wort aus der heiseren Kehle. Der Knabe sah zu dem fremden Mann auf und lachte ihn an. Da schrie der Vater laut, riß den Knaben zu sich und sprang mit ihm in den Turm. Niemand war darin, aber alles wie sonst: der Herd, die Treppe, das Lager; er warf sich auf den Sessel am Herde nieder und küßte den Kleinen auf Stirn, Wangen und Mund. Das Kind aber wurde bei den Liebkosungen des Mannes [] ängstlich und rief nach der Mutter. Und er setzte seinen Sohn, der ihn nicht kannte, betäubt zu Boden.

Unterdes bellte laut und lauter das Hündlein, sprang an ihm herauf und legte sich vor ihm auf den Rücken, bis eine Frau eilig die Treppe herabkam in dunklem Gewande, das Haar in einer Witwenhaube verborgen. Zwei leise Rufe des Schreckens und Entzückens, sein Weib flog ihm entgegen, warf sich an seinen Hals, und er hielt sie an seinem Herzen. Unsäglich war das Elend der letzten Jahre gewesen, und unsäglich war die Seligkeit dieses Augenblicks. Als sie endlich unter Tränen und Küssen die Worte fanden, sprach Anna leise: »Ich wußte, daß du mich hier finden würdest«, und den Knaben zu ihm aufhebend, rief sie: »Hier ist dein Sohn, und du, Knabe, sprich: lieber Vater. Er ist die Rede gewöhnt, denn ich habe sie ihn alle Tage gelehrt.« Da sah das Kind von einem zum andern und verstand alles, es wußte, daß der Vater gekommen war und sagte leise die ehrwürdigen Worte nach. Als aber Georg den Sohn vom Arme der Mutter hob, erkannte sie erst, daß der Gemahl die rechte Hand unbehilflich regte, sie faßte den Arm und sank an seiner Seite auf die Knie.

Der Dämmerschein des heimlichen Raumes schwand in dem kalten Tageslicht, das durch die offene Tür hereinfiel. Der Magister stand vor den Gatten: »Was drängt Ihr Euch aufs neue zu meiner unglücklichen Tochter, Junker Georg König? Das Weib, welches einst allzu willig Eurer Liebe vertraut hat, ist von Euch geschieden und tot. Die hier lebt, gehört nur mir. Hinweg von meiner Tochter!«

Anna erhob sich und trat dem Alten gegenüber. »Es ist mein Hausherr, Vater, der zu mir und meinem Kinde heimkehrt.«

»Sendet Euch der ungerechte Mann, welcher Euer Vater und Herr ist, so will ich mich mühen, die tödliche Kränkung unserer Ehre zu vergessen. Kommt Ihr mit eigenmächtiger Werbung wie vor Zeiten, so gebiete ich Euch: weicht von hinnen!«

»Ich komme weit her aus dem Reiche, um mein Weib und Kind zu fordern, und nicht Ihr und nicht mein eigener Vater dürfen sie mir weigern.«

»Wißt Ihr, wozu Euer Vater mein Kind gemacht hat? Geht nach Thorn und hört es aus seinem eigenen Munde.«

Da warf sich Anna um den Hals des Gatten und rief dem Alten zu: »Ihr habt zwei Hände, um mich von seinem Herzen zu reißen, er vermag nur eine zu regen, um mich festzuhalten. Gedenkt, daß er die Hand verlor, weil er um meinetwillen seine Freiheit hingab.«

Der Magister starrte auf den Handschuh der Holzhand und murrte: »Scävola«, griff suchend in die Tasche und ging mit großen Schritten auf und ab. »Hier verweilen dürft Ihr nicht, Georg«, begann er endlich, »was aus uns allen werden soll, weiß ich nicht zu sagen. Kein Richter im Lande soll, weil ich lebe, über Ehre oder [] Unehre meines Kindes absprechen, und Gott im Himmel allein vermag zwischen uns und Eurem Geschlecht zu entscheiden.«

Georg schwieg, aber er drückte seinen Sohn fest an sich. Wieder ging der Magister auf und ab.

»Vater«, flehte Anna, »einer lebt auf Erden, den der liebe Gott zum Ratgeber für angstvolle Gewissen bestellt hat.«

»Willst du einen Fremden zum Richter machen über deine und meine Treue?« fragte Georg traurig.

Da hob Anna die gefalteten Hände. »Er ist kein Fremder für dich und mich, denn er hat durch seine Lehre geholfen, daß ich die Trennung von dir ertrug.«

Wieder hielt der Magister vor dem Gaste an. »Ist meine Tochter vor Gott und den Menschen Euer eheliches Weib, so gehört sie mit ihrem Kinde Euch, ist sie es nicht, so bleibt sie mein. Darum lade ich Euch im zweiten Monat von heut, an demselben Tage, zu dieser Stunde, an die Klosterpforte der Augustiner zu Wittenberg. Dort soll ein Richter über Euer Anrecht entscheiden. Hier aber gestatte ich Euch unter meinen Augen nur so lange Zeit, als ein Wanderer braucht, um auszuruhen, nicht länger.«

»Ich füge mich Eurem Willen, Herr Vater«, sprach Georg. »Hat der Richter gesprochen, so sage ich ihm und Euch, was mir mein Gewissen gebietet.«

Er rastete und hielt das Weib in seinem Arm, den Sohn auf dem Schoße; der Magister aber ging schweigend vor ihm auf und ab.

Marcus wog einen Brief des Dietrich von Schönberg in seiner Hand, und ein herbes Lächeln fuhr über sein Antlitz. ›In den Tagen junger Freundschaft schrieb der Herr selbst, jetzt versieht der behende Diener die lästige Arbeit. Je schwerer das Gewicht des Geldes wird, welches ich ihnen zutrage, um so flüchtiger wird ihre Antwort auf die Fragen, welche ich in banger Sorge tue.‹ Er las: ›Die Zusammenkunft meines gnädigen Herrn mit dem Könige von Polen ist endlich durchgesetzt, der Hochmeister rüstet sich zur Reise nach Krakau, und die Entscheidung steht bevor. Auch Ihr, mein günstiger Herr und guter Freund, mögt den Ausgang mit gutem Vertrauen erwarten und Euch durch allerlei Gerüchte nicht beirren lassen, denn wir haben Sicherheit, daß der König in höchster Notwendigkeit ist, den alten Streit zu beenden. Die edlen Herren haben darüber bereits vertraulich eigenhändige Briefe gewechselt.‹ Marcus sah auf: ›Ist die Freundschaft der Edlen plötzlich so warm geworden? Sie bedroht das Preußenland mit kaltem Wetter.‹ Er las weiter: ›Ich darf dem Papier nicht übergeben, was noch als Geheimnis bewahrt werden muß, damit nicht unsere Feinde in der letzten Stunde die Vollendung hindern. Aber Seine fürstliche Gnaden befehlen mir, Euch mitzuteilen, wenn in dem Vertrage auch nicht alles erreicht werde, [] was wir in dem letzten Jahre betrieben haben, so steht doch ein fester Friede in Aussicht und für das Land unseres gnädigen Herrn eine heilsame Zukunft.‹ Marcus schleuderte den Brief auf den Tisch. ›Ich verstehe die Meinung. Thorn und das Weichselland sind den Polen preisgegeben, und wir zahlen mit unserer Zukunft und unserem Gelde dafür, daß der Hochmeister für sich und sein Land des schmachvollen Lehnseides enthoben wird. – Du hast lange gelebt, Alter, und solltest gewöhnt sein, daß deine Hoffnungen eitel und nichtig dahinflattern, und doch fühlst du so heißen Schmerz über diese letzte Enttäuschung. Füge dich, stolzer Sinn, begnüge dich mit dem kleinen Trost, daß Mühe und Opfer doch nicht ganz vergeblich waren. Wenn Onkel und Neffe einander noch so warmherzig die Hände reichen, sie werden nicht hindern, daß die Feindschaft zwischen dem freien Ordenslande und Polen aufs neue entbrennt. Was wir nicht vollendeten, das muß den Söhnen gelingen. Ich aber frage, wo ist mein Sohn, daß ich ihm die Erbschaft übergebe? Sein Erbteil an Geld ist klein geworden, dafür lege ich ihm eine große Forderung auf die Seele, daß er hasse und treibe wie sein Vater und, gefällt's dem Himmel, mit besserem Glück.‹ Er nahm den Brief auf und sah nach dem Datum: ›Das Schreiben war lange unterwegs, und manches mag unterdes geschehen sein.‹

Auf dem Markt liefen die Leute zusammen, sie sammelten sich in Haufen vor dem Rathause. Bernd kam eilig herein, der Schrecken lag über seinem behaglichen Gesicht. »Ein polnischer Bote trägt dem Rate seltsame Kunde zu. Habt Ihr sie vernommen? Es gibt keinen Hochmeister mehr.«

Marcus fuhr in die Höhe: »Ist Herr Albrecht tot?«

»Nein, der Herr lebt, aber der Deutsche Orden in Preußen hat, wie sie sagen, ein Ende. Herr Albrecht hat den Ordensmantel abgelegt, ist in weltlichen Stand übergetreten und durch den König von Polen unter polnischer Hoheit als Herzog eingesetzt worden, er selbst und sein ganzes Geschlecht.«

Da lächelte der Kaufherr und zuckte die Achseln. »Du bist alt genug, um zu wissen, was von Gerüchten zu halten ist, zumal von der Meldung polnischer Boten.«

»Der Bote ritt den weiten Weg von Krakau hierher, um dem Rate die Nachricht zu bringen.«

Marcus lächelte wieder: »Er wurde getäuscht oder er will die Bürger täuschen, denn dies ist unmöglich. Ich habe einen Brief erhalten, der weit anderes meldet, und, was schwerer wiegt, ich habe ein Gelöbnis des Hochmeisters selbst; ist er auch kein Mann von hartem Stahl, er hält sein Wort.«

»Soweit er vermag«, versetzte Bernd kopfschüttelnd. »Wer darf in den großen Welthändeln auf Jahre hinaus beeiden, was er dereinst tun wird?«

[] »Niemand kann das, aber ein Mann darf sagen, was er nicht tun wird.«

Wieder schüttelte Bernd den Kopf.

An der Haustür tönte ein scharfer Schlag, der Gehilfe rief seinen Herrn auf die Schwelle. Vor dem Hause stand der Ratsbote mit Hans Buck und zwischen ihnen der Knecht Dobise. »Der Rat sendet Euch Euren Knecht«, begann Hans Buck, »er kehrte freiwillig zurück und trat in mein Gehege. Sein Kopf gehört mir, und ich fordere ihn von Euch.«

»Guten Tag, Meister«, grüßte Dobise demütig, »da Ihr mir Tag und Stunde freigelassen habt, so komme ich erst jetzt, nehmt's nicht für ungut.«

»Und warum kommst du jetzt?« fragte Marcus.

»Herr, es wollte mir in der Fremde nicht mehr gefallen, und nach dem, was ich in den letzten Wochen erfahren habe, bin ich ganz zufrieden, daß es mit uns beiden zu Ende geht. Nach uns kommen andere. Vor Hans Buck fürchte ich mich nicht, ich habe ihm oft zugesehen, und einen besseren finde ich nirgends.« Hans Buck lächelte wohlwollend über das Lob.

»Nehmt den Mann, Ratsbote, und verwahrt seinen Hals, bis ich ihn abfordere.«

»Er treibt sich seit lange in der Gegend umher«, erklärte Lischke; »und wurde zuerst vor mehreren Wochen im Hause des gebietenden Herrn Eske erkannt, dann saß er zuweilen auf dem Kirchhofe von St. Johann, erst heut gab er sich unter die Hand von Hans Buck.«

»Was kann ich noch für dich tun, du Armer?« fragte Marcus.

Dobise drehte die Mütze in den Fäusten: »Wenn es Euch nichts verschlüge, so möchte ich noch einmal zusehen, wie sie die neue Glocke ziehen.«

»Dazu kann Rat werden«, sagte der Ratsbote, froh über die Neuigkeiten, welche er wußte. »Denn es ist Befehl erteilt, morgen mit allen Glocken zu läuten, um den Frieden mit dem neuen Herzog Albrecht einzuweihen. Ich selbst gehe jetzt mit dem Ausrufer, zu verkünden, daß der Herzog unserm Könige gehuldigt hat und zum Dank in dem früheren Ordenslande wieder eingesetzt ist. Morgen kommt Herr Albrecht selbst in die Stadt, der Läufer hat ihn angekündigt, und die gebietenden Herren wollen ihn festlich empfangen.«

Da winkte Marcus mit der Hand, daß sie sich entfernten, und Bernd schloß die Tür.

Der Abend kam heran, auf den Straßen trieb die frohe Menge umher, aus den Fenstern blinkten Lichter und lustige Herdfeuer, alle Türen waren geöffnet, und die Freunde der Hausbewohner gingen aus und ein. Nur das Eckhaus am Markte stand finster und verschlossen, kein Lichtschein verriet, daß es bewohnt sei, und kein Besucher hob den Klopfer der Haustür.

[] Erst am andern Morgen, als alle Glocken der Stadt miteinander das feierliche Friedensgeläut anstimmten, wurde die große Torfahrt geöffnet, Marcus König ritt aus seinem Hofe, wie ein Kriegsmann gerüstet. Im Tor stand die alte Dienstmagd und barg ihr Schluchzen hinter der Schürze, und Bernd ging barhäuptig zur Seite des Reiters, vergebens bemüht, seine Fassung zu behaupten. Auf dem Markt wandte der Kaufherr das finstere Antlitz noch einmal nach dem Hause seiner Väter und gebot von der Höhe seinem Gehilfen: »Sollte der neue Herzog von Preußen nach dem Hauswirt fragen, so sage ihm, Marcus König sei für Seine herzoglichen Gnaden nicht bei Wege. Er reitet über Land und läßt seinen Knecht henken, weil dieser ihm einen Eidschwur gehalten hat.«

Langsam und allein zog er unter dem Geläut der Glocken zum Tore hinaus.

Auf dem Dorfgrunde unweit des Stadtweges war der Galgenhügel, dort hielt der Karren mit Hans Buck und Dobise. Marcus stieg vom Pferde, schritt, von Bewaffneten seines festen Hauses umgeben, nach der Anhöhe und gab dem Scharfrichter das Zeichen. Dobise kletterte willig die Leiter hinauf und sah über das Gebälk auf den Himmel und die grünende Flur. »Alles blau und grün«, sagte er kopfschüttelnd.

»Sieh dir die Sache genau an«, ermunterte Hans Buck, der zur Seite über dem Querholz saß, »wir haben keine Eile.«

»Dort sehe ich die Türme unserer Stadt, der Ratsturm hat ein neues Dach, das hält wieder eine Weile.«

»Bis es herunterfällt wie das alte«, versetzte bedächtig sein Nachbar.

»Mein Alter sieht aus wie ein Kriegsmann«, fuhr Dobise fort, »er trägt selten die Brustplatte und das lange Schwert.«

»Heut hat er es als Gerichtsherr dir zu Ehren angelegt«, sagte Hans Buck.

»Niemals ist einer so hinausgefahren wie ich, während die zwölf Böttcher zogen«, berühmte sich Dobise, »und mich freut's, daß der Alte mir die letzte Ehre erweist. Er denkt daran, daß ich zu ihm gehöre.«

»Du bist von deinen Vätern her sein Knecht?«

Dobise nickte. »Die Bürger wollen die Leute meines Geschlechts nicht mehr in der Stadt leiden. Doch er und ich, wir gehören von Vater und Mutter zusammen, ich bin im Thorner Lande der letzte von den alten Preußen, und er ist der letzte von den alten Deutschen. Und jetzt geht es auch mit uns beiden zu Ende.« Hans Buck sah ihn fragend an und hob die Schlinge, Dobise half sie um den Hals legen. »Aber der Alte weiß doch nicht, was ich weiß; denn, Hans Buck, ich habe gesehen, wie sein Enkel die Gerte schwenkte.«

»Was spricht der arme Sünder?« fragte von unten eine starke Stimme.

[] »Lebt wohl, Hans Buck«, rief Dobise und sprang von der Leiter.

»Schneide ab«, schrie Marcus.

Der Henker zerschnitt mit Hilfe des Knechtes eilig den Strick. »Der gute Wille war vergeblich, Herr; er sprang zu jach in die Luft, das Genick ist gebrochen.«

In einer Ecke des kleinen Friedhofs wurde die Ruhestätte geschaufelt; die Schollen rollten auf den Leib, der Wind wehte, und die Wolken flogen, während Marcus am Grabe seines Knechtes auf den Knien lag.

Den Tag darauf standen die neuen Ratsmänner Kunz Lohgerber und Barthel Schneider am Ufer der Weichsel und sahen über den leeren Ladeplatz, zu dem nur einige Holzflöße trieben. »Der Friede ist verkündet«, begann Kunz, »ich gedenke der Zeit, wo die schweren Kähne hier so dicht lagen, daß man Mühe hatte, einen Kübel Wasser zu schöpfen. Ob sich's wieder füllen wird?«

»Dort stößt der große Danziger gegen den Strom heran«, antwortete sein Nachbar, »wunderlich ist es, daß er zurückkommt; er hat für Marcus König geladen und lag die letzte Nacht unterwärts am Ufer. Seht, er hat sich wie ein Kriegsschiff gerüstet, eine Schanze um den Mastkorb gebaut, und, meiner Treu, ich erkenne bewaffnete Männer im Korbe; meint Ihr nicht, daß wir Lärm machen?«

»Hier kommt jemand, der Euch die Sorge abnehmen wird, der Burggraf mit seinen Trabanten. Das Schiff bleibt im Strome, und der Ratskahn legt an, der Burggraf selber will den alten König zum Land fahren.«

»Ob zu einem Festmahle oder in den Turm? Nun, es haben schon bessere Leute darin gesessen als der alte Papist.«

Der Kahn des Rates führte den Burggrafen an das Schiff; Hutfeld bestieg die Planken, Marcus begrüßte ihn an der Treppe. »Ich danke Euch, hochgebietender Herr, daß Ihr gegen den Brauch des Rates nicht verschmäht, die Fahrt im Stadtgebiet auf einem fremden Schiff zu machen.«

Der Burggraf warf einen besorgten Blick nach dem Korbe, in welchem Bewaffnete ihre Rohre steif am Fuß hielten, und nach dem Steuer, wo neben einem fremden Maat Hendrick, der Schiffer, seine Mütze lüftete: »Sind die Schiffskinder auch zum Teil Fremde«, antwortete er lächelnd, »der Schiffsmeister ist ein Bürger von Thorn.«

»Er war es bis jetzt«, versetzte Marcus.

Hutfeld sah nach dem Kahne zurück, dann maß er prüfend das düstere Antlitz seines Gegners. »Ich war bis jetzt Bürger dieser Stadt«, fuhr Marcus fort, »und um mich von den Mauern zu scheiden, in denen die Sorge uns beiden das Haar gebleicht hatte, habe ich dich, mein Schwager, hierhergeladen. Ich denke, es sind die [] letzten Augenblicke, in denen wir einander gegenüberstehen. Den Burggrafen der Stadt hätte ich nicht bemüht, den Bruder meines lieben Weibes wollte ich noch einmal grüßen, bevor ich von hier gehe; denn mein Fuß betritt die Straßen von Thorn nicht wieder.«

Hutfeld faßte seine Hand. »Die Stimme alter Freundschaft höre ich nach Jahren zum erstenmal aus deinem Munde; zürne nicht, wenn ich widerstrebe, daß diese Stunde die letzte sein soll, in der ich dich sehe.«

»Auch du, dessen Klugheit und Vorsicht ich heut mit schwerem Herzen loben muß, wirst meinen Entschluß nicht beugen. – Den Burgwald von Nessau und das Landgut, welche ich als altes Erbe meines Geschlechts überkam, begehrt der Rat. Der Preis, welcher mir geboten wurde, ist so gering, daß ich ihn zu anderer Zeit abgelehnt hätte, jetzt ist er mir willkommen, denn, Konrad, ich bin kein reicher Mann mehr.«

»Das habe ich gefürchtet«, sagte der Burggraf. »Es war ein Unglückstag, wo der Herzog von Preußen in deinem Hause Einlager hielt.«

»Weißt du dies, du scharfblickender Mann, so weißt du auch mehr. Du warst der Gegner, der meine stillen Wege aufspürte, und du gewannst das Spiel, weil du mehr von mir wußtest als andere.«

»Nicht ich, Marcus. Du rangst gegen eine Flut, welche uns alle übermächtig forttreibt.«

»Vielleicht«, sagte der Kaufmann, das Haupt neigend. »Diese Planken sind Danziger Grund, und auf fremdem Boden darf ich dir sagen, daß ich getan habe, wahrlich aus Liebe zur Stadt, was mich ausschließt von der Tafel Eures Hofes und von dem Glockengeläut Eurer Türme. Den Rat wollte ich werfen und die Stadt in die Gewalt des deutschen Hochmeisters zurückbringen als ein wertvolles Unterpfand für seinen Frieden mit Polen. Jahre hindurch habe ich unter Euch gelebt als Euer Todfeind.«

»Wozu von Vergangenem reden? Dir frommt nicht, es zu sagen, mir nicht, es zu hören.«

»Du darfst es doch hören, Konrad, denn deiner Mäßigung verdanke ich, daß ich heut vor dir stehe.«

»Ob du mit Grund sprichst oder nicht, ich weigere dir die Antwort«, antwortete Hutfeld, »wäre es aber, wie du sagst, so weißt du auch, daß in dem Frieden Verzeihung für alle Parteinahme ausbedungen ist. Hättest du Unrecht geübt gegen die Stadt und die Krone Polen, es wäre jetzt gesühnt.«

»Du sagst es«, versetzte Marcus, »aber du weißt auch, daß es für den Kampf um die Herrschaft kein Vergessen gibt. Bald würden der König und der Rat einen Vorwand finden, mir an Habe und [] Hals zu gehen. Und zürne mir nicht, wenn ich es sage, ich bin zu stolz, um länger als dein Schützling zu leben, der auch dir unablässig die Sicherheit gefährdet.«

»Der Kampf ist ausgetragen und wir werden alt«, sprach bittend der Burggraf, »und ich denke, ebenso wie das Weichselland und die Stadt begehren wir beide fortan den Frieden.«

»Nicht ich«, rief Marcus zornig. »Könnt Ihr verzeihen, ich vermag es nicht.« Er wandte sich rückwärts, wo die Mauern und Türme von Thorn ragten. »Einst priesen dich die Nachbarn als Königin der Weichsel, jetzt ist die Krone für immer von deinem Haupt gerissen; zu einer polnischen Metze bist du geworden, der die Könige einmal ein Almosen hinwerfen, um sie darauf wieder mit Ruten zu streichen nach ihrem Gefallen.«

»Lästere nicht, Marcus, in der letzten Stunde die Stadt, welche dich geboren und lange getragen hat«, mahnte Hutfeld, »blutiger Zwist und Krieg waren fast hundert Jahre im Lande, Dörfer sind geschwunden, durch menschenleere Einöden schweifen die Raubtiere, aber die alte Stadt steht als ein sicherer Schutz für ihre Getreuen und als gastfreie Zuflucht für Flüchtlinge aus aller Herren Ländern. Der Spruch unseres Fähnleins, der in harter Zeit darauf gesetzt wurde, hat sich als wahr erwiesen, sie hat's überdauert.«

»Ja, zwischen feindlichen Flammen, wie der Wurm, den niemand kennt. Hoffe nicht, daß in dem polnischen Feuer deine Bürger gedeihen werden. Verhaßt ist die deutsche Art dem fremden Volke, verhaßt euer Reichtum dem polnischen Edelmann und euer Stolz dem Palatin, der über euch herrschen will. Scheuen sie sich, die Tore zu brechen, so werden sie zu den Pforten hineinschlüpfen, und fürchten sie eure helle Klage, so werden sie langsam durch Schmeichelei und hohles Getön der Worte euch zu Knechten machen.«

»Nicht wir haben die Feindschaft geschaffen, Marcus, die dich jetzt von uns scheidet, wir haben sie als ein Erbe von den Vätern überkommen. Was die Zukunft uns bringt, dafür mögen die Künftigen sorgen, wir tun heut und morgen, was wir müssen.«

»Bis der Tag kommt, wo das schwarze Gerüst, das für meinen Vater errichtet wurde, wieder auf dem Markte von Thorn erhöht wird, damit die Polen die Häupter eurer Nachkommen werfen. Das ist der letzte Gruß, mit dem ich von euch scheide, als ein Flüchtling, der eine Stätte sucht, wo er unter freien Landsleuten sein Haupt bergen kann. Dir aber, Konrad, übergebe ich die Sorge für die Gräber meines Geschlechtes, du warst der erste Freund meiner Jugend, du bliebst dem Alten hochgesinnt auch als Feind.«

Der Burggraf umfaßte den Scheidenden, er fühlte den krampfhaften Händedruck und sah das Zucken in dem Antlitz des andern. Gleich darauf trieb sein Kahn auf dem gelben Wasser der Stadt zu. Als er noch einmal zurückschaute, stand Marcus, den Blick nach[] dem dunklen Norden gerichtet, dem die Strömung zueilte, rastlos und unaufhaltsam.

Der Einsame hob die Augen zu dem Wolkenhimmel und suchte nach einer Stelle, wo die Himmelsbläue sichtbar wäre, es war alles in Grau gehüllt. Nichtig war seine Erdenarbeit gewesen, all seine Hingabe eitel und nutzlos. Keiner der Fürbitter, wie ängstlich er sein Lebelang um ihre Gunst geworben, hatte vermocht, ihm den großen Wunsch zu gewähren. Auch sie erschienen ihm kalt und fremd, alt und machtlos, und er gedachte ihrer wie ein gottloser Mann; fruchtlos war alle Gabe und Verehrung, welche Bittende ihnen zollten, und verächtlich das Drängen der Pfaffen, welche für jeden beteten, der die Macht hatte und der sie bezahlte. Jetzt feierten sie das Hochamt um einen unseligen Frieden und flehten für das Wohl des Polenkönigs. Er setzte sich nieder und barg das Gesicht in den Händen. Gnade für dieses Leben hatte er nicht gefunden, und er glaubte nicht mehr, daß seine Rechnung mit dem Himmel ihm für das Jenseits heilsam sein werde.

Das Schiff legte bei, Marcus fuhr auf, neben ihm stand der Schiffer Hendrick und wies auf die Steinsäule am Ufer. »Ihr wißt, es ist Brauch, an dem Bilde der Jungfrau zu halten und um günstige Fahrt zu bitten. Hier war es auch, wo Euer Sohn auf seiner Flucht das Boot des Elbingers betrat.« Marcus wandte sich ab und barg wieder seine Augen in der Hand. »Auch er ist mir durch fremde Schuld verdorben, und wenn ich ihn wiedersehe, wird er mein Gegner«, sprach er finster vor sich hin.

Da klang über das Deck der flehende Ruf: »Mein Vater!« Und der Sohn warf sich vor seine Füße und umschlang ihn mit den Armen.

Bei den Augustinern

In der Schreibstube des Doktor Martinus Luther zu Wittenberg standen der Magister und Anna mit dem Knaben und vernahmen die Worte des verehrten Mannes: »Mir ist durch Magister Philippus Gutes über Euch und Euer Kind berichtet, und ich will es an mir nicht fehlen lassen, damit der Zweifel und die Unsicherheit ein Ende nehmen, welche jetzt Euer Leben verstören. Denn in Gewissensnöten schlägt an den Zweifel gern der leidige Teufel seine Krallen, und jede Sicherheit, selbst wenn sie schmerzlich ist, hilft eher zur Gesundheit der Seele und des Leibes.« Und gegen Anna fuhr er gütig fort: »Es ist ein seltsamer Handel, um den Ihr mit Eurem Sohne die weite Reise unternommen habt, möge sie auch dem vaterlosen Kinde frommen.« Er strich dem Kleinen über das Haar. »Ich denke, dieser hat dazu geholfen, daß Ihr die traurige [] Verlassenheit tapfer ertrugt; er nächst Eurem Gottvertrauen, denn auch davon ist mir Kunde zugegangen.«

Romulus sah zu dem Doktor auf und verstand, daß der Herr es gut zu ihm meinte und hier zu befehlen hatte. Aber der Handel, welcher die Großen bekümmerte, machte ihm heut wenig Sorge. Denn noch erfüllt von der Reise, dachte er vielmehr darauf, wieder in die Welt zu fahren, und achtete begehrlich auf zwei schwarze Filzschuhe hinter dem Ofen, um diese als Gäule anzuschirren.

Ein junger Mann, in der Tracht eines Schülers, öffnete leise die Tür. »Euer Verlobter ist zur Stelle«, sagte der Doktor, »laßt euch beide gefallen, daß ich euch in dieser Stube bewahre, denn ich will den Junker zuerst allein sehen.«

Mit pochendem Herzen öffnete Georg die Pforte zum Kloster, die Scheu vor dem mächtigen Manne und schwere Ahnung bedrückten ihm die Seele, auch ein Rest des alten Trotzes, daß der Priester über das Glück seines Lebens entscheiden sollte. Auf der Bank vor dem Hause saß ein Jüngling über einem großen Buche. Als Georg grüßend seinen Namen nannte, erhob sich der andere: »Der Herr Doktor ist noch beschäftigt, Ihr mögt hier niedersitzen und seiner harren.«

Georg saß allein und sah sich in dem Hofe um. Trotz seiner Not dachte er, wie unscheinbar und dürftig die Stätte erschien, aus welcher ein so helles Licht über das ganze deutsche Land leuchtete. Ein Baum in voller Blätterpracht war die einzige Zierde des stillen Raumes; auf dem Boden vor ihm flatterten die Vögel, ein Fink schritt dicht vor seinen Füßen, die Sperlinge als klügere Weltkinder hüpften in größerer Entfernung und sahen ihn mit ihren runden Augen von der Seite mißtrauisch an. Ihre Geschlechter lebten hier seit Jahrhunderten im Besitz der Mauerritzen und immer hatten die Mönche ihnen Krumen gestreut. Jetzt war das Kloster im Schwinden, nur die Kleinen saßen dick und stolz wie Prälaten. Das dachte auch Georg, und unter den vertrauten Gesellen wurde ihm leichter ums Herz. Endlich flog der Fink gar auf die schöne Laute, welche an der Bank lehnte, und sang in kunstvollem Schlag den Fremden an, während die Saiten von der Erschütterung leise klangen. Da konnte Georg der Versuchung nicht widerstehen, mit dem Finger prüfend über die Saiten zu fahren, aber er setzte die Laute sogleich wieder hin, betroffen über das Getön, welches er verursacht hatte.

»Ihr seid des Saitenspiels mächtig?« fragte eine helle Stimme neben ihm. Georg fuhr empor und stand dem Herrn gegenüber, den er noch nie leibhaftig gesehen hatte, und dessen Angesicht doch durch die Holzschnitte fast jedem Deutschen bekannt war. Er sah einen Mann von stattlicher Mittelgröße, mit großem Haupt, in welchem zwei tiefliegende Augen wie dunkle Sterne blitzten. »Ihr [] seid der Junker aus Thorn, welcher bei mir sein Eheweib begehrt?« fuhr der Doktor fort. »Auch in Eurer Vaterstadt weicht jetzt die Finsternis dem Lichte. Ist mir recht berichtet, so hattet Ihr vor einigen Jahren Tumult, weil die Päpstlichen ein Bild des Luthers verbrannten. Ich denke, sie hätten lieber den Luther selbst in die Flamme geworfen; doch ich hoffe, sie sollen noch manchmal durch ihn erzürnt werden, bevor sie ihren Mut an ihm kühlen. In Thorn widersprach der Magister Fabricius dem Beginnen der Mönche und wurde deshalb aus der Stadt verbannt. War's nicht so?«

Georg bestätigte, und der Doktor fragte weiter: »Damals geriet noch ein anderer in Streit mit den Papisten, wer war dieser und was ist aus ihm geworden?«

»Es war ein Schüler des Herrn Magisters, auch er mußte die Stadt verlassen und lebt seitdem in der Fremde.«

»Und verlor seitdem, wie ich sehe, die Hand, mit welcher er sonst die Laute spielte«, setzte der Doktor, auf den Handschuh blickend, die Rede fort. »Was trieb Euch dazu, den Mönchen das Ketzerfeuer zu verstören?«

»Herr, ich sah meinen Lehrer in Gefahr und hatte außerdem einen alten Handel mit dem Polen, welcher die Hand gegen ihn ausstreckte.«

»Ihr seid für Eure Gewalttat mit Recht gestraft worden«, versetzte der Doktor kurz. »Aber mich freut's, daß Ihr so ehrlich seid und Euren wilden Streich nicht mir auf die Seele reden wollt.« Und abbrechend sagte er in gütigem Ton wie zu einem alten Bekannten: »Setzt Euch zu mir auf die Bank, Junker.« Georg rückte sich bescheiden in die Ecke. »Dieser Platz ist mir lieber als jeder andere, wenn ich meditiere und wenn ich mit guten Freunden ein vertrauliches Wort rede. Ich sah vorhin, wie Ihr meinen kleinen Flattergeistern zulachtet, auch ich achte gern auf sie, denn in ihrem bunten Kleide sind sie die kleinen Närrchen unseres Herrgotts, und sie haben mich manchmal getröstet, wenn mir der Papst und der Teufel Not machten. Ihnen ist gesetzt, sorglos dahinzuleben, wir Menschen freilich haben besseren Witz empfangen, damit wir mit größeren Sorgen ringen. Uns Thüringern vorab ist die Freude an diesen Federhelden gemein. Eure Vorfahren haben immer in Thorn gewohnt?«

»Es geht die Sage«, antwortete Georg bescheiden, »daß auch meine Voreltern aus Thüringen stammen.«

»Ihr seid vom Adel?«

»Mein Vater gehört zu den Ältesten des Artushofes und einer von unserm Geschlecht war vor Zeiten Hochmeister von Preußen.«

»So?« sagte der Doktor. »Euer Vater also ist reich und stolz auf seine Vorfahren. Wie hält er sich im Glauben?«

»Er ist eifrig für die alte Kirche.«

[] »Und Ihr habt die Frau, welche er Euch verweigert, von Herzen lieb?«

Georg stand auf: »Herr, so lieb, daß mir alles auf Erden wenig gilt gegen sie.«

Auch der Doktor erhob sich und sprach feierlich: »Dann erwartet mit Demut gegen den Herrn, was Euch die nächste Stunde bringt.« Er winkte dem Schüler, welcher an der Tür harrte, der Magister und Anna traten mit dem Knaben in den Hof. Als Georg Weib und Kind wiedersah, eilte er auf sie zu, küßte sein Gemahl auf die Stirn und hob seinen Sohn zu sich auf, dann legte er die Hand des Kleinen in die der Mutter, trat zurück und begrüßte den Magister von weitem. Der Doktor sah aufmerksam zu, wie das Kind dem Vater sein Händchen reichte und dabei ›lieber Vater‹ sagte, mit so zarter und verschämter Liebe, als käme der Gruß aus der Seele seiner Mutter. Aber gleich darauf war Romulus wieder mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Er hatte sich im Hofe sofort einer Gerte bemächtigt und damit nach einem jungen Sperling des Doktors geschlagen. Auf die Kriegserklärung flog das ganze geflügelte Volk zur Höhe und die beiden Parteien saßen lauersam gegeneinander.

»Ich flehe, ehrwürdiger Herr«, bat Georg, »daß Ihr mir gestattet, die Zeugen vor Euer Angesicht zu führen, welche für mich aussagen können. Sie warten vor dem Tor.«

»Ich bin kein Schöffe und kein Romanist«, antwortete der Doktor, »und das Zeugnis anderer wird Euch in dieser Stunde wenig helfen. Doch habt Ihr sie herbeigeführt, so laßt sie ein.«

Georg eilte zur Pforte und herein trat Wuz mit zweien seiner Gesellen und hinter ihnen ein alter Mann in der Tracht eines Wallfahrers. Die Männer blieben an der Tür, die Landsknechte nahmen ehrerbietig ihre Hüte ab und standen steif bei ihren Hellebarden.

Der Doktor sah unzufrieden auf die wilden Gestalten. »Was sollen die fahrenden Hansen und Jakobsbrüder in Eurer Sache?«

»Die Landsknechte waren Zeugen, als ich mit meinem Weibe vermählt wurde«, erklärte Georg bittend, »und sie haben in guter Meinung für mich die Reise gemacht.«

»Tretet näher«, gebot der Doktor, »da ihr einmal gekommen seid. Ihr also ward zugegen, als der Mann die Magd zur Ehe nahm. Habt ihr in eurem Orden besonderes Gesetz für die Vermählung?«

Wuz dachte nach: »Wir haben keine besondere Ordnung, sondern wir üben denselben Brauch, welchen im deutschen Oberlande die Bürger und Bauern anwenden, nur daß wir die Fahne darüberhalten.«

»Und wie empfing dieser das Weib?«

»Säuberlich, es ging zu wie vor einer Kirche«, versetzte Wuz, »das Fähnlein trat zum Ringe, ich gab die Braut, und Benz Streitenberg stand hinter dem Bräutigam.«

[]

»Wer tat die Fragen, und mit welchen Worten?«

»Der Hauptmann fragte: Fähnrich, wollt Ihr diese zu Eurem Ehegemahl nehmen? Der Fähnrich sagte ja. Dann fragte der Hauptmann die Jungfer, und da diese nicht vernehmlich wurde, so sprach ich das Ja, was ebensogut war; und hernach erinnerte der Hauptmann den Fähnrich, daß er der Braut auf den Fuß treten müsse, denn dieser hatte nicht daran gedacht.«

Der Doktor wandte sich zu Anna. »Habt Ihr auf die Frage ja gesagt?«

»Ich wollte ein Ja sagen«, antwortete Anna. Der Doktor nickte und sprach zum Landsknecht: »Und wie haltet ihr es bei euren Ehen mit dem Priester?«

»Wenn sich eine Gelegenheit bietet, so läßt auch der fromme Landsknecht seine Ehe an der Kirchtür weihen, obgleich das Fähnlein solches nicht begehrt.«

»Mich wundert diese Ordnung; denn ich höre, ihr lebt zuchtlos mit euren Weibsen?«

»Es ist ganz wie der Herr Doktor gehört hat«, bestätigte Wuz ehrerbietig. »Die meisten wirtschaften mit ihren Dirnen, jedoch treten auch zuweilen zwei miteinander in den Ring. Nämlich eine Ehefrau sitzt vor den andern auf dem Karren, und wenn es an Fuhrwerk fehlt, müssen die Dirnen zu Fuß laufen, auch darf der Troßweibel keine Ehefrau mit dem Stock schlagen. Und es würde wohl jede am liebsten Frau sein, jedoch ist ihnen wieder hinderlich, daß die Ehefrau nicht wechseln darf, solange das Fähnlein fliegt.«

Martinus winkte finster mit der Hand. »Es ist genug, tretet zurück.« Die Knechte wichen rückwärts zu dem Baum, in dessen Schatten der Wallfahrer lehnte.

Der Doktor wandte sich wieder zu Anna. »Habt Ihr nach eurer Vermählung den Segen eines Priesters empfangen?«

»Nein«, antwortete Anna unsicher.

»Wie kam das? Da Ihr, wie ich vernehme, eine gottesfürchtige Frau seid.«

»Zuerst fürchtete ich mich, trotz der Vermählung sein eheliches Weib zu werden«, sprach Anna mit stockender Stimme. »Dann las ich in Eurem Buche, daß nicht des Priesters Dienst eine rechte Ehe bewirkt, sondern fromme Liebe und christliche Gesinnung der Verlobten, und ich wurde ruhiger darüber, daß kein Priester in der Nähe war. Denn die Knechte waren widerwärtig gegen alle Pfaffen und hatten diese verscheucht. Als sich endlich ein Predigermönch aus Thorn zu uns fand, lag mein Hausherr diesem hoch an, daß er uns trauen möge. Da erbot sich der Mönch, da er mit dem Vater meines Hausherrn wohlbekannt sei, vorher um die Einwilligung des Vaters zu werben und uns bei seiner nahen Rückkehr zu segnen. Bevor er wiederkam, wurden wir getrennt.«

[] »Wohlan«, sprach der Doktor, »höret zu, ihr, die ihr meine Entscheidung angerufen habt. Ich bin kein weltlicher Richter, sondern ein Diener unseres himmlischen Vaters. Die Ehe der Christen aber ist ebensowohl nach göttlicher als nach menschlicher Ordnung eingesetzt. Darum liegt mir vor allem ob, zu erforschen, ob euer Verlöbnis zu einer rechten Ehe vor dem Herrn geworden ist. Das Wohlgefallen unseres Vaters im Himmel wird gewonnen durch christliche Gesinnung der Gatten, wenn sie in dem Gedanken an Gott die Ehe eingehen, und sein Wohlgefallen wird erhalten durch ehrbare und fromme Liebe, in welcher die Verlobten fest beharren mit dem Willen, ihr lebelang beisammen auszuhalten. Daß euch beiden eure Liebe zueinander hoher Ernst war und nicht nur ein leichtfertiges Spiel übermütiger Jugend, das erkenne ich aus der Not, in welcher ihr euch verbunden habt, und aus der Angst, in welcher ihr jetzt vor mir steht. Ob ihr aber auch als gute Kinder eures himmlischen Vaters im Glauben und Vertrauen auf ihn euren Bund geschlossen habt, das müßt ihr mir jetzt selbst bekennen, und ihr müßt die Worte auf euer Gewissen nehmen, damit nicht Unwahrheit eurer Seele und Seligkeit schade. Darum frage ich zuerst Euch, Junker, nach Gesinnung und Glauben dieses Weibes vor, bei und nach der Vermählung.«

»Ach, Herr«, antwortete Georg mit gefalteten Händen. »Jedermann, der mein Weib gekannt hat, muß bezeugen, daß sie schon als Jungfrau gottseliger war als andere ihresgleichen. Mich hat sie lange durch hohen Ernst und Strenge verschüchtert. Und in der Ehe habe ich täglich Ehrfurcht gefühlt vor der Innigkeit, in welcher sie mit dem lieben Gott verkehrte. Auch die Kriegsleute, unter denen sie leben mußte, erkannten das und ehrten sie darum.« Wuz unter dem Baume nickte heftig mit dem Kopfe.

»Das dachte ich wohl«, sagte der Doktor freundlich. »Und Ihr, junge Frau, vermögt Ihr Ähnliches von Eurem Gatten zu sagen?«

Da Anna schwieg, fuhr er ermunternd fort: »Denn Ihr müßt doch gemerkt haben, wie es mit seiner Gottesfurcht stand schon vor der Ehe und sicher in der Ehe.«

Leise antwortete die Frau: »Er hatte mich von Herzen lieb und war bereit, sein Leben für mich hinzugeben.«

»Für Euch, das Geschöpf, doch ob für seinen Schöpfer? Auch der Hirsch kämpft zuzeiten für die Hindin. Solch heißer Drang hat mit dem Glauben nichts zu schaffen.«

Anna schwieg. »Wie?« fragte der Doktor, »hatte er, als Ihr mit ihm in den Kreis der Kriegsknechte tratet, kein Wort, keinen Blick für den Vater im Himmel, der Euer Bündnis segnen sollte? Besinnt Euch«, mahnte er dringend, »denn es handelt sich hier um Großes für euch beide.«

»Herr, ich war damals kaum meiner Sinne mächtig.«

[] Da nahm ihr Georg die Sorge ab. »Ehrwürdiger Herr, ich stehe hier wie in der Beichte, und obwohl es meines Lebens Glück gilt, so will ich doch nicht täuschen. Als ich ihr zugesprochen wurde, sah ich nichts als sie, und dachte an nichts, als an ihre Gefahr und daß ich sie für mich gewinnen wollte.«

»Und nachher?« forschte der Richter unruhig.

»Herr, ich fühlte nur Schmerz und Zorn, daß sie sich mir versagte; und um Euch die ganze Wahrheit zu bekennen, lange Zeit war mir ihre Frömmigkeit verleidet, weil sie sich in solcher Gesinnung von mir entfernt hielt.«

Da blitzten die Augen des Doktors zornig auf das Weltkind und er sprach rauh: »Sie tat recht, Euch zu meiden, denn Ihr waret nicht der Mann, der ihrer Seele heilsam werden konnte. Doch als Ihr sie endlich wegen ihrer weiblichen Schwäche gewannet und mit ihr in Gemeinschaft lebtet, kam Euch niemals der Gedanke, daß Ihr verdammt sein werdet, und daß Eure Ehe eine wilde Buhlschaft sein werde ohne Gottes Gnade? Und kam Euch niemals der Schrecken vor dem Richter?«

»Ich kann's nicht sagen«, antwortete der ehrliche Georg in seiner Bedrängnis. »Ich habe, obgleich wir im Elend waren, doch am liebsten fröhlich vor mich hingelebt, meines Herzens Freude war immer mein gutes Weib, und ich habe sorglos darauf vertraut, daß ihr Gebet auch mir zugute kommen werde. Bis ich einst an einem kalten Wintertage spät in unsere Behausung zurückkehrte. Dort fand ich ein Geschenk Gottes, das nicht gewesen war, als ich wegfuhr. Draußen heulte der Schneesturm, als sie es mir entgegentrugen, es war nackt und winzig, und ich hatte dergleichen niemals gesehen; oben sah es aus wie ein altes Männlein und unten ähnlich einem Frosch, der im Wasser steuert. Und es war mein lieber Sohn. Da erschrak ich vor Gottes Wunder und mir erbebte das Herz.«

»Endlich«, rief der Doktor aufatmend.

»Seit der Zeit, ehrwürdiger Herr, lernte ich den großen Gott anflehen. Oft, wenn ich den Knaben ansah, riß es mich nieder auf die Knie; denn ich bedachte, daß ich für ihn zu leben und zu sorgen hätte und wieviel unser Vater im Himmel noch dazu tun müßte, bevor das Kind seine Locken bekäme, feste Beinchen und einen verständigen Sinn. Auch mein eigenes Leben erschien mir weit anders als früher, gleich einem Amte, das mir übergeben war, damit ich sein Wunder ehrlich großzöge. Und als ich meinen Sohn verloren glaubte, stand er immer so in meinem Gemüt, wie ich ihn das erstemal sah, und wenn sein Bild erschien, trieb es mich, die Hände aufzuheben und zu bitten, daß ich bald dorthin erhoben werde, wo nach meinen Gedanken er und seine Mutter auf mich warteten.«

Der Dokter sah auf die Mutter, und in seinem Antlitz leuchtete die Freude. »Nun, dieser ist kein verzweifelter Kunde, und er [] vermöchte wohl neben einer guten Frau ein frommer Hauswirt und Vater zu sein; zumal wenn die Frau, welche im Glauben stärker ist, ihn nicht durch Mahnungen quält, sondern die Zeit abwartet und ihm herzlich zuredet.« Und näher an beide tretend, begann er feierlich: »Soweit ich als kurzsichtiger Mensch den Willen des Herrn zu deuten vermag, sage ich euch, euer Bündnis ist vor Gott eine rechte Ehe. Und wenn der Herr euch beiden die Gnade erwiese, euch aus dieser sündigen Welt in das Reich des Lichtes abzurufen, so vertraue ich, daß euch, ihr armen Kinder, im Himmel eure Stübchen nebeneinander gerückt werden.«

Da umfaßte Georg glücklich die weinende Frau; und der Doktor fuhr fort: »Auch bin ich jede Stunde bereit, eurer Ehe durch Priestersegen nachträglich die Bekräftigung zu geben, welche ihr noch fehlt, wenn ich von denen geladen werde, die das Recht dazu haben.« Er löste die Hände der beiden voneinander. »Denn die Ehe ist nicht allein nach göttlicher Ordnung eingerichtet, sondern auch nach menschlicher. Und obgleich die Bräuche, durch welche eine Ehe vor den Menschen gültig wird, nicht in jeder Landschaft dieselben sind, so ist doch unter Deutschen überall Gesetz, daß der Haussohn und die Tochter sich nicht vermählen dürfen ohne Einwilligung der Eltern oder derer, welche an Eltern Statt über sie zu gebieten haben. Euch aber Junker, lebt der Vater, und dieser hat die Erlaubnis nicht gegeben, sondern er hat sie ausdrücklich verweigert. Darum muß ich euch sagen, fürwahr mit schwerem Herzen, vor den Menschen, in dieser sündigen Welt, ist euer Bündnis eine rechte Ehe nicht.«

So schrecklich war für zwei Seelen der Sturz aus hoher Freude zum Elend, daß die Verlobten fassungslos standen. Der erschrockene Magister zog die Tochter an sich und hielt die Unglückliche umschlungen. Der Doktor aber sah unzufrieden auf das Entsetzen der Geschiedenen, denn ihn erfreute zumeist ihre gute Aussicht für jenes Leben, sie aber fühlten stärker das Elend der irdischen Trennung. Doch sprach er schonend zu Georg, welcher mit gefurchter Stirn und geschlossener Faust vor ihm stand: »Da Ihr im höchsten Vertrauen zu mir gekommen seid und mich wider meinen Willen zum Meister Eures Geschickes machen wolltet, so vernehmt den besten Rat, den ich Euch geben kann: Eilt von hier zu den Füßen Eures Vaters und fleht inständig, daß er Euch den Segen nicht länger vorenthalte. Denn Liebe der Eltern flackert nicht umher wie Liebe junger Herzen, sie sitzt tief und bleibt beständig, und wenn sie auch einmal in den Winkel gestampft wird, so bricht sie immer wieder hervor.«

»Ich habe zu den Füßen meines Vaters gefleht, ehrwürdiger Herr«, antwortete Georg, »und er hat seine Einwilligung verweigert. Da habe ich ihm bekannt, daß ich mit dem Vater meines Weibes vereinbart habe, uns unter Euren Richterspruch zu stellen. Er aber hat gefordert, selbst ein Zeuge Eures Ausspruches zu sein, [] um sein Recht als Vater gegen Euch zu behaupten, wenn Ihr ihm die Herrschaft über seinen Sohn absprechen wolltet. Und ich gab ihm zur Antwort, wenn er mich begleite, so sei auch ich durch mein Gewissen gedrungen, mein Recht unter Euren Augen gegen ihn selbst zu vertreten. Darüber vertrugen wir uns. Und ich bitte, gestattet mir, daß ich ihn vor Euch führe, denn ich erkenne, daß die schwerste Stunde meines Lebens gekommen ist.« Er wies auf den Wallfahrer, welcher herantrat: »Dies ist mein Vater.«

Die Gestalt des Doktors hob sich gebietend: »Ihr tatet klug, Euch in dem Schatten zu bergen, Herr. Hättet Ihr mir sofort Euren Namen genannt, so würde ich auch Euch gesagt haben, was Euch unlieb zu hören ist.«

»Dennoch zürnt nicht«, begann Marcus mit gleichem Stolze, »daß ich ein Zeuge Eures Urteils war; denn was ich niemals für möglich gehalten, habt Ihr bewirkt: ich bin Euch dankbar geworden für Eure Rede.«

»Vermögt Ihr nach allem, was Ihr hier gesehen und gehört habt, Eure Einwilligung noch ferner zu versagen?«

»Ich versage sie«, antwortete Marcus.

»Dann habe ich mit Euch nichts mehr zu schaffen«, sagte Martinus. »Ich sehe wohl, Ihr seid einer von den Hochmütigen, welche sich in der Stille ihrer guten Werke berühmen und den Willen unseres Herrgotts zu meistern hoffen, weil sie fasten, opfern und zu den Altären der Heiligen fahren. Ich aber sage Euch, Ihr werbt um die Gunst Eurer Heiligen so, wie ein schlechter Verwalter durch Bestechung um die Gunst der Hofleute wirbt, damit sie ihm bei ihrem Gebieter zu weltlichem Vorteil helfen. Eure kalte Frömmigkeit ist eigennützig und gottlos, sie macht Euren Sinn nicht demütig, sondern stolz und hart. Und Ihr und Euresgleichen, die dem Herrn nur dienen wollen, damit er Euch wieder dienstbar sei, Ihr sollt erfahren, daß Euer Hoffen eitel und Euer Wille ohnmächtig sind, gerade dann, wenn Ihr am stolzesten auf Euer Recht vertraut.«

Marcus zuckte unter diesen Worten, aber er legte seinem Sohn die Hand auf und gebot: »Komm.«

Da sprang Georg zu seinem Kinde, riß es an sich und rief: »Fordert Ihr Euer Recht an mir, so bin auch ich Vater und fordere mein Anrecht an meinem Sohn. Diesen hat mir der Herr durch seine Mutter zugeteilt für mein Leben, und er hat auf mein Gewissen gelegt, daß ich dem Kinde und seiner Mutter ihre Tage behüte als Wirt und Herr.«

»Sprich nicht weiter, Georg«, rief Marcus heftig, »denn wie du den Knaben hältst, so hielt ich dich in meinen Armen.«

Doch Georg warf sich, den Knaben festhaltend, auf die Knie. »Im Angesicht des Himmels klage ich mein bitteres Leid. Zwingt mich dein harter Wille, Vater, zu wählen zwischen deiner Liebe und [] der Treue gegen Weib und Kind, so muß ich deine Liebe missen, damit ich die Liebe meines Kindes verdiene.«

Marcus hob drohend den Arm: »Wahre dich, daß nicht der Fluch des Vaters dein Haus niederreiße.«

Da ermahnte der Doktor: »Ich höre zwei, welche allzu hart auf ihrem Recht bestehen. Euer Recht, Kniender, ist nach dem Evangelium das bessere, nach Brauch und Ordnung dieser Welt ist es das schwächere. Stürmt in Eurer Seele eine hohe Pflicht gegen die andere, so hütet Euch, daß Ihr nicht allzu schnell die eine verachtet, um die andere zu erfüllen. Denn was dem Menschen unversöhnlich scheint, weiß einer, der die Herzen lenkt, in Liebe zu vergleichen über alles Hoffen. Darum sage ich Euch zum zweiten Male, weichet um Eurer Geliebten willen nicht von Eurem alten Vater, wie hart er auch gegen Euch poche. Wisset, ich selbst habe erfahren in langem Herzeleid, wie es schmerzt, mit seinem Vater in Unfrieden zu leben, und ich habe ihn nicht um irdischer Liebe willen verlassen, sondern um meines Gottes willen, weil ich damals wahrhaftig nicht anders konnte. Aber den rechten Frohsinn habe ich in meinem Herzen erst gefühlt, seit ich aus der Möncherei erlöst wurde und mein alter Vater mich wieder freundlich anlachte. Seid Ihr ein solcher Gesell, wie Ihr mir heut erschienen seid, so fühlt Ihr in stillem Herzen denselben Stein, der mich im Kloster drückte. Sprecht aber nicht etwa: Herr, mein Gott, ich will zu meinem irdischen Vater gehen und ihn bitten, und wenn er meinen Wunsch nicht erfüllt, so tue ich dies und das. Solcher Vorsatz ist eitle Vermessenheit, er nimmt Eurem Flehen die Kraft und hindert Euch, den Willen Eures himmlischen Vaters zu erkennen; sondern geht und sprecht so: Ich will als ein guter Sohn gegen meinen irdischen Vater handeln. Und wenn dann Euer Herr Vater Euch ferner widersteht, so wendet Euch wieder zu Eurem Gott und sorget unablässig, daß Ihr mit diesem in Frieden bleibt und seinen rechten Willen erkennt. Dann wird auch er Euch zur Zeit eingeben, was für Euch das Rechte sein wird; und ich hoffe, lieber Junker, er wird's mit Euch wohlmachen.«

Georg hielt schweigend den Sohn an seinem Herzen. Martinus nahm ihm den Knaben aus der Hand und stellte ihn vor den Großvater: »Bitte du, Kleiner, denn unsere Stimme dringt nicht an sein Ohr.«

Doch Romulus, welcher wußte, daß die armen Pilger seine Mutter um Almosen baten, sah zu dem Doktor auf und antwortete: »Er muß bitten.«

»Wahrlich«, rief Martinus, »du hast in deiner Einfalt das Richtige gesagt. Dennoch flehe, denn du stehst vor dem Ahn deines Geschlechts.« – Da streifte das Kind seinen Ärmel zurück und wies einen braunen Fleck auf der Haut, welchen die Mutter seinem Vater im Turme als ein Zeichen des Geschlechts gewiesen hatte, und es sprach: »Ich habe auch ein Mal.«

[] Als Marcus das Zeichen sah, welches er selbst auf dem Arm hatte, wollte die weiche Regung seiner Herr werden; doch wieder zog sich sein Antlitz zusammen und er rief seinen Sohn nochmals an: »Komm!« »Fahrt dahin in Eurem Hochmut«, gebot der Doktor in heiligem Zorn. »Seht zu, was Euch von dem Sohne bleibt, wenn Ihr seinen getreuen Willen zerbrecht. Für diese hier zu leben hat er gelobt, was Ihr aber aus ihm machen wollt, ist ein ehrloser, eidbrüchiger Mann.«

Wie ein Blitzstrahl schlug das strenge Wort in das verdüsterte Gemüt des Vaters. Langsam trat er auf Anna zu, faßte die Schaudernde bei der Hand und führte sie zu Georg. »Nehmt ihn von mir, junge Frau, er war mein einziger Sohn.«

Anna sank neben dem Geliebten auf die Knie, und Marcus begann mit hartem Stolze zum Doktor: »Ihr ward bereit, zu segnen, Herr. Helft, daß er seinen Eid gegen diese halte, der Vater ist nicht dawider.«

Da sprach Martinus Luther feierlich den Segen über die knienden Gatten. Als die Vermählten sich erhoben, ergriff Marcus den Stab: »Lebe wohl, mein Sohn.«

»Vater«, schrie Georg.

»Während du im Kerkerturme lagst, dem Tode verfallen, gelobte ich den Heiligen, damit sie dich bewahrten, die Betfahrt nach Compostella. Zwingt dich dein Eid, für deinen Sohn zu leben, auch ich halte den Eid, den ich für meinen Sohn getan.« Er winkte mit der Hand und wandte sich zur Klostertür.

Wie Romulus sah, daß der Wallbruder unzufrieden und ohne Gabe entweichen sollte, tat ihm der Alte leid, er lief ihm nach und sagte: »Da hast du meine Gerte.«

Marcus fuhr zurück, wie vor einem unsichtbaren Schrecken, und rief: »Der Tote sah den Enkel des Alten, und seine letzten Worte haben ihn verkündigt.« Und den Knaben aufhebend, trug er ihn zu der Mutter: »Nehmt meinen Enkel, liebe Tochter, mit meinem Segen.« Er rührte ihr mit der Hand das Haupt, dann schritt er aus der Pforte.

Georg wollte dem Vater nacheilen, der Doktor hielt ihn zurück: »Was unsere Mahnung nicht vermochte, hat der Herr durch die Einfalt des Kindes getan. Widersteht ihm nicht, wenn er auch im Irrtum dahinwandelt. Ich kenne diese trotzige Art; in seiner Seele kämpft ein starker Engel mit dem Teufel. Ihr dürft hoffen, daß er Euch wiederkehrt.« Er wandte sich zu dem Magister. »Ihr habt einst vor dem Scheiterhaufen der Mönche für den Luther Zeugnis abgelegt, heut dankt er Euch dafür, Herr Magister.«

»Wieder Fabricius«, antwortete unter Freudentränen der Gelehrte.

Da trat Wuz herzu, entblößte sein Haupt, strich das spärliche Kopfhaar mit der Hand zurecht, und sein runzliges Gesicht rötete [] sich. »Dies ist die Gelegenheit, welche wir lange gesucht haben, ehrwürdiger Vater, denn wir erkennen, daß Ihr als ein Feldhauptmann vor uns steht im Streite gegen den Teufel.«

»Ängstigt Euch der alte Bösewicht?« fragte Martinus, die narbigen Gesichter musternd.

»Wir Landsknechte haben eine Verheißung wegen der Hölle, und wir möchten wohl wissen, ob wir darauf bauen dürfen.«

»Nein«, versetzte der Doktor.

»Derselben Meinung war zu ihrer Zeit die junge Frau Anna«, fuhr Wuz unsicher fort. »Auch würde uns das wenig frommen wegen alter Abneigung des heiligen Petrus. Nun ist uns von der erwähnten Fähnrichin verlesen worden und auch anderweitig zu Ohren gekommen Eure Lehre von den zehn Geboten, welche man gewissermaßen als Christ beachten soll.«

»Es sind nicht meine Gebote«, unterbrach ihn der Doktor, »sondern die Gebote deines himmlischen Vaters.«

Wuz verneigte sich aufs neue demütig: »Es wird uns gesagt, daß sie notwendig sind für unserer Seele Seligkeit, jedoch meinen wir aus vielen Gründen, daß sie nicht für uns Knechte gegeben sind. Denn, hochwürdiger Herr, sie sind uns bei weitem zu schwer und ganz unmöglich zu beachten. Darum kommen wir, um Euch flehentlich zu bitten, ob wir nicht mit einem Teil, etwa mit der Hälfte, genug hätten, weil wir keine hohe Würde im Himmel begehren, nur daß wir dort einen ehrlichen Ruhesitz finden.«

»Hinweg, du Narr«, versetzte Martinus, »meinst du, daß der große Gott mit zweierlei Maß mißt? Dasselbe Gesetz ist gegeben für den König wie für den Landsknecht.«

Wuz sah sehr bekümmert aus, als er erwiderte: »Aber, lieber Herr Doktor, übt Nachsicht mit uns, denn die zehn sind mit dem Amt eines Landsknechts unverträglich.«

»Ich weiß, daß ihr Spieler seid, Flucher, Räuber, voll von Unzucht, und daß euch der Teufel beim Kragen hat, ohne daß ihr ihn merkt.«

Wuz bestätigte durch Kopfnicken jede Eigenschaft, die ihm der Doktor zuteilte. »Alles ist, wie Ihr sagt, jedoch wie sollen wir anders sein, denn wir bestehen ohne Geld, nur durch Gewalttat, und leben in einem Notstande.«

»Wenn eure Herren auch zur Sünde verlocken, so werden sie dafür büßen wie ihr, euch aber vermag das nicht zu entschuldigen.«

Wuz drehte ängstlich seinen Hut: »Nichts für ungut, ehrwürdiger Herr, wir möchten aber doch auch selig werden.«

Als der Doktor die Angst des Mannes sah, trat er ihm näher. »Ihr habt allerlei Zauberei und geschriebenen Segen, auf den ihr euch gern verlaßt, wenn ihr ins Treffen geht.« Das gab der zerknirschte Wuz zu. »Wohlan, ich will euch einen besseren Segen [] lehren, der euch vielleicht helfen mag, wenn ihr ihn fleißig gebraucht. Kennt ihr das Vaterunser?« Das kannte Wuz ganz gut. »Aber die Worte allein tun's nicht«, belehrte der Doktor, »sie wirken nur dann, wenn ihr sie in der Weise gebraucht, welche ich euch jetzt lehren will. Bevor ihr sie sprecht, hebt die Augen zum Himmel und denket daran, daß auch euch armen Schelmen ein Vater im Himmel lebt, der euch liebhat und für euch sorgt, und der euch gar zu gern gnädig sein möchte, wenn ihr nur nicht so arge Unfläter wäret. Denkt an den Vater mit herzlichem Vertrauen, dann faltet die Hände, wie ich jetzt tue, und sprecht leise, was ich euch vorsage.« Er sagte ihnen langsam und mit heißer Andacht die Bitten vor, und die Landsknechte murmelten sie nach. »Diesen Segen«, fuhr er fort, »gebe ich euch auf den Weg, sprecht ihn jeden Abend und jeden Morgen und wenn ihr sonst einmal mit guten Gedanken allein seid, und ich sage euch, er wird euch aus eurem Elend helfen; denn es liegt eine wunderbare Kraft in ihm, er weckt das Gewissen und widersteht der Hölle.«

Wuz sah fröhlich aus, aber noch stand er zögernd, griff in seine Tasche, zog die Ohren eines schwarzen Lederbeutels und zählte drei Goldstücke in seine Hand. »Jeder von uns hat eins geopfert für die arme Seele des starken Hans, welcher unser Hauptmann war, bis eine Hellebarde seinen Schädel traf. Dies möchten wir gern anwenden, um unserem guten Gesellen noch etwas Günstiges zu erweisen für den Einmarsch bei Sankt Peter, und wir flehen, ob Ihr uns auch dazu helfen könnt.«

»Hinweg, ihr Leute«, gebot der Doktor, »ihr seid hier nicht im Papsttum; euer Hauptmann hat seinen Richter gefunden. – Möge der Herr euch allen gnädig sein.« Er grüßte und trat in das Haus zurück.

Schluß

Im Jahre 1530 wurde zu Augsburg auf dem Reichstage über die Geltung der neuen Lehre verhandelt. Der gebannte und geächtete Mönch aus Wittenberg war zu einer Macht geworden, mit welcher Kaiser und Reich sich vertragen mußten. Er selbst war südwärts gezogen bis zur letzten Burg seines Kurfürsten. Wähend er als geehrter Gast in der Feste Koburg wohnte, ritten seine Boten nach Augsburg und wieder zurück.

Auf dem Vorsprung eines hohen Hügels erhob sich die stolze Burg mit ihren Türmen, durch einen doppelten Mauerring gepanzert; am Saum der Höhe breiteten sich Obstgärten, zur Seite lag die alte Stadt Koburg, weiter unten das Tal des Itzbaches in leuchtendem Grün, gegenüber ragten schön geschwungene Höhen, mit [] Laubwald bedeckt, und in der Ferne die blauen Hügel des Mains mit alten Grenzburgen und Klöstern. An einem Tor der Feste stand ein Führer der kurfürstlichen Trabanten, breitbeinig hielt er seine Partisane im Arm, so daß man an der Haltung einen früheren Landsknecht erkannte, und streckte die beiden Hände grüßend den Fremden entgegen, welche von ihm Einlaß begehrten. Der eine war ein hochgewachsener Mann in voller Kraft, wie ein ansehnlicher Kaufmann gekleidet, er hatte den Handschuh der Rechten geschlossen und bot dem Trabanten die Linke. Neben ihm stand ein blühendes Weib, welches einen achtjährigen Knaben an der Hand führte; auf dem Torsitz aber ruhte mit gekrümmtem Rücken ein Greis, dem ein kleiner Herr als Begleiter und Stütze diente, und der Kleine hob dem Sitzenden den Stock auf, welcher diesem entfallen war, und klopfte ihm mit freundlicher Zurede auf die Schulter. Der jüngere Fremde bat: »Wir sind vom Main heraufgereist, um in schwerer Sache den Herrn Doktor zu sprechen. Helft dazu, lieber Wuz, daß es uns gelinge.«

»Alles soll gelingen, was Ihr und die Fähnrichin beginnt«, rief Wuz vergnügt. »Ich denke, unserem ehrwürdigen Vater wird es recht sein, daß ihr kommt. Wisset, er hat mich bereits euretwegen angeredet und mir erzählt, daß ihr zu Frankfurt durch Handelschaft fröhlich gedeiht. Zu ihm selbst dürfen wir nicht dringen, aber er hat zwei bescheidene Knaben als Begleiter, diesen müßt ihr euch vertrauen. Der dort auf dem Söller steht und jetzt die Treppe herabkommt, ist einer von ihnen.«

Georg ging dem Jüngling entgegen und nannte Namen und Begehr. Zögernd erwiderte dieser: »Der Herr Oheim hat geboten, in diesen Tagen Fremde von ihm abzuhalten, weil er mit großer Arbeit allzusehr beschwert ist. Doch da ihr aus der Ferne zugereist seid und seine Hilfe nottut, so harret im Hofe. Gegen über seiner Arbeitsstube ist an der Mauer ein Sitz, wenn er aus dem Fenster sieht, wie er oft tut, und euch wahrnimmt, so beschließt er vielleicht selbst, euch zu sprechen.« Der Jüngling geleitete zur Seite des stattlichen Hofgebäudes, dort führten breite Stufen die Mauer hinauf, oben war ein Ausbau mit einer Bank, von der man über die Zinne in den nahen Bergwald und das lachende Tal sah.

Georg führte den Alten mit zärtlicher Sorgfalt zu der Bank, er und die übrigen setzten sich auf die Stufen vor seine Füße. Um den hohen Schloßturm lärmten die Dohlen, in dem niedrigen Gebüsch, welches draußen am Fuße der Mauer aufgeschossen war, zirpten furchtsam die kleinen Vögel. Die Fremden saßen in andächtigem Schweigen, nur von der untersten Stufe, wo Romulus die Hand des Magisters hielt, vernahm man leise die Lehre: »Fringilla, im Latein Femininum, obwohl der Fink ein kecker und tapferer Vogel ist.«

[] Da klirrte oben ein Fenster, man sah die Gestalt des Doktors und vernahm feierliche Laute einer Stimme. Die Gesellschaft unten senkte andächtig die Häupter, als aber die Stimme verhallte, rief der Greis auf der Bank nach der Höhe: »Seid Ihr der Rat und Helfer beschwerter Gewissen, so neigt Euch zu mir und helfet zum Frieden.«

Der Doktor trat an das Fenster. »Ich komme«, rief er herab. Georg eilte ihm entgegen. »Euch alle erkenne ich«, sprach der Doktor gütig, »wer aber ist der Alte, der mich rief?«

»Mein Vater, ehrwürdiger Herr.«

»Ich erinnere mich. Welche Hilfe begehrt er von mir?«

»Er ist jahrelang als Waller umhergezogen, von Compostella nach Rom, dann kam er zu uns zurück mit gebeugtem Mut; seitdem las er in Euren Büchern, ehrwürdiger Herr, und niemand kann eifriger sein, als er geworden ist. Aber er glaubt sich ausgeschieden von der Christenheit, weil er an dem Heiligen Abendmahle nicht teilnehmen darf.«

»Was hindert ihn?« fragte der Doktor.

»Er will die Bedingung nicht erfüllen, welche uns Christen gesetzt und durch Eure Lehre geschärft ist, er kann sich nicht überwinden, einem Feinde zu vergeben. Darum hält er sich fern von Kirche und Gemeinde, und wir alle leben in Angst um seiner Seele Seligkeit. Er hat mit sich gerungen, daß es für den Sohn jammervoll anzuhören war; aber immer wieder brennt ihm der Zorn auf, und die Rachegedanken werden übermächtig, so daß er selbst an seinem Heile verzweifelt.«

»Ich gehe zu ihm«, sagte der Doktor. Er trat mit schnellem Schritt unter die Gesellschaft, grüßte durch eine Handbewegung, winkte, daß sie beiseite trat und stieg zu dem Alten hinauf. »Ihr riefet den Lehrer, hier steht er.«

Der Alte, dessen Kraft durch den Bergweg erschöpft war, versuchte sich zu erheben, der Doktor hinderte ihn. »Bleibt sitzen, Herr; durch Euren Sohn habe ich von Eurer Bedrängnis vernommen. Wer ist der Mann, den Ihr so haßt, daß Ihr seinetwegen die Versöhnung mit unserm himmlischen Vater nicht findet?«

»Albrecht, Herzog von Preußen«, antwortete heftig der Alte.

»Wie?« rief der Doktor, »er ist unter seinesgleichen der Schlechteste nicht. Hat er Euch an Gut, Leib oder Ehre geschädigt?«

»Er und ich haben uns zu gemeinsamem Werke verlobt, und er hat sein Gelöbnis, nachdem er mich lange getäuscht, nicht gehalten.«

»Ihr seid Kaufmann; ging Euer Bündnis auf Geld und Gut?«

»Es ging auf die Befreiung des Preußenlandes von polnischer Herrschaft, der Kaufmann gab sein Geld, der Hochmeister setzte die rechte Hand zum Pfande, daß er niemals der Krone Polen huldigen werde. Mein Sohn hat in seinem Dienst die Schwurhand verloren,[] er aber trägt die seine heil am Arm und lebt als Vasall des polnischen Königs.«

»Hat er Euch Euer Geld zurückgezahlt?«

»Er hat kaum den Anfang dazu gemacht.«

»Das war zu fürchten«, sagte der Doktor. »Hat er während Eurer Genossenschaft selbst und allein mit Euch verhandelt?«

»Zuerst er allein, als ihm der Vertrag lästig wurde, durch seinen Vertrauten.«

»Das denke ich mir wohl. Die Zwischenträger verderben einen üblen Handel vollends. Und was trieb Euch, den Bürger von Thorn, zu solch hohem Vertrage?«

»Meine Ahnen waren unter den ersten, welche das Kreuz in das preußische Heidenland trugen, und das Haupt meines Vaters fiel auf dem Blutgerüst, weil er gegen die Polen treu zum Orden hielt.«

»So werden die Taten der Väter das Unglück der Söhne«, seufzte der Doktor. »Wenn der Herzog Euch gelobt hat, etwas zu tun, was er nach dem Willen Gottes nicht durchsetzen konnte, so war das Gelübde ein Unrecht, nicht die Vereitlung; und der Zorn über den vorschnellen Eid steht dem Herrn zu, nicht Euch. Mein Amt ist nicht, weltklug zu sein, doch muß ich Euch sagen, daß gerade Euer heißer Wunsch für das deutsche Wesen Eurem Haß gegen den Herzog unrecht gibt. Ihr wolltet Eure Heimat unter deutscher Herrschaft sehen, und deshalb wolltet Ihr, daß der Herzog lieber untergehen sollte, als dem Polen huldigen. War's nicht so?«

»So war es, Herr.«

»Nun gebt acht. Gesetzt, der Herzog wäre seinem Versprechen, das er Euch töricht gegeben, so treu nachgekommen, wie Ihr fordert, was hätten wir erlebt? Wäre er Hochmeister und Knecht des Papstes geblieben, so hätten ihn seine eigenen Untertanen verachtet und ausgestoßen, denn wir wissen wohl, daß der ganze Orden zerfiel wie morsches Gestein. Und hätte er bis zum Tode widerstehen wollen, so wäre ihm nichts übriggeblieben, als sich auf der Heide von polnischen Säbeln niederhauen zu lassen. Dann war er tot und seines Gelübdes quitt. Doch was wurde aus dem Ordensland, wenn der letzte Herr wie ein Katzbalger erschlagen war? Es wäre den Polen gänzlich anheimgefallen, kein Hahn hätte darum gekräht; und was Ihr hartnäckig begehret, das wurde nach menschlichem Erkennen für alle Zeit vereitelt. Aber gerade, weil der Herzog erkannte, daß sein Versprechen gegen Euch eine sündige Vermessenheit war, und weil er sich beim Leben und bei der Regierung erhielt, bewahrte er seinem Lande ein deutsches Regiment. Und daß er den geistlichen Stand aufgab und ein weltlicher Herr wurde, verschaffte dem Lande die Hoffnung auf fürstliche Nachkommenschaft und auf ein Herrengeschlecht, welches sich dort behaupten und Euer deutsches Wesen, wie Ihr wollt, für künftige Zeiten bewahren kann. Ihr seht [] also, das Versprechen, welches Ihr von ihm erhieltet, war nicht nur ein Unrecht vor dem Herrn, die Erfüllung wäre auch nachteilig für das, was Ihr selbst begehrt.«

»Meine Vaterstadt aber und das Weichselland überließ er dem Verderben«, antwortete Marcus finster. »Ihr sprecht als Anwalt eines Unbeständigen, und Ihr selbst, hochwürdiger Herr, habt die Deutschen gelehrt, daß ein Mann, der in guter Sache fest auf seinem Worte steht, über Tod und Teufel triumphiert und ein ganzes Volk zwingt, nach seinem Willen zu tun. Gerade damals, wie ich mit dem Herzog handelte und Euch als einem Ketzer abgeneigt war, habe ich an Eurer Tapferkeit gelernt, was ein Starker auf dieser Erde in dem Gemüt der Menschen zu ändern vermag.«

»Ich bin ein Diener des Herrn in geistlichen Dingen, und wer mit seinem Gott in Frieden lebt, kann die ganze Welt verachten und darf frohlocken, wenn die Feinde seinen Leib töten, damit er aus dieser sündigen Welt zu seinem lieben Vater gehe. Weit anders steht es in weltlichen Händeln, wo Tausende in Eigennutz und Herrschsucht gegeneinander streiten. Wer sich hier behaupten will, der muß auch seinen Gegnern etwas nachgeben. Und merket wohl, in weltlichen Dingen ist der Klügste vor unserm Herrgott ein armer Tropf. Seid Ihr ein Landwirt gewesen?«

»Auf dem Landgut, das ich besaß, stand die Eiche, um welche die Deutschen an der Weichsel ihre erste Burg schlugen; die Eiche fiel zu Boden, als der Hochmeister mir die Treue brach.«

»Wohl, mein guter Freund, die Eiche ist gestürzt, und Gottes Sonne scheint noch heut wie damals über die Flur. Wir nennen die Eiche einen dauerhaften Baum, der viele hundert Jahre auf Erden steht, aber viele hundert Jahre sind vor dem Herrn wie ein Tag, die Geschlechter der Menschen, welche aufeinanderfolgen, sind vor ihm wie Halme eines Sommers und die Erde gleich einem Landgut; und wie ein Wirt Weizen und Hafer, so säet er Deutsche und Polen nacheinander auf denselben Grund, gerade die Frucht, welche er für die himmlische Wirtschaft bedarf. Was wollt Ihr, der Ihr nur ein Halm der Erde seid, im voraus bestimmen, welche Frucht der Herr jetzt und künftig an der Weichsel säen soll?«

»Kein ehrlicher Mann vermag in den Tag hineinzuleben, ohne gute Vertröstung auch für seine irdische Zukunft«, antwortete der Alte, »und jeder Deutsche muß Angst um seine Angehörigen fühlen, wenn er zusieht, wie die Feinde seines Geschlechtes und seines Volkes die Herrschaft gewinnen. Könnt Ihr einem Manne raten, ehrwürdiger Herr, daß er ohne Widerstand gegen Feinde das Gericht Gottes und den Jüngsten Tag erwarten soll?«

»Er soll bescheiden seinem Gott vertrauen«, antwortete der Doktor. »Ich bin ein deutscher Mann wie Ihr, und Gott weiß, daß ich meinem Volk das Beste gönne, aber ich sage Euch, vor dem allmächtigen [] Gott steht die Frage nicht so, wie Ihr sie gestellt habt, ob Deutscher oder Pole, sondern sie steht so, ob echter Glaube oder teuflische Verblendung. Wenn die Polen Gottes Wort annehmen und treu bewahren, wie sie ja auch guten Willen haben, so werden sie und ihre Herrschaft fröhlich gedeihen, und Euren Landsleuten wird es frommen, in Eintracht mit ihnen zu leben. Wenn sie aber beharren in ihrem alten Wust und Unrat, so werden sie darin umkommen und hier und dort ihren Lohn erhalten. Sind die Deutschen besser in Glauben und Gewissen, so mögt Ihr vertrauen, daß sie auch tüchtiger auf der Erde sein werden und dem Herrn liebere Kinder Evä als die Polacken, wenn diese ungewaschen und strotzig bleiben.«

»Ich höre die Verkündigung, ehrwürdiger Vater, aber sie tröstet mich nicht. Dem Hochmeister gab der Herr des Himmels den Beruf, im Preußenlande unsere Herrschaft wiederherzustellen, und seine Treulosigkeit ist schuld, wenn meine Landsleute durch Schmeichelei, List und Gewalt der Fremden umgarnt werden. Um eitler Ehre willen hat er mein Vertrauen getäuscht und mich verraten, und darum vermag ich dem Grimm und der Rachsucht nicht zu widerstehen. Jeden Tag steigen die bösen Geister in mir auf, und wie ich auch im Gebet gegen sie ringe, sie bleiben übermächtig.«

»Herr mein Gott«, rief der Doktor, »hier ist ein Greis, der wenig mehr auf Erden hat, was ihn von dem Gedanken an dich abziehen kann, und doch hält er fest an seiner Rache! Erbarme dich seines Gemütes und senke in die Bitterkeit seines Herzens einen Tropfen deiner himmlischen Gnade. Ich denke«, fuhr er fort, »Euch dem bösen Feind nicht zu überlassen, der jetzt die Krallen nach Eurer Seele ausstreckt; manches Mal habe ich mit dem Grobian gerungen und bin sein Meister geblieben. Auch Euch will ich stärker bedräuen, damit Ihr auf mich achtet. Ihr wollt einem nicht vergeben, den Ihr Euch selbst in gehässigen Gedanken zu Eurem Feinde gemacht habt, und Ihr vermögt von dem Recht nicht zu lassen, das Ihr, wie Ihr meint, an seiner Seele erworben habt. Wohl, tragt seinen Schuldschein vor Gottes Thron und beschuldigt ihn des Treuebruchs gegen Euch. Seht zu, ob der Richter Euch nicht antworten wird: Bevor ich deinen Zorn entschuldige, will ich prüfen, ob du selbst niemals der Verzeihung anderer bedurft hast. Bist du immer treu gewesen gegen deine Mitbürger und deine Stadt, der du verpflichtet warst?«

»Nein«, rief Marcus mit starker Stimme. »Untreu war ich gegen die Obrigkeit meiner Stadt, aber die Sünde nahm ich auf mich um seinetwillen. Gerade darum hasse ich ihn.«

»Und der Richter wird weiter fragen, du bist niemals ungerecht und untreu gewesen gegen dein eigenes Geschlecht, welches du in deinem Ehrgeiz durch den Hochmeister erhöhen wolltest?«

»Ja«, rief Marcus wieder, »hart und ungerecht war ich gegen [] meinen lieben Sohn, meine Pflicht als Vater habe ich gering geachtet, um den Eid zu halten, den ich dem andern geleistet. Gerade darum fühle ich den Grimm, daß er mich getäuscht, wie ein Werkzeug benutzt und preisgegeben hat.«

»Und zum dritten wird der Richter fragen: Hast du selbst niemals einen anderen getäuscht und zur Täuschung verlockt, zu deinem Vorteil benützt und preisgegeben?«

Marcus zuckte empor und starrte mit verglasten Augen vor sich in die Luft: »Dort ward er gerichtet, es war mein vertrauter Knecht.«

Da winkte der Doktor die Angehörigen herzu und wies mit der Rechten nach der Höhe: »Darum spricht dein Richter in deiner letzten Stunde: ›Vergib, damit dir vergeben werde.‹ Er stand gebietend vor dem Alten: ›Vergib! Dein Richter ladet dich vor seinen Thron.‹«

Die Augen des Scheidenden fuhren unsicher über den Sohn und über die Tochter, welche vor ihm knieten, und sie hafteten zuletzt auf dem Kinde, welches Georg mit tränenden Augen vor ihm festhielt. Plötzlich erhob er sich, griff mit beiden Händen nach dem Arm des Doktors und seufzte zurücksinkend: »Nehmt die Hand zur Versöhnung.«

Um den Toten glänzten Himmel und Erde in goldenem Abendlichte. Er hatte zornig die Heimat an der Weichsel verlassen, um in der Fremde zu sterben, und er schloß die Augen auf der alten Heimatstätte seines eigenen Geschlechtes. Aber nicht er und keiner seines Stammes kannte die Heimat.

Die Krähen und Dohlen flogen schreiend um die Türme der Burg, und im Gebüsch an der Mauer sangen furchtsam die kleinen Vögel. Da klang über den Lauten der Natur die feierliche Stimme des Mannes, in welchem sich die Kraft, die Größe und die Einfalt des deutschen Wesens vereinten wie nie vorher in einem einzelnen Menschen. Auch an dem Geschlecht des Toten übte er sein hohes Amt, indem er die Trauernden ermahnte, jeden Tag und jede Stunde mit ihrem Gott zu leben, den er nach alter Überlieferung als gebietenden Herrn und liebenden Vater verstand. Spätere Enkel desselben Geschlechtes deuteten das Unermeßliche nach dem Maß ihres Erkennens und nach dem Bedürfnis ihres Herzens zugleich freier und bescheidener; aber alle späteren, wohin sie auch der himmlische Landwirt nach dem Bedarf seiner Wirtschaft säte, wurden Dank schuldig für ihre Freiheit und für ihre Frömmigkeit dem Doktor Martinus Luther.

[]

Die Geschwister

Der Rittmeister von Alt-Rosen

Im Jahre 1647

Nahe der Heerstraße, welche von der Tauber zum Main führt, rastete an einem Nachmittage des Frühsommers eine Anzahl Bewaffneter auf niedrigem Hügel. Eine alte Linde gab den sonnengebräunten Männern dürftigen Schatten, die Hälfte des Baumes war durch Feuer zerstört, und nackte Äste starrten zwischen dem Laube in die Luft, dennoch blühte der Baum, und würziger Duft mischte sich mit dem Brandgeruch, welcher aus der Niederung heraufzog.

Rings um den Hügel lagerte Kriegsvolk, und man übersah von der Höhe die Reihen der angepflöckten Pferde, kleine Laubschirme aus schnell zusammengetragenen Baumästen, dazwischen wenige Zelte und die Feuer, um welche sich Männer und Reiterbuben bewegten. Dick und wetterschwül war die Luft, sie drückte den Dampf der Feuer an der Erde dahin, und wenn zuweilen ein kurzer Windstoß den Rauch in Wolken emportrieb, dann verhüllte er die Reiterstandarten, welche im Boden steckten, und die Reihen der Pferde, dann ragten die Gestalten der berittenen Wachen, welche die Außenseite des Lagers umgaben, undeutlich aus der mißfarbigen Wolke, und man vernahm auf dem Hügel aus dem Dunst der Tiefe nur Geschrei der Buben, Wiehern der Rosse und gebietende Rufe.

Wer die Standarten musterte, sah, daß sie mehreren Reiterregimentern zugehörten, nur eine Kompanie Fußvolk lag dazwischen, und ihr großes gelbes Fahnentuch, gebleicht durch Sonne und Regen manches Feldzugs, hing, in den Knoten geschlagen, um die Stange. Dem Reiterhaufen fehlten die Karren und das Gesinde seines Trosses. Im Rücken des Haufens zogen sich dichtbelaubte Höhen auf beiden Seiten des Weges nordwärts, und die rastende Schar war nur eine Nachhut, welche anderen Teilen des Heeres ihren Marsch durch den langen Engpaß gegen einen Feind decken sollte, der südwärts von der Tauber her erwartet wurde.

Anderes freilich mußte einen Kriegsmann befremden. Es waren ausgewetterte Soldaten, welche um den Hügel lagerten, narbige, gefurchte Gesichter mit trotzigen Augen, viele mit grauem Haar, in ihren Bewegungen sicher und bedächtig, untereinander schweigsam [] und von stolzer Haltung, Leute, die auch ohne Befehl zu tun wußten, was die Stunde verlangt; aber nur spärlich waren neben den zahlreichen Kornetten die Trompeter zu sehen, welche doch sonst in jeder Kompanie als vertraute Boten der Offiziere bei den Feldzeichen lagen. In den Reihen der Rosse und Feuerstellen vernahm man nicht die kräftigen Worte der Unteroffiziere, welche anderswo überall die Ordnung des Lagers mit vielem Fluchen und Sausen ihrer Stöcke aufrechterhalten mußten. Auch der Hügel in der Mitte, der das Hauptquartier vorstellte, war nicht durch Wachen von dem Volke geschieden, wie Lagerbrauch war; zwanglos und ohne Scheu verkehrten die gemeinen Reiter mit den Herren auf der Höhe, sie riefen im Vorbeigehen hinauf und lachten über einen launigen Zuruf, der ihnen von oben gegönnt wurde. Und die Befehlshaber selbst glichen nicht in allem den Offizieren, wie sich diese in anderen Heerhaufen darstellten. Bei den meisten erwies nur die große Feldbinde, daß sie Rang und Amt hatten, aber Samt und Seide, goldene Tressen und wallende Federn auf den Hüten waren selten zu erblicken; die Männer lagen im Grase, rauchten aus kurzen Tonpfeifen, spielten mit Würfeln, und einer besserte gar eigenhändig am schadhaften Wams, das er sich ausgezogen hatte. Die Mehrzahl schien von demselben Schlage wie die Soldaten, ein Geschlecht alter harter Kriegsgurgeln, dem der Dienst vieler Jahre anzusehen war. Nur ein jüngerer Mann befand sich unter ihnen mit neuer seidener Feldbinde und silbernem Ringkragen. Dieser, ein stämmiger Herr, saß auf einem Stein in der Mitte, er hatte ein breites Angesicht und große, gescheite Augen, welche in unablässiger Bewegung über die Begleiter, das Lager und die Landschaft flogen. Die weißen Straußenfedern auf seinem Hut kündigten den obersten Befehlshaber an.

Ein kleiner Trupp kam in scharfem Trabe auf der Landstraße heran und hielt außerhalb des Lagers, ein einzelner Reiter sprengte durch die Lagergasse dem Hügel zu.

Der Feldoberst trat dem Ankommenden entgegen und rief mit guter Laune: »Maecenas, atavis edite regibus!

O Bernhard, aus der König altem Haus,
Entsprossen, du mein Schutz und Augenschmaus,

was bringst du Neues?«

Der Angeredete sprang vom Pferde, eine schlanke Kriegergestalt mit scharfen blauen Augen, gebräunten Wangen und schwedischem Knebelbart, dem die braunen Locken bis auf den Halskragen herabhingen: »Marschall Turenne hat einen Offizier mit Trompeter gesandt, welcher an den Kriegsrat dieses Schreiben überbringt.«

Die Miene des Befehlshabers wurde finster. »Hofft der Franzose immer noch, durch Briefe und Boten die weimarischen Regimenter in seinen Dienst zurückzuzwingen?« rief er laut. Unter den Offizieren auf der Höhe entstand eine Bewegung, sie sprangen empor und [] umringten den Anführer, welcher das Schreiben öffnete: »Marschall Turenne verheißt zum drittenmal Verzeihung und Amnestie, wenn wir reuig zurückkehren und uns aufs neue dem König von Frankreich zuschwören.« Er hob den Brief in die Höhe. »Es steht kein Wort darin, daß er unser verbrieftes Recht anerkennen will, uns nur in deutschen Landen zu gebrauchen und nur für die Sache des Evangeliums.«

»Ich warne euch, ihr Herren«, rief ein alter Offizier aus dem Gefolge, »daß ihr der Redlichkeit des Franzosen jetzt weniger traut als zuvor; der Wolf wird um so bissiger, je mehr ihn hungert. Schon einmal, als er Amnestie verhieß, hat er gleich darauf Reiter von uns, die in seine Gewalt fielen, auf die Folter gespannt, damit sie gegen uns aussagten. Dieselbe schwarze Treulosigkeit wird er auch jetzt gegen unsere Völker beweisen und vor allem gegen die Befehlshaber.«

»Wer ist sein Bote, Rittmeister König?« fragte der Feldoberst.

»Der Junker Reinbold, welcher unter dem Marschall meine Kompanie führte«, meldete der Befragte, »es war ein seltsames Wiedersehen.«

»Wir zerreißen den Brief«, rief ein anderer, »und dem schurkischen Boten, der seine Kompanie um des Franzosen willen verlassen hat, zerbrechen wir den Degen und jagen ihn mit blutigem Rücken von dannen.« Der General vernahm beifällig den Ausbruch des Zornes: »Dennoch rate ich«, entschied er, »daß wir dem Marschall nach Kriegsbrauch antworten und seinen Boten ehrlicher behandeln, als er verdient. Dem Rittmeister vom Regiment Alt-Rosen befehle ich die Aufsicht. Geleitet den Abgesandten herein.« Und näher zu dem Angeredeten tretend, setzte er hinzu: »Hindere ihn, mit den Gemeinen zu schwatzen. Wie gebärdet er sich?«

»Er faucht wie ein Marder, und es wird ihm schwer, die Höflichkeit zu bewahren.«

Der Rittmeister sprengte zurück zur Lagerwache, während der General, den sich die empörten Regimenter aus ihren Reihen selbstwillig erwählt hatten, mit den Offizieren beriet. Kurz darauf ritt der Bote des Marschalls mit seinem Begleiter durch die Lagergasse. Er war ein junger Edelmann von entschlossenem Wesen, und sein Gesicht wäre hübsch gewesen, bis auf den unsteten, wilden Blick der Augen, hätte nicht das wüste Lagerleben ihm vor der Zeit Furchen eingegraben. Er sah hochmütig über die düstern und feindseligen Mienen der Reiter, welche herandrängten, um den wohlbekannten Mann zu betrachten. Als er am Fuß des Hügels abgestiegen war, verbeugte er sich mit höhnender Artigkeit gegen den Feldobersten, dieser aber schnitt ihm die Anrede ab, indem er, an seinen Hut rührend, im Tone ruhigen Befehls sagte: »Das Schreiben des Marschalls Turenne ist mir über geben, Ihr werdet hier die Antwort des Kriegsrats erwarten.« – Dabei wandte er dem Boten den Rücken[] und schritt mit seinem Gefolge dem Zelte zu, welches in einiger Entfernung eilig aufgeschlagen wurde.

»Alle Teufel«, rief Reinbold spöttisch, »Wilhelm Hempel aus Weimar trägt seine Plumage so stolz wie vorzeiten Saul, der vom Eseltreiber zum König avancierte. Ich bin ihm dankbar, daß er geruht hat, gerade Euch zu meinem Hüter zu bestellen, Monsieur König, der Ihr mein Fähnrich wart.«

Bernhard antwortete ernst: »Zwingt mich nicht, Euch zu zeigen, daß Ihr jetzt mir zu gehorchen habt.«

»Verzeiht«, versetzte der andere, »Eure junge Würde als Rittmeister in Ehren; ich bin die verkehrte Welt nicht gewöhnt wie Ihr. Bah! Was weiter! Ihr seid auf Fortunas Rade in die Höhe gestiegen, und ich bin herabgeschwenkt. Das ist der Welt Lauf.« Er rief einen Vorübergehenden an: »Gottlieb Stange, du hast ein Pferd und Beutegeld bei uns zurückgelassen, wir heben's dir auf, bis du wiederkommst.«

Bernhard griff an den Degen: »Ich warne Euch, daß Ihr zu niemandem aus dem Volke redet, sonst wird Euch Eure Ambassade nicht vor einem Stich in die Kehle schützen.«

Der Angerufene war stehengeblieben, ein alter Kriegsmann mit großem Schnauzbart, grauen, scharfen Augen und hagerem Angesicht, der schon unter Gustav Adolf als Kanonier gedient hatte und jetzt die Stelle eines Leutnants versah, er war ein Liebling des Heeres, wegen harter Tapferkeit, und weil er über viele Dinge seine eigenen Gedanken hatte.

»Ob ich Gott lieb bin, werdet Ihr am wenigsten wissen, Junker von Reinbold«, antwortete er, »denn Eure Bekanntschaften im Himmel sind mir sehr zweifelhaft. Wenn ich Euch wie einem Gaste Rede stehen soll, so verlange ich vor allem als Leutnant Stange ästimiert zu werden, denn ich trage meine Feldbinde mit mehr Recht als Ihr die Eure. Mir traben die Reiter nach, wenn ich sie kommandiere, Euch aber nicht.«

»Da habt Ihr Euren Bescheid«, sagte Bernhard.

Reinbold nickte gleichgültig: »Ihr haltet Eure Leute in strenger Zucht, das merkten wir auf dem Wege hierher, bei jeder Raststelle sahen wir arme Sünder, die Ihr als Eicheln an die Bäume gehängt habt. Wollt Ihr alle hängen, die Euer Abzug reuen wird, so werdet Ihr zuletzt die Regimenter aus der Luft zusammenblasen müssen. – Ist bei euch auch der Trunk verboten? Sonst war es guter Brauch, einem alten Kameraden die Kanne nicht zu versagen.«

»Wollt Ihr Eure Zunge hüten und Euren Zorn bändigen«, antwortete Bernhard, »so soll die Kanne nicht fehlen, obwohl unser Wein zur Neige geht.« Er winkte einem Knecht und bot dem Gesandten Sitz und Becher. Vor der vollen Kanne fuhr Reinbold vertraulicher fort: »Du tust unrecht, Bruder, aus dem Weinlande nordwärts [] zu reiten, für uns Verlassene ist jetzt Wein der einzige Trost in unserem betrübten Witwerstande.«

»Dann wundert mich, daß Ihr und Euer Marschall uns nachzieht, über den Rhein, den Neckar, die Tauber bis zum Main.«

»Marschall Turenne sucht und reitet nach seinem verlorenen Glück. Der König von Frankreich hat nirgend Soldaten gleich den acht Regimentern, welche Ihr ihm entführt habt.«

»Wir hörten zuweilen den welschen Hahn in unserem Rücken krähen«, versetzte Bernhard. »Wie vertragt Ihr Euch mit den Franzosen?«

»Wie Hund und Katze, um die Wahrheit zu sagen. Zuerst hat uns der Franzose schöne Worte und hohe Versprechungen eingeschenkt, solange er euch an unseren Feldbinden festzuhalten hoffte; jetzt macht er uns bereits den Trunk sauer durch seine Mienen; und mit seinen Günstlingen, den Laffen aus Paris, gibt es täglich Tänze hinter der Mauer, die mit blutigem Hinfallen enden. Viele von uns denken daran, die Pferde zu satteln und von den Franzosen abzureiten.«

»Kommt zu uns zurück«, mahnte Bernhard, »noch ist es Zeit.«

»Wollt Ihr mir meine Kompanie zurückgeben?« fragte der Abgesandte schnell; »und wollt Ihr wieder Fähnrich unter mir werden?«

»Ich bin's zufrieden«, entgegnete der Befragte, »wenn Ihr Euch durch denselben Eid bindet, den wir untereinander geschworen haben, und wenn die Kompanie, welche Ihr den Fremden zu verkaufen dachtet, Euch zurücknimmt.«

»Also, wenn Wasser den Berg hinauffließt«, lachte der Gesandte, »seid bedankt für die gute Meinung. Doch sage, Bruder, wohin will dein Kriegsfürst Hempel die Völker führen?«

»Das fragt ihn selbst.«

»Ich denke doch, Bernhard, du bist sein Vertrauter?« forschte der andere mit treuherziger Miene.

»Wäre ich's, so dürftet Ihr von mir zuletzt Bescheid erwarten.« – Reinbold aber fuhr fort: »In Hessen und in Westfalen findet ihr die Betten belegt. Da ihr von den Kaiserlichen ab nordwärts reitet, so denke ich, es zieht Euch zu dem Schweden und zu den thüringischen Klößen.«

»Ihr selbst seid ein Thüringer?« fragte Bernhard ablenkend.

»Vom Rande des Waldes. Geratet Ihr dorthin, so gebe ich Euch Grüße mit an einen alten Schatz.«

»Erst muß ich wissen, ob ich auch guten Willkommen finde, wenn ich Eure Grüße ausrichte«, antwortete Bernhard.

Der Fremde verzog den Mund. »Vielleicht wird sie Euch freundlicher ansehen, wenn Ihr erzählt, daß Ihr mich zum Rittmeister ohne Kompanie und zum Junker Habenichts gemacht habt.« Er [] trank hastig aus: »Doch sage ich dir, Bruder, manches Weib hat seitdem an meinem Halse gelegen, aber die Dirne vom Walde kann ich nicht vergessen. Wachend und im Traume sehe ich sie vor mir, zuweilen mit geballter Faust, zuweilen mit lachendem Munde; mir sträubt sich das Haar, und mich packt die Begierde, ihrer Herr zu werden oder sie zu erstechen. – Hoscha! Still! Trinken wir eins auf Euer Wohl bis dahin, wo mir Euer Wehe nötig wird zum eignen Glück.«

Bernhard stieß das Glas weg: »Trinkt allein zu so widerwärtigem Wunsch.«

»Noch sind wir ja gute Freunde«, versicherte der Fremde. »Und wenn ich so neben dir sitze, fällt mir aufs Gewissen, daß du zu deiner Zeit ein ehrlicher Kamerad gewesen bist, vor allem damals, als du mich aus Lamboys Dragonern heraushiebst. Trink, Bruder, scheiden wir voneinander mit heilen Gliedern, dann setze ich mich auf einen Stein und blase drei Federn in die Luft, eine für die Landgräfin von Hessen, die andere für den Schweden, die dritte für den Kaiser, und die am höchsten fliegt, der reite ich nach. Es kann wohl sein, daß mir eine Feder, die ich in der Luft vor mir sehe, zum Kaiser nach Böhmen winkt.« – Er schwieg eine Weile, hob drohend die Faust und fuhr leise fort: »Kommt eine dorthin, die ich kenne, so biete ich ihr den Willkommen.« – Er lachte wieder. »Laß mein Glas nicht leer stehen, meine Pflicht ist, euch zu schädigen, wo ich kann, darum will ich vor allem euren Wein austrinken.«

»Holla, Pyritzer!« unterbrach Bernhard, einen Offizier anrufend: »Was hat Euch mein Bube getan, daß Ihr ihn gefesselt heranführt?«

Der Angerufene ritt näher, neben dem Pferde lief ein Knabe mit geschnürten Händen, durch einen Riemen am Sattel festgebunden. Es war ein Reiterbube von etwa zwölf Jahren, doch ungewöhnlich klein für sein Alter, als Junge eines angesehenen Offiziers trug er gute Kleider, aber sein Wämschen war beschmutzt und zerrissen; es war auch kein schönes Kind, das bleiche Gesicht mit Sommersprossen bedeckt, das rötliche Haar kurzgeschoren, große Nase, großer Mund und ein Zug von Verschlagenheit in dem jungen Gesicht, der verriet, daß der Kleine über seine Jahre gewitzigt war.

»Ich wollte die Range dem Rumormeister übergeben, sie hat sich in mein Zelt geschlichen, und ich traf sie über meiner Feldflasche. Der Teufel muß ihr geholfen haben, einzudringen, denn unsere Knechte und Buben lagen rings um das Zelt.«

»Wie, Pieps, du machst deinem Herrn die Schande, im Lager zu mausen?« rief Bernhard zornig.

»Es geschah nicht wegen des Branntweins«, entschuldigte sich Pieps, »nur wegen der Ehre. Die Reiterbuben von Taupadel verhöhnen mich, weil ich auf die Bank steige, wenn ich das Pferd striegle. Da kroch ich zwischen ihnen durch, um zu zeigen, daß Alt-Rosen mehr versteht als sie.«

[] »Überlaßt mir den Buben zur Bestrafung«, ersuchte Bernhard, »und wenn Ihr mir Eure freundliche Gewogenheit erweisen wollt, so gestattet, daß ich Euch als Ersatz für den verdorbenen Trank die letzten Flaschen von diesem hier in das Zelt sende.« Er bot ihm den Becher.

»Ich fürchte, Herr«, sagte der Offizier, den Knaben losbindend, »der Junge wird der ärgste Taugenichts im Troß. Er ist im ganzen Lager beleumdet.«

»Ich wundere mich, Bruder«, warf Reinbold dazwischen, »daß du das garstige Krötlein als deinen Läufer unterhältst, mache es zum gemeinen Buben.«

»Ich fand ihn in der ersten Woche, als ich zum Heere kam, neben seiner Mutter an der Landstraße liegen. Die Mutter war tot, das Kind kam zum Leben und wuchs bei den Pferden auf, soweit es vermochte.«

Der Pyritzer, ein bedächtiger Pommer, gab den Becher dankend zurück, hielt im Abreiten noch einmal an und begann vertraulich: »Ihr seid von den Gelehrten, Herr Kamerad, wißt Ihr mir den Traum zu deuten, den ich heute nacht hatte? Ich saß als Schultheiß auf dem Hofe meines Vaters, und hinter mir blökte die Herde. Im Traumbuch finde ich nichts darüber. Das Schaf ist ein seltsames Vieh geworden zwischen Rheinstrom und Oder, wer jetzt Herden scheren will, der muß die Wolle von den Wölfen schneiden. Darum möchte ich wissen, hat dieser Traum eine Bedeutung, und welche Bedeutung hat er?«

»Vielleicht wird er einst zur Wahrheit, Ihr erlebt den Frieden und die Herde.«

Der Pyritzer schüttelte zweifelnd den Kopf: »Der Schulzenhof ist abgebrannt, und die Hammel sind aufgegessen. Meint Ihr, daß mir bestimmt ist, den Hof wieder aufzubauen?«

»Wenn Friede wird, will ich Euch darauf Antwort geben«, antwortete Bernhard lachend.

»Mir für mein Teil liegt wenig am Frieden«, sagte Reinbold, »mir hat eine Zigeunerin prophezeit, daß ich um keine Kugel zu sorgen habe, bevor die Kirchenglocken den Frieden einläuten.«

»Setze dich unter das Pferd«, gebot Bernhard dem Knaben, »bis ich dich stripsen lasse.« Pieps tauchte ergeben in die unrühmliche Sperre zwischen den Pferdebeinen; das Pferd, an diese Mitwirkung zur Disziplin gewöhnt, neigte den Kopf zu dem Übeltäter herab, und Pieps streichelte den Pferdehals aus der Tiefe, worauf er sofort einigen Troßjungen, welche lachend auf ihn wiesen, durch wortlosen Gebrauch seiner Zunge Mißachtung ausdrückte und dieselbe Gebärde dem Abgesandten zuwendete, als dieser ihm den Rücken kehrte.

Der General kam mit seinem Gefolge aus dem Zelte heran. »Empfangt hier die Antwort gegen das Schreiben Eures Marschalls. Der Rat hat abgelehnt, auf das Angebot einzugehen. Euch aber mahnen wir daran, daß Ihr als deutscher Offizier zu Euren Fahnen gehört.«

[] »Umgekehrt! hochmächtiger Herr Kriegsoberst!« antwortete Reinbold, sich verneigend. »Wir in unserem Quartier sind des Glaubens, daß die Reiter zu ihren Offizieren gehören, und ich hoffe, mancher von denen, die hier im Kreise drängen, wird sich noch daran erinnern.«

»Darüber sollt Ihr sogleich Sicherheit erhalten«, antwortete der General und rief mit heller Stimme in den Haufen, welcher den Fremden umstand: »Der Marschall Turenne bietet euch Pardon und zwei Monate Sold, wenn ihr zur Stelle zurückkehrt und euch dem Könige von Frankreich aufs neue verpflichtet. Antwortet, deutsche Soldaten, wollt ihr das oder nicht?«

Es wogte und murmelte in dem Haufen, dann erhob sich ein lautes Geschrei: »Wir wollen nicht!« Wilde Stimmen riefen: »Eher reißen wir das Fahnentuch von den Stangen und laufen nach allen Winden.« Und ein alter Reiter trat vor den Abgesandten und rief: »Sagt Eurem Marschall auf seinen Gruß die letzte Antwort: Wenn einer unter uns auch nur ein französisches Haar auf dem Kopfe trüge, wir würden es ihm ausreißen.«

»Wahre du selbst deinen Schopf«, rief der Abgesandte dagegen, »daß deine Haare nicht am dürren Baume hängenbleiben, wenn wir dich behandeln, wie einem Verräter gebührt.« – Im Haufen erhob sich Tumult, die Waffen blitzten, und viele Rufe erschollen: »Nieder mit ihm!«

Der General trat rasch vor den Gefährdeten und gebot: »Hinweg! Führt ihn mit sicherer Bedeckung bis zum nächsten Kreuzweg.«

»Ich danke dem Herrn Kriegsobersten für die gnädige Entlassung«, entgegnete der Gesandte zornig, »und bitte zum Abschiede nur noch um die Erlaubnis, meiner eigenen Kompanie einen Gruß zu bestellen.« – Er warf seinen Handschuh vor Bernhards Füße. »Ihr, Fähnrich König, reitet in meinen Stiefeln, die Ihr mir gestohlen. Von zwei Rittmeistern bei demselben Kornett ist einer zu viel. Laßt uns zur Stelle entscheiden, wem das Fähnlein gehören soll.«

Bernhard hob den Handschuh auf.

»Ich verbiete den Kampf«, befahl der General, »der Franzose soll nicht sagen, daß wir seinen Gesandten auf die Erde gelegt haben, bevor er unsere Antwort zurücktrug.«

»Ich preise die Vorsicht des Herrn«, antwortete der Gesandte.

»Geduldet Euch, Herr«, sagte Bernhard, »treffen wir uns wieder, so will ich Euch Eures Ranges entledigen. Aufgesessen und fort!«

Die Reiter warfen sich auf die Pferde, den Gesandten umschloß die Zeltwache; so stoben sie ins Freie, die beiden, welche Todfeinde geworden waren, schweigend nebeneinander. Am Kreuzwege hielt der Trupp, die Gegner wechselten höflichen Gruß und rührten an ihre Degen, der Fremde trabte von dannen.

Als Bernhard zu seinem Befehlshaber zurückkehrte und die [] Meldung machte, setzte er hinzu: »Er wird nicht weit reiten, bis er Genossen findet; denn während er hier seinen Groll verbiß, flogen ihm die Augen lauernd über den Weg, zumal nach jenem Hügel, als ob er dort etwas erwarte. Auch verriet er sich, daß Turenne bis über die Tauber unseren Völkern nachgegangen sei. Ich denke, der Marschall selbst ist in der Nähe.«

Aus der Ferne jagten die Feldwachen heran.

»Dort kommt Botschaft«, rief der Befehlshaber, auf die Flüchtigen weisend, »blase, Trompeter! Zu Pferde, ihr Herren!«

Von einer Anhöhe zur rechten Seite dröhnte ein Schuß. Eine Stückkugel schlug gegen den Stein, auf welchem kurz vorher der General gesessen; ein zweiter, ein dritter Schuß krachte, die Rosse bäumten, die Männer rannten zu ihren Standarten.

»Marschall Turenne spricht«, rief der Feldoberst, »er gedachte uns durch den Gesandten sicher zu machen und ließ unterdes seine Stücke hinaufzerren.« Die Ordres flogen zu den Regimentern: »Die gelben Musketiere und Rosen-Dragoner gegen die Geschütze, Alt-Rosen dahinter als Sukkurs. Rittmeister König hat den Befehl des rechten Flügels. Regiment Taupadel gedeckt in Reserve. Unser Feldgeschrei soll sein: Hie Teutschland!« – Das Geschrei summte von Beritt zu Beritt. Noch einen langen Blick warf Bernhard auf die geschwungenen Linien der Hügellandschaft, dann grüßte er den Freund, der die Hand nach ihm ausstreckte, und trabte an der Spitze seiner Schar vom Wege ab.

Den Musketieren und abgesessenen Dragonern gelang es, sich gedeckt den Geschützen zu nähern und diese zur Abfahrt zu zwingen, doch als sie aus der Deckung, welche ihnen das Buschholz gab, heraustraten, ritten die französischen Kompanien gegen sie.

Sie aber ballten sich zu einem Igel, aus den heiseren Kehlen drang der Schlachtruf, der bis dahin nur selten gehört war, und aus den Rohren fuhren feurige Strahlen gegen die Feinde. Im nächsten Augenblick waren die französischen Reiter über ihnen, und der wütende Kampf Mann gegen Mann begann. Da flogen die Kompanien von Alt-Rosen zur Hilfe, allen voran, Schwert und Pistole in den beiden Fäusten, der junge Rittmeister, und in dem Gedränge der Pferde taten Pistolen und Schwerter ihr blutiges Werk.

»Holt Euch die Kompanie, Reinbold«, schrie Bernhard, auf seinen Feind einstürmend, und schlug mit ihm zusammen.

Hinter den französischen Regimentern hielt Vicomte Turenne selbst, noch zweimal sandte er neue Haufen in den Kampf, die gefährdeten Geschütze zu retten, auch der Rückhalt der Deutschen warf sich in das Getümmel. Doch die gehoffte Überraschung war den Franzosen mißlungen, kämpften die Haufen auch fast in gleicher Stärke, die Wucht der deutschen Veteranen erwies sich als mächtiger. Langsam wichen die Angreifer, gedeckt durch gut postiertes Fußvolk.

[] Als die Trompete den Deutschen das Sammeln gebot und der General die Reihen entlang ritt, da riefen ihm die alten Reiter zu: »Hätten wir die anderen Regimenter zur Stelle gehabt, es wäre uns keiner entronnen, auch nicht der Marschall.«

Die Sonne sank abwärts. Die Reiter trieben ihre Gefangenen zusammen, durchsuchten die Taschen und verhandelten kameradschaftlich mit ihnen wegen der Lösung; wer aber einen Offizier gefangen, der freute sich des Gewinnes, den er aus Fortunas Glückstopf gezogen. Auf der Stätte des Kampfes wurde es still, nur hier und da ein Schuß aus erbeuteter Pistole, Rufe der Führer, Hilfeschrei und Gestöhn der Verwundeten.

Unterdes war die Kunde vom Kampfe dahin gedrungen, wo die Stärke des Heeres und der Troß durch den langen Engpaß zogen, dort erhob sich jetzt wirres Geschrei; die Regimenter an der Spitze hielten an, und im Troß begann Getöse und Gewühl, Weiber und Kinder flatterten wie ein Volk Stare, welches durch einen Schuß erschreckt wird, wild auseinander. Die eine Hälfte drängte nach vorn, die andere strömte zurück, um den Regimentern, welche im Kampfe gewesen, nahe zu sein. Wagen und Karren wurden umgeworfen und stopften die Wege. Unter den Zankenden und Schreienden mühten sich die Rumormeister vergebens, mit geschwungenen Stöcken die Ordnung herzustellen, die Rückflut der Waffenlosen zu hindern. Als die Abenddämmerung sich über die Erde legte, breitete sich zwischen den Regimentern der Nachhut, die jetzt neugeordnet zum Aufbruch bereit standen, jauchzend, brüllend, klagend der Haufe ihrer Angehörigen über den Kampfplatz, sie drängten in die Reihen, schrien die Namen ihrer Zeltherren, klammerten sich an Schweif und Mähne der Pferde, schwangen sich in die Steigbügel, um ihre Liebsten zu umarmen, und kletterten wohl gar dem Gaul des Vaters oder Gatten auf den Rücken. Scheltend und lachend suchten die Offiziere ihrer Herr zu werden, aber immer wieder mußten die Kompanien ihre Stelle wechseln, um die Reihen zu erhalten.

Über die Berge stieg der volle Mond, aus der Niederung hob sich der Nebeldunst; er kroch an dem Gelände entlang und verdeckte mit grauem Flor die Toten und Sterbenden, nur hier und da ragte ein blutloses Antlitz hervor oder der Leib eines getöteten Pferdes. Aber in dem Dampf, der sich ballte und zerfloß, huschten jetzt gleich Gespenstern die Weiber und Buben des Trosses. Sie suchten nach ihren Herren und Befreundeten, um sie auf Karren zu laden oder in einem Soldatengrabe zu bergen, und sie spähten nicht weniger eifrig nach liegenden Feinden, um sie zu berauben. Hier in Mondlicht und Nebel lautes Geschrei und Schluchzen, daneben scheues Geflüster und behende Arbeit der diebischen Finger.

[]
Der Kriegsrat

Als die gelichteten Regimenter von der Stätte des Kampfes aufbrachen, um sich zur Nacht mit dem vorausgezogenen Heer zu vereinigen, war unter den letzten, welche von der Verfolgung zurückkehrten, Bernhard mit seiner Kompanie. Er erkannte die Hutfedern des Feldobersten vor einem Trupp Reiter, welcher am Wege hielt.

»Ich melde mich zu Befehl meines Herrn Generals«, grüßte Bernhard.

»Laß die Höflichkeit«, gebot der andere, wandte sein Pferd dem Lager zu und gab dem Gefolge einen Wink, außer Gehörweite zu reiten. »Ich muß vertraulich mit dir reden und begehre deinen Rat.«

»Den brauchst du nicht, Bruder«, versetzte der Rittmeister trocken. »Du warst stets neunmal klug und trägst jetzt deine Hutfeder wie einer, der jahrelang den Befehl geführt hat.«

»Doch sage ich dir, mein Amt muß aufhören, je früher, um so besser, denn es wird unmöglich, unser herrenloses Volk aus dem Stegreif zu führen, wie wir tun müssen. Wir reiten durch das Land, allen Potentaten unheimlich, und nur, daß jeder uns zu gewinnen hofft, bewahrt uns auf kurze Zeit vor neuen Stößen.«

»Wir fürchten sie nicht, Wilhelm. Das Wasser muß den anderen bedrohlich an die Kehle steigen, bevor sie ihr zusammengelaufenes Volk gegen uns senden. Unter allen, die jetzt im Felde schwärmen, haben wir die schärfsten Stacheln, und sie wissen das.«

»Noch sind wir vielleicht zu fürchten. Doch ohne Quartiere, ohne Verpflegung schwinden wir dahin wie Schnee in der Sonne. Muß der Soldat sich täglich rauben, was er braucht, so wird er in kurzem zum Räuber und Marodebruder.«

»Laß jeden, der ein Schelm wird, henken, wie du seither getan.«

»Bis die Unzufriedenen den Profos erschlagen und uns dazu. Und ich sage dir, die Ordnung ist nicht aufrechtzuerhalten, wenn wir nicht Sold zahlen und Land belegen wie die anderen.«

»Wer nicht Sold zahlt, sind die anderen. Dränge dich ein zwischen Schweden und Hessen.«

»Wir vermögen uns ohne festen Proviantplatz nicht zu behaupten, sobald Schweden und Hessen sich gegen uns konjungieren. Und wir haben kein Geschütz, um eine geschlossene Stadt einzunehmen.«

»Was wir nicht haben, wollen wir gewinnen, vertraue dem Glück und unseren Fäusten.«

»Wer alles auf Fortunas Launen setzt, der kann schnell alles verlieren.«

»Er kann auch alles gewinnen, Wilhelm.«

»Und welchen Gewinn hoffst du für dich und mich?« fragte der Feldoberst schnell.

[] »Was du dir ersehnst, verbirgst du mir, Herr Graf Wilhelm von Weimar«, versetzte Bernhard lachend. »Was ich für uns ersehne, ist, wie du weißt, der Frieden; auch für mich selbst und für die Schwester, die ich jetzt im wilden Lager bewahren muß. Ich dachte seither, der frühere Student Wilhelm Hempel könnte ein wenig dazu helfen; für welche rühmliche Arbeit ich auch seinen getreuen Commilito König rekommandiere.«

Der Befehlshaber warf einen mißtrauischen Blick auf den Freund, aber er sagte lächelnd: »Jetzt trabt dein Gaul auf dem rechten Wege; du sollst noch heut für die gemißhandelte Frau Deutschland deine Zunge gebrauchen. Ich habe zur Nacht den Kriegsrat zusammengeladen und will das Eisen schmieden, während es vom Gefecht heiß ist. Wisse, die Regimenter Rußwurm und Schütze werden schwierig, der Schwede Königsmark hat seine Spione unter sie geschickt und den Offizieren heimliche Versprechungen gemacht; sie werden fordern, daß wir dem Königsmark zuziehen.«

»Du willst ja dasselbe.«

»Meint der General«, fuhr Wilhelm finster fort, »durch geheime Intrigen unsere Völker zu gewinnen ohne mich? Wenn sie ihm zuteil werden, so soll er sie nur aus meiner Hand erhalten. Dazu habe ich dir eine Rolle zugedacht in der heroischen Komödie unserer dickköpfigen Offiziere, deren Spielmeister ich heute sein muß.«

»Du weißt, Wilhelm, ich rede nicht anders, als meine Gedanken sind.«

»Sprich nur, wenn du gefordert wirst, wie dir's ums Herz ist, und du wirst mir recht sein; sorge auch, daß Gottlieb Stange nicht fehlt, denn ich brauche ihn nötig. Es ist alles bedacht; wir werden dem Willen unserer Herren ein wenig nachgeben müssen«, fügte er mit stolzem Lächeln hinzu, »und verhüten, daß kein Schaden geschehe; und ich hoffe, du reitest morgen nach Gotha.« Bernhard hielt erstaunt an: »Ich tauge nicht zu deinem klugen Paktieren.«

»Ich gedenke dich an einen ehrlichen Herrn zu senden, gegen den du in deiner Art reden kannst.«

»Dann danke ich dir für den Auftrag, auch wegen meiner Schwester Regine. Das Kind ist zu schwach und säuberlich für dieses Leben unter dem Trosse. Ich nehme sie mit mir und schaffe ihr ein Unterkommen bei frommen Leuten bis auf bessere Zeit.«

Das Gesicht des Freundes verfinsterte sich: »Wenn du alles mit dir führst, was dir lieb ist, wer bürgt mir dafür, daß du selbst zu dem verlorenen Haufen zurückkehrst?«

»Der Eid, den ich den Völkern geschworen«, antwortete Bernhard stolz. »Ich ersuche Euch, Herr, solche Gedanken vor mir und Euch geheimzuhalten.«

»Dein Eid soll dich binden?« fuhr der andere grollend fort, »leicht ist ein Vorwand gefunden, ihn zu umgehen.«

[] »Zweifelt Ihr an mir, so wählt einen anderen Boten, und dies sei das letzte Wort, welches wir als alte Kameraden gewechselt haben. Kommt der Tag, wo Euer Befehl aufhört, dann werdet Ihr mir Rede stehen wegen Eures Verdachtes.«

Wilhelm bezwang mit Mühe seine Bewegung: »Sei nicht so streng gegen mich, Bruder. Mir verstört es die Gedanken, daß ich dich und deine Schwester entbehren soll. Denn was dieses Leben, den scharfen Hader um eine unsichere Zukunft bisher erträglich machte, das waren die Stunden, wo wir drei in deinem Quartier zusammensaßen, du zur Laute spieltest und die werte Demoiselle Königin uns mit hohen Worten ermahnte, wenn wir uns als Weltkinder zu gröblich gebärdeten. Bernhard, ich bitte dich, laß die Schwester hier, ich will an deiner Stelle Tag und Nacht über sie wachen, als wenn ich ihr Bruder wäre.«

»Du bist es aber nicht, Wilhelm.«

»So gib sie mir zur Frau«, brach der General heraus. Mit großem Erstaunen sah Bernhard auf seinen Freund: »Der Himmel sei mein Zeuge, daß mir kein anderer Schwager lieber wäre als du. Die Schwester aber werde ich nie gegen ihren Willen zwingen. Du selbst weißt, daß sie nicht ist wie andere Weiber und zuweilen schwer heimgesucht wird. Sie ist krank und kann im Lager nie genesen. Aber auch du, Wilhelm, lebst nicht in einem Stande, der dir ratsam macht, den Bräutigam zu spielen.«

»Du meinst, weil ich ein anderes Spiel unternommen habe, bei dem mein Kopf als Einsatz steht. Es war nicht freundlich, mich in dieser Stunde daran zu mahnen. Daß der Bürgerssohn aus Weimar über Nacht zu einem Herrn von acht Regimentern geworden ist, welcher nicht in eines Königs Namen henken läßt, sondern in dem eigenen, das macht ihn zu einem Wundertier, auf das die Leute mit Fingern zeigen, und es verleidet ihn auch seinem eigenen Freunde als Schwager. Sage mir nichts«, fuhr er ruhiger fort, »es ist möglich, daß du recht hast; ich aber will dir und anderen beweisen, daß ich Witz genug finde, in diesem tollen Wagnis meinen Kopf zu behaupten. Ist auch heut keine Zeit, zu freien, wenn ich die Völker aus ihrem Aufstand hinübergeführt habe unter neuen Befehl, dann versuche ich, ob du dich als treuer Kamerad gegen mich beweisen wirst. Jetzt wiederhole ich noch einmal die Bitte: Laß deine Schwester hier; du weißt, von unseren Reitern wird sie keiner kränken, mir aber ist ihre Nähe wie die Bürgschaft meines guten Glückes. Als sie in Tränen beistimmte zu unserem Widerstand gegen die Franzosen, fühlte ich mich leichter in meinem Herzen, und dir ging es ebenso.«

»Sie selbst soll entscheiden, ob sie bleiben will oder mit mir gehen«, antwortete ernsthaft der Bruder.

»Es sei«, sagte der Feldoberst, aber das Zugeständnis wurde ihm schwer. »Doch gönne mir ehrliche Karten, gestatte, daß ich sie in [] deiner Gegenwart bitte, deine Rückkehr unter uns zu erwarten. Sei unbesorgt, Bernhard, ich werde nicht als ein Liebhaber zu ihr reden, sondern nur als dein Kamerad.« Bernhard reichte ihm die Hand.

Neben einem verlassenen Dorfe leuchteten die Lagerfeuer. Als die Reiter näher kamen, umgab sie das Gewühl des Trosses; durch das Gedränge der Karren, zwischen den Weibern und Buben, welche Stroh und Holz an die Feuer schleppten, wand sich der Trupp langsam der Mitte zu, wo ein Raum für die Zelte und das Gepäck der Befehlshaber abgesteckt war. Dort stand unter den Troßkarren der Offiziere ein Wagenhaus, aus starken Brettern gezimmert, hell getüncht, mit zwei kleinen Fenstern. Daneben schlug der Knecht die Pfähle für ein Linnenzelt in den Boden. Bernhard schied von dem Freunde, sprang eilig ab und hielt im nächsten Augenblick ein Mädchen in den Armen, welches ihm schon vom Wagen die Hand entgegengestreckt hatte.

»Ihr seid verwundet, Bruder«, rief Regine zurückfahrend, als sie einen zerschlitzten Ärmel und tropfendes Blut sah.

»Nur ein Schnitt ins Fleisch, den deine Kunst schnell heilen wird.«

»Wir hörten die Schüsse, und die Buben schrien, daß Alt-Rosen zum Angriff reite«, klagte die Schwester, »ich aber saß festgefahren im Hohlwege, und da ich nach meinem Pferde rief, wußte niemand, wo es war, und mir blieb nur übrig, in bitterer Not den lieben Gott zu bitten. Es war eine angstvolle Stunde, um mich stöhnten die Weiber und forderten, daß ich auch für ihre Männer Gutes vom Himmel erflehen sollte, dazwischen heulten die kleinen Kinder; bis endlich der Wilhelm an der Berglehne vorüberritt und mir zurief, daß er Euch in guten Kräften auf Eurem Pferde gesehen.«

Das Weib, welches liebevoll die Hand des Bruders festhielt, war von zarter Gestalt. Beim ersten Blick sah man, daß sie kein abgehärtetes Kind des Lagers war, die Sonne hatte ihre Haut nicht gebräunt, und die kleinen Hände waren harte Arbeit nicht gewöhnt. Die großen dunklen Augen mit langen Wimpern und zusammengewachsenen Brauen sowie die bleiche Farbe der rundlichen Wangen gaben ihr das Aussehen einer Trauernden und Kranken, aber sie bewegte sich behend und kräftig, als sie in den Wagen kletterte und Verbandzeug herzubrachte. »Kommt in das Zelt«, bat sie, auf den wunden Arm deutend.

»Geh voran, Prinzessin Dorimene, bevor dein untertäniger Amadeo seinen Arm preisgibt, muß er nach den Pferden sehen.«

Wenn Weiber oder stöhnende Buben in die Nähe des Feuers kamen und die Geschwister erblickten, so prallten sie hastig zurück. »Das ist die schwarze Hexe«, flüsterte ein Troßbube, hinter einen Baum zurückweichend, seinem Genossen zu.

[] »Du Mondkalb«, belehrte dieser, »die schwarze Nonne heißt sie.«

»Das ist Gurr wie Gaul«, versetzte der erste, »sieh nur, was sie für Augen macht.«

»Fort, Lumpengesindel!« schrie Pieps und stürmte mit einer Wagenrunge auf sie ein.

Als Bernhard zum Zelte zurückkehrte, erwartete ihn die Schwester am Eingange und zog ihn hastig hinein; er fühlte, wie ihre Hand zitterte, und erkannte bei der brennenden Wachskerze in ihren Zügen die Aufregung.

»Blitz!« sagte er heiter, mit ihrer Hilfe sein Wams ausziehend, »hier hängt auch die Laute, sie wird in den nächsten Tagen vor mir Ruhe haben« – er strich mit der hohlen Hand über die Saiten und summte die beliebte Weise: »Venus, du und dein Kind seid alle zwei blind.«

Die Schwester machte den Verband zurecht. »Singt nicht, Bernhard«, bat sie, »Ihr habt heut Menschen blut vergossen.«

»Das gehört zum Amt eines wackeren Reiters«, antwortete der Bruder. »Doch dir will ich's gestehen, heut wurde uns der Ritt sauer gemacht. Der schlaue Franzose hatte unsere eigenen Offiziere zu einer Kompanie formiert, unsere alten Kameraden stürmten mit heißen Gesichtern gegen uns, und meine Reiter stutzten, als ihnen ihre früheren Offiziere zuriefen: Hie Weimar zur Hilfe! Erst als sie mich im Gedränge sahen, erhielten sie ihren Zorn, und es wurde ein scharfes Raufen. Wäre uns nicht Sukkurs gekommen, du hättest mich vielleicht nicht wiedergesehen, denn der Schelm Reinbold summte um mich wie eine Hornisse, ihm danke ich diesen Schlitz im Wams. Doch auch er entkam nicht mit heiler Haut, und ich sah, wie er auf seinem flüchtigen Pferd wankte.«

Die Schwester setzte sich und rang die Hände. »Ach wie gern wollte ich sterben, wenn ich Euch aus dieser blutigen Gesellschaft erlösen könnte. Die Welt ist ganz ins Arge verkehrt; wo ist noch Liebe und Erbarmen zu finden? Auch mein Bruder rühmt sich seiner wilden Taten. Schaffet den Zorn aus Eurer Seele«, bat sie, mit dem Schwamm auf seine Wunde tupfend, »und entsaget Eurer Freude am Raufen und Eurem wütenden Reiten über Stock und Stein und denket fleißiger an den süßen Herrn, der als Lamm der Welt Sünde trägt.«

»Wetter«, brummte der Bruder, »das Lamm hat jetzt viel zu tragen.« Als er aber die Kränkung der Schwester merkte, fügte er gutherzig hinzu: »Habe Nachsicht mit mir, Frau Pastorin, die Worte sind schlimmer als die Meinung. Ich vertraue gern auf die Bitten meiner frommen Schwester und hänge mich an ihre Schürze. Denn wenn auch ich nicht in der Gnade bin, du bist erkoren und ausgewählt.«

Regine legte ihm die Leinwandfäden auf die Wunde.

»Mäßig und gleichförmig sollt Ihr sein in Eurem Gefühl, immer [] an die lieben Engelein denken und nicht an die Katzbalgerei in Eurer Kompanie; und wie Ihr jetzt stillhalten müßt, während ich die Binde rolle, so sollt Ihr immer still dahinleben in ruhigem Gemüt, denn das ist die beste Hilfe zur Seligkeit.« Und sie band ihm die Leinwand fest. »Tut es noch weh? Ungern sehe ich Euch auch so viel mit dem Wilhelm zusammen, den Ihr jetzt Euren General nennt, denn er hat nur irdischen Ehrgeiz.«

»Er meint es doch gut zu dir und mir. Bereite dich, ihn noch heut zu sehen, er will dir etwas erzählen.«

Eine Magd schob die Leinwand zurück, der General trat ein und wandte sich mit ritterlicher Haltung zu Regine: »Zürnet mir nicht, werte Demoiselle, wenn ich Euch den Bruder auf ein oder zwei Wochen versende. Er reitet mit einem Auftrage nach Thüringen.«

Die Schwester trat schnell zum Bruder und flehte: »Nehmt mich mit.«

»Ich bitte Euch«, fuhr der Gast gehalten fort, »daß Ihr bei uns seine Rückkehr erwartet. Der Weg ist weit und beschwerlich, der Ritt muß schnell sein und würde Eure Kraft erschöpfen. Ihr seid in den nächsten Wochen sicherer im Lager als irgendwo anders, denn wir haben jetzt eher die Freundschaft der Mächtigen abzuhalten, als ihrer Feindschaft zu begegnen.«

»Es kann Euer Ernst nicht sein, Herr, daß ich mich von dem Bruder scheiden soll; droht ihm auf dem Wege Gefahr, so will ich sie mit ihm teilen. Nehmt mich mit Euch, Bruder«, bat sie wieder, »laßt mich nicht zurück unter fremden Leuten.«

»Bin ich Euch ein Fremder, Regine?« fragte der General unzufrieden. »Gönnt mir für diese kurze Zeit das Recht, über Euer Wohl zu wachen. Mir ist, als ob die Gottesfurcht mit Euch von dannen ziehe und aller Schutz des Himmels, und manchem unter unseren Reitern wird es ebenso gehen.«

»Ach! Monsieur Wilhelm«, sagte Regine, »Ihr seid ein gar weltliches Kind und folgt Euren Eingebungen. Ihr hört nur zum Schein auf andere, und wenn Ihr auch gütig gegen mich seid, Ihr beachtet mich nur, wie die Kinder ihr Spielzeug.« Sie bat wieder mit gefalteten Händen: »Laßt mich mit dem Bruder ziehen, hier finde ich den Frieden nicht, nach dem ich mich sehne. Ich gedenke wohl, wie unser seliger Vater, da ich noch ein Kind war, das Land Thüringen rühmte, weil es treu zum Evangelium halte und christliche Gesinnung dort noch nicht geschwunden sei; dort hat auch der erwählte Mann Gottes, Doktor Luther, zu seiner Zeit gelebt, und es steht in meiner Bibel eingeschrieben, daß er unseren Voreltern zugetan war, und daß ihr Glück von ihm seinen Anfang genommen hat. So hoffe auch ich, daß für den Bruder und mich dort ein besseres Glück kommen wird.«

»Euer Bruder aber gehört mir«, sprach Wilhelm zwischen Unwillen und Rührung.

[] »Nur solange Gott will«, antwortete das Mädchen und schlang die Arme um den Bruder, wie um ihn zu schützen.

»Lebt wohl, Regine«, schloß der General, mühsam seine Bewegung niederkämpfend. »Euch, Rittmeister König, erwarte ich im Rat.«

In der zerstörten Dorfkirche versammelten sich die Offiziere der Kompanien zum Kriegsrat. An den Pfeilern waren brennende Kienfackeln befestigt, auf dem steinernen Fußboden vor dem Altar flammte ein Feuer, und der Rauch wirbelte um die glaslosen Fensteröffnungen oder sammelte sich zu rußigen Wolken an der gewölbten Decke. Im roten Scheine glitzerten die trotzigen Augen der Geladenen, und über die gefurchten Gesichter flogen grelle Lichter und tiefe Schatten. Als der Feldoberst vortrat und seinen Hut lüftete, erstarb das Gesumm in tiefer Stille. »Ich bedanke mich bei den Herren Offizieren, und ich bedanke mich bei den Regimentern der Nachhut, daß sie heute ihre angestammte Bravour bewiesen haben, als sie den verräterischen Franzosen verjagten. Seiner sind wir, wie zu hoffen ist, für immer ledig. Darum aber steht uns schwere Wahl bevor, nämlich daß wir entscheiden, welchen Potentaten wir zu unserem Kriegsherrn erkiesen wollen, um ihm das Jurament zu leisten, damit wir vor Gott und der Welt als ehrliche Soldaten erkannt werden und nicht als herrenlose Räuber. Nun ist euch allen bewußt, daß der römische Kaiser Ferdinandus III. uns hohe Anträge und Versprechungen zukommen ließ. Unsere Völker aber haben seinen Boten abgewiesen, weil sie die evangelische Sache nicht verraten wollen. Auch die Landgräfin von Hessen hat uns eingeladen, und der Schwede Wrangel hat eine Ambassade geschickt, welche öffentlich den Rat gab, daß wir zu den Franzosen zurückkehren sollten, und sich erbot, diesen mit uns zu versöhnen; dieselbe Legation aber hat uns auch in höchstem Vertrauen mitgeteilt, daß, wenn solche Versöhnung unmöglich sei, der Schwede selbst sehr kontent sein werde, uns in sein Heer aufzunehmen. Zwischen diesen hohen Bewerbern haben wir uns zu entscheiden, und ich bitte jedermann in eröffnetem Kriegsrat zu einer guten Wahl zu helfen, entweder durch Vortrag eigener Meinung oder durch Beistimmung. Da die Völker bereits gegen den Kaiser entschieden haben, so ersuche ich die Herren Offiziere, zunächst über das Angebot der Frau von Hessen zu verhandeln.«

Von allen Seiten erhob sich Gemurr und Einrede.

»Sie lebt in Unfrieden mit ihren Befehlshabern«, rief es aus dem Haufen, »sie operiert mit den Franzosen, und wir bekommen bei ihr wieder den Turenne auf den Nacken.« Es ergab sich nach heftigem Hin-und Herreden, daß in dem Heere geringe Bereitwilligkeit war, hessisch zu werden.

»Wohlan«, begann der General wieder, »so bleibt die Konjunktion mit dem Schweden. Ich frage, ob der Kriegsrat sich für den Feldmarschall Wrangel zu entscheiden vermag?«

[] Wieder Gemurr und laute Rufe. »Dort regieren die schwedischen Kommissare; sie schicken uns Deutsche ins Feuer und essen die Kastanien, die wir ihnen herausgeholt.« – Aber auch Freunde der Schweden ließen sich vernehmen: »Dem Gustav Wrangel glückt es gegen alle seine Feinde. Einst haben wir den großen Schwedenkönig einen Erretter genannt, und die ältesten von uns haben unter ihm gedient. Es ist das Heer seiner Tochter, der Königin, zu dem wir jetzt zurückkehren.«

Da rief ein alter Haudegen des Regiments Rußwurm unter die Streitenden: »General Königsmark!« Und viele Stimmen in seiner Nähe wiederholten den Namen. Der Rufer trat vor: »Der General ist von Blut ein Deutscher wie wir, er ist ein pompöser Herr, der dem armen Soldaten auch das Seine gönnt, und er ist ein tapferer Feldherr, dessen Bravour weltkundig geworden. Bei ihm finden wir Soldaten von Fortune die beste Ehre und Anerkennung. Darum, liebe Brüder, rate ich, daß wir nur diesen als unseren Feldherrn wählen und daß wir uns nicht darum von ihm abwenden, weil wir bei ihm der schwedischen Königin das Jurament leisten müssen. Sind die Schweden auch nicht eingeborene Deutsche, so wissen wir doch alle, daß sie echte Martissöhne sind.«

Ein Geschrei der Zustimmung kam aus vielen Kehlen, aber auch heller Widerstand erhob sich, und der General, welcher Mühe hatte, die Ordnung zu erhalten, blickte forschend in die Versammlung.

Endlich trat Gottlieb Stange in den Ring, er nahm den Hut ab, strich sich mit der Hand sein graues Haar glatt und verneigte sich bedächtig nach beiden Seiten. »Wir vernahmen soeben von meinem Herrn Bruder Rußwurm sechste Kompanie, daß die Schweden die echten Söhne des Martis oder Martinus sind, welches ich nicht bezweifeln will, obgleich ich noch nicht erfahren habe, daß besagter Heiliger seinen echten Söhnen mehr gebratene Gänse und mehr gebackene Martinshörner in ihre Quartiere liefert als uns anderen. Solange der große König Gustavus Adolfus lebte, dachten wir wenig daran, daß der Schwede von Mitternacht her als Fremder kam, denn der König war ein gerechter Herr, und wir hofften, daß er ein Retter der evangelischen Sache sein werde. Seit seinem Tode aber hat sich der Eigennutz erwiesen, und viele von uns zogen unserem seligen Herzog Bernhard zu, weil dieser aus deutschem Blute war, angenehm als Landsmann, wie auch als Kriegsfürst formidabel. Was wir seit seinem Tode von den Franzosen erduldet haben, ist jedem bekannt, und viele von uns sind der Meinung, daß zwischen dem Turenne und dem Wrangel, was die gute Gesinnung gegen uns Völker betrifft, kein größerer Unterschied sei als zwischen Kessel und Ofentopf, obgleich einer dem anderen sein schwarzes Gesäß vorwirft. Wir aber sind es herzlich müde, einem Fremden zu dienen, und [] die Reiter stecken die Köpfe zusammen und bedenken die deutschen Potentaten des evangelischen Glaubens, welche wir wählen könnten. Sie finden keinen Mann, der gegenwärtig mit seinen Völkern im Felde liegt, nur die Frau von Hessen. Diese jedoch behagt ihnen nicht, weil sie ein Weib ist, welches nicht selbst zu Felde zieht, und manche nehmen auch Anstoß daran, weil sie beim Abendmahl ganze Stücke Brot ißt, obwohl man ihr dies zugestehen könnte, wenn sie dem armen Soldaten den Braten ließe, doch man sagt von ihr, daß sie knickerig haushalten läßt in ihren ausgesogenen Quartieren. Nun aber sehen und erfahren wir alle, daß der Kaiser seine Freude daran hat, wenn Deutschland verödet wird, und daß der Hahn von Frankreich einen Stolz darin findet, in den deutschen Höfen zu krähen, und daß der schwedische Bär auch keine Lust verspürt, aus der Nähe der deutschen Stallungen abzuziehen, solange er noch ein Kalb zum Zerreißen findet. Keiner will den Frieden, nur der Bauer will ihn und der arme Soldat, und die beiden müssen einander zuvor totschlagen. Und ich sage euch, ihr Herren, wenn es nach den drei mächtigen Gebietern im deutschen Lande geht, so wird nicht eher Friede, als bis der letzte Bauer an den dürren Ast gehenkt ist; wenn keiner mehr Brot und Hafer baut, dann gehört das Land ganz den wilden Hunden, und dann kommt Ruhe in die Täler. Darum ist unter den Völkern die Meinung, daß wir, die wir zumeist Thüringer und Sachsen sind, uns auch einen Herren wählen von unserer eigenen Art, den wir erhöhen und zu einem Kriegsfürsten machen, damit er durch uns dazu helfe, den ersehnten Frieden in das gequälte Deutschland zu bringen. Nun aber haben manche von uns einen deutschen Herrn wohl erkannt, Ernestus, den Bruder unseres seligen Herzogs Bernhard, damals, als er bei uns Kriegsdienste tat und als er Gubernator in Franken war. Dieser ist ein Mann, an welchem wir keinen Tadel wissen, redlich und treu, und wir trauen ihm zu, daß ihm unser Feldgeschrei von heute: ›Hie Teutschland!‹ ein angenehmer Ruf sein werde. Darum dachten wir daran, unseren Herrn General zu bitten, daß er vor allem Abgeordnete der Völker zu dem Herzog sende; wenn dieser uns haben wollte unter billigen Bedingungen, so würden wir ihm am willigsten dienen.«

Nach den Worten des beliebten Mannes trat eine kurze Stille ein, dann ein Gemurmel, welches sich endlich zum lauten Geschrei verstärkte: »Wir wollen den Herzog Ernestus!« Und der Feldoberst erkannte, daß die Mehrzahl sich diesen begehrte. Aber auch der Widerpart eiferte heftig. Endlich riefen helle Stimmen aus dem Hintergrunde nach Gehör, und einer der Ruhestifter schrie: »Wir haben mancherlei Opinion vernommen, ehrliche Worte und wohl auch Meinungen, welche von Fremden dem Heere zugetragen sind, aber wir wollen eine frische und redliche Rede hören, welche die Völker sonst wohl gern vernommen; wir von Alt-Rosen fordern [] den Rittmeister König auf, daß auch er seine Meinung sage.« Und aus den hinteren Reihen erklang Beifallsruf.

Der Befehlshaber winkte dem Freunde zu, und Bernhard trat vor: »Ansehnliche Herren und lieben Brüder! Da ich einer der jüngsten bin, ziemt mir mehr zu hören als zu raten. Was dem Heere am vorteilhaftesten ist für Sold, Quartiere und Ruhm, darüber haben viele unter uns mehr Erfahrung als ich. Ich aber will sagen, was uns allen während unserer Händel mit den Franzosen am Herzen gelegen hat: Wir haben uns von dem Marschall darum geschieden, weil wir Deutsche sind und unser Blut nicht länger für den Eigennutz fremder Potentaten vergießen wollen. Wir hören viel von der alten Herrlichkeit des deutschen Landes, wo ist sie hingeschwunden? Ich kenne manchen unter euch, der mitten in Brand und Plünderung aus tiefem Herzen erseufzte über das Unglück, welches wir ertragen und anderen zufügen, und ich hörte manchen Kriegsmann mit grauem Haar einen Fluch ausstoßen gegen die vornehmen Perücken, welche Frieden im Munde führen und den Krieg im Herzen begehren. Fünf Jahre verhandeln die Schreiber über den Frieden, und wir sind weiter davon entfernt als je. Ich aber lebe des Glaubens, daß der römische Kaiser als der hartnäckigste und diffizilste Gegner des Friedens gegen uns steht. Er fühlt in seinen Erblanden wenig von der Kriegsnot und ist wohl zufrieden, wenn die Dörfer und Städte der evangelischen Landesherren verwüstet werden. Und ich sage euch, ihr Herren und Brüder, nicht eher wird er sich einem billigen Vertrage zuneigen, als bis ein deutsches Heer über seine Berge zieht und seine Hofburgen ausbrennt. Darum, wenn die Großen üblen Willen haben, das deutsche Land in einen besseren Zustand zu bringen, so meine ich, sollen wir Kleinen dazu helfen. Habt ihr den Mut und den Willen, euch als Helden zu erweisen und den Kaiser zum Frieden zu zwingen, so wählt euch einen kühnen Kriegsobersten, dem ihr zutraut, daß er sich mit eurer Hilfe hoher Anschläge vermesse. Und in diesem Falle rate ich, daß ihr den General Königsmark zuzieht, obgleich er den Schweden dient. Denn wir wissen, daß er von allen großen Befehlshabern am fröhlichsten schlägt und in seinen Reiterstiefeln weder Tod noch Teufel fürchtet. Wollt ihr jedoch so hohes Wagnis nicht auf euch nehmen, so wahrt wenigstens euer Gewissen, auf daß ihr nicht ferner an der Zerstörung teilhabt, und sucht einen gerechten protestantischen Landesherrn, dem ihr euch zum Schutz seines Landes anbietet und der vielleicht, wenn er die Regimenter entlassen will, mit unseren Völkern, ihren Weibern und Kindern die leeren Bauernhöfe seines Landes besetzt. Wollt ihr in solcher Weise für das Heil des gemeinen Reiters sorgen, so fragt den Herzog Ernestus, den Bruder unseres seligen Kriegsherrn, ob er die Regimenter auf billige Bedingungen in seine Gewalt aufnimmt. Nur zwischen diesen beiden Heerstraßen haben wir die Wahl, und heute müssen wir uns [] entscheiden. Doch worauf die Mehrzahl auch ihren Sinn richte, daran mahne ich euch bei unserer brüderlichen Treue und bei dem schweren Eide, den wir einander geschworen haben, daß die Minderzahl sich nicht beschwert fühle und sich gutherzig mit ehrlichem deutschem Gemüt dem Beschluß der anderen füge, damit wir fest beieinander stehen und Glück und Unglück gleich Brüdern teilen.«

Seinen Worten folgte wieder tiefe Stille, dann wurde aufs neue die geteilte Meinung in den Rufen laut: »Für den General Königsmark! Für den Herzog Ernestus!« Der Führer erkannte, daß es Zeit sei, zum Beschluß zu kommen, er trat vor und rief: »Wer für Herzog Ernestus ist, der hebe die Rechte, damit der Wille des Heeres kundbar werde.«

Die große Mehrzahl der Hände fuhr in die Höhe.

»Die Mehrhand ist für den Herzog!« verkündete er, und ein langes Beifallsgeschrei antwortete. »Was der Kriegsrat beschlossen hat«, fuhr er fort, »soll sogleich ins Werk gesetzt werden. Morgen mit Sonnenaufgang wähle jedes Regiment einen Abgesandten. Dazu wähle ich einen, der bei der Ambassade meine Stelle vertritt. Noch ersuche ich die Herren, folgendes zu bedenken: Zwei Meinungen sind hier verkündet. Die Mehrzahl hat für die eine entschieden. Dennoch ist unsicher, ob es den Gesandten gelingt, mit dem Herzog zu paktieren. Sollte sich wider Hoffen ein Hindernis ergeben, so schlage ich vor, da die Not drängt, daß in diesem Fall unsere Abgeordneten Vollmacht erhalten, weiterzureiten und nach Beschluß der Minderzahl mit den schwedischen Befehlshabern zu verhandeln.« Auch dies wurde nach manchem Widerspruch zum Beschluß erhoben, und der Kriegsrat löste sich geräuschvoll und mit guten Hoffnungen auf.

Den nächsten Morgen ritt ein Reitertrupp aus dem Lager nordwärts; in seiner Mitte rollte der Lagerwagen Regines, von vier starken Gäulen gezogen. An demselben Tage führte der Befehlshaber das Heer bei Würzburg über den Main.

Der verlorene Haufe wälzte sich wieder vorwärts auf staubigen Wegen über Felder und Heide, die Rosse zerstampften die Halme des Ackers, die Weiber und Kinder drangen in die Dorfhütten, in welchen noch der Landwirt hauste, und zernagten wie ein ungeheurer Rattenschwarm das wenige, was er zur Erhaltung des eigenen Lebens versteckt hielt. Wo der Dampf von den Feuerstätten des Heeres aufstieg, da wurde die Arbeit eines Jahres versengt, vergeudet, verdorben. An den Lagerbränden verkohlten der Mut und die Hoffnung, die Freude an redlichem Erwerbe, Nächstenliebe und Erbarmen in diesem Jahre wie bisher. Seit fast dreißig Jahren loderte das Kriegsfeuer im Lande, es war zuerst hie und da aufgebrannt, dann war es zu einer ungeheuren Brunst geworden, welche mit [] feuriger Lohe über das ganze Land lief, mit heißem Dampf jede Brust beengte und schonungslos Leib und Seele der Lebenden zerstörte. Jetzt war die Flamme kleiner geworden, aber sie flackerte bald hier, bald dort in die Höhe, wo sie unter den Trümmern noch Nahrung fand, und niemand war stark genug, ihr zu wehren, ja die Fremden schürten, während sie vom Frieden sprachen, unablässig in der Glut.

Es ist wahr, viele Eltern der sonnengebräunten Brut, welche jetzt raublustig in Scheuern und Ställe des Bauern sprang, wußten nicht mehr, was Friede bedeute und was Herrschaft des bürgerlichen Gesetzes; sie selbst waren unter den Schrecken der Kriegsfurie geboren und zu Männern erwachsen und hatten Kinder gezeugt, welche heimatlos und schädlich durch das Land schwärmten, gleich ihren Eltern.

Und doch schien die Sonne warm wie vorzeiten, im Frühjahr sang die Lerche in der Luft, im Sommer schlug die Wachtel im Unkraut des Ackers, und an den Fruchtbäumen, welche noch nicht als Brennholz gefällt waren, röteten sich die Kirschen. Wenn die kleinen Reiterbuben dem Johanniskäfer zusangen: Sonnenvöglein, flieg aus, komm wieder in mein Haus!, so gebärdeten sie, die niemals in eigenem Hause gesessen hatten, sich, ohne es selbst zu wissen, als ehrbare Hofherren, wie vor langen Jahren ihre Vorfahren. Die deutsche Natur lebte ungewandelt wie einst, und der ausgeruhte Acker war willig, neue Frucht zu tragen. Undeutlich klang im tiefsten Herzen derer, welche noch nicht ausgetilgt waren, in dem verwilderten und verdorbenen Geschlecht, ein Ton der Sehnsucht und Klage. War es nur der Wunsch nach besserem Glück, von dem ihnen eine Sage aus dem Munde der Alten zugekommen war, war es nur Schmerz über alle Angst und Not, die sie umgab, oder war es ein stärkeres Gefühl, welches wohl einmal dem Manne die Faust um Schwert und Büchse ballen konnte? Die Väter des gequälten Geschlechtes hatten sich lange gerühmt, daß sie Deutsche waren, und hatten doch fremde Sprache, Mode, Sitte ungeschickt nachgeahmt und sich zu Dienern der Fremden entwürdigt; und jetzt, wo Deutschland als Beute der Fremden niederlag und aus den Stuben der Gelehrten die Trauerklagen über den Verfall der alten Herrlichkeit in das Volk drangen, jetzt antwortete aus den Lagerhütten der gemeinen Soldaten, welche eine harte Notwendigkeit trieb, sich durch Zerstörung und Verderb des Volkes zu erhalten, ein scharfer Gegenklang. Die narbigen Reiter, die zuerst dem Sachsen Bernhard von Weimar gedient hatten, dann dem Franzosen verhandelt waren und mit Abenteurern aus jedem Lande des Weltteils Schulter an Schulter gekämpft hatten, sie, die gefürchteten Alten des Krieges, die Waffenlehrer des jüngeren Schwarms, sie empörten sich gegen einen fremden Feldherrn und gegen die eigenen Offiziere, weil sie zuletzt nur für die deutsche [] Sache kämpfen und sterben wollten. War das ein verlorener wilder Ton in langer, banger Nacht, wie das ferne Gebell eines hungrigen Wolfes, oder waren es die ersten Noten eines Liedes, welches von da ab aus dem Gemüt des deutschen Volkes erklingen sollte, bald so, bald anders angehoben, wie das Gezirp eines jungen Vogels, bis es nach Jahrhunderten unwiderstehlich herausschmettern wird als Schlachtgesang einer siegreichen Nation?

Im Walde

Von der Werra her ritten vier Reisende auf der fränkischen Seite des Bergwaldes dem Rennwege zu. Voran ein älterer Mann in Lederkoller mit Karabiner und Degen, eine kurze Pike statt der Reitgerte in der Hand; aus dem hageren Angesicht blickten zwei schlaue Augen spähend über die Flur und in das Buschwerk am Wege. An seiner Seite lenkte ein Knabe das Packpferd, welches einen großen Quersack trug. In einiger Entfernung hinter ihnen kam auf bequemem Zelter ein Mädchen in dunklem Reisemantel, neben ihr ein junger kräftiger Mann, bewaffnet wie der Führer.

Lange zogen die Reisenden schweigend dahin über Hügel und durch Talwellen in der milden Sonnenwärme des späten Nachmittags. Unter dem lichtvollen Himmel breitete sich eine menschenarme Landschaft. Wenn die Reisenden zu einem Dorf kamen, wurden sie von den Einwohnern scheu und feindselig betrachtet, sie sahen zerzaustes Dachstroh und viele leere Fensteröffnungen, die Kirchenwände schadhaft und die Schallöcher der Glocken ausgebrochen, dann ritten sie in gestrecktem Trabe auf der Dorfstraße hindurch oder in weitem Bogen herum: nur hier und da fanden sie Arbeiter auf dem Felde, in den Niederungen eine kleine Rinderherde und auf den Anhöhen einzelne bewaffnete Reiter zum Schutz der Dorfleute gegen streifendes Gesindel. Um die Bäume am Wege flatterten die Sommervögel, aber über ihnen flogen ungeheure Schwärme von Krähen und Dohlen dem Walde zu, und bei dem Geschrei der Großen verstummte das Gezwitscher der Schwachen.

Als die Reisenden zum Fuß des Gebirges gekommen waren, hielt der Führer auf dem Anger eines kleinen Dorfes und erwartete seine Genossen. Er sprang vom Pferde, warf dem Knaben die Zügel zu, setzte die Waffen in Bereitschaft und betrat vorsichtig die Dorfgasse. Dort spähte er von Hütte zu Hütte, pochte an verschlossene Türen und rief, aber er erhielt keine Antwort; nur ein schwarzer Köter kläffte wütend hinter ihm her, als er zu den Pferden zurückkehrte.

»Geflüchtet!« meldete er und ritt wieder vorwärts. Vor einem kleinen Gebüsch auf dem nächsten Hügel gebot er dem Knaben, der behende seinen Quersack verließ und in das Gehölz kroch, während [] der Alte spähend in die Runde schaute. Als der Kleine zurückkehrend sein Zeichen machte, winkte der Führer seine jüngeren Gefährten heran und wies hinter dem Rücken des Mädchens bedeutsam in die Ferne nach einer aufsteigenden Rauchwolke. »Ich rate, Bruder Bernhard, daß wir hier für die Pferde sorgen und unsere Abendkost verzehren, solange wir allein sind; Proviant ist nirgends sicherer als im Magen.«

Bernhard hob die Schwester vom Zelter, Pieps leitete die Pferde in das Gehölz zu der Stelle, wo ein Bergquell fröhlich talab rieselte, dort löste er die Ledertasche mit dem Reisevorrat vom Sattel und half den Tieren zu Weide und Tränke. Die anderen setzten sich in die Nähe des Wassers und sprachen der Kost zu, wie Reisenden gebührt. »Die blauen Waldglocken blühen«, begann Regine erfreut, »gedenkt Ihr, Bernhard, wie wir miteinander sangen, als ich ein Kind war: Blau sind alle meine Farben, und blau ist meine Lust? – Denn dies war die Farbe, worauf der selige Vater am meisten hielt.«

Bernhard nickte. »Später kamen bessere Arien daran, wie diese: Knabe, geh und kauf Melonen und vergiß des Zuckers nicht. Gottlieb, mein ergrauter Knabe, reiche die Flasche mit gebranntem Wasser.«

»Jetzt ist die Zeit des Abendgeläutes«, fuhr die Schwester fort, »mich wundert, daß wir keine Glocke hören.«

Die Männer sahen einander an. »Vielleicht sind sie vom Kriegsvolke entführt«, tröstete Gottlieb, indem er seine Bissen zuschnitt, »oder die Bauern fürchten sich, am Strange zu ziehen, damit nicht fremdes Gesindel zu ihrem Abendessen gelockt werde.«

»Ihr sagtet doch«, antwortete Regine, »daß in dem Lande des frommen Herzogs keine Kriegsleute lagern und daß wir in Sicherheit reisen.«

»Es ist nirgends Sicherheit vor streifendem Volk«, entgegnete der Bruder, »und da du ein beherztes Kind bist, so berge ich dir nicht, daß Gottlieb zur Vorsicht gemahnt hat.«

»Soll ich meine Meinung sagen«, begann dieser, »so sind wir nicht die einzigen Kriegsleute, welche heut im Walde reiten. Vielleicht ist der Schwede von Erfurt über den Rennstieg gekommen, um Fichtenzapfen zu beuten, da er auf anderen Gewinst hier schwerlich hoffen darf.«

Bernhard schüttelte das Haupt: »Oberst Ermes bezieht seinen Proviant aus Gotha; wollte er hier rauben, würde er sich selbst die Zufuhr mindern. Streifen Bewaffnete im Holz, so sind es kaiserliche Freireiter vom Frankenwalde her. Um der Schwester willen reut es mich, daß unsere Begleiter an der Werra zurückblieben, weil wir unsern heimlichen Ritt zum Herzoge vor den Schweden verbergen sollten. Doch haben wir seither gutes Glück gehabt und kommen jetzt auf die Höhe des Gebirges und in die Dörfer von Thüringen; dorthin, hoffe ich, folgen die Beutenden nicht.« Regine stand auf.

[] »Haben wir eine Gefahr zu meiden, so bitte ich, daß wir aufbrechen, damit wir noch bei Tage in sicheres Land vordringen.«

Damit war Gottlieb einverstanden, und sie ritten nach kurzer Rast wieder dem Kamme des Waldgebirges zu.

Auch Bernhard sah jetzt unruhig zurück, bis sie den Hochwald erreicht hatten und hinter den Bäumen der Beobachtung durch raublustige Reiter entzogen wurden. Die Sonne neigte zum Niedergang, zuweilen fiel goldenes Licht zwischen den Baumstämmen auf den Weg, dann kletterten die Pferde in dichtem Schatten bergauf, während sich graue Dämmerung über Berg und Tal legte.

Sie hatten den Rennstieg überschritten, den Aushau des Waldes, welcher die Wasserscheide bildet zwischen Franken und Thüringen, und die Pferde schnaubten und strauchelten mühsam abwärts. Der Weg zog sich zwischen dichtem Tannengehölz in scharfer Krümmung, da hielt der Führer plötzlich an; im nächsten Augenblick knackte es im Holz. Mehrere wüste Gesellen sprangen in den Weg, in dürftigen und zerrissenen Kitteln, mit Bauernmessern und alten Musketen bewaffnet, einige unter gerolltem Bauernhut, andere barhaupt.

»Holla, halt!« schrie der erste, »steigt vom Pferde, oder der schwarze Hagel fährt euch in den Leib.«

Gottlieb blieb sitzen und musterte die Wegelagerer. »Wahre dich selbst, Bauer, deine Lunte versengt dir den Rock.« Während der Mann mit der Hand die glimmende Stelle ausdrückte, brachte Gottlieb seinen Karabiner in Ordnung: »Dieser hier gibt auf grobe Worte heiße Funken. Wenn ihr aber ehrliche Flegel seid, wie ich hoffe, so zeige ich euch meinen Freipaß.« – Er griff in die Tasche, holte einen schmalen Riemen hervor, ritt unter die Waldleute und sprach leise den Reim: »Wer hiermit bindet den Schuh, der bleibt vor dem armen Bauer in Ruh'.« Die Männer starrten ihn an, unsicher sagte einer zum andern: »Er hat das fränkische Zeichen, ich traue mich nicht, ihn abzutun, wir müssen den Schreiber rufen.«

Während der Bote abwärts lief, hielten die Reisenden, umstellt von den Waldleuten. Ein plumper Gesell faßte das Saumpferd am Zügel, Pieps schlug ihm die Hand beiseite.

»Was ist in dem Sack?« fragte ein anderer und packte einen Beutel an Regines Pferd.

Regine griff hinein. »Es ist unser Reisebrot, bist du hungrig, so nimm es.« Der Mann biß gierig zu.

»Es ist Weizenbrot, dergleichen ist lange nicht in unseren Backofen geschoben; ihr scheint mir rare Vögel.« – Ein Genosse riß ihm die Semmel vom Munde und wies mit drohender Gebärde nach dem Sack.

»Es war das letzte«, sagte sanft Regine, »jetzt müssen wir euch um Nahrung bitten.« – Der Bauer lachte: »Das wäre verkehrte Welt! Hier ist Schmalhans Küchenmeister.«

[]

Ein breitschultriger Mann in städtischer Tracht mit rotem, aufgedunsenem Gesicht kam herzugelaufen, er hielt mit der einen Hand eine Blendlaterne, mit der andern eine Pistole: »Wer seid ihr und was wagt ihr euch in unser Geheimnis?« schrie er.

»Seid Ihr einer von den Beamten Sr. Herzoglichen Gnaden«, antwortete Gottlieb, »so wißt, daß wir einen hochnötigen Auftrag an Euren Herrn zu bestellen haben und daß Euch Blitz und Donner auf Eure Köpfe fahren wird, wenn Ihr uns aufhaltet.«

»Gebt eure Waffen ab«, befahl der Schreiber, »denn ihr seid jetzt unsere Gefangenen.«

»Wollt Ihr versuchen, ob wir's sind!« versetzte Bernhard und ritt ihm drohend näher.

Sein Gegner zog sich hastig zurück und rief den Bauern zu: »Auf ihn, Nachbarn! Macht den Prahler still!« Regine drängte mit einem Angstschrei ihr Pferd zwischen den Bruder und die Landleute.

»Schande über euch, ihr Männer, daß ihr eine Frau im wilden Walde bedroht«, rief eine klangvolle Stimme; ein großes Weib schritt durch die Landleute und faßte Reginas Pferd am Zügel. »Folgt mir«, gebot sie den Reisenden.

»Jungfer Judith mengt Euch nicht in diese Sachen!« rief der Schreiber.

»Den Herrn Amtsschreiber warne ich, daß er sich selbst in acht nehme. Er wird sich schlechten Dank er werben, wenn er solche hindert, die zum Hofe wollen.«

»Wo ist Euer Paßport?« fragte der Beamte finster. Bernhard reichte ihm das Papier, der Schreiber versuchte, beim Schein der Laterne zu lesen: »Hier stehen nur Namen ohne Stand und Würde, was gegen die Vorschrift ist. Weiß der Herzog, daß ihr ihm zureist?« fragte er lauernd.

»Ihr habt kein Recht zu solcher Frage«, war die kalte Antwort.

»Sie kommen als Spione«, sagte der Schreiber zu den Bauern.

»Wir haben für Euch spioniert, Ihr Musterschreiber«, entgegnete Gottlieb. »Jenseits des Rennstieges brennt's, und die Dörfer sind leer; wir aber wollen die feindlichen Reiter vermeiden, ebenso wie Ihr.«

Die Bauern wurden unruhig und verhandelten leise. »Wohlan«, entschied der Schreiber in verändertem Tone, »wir hindern euch nicht länger, ihr mögt euren Weg fortsetzen. Laßt ihnen den Willen, Nachbarn.« Aber das Weib erfaßte wieder den Zügel: »Ich widerrate der fremden Frau, weiter zu reiten, der Weg ist bei Nacht gefährlich.«

Der Beamte trat ihr entgegen: »Jungfer Judith, Ihr mißbraucht die Gewalt, die Ihr über mich und andere habt, wenn Ihr unser Geheimnis den Fremden preisgebt.«

»Ich tue es ungern«, antwortete die Jungfrau, »aber Ihr wißt, was ihnen droht, wenn sie abwärts ziehen. Folgt mir«, mahnte sie [] die Reisenden; »gebt Raum, ihr Nachbarn.« Die Bauern räumten willig den Weg.

Regine sah unsicher auf ihren Bruder, aber dieser rief: »Führet, wir folgen Euch mit gutem Vertrauen.«

Die Frau leitete die Fremden einen Seitenweg bergauf und talab, bis sie durch dichtes Unterholz an einen Zaun von starken Bohlen kamen. Hier stiegen die Reisenden ab, die Führerin öffnete das Tor. Um eine alte Eiche lagerte zusammengedrängt die geflüchtete Gemeinde, eine Anzahl Weiber und Kinder kauerte bei ihren Bündeln, unter dem Baume saß ein alter Geistlicher in seinem Amtsrock. Alle Blicke richteten sich neugierig auf die Fremden, aber niemand regte sich, nicht einmal die Hände der geflüchteten Weiber, welche über die geretteten Ballen gekreuzt waren. Nur der Geistliche erhob sich und lüftete seinen Hut, als er die lateinische Anrede Bernhards vernahm:

»Ehrwürdiger Herr, wir kommen in Frieden und bitten im Namen Gottes um Euren Schutz.«

»Der Herr sei mit Euch und uns in der Wildnis«, antwortete der Alte. »Ihr seht, die Wirte sind ausgezogen und haben den Gästen kein anderes Obdach zu bieten als das grüne, welches der Herr für das wilde Geflügel errichtet hat. Auch die Kost wird dürftig sein« – er wies auf ein kleines Feuer am Boden, bei welchem einige Kochtöpfe standen.

»Wir wünschen nur, daß Ihr uns bis zum Morgen in Eurer Nähe duldet«, antwortete Bernhard, und die Führerin bat er, auf Regine zeigend: »Ich flehe herzlich, sorgt für meine Schwester, denn die Tagefahrt war mühsam.«

Die Jungfrau wies schweigend auf die Pferde und auf eine Anzahl Pflöcke am Zaun, dann faßte sie die Hand Reginas und führte die Erschöpfte einige Schritte aufwärts, dort breitete sie eine Wolldecke über das Moos, schlug sie um die Glieder des Gastes und schob ihr ein Bündel unter das Haupt; sie selbst setzte sich daneben auf einen Stein.

Bernhard folgte ihr erstaunt mit den Augen, der ruhige Stolz, mit welchem sie gute Gesinnung erwies, waren wunderlich bei einer Jungfer vom Dorfe. In dem unsicheren Scheine des Feuers erkannte er eine prachtvolle Gestalt von vollen Formen, ein großes Antlitz mit leicht gebogener Nase, das blonde Haar in starken Zöpfen um das Haupt geschlungen. Er sah, daß sie jung war, und ihm kam vor, als ob sie ein schönes Weib sein würde, wenn der finstere Zug um Stirn und Mund verschwände. Während Gottlieb mit dem Buben für die Pferde sorgte und die Säcke bei seiner Ruhestätte zurechtlegte, setzte sich Bernhard in die Nähe des Pfarrers, welcher das sichtbare Haupt der Gemeinde war.

»Wir hofften hierzulande bessere Sicherheit zu finden«, begann [] er. »Ich bedauere, ehrwürdiger Herr, daß Ihr in hohen Jahren noch so Schweres erleben müßt.«

»Gewiß war es im ganzen eine schwere Zeit«, antwortete der Pfarrer mit düsterem Behagen, »das Lamm ist kahl gerupft und es wird nicht besser, sondern immer schlimmer. Denn, obgleich die Gemeinde in der letzten Zeit wieder etwas zugenommen hat, so sind doch die Herzen verhärtet. Es nutzt nichts, zum Vertrauen zu mahnen, wenn der Magen leer ist und das Elend durch große Löcher in die Häuser dringt. Kein Jahr, in dem wir nicht drei- bis viermal hierher geflüchtet sind und daheim ausgeraubt wurden; und dann bedenkt die Pest und die Bosheit mancher Dorfleute, die ihrem Seelsorger nichts Gutes wünschen, wenn er ihnen ihre Sünden vorhält.«

»Ihr habt in Eurer Jugend bessere Jahre gekannt«, versetzte Bernhard teilnehmend, »wir anderen gedenken nicht, daß es jemals anders war.«

»Ja, Herr«, bestätigte der Pfarrer, der Erinnerung froh, »noch vor sechzehn Jahren hatte meine Kirche Fenster und zwei silberne Kelche und ich führte den Klingelbeutel ein. Aber schon damals fing der Ärger an, als meine Beichtkinder die Köpfe zusammensteckten und murrten: ›Dieser Pfarrer will etwas Sonderliches sein, er will ein Klingelsäcklein in die Kirche bringen, was niemals gebräuchlich gewesen ist, und wir legen nichts hinein!‹ Damals aber folgten sie mir zuletzt doch noch, ja, die Offiziere der schwedischen Einquartierung gaben, und wir unterstützten damit noch fremde Exulanten. Jetzt aber wandert das Säcklein nicht mehr, sogar die Klingel haben die Diebe genommen. Von vierzig Pferden sind noch vier übrig, und die Weiber spannen sich zu dreien oder vieren vor den Pflug, denn der Männer gibt es wenige. Seht diesen Talar«, – er wies auf sein verschlissenes Gewand –, »der Schlafrock darunter ist alles, was ich heut salviert habe. Susanne, sieh nach der Suppe«, mahnte er, sich unterbrechend, eine alte Magd. Diese goß auf dem Topfe in eine irdene Schale und trug die Abendkost mit einem Blechlöffel dem Pfarrer zu. Er hielt die kleine Schüssel unsicher in der Hand: »Ich müßte Euch einladen«, sagte er.

Der Gast dankte, und Gottlieb sprach von seiner Raststelle: »Wir sahen doch Wild im Walde und die Bauern schleppen sich mit Feuerröhren.«

»Ihr vergeßt, daß das Wild unserem gnädigen Herzog gehört«, antwortete der Pfarrer im Essen.

»Nun, beim Donner!« rief Gottlieb, »wenn der Herzog seinen Bauern nicht das Mehl im Kasten zu schützen vermag, so sollte er ihnen wenigstens die Tiere des Waldes nicht verbieten.«

Ein alter Bauer, der als Wächter am Eingange saß, lachte, aber ein warnender Blick Bernhards hemmte die dreiste Rede.

»Seine herzogliche Gnade würde wohl Nachsicht üben«, antwortete [] der Pfarrer, »aber der Herr Jägermeister ist strenge. Wenn der Herr Herzog im Walde jagt, so treibt die Gemeinde, aber viele sind widerspenstig geworden.«

»Der Herr jagt das Wild, und fremde Reiter jagen seine Bauern«, brummte Gottlieb aufsässig.

»Er schießt uns auch die Wölfe und läßt die wilden Hunde schlagen«, erklärte der Pfarrer, »aber er kann es nicht leiden, daß die Dorfleute mit Feuerröhren im Walde streifen.«

»Es scheint, daß diese sich wenig darnach kehren«, antwortete Gottlieb.

Vor ihm fiel, in Farnkraut gewickelt, ein Stück gebratenes Fleisch in das Moos, und eine Stimme hinter ihm sprach: »Nehmt, weil Ihr für den Bauern gesprochen habt.« Gottlieb wandte sich um und sah in die spöttische Miene eines kräftigen Schützen, der hinter dem Zaune stand. Er nickte seinen Dank und gebrauchte sein Messer an der verbotenen Kost.

Aus der Ferne vernahm man dumpfen Knall. Zuerst einzelne Schüsse, dann längeres Geknatter; die Weiber steckten ängstlich die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. Der Pfarrer aber faltete über seinem Löffel die Hände. »Dort schießt der wilde Feind Viktoria bei unseren ausgeraubten Häusern.«

Außerhalb des Verschlages riefen Stimmen in gedämpftem Tone, und durch einen Spalt im Zaune sah Bernhard weiter unten in einem Erdloch ein loderndes Feuer und Gestalten, welche sich darum bewegten.

»Was bedeuten die Stimmen und das Feuer?« fragte er den Pfarrer.

»Es ist der Amtsschreiber mit unseren Männern, welche dort unten für uns Wache halten«, antwortete der Pfarrer gleichmütig.

Bernhard stand auf und sprach leise mit seinem Begleiter.

Das letzte Abendrot war verglüht, am dunklen Nachthimmel glänzten die Sterne, nur im Norden lag ein rötlicher Schein über dem Horizont. Kein Windeshauch regte sich in den Wipfeln der Bäume, auch das Feuer war niedergebrannt und warf unsichere Lichter durch das Gehege der Flüchtigen. Bernhard näherte sich dem Lager der Schwester, und als er die tiefen Atemzüge der Schlummernden merkte, legte er wenige Schritte vor ihr seine Waffen ab, um sich zur Nachtruhe hinzustrecken.

»Verlaßt die Stelle«, gebot eine Stimme, »Ihr steht auf blutigem Grunde und Euer Lager wäre für Euch von übler Vorbedeutung.« Bernhard trat näher zu der Warnerin: »Dort wurde vorzeiten einer erschlagen; seitdem treibt der Grund jedes Jahr die roten Nelken hervor, und wer bei Sinnen ist, meidet den Ort.«

»Ich danke Euch für diese Mahnung und außerdem für Größeres«, sagte Bernhard leise. »Ich bitte, beantwortet mir redlich die Frage: Ist die Schlafende hier unter den Dorfleuten sicher?«

[] »Ich hoffe, die Gefahr ist vorüber«, kam es aus dem Dunkel zurück. »Sagt Eurem Begleiter, daß er wach bleibe.«

»Nicht ihm, sondern mir gebührt die Wache für eine, die mir das Liebste auf Erden ist.«

»Habt Ihr jemand auf Erden, der Euch lieb ist«, war die Antwort, »so bedenkt auch, daß im Walde heilsamer ist zu schweigen als zu reden.« Die Jungfrau zog ihr Gewand zusammen und saß unbeweglich.

Es wurde still. Unter dem Laubdach des Waldes ruhten die Müden und die Geflüchteten. Da erklang in hellen Lauten eine Frauenstimme, langsam und feierlich tönten die Worte einer Schlafenden durch den Raum, wie eine Verkündigung: »Sehet, o sehet, ihr Armen und Mühseligen, die ihr in Finsternis und Todesschatten liegt! Oben am Himmel öffnen sich die Wolken, und heller Schein strahlt herab. Hoch über Sonne und Mond leuchtet ein Tempel, gebaut aus Morgenrot und Sternenglanz, und die Scharen der Seligen schweben hinauf, anzubeten. Sehet, der süße Herr sitzt auf goldenem Thron in seiner Herrlichkeit, er hält einen Blumenstengel in der Hand, daran sind blaue Glocken; und er winkt mich zu sich: Komm auch du, arme Seele. Ach Herr, mir war so bange auf Erden.«

Bernhard hatte sich aufgerichtet und beugte sich ängstlich über die Schwester, welche mit geschlossenen Augen dasaß, das Angesicht von freundlichem Traume verklärt. Dem fragenden Blick des Weibes, welches neben der Schwester kniete, antwortete er traurig: »Ihr ist eigen, zuweilen so im Schlafe zu sprechen.« Auch der alte Pfarrer war erwacht, faltete die Hände und starrte nach der Sprechenden, die Dorffrauen regten sich und traten näher. Wieder begann Regine: »Höret, ihr Frauen, ein lichter Engel schwingt die Flügel und ruft mit starker Stimme auf die Erde herab: Halte an, du armes Gesindlein, welches ruhelos durch Disteln und Dornen des Ackers dahinzieht, schirre die Rosse ab und treibe sie auf die Weide, denn ich verkünde Friede den Menschen und neue Herrlichkeit der Erde. Die sich haßten, versöhnen sich, auf den Feldern blüht der Weizen, und die Böcklein springen lustig in der Herde. Friede, Friede soll sein im deutschen Lande.«

»Alle, die ich sehe, sind weiß gekleidet zum Feste der Seligen, und ihre Gürtel sind golden. Eine aber sitzt neben mir in grauem Gewand, und die Schatten verbergen ihr Angesicht. Warum bist du allein fremd und traurig unter den Fröhlichen?«

»Wo seid Ihr, mein Bruder? Oh, kommt eilig, daß wir zum Tempel des Herrn hinaufsteigen, die Glocken läuten und ein weißes Gewand habe ich Euch zurechtgelegt; wo weilt Ihr? Ich fahre allein dahin zu den Seligen, ich suche Euch traurig mit meinen Augen, und ich sehe Euch nirgends.« – Sie seufzte tief: »Lieber Gott, schütze ihn, lieber Gott«, und sank auf das Lager zurück.

[] »Du treue Schwester«, rief Bernhard und winkte mit einer bittenden Gebärde dem Pfarrer zurückzutreten; auch die Weiber schlichen nach ihrer Schlafstätte. Zu der Jungfrau Judith aber, welche der Schlummernden leise das Haupt zurechtlegte, sagte er: »Sie schläft jetzt fest, und morgen weiß sie nichts von allem, was sie gesprochen, und grämt sich, wenn man zu ihr davon redet.«

Wieder wurde es still im Gehege, bis vom Norden her ein graues Licht über den Himmel zog, der Vorbote des Morgens; aber noch lag das Dunkel auf dem Waldboden, als weigere sich die Erde, den schwachen Schein von oben aufzunehmen. Unten im Kesseltal rührte sich's, Boten gingen und kamen und heftige Reden und Antworten summten nach der Höhe. Bernhard erwachte aus leisem Schlummer, er fühlte den Schmerz seiner Wunde und blickte fröstelnd um sich, noch lag die Schwester regungslos unter der warmen Hülle, das bleiche Antlitz auf den Arm gestützt. Aber als er die Stelle neben ihrem Haupte suchte, wo das fremde Mädchen gesessen hatte, fuhr er zurück, denn ihr Angesicht war in das einer runzligen Alten verwandelt, und die Alte winkte und lächelte und wies auf den Eingang des Geheges. Der Bauer am Eingang war verschwunden, aber Pieps kauerte dort an dem Zaune, wies mit der Hand in den Talkessel, hob drei Finger in die Höhe und machte die Gebärde des Kehlabschneidens. »Sahest du Feldzeichen der Getöteten?« fragte Bernhard leise. »Rot«, versetzte Pieps. – »Ist die Luft rein?« – Der Bube nickte.

Bernhard wies auf die Schwester zurück, und Pieps glitt in Reginas Nähe auf den Grund.

Vorsichtig schritt Bernhard zwischen den Baumstämmen an den Rand des Hochwaldes und blickte über die Berge und Baumwipfel hinaus in den Nebel der Ebene, während in der Nähe die ersten leisen Vogelstimmen das beginnende Leben des Tages verkündeten; die Trillerche, welche im Laubholz die Nachtwache hält, erhob ihren kurzen Ruf, bald pfiff die Amsel, ihr folgten viele kleine Sänger, vom Himmel fiel ein rosiger Schein auf die höchsten Gipfel und glitt langsam herab an den Stämmen. Es war so feierlich und friedlich zwischen den Bergen und Bäumen, als hätte nie der Menschen Unruhe, Eigennutz und Haß einen Weg in die stille Wildnis gefunden. Auch der frische Gesell, dem jetzt das Frühlicht sein verblichenes Antlitz rötete, fühlte etwas von dem Frieden, obgleich er sich des Morgens lieber am brodelnden Feldkessel seiner Kameraden gefreut hätte.

Seitwärts knisterte ein dürrer Ast. Eine hohe Frauengestalt schritt, das Haupt nach vorn geneigt, langsam durch Heidekraut und Ginster. Sie suchte am Boden, zuweilen kauerte sie zwischen den hohen Wedeln des Farnkrautes nieder, und dem Manne war, als vernehme er ihr leises Murmeln, dann erhob sie sich wieder und barg Gepflücktes [] in einem Tuche. Er dachte, daß sie heilkräftige Kräuter sammelte, und da er sich scheute, sie bei ihrem geheimen Werke anzureden, trat er hinter den Baum. Doch konnte er den Blick nicht von ihr abwenden; sie ging so geräuschlos und feierlich dahin, in dem dunklen Gewande und verhüllten Haupte einem Geiste der Dämmerung vergleichbar. Vor ihr bewegten sich auf dem Boden kleine dunkle Schatten; sie huschten durch das wilde Kraut, hoben sich in die Luft und verschwanden wieder am Boden. Als die Frau einmal dem Standort des Mannes näher kam, erkannte er zwei Vögel, welche wie Hündlein um sie herumliefen; endlich schwang sich der eine auf die Spitze eines Strauches und pfiff das Morgenlied der Amseln in das Tal hernieder als Antwort auf den Ruf seiner wilden Stammgenossen. Bernhard vermochte jetzt auch die edlen Züge des Angesichts zu erkennen, wenn es sich dem Lichte zu wandte. Nur einmal richtete sie die Augen nach dem Baume, als sie das Geschrei eines Kauzes hörte, welcher seinen Gesellen zur Heimkehr ermahnte, aber sie verriet durch kein Zeichen, daß sie den fremden Mann erblickt hatte, und wandte sich langsam und suchend wieder dem Lager zu.

Doch hatte sie ihn gesehen; denn kurze Zeit darauf stand sie neben ihm. Die rosige Farbe ihrer Wangen ließ nicht erkennen, daß sie die Nachtruhe entbehrt hatte, sie sah ihm voll ins Gesicht wie eine Herrin, welche die Miene eines Untergebenen mustert. Freudig grüßte Bernhard: »Daß ich der Jungfer vor Sonnenaufgang begegne, ist eine gute Vorbedeutung für den Tag.«

»Das Gute, welches Euch der Tag bringen soll, erwartet nicht von uns«, antwortete sie ruhig. »Was Ihr in der Nacht unter den Waldleuten erfahren habt, bewahret still für Euch. Haltet Euch in der Nähe des Pfarrers, wenn wir in das Dorf zurückkehren, denn die Männer haben Argwohn. Sie meinen, Ihr müßt zu der Partei gehören, welche uns in dieser Nacht die letzten Kühe rauben wollte.«

»Der Raub ist mißglückt«, antwortete der Fremde. »Eure Nachbarn waren die Stärkeren.«

»Die Bauern gebrauchen jetzt das Grabscheit, damit nicht ruchbar werde, was in der Nacht geschehen ist«, fuhr sie fort. »Der Bauer erschlägt jeden Soldaten, dessen er heimlich Herr wird, der Rache und der Beute wegen; und das Bauernmädchen ist stolz darauf, wenn sie sich ein Brusttuch aus der Feldbinde eines Offiziers schneiden kann, den ihr Liebster mit schwarzer Erde zugedeckt hat. Darum werdet Ihr bei unserm geplagten Volk keine gute Gesinnung finden, und ich rate, achtet auch auf das Futter und auf die Hufe Eurer Pferde, damit ihnen nichts zustoße, was Eure Reise hemmt.«

»Warum haltet Ihr mich für einen Offizier?« fragte Bernhard.

»Ihr trugt sonst eine Feldbinde auf Eurem Rock«, antwortete die Jungfer, flüchtig über seine Schulter sehend.

»Verzeiht eine Frage, Demoiselle.«

[] »Mein Name ist Judith Möring«, antwortete sie kurz.

»Dann also, werte Jungfer Judith, haltet mir meine Neugierde zugut. Ihr lebt, wie ich erkenne, unter den Bauern; seid Ihr das Herrenkind des Dorfes?«

Ein trauriges Lächeln zog über das Gesicht des Mädchens, »Ich bin eine Waise, mein Vater kam als Flüchtling in das Dorf, da ich noch ein Kind war. Seit er tot ist, dulden sie mich, obgleich ich in der Fremde geboren bin.« Sie wies in das Tal: »Dort bin ich aufgewachsen zwischen Baum und Stein. Ich bin gewöhnt, aus dem Dorfe nach dem Wald zu flüchten, und habe oft von hier hinabgesehen wie heut, ob eine Rauchwolke mir verkündet, daß meine letzte Zuflucht auf Erden von den Soldaten niedergebrannt ist.«

»Auch ich sehe in die Ferne nach den Türmen der Stadt«, antwortete Bernhard teilnehmend, »und ich bin unsicher, ob sie uns ein gastliches Obdach gewähren wird. Denn ich suche für meine Schwester eine Stätte, wo sie weilen kann bis auf bessere Zeiten, die wir immer noch hoffen.«

»Wollt Ihr bei uns bleiben?« fragte das Mädchen schnell.

»Ich habe, wie Ihr vernahmt, bei Eurem Herzoge ein Geschäft und muß wieder in die Fremde.«

»Ihr wollt wieder zu einem Heere der Mordbrenner, welche das Land verderben? Ich frage nichts mehr, fahret dahin!« Sie wandte sich ab und schlug die Arme übereinander.

»Nicht jeder Soldat ist ein Mordbrenner, liebe Jungfer.«

»Wie dürft Ihr mir sagen, daß ich Euch lieb bin?« antwortete das Mädchen über die Schulter, »solche Höflichkeit spart für andere, welche vielleicht williger darauf hören. Ich bin Euch fremd, und ich bin Euch nicht mehr wert als die Ringeltaube dort auf dem Ast, oder als die Katze, welche vor einer Haustür sitzt, an der Ihr vorbeireitet. Mißbraucht Eure Stimme nicht zu Geschwätz.«

»Zürnt nicht«, antwortete Bernhard betroffen über die herbe Abweisung, »ich bin ein ehrlicher Knabe und wollte Euch nicht durch Unwahrheit verletzen. Gestattet mir wenigstens, daß ich Euch sage, wie es mir von Herzen lieb ist, Euch in der Wildnis gefunden zu haben, denn Ihr wart gütig gegen mich und meine Begleiter. Wisset, da Ihr mich für einen Soldaten haltet, daß der Kriegsmann sich noch mehr freut als ein anderer, wenn er irgendwo freundlichen Gruß und eine gute Gesinnung erkennt; denn sein schweres Amt ist, anderen zu schaden, und er weiß, daß die friedlichen Leute ihn verwünschen.«

»Wie er es wert ist. Ihr dient den Fremden; seid Ihr schwedisch?« fragte sie.

»Ich bin von den weimarischen Völkern.«

Die Jungfrau wandte sich ab und machte eine Bewegung, welche ihm Entfernung gebot; aber Bernhard, welcher gedachte, daß der Unwille gegen die französische Dienstbarkeit deutscher Soldaten in [] vielen lebte, fuhr eifrig fort: »Duldet, daß ich noch erzähle, woran Euch, wie ich merke, wenig gelegen ist. Die Regimenter haben, weil sie Deutsche sind, den Franzosen verlassen. Vor wenigen Tagen haben wir uns mit dem Marschall und mit unseren alten Offizieren, welche uns verrieten, gerauft, und diesen Säbelhieb erhielt ich von meinem eigenen Rittmeister.«

Die Jungfrau kehrte ihm das erblichene Angesicht zu und fragte mit rauher Stimme: »Warum ließt Ihr Euch schlagen, anstatt selbst zu treffen?«

»Auch mein Gegner erhielt sein Teil.«

»Ihr habt ihn getötet?« fragte sie fast schreiend.

»Weiß nicht. Ihn trug sein flüchtiges Pferd von dannen. Er war ein Edelmann von diesseits der Berge«, setzte er hinzu.

»Wie war sein Name?« klang es heiser aus ihrem Munde. Bernhard nannte den Namen. Mit einem Schrei schlug das Mädchen die Hände vors Gesicht.

»Es steht ein Wort des Herrn geschrieben: Die Rache ist mein«, begann sie nach langem Stillschweigen. »Meint Ihr auch, daß es unrecht ist, sich an seinen Feinden zu rächen?«

»Ich bin Soldat, und meine Ehre gebietet, loszuschlagen, wo mir eine Kränkung widerfährt.«

»Ich bin ein Weib, und, verzeihe mir der Himmel, ich habe zuweilen dasselbe gedacht.« Sie faßte ihn am Armgelenk und sprach, seine Hand schüttelnd, heftig: »Ihr sollt nicht uneben von mir denken, hört zu: Der Mann, den Ihr nanntet, warb vor Jahren um ein Mädchen, das einzige Kind eines flüchtigen Dorfpfarrers. Die Törin hörte gern auf seine schmeichelnden Worte und träumte davon, seine Hausfrau zu werden. Da verschwor er sich einst in der Trunkenheit vor ruchlosen Buben seinesgleichen, sie trotz ihrem Widerstande zu gewinnen. Er drang in ihr Haus, dessen Tür sich ihm nicht öffnen wollte, und schleuderte den alten Vater, der gegen ihn rang, so hart auf den Stein der Schwelle, daß der Alte nicht wieder aufstand. Die Jungfrau hatte sich in den Wald gerettet; als sie am Morgen in das Haus zurückkehrte, sagten ihr die Leute, daß sie eine Waise war; der Bube aber ritt ungefährdet über die Berge zu den weimarischen Völkern. – Wer hat Euch die Wunde verbunden?«

»Die Schwester hat darin gute Wissenschaft«, antwortete der erstaunte Bernhard, »doch dachte ich, einen Medikus der Stadt zu Rate zu ziehen.«

»Wenn Ihr erlaubt, den Schaden zu sehen, vielleicht vermag ich Euch zu heilen«, sagte sie bittend. Unter dem Zauber ihres kräftigen Wesens nestelte Bernhard bereitwillig an seinem Wamse.

»Nicht hier«, gebot die Jungfrau, »noch ist die Sonne nicht über den Bergen, und was in der Nachtluft schwebt, ist heillos für offenen Schaden. Weicht zum Lager, ich folge Euch.«

[] Bernhard trat scheu zurück; als er sich umwandte, sah er sie auf dem äußersten Vorsprung des Felsens stehen, die Arme gekreuzt, das Haupt geneigt, die beiden Vögel liefen und flatterten um sie her.

In dem Gehege fand er Gottlieb mit den Pferden zum Aufbruch bereit. Regine kam ihm ängstlich entgegen. »Die Weiber starren mich mißtrauisch an«, klagte sie, »ich wollte, wir wären wieder allein im grünen Wald.«

Bernhard wies tröstend nach dem Morgenhimmel. »Steigt die Sonne über die Berge, so denke ich, brechen wir auf.«

Auch der Pfarrer erhob sich, schüttelte die Waldstreu aus seinem Talar und begann: »Unter Anwünschung eines guten Morgens allerseits empfehle ich den Gegenwärtigen, sich mit mir zu einem Buß- und Klagelied für Abwendung der Feindesgefahr zu vereinigen.« Ihn unterbrach der eindringende Amtsschreiber; mit finsterem Blick und ohne Gruß eilte er an den Fremden vorüber: »Beeilt Euch, ehrwürdiger Herr, die Luft ist rein, die Räuber sind abgezogen.«

Die Weiber regten sich in froher Geschäftigkeit um die Kinder und die geflüchtete Habe. Der Pfarrer aber ließ sich in seiner Pflicht nicht beirren und verkündete: »Demnach lege ich an das Herz, zu einem kindlichen sowohl Dank- als Freudenliede für unsere Rettung aus Todesgefahr zusammenzutreten.« Doch bevor das Danklied intoniert wurde, sah er unzufrieden in die Runde und fragte: »Wo sind die Nachbarn, wo sind eure Männer?« – Niemand antwortete; endlich kam aus einer Frauenkehle: »Sie halten Wache.« – »Sie sind über der Teilung«, verriet unbesonnen eine andere.

»Wenn sie Speise und Trank zu verteilen haben, so mahne ich, daß sie auch ihren alten Pfarrer nicht vergessen.« Und der arme Herr begann mit zitternder Stimme das Lied.

Regine neigte sich über die gefalteten Hände, und ihre Andacht war wohl die wärmste, denn die Dorffrauen kamen zögernd herzu, und der Schreiber drehte unruhig an seinem Hute, Bernhard aber blickte seitwärts auf die Jungfer Judith, welche geräuschlos eingetreten war und die Augen dem goldenen Licht des Morgens zuwandte.

Die Geflüchteten drängten aus dem Gehege, Weiber und Kinder liefen, mit Bündeln beladen, in unruhiger Erwartung den Talweg hinab, und die bewaffneten Männer, welche voranzogen, hatten Mühe, die Aufgeregten zurückzuhalten. Bernhard bot, der erhaltenen Warnung eingedenk, dem alten Pfarrer den Sitz auf seinem Pferde an, und da dieser sich bescheiden gegen die Erhöhung sträubte, so schritt auch er, die Pferde führend, zu Fuß an seiner Seite, ein wenig beruhigt durch die Zuversicht seines Gefährten Gottlieb, der mit den Bauern Bekanntschaft gemacht hatte und wohlwollend aus seinem Tabaksbeutel für ihre Holzpfeifen mitteilte. »Die Hunde haben außer Montur und Geld der kaiserlichen Reiter auch einige [] Pferde erbeutet und im Wald versteckt«, raunte er Bernhard zu, »ihre jungen Burschen lauerten gestern abend weiter unten auf unserem Wege, und wir könnten jetzt arkebusiert sein, wenn nicht die Jungfrau ein Einsehen gehabt hätte.«

In der Nähe des Dorfes, wo sich von steiler Berglehne ein gewundener Pfad zur Straße zog, hielt die Gemeinde an. Die Landleute schrien und jauchzten, als sie aus dem dichten Tannengehölz Brummen und Gebrüll der Rinder hörten. Eine kleine Herde von Kühen und Jungvieh kam in lustigen Sprüngen herab, getrieben von Knaben des Dorfes; lauter als über die eigene Rettung freuten sich die Dorfleute darüber, daß ihre beste Habe im Waldversteck den Feinden entgangen war. Die Kinder liefen im Haufen den Tieren entgegen. Auch Judith rief: »Bleß«, und lockte eine stattliche Kuh, die stärkste der Herde. Das Tier leckte die Hand seiner Herrin, und Bernhard, welcher jetzt in der Nähe ritt, hörte, daß die Jungfer sich mit ihr unterhielt wie mit einer Vertrauten. »Wie war Euch die Nacht im Heidekraut, junge Frau? Habt Ihr Euch vor den Wölfen geängstigt?« Und die Kuh brummte ihre Antwort und schritt bedächtig im Zuge nach dem Dorfe, als Judith ihr liebkosend die Hand zwischen die Hörner legte.

Im Talgrunde lag das Dorf an beiden Seiten des Bergbaches, der weiß über die Steine schäumte. Zwischen den bewohnten Hütten von Tannenholz, welche die Zeit grau und braun gefärbt hatte, lag das Gebälk zertrümmerter Häuser, eingefallener Ställe und Scheuern.

»Die Räuber haben geplündert«, rief der Schreiber und wies auf das zerschlagene Hoftor des nächsten Hauses. Da schlug die Freude plötzlich in Jammer um, die Leute fluchten und rannten auseinander nach ihren Hütten; dort fanden sie aufgeschlagene Truhen, zerbrochene Stühle und den Vorrat, der etwa noch in Scheuer und Keller gewesen war, verzehrt oder verwüstet, von dem Geflügel des Hofes nur die ausgerauften Federn. Die Fremden standen allein auf der Straße, nur der alte Pfarrer, welcher ihnen auf dem Wege ehrenhalber ein Obdach angeboten hatte, harrte noch eine Weile bei ihnen aus und sah trübselig nach dem Pfarrhofe, in welchen seine Magd vorausgelaufen war. Judith hielt mit ihrer Kuh und der alten Frau, ihrer Dienerin, schweigend in der Nähe. Die Pfarrköchin kam mit gehobenen Armen zurückgerannt. »Alles zerschlagen, auch die Bibel zerrissen und beschmutzt.« Einige Weiber liefen aus den nächsten Häusern und stimmten mit ihr Wechselklage an. »Nur das Haus der Jungfer Judith ist unversehrt«, schrie die eine.

»Die Jungfer versteht die Kunst, den Leuten die Augen zu verblenden«, rief die neidische Magd des Pfarrers.

Judith lächelte: »Das Haus liegt abseits im Schatten des Berges, und die Nacht war finster.« Sie trat zu Regine. »Ist es Euch genehm, so kommt mit mir.«

[]

Die Reisenden folgten dem Mädchen auf einem schmalen Stege über den Bach und durch den Wiesenrand dahinter. Auch dies Haus, in eine Krümmung der Bergwand eingebaut, war aus Holzbohlen gefügt, aber ein Oberstock sprang mit seinen kleinen Fenstern über den unteren hervor, und ein starker Holzzaun umschloß das kleine Gehöft. Judith holte einen großen Schlüssel aus ihrer Ledertasche und öffnete die Zauntür, dann wies sie auf ein wüstes Haus, das in der Nähe stand. »Dort mögen die Herren sich und die Pferde unterbringen, denn hier fehlt es an Gelaß, doch die Ladung der Pferde rate ich bei uns Frauen zu bergen, auch die Herren selbst müssen zu uns in die Küche kommen, denn dort drüben ist alles ausgeleert.«

Sie zog Regine an der Hand in das Haus, während Gottlieb mit dem Knaben die Pferde entlastete und unter Vortritt der alten Ursula nach dem Nachbarhause führte. Als Bernhard die Stufen hinaufstieg, stand die Jungfrau im Hausflur und wies mit der Hand auf die Schwelle. »Setzt Euren Fuß das erstemal nicht auf den Stein«, sprach sie traurig, »damit Euer Eintritt Euch nicht Unheil bereite.« Aber als sie mit den Geschwistern in der Stube stand, grüßte sie fröhlicher: »Seid willkommen! Es ist alles unverändert. Die Katze hat gut hausgehalten«, sprach sie rühmend, als eine große schwarze Katze vom Ofen vor ihre Füße sprang und schmeichelnd ihr Fell am Gewande rieb. »Es ist auch Mehl vorhanden und Milch im Keller, und wenn die Jungfer mit ihren Begleitern fürliebnehmen will, so wird sie hier nicht schlechter daran sein als irgendwo im Dorfe.«

Die Geschwister sahen sich neugierig in der Stube um. Es war ein wohnlicher Raum mit dem Hausgerät einer stattlichen Bauernwirtschaft, ein Tisch, Holzstühle, die Ofenbank, das Spinnrad, die buntbemalte Truhe, alles sauber und behaglich, um die Fenster sogar Vorhänge von Leinwand mit gesticktem Saume, an den Wänden aber mehrere Holzfächer, auf denen außer dem Geschirr viele große und kleine Flaschen und andere Gefäße von seltsamer Form standen, dazwischen Kräuterbündel und große Bücher. »Wundert Euch nicht über die Apotheke an meinen Wänden«, sagte Judith, »ich bin bei Krankheiten ein Beirat und Medikus in den Walddörfern noch von meinem seligen Vater her, der aus der Heimat große Kräuterkunde mitbrachte und wegen seiner Heilkunst berühmt war.« Und wieder trat sie zu Regine: »Gern möchte ich mit Euch an der Wunde des Herrn Bruders meinen guten Willen erweisen, denn ich kann Euch einen Balsam geben, der oft wundergleich geholfen hat.« Regine sah den Bruder fragend an und wunderte sich, als dieser ohne jede höfliche Rede und Entschuldigung sogleich seinen Arm darbot.

Die Frauen waren beide eifrig bei dem guten Werke, und als dasselbe vollbracht war, dachte auch Regine, daß die Fremde von freundlichem Herzen sei, und sagte, die sichere Gewandtheit bewundernd: »Ihr seid meine Meisterin.« »Der Schaden ist größer, als der Herr [] meint«, mahnte Judith ernsthaft, »und hätte ich Gewalt über Euch, so würde ich Euch zwingen, einige Wochen still zu rasten.«

»Wenn Ihr es gestattet, spreche ich wieder vor«, antwortete Bernhard, »denn mein Herz ist voll Dankes; ich weiß jetzt, Jungfer, daß Schwester Regine und ich durch Euch in dieser Nacht einer Lebensgefahr enthoben wurden.«

»Es ist gefügt worden, daß ich mit Euch zusammentreffen sollte«, antwortete Judith, »beide haben wir's nicht gewußt und nicht gewollt.« Und mit verändertem Tone setzte sie hinzu: »Jetzt aber sorgen wir nicht um Vergangenes, nur um das Nächste, daß wir euch Herren die Tageskost bereiten. Vertraut mir die Jungfer Schwester an und kommt bei guter Zeit mit Eurem Gefährten zu Gaste bei der Armut. Die Jungfer Regine aber bitte ich, sich's bequem zu machen, und wenn es ihr recht ist, weise ich ihr auch den Keller, die Küche und ein Stübchen, wo sie sich ausruhen kann.«

Gottlieb saß in der verfallenen Hütte und schraubte zufrieden an seinem Karabiner. »Dies ist das beste Quartier, das wir seit lange gehabt haben«, lobte er gegen den eintretenden Kameraden, »der Regen könnte durchlaufen, und als Hausgenossen spüre ich nur Mäuse und Sperlinge, aber die Nachbarschaft ist günstig. Es sind kluge Frauen, und die junge ist in ihrer Art eine Prachtjungfer. Und was das hauptsächlichste ist, wir sind hier angenehm und gern gesehen. Seit vielen Jahren ist mir dergleichen nicht vorgekommen. Die Alte hat Heu geschafft, und sie sprach sogar etwas von einem Säcklein Hafer. Ich sage dir, dies ist ein gesegnetes Land, Vivat Ernestus! Vermögen wir noch die Tür zu schließen, so sind wir hier in Abrahams Schoß.«

»Wie magst du dich hier ins Quartier legen? Sind die Pferde gefüttert und die Wege geöffnet, so reiten wir zum Herzoge.«

Aber dieser Vorschlag fand wenig guten Willen. »Laß dir sagen, Bruder«, begann Gottlieb, die Asche seiner Pfeife ausklopfend, »daß ich in der Stadt Gotha mehr Kundschaft habe, als mir lieb ist. Und um dir alles zu vertrauen, ein Weib von mir haust an diesem Orte, und deshalb ist er mir verleidet.«

»Das hast du mir nie bekannt«, versetzte der erstaunte Bernhard.

»Ich war nicht stolz auf mein Gespons. Sie war zu ihrer Zeit eines Schlossermeisters Witwe, nicht mehr jung, aber die Nahrung war leidlich. Sie riet mir, da ich als Altgeselle bei ihr arbeitete, ich würde mich gut stehen, wenn ich sie heiratete. Jedoch sie erwies sich als Hausdrache; ich versuchte es mit Leder und mit Holz, aber nichts wollte helfen, und da ich das Eisen bei ihr nicht anwenden konnte, so nahm ich holländischen Abschied, weil ich dachte, daß ich mit dem Kriegsteufel eher auskommen würde als mit dem Eheteufel.«

»Wie«, lachte Bernhard, »du Eisenbeißer fürchtest dich vor einem Weibe? War sie älter als du, so kann sie längst dahin sein.«

[] »Du sprichst leichtsinnig, weil du sie nicht kennst«, antwortete Gottlieb bekümmert. »Ihre Rachsucht ist terribel, und ich habe heute von der Alten erfahren, daß sie noch in diesem Jammertal verweilt und scharf nach mir aussieht, denn sie ist in der Bruderschaft der alten Weiber wohlbekannt. Und kurz, mir wäre lieb, wenn du unsere Sache mit dem Herzog allein ausmachen könntest, sintemal ich außerdem sein Landeskind bin und nicht gern auf seine Fragen antworten möchte. Der Weg zu unseren Abgesandten führt dich doch über dies Dorf zurück.«

Die Alte lud zur Mahlzeit, sie forderte auch den bereitwilligen Pieps in die Küche, und als Gottlieb vertraulich einwendete: »Aber Mutter, die Pferde im leeren Hause«, da tröstete die Magd: »Ich bleibe derweilen hier und bin euch gut, daß die Dorfleute mir nichts wegnehmen.« – Gottlieb sah sie schlau an, und auch die Alte lachte. »Furcht ist allemal gut, selbst wenn es nicht Furcht des Herrn ist; auch ein alter Kriegsmann versteht sich mit dem Schwarzen auf gutem Fuß zu erhalten.« Die Männer fanden in Judiths Stube den Tisch gedeckt, Regine kam dem eintretenden Bruder in einer Dorfhaube mit der Schürze entgegen und half geschäftig, wie ein Kind des Hauses die einfache Kost herzutragen. Judith aber sprach das kurze Tischgebet und lud zum Sitzen ein, wie Bernhard meinte, mit dem Anstand einer Königin. Er sah sich während des Essens vergnügt um. »Wo sind die Reisebegleiter unserer Jungfer Wirtin? Ich sehe die Amseln nicht.«

»Sie sind in der Stube nicht säuberlich«, entschuldigte das Mädchen, »und flattern hier nebenbei in der Kammer; dort können sie durch ein Guckloch ins Freie, sooft sie wollen. Sie haben mir manchmal Sorge gemacht, als der selige Vater hier mehrere Jahre die Stelle des Pfarrers versah; denn der frühere war in der Kriegsnot gestorben und der jetzige noch nicht hergeschickt; damals fehlte auch der Küster, und ich mußte als Gehilfin des Vaters alle Kirchenämter versehen, ich zog die Glocke, bekleidete den Altar und sang der Gemeinde vor; es waren nur wenige, welche außer uns im Dorfe beharrten. Da wollten sich meine kleinen Gesellen nicht zu Hause verhalten, und sie flogen mir durch ein zerschlagenes Fenster in die Kir che nach, rannten um den Altar und behandelten den Taufstein ärgerlich und unchristlich. Es kam vor, daß der Vater nur gepredigt hat vor zwei alten Frauen, vor mir und den Amseln, und einmal pfiff das Männchen mitten im Vaterunser über der Kanzel sein Lied. Auch sie halten Gottesdienst auf ihre Weise, so gut sie es verstehen.«

Die stille Freude machte ihr Antlitz so schön, daß Bernhard sie mit unverhohlener Bewunderung betrachtete. »Zürnt nicht der dreisten Frage: Wie konntet Ihr dies einsame Leben unter dem wilden Volk ertragen?«

»Ja, es ist einsam hier«, antwortete Judith mit trübem Blick. »Die [] liebe Sonne kommt auch im Sommer spät und scheidet früh; im Winter sperrt der Schnee zuweilen die Pforte, und ich bin mit meinen Gedanken allein, mit der alten Ursel und mit den Haustieren. Dann schwatzt und erzählt jedes in seiner Weise. Doch fehlt es mir niemals an Zuspruch von Armen und Kranken, welche um Rat fragen, auch werde ich oft nach auswärts geladen, und draußen am Rand des Waldes leben auf den adeligen Gütern einige Frauen, wenn sie nicht gerade in die Stadt geflüchtet sind, welche es gut zu mir meinen; dort helfe ich in den Notzeiten bei der Pflege.«

»Schrecklicher noch als die Einsamkeit ist die Gefahr unter dem Landvolk und dem Raubgesindel, welches umherstreift«, bedauerte Regine.

»Ich bin daran gewöhnt, auch ist mir die alte Ursel ein guter Schutz; sie ist klug und weiß mit den Leuten fertig zu werden.«

»Dennoch wundert mich«, fuhr Regine fort, »daß Ihr Euch nicht in die Stadt gerettet habt.«

»Mir gefiel nicht zu dienen«, antwortete die Jungfrau mit gehobenem Haupt; »hier habe ich ein Heimwesen, das mir der liebe Vater hinterlassen hat. Soll ich mich unter fremdem Dach um Gabe und Gunst bemühen?«

Bernhard stimmte warm zu. »Auch wir, Schwester Regine und ich, sind freudlos in der Welt, und uns ist es nicht so gut geworden, daß wir ein eigenes Obdach haben. Darum, werte Jungfer«, fuhr er bittend fort, »gibt mir Eure bewiesene Freundlichkeit den Mut, ein Gesuch an Euch zu richten, daß Ihr meine Schwester länger als heut bei Euch leidet, bis ich für sie gefunden, was wir begehren; auch mein Geselle wünscht als Salva Guardia im Dorfe zu bleiben, bis das Geschäft in Gotha vollendet ist.«

Und Regina hörte wieder mit Verwunderung, daß Judith feierlich antwortete: »Ihr habt ein Recht darauf, daß das Haus meines Vaters Eurer Schwester ein Obdach werde, solange Ihr es begehrt.«

Herzog Ernestus

Ein Bauer schlug heftig an die Pforte und rief in den Hof: »Der Herzog ist im Dorfe; er fordert die fremden Männer.«

Bernhard eilte hinaus, zögernd folgte sein Begleiter. Auf dem freien Platze am Gemeindehause hielten Bewaffnete, Jäger und Trabanten, in ihrer Mitte der Herzog, welcher die Berichte des Schreibers und des Pfarrers anhörte. Er nickte ein wenig auf den ehrfurchtsvollen Gruß Bernhards und beobachtete ihn, während er zu den Dorfleuten sprach, prüfend aus der Ferne. Er war ein hagerer Herr, den Jahren nach nicht alt, aber mit gefurchtem Antlitz und einem Zug von Trauer um den Mund, so daß man ihm ansah, er [] hatte Schweres erlebt. Endlich ritt der Jägermeister auf die Fremden zu und fragte von oben herab: »Ihr seid zur Nacht über den Wald gekommen; habt ihr etwas von den fremden Räubern gesehen?« – »Nur eine Rauchsäule in der Ferne und ein leeres Dorf.« »Ihr habt vorgegeben, einen Auftrag an herzogliche Gnaden zu haben. Wer seid Ihr?« Bernhard griff in das Wams: »Hier ist unser Kreditiv, welches ich dem Herrn Herzog in eigene Hand zu übergeben bitte.«

Der Jägermeister reichte das Schreiben dem Herzog; dieser las lange darin und sah wieder erstaunt auf die Abgesandten, endlich barg er das Papier in seiner eigenen Tasche, winkte Bernhard heran und gebot, daß die Umstehenden zurücktraten. »Ich kenne niemand von denen, welche Euch sandten«, sagte er, und Mißtrauen klang aus der Rede. »Was sucht der Herr Rittmeister König, wenn Ihr der seid, bei mir?«

»In einer importanten Sache erbitte ich ehrerbietig bei Eurer herzoglichen Gnaden Audienz.«

»Ihr habt einen Begleiter? Ist das jener Mann? – Und wie der Pfarrer berichtet, führt Ihr auch ein Weib mit Euch.«

»Meine Schwester«, antwortete Bernhard, »sie hat in jenem Hause ein Obdach gefunden.«

Wieder musterte der Herzog das Aussehen des Fremden. Die mannhafte Haltung mochte ihm gefallen, denn er schloß freundlicher: »Ihr traft es ungünstig mit Eurer Ankunft. Der Beamte hat Euch als Soldaten erkannt und behauptet, daß die Plünderer zu Eurem Volke gehören. Ich hoffe, er war im Irrtum. Ein Trabant, den ich zurücklasse, soll Euch morgen in der Frühe nach Gotha geleiten.« Er winkte den Abschied und hörte wieder auf die Klagen der Dorfleute.

Am nächsten Morgen ritt Bernhard mit dem Reiter des Herzogs der Stadt zu. Der Führer schaffte ihm Einlaß bei der Wache und hielt nahe am Tor vor einer Herberge: »Da Ihr von der schwedischen Salva Guardia, welche in der Stadt liegt, nicht beachtet werden wollt, so stellt Euer Pferd hier ein und folgt mir zu Fuß nach dem Schlosse.« Er wies die Richtung und ritt davon. Bernhard schritt durch enge Gassen nach dem Markte, er fand die Straßen voll von geschäftigen Menschen, die den Fremdling neugierig und forschend ansahen, viele unter ihnen in mangelhafter Bekleidung, mit bleichen und vergrämten Gesichtern. Auch die Häuser waren mit Einliegern überfüllt, noch in den Dachluken guckten Kinderköpfe und hing die Wäsche armer Leute. Aus den engen Höfen hörte er Gebrüll der Rinder, und neben den Hunden liefen grunzende Schweine vor den Haustüren. Denn viele Landleute waren nach der Stadt geflüchtet und hausten mit ihrem Vieh gedrängt in jämmerlichen Wohnungen. Vor wenig Jahren hatte überdies eine große Feuersbrunst den Ort verwüstet, nur die Hälfte der Häuser war aufgebaut, auf vielen [] Brandstätten standen zwischen verkohlten Balken ärmliche Holzhütten. Auch der Marktplatz war mit Bretterbuden und Leinwandzelten besetzt, an welchen armselige Frauen wuschen und kochten und halbnackte Kinder auf den Steinen spielten, dazwischen standen Rüsthölzer, geschichtete Ziegel und Kalkbühnen, Wagen mit Bauholz und Lehm. Überall belästigte Straßenschmutz, Geschrei und Zanken der Menschen, und Bernhard dachte mit Sorge, wie die Schwester in der wüsten und gefüllten Stadt ein Unterkommen finden werde. Über der Stadt aber erhob sich auf steiler Höhe ein gewaltiger Ziegelbau, das neue Schloß des Herzogs. Auch dort vernahm man das Geräusch der Bauarbeit, Hiebe der Äxte und laute Zurufe an eine lange Reihe geschirrter Pferde, welche die Dachbalken mit starken Seilen hoch hinaufhoben. Es war überall wenig zu sehen, was das Auge erfreute, aber aus dem Wirrwarr, der Not und Drangsal erkannte man doch schaffende Kraft. In den Werkstätten schnitten und pochten die Handwerker, an vielen Fenstern boten sich ausgestellte Waren, in den Kaufläden standen die Kunden, und die Schenken waren gefüllt.

Bernhard stieg den steilen Schloßberg hinauf und wurde von dem Trabanten, der ihn am Tor erwartete, eilfertig zu den Gemächern des Herzogs geführt. Ein Kammerjunker öffnete die Tür des Arbeitszimmers, und Bernhard stand dem Herzog allein gegenüber. Dieser hielt das Kreditiv in der Hand. »Ihr seid also Bernhard König?«

»Rittmeister der Leibkompanie von Alt-Rosen, deren Standarte ich sonst trug.«

»Wir lasen in den Avisen, wahrlich mit Bedauern, von einem Aufstand der weimarischen Völker, und wie ich sehe, sind es fahnenflüchtige Empörer, welche Euch zu mir deputiert haben.«

»Die Regimenter, welche mich gesandt haben, führen die alten Kornette und Fahnen, die sie zum großen Teil durch Eurer Gnaden Bruder empfangen haben, von dem wortbrüchigen Franzosen hinweg. Und weil sie das Andenken an den deutschen Kriegshelden Herzog Bernhard mit getreuen Herzen bewahren, stehe ich jetzt vor dem Angesicht seines erlauchten Bruders.«

»Ihr sprecht hohe Worte«, antwortete der Herzog, »sie rechtfertigen das unerhörte Unterfangen nicht.«

»Eurer herzoglichen Gnaden ist bewußt«, fuhr der Abgeordnete fort, »wie nach Herzog Bernhards Tode die Obersten des führenden Heeres mit der Krone Frankreichs paktierten. Von allem aber, was damals beschworen wurde, hat der Franzos uns nichts gehalten; seit vollends Graf Turenne als unser Feldhauptmann aus Frankreich geschickt wurde, hat man uns über alle Gewohnheit den Sold vorenthalten, so daß der Hunger Troß und Pferde im ausgesogenen Lande fraß; in die Kommandostellen drängten sich Franzosen, vornehme Gecken mit Affengebärden, prahlerisch und hochmütig, welche unsere [] Sprache nicht verstanden und sich damit rühmten, daß sie die deutsche Art verachteten. Unwillig trug der Soldat durch Jahre die fremde Dienstbarkeit. Als aber der Marschall sich rüstete, uns vom Elsaß aus in fremde Länder zu führen, klagten Offiziere und Gemeine über den Bruch des Vertrages, sie verweigerten den Marsch, und weil der Franzose uns mit seiner Gewalt bedrohte, forderte sich das Heer unsern Generalleutnant Rosen zum Führer und zog es aus dem Elsaß bei Straßburg über den Rhein zurück; Turenne aber setzte den Rosen hinterlistig gefangen, während dieser in guter Meinung zwischen dem Heere und dem Marschall vermittelte. Da kehrten die Regimenter dem treulosen Franzosen den Rücken und wandten sich nach dem Schwabenland. Turenne kam nachgerückt und gewann durch listige Versprechungen unsere Obersten und Offiziere, die auf sein Veranstalten, getrennt von ihren Soldaten, in städtische Quartiere gelegt waren. Die uns führen sollten, dieselben, welche den Widerstand gegen die Franzosen genährt hatten, verrieten unsere Sache. Doch die gemeinen Soldaten traten zusammen, und weil sie herrenlos und verkauft zwischen Feinden standen, wählten sie aus den alten Reitern sich selbst ihre Befehlshaber und schworen einander bei den Feldzeichen zu, als redliche Deutsche Blut und Leben miteinander daranzusetzen, nimmermehr aber dem falschen Franzosen zu gehorchen.«

Der Herzog murmelte: »Die Welt verkehrt sich! Die Herren sind Diener des Erbfeindes, und der verlorene Haufe handelt von der Ehre des deutschen Namens.«

»Vom Neckar zogen wir dem Main zu in fester Ordnung, doch noch immer kam uns der Franzose nach, bat und drohte; wir aber ließen ihm sagen, das Tuch sei zerschnitten zwischen ihm und uns. Nahe dem Main ersah er seinen Vorteil; als ein Hohlweg unsere Völker teilte, griff er die Nachhut an, wir aber schlugen ihn zurück«, fuhr der Bote mit leuchtenden Augen fort, »und der arge Mann entwich nach Frankreich.«

»Ihr warft den Turenne zurück?« fragte der Herzog ungläubig, »uns wurde geschrieben, daß der Hauptteil der Weimarischen bei ihm zurückgeblieben sei und nur schlechtes Volk entwichen.«

Unwillig rief der Bote: »Eine Lüge war's. Ich verberge Eurer herzoglichen Gnaden nicht, daß unser tapferes Heer zerrissen ist. Vier berittene Regimenter, die gesondert lagen, hielt er am Rheine von uns ab. Jedoch die Stärke blieb vereint. Es sind die acht Reiterregimenter Alt-Rosen, Mazarin, Fleckenstein, Wittgenstein, Ohme, Rußwurm, Taupadel, Schütze; dazu die Hälfte von Rosen-Dragoner und die letzte übrige Kompanie des alten gelben Regiments, das König Gustav Adolf selbst geführt.«

»Ihr nennt wohlberühmte Feldzeichen«, rief der Herzog erstaunt.

»Diese sind es, die mich zu Eurer herzoglichen Gnaden gesandt [] haben. Auch unsere Reihen sind gelichtet; mancher wurde weggelockt, dem der Mut versagte vor der unsicheren Zukunft, denn heimliche Boten kamen täglich von den Offizieren mit hohen Versprechungen. Den Schlechten aber mißfiel die strenge Kriegszucht, welche wir halten. Sie hatten auf Räuberleben gehofft, und wenn wir einen Lump arkebusierten oder an die Bäume hängten, so verschwanden seine Genossen in der nächsten Nacht; ich denke, diese vergingen im elenden Krieg mit den Bauern, bevor sie ihrer Freiheit froh wurden.«

»Dennoch seid ihr nicht besser daran«, entgegnete der Herzog, »jeder ehrliche Befehlshaber wird sich gegen euch rüsten, denn ganz unleidlich ist solcher Abfall und ein bedrohliches Exempel für alle Kriegsherrlichkeit.«

»Wir fürchten keine Gewalt«, antwortete Bernhard, »und haben noch wenig von fremdem Haß gemerkt; dagegen kann ich Eurer herzoglichen Gnaden nach Wahrheit versichern, daß wir bis jetzt nur Gunst genossen, denn wie zu einer reichen Braut, so ritten bei uns die Freiwerber ein: Kaiserliche, Hessen und Schweden. Wir haben die Wahl zwischen großen Potentaten, und wir meinen, daß uns jeder mehr verspricht, als er halten wird.«

»Und wollt ihr euch vermessen, im Kriege zu bestehen gegen alle und gleich wilden Wölfen durch die Länder zu trotten, damit euch jedermann erschlage?« fragte der Herzog.

»Wir suchen einen Landesherrn, der unseres Stammes und Glaubens ist, damit wir ihm als redliche Soldaten gehorchen, und darum, Herr Herzog, stehe ich hier, denn wir suchen Euch.«

Der Herzog trat zurück, und der Abgesandte fuhr fort: »Diese Botschaft senden Euch die alten Reiter Herzog Bernhards: als der Beste erscheint Ihr uns von den Brüdern unseres ruhmreichen seligen Herrn. Mancher unter uns hat seinen ersten Kriegsdienst zugleich mit Euch getan, da Ihr als Oberst in unserem Heere gebotet. Euch rühmt die allgemeine Sage als gottesfürchtig und gerecht, als einen Fürsten, der das Wohl seiner Zugehörigen nie vergißt und der zwischen harten und eigennützigen Gebietern den Vorteil des deutschen Landes höher achtet als den eigenen Nutzen. Auch ist uns wohl bewußt, daß unser teurer Herzog Bernhard, Euer Bruder, in seinem Testamente Euch zum Erben seines ganzen Heeres gesetzt hat. Und seine Regimenter, welche der Krieg noch nicht getilgt, denken jetzt daran, daß sie als Erbteil Euch zugehören. Darum erbieten wir, die Ihr verlorene Kinder des deutschen Landes nanntet, uns gegen Euch zu treuem Dienste, ob Ihr durch unsere Fäuste dazu helfen wollt, daß unser deutsches Land den ersehnten Frieden gewinne. Sind's auch acht Regimenter nur, zweitausend Mann in Reih und Glied, die heute durch mich vor Euer Angesicht treten, ich darf es sagen, Herr Herzog, die Spreu ist von uns weggeflogen, ein Kernvolk [] ist's, das dreifache Übermacht nicht fürchtet; und rühren wir in Eurem Namen die Trommel, so strömt in wenig Monden ein Heer zusammen, das Euch den Kaiserlichen und Schweden furchtbar macht.«

»War ich ein Kriegsmann«, entgegnete der Herzog in tiefem Ernst, »das Amt ist abgetan. Seit neunundzwanzig Jahren hat die Kriegsfurie Tod und Verderben in die Länder geführt; mein fürstliches Amt ist, zu erhalten und zu retten, was noch am Leben ist, nicht neues Blutvergießen aufzuregen. Ich weigere euch, was ihr mit hoher Mahnung von mir verlangt. Denn wenn ich wagen wollte, was für mich ein frevelhaft Beginnen wäre, ich könnte mir aus dem zerstörten Lande vielleicht einen größeren Lappen zu meinem Fürstenmantel schneiden, aber ich würde neue Steine legen in den Pfad, der jetzt zum goldnen Frieden für uns gebahnt wird. Und wenn ich für meinen und meines Hauses Vorteil nur um vier Wochen den Abschluß des teuren Friedenswerkes verzögern wollte, so wäre es vor Gott und meinem Gewissen ein schweres Unrecht.«

»Hoffen Eure herzoglichen Gnaden, daß der Frieden komme? Der müde Soldat glaubt nicht, daß er ihn erleben wird.«

»Wir alle harren zwischen Furcht und Hoffnung«, antwortete der Herzog. »Sind ohnedies die Schwierigkeiten zahlreich, die den Abschluß des Friedens verhindern, wie darf ich durch freches Unterfangen auch das umstürzen, was bereits in gutem Vertrauen beschlossen ist? Ein neues Heer schafft sich neuen Krieg, das solltet Ihr wissen; denn der Soldat vermag nicht von Luft zu leben und nicht von Hoffnungen auf den Frieden.«

»Herzogliche Gnaden gestatten mir zu sagen: Ein redlicher Herr, der seinen Feinden schreckhaft wird durch ein kriegshartes Heer und auf den Vorteil aller denkt, wäre wohl imstande, die Fürsten der protestantischen Partei in einem Bündnis zu konjungieren, die Sachsen, Hessen, Braunschweiger, den Brandenburger, und solches Bündnis, wenn es auch nur Neutralität begehrt, würde den Kaiser und die Fremden zum Frieden zwingen.«

»Die deutschen Fürsten konjungieren!« rief der Herzog, »Ihr kennt die Staatsräson nicht, die jeden verhindert, dem anderen zu trauen. Kann der gemeine Soldat in schwerer Stunde einmal den eigenen Vorteil vergessen, die großen Landherren können das nicht. – Wo habt Ihr Euer Heer verlassen, und wohin geht Euer Marsch?«

»Die Regimenter lagerten bei Neustadt, als ich von ihnen ritt. Sie wollten langsam heranziehen bis Wasungen.«

»An meine Grenzen?« fragte der Herzog, »und wieviel Köpfe zählt der Haufe?«

»Mit Reitern, Weibern, Buben und Kindern an achttausend Menschenhäupter, dazu dreitausend Pferde.«

Der Herzog schritt heftig durch das Zimmer. »Achttausend Mäuler, [] dazu dreitausend Rationen, sie verzehren in wenig Wochen mein ganzes Land. Ich weigere euch den Eintritt, soweit ich es vermag. Wollt ihr aber meinem fürstlichen Willen trotzen und euch in meinen Dörfern setzen, so werdet ihr selbst sehen, daß wenig darin zu holen ist. Bald wird der Hunger euch tilgen. In dem Nest der Grasmücke sitzt bereits ein Kuckuck. Meine Untertanen darben, weil wir den Schweden in Erfurt zu füttern haben.«

»Sorgen herzogliche Gnaden nicht«, antwortete Bernhard traurig, »wir meiden den Bezirk, welcher dem schwedischen Kriegsvolk kontribuiert, und werden Euer Land nicht beschweren, wenn wir nicht dazu gezwungen werden.«

Beide schwiegen still, bis Bernhard wieder begann: »In treuer Meinung und hohem Vertrauen sandte mich unser Volk zu einem Herrn, den alle Welt als klug und redlich rühmt. Sind Eure herzogliche Gnaden außerstande, mich mit einer freundlichen Antwort zu entlassen? Viele unter uns waren der Hoffnung, daß dem Herzoge von Gotha, auch wenn er nicht heilsam befinden sollte, mit eigenem Kriegsheer ins Feld zu ziehen, doch eine wehrhafte Mannschaft willkommen sein könnte. Die Mehrzahl unserer Soldaten ist aus Thüringen und Sachsen, sie würde sich wohl zu der Bevölkerung des Landes schicken. Auf dem Wege hierher erfuhr ich, daß fremdes Kriegsvolk ungebändigt im Lande beutet, ich sah viele leere Höfe und wüste Äcker, gern würde der Soldat, wenn er nicht mehr zum Schutze des Heimatlandes gebraucht wird, mit Weib und Kind die leeren Höfe besetzen und einem huldvollen Herrn, der ihn seiner Dienste entläßt, als friedlicher Untertan gehorchen.«

Der Herzog trat zu dem Sprechenden: »Ihr führt die Sache Eurer Kameraden, wie ich erkenne, mit Verstand, und ich will ehrlich auf Euer Vertrauen antworten. Wenn ich euch mein Gebiet öffne und euch in meinen Dienst nehme, nur zum eigenen Schutz, so sind eurer zu viel, und ich bin nicht reich genug, euch zu unterhalten, zumal ich euretwegen sogleich mit dem Schweden in Händel käme. Wenn ich euch aber annehme mit dem Versprechen, euch abzulohnen, und statt des Soldes mit Wohnstätte und Land zu begaben, so würde euer wildes und hungriges Gesinde schnell darauf pochen und verlangen, daß ich sie bis zu nächster Ernte füttere und noch darüber hinaus, falls ihnen die ungewohnte Bauernarbeit nicht gedeiht. Darum muß ich auch diesem Wunsche widerstehen. Wollt ihr jenseits der Grenze mit eigener Faust das Tuch von den Standarten lösen und wollen die entlassenen Soldaten mit Weib und Kind als friedliche Wanderer in mein Land ziehen, so will ich sie günstig aufnehmen und ihnen leicht machen, die leeren Höfe zu besetzen.«

»Der Soldat fühlt in seinem Herzen, wie bitter und schwer die Zeit ist«, antwortete Bernhard mit Zurückhaltung, »aber er weiß auch, daß er jetzt als ein Herr der Welt gebietet. Denn weil er nicht [] gequält und zertreten werden wollte, darum ist er der Fahne zugezogen. Solange er in friedlicher Arbeit keine Sicherheit findet und solange im Herzogtum Gotha noch der Schwede und der kaiserliche Freibeuter herrisch über die Flur reiten, werden Eure herzogliche Gnaden nicht verlangen, daß die Axt zum Holzblock werde, von dem die Fremden ihre Späne hauen.«

»Wollt ihr so trotzig des Teufels Werke weiter üben«, rief der Herzog unwillig, »so fahrt dahin auf dem Wege, den euch der Böse führt; ich versage mich euch.« Da Bernhard gekränkt schwieg, fuhr der Herzog nach einer Weile ruhiger fort: »Meint ihr, daß ich das Elend meines wehrlosen Status weniger fühle als ihr? Keiner wird so gedemütigt durch die Herrschaft der Fremden und durch den Raubsinn ihrer Befehlshaber wie der Fürst, der seinem Gott gelobt hat, ein Vater des Landes zu sein. Glaubt mir, Fremdling, daß es meinem fürstlichen Blut bitter und sauer ankommt, jedem wilden Räuber, der mit einem Heerhaufen über die Grenze bricht, zu zinsen und zu zahlen und dazu noch groben Hohn zu ertragen. Aber der Herr hat mir das christliche Amt anvertraut, nicht zu zerstören, sondern zu erhalten, vor allem aber meine eigenen Untertanen, deren wenige geworden sind, aus Zuchtlosigkeit und Verderb wieder in die Ordnung zu zwingen, damit sie nicht wie Drohnen im Stocke leben, sondern wie nützliche Bienen. Andere Waffen führe ich als eure Reiterpistolen; ich weiß wohl, daß der Übermut dieser Welt sie verlacht und daß viele mich einen Toren schelten. Dennoch denke ich fest zu bleiben und mich gegen die blutige Faust des Krieges mit meinem Rüstzeug zu wehren. Wollt Ihr dies Rüstzeug kennenlernen? Ich will es Euch weisen.« – Er hob eine Handbibel in die Höhe, die auf seinem Tische lag. »Hier das Wort Gottes! Dies Geschlecht hat den Glauben verloren, und ich schüttle sie täglich an den Ohren, damit sie wieder beten lernen. In weltlichen Dingen aber ist mein Werkzeug dies hier!« – Er wies auf einen Bogen Papier. »Auf solchen Bogen sende ich täglich meine Befehle und Ordnungen für jeden Stand, für jedes Amt und jeden Ort durch das Land. Meine verwilderten Untertanen schnellen sie zuweilen in die Luft, sie sind säumig, zu gehorchen, und verlachen ihren Herrn als einen machtlosen Schreiber; aber sie gewöhnen sich doch daran, Befehle zu empfangen, und da sie merken, daß der Nacken des Herzogs noch steifer ist als der ihre, so werden meine treuen Beamten allmählich ihrer Meister. Und endlich mein letzter Helfer ist dieses Gerät«, – er wies durch das Fenster auf den Hof, wo eine Reihe Arbeiter mit Handkarren fuhr. »Der Radkarren ist es, durch den ich sie gewöhne an täglichen Fleiß und an den Dienst für mich, damit ich das ruchlose Herumlungern bändige. Es tat bis jetzt ein jeder, was er für sich selbst wollte, ich aber bin gewillt, ihn zu solcher Arbeit zu zwingen, welche anderen frommt.«

[] »Herzogliche Gnaden sprechen als Friedensfürst; aber noch rast der schädliche Krieg, welcher jederzeit in wenig Tagen zerstören kann, was eines guten Landesherrn Fürsorge durch jahrelange Mühen gebessert hat, und ich erflehe Verzeihung, wenn ich daran erinnere. Ich halte hier ein Gewicht in der Hand, zweitausend der besten Soldaten, das biete ich Eurer Gnaden, damit Dieselben es in ihre Waagschale stellen; verschmäht der Herzog von Gotha, dies Gewicht für sich zu verwenden, so faßt ein anderer danach. Vielleicht der Schwede. Herzogliche Gnaden mögen selbst ermessen, ob solcher Zuwachs, wenn er in die Schale eines Fremden fällt, für dieses Land Frieden oder Verlängerung des Krieges bedeutet. Von den Heeren, die im Felde liegen, zählt zur Zeit keines mehr als zehntausend wirkliche Soldaten; fallen zweitausend, welche dem Franzosen abgehen, jetzt dem Schweden zu, so kann wohl geschehen, daß dieser dadurch das stärkste Gewicht in deutschen Landen erhält und Meister des Spieles wird.«

»Was Ihr mir einwendet, Herr«, entgegnete der Herzog, »das klingt wie eine Drohung; auch darauf will ich Euch runde Antwort geben. Zu dem heiß ersehnten Frieden vermag ich nur zu helfen durch meine Gesandten an der Stätte, wo über den Frieden verhandelt wird, und durch Mahnung an befreundete Fürsten, daß sie zu hoch erhobene Prätention einschränken. Im übrigen habe ich mich und meine Untertanen vertrauend in Gottes Hand gegeben, er allein ist jetzt der große Fürst, der unserem Elend helfen will und kann. Vertraut auch Ihr, daß dieser Helfer die Herzen der Gewaltigen dem Frieden zuwende.«

Da Bernhard, ohne zu antworten, der Entlassung harrte, fuhr der Herzog nach einer Weile in gütigem Tone fort: »Ich habe mit Euch, der Ihr mir fremd seid, verhandelt wie mit einem alten Bekannten. Denn wisset, wenn ich auch dem Antrag Eurer Völker widerstehe, es ist mir doch genehm, daß sie wegen meines seligen Bruders und meines ehrlichen Namens in guter Meinung an mich gedacht haben. Auch Ihr selbst, Herr Abgesandter, seid mir wohlgefällig, und ich habe solche Rede, wie Ihr zu mir getan, nicht aus Eurem Lager erwartet. Woher stammt Ihr? Ich höre aus Euren Worten, daß Ihr ein Literatus seid; wie kamt Ihr zu den weimarischen Völkern?«

»Mein seliger Vater zog als ein vermögender Kaufmann von Frankfurt nach Nürnberg, er starb in der Notzeit, die unter König Gustav Adolf hereinbrach. Die Mutter erzog in Treue mich und eine junge Schwester, zu Straßburg habe ich das Jus studiert und gedachte in meiner Heimat Frankfurt durch Freunde und Gönner ein Amt zu erhalten, da geriet ich mit einem vornehmen Lothringer in Zweikampf und entzog mich der Rache seiner Angehörigen unter der Standarte.«

»Ihr führt die Schwester mit Euch umher? Der Troß des Heeres ist ein übler Aufenthalt für ein sittsames Frauenzimmer.«

[] »Vor zwei Jahren starb die liebe Mutter, da kam mir aus Nürnberg ein Brief der Schwester zu; sie war dort ohne Anhang, und obgleich sie würdige Bekannte gefunden hatte, so sehnte sie sich doch hinweg und zu mir.« Als Bernhard zögernd innehielt, fuhr der Herzog mit neuem Anteil fort: »Was ist es mit ihr? Der alte Pfarrer hat mir Wunderliches erzählt.«

»Sie lebt in schwacher Gesundheit, gnädiger Herr, und vor Jahren ist eine Heimsuchung über die fromme Magd gekommen, daß sie im Schlafe zuweilen laut Gebete und allerlei gottselige Worte spricht. Die Geistlichkeit zu Nürnberg aber, welche durch unsere Mutter Kunde davon erhielt, achtete stark auf ihre Reden und wollte ein Wunder aus ihr machen. Das widerstand ihrer Sittsamkeit, denn verzeihen Eure herzogliche Gnaden, wenn ich als Bruder sie rühme, sie ist bescheiden und ehrbar und dabei von nicht gemeinem Verstande. Aus den Winterquartieren wagte ich mich nach Nürnberg und nahm sie zu mir mit der Intention, ihr so bald als möglich an einem guten Ort bei redlichen Leuten ein Unterkommen zu schaffen. Darum, als ich hierher deputiert wurde, beschlossen wir zu versuchen, ob sie in der Stadt Gotha, wo das Evangelium geehrt wird, bleiben könnte. Die Kosten ihres Unterhaltes würden niemandem zur Last fallen, denn sie ist von unseren Eltern her trotz der Kriegszeit nicht ganz ohne Vermögen. Jetzt haben herzogliche Gnaden selbst mir den Mut gegeben, zu flehen, daß ihr verstattet werde, hier in ehrbarem Haushalt unter hohem landesherrlichen Schutz zu weilen, bis ich weiter für sie zu sorgen vermag.«

»Hat sie den christlichen Sinn, welchen Ihr rühmt«, antwortete der Herzog gütig, »so soll sie auch die Sicherheit genießen, welche die Mauern meiner Residenz bieten können. Habt Ihr sie zur Stadt geführt?«

»Ich ließ sie im Dorfe zurück unter dem Schutz meines Gefährten im Hause der Jungfer Möring. Sie ist gut bei der Jungfer aufgehoben, aber die Gegend ist unsicher. Doch hoffe ich, sie wird von dort aus besser als ich Kundschaft in der Stadt gewinnen. Denn ich berge Eurer herzoglichen Gnaden nicht, daß ich nach dem hier erhaltenen Bescheide genötigt bin, mit erwählten Deputierten der Regimenter, welche in Wasungen meiner Antwort harren, zum Schweden nach Erfurt zu reiten, und ich wage deshalb noch die Bitte, meinen Gefährten den Zug durch das Gothaische gnädigst zu verstatten.«

»Wieviel sind eurer?« fragte der Herzog mit erwachender Unruhe.

»Dreißig Pferde. Ich bürge dafür, daß wir weder mit Kost noch mit Quartier die Einwohner beschweren.«

»In diesem Fall habe ich nichts dawider. Meldet Euch bei dem schwedischen Offizier, welcher als Salva Guardia unten auf dem Markte einliegt. Wenn Ihr zu dem Schweden reiten müßt, so wird [] Euch selbst daran gelegen sein, daß Eure Sendung an mich nicht ruchbar werde. Führt Euch Euer Weg wieder in mein Land, so laßt Euch vor mir sehen; ich freue mich, daß ich meine Wohlmeinung auch Eurer Schwester erweisen kann.« Er neigte sich gegen den Gesandten zu gnädigem Abschied.

Als der Herzog allein war, pfiff er auf einer silbernen Pfeife, die er am Halse trug, und befahl dem eintretenden Diener, sogleich den Licentiatus Hermann zu holen, welcher die Aufsicht über den sechsjährigen Prinzen hatte und außerdem von dem Herrn als vertrauter Sekretär gebraucht wurde. »Ihr wart längere Zeit in Nürnberg? Habt Ihr allda von einer Jungfer Regina Königin etwas vernommen, Gutes oder Schlimmes?«

»Gewiß habe ich«, antwortete der Lizentiat. »Der hochwürdige Propst, mein verehrter Gönner, der mich meinem gnädigsten Landesherrn empfahl, hat selbst ein Skriptum über sie aufgesetzt. Die Jungfer wurde als eine gottselige Bekennerin gerühmt, welcher nach Meinung einiger die Gabe der Prophezeiung verliehen war. Mir ist vergönnt worden, den Aufsatz abzuschreiben, und werde ich denselben herzoglicher Gnaden unterbreiten können.«

»Holt ihn zur Stelle«, gebot der Herzog eifrig, »schreibt der Vorsicht halber nach Nürnberg und sorgt, daß der Brief mit dem nächsten Expreßboten ablaufe, damit man erfährt, wie die Jungfer von Nürnberg geschieden ist und was es mit ihrem Bruder für Bewandtnis hat.«

Als Pieps allein war und die Pferde besorgt hatte, steckte er die Daumen in seinen Gürtel und stellte sich vor dem Hausknecht auf, welcher verwundert das weltmännische Benehmen des Kleinen betrachtete und noch mehr erstaunte, als dieser in einem Gespräch genaue Kenntnis der Stallgebräuche offenbarte, indem er fragte, wo hinaus Erfurt liege und anderes, was einem Reiterjungen am Herzen lag. Da Pieps Zutrauen zu dem Knechte gewann, empfahl er ihm die Pferde, stolzierte auf die Gasse und betrachtete in seiner Weise die Stadt. Er widerstand der Versuchung, aus dem Fleischladen, in welchem viel Lockendes offen dalag, sein Frühstück zu beuten, verschmähte aber nicht, die Bekanntschaft eines Straßenjungen zu machen, und ließ sich von diesem das Haus der Schmiedin Stange zeigen. Als er in der offenen Hausflur eine hagere Frau von unzweifelhaftem Alter am Waschtrog beschäftigt sah, trat er auf die Schwelle und begann: »Seid Ihr mit einem Herrn Oberst Stange verwandt, der am Rheinstrom bei den weimarischen Völkern wegen seiner Bravour sehr gefürchtet ist? Man sagt, daß er aus Thüringen stammt.« – Die Frau starrte auf den Knaben, der fremdländisch sprach und stattlich gekleidet war.

»Seid Ihr nicht mit ihm verwandt, so schadet's auch nicht, adjes!« [] fuhr Pieps fort und wandte sich zum Abgehen. Die Frau trat auf ihn zu, packte ihn schnell beim Kragen, riß ihn in die Stube und schnappte die Tür zu. Der Bube ließ sich die Gewalttat ohne Widerstand gefallen, setzte sich nieder und antwortete auf die heftigen Anklagen und Fragen der Verlassenen bereitwillig, aber nicht wahrhaft, während seine Augen scharf in alle Ecken spähten.

»Der Genannte hat große Beute gemacht, und man sagt, er will nächstens heimkehren; habt Ihr etwas an ihn zu bestellen? Ich habe keine Zeit, denn ich will frühstücken.«

Unter harten Beschwerden über ihren einsamen Stand schloß die Frau den Brotschrank auf.

»Käse nehme ich nicht«, sagte Pieps und sah genau in den Schrank, »denn ich bin Page eines vornehmen Offiziers und esse nur Wurst.« Aber so hohen Genuß vermochte ihm die Schmiedin nicht zu bieten, und er ließ sich endlich zu Geringerem herab. Als er sein Botenbrot verzehrt hatte, entzog er sich weiteren Zumutungen seiner aufgeregten Wirtin, indem er behend einen Stuhl bestieg, das Schiebefenster öffnete und auf die Straße sprang. Die Frau fuhr ihm an das Fenster nach, er aber zog einen kleinen Beutel aus der Tasche, warf ihn in die Stube und rief stolz: »Nehmt die Bezahlung für das Frühstück.« Darauf wandte er sich mit der Sicherheit eines Straßenläufers der Herberge zu und erwartete den Rittmeister.

In gestrecktem Trab kehrte Bernhard nach dem Walddorfe zurück. Er hielt an, um die Lerchen in der Luft zu hören, und rief dem Hasen, der neben ihm aufsprang, einen Jägerruf nach. Das Herz war ihm leicht, und der große Auftrag, der ihm bis dahin im Sinn gelegen, beschäftigte ihn wenig. Bevor ich über die Berge kam, dachte er bei sich, stand mir der Mut mehr nach der schnellen Reiterei bei dem Schweden als nach dem Trabantendienst eines kleinen Hofes, jetzt aber fühle ich ein Vertrauen zu dem Herzog, und ich denke, er wäre der Landesherr, unter dem ich gern im Frieden hausen würde. – Er kam beim Ritterhofe eines Dorfes vorbei, an der Brücke des Grabens stand der bewaffnete Hofherr, welcher soeben von auswärts heimgekehrt war, und begrüßte sein Weib, das ihm mit dem Sohn an der Hand aus dem Hofe entgegentrat. Bernhard sah, wie der Mann das Weib küßte und den Knaben zu sich heraufzog, und als er selbst freundlich grüßend vorbeiritt und verwunderten Gegengruß erhielt, da lachte er und ihm fiel ein, daß auch er ein solcher Gutsherr werden könne durch redlich gewonnenes Beutegeld und durch die Hinterlassenschaft seiner lieben Eltern. Er sah sich als Herrn im steinernen Hause, die Schwester wohnte bei ihm, Gottlieb war Hofverwalter, Pieps wurde sein Leibknecht, und am Sonntage lud er den Pastor zum Braten. In seiner Kammer hing die Armatur am Nagel und daneben in einem Schrank stand einiges, was ihm von Büchern wert war, darunter sein kleiner Horaz und [] der anmutige Sänger Martin Opitz. Aus diesem las er an Winterabenden den anderen vor und sang seine Lieder zur Laute. Auch der junge Sohn, den der Gutsherr zu sich heraufgehoben hatte, kam in seinen Träumen wieder, und dazu vernahm er eine Frauenstimme: Küsse deinen Sohn, bevor er zu Bett geht. – Dieser Gedanke wurde dem Rittmeister der liebste und er konnte gar nicht davon abkommen, so daß er sich über sich selbst wunderte.

Als er durch eine offene Landstadt kam, hielt er bei der Schenke und ließ den Hausknecht die Pferde besorgen. Die Wirtin, eine leidliche Frau, trat heran und fragte, ob er sich nicht auch eine Ergötzlichkeit begehre. Sie trug ihm einen Schemel zu, und während er trank, stand sie, die Hände unter der Schürze, bereit, ihn zu unterhalten, und sagte laut, daß sie ihn schon am Morgen mit einem Trabanten des gnädigen Herzogs im Vorbeireiten gesehen. Da faßten sich die Nachbarn ein Herz, welche ihn vorher neugierig aus Fenstern und Türen betrachtet hatten, sie kamen näher herzu, und er saß, von einem Kreis umgeben, welcher zutraulich fragte und von dem Einbruch der fremden Reiter in die Walddörfer erzählte. Sonst wäre ihm solches Geschwätz der kleinen Leute lästig gewesen, heut freute er sich, daß sie ihn wie einen friedlichen Mann und Nachbar behandelten, ihm fiel auf die Seele, wie fröhlich es mache, wenn einer von allen Seiten solche Ansprache finde, und er dachte sich wieder in der Nähe als einen sicheren Mann angesessen und in freundlichem Verkehr mit der Umgegend. Und als er ins Freie kam, die grünen Triften vor sich sah und dahinter die Waldhügel, da begann er laut die Worte des Dichters zu singen:

»Ihr Birken und ihr hohen Linden,
Ihr Wüsten und du stiller Wald,
Mein Trost und bester Aufenthalt
Ist jetzt bei euch allein zu finden.«

Er spornte sein Roß, daß es hoch aufsprang, und wie er über den Steg lenkte und vor dem Hause hielt, empfand er in seligem Herzen, daß alles ähnlich war, wie er sich's eingebildet hatte, die Pforte war geöffnet, die Schwester eilte ihm entgegen; und eine stand dabei und reichte ihm ihre Hand, die er nicht wieder loslassen wollte.

Als Pieps hinter seinem Herrn im Quartiere anlangte, berichtete er dem Alten, was er spioniert hatte. »Stark von Knochen«, sagte er, »und fest im Greifen. Die Schmiede war kalt, einiges Werkzeug vorhanden, der Brotschrank leer, Euren Beutel warf ich durchs Fenster.«

»Sie fluchte sehr?« fragte Gottlieb bekümmert.

»Es war nicht der Rede wert«, tröstete Pieps.

[]
Junge Neigung

Die Männer hatten das Walddorf verlassen und waren mit den übrigen Deputierten der Regimenter nach Erfurt geritten. Dort erfuhren sie, daß alle großen Mächte ihretwegen in Bewegung waren, und daß die schwedische Regierung, um das verbündete Frankreich nicht zu beleidigen, darauf bestand, noch einen Sühneversuch zu machen. So wurden sie durch fruchtlose Verhandlungen aufgehalten. Beim Abschied hatte Bernhard seiner Schwester den Buben und ihren Zelter zurückgelassen mit dem Versprechen, in das Dorf zurückzukehren, bevor er dem General Königsmark zuziehe.

Regine saß am Spinnrade, und Judith stand neben ihr, sah der Arbeit zu und prüfte den Faden. »Er ist ganz fein und gleichmäßig«, lobte sie, »übt Ihr Euch eine Weile, so werdet Ihr eine Meisterin.«

»Lange hat mir das Hauswesen gefehlt«, klagte das Kind, »und die stille Arbeit, bei der man sich jeden Abend am Ofen über das Fertige freut und bedenkt, was den nächsten Tag zu schaffen sein wird.« Sie stellte das Spinnrad zur Seite, und Judith drehte die Schnur los, welche um das Rad lief. »Warum löst Ihr die Schnur?« fragte Regine wißbegierig. Judith lachte: »Sie sagen, bei ungelöster Schnur kommen die Erdmännchen und spinnen am Rocken, dann hört man die Spule schnurren.«

»Glaubt Ihr, daß sich solche Geister zu einem Mädchen drängen, welches dem lieben Gott vertraut?« sagte Regine besorgt und sah in die Stubenecken.

»Wir wissen es nicht«, versetzte Judith ruhig, »und Vorsicht ist ratsam. Denn es gibt viel geheimes Leben auf der Erde, das uns Menschen unbekannt ist, schädliches und heilsames; das erkennt jeder, der um wohltätige Arznei zu sorgen hat. Viel hängt ab vom Tag und von der Stunde, an welcher man sie zum Gebrauch gewinnt, und die weisen Leute sagen, daß in den Kräutern der Flur kleine Geister leben, welche man die guten Holden nennt und die man sich geneigt machen kann. Wir merken auch, daß manche von ihnen Männlein sind und andere Fräulein, und ihre junge Brut halten sie um sich gesammelt.«

»Jungfer Judith, davon steht nichts in der Schrift«, rief Regine eifrig.

»Aber es ist zu lesen in Feld und Wald«, antwortete Judith, »dort hat es der liebe Gott verzeichnet.«

»Ihr seid so gut gegen mich, und ich merke, auch gegen andere, denn die Leute hier achten sehr auf Euch. Liebe Jungfer, seid mir nicht böse, wenn ich frage, warum singt Ihr des Morgens und Abends nicht aus dem Gesangbuch?« – Judith strich der Fragerin liebkosend über das Haar.

[] »Ich bin eines Pfarrers Kind und habe gelernt, still mein Sprüchlein zu beten. Ich halte nichts von langem Absingen und Hersagen, denn wer seine frommen Gedanken zur Schau trägt, der betet sich durch den Himmel durch, wie die Rede geht, und muß jenseits Gänse hüten. Euch wird das nicht begegnen«, sagte sie herzlich.

Regine mußte lachen: »Auch ich denke so, daß der stille Dienst am wohlgefälligsten ist. Diesen aber sollen wir den ganzen Tag üben.«

»Auch seines Amtes redlich warten, ist ein Gottesdienst«, versetzte Judith. »Ist Euer Bruder ebenso gesinnt wie Ihr?«

»Ich fürchte, er folgt mehr Eurer Weise«, antwortete Regine. »Nach seinem Herzen aber ist er ein liebevoller Knabe, das weiß ich am besten.«

Judith setzte sich neben sie. – »Denn Ihr müßt wissen«, fuhr Regine gewichtig fort, »eine Schwester kennt den Bruder anders als jede Fremde, und der selige Vater sagte im Scherz: Die Mutter sieht das Knäblein nackt, und die Schwester sieht es im Hemde, fremde Jungfern aber sehen es im Seidenwams.«

Jetzt lachte Judith. »Der Herr Vater war wohl ein kluger Mann?«

»Das war er«, bestätigte die Tochter, »er sah auch dem Bruder ähnlich, hielt sich stattlich und war von heiterem Wesen. Und Ihr könnt mir glauben, um den Bernhard ist's schade, daß er ein Kriegsmann werden mußte, denn er hat gute Wissenschaft in gelehrten Dingen, spielt auch auf dem Clavicordium, singt dazu mit einer guten Stimme und macht allerwege die Leute fröhlich. Ich aber bin ein trauriger schwarzer Butz, und er hat seine Not mit mir; ich bin aus der Art geschlagen, sie sagen, weil die Mutter bevor ich geboren wurde, sich sehr wegen der Kroaten geängstigt hat.« Sie sah bekümmert vor sich hin.

Judith nahm liebkosend die Hand des Gastes und hielt sie in ihren Händen fest.

Unterdes war das zugereiste Mädchen im Walddorfe, ohne eine Ahnung zu haben, der Gegenstand hoher Beachtung geworden. Den Herzog beschäftigte seit der Unterredung mit Bernhard der Gedanke an die Geschwister; doch um die Wahrheit zu sagen, er gedachte weniger des Bruders, der ihm fremdes Kriegsvolk angeboten hatte, als der Schwester, welche im Rufe stand, zu prophezeien. Und das war nicht zu verwundern. Denn jedermann wurde durch die Schrecken der Gegenwart gepeinigt und fühlte ungeduldiges Verlangen, in der Zukunft ein besseres Glück zu erkennen. Im Volke wucherte der Aberglaube, und viele suchten durch geheime Künste, die seit der Heidenzeit nicht vergessen waren, künftige Ereignisse zu deuten und sich vor drohender Gefahr zu schützen; überall erstanden Propheten, sogar Kinder weissagten und verkündeten bald Untergang der Welt, bald Besserung des betrübten deutschen Zustandes. Auch der[] Herzog hatte seinen Anteil an solcher Sehnsucht und Neugierde und konnte sich nicht versagen, das Skriptum des Nürnberger Propstes seinem Schloßprediger mitzuteilen. Der Geistliche las mit hoher Befriedigung und sprach Bewunderung der Verkündigungen aus, obwohl diese in der Hauptsache nichts weiter waren als umgewandelte Bibelsprüche. Er erstaunte nicht wenig, als der Landesfürst, seiner Beistimmung froh, ihm offenbarte, daß das Wunderkind zur Stelle sei und daß es erwünscht wäre, wenn er dasselbe gegen billige Vergütung durch die Angehörigen des Mädchens für die nächste Zeit in Wohnung und Kost nehme. Der geistliche Herr bat um Erlaubnis, diesen Punkt mit seiner Hausfrau zu bereden, da Seiner herzoglichen Gnaden nicht unbekannt, daß die derzeitige Wohnung des Schloßpredigers enge, nicht günstig gelegen und mit einer finsteren Treppe behaftet sei.

Das verkannte der Herzog nicht, und obgleich er vermied, eine Abhilfe in Aussicht zu stellen, so sah der Prediger nebst seiner Gattin dennoch ein, daß die Aufnahme der Fremden vorteilhaft zu werden nicht unbegründete Aussicht verschaffe.

An einem der nächsten Tage fuhr ein stattlicher Wagen mit einer Schutzdecke, begleitet von einem herzoglichen Trabanten zu Pferde, in das Walddorf und hielt bei der Pfarre; nicht lange darauf bewegten sich der Pfarrer und Lizentiat Hermann in bedächtigem Schritt nach dem Hause der Jungfer Judith, wo Licentiatus einen Brief des Schloßpredigers an Regine übergab. Nach dem notwendigen Hinundherreden und nachdem sich beide Herren in aller Höflichkeit zu besten Diensten erboten hatten, wurden die Sachen der fremden Jungfer auf den Wagen gestaut und dieselbe eingeladen, auf dem Ehrensitze Platz zu nehmen, dem Lizentiaten aber zu gestatten, daß er sie aus dem Dorfe in die Stadt und aus einer unsicheren Wildnis unter die Augen und in den Schutz ansehnlicher Personen stelle. Die Mädchen hielten einander bei der Hand.

»Es ist besser so für Euch«, sagte Judith freundlich; »seht Ihr Euren Bruder wieder, so grüßt ihn von mir.«

Als aber der Besuch in den Wagen gehoben war und eine kleine Hand noch einmal zum Abschied zurückwinkte, schlug das Dorfmädchen die Hoftür zu, eilte in die Stube und saß dort lange mit gesenktem Haupt.

Unterdes bemühte sich der Lizentiat, durch höflichen und wohlanständigen Diskurs seine schweigsame Reisebegleiterin zu unterhalten, und da er ein gescheiter und aufgeweckter Mann war, so gewann er auch allmählich ihre Aufmerksamkeit. Er hatte das Zartgefühl, von persönlichen Verhältnissen zu schweigen, aber er spielte sich behende auf Nürnberg, die berühmte Stadt, und verschmähte nicht, von der Verwunderung zu sprechen, welche ihm alldort die Tracht der Frauen und das großartige Aussehen der Stadt sowie auch [] die künstlichen Gebäude verursacht hatten, und nicht weniger das sogar in der Kriegszeit lustige Leben auf den Wochenmärkten und das öffentliche Braten der Fische. Längere Zeit hörte ihm Regine mit Anteil zu, endlich wagte sie die schüchterne Bitte, er möge ihr nicht verschweigen, welche Gesinnung der Herr Schloßprediger und dessen Frau Liebste ihr entgegenbrächten, und wie sie sich dort zu verhalten habe, um zu gefallen; »denn es ist schwer für ein Waisenkind in fremdem Lande; auch die Bräuche hier sind mir ganz unbekannt; und ich möchte doch, daß beide in ihrem Gemüt von aufrichtiger Güte gegen mich würden.« Da vergaß der Lizentiat seine wohlgesetzten Reden und die gemessene Bewegung der Hand, welche dem Erzählenden wohl ansteht, und brach heraus: »Seien Sie nur ganz ohne Sorge, sehr verehrte Jungfer Königin, und seien Sie nur ganz so, wie Sie auch gegen mich sind, nach Ihrer eigenen Art, und Sie werden allen Leuten, hohen und niedrigen, über alle Maßen gefallen.« Aber er zuckte zurück und faßte sich zusammen, weil er ungebührlich laut und schnell gesprochen; auch Regine saß verlegen da, bis ihr Begleiter wieder die richtigen Worte fand und gewissermaßen zur Sühne seines jähen Wesens ausführlich über den geistlichen Herrn berichtete, sehr vorsichtig, sehr voll von Hochachtung und Anerkennung, jedoch so, daß Regine eine Meinung über ihren künftigen Beschützer bekam, die sich später als richtig erwies.

Nämlich der Schloßprediger war ein wohlhäbiger Herr mit gerötetem Antlitz, runden, grauen Augen und starkem Munde. Er trug das große Haupt zurückgeworfen, und die Augen sahen gerade und stolz in die Welt. Denn zu einer Zeit, in welcher friedliche Leute genötigt wurden, scheu um sich zu blicken und leise zu reden, war er in der glücklichen Lage, jede Woche seine Stimme mächtig über demütigen Hörern zu erheben, und keiner durfte ihm widersprechen. So hatte er das Aussehen eines gewaltigen Mannes und war in der Tat ein strenger Gebieter seiner Gemeinde; nur hatte auch er, wie andere Machthaber, mit der Schwierigkeit zu kämpfen, daß ihm sein Volk ungern gehorchte. Zwar wenn er die Andersgläubigen durch kräftige Schläge auf die Kanzel verurteilte, waren seine Beichtkinder recht wohl zufrieden, wenn er aber einmal einen Feldzug gegen ihre liederlichen Gewohnheiten unternahm und ihnen Nüchternheit, Zucht und Nachtruhe empfahl, dann zuckten die Sünder hinter seinem Rücken die Schultern und spotteten ohne Ehrfurcht über den rötlichen Schimmer seines Angesichts, denn sie wußten, daß er in der schweren Zeit zuweilen Trost in heißem Frankenwein fand; und wenn er auf der Kanzel gegen die Herrschbegier derjenigen Hälfte des Menschengeschlechts wetterte, welche nach der Schrift der anderen Hälfte Gehorsam schuldig ist, so flüsterten die Zuhörer einander in das Ohr, daß er nur darum in der Kirche so kräftig losgehe, weil er zu Hause leidend gehorchen müsse.

[] Von solchen Eigenschaften des hochansehnlichen Mannes kam in den Worten des Lizentiaten so viel zutage, daß Regine ein wenig lächeln mußte, zuletzt aber nachdenklich wurde. Und der Redner, betroffen über ihre Schweigsamkeit, beeilte sich, die Frau Schloßpredigerin zu erwähnen, welche, obgleich klein und hager, doch im Hauswesen die stärkere Kraft entwickelte. Er rühmte ihre Wirtschaftlichkeit im Einschlachten und Räuchern, und er verriet auch, daß sie eine sonderliche Vorliebe für Backobst habe und stolz auf einige Obstbäume in ihrem kleinen Garten sei.

»Das ist gut«, sagte Regine eifrig, »im Winter ist solche Hauskost ein Schatz. Aber der Herr scheint sich nicht viel daraus zu machen«, fügte sie hinzu, ihn schalkhaft anblickend, »denn sonst würde derselbe dies nicht zu auffällig finden.« Der Begleiter beeilte sich, seine unbedingte Bereitwilligkeit zu diesem Genuß auszusprechen.

Wieder ein kleines Stillschweigen, dann begann das Mädchen aufs neue: »Ich sorge, daß ich dem Herrn Lizentiaten vorlaut erscheine, wenn ich mich unterstehe, auch nach dem Herzog zu fragen. Da Seine Gnade mir, wie die Herren erwähnten, diese gute Stätte bereitet hat, so möchte ich gern wissen, wie ich mich gegen ihn zu halten habe, um ihm meine Dankbarkeit zu beweisen.« Jetzt wurde ihr Begleiter beredt, rühmte den Herzog höchlich und mit warmen Worten, und nachdem er von seinem redlichen Eifer erzählt hatte und von der guten fürstlichen Häuslichkeit, so erwähnte er auch die Sorgfalt, mit welcher der Herr sich um allerlei kümmerte, was in seinem Lande vorging. »Durch diese Sorglichkeit werden herzogliche Gnaden zuweilen übermäßig okkupiert und oneriert, und die Spezialitäten werden demselben jeweilig zu einem Embarras.«

»Ich bitte den Herrn, nicht so vornehm mit mir zu sprechen«, sagte Regine, »ich bin nur das gemeine Deutsch gewohnt.«

»Verzeihe mir die hochverehrte Jungfer«, bat der Redner betroffen, »ich wollte nur anzudeuten wagen, daß die undankbaren Leute Seine herzogliche Gnaden ab und zu verkennen – und kurz gesagt, in unverschämter Dreistigkeit einen Topfgucker nennen.«

Jetzt sah er mit inniger Freude, daß Regine lachte. Um dies zu verbergen, neigte sie sich zum Wagen hinaus, da auf der Wiese nebenbei gerade eine Sense am Tengelstein klang. »Die Leute mähen Gras«, rief sie fröhlich, »das habe ich lange nicht gesehen.« – Ihr Begleiter wies ihr den bewaffneten Reiter, der zum Schutz in der Nähe hielt. »Auch dafür hat unser Herzog gesorgt!«

Sie kamen durch ein Dorf. Vor einer der halbzerstörten Hütten saßen kleine Kinder auf der Erde; sie starrten furchtsam nach dem Wagen, und die Schwester drückte den jüngeren Bruder fest an sich.

»Sie sehen so kränklich aus«, klagte das Mädchen, »gewiß sind sie hungrig.«

[] Der Lizentiat gebot heftig dem Kutscher, anzuhalten, kletterte aus dem Wagen und reichte den Armseligen die Reisekost, welche er, wie Brauch war, mit einem Löschpapier umwickelt in seiner Tasche mitgenommen hatte. Regine sah zu, als die Kinder die gute Speise verzehrten. Wieder fuhren sie eine Weile schweigend dahin, das Mädchen mit gefalteten Händen, denn die Nähe eines Theologen, die sie lange entbehrt, stärkte ihr die erbaulichen Gedanken. Und da in ihrer Phantasie der gestrenge Schloßprediger sich zu dem Bilde der armen Kinder gesellte, begann sie endlich: »Ach! Soviel Eifer und Zorn ist in der Welt, und doch ist die christliche Gesinnung so selten, alles nützt ihnen nichts, und wenn sie noch so klug sind, sie werden dem Lande nicht aufhelfen, solange sie nicht die Liebe haben.«

»Was die Jungfrau spricht, ist ein großes Wort«, antwortete ihr Begleiter ernsthaft, »und da ich selbst dem geistlichen Amt angehöre, so bitte ich, nicht für Überhebung zu halten, wenn ich eine leise Klage gegen geistliche Herren in allen Konfessionen erhebe. Sie haben so lange gezankt, verdammt und Andersgläubige verflucht, bis Zank, Fluchen und Haß in das Gemüt des Volkes gedrungen sind, so daß die Menschen um des Glaubens willen einander schädigen und töten und das Land fast zur Einöde geworden ist. Furchtbar ist es, zu sehen, daß die Lehre der Liebe sich so verkehrt hat.«

»Herr Lizentiat«, sagte Regine begeistert, »da ich Euch so reden höre, wage ich Euch zu sagen, was Ihr nicht mißdeuten mögt: Ich bin gut evangelisch, aber ich habe in Nürnberg eine würdige Frau gekannt, welche diese Liebe hatte, von der Ihr sprecht. Sie hat mir und meiner seligen Mutter viel Gutes getan, und doch war sie katholisch. Und sie wies mir in aller Heimlichkeit ein geschriebenes Büchlein mit Liedern, welches betitelt war: ›Geistliches Lustwäldlein‹. Davon durfte ich mir manches abschreiben, und dieses zu lesen ist mir große Erbauung, obgleich der Dichter nicht unseres Glaubens gewesen ist. Ich hoffe, Ihr haltet das nicht für unerlaubt.«

»Wenn mich die Jungfer mit so hohem Vertrauen beehrt«, versetzte der Theologe ernsthaft, »so bin ich schuldig zu antworten, ich müßte diese Poesie vorher gelesen haben, bevor ich wagen darf, einen Rat zu geben.«

»Ihr sollt sie zu Gesicht bekommen«, versprach Regine und sah ihn treuherzig an.

Jetzt hatten die Reisenden gefunden, was beide redselig machte, und die Wegstunden schwanden ihnen schnell dahin. Endlich sagte der Lizentiat mit fröhlichem Lächeln: »Als ich heut früh ausfuhr, dachte ich nicht daran, daß mir diese Reise eine Bekanntschaft verschaffen würde, die mir so hochwert geworden ist und immerdar eine glückselige Erinnerung sein wird, und ich gestehe der Jungfer Königin, daß ich in Sorge war, wie dieselbe sich mir gegenüber [] gehaben würde, ja daß ich nach manchem, was ich gehört, meinen Auftrag für diffizil erachtete, aber ich fand heut früh einen guten Trost, als ich zu christlicher Prüfung des Kommenden dreimal in der Schrift den Vers nachlas, auf welchen mein Finger geriet. Denn worauf ich traf, das war alles gut.«

Regine strich an ihrem Gewande, als sie fragte: »Darf auch ich wissen, welches die günstigen Vorzeichen waren?«

Zögernd berichtete er: »Der erste Vers war aus den Sprüchen Salomonis: Sie tut ihren Mund auf mit Weisheit, und auf ihrer Zunge ist holdselige Lehre.«

»Herr Lizentiat, das paßt nicht«, rief das Mädchen erschrocken.

»Mir scheint, der Spruch trifft gerade das Richtige«, versetzte ihr Begleiter siegreich. »Der zweite aber war fünftes Buch Mose: Der Herr brachte uns an diesen Ort und gab uns dies Land, da Milch und Honig innen fleußt.« Er hielt an.

»Und der dritte?« fragte Regine leise.

»Den dritten«, versetzte der Theologe befangen, »wage ich Euch jetzt nicht zu sagen, vielleicht gestattet Ihr mir's einmal später.«

Es war ein stiller Abend im Dorfe, die Berge warfen blaue Schatten über die Holzhäuser, den Wiesengrund und das murmelnde Wasser, und oben an der Berglehne leuchteten die Baumwipfel von bräunlichem Golde. In der frischen Abendluft saß Judith am Zaun ihres Hofes; das Spinnrad schnurrte, aber ihre Augen flogen die Straße hinab, der Gegend zu, wo sich das Tal in die Ebene öffnete.

»Heute war das Sonnenlicht mild, und langsames Reiten würde einem Kranken nicht schaden. Kommt er noch, so kommt er heut. Die Spindel stach in den Finger, das bedeutet Besuch. Ich sorge um einen, der mir fremd ist und doch der Vertraute meines Herzens vom Morgen bis zur Nacht. Wenn er wieder im Lederstuhl am Herde sitzt, reiche ich ihm den Trank in dem silbernen Becherlein, welches um der seligen Mutter willen in aller Not bewahrt wurde. Seine Schwester sagt, daß er von fröhlichem Gemüte ist und jedem lieb macht, mit ihm zu verkehren; das wußte ich auch, denn wenn er lachte, schlug mir das Herz. Die Ursel berühmt sich, daß sie einen Entfernten zwingen kann, seine Gedanken nach dem zu richten, der ihn herbeiwünscht, aber ich zweifle, ob ihr das Kunststück gelingt. Ist es stillem Wunsche möglich, über Berg und Tal in die Seele eines anderen zu dringen, so ziehe ich ihn selbst herbei, bis er leibhaftig vor mir steht, denn wie ein Feuerfunken, der im Sturmwind dahinfährt, fliegt meine Sehnsucht in die Ferne zu ihm. Er spornt sein Roß, und er jagt auf der Straße, er hält an und schlägt an das Tor. Arme Törin!« rief sie laut, »was weiß ich von seinen Wegen? Und weshalb vertraue ich, daß er meiner gedenkt?«

Aber von fern klang der Hufschlag eines Pferdes; auf der Straße [] jagte ein Reiter heran, er setzte über den Steg, schwenkte den Hut und rief grüßend ihren Namen. Der, den sie gerufen, hielt vor ihr, und in freudigem Schreck wich ihr das Blut aus dem Antlitz zum Herzen.

In der Stube antwortete sie seinem suchenden Blick: »Der Herr findet die Schwester, zu der er kommt, nicht mehr hier«; sie erzählte dem Erstaunten von der Einholung und hatte Mühe, ihre Freude zu bergen, als der Bruder fröhlich antwortete: »Ist mir der Herzog zuvorgekommen, so erhalte ich das Recht, auch für mich selbst zu sorgen.« Er wies auf seinen Arm. »Lieber bleibe ich hier, als im Gedränge der Stadt, während die Kameraden leere Worte mit den großen schwedischen Schreibern wechseln. Und jetzt, wo ich den würzigen Geruch der Kräuter wieder atme, ist mir so wohl zumute, als wäre ich ein Knabe, der seine günstige Frau Pate besucht, und ich bitte die Jungfer, daß sie mich nicht fortweise, wenn ich mich hier ins Quartier lege.« Dabei neigte er sich tief vor ihr. – Judith antwortete errötend:

»Der Herr ist willkommen während der Stunden, die er bei uns verweilen will. Der Zelter steht neben der Kuh, und der Knabe schläft auf dem Boden darüber, aber der Herr Rittmeister ist mir zu groß, um mit den anderen Puppen in diese kleine Holzschachtel eingesperrt zu werden, darum machen wir's Euch im Hause nebenan so wohnlich, als wir können. Ihr besucht den Pfarrer und meldet Euch bei dem Amtsschreiber, der sich jetzt wie ein Ohrwurm winden wird, da er gemerkt hat, daß Ihr beim Herzoge etwas geltet. Doch traut ihm nicht über den Weg, er meint es zu wenigen gut, und am meisten mögen sich die hüten, zu denen er es in seiner Weise gut meint.« Ein Schatten flog über ihr frohes Gesicht, doch schwand er gleich wieder in Heiterkeit, als sie auf den Knaben wies, der säuberlich in neuer Wäsche auftrat, das struppige Haar glatt gebürstet, die Ärmelschlitze seines Wamses mit bunter Seide ausgepufft. »Wir haben dem Herrn unterdessen seinen Pagen ausstaffiert, damit dieser ihm Ehre mache.«

Sie lud den Gast zum Sitzen, und er verneigte sich zum Danke dafür wieder wie vor einer Königin. Denn er gedachte der Sitte und daß er die Schutzlose in ihrem Hause zu ehren hatte. Das verstand Judith in dankbarem Herzen, und auch sie setzte sich ihm gegenüber an das Spinnrad, hoch aufgerichtet, mit ruhigem Antlitz. Ihr Wunsch war erfüllt, der Ersehnte saß auf dem Lehnstuhl am Herde, und sein Trunk wurde ihm in dem Schmuckstück des Hauses vorgesetzt; sie fragte, und er berichtete über die kleinen Abenteuer auf der Reise und die schlechten Herbergen am Wege. Dennoch erwies sich das Lied, welches der Rittmeister zuweilen sang und worin er behauptete, daß Amor, das verschmitzte Kind, völlig blind sei, an dem Sänger selbst als unwahr. Denn der erwähnte Gott saß luchsäugig, [] wenn auch unsichtbar, auf dem Brettergerüst unter den Kräuterbündeln und schoß mit seinem Flitzbogen einen Pfeil nach dem andern gegen den Kriegsmann ab. Der Gast und die Jungfer Wirtin, wie höflich sie auch zueinander redeten, sie konnten nicht vermeiden, daß das Glück ihnen aus den Augen leuchtete und daß ihnen die Stimme von der inneren Bewegung leise erbebte. Bald erzählte ihr Bernhard wie einem treuen Kameraden von allem, was er in den letzten Wochen erfahren, und kam dabei unvermerkt auf sein früheres Leben, bis ihr die Spindel im Schoße ruhte und ihre Augen in stiller Verklärung auf seinem Angesicht hafteten. Während das Abenddunkel in das Gemach drang, öffneten sich zwei Herzen wie zwei volle Knospen, welche die rosigen Blätter gegeneinander entfalten. Auf unruhige Erwartung und pochende Leidenschaft war für beide das erste Glück des Wiedersehens gefolgt, ein seliger Friede.

Als sie dem Gast das Abendbrot vorgesetzt und den Arm verbunden hatte, führte sie ihn nach seiner Herberge und bot ihm die Gutenacht.

»Wie wußtest du, daß ich heut kommen würde?« fragte der Rittmeister den Knaben, sobald sie allein waren.

»Die Jungfer hat's gewußt«, antwortete Pieps, und sein großer Mund verzog sich zu einem glückseligen Grinsen.

Lange saß Bernhard im Dunkel an dem kleinen Fenster. Er versuchte leise zu singen, aber er verlor die Melodie sowohl bei Frau Venus als bei den zu kaufenden Melonen. Ihm hatte in sorglosen Tagen manches Mädchen wohlgefallen, aber niemals war ihm das Herz aufgegangen wie in der letzten Stunde, ihm kam vor, als ob er zu dieser Jungfrau halten müsse, solange er lebe, und er starrte beim Sternenlicht hinüber nach dem Nachbarhause, mehr dem Corydon gleich, der sich um Phyllis grämt, als einem Reiter von Alt-Rosen, welcher in wüstem Hause lagert.

Am nächsten Morgen ritt er nach Gotha. Die Schwester sprach ihm gegenüber mutig und in gutem Vertrauen von ihrer Lage; mit dem Schloßprediger beredete er zu großer Zufriedenheit des geistlichen Herrn die Vergütung und wie die Habe der Schwester in dem Troßwagen sicher von Wasungen heranzufahren sei, auch beim Herzoge meldete er sich und erhielt Erlaubnis, im Walddorfe zu rasten, weil er dort den Quartieren seiner Völker näher war. Und die Schwester freute sich über die Zuversicht des Bruders, als er ihr beim Abschied sagte: »Der Herzog hofft jetzt auf Besserung, auch die Schweden reden viel vom Frieden, vielleicht frage ich in kurzem, ob du dich hierzulande bei dem Bruder ansiedeln willst.«

Als er mit dem Buben den Eingang des Waldtales erreichte, sah er unweit der Straße die Jungfrau, welche mit ihrem Korbe aus der Hütte eines Holzfällers herabkam. Sie blieb stehen, als sie die Reiter erkannte. Er sprang ab, sandte den Knaben und die Pferde voraus [] und schritt neben ihr den Fußweg entlang. »Wie mögt Ihr Euch allein durch das offene Land wagen?« mahnte er besorgt. »Auf den Straßen schweift unsicheres Volk, und im Walde ist noch weniger zu trauen.«

»Wir Landleute haben in der eigenen Flur immer guten Mut«, antwortete Judith; »heute begleitete mich auf dem Hinwege der Mann meiner Kranken, und bei der Heimkehr dachte ich Euch zu treffen.« Ihr Antlitz rötete sich, aber sie sah ihn in unschuldiger Zuversicht an.

»Liebe Jungfer Judith«, rief er und suchte ihre Hand zu fassen.

Sie löste die Finger aus den seinen, aber mit strahlenden Augen fragte sie: »Bin ich Euch ein wenig lieb, Monsieur König? Heut möchte ich's glauben, denn Eure Stimmung klingt anders als von kalter Höflichkeit. Und daß Ihr und die Schwester gute Kundschaft halten wollt mit der armen Dorfjungfer, soll mir manchmal in der Wildnis ein Trost sein; denn die Gäste, welche sonst zu uns kommen, sind selten der Art, daß man mit Freude an sie zurückdenkt.« Sie wies auf die Landstraße: »Seht, dort ziehen solche heran, von denen wir häufig Zuspruch haben.« Aber im nächsten Augenblick ging sie mit schnellem Schritt auf die Fremden zu.

Ein Mann zog einen kleinen Handwagen, auf welchem zwei müde Kinder saßen, neben ihm hinkte, auf einen Stab gestützt, die Frau. Der Fahrende trug einen städtischen Rock, dessen schwarze Farbe durch Sonnenbrand und Regen vergraut war; aus dem feinen Angesicht blickten zwei gescheite Augen. Er und die Frau waren nicht alt, aber schwächlich und verfallen, und man sah ihnen wohl an, daß sie bessere Tage gekannt hatten.

Judith rief ihrem Begleiter hastig zu: »Es sind Exulanten, es ist ein Geistlicher!« und redete den Mann an, indem sie sich verneigte: »Salve, vir reverendissime!« Dabei nahm sie ihm die Deichsel aus der Hand und kehrte den Wagen dem Dorfe zu: »Ihr dürft nicht ohne Erquickung weiterziehen. Verschmäht nicht, die kurze Strecke zurückzulenken; was fehlt der Frau am Fuße?«

Der Mann zog vor diesem entschiedenen Willen den Hut. »Will die wohlgeneigte Frau den Meinen etwas Gutes tun, so wird es der Himmel lohnen, denn wir kommen von weit her und wissen nicht wohin.«

Judith wandte sich zu Bernhard, und auf die Kinder weisend, sagte sie in herzlicher Bewegung: »Auf solchem Wagen saß als Kind auch ich, wenn ich erschöpft vom Wandern war, mein Vater zog die Deichsel, und die Mutter ging mit wunden Füßen im Staube der Heerstraße.« Und den Wagen auf der Straße zurückfahrend, wehrte sie dem Flüchtling: »Ich leide nicht, Herr Pastor, daß Ihr Euch bemüht.«

Da nahm auch der Rittmeister den Arm der wankenden Frau und [] führte sie vorsichtig, die tiefen Wagengleise meidend, nach dem Dorfe zurück. So kam die Gesellschaft vor das Haus der Jungfrau; diese lenkte zu dem Bau, in dem der Rittmeister einquartiert war, und bat: »Gestattet ihnen, in der Kammer Euch gegenüber zu bleiben, denn ich sehe, eine Nachtruhe ist ihnen vor allem nötig.« – Sie hob die Kinder vom Wagen, gab der alten Ursel und dem Reiterbuben schnelle Befehle, und dem Rittmeister war, als ob sie auch seine Hilfe bei dem guten Werke erwarte, so daß er ihr dienstwillig in das Haus folgte. Dort schloß sie die Truhe auf, kramte in der Wäsche, wickelte ein kleines Bündel und hob ein vornehmes Tischtüchlein mit buntgenähtem Saume heraus: »Es macht dem Herrn Pfarrer soviel Freude als gute Kost«, erklärte sie, »wenn wir ihm ein Tischtuch aufdecken.« Sie legte das Tuch ihrem Gast über den Arm und fragte: »Es war starkes Bier gekommen aus der Stadt für die Jungfer Schwester; darf ich davon geben?« Als ihr Blick auf das Gestell fiel, wo sie den kleinen Silberbecher versteckt hatte, hielt sie zweifelnd an und fragte wieder: »Ist es Euch unlieb, wenn der Fremde aus Eurem Becher trinkt?« Bernhard hob das Gefäß schnell herab. »Dann ist noch das Huhn für die kranke Frau«, fuhr sie bittend fort, »auch dies war für einen anderen zubereitet, und er würde mit Geringerem vorliebnehmen müssen.« Und sie trugen gemeinschaftlich den Flüchtlingen hinüber.

Unterdes war Ursel um die kranke Frau bemüht, und Pieps, welcher Lagerstroh herzugetragen und mit nicht gemeiner Kunst eine Streu geschüttet hatte, saß vor der Tür bei einem Wasserkübel und striegelte den beiden Kindern mit Schwamm und Bürste den Staub des Weges von Gesicht und Kleidern. Judith aber und Bernhard deckten dem Pfarrer den Tisch im Freien; sie trug auf, er schenkte ein und trank den Willkommen zu, gleich als ob er Hausherr wäre.

»Dies ist ein Landsmann aus dem Riesengebirge«, sagte Judith und strich dem Pfarrer vertraulich über den Ärmel, »ich erkenne an seiner Rede die Heimat.« Und als der Fremde, bevor er sich an die Kost wagte, wehmütig durch das Fenster in die Stube zurücksah, tröstete Judith: »Sorge der Herr Pastor nicht um die liebe Frau und nicht um die Kinder, denkt jetzt an Euch selbst.«

Der Mann gewann im Essen besseren Lebensmut und erzählte dem Rittmeister, welcher sich zu ihm setzte, von dem Unglück seiner Heimat und dem Elend seiner Irrfahrten, ruhig und ohne Klage, wie müde und geplagte Leute von ihrem schweren Schicksal sprechen, wenn sie nicht darauf ausgehen, Mitleid zu erregen. Auch Bernhard, welcher den Flüchtling als verständigen Mann erkannte, der von den Kriegsläuften zu berichten wußte, antwortete ihm achtungsvoll und merkte, wie froh Judith über seine Teilnahme war, wenn sie einmal am Tische stehenblieb. So kam der Abend heran; Judith führte die Kleinen sauber und gesättigt zu ihrem Vater: »Die Kinder wollen [] Euer Ehrwürden gute Nacht sagen, wir legen sie jetzt in die warme Streu, die liebe Frau ist versorgt, und ich hoffe, sie wird morgen bis zur Stadt gehen.«

Sie räumte ab, hing dem Rittmeister auf seine Forderung wieder das Tischtuch über den Arm und schüttelte dem Pfarrer, während er seine Segenswünsche aussprach, lange die Hand. »Gute Nacht euch allen, ihr Armen; ihr schlaft in gutem Schutz, der Knabe dieses Herrn wird euch heranholen, was ihr etwa noch braucht.«

Auch als Judith mit Bernhard in ihre Stube zurückgekehrt war, hörte das Schaffen nicht auf; sie fand noch mancherlei, was die Fremden nötig brauchten und was sie entbehren konnte, öffnete die Kasten und trug zusammen, bis Bernhard endlich sagte: »Die Jungfer ist glücklich, gerade das Nötigste geben zu können; gern wollte auch ich etwas tun; wenn Ihr einen Beutel hättet, so möchte ich einen Joachimstaler hineinstecken, damit Ihr ihn beim Abschiede der Frau gebt.« Dieser Gedanke gefiel der Jungfrau, und sie brachte aus einer Ecke der Truhe ein Ledersäcklein herbei, trat vor ihn, hielt es umgestürzt am unteren Zipfel und sagte lachend: »Es ist leer!« – So unschuldig und liebenswert waren ihre Freude und der warmherzige Eifer, daß Bernhard ein Entzücken in seinem Herzen fühlte, welches ihm übermächtig wurde; er neigte sich zu ihrem Angesicht und küßte sie herzlich auf den Mund. Sie widerstand nicht, und als er wagte, den Arm um sie zu legen, ruhte sie einen Augenblick an seinem Herzen. Doch während sie sich von ihm löste und ihn liebevoll ansah, rötete sich ihr Antlitz; sie trat schnell zum Tisch, ergriff ihren Kram und verließ das Zimmer.

Bernhard stand allein in der Stube, und ihm kam vor, als ob die Kräuterbündel und Flaschen auf dem Brettergestell hüpften und der Lehnstuhl ihn tanzend umkreiste. Ungeduldig schritt er auf und ab, die Rückkehr des Mädchens erwartend. Als sie nicht kam, eilte er aus dem Hause, sie zu suchen. Er fand sie an der Felswand auf einer Bank sitzend und merkte, daß ihre Augen naß waren. Da ergriff er ihre Hand, und sie zog die Hand nicht zurück, aber sie sah traurig zu ihm auf und sagte leise: »Ihr hättet mich nicht küssen sollen.« – Ihm schlug das Herz hoch, und er bat: »Der lieben Jungfer Judith habe ich etwas zu vertrauen, was ich am liebsten sage, wenn dieselbe im Hause vor mir sitzt auf ihrem Stuhle am Spinnrad, zwischen den Wänden, in denen sie durch die lieben Eltern gesegnet wurde.«

Sie sah ihn groß an und das Blut wich aus ihrem Antlitz, als sie aufstand und schweigend neben ihm in das Zimmer trat. Hier stellte er ihr Stuhl und Spinnrad zurecht und bat sie mit einer Handbewegung, niederzusitzen. Sie gehorchte und hielt die Spindel im Schoß, die Augen fest auf ihn gewandt. Er aber begann feierlich:

»Liebe Jungfer Judith, ich habe mich zu dem Kusse vermessen in herzlicher Neigung, die ich für Euch fühle. Zürnet nicht, wenn ich [] Euch heut geradeheraus und ohne Freiwerber meine Liebe bekenne und meinen heißen Wunsch, daß Ihr Euch entschließen möget, mein eheliches Gemahl zu werden.«

Das Mädchen stand erschrocken auf, während er bittend fortfuhr: »Ich weiß wohl, was die geliebte Jungfer einwenden wird, daß so voreiliges und stürmisches Werben nicht gezieme, da ich nur seit kurzer Zeit Euch bekannt bin. Auch fürchte ich, daß Euch mein Kriegsamt leidig ist. Höret dennoch meine flehentliche Bitte mit günstiger Gesinnung an, denn von der ersten Stunde, wo ich Euch sah, habt Ihr mir sehr gefallen und seitdem immer mehr, und wenn ich hier Euer Wesen betrachte, so merke ich, daß ich auf Erden nur mit Euch glücklich sein kann.«

Judith atmete tief auf und antwortete mit stockender Stimme: »Der Herr sagte selbst, daß ich ihn erst seit kurzem kenne, dieselbe Rede muß ich dem Herrn zurückgeben, auch von mir ist ihm wenig bewußt; er weiß noch nicht, wie das freundlose Dorfmädchen sich zu seinem Leben schicken würde, und mir bangt, daß ihn bald seine Rede gereuen könnte.«

»Sprecht nicht ungerecht gegen Euch«, rief Bernhard, alle Bedächtigkeit vergessend, »denn ich sehe wohl, in der Jungfer ist ein Geschick und eine Festigkeit, daß sie überall in der Welt bestehen wird. Ich hoffe, dieselbe soll auch finden, daß in meinem Gemüt keine dunklen Winkel sind; ich bin ein einfacher Gesell, wie ich denke, so gebe ich mich; seid Ihr einmal mit mir unzufrieden, herzliebe Jungfer, so sagt es mir geradeheraus, und ich werde mich gern nach Eurem Willen richten, soweit dies dem Manne geziemt. Und wenn Ihr mir einwendet, daß ich Euch zu wenig kenne, so wisset, daß ich zu Euch ein Vertrauen habe, wie niemals gegen einen Menschen, und ich fühle die Sehnsucht, immer in Eurer Nähe zu sein und alles mit Euch zu teilen, Gedanken und Werke.«

Judith verstand die Bewegung seiner Stimme und das Flehen seiner treuen Augen, und die Tränen liefen ihr über die Wangen, aber sie faßte sich bald. »Ich glaube Euch«, sprach sie, »und ich traue Eurer Redlichkeit. Doch zürnt nicht, Herr, wenn ich in dieser Stunde die Antwort gebe, die mir gebührt. Zu Eurer verlobten Braut kann ich mich nicht bekennen nach solcher Rede, wie Ihr heut zu mir getan. Es ist ein alter Glaube, daß jähe Werbung kurzes Glück gewinnt. Euch treibt Euer Amt in die Ferne, wer weiß, ob ich Euch dort so lieb bleibe, wie ich Euch nach Euren Worten zur Zeit bin. Deshalb bitte ich inständig, schont jetzt meinen einsamen Stand und sehet erst zu, wie Ihr die Ehe, die Ihr beabsichtigt, mit Eurem Amte und Euren Blutsfreunden in Einklang bringt. Werbt Ihr dann um mich, wie Sitte ist, durch Eure Freundschaft, und kommt Eure Schwester, um mich als Hausfrau für Euch zu fordern, so sage ich Euch Bescheid.«

[] Sie trat zurück, und er sah finster vor sich nieder: »Laßt mich nicht unsicher und in Traurigkeit dahinziehen, denn das Zutrauen zu Eurer Liebe wäre mein einziges Glück fern von Euch in der Fremde.«

Da sprach sie leise: »Ist es Euch unlieb, daß ich zögere, mir ist es leid. Tut dennoch nach meinem Wunsche und vertraut unterdes, daß ich Euch zugetan bleibe. Denn ich bekenne Euch, Monsieur Bernhard, was sonst ein Mädchen verbirgt: auch ich bin Euch gut. Und wenn Ihr mich durch Eure Freunde zu Eurer Hausfrau begehren wollt, so gehöre ich Euch, als meinem geliebten Herrn, für Leben und Tod. Wisset auch, daß ich seit dem Morgen, wo ich Euch im Walde zum ersten Male sah, in der Stille des Glaubens lebe, daß der Himmel Euch zu mir gesandt hat, damit ich Euch angehöre.«

Bei diesen Worten bot sie ihm die Hand, er aber zog sie fröhlich an sein Herz und rief: »Allerliebste Herzensjungfer, es soll geschehen, wie Ihr wollt, und ich hoffe, es dauert nicht lange, daß ich die Schwester zu Euch sende, denn mir ist auf dem Wege zu Euch allerlei eingefallen, wie wir unser Leben friedlich einrichten könnten. Ist's Euch genehm, so erzähle ich davon.« Als sie aber ihm gegenüber niedersitzen wollte, sagte er: »Jetzt, da Ihr wißt, daß Ihr meine Liebste seid, ist mein Recht, daß ich neben der Jungfer sitze und auch, daß ich Euch vor den Leuten an der Hand führe.« Das mußte Judith zugeben, und er rückte ihren Schemel neben seinen Lehnstuhl, auch gebrauchte er sein Recht, ihre Hand zu halten, und hinderte sie in der Arbeit. Dabei begann er:

»Zuerst bitte ich Euch, daß Ihr das Waisenkind, meinen Buben, bei Euch behaltet und auch das Rößlein der Schwester. Dem Knaben ist Eure Zucht ein Himmelssegen, und er merkt das auch, Euch aber kann er als Bote dienen zur Stadt und wie Ihr sonst wollt, denn er ist über seine Jahre gewitzigt. Den Gaul wird er besorgen, damit Ihr diesen für Eure Wege zu den Kranken gebraucht oder für die Schwester bewahrt.«

Als Judith damit einverstanden war, berichtete er weiter, wie er neulich auf dem Wege den heimkehrenden Gutsherrn betrachtet und sich an seine Stelle gedacht, die Jungfer Judith aber an Stelle der Hausfrau. Und als er das rosige Licht sah, welches sich über die Wangen des geliebten Mädchens ergoß, schilderte er ihr die ganze Einrichtung des Gutes, erwähnte Gottlieb und Pieps und seine Beutepferde, so daß Judith, hingerissen durch die Beschreibung, auch ihrerseits von der Molkerei anfing, und daß sie eine gute Großmagd wisse; bis sie ihn endlich in die Kammer zog und bat, an die Wand zu klopfen. Sie freute sich, als er ihr bekannte, daß er nichts Auffälliges entdecken könne, und vertraute ihm ein Geheimnis des Hauses, daß die Wand doppelt war nach kluger Einrichtung des seligen Vaters. »Man kann nur vom Dachboden in den Raum, und ich zeige [] Euch den Zugang, darin aber steht eine große Truhe mit der Leinwand, die wir in all den Jahren gesponnen.« Und sie sagte stolz: »Es ist eine Ausstattung wie für eine Kaufmannstochter, das ist mein Schatz. Das Haus ist öfter geplündert, mein Geheimnis haben die Räuber niemals entdeckt, für Wäsche brauchtet Ihr nimmer zu sorgen. Doch wir sind töricht«, fuhr sie kleinlaut fort, »denn wie wollt Ihr in diesem Lande zu einem Gute kommen?« Jetzt wurde Bernhard froh, führte sie wieder auf ihren Sitz und gestand ihr, daß es mit seinem Vermögen gar nicht dürftig stand und daß die Geschwister zu Nürnberg in guter Verwahrung noch Geld besaßen und Anteil an einer Handlung; so daß Judith erschrocken sagte: »Ich habe nicht gewußt, daß der Herr so viel vermag, wie darf ich für mich daran denken, in solchen Wohlstand zu treten?« Und er mußte viele Beredsamkeit anwenden, bis er sie wieder dazu brachte, seine Pläne anzuhören.

Als beide eine Weile emsig an dem Garn ihrer Zukunft gesponnen hatten, begann Judith: »Wisset, liebster Monsieur Bernhard, daß Euer Mädchen, wenn die Kriegsnot nicht wäre, Euch auch ein Gütchen zubringen könnte. Denn die lieben Eltern saßen auf einem schönen Freihof in dem Lande Schlesien nahe an dem Riesengebirge bei einem hohen Berg, den man die Eule nennt; dort bin ich geboren, und ich war neun Jahre alt, als wir die Gegend verlassen mußten.«

»Der Herr Vater war doch ein Geistlicher?« fragte Bernhard verwundert.

»Das war er. Von Geburt ein Deutscher, aber er hielt zu den Gemeinden der böhmischen Brüder und stand unter ihnen in Ehren als einer von ihren Bischöfen; meine Mutter aber war eine Böhmin von der anderen Seite des Gebirges und stammte aus einem Geschlecht der Bekenner, welche man in alter Zeit Hussiten nannte. Als nun in Böhmen die grausame Verfolgung aller Evangelischen ausbrach, gelang es dem Vater, der viel Anhang in dem Grenzlande hatte, sich in Schlesien zu behaupten, weil er die Gunst einiger großer Herren besaß. Und da er immer ein Naturkundiger gewesen war, so hielt er sich still auf unserem Gut, das er erworben, half den Kranken, wo er konnte, und übte nur insgeheim sein heiliges Amt. Aber nicht lange, bevor der Schwedenkönig ins Land kam, ward er den Jesuiten verraten und sollte in den Kerker abgeführt werden, was damals so viel bedeutete als in den Tod; doch er wurde durch einen Freund gewarnt, und wir flohen bei Nacht, zuerst im Wagen, dann zu Fuß durch Schlesien und über die Elbe, bis wir in dieses Land gelangten. Die liebe Mutter starb nach den Schrecken und Anstrengungen unserer Reise, der Vater zog mit mir aus bitterer Not in dies Dorf, und ich habe ihm während der Kriegszeit noch als Kind die Wirtschaft geführt.« – Sie legte ihr Haupt an seine Schulter und sah starr vor sich hin, Bernhard wagte nicht, das Schweigen [] zu brechen; er dachte wehmütig, wie unsäglich viel Trübsal und Schmerz das tapfere Herz, welches nahe an dem seinen schlug, in jungen Jahren durchgekämpft hatte. Endlich fragte er, um wieder ihre Stimme zu hören: »Von dem Gut aber, was der Herr Vater zurückgelassen, habt Ihr nie wieder etwas gehört?«

»Zuweilen kam Kunde. Unter dem Schwedenkönig diente ein Oberst, der von unserem Glauben war und mit meiner Mutter verwandt, dieser lag längere Zeit in unserer Heimat; an ihn schrieb der Vater, und er hat uns seine Treue bewahrt. Denn da die Feinde unsere ganze Habe genommen hatten, zwang er sie, den Raub in Gelde zu büßen, ein Teil davon kam in des Vaters Hände, so daß er sich hier festsetzen konnte. Und wegen des Gutes wurde abgemacht, daß es dem Vater als Eigentum bleiben sollte, und der günstige Freund, von dem uns die Warnung gekommen, sollte den Nutzen haben, als wenn es ihm gehörte, bis wir wieder zurückkämen. Das ist jetzt fünfzehn Jahre her, und der Krieg hat seitdem fast unablässig auch in meiner Heimat gewütet. Wer kann sagen, wie es jetzt dort bestellt ist? Ich aber sehe das alte Steinhaus, in dem wir wohnten, noch deutlich vor mir, einen großen Hof mit hoher Mauer, und auch die Berge, welche in der Nähe stehen, sie sind viel höher als diese hier. Im Traum bin ich zuweilen ein Kind, trage mein Spielzeug durch die Stuben und höre erschrocken den Schlag am Tore in jener Nacht, wo wir gewarnt wurden. Auch die alte Böhmin sehe ich noch vor mir, welche meine Kindermuhme war, sie sah der Ursel sehr ähnlich und galt für eine Frau, welche Gesichte hatte. Als sie mich in der Nacht zu den flüchtigen Eltern in den Wagen hob, segnete sie mich und klagte in ihrer böhmischen Sprache: Du wirst hierher zurückkehren, denn dein Grab schaue ich, aber deiner Eltern Grab vermag ich nicht zu sehen. – Wer weiß, ob sie recht hat?« schloß sie leise und starrte wieder vor sich hin.

»Dient es zu Eurem Glück, daß Ihr hinkommt, so soll es geschehen«, tröstete Bernhard. »Ist der Weg auch weit, meine Hausfrau soll gute Reisegesellschaft haben. Der Knabe schirrt die Pferde auf, und mein alter Kampfgenosse begleitet uns, wir ziehen als frische Reiter in Eure Heimat und zwingen die Leute dort, Euch als Herrin zu erkennen.« Judith lachte ihn mit besserer Zuversicht an.

»Ihr habt einen frischen Mut«, rühmte sie.

»Dafür reite ich auch mit kecken Gesellen durch das Land.«

Das Mädchen stand schnell auf. »Wie die Kinder haben wir uns ein glückseliges Leben eingebildet; Ihr aber seid den bösen Geistern des Krieges preisgegeben, und auf der Schneide des Schwertes schwebt Euer Geschick und das meine. Ach, lieber Herr, ein Trugbild war die Hoffnung und eitel die Freude.« Die Tränen brachen ihr aus den Augen und sie barg das Angesicht über den Händen auf dem Tisch. »Haltet mich nicht für dreist«, bat sie aufsehend, »und denkt nicht, [] ich sei liebetoll. Ehe ich Euch kannte, war ich gefaßt, auch Schweres zu tragen, jetzt fühle ich mich hilflos wie ein Kind. Ich sehe die Feinde gegen Euch reiten, die Schwerter zücken, der Feuerstrahl fährt aus dem Rohr, das Pferd rennt dahin ohne den Reiter, und ich harre und weine.« Sie blickte wild wie auf eine Erscheinung.

»Ich schwor einen teuren Eid, bevor ich Euch sah«, sprach Bernhard, ergriffen durch die Leidenschaft der Jungfrau; »ich bin meinen Kriegsgesellen verpflichtet, solange das Tuch an der Standarte weht, mit ihnen zu reiten und ihr Schicksal zu teilen; das ist des Soldaten Los. Wenn es uns bei den Schweden gerät, so muß ich mit meiner Kompanie im Felde liegen. Auch in diesem Falle komme ich wieder zu Euch und bitte, daß Ihr als Offiziersfrau mit mir haushaltet in unseren Quartieren. Ist dort das Leben unsicher, so frage ich Euch, herzliebe Jungfer, habt Ihr im Dorfe größere Sicherheit? Auch hier bürgt uns niemand dafür, daß nicht in der nächsten Stunde die Feinde an das Haus dringen. Das aber gelobe ich Euch, so wahr ich Euch liebe und so wahr ich für uns beide auf eine friedliche Zukunft hoffe, ich löse mich von der Fahne, sobald der Eid und die Ehre dies gestatten.« Er zog das Mädchen wieder an seine Seite, sie aber blieb den Abend still und feierlich und verhandelte draußen leise mit der alten Dienerin. Endlich brach sie das Schweigen: »Heut ist eine heilbringende Nacht, und ich möchte in die Berge, ein wohltätiges Kraut zu holen, das man nach Vorschrift der Bücher und klugen Leute nur um Mitternacht aus dem Boden heben darf. Wollt Ihr mich begleiten, doch ohne ein Wort zu sprechen, so wäre mir's lieb.«

»Ich bin bereit«, sagte Bernhard verwundert. »Was Ihr wagt, soll mich nicht schrecken. Doch um Euretwillen, liebe Jungfer, warne ich vor der Stunde, welche dem Christen unheimlich ist.«

»Sorgt nicht«, antwortete Judith mit düsterem Lächeln, »ich vertraue, es ist keine Gefahr für Leben und Seligkeit.« Sie setzte sich wieder zu ihm, sprach ruhig und zutraulich und bat ihn, von seinen Kriegsfahrten zu erzählen. Das tat er gern, und schnell vergingen die Stunden, bis sie aufstand und bedeutsam sagte: »Jetzt ist es Zeit, zu gehen.« Bernhard eilte in sein Quartier, holte seine Waffen, hüllte sich in den Mantel und weckte den Knaben.

»Der Schreiber hat heut im Hofe der Jungfer spioniert«, berichtete Pieps. »Ich sah ihn im Abenddunkel unter dem Fenster.« »Halt Wache«, gebot Bernhard.

Als er aus der Hütte trat, stand die Jungfer ihn erwartend am Tor und legte warnend die Hand auf den Mund. Sie eilten über den Steg auf die Berge zu. Die Nacht war kühl und still, der volle Mond warf helle Lichter auf den Pfad, welcher der nächsten Höhe zuführte. Judith sah oft nach dem Himmel und hemmte den Schritt, um die rechte Stunde zu treffen. Als sie den Gipfel erreicht hatten, wies sie auf eine hohe Tanne, welche allein am Rande des Abhanges stand;[] Bernhard verstand, daß er dort zurückbleiben sollte, und das Mädchen trat allein hinaus auf den offenen Raum, welcher, mit jungem Laubholz umfaßt, vom Monde hell beschienen war.

Bernhard merkte nichts von den Schrecken der Geisterstunde. Hinter ihm fiel die Höhe steil zu dem Tale, er erkannte die grauen Dächer des Dorfes im Grunde, auch das Haus der Geliebten und den weißen Schaum des Bergbaches. Vor ihm aber lag friedlich in silbernem Glanze die Bergwiese, der Nachtwind strich leise über die Halme und Blüten, so daß sie sich regten wie im Schlafe, und trieb ihren würzigen Duft weithin durch die Luft. Wo ein Busch oder der Stumpf eines Baumes Schatten warf, bewegten sich wie im Tanze kleine Lichtfunken; sie fuhren auf und nieder, erglänzten und verschwanden zwischen Schatten und Licht. Es war wundersam still, keine Vogelstimme ertönte und kein Wildtier bewegte die Zweige, die Grillen hingen schweigend an den Blättern, die Hummeln saßen geduckt in ihrem Erdloch, und über der strahlenden Erde lag aus Strahlen gewebt die silberne Decke, welche das geheime Leben verbarg. Bernhard, der zum Schutz für sich und eine andere leise sein Gebet gesprochen hatte, bedachte, daß die Stunde und der Ort eher zu frommen Gedanken ermunterten als zu Werken des Teufels. In der Ferne sah er Judith langsam am Rande des Gehölzes dahingehen, auch sie umflossen von dem milden Schimmer der Nacht, und er erkannte, daß sie niederkniete auf dem Grunde. Nicht lange, und sie kam mit schnellen Schritten auf ihn zu, zog ihn in den Schatten des Baumes und flüsterte, scheu zurückblickend: »Nicht ohne Widerstand empfing ich die Gabe. Mir war, als schaute ich im Gehölz das Gesicht des bösen Feindes; er sah einem Manne ähnlich, vor dem mir graut. Doch das Trugbild verschwand wieder, und ich halte in meiner Hand, was ich für Euch geholt.« Sie wies ihm den kleinen Beutel, welchen sie aus der Truhe gehoben hatte. »Dies Säcklein, über dem Ihr die Jungfer geküßt habt, bewahrte ich für Euch; die Wurzel eines kleinen Krautes steckt darin, denn es ist ein Glaube, daß diesem die Kraft verliehen sei, den Leib des Mannes, der sie trägt, vor feindlichem Geschoß zu bewahren. Nehmt sie, Geliebter, und bergt sie unter Eurem Kleide. Wir haben ja keine Gewähr, daß sie die große Kraft hat, aber wir hoffen es. Seid Ihr selbst auch stolz und seid Ihr ungläubig, tragt sie doch um meinetwillen, denn in Herzensangst um Euch habe ich sie der Erde abgefordert und geraubt.«

Da empfing er die Gabe, barg sie an seiner Brust und sagte herzlich: »Seither habe ich der Gefahr ohne Furcht ins Auge gesehen und war bereit, in Gottes Namen zu ertragen, was der Krieg dem Reiter bringt. Was mir von Euch kommt, bewahre ich ohne Scheu. Aber ich fürchte fast, daß mir Euer Geschenk das sorglose Wagen vermindert; denn wenn ich es an mei nem Herzen fühle, so muß ich [] jetzt denken, daß ich ein holdes Mädchen besitze, das mehr um mein Leben sorgt als ich selbst. Kräftiger als die Kräuter des Feldes ist der Zauber, den Ihr an mir übt, wenn ich Euch in die Augen blicke und wenn ich Euch in meine Arme schließe, wie ich jetzt wage.«

Enttäuschungen

Die hohe fürstliche Teilnahme machte den Gast im Hause des Schloßpredigers zu einem Gegenstand sorglicher Pflege. Der Herzog sandte einen Wildbraten und sogar einen guten Trunk für seinen Schützling, er hielt im Vorbeireiten an und fragte den Hausherrn, welcher vergnügt auf die Schwelle trat, nach dem Befinden der Fremden, ja, er stieg selbst die finstere Treppe hinauf und versicherte Regine mit tröstenden Worten seines Schutzes. Da war natürlich, daß ihr manch gutes Süppchen gekocht wurde, und daß die Schloßpredigerin nicht leiden wollte, wenn ihr Gast an die Waschgefäße trat und in der Küche unter den Töpfen hantierte. Doch Regine beharrte dabei, das Wohlwollen, welches ihr so plötzlich zuteil geworden war, durch treue Hilfe zu verdienen, sie bemächtigte sich der Bäffchen und Kragen des Geistlichen, wußte diese in glänzendem Weiß zu erhalten, machte mit herzlicher Innigkeit die Hausandachten durch und ging bei jedem öffentlichen Gottesdienst schüchtern neben der Schloßpredigerin zur Kirche hinauf; dort saß sie auf einem Ehrenplatz mit niedergeschlagenen Augen und merkte nicht, daß sie der kleinen Schloßgemeinde zu beständiger Verwunderung gereichte und daß auch die hohen Herrschaften vom Chore aus den Verlauf ihrer Andacht genau beachteten.

Sie war glücklicher als seit lange. Aber bei ihrem Wohlbefinden war ein Haken, den sie selbst nicht merkte. Sie erwies sich nicht als das Wunder, das sie doch sein sollte, sie wandelte durch die Stunden des Tages ganz wie ein anderes Mädchen, und zuweilen verschönte ihr herzliches Lachen die Räume des Pfarrhauses, wenn Licentiatus Hermann als Gast gegenwärtig war, kleine Abenteuer von der Universität erzählte und dabei die fremdartige Sprache der Süddeutschen possierlich nachmachte. Vielleicht war es das ruhige Glück, welches dem Mädchen die Erweckungen fernhielt; aber solche Enthaltsamkeit war nicht ganz nach dem Sinne ihrer Gönner. Der Herzog begnügte sich, bei dem Geistlichen deshalb vertraulich anzufragen, und sagte: »Haltet das Kind nur gut, das übrige sei dem Herrn befohlen!« Aber der Schloßprediger fühlte die Verantwortlichkeit und daß die Sache einen Fortgang haben müsse, und es geschah, daß er sich bei Nacht von seinem Lager erhob und in Socken an die Kammertür seines Gastes schlich, um zu horchen, ob sie nicht vielleicht an leere Wände die wertvollen Worte verschwende, so daß [] die Hausfrau, ebenfalls in Socken, nacheilen und mit kräftigem Protest an seinen Husten erinnern mußte.

Endlich fand der Schloßprediger, daß es notwendig sei, die sibyllinische Tätigkeit seines Gastes, soweit geistlichem Zureden möglich ist, aufzumuntern; er spielte sich eines Tages mit vorsichtigen Worten auf die früheren Zufälle des Mädchens, forschte genau nach den Kennzeichen, an denen das Eintreten dieses Zustandes von dem teilnehmenden Beobachter erkannt werden könne, und beobachtete im Amtseifer nicht, daß sein Gast sogleich alle Heiterkeit verlor und hilfeflehend zu ihm aufsah. Zuletzt wagte er sogar den Rat: »Meine liebe Jungfer, da des Herzogs Gnaden ein besonderes Interesse an Euren prophetischen Aussprüchen nimmt, so wäre für uns alle wünschenswert, wenn derselbe einmal davon profitieren könnte.« – Regine versetzte kummervoll: »Ach, ehrwürdiger Herr, ich vermag ja dabei nichts.«

Aber wohlmeinend fuhr der Geistliche fort: »Vielleicht würde durch Gebete sowie durch ernste Richtung des Willens auf die erwähnte Begabung der erwünschte Effekt zu erreichen sein.«

Regine stand erschrocken auf: »Soll ich meinen lieben Schöpfer bitten, daß er mich träumen lasse, damit dem Herrn Herzog eine Unterkunft bereitet werde?«

»Die liebe Jungfer möge meine Worte nicht uneben auslegen. Diese Träume könnten manches enthalten, was als göttlicher Fingerzeig für Seine herzogliche Gnaden von hoher Importanz sein würde, insbesondere, wenn es der Jungfer gelingen sollte, dem Herzoge etwas wegen der großen Flügelhauben und Bänder, wodurch die Weiber jetzt Ärgernis geben, ans Herz zu legen, sodann wegen des unmäßigen Saufens seiner Kavaliere, vielleicht auch wegen der höchstnötigen Erhöhung der Stolgebühren.«

Regine saß wie vernichtet in tiefem Schweigen, so daß der Schloßprediger den Eindruck seiner Worte merkte und gutmütig fortfuhr: »Die Jungfer ist uns allen wert geworden durch gottesfürchtiges und säuberliches Wesen, auch ohne ihre Träume, von denen wir ja nicht wissen, ob sie eine himmlische Heimsuchung oder Begnadigung sind. Es wäre uns nur lieb, darüber einmal durch eine Beobachtung informiert zu werden.«

Diese Unterredung hatte zur Folge, daß Regine in tiefe Trauer verfiel; sie saß den Tag über schweigsam und abgespannt, und die Schloßpredigerin, die es für passend hielt, selbst die Bewachung zu übernehmen, hörte sie noch am späten Abend in ihrer Kammer weinen. Den anderen Tag war sie bleich und unruhig, die Hände flogen ihr bei der Arbeit, die sie vergebens zu bezwingen suchte, wie im Fieber, und als sie am Nachmittag der Hausfrau klagte, daß sie sich müde und erschöpft fühle, und von dieser auf einen Lehnstuhl geführt und in warme Decken gehüllt wurde, da konnte der Geistliche [] zum Herzog eilen und berichten, die Anzeichen seien günstig, und es sei wohl möglich, daß der Gast heut allerlei offenbare.

Auch der Herzog wurde durch Wißbegierde getrieben und ließ schnell den Lizentiaten Hermann rufen, damit dieser die Enthüllungen zur Stelle niederschreibe. Als er in die Stube des Schloßpredigers trat, fand er die Kranke im Lehnstuhl zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen, die Wangen leicht gerötet, so friedlich und heiter, daß er sich über sie neigte und sie lange mit innigem Wohlwollen ansah. Sie hatte noch nichts geredet. Doch sobald er der Schläferin gegenüber einen Sessel einnahm und das Geflüster der Anwesenden eine gewisse Erregung erkennen ließ, teilte sich die Bewegung der Schlafenden mit, sie rührte die feinen Hände, holte tief Atem und begann deutlich und langsam zu sprechen: »Du lieber Gott, bei dir ist Friede. Wir bitten täglich darum, und ich weiß, du wirst dich unser erbarmen.

Sorge nicht um mich, mein Bruder, mir geht es wohl auf Erden, die Leute sind gut gegen mich, vor anderen der fromme Herzog. Betet alle für ihn« – der Schloßprediger hob die gefalteten Hände. –

»Als er gestern auf die Jagd ritt, stand ich am Fenster, und ich ängstigte mich um ihn. Die Wälder sind unsicher; wahret Euch, lieber Herr, denn das Land könnte Euch nicht missen. Ich freue mich, daß der Herzog sich nicht zu einem Kriegsfürsten gemacht hat, wie unsere Reiter begehrten, denn wer Menschen blut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden.

Ich fürchte, er traut zuviel auf den Herrn Schloßprediger, denn dieser ist ein Fuchs; er wollte mich bereden, daß ich dem guten Herzog etwas wegen der Stolgebühren verkünden sollte.«

»Entsetzlich«, seufzte der Schloßprediger. »Das war ein Mißverständnis, herzogliche Gnaden.« – Der Herzog hob strafend den Finger, Regine aber schwieg; es war tiefe Stille, nur der bedrängte Hausherr fuhr nach seinem Sacktüchlein. Endlich begann die Schlummernde wieder: »Ei, da ist ja auch Monsieur Hermann? Hm, hm! – Danke für freundliche Nachfrage, ganz gut.« – Der Lizentiat legte errötend die Feder weg.

»Sie wollen hören, was ich im Traume rede, du lieber Gott! Aber auf dein Wort, welches du verkündet hast, wollen sie nicht hören. Sie berühmen sich hoher Kenntnis der Schrift, aber ihr Herz ist kalt. Wie wollen sie dazu helfen, daß dein Reich und deine Herrlichkeit auf dieser Welt heimisch werde?

O Schöpfer mein, den Augen dein
darf niemand keck erscheinen.
Mein Unverstand ist dir bekannt,
kann seufzen nur und weinen.«

Wieder schwieg sie still und bewegte sich unruhig. »Die Hände werden mir kalt«, murmelte sie, »und ich werde erwachen.« – Sie [] neigte das Haupt und seufzte noch einige Male, dann öffnete sie die Augen und sah mit starrem Blick auf die Versammlung.

»Des Himmels Segen über dich, du gutes Kind«, sagte der Herzog. »Wir haben diesmal keine Verkündigung vernommen, – wohl, aber christliche Gesinnung. Was Ihr geschrieben, Hermann, bleibt vertraulich zwischen den Anwesenden. Euch aber, Schloßprediger, ermahne ich, daß Ihr Euch nicht einfallen laßt, Eure Wünsche der Jungfrau in das Ohr zu sagen; Ihr seht, sie kommen schnell an den Tag.«

»Dennoch darf ich Eurer herzoglichen Gnaden nicht verbergen«, sagte der Schloßprediger bedrückt, »daß mir ein Zweifel gekommen ist, ob, was sie hier verkündet hat, irgendwie durch göttliche Erleuchtung gesagt ist. Schon Martinus Luther hat erfahren, daß auch der Satan in leuchtendem Gewande sich zu präsentieren wagt.«

»Haltet Ihr die Andeutung wegen der Stolgebühren für eine teuflische Eingebung?« fragte der Herzog mit Spott.

»Für einen Irrtum, gnädigster Herr«, antwortete der Geistliche feierlich. »Nicht nur ich, sondern alle meine Amtsbrüder sind der Meinung, daß ein neues Edikt über die Stolgebühren für das geistliche Ministerium nötig sei, und ich erinnere mich, daß ich darüber zu der Jungfer gesprochen. Aber keineswegs war die Meinung, daß ich wie ein Fuchs hinterlistig durch solche Rede Eurer Gnaden gute Meinung für diese Angelegenheit gewinnen wollte; und ich wiederhole meine Befürchtung, daß die Aussage der lieben Jungfer eher Traumgespinst einer kranken Person als eine Offenbarung sei.«

»Was es auch sein mag, Ehrwürden, ich denke, auch Ihr seid der Meinung, daß es aus einem reinen kindlichen Herzen kam; und ich bin willens, die Herzogin zu veranlassen, daß sie der Jungfer auf dem Schlosse ein Unterkommen bereite, damit Euch nicht durch ein neues Mißverständnis das arme Kind verleidet werde.«

So schied Herzog Ernst, und die Kranke saß da, gestochen durch die kalten Blicke ihrer geistlichen Wirte. Als aber nicht lange darauf einige Schloßdiener kamen und Regine in einer Sänfte nach dem Friedenstein hinauftrugen und mit ihr ihre Habe, da erkannte der Schloßprediger, daß hier ein ernster Fall vorliege und daß er in einem natürlichen weltlichen Bestreben ein geistliches Unrecht verübt habe. Er ging die ganze Woche schwermütig umher und hielt am nächsten Sonntage in Gegenwart des Hofes eine nachdrückliche Predigt, in welcher er eine Menge Fallstricke bezeichnete, durch welche Satan die Gerechten dieser Welt für sich einzufangen sucht. Zum Schluß aber erhob er in auffälliger Bewegung seine Stimme und klagte sich selbst vor seiner Gemeinde an, daß auch er in Gefahr gewesen sei, einer Versuchung aus eigennützigem Interesse zu unterliegen; und er bat die gesamte christliche Zuhörerschaft, ihn durch Gebet zu unterstützen, damit er Verzeihung erwerbe. Dazu erwies [] sich die Gemeinde willig, und der geistliche Herr sah mit Befriedigung, daß auch sein Herzog die Hände faltete und für ihn bat. So hatte er die üblen Folgen seines vorschnellen Eifers allerdings von sich weggebetet und durfte wieder mit erhobenem Haupte einherschreiten; aber gegen die fremde Jungfer und ihre begünstigte Stellung im Himmel und auf Erden vermochte er fortan ein gewisses Mißtrauen nicht loszuwerden.

Zu derselben Zeit, in welcher Regine durch die irdische Klugheit des geistlichen Herrn gekränkt wurde, sollte auch ihr Bruder durch ähnliche Gesinnung hoher weltlicher Befehlshaber von seiner Kompanie beschieden werden. Er war mit seinen Begleitern unter schwedischem Kondukt den Quartieren des Generalleutnants Königsmark zwischen Weser und Leine zugeritten. Dort wurden die Abgesandten in Herberge gelegt, Bernhard selbst durch einen Offizier, der ihm als Führer zugeteilt war, vor das Tafelzelt des Generals geführt. Er stand vor einem ansehnlichen Bau, der nur von außen linnen war, denn an den zurückgeschlagenen Zipfeln des Eingangs sah man den kostbaren Seidenstoff des Innern; dafür diente das Zelt auch zur Pracht bei Gastereien und beim Empfange fremder Besucher. Eine grüne Schnur schloß die Umgebung in weitem Kreise ab und wurde durch Hellebardiere bewacht, welche dem dreisten Andrängen Neugieriger zu wehren hatten.

»Seine Exzellenz sind noch bei der Tafel, und Ihr werdet Euch gedulden müssen«, sagte der Schwede und führte seinen Gast zu einem Haufen von Soldaten und Offizieren niederer Grade, welche schaulustig außerhalb der Schnur standen. Bernhard sah lange Reihen reichgekleideter Diener die Speisen in großen Silberschüsseln auftragen, behende Pagen liefen ab und zu oder stolzierten hochmütig durch die harrende Menge; der Kellermeister brachte einen goldenen Pokal mit beiden Händen heran, und hinter ihm schritten seine Küfer mit schweren Kannen; überall reicher Schmuck und edles Metall, eine Pracht, wie sie Bernhard noch nirgend geschaut hatte, selbst nicht bei dem französischen Marschall, dem die hungernden Soldaten oft Böses wünschten. Da wurde ihm das Herz schwer, und er fragte sich zweifelnd, ob der neue Herr besser sein werde als der alte. Er hatte Zeit zu solchen Betrachtungen, denn die Mahlzeit währte lange, zuweilen vernahm er aus dem Innern des Zeltes lautes Gelächter und Rufe nach dem Mundschenk. Die schwedischen Offiziere, die um ihn her standen, hatten seinen Gruß mit kalter Höflichkeit erwidert und ihn neugierig betrachtet, doch da er stolz aufrecht stand und wie ein Kriegsmann aussah, der seinen Degengriff schnell zu finden weiß, so begnügten sich die Beobachter mit abfälligen Blicken und leisen Bemerkungen. Endlich nach einer harten Geduldsprobe hörte er das Geräusch der aufbrechenden Zechgesellschaft, die Diener strömten zum Ausgang und stellten sich in [] Reihen auf, und die Befehlsträger und Würdenträger schritten zwischen ihnen, einzeln oder zu zweien, ins Freie, alle mit geröteten Gesichtern, mancher mit wankendem Tritt. Wieder verging eine Weile, die Zuschauer hatten sich verlaufen, und Bernhard stand allein, da kam sein Begleiter geschäftig aus dem Zelt, ihn zur Audienz zu holen.

Sie durchschritten den großen Raum, in welchem das Mahl aufgetischt worden, und Bernhard sah die bunten Teppiche der Tribüne, auf der die Tafel stand, in der Mitte den vergoldeten Sessel des Generals mit purpurnem Samt überzogen, einem Fürstenstuhle ähnlich, da General Königsmark als Gubernator von Bremen und Verden sich den regierenden Herren in Deutschland gleich achtete. Der Offizier schlug einen Vorhang zurück, und der Rittmeister befand sich zwischen Tapeten, die aus Gold und grüner Seide gewirkt waren, dem berühmten Kriegshelden gegenüber. Der General hatte diesen Ruf wohl verdient durch die Klugheit seiner Anschläge und wilde Verwegenheit im Gefecht, aber auch durch die Leutseligkeit, in der er mit seinem Volke zu verkehren wußte, wo es galt, zu gewinnen; nicht zuletzt durch sein prachtvolles und großartiges Auftreten und durch einen Anschein von sorgloser Verschwendung. Doch die, welche ihm zu kontribuieren hatten, wußten, daß er habgierig zu greifen und festzuhalten verstand. Auch sein Äußeres war so, wie es der Soldat an seinem Feldherrn liebt, er hatte das Lob, ein schöner Mann zu sein, und war auch sein Antlitz durch Ausschweifungen aufgedunsen, die großen feurigen Augen, hoch geschwungene Brauen und eine starke Adlernase darunter gaben ihm bei seiner stolzen Haltung ein heroisches Aussehen. Mit kurzem Gruß beantwortete er die tiefe Verneigung Bernhards.

»Euer Name und Euer Regiment? Was wart Ihr vor Eurer wilden Reformation?«

»Fähnrich in der Leibkompanie.«

»Warum seid Ihr nicht Eurem Obersten gefolgt?«

»General Rosen ist durch Marschall Turenne verhaftet, und ich bin ein Deutscher.«

»Das bin ich zuletzt auch«, sagte der Feldherr, »leider ist diese Qualität kein Passeport zu einem glücklichen Leben.« Und mit gehobener Stimme fragte er: »Warum seid Ihr nicht zum Feldmarschall Wrangel gestoßen, der sich doch, wie ich höre, mehrfach durch Unterhändler um Euch bemüht hat?«

»Er ist ein Schwede, unsere Völker aber begehren sich einen Kriegsobersten von deutschem Stamme, dem sie zutrauen, daß er der evangelischen Sache aufrichtig dient und seinen Soldaten ein redliches deutsches Herz beweist.« Der General hob warnend die Hand, schritt zum Vorhang und sah nach, ob ein fremder Hörer in der Nähe sei. Dann begann er freundlicher: [] »Soll ich Euch Gutes raten, Euch und Euren Kameraden, so schweigt von Eurem deutschen Wesen, insonderheit wenn Ihr mit mir verhandelt. Ich führe Amt und Befehl von der Krone Schweden und bin ein treuer Diener meiner Königin. Bezeuget mir«, fuhr er mit lauter Stimme fort, »daß ich durch keinen Boten einen Antrag an Euch gesandt und mich in keiner Weise um Euch beworben, sondern daß Ihr freiwillig zu mir kommt und erst zu fragen habt, ob mir an Euch gelegen ist oder nicht.«

»Solcher Antwort waren wir von Ew. Exzellenz durchaus nicht gewärtig«, antwortete Bernhard unwillig. »Als in unserm Kriegsrat Euer Name genannt wurde, gedachten wir, daß Ihr als ein erfahrener Feldhauptmann und Held den Wert der Regimenter besser taxieren würdet. Zumal auch durch Boten, welche vorgaben, in Eurem Auftrage zu handeln, einzelnen Kompanien Versprechungen gemacht wurden, damit dieselben sich Eurem Heere zuwenden möchten.«

»Ob meine Obersten Euch in solcher Weise angesprochen haben, weiß ich nicht«, antwortete der General, »und kann für Versuche einzelner nicht respondieren. Von mir selbst ist kein Antrag ausgegangen, und wenn ich Euch nehme, tue ich es nur auf meine Bedingungen.«

»Wir aber«, versetzte Bernhard, »wollen uns nur auf geschlossenen Vertrag übergeben, und wir suchen nach teuer erkaufter Experienz einen Herrn, der uns bei seiner Ehre gelobt, den Vertrag zu erfüllen, und dem wir zutrauen, daß er uns das Paktum halte. Ist Eurer Exzellenz an uns nichts gelegen, so habe ich meinen Bescheid, und ich kann gehen.«

Königsmark trat auf ihn zu und hob wieder die Hand. »Ihr seid kurzab mit Worten, Herr Abgesandter, das frommt bei solchem Handel nicht, wie Ihr mit mir begehrt.« – Er wies auf eine große goldene Ehrenmünze, welche er am Halse trug. »Ihr seht die eine Seite der Medaille, mir liegt die andere auf der Brust, und ich will mit Euch, obgleich Ihr mir fremd seid, in der deutschen Weise reden, deren Ihr Euch rühmt. Was Euch gefällt, daß ich ein Deutscher bin, das gerade ist mir in Stockholm ein Hindernis für Gunst und Glück, denn argwöhnisch belauern dort meine Feinde meine Mensuren und warten nur auf einen Vorwand, mich zu verleumden, als wenn ich mehr an den eigenen Nutzen oder auf den Vorteil der deutschen Landsleute denke als an den schwedischen. Schon bin ich Euretwegen von dem Wrangel angefeindet und bei der Königin verklagt. Ich aber habe keine Lust, das Schicksal des Friedländers zu teilen, denn als ein drohendes Schredkbild lebt sein Abfall in der Erinnerung aller Potentaten. Wenn ich jetzt willfährig und mit offenen Armen Euch Empörer empfange, so werde ich selbst geheimer Anschläge verdächtig, und mir wie Euch würde das wenig frommen. Darum [] wiederhole ich Euch: mir ist wohl bewußt, was Ihr wert seid, aber ich kann nicht wie andere Euch die Hände drücken und in das Ohr sagen: kommt zu mir, während ich mich vor den Franzosen anstelle, als ob ich Eure Rückkehr zum Turenne betreiben wollte. Ich sage Euch kurz und gut, begehrt habe ich Euch nicht! Wollt Ihr doch zu mir, so darf ich's Euch nicht versagen, aber Ihr müßt Euch meinem Vorteil fügen. Was ich Euch bewillige, will ich Euch redlich halten. – Doch wie mir zugetragen wird, hat sich in Euren Völkern das Geschrei erhoben: der Soldat müsse zu dem helfen, was die Perücken niemals durchsetzen werden, daß nämlich dies gedrückte Deutschland pazifiziert werde. Solche Meinung ist neu und unerhört in den Heeren. Habt Ihr diese Gesinnung?«

»Auch den Soldaten jammert der allgemeine Ruin«, antwortete Bernhard, »und die Weiber und Kinder des Trosses fühlen den Hunger.«

»Wenn sie gute Quartiere erhalten, kommen ihnen vielleicht andere Gedanken«, versetzte der General lächelnd, »nur im Kriege macht der Soldat seine Fortune. Jetzt hofieren uns die deutschen Fürsten, ist der Friede geschlossen, dann fegen sie uns durch einen Federbart aus dem Lande. Dennoch, Herr Rittmeister, bin auch ich dem Frieden nicht abhold, nur daß er rühmlich komme und zur rechten Zeit.«

»Verzeihet, Herr, die trauernde Germania fragt seit Jahren, wann soll die rechte Zeit kommen?«

»Für Euch, Herr Abgesandter, wenn Ihr ein gemachter Mann geworden seid«, antwortete der General, »und für andere, wenn sie in gleichem Falle sind. Ihr scheint mir von der Art zu sein, aus welcher Frau Fortuna ihre Günstlinge wählt, ich hoffe, es soll Euch auch bei mir gelingen.« Er ging zum Tische und ergriff ein Blatt: »Die Bedingungen Eurer Völker über Sold, Quartiere, Dienst sind mäßig, und sie werden uns nicht scheiden. Doch was hier nicht verzeichnet steht, möchte ich von Euch erfahren, da wir allein sind. Ihr seid im Vertrauen der Offiziere. Was begehren diese unter der Hand für sich selbst, und was begehrt Ihr für Euch als Unterhändler?« Da Bernhard ihn schweigend ansah, fuhr er fort: »Meine Kassen sind leer, und hoch dürft Ihr nicht fordern.«

»Herr General«, sagte Bernhard kalt, »gestattet mir und meinen Kameraden die Nachrede zu vermeiden, als wenn wir die Regimenter an Euch verkauften.«

»Ihr tut am besten, Geld zu nehmen«, riet der General gutmütig, »denn mit anderem kann ich Euch noch weniger gefällig sein.«

»Wir Offiziere begehren keine Begabung, die vor den Völkern geheim bleiben müßte.«

»Ich habe Euch für klüger gehalten«, versetzte der Schwede trocken. »Ihr werdet noch lernen, daß das ganze Wesen der Welt durch [] zwei Prinzipia regiert wird, bei den Soldaten heißt es: nehmen, was zu greifen ist, bei den Schreibern: eine Hand wäscht die andere.«

»Ich habe keinen Auftrag, für die Offiziere der Kompanien etwas zu fordern, außer eines, daß sie im Befehl belassen werden; und vielleicht, Herr General, würde ich mich auch nicht zum Boten eines andern Auftrages hergegeben haben.«

»Das tut mir leid um unser Geschäft«, antwortete der Feldherr, »denn wenn die Führer begehren, ihre Kompanien zu behalten, so sage ich Euch geradeheraus, daß ich darauf nicht mit Euch paktiere. Die Ihr als Offiziere bestellt habt, sind im Tumult aus dem gemeinen Volke gewählt, es ist unmöglich, daß sie in ihren Stellen bleiben. Das wäre ein himmelschreiendes Exempel für alle Zeit, meine Offiziere würden sie niemals als ihresgleichen anerkennen, und kurz, ich sage Euch, soll ich Euch nehmen, so werden die Regimenter neu formiert, die Obersten und Rittmeister von mir bestellt.«

»Euren Willen werde ich dem Kriegsrat mitteilen«, antwortete Bernhard mit Zurückhaltung.

»Das Hin- und Herziehen verdirbt Euch und schadet mir«, rief der General, »soll ich abschließen, so muß es heut geschehen und mit Euch! Sprecht ehrlich, wie weit könnt Ihr mir nachgeben?«

»Wer die Feldbinde des Offiziers getragen hat, wird um seiner Ehre willen diese nicht ablegen«, sagte der Rittmeister finster.

»Das gebe ich zu«, versetzte der Feldherr. »Die Führer der Kompanien mögen zu Leutnants werden. Nur einer soll seine Kompanie behalten, und der seid Ihr.« Da Bernhard stumm blieb, fuhr der Graf fort: »Wollt Ihr diese Abmachung nicht auf Euren Kopf nehmen, so laßt Eure Begleiter darüber entscheiden; und ich sage Euch, eine Mehrzahl wird froh sein, die Kompanie loszuwerden, denn auf die Länge würden sie schlechteren Gehorsam finden als meine Offiziere. – Noch bleibt das schwerste Stück«, fuhr er nach einer Weile fort, »was soll ich mit Eurem Führer machen, den Ihr, wie ich höre, General tituliert, obgleich er bei Turenne nur Wachtmeister war?«

»Er hat sich als ein guter Oberst bewährt im Befehl gegen die Feinde und gegen die Soldaten«, antwortete Bernhard, »und das Heer hängt an ihm.«

»Um so schlimmer«, murmelte der General. »Was fordert er für sich?«

»Wollen Ew. Exzellenz observieren, daß er es ist, der die Völker der Krone Schweden zuführt, und daß er wohl das Recht hat, eine ehrenvolle Anerkennung zu verlangen.«

»Ich sage Euch, mein Säckel ist leer, doch soll es mir auf ein Stück Geld nicht ankommen.«

»Unsere Völker begehren für ihn das Amt eines Obersten in einem unserer Regimenter.«

[] »Das ist wieder unmöglich«, rief der General. »Die Majestät von Schweden würde niemals eine solche Ernennung tolerieren und bestätigen. Auch kann Euer Führer selbst das Amt nicht wünschen, denn er würde, bevor acht Tage ins Land gehen, seiner Ehren durch Degenstiche enthoben sein. Tut ein anderes Gebot.«

»Ich bin dazu nicht ermächtigt«, antwortete Bernhard.

»So laßt mich selbst mit ihm verhandeln, es wird sich dazu Gelegenheit finden, wenn Eure Regimenter herangekommen sind. Will sich Euer Führer mit Diskretion der königlichen Gnade anvertrauen, so bin ich bereit, nach Befund der Sache die Forderung eines mäßigen Ranges zu befürworten, ich selbst würde mich auf ein Wespennest setzen, wenn ich mehr täte.«

Mit diesem Bescheid wurde Bernhard entlassen.

Vor den Abgeordneten des Heeres wiederholte der Feldherr sein Anerbieten. Er war leutselig, ließ Wein kredenzen und trank den Fremden auf baldige Konjunktion zu. Bernhard erkannte, wieviel dem General daran gelegen war, den Zuwachs zu erhalten, und wie es ihm auch gelang, die gute Meinung der Abgesandten zu erwerben; und er hörte mit Verachtung, daß schwedische Offiziere mit seinen Begleitern verhandelten und daß leise Worte durch den Klang des Geldes Gewicht erhielten.

Als der Rittmeister mit den anderen Abgeordneten zu den weimarischen Regimentern zurückkehrte, fand er die gemeinen Soldaten nicht in guter Stimmung. Das Unsichere der Lage und die Strenge des Führers, welcher Gewalttätigkeiten gegen die Einwohner nicht leiden wollte, hatte viele unzufrieden gemacht. Dem General war durch seine stillen Vertrauten, die er am Lagerfeuer unterhielt, zugetragen worden, daß einzelne Kompanien schon darüber handelten, sich gegen ihn aufzulehnen und einen anderen Befehlshaber zu setzen. Mit bitterem Lachen vernahm er den Bericht des Freundes. »Als dein Schreiben kam, daß Herzog Ernst die Annahme verweigere, da schwand den alten Reitern das Vertrauen. Ich sage dir, die Undankbaren werden für sich annehmen und mich preisgeben.«

»Was willst du tun?«

»Aushalten«, rief Wilhelm. »Meint Herr Königsmark, daß ich mit seinen Pfennigen in der Tasche und der Schmach auf dem Haupte von dannen reiten werde, nachdem ich ihm acht stolze Regimenter zugeführt? Ich will diese hochmütigen Schweden noch zwingen, mich zu beachten; denn wisse, den Soldaten wird schnell die Reue und neue Unzufriedenheit kommen, und sie werden nach einem Mann aussehen, der für sie denkt und spricht.«

»Mit Gefahr seines eigenen Kopfes, wenn er der Schwedenkönigin den Eid geleistet hat.«

»Sorge nicht um mich«, sagte der General, »ich bin vorsichtig und will ihnen mit ihrer Münze bezahlen.«

[] In großer Versammlung der Offiziere wurde die Antwort des Schweden verhandelt und den Völkern zur Entscheidung vorgelegt; und der Soldat entschied, wie Wilhelm vorausgesagt, bereitwillig für den Marsch zum Königsmark.

Die beiden Sibyllen

Regine sah jetzt von der Höhe des Schlosses auf die Stadt herab und in die blaue Ferne, wo sie sich den lieben Bruder beim Heere des Schweden dachte. Sie war halb als Dienerin, halb als Gast in den fürstlichen Haushalt aufgenommen und hatte auch hier die Freude, sich ein wenig nützlich zu machen. Sie gefiel der Frau Herzogin, einer ruhigen Dame, welche ihrem Herrn mit Bewunderung und Liebe zugetan war und ihre Pflichttreue während einer langen Ehe durch die Geburt von achtzehn Kindern erwies. Obgleich damals von diesem großen Segen nur die ersten Offenbarungen sichtlich waren, so fand die erlauchte Frau doch bereits ihr Glück in stiller Häuslichkeit, indem sie Küche, Wäsche und Silberzeug des fürstlichen Haushalts überwachte und einen großen Teil ihrer Zeit im Sessel bei vornehmer Arbeit verlebte. In solchen Stunden saß Regine oft auf dem Bänkchen zu der Herzogin Füßen, und da der oberdeutsche Klang ihrer Sprache den Herrschaften wohlgefällig war, so wurde ihr das Amt zuteil, Predigten und anderes Erbauliche vorzulesen. Das tat sie mit Eifer, und sie hatte zuweilen auch Gelegenheit, darüber eine bescheidene Meinung gegen den Herrn Lizentiaten auszusprechen, dessen stillen Gruß sie täglich in den Gemächern der Herzogin empfing. Der Herzog selbst aber, der sonst den Frauen der fürstlichen Kammer keine auszeichnende Beachtung zuwendete, fuhr fort, an seinem Schützling ein besonderes Wohlgefallen zu empfinden. Er dachte zuweilen an das unschuldige Gesicht und das verklärte Lächeln, welches er an der Schlummernden beobachtet, dann nahm er das Blatt hervor, auf welchem der Lizentiat die kurzen Reden Reginas verzeichnet hatte, und nährte den Wunsch, wichtigere Enthüllungen von ihr zu erhalten. Ja, ihm begegnete, daß er einst die Tür zu den Zimmern seiner erlauchten Gemahlin öffnete und hinter dem Vorhange stehenblieb, als er die erzählende Stimme des Mädchens hörte. Aber da sah er die Herzogin vor einer Tafel sitzen und um sie die Kammerfräulein, welche, mit Schürzen über den Kleidern, gerade an Gläsern mit Eingesottenem hantierten, er vernahm, daß seine junge Sibylle im Eifer sagte: »Ihrer herzoglichen Gnaden empfehle ich den Nürnberger Brauch, denn dort kochen sie die Latwerge mit Birnmost.« Und dem Herrn mißfiel, daß eine der Frauen widersprach und den Widerspruch schonungslos mit Gründen stützte.

[] Doch auch ihm glückte nicht, die Fremde in der erwünschten Tätigkeit zu beobachten. Allerdings, wenn das Kammerfräulein, welches bei Nacht auf hohen Befehl Reginas Genossin war, pflichtgemäß über den Schlummer ihrer Nachbarin berichtet hätte, so wäre mancherlei Prophetisches zu melden gewesen, aber das Fräulein wurde durch die flehentlichen Bitten Reginas veranlaßt, nichts zu sagen. Und es schwieg um so lieber, als auch die Hofmeisterin der Ansicht war, daß dem ganzen adeligen Frauenzimmer wenig daran liegen könne, wenn eine Landfremde durch mondsüchtige Reden bei Hofe zu einer unerhörten Distinktion gelange.

Aber nur kurze Zeit sollte Regine in lichter Höhe atmen; vom Walddorfe her zog schwarzes Gewölk heran gegen ihren Frieden und gegen das Glück des Bruders.

In dem Amtsschreiber kämpften durch einige Wochen Furcht und Eifersucht gegen die alte Begehrlichkeit, mit welcher er nach dem Besitz der Jungfer Judith und ihres Hauswesens strebte. Er hatte mit grimmigem Haß Bernhards Wege belauert und in jener Nacht vom Rande des Gehölzes der Suchenden zugesehen. Ihr Werk war ihm unheimlich erschienen, obgleich er sonst im stillen die landläufige Angst vor Zauberkünsten verachtete. Aber die Scheu vor ihrer geheimen Wissenschaft legte ihm auch den Gedanken nahe, daß er als ihr Hausherr dadurch allerlei für sich gewinnen könne. Endlich bedachte er, daß der Fremde davongezogen sei und wohl nicht wiederkommen werde, und wagte sich in das Haus der Jungfrau, mit der Absicht, ihr einen Antrag zu machen. Aber er lief nach kurzer Zeit zornig heraus, sattelte mit bösem Blick sein Pferd und ritt nach der Stadt.

Am nächsten Morgen rollte ein großer Wagen, von Bewaffneten geleitet, dem Walddorfe zu, das gesamte Konsistorium des Landes befand sich darin, drei weltliche Richter und drei geistliche, unter diesen der Schloßprediger, und neben dem Kutscher hockte ein Schreiber. Die Herren saßen in würdigem Ernste wegen des schweren Handels, der ihnen bevorstand. Mehrere Jahre hatte Satan sich begnügt, seine Gegenwart durch die Versuchungen zu erweisen, welche er unzweifelhaften Christen in den Weg warf, aber er hatte den Geplagten kein förmliches Paktum zugemutet, jetzt jedoch war Aussicht vorhanden, wieder eine große Jagd auf den alten Bösewicht mit aller gesetzlichen Feierlichkeit anzustellen. Darum fühlten die Herren neben der Verwunderung und dem Grausen auch das düstere Behagen, welches mit jeder schweren Pflichterfüllung verbunden ist.

Sie waren kaum vor der Wohnung des Pfarrers abgestiegen, so flog, während sie sich noch durch mitgebrachtes Frühstück für die bevorstehende Arbeit stärkten, die Kunde von der Neuigkeit durch alle Hütten des Dorfes. Wer das Geheimnis zuerst ausbrachte, hätte niemand zu sagen vermocht, aber alle wußten darum; die Leute [] liefen aus den Häusern, starrten nach der Pfarre, flüsterten einander ins Ohr oder rangen die Hände, und wiesen mit heftigen Bewegungen nach dem Hause, das einsam jenseits des Baches stand. Zu den ersten gehörte die alte Ursel selbst, die sich wohl bewußt war, daß die Leute mancherlei von ihr argwöhnten; sie lief von der Wiese, auf welcher sie Wäsche bleichte, in den Hof zurück.

Judith saß auf dem Ehrensitz, den vor kurzem ein anderer innegehabt. Sie folgte mit ihren Gedanken dem Lauf eines trabenden Rosses, wiederholte seine Reden, und ihr Auge leuchtete fröhlich, wenn ihr die Worte in der Erinnerung besonders gefielen. Da schrie die alte Dienerin entsetzt in der Tür: »Die Richter sind im Dorfe, sie sind gekommen, Hexen zu brennen.«

»Sie meinen dich«, rief Judith aufspringend.

»Und noch eine«, antwortete scheu die Alte. Judith hielt die Hand vor die Augen. Sie hatte nach dem rosigen Himmel geschaut und stand plötzlich vor einem gähnenden Abgrund. Im nächsten Augenblick gebot sie: »Entflieh!« und wies nach der Gegend des Rennstiegs. Sie selbst setzte sich wieder zu der Arbeit. Sie lauschte auf die Tritte der Alten, vernahm, wie diese hastig im Flüsterton mit dem Knaben sprach, sie hörte die Hinterpforte knarren und sah von ihrem Stuhl durch das Fenster, ob ein Späher in der Nähe sei. Dann rief sie den Knaben, holte aus der Truhe ein verschnürtes Bund, welches Bernhard bei ihr zurückgelassen, tat es in einen Korb und gab es dem Kleinen. »Dies gehört deinem Herrn, birg es in einem Versteck und trag es zu seiner Schwester; bitte, daß sie für dich sorgt, denn ich fürchte, Kind, du wirst bei mir nicht länger bleiben dürfen.«

»Die schwarzen Männer mögen sich in acht nehmen«, drohte Pieps, »mein Herr wird ihnen die Wege zeigen.«

Judith lächelte. Als der Knabe mit dem Korbe verschwunden war, schlug sie die Bibel auf, in welche der Vater ihr für die Todesnot einen Spruch geschrieben hatte, legte die Hände darüber und neigte das Haupt, dann setzte sie sich wieder in den Lehnstuhl vor das Spinnrad. Sie dachte, ob der Knabe auch noch Mittagbrot erhalten und ob die Bleß versorgt sei, aber sie stand nicht auf, um nachzusehen. Sie saß still und starr und fühlte dabei, wie ihr das Atmen schwer wurde, und daß sich langsam etwas Unbekanntes, Furchtbares auf ihre Brust legte.

Unterdes fanden die Herren Kommissare viel zu verhören und niederzuschreiben. Zuerst hatten die Dorfleute scheu von fern gestanden, und der Amtsschreiber hatte den einen und den anderen zu den Richtern hineinziehen müssen mit der harten Bedrohung, daß das ganze Dorf der Zauberei verdächtig werde, wenn man nicht aussage. Allmählich gerieten die Leute selbst in wahnsinnigen Eifer; was ihnen im Anfange als unglaublich und ungeheuerlich erschienen [] war, das wurde unter dem Hin- und Herreden wahrscheinlich. Viele wollten etwas beobachtet haben, und zuletzt drängten sich die Schwachen und Einfältigen zum Verhör. Nicht alle Nachbarn, man sah auch traurige Mienen und zornige Gebärden, aber die so gesinnt waren, standen furchtsam beiseite.

So geschah es, daß am Nachmittage eine lange Reihe gefährlicher Beschuldigungen gegen die Jungfrau jenseits des Baches gesammelt war, von der Dienerin Ursula ganz zu schweigen, da das Konsistorium diese nach fast einstimmiger Versicherung der Zeugen für eine Haupthexe halten durfte. Aber auch die Zauberkunst der Jungfrau war den Herren wahrscheinlich geworden. Sie hatte in Krankheiten geholfen, wo der Stadtmedikus vergeblich angegangen worden, durch übelschmeckende Tränke, durch Auflegen der Hände, ja sogar durch ihre bloße Nähe. Sie hielt zwei schwarze bezauberte Vögel, welche sich vor anderen Menschen als Amseln gebärdeten, sie hatte bei Raubeinbrüchen wiederholt ihr Haus unsichtbar gemacht, die Bleß gab eine unnatürliche Menge Milch; Leute, welche übel von ihr gesprochen hatten, waren plötzlich erkrankt, mehrere Kinder hatten erst vor kurzem in ihrer Dachluke einen Kobold oder Hausgeist in Gestalt eines Kindes mit roter Mütze gesehen, der gegen sie die Zunge ausgestreckt hatte; dazu kam vieles andere, was nach allgemeinem Glauben von Zauberinnen verübt wurde. Auch das Zeugnis des alten Pfarrers war nicht gerade günstig. Er gab zu, daß sie als Pfarrerstochter mit den Geheimnissen des Glaubens wohlbekannt sei und daß sie regelmäßig dem Gottesdienst und der Kommunion beigewohnt, indes habe sie sich niemals durch besonderen Eifer bemerkbar gemacht, auch lobte er, daß sie stets den Schein eines bescheidenen und ehrbaren Wesens bewahrt habe, dennoch mußte er auffällig finden, daß die Dorfleute und die ganze Umgebung eine gewisse Scheu und unerklärliche Furcht vor ihr gehabt, und er konnte nicht leugnen, daß ihr seit Jahren jedermann geheimnisvolle Künste zugetraut habe. Sie sei allerdings gegen viele hilfreich gewesen, doch bleibe immer noch der Zweifel übrig, ob dies nicht aus Schlauheit geschehen sei, um gute Meinung zu gewinnen; auch sei ihm zuweilen auffällig geworden, daß ihre Heilungen nicht lange Bestand gehabt und daß die Genesenen bei nächster Gelegenheit wieder in harte Krankheit gefallen waren; und wenn ihm selbst auch sehr schwer werde, daran zu glauben, daß eine Jungfrau, welche von geistlichen Eltern stamme, sich auf Zauberei eingelassen, so sei doch sicher, daß die fromme Jungfer Königin, welche jetzt unter herzoglicher Protektion in der Stadt weile, in einer ihrer Visionen zweifelhaft von dem Glauben der Angeklagten gesprochen habe.

Es war Nachmittag geworden, als die Kommissare sich aus dem Pfarrhofe mit feierlichem Schritt nach der Wohnung Judiths bewegten und die Bewaffneten an der Pforte aufstellten. Hinter ihnen [] zog die ganze Gemeinde und umringte neugierig das Haus; während die einen erschreckt und traurig auf die Fenster starrten, dachten die Schlechtesten bereits daran, daß Haus und Hof begehrenswerte Dinge enthielten, welche besser in ihren Hütten als in den Händen der Richter aufgehoben sein würden.

Judith stand allein in der Stube, sie wußte jetzt, daß sie schutzlos dem Untergange preisgegeben war durch eine Anklage, welche größere Todesgefahr brachte als der Biß einer Kreuzotter an heißem Tage. Aber ihr Schmerz war in diesem Augenblick niedergekämpft, hochaufgerichtet und in stolzer Haltung trat sie den Herren gegenüber, so daß diese mit mehr Höflichkeit und Vorsicht, als vorher in ihrer Meinung gewesen war, das Verhör begannen. Sie begutachteten Kräuter und Flaschen und sorgten dafür, daß der Vorrat, welcher unheimliches Rüstzeug des Bösen sein konnte, aus dem Zimmer entfernt wurde. Judith antwortete auf alle Fragen ruhig, sicher und mit klugem Bedacht. Sie erzählte, daß sie ihre Heilkunde von dem verstorbenen Vater erlernt, sie öffnete die Kammertür, und als ein schwarzer Vogel hereinflog, stellte sie ihm die Bibel hin, und der Vogel setzte sich nach einem Wink darauf und pfiff seine Weise, so daß der alte Konsistorialrat Glassius laut sagte: »Mir wird leichter ums Herz, denn dieser Vogel scheint durchaus eine natürliche Amsel«, bis einer der Kollegen das Titelblatt des heiligen Buches aufschlug und, nach dem Druckort sehend, bedeutsam sagte: »Schismatisch«. Da wurde der Vogel noch verdächtiger, als er gewesen. Judith lächelte stolz, als das rote Käppchen des Hausgeistes erwähnt worden war, und sie antwortete: »Den hochehrwürdigen Herren ist ja bewußt, daß Kinder und Erwachsene auf dem Lande überall Erdmännchen und Hausgeister sehen.«

Als sie gefragt wurde, wo ihre Dienerin Ursula sei, erklärte sie, das nicht zu wissen, und als ihr die Äußerung Reginas zu Gemüte geführt wurde, antwortete sie kurz: »Ich war der Jungfer fremd«, und setzte nach einer Weile in herbem Tone hinzu: »Ich denke, es geschah ihr ein großer Dienst, daß sie von mir weg nach der Stadt geholt wurde.«

So stark war der Eindruck, welchen ihr festes Benehmen auf die Verhörenden machte, daß sie milder gestimmt wurden und sich der Ansicht zuneigten, die Hauptschuld der Angeklagten sei am Ende nur ein verwegenes Kochen von Kräutern, welches mit Kirchenbuße und strenger Gefängnishaft zu sühnen wäre. Doch freilich blieb einiges sehr Bedrohliche zurück, vor allem als schwere Anschuldigung, daß sie in der Nacht an unheimlicher Stelle im Walde bei zauberischem Werk gesehen worden war und bei ihr der alte Versucher in Gestalt des wilden Jägers. Als sie darüber befragt wurde, rötete sich ihr bleiches Gesicht, und sie schwieg hartnäckig, so daß die Herren einander kopfschüttelnd ansahen. Und als der verhörende[] Richter darauf mit größerer Strenge über ihren vertraulichen Verkehr mit dem höllischen Nachtjäger zu inquirieren begann, da brach ihr empörtes Gefühl leidenschaftlich heraus, und sie rief mit blitzenden Augen: »Schmach und Schande über die Herren, daß sie es wagen, einer ehrbaren Jungfrau so schamlose Fragen zu stellen. Hätte ich die Macht, ich würde euch aus dem Hause jagen, wie man einen bösen Hund hinausjagt.« Sie schlug die Arme übereinander, blieb stumm, und keine Drohung mit Gewalt und peinlichem Verhör vermochte ihr fortan ein Wort abzugewinnen. Da freilich erkannten die Richter das verhärtete Gemüt und daß der Prozeß mit aller Strenge durchzuführen sein werde, und weil auch der Tag dahinschwand und das Abenddunkel die Stube der Zauberin noch unbehaglicher machte, als sie sonst schon war, so wurde das Protokoll schnell geschlossen. Der Jungfrau ward mitgeteilt, daß sie in Haft sei, und da das Dorf kein Gefängnis hatte, wurde zur Behütung der Gefangenen, sowie zu der nicht weniger wünschenswerten Bewahrung ihrer Habe befohlen, daß zwei Bewaffnete bei Tag und Nacht an dem Hause wachen sollten. Der Schloßprediger aber, dem vieles an der Gefangenen gefallen hatte, vielleicht auch, daß sie der Jungfer Regine ohne Zuneigung gedacht, bestand darauf, daß ihr als einer Pfarrerstochter bis nach gefällter Sentenz eine christliche Frau aus dem Dorf zur Beschaffung des notwendigen Lebensunterhaltes beigeordnet werde. Als die Leute draußen gefragt wurden, wer das Amt übernehmen wolle, war niemand bereit; endlich trat ein halbwüchsiges Mädchen hervor und sagte weinend: »Sie hat meine Mutter in der letzten Krankheit gepflegt. Der liebe Gott wird mich nicht verstoßen, wenn ich zu ihr gehe.« Da die Richter ungern die eigene Rückfahrt aufschieben wollten, nahmen sie das Mädchen schleunig in Pflicht, verschlossen das Haus und übergaben den Schlüssel dem Pfarrer.

Als die Haustür zugeschlagen wurde, klang aus der Stube ein gellender Schrei, dann wurde es still. Es war der Angstruf eines Weibes, welches von seiner Liebe und dem Leben geschieden ward.

Der Amtsschreiber eilte in den Stall, um die Kuh Bleß und, was ihm noch mehr am Herzen lag, den Zelter in seine Verwahrung zu nehmen; aber er sah erstaunt, daß das Pferd verschwunden war. Da erst fiel ihm der fremde Knabe ein, und er fragte die Umstehenden nach diesem, doch auch ihn hatte niemand gesehen.

Am nächsten Morgen fand der Schreiber sein Hoftor geöffnet und sein eigenes Pferd, einen tüchtigen Klepper, gestohlen; die Spuren führten aufwärts nach den Bergen, sie wurden endlich unsichtbar, und alle Nachforschung im Walde war vergebens. Zu Regine aber kam in derselben Stunde ein Schloßmädchen: »Draußen am Tor steht ein Knabe, welcher der Jungfrau ein Geschenk übergeben soll, er hat es eilig, doch will ihn die Wache nicht einlassen.«

[] »Wie sieht er aus?« fragte Regine neugierig und ging nach der Antwort herab zum Tore. Dort saß Pieps auf der Bank; er nahm in Gegenwart der Trabanten, die ihn argwöhnisch betrachteten, höflich die Mütze ab und bot einen Korb: »Dies soll ich zur Verwahrung übergeben.« Und leiser setzte er hinzu: »Euer Zelter steht in der Herberge am Tor, er ist für schnellen Ritt nicht zu gebrauchen. Wo liegt der Königsmark?« Regine sah erstaunt die verstörte Miene und die rollenden Augen des Knaben.

»Hinter Göttingen.«

»Und wo liegt Göttingen?« fragte Pieps wieder. »Weist mit der Hand nach der Richtung.« Als Regine die Himmelsgegend gezeigt hatte, so gut sie wußte, grüßte der Knabe wieder und lief den Berg hinab, bevor sie ihn ausfragen konnte. Sie trug den Korb in ihre Kammer, fand Sachen des Bruders darin, welche ihm lieb waren, und machte sich Gedanken über die geheimnisvolle Sendung.

Als sie aber einige Stunden darauf allein im Vorzimmer der Herzogin saß, trat der Lizentiat Hermann ein. Regine hatte seinem ehrerbietigen Gruße jeden Morgen freundlich gedankt und zuweilen nach der Tür gesehen, wenn die Stunde kam, in welcher er durch das Zimmer schritt, zuweilen auch, wenn er sie anzureden wagte, hatte es ein Wechselgespräch gegeben, an welches Regine den Tag über dachte. Heut sah sie wieder freundlich nach ihm hin, aber befremdet erkannte sie den düsteren Ernst seiner Miene. Schneller als sonst kam er auf sie zu und begann: »Die werte Jungfer Königin bitte ich an den Spruch zu denken: Denen, die Gott lieben – und ferner an den zweiten: Wen der Herr liebhat –.«

»Ich denke daran«, sagte Regine aufstehend und neigte das Haupt.

»Denn«, fuhr Hermann fort, »ich habe mitzuteilen, was sowohl kläglich als schrecklich ist, und ich bitte inständig, daß die liebe Jungfer nicht den Boten entgelten lasse, was er wahrlich in tiefem Mitgefühl sagen muß.«

»Was ist dem Bruder geschehen?« fragte das erschreckte Mädchen.

»Nicht dem Bruder«, antwortete der Lizentiat, »sondern der Jungfer im Walde. Sie ist wegen Zauberei angeklagt und gestern im Dorfe von einem hohen Konsistorium verhört worden.«

»Sie ist von schlechten Menschen verleumdet«, rief Regine, händeringend.

»Sie wird als Gefangene in ihrem Hause verstrickt gehalten«, versetzte Hermann, »und wie ich vernehme, liegen schwere Anschuldigungen vor.«

»Sorgt nicht«, sprach das Mädchen mit bebender Stimme, »ihre Unschuld wird sich ergeben.«

»Ich bitte die Jungfer, sich der gewichtigen Worte zu erinnern, welche mir dieselbe auf der Reise hierher sagte«, fuhr der junge [] Mann feierlich fort, »daß uns nur die Liebe aus unserem traurigen Zustande erretten kann, und daß diese Liebe selten ist auch bei den Richtern. Es sind verlorene Stimmen in der Wüste, welche seither gegen das grausame und ungerechte Verfahren in zauberischen Händeln protestiert haben, und ich fürchte, viele Unschuldige werden geopfert, bevor einmal ein Schuldiger getroffen wird. Ich kenne die herzbrechende Klage, welche ein Unbekannter in einem lateinischen Büchlein gegen die Grausamkeit der gerichtlichen Prozedur veröffentlicht hat, und ich habe seitdem solche Anklagen beachtet, aber ich habe niemals gesehen, daß die Angeklagten sich zu retten imstande waren.«

»Ich muß zu ihr«, rief Regine.

»Weil ich solchen Entschluß für möglich hielt, habe ich gewagt, die Jungfer in dieser Sache anzureden mit flehentlicher Bitte, solchen Gedanken nicht auszuführen, denn Euch selbst bedroht die Gefahr.«

»Mich?« fragte Regine, das Haupt hebend. »Was kann mir geschehen?«

»Wer einer Gemeinschaft mit den Angeklagten bezichtigt wird, ist verdächtig, und wer verdächtig wird, der ist verloren.«

»Ich aber will Zeugnis geben für sie«, rief Regine, »was mir auch darum geschehe.«

»Die Jungfer kann nichts bezeugen, als ihres Herzens Meinung zum Mißfallen der Richter. Könntet Ihr der Jungfrau Möring dadurch auch nur einen mäßigen Dienst erweisen, so würde ich, obgleich mit blutendem Herzen, vermeiden, Euch abzuraten. Von den Richtern aber wird Eure unschuldige Aussage nur zum Schaden der anderen gedreht und umgedeutet werden und ihr Schicksal verschlimmern.«

»Führt mich zum Herzog, daß ich ihn anflehe.«

»Auch dies widerrate ich«, bat der Kandidat, »denn der Herzog wird in solchem Falle sein fürstliches Belieben gegenüber der gerichtlichen Prozedur niemals geltend machen, zumal da diese Prozedur vorgibt, sich sowohl auf göttliches als menschliches Recht zu stützen. Mir ist bewußt, daß bei jedem Prozesse dieser Art unsern frommen Herrn herzliche Angst beunruhigt, aber er ist selbst in seinem Leben so schwer durch die Bosheit der Menschen gekränkt worden, daß er für eine teure fürstliche Pflicht hält, der Macht des Satans durch scharfes Verfahren entgegenzuarbeiten.«

Das Mädchen stand mit gerungenen Händen, und auch dem Lizentiaten zitterte die Stimme, als er fortfuhr: »In bitterer Sorge um die liebe Jungfer selbst wage ich nur eine Bitte: handelt in dieser schweren Prüfung nach dem Glauben, welchen Ihr bekennet; stellt alles dem anheim, bei dem allein Hilfe ist, verbergt vor jedermann die große Bewegung Eures Gemütes und lebt in dem Vertrauen, daß zuletzt alles wohlgemacht wird, wenn auch die Wege [] für uns unerforschlich sind und zuweilen menschlichem Verstand furchtbar erscheinen.«

»Ach, Herr«, klagte das Mädchen, »innerer Friede wird uns nur zuteil, wenn wir vorher alles getan haben, was unsere Pflicht ist, und ich vermag den Gedanken nicht zu ertragen, daß ich in scheinbarer Ruhe leben soll, während eine, die gütig gegen mich war, in Todesgefahr ringt.«

»Gerade um ihretwillen sollt Ihr Euch fassen, denn wenn es noch möglich ist, zu seiner Zeit den Herzog günstig für die Angeklagte zu stimmen, so kann das mit Eurer Hilfe und durch Euer Zeugnis nur geschehen, wenn Ihr selbst keinerlei Leidenschaft und geheime Verstörung offenbart.«

»Ich will mich mühen«, antwortete Regine, tief aufatmend, »so zu sein, wie der Herr für heilsam erklärt; ich bitte aber, mich Schwache dadurch zu stärken, daß Ihr mich unter den fremden Herrschaften hier nicht trauriger Ungewißheit überlaßt, sondern mir aufrichtig mitteilt, wann ich vor dem Herzoge meine Stimme erheben darf.« Das versprach der Lizentiat, hingerissen von ihrem Schmerz, aber er gedachte auch, sie selbst soviel als möglich vor der Gefahr zu schützen, die er für sie voraussah.

Unterdes jagte ein Knabe in gestrecktem Rosseslauf auf der Landstraße dahin. Die heiße Julisonne brannte ihm die Haut, und der Gewitterregen durchnäßte das Kleid, aber unverrückt suchte sein Auge am Himmel und auf dem Wege die Richtung nach Norden. Traf er Leute auf der Landstraße, so fuhr er in schnellstem Rennen vorbei oder umritt sie in weitem Bogen. Mehr als einmal wurde er angehalten, dann log er, sein Herr sei als Bote des Königsmark von Räubern überfallen, er selbst habe sich auf dem Pferde eines Räubers gerettet und eile mit der üblen Kunde zum General. Zuweilen fühlten die Leute Mitleiden, wiesen ihm den Weg und boten ihm einen Trunk und Brot; einmal griff die begehrliche Hand eines Strolches nach dem Zügel, aber sie zuckte, von dem scharfen Messer des Knaben geschnitten, zurück, und die Drohungen des Mannes verhallten hinter dem Flüchtigen. Am Abend des zweiten Tages brach das Pferd zusammen, er ließ es liegen, ohne sich danach umzuwenden, und lief zu Fuß weiter. Bei Göttingen kam er in die Wegspuren seiner Regimenter; er fand Weiber des Trosses, die er kannte, und erfuhr von ihnen, daß der Heerhaufen einen Tagemarsch nordwärts an der Leine rastete.

Denn dort sollten die weimarischen Regimenter sich mit dem kleinen Heere des Generals Königsmark vereinigen. Der Herr empfing die Anziehenden auf freiem Feld in großem Ornate, er hatte sein Heer so aufgestellt, daß es von drei Seiten einen freien Raum umfaßte, und Wilhelm wies mit herbem Lächeln seinem Freunde Bernhard die schwedischen Kanoniere, welche mit brennender Lunte bei [] ihren Geschützen standen. Die von Weimar zogen gegenüber in Reih und Glied auf, jedes Regiment gefolgt von seinem Troß. Die Beritte mußten sich drängen, weil, wie die schwedischen Offiziere bedauernd sagten, Mangel an Raum war. Wilhelm trabte mit seinem Gefolge vor und begrüßte den Feldherrn, welcher, den Hut abnehmend, dankte. Darauf rief der weimarische Feldoberst mit heller Stimme die Namen der Regimenter, und als von jedem der laute Gegenruf unter den geschwungenen Standarten: Hier Alt-Rosen! Hier Taupadel! geantwortet hatte, meldete er, zum Schweden gewandt: »Herr Generalleutnant, wir alle sind bereit, der Krone Schweden den Eid zu leisten.«

Königsmark bewegte sich einige Schritte vorwärts und fragte überrascht: »Auch Ihr?« – Und als Wilhelm höflich bejahte, fragte er weiter: »Auf meine Bedingungen?«

»Auf Eure Bedingungen«, wiederholte der andere.

Über den gesenkten Standarten und Fahnen wurden von schwedischen Offizieren die neuen Farben befestigt. Dann ritten die weimarischen Offiziere vor der Front in großem Ringe zusammen, der Eid wurde ihnen verkündigt, und sie schworen mit aufgereckten Fingern, als erster Wilhelm.

Nur Bernhard schwenkte den Hut zum Abschiede gegen die Standarte seiner Kompanie, rief dem Volke zu: »Lebt wohl, Kameraden«, und ritt, gefolgt von seinen Knechten, zur Seite.

Nach den Führern wurde der Soldat regimenterweise in Pflicht genommen. Königsmark beobachtete während der Zeremonie mit stillem Triumph seinen neuen Erwerb und konnte sich nicht enthalten, zuweilen seiner Freude laute Worte zu geben, denn er sah narbige Gesichter, sehnige Gestalten, wie aus Erz gegossen, und die sichere Haltung kampfgewohnter Männer. Aber er merkte auch an vielen finstere und traurige Mienen und erkannte, daß sie nicht freudig zu ihm kamen, sondern im Gebote harter Not. Als er so prüfend von seinem Platze die Front entlang ritt, kam er in die Nähe Bernhards und begann:

»Wie, Herr Abgesandter? Ihr seid der einzige, der nicht gut schwedisch sein will?«

»Die Ehre verbietet mir, meine Kompanie abzugeben, und sie verbietet mir auch, als dem einzigen unter meinen Kameraden, die Kompanie zu behalten«, entgegnete Bernhard.

»Ich hätte andere, die ich hier sehe, lieber gemißt als Euch«, sagte höflich der General. »Gewinnt Ihr einmal Lust zu schwedischem Dienst, so kommt zu mir. Verlaßt Euch auf mein Wort, ich schaffe Euch eine Bestallung.«

In der Herberge wartete Bernhard lange vergeblich auf den Freund, welcher zum Generalleutnant entboten war. Als Wilhelm eintraf, warf er sich finster in einen Sessel und drückte den Hut tief [] in die Augen. »Der General meint, er habe mich beseitigt, aber er könnte sich irren. Merk auf! Die Regimenter sind unter dem Vorwand guter Quartiere weitläufig auseinandergelegt, um den Verkehr zwischen ihnen zu erschweren, sie werden neu formiert, je zwei und zwei zu einem vereint mit neuen Standarten und neuen Obersten.«

»Das haben wir erwartet, und der Schwede ist in seinem Recht«, warf der Freund ein. »Jeder Feldherr würde ebenso verfahren.«

»Mich wundert, daß du den Schweden lobst«, sagte Wilhelm mißtrauisch.

»Ich habe mich seinem Dienste versagt«, versetzte Bernhard ruhig, »aber ich will ihn nicht unbillig verurteilen. Doch am meisten liegt mir auf der Seele: was ist aus dir geworden?«

»Ein Oberstleutnant ohne Kommando«, sagte Wilhelm bitter.

»Auch das ist fast mehr, als wir erwartet haben.«

»Meinst du?« fragte der Unzufriedene. »So höre denn, der General pries mit glatten Worten meine Führung und rühmte sich, daß er dem schwedischen Kronkommissar, der ihm als Wächter gesetzt sei, mein Patent abgerungen habe; er fügte mit falscher Freundlichkeit hinzu, daß er sogleich meine Dienste fordern müsse; mit vertrautem Schreiben soll ich morgen bei Anbruch des Tages zum Feldmarschall Wrangel. Verstehst du, was das bedeutet? Ich soll getrennt werden von unseren Völkern, und sie werden dafür sorgen, mich in der Ferne festzuhalten, bis sie hier nach ihrem Gutdünken reformiert haben. Du hast den besseren Teil erwählt, Bernhard, dennoch denke ich, du sollst von mir hören. Grüße deine Schwester und sage ihr, meine weltliche Kunst, andere zu behandeln, habe mir schlechten Lohn eingetragen. Zuletzt hat mir keiner Dank gewußt, nicht unsere Leute, nicht die Fremden.«

»Ich aber«, antwortete Bernhard, »für gute Kameradschaft in guten und schlechten Tagen. Das will ich dir sagen, bevor wir scheiden. Denn du sollst jetzt für dein Glück unter den Schweden sorgen, ich aber werde mit leichtem Herzen und fröhlichem Mut zum Ehemann und Hausvater.«

»Laß Wein auftragen, mein Bruder«, rief Wilhelm, »wir wollen noch einmal wie Studiosen zusammensitzen, wir wollen denken, daß die ganze Kriegsfahrt zu Ehren Deutschlands und daß unser Heerbefehl nichts anderes war, als ein Studentenkönigreich, das wir am heiligen Dreikönigsabend angestellt haben. Jetzt sind alle unsere Mannen von der Bank gefallen, wir beide aber sitzen fest. Wer am längsten auf dieser Erde den Becher hebt, der bleibt Sieger.«

Die Tür wurde aufgerissen; bei dem trüben Licht sah Bernhard eine kleine Gestalt, welche mit wankendem Schritt auf ihn zukam. Vor seinen Füßen brach der Bube zusammen. Bernhard beugte sich zu ihm nieder, und das matte Kind flüsterte ihm wenige Worte in [] das Ohr. Da sank auch der starke Mann, wie von einem Schlage getroffen, zurück, und das Blut wich aus seinem Angesicht.

Die Rettung

Nach heißen Sonnentagen trieb der Nordwind dunkle Regenwolken über das Land. Regine blickte durch das Fenster auf ein glühendes Abendrot, welches am Horizont unter dem schwarzen Wolkendach wie eine ungeheure Feuersbrunst aufleuchtete. Auch das heitere Licht ihrer Lebenstage war geschwunden; die Angst war seit der letzten Nachricht, die der Lizentiat zutrug, so groß geworden, daß ihr verstörtes Wesen im Schlosse auffiel und die Herzogin ihr heut gütig geraten hatte, der Unpäßlichkeit nicht zu trotzen, sondern sich ruhig in der Kammer zu halten. Sie fuhr zusammen, als der alte Diener des Frauengemaches eintrat und ein Brieflein überreichte, welches ein Mann für sie am Tore abgegeben hatte. Sie las die Zeilen, ergriff ein Regentuch und stürzte hinaus. Auf dem Korridor vernahm sie hinter sich schnelle Tritte und die ängstliche Frage des Lizentiaten: »Was ist Euch zugestoßen?«

»Ich habe einen Gang vor«, antwortete Regine zitternd.

»Will mir die Jungfer nicht gestatten, sie zu begleiten?« bat Hermann. »Ihr seid ganz außer Euch.«

»Dürft Ihr versprechen, gegen jedermann zu schweigen«, sagte Regine in Hast, »so tut Ihr mir einen Gefallen, wenn Ihr mich zu der Schenke führt, welche draußen beim Gehölz am Fuße des Friedenssteines steht.«

»Der Ort ist übel beleumdet und eine Niederlage von schlechtem Gesindel. Wie dürft Ihr Euch dorthin wagen?«

»Ich muß«, rief Regine, das Tuch um sich ziehend, und ging an ihm vorüber.

»Doch nicht ohne Schutz; ich leide nicht, daß Ihr Euch allein der Gefahr aussetzt«, entschied Monsieur Hermann, ihr nachfolgend.

Schweigend eilten sie nebeneinander den Schloßberg hinab zu der wüsten Stelle im Freien, wo ein waghalsiger Schenkwirt einen hölzernen Bau aufgeschlagen hatte, bequem für die Landleute, welche zur Bauarbeit am Schlosse gefordert wurden, aber auch für fremdes streifendes Volk, dem die Torwache feindselig war.

Aus der Bretterhütte schallte das Stampfen der Gläser und das Geschrei Berauschter. Der Lizentiat führte das Mädchen einige Schritte vom Wege ab, wo eine Linde und umherstehendes Gesträuch vor neugierigen Augen deckte, und sagte ernsthaft: »Ihr dürft nicht dort hinein.«

Ein Mann in dunklem Mantel trat herzu und faßte Reginas Hand. »Hinweg!« rief Hermann und fuhr auf den Fremden los. Aber [] Regine bat mit gefalteten Händen: »Ich flehe Euch an, daß Ihr mich jetzt allein laßt.«

Der Lizentiat blickte erschrocken von dem verhüllten Mann auf das Mädchen. »Ich gehorche dem Wunsche der Jungfer und will die Zusammenkunft nicht stören«, sagte er, und bitterer Schmerz klang aus seinen Worten, »aber ich bleibe so nahe, daß Euer Ruf mich erreicht.«

Regine vermochte nur tonlos zu sagen: »Ich bin Euch auch dafür dankbar.«

Der Verhüllte zog sie tiefer in das Gehölz. Sie sah im Zwielicht das bleiche Antlitz und die zusammengezogenen Brauen des Bruders; sie hielt seine Hand fest und weinte darüber. »Wo ist sie?« fragte Bernhard hastig.

»Sie wird im Walddorfe bewacht.«

»Und wie steht ihre Sache?«

»Morgen soll sie in der Stadt peinlich verhört werden«, antwortete die Schwester, umschlang den Leib des Bruders und fühlte den Schrecken, der ihm durch die Glieder zuckte. Er strich ihr mit der Hand über das Haupt, ohne es zu wissen.

»Die Zeit ist kurz«, murmelte er. »Du bist geübt, für deinen Bruder zu beten; flehe heut zum letzten Male für ihn, und bitte, daß die Nacht finster sei.« Er ließ die Entsetzte los und trat an das Gehölz. Regine sah, daß sich die Zweige bewegten, und glaubte das gefurchte Antlitz eines alten Bekannten zu erkennen. Leise verhandelten die Männer. Der andere entwich, und der Bruder trat wieder zu ihr. Jetzt küßte er sie auf die Stirn und sagte traurig: »Arme Schwester.«

»Bin ich Eure Schwester«, sagte Regine, das Haupt erhebend, »so laßt mich teilhaben an Euren Gedanken.«

»Fordere nicht zu wissen, was dich verderben könnte, du unschuldiges Kind. Eine, die wir kennen, ist zur Zauberin gemacht, und wer teil an ihr nimmt, den binden sie auf den Holzstoß. Wir aber sind gottselige Christen und wissen die Gemeinschaft mit allem Teufelswerk zu meiden. Vielleicht habe ich noch etwas Wertvolles in dem Hause der Zauberin versteckt, was ich herausholen möchte, bevor das Gericht mit gierigen Händen danach greift.«

»Sprecht nicht so zu mir, Bernhard«, flehte die Schwester. »Meint Ihr, daß meine Angst geringer wird, wenn Ihr Euch vor mir verstellt? Ich sehe durch die Maske und fühle das Grausen.«

»Graust dir vor der Zauberin?« fragte der Bruder mit rauher Stimme. »Sie war doch einst gütig gegen dich, und wir verdanken ihr die Rettung vor elendem Verderben.«

»Sie ist schwer angeklagt«, stammelte Regine, »und man sagt, es sei bewiesen, daß sie nächtliches Werk geübt habe, das nicht gottselig ist und das dem Teufel Macht über sie gibt.«

[] »Ich denke, sie hat bei Nacht Wurzeln gegraben, von denen die Leute glauben, daß sie kräftig sind, feindliche Kugeln abzulenken; und ich denke, sie hat die unheimliche Arbeit gewagt, um einen vor Gefahr zu schützen, der ihr lieb ist. War sie im Irrtum oder nicht, war sie in Sünde oder nicht, was, meinst du, soll der Mann tun, dem sie solche Gabe zugeteilt hat?«

»Von sich werfen soll er, was dem Bösen Macht über ihn geben kann«, rief Regine entsetzt.

»Ich aber sage dir, Mädchen, er bewahrt es an seinem Herzen, solange er lebt; nicht, weil er einen ehrlichen Soldatentod fürchtet, sondern weil das Weib, das er liebt, Leben und Seligkeit für ihn gewagt hat.«

Regine hielt sich an dem Stamme des Baumes fest, und das Haupt sank ihr auf die Brust, der Bruder rührte mit dem Finger darauf.

»Glaubst du, daß der Gott der Liebe, zu dem du so eifrig bittest, eine Menschenseele deshalb dem Teufel und der ewigen Verdammnis übergibt, weil sie sich, nicht aus Haß, sondern aus herzlicher guter Meinung unterwunden hat, aus dem Walde zu holen, was die Nachtgewalten nur ungern dem Menschen hergeben?«

»Ich bin gelehrt«, antwortete Regine leise, »daß es Sünde ist, an solche Geheimnisse zu rühren.«

»Und glaubst du, daß die Jungfrau im Walde schädliche Zauberei treibt und mit dem Bösen im Bunde steht?«

Regine erhob sich und sagte: »Nein!«

»Sei bedankt für dieses Wort«, rief Bernhard, und ein Strahl von Freude erhellte sein Angesicht. »So ziemt es der Schwester zu reden.« Er zog sie an sich und wiederholte: »Armes Kind! Für dich wird am härtesten zu tragen, was das Schicksal uns gefügt hat. Warst du auch zuweilen unzufrieden mit dem wilden Bruder, du hattest seither an seinem Herzen eine Stätte, wo du sicher ruhen konntest; wir beide kannten einander genau, und zwischen uns war festes Vertrauen. Jetzt stehst du in Gefahr, den Bruder zu verlieren; freundlos sollst du, zarte Blume, unter Fremden gedeihen; ja, wer mag dafür bürgen, ob meine Tat nicht auch dich beschädigt und ins Elend wirft? Das ist Gram und Bitterkeit, die ich zu anderer Not in diesen Angststunden fühle, und ich bitte dich, und ich bitte die lieben Eltern im Himmel, daß ihr mir verzeiht, wenn ich dich verlasse um einer anderen willen.«

Reginas Tränen fielen auf die Hand des Bruders, als sie die Hand küßte. »Sorgt nicht um mich«, bat sie. »Das Blümlein, welches Ihr genannt habt, steht unter Gottes Auge, geduldig in Regen und Sonnenschein, damit der Herr mit ihm tue nach seinem Gefallen. Könnt Ihr aber jetzt, wo Euch irdische Leidenschaft treibt, unserer Eltern im Himmel gedenken und Eurer Schwester auf Erden, die Euch liebt, so sorget auch, daß Ihr Euch nicht für immer von ihnen scheidet.

[] Es ist fürchterlich, zu denken, daß die Jungfrau vom Walde ohne schweres Verschulden verurteilt werden kann durch falschen Glauben und durch die Blindheit ihrer Richter. Mein Bruder aber, wenn er dieses Urteil durch heimlichen Anschlag verhindern will, verfällt dem irdischen Richter ebenso wie jene. Der Teufel ist geschäftig, Bernhard, gegen solche, welche in stolzem Vermessen gegen Recht und Gesetz ankämpfen; ist auch die Jungfrau unschuldig, wer bürgt dafür, daß nicht Ihr zu einem schweren Verbrechen an Gott und den Menschen verlockt werdet, während Ihr sie mit Gewalt aus den Banden des Gesetzes lösen wollt?«

»Deiner Warnung gedenke ich«, antwortete der Bruder, »vielleicht bewahrt sie einen Schurken vor der Kugel, die ich ihm zugedacht. Rufst du aber das Gedächtnis unserer toten Eltern gegen mich an, so wisse, seit der Stunde, in der mein Bube mir die Trauerbotschaft zutrug, während ich hierherritt in Angst und Wut, wie du sie niemals empfunden, habe auch ich Gesichte gehabt von seltsamer Art, und ich habe Stimmen gehört, weiß nicht, kamen sie vom Himmel oder anderswoher. In das eine Ohr schrie es mir: Sei treu bis über den Tod, und wenn die ganze Welt Untreue fordert; und in das andere Ohr schrie es: Deines Rosses letzter Sprung sei für den Genossen, der um deinetwillen in Not kam. Ist ihr der Pfahl beschieden, so sei er mir's auch, und würde ihr der Himmel verweigert, so soll meine Seele den Türsteher Petrus niemals um Einlaß bitten. Ich tue, was ich muß; und ich sage dir, Mädchen, wenn unsere Eltern noch lebten, die Mutter würde weinen wie du, der Vater aber würde sein Haupt heben, wie er zuweilen tat, und mich mit seinem Sprichwort begrüßen: Treue bewahren, ist jedem Pflicht, den Königen aber ist es Ehre.«

»Ich mahne nicht mehr, wo menschliche Warnung vergeblich ist«, sprach die Schwester, entsetzt über den Aufruhr seines Gemütes; »Ihr aber sollt nimmer vergessen, daß auch für mich das Sprichwort des Vaters gilt. Braucht Ihr in der Not ein treues Herz, so denkt meiner.«

»Liebe Schwester«, rief Bernhard und umschlang das Mädchen, welches er allein und schutzlos in der Wildnis dieser Welt zurücklassen sollte. An seiner Hand trat sie aus dem Baumschatten auf den Weg. Dort wies sie nach ihrem Begleiter vom Schlosse, der in einiger Entfernung stand, auch er mit finstern Gedanken beschäftigt. Noch einmal fühlte sie die Hand dessen, der ihr bis dahin Bruder und Vater gewesen war, auf ihrem Haupte, dann wich er in den Schatten zurück, und sie schritt eilig vorwärts, aber ihre Glieder bebten in unterdrücktem Schluchzen. Der Lizentiat ging schweigend neben ihr durch die Schloßpforte. Er sah beim Laternenlicht zwischen Mitgefühl und Groll die Qualen, mit denen sie rang, und verneigte sich auf dem Gange tief und förmlich zum Abschiede. Ach, er wäre trotz [] seiner Würde reuig vor ihr auf die Knie gefallen, hätte er den Jammer des armen Mädchens verstanden, welches jetzt alles verloren hatte, was ihr auf Erden lieb war, auch den teilnehmenden Freund im Fürstenschlosse.

Unter dem dunklen Wolkenhimmel sprühte der Regen und tobte der Sturm. Er dröhnte wie Wogenschwall an den Mauern des Fürstenschlosses, warf die Schornsteine von den Dächern der Stadt und schleuderte große Baumäste auf den Grund. Aus der Herberge nahe am Schlosse jagten zwei verhüllte Reiter auf der Landstraße dahin. Hinter dem ersten Dorfe gesellten sich zwei andere zu ihnen, nach der ersten Wegstunde war die Zahl bis zu einem ganzen Trupp herangewachsen, und zwischen sich führten sie ein Wagenhaus, aus starken Brettern gezimmert. Wenn eine Dorfwache in dem Brausen des Windes den Hufschlag und das Rasseln des reisigen Zuges hörte, der außerhalb des Zaunes dahinfuhr, so drückte sie den Hut über die Augen und sprach einen hilfreichen Spruch, um vom Heere des wilden Jägers verschont zu werden.

Am Eingange des Waldtals, wo ein steiler Fels bis zum Wege vorsprang, hielt der Haufe an, und der Führer, ein hagerer Gesell, dessen Gesicht durch die herabgezogene Krempe des Hutes verborgen war, sah scharf in die Runde und gab die Befehle. »Ist der Funke dort hinten ein Licht des Dorfes, und brennt das Licht im Hause der Jungfrau?« fragte er eine kleine verhüllte Gestalt, die neben ihm ritt.

»Es kommt aus der Kammer eines kranken Dorfweibes«, antwortete der Kleine.

»Dann lenken wir hier über den Bach und meiden die Dorfgasse. Hinab, und suche die Furt! – Ruhig, Bruder«, mahnte er einen Gefährten, dessen Roß durch die Ungeduld des Reiters gestachelt wurde. »Willst du die Bauern vor scharfem Eisen bewahren, so müssen wir lautlos flattern wie Fledermäuse.« Unterdes glitt der Kleine vom Pferde und verschwand in der Finsternis. Als er nach einer Weile an seinem Tier heraufkletterte, gebot der Alte: »Voran und achte auf die Steine.« Die Reiter verließen den Weg, setzten vorsichtig über den geschwollenen Bach und zogen talauf längs der Berglehne, an welcher das einsame Haus stand.

»Ich denke, bei diesem Wetter schlafen die Wachen«, begann der Führer wieder. »Ich bringe das Eisen mit, welches die Türen geräuschlos öffnet. Schwinge dich über den Zaun, Bube, und sieh zu, auf welcher Streu du die Wächter findest. Sie müssen unter die Nebelkappe, bevor sie sich rühren; ein lauter Ruf könnte uns zwingen, dem ganzen Dorf ein heißes Ende zu machen.« Wieder hielt der Trupp in einiger Entfernung vom Hause, und wieder tauchte der Knabe vom Pferde hinab in die Schwärze der Nacht.

[] In der Stube lag auf dem Lehnstuhl ein bleiches Weib und starrte nach dem flackernden Schein der Lampe. »Zum letzten Male sehe ich dies Licht brennen. Klein ist der Funke, doch bald wird er ein großer Brand. Nur um Euretwillen tue ich es, geliebter Herr; den Leib, der Euch gehört, soll keine fremde Faust entblößen; ich selbst will mir den Richter suchen, der mehr Erbarmen hat, als die Menschen hier auf Erden. Die Nacht ist finster und lang; erkenne ich im Morgengrauen die Fichte auf der Höhe, wo ich an seiner Seite stand, so will ich ihm Lebewohl sagen für immer. Wenn die Lohe aufsteigt, so hoffe ich, jagt der Wind sie abwärts vom Dorfe, damit die Wöchnerin mit ihrem Kinde nicht Schaden leide.

In den ersten Tagen, nachdem sie mich in Haft gesetzt, flogen meine Gedanken unablässig zu ihm hin, und ich meinte, er müßte kommen, mich in die Arme schließen und über mir trauern, daß ich ausgestoßen und verflucht bin ohne Schuld. Jetzt träumt mir nicht mehr so. Es wird ihm gehen, wie den andern auch, sie werden ihm Übles von mir sagen, und er wird ihnen glauben. Ich möchte doch, daß ich ihm leid täte.

Die Wächter riefen mir zu, daß die alte Ursel tot im Walde gefunden ist. Das war ein Glück für sie. Die Amseln sind von den Bauern erschossen, auch die Katze ist erschlagen, weil sie mir zugehörte. Einsam war mein Leben und einsam soll mein Ende sein.

Von der Leinwand, die ich gesponnen und über die er sich gefreut, habe ich als letzte Arbeit zwei Hemden genäht. Eines trage ich auf dem Leibe für meine letzte Stunde, und das andere sollte er sich aufheben bis zu der Zeit, wo es ihm angezogen wird. Aber der Wunsch war eitel, niemand wird ihm mein Vermächtnis zutragen, denn es gibt keinen Boten mehr von mir zu ihm. Und wer weiß, ob nicht auch ihm davor graut, in meinem Gespinst bestattet zu werden.«

Sie sprang heftig auf, sah durch das Feuer zu der Tanne und faßte nach der Lampe. Ein Windstoß schlug an das Fenster, daß die Scheiben klirrten, und durch Sturm und Regen klang ein Geräusch wie von schnaubenden Pferden, Geflüster von Stimmen und das Knarren des Tores. Die Stubentür sprang auf, ein Mann stand auf der Schwelle. Sie hörte die Worte: »Gelobt sei Gott, daß ich Euch finde!« und fühlte sich von starken Armen umschlungen. Da klammerte sie sich fest an den Geliebten und schrie: »Noch nicht sterben!«

»Komm, Judith«, mahnte der Mann und zog sie nach der Tür.

»Wohin?« fragte sie wild. »Die Leute draußen weisen auf mich mit den Fingern, und Euch werden sie töten, wenn Ihr nicht von mir weicht. Hinweg von mir, Ihr seid bei einer Hexe!« Sie suchte sich ihm zu entwinden, aber sie sank wieder an seine Brust.

»Was die Hexerei angeht«, begütigte die Stimme Gottliebs hinter ihr, »so gibt es hier nur eine Hexe, die sogenannte Frau Venussin, sowie ihren Jungen, welcher den Hundenamen Amor führt. Und [] wenn Euch die Nachbarn hierzulande gehässig sind, so reitet davon. Wer vier starke Pferdebeine unter sich hat, dem steht die weite Welt offen, geht's nicht bei den Christen, so zieht er zu den Türken oder zu den Engländern, welche ich gleichfalls loben höre. Schaffe sie auf das Pferd, Bruder, denn dieser Ort ist ihr verleidet.«

»Er rät gut«, rief sie außer sich. »Hinweg ihr alle, damit ich das Haus anzünde.«

»Eile mit Weile!« tröstete Gottlieb. »Alt-Rosen ist niemals so leichtfertig, ein volles Haus abzusengen. Soll die Ausstattung der Frau Rittmeisterin verkohlen oder den Schreibern in die Hände fallen? Erst geräumt, dann gebrannt, ist Soldatenbrauch.« Und zu Bernhard tretend, gebot er: »Erwarte uns im Walde, es ist nicht nötig, daß sie unserer Arbeit zusieht. – Vorwärts, Bube! Wo ist der Zugang zum Versteck? Sperre die Truhe auf und wirf in den Wagen, wie's kommt! Heran, Kameraden, schnelle Hände und scharfen Ausguck, denn der Morgen ist nahe.«

Im nächsten Augenblick jagten Bewaffnete, das Weib in der Mitte, dem Bergwald zu, um den Hof aber bewegten sich schweigsam geschäftige Plünderer, während zwei aus dem Haufen die geknebelten Wächter vorwärts stießen bis in das nahe Gehölz und dort an Bäumen festbanden. Auch der Wagen rollte von dannen, umritten von der reisigen Schar. Als letzter blieb Gottlieb mit dem Knaben im Hause zurück; beim Heraustreten schloß er die Tür und die Pforte des Zaunes. »Es ist der letzte Hof«, sagte er zurückblickend, »dem unser Regiment ein feuriges Ende bereitet. Nur eins tut mir leid, daß wir von dannen ziehen, ohne daß ich den Amtsschreiber in das Feuer geworfen habe. Doch hoffe ich, Satan holt sich seinen Braten.« Mit diesem Wunsche ritten sie davon. Hinter ihnen stiegen aus dem verlassenen Hause die Flammen auf, der Wind blies hilfreich in die Glut. Als die erwachten Dorfleute herzurannten, stand der ganze Bau in Flammen, und sie riefen vergebens nach den Wächtern.

Die fremden Reiter aber fuhren dahin über die Berge, durch Regen und Sturm, und zu dem Geheul der Luft und dem Brausen des Waldes schallte ihr wildes Holla ho! Der wilde Jäger entführte sich das Zauberweib. Die er mit trotzigem Sinne auf das Roß gehoben, hielt er fest, um sie gegen eine Welt von Feinden zu behaupten. Was tut's, ob der Ritt kurz oder lang währt? Wer sein Leben wagt, um geliebtem Leben die Treue zu erweisen, der hat zu aller Zeit das Recht, über die Rotte der Einfältigen und Schlechten hinwegzusetzen.

In dem Zimmer der Herzogin harrte der kleine Prinz mit dem Lizentiaten auf die Ankunft seines Herrn Vaters, denn es war die Stunde, wo der Herzog sich gern von dem Kleinen aufsagen ließ, was dieser gelernt hatte. Zu den Füßen der Herrin saß Regine über vielen Knäueln von bunter Wolle, wählte und reichte sie zur Stickerei.

[] Aber ihre Seele war nicht bei der Arbeit, die Hände flogen in fieberhafter Hast; und da sie nicht aufzusehen wagte, bemerkte sie auch nicht, wie bekümmert der Lizentiat zu ihr hinsah.

Der Herzog ließ diesmal auf sich warten; als er endlich eintrat, begrüßte er seine Gemahlin und ging mit umwölkter Stirne auf und ab, ohne nach der Lektion des Prinzen zu fragen. »Das Haus der Zauberin ist niedergebrannt, und sie selbst ist wahrscheinlich in dem verschlossenen Bau von der Flamme verzehrt«, begann er endlich zur Herzogin. »Die Bauern aber sagen aus, der Teufel oder wilde Jäger habe sie entführt.« Die bunten Knäuel entrollten dem Schoße Reginas und kugelten auf den Fußboden. »Die Dorfleute wollen die schwarze Höllenschar leibhaftig gesehen haben, den wilden Jäger mit seiner Jagd, wie er das Weib auf dem Rosse hielt und mit ihr durch Flammen und Rauch in der Luft über die Berge fuhr. Es ist seltsam, daß so viele dasselbe gesehen, der eine mehr, der andere weniger; die Wächter behaupten, von dem höllischen Heer übel zerstoßen zu sein, doch fand man sie mit gewöhnlichen Stricken gebunden.«

»Die Dienerin der Angeklagten, welche entflohen war, hat man in den Bergen leblos gefunden; sie saß in einem Versteck, zu dem die Dorfleute bei Kriegsgefahr flüchten. Die Nahrungsmittel in ihrem Korbe waren unberührt, und die Leute behaupten, der Böse habe ihr den Hals umgedreht. Doch ist wunderlich, daß in ihrem Schoße das Gesangbuch lag und darin aufgeschlagen das Lied: Ein' feste Burg. – Dergleichen ist in der Christenheit unerhört. Für mich aber wird es besonders schrecklich, denn ich konnte mich, was auch die Richter vorbrachten, noch nicht an den Gedanken gewöhnen, daß das Mädchen einen Bund mit dem Bösen gemacht habe.«

»Des Himmels Segen über Eure herzogliche Gnaden für diese gütigen Worte«, klang es leise neben dem Stuhl der Herzogin, wo Regine mit gefalteten Händen auf den Knien lag. Der Herzog sah von der Seite auf die Kniende und fuhr fort: »Nur der Jägermeister will nicht glauben, daß es höllische Geister waren, welche das Weib entführten; er wies mir weiter oben am Wege die Spuren vieler Pferdehufe; die Hufe hatten Eisen, und an dem einen fehlte ein Nagel.«

Er ging wieder nachdenklich auf und ab. »Auch aus der Stadt wird Wunderliches berichtet. Bei der Schmiedin Stange, deren Mann seit vielen Jahren verschwunden ist und unter das Kriegsvolk gelaufen sein soll, stand vor zwei Tagen plötzlich zur Zeit der Abenddämmerung in der Stube eine finstere Gestalt, welche sich als heimgekehrter Schmiedemeister gebärdete, und, als das erschreckte Weib auf ihn zugehen wollte, dasselbe streng ermahnte, bis Mitternacht nicht mit ihm zu sprechen, sondern ihn ruhig schalten zu lassen, und gegen jedermann zu schweigen; dies werde ihr Glück sein; wenn sie [] aber spreche, ihr Verderben. Zur Bekräftigung scheint er Geld auf den Tisch gelegt zu haben, die Frau gibt nur einen Dukaten zu, doch mag es mehr sein. Während sie noch betäubt dasaß, ist er in die Schmiede gegangen, hat dort mit dem Werkzeug hantiert und auch das Feuer angeblasen. Plötzlich war er verschwunden und ist bis jetzt nicht wieder sichtbar geworden. Durch das späte Arbeiten in der Schmiede, die seither kalt war, entstand in der Nachbarschaft ein Argwohn, und da die Frau widerwillig blieb, Auskunft zu geben, wurde sie heut verhört und behauptete, es sei der Geist ihres Mannes gewesen. Wir haben wahrlich genug gegen die Bösen in dieser Welt zu kämpfen, solches Eindringen des Satans schafft neuen Schrecken und entsetzt die Gemüter.«

Er hielt vor Regine an. »Ihr, Jungfer Königin, habt selbst Bekanntschaft mit der Angeklagten Möring gehabt. Ich frage Euch auf Euer Gewissen: Haltet Ihr sie für eine schädliche Zauberin?«

»Nein!« rief Regine, »an ihren Werken sollt ihr sie erkennen, sie war gutherzig gegen jedermann und nicht auf eigenen Vorteil bedacht. Der Pfarrer dort ist alt, und in der Gemeinde leben Arglistige, welche ihr neidisch sind.«

»Sie ist beschuldigt, um Mitternacht im Walde teuflische Künste geübt zu haben, und ein Zeuge sagt aus, daß der Teufel in Gestalt des wilden Jägers bei ihr gesehen worden.«

Regine rang die Hände. »Es war ein Mensch, und ein redlicher Christ, denn, herzogliche Gnaden, es war mein Bruder.«

Der Herzog trat zurück. »Woher ist Euch das bewußt, Jungfer?« fragte er streng.

»Mein Bruder selbst hat es mir vertraut«, antwortete das Mädchen und fuhr, das Haupt erhebend, fort: »Was mir auch geschehen möge, ich kann es nicht er tragen, daß Eure herzogliche Gnaden durch die Aussagen der verwirrten und boshaften Leute getäuscht werden. Die Jungfrau vom Walde war meinem Bruder lieb geworden, und als er durch seinen Buben Kunde erhielt von der Todesgefahr, in welcher sie verstrickt saß, kam er heimlich mit bitterer Angst in Eurer Hoheit Land. Er ließ mich aus dem Schlosse zu sich fordern, und obwohl er mir seinen Entschluß bergen wollte, so erkannte ich doch, daß er auf eine Gewalttat in der nächsten Nacht sann. Auch war er nicht allein, er hatte einen treuen Kameraden, welcher denselben Namen führt, mit dem herzogliche Gnaden soeben die Schmiedefrau benannten. Dieser war im Heere bekannt als ein redlicher Mann, aber in allerlei Listen erfahren, und ich hoffe, diese beiden haben die Jungfrau weggeführt.«

»Ihr aber«, sprach der Herzog unwillig, »seid Mitwisserin geworden bei einer frechen Gewalttat, durch welche das Gericht gehindert und meine Autorität gekränkt wird, und Ihr selbst seid schuldig geworden vor dem Gesetz.«

[] Da begann der Lizentiat ehrerbietig: »Ist Jungfer Regine schuldig, so bin ich in derselben Schuld, denn ich habe sie vorgestern zu der geheimen Besprechung mit ihrem Bruder begleitet und wieder zurückgeführt, und ich habe mir in der Stille ähnliche Gedanken gemacht wie sie selbst, über eine natürliche Entführung ohne teuflische Künste. Und ich berge Eurer herzoglichen Gnaden nicht, daß ich trotz der entgegengesetzten Meinung hoher Geistlichkeit in meinem Herzen auch die Gesinnung der Jungfer Regine gegen die Angeklagte teile und der Überzeugung lebe, daß jene unschuldig ist. Ja, ich wage Eurer herzoglichen Gnaden freiheraus zu sagen, daß ich die ganze Prozedur wegen dieser sogenannten Hexerei für ungerecht, gewalttätig und nicht in frommer christlicher Lehre begründet halte.«

»Der Herr Lizentiat«, rief Regine zitternd, »ist unsträflich wie ein Engel in dieser Sache, denn er wußte nicht, zu wem er mich begleitete; er kannte den Bruder nicht, hatte ihn nie gesehen, und ich habe, um niemanden in Gefahr zu setzen, ihm nichts bekannt.«

»Ist es so, wie Ihr sagt«, begann der Herzog unzufrieden, »so wundert mich, daß Monsieur Hermann, den ich seither als vorsichtigen und mir ergebenen Diener betrachtet habe, sich dazu drängt, der Vertraute und Komplice in einer so widerwärtigen Angelegenheit zu werden.«

Die Herzogin, welche mit Teilnahme zugehört hatte, so daß sie auch die Stickerei in den Schoß legte, erhob jetzt die Augen zu ihrem Gemahl und sprach leise: »Mein geliebtes Herz wolle die beiden ansehen, sie sind sich einander gut.«

In dem ernsten Gesicht des Herrn malte sich ein unmäßiges Erstaunen, daß die, welche er für eine Verkünderin gehalten, sich in solcher Weise als eine Liebhaberin enthüllte. Und zuerst wurde seine Miene noch finsterer. Aber als er die ehrlichen Gesichter der jungen Leute prüfend betrachtete, erhielt seine gütige Gesinnung allmählich die Oberhand, zumal er in seinem verwüsteten Lande gern behilflich war, gottselige Ehen zu stiften. Und obschon der hohe Ernst nicht von seinem Angesicht wich, so war sein Ton doch ohne Härte, als er gegen Regine begann: »Die Herzogin und ich haben Euch als einer Landfremden Unterkunft in unserem eigenen Hause bewilligt; und wiewohl wir an Euch, abgesehen von Euren Heimsuchungen, nichts Unebenes und Auffälliges bemerkten, so beweist sich doch auch Euch gegenüber die Regel eines fürstlichen Haushalts als richtig, daß ein Landesherr seine vertraute Umgebung am besten aus Angehörigen des eigenen Landes erwählt, deren Extraktion und Anhang ihm genau bekannt sind. Ihr aber seid durch Euren Bruder und dessen Verbindung mit einem Weibe, welches unter furchtbarer Anklage steht, in den Schatten eines Verdachts gekommen, welcher in einem fürstlichen Haushalt ganz unleidlich ist, deshalb könnt Ihr nicht länger in dem Schlosse und in unserer Nähe Euren Aufenthalt [] finden.« Regine erhob sich schweigend und streifte die Wollfäden von ihrem Kleide; ihre Angst war geschwunden, sie stand mit gesenktem Haupt bereit, zu gehen.

»Ich berge Euch nicht«, fuhr der Herzog fort, »daß durch den Schloßprediger auch Bedenken gegen das wenige, was mir von Euren Revelationen und Gesichten zugänglich wurde, erhoben sind, indem derselbe behauptet, daß darin eine ihm bereits anderweitig bekannte versifizierte Äußerung enthalten sei, welche von einem Jesuiten herrühre. Diesen Verdacht lasse ich billig auf sich beruhen, denn mir ist wohlbewußt, daß Ihr Euch sonst als eine treue Bekennerin evangelischer Lehre bewiesen habt. Und ich hoffe es vor meinem Gott zu verantworten, wenn ich in dem Wunsche, Euch vor Gefahr und Schaden zu bewahren, von dem, was Ihr mir heut im Vertrauen mitgeteilt, meinem Consistorio gegenüber keinerlei Gebrauch mache, zumal es mir eine herzliche Erleichterung ist, daß ich jetzt hoffen darf, die Angeklagte, welche sich durch die Flucht ihren Richtern entzogen hat, sei in Wahrheit nicht ewiger Verdammnis verfallen. Da Ihr selbst aber von hier scheiden müßt, so will ich Euch in guter Meinung fragen, wohin Ihr Eure Schritte zu wenden gedenkt?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Regine ergeben, »ich bin jetzt allein, aber der Himmel wird mich nicht verlassen.« Sie neigte sich tief vor dem Herzog und kniete vor der Herzogin. »Ich danke in Ehrfurcht für alle Gnade, die ich hier gefunden.« Sie stand auf und wandte sich zum Gehen.

»Gestatten, herzogliche Gnaden«, sagte der Lizentiat schnell, »daß ich in hoher Gegenwart der Jungfer noch etwas weniges mitteile«; und zu Regine tretend, sprach er: »Der dritte Spruch, den ich damals getroffen, als ich die werte Jungfrau nach der Stadt holte, war aus dem Buch Ruth, und er lautete: Wo du hingehst, da will ich auch hingehen, und wo du bleibst, da bleibe ich auch, und dein Gott ist mein Gott.« Er stand neben ihr und hielt ihre Hand fest.

Durch den Schmerz Regines fuhr ein heller Strahl der Freude, daß der Mann, dem sie von Herzen zugeneigt war, sich in dieser Stunde zu ihr bekannte, und sie sah ihn dankbar mit nassen Augen an. Aber gleich darauf zog sie die Hand zurück und sagte leise: »Ich darf niemanden unglücklich machen.« Doch der Lizentiat ließ sich nicht beirren und führte sie vor den Herzog.

»Herzogliche Gnaden sind zugleich ein Vater aller Waisen und der oberste Bischof in Ehesachen. Deshalb sei mir gestattet, daß ich an hoher Stelle meine Absicht erkläre, um die Zuneigung der lieben Jungfer Königin zu werben und dieselbe, wenn sie mir ihre gute Gesinnung zuwenden kann, zu meinem ehelichen Gemahl zu machen. Unterdes bitte ich ehrfurchtsvoll um Erlaubnis, die Jungfer meiner [] Mutter zu bringen, welche nach allem, was sie durch mich vernommen hat, sich freuen wird, dieselbe aufzunehmen.«

»Ungern werden wir Euch aus unserer Mitte entlassen«, antwortete der Herzog, »da Ihr aber für diese fremde Waise in so feierlichen Worten mein hohes Amt angerufen und Euren Willen erklärt habt, mit der Jungfer Königin Freud und Leid zu teilen, so will ich mich Eurem Vorhaben nicht entgegensetzen, sondern wünschen und hoffen, daß Ihr im Verein mit dieser auf Erden mehr Freude als Leid genießen mögt.«

Er trat vor Regine und fuhr gütig fort: »Es war meine Absicht nicht und nicht die der Herzogin, Euch ohne Schutz den Zufällen des Lebens preiszugeben. Denn uns ist Eure Ergebenheit gegen uns besser bewußt, als Ihr selbst meint. Wollt Ihr diesen Mann als Euren Herrn anerkennen, so tretet Ihr unter gute evangelische Aufsicht, und Eure Seele wird wohlbehütet sein. Und um Euch für guten Willen, den Ihr im Dienste der Herzogin, wenn auch nicht lange, doch mit Eifer bewiesen habt, unsererseits den Rekompens zu gewähren, so werde ich Euch für den Lizentiaten Hermann eine Vokation in die nächste offene Pfarrstelle übergeben. Diese mögt Ihr ihm zubringen, falls Ihr ihn zu Eurem Herrn nehmt. Bis dahin bleibt er in meinem Dienst, Ihr aber im Hause seiner Mutter, und da Ihr keinen Familienanhang in meinem Lande habt, so wird die Herzogin seinerzeit Euch im Pfarrhause die Hochzeit ausrichten lassen.«

Bei den Schweden

Der Krieg war von neuem zu hellen Flammen aufgebrannt. Der Kurfürst von Bayern hatte seine Neutralität aufgegeben, sein Heer verstärkt und mit den Kaiserlichen zu der größten Armee verbunden, welche seit Jahren im Felde operiert hatte. Gegen diese Macht rief Feldmarschall Wrangel den General Königsmark zu Hilfe, auch Graf Turenne kam widerwillig herzu, und ihre Heerhaufen lagerten an der Donau, drei Rudel von Wölfen, welche die Not zwang, sich für gemeinsame Jagd zu gesellen, während jeder Haufe gehässig die anderen belauerte. Aber auch die Kaiserlichen und Bayern betrachteten einander mit scheelem Wolfsblick. Von neuem wurden Städte berannt, Dörfer ausgesengt und im kleinen Kriege die Zahl der Kämpfenden verringert, denn keine Partei wollte ihre ganze Stärke zu einer entscheidenden Schlacht auf das Spiel setzen.

In den Quartieren des Generals Königsmark standen jetzt unter Oberst Penz die weimarischen Reiter in vier Regimenter geteilt mit neuen Standarten. Es war viel junges Volk bei ihnen, und nicht wenige der Alten hatte der Krieg getilgt oder ihr eigenes Gelüst zu [] anderen Fahnen geführt. Dennoch hielten sie untereinander gleich Leidensgefährten zusammen. Vor dem Feinde bewährten sie ihre Tüchtigkeit, und Königsmark wußte, daß sie ihm in der Gefahr nicht versagten; aber im Lager waren sie für die schwedischen Führer schwer zu behandeln.

An einem Maimorgen kam ein einzelner Reiter, gefolgt von seinem Knechte, bei den Lagerwachen des Dorfes an, in welchem gerade der General das Hauptquartier hatte. Der Reisende war von mannhaftem Aussehen und in vornehmer Kleidung, aber er trug nicht die Feldbinde eines Offiziers. Dennoch empfing er Zuruf und Grüße von mehreren Soldaten, welche am Wege standen, und er selbst sah um sich wie einer, der Bekannte wiederfindet, er schwenkte den Hut und sprang vom Pferde, als ihm ein alter Offizier mit ausgebreiteten Armen entgegenkam.

»Willkommen, Bruder!« rief Gottlieb. »Durch dein Brieflein bin ich avisiert, du findest alles bereit, und der Oberst erwartet dich. Zuerst aber frage ich, wie geht es deiner Frau Rittmeisterin?«

»Sie grüßt ihren Brautführer«, antwortete Bernhard. »Um ihre Gesundheit zu schonen, ließ ich sie mit unserem Sohne und den Troßwagen in der Stadt zurück. Ist dir's recht, so holen wir sie ein, sobald ich hier in Amt und Quartier bin.«

»Um ihretwillen freut mich, daß du erst mit der Frühlingssonne dem Heere zuziehst; in meinen Gedanken zweifelte ich oft, ob du wieder zu Pferde steigen würdest.«

»Wir lebten verborgen im Feenlande«, berichtete Bernhard lachend. »Wisse, als du mit deinen Reitern aus dem Urlaub, den dir Königsmark bewilligt, nach den schwedischen Quartieren abgeritten warst, wollte der fränkische Dorfpfarrer, der mir mein Weib angetraut, uns gegen billige Vergütung gern in seinem Hauswesen behalten. Doch fand ich besseren Schutz bei dem Sohn eines vornehmen Geschlechtes aus Nürnberg, welcher zugleich mit mir das Jus studiert hat und jetzt als reicher Erbe die Handlung und die Güter seiner Vorfahren besitzt. Er gab mir Unterkunft auf einer seiner Burgen und machte mich zu seinem Kastenvogt, so daß ich ihm mit meinen Knechten nicht nutzlos war, denn ich hielt das räuberische Volk von seinen Dörfern ab. Ich saß mit der jungen Hausfrau den Herbst und Winter in festem Steinhaus auf der Höhe, sah zu, wie die Blätter im Winde tanzten und der Schnee um die Fenster wirbelte; Bruder, es war eine selige Zeit; und Frau Judith fand zuweilen ihr Lachen wieder. Wenn das Burgtor am Abend verschlossen war, sang ich nach alter Gewohnheit zur Laute, sie aber schnitt und nähte fleißig von dem Schatz ihrer Truhe, den du gerettet, eine Ausstattung für sich und mich und dazu noch für ein Drittes. Als nun im Frühling das Laub sproß, wagte sie sich einst hinaus ins Freie, da traf sie auf dem Wege einen armen Mann, der als Hausierer [] früher in das thüringische Walddorf gekommen war; er bat um eine Gabe, und wie sie ihm freundlich antwortete, wandelte sich das Gesicht des Tropfes, er trat scheu zurück und lief ohne Gruß von dannen. Sie kam verstört in die Burg und trieb seitdem in unnötiger Angst um mich zum Aufbruch. Unterdes war auch die Geldkatze leicht geworden, und wir fragten in Sorge, wohin?«

Der Alte nickte. »Auch darin rate ich, der Zeit zu vertrauen. Der höchste Berg wird klein wie ein Maulwurfshügel, wenn man sich weit genug von ihm entfernt. Hier findest du manchen ehrlichen Kameraden, aber viel Unfrieden, Brot ist teuer, doch das bayrische Vieh nährt den Soldaten, unsere Reiter sind Ochsenhändler geworden, von scharfen Aktionen ist wenig zu spüren.«

»Was weißt du über Wilhelm?« fragte Bernhard.

»Er haust unzufrieden beim Wrangel, der ihn in der Kanzlei verwendet; doch haben unsere Leute hier ihn nicht vergessen, auch dich nicht, Bruder, und du wirst manchem beim Glase Bescheid tun müssen. Sieh, das ist einer von den Getreuen.«

Sie trafen in der Dorfgasse auf den Leutnant Pyritzer, der in seiner bedächtigen Weise grüßte.

»Ich freue mich Eurer Ankunft, sie ist uns bereits verkündigt; und ich erbitte Verzeihung, wenn ich den Herrn Kameraden zur Stelle um seinen Beistand an gehe. Ein früherer Offizier vom Regiment Taupadel, der nur als ein französischer Windbeutel ästimiert werden kann, ist aus den Dörfern des Turenne herangeritten, er hält vor dem Lager und hat mir durch einen bebänderten Milchbart, der sich seinen Pagen nannte, diesen unsinnigen Kartellbrief gesandt, worin zu lesen steht: Er habe zu seinem großen Bedauern erfahren, daß ich mein Haar kurz geschoren trage. Dies sei ihm unleidlich, und er bitte deshalb höflichst um die Ehre einer Begegnung im Freien. So schreibt der Narr.«

»Das ist der richtige französische Stilus«, bestätigte Gottlieb. »Es ist der verkehrte Hundestil, vorn Wedeln, hinten Zähnefletschen. Ich rate Euch, daß Ihr mit dem Degen die Punkte zu dieser Schrift stecht.«

»Darum eben wollte ich mir die Ehre erbitten«, sagte der Pyritzer zu Bernhard, »daß der Herr Kamerad als mein Begleiter mit hinausreite. Auch der Franzose bringt nur einen Partner mit. Fehlt es Euch an Pistolen, so ersuche ich, unter den meinen zu wählen.«

»Euer Vertrauen ehrt mich«, antwortete Bernhard, höflich den Hut lüftend, »ich bin bereit.«

Aber Gottlieb trat dazwischen. »Ich widerstehe den Herren ungern in solcher Sache; doch unser Gast hat weder Feldzeichen noch Lagerrecht und ist gebunden, zunächst vor dem Obersten zu erscheinen. Die Fremden aber sollen nicht prahlen, daß wir Deutsche gezögert haben, auf ihren Gruß zu antworten; bitte also, daß meine [] Herren Brüder diesmal mir den Vorzug geben und gestatten, an Stelle des Rittmeisters König die Sekundanz zu übernehmen.«

Gegen diesen Vorschlag konnte Bernhard nichts Stichhaltiges einwenden, und da auch der Pyritzer zufrieden war, so eilten die beiden Leutnants zu ihren Pferden. Der Rittmeister wurde von dem Obersten und der Kanzlei lange aufgehalten, bevor er bei der Standarte den Eid ablegte und die Feldbinde umtat. Als er, beglückwünscht von alten und neuen Kameraden, wieder auf die Straße trat, um das Logis des Generals Königsmark aufzusuchen, fand er seinen Vertrauten auf der Bank sitzen. »Der wackere Kamerad ist vom Pferde gefallen und dahin«, sagte Gottlieb traurig.

»Dann habe ich die Pflicht, ihn zu rächen«, antwortete Bernhard. »Trage dem Franzosen meine Herausforderung.«

»Es ist nicht nötig, Bruder«, sprach Gottlieb, an seinen Degen rührend, »auch der Franzose reitet nicht mehr zurück. Gedenkst du an den Traum, welchen du einmal dem Pommer auslegen solltest? Etwas davon ist ihm in Erfüllung gegangen. Als er auf dem Felde lag, so friedlich ausgestreckt wie ein Schlafender, der sein gutes Tagewerk getan hat, trieben Reiter von uns eine Viehherde heran, und bevor ich die Treiber verscheuchen konnte, drängten sich die Schafe um den Leib des Toten. Hat er noch etwas davon vernommen, so hoffe ich, er wird dabei zum letzten Ende an den Hof seines Vaters gedacht haben. Ich sage dir aber, Bruder, wenn das so zwischen uns und den Franzosen fortgeht, braucht der Kaiser sich unsertwegen nicht außer Atem zu setzen, denn das Gezänk und Geraufe ist unmäßig geworden, und die gemeinen Soldaten sind noch wütender aufeinander als die Offiziere. – Ich erwarte dich; sieh zu, daß du vom General nicht lange aufgehalten wirst, denn ich gedenke dich heut für mich und einige alte Käuze, die du kennst, zu behaupten.«

Als Bernhard in dem Vorzimmer seines neuen Befehlshabers stand, fiel ihm auf die Seele, wie verändert seine Lage war. Einst hatte er in der Zuversicht junger Liebe den schwedischen Dienst verschmäht, jetzt mußte er ihn als eine Zuflucht für sich und die geliebte Frau suchen. Alles Glück, an das er damals mit Sehnsucht gedacht, war ihm zuteil geworden, und doch zog er unstet und heimatlos auf der Erde, und über ihm schwebte eine dunkle Wolke, die ihn und eine andere vom hellen Sonnenlichte schied.

Königsmark empfing ihn gütig wie einen jüngeren Kameraden. »Euer Brief hat mich nicht vergebens an mein Versprechen gemahnt. Ich hoffe, die Redlichkeit, welche Euch damals hinderte, in den Dienst der Königin zu treten, wird Euch jetzt zu einem guten Offizier machen, dem auch ich vertrauen kann. Euch soll nicht schaden, daß ich durch das Geschenk, welches Ihr mir damals anbotet, in noch größere Sorgen gekommen bin, als wir beide ahnten. Denn [] wisset, Eure Alten verstehen zwar zu reiten, aber sie sind im Heere ein harter Stein des Ärgernisses und machen mir das Leben sauer. Um ihretwillen bin ich mit Feldmarschall Wrangel verfeindet, und ich bin, wie ich voraussah, zu Stockholm in den Verdacht gekommen, als ob ich für mich selbst insgeheim machiniere und mich zum Haupt einer deutschen Partei aufwerfen wolle. Doch das ist nicht das ärgste, denn euren Übertritt vermag auch der Franzose nicht zu verwinden, er liegt unseren Kommissaren beständig in den Ohren, ihm die Abtrünnigen wieder zu überweisen. Zornig hat er sich mit uns konjungiert, die Feindschaft zwischen uns und ihm ist kaum noch zu bergen, und er droht, sich wieder nach dem Rheine zu wenden. Der Zustand wird unleidlich für das Heer und für mich selbst. Das sage ich Euch im Vertrauen, damit Ihr zur Ruhe und Vorsicht mahnt, denn ich weiß, daß Ihr unter den alten Weimarischen Anhang habt. Und ich habe auf Euer Gesuch günstig geantwortet, weil ich einen zuverlässigen Mann brauche, der mir die Gedanken der Völker zuträgt und vor ihnen mein Interesse nach Kräften vertritt. Wollt Ihr mir solche Treue erweisen, so soll es Euer Schade nicht sein, denn ich schlafe gut, wenn ich weiß, daß meine Feinde darniederliegen, aber ich wache auch eifrig für den Vorteil meiner Freunde.«

»Eure Exzellenz wird nicht fordern, daß ich als Zuträger und Spion zwischen dem Feldherrn und den Soldaten einherschleiche, zu solchem Dienst schickt sich mein Wesen nicht«, versetzte Bernhard mit Festigkeit. »Auch bin ich mit dem, was Offiziere und Soldaten begehren, zur Zeit wenig bekannt. Doch hoffe ich des hohen Vertrauens nicht unwert zu sein, wenn ich behaupte, gerade durch die ärgerlichen Händel mit dem Franzosen ist eine günstige Gelegenheit geboten, wo Eure Exzellenz als Führer der deutschen Völker zum hohen eigenen Ruhm und zum Vorteil der Krone Schweden den Frieden befördern könnten, auf eigene Hand und als höchster Befehlshaber. Denn jetzt ist die Zeit gekommen, unsere Regimenter von hier ab in das Kaiserliche zu führen.«

Der General lächelte. »Ist's Eure Weisheit oder ist es der Witz des Lagers, den Ihr mir zutragen wollt?«

»Nicht ich allein unterhalte mich mit solchen Gedanken. Liegt Euch daran, die geheime Meinung der Soldaten zu erkunden, so ist Leutnant Stange, ein alter Reiter, der bei den Weimarischen in hohem Ansehen steht, hier in der Nähe.«

Ein schwedischer Offizier trat ein. »Was bringst du?« rief Königsmark, unwillig über die Unterbrechung.

»Aus den Quartieren des Feldmarschalls Wrangel kam die Nachricht, daß Oberstleutnant Hempel, der vormals Befehlshaber der Weimarischen war, gestern morgen tot vor seiner Behausung gefunden worden sei.«

Der General sah von der Seite nach Bernhard und erkannte die [] tiefe Bewegung. »Er ist im Duell erstochen?« fragte er, »das war zu besorgen, denn er hatte viele Feinde.«

»Unter den Soldaten läuft das Gerücht«, fuhr der Offizier fort, »daß an seinem Leibe keine Kartellwunde gefunden sei, sondern ein Messerstich. Die Leute klagen über Ermordung, weil der Tote in aller Stille sofort begraben worden.«

»Es tut mir leid um ihn«, bedauerte Königsmark. »Er war in diffiziler Stellung, doch hörte ich, daß er sich dem Feldmarschall als brauchbar empfohlen hat. Euch war er gut bekannt?« fragte er, zu Bernhard gewendet.

»Er war mein Freund«, versetzte dieser mit zuckendem Munde.

»Das Leben des Soldaten hängt an einem Haar«, tröstete der General. »Der Tod sucht ihn mit jeder Art von Waffen. Rufe den Leutnant Stange!« gebot der Offizier.

Es war ein unheimliches Schweigen im Zimmer, bis Gottlieb hereintrat, das Angesicht noch finsterer zusammengezogen als gewöhnlich.

»Ihr seid einer von den Alten des Herzogs Bernhard?« fragte ihn der Feldherr.

»Jetzt Leutnant bei Penz, vierte Kompanie«, antwortete Gottlieb feierlich, »früher bei Alt-Rosen, erste; unter König Gustav Adolf Kanonier bei Lützen.«

»Ein guter Anfang, Alter«, lobte der Graf, mit Wohlgefallen den Veteranen betrachtend, »damals wieset Ihr dem Pappenheim die Wege, neulich sah ich Euch den anderen voran in die Kaiserlichen einhauen.«

»Jeder nach Kräften«, antwortete Gottlieb. »Eure Exzellenz hielten auch nicht hinten, als dieselben das sahen.«

Der General nickte ihm zu: »Eure Kameraden sind schwierig. Mir liegt am Herzen, ihre Unzufriedenheit zu dämpfen, denn der Groll, der durch einen Zufall in die Gemüter kommt, frißt weiter und treibt eine Forderung nach der anderen hervor. Ihr kennt die Gesinnung der Soldaten, was begehren sie?«

»Rache«, antwortete Gottlieb nachdrücklich. »Rache an dem Franzosen oder an wem es sonst sei! Feldmarschall Graf Turenne wird klug handeln, wenn er es vermeidet, bei einer Gasterei oder auch beim Scharmützel unseren Leuten in Schußweite zu kommen, ihre Karabiner könnten von selbst losgehen.«

»Euch an einem Verbündeten zu rächen, ist nicht meines Amtes«, sagte der General mit finsterer Miene. »Was kann ich selbst tun, um meine tapfern Reiter zu kontentieren?«

Gottlieb räusperte sich: »Links schwenken und vorwärts ins Kaiserliche! Denn des Römischen Kaisers Majestät ist, mit Respekt zu sagen, kriegslustig in der Fremde, aber furchtsam in seinem Hause. Jetzt hat er sich ein großes Herz gefaßt und seine Armada dem [] Bayern ins Land geschickt. Wenn wir unterdes links ab nach Böhmen traben, während Feldmarschall Wrangel und der Franzose hier Herausforderung blasen, so würden unsere Völker den Wunsch erreichen, von dessen Erfüllung sie bei Tage diskurieren und in der Nacht träumen.«

»Kommt Ihr alter Haudegen auch mit dem Frieden?« fragte Königsmark achselzuckend.

»Nicht sowohl Friede, Eure Exzellenz, als vielmehr Beute«, antwortete Gottlieb, »die größte Beute der Welt, Millionen von Gold, Edelsteinen und Prachtgerät, wie es noch schwerlich irgendwo auf einem Haufen zu finden ist! Darnach steht unserem Volke das Herz. Denn wir haben durch böhmische Überläufer von der Hussitenart gute Kunde, daß nach Prag die Schätze aus allen Landen des Kaisers zusammengeflüchtet sind; auch sitzen dort Hunderte der vornehmsten Edelleute mit Weib und Kind, von denen jeder über tausend Dukaten Ranzion zahlen würde. Das alles ist für den zu greifen, der die Hand darnach ausstreckt, denn die Kaiserlichen sind sorglos im Dienst, und die Böhmen erzählen, daß man leicht in die Festung Prag hineinpassieren könnte, weil die Pfaffen vorgeben, daß die Heiligen selbst davor Wache halten. Darum begehren unsere Reiter zuerst, den kaiserlichen Adler kahl zu rupfen; dann wäre ihnen der Friede recht.«

Königsmark lachte und legte vertraulich die Hand auf die Schulter des Leutnants. »Ihr wißt, daß der Feldherr nicht so schnell zum Beuteritt blasen kann, als der Soldat sattelt. Mir selbst liegt alles daran, euch aus dem Gezänk herauszubringen, aber ich bin nicht der, bei dem die letzte Entscheidung steht.« –

Von der Straße klangen Schreie und eilige Tritte. Wieder trat der meldende Offizier ein: »Die Regimenter des Obersten Penz sind in Tumult, die Reiter laufen nach dem Alarmplatz, dort stehen sie in Haufen zusammen.«

»Was fordern sie?« fragte der General, das Haupt erhebend.

»Noch wird's nicht laut; sie klagen über den Tod ihres alten Führers und verhandeln finster und mißtrauisch untereinander.«

»Der wilde Stier ist unsicher, gegen wen er die Hörner heben soll«, sagte der Feldherr. »Also ohne Ehre und Kondukt ist der Tote bestattet worden? Das kränkt auch mich; denn euch ist bewußt, ich hatte ihn ehrenvoll aufgenommen, soweit ich vermochte. Das Leben kann ich ihm nicht wiedergeben, aber die nachlässige Bestattung gedenke ich nicht zu leiden, und ich muß durchsetzen, daß er aus dem Boden gehoben und in einem zinnernen Sarge in ansehnlicher Kirche beigesetzt wird, wie einem schwedischen Obersten gebührt; mein eigener Feldprediger soll ihm die Gedächtnisrede halten, und Deputierte der Regimenter sollen zu der Bestattung geladen werden. Ich hoffe, das wird den gemeinen Mann soweit kontentieren,[] daß er meine gute Gesinnung erkennt. – Und ihr seid der Meinung, daß den Völkern willkommen wäre, wenn ich sie nach Böhmen führe? – Eilt, ihr Herren«, fuhr er zu den beiden Offizieren fort, »noch ist es Zeit, die Unruhe zu stillen, seid schnell und rührig, damit uns nicht neues Unheil erwachse.«

Mit Mühe wurden die zornigen Soldaten beschwichtigt, der General ritt selbst unter sie, versprach scharfe Untersuchung und Genugtuung, ja, er gab den Rat, daß Abgeordnete der Regimenter ihre Klagen den schwedischen Kommissaren im Lager vortragen sollten, und sagte dabei in guter Laune zu Bernhard: »Ich rate aber, das Prager Phantom, welches den Herren in Gedanken liegt, durchaus nicht zu erwähnen.« Zuletzt setzte er durch, daß der Getötete aus der Erde gehoben und nochmals feierlich beigesetzt wurde. Als Bernhard an dem Sarge des Freundes kniete, gedachte er traurig der Stunde, in welcher der Tote um die Schwester geworben hatte und des stolzen Vertrauens auf die eigene Klugheit. »Er sollte nicht erleben, daß unsere Soldaten die deutsche Not an dem Kaiser rächen, aber ich merke, sein Tod soll dazu helfen.«

Diese Erwartung wurde erfüllt. Denn auch die Schweden erkannten, daß die deutschen Reiter des Königsmark an der Donau mehr Verlegenheit als Vorteil bereiteten. Und als sich die Bäume mit Laub bekleideten und das junge Grün der Wiesen und Saatfelder einem reisigen Zuge Futter bot, erhielt der General die Erlaubnis, nach Böhmen aufzubrechen.

Dort zog er von dem schwedischen Stützpunkt Eger aus scheinbar planlos umher, dem Raubvogel gleich, der in hoher Luft seine Kreise zieht, aber sein spähender Blick haftete unverrückt auf der alten Kaiserstadt an der Moldau. Geheime Boten gingen und kamen, und Leutnant Stange wurde oft als Vertrauter in das Zelt des Feldherrn gerufen. Endlich fand sich ein unzufriedener Böhme, bis dahin kaiserlicher Offizier und in der Festung Prag wohlbekannt, welcher bereit war, Führer eines Überfalls zu werden.

Es war am Ende des Juli, als der General, ohne Geschütz und Troß, durch einen Eilmarsch bis nahe vor Prag rückte. In einem Walde an der Landstraße erwartete der Heerhaufe die Abenddämmerung, dann zog er, das Fußvolk voran, dahinter die weimarischen Reiter mit dem General, verstohlen der Stadt zu. Um Mitternacht hielt der Schwede auf dem weißen Berge, im ersten Morgengrau drang der Vortrupp zwischen den schlecht bewachten Werken ein, bewältigte die nächste Wache, schlug das Tor auf und ließ die Zugbrücke herunter; hinter ihm brachen die Eroberer wie eine Wasserflut in die Straßen der schlafenden Stadt, während das erste Frühlicht die Spitzen der Türme vergoldete, und die Glocken zum Morgengebet läuteten. Die kaiserliche Burg, der vornehme Stadtteil der großen Festung, geriet fast ohne Blutvergießen durch ein keckes [] Reiterstück in die Gewalt der Schweden. Jauchzend und brüllend warfen sich die Sieger in die Häuser und Paläste, welche schon vor der Einnahme mit ihrem Inhalt als Kriegsbeute verteilt waren. Alles, was die alten Reiter an ihren Lagerfeuern ersehnt hatten, wurde ihnen zuteil, reichlich und völliger, als sie geträumt. Denn die Beute, welche sie gewannen an adligen Gefangenen, an Gold, Edelgestein und Prachtgerät, schien ihnen selbst unermeßlich.

In einem großen Herrenhause, das mit fürstlicher Pracht eingerichtet war, lag Rittmeister König mit seiner Kompanie. Den Besitzer hatte sein gutes Glück in Wien zurückgehalten, aber der zitternde Hausmeister wies den Eindringlingen die Silberkammer, die gefüllten Schränke und den Weinschatz des Kellers. In den unteren Räumen hausten die Soldaten; sie saßen auf Stühlen, die mit vergoldetem Leder bespannt waren, und tranken einander spanischen Sekt aus silbernen Bechern zu. In den Ställen des weiten Hofraumes stampften ihre Pferde, auch sie wohlgenährt und übermütig durch maßlos eingeschütteten Hafer. Als oberster Vogt des Hauses aber schritt Leutnant Stange einher, neben seinem Degengehenk ein großes Schlüsselbund, um der Trunkenheit und unsinnigen Verschwendung zu wehren.

In einem Prachtgemach des Oberstocks saß Judith über das Bett des jungen Sohnes gebeugt. »Sie haben dich in eine Wiege gelegt aus Silber und Elfenbein, du heimatloser Knabe; von Marmor sind die Wände deines Schlafgemachs und aus den großen Bildern sehen gerüstete Männer mit Purpurmantel und Ehrenketten am Halse hochmütig auf dich herab, als wollten sie fragen: Wer ist das fremde Kind und wo gehört es hin? Niemand weiß es. Wenn du einst heranwächst, so wirst du vergebens fragen, wer deine Mutter war; da, wo einst ihr Haus stand, ist jetzt ein schwarzer Brandfleck. Kommst du in das Land, wo man sie kannte, wirst du einen wilden Fluch hören, sooft jemand ihrer gedenkt; hüte dich, in die Dorfkirche mit den zerschlagenen Fenstern zu treten, daß die Leute nicht von dir wegrücken und dich hinausweisen als einen Gezeichneten.«

Sie hob das Kind aus der Wiege, als sie einen schnellen Schritt hörte. »Hier ist Euer Sohn, geliebter Herr«, rief sie dem eintretenden Gatten zu. »Ihr habt Euer Weib, das sie bereits in den feurigen Sarg gelegt hatten, auf die Erde zurückgeführt, mein Dank war, daß ich Euch dies junge Leben gab. Jetzt müßt Ihr uns beide tragen. Nehmt ihn in Eure Arme und mich dazu, denn Ihr seid alles, was wir auf Erden besitzen, die letzte Heimat der Verstoßenen.«

»Er wird ein wackerer Knabe«, sagte Bernhard, das Kind freudig betrachtend, »hilf, Kleiner, der lieben Mutter mutig zureden. Sieh, er öffnet die Augen und wird zur Stelle in seiner Sprache fordern, daß du dir nicht in Schwermut den Segen verdirbst, den er in unser Leben gebracht hat.«

[] Das Kind schrie; Pieps lief herbei, nahm es an sich, lachte ihm vertraulich zu und trug es, die Arme schwenkend, unter gutem Zureden in der Nebenstube auf und ab.

Der Rittmeister sah sich im Zimmer um. »Wir sind den Herren dort an der Wand ungeladene Gäste, laß dir's gefallen, daß die Hochmütigen als stumme Trabanten dir dienen. Die stolzen Feinde sind gedemütigt, von der Höhe der Kaiserburg sehen der Thüringer und Sachse herab auf die alte Stadt, aus welcher vor dreißig Jahren die Kriegsfurie aufflog; jetzt schwingen wir siegreich die Fackel, und unsere Reiter, welche das Schicksal des Krieges lange gezaust, können als Sieger über die Moldau trotzig ihr altes Schlachtgeschrei rufen: Hie Deutschland! Jetzt dürfen auch sie hoffen, sich im Frieden ihres Sieges zu freuen.«

»Und wenn der Friede kommt, was bringt er für Euch, Herr?« fragte Judith. »Wo läutet die Kirchenglocke, die uns mit guten Nachbarn zum Gottesdienst ladet?«

»Das deutsche Land ist groß«, versetzte der Gatte, »und der teuflische Argwohn vergeht.«

»Er vergeht, und er wird wieder laut gerade dann, wenn die Angst geschwunden ist. Ich höre sein Geflüster wie das Geräusch des Waldbachs unter der grünen Eisdecke, auf der ich stehe.«

Bernhard sah ihr besorgt in das Antlitz und ergriff ihre Hand: »Wer hat dir, Geliebte, die du seither so tapfer warst, den Sinn verstört?«

»Oh, übet Nachsicht, Herr«, bat das Weib. »Die zweite Warnung hat das Schicksal mir gesandt. Ihr wißt, wie ungern ich an Kranken die alte Kunst übe; heut, als Ihr mit dem Obersten ausgeritten wart, kam Gottlieb und erzählte von einem kranken Reiter aus anderem Regiment, der nebenan in tödlichem Siechtum und hilflos lag. Da ging ich mit Eurem Kameraden an das Lager des Sterbenden. Der Mann war aus Thüringen und erkannte mich. Er weigerte die Arznei zu nehmen, die ich ihm bot, und kehrte sich mit einem Fluche der Wand zu. Euer Freund aber sagte mir darauf zu meinem Trost, daß der Kranke verschieden sei.«

Bernhard fühlte tief den Schmerz der Geliebten, aber er antwortete ruhig: »Harre aus, Judith. Um alles Leben schleicht der Tod, niemand kann sagen, was ihm in der nächsten Stunde beschieden ist. Wie darf dich und mich die Furcht verwirren, weil die Gefahr, in der wir stehen, vielleicht ein wenig größer ist als die manches anderen. Beschied der Himmel uns mehr Gefahr, so verlieh er uns dafür ein festes Herz, und er gab uns auch ein größeres Glück. Daß wir der Not entronnen, miteinander als wackere Ehegatten leben, das ist ein gutes Erdenlos, und wie ein Panzerhemd gegen alle Gefahr trage ich diese stolze Freude.«

»Haltet Ihr mich an Eurem Herzen und höre ich die Zuversicht [] Eurer Rede«, sprach Judith, sich von seiner Brust erhebend, »so schwindet die Angst, und aus Euren Augen dringt ein Strahl der Hoffnung in mein Herz. Segen über Euch! Denn nur in Eurer Nähe finde ich Mut und Vertrauen. Dann wage ich zu bitten, daß der Himmel mich noch unter den fremden Menschen dulde.«

»Nicht alle sind fremd«, tröstete Bernhard und wies nach außen, wo die Stimme des Leutnants in kräftigen Scheltworten laut wurde. »Mancher von den Kameraden setzt für die Frau Rittmeisterin durch das Feuer. Hier in diesem Schloß, in das die Göttin Bellona uns versetzt hat, hausest du sicher unter treuen Gesellen. Aus Schlesien zieht uns Sukkurs heran, die Wege werden frei, und die Straße dorthin kommt in unsere Hände, vielleicht wird uns Gelegenheit, von hier den Ritt nach deiner Heimat zu unternehmen.«

Über das Antlitz der Frau zog ein Schimmer von Freude, sie zog ihn an das Fenster: »Seht dort in der Ferne die grauen Berge, dort liegt unser Hof. Seit ich den Knaben habe, träumt mir wieder von der Kinderzeit. Dann erfaßt mich die Sehnsucht. Ich sehe die Höhen im Morgenlicht und das Haus des Vaters, und ich hoffe, was mich jetzt krank macht und zur Last für meinen lieben Herrn, das wird schwinden, wenn ich dahin komme. Im Hof der Eltern sitzt wohl längst ein Fremder, und er könnte uns rauhen Gruß bieten, wenn wir ihm in sein Heimwesen eindringen. Dennoch ruft mir eine innere Stimme zu, daß ich dort den Frieden wiederfinden werde.«

»So höre ich dich gern reden«, sagte der erfreute Bernhard.

»Und wisset, Herr«, fuhr Judith fort, »die Hoffnung ist nicht ungereimt. Ein Böhme meines Glaubens, den Euer Bube hier erkundete, hat mir Nachricht aus unserer Gegend gebracht. Ach, viele wurden getötet oder verjagt, und von den Bekennern sind nur wenige übrig. Aber einer der Alten lebt noch, der nächste Freund meines seligen Vaters, zu ihm begleitet mich, Bernhard. Dort wird die bittere Ausgeschiedenheit mich nicht mehr quälen, ich komme unter Landsleute, und«, setzte sie leise hinzu, »auch beim Gottesdienst wäre mir wohl, denn unsere Brüder halten fest zusammen, und ihnen würde ich nicht verdächtig sein.«

Die Ähren waren gereift, und der Herbst begann die Blätter zu färben, als reitende Boten die Kunde nach Prag trugen, daß zwischen Schweden und dem Kaiser endlich der Friede vereinbart sei. Da übergab Bernhard die Kompanie der Sorge seines alten Freundes und führte sein Weib den Bergen zu. Die Heerstraße war bis in das Riesengebirge durch schwedische Posten gesichert, und die Feindseligkeiten der Armeen hatten aufgehört. Als Judith mit ihrem Kind und der Dienerin im Sonnenlicht auf der Landstraße dahinfuhr, geleitet von dem Gemahl und bewaffneten Knechten, und vor ihr die blaue Kette des Gebirges immer höher aufstieg, da glänzte ihr [] Auge, und der Mund lachte, wenn sie sich hinausbeugte und dem Vater sein Kind zum Kusse bot.

In der Nähe von Braunau übernahm sie selbst die Führung der Reise. Sie richtete die Fahrt nach einem Bauernhof, der abseits der Straße lag und trotz der Verwüstung verriet, daß er bewohnt sei. Und als in dem Hofe ein alter Mann mit schneeweißem Haar auf die Schwelle trat, da bat sie den Gemahl, sie allein zur Unterredung mit dem Greise zu lassen. Am nächsten Morgen begleitete der böhmische Bauer die Reisenden über die Grenze in das Schlesierland. Bernhard hielt scharfe Umschau, doch nirgends war Feindliches zu sehen, ringsum menschenleere Täler und bewaldete Berggipfel und in den Dörfern die Trümmerhaufen, welche der Krieg zurückgelassen hatte. Als sie eine Höhe erreicht hatten, von welcher der Weg in die Ebene führte, ließ der Böhme den Wagen halten und mahnte zur Vorsicht, weil sich die Kunde verbreitet hatte, daß die Schweden ihre Quartiere längs der Grenze räumten und kaiserliche Völker einrückten. »Begnüge dich heut, meine Tochter, wie Moses dein gelobtes Land von ferne zu betrachten«, sprach er tröstend, »bis die Freunde dir den Zugang zu deinem Hofe geöffnet haben.« Da stieg Judith aus, kniete vor dem Alten nieder und bat: »Mein Vater, segnet mich! Lange hat keines Priesters Hand mein Haupt berührt, wie eine Ausgestoßene habe ich gelebt, und mir war zuweilen, als sei ich von unserm lieben Gott geschieden. Das nehmet heut von mir. In Frieden und Freude will ich das Haus meines Vaters wiedersehen.« Und als der Alte über ihrem Haupt gebetet hatte, reichte sie Bernhard die Hand und sagte: »Kommt mit, wir gehen zu Fuße nur so weit, daß ich die Schwelle erkenne, die Tür und die Bank, auf der ich als Kind gesessen.«

So gingen sie beide vorwärts, in geringer Entfernung gefolgt von dem Reiterbuben, der den Karabiner seines Herrn trug. Es war ein klarer Herbstmorgen, überall feierliche Stille, auf den Wiesen in der Tiefe lag noch dämmeriger Nebel, aus der nahen Stadt klang das Glockengeläut. »Sie läuten den Frieden ein«, sagte Judith, »das bedeutet auch für Euch und mich ein besseres Glück. Könnte ich mit Worten danken für alles, was Ihr an mir getan, heut müßtet Ihr mich anhören, denn, geliebter Herr, mein Herz ist übervoll von Liebe und Zärtlichkeit für Euch.« Sie drückte sich an ihn. »Seht, dort steht die Steinbank; von dort hob mich die Alte in den Wagen, als die Eltern flohen.« Aber während er mit den Augen der Richtung folgte, nach der sie ihn wies, fühlte er, wie sich ihre Finger krampfhaft in seinen Arm preßten, im nächsten Augenblick warf sie sich mit wildem Schrei an seinen Hals.

Hinter der Hofmauer jagte ein Beritt kaiserlicher Reiter heran, darunter ein Offizier mit roter Feldbinde. Bernhard erkannte, daß er wehrlos vor seinem Todfeinde stand, und Reinbold schrie: »Was [] mir lange geträumt, ist wahr geworden; heut bin ich's, der Euch der Kompanie entledigt und des Weibes dazu.« Er gebot: »Feuer!«, und als die Reiter zögerten, rief er mit einem Fluch: »Vorwärts! Es ist die Hexe aus Thüringen!« Die Schüsse krachten, Bernhard sank dahin, sein totes Gemahl im Arme.

Und noch ein Blitz und ein Knall aus einem Rohre, das ein Knabe mit gesträubten Haaren hob. Die Pferde der Reiter stoben auseinander, der Gaul des kaiserlichen Offiziers schleifte den erschossenen Mörder am Bügel.

So kam den Liebenden der Friede. Und wer von ihnen erzählt, der weiß nicht, soll er sie glücklich preisen oder beklagen.

Schluß

In einem Kirchdorfe, nahe bei Gotha, war die Getreideernte beendigt. Nicht alle Äcker der großen Dorfflur hatten Frucht getragen, und nicht in jeder Hofstätte wohnten Landleute, welche sich der Ernte freuen konnten, aber die Gemeinde saß doch wieder um ihre Kirche, mancher war aus der Stadt zurückgekehrt mit den geretteten Rindern und dem Ackergerät, und mancher war aus der Fremde zugezogen. Zum ersten Male seit langen Jahren hatten die Leute in Frieden ihre Garben gebunden und, wenn sie auf dem Felde schafften, in leidlicher Sicherheit auf die kleine Turmglocke gehört, welche ihnen Mittag- und Abendruhe ankündigte. Auch im Pfarrhofe stand der Wagen mit der letzten Mandel, die am Abend noch nicht abgeladen war, und über ihm schwebte der Erntekranz. Das Hoftor war verschlossen, der Hofhund saß achtsam neben seiner Hütte und murrte zuweilen, wenn ein Käuzlein schrie oder ein später Fußtritt auf der Dorfgasse schallte. Die Frau Pfarrerin sah am Fenster nach der runden Mondscheibe, welche, umsäumt von einem Strahlenkranze, den Hof und die Türschwelle mit grellem Licht überzog, als wären sie mit weißem Sande bestreut. Ihr Gatte trat herzu, um den Laden zu schließen und sein stilles Heimwesen vor dem Gesindel zu wahren, welches obdachlos durch das Land zog. »Alle Abende steht mein liebes Weib am Fenster, sieht hinaus auf die Straße und horcht auf fernes Geräusch.«

Regine sah bittend zu ihm auf. »Alle Abende hofft die Schwester, daß der Verlorene kommen wird. Bei Tage bin ich ruhig in der Arbeit und meinem Glück, aber wenn der Mond auf die Dächer scheint und die Wolken an ihm vorüberfahren, dann ergreift mich Angst und Sehnsucht. Zürnt nicht, lieber Herr.«

»Das ist der jungen Frau zurückgeblieben aus der Zeit, wo sie mit hellen Worten träumte.«

»Die Traumreden sind zu Ende, seit ich einen Hausherrn habe, [] den ich nicht aufwecken darf«, sagte sie und barg ihr Haupt an seiner Brust. »Schließt das Fenster«, sprach sie nach einer Weile, »es ging vorüber.«

Da bellte der Hofhund laut und zornig, und die Rassel am Hoftor erklang. Regine fuhr zusammen und rief: »Er kommt!« Doch im nächsten Augenblick faßte sie ängstlich den Arm des Gatten. »Weckt die Leute.«

Der Pfarrer ergriff den Hut. »Ich sehe, bevor ich öffne«, tröstete er.

Regine eilte ihm nach bis auf die Hausschwelle. Er schob den Riegel zurück, die Pforte sprang auf, niemand war im Eingang zu sehen. Doch zur Seite im Schatten des Zaunes kauerten zwei dunkle Gestalten, und eine Knabenstimme fragte leise: »Wohnt hier jemand, der einst zu Alt-Rosen gehört hat?«

»Ich bin's, Knabe«, schrie Regine und sprang an das Tor. Der Knabe trat heran, ein Bündel in den Armen; ihm folgte ein Mann, den Hut tief in die Augen gedrückt. Der Fremde sah vorsichtig hinter sich und schloß das Tor, dann nahm er den Hut ab, und im Mondlicht erkannte Regine das gefurchte Antlitz eines alten Freundes.

»Wir bringen der Schwester das Erbteil, welches ihr Bruder auf Erden zurückließ. Der Rittmeister und sein Weib sind dahin, ich denke, es war die letzte Kugel, welche sie traf, als der Friede eingeläutet wurde. Was der Knabe im Arm hält, trugen wir vom Riesengebirge heran, eine Frau des Trosses, die ihm Nahrung gab, der Knabe und ich.«

Regine stand regungslos, und ihr Gatte sagte, sie festhaltend: »Tretet in das Haus!« – Der Alte schüttelte den Kopf. »In diesem Lande bringt es den Leuten Unglück, uns zu beherbergen. Wir ziehen bei Nacht weiter dahin, wo uns niemand kennt. Denkt insgeheim der Toten und der Lebenden.« Gottlieb winkte grüßend mit der Hand, öffnete die Pforte, und sein eiliger Schritt verklang auf der leeren Straße. Der Knabe trug seine Bürde hinter der wankenden Pfarrerin in die Stube und legte sie auf einen Stuhl. »Der Feldprediger hat es getauft, es heißt, wie mein Herr hieß«, sagte er und wandte sich zum Gehen.

»Du aber bleibst bei uns«, rief der Pfarrer.

Doch Pieps sah von der Schwelle stolz in die Stube zurück: »Ein Reiterjunge von Alt-Rosen wird kein Küster. Adjes! Ich werde manchmal nachsehen, wie es diesen geht.«

Er wies auf Regine, welche vor dem Kind kniete.

[]

Der Freikorporal bei Markgraf-Albrecht

Zum Jahre 1721

Wenn Herr Bernhard Georg König mit seiner Frau Liebsten über den Marktplatz der kursächsischen Stadt lustwandelte, in welcher er während des Winters wohnte, so zogen die Bürger mit Hochachtung die Hüte, und ihre Bemerkungen hinter dem Rücken des Ehepaares waren nicht selten beifällig. Denn die Königschen Eheleute wurden zu den Honoratioren der Stadt gezählt, sie waren rechtschaffen, und sie waren wohlhabend, da ihnen nicht nur ein Rittergut in der Nähe gehörte, sondern auch in Zukunft der Besitz des besten Hauses am Markte gar nicht entgehen konnte. Man wußte, daß dies Vermögen von dem Vater der Frau herkam, welcher zu seiner Zeit ein reicher Kaufmann in Leipzig gewesen war und sein einziges Kind mit dem genannten König verheiratet hatte.

Aber auch Herr König war kein gewöhnlicher Mann. Als Sohn eines Thüringer Pfarrers hatte er Theologie studiert und war Geistlicher eines deutschen Regiments geworden, welches König Wilhelm von England in seinen Kriegen mit den Franzosen gebrauchte. Im Felde behauptete er sich als ein stattlicher Mann von festem Charakter, der den Tod nicht fürchtete, dem Teufel kräftig zu Leibe ging und seinen Soldaten eine heilsame Scheu vor dem breiten Pfade zur Hölle beibrachte. Und da er auch ein guter Gesellschafter und beim Glase Wein ehrbarer Fröhlichkeit nicht abhold war und leichter Französisch und Englisch lernte als die meisten Offiziere, so wurde er ein guter Freund seines Obersten und diesem bei schriftlichen Verhandlungen ein vertrauter Helfer. Er selbst lernte in Holland ein großartigeres Leben kennen, als in der deutschen Heimat zu finden war, und unterhielt, seinen Horaz in der Tasche, geselligen Verkehr mit berühmten holländischen Gelehrten, welche sich seines festen Lateins freuten.

Beim Regiment hatte er einem kursächsischen Kaufmann, welcher in das Kriegsgetümmel geraten war, wichtige Dienste geleistet, er hatte ihn nicht nur vor Ausplünderung behütet, sondern auch durch sorgsame Pflege aus schwerer Krankheit wiederhergestellt. Der Sachse erbat vor seiner Abreise die Ehre eines Briefwechsels und bewahrte fortan seinem Retter eine herzliche Dankbarkeit. Als nun [] der Feldprediger nach Jahr und Tag in die Heimat zurückkehrte, folgte er einer dringenden Einladung des Kaufmanns nach Leipzig. Dort wurde ihm unter dem Dache des Gastfreundes die aufblühende Tochter über alle Maßen lieb, und er offenbarte in seiner ehrlichen Weise dem Vater, daß er dies gastliche Haus verlassen müsse, weil er der Demoiselle Susanne gegenüber eine große Beunruhigung in seinem Herzen spüre und wegen mangelnden Reichtums, und zudem als Landfremder wegen mangelnder Hoffnung auf eine gute kursächsische Pfarre, nicht daran denken dürfe, die Tochter von den Eltern zur Frau zu erbitten. Da kamen dem Kaufmann die Tränen in die Augen über die Redlichkeit seines Erretters, und er bat diesen, es sich noch drei Tage in seinem Hause gefallen zu lassen. Und nach drei Tagen lud er ihn feierlich in die gute Stube, aus welcher die Hausfrau alle Leinwandkappen des seidenen Möbelbezugs weggenommen hatte, und dort verlobte der edle Mann den Gastfreund mit der herbeigerufenen Tochter, welche dem glücklichen Bräutigam leise gestand, daß auch sie ihn seit seiner Ankunft insgeheim im Herzen trage.

Jetzt bemühte sich Herr König ernsthaft um eine Pfarre in der Nähe, machte Reisen und suchte Gönner zu gewinnen. Aber das wollte sich nicht so leicht schicken, da ihm die Orthodoxen mißtrauten und auch die Stillen im Lande an seiner Erweckung zweifelten. Dagegen wurde er dem Kaufmann bald in anderer Weise unentbehrlich. Denn er verstand als Sohn eines Landpfarrers die Gutswirtschaft und wußte dem Amtmann des Gutes, welches der Kaufmann besaß, besser auf die Finger zu sehen als der Leipziger selbst. Auch der Handlung wurde er durch seine holländischen Bekanntschaften ein wertvoller Beirat.

Als sich vollends nach einigen Jahren begab, daß der Kaufmann aus diesem Leben schied, erwies sich der Schwiegersohn als die Stütze der Familie; die Handlung wurde aufgehoben, und er hatte jahrelang den Vorteil seiner Schwiegermutter wahrzunehmen. Endlich verließ die Familie Leipzig, Herr König zog mit seiner jungen Frau auf das Gut in der Lausitz, und die Schwiegermutter erwarb Haus und Garten in einer nahen Stadt, welche ihr seit ihrer Kindheit wohlbekannt war, da sie selbst aus einer adligen Familie der Umgegend stammte und in der Nähe Verwandtschaft und Anhang hatte.

War das Gut auch nicht groß, es bot der Familie als Sommeraufenthalt doch viele Annehmlichkeit; ganz zu geschweigen von dem Eingeschlachteten, den Säcken mit Weizenmehl und den Stoppelgänsen. Das Wohnhaus war ein alter Bau mit dicken Mauern und unregelmäßigen Fenstern, der Unterstock durch eiserne Gitter verwahrt wegen des immer noch stark umherschweifenden Gesindels, im Garten ein sorgfältig geschnittener Heckengang, ja sogar ein [] Weingeländer und ein Quartier mit Blumenbeeten, in welchem der Hausherr kostbare Tulpen und Narzissen zog, deren Zwiebeln ihm ein Freund aus Holland zusandte.

Doch wiewohl es dem Herrn König in weltlichen Dingen gelungen war, in seinem Gemüt trug er es als eine Entbehrung und zuweilen als ein Unrecht, daß er dem Predigtamt entsagt hatte, und es gereichte ihm fast zu einer Befriedigung, daß sein Dorf keine eigene Pfarre bildete; denn wenn einer der Dorfleute in Jammer und Gewissensnot lag, so war er der nächste, ihn zu trösten und zu ermahnen; auch der Schullehrer wurde eifriger in seinem Amt, da er merkte, daß das Auge des geistlichen Gutsherrn scharf auf ihn gerichtet war und daß ihm löblicher Pflichteifer Gutes in die Küche und in den Stall brachte.

Jeden Winter aber zog Herr König nach der Stadt in das große Haus der Schwiegermutter. Die Stadt war ein alter namhafter Ort mit Mauern und Türmen, an denen man noch die Löcher wies, welche feindliche Kugeln im Dreißigjährigen Kriege geschlagen hatten. Einst war der Ort stolz auf seinen Handel gewesen, jetzt sah er ein wenig heruntergekommen aus, aber es lagen doch nur wenige Häuser in Trümmern. Seine Bürger hatten viel Landbesitz, und wen das Handwerk nicht nährte, der konnte sich's vom Acker holen. Es saßen angesehene Beamte des Landesherrn darin, auch eine lateinische Schule war vorhanden, und einige Häuser gehörten Edelleuten der Umgegend, welche die vornehmste Sozietät bildeten, sooft sie in der Stadt wohnten. Unter ihnen fanden sich einzelne Herren mit polnischen Namen, da der Kurfürst von Sachsen zugleich König von Polen war; und wenn die Länder auch nicht zusammenhingen und die polnische Wirtschaft unter den Deutschen übel beleumdet blieb, so hatten sich doch mancherlei Fäden von einem Lande zum andern gezogen. Unternehmende Sachsen suchten an der Weichsel leichten Gewinn, und junge Polen kamen an die Elbe, um Geld zu borgen und unter den adligen Familien Edukation zu erhalten. Denn die Kursachsen galten dafür, gute Lebensart zu besitzen, der Hof zu Dresden war der prächtigste im ganzen Römischen Reiche, und die Kunstwerke italienischer Köche und französischer Modisten verbreiteten sich aus der Residenz in die kleineren Städte. Auch das bücherdruckende Leipzig sandte beflissen seine literarischen Erzeugnisse durch das Land, und der Gelehrte stand an der Pleiße und Elbe in höherem Ansehen als anderswo. Sogar der Landadel verachtete nicht ganz das literarische Wesen und fühlte sich in einnehmender Redekunst und in jeder Art von wohlbedachten Komplimenten seinen Genossen aus der deutschen Nachbarschaft überlegen, er verstand, beim Beginn einer Mahlzeit stets das große Wort zu führen, doch wurde er im Verlauf der Festivität oft durch die stärkere Trinkkunst der anderen zum Schweigen und unter den Tisch gebracht.

[] So fand Herr König in der Stadt wohltuenden Verkehr. Auch seiner Schwiegermutter, die ihn nicht weniger verehrte als die eigene Frau, blieb er ein treuer Berater gegenüber großen und kleinen Versuchungen, zum Beispiel als der neue ungeschickte Kopfputz aufkam und danach die Erbauungsstunden, in denen fern von der Kirche das Lämmlein auf eigentümliche Weise verehrt wurde. Vollends, als es in dem eigenen Hause der Schwiegermutter zu poltern anfing, entdeckte er mit überlegener Ruhe, daß es zuerst nur Ratten hinter dem Holzverschlage gewesen waren und dann eine liederliche Köchin, welche mit ihrem Liebhaber das Geräusch eigennützig fortgesetzt hatte. Wenn er sich gerade und stolz gegen die vornehme Verwandtschaft hielt, so tat das zuweilen den Frauen wehe, doch trugen sie es schweigend, da sie merkten, daß ihm gerade deshalb von den Anspruchsvollen die gebührliche Hochachtung nicht versagt wurde.

Seine Gattin beschenkte ihn mit zwei Söhnen, und die Erziehung der beiden Knaben ward allmählich sein größtes Glück. Beide wuchsen kräftig heran, im Alter nur um ein Jahr verschieden. Der ältere, Georg Friedrich, ein Abbild des Vaters, blond, breitbrustig und gestreckt; der jüngere, Bernhard August, zierlich von Gliedern, mit braunem krausen Haar, der Mutter ähnlicher. Auf dem Hofe behaupteten sie als junge Gutsherren zuerst mit einer Gerte und unsicheren Beinchen ihre Herrschaft über das Federvieh, dann zausten sie den großen Hofhund, welcher ihnen mit seiner Nase liebkosend ins Gesicht stieß, endlich kletterten sie auf die Pferde und wurden Freunde des Großknechts. Im Hause aber legte ihnen die Mutter ihre kleinen Finger zum Gebet zusammen, dann lehrte der Vater den Tischsegen, und der Frau König traten die Tränen in die Augen, als Friedrich zum ersten Male, genau mit dem Anstande und Tonfall des Vaters, vor seinem Stuhle den lieben Gott zu Gaste bat. Nicht lange darauf mußten die Kinderlippen sich mühen, lateinische Vokabeln nachzusprechen; doch lernten die Knaben willig, weil der Vater die Fleißigen mitnahm, wenn er durch die Felder ging.

Auch den Kindern wandelte der Winter das ganze Tagesleben. Denn sobald sie nach der Stadt zogen, erhielten sie andere Wämser und Höslein, sie mußten einen kleinen Hut tragen, jeder Schmutzfleck wurde strenger gerügt, und ein artiges Händegeben hörte gar nicht auf. Sie standen erstaunt in den Putzstuben fremder Häuser, wo ihnen sehr verdacht wurde, wenn sie Bindfaden aus der Tasche zogen oder ungebärdig aufjauchzten; dagegen konnten sie auch alle Tage beim Laden des Pfefferküchlers vorbeigehen, sie sahen rings um sich geputzte Menschen, buntgetünchte Häuser und bei den Kaufleuten ausgestellte Spielwaren, erhielten oft Konfekt und süßen Wein und erkannten bald, daß in der Stadt alles prächtiger war; im Hause der Großmama schöngemusterte Wandbehänge, blanker Fußboden, große Fensterscheiben und ein Schoßhündchen mit langem Seidenhaar.

[] Während die Knaben im Wechsel von städtischer Zucht und ländlicher Freiheit heranwuchsen, beobachteten die Eltern mit stets neuer Verwunderung, wie verschieden das Wesen derselben sich entwickelte. Fritz, der älteste, war ein stiller Knabe, welcher seinen Ball nach dem Spiele sorgfältig in die Schublade legte, und wenn er aus dem Straßenstaub in die Stube kam, Strumpf und Höslein gutwillig bürstete. Er lernte fleißig; freute sich, sooft er neben dem Vater ausging, wenn dieser ihn an die Hand nahm, und wandelte geradlinig und ehrbar an seiner Seite. August aber war ein wildes Kind, welches am liebsten sprang und hüpfte und unaufhörlich der Nadel seiner Mutter zu tun gab. Oft zog er sich durch ein heftiges Auffahren Schelte zu, aber er war auch aufgeweckt und gesprächig, blieb schon als kleiner Kerl dem Fragenden selten eine Antwort schuldig und wußte gegen den Bruder und die Gespielen seinen Willen durchzusetzen, indem er trotzte oder schmeichelte. Leider waren seine Unternehmungen nicht immer löblich, und wenn er mit einer kleinen Bande zu den Frühäpfeln des Nachbars über den Zaun geklettert war, oder wenn er einem trunkliebenden Magister Eselsohren aus Papier auf den Rücken gesteckt hatte, so gab es für ihn trübe Stunden. Auch für seinen Bruder, denn obgleich die ser nur widerwillig dem Eifer des jüngeren folgte oder wohl gar seine Beihilfe zu einem gewagten Unternehmen versagte, so erhielt er doch seinen Anteil an der Strafe, weil er als der älteste nicht zurückgehalten oder weil er eine Missetat nicht angezeigt hatte. Trotz kleiner Niederlagen galt August in der Familie für ein glückliches Kind, dem alles wohl gelang, in der Regel deshalb, weil er der Großmama oder der Mutter bittend die Wange strich, was er zeitig gelernt hatte. Aber er wußte auch höhere Autoritäten für sich anzurufen, denn als ihm die Mutter einst an seinem Geburtstage die Lieblingsnäscherei verweigert hatte, faßte er beim Mittagsbrot den Löffel mit beiden Händen und flehte recht herzlich, daß ihm der liebe Gott nach Tische getrocknete Pflaumen schenken möge. Die Eltern lächelten; als aber die Mutter am Nachmittage sein rosiges Kindergesicht mit dem gekräuselten Haar inmitten der Gespielen betrachtete, wurde ihre Zärtlichkeit so übermächtig, daß sie einen Teller des geschätzten Naschwerks vor den Kindern aufstellte. Seitdem entdeckte die Kindermuhme, daß fromme Bitten dieses Knaben in merkwürdiger Weise Erhörung fanden. Als es zum Beispiel am Morgen vor einer langersehnten Ausfahrt zweifelhaft wurde, ob bei dem trüben Wetter die Reise zu wagen sei, da erhob August wieder nach der Morgenandacht des Vaters sein Stimmchen und bat den Himmel um Sonnenschein. Unterdes war sein Bruder beobachtend zu einer Torricellischen Röhre gelaufen, welche mit Quecksilber gefüllt am Fenster hing und durch die weisen Einrichtungen einer gütigen Vorsehung in den Stand gesetzt war, den Menschen bisweilen die kommende Witterung [] anzuzeigen. Nachdem August gebetet hatte, brach die Sonne durch das Gewölk, und es wurde ein schöner Reisetag. Da nun aber die Frauen den Knaben seiner wirksamen Bitten wegen rühmten, benutzte der Vater die gemeinsame Abendandacht zu einer Warnung und flehte in hohem Ernst, der liebe Gott möge ein Kinderherz davor behüten, daß es nicht in Eitelkeit verfalle und sich besonderer Gnade rühme, und ebenso auch helfen, daß die Liebe der Angehörigen stets vorsichtig sei und nicht aus dem Zufall ein Verdienst des Kindes mache. – Dadurch dämpfte der Hausherr die Reden des Frauenzimmers, doch konnte er nicht verhüten, daß dem Sohne die Zuversicht blieb, seine Wünsche durchzusetzen.

Unter die nächsten Bekannten des Hauses gehörte eine adlige Witfrau, die Majorin von Borsdorf. Ihr Mann hatte in sächsischem Dienst gestanden, sie selbst war eine entfernte Verwandte der Madame König; sie lebte in beschränkten Verhältnissen, war aber mit den ersten Familien der Umgegend befreundet und wußte sich und ihr kleines Hauswesen vornehm zu halten. Ein Sohn war als Fähnrich in kursächsischem Dienst untergebracht; die Tochter, Dorothea, fast in gleichem Alter mit August, wurde von ihr erzogen. Dorchen war niedlich, aber, wie Mama König richtig erkannte, durch allzu große Liebe verwöhnt. Auch die Knaben konnten der Kleinen kühle Anerkennung nicht versagen, wenn sie in ihren Hackenschuhen zierlich über die Straße schritt, die Schultern gerade und das Köpfchen steif, wie einem Fräulein von Stande gebührte, oder wenn sie vor Frau König zu einem Knicks hinabtauchte, dabei die Augen niederschlug und anmutig lächelte, wie es eine Große nicht schicklicher hätte vollbringen können. Öfter aber wurde der Zwang lästig, welchen ihre Gegenwart den Spielen der Knaben auflegte; sie hielt ihr Schnupftüchlein nicht in der Tasche wie andere Kinder, sondern schwenkte es in der Hand, weil es mit einer Spitze umsäumt war, und sie wollte durch solche Bewegungen den Knaben befehlen, ihr zu bringen, was sie gerade begehrte. Widerwärtig war sie auch, wenn die Knaben ihretwegen in kleinen braunen Tonschüsseln und Töpfen kochen mußten; sie litt nicht, daß die Jungen Nüsse schnitten wegen zweifelhafter Sauberkeit der Finger, und war beleidigt, wenn die Könige zuletzt das kalt Gekochte, welches sie ihnen vorsetzte, nicht aufessen wollten, was wirklich eine Anmaßung war, denn das Verzehren fremder Kocherei galt damals unter den Kindern für weniger an mutig als das eigene Kochen. Das war nun auffallend, und Frau König lachte zuweilen darüber, daß ihre Söhne sich ungleich gegen die Ansprüche des Mädchens verhielten, denn Fritz, der sonst gefällig war, gab dem Dorchen keineswegs nach, sondern sagte schonungslos seine Meinung, während August sich der kleinen Dame williger fügte als irgendeiner anderen; und wenn er sich auch mit ihr stritt, doch durch ihr Naserümpfen und Abwenden des Kopfes genötigt wurde, [] seinen Widerstand aufzugeben. Vollends in größerer Gesellschaft war August ihr treuer Gefährte, und sooft die Kinder »Polnisch betteln« spielten, was gerade damals in Sachsen aufkam, gingen August und Dorchen als Bettelleute am liebsten miteinander im Kreise umher und erbaten abwechselnd Brot für sich selbst und einen Kuß für das andere. Dabei bemerkten die Mütter, daß Dorchen niemals Neigung hatte, sich von Fritzen küssen zu lassen, sondern ihrem Bettelmännchen leise vorschrieb, zu welchem Knaben er sie führen solle, damit sie das Unvermeidliche dulde.

Dies Verhältnis erhielt sich auch, als die Kinder heranwuchsen. Dorchen wurde konfirmiert, und die Knaben saßen in den oberen Klassen der lateinischen Schule. Da bedachten diese, jeder für sich, welches Geschenk sie der Gespielin machen wollten. Friedrich kaufte aus seinen gesparten Groschen ein kleines Kreuz von schwarzem Glase, das an seidener Schnur um den Hals zu tragen war, und August bat die Mutter um eine Beisteuer für ein rotes Glasherz mit goldenen Sternen, welches ebenfalls als Halsschmuck dienen sollte. Das Fräulein empfing beide Geschenke mit artiger Danksagung, aber sie hing das rote Herz sogleich um den Hals und behielt das Kreuz in der Hand. August lachte vergnügt, aber Friedrich ging schweigend zu seinen Büchern zurück. Auch als Dorchen beim nächsten Besuch, um nicht unhöflich zu sein, das Kreuzchen am Halse trug, machte ihr zwar August darüber Vorwürfe, aber Friedrich gab durch kein Wort zu verstehen, daß ihn diese Aufmerksamkeit freue.

Nach Kringeltanz und Pfänderspiel wurde den beiden Messieurs König noch Größeres im Verkehr mit halbwüchsigen Demoisellen zugemutet. In mehreren ansehnlichen Familien fanden die Eltern notwendig, ihren Kindern die eckigen Bewegungen und das allzu natürliche Wesen durch einen französischen Tanzlehrer abzugewöhnen, der eigens der Stadt zugereist war, um solche Guttat zu erweisen. Während dieser Stunden wurde der harte Knabensinn ein wenig erweicht, und Frau König beachtete mit inniger Freude, daß auch ihre Söhne beflissen waren, in Kavaliersweise den Mädchen die geziemende Ehre zu geben. Doch freilich stand die neue Kunst nicht einem Sohne so gut wie dem anderen. Fritz war in das Wachsen ge kommen, er drohte sehr groß zu werden und wußte bei seiner schnell erworbenen Länge, welcher die Majestät fehlte, die hageren Glieder nicht gebührlich zu verwenden; August dagegen hatte den zierlichen Fuß und die kleine Hand der Mutter und in allen Bewegungen ein natürliches Geschick, welches ihm bald die Lobeserhebungen des Tanzmeisters eintrug. Wenn so die junge männliche Kraft auf auswärts gekehrten Fußspitzen wandelte, dazu mit angepreßten Ellenbogen den Hut hielt und dabei noch die Hände mit dem heuchlerischen Schein anmutiger Empfindungen zu bewegen suchte, da machte sich's fast immer, daß das junge Fräulein den Brüdern gegenüberstand und [] sie in ihrer Weise anlachte. Als vollends nach beendeter Tanzstunde beschlossen wurde, daß bei einem vornehmen Familienfeste acht Kinderpaare als Schäfer und Schäferinnen erscheinen sollten, alle gepudert, alle in Rosa und Weiß mit bebänderten Schäferstäben, da geschah es wieder, daß August und Dorchen miteinander zum Menuett in den Saal zogen. Dem ältesten Sohn hatte die Mutter angedeutet, daß er für das bukolische Kostüm bereits zu hoch aufgeschossen sei, doch wider alles Erwarten bestand Fritz eifrig darauf, an dem Aufzuge teilzunehmen. Aber der wackere Junge sah sehr auffällig aus. Er wurde mit der Tochter des Oberpfarrers, die ebenfalls in das Schießen gekommen war, zusammengesellt; sie stellte eine hagere Schäferin dar, welcher man die gute Weide nicht ansah, in der ihr Vater seine Herde hütete, und Fritz glich einem jungen schlenkrigen Giganten, der Jacke und Hosen des Thyrsis auf dem Felde gefunden hat. Da war nicht zu vermeiden, daß die Mädchen untereinander spöttische Bemerkungen über das Paar machten, und Fritz erkannte, daß Dorchen sich lebhafter als andere an dem Mokieren beteiligte.

Doch im Sommer darauf wurde Fritz über seine Länge ein wenig getröstet. Die Brüder waren mit den Eltern zum Besuch auf ein benachbartes Gut gefahren und dort mit Dorchen, die zu der Freundschaft des Gutsherrn gehörte, zusammengetroffen. Die drei jungen Leute schwärmten durch den Garten ins Freie und zogen den Bach entlang bis zu einer Mühle, dort freuten sie sich über das Klappern und über die kleinen Schaumwellen, in welche der Strom sich löste, wenn er aus der Holzrinne schoß. Das junge Fräulein ließ sich vom Müller eine lange Rute aus dem Weidengebüsch schneiden, schälte mit ihren Fingern zierlich die Rinde ab und wippte, während sie neben ihren Begleitern am Bache dahinzog, neckend ins Wasser, um durch aufspritzende Tropfen die Frisur und Sonntagskleider der jungen Herren zu gefährden.

August wollte sich das nicht gefallen lassen und lief auf sie zu, um ihr die Gerte zu entwinden, sie aber flüchtete auf einen Steg, der über den Bach führte, und verteidigte durch ihre Waffe den schmalen Zugang. Dabei glitt sie mit den Hackenschuhen aus und fiel ins Wasser. Es war unterhalb der Schwemme, das Bett des Baches war breit und hatte tiefe Stellen, sie aber schwamm, da ihr gesteifter Rock sich blähte, wie eine Wasserblume mit gehobenen Armen klagend abwärts. August sprang im Augenblick auf den Steg und in den Bach; doch er fand an der Stelle keinen Grund, und da der Aufenthalt im freien und kalten Wasser damals nicht zu den Ergötzlichkeiten eines wohlerzogenen Jünglings gehörte, so vermochte er durchaus nicht zu schwimmen. Durch den Schwung, den er sich beim Absprung gegeben, kam er der Gespielin nahe, so daß er sie mit der Hand erreichen konnte, aber er verbesserte ihre Lage nicht, denn er zog sie [] zu sich herunter. Friedrich dagegen war vom Ufer aus in den Bach gestiegen und watete zu den beiden Ringenden. Auch ihm ging das Wasser bis an das Kinn, bevor er sie erreichen konnte. Es gelang ihm, jedes an einem Arme zu packen und mit Anspannung aller Kraft an sich heranzuziehen; keuchend rief er dem Fräulein zu: »Umfassen Sie meinen Hals.« Sie hatte noch die Besinnung, zu gehorchen, und er hielt sie mit dem einen Arme fest, während er mit dem anderen den Bruder am Rocke ergriff. Aber obgleich Fritz ungewöhnlich stark war, wurde ihm die Last doch zu schwer, das Wasser stieg ihm bis an den Mund, seine Kraft schwand, und er wankte. Da vernahm er einen Zuruf, der Kahn des Müllers schoß heran, August wurde nicht ohne neue Gefahr in das Fahrzeug geschwenkt, und Fritz watete, die freie Hand am Kahn, in das Seichte zurück und erreichte mit dem Fräulein glücklich das Ufer. Als er ihre Hände, die seinen Hals krampfhaft umfaßt hielten, von sich löste, verlor sie die Besinnung. Die Müllerin lief mit einem Stuhle herzu, Dorchen wurde durch ein Tuch daran festgebunden und in die Stube getragen, wo die Müllerin, nachdem sie die Männer hinausgetrieben, ihr die Schnürbrust öffnete und die Erschöpfte durch Reiben und freundliches Zureden so weit herstellte, daß sie ihre nassen Kleider mit einem Anzuge der Frau vertauschen konnte. Den Jünglingen, die bleich und matt auf der Bank unter den Kornsäcken saßen, half der Müller mit seinem Knappen bei ähnlichem Kleiderwechsel. Als der Wagen mit den Müttern vom Schlosse kam, um die Geretteten abzuholen, lachten sie während der Rückfahrt einander wegen des Abenteuers und der Vermummung aus. Beide Jünglinge erhielten ihr Lob, welches allerdings mit Vorwürfen über die jugendliche Unbesonnenheit versetzt war; den Frauen hatte am meisten gefallen, daß August zur Stelle nachgesprungen war, und er empfing von ihnen mütterliche Liebkosungen; Herr König klopfte seinem Sohne Fritz zufrieden auf die Schulter und fragte laut: »Wer aber war der Retter?« Da antwortete Fritz ehrlich: »Der Müller!« – Als Dorchen kurz vor dem Aufbruche wieder in die Familienstube kam, immer noch schwach und verblichen, ging sie auf Fritz zu, sah ihn schweigend an und bot ihm die Hand. Gleich darauf eilte sie zu August, machte ihm einen tiefen Knicks und fragte: »Wie war es im Wasser, Sie dummes Gustchen?« Beim Abendgebet gab es in allen beteiligten Familien außergewöhnliche Danksagung und in der Nacht für die jungen Leute einen festen Schlaf.

Die Erlernung des Menuetts, wodurch in Haltung und Gemüt des Menschen vieles geändert wird, hatte auch das Verhältnis der Brüder zueinander gewandelt. Bis dahin waren sie wie untrennbar zusammen gewesen, jetzt saß Fritz oft allein über seinen Büchern, und der jüngere fand lustiger, mit Kameraden umherzustreifen, die ihm bequem geworden waren. Das ging eine Weile ohne Ärgernis, bis einst [] in der Dämmerung der Vater mit schnellem Schritt nach Hause kam und, ohne den Schlafrock anzuziehen, in die Arbeitsstube der Söhne trat.

»Weißt du, wo dein Bruder sich aufhält?« fragte er streng den Ältesten.

»Nein, Herr Vater.«

»Der Apotheker hat mir zugetragen, daß August mit lockeren Gesellen in der Hinterstube einer gemeinen Schenke tabagiert. Ist dir etwas davon bewußt?«

»Nein, Herr Vater.«

»Du ziehst dich sogleich an und kommst mit!«

Friedrich fuhr in seinen Rock, ergriff den Hut und begleitete den Vater, dem es heute schwer wurde, auf der Straße den ruhigen Schritt zu behaupten.

In einer Seitengasse, unweit dem Schenkhaus, hielt der Vater an. »Ich will dem Unglücklichen keine Demütigung vor den Bürgern bereiten. Geh hinein und führe ihn hierher.«

Friedrich trat mit trüben Ahnungen in die Tabagie. Schon vor der Haustür vernahm er Gesang, auch eine weibliche Stimme darunter, und als er in die Hinterstube drang, übersah er das ganze Unglück. Ein halbes Dutzend von Söhnen vornehmer Eltern saß in der kleinen, verräucherten Stube; jeder hatte eine große Stange dunkles Bier vor sich, und jeder hielt eine Tonpfeife in der Hand; aber was das Schlimmste war, Lene, ein dralles Mädchen, die Tochter des Schenkwirts, saß in bedenklicher Nähe des Bruders, der seinen Arm um ihren Hals gelegt hatte; und alle zusammen, August, Kameraden und Jungfer Lene, sangen recht herzlich, und zwar das wilde lateinische Lied: cerevisiam bibunt homines, ceter animalia fontes, welches ein Dichter des deutschen Helikons also übertragen hat:

Nur die Menschen trinken Biere,
Wasser alle andren Tiere.

Friedrich brach erschrocken in die Orgie ein, neigte sich zum Ohr des erstaunten Bruders hinab und sagte leise: »Der Vater steht an der Ecke, ich soll dich herausholen.« August schnellte in die Höhe, hatte aber noch die Dreistigkeit, laut zu lügen: »Ich komme wieder«, und im Hausflur den Bruder zu bitten: »Verrate die Lene nicht.« Fritz führte den Schuldigen, nicht weniger heiß im Gesicht als dieser, dem Vater zu.

Herr König gönnte dem Sohne nur einen finsteren Blick und schritt voran dem Hause zu. Dort begann das Verhör, und es kam alles ans Licht, denn die Beweise fehlten nicht, die geröteten Wangen verrieten geistiges Getränk und der Geruch in Haar und Kleidern den Kanaster. Auch die weibliche Stimme war auf der Straße vernommen worden, Fritz mußte zögernd bekennen, daß sie der [] Wirtstochter angehört hatte, und hielt für ein Glück, daß der Vater in seinem Zorne nicht nach dem räumlichen Abstand fragte, welcher zwischen dem dreisten Mädchen und dem Bruder gewesen war.

Es wurde für die Hausgenossen ein schmerzlicher Abend. Die Mutter weinte, der Vater, tief gekränkt durch die Ungebühr, verfügte drei Tage Stubenarrest, mit Ausnahme der Schulstunden, und August saß als Verurteilter über seinen Büchern, ohne hineinzusehen, denn er wußte, daß ihm noch das Schwerste bevorstand, die öffentliche Ermahnung in der Abendandacht. Feierlicher als sonst traten die Dienstboten herein. August fühlte, daß ihre neugierigen Blicke auf ihm ruhten, er merkte die verweinten Augen der Mutter, aber er wagte gar nicht den Vater anzusehen, als dieser die Stimme erhob und dem Himmel die Ausgelassenheit des Sohnes noch einmal klagte, obwohl er überzeugt sein mußte, daß man dort oben über die ganze Angelegenheit bereits genügend unterrichtet sei. Als er zuletzt bat: »Wenn ich als Vater schuldig bin, weil ich ihn durch zu große Liebe und Nachsicht verwöhnt habe, so räche mein Vergehen nicht an seinem Leben«, da wurde auch August weich. Und als der Vater ihm winkte, näher zu treten, und über seinem Haupte flehte, daß der Herr ihm Taten und Gedanken behüten möge, und als August die Tränen des Vaters auf seiner Stirn fühlte, da begann auch er zu schluchzen, obschon er ein Jüngling war, und küßte zerknirscht den Eltern die Hände. – Als nun alle weich, aber in gehobener Stimmung zu Bett gingen, mahnte Friedrich den Bruder in der Kammer: »Der Vater hat nicht alles gewußt.«

»Er ist streng genug gegen mich gewesen«, antwortete der Bestrafte, »ich bin immer froh, wenn die Nachtpredigt vorüber ist.« Doch Friedrich versetzte: »In dieser Stunde habe ich vor unserem Vater noch größere Ehrfurcht als sonst, und da ich kleiner war, ist er mir vorgekommen wie der Herrgott selbst, und ich hätte vor ihm niederknien mögen. Aber heut wußte er das Ärgste nicht, mein Bruder, das mit der Lene.« August versuchte zu lachen, aber es gelang nicht recht, und Fritz fuhr fort: »Damit mein Schweigen kein großes Unrecht wird und deiner Zukunft keinen Schaden bringt, so mußt du jetzt freiwillig dem himmlischen Vater versprechen, daß du niemals mehr mit ihr zusammenkommen willst.«

»Du bist noch kein Pfarrer«, versetzte der jüngere unwillig, »daß du mir so etwas zumuten darfst.«

»Ich bin dein Bruder und bin in Schuld gegen unseren Vater, weil ich verschwiegen habe, was ihn am meisten bekümmert hätte. Darum mußt du deinet- und meinetwegen freiwillig geloben, aber laut, damit ich es höre.« Und August mußte die Hände falten.

Das Ereignis warf finstere Schatten hinter sich. Obgleich Herr König vermieden hatte, selbst die Schenke zu betreten, so war das gewaltsame Herausziehen seines Sohnes doch mehrfach beobachtet [] worden, und ein mißgünstiger Momus versagte sich nicht, ein großes Skandalum daraus zu machen. Am zweiten Morgen nach der Orgie wurden öffentliche Anschläge gefunden, einer am Rathause, neben dem Schwarzen Brett, einer sogar an der Kirchentür, in welchen die Geschichte gröblich und verleumderisch versifiziert dem Publikum erzählt ward. Zwar waren die Namen nicht genannt, doch deuteten Ausdrücke wie Rex und Regulus auf die Familie. In dem Libell war hämisch auf arrogante Leute gestichelt, welche für unanständig hielten, daß ihre Söhne Wirtshäuser besuchten, obwohl sie selbst in ihrem früheren Leben in schlechteren Herbergen verkehrt hätten, als die renommierte Schenke »Zur lustigen Wachtel« war. Um neun Uhr trug der Küster mit einer Empfehlung des Herrn Oberpfarrers das erste Exemplar in das Haus, um zehn Uhr brachte der Ratsdiener das zweite, um elf Uhr kam der Herr Bürgermeister selbst und nach ihm viele Bekannte. Alle bedauerten und verurteilten den Täter, und alle verwunderten sich über das große Aufsehen, welches durch das Libell hervorgebracht wurde, alle hatten mit Wißbegierde gelesen und wiesen nach, daß noch mehr Abschriften existierten. Herr König empfand die Kränkung wie ein Mann in sauberem Kleide, welcher von einem Schornsteinfeger angestoßen wird, das Opus war witzlos, jämmerlich, durchaus verächtlich; auch blieb die Stadt nicht im Zweifel, von wem es herrührte. Da war ein heruntergekommener Magister Blasius, der allerdings angesehene Verwandte hatte, denn sein Bruder war doctor juris und kurfürstlicher Beamter; der Magister aber hatte sich auf Nichtstun und Völlerei gelegt, dazu eine Witfrau mit bitterbösem Gemüte geehelicht und machte seitdem, wenn er zu Hause übel behandelt wurde, seinem Zorn durch satirische Ausfälle gegen die Menschheit Luft. Es wurde festgestellt, daß er an jenem Abende in der Vorderstube der Schenke gesessen hatte, und obwohl in dem Pasquill die Handschrift gut verstellt war, so blieb doch der Charakter des Poetasters kenntlich.

Was Herrn König die meiste Sorge bereitete, war der große Schmerz seiner Frau, welche weinend klagte, daß sie sich nicht mehr getraue, über die Straße zu gehen, weil jedermann spöttisch auf sie schaue. Wirklich wurde die Familie acht Tage lang durch teilnehmende Besuche und durch Gemurmel der Leute in Aufregung gehalten. Am schlimmsten war natürlich August daran, welcher von den Frauen bereits als verlorener Sohn betrachtet ward, auch Dorchens Mutter behandelte ihn eine Weile mit sichtlicher Kälte, nur Dorchen zeigte ihr gutes Herz, denn sie fragte ihn zwar neckend, wie ihm die Pfeife Tabak bekommen sei, aber sie lachte ihn dabei so freundlich an, daß er wohl merkte, sie sei ihm nicht böse.

Doch auch über dieses jammervolle Ereignis flutete der Zeitenstrom dahin, und nach einem Vierteljahr war die Reputation und das Wohlbehagen der Familie wieder auf die alte Höhe gebracht.

[]
In die Fremde

Wenn Herr König auf seine Söhne sah, wie wohlerzogen und stattlich sie heranwuchsen, hob sich ihm das Herz vor Freude, er nahm seine strengste Miene an, damit die Kinder die Zärtlichkeit nicht merkten, und faltete gleich darauf demütig die Hände. »Friedrich hat wieder eine der besten Zensuren erhalten«, sagte er vergnügt zu seiner Gattin, »ich hoffe, er soll werden, was sein Vater nicht geworden ist, ein Doktor der Gottesgelahrtheit und ein Verkünder der reinen Lehre.« Da antwortete seine Frau zustimmend: »Um meinetwillen haben Sie den heiligen Stand aufgegeben, ich muß mich freuen, daß unser Ältester das Amt des Vaters erwählt. Doch denke ich, auch dem Gustchen haben die Lehrer sein Lob zugeteilt.«

»Das Lob ist mit allerlei Tadel gemischt«, sagte der Vater ernsthaft, »insonderheit wegen seines unruhigen Betragens.«

»Aber mein lieber Schatz weiß doch, daß der Brummkreisel wider Gustchens Willen aus dem Schlüssel fiel und in der Schulstube umherfuhr, damals, als der Rektor ihn so hart verklagte.«

»Der Kreisel dreht sich nicht ohne Schwung, und Sie mögen annehmen, daß er die Weisung, vorwärts zu laufen, erhalten hatte«, antwortete der Vater. »Ob gleich es diesem Sohne keineswegs an Applikation fehlt, so tritt sein weltlicher Sinn doch immer mehr hervor, und für seine Unternehmungslust wird eine strengere Disziplin notwendig, als bei der Laufbahn eines Gelehrten möglich ist.«

»Sie waren der Meinung, daß er einmal unser Gut übernehmen könnte.«

»Ich weiß, daß Sie, geliebtes Suschen, dies für ihn wünschen, und ich füge mich gern Ihrem Willen. Aber soll er als ein fester Mann sich unter dem landsässigen Adel und gegenüber den Bauern behaupten, so muß er vorher gelernt haben, zu befehlen, und ich halte bei diesem Sohn die militärische Karriere für die heilsamste.«

»Das meinte auch unser Vetter, Herr v. Mickau, nur widerriet er den preußischen Dienst, weil dort ein sehr rigoroses und eigenmächtiges Wesen sei.«

»Aber der Militär ist dort angesehen, denn der König von Preußen ist der größte Soldatenfreund in der Welt. Und obgleich unserem August in Preußen wie hier in Sachsen nicht vorteilhaft sein mag, daß er von bürgerlichem Stande ist, so wird doch bei den Preußen, wie ich aus Erfahrung weiß, der tüchtige Mann mehr geschätzt als bei uns, wo die Obersten sich mit Schoßhündchen tragen und leichtfertige Damen mehr kommandieren als die Generale. Mein lieber Major Vogt vom Regiment ›Markgraf Al brecht‹ gehört auch nicht zum Adel und wird doch von seinem Chef und dem Könige selbst favorisiert, weil er ein guter Offizier ist, er hat sich freiwillig erboten, unsern August in seiner Nähe zu placieren.«

[] Frau König sah schmerzlich zur Höhe: »In die wilde Fremde!«

Der Hausherr küßte sie auf die Stirn. »Es ist nur eine Lehrzeit, Suschen; bei der Mutter könnte der ausgelassene Knabe doch nicht bleiben, und die Entfernung zur Garnison ist nicht viel weiter als die nach der Universität.«

Während sich auf solche Weise die Trennung der Söhne vom Vaterhause vorbereitete, wurde auch Dorchen in die Fremde geladen. Eine Nichte der Frau von Borsdorf hatte einen vornehmen Polen geheiratet, der Güter an der Weichsel besaß, aber einen großen Teil des Jahres am Hofe beschäftigt war. Da seine Gemahlin zarter Gesundheit wegen dem anstrengenden polnischen Hofleben fernbleiben sollte, wurde ihr in der ländlichen Einsamkeit eine Gesellschafterin wünschenswert und Dorchen dafür erbeten. Der Mutter war sehr schwer, sich von ihrem Liebling zu trennen, aber sie bedachte die Zukunft der Tochter, daß sich in dem großartigen Leben und unter den reichen Polen viel mehr Möglichkeiten und Aussichten eröffneten als in dem engen Leben der sächsischen Stadt, in welcher jedermann die Mitgift als eine Hauptsache erwog. Auch ihre Verwandten, welche das Fräulein gern ohne eigene Unbequemlichkeiten versorgen wollten, rieten eifrig, den Antrag anzunehmen, und so fügte sich's, daß die junge Borsdorferin in demselben Herbst, welcher den beiden Königen zur Trennung vom Vaterhause bestimmt war, unter dem Schutz eines alten Onkels nach Dresden und von da in das Polnische versandt werden sollte.

Während der Vorbereitungen zur Reise kam einst Dorchens Mutter in der Dämmerstunde zu vertraulichem Besuch in das Königsche Haus, und als Herr König in die Familienstube trat, begann nach der Begrüßung eine schickliche Besprechung der Stadtneuigkeiten. Und es war allerdings etwas Aufregendes eingetreten. Der Nachtwächter hätte um Mitternacht zwei Subjekte überrascht, welche mit einer Blendlaterne bei einem Winkel der Stadtmauer in der Erde gruben. Vor dem Magistrat hatte sich ergeben, daß sie einen Schatz suchten auf Grund einer Anweisung, die sie von einem fremden Abenteurer für gutes Geld gekauft hatten. Diese Offenbarung hatte die Form eines Briefes, den ein Vater an seinen Sohn richtete, und es war darin alles genau beschrieben, der Stein in der Mauer, welchen eingemeißelte Kreuze kenntlich machten, auch die Größe des Schatzes, unter welchem viele Kleinodien, silberne Becher, Perlen und Goldmünzen sein sollten. Das Machwerk war zu den Akten geliefert worden, und man erzählte in der Stadt, daß die Nacht darauf ein gestrenger Rat selbst in aller Stille habe weitergraben lassen; ob etwas gefunden worden, wußte man nicht, mutmaßte jedoch allerlei. Herr König hatte durch die Gunst des Bürgermeisters Einblick in den Schatzzettel erhalten und sprach sich, wie von einem aufgeklärten Manne zu erwarten war, mit großer Unzufriedenheit über die [] häufigen Betrügereien durch Schatzbriefe aus, welche gerade sehr im Schwange waren.

Nachdem man diesen Gegenstand gänzlich abgesprochen hatte, kam der Augenblick, wo Frau von Borsdorf die eigentliche Ursache ihres Besuches offenbaren konnte, indem sie fragte, ob der hochgeschätzte Freund vielleicht unter den Honoratioren der Städte in Polnisch-Preußen Bekanntschaften habe, da er mit vielen Personen von Distinktion in Briefwechsel stehe. »Denn«, fügte sie hinzu, »es kann meiner Doris von Nutzen sein, wenn sie einer deutschen Familie in den Städten empfohlen ist.«

Herr König holte eine Karte, sah nach und überlegte, aber ihm war dort kein näherer Bekannter bewußt. Endlich sagte er lächelnd: »Vielleicht kann das liebe Fräulein Dorchen mir zu einer Bekanntschaft helfen, die ihr selbst dienlich ist. Ich habe soeben gegen den Betrug mit Schatzbriefen gesprochen, ich selbst aber habe vor Jahren unter den hinterlassenen Papieren meines Vaters einen Brief gefunden, welcher auch Dinge erwähnte, die seinerzeit im Polnischen aufbewahrt wurden.« Seine Söhne sprangen auf und bestürmten ihn mit Fragen, er ging in die Nebenstube, öffnete die Klappe des Schreibtisches und brachte ein vergilbtes Papier vor die Augen der Gesellschaft.

Um nun die Befriedigung der Neugierde zu einer kleinen moralischen Betrachtung zu benutzen, begann er gutlaunig: »Wir gehören ja nicht dem Adel an, und ich habe niemals den Trieb gehabt, meinen bürgerlichen Stand mit einem anderen zu vertauschen, welcher in der Welt für vornehmer gilt. Ich wünsche auch, daß meine Söhne sich dieselbe Bescheidenheit bewahren. Denn obwohl den Adligen vieles in der Welt leichter gemacht wird, so habe ich doch nicht gefunden, daß sie dadurch größere Redlichkeit und Tüchtigkeit erwerben als andere. Dies sei mit allem Respekt vor dieser verehrungswürdigen Frau gesagt. Doch auch wir dürfen uns ansehnlicher bürgerlicher Vorfahren freuen. Mein Vater war Pfarrer, mein Großvater aber war Rittmeister unter den Schweden; dieser und die liebe Großmutter müssen gleich nach der Geburt meines Vaters gestorben sein, denn er hat beide nicht mehr gekannt und wurde von seiner Tante erzogen. Aber in noch früherer Zeit waren Voreltern von uns, wie dieser Brief ausweist, ansehnliche Kaufleute in Frankfurt am Main, ja aus dem Briefe scheint hervorzugehen, daß wir ursprünglich aus Polen stammen. Und Magister Kurz, unser hiesiger Historikus, ist der Meinung, der deutsche Name König werde wohl eine Übersetzung von dem nicht seltenen Familiennamen ›Kralitsch‹ sein, welcher bei den Polen so viel wie Goldhähnchen oder Zaunkönig bedeuten soll. Ich aber denke, wir sind von deutschem Blut, doch stammen wir aus Polen.«

Das alte Papier, dessen krause Schriftzüge dem Lesenden Mühe [] machten, war der kurze Geschäftsbrief eines gewissen Herrn B. Gusek, datiert von Thorn im Jahre 1531, worin dieser dem Kaufmann König zu Frankfurt am Main unter anderem folgendes schrieb: In der Stube über dem Flur des Eckhauses habe ich nach dem Gebot Eures seligen Vaters den Inhalt des Schrankes, von welchem Ihr wissen wollt, vermauert und menschlicher Neubegierde entzogen. – »Daraus ist ersichtlich«, fuhr Herr König fort, »daß meine Vorfahren in jener alten Zeit zu Thorn wohlbekannt waren, und ich habe zuweilen daran gedacht, mich dort bei einem Liebhaber der Historie zu erkundigen, ob von denselben noch etwas zu erfahren sei. Jetzt bin ich bereit, an den dortigen regierenden Konsul, Herrn Rat Roesner, einen renommierten Mann, zu schreiben. Da das Schloß Ihres Herrn Schwagers nur einige Meilen von Thorn liegt, so hat Fräulein Dorchen vielleicht Gelegenheit, den Brief abzugeben, und sie wird bei einem Besuch selbst das beste tun, sich der Familie des Konsuls zu rekommandieren.«

Gewährte dies Anerbieten auch nicht gerade viel, so erklärte doch die Mutter höflich ihre Befriedigung.

Die Herbstfreuden dieses Jahres wollten nicht gedeihen. Als vom Gute die erste junge Gans mit einem Tragkorbe Äpfel bei Frau von Borsdorf abgegeben wurde mit der herkömmlichen artigen Redensart, daß die Äpfel zum Füllsel für die Gans verwandt werden möchten, da konnte die unbillige Zumutung, welche dem Fassungsvermögen der Gans gestellt wurde, diesmal kein Lächeln hervorlocken, und die Mutter sagte traurig zu der Magd: »Sonst kamen die Äpfel auf den Weihnachtstisch meiner Doris.« Und als Herr König selbst mit Dorchen am Weingeländer des Gutes vorbeiging und ihr eine ungewöhnlich große Traube wies mit den Worten: »Die Traube war für das liebe Fräulein bestimmt, wenn es bei uns geblieben wäre«, da wunderte er sich, daß Dorchen, die er sonst für ein leichtherziges Mädchen hielt, sich plötzlich über seine Hand beugte und die Hand mit nassen Augen küßte. Vollends am letzten Abend, welchen das Fräulein mit ihrer Mutter bei Königs verlebte, war die feierliche Stimmung nicht zu bannen. Vergebens brachte der aufgeregte August allerlei Gesellschaftsspiele in Vorschlag, um sich und den anderen die Laune zu verbessern. Er setzte das prophetische Glücksrädlein auf den Tisch, bei welchem die Anwesenden der Reihe nach den schwebenden Zeiger über einer Scheibe zu drehen hatten; wenn der Zeiger stillstand und mit der Spitze auf eine Nummer wies, wurde aus einem Büchlein die Weissagung abgelesen, welche unter derselben Nummer verzeichnet war. Aber da ergab sich nur Ungereimtes. Dorchen wurde von der Gemeinschaft mit trunkenen Brüdern gewarnt, Fritz vor der Hingabe an den Kriegsgott Mars, und August erhielt die Warnung, daß Propheten im Vaterlande nichts gelten. Sogar das unterhaltende Post- und Reisespiel versagte, [] obgleich die Eltern sich mit dazusetzten, die Mutter frische Nüsse für Einlage und Gewinn heranbrachte und Herr König ermunternd riet: »Seht zu, ihr jungen Reisenden, wer von euch als erster in der Stadt des Glückes ankommt.« Aber auch hierbei stolperten alle drei Kinder unablässig über Hindernisse, Fritz blieb in der Herberge liegen, August wurde von einer Schildwacht arretiert, und Dorchen fiel gar unter Räuber, so daß endlich Herr König selbst als erster in der Stadt anlangte und die Nüsse unter trüben Gedanken der Anwesenden geknackt werden mußten. Als es zum Abschied kam, durfte man annehmen, daß Dorchen, die sich stets schicklich zu benehmen wußte, das passende Abschiedskompliment sagen würde, Dorchen hatte sich's auch ganz ordentlich zu Hause überlegt, zuerst für Frau König, dann für den Hausherrn und dann, kürzer und zutraulicher, gegen die Jungen. Als aber alle um sie herumstanden, so feierlich und in Erwartung, da versagten ihr plötzlich die Gedanken, sie begann laut zu schluchzen, und als August ihre Hand faßte, lehnte sie sich weinend an seine Schulter.

Ob in der Zukunft einmal eine eheliche Verbindung Augusts und Dorchens angemessen sein werde, davon war zwischen den Müttern niemals auch nur mit einem Wort die Rede gewesen; natürlich nicht, so unverständig und voreilig durften sie nicht das Schicksal der geliebten Kinder lenken. Dennoch lag beiden Frauen die erwähnte Aussicht stets in Gedanken; sie gab ihrem Verhältnis eine Wärme, deren Höhengrad allerdings wechselte, die aber doch bei jeder Gelegenheit durch Übersendung von Kuchen, Mitteilung des Eingemachten und bereitwillige Aushilfe in der Wirtschaft sichtbar wurde. Denn es war damals die Zeit, wo alle Welt darauf sann, Angehörige und Bekannte unter die Haube zu bringen. Und der Mann, welcher in der angenehmen Lage war, eine Frau ernähren zu können, mußte eine ungewöhnliche Hartnäckigkeit besitzen, um den Andeutungen und Schlingen, welche ihm von guten Freunden gelegt wurden, aus dem Wege zu gehen; beharrte er aber in solcher Verstocktheit, so hatte er sein ganzes Leben hindurch den stillen Genuß, von Projekten wie von einem Schwarm Liebesgötter umschwebt zu werden, er erhielt Einladungen zu Gänsebraten und erfreute sich großer Zuvorkommenheit, bis er endlich, wenn er als Heiratskandidat hoffnungslos geworden war, als Pate begehrenswert ward, und in dieser behaglichen bürgerlichen Eigenschaft noch in hohem Greisenalter die Vergnügungen achtungsvoller Freundlichkeit genoß.

Auch Madame König wußte recht gut, daß es für die beiden Kinder viele Möglichkeiten gab, die sich nicht berechnen ließen. Da war zuerst Dorchens adeliger Stand, es konnte jeden Tag ein Freiwerber von Noblesse kommen, welcher imstande war, seine Frau ansehnlich zu halten. Und Dorchen verdiente, wie ihre Mutter mit Recht annahm, den besten Kavalier, und hätte sich auch in sehr [] distinguierter Stellung trotz ihrer einfachen Erziehung gut behauptet. Dann waren noch andere Aussichten, denn die Familie hatte vornehme Verwandte; und obgleich diese bis dahin nichts getan hatten, so war es doch möglich, daß durch ihre Konnexion eine Beförderung erreicht wurde: Stelle in einem Fräuleinstift oder gar das ausgezeichnete Amt einer Hofdame. Auf der anderen Seite bot auch Augusts feuriges Temperament keinerlei Bürgschaft für die ferne Zukunft. Deshalb war der Verkehr beider Mütter gerade so voll von Hintergedanken, wie der zwischen zwei Diplomaten großer Mächte, welche bald vertraulich Arm in Arm gehen und bald einander mit kühler Zurückgezogenheit behandeln.

Heut aber ging der Hausfrau das Herz auf. Während sie eine Träne abwischte, vergaß sie die Vorsicht und sagte bedeutsam zu der Freundin: »August wird die Trennung von unserm Dorchen schwer ertragen.« Jedoch der Augenblick war nicht günstig gewählt, denn Frau von Borsdorf verweilte mit ihren Gedanken gerade bei den polnischen Hoffnungen und antwortete deshalb in kühlem Ton: »Monsieur August ist jung und wird sich bald trösten.«

Da schwieg Frau König, tiefgekränkt durch solchen Stolz, und drückte das aufgestiegene Heiratsprojekt wieder tief in die Flut ihrer Gedanken hinab.

Am nächsten Morgen läuteten die Glocken den Sonntag ein, als Friedrich durch das Stadttor ins Freie ging. Er bog von der Landstraße ab, einem niedrigen Hügel zu. Dort hatten die Kinder oft unter einer alten Linde gespielt, Schmetterlinge gefangen und in der Kiesgrube nach Versteinerungen gesucht. Heut blinkten die Tautropfen in allen Farben des Regenbogens, um die Kamille und wilde Zichorie summten die Käfer, und in der alten Linde schrien die Finken und das junge Volk der Spatzen. Aber dem Jüngling war das Gemüt beschwert. Er setzte sich unter den Baum auf einen bemoosten Stein und starrte ins Leere. Eine, die jetzt in die Fremde ging, war ihm von Herzen lieb; er wußte, daß sie mit seinem Bruder viel vertraulicher verkehrte als mit ihm, und er kannte auch die Pläne seiner Mutter. Oft hatte er gegen die Eifersucht gekämpft, mit einem Heldenmut, den niemand ahnte, hatte er sein Gefühl bezwungen; doch gestern, nach dem Abschiede, war der Schmerz übermächtig geworden, und er fühlte sich ganz ohne Kraft und Hoffnung. Um ihn grünten, glänzten und schwirrten die Wunderwerke der Schöpfung, deren weise Anordnung ihm der Vater freudig erklärt hatte, aber die Bienen krochen vergebens in die Blumenkelche und befestigten Wachs an ihren Beinchen, und das Volk der Ameisen lief auf der Straße, die es sich mit unsäglicher Mühe zwischen den Grashalmen gesäubert hatte, unbeachtet hin und her, ohne daß er das Verdienstliche ihrer Tätigkeit anerkannte. Auch als er über sich in einem Loch des Baumes ein graues Gewebe erblickte, [] erhob er sich zwar und löste die Zellen eines verlassenen Wespennestes aus der Öffnung, aber er hielt die Zellen achtlos in der Hand, obwohl sie regelmäßig wie aus feinem Papier zusammengebaut waren, und vermochte dabei an nichts von alledem zu denken, was sich für einen vernünftigen Naturfreund aus dem merkwürdigen Gebilde ergab.

Da plötzlich schwirrte in der Nähe ein Flug kleiner Vögel auseinander, und dasselbe Fräulein, um welches er in seinem Schmerz sorgte, kam auf ihn zu. Das war kein Wunder, denn ganz in der Nähe lag der Garten, welcher Dorchens Mutter gehörte; vielleicht war Fritz deshalb, ohne es selbst zu wissen, unter die Linde gegangen, von der man die offene Gartentür beobachten konnte. Er fuhr in die Höhe, auch Dorchen hemmte den schnellen Schritt und trat befangen in den Schatten des Baumes.

»Ich war bei unseren Blumen«, begann sie leise, »da erkannte ich den Monsieur Fritz unter der Linde und wollte Ihnen noch einmal Lebewohl sagen.«

Friedrich sah das Fräulein glückselig an, aber so mächtig war seine Bewegung, daß er nichts Passendes zu antworten wußte und nur sagte: »Ich fand hier dies Wespennest.«

»Wie zierlich es ist«, versetzte das Fräulein, ohne die Augen bis zu ihm aufzuheben, und beide saßen im nächsten Augenblick nebeneinander auf dem Stein, nicht ganz nahe, denn das Gewebe lag zwischen ihnen. »Ich habe immerzu an Sie gedacht«, fuhr Fritz mutiger fort, »wie es Ihnen unter dem fremden Volke gehen wird, und ob Sie auch unsrer gedenken werden.«

»Mir ist bange«, rief das Mädchen und rang die Hände, »und mir war heute früh, als könnte ich den Abschied nicht ertragen. Der Mutter verberge ich meine Angst, um ihr die große Bekümmernis nicht zu vermehren, aber Ihnen gestehe ich's, Monsieur Fritz, denn ich weiß, daß Sie gegen jedermann schweigen; ich fürchte mich vor den ausländischen Verwandten, und wenn es nicht um meines Bruders willen wäre, dem eine Fürsprache beim polnischen Hof nützlich sein soll, so wäre ich niemals gegangen.«

»Wo Sie auch sind, Fräulein, die Leute werden Sie liebgewinnen«, antwortete Fritz, der jetzt zu trösten versuchte. Aber dabei fühlte er plötzlich wieder das Weh des Abschiedes und sah auf das Wespennest. »Es wird Ihnen vergönnt sein, was schon diesen kleinen, unvernünftigen Tieren zuteil wird. Sie machen sich jeden Sommer ein neues Häuschen, das alte bleibt leer hängen. Auch Sie werden neue Freunde finden, welche Ihr gutes Herz hochschätzen, und die alte Bekanntschaft wird sein wie dies verlassene Gewebe.«

»Halten Sie mich für so veränderlich?« fragte das Fräulein, und man hörte am Tone, daß sie gekränkt war.

»Nein, nein!« bat Fritz und ergriff im Eifer ihre Hand. »Aber [] Sie sind jung und voller Anmut, und wer Sie sieht, wird Sie lieben; da ist es natürlich, daß auch in Ihrem lieben Herzen sich etwas Neues anspinnen wird.« – Dorchen wandte ihm das Gesicht zu und fragte schnell: »Wird das bei Ihnen auch so sein? Und wird die gute Freundschaft, in der wir bis jetzt gelebt haben, auch nicht mehr bedeuten als diese leere Hülse?«

Fritz schlug die Hände zusammen und rief in inniger Bewegung: »Ich weiß nicht, was aus mir werden wird und wohin mich der liebe Gott führt, aber das weiß ich wohl, daß ich das Fräulein Dorchen in meinem Herzen liebhaben werde, solange ich lebe.« Und er schubste das Wespennest, das er zum Sinnbild der Unbeständigkeit gemacht, auf den Boden. Dorchen beugte sich nieder, hob das verachtete Gewebe auf, legte es in ihr Taschentuch, knotete dies hastig zu und stand auf. »Ich will es mir aufheben«, sagte sie. Sie griff in die Tasche und brachte ein kleines Kissen heraus, welches die Form eines Herzens hatte und am Rande mit den kleinen Blumen Vergißmeinnicht bestickt war, und sagte verlegen: »Behalten Sie das zum Andenken an mich, ich habe Lavendel und anderen Wohlgeruch aus unserem Garten hineingetan, wenn Sie es unter die Wäsche legen wollen. Sooft Sie den Geruch spüren, denken Sie an mich.« – Sie legte es ihm in die Hand, beide küßten einander unschuldig wie Kinder zum Abschiede, und Dorchen weinte an seinem Halse, doch nur einen Augenblick, dann klang leise aus ihrem Munde: »Seien Sie Gott befohlen!« Und schnell eilte sie dem Garten zu, an dessen Tür die alte Wärterin bereits nach ihr ausschaute.

Als Fritz allein war, küßte er auch das Herz und barg es in der Westentasche, dann sah er noch einmal um sich und merkte, wie lieblich es in der Natur duftete und sang. Jetzt wurde ihm klar, daß eine weise Vorsehung alles fügt, Großes und Kleines, und unter dem Geläut der Kirchenglocken schritt er langsam nach Hause.

Es war für die Königschen Eltern eine harte Zumutung, daß die beiden Sterne, welche ihnen der liebe Gott für Licht und Wärme an ihren Himmel gesetzt hatte, zu gleicher Zeit unsichtbar werden sollten. Zuerst verschwand Fritz in der akademischen Dämmerung. Von ihm war der Abschied nicht so schwer. Er blieb auf der Universität doch im Inlande, und er konnte jedes halbe Jahr, ja noch öfter, zum Besuch heimkehren. Auch hielt er sich tapfer bis zur letzten Stunde, da erst übermannte ihn die Rührung, als der Vater seine Hand und die des Bruders zusammenhielt und dabei sagte: »Bleibt einander treu.«

Seinen Sohn August brachte der Vater selbst nach der kleinen märkischen Stadt, in welcher die Kompanie des Regiments »Markgraf-Albrecht« in Garnison lag. Dort trafen die Ankommenden nach schriftlicher Verabredung mit dem Major Vogt zusammen, der in Geschäften des Regiments vom Stabsquartier zugereist [] war. August sah mit Stolz, wie herzlich der Major seinen Vater empfing.

»Ich habe, mein Herr Bruder, deinen Sohn für diese Kompanie bestimmt, weil ich hoffe, daß er sich gerade hier gut zu den Offizieren schicken wird. Ihr, mein lieber Monsieur August aber, beweiset unter uns, daß Ihr ein Sohn Eures Vaters seid, lernt schweigend gehorchen, ertragt tapfer, was Euch nach dem Vaterhause hart und bitter scheint, und spannt Eure Kräfte aufs äußerste, um im Dienste fest zu werden. Obwohl ich Eure Wünsche und Beschwerden, auch wenn sie gerecht sind, fortan nur durch Euren Kapitän vernehmen darf, so werde ich Euch doch im Auge behalten, und wenn Ihr Euch Mühe gebt und gute Applikation zeigt, werde ich es an mir nicht fehlen lassen.« Noch während der Anwesenheit des Vaters wurde August als Gemeiner eingekleidet, der Major machte ihm Hoffnung, daß er im Winter Unteroffizier werden könnte, und setzte für ihn sofort das Traktament eines Freikorporals durch, auch leidliches Quartier erhielt er in einer Kammer neben dem Sekondeleutnant. Nachdem der Vater den Major und die Offiziere der Kompanie zu einem Mittagstisch geladen hatte, der so gut war, als die Gastwirtschaft des Städtchens leisten konnte, merkte August an den freundlichen Mienen seiner Vorgesetzten, daß er mit guten Aussichten in seinen neuen Stand eintrat. Dennoch war der nächste Morgen, an dem er den scheidenden Vater nicht einmal bis zum Stadttor begleiten durfte, weil sein Drillen begann, der schmerzlichste seines jungen Lebens; und als er dem Wagen nachsah, meinte er, das Herz müsse ihm zerspringen. In den nächsten Freistunden fand er trübseligen Trost darin, die guten Dinge auszupacken, welche ihm die Mutter zur Verbesserung seiner Soldatenkost mitgegeben. Er wies sie in dem Bedürfnis menschlicher Teilnahme seinem Stubennachbar, dem Sekondeleutnant, und freute sich, daß dieser sowohl Schinken als Rauchwurst sehr lobte und es nicht verschmähte, sie mit ihm zu prüfen, dabei aber verständig riet, nicht gegen jedermann freigebig zu sein. Bei diesem Genuß aus der Heimat und bei einigen Flaschen Wein, für welche August einen goldenen Pfennig, die heimliche Gabe der Mutter, opferte, erkannten der Leutnant und er gegenseitig ihre guten Qualitäten, und August erhielt in den öden Tagen nach der Trennung bei seinem Nachbar menschenfreundlichen Trost.

Der erste Winter war eine harte Lehrzeit. Der Rekrut sank oft des Abends todmüde auf sein hartes Lager, aber sein Ehrgeiz war aufgestachelt, und eine natürliche Gewandtheit kam ihm zugute, auch gelang ihm bald, die Billigung und das Zutrauen der Unteroffiziere zu gewinnen, und er fand hinter rauhem Wesen bei mehr als einem der Subalternen Gutherzigkeit und das Bedürfnis, sich honett zu halten.

[] Als das Frühjahr herankam, wunderte er sich, wie schnell der Winter vergangen war. Jetzt wurde das Exerzieren mit doppeltem Eifer betrieben, die Kompanien wurden in einer benachbarten Landstadt zusammengezogen, und als dort der Dienst im Regimente unter den Augen des Markgrafen Albrecht geübt war, marschierte das ganze Regiment nach Berlin, zu der großen Aktion des Jahres, der Revue, welche der König selbst abnahm, nachdem er zehn Regimenter Infanterie und einige Kavallerie zu einem Korps formiert hatte. Die Kompanien von »Markgraf Albrecht« versammelten sich zu Beginn schon um Mitternacht vor dem Quartier ihres Chefs und zogen mit frühem Morgen in die Nähe von Tempelhof, wo zwei Tage lang manövriert werden sollte. Da wurde August nach schlafloser Nacht und übergroßer Anstrengung in den Straßen der Hauptstadt ohnmächtig; doch als er wieder zu sich kam, ging er dem Regimente nach, und obgleich der Kapitän warnte, erbat er doch die Erlaubnis, das Manöver mitzumachen. Und er hielt aus, wiewohl er noch einmal erschöpft zusammenbrach, so daß Markgraf Albrecht selbst, ein alter wunderlicher Herr, ihm etwas Beifälliges zurief. Nach dem großen Manöver wurden die einzelnen Regimenter vom Könige gemustert, und weil Seine Majestät mit Albrecht zufrieden gewesen war, lobte der Chef auch die Kompanie, und der Hauptmann sagte rühmend zu August: »Ihr habt Euch brav gehalten; morgen um drei Uhr werdet Ihr vor die Augen Seiner Majestät geführt.«

Am nächsten Tage traten alle Unteroffiziere des Regiments, welche auf Avancement dienten – es waren außer August sämtlich Junker aus adeligen Familien –, im Lustgarten gegenüber dem königlichen Palais an und wurden in einer Reihe aufgestellt. Nachdem zuerst der Markgraf sie gemustert hatte, kam mit dem Glockenschlag drei der König Friedrich Wilhelm aus der gelben Pforte auf den Platz und fragte, vom rechten Flügel anfangend, jeden der Unteroffiziere nach Namen, Heimat, Dienstalter.

Dem sorglosen August hatte vorher das Herz in unruhiger Erwartung gepocht, weil er zum ersten Male durch den strengen Kriegsherrn besichtigt werden sollte, und er hatte auf die Pforte gestarrt, als ob aus ihr das Schicksal selbst gegen ihn heranschreiten werde. Als er aber den König erblickte, minderte sich seine Befangenheit. Er sah einen kurzen, starken Herrn mit rötlichem Angesicht und runden Backen, im einfachen blauen Rock, wie ihn die anderen auch trugen, mit brauner Stutzperücke und dreieckigem Hut, in der Hand einen starken Rohrstock, und er dachte sich, daß Seine Majestät recht gutmütig und behaglich aussehe, einem märkischen Pächter ähnlich. Und erst als er den König in der Nähe sah und den scharfen Blick auffing, der aus den runden grauen Augen in die Gegenüberstehenden bohrte, wurde er aufs neue von Bangigkeit erfaßt.

[] Sobald der König die Antworten des Kursachsen vernommen hatte, wandte er sich zum Chef des Regiments: »Wie kommt der hierher?«

»Sein Vater ist jetzt Rittergutsbesitzer in der Lausitz, stand aber vorzeiten als Feldpropst in preußischen Diensten unter Feldmarschall Lottum, und geleitete, die Bibel in der Hand, sein Regiment bei der Erstürmung von Namur durch die Bresche.«

»Der Sohn sieht propre aus«, sagte der König zufrieden, »hat er denn auch Vigueur?«

»Daran fehlt es nicht, Eure Majestät. Er hat gebeten, die Revue durchzumachen, obwohl der Kapitän ihn in das Quartier zurückschicken wollte, da er neu war und von einer Ohnmacht überkommen wurde.«

»Das ist gut!« fuhr der König, zu dem Jüngling gewandt, huldreich fort. »Ihr habt einen braven Vater. Wenn Ihr Euch verpflichten wollt, in meinem Dienst zu bleiben, so will ich Euch ein gnädiger Herr sein und Euch fördern.«

Da gab August, hingerissen durch die Huld und seiner eigenen höflichen Beredsamkeit froh, zur Antwort: »Ja, Eure Majestät, es soll, solange ich lebe, mein Stolz sein, Eurer Majestät Zufriedenheit und Gnade zu gewinnen; ich bin ganz zu Eurer Majestät allerhöchstem Befehl.«

»Gut!« wiederholte der König und schritt weiter.

Durch diese wenigen Worte war der Fremdling den Preußen kameradschaftlich empfohlen; der Major Vogt sprach, nachdem der König sich entfernt hatte, mit aufrichtiger Herzlichkeit zu ihm, und die Offiziere seiner Kompanie betrachteten ihn seitdem außerhalb des Dienstes zuweilen als ihresgleichen, denn obgleich er noch das Kurzgewehr eines Unteroffiziers trug, hatte ihm doch die königliche Gnade bereits den Sponton des Offiziers in Aussicht gestellt.

Unter den Preußen

Nach den Manövern trat bei der Kompanie größere Ruhe ein, der Dienst wurde leichter, ein Teil der Soldaten, sichere Landeskinder, wurden mit Urlaubschein in ihre Heimat entlassen, damit sie sich dort selbst ihr Brot verdienten; ihren Sold aber bezog nach altem Brauch der Hauptmann, der dagegen für den Bestand der Mannschaften und für die Montur verantwortlich war. Kapitän Spieß war nicht von Adel und benahm sich im Dienste als ein genauer und zorniger Mann, wie nach alter Soldatenregel ein Hauptmann sein soll. Auch beim Stabe galt er für einen tüchtigen Offizier, nur die Musen hatten ihm ihre Huld versagt, und wenn bei schriftlichen Arbeiten die gewöhnlichen Wendungen des Kompaniestils nicht ausreichten, wurde sehr bald der Korporal König zur Schreiberei kommandiert, [] und der Hauptmann sagte in solchem Falle herablassend: »Monsieur König, richtet die Redensart ein, wie passend ist.« Indes gereichte diese stille Beihilfe dem jungen Unteroffizier keineswegs zum Vorteil, denn der Vorgesetzte, besorgt, ihm gegenüber die Autorität zu wahren, war im Dienst gegen ihn noch strenger als gegen andere, schalt und drohte zuweilen gröblich, und enthielt sich nicht widerwärtiger Anspielungen auf den Hochmut der Schreiber.

War der Hauptmann bürgerlich, so vertrat dagegen der Premierleutnant von Klotzing die Noblesse, er wußte sich viel mit seinem alten Geschlecht, konnte genau angeben, wieviel Ahnen bei den verschiedenen geistlichen Stiftern verlangt wurden, und erzählte, da ein Bruder von ihm Page gewesen war, gern von den königlichen Jagden in Wusterhausen und von dem Besuch des Zaren Peter, welcher dem Pagen zum Scherz auf die Frisur gespuckt hatte. Doch war er in der Kompanie nicht beliebt, da er sich bei Tisch gern betrank und darauf hochmütig und krakeelig wurde. Er hatte deshalb nicht selten Händel, die er mit einer guten Klinge ausfocht. Wie er behauptete, war er mit seinem Hofmeister auf einer Universität gewesen, jedenfalls nur kurze Zeit und nicht in der Absicht, sich Gelehrsamkeit anzueignen. Da er von dem jungen Korporal alle Höflichkeiten erhielt, welche dieser aus dem Vaterhause mitgebracht hatte, so gönnte auch er dem Sachsen ein nachsichtiges Wohlwollen und ließ sich zuweilen herab, ihn mit seinen Jagdabenteuern zu unterhalten.

Am wenigsten glückte es dem Unteroffizier mit seinem Fähnrich, der nach damaligem Brauch zu den Oberoffizieren gerechnet wurde und, an Jahren jünger als August, noch in dem grünen Stolz seines höheren Ranges einherschritt.

Als besserer Kamerad bewährte sich der Sekondeleutnant von Brösicke, ein redlicher Junge mit roten Backen, rundem Gesicht und hervorstechenden Augen, der keinerlei Launen hatte und auch keine Einfälle, durch welche andere überrascht wurden. Nachdem die Anrede, welche er seinem Stubennachbar zuteil werden ließ, durch einige Monate zwischen »Höret, König« und »Hören Sie, Monsieur König« geschwankt hatte, schlossen beide, sobald August die Korporalswürde erlangt hatte, Brüderschaft, und wurden allmählich Freunde.

August war so klug, einzusehen, daß er vor den Gewalthabern der Kompanie vermeiden müsse, sein besseres Wissen in allerlei gelehrten Dingen an den Tag zu legen, doch wurde dies für ihn eine harte Zumutung, und er mußte zuweilen Lehrgeld zahlen. Als er einst die Ehre hatte, mit den Offizieren auf der Stube seines Leutnants bei einem Glase Bier und einer Pfeife Tabak zusammenzusitzen, wollte das Unglück, daß die Rede auf Rom und Julius Cäsar kam. Und da ergab sich, daß sowohl der Hauptmann als seine Oberoffiziere durchaus unsicher über das Verhältnis Cäsars zum Papst waren. Der Hauptmann erklärte ganz verständig: Da Julius Cäsar [] ein großer römischer General gewesen ist, der Papst aber unter allen Umständen ein Pfaffe und ebenfalls zu Rom wohnhaft, so ist glaublich, daß die beiden nicht in guter Harmonie gestanden und Cäsar zu seiner Zeit sich wenig um den Papst gekümmert hat. Der Premierleutnant aber behauptete mit höherem Wissen, jedoch unrichtig, Cäsar sei als römischer Kaiser und als Vorfahre der jetzigen kaiserlichen Majestät Karl VI. mit dem Papst in Händel geraten und habe deswegen mit den Franzosen, welche zum Papst hielten, viele Kriege führen müssen. Der Sekondeleutnant und der Fähnrich endlich vertraten bescheiden die Ansicht, daß mehrerwähnter Cäsar nur Bürgermeister in Rom und der Papst jedenfalls sein Prinzipal oder Vorgesetzter gewesen sei. Da war es für August unmöglich, ein vorsichtiges Stillschweigen beizubehalten. Er tat sich auf, obschon in achtungsvoller Weise, und setzte auseinander, daß die alten Römer zur Zeit Cäsars noch Heiden waren und erst mehrere Jahrhunderte später Christen und Untertanen des römischen Papstes wurden. Im Eifer seiner belehrenden Darstellung bemerkte er nicht die mißvergnügten und abfälligen Blicke seiner Vorgesetzten, welche ihn, nachdem sein Redefluß beendet war, behandelten, als sei er gar nicht vorhanden, und von der Montierung des Potsdamer Regiments zu reden begannen, nachdem der Hauptmann noch kurz bemerkt hatte: »In jedem Fall war der Dienst in der Kompanie damals schlechter als im Preußischen.« Sogar Augusts Leutnant vermied in den nächsten Tagen ganz, mit ihm zu sprechen, der Hauptmann aber machte ihm beim Exerzieren den Dienst sauer und warf ihm unangenehme Redensarten wie »Sakramenter« und »sächsischer Tintenkleckser« zu. Durch einige Wochen kämpfte der Sachse in stiller Verzweiflung gegen die hochgehenden Zorneswogen im Gemüt der Vorgesetzten, und die Stellung war noch schlecht, als sein Gönner, der Major Vogt, in die Garnison kam. Auch dieser mußte Unholdes über den gelehrten Korporal gehört haben, denn er beachtete ihn durch die drei Tage seiner Anwesenheit gar nicht, erst kurz vor der Abreise, als August mit einer Meldung zu ihm kam, begann er mit umwölkter Stirne: »Es tut mir leid, zu vernehmen, daß die Herren Oberoffiziere mit Eurem Benehmen nicht zufrieden sind. Hat Euch der gute Anfang Eures Dienstes übermütig gemacht, so muß ich Euch sagen, daß Ihr die Nachsicht und das Wohlwollen Eurer Vorgesetzten, die Euch sehr nötig sind, völlig verscherzt habt.« Da erschrak August: »Ich bitte den Herrn Major, überzeugt zu sein, daß ich es im Dienst an Eifer nicht fehlen lasse.«

»Es ist sowohl der Dienst«, antwortete der Major, »als Euer anmaßendes Benehmen außerhalb des Dienstes, wodurch Ihr Anstoß gebt.«

»Möge der Herr Major mir glauben«, entschuldigte sich August demütig, »daß ich niemals in meinem Verhalten den geziemenden [] Respekt vergessen habe. Ich weiß recht gut, daß an meinem Unglück nichts schuld ist als Julius Cäsar.«

»Wieso?« fragte der Major. Und als der Korporal wahrheitsgetreu berichtet hatte, lächelte der gute Herr zuerst vor sich hin, dann aber begann er strafend: »Es war nicht schicklich, daß Ihr Eure Schulweisheit dazu benutzt habt, um Eure Herren Offiziere in der Stunde, wo sie Euch die Ehre kameradschaftlicher Vertraulichkeit gewährten, eines Besseren zu belehren. Ihr habt ihnen dadurch ihre freundliche Absicht übel vergolten. Doch Ihr seid jung und von lebhaftem Naturell, und ich will Euch das Ungeschick nicht zu hoch anrechnen. Merkt Euch aber für Euer ganzes Leben, mein lieber Sohn, daß der Wert des Soldaten nicht vorzugsweise auf seinem Wissen beruht, sondern auf seiner Pflichttreue und auf der Stärke seines Willens. Damals, als Euer guter Vater bei unserem Regiment war, vermochte einer der Hauptleute außer seinem Namen nichts zu schreiben; er war doch von uns allen hochgeschätzt, und seine Soldaten gingen für ihn ins Feuer. Es darf Euch auch nicht ungereimt erscheinen, wenn Ihr hier und da in der Armee eine Verachtung der Schreiber und aller Gelehrsamkeit aussprechen hört; solche Feindseligkeit wird allerdings zuweilen ungerecht, dennoch ist sie bei dem preußischen Offizier zu entschuldigen, denn er merkt wohl, daß die Schreiber und Gelehrten sich unfähig und außerstande erwiesen haben, den Staat und das vaterländische Wesen vor Freund und Feind ehrenvoll zu vertreten und daß dazu sein Beruf besser geeignet ist, weil er gelernt hat, sein Blut und Leben daranzusetzen, nicht nach eigener Weisheit, sondern nach dem Willen und den Intentionen eines Oberhauptes, welches für ihn denkt.«

Nach dem Besuche des Majors trat für August bei der Kompanie wieder leidliches Wetter ein, kleine Regenschauer, aber auch Sonnenblicke, und er durfte hoffen, daß Cäsar nicht ewig als rächender Geist vor der Front gegen ihn aufsteigen werde. Da wurde durch einen Zufall das Verhältnis zu seinem Chef völlig geändert. Der Hauptmann war nicht verheiratet, er vertraute seine Wäsche aber keiner Unteroffiziersfrau an, sondern schickte sie durch seinen Burschen in ein kleines Haus an der Stadtmauer zu einer armen Witwe, welche mit einem jungen Mädchen erst vor etlichen Jahren aus benachbarter Garnison zugezogen war. Da der Hauptmann selbst häufig in der Dunkelheit das Haus besuchte, so hatte die Kompanie über diese Bekanntschaft ihre sehr bestimmten Ansichten, die aber in seiner Gegenwart nicht laut wurden, weil sein ernsthaftes und zurückhaltendes Wesen auch die Offiziere nicht zur Vertraulichkeit ermutigte. Doch erzählten die Jüngeren untereinander, daß er sich des Mädchens wegen schon einmal nach dem Mittagessen auf seiner Stube mit dem Premierleutnant geschlagen habe, jedenfalls war dieser mehrere Wochen mit verbundenem Arm gegangen, hatte aber [] jede Auskunft über das Duell verweigert. Als nun August eines Abends im Dienst auf der Straße ging, hörte er rohe Scheltworte und sah einen Betrunkenen, welcher ein flüchtiges Mädchen verfolgte und sie zuletzt anpackte. Er sprang herzu, schleuderte den Mann zurück und stellte sich zwischen ihn und die Verfolgte, die vor Schrecken über den Angriff einer Ohnmacht nahe war und sich an einem Türpfosten festhielt. Der Angreifer, ein übel beleumdetes Subjekt, das früher Soldat gewesen und eines Schadens wegen aus dem Dienst entlassen war, drang wütend auf den Helfer ein, der Korporal aber schlug ihn mit dem Eisen seines Kurzgewehrs über die Schulter, daß der Mann mit lautem Schrei zurücktaumelte und blutend zusammenbrach. Ohne sich weiter um den Liegenden zu kümmern, wandte sich August zu dem Mädchen, richtete sie auf und ersuchte sie höflich, seine Begleitung bis an ihre Wohnung anzunehmen. Dabei entdeckte er, daß es ein recht hübsches Mädchen war in einfacher bürgerlicher Kleidung, mit einem runden Gesicht, aus welchem ihn zwei blaue Augen verstört ansahen. Sie aber entzog ihm den Arm und versetzte, immer noch zitternd: »Ich danke dem Herrn Korporal von Herzen, aber ich darf mit keinem Soldaten gehen; ich bitte den Herrn, mich allein zu lassen, unsere Wohnung ist in der Nähe.« Sie sah ihn noch einmal an, als ob sie wegen ihrer Weigerung um Verzeihung bitte, und eilte längs den Häusern dahin. Der Jüngling folgte ihr aus Teilnahme in einiger Entfernung, obgleich er hinter sich den Lärm der zusammenlaufenden Menschen hörte, war aber höchlich erstaunt, als er plötzlich einen Stoß vor die Brust bekam und seinen Hauptmann erkannte, der von der Seite herbeigeeilt war, wütend den Degen zog und gegen ihn einhieb. August parierte den Schlag mit seiner Waffe und rief zurückspringend: »Ich melde dem Herrn Kapitän, daß ich soeben einen Betrunkenen auf der Straße niedergeschlagen habe, weil er ein Mädchen insultierte.« Der Kapitän ließ den Degen sinken und trat, gefolgt von August, in den Haufen, welcher den Liegenden umstand. Dort erkannte er, daß der Mann schwer verwundet sei, und gebot dem Korporal kurz, einen Feldscher zu holen und alsdann in sein Quartier zu kommen, worauf er sich in derselben Richtung entfernte, welche das flüchtige Mädchen genommen hatte.

August, der jetzt den Zusammenhang ahnte, wartete längere Zeit in der Wohnung des Kapitäns. Dieser bot, als er endlich kam, dem Korporal in großer Bewegung die Hand mit den Worten: »Ich bitte Euch wegen meiner Heftigkeit um Verzeihung, Monsieur König. Ihr habt Euch benommen, wie einem Manne geziemt, der des Königs Rock trägt, ich aber habe mich in der Hitze gegen Euch vergessen. Dafür will ich Euch die Satisfaktion geben, indem ich Euch im Vertrauen auf Eure Ehre und Verschwiegenheit mitteile, daß es meine Tochter war, der Ihr heut einen großen Dienst erwiesen [] habt. Sie selbst hat mich gebeten, Euch den Dank auszurichten, der ihr in ihrer Angst nicht zu Gebote stand.«

»Ich habe nur geringen Anspruch auf den Dank meines Herrn Kapitäns und der Demoiselle«, versetzte August, »da ich ganz zufällig zu dem Rekontre kam und nicht wußte, wem ich beistand. Ich bitte nur, sich meiner anzunehmen, damit ich nicht wegen der Verwundung des Zivilisten, welchem das Schlüsselbein zerschlagen ist, in Ungelegenheiten gerate.«

»Ihr?« antwortete der Hauptmann mit finsterem Lächeln. »Ihr habt Lob zu erwarten, da Ihr Euch zur Stelle defendiert habt, der Kerl aber Ketten und Zuchthaus, weil er sich unterfangen, die Montur Seiner Majestät anzugreifen. Erzählt mir den Verlauf, damit ich den Bericht mache; Ihr könnt ihn selbst zur Stelle niederschreiben.«

Als dies vollbracht war, und August der Entlassung harrend, sich zusammenrückte, holte der Hauptmann eine Flasche Wein aus dem Schrank, goß zwei Gläser voll und wies auf den Tabak und die Pfeifen.

»Setzt Euch her zu mir, Monsieur König, ich habe noch etwas von Euch zu fordern.« Und als August stramm dasaß, vom Glase genippt hatte und mit stiller Genugtuung die blauen Wölkchen aus der Tonpfeife blies, begann der Hauptmann: »Ich will Euch meinen Dank dadurch bezeigen, daß ich Euch erzähle, was Eurer Jugend zu einer Lehre gereichen kann. Als armer Fähnrich war ich einem Bürgermädchen, der Tochter einer Witwe, zugetan, und ich handelte in meiner Leidenschaft nicht ehrlich an ihr. Sie starb in Kummer und hinterließ ein Mädchen. Mir ist es mein Leben lang sauer geworden, und ich war ein harter Mann, der sich das Unglück anderer nicht sehr zu Herzen nahm. Da sah ich einmal meine kleine Tochter, das Kind drückte sich in seiner Unschuld an meinen Hals, und mir fiel ein, daß ich doch jemanden auf der Welt hatte, der an mir hing. Darum begann ich mich der Tochter anzunehmen, brachte sie zu einer ordentlichen Frau, und was ich von meinem Traktament ersparen konnte, wandte ich auf ihre Erziehung. Sie wuchs heran als ein braves Kind, welches in seinem guten Herzen den Vater lieb hat. Die Stunden, in welchen ich bei ihr sitze und ihre zutraulichen Reden höre, sind das Glück meines Lebens. Aber sie sind auch mein Kummer und ein unablässiger Vorwurf. Denn sie ist unschuldig und gutartig und wäre eines besseren Schicksals wert. Aber nach den Vorurteilen der Welt ist sie ausgeschlossen von jeder Hoffnung auf eine Heirat mit einem braven Manne, und von jeder Aussicht auf eine andere anständige Versorgung. Und wenn sie mir freundlich zulacht und in ihrer kindlichen Weise erzählt, wie gut es anderen Mädchen aus ihrer Nachbarschaft mit Ehe und Hausstand gerät, da will sich in mir vor Mitleid das Herz umwenden, daß bei ihr davon nicht die Rede sein kann.« Er legte die Pfeife weg und sah finster vor sich hin.

[] »Vielleicht gibt es dagegen eine Hilfe«, riet August mitfühlend. »Ich habe einmal gehört, daß man auch an Kindesstatt annehmen kann.«

Der Hauptmann blickte beifällig auf ihn: »Dies ist die einzige Hoffnung, an die ich mich noch halte. Da ich aber ohne Konnexion bin und befürchten muß, daß mir ein solches Unternehmen bei den Vorgesetzten im Avancement hinderlich sein wird, so muß ich's auf die Zeit schieben, wo ich entweder als Major in den Stab versetzt oder pensioniert bin. Habe ich in der Karriere meinen Wunsch erreicht, oder habe ich keinen Gegner mehr zu fürchten, so nehme ich die Tochter zu mir.« August, stolz auf so großes Vertrauen, rauchte fort und war ganz einverstanden. »Dies habe ich Euch mitgeteilt, Korporal König, weil ich jetzt Euer Ehrenwort verlange, daß Ihr die Bekanntschaft, welche Ihr heut mit meiner Tochter Friederike auf der Straße gemacht habt, in keiner Weise fortsetzt, solange sie in ihrem dunklen Zustande leben muß; daß Ihr sie also nie in ihrer Behausung aufsucht, und wenn Ihr zufällig mit ihr zusammentrefft, sie ganz wie eine Fremde behandelt. Ich will nicht, daß mein Kind irgendwelche Bekanntschaft mit Soldaten und Offizieren hat, denn ich weiß, daß für sie daraus nichts Gutes kommen kann. Und dies ist das einzige, was ich dem armen Mädchen streng verboten habe. Wollt Ihr mir als honetter Soldat Euer Wort darauf geben, so werde ich Euch, solange Ihr dies haltet, mit aufrichtigem Danke verpflichtet sein, und wenn Ihr es im Übermute brechen solltet, Euch an Eurem Leib und Leben die Rache eines gekränkten Vaters fühlbar machen.« Er stand auf, auch August schnellte in die Höhe.

»Mein Herr Kapitän hätte nicht Ursache gehabt, mein Versprechen so stark zu provozieren; ich bin bereit, mein Wort zu geben.«

Der Hauptmann hielt einen Augenblick die Hand des Jünglings fest und entließ ihn mit Wiederholung seines freundlichen Dankes.

August ging zufrieden in sein Quartier zurück und gelobte sich selbst, daß er das neue Wohlwollen des Vorgesetzten durch Schweigsamkeit und großen Diensteifer verdienen wolle.

Dennoch erwies sich die Vorsicht des Hauptmanns in diesem Falle als ungeschickt; denn es war natürlich, daß August von jetzt ab zuweilen an sein Ver sprechen dachte und mit einer gewissen Neugierde nach der Demoiselle aussah. Wenn er ihr einmal begegnete, was nicht selten geschah, so grüßte er höflich – das hatte der Alte doch nicht verbieten wollen – und empfing ihren schüchternen Gegengruß mit der frohen Empfindung, daß zwischen ihr und ihm ein geheimes Einverständnis sei, von dem die Welt nichts wissen dürfe. Auch sah er immer mehr ein, daß genügender Grund vorhanden war, die Jungfer vor der Unternehmungslust kriegerischer Jugend zu bewahren. Denn sie hatte durchaus nichts von dem bärbeißigen Wesen [] des Hauptmanns. Er erkannte bei jeder Begegnung deutlicher ein rosiges Gesicht mit schönen blauen Augen, denen, wie er meinte, die Fröhlichkeit sehr gut stehen müßte. Sie war einfach, aber sauber gekleidet, hatte einen zierlichen Gang und, wie er ganz genau sah, auch eine natürliche Anmut, wenn sie ihm das Köpfchen zuneigte; kurz, sie war ihrem Vater durchaus nicht ähnlich.

August konnte nichts dafür, daß er an ein Mädchen, welches ihm fremd war, das er nicht anreden und nicht kennen sollte, gerade da erinnert wurde, wo er als guter Sohn der Ermahnung seines eigenen Vaters nachkam. Dieser hatte ihn nämlich dringend aufgefordert, seine Freistunden zu weiterer Erlernung des Französischen zu verwenden, wenn sich in der kleinen Garnison eine Gelegenheit biete. Nun fand sich unter den alten Unteroffizieren der Kompanie ein Franzose, der einst als flüchtiger Hugenotte mit seinen Eltern ins Preußische gekommen war. Bei diesem nahm August gegen billige Vergütung Stunde. In der Konversation erfuhr er mit Verwunderung, daß Monsieur Roncourt auch Lehrer der Demoiselle Friederike war, und daß sein Hauptmann, der selbst aus Büchern so wenig gelernt hatte, für den Unterricht des Kindes alles mögliche tat. Der alte Franzose sprach gern von seiner Schülerin, er rühmte ihren Verstand und die Fortschritte, und beobachtete mit ritterlicher Teilnahme ihr Verhältnis zum Vater. Es kam auch heraus, daß dieser zuweilen bei den Lektionen gegenwärtig war und in hoher Zufriedenheit seine Pfeife rauchte, während die Tochter sich mit dem Lehrer in der unverständlichen Sprache unterhielt. Es wäre auffällig gewesen, wenn August seinem Lehrer verboten hätte, in der Stunde von Demoiselle zu erzählen. Und es ist wohl möglich, daß Monsieur Roncourt in seiner gesprächigen Weise auch dem Mädchen zuweilen etwas über den jungen Korporal mitteilte, der sich ebenfalls dem Lehrer wert zu machen wußte.

In dieser ganzen Zeit bestand zwischen den Eltern und den beiden Söhnen ein lebhafter Verkehr, welchen das für alle Welt erfreuliche Posthorn vermittelte. Es klang nur zweimal in der Woche durch die Straßen, aber gerade weil es nicht häufig kam, dachte jedermann, daß es ihm etwas Gutes bringen müsse, und wer in der Fremde saß, der wurde durch die weichen Töne an alle Lieben daheim erinnert. Am regelmäßigsten war in der Familie der Verkehr zwischen Fritz und dem Vater. Der Sohn schrieb von der Universität ausführlich über seine Kollegien und über die Gedanken, welche ihm angeregt wurden, der Vater aber fand eine hohe Freude darin, mit seinem Fritz gelehrte Fragen zu erörtern, und eine noch größere, wenn er in den Briefen des Jünglings einen festen, die Wahrheit suchenden Sinn erkannte. Durch den Briefwechsel wurden Vater und Sohn in ganz neuer Weise Herzensfreunde, und der Sohn gewann in dem rückhaltlosen Aussprechen über alles, was ihm die Seele bewegte und [] seinen Geist beschäftigte, vielleicht mehr Weltweisheit, als durch die Vorträge der Professoren.

Als Friedrich einmal im Postskript beiläufig gefragt hatte, ob Nachrichten von Thorn angekommen seien – er wollte nicht geradezu nach Dorchen fragen –, da erhielt er zu seiner Verwunderung mit der Antwort des Vaters die Abschrift eines Briefes, welchen der erste Bürgermeister von Thorn, Herr Roesner, dem Vater gesandt. Darnach hatte Dorchen den Brief des Vaters abgegeben, sie hatte den Städtern sehr gefallen, war mit den Frauen zum Gottesdienst gegangen und für längeren Besuch eingeladen worden. Wegen des Gusekschen Schreibens von 1531 aber berichtete der Konsul, daß er mit mehr Auskunft dienen könne, als vielleicht erwartet werde; sein Kollege Zernecke, der zweite Bürgermeister, sei selbst als Historikus eine Autorität, und dieser wußte, daß in jenen alten Zeiten eine Familie König zu den Mitgliedern des Artushofes, also zu der angesehenen Bürgerschaft, gehört hatte. Auch das Eckhaus war ermittelt worden, es war alt und baufällig und gerade in den Besitz eines Bürgers übergegangen, der sich rüstete, dasselbe umzubauen. Da hatten die Herren Bürgermeister aus dem alten Briefe Veranlassung genommen, dem wohlgesinnten Besitzer das Geheimnis der Stube mitzuteilen; es hatte sich sogleich ergeben, was bis dahin noch niemand beobachtet, daß durch leichtes Fachwerk ein Teil des ursprünglichen Zimmers abgeschlossen war. Der Besitzer hatte in Gegenwart der Bürgermeister die Zwischenwand einschlagen lassen und dahinter einen großen Wandschrank gefunden. »Ich selbst habe, da der Hauswirt die Berührung scheute, den Schrank geöffnet«, schrieb Herr Konsul Roesner, »aber nichts darin gefunden als eine verrostete Rüstung und ein modriges Gewand, welches einem Armsünderkittel ähnlich sah; ich verberge Euer Ehrwürden nicht, daß mich einen Augenblick das Grauen überkam, als ich große dunkle Flecke darauf erkannte. Was man dort verbergen wollte, war offenbar etwas Ungünstiges aus einer Zeit städtischen Unfriedens.«

Mit einer scherzhaften und verbindlichen Wendung bat darauf der Bürgermeister um Fortsetzung der angeknüpften Verbindung und deutete an, daß es ihm wünschenswert wäre, von der neuen Leipziger Büchermesse gewisse Neuigkeiten gegen Wiedererstattung der Auslagen früher zu erhalten, als bei der langsamen Spedition durch die Buchhandlung möglich würde.

Da der Vater ermahnte, die Aufträge des Herrn Konsuls sorgfältig auszuführen, und Fritz in Leipzig gute Gelegenheit fand, das Bücherpaket nach Thorn zu spedieren, so machte es sich, daß er selbst mit den beiden Bürgermeistern, zumal mit dem gelehrten Herrn Zernecke, in höflichen Brief verkehr trat, und diese Verbindung wurde ihm eine größere Freude, als er selbst dem Vater bekannt hätte, denn [] er konnte dadurch vielleicht dem Dorchen die wohlwollende Teilnahme der wichtigen Stadtherren vermehren.

Nicht ganz so erfreulich waren die Nachrichten über Dorchen, welche die Post dem jüngeren Sohn brachte. In einem Briefe der Mutter las er, daß die Jugendgespielin, welche lange mit ihrer kranken Verwandten zu Dresden gelebt hatte, jetzt in einem großen Schlosse an der Weichsel wohne, welches mit fürstlicher Pracht eingerichtet sei. Dort speiste sie, wie Frau von Borsdorf in mütterlichem Stolz mitgeteilt hatte, jeden Tag von Silber und hatte drei Domestiken zu ihrer eigenen Bedienung, nur klagte sie etwas über die Einsamkeit. Und als seine Mutter mit dem Postskript schloß: »Wenn das liebe Kind nur nicht in Hochmut verfällt«, da wurde August wild und zornig über diesen Luxus mit Silber und über das ganze vornehme Wesen, und nachdem er lange mit dem unschuldigen Dorchen gegrollt hatte, kam er zu der unzufriedenen Betrachtung, wie verschieden doch das Schicksal seine Gaben austeile. Dorchen war die Tochter eines pensionierten Majors, ohne Vermögen, und lebte in so glänzendem Zustande, und Riekchen war das Kind eines Hauptmanns, der auch jederzeit Major werden konnte, und wohnte, gering geachtet, in einer Hintergasse. Zuletzt unternahm er sogar, die beiden Mädchen miteinander zu vergleichen; auch Riekchen war hübsch, obgleich in anderer Weise; sie hatte ein Stutznäschen, größere Fülle, ihre Augen waren vielleicht noch einnehmender. Und unzweifelhaft hatte auch sie gute Manieren.

Gustchen verhärtete sich so in seinem Zorne gegen die Vorurteile der Welt und gegen die Launen des Geschickes, daß er den trotzigen Entschluß faßte, die Ungerechtigkeit auszugleichen, soweit er dies als junger Korporal und Unbekannter vermochte. Dazu bot sich eine Gelegenheit. Durch den Franzosen wußte er, daß Friederike über den Tod eines Stieglitzes geweint hatte, der in törichter Sicherheit aus seinem Bauer geflogen und von einer Nachbarkatze erfaßt war. Darum gedachte er die Arme für die fehlenden Silberteller gewissermaßen dadurch zu entschädigen, daß er ihr einen neuen Stieglitz ins Haus praktizierte. Dies mußte natürlich so geschehen, daß der Vater nicht an einen unbekannten Geber denken konnte, weil er sonst dem Vogel unfehlbar den Hals umgedreht hätte. Es durfte also keiner von den Garnisonvögeln sein, welche durch die Soldaten gehalten und zu kunstvollem Gesange abgerichtet wurden, um das Leben der Freudearmen zu verschönen. Doch glückte es, in dem nächsten Dorf einen Stieglitz zu entdecken, der in seiner Art ein wirklicher Künstler war; er kaufte das Tierchen, als gerade sein Leutnant Dienst hatte, und trug es des Abends in seiner Hand zu dem Hause, in welchem Friederike mit ihrer alten Erzieherin wohnte. Als er durch das ausgeschnittene Herz des Fensterladens Licht im Zimmer sah, steckte er den Vogel vorsichtig in das Loch in der Hoffnung, daß der [] Kleine zwischen Laden und Scheiben herabflattern und durch seinen Flügelschlag ein Öffnen des Fensters veranlassen werde. Dies geschah. Der Korporal hörte das Flattern, merkte, daß jemand das Fenster auftat, und entwich geräuschlos. Bei der nächsten Lektion vernahm er mit gut erheuchelter Gemütsruhe, daß der Demoiselle in merkwürdiger Weise ein neuer Stieglitz zugeflogen war und daß der Ankömmling mit großer Freude in dem Bauer bewahrt wurde, da kein Eigentümer zu ermitteln sei. »Vielleicht haben ihn die Eulen aufgescheucht«, sagte August gleichgültig.

»C'est vrai«, rief der Franzose, erfreut über die Idee, »doch ist der Vogel abgerichtet.«

Aber dies gemütliche Verhältnis, in welches sich der junge Korporal zu einem jungen Mädchen gesetzt hatte, tönte in seiner Seele nur wie ein leiser Gesang in den Pausen zwischen dem Trommelwirbel des Dienstes. Als der Herbst herankam, erhielt die Kompanie ihre Rekruten, zwei Drittel Landeskinder aus der Umgegend, ein Drittel Angeworbene, welche gleich Gefangenen herangeführt wurden. Da begann auch für August neue angestrengte Tätigkeit, denn er hatte jetzt selbst bei dem Drillen zu helfen und fand es schwerer als je, seinem Hauptmann genüge zu tun.

Zu rechter Zeit kam vor dem Weihnachtsfest die Kiste vom Vaterhause. Da der Hauptmann den Abend bei der Demoiselle zubrachte und die beiden anderen Offiziere über Land geladen waren, so bat August den Sekondeleutnant um die Ehre seiner Gesellschaft und überreichte ihm bei der Einladung einen hübschen türkischen Pfeifenkopf, den er durch ein artiges Kompliment annehmbar zu machen suchte, indem er sagte: »Mein Herr Bruder hat mir, da ich jung und unerfahren hierherkam, so viel Güte und Freundlichkeit er wiesen, daß ich, solange ich lebe, demselben mich verpflichtet fühlen werde, und ich bitte daher, diese Kleinigkeit als ein Zeichen meiner Wertschätzung anzunehmen, dabei aber nicht die Geringfügigkeit der Gabe, sondern die gute Gesinnung zu beachten, in welcher ich dieselbe zu offerieren wage.« Der Leutnant empfing die gestopfte Pfeife und antwortete: »Du bist, hol mich der Teufel, immer der höfliche Sachse.« Dabei zündete er sie zur Stelle an und setzte sich zum Genuß zurecht, aber er fuhr sich gleich darauf über die Augen. »Bruder, mir hat noch niemals jemand etwas zu Weihnachten geschenkt, und ich habe auch nichts für dich.« – August schüttelte ihm die Hand. »Wenn du die Kompanie haben wirst, dann kommst du an die Reihe, mir zu geben, unterdes versuchen wir heut, was in der Kiste Gutes gekommen ist.«

Diese Anweisung auf künftigen Reichtum erheiterte den Leutnant, und sie trugen gemeinsam die Schätze der Kiste auf den Weihnachtstisch.

Doch auch die Garnison wollte dem jungen Korporal ihre Artigkeit [] erweisen, denn als er am nächsten Morgen beim Hauptmann eintrat, begann dieser, nachdem er die Meldung angenommen: »Ihr habt in diesem Jahre einer Person, die mir lieber ist als mein Leben, einen Dienst erwiesen, und Ihr habt das Versprechen, das Ihr mir damals gegeben, als ein honetter Soldat gehalten. Ich bin nicht gewöhnt, eine Guttat zu empfangen, ohne dafür erkenntlich zu sein. Wäre ich ein Mann von Vermögen, so würde ich Euch ein besseres Präsent bieten, jetzt ersuche ich Euch, meine Jagdflinte anzunehmen, da ich höre, daß Ihr gern auf die Jagd geht.« Er überreichte ihm das Gewehr; es war ein neuer gestickter Tragriemen daran, und der Jüngling wußte wohl, woher dieser kam. In der ganzen Zeit war er von dem Kapitän kurz und gebieterisch behandelt worden, wie jeder andere; und wenn er in seiner Schlauheit trotzdem gemerkt hatte, daß er in Gunst stand, weil widerwärtige Kommandos von ihm fernblieben, so überraschte ihn doch diese Freundlichkeit des harten Vorgesetzten so sehr, daß sein Dank kürzer herauskam, als schicklich war, denn er fand nur die Worte, welche gar nicht zur Sache gehörten: »Es ist mir wohl bewußt, daß ich es nur dem Herrn Kapitän zu danken habe, wenn ich einmal ein brauchbarer Offizier werde.«

»Tut Eure Pflicht gegen den König, wie ich sie im Dienst gegen Euch tue«, antwortete der Hauptmann und entließ ihn mit einem Kopfnicken.

Und wieder kam das Frühjahr, welches an der märkischen Landschaft rings um die Garnison nur wenig zu verändern imstande war, der Kiefernwald färbte sein dunkles Gewand ein wenig heller, die Sandflächen zwischen Feld und Wald wurden ein wenig gelber, und auf dem Acker sproß zögernd und spärlich die junge Saat. Die Kompanie aber bewegte sich wieder pünktlich, gleich einem Uhrwerk, zu den Vorübungen im Stabsquartier und von da nach Berlin zur Revue. Diesmal marschierte August fest wie ein alter Soldat über den Rixdorfer Damm nach dem Manöverfelde und erwartete mit Selbstvertrauen die letzte Prüfung der Unteroffiziere im Lustgarten. Er freute sich wie ein geborener Preuße, als des Königs Majestät, der kleine starke Herr, wieder aus der gelben Pforte gewichtig heranschritt. Sobald der König längs der Reihe seine Fragen getan hatte und bis zu August gekommen war, sah er ihn scharf an, und der kecke Unteroffizier August ebenso den König, weil er wußte, daß seine Majestät dies gern hatte. »Das ist der Sachse«, sagte der Herr wohlgefällig, »seid Ihr dies Jahr bei der Revue schwindlig geworden?«

»Nein, Eure Majestät«, antwortete August, »es ging ganz gut.«

»Wie war seine Aufführung?« fragte der Herr den Markgrafen. »Hat er gut profitiert?«

»Er hat das beste Lob«, versetzte der Oberst.

»Das ist mir lieb«, sagte der König. »Ihr könnt Eurem Vater schreiben: Ich freue mich, daß der Sohn eines so braven Mannes wohl [] gerät, und es soll den Vater nicht gereuen, daß er Euch in meine Armee getan hat. Fährt so fort, damit Ihr im Dienst immer fester werdet.«

Dies war in den Augen sämtlicher Anwesenden eine so hohe Gnade, daß August gleich darauf von seinem Chef, von dem guten Major Vogt, und seinen Offizieren Glückwünsche erhielt, und kaum in seinem Quartier angelangt, sich hinsetzte, um dem Vater den ganzen Vorgang zu berichten. Den Tag darauf erhielt er die Nachricht, daß ihn der König zum Gefreiten-Korporal ernannt habe, der den Dienst bei der Fahne hatte und der Nächste zum Oberoffizier war. Und seine Freude kannte keine Grenzen, als sein Hauptmann sich freiwillig erbot, ihm nach der Rückkehr in die Garnison einen mehrmonatigen Urlaub zu geben.

Als der Freikorporal vor seiner Abreise aus der Garnison beim Hauptmann eintrat, um den Urlaubsschein zu holen, blieb er betroffen an der Tür stehen. Vor dem Vater kniete in Tränen aufgelöst Friederike, und er saß über sie gebeugt in so tiefem Gram, daß er den Eintretenden gar nicht beachtete. Das Mädchen fuhr auf, sah den Jüngling schmerzvoll an und verschwand in dem Nebenzimmer, der Vater aber erhob sich, mühsam nach Fassung ringend: »Erfahret, Monsieur König, daß ich von der Kompanie und von dieser Garnison auf längere Zeit scheide. Ich bin zum Werbeoffizier für das Regiment bestimmt und soll nach Ostfriesland abgehen. Mancher hält solches Kommando für eine Gunst, und auch vom Stabe wird gratuliert, weil mir dadurch Gelegenheit geboten sei, den Major zu verdienen; ich aber hatte bis daher geglaubt, daß redlicher Dienst im Regiment mich solcher Ehre würdig machen könne, denn ich weiß, daß ich zum Marchandieren und Beschwindeln nicht passe, und mir ist, als wäre ich zu einer Kugel verurteilt.«

August dachte wohl, daß sein gradliniger Hauptmann guten Grund hatte, das Amt eines Werbeoffiziers zu scheuen. Nur übermütigen Gesellen, die nicht durch große Gewissenhaftigkeit belästigt wurden, war dies Kommando willkommen, es bot Gelegenheit zu flottem Leben in der Fremde und zu allerlei Nebenverdienst; auch Abenteuer fehlten nicht, die zuweilen gefahrvoll wurden. Und in tiefem Mitgefühl fragte der Jüngling, alle Vorsicht vergessend: »Wie aber wird es mit der Demoiselle Tochter werden?« Da ballte sich die Hand des Hauptmanns auf dem Tisch und er sagte in grimmiger Ratlosigkeit: »Das weiß Gott allein.«

Alles verwandelt

August wanderte zu Fuß der Heimat zu. Er hatte die Garnison in heller Freude verlassen, eine Strecke begleitet von dem Sekondeleutnant. Als dieser beim Abschiede traurig sagte: »Du bist glücklich, [] Bruder, daß du Eltern hast, die sich auf dich freuen. Eine Waise wie ich hat keine andere Heimat als bei der Fahne«, da empfand August mitleidig, wie groß das Unglück des Kameraden war, aber ihm selbst schwand nach diesen Worten plötzlich die frohe Zuversicht. Auch als er weiterzog über die braune Heide, in dürftigem Nadelwald und durch armselige Dörfer, blieb ihm eine Bangigkeit, über die er sich selbst wunderte. Oft hatten ihn der harte Dienst und das knappe Leben bedrückt, jetzt, wo er sich in größerem Wohlstand bei seinen Angehörigen zwanglos tummeln wollte, kam ihm vor, als trenne er sich von Glück und Hoffnung. Sein ehrlicher Hauptmann wollte ihm nicht aus dem Sinn, auch an die arme Friederike mußte er denken, wie sie die Trennung vom Vater ertragen werde, und vergebens mühte er sich, die Gedanken nach vorwärts zu richten und die Freuden des Wiedersehens auszumalen. Als er an einem sonnigen Sommerabend das erste sächsische Dorf erreichte, schallte ihm aus dem Wirtshaus Tanzmusik entgegen. Selbst dieser lustige Gruß, den das Vaterland bot, nahm ihm die Beklemmung nicht von der Brust; er fragte hastig die Wirtin, ob kein Wagen vom Gute der Eltern ihn erwarte Es war keiner da, und doch wußten sie zu Hause den Tag seiner An kunft. Die Wirtin sah ihn so seltsam an, als er seinen Namen nannte. »Es ist dort großes Feuer gewesen«, sagte sie, »der Gutshof ist abgebrannt.«

Das also war es, was er ahnend vorausempfunden, und ihm kam vor, als sei dies das Ärgste noch nicht, was er erfahren solle. Nach kurzer Rast brach er auf und ging im Mondenlicht weiter. Er kam in die Gutsflur, er sah die Brandstätte, aus welcher noch weiße Rauchwolken aufstiegen, vor sich. Das alte Wohnhaus wenigstens war erhalten, denn dort bewegten sich Lichter, aber niemand empfing ihn; er schritt durch die leere Wohnstube, riß die nächste Tür auf und sah seine Mutter und den Bruder regungslos an einem Bett sitzen und darauf seinen Vater ausgestreckt, regungslos und tot. Da warf er sich am Lager nieder und merkte in seinem heißen Schmerze nicht, daß die Mutter und der Bruder neben ihm niederknieten und ihn mit ihren Armen umschlangen.

Das Feuer war bei Nacht in den Wirtschaftsgebäuden ausgebrochen, der Hofherr hatte sich übermäßig angestrengt, das Vieh zu retten, den Tag darauf war er, vom Herzschlage getroffen, dahingesunken.

Nach den Tagen dumpfen Schmerzes saßen drei Unglückliche zusammen und fragten, wie sie das Leben fortan ertragen sollten. Der Tod eines guten und kräftigen Mannes, sowie der Verlust, welcher vorausgegangen war, hatten der Familie fast alles unsicher gemacht; der Wohlstand war in geldarmer Zeit tief erschüttert, die Gebäude wieder aufzubauen, den Verlust an Vieh und Gerät zu ersetzen, die Wirtschaft fortzuführen, erwies sich als schwer, und obgleich die gute Großmutter in der Stadt bereit war, nach Kräften auszuhelfen, so [] wurde doch der Beistand eines zuverlässigen Ratgebers unentbehrlich. Auch für die Söhne mußte ein Vormund bestellt und sein Rat über die Zukunft der Jünglinge eingeholt werden. Nächster Verwandter der Mutter war Herr von Mickau, der in der Nähe ein Rittergut besaß und für einen erfahrenen Geschäftsmann gehalten wurde. Der Mutter galt seine Wahl als selbstverständlich; zwar erhob Fritz bescheiden den Einwand, daß der Vater von der geschäftlichen Umsicht des Herrn Vetters nicht immer eine gute Meinung gehabt habe, aber der Mutter blieb der Gedanke unerträglich, einem anderen Einblick und Verfügung in ihren Angelegenheiten zu gestatten.

Herr von Mickau, ein kleiner gewandter Mann von höflichem und aufgewecktem Wesen, hatte früher sorglos gelebt und dem Hofe als Kammerjunker seine Dienste gewidmet, sich aber zu rechter Zeit, bevor sein väterliches Erbe vertan war, auf das Gut zurück gezogen; er hatte am Hofe noch immer gute Verbindungen und war Vertreter des benachbarten Landadels bei Staatsaktionen und feierlichen Anreden. Der Herr erklärte sich bereit, die Vormundschaft zu übernehmen, und gab verständigen Rat in so einnehmender Weise, daß auch Fritz nichts dagegen einzuwenden wußte. Es wurde beschlossen, daß der ältere Sohn nach Leipzig zurückkehren solle, seine Studien zu beenden, der jüngere aber während des Urlaubs als Beistand der Mutter zurückbleiben. Beim Abschiede sagte Fritz dem Bruder: »Wir sind im Wohlstande aufgewachsen und vielleicht in manchem verwöhnt. Mir ahnt, daß wir beide einmal in die Lage kommen werden, auf das angewiesen zu sein, was wir selbst verdienen. Laß uns immer daran denken.«

Für Madame König war in ihrer Trauer der einzige Trost, daß sie sich auf ihren Liebling stützen konnte, und daß dieser im Hofe und unter den Bauleuten mit einer Umsicht und Sicherheit gebot, welche weit über seine Jahre gingen. Als aber der Urlaub dem Ende nahte, bestand die Mutter leidenschaftlich darauf, daß August seine Entlassung aus dem preußischen Dienst fordere, weil er ihr unentbehrlich sei. Der Sohn widersprach ehrerbietig, doch auch der Vormund stellte sich auf Seite der Mutter und riet: »Dem schriftlichen Gesuch an die Kompanie muß der Form wegen ein ärztliches Zeugnis beigelegt werden, welches den Gesundheitszustand meines Neffen als ungenügend darstellt, denn auf die Änderung der Familienverhältnisse würde bei einem Ausländer keine Rücksicht genommen werden.« Das Zeugnis eines gefälligen Arztes wurde leicht beschafft und ging mit dem Abschiedsgesuch an den neuen Hauptmann der Kompanie. Gleich nach dem Tode des Vaters hatte August dem Major Vogt geschrieben, aber er hatte auf diesen Brief keine Antwort erhalten und später zufällig erfahren, daß der Major gar nicht mehr beim Regiment stehe, sondern weit hinaus an die holländische Grenze kommandiert sei.

[] Auf die Eingabe erfolgte in kürzester Zeit eine höfliche Antwort des früheren Premierleutnants von Klotzing, welcher jetzt die Kompanie als Hauptmann führte, daß die Aushändigung des Entlassungsscheins nur erfolgen könne, wenn Monsieur König sie persönlich in Empfang nehme; es sei deshalb eine Rückkehr in die Garnison und vielleicht eine Reise ins Stabsquartier notwendig.

Mit schwerem Herzen machte sich August auf den Weg. Widerwillig hatte er den Tränen der Mutter und dem Drängen des Vormundes nachgegeben, jetzt erschien ihm die Sache nicht so leicht, als der Vetter sie dargestellt, und bei seiner Ankunft in der Garnison war ihm zumute wie einem Verbrecher, der vor seinen Richter treten soll.

Und so war auch der Empfang, der ihm zuteil wurde. Der Hauptmann begrüßte seinen Freikorporal mit den Worten: »Es ist mir lieb, Monsieur, daß ich Euch hier habe«, holte von dem Aktenbrett das ärztliche Zeugnis, welches dem Gesuch beigelegt war, und zerriß das Papier und warf es vor Augusts Füße. »Wie konntet Ihr Euch unterstehen, mir mit solchen elenden Flausen zu kommen? Ihr habt Euch mit Worten vor des Königs Majestät und durch Revers gegen das Regiment verpflichtet, im preußischen Dienste zu bleiben, und seid deshalb zur Fahne avanciert. Wenn Ihr meint, daß es noch in Eurem Belieben steht, zu bleiben oder zu gehen, so will ich Euch lehren, Euer gegebenes Wort zu halten. Geht zur Stelle in Euer Quartier und tretet morgen bei der Kompanie an.« Und als August Vorstellungen erheben wollte, rief er mit einem Fluche: »Hinaus! Ich werde Euch Eure sächsischen Mucken vertreiben.« Der Korporal trat, bleich von mühsam bekämpftem Zorn, auf die Straße, als ein Gefangener, der in seinen Kerker geschickt wird. Leider war der erwähnte Revers vorhanden; der junge Korporal hatte ihn nach der ersten gnädigen Anrede des Königs unterschrieben, als eine bloße Förmlichkeit, die bei jedem Fremden, der in die preußische Armee trat, gebräuchlich war. Jetzt wurde die Unterschrift zu einem furchtbaren Gebot für die Tage seiner Zukunft. Als er in sein Quartier kam, vernahm er noch in Betäubung den warmen Gruß und die tröstende Zusprache seiner alten Unteroffiziere. Den ganzen Tag saß er wie erstarrt. Er mußte unaufhörlich an das Leid der Mutter denken, und was ihn am tiefsten demütigte, er war mit sich selbst unzufrieden, denn er hatte dem Hauptmann ein Recht gegeben, ihn rauh zu behandeln. Aber er war auch lange genug Soldat gewesen, um sich einem übermächtigen Zwange zu fügen. Deshalb trat er nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Tage vor den Hauptmann und begann ehrerbietig: »Ich bitte den Herrn Kapitän, mein Versprechen anzunehmen, daß ich mir im Dienst redlich Mühe und Seiner Majestät als honetter Soldat meine Treue erweisen werde, solange höchster Wille mich an der Fahne festhält. Vielleicht gewährt der Herr [] Kapitän späterhin einem Gesuch um den Abschied sein geneigtes Fürwort, wenn derselbe im Laufe der Zeit die Überzeugung gewinnen sollte, daß ich seiner Teilnahme nicht unwürdig bin.« Der Hauptmann aber versetzte darauf mit finsterer Miene: »Wer mit dem Gedanken umgeht, den Dienst zu verlassen, der ist in der Kompanie wenig nütze, und ich sage Euch deshalb geradeheraus, daß ich weder jetzt, noch in der nächsten Zukunft Eure Entlassung favorisieren werde. Erweist Ihr Euch als widerspenstig und unbrauchbar, so soll Euch hier bei uns der Teufel holen; und seid Ihr eifrig, wie Ihr mir versprochen habt, so kann Euch die Kompanie jetzt weniger entbehren als früher, da Ihr die Leute und die Umgegend kennt.«

Unter so trüben Aussichten begann August wieder den täglichen Dienst. Von den Offizieren war sein Freund Brösicke als Premierleutnant zu einer andern Kompanie versetzt, mit den neuen Leutnants, welche ihn kalt und abgeneigt betrachteten, kam er in kein gutes Verhältnis. Er erfuhr, daß Major Vogt vom Könige geadelt worden, wie bei höheren Offizieren Brauch war, und daß er immer noch auf Kommando abwesend sei.

Was den Korporal ein wenig mit seinem Schicksal versöhnte, war die französische Stunde. Mit zierlichen Worten und mit aufrichtiger Freude hatte ihn Monsieur Roncourt begrüßt, und bald plauderte der Alte wieder von dem früheren Kapitän und von seiner lieben Demoiselle. Das Mädchen lebte noch eingezogener als sonst, und wie der Franzose versicherte, waren er selbst und der Stieglitz die einzigen männlichen Charaktere, mit denen sie verkehrte. Es dauerte lange, ehe der Jüngling ihr begegnete, obgleich er immer bei ihrer Wohnung vorüberging, sooft er die Wache visitierte. Als er sie endlich einmal auf der anderen Seite der Straße erblickte, eilte er mit beflügeltem Schritt auf sie zu, und erst als er ihr nahe gekommen war, fiel ihm sein Versprechen ein, errötend hielt er mitten auf der Gasse an und nahm den Hut ab, wie vor einer Dame vom höchsten Stande. Mit Erröten und tiefer Verneigung dankte auch sie, und der teilnehmende Ernst, mit welchem sie auf ihn sah, gab ihm die Überzeugung, daß sie an seinem Schicksal Anteil nehme. Dabei blieb es freilich zwischen beiden, er grüßte, sie dankte, und Monsieur Roncourt trug, ohne es zu wissen, Botschaft hin und her.

Aber auch über dieses Verhältnis warf das Schicksal einen Trauerflor. Als Roncourt einst bei seinem Schüler eintrat, zog er sein Taschentuch und begann feierlich: »Monsieur König, ich kann heut nicht das Vergnügen Ihrer Konversation genießen, weil mir das Gemüt zu sehr bewegt ist. Ich habe soeben die Verzweiflung der Demoiselle Friederike angesehen; ihr Vater ist in Friesland bei seinem Werbegeschäft von einem rachsüchtigen Deserteur, der ihn hinter der Verkleidung entdeckte, erschossen worden.«

Auch dem Jüngling brachen die Tränen aus den Augen, ihm fiel [] die letzte Stunde ein, in der er seinen alten Hauptmann gesprochen hatte, und daß dieser Tod dem Mädchen alle Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zerstörte. Die beiden Vertrauten saßen kummervoll einander gegenüber, bis der Jüngere rief: »Was wird die Demoiselle jetzt beginnen?«

»Das ist mein größter Gram«, antwortete Roncourt, wieder nach dem Tuche greifend, »sie kann sich hier nicht allein erhalten, obwohl sie im Nähen geschickt ist und von den Kaufmannsfrauen zuweilen Arbeit erhält. Bis jetzt hat ihr der Vater jeden Monat einen Teil seines Soldes auszahlen lassen. Ach, Monsieur, es wäre mir eine Freude und Ehre, könnte ich ihr einiges von meinem Stundengelde, das ich nebenbei verdiene, zugehen lassen. Aber sie würde es in keinem Falle annehmen, und wenn sie verhungern sollte, denn darin hat sie den Stolz ihres Vaters.«

»Man müßte etwas erfinden, was ihr die Annahme möglich macht«, rief August.

»Das wäre gut«, sagte der Franzose, »aber was?«

Der Jüngling überlegte: »Wollen Sie versprechen, mich niemals zu verraten, so würde auch ich unserem guten Hauptmann zuliebe gern etwas beitragen. Sie wissen, daß ich seiner Güte viel verdanke und daß ich von Hause weit größeren Zuschuß habe, als ich bedarf.« Das letzte war eine fromme Lüge.

Roncourt schüttelte den Kopf: »Wenn ich als alter Knabe eine Wenigkeit für das Kind meines seligen Kapitäns abgebe, so ist das in der Ordnung; Sie aber sind ein junger Herr, und ich weiß nicht, ob ich im Interesse der Demoiselle Ihr gutherziges Erbieten annehmen darf.«

»Machen Sie sich das nicht schwer«, überredete August, »ich gebe nicht dem fremden Mädchen das Geld, sondern, wenn Sie erlauben, Ihnen. Das Honorar, welches Sie seither von mir anzunehmen die Güte hatten, war viel zu niedrig. Sie gestatten mir, daß ich es erhöhe. Wie Sie es verwenden, ist Ihre Sache und geht mich nichts an.«

»Das ist ein Vorschlag«, sagte der Franzose, immer noch bedenklich. Doch August fuhr eifrig fort: »Gegen das Fräulein geben Sie vor, daß ein alter Kamerad des Vaters brieflich bei Ihnen angefragt habe, an wen er von jetzt die monatlichen Abzahlungen einer alten Ehrenschuld, die er seither dem Hauptmann zugesandt, adressieren solle.«

»So kann es gehen«, stimmte der Alte bei, »erfinden Sie noch den Namen und den Ort.«

»Beides will der Schuldner geheimhalten und sich nur Ihnen anvertrauen«, belehrte der begeisterte Dichter. »Vielleicht hatte der Schuldner einen Kassendefekt begangen und ist durch die Hilfe des Hauptmanns vor der Verzweiflung gerettet worden.«

»Sie sind ein Diplomat und voll von Einfällen«, antwortete [] Roncourt mit Bewunderung. Auf diese Verabredung gaben die beiden einander die Hand.

Für den Jüngling begann eine Zeit unerhörter Wirtschaftlichkeit. Der kleine Zuschuß, welchen er seit dem Tode des Vaters noch erhielt, wurde von jetzt jeden Monat dem Franzosen gezahlt, und der Freikorporal sah sich auf seinen Sold beschränkt. Es war eine schwere Zumutung, die er sich gestellt hatte, aber er setzte seinen Willen siegreich durch, strich unbarmherzig jede Ausgabe, die er irgend vermeiden konnte, und erfocht in der Stille viele kleine Triumphe über die eigene Begehrlichkeit. Als Knabe hatte er gut verstanden, sich Genüsse zu erschmeicheln, jetzt zwang ihn ein wunderliches Verhältnis, sich unablässig Entbehrungen aufzulegen. Doch die größte Entbehrung entstand ihm dadurch, daß er sich selbst eine neue Schranke errichtet hatte, welche ihn von näherer Bekanntschaft mit dem Mädchen schied. Denn er mußte jetzt nicht nur den Willen eines Verstorbenen ehren, sondern auch sein eigenes gutes Werk. Eins freilich war durchaus nicht zu vermeiden. Er sah die Demoiselle fortan öfter, wenn auch nur von weitem. Denn sooft er der Versuchung entgehen wollte, mit seinen Kameraden einige Groschen im Wirtshaus auszugeben, brachte er die Zeit damit zu, daß er spazierenging. Auf solchen Gängen kam er an ihrem Hause vorüber. Als er sie zum erstenmal nach dem Tode ihres Vaters in Trauerkleidern am Fenster sitzen sah, blieb er stehen, sie aber öffnete das Fenster. Da reichte er ihr seine Hand hinein, sie hielt die Hand fest und weinte, und er sagte: »Auch ich habe meinen Vater verloren.« Das war alles, und dagegen hätte auch der Hauptmann nichts einwenden können. Wenn der Jüngling seitdem um diese Stunde vorüberkam, fand er das Mädchen fast immer hinter den Scheiben bei der Nähterei sitzen. War das Wetter leidlich, dann hing der Vogel im Bauer vor dem Fenster, so daß August zuletzt mutmaßte, sie habe ihn als Geber erkannt. Am Sonntag aber fand er sie regelmäßig in der Kirche, denn auch diese ehrwürdige Stätte besuchte er jetzt fleißiger als sonst. Sie mußte bei ihm vorüber, wenn sie eintrat und hinausging, und er beobachtete während des Gottesdienstes scharf ihre Andacht, nicht gerade zum Vorteil der seinen. Ja, zu der Neigung des stillen Liebhabers kam ihm etwas von der zärtlichen Sorgfalt eines Vaters. Er fing an, sich um ihre Kleidung zu kümmern, und wie er merkte, daß ihr ein warmer Wintermantel fehlte, hatte er an jedem kalten Tage bitteren Verdruß. Als ihm gegen Weihnacht der Fuhrmann von Frankfurt an der Oder die Kiste heranfuhr, welche die Mutter gefüllt hatte, da lud er am Abend vor dem Fest den alten Franzosen zu Gaste und widmete diesem das gesamte anmutige Beiwerk: ein Marzipanherz, Äpfel und Nüsse. Und Roncourt empfing die Sachen so vergnügt, daß August nicht im Zweifel blieb, wohin der Alte sie tragen würde.

[] Für die Armee kam ein unruhiges Jahr; der König hatte geboten, alle Landeskinder in Dorf und Stadt, welche nach Stand und Beschäftigung dienstpflichtig waren, aufzuzeichnen. Jeder von diesen erhielt eine rote Halsbinde, die er fortan zu tragen hatte, und jedem Regiment wurde eine Anzahl dieser Aufgezeichneten überwiesen, in der Regel die Leute aus der Umgegend seiner Garnison. Da nun die Bezirke nicht sofort abgegrenzt wurden, gab es Eifersucht zwischen den Regimentern, Streit mit den Ortsbehörden und Kampf gegen die Widersetzlichkeit der einzelnen Leute, und darum, was den Kompanien am lästigsten war, eine endlose Schreiberei. Niemals zu irgendeiner Friedenszeit war das Heer in solcher Schreibertätigkeit gewesen, und niemals hatten die Hauptleute so zornig mit Redensarten um sich geworfen, die in der Bibel nicht zu finden sind.

Auch der Korporal hielt in diesem Jahr weniger die Fahne in der Hand als die Feder, und er büßte für seine kursächsische Bildung dadurch, daß er in seiner Kompanie einen großen Teil der Schreiberei besorgen mußte.

So verging der Winter und das Frühjahr, das Regiment wurde diesmal nicht zur Revue gezogen, und August fand keine Gelegenheit, seine Entlassung zu betreiben. Er selbst war in dem Einerlei des Dienstes still und ernst geworden, ein fester Soldat, der gelernt hatte, harter Pflicht zu gehorchen, und er fühlte die Öde seines Daseins fast nur an den Tagen, wo er einen Brief der Mutter erhielt oder einen des Bruders, der in seiner glücklichen Freiheit ihm jetzt oft schrieb und zu geduldigem Ausharren mahnte. Ach, die Nachrichten aus der Heimat machten das Herz nicht leichter, die Mutter oft krank, dazu Geldsorgen und Gutsärger; auch von Dorchen vernahm man wenig, sie aß auf ihren Silbertellern in der Einsamkeit, die Kusine war immer noch leidend, und was am meisten zu denken gab, Frau von Borsdorf sah bekümmert aus und hatte nur einmal verlauten lassen, daß Jesuiten in dem Schlosse aus und ein gingen.

August wußte, daß der Hauptmann ihn nicht leiden mochte und fortwährend mit Mißtrauen betrachtete, obgleich seine Hilfe in dieser Zeit wertvoll war; deshalb erwartete er auch nichts Gutes, als er an einem Morgen mit ungewöhnlicher Höflichkeit angeredet wurde: »Monsieur König, Ihr sollt mir und der Kompanie einen Dienst leisten und für einige Wochen auf Kommando gehen. Ihr habt unsere Ersatzleute, welche hier und da in der Neumark wohnen, aufzusuchen und mit Pässen zu versehen, neue Burschen einzuschreiben und Euch nach verlorenen Leuten zu erkundigen. Betrachtet dies Kommando als einen Beweis meines Vertrauens; bin ich in dieser Sache mit Euch zufrieden, so will ich sehen, wieweit ich Euren Wünschen entgegenkommen kann.« Seit langem war unter den Offizieren von diesem lästigen Auftrage die Rede gewesen, der nicht dem Fahnenkorporal zukam, sondern dem Premierleutnant. Da der [] Korporal schweigend in straffer Haltung stand, fragte der Vorgesetzte: »Nun, habt Ihr etwas zu bemerken?«

»Ich stehe zu Befehl.«

»Ihr nehmt einen unserer Leute mit, der zuverlässig und in der Gegend gut bekannt ist, Ihr mögt ihn auswählen.«

»Ich bitte den Herrn Kapitän, selbst den Mann zu bestimmen«, versetzte der Korporal.

Das war dem Hauptmann unlieb, weil er die Verantwortung für den Mann gern dem Untergebenen zugeschoben hätte, doch sagte er nach einigem Nachdenken: »Nehmt den Böttcher. Er soll nur das Seitengewehr tragen, damit er vor den Leuten für einen Beurlaubten gelten kann. Ihr geht noch heut ab.«

Böttcher war ein Landeskind aus der Neumark, er hatte sich nach abenteuerlichem Leben vor mehreren Jahren freiwillig anwerben lassen und stand als verwegener Gesell und Spaßmacher der Kompanie bei dem Hauptmann in Gunst, obwohl sein Rücken mehr als einmal mit den Spießruten Bekanntschaft gemacht hatte. August fand bald Grund, sich zu der Wahl Glück zu wünschen, denn Böttcher erwies sich als ein Schlaukopf, welcher den unangenehmen Teil des Geschäftes mit Behagen auf sich nahm.

»Herr Freikorporal«, sagte er auf dem Wege, »die Bauern und auch die Schulzen sind wegen der roten Halsbinden ängstlich und widerbellig und werden Ihnen die Leute vertuschen. Verraten Sie nichts von unserem Kommando, wenn wir an einen Ort kommen; ich werde tun, als ob ich auf Urlaub gehe und nur zu fällig mit Ihnen zusammengetroffen bin, und ich werde vorher spionieren.« Das tat der Schelm, in jeder Dorfschenke erzählte er den Anwesenden Schnurren, gab vor, daß er aus der Umgegend stamme, und erkundigte sich mit erlogener Teilnahme nach seinen alten Bekannten, den jungen Burschen, deren Namen in der Liste standen oder die er im Nachbardorfe erkundet hatte. Waren die Leute ermittelt, so führte er seinen Korporal zu ihnen, damit dieser den Paß einhändige, durch welchen sie für Zugehörige der Kompanie erklärt wurden. Dabei verlief kein Tag ohne ärgerliche Abenteuer. Gleich im Anfange, als sie das Haus eines Taglöhners betraten, welcher drei Söhne hatte, verweigerten der Vater und die Söhne trotzig, die Pässe anzunehmen, und als endlich ernste Vorstellungen und Drohungen die Familie erschreckt hatten, begann ein herzzerreißendes Wehklagen und Schluchzen, und die Braut des ältesten Sohnes umklammerte die Füße des Korporals, so daß dieser Mühe hatte, die Fassung zu bewahren und tröstend versprach, wie er sich bemühen wolle, dem Bräutigam eine Heiratsbewilligung vom Hauptmann auszuwirken und auf Grund derselben Befreiung vom Dienste. Ein anderer Bursch wies den Paß zurück, weil er bereits bei einem benachbarten Regiment eingeschrieben sei, und August stieß feindlich [] mit einem Major dieses Regiments zusammen, welcher ihn heftig bedräute, weil er einen Mann seiner Rolle wegnehmen wolle und ihm selbst in Aussicht stellte, daß er ihn geschlossen zu seinem Regiment zurückschicken werde. Aber der Korporal ließ sich nicht beirren und drohte wieder: »Wenn der Herr Oberstwachtmeister glauben, hierzu berechtigt zu sein, so muß ich es mir gefallen lassen; ich weiß aber, daß mich Seine Hoheit der Markgraf kräftig verteidigen wird, da ich nur nach der Order meiner Vorgesetzten gehandelt habe.« Darauf wurde der Major sanftmütiger und verglich sich zuletzt mit dem Korporal, daß der Fall höchster Entscheidung vorgelegt werden solle. Wieder ein anderer Eingeschriebener hatte durch den Offizier eines anderen Regiments bereits die Erlaubnis zur Verheiratung erhalten, und der Korporal mußte bei dem Ortspfarrer im Namen seines Regiments gegen die Heirat Einspruch tun. Auch der alte, würdige Geistliche weigerte sich, diesen Protest anzunehmen, bis August ihm erklärte: »Ich stehe hier, um dem Befehl des Königs Gehorsam zu verschaffen; wollen Euer Ehrwürden diesem Befehl widerstehen, so tun Sie es auf Ihre Gefahr, ich aber verlasse Ihr Haus nicht, bis Sie mir einen Empfangsschein über den eingelegten Protest gegeben haben.« Da klagte der Pfarrer bekümmert: »Solange ich lebe, ist mir keine solche Zumutung von einem Unteroffizier gestellt worden«, aber er schrieb den Schein. Auch die verlorenen Leute des Regiments machten Mühe; der eine war vom Urlaub nicht zurückgekehrt, sondern hatte, um Handgeld zu erhalten, sich bei einem Garnisonbataillon anwerben lassen und mußte nach langem Hin- und Herreden aus dem Gliede herausgeholt werden; ein anderer hütete in der Montur eines benachbarten Regiments die Schafe und gab sich für einen Beurlaubten aus, es erwies sich aber, daß er den Rock nur gekauft hatte, um sich dem Dienste der Kompanie zu entziehen.

In dieser ungemütlichen Beschäftigung durchzog der Korporal mit seinem Begleiter mehrere Wochen die Landschaft. Sein Auftrag war beinahe zu Ende geführt, und er saß müde in der Schenke eines Grenzorts an der Warthe, da meldete Böttcher: »Es ist ein Flüchtling aus Polen draußen, ein Deutscher, dort hinten von der Weichsel her, er ist groß und hat leere Taschen. Wollen Sie ihn freihalten, so werbe ich ihn an.«

»Bring ihn her«, gebot August.

Ein kräftiger Gesell mit gescheitem Gesichte trat ein, grüßte höflich und wurde auf freundliche Einladung zu Speise und Trank bald zutraulich. Als Böttcher ihm mit Trinken zusetzte, ohne sich dabei selbst zu vergessen, lachte der Flüchtling: »Einwilliger Gaul bedarf nicht der Peitsche; ich merke, die Herren gehen darauf aus, mich anzuwerben.«

»Nur wenn Ihr bei nüchternem Mute selbst wollt«, antwortete [] August; »ich bin nicht hier, Fremde zu verlocken, und bot Euch an, unser Gast zu werden, weil ich hörte, daß Ihr ein Deutscher und ein armer Flüchtling seid. Trinkt ruhig, ich verspreche, es soll Euch zu nichts verpflichten.«

Der Fremde sah ihn dankbar an: »Wenn mir auf dem Wege der Zorn über die Polacken in den Kopf stieg, habe ich zuweilen daran gedacht, bei den Preußen in des Königs Rock zu fahren; es wäre mir eine Freude, die drüben einmal auszuhauen. Und ich habe als Gerbergeselle sonst hier wenig Aussicht, weil das Thorner Handwerk mit den deutschen Zünften nicht in Bruderschaft steht.«

Mit einem neuen Interesse fragte August: »Wenn Ihr in Thorn zünftiger Gesell wart, was hat Euch fortgetrieben? Erzählt, wenn Ihr keinen Grund habt, es geheimzuhalten.«

»Es wird laut genug, die Steine schreien davon«, versetzte der Thorner mit zornigem Blick. »Ihr habt gehört, daß wir Bürgersöhne mit den polnischen Studenten Krakeel hatten.«

»Es war etwas davon in der Zeitung zu lesen«, sagte der Korporal, »doch haben wir nicht viel darauf gegeben.«

»Bei uns aber wird's, wie ich fürchte, mancher teuer bezahlen«, sagte der Gast. »Wißt, die Polen haben die Schule von St. Johann in Thorn zu einem Jesuitenkollegium gemacht; darin liegt eine übermütige und liederliche Bande von adligen Polen, welche mit ihren Säbeln in der Stadt herumfegt und uns Bürgerkindern spinnefeind ist, weil wir nicht ihren Glauben haben und ihr trunkenes Geschrei nicht ruhig ertragen. In diesem Sommer hatten die Nonnen in unserer Neustadt eine große Prozession angestellt, und die jesuitischen Studenten mit ihren Säbeln waren auch dabei, wir aber, Gesellen und Kinder, standen außerhalb des Kirchhofs und sahen dem Spektakel zu. Als die Prozession bei uns vorbeikam, nahmen die meisten von uns um des lieben Friedens willen die Mützen ab, die Polnischen aber sprangen auf uns zu und schrien, wir sollten niederknien, und da wir widerstanden, zogen die bösen Buben ihre Säbel und hieben auf uns ein. Ich selber erhielt einen Schlitz am Ohr« – er wies die Narbe –, »so daß wir zornig wurden und die jungen Jesuiten zurückschlugen. Alsbald rotteten sie sich zusammen, liefen brüllend mit geschwungenen Säbeln durch die Gassen und fielen jeden Deutschen von unserem Glauben gewalttätig an, bis Herr Konsul Roesner einen von ihnen einstecken ließ. Da wichen sie zurück, kamen aber bald mit neuer Furie aus ihrem Kollegium hervor, zogen einen armen Studenten von der deutschen Stadtschule aus dem Hausflur, in dem er ruhig stand, schleppten ihn gefangen in ihr Kollegium und brüllten und rasten aufs neue durch die Gassen. Endlich riß uns jungen Burschen die Geduld, mancher war wie ich verwundet, auch wir liefen zu Haufen und drängten sie nach ihrer Schule zurück. Weil sie aber aus den Fenstern mit Steinen gegen uns [] warfen und mit Gewehren schossen, wurde das Volk wütend, drang in das Kollegium ein, zerschlug das Holzwerk von ihren Tischen und Bänken und verbrannte dies am Johanniskirchhofe in einem großen Feuer. Man sagt bei uns, daß vor langer Zeit an derselben Stelle die Pfaffen Dr. Luthers Bücher verbrannt haben. Die gesamte Bürgerschaft trat bewaffnet zusammen, mit Mühe gelang es den Herren Bürgermeistern, den Lärm zu stillen. Am anderen Morgen hießen wir Deutsche die Tumultuanten, die Tore blieben geschlossen, und vom Rat wurde nach uns gesucht. Ich hatte mich versteckt, wo mich niemand fand. Und die Sache schien zu Ende. Jetzt aber, im September, kam unversehens von Krakau eine polnische Kommission mit wildem Kriegsvolk in die Stadt gezogen, und es begann ein Nachforschen und Verhören, so feindselig und mit so grausamer Bedrohung, daß jedermann das Ärgste zu befürchten hatte, ja sogar unsere beiden Herren Bürgermeister wurden angefahren und wie Missetäter verhört. Da sagte mein alter Vater: Mach dich fort, denn jetzt naht der Tag, welcher prophezeit ist, wo es heißen wird: Das deutsche Thorn geht an die Polen verloren. Sieh zu, daß du dich ins Preußische durchschlägst, denn nur von dort kann uns Hilfe kommen. – Ich entwich bei Nacht über die Stadtmauer und hatte meine Not, bis ich über die Grenze gelangte.«

»Hier seid Ihr unter Landsleuten und in Sicherheit«, tröstete August. »Habt Ihr in Thorn zufällig ein deutsches Fräulein gesehen, welches bei Euren Bürgermeistern aus und ein geht und auf einem polnischen Schlosse wohnt?« – Er nannte den Namen.

»Das Fräulein kenne ich nicht, das Schloß aber gehört dem Woiwoden, der einer der schlimmsten Wüteriche gegen die Deutschen ist.«

Das also war das Glück des armen Dorchens unter Jesuiten und polnischem Adel! Der Korporal wurde einsilbig und überließ es seinem Beistand Böttcher, den Gast zu unterhalten. Die beiden sprachen leise miteinander, endlich begann Böttcher: »Der Thorner will sich bei unsrer Kompanie anwerben lassen, wenn er ein ordentliches Handgeld bekommt.«

»Wollt Ihr mit Eurem guten Willen zu uns, so seid Ihr mir willkommen«, sagte August erfreut, beredete mit dem Manne die Werbung und trank ihm darauf zu.

Der Thorner ging am nächsten Morgen mit Paß und Brief an den Hauptmann zur Garnison ab; der Korporal aber setzte seinen Weg fort, durchsuchte die letzten Dörfer und dachte vergnügt, daß ihm die saure Arbeit wohlgelungen sei. Am Nachmittage führte Böttcher auf dem Fußwege, der längs der Warthe hinlief, zu einer Stelle, wo dicht am Wasser einige Erlen standen und daran eine rohe Holzbank. »Hier ist eine Überfahrt«, sagte Böttcher, »und hier liegt der Kahn, auf dem der Pole herübergekommen ist, eine Stunde auf und ab ist dies der einzige Kahn. Warten Sie ein wenig, [] Herr Freikorporal, ich will zusehen, ob ich für mich etwas erfischen kann.« August setzte sich auf die Bank, und der Gemeine hakte die Kette des Kahnes los, sprang hinein, stieß ihn einige Schritte vom Ufer ab und setzte sich darin nieder. »Ich denke, Herr Korporal, wir haben unsere Geschäfte glücklich zu Ende geführt, und ich hoffe, Sie werden mit mir zufrieden sein.«

»Ja, Böttcher«, antwortete August behaglich, »du warst ein schlauer Gehilfe, und ohne dich hätte ich's nicht fertiggebracht.«

»Zuletzt habe ich der Kompanie einen Mann verschafft«, fuhr Böttcher selbstzufrieden fort, »der einen Zoll mehr hat als ich.«

»Der Hauptmann soll dein Verdienst erfahren, er wird sich wundern, wenn der Pole ankommt.«

»Da er kommt«, sagte der Soldat, »will ich gehen, Herr Freikorporal, ich desertiere.«

»Plagt dich der Teufel, Böttcher?« rief der überraschte Korporal. »Hast du einen Grund, unzufrieden zu sein?«

»Das gerade nicht, versetzte der Gemeine, aber es ist mir langweilig geworden. Ich will einmal zusehen, was jetzt unter den Polen los ist. Greifen Sie nicht erst hinter sich, Herr Korporal, ich habe in Ihre Taschenpistole heut früh Wasser gegossen.«

August zog die kleine Waffe hervor, die ihm der Vater beim Abschiede geschenkt hatte, und spannte den Hahn. »Ich hab's gemerkt, ich dachte, der gestrige Gewitterregen wäre schuld, ich habe aber frisch geladen.« Und er richtete die Waffe auf den Ungetreuen, der sich unterdes durch einen Stoß weiter abgebracht hatte. »Komm zur Stelle zurück, Kerl, du weißt, daß ich dich niederschießen muß, wenn du nicht gehorchst.«

»Ich lasse es darauf ankommen«, sagte Böttcher, sich weiterschiebend. Der Schuß krachte, Böttcher hielt mit dem Kahn still.

»Die kleinen Dinger treffen nicht weit. Daß Sie aber auf mich geschossen haben, ist mir um unserer Freundschaft willen unlieb«, rief der Ausreißer nach dem Ufer herüber. »Zur Entschädigung dafür nehme ich die Montur unseres braven Königs Knirps mit in das Polnische, sie gibt dort mehr Ansehen als ein Freipaß, denn die Polen traktieren jeden preußischen Ausreißer mit Branntwein. Adieu, Herr Freikorporal, kommen Sie gut nach Hause. Halten Sie sich auf dem Wege links, sonst geraten Sie in den Modder.« Er stieß den Kahn an das andere Ufer und verschwand im Weidengebüsch. August steckte seine Pistole in die Tasche und eilte zurück zum nächsten Dorfe. Dort erzwang er durch ernste Vorhaltungen die Begleitung des Schulzen und einiger handfester Leute. Nach längerem Umwege kamen sie über den Fluß und forschten in den Grenzdörfern jenseits nach dem Flüchtling. Er war bereits gemächlich über die Grenze gegangen. Da der Korporal wußte, daß die Verfolgung über die Grenze hinaus der Kompanie zwei Mann gekostet hätte [] statt des einen, so mußte er unverrichtetersache über den Fluß zurück und seinen Weg allein fortsetzen. Wahrlich in düsterer Stimmung. Denn er ahnte, daß die Flucht eines treulosen Helfers ihm bei der Rückkehr üblen Empfang bereiten werde. Auch sonst waren seine Betrachtungen unerfreulich; die Sonne neigte sich zum Untergang, er sah um sich eine öde Moorgegend, aus der er so bald als möglich herauskommen mußte, von der Garnison war er noch weiter als einen starken Tagemarsch entfernt, und sein Geld ging zu Ende, denn er hatte dem angeworbenen Mann, der von allen Mitteln entblößt war, einen Vorschuß auf das Handgeld gemacht. Er schritt also unzufrieden mit sich und der Welt vorwärts und war froh, als er bei Sonnenuntergang aus den Sümpfen heraus in eine Kieferheide gelangte. Der Abend wurde kalt und finster, der Weg schien endlos, zuletzt erkannte er in einer Lichtung die Umrisse einiger Gebäude und hörte Hundegebell. Er ging darauf los und kam an die Hütte eines Teerbrenners, den er durch starkes Klopfen am Fensterladen endlich bewog, die Haustür aufzuschließen. Nach langen Verhandlungen erlaubte der ungefällige Mann ihm ein Nachtlager auf dem Heuboden, wo der Gast frierend und bekümmert und keineswegs beruhigt über seine Sicherheit sich in halbem Schlummer umherwarf. Als er bei grauendem Morgen aufbrach, goß der Regen in Strömen, und der Brenner weigerte sich, etwas von dem einzigen Laib Schwarzbrot zu verkaufen, der den Vorrat des Hauses ausmachte; kaum war Auskunft über den nächsten Weg zur Stadt zu erhalten.

Als August endlich eine kleine Landstadt erreichte, war seine Kraft erschöpft; müde, durchnäßt, hungrig und mit leerer Tasche zog er ein und sah auf dem Markte nach einem Quartier aus. Da stand an der Einfahrt des Eckhauses ein junger Mann in Hemdsärmeln, rotbäckig, mit breiten Schultern und einer offenen Miene, welcher ihn anredete: »Herr Sergeant, wonach sehen Sie sich um?« August antwortete: »Nach einem guten Wirt.«

»Kommen Sie herein«, sagte der Mann. Er führte ihn in eine große Stube, in welcher eine hübsche junge Frau saß, ihr Kind auf dem Schoße. Die Stube war sauber mit gelber Farbe getüncht, rotgestrichene Tische und Bänke standen darin, und im Ofen brannte ein wohltätiges Feuer. August grüßte die Frau und fragte, wie Soldatenbrauch war, nach dem Namen des Wirtes. »Ich heiße Schulze«, sagte dieser, »und bin ein Brandenburger. Räume die Ofenbank, Pine, damit der Herr Sergeant sich trocknet.« August setzte sich und genoß schweigend die behagliche Wärme, während der Wirt ihm mit untergeschlagenen Armen zusah. Endlich begann der Gast: »Lieber Herr Schulze, mich hungert.«

»Es ist schon gesorgt«, antwortete der Wirt.

»Aber geben Sie mir keine Mahlzeit«, fuhr August fort, bedrückt [] durch seine Geldlosigkeit, »denn ich habe nur wenig in der Tasche.«

»Das wird sich alles finden«, sagte Schulze. »Es ist Mittagszeit, und auch wir wollen essen. Sie müssen vorlieb nehmen mit dem, was wir im Hause haben. Pine, decke auch für den Herrn Sergeanten.«

Die Frau setzte das Kind ihrem Manne auf das Knie und ging behend nach der Küche. Der Wirt sah ihr wohlgefällig nach und nickte dem Gaste zu: »Sie versteht's.« Darauf ließ er seinen Jungen auf dem Knie reiten, zuerst langsam, wie die Bauern, dann im Trabe wie die jungen Herren, bis der Kleine ins Feuer kam und seinerseits durch »Hott« und »Hü« den Vater antrieb. Unterdes legte die Wirtin ein reines Tischtuch auf und brachte die Speisen, deren kräftiger Geruch den Hungrigen mit frohen Hoffnungen erfüllte.

»Kommen Sie, Herr Sergeant«, sagte Schulze, »nichts geht über einen Teller Grützesuppe, wenn man durchnäßt ist.«

Der Gast aß wacker, so daß er sich selbst seines Appetits schämte, der Wirt aber gab ihm darin nichts nach, während er mit der Frau in freundlichem Zureden abwechselte und aus einer großen Kanne fleißig Kottbuser Bier einschenkte. Dabei erzählte der Korporal ein wenig von seiner sächsischen Heimat und von dem Kommando, welches ihn hierherführte, und verbarg nicht, daß ihm die Betrübnis der Leute, welche er aufgesucht, die Arbeit oft schwer gemacht hatte.

»Ich glaub's wohl«, sagte der Wirt, »denn manchen trifft es hart und grausam. Jedoch dazu sind wir alle da, die einen zahlen die Steuern, während die anderen marschieren, damit die Fremden Respekt vor uns behalten. Als mein Großvater jung war, hausten die fremden Kriegsvölker hier am Orte wie Mordbrenner und Kannibalen, und die Bürger wurden wie die Hunde erschlagen, von den Weibern und Kindern gar nicht zu reden. Als aber mein Vater jung war, hieben wir Brandenburger den Schweden, der sich noch einmal ins Land gewagt hatte, mit unseren Fäusten hin aus; seitdem haben wir Sicherheit, unsern Weibern wird keine Schmach mehr angetan, und unsere kleinen Kinder werden nicht mehr unter die Hufe der Pferde geworfen. Wenn nur von den Herren Offizieren Billigkeit geübt wird, so ist die Last für das Volk zu ertragen. Unsere Landeskinder, soweit sie wirklich eingezogen werden, dienen nicht gar lange und kommen klüger nach Hause zurück, als sie gegangen sind. Ich denke, es ist bei uns in Stadt und Land, obgleich wir viele Soldaten unterhalten, mit der Nahrung und mit dem Verdienst nicht schlechter bestellt als bei Ihnen in Sachsen oder anderswo in Deutschland. Denn unser König führt einen schweren Stock, aber er sorgt auch wie ein Vater für die Blauen und für uns andere in Hemdsärmeln.«

August freute sich über die kluge Rede, denn auch er fühlte zuweilen [] wieder den Stolz eines Preußen, und er saß mit seinem Wirt längere Zeit in gutem Gespräch zusammen, obwohl er die Mattigkeit immer noch merkte. Als er nach Tisch aufbrechen wollte, forderte er seine Rechnung, da sagte Schulze: »Drei Maß Bier zu einem Drittel, welches auf Sie kommt, macht soundso viel; das Essen bezahlt der liebe Gott.«

Und als August sich sträubte, diese Gastfreundschaft anzunehmen, schnitt Schulze seine Einrede durch, indem er nachdrücklich begann: »Lieber Herr Sergeant, ich habe aus Ihren Worten gemerkt, daß Sie von gutem Herkommen sind und zuweilen mehr Geld im Beutel haben, als vielleicht heut. Bietet sich Ihnen Gelegenheit, so können Sie damit einmal einem armen Soldaten etwas Gutes tun. Ich aber nehme von Ihnen weiter nichts; der Herr hat mir ein gutes Stück Brot beschert; meine Frau, die Sie hier sehen, habe ich geheiratet und diesen Gasthof mit dazu bekommen. Wir sind glücklich in unserem Hauswesen, warum sollte ich Ihnen nicht dies wenige angedeihen lassen? Nehmen Sie vorwillen.« Die Hausfrau sprach leise zu ihrem Mann. »Die Frau sagt mir eben«, fuhr Schulze fort, »daß ich Sie zum späten Nachmittage nicht fortlassen soll, weil Sie erschöpft sind. Nun weiß ich, daß Herrendienst allem vorgeht, aber wenn es Ihnen nichts verschlägt, so ruhen Sie sich erst in einem ordentlichen Bette aus, heut können Sie doch nicht mehr weit und morgen holen Sie mit frischer Kraft das Versäumte ein. Das ist Pines Meinung, und die Frau hat recht. Schlagen Sie ein.« – Er hielt ihm die Hand hin. August schlug dankbar ein. Als er am andern Morgen aufbrach, schritt er zwischen dem Wirt und der Wirtin bis zum Haustor, wo zum letzten Abschied auch noch das Kind dem Gaste die Hand reichen mußte.

Herr Schulze und seine Frau wußten nicht, wie wohl ihre Freundlichkeit dem vereinsamten Jüngling tat, der auf dem Weitermarsch immer daran dachte, daß sein Vater gern hilfreich gegen Notleidende gewesen war, jetzt zahlten Fremde dem Sohne die Guttaten zurück. Auch sein harter Dienst dünkte ihm in diesen Stunden nicht mehr eine unwürdige Sklavenarbeit, die einfachen Worte des Brandenburgers hatten ihn gemahnt, daß etwas Großes darin war.

Am späten Nachmittag erreichte August die Garnison. Da der Hauptmann nach Tisch leicht unwirsch wurde, so besorgte der Heimkehrende, daß sein Aufenthalt bei dem freundlichen Wirt ihm jetzt seinen Rapport erschweren könne. Diese Annahme betrog ihn nicht. Als er eintrat, empfing ihn der Hauptmann mit Vorwürfen über seine lange Abwesenheit, auch der Bericht über die gelungene Ausführung des Auftrags minderte den Unwillen nicht, und als der Korporal zuletzt die Flucht des Böttchers berichten mußte, verlor der Hauptmann alle Herrschaft über sich, schleuderte rohe Flüche auf das Haupt seines Untergebenen und beschuldigte ihn der Willfährigkeit[] gegen den Entflohenen und der Feigheit bei der Verfolgung. Da geriet auch August in Zorn und rief mit blitzenden Augen: »Herr Kapitän, ein solcher Angriff auf meine Ehre ist ungerecht und unvernünftig.« Der Wütende riß den Degen aus der Scheide: »Ihr Höllenhund wollt noch räsonieren?« und drang mit der blanken Waffe auf ihn ein. Der Korporal sprang, um sich dem Trunkenen zu entziehen, zur Tür hinaus und die Treppe hinab, aber der Offizier rannte ihm nach, fuchtelte ihm mit der Degenklinge auf den Rücken und rief zu dem Feldwebel, welcher mit einigen Unteroffizieren auf der Straße vor dem Quartier stand: »Führt den Sakramenter in Arrest.«

August hatte bis dahin das Glück gehabt, niemals die Züchtigung mit der flachen Klinge zu erfahren, welche den Unteroffizieren und Junkern zugeteilt wurde, weil sie den Betroffenen nicht die Ehre minderte, was die Stockschläge getan hätten, die den Gemeinen zukamen. Als er nun heut so schwere Kränkung erfuhr, wo er freundliche Billigung erwarten durfte, empörte sich seine Seele gegen die Ungerechtigkeit, und wie der Feldwebel ihm nach dem Seitengewehr faßte, sprang er zurück und legte die Hand an den Griff. Da drang der Hauptmann mit entblößtem Degen aufs neue gegen ihn ein und hieb ihn über die Hand, daß das Blut hervorspritzte. Die Unteroffiziere drängten sich in guter Meinung an den Verwundeten, um diesen am Gebrauch seiner Waffe zu hindern, und der Feldwebel entriß ihm das Seitengewehr; er wurde auf die Wache geführt und dort auf Befehl des nachstürmenden Hauptmanns mit der gesunden Hand an die Strafsäule geschlossen, während der Feldscher geholt ward, die Wunde zu verbinden. Der Mann sagte bedauernd: »Es hat wenig gefehlt, daß Ihnen die Hand für immer gelähmt wurde.«

August saß totenbleich und trotzig in der strengen Haft. So mußte es kommen, dachte er, damit ich der ungerechten Fesseln entledigt werde. Lieber will ich das mühselige Leben in der Jugend endigen, als mich fernerhin in so schändlicher Weise zum Sklaven machen zu lassen. Und kein tröstendes Zureden der Unteroffiziere vermochte ihm ein Wort abzugewinnen. Nach einer Stunde kam der Hauptmann, den der Vorfall ernüchtert hatte, in ganz veränderter Stimmung, er gebot den Arrestanten loszuschließen und versuchte begütigende Worte, aber er erhielt nur die Antwort: »Ich war des Königs Unteroffizier, aber nicht Ihr Sklave.«

Nach einigen Tagen wurde der Korporal zu dem gütlichen Verhör geführt, welches der kriegsgerichtlichen Untersuchung vorausging. Dazu waren ein Premierleutnant und der Auditeur vom Stabe gesandt, der Sekondeleutnant von der Kompanie zugezogen. August wußte, daß er sich vor einem Soldatengericht keines anderen schweren Unrechts schuldig gemacht hatte, als der Weigerung, sein Seitengewehr [] abzugeben, und er versuchte sich zu verteidigen: »Ich bin nie bestraft worden und fühlte in jenem Augenbilck am tiefsten die Schande, auf der Straße arretiert und ohne Gewehr durch die Stadt nach der Wache geführt zu werden. Ich hatte nicht die Absicht, mich gegen die Verhaftung selbst aufzulehnen, und wollte nur das Gesuch stellen, mich mit dem Seitengewehr nach der Wache gehen zu lassen, als ich mit dem Degen angefallen und verwundet wurde.« Darauf bat er zu Protokoll zu nehmen, wie der Hauptmann am ersten Tage der Rückkehr sein Abschiedsgesuch behandelt, wie er ihn von der Fahne weg zu angestrengtem Dienst in die Schreibstube gesetzt und ihm zuletzt das schwierige Offizierskommando zugeteilt habe. Er erzählte das Benehmen bei der Rückkehr, die ungerechten Vorwürfe, die ihm wegen der Desertion des Böttcher gemacht worden, den nicht er, sondern der Hauptmann selbst ausgewählt. »Wie kann mir ein Vorwurf gemacht werden, daß ich ihn, der an meiner Seite ging, in den Kahn springen ließ, da ich, auf seine Hilfe angewiesen, vier Wochen mit ihm im Lande umhergezogen bin, wo er jeden Tag eine Gelegenheit finden konnte, zu entweichen? Was mir auch geschehen möge, ich erkläre hier, daß ich mich keines strafbaren Unrechts schuldig weiß, wohl aber mit bitteren Schmerzen fühle, daß ich grausam behandelt und in meiner Ehre gekränkt worden bin.«

Als er in den Arrest zurückgeführt ward, empfand er den besten Trost eines empörten Gemütes, daß er seinem Herzen Luft gemacht und, was ihn lange bedrückt, freimütig ausgesprochen hatte. Die Haft wurde ihm durch die Teilnahme der Unteroffiziere erleichtert; er vernahm auch, daß sein Fall schwerlich vor ein Kriegsgericht kommen werde, und daß der Hauptmann für einige Wochen beurlaubt sei.

Eines Abends saß der Korporal beim Kreuzerlicht über einem Buche, als Unteroffizier Roncourt eintrat. Der Alte hatte ihn so oft besucht, als der Dienst gestattete, und durch sein Geplauder bleischwere Stunden erträglich gemacht, heut sah er sehr ernsthaft aus: »Demoiselle Friederike wünscht Sie zu sprechen.« August fuhr in die Höhe: »Sie wissen, daß das unmöglich ist.«

»Es ist keiner von den Offizieren bei Wege. Der Unteroffizier der Wache sitzt in der Stube und sieht nichts, der Posten unter dem Gewehr wird Ihnen den Rücken kehren, Sie müssen innerhalb der Vergatterung bleiben; das Fräulein steht draußen. So können Sie mit ihr reden.«

»Was ist geschehen?« fragte August mit trüben Ahnungen.

»Sie geht fort«, sagte Roncourt traurig.

Der Jüngling eilte hinter ihm ins Freie. An dem Lattenzaun sah er eine verhüllte Gestalt, er ging auf sie zu und suchte durch die Stäbe ihre Hand zu fassen, die sie ihm nicht entzog.

[] »Der Herr war meinem verstorbenen Vater lieb«, begann das Mädchen leise. »Es ist zum letzten Male, daß ich Sie sehe, und ich wollte Ihnen Lebewohl sagen.« Sie stützte sich an den Zaun und weinte.

»Warum müssen Sie fort?«

»Ich habe Herrn Roncourt genötigt, mir zu bekennen, woher die Unterstützung kam, durch welche ich in der letzten Zeit hier erhalten wurde. Ich weiß jetzt, wie großmütig der Herr an mir gehandelt hat, und ich danke Ihnen dafür von ganzer Seele. Aber das darf nicht so fortgehen. Dem Andenken an meinen Vater bin ich schuldig, mir andere Unterkunft zu suchen. Es ist mir Aussicht auf eine Stelle gemacht, morgen früh reise ich mit der Frau eines Kaufmanns ab.«

»Wohin?« fragte der Jüngling wie betäubt.

»Fragen Sie nicht, Monsieur König, vergessen Sie mich; nein, denken Sie zuweilen an mich wie an eine Verstorbene; ich werde Ihrer Herzensgüte gedenken, solange ich lebe.« – Er fühlte den bebenden Druck ihrer Finger, da zog er in der Bewegung ihre Hand durch den Zaun und küßte diese. Das gebeugte Mädchen richtete sich auf und sagte fast freudig: »Ich danke Ihnen für diesen letzten Gruß. Ich gelobe dem Herrn, wenn er in Zukunft jemals von mir erfährt, es soll demselben nicht leid tun, daß er einem Mädchen von meiner Lage die Hand geküßt hat.« Sie zog ihr Tuch um sich, und kaum hörbar klang ihr Lebewohl, dann verschwand sie in der Dunkelheit; der Gefangene aber legte sein Haupt an den Zaun, der ihn von ihr schied.

Auch dieses Band, welches ihn noch in der Garnison festhielt, war zerrissen. Er saß den Rest des Abends in dumpfem Schmerze auf seiner Bank und suchte sich mit dem Gedanken zu ermutigen, daß solche Freundschaft auf die Länge doch nicht ohne Worte und Verkehr geblieben wäre. Und was hätte dann werden sollen? Erst in dem Weh, welches er nach der Trennung fühlte, wurde ihm bewußt, wie sehr sein Herz an der Verschwundenen hing. Als der Franzose wieder eintrat, machte er ihm heftige Vorwürfe, daß er gegen das Abkommen den Anteil des Jünglings an den Sendungen verraten habe.

Roncourt stellte sich feierlich vor ihn hin: »Sie haben Grund, Monsieur König, mit mir unzufrieden zu sein, und wenn Sie auf Genugtuung bestehen, so werde ich mich nicht weigern. Aber mir blieb keine Wahl, denn Demoiselle Friederike forderte die Mitteilung um ihrer Ehre willen, und sie hatte ein Recht dazu. Wenn Ihnen, dem jungen Manne, leid ist, daß sie geht, was soll ich, der Alte, sagen, der mit ihr fast alles verliert, was seinem Leben eine Freude war? Sie hat mir den Vogel in Kost gegeben, wollte ihn aber nicht verschenken, denn sie meinte, er wäre ihr vor aller ihrer Habe lieb, und sie hoffe, mich und den Vogel noch einmal wiederzusehen. An den Trost muß ich mich halten.«

[] Die Haft hatte einige Wochen gedauert, als der Feldwebel eilig den Gefangenen aufrief: »Mein Herr Bruder soll sogleich zum Major Vogt kommen; dieser ist aus dem Stabsquartier eingetroffen, und ich denke, er bringt auch in deiner Sache die Sentenz.« August geriet in große Bewegung, der Überbringer seines Urteils erschien ihm glückverheißend, dennoch bangte ihm jetzt vor der Entscheidung. Sein Empfang belehrte ihn, daß die Sorge nicht unbegründet war, denn der Major begann mit strenger Miene: »Ihr habt Euch gegen Euren Kapitän schwer vergangen, Ihr habt ihm ins Angesicht sein Verhalten ungerecht und unvernünftig gescholten und habt Euch, die Hand am Seitengewehr, der Verhaftung widersetzt. Wenn er darauf die blanke Waffe gebraucht hat, so habt Ihr Euch Glück zu wünschen, daß Ihr nur mit einem leichten Hiebe davongekommen seid, ein anderer hätte Euch schlimmer mitgespielt. Seine Hoheit der Markgraf haben mir befohlen, Euch diese Order vorzulesen: Der Freikorporal König hat künftig den Respekt gegen seinen Kapitän besser zu beobachten, widrigenfalls man ihn mit der empfindlichsten Strafe belegen wird. Für diesmal ist er wegen seiner Jugend und bewiesenen Applikation aus besonderer Gnade zu pardonieren, auch wieder in Dienst zu stellen. – Dankt unserem gütigen Chef«, ermahnte der Major wieder gebieterisch, »wäret Ihr in meiner Kompanie gewesen, es wäre Euch viel schlechter ergangen.«

»Hätte doch der Himmel gefügt, daß mir dieses Glück zuteil geworden wäre«, antwortete August, »der Dienst ist mir im letzten Jahre schwer gemacht worden.«

»Harter Dienst erzieht eher zum Soldaten als leicht gewonnene Zufriedenheit«, sagte der Major. »Mit großem Bedauern habe ich den Tod Eures Vaters vernommen, Eure Anzeige fand ich erst in diesen Tagen bei meiner Rückkehr vor. Wäre der würdige Mann noch am Leben und hätte er von diesem Streit mit Eurem Hauptmann gehört, er würde Euch mit den Worten ermahnt haben: Mein lieber Sohn, dein Hauptmann darf gegen dich nicht unrecht behalten.« Und er legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter.

Das warme Wohlwollen, welches hinter dieser Mahnung erkennbar wurde, gab dem Korporal den Mut, sein früheres Gesuch um Entlassung zu erwähnen und für jetzt wenigstens um Urlaub zu bitten. Da aber furchte sich die Stirn des Majors. »Ein solches Gesuch vermag ich nicht zu befürworten, auch ist die Zeit dafür übel gewählt. Es stehen Verwicklungen bevor, welche einem Soldaten verbieten, seine Fahne zu verlassen.« Mit diesem Bescheide mußte August vorliebnehmen. Als der Hauptmann einige Tage darauf in die Garnison zurückkehrte, fragte er erstaunt den Korporal: »Wie? Seid Ihr los? Was habt Ihr für Strafe bekommen?«

»Der hohe Chef hat mich begnadigt.« Da sagte der Hauptmann: [] »Haben gute Freunde diesmal bei Seiner Hoheit für Euch gesprochen, so werde ich Euch von heut ab auf den Dienst passen. Sobald ich die geringste Widersetzlichkeit merke, sollt Ihr die Bekanntschaft mit meinem Degen in ganz anderer Weise machen als bisher.«

Der Unteroffizier schwieg und machte kehrt.

Von Thorn nach Berlin

Fritz hatte ausstudiert, war Magister geworden und hatte die Prüfung bestanden, welche ihn zur Übernahme eines geistlichen Amtes berechtigte. Durch seine Professoren war er einem Grafen von Hannover empfohlen, welcher am englischen Hofe lebte und einen Erzieher für seinen Sohn suchte; zum Winter sollte der neue Kandidat mit der Familie des Grafen nach London abreisen, jetzt kehrte er in die Heimat zurück, froh der guten Aussichten für seine Zukunft.

Er fand die Mutter erkrankt. Seit dem Tode des geliebten Mannes war ihre Gesundheit erschüttert; die traurigen Nachrichten, welche sie von August erhielt, hatten ihr die letzte Kraft genommen. Weinend saß sie neben dem Sohne, der jetzt an Stelle des Gatten das Haupt der Familie werden sollte, und hielt gerade den Brief in der Hand, in welchem August von der Tyrannei des Hauptmanns und von seinem Arrest geschrieben, als Frau von Borsdorf eintrat. Auch diese hatte einen traurigen Brief in der Tasche und fand kaum höfliche Worte, um ihre Freude über die glückliche Heimkehr des Herrn Kandidaten auszudrücken. Beide Mütter hatten einander lange das Unglück ihrer Kinder zu bergen gesucht, heut aber vermochte Dorchens Mutter mitfühlende Herzen nicht zu entbehren. Sie zog unter Tränen den Brief der Tochter hervor, Dorchen war nicht mehr bei ihren Verwandten, sondern hatte sich in der Stadt Thorn unter Vermittlung der Frau Bürgermeisterin Zernecke bei redlichen Leuten eingemietet. Dort aber war ihr Aufenthalt nicht sicherer geworden; die Stadt unter den Händen wilder polnischer Banden; in den Familien der Bekanntschaft Schrecken und Todesangst, so daß die Tochter flehentlich bat, ihr nach der Heimat zurückzuhelfen. Als Frau von Borsdorf über dem Brief die Hände rang, sagte Fritz: »Ich bin bereit, zur Stelle abzureisen, um Fräulein Dorchen zu holen, wenn mir Frau von Borsdorf das Zutrauen schenkt und die liebe Mutter mir's gestattet. Den Rückweg nehme ich durch das Preußische, vielleicht vermag ich dem Bruder in irgend etwas zu helfen.«

Frau von Borsdorf war allzu bewegt, um die schicklichen Einwendungen gegen das angebotene Opfer vorzubringen, sie nahm es mit gerührtem Danke an; auch der Mutter war willkommen, daß Fritz bei dem Bruder vorsprechen wollte, denn sie setzte bereits auf die Umsicht ihres Ältesten ein festes Vertrauen. Und Fritz trat, nachdem [] er sich die nötigen Pässe besorgt hatte, unter den Segenswünschen der Frauen die polnische Reise an.

An einem kalten Dezembertage fuhr er über die lange Holzbrücke der Weichsel. Über ihm bargen dunkelgraue Wolken das Sonnenlicht, ein kalter Sturmwind heulte ihm aus den Steppen des Ostens entgegen, unten wälzte der Strom seine hochgeschwollenen Fluten dem Meere zu, schäumte und gurgelte zornig an den Eisböcken und Pfählen der Brücke. Die vieltürmige Stadt vor ihm war mit Mauern und Bastionen umschanzt, aber die Erdwerke standen zerrissen und die Mauern durchlöchert von der letzten Belagerung her, das Stadttor war mit einer polnischen Wache besetzt, welche den Reisenden anherrschte und erst nach langem Aufenthalt einließ. Da Friedrich in den Straßen ein wirres Menschengedränge sah, stellte er sein Fuhrwerk in eine Herberge am Tor und ging, ohne sich aufzuhalten, vorwärts.

Er betrat eine ansehnliche Stadt, um ihn ragten hohe Häuser, von denen viele alte Steinverzierung wiesen, und große Kirchen mit Strebepfeilern; es war viel fremdes Volk in den Gassen, verwegene Gestalten mit wirrem Haar in geflickten Pelzen; auch polnische Reiter in ihrer fremden Tracht schritten zu dreien oder vieren mit klirrendem Säbel stolz durch die Menge. Aber die deutschen Bürgersleute trieben auf der Straße verstört umher, alle mit finsteren Mienen, viele verhärmt und bleich; in den Haustüren standen die Weiber beieinander und rangen die Hände, auch wohlbekleidete Männer gingen gebückt und scheu ihren Weg dahin. Den Fremden beachtete niemand, ja, ihm schien, als wenn Männer und Frauen die Blicke von ihm abwendeten. Er kam zu einer Unglücksstunde. War eine Pest ausgebrochen oder ein Feind in das Land gefallen? Lange sah er keinen ruhigen Mann, den er sich zu fragen traute. Ein Trupp polnischer Trabanten zog dem Markte zu, wilde Gesellen mit großen Schnauzbärten, in langen Pelzröcken, die Hellebarden in der Faust. Sie nahmen die ganze Breite der Straße ein, und er wurde an der Marktecke zur Mauer eines Hauses gedrängt, wo Rüstzeug durcheinander lag. Von da blickte er über den Platz; er war mit Gruppen schweigender Stadtleute gefüllt, die auf ein Gerüst von Bohlen und Brettern starrten, über welchem die Zimmerleute arbeiteten. Kein lautes deutsches Wort wurde gehört, zuweilen nur ein polnischer Zuruf der Arbeiter. Als er auf die steinerne Türschwelle des Eckhauses trat, fand er die Tür halb geöffnet und dahinter einen bejahrten Mann in Bürgertracht, auch diesen mit einem unheimlichen Ausdruck von Schrecken und Trauer. Da faßte er sich ein Herz und fragte höflich nach der Wohnung des Herrn Rat Roesner. Als der Bürger deutsche Worte hörte, kam er aus dem Hausflur hervor, aber nach der Anrede sah er den Fragenden so überrascht und argwöhnisch an, daß Friedrich rief: »Um Gottes willen, was geht hier[] vor? Ich bin ein Fremder, soeben angekommen, Sie sind der erste, den ich zu fragen wage.« –

»Sie sind ein Fremder?« wiederholte der Mann grimmig, »und Sie wollen Herrn Rat Roesner besuchen? Warten Sie noch einen Tag, dann können Sie ihm von dieser Haustür gerade ins Gesicht sehen, wenn er auf dem Gerüst kniet und sein Kopf von den Schultern fällt.« Friedrich trat entsetzt zurück. Als der Bürger den Schrecken des Fremden sah, brach er klagend aus: »Als noch keiner wußte, was kommen würde, hat es mir geahnt, denn da oben« – er wies über sich – »griff seine Hand nach dem Armesündergewand, und ich sah, wie er vor den Blutflecken schauderte.« Dem Jüngling fuhr in seinem Schrecken die Ahnung durch die Seele, daß er vor dem Hause seiner Väter stand. »Wollen Sie gestatten, daß ich für kurze Zeit eintrete?« bat er tonlos.

Der Hausherr schloß hinter ihm die Haustür und öffnete seine Stube. »Setzen Sie sich«, sagte er, auf einen Lederstuhl weisend, »ich merke, auch Sie sind erschrocken. Sind Sie evangelisch?« Friedrich nickte: »Ich bin Kandidat der Theologie.«

»Und Sie wollten zu unserem Herrn Rat?« fragte der Wirt kopfschüttelnd weiter, »woher sind Sie denn, daß Sie das Unglück nicht wissen?«

»Ich komme auf geradem Wege aus Kursachsen.«

»Da kommen Sie zur rechten Stunde, um mit anzusehen, was Ihr Kurfürst, der bei uns König von Polen heißt, den Deutschen für ein Fest bereitet. Weil der Pöbel den polnischen Studenten die Fenster des Kollegiums eingeschlagen hat, sollen morgen neun Bürger und Bürgerskinder geköpft und gevierteilt werden und dazu unsere beiden Herren Bürgermeister, den Polen und Pfaffen zur Satisfaktion.«

Friedrich stand schweigend am Fenster, sah vor sich das Gerüst und die dunklen Gestalten darauf. Nach einer Weile begann er: »Wundern Sie sich nicht über mein Benehmen, Herr Hannus; mein Name ist König, und Vorfahren von mir haben in alter Zeit dieses Haus besessen.«

»Kennen Sie meinen Namen«, rief der Bürger erstaunt, »so ist mir auch der Ihre nicht fremd, die Herren Konsuln haben ihn genannt, und dieser Bekanntschaft wegen hat auch die Frau Bürgermeisterin das sächsische Fräulein bei uns in Kost gegeben.«

»Ist Fräulein Dorothee in Ihrem Hause?« fragte der Jüngling, und geschwunden waren im Nu der Zorn und die Trauer. Der Bürger wies über sich. »Sie wohnt oben, die Stube ist neu eingerichtet, auch ein Ofen ist darin.«

Fritz sprang die Treppe hinauf; er pochte an eine Tür und vernahm das »Herein« einer Stimme, deren süßer Ton ihm in den Jahren der Trennung oft im Ohr geklungen hatte. Als er das geliebte [] Mädchen an dem alten Fenster mit Glasrauten sitzen sah bei einem Gebetbuche, blieb er auf der Schwelle stehen.

Dorchen fuhr in die Höhe und schaute die große Gestalt, ein rosiges Licht überzog ihre Wangen, und sie hielt sich in freudigem Schreck an die Tischecke. Das war das Antlitz des Jugendfreundes, aber er war zum Mann geworden, die Züge fest, breit die Brust, sicher die Haltung und der Wuchs noch höher, als sie sich gedacht. Als er sprach: »Die Mutter schickt mich, das liebe Fräulein nach Hause zu holen«, da brachen ihr die Tränen aus den Augen, und sie flog ihm mit einem Freudenruf entgegen. In schnellem Tausch von Frage und Antwort suchten beide ihrer Bewegung Herr zu werden; Fritz berichtete hastig von der Heimat und von der Trauer der Mutter, und während er sie an der Hand hielt, erzählte sie von allem Leid, das sie in schweren Jahren still getragen: von dem Unglück ihrer Cousine, welche, krank und durch den rohen Gatten vernachlässigt, allen Halt verloren hatte und in devoten Bußübungen Hilfe suchte, dann von dem wilden polnischen Haushalt, von der Unordnung und Vergeudung und daß sie selbst bei allem Glanze, der sie umgab, doch durch die Verwandten hart wie eine Dienerin behandelt worden sei, und zuletzt von dem Einzug eines zügellosen Trosses polnischer Edelleute in das Schloß und von ihrer Flucht. Es kam heraus, obgleich sie es zu verbergen suchte, daß man ihr die Zumutung gestellt hatte, an den Gelagen teilzunehmen, welche mit gefälligen Frauen der Umgegend dicht neben den Zimmern der kranken Schloßherrin begangen wurden. Ein trunkener Haufe polnischer Junker war ihr eines Abends bis in die Stube der Kranken gefolgt, und sie hatte sich an dem Bett ihrer Cousine festgeklammert, um die Zudringlichen abzuwehren. Da war sie am nächsten Morgen, als noch alles schlief, begleitet von einem deutschen Diener der Woiwodin, aus dem Schlosse abgereist und hatte in der Stadt Zuflucht gesucht. Auch hierher hatten sie die Bekehrungsversuche der Geistlichen verfolgt, und der Rektor des Kollegiums war mehreremal zu ihr gekommen und durch seine Ermahnungen beschwerlich geworden.

Dem Theologen wurde heiß bei dem Gedanken an die Gefahr, in welcher die Seele des Mädchens gewesen, und er fragte zuerst: »Es ist den Fremden doch nicht gelungen, Zweifel in dem Gemüt des lieben Fräuleins zu erregen?« Aber ihre Antwort beruhigte ihn: »Auch ich habe in dem Umgange mit Ihrem seligen Vater einen Schutz gewonnen.«

»Wie aber steht es mit Ihrer Sicherheit?« fuhr Fritz in seiner Angst fort. »Hat der Pole Sie nicht als seine Verwandte zurückgefordert?«

»Ich habe es gefürchtet«, antwortete Dorchen, »doch ist es nicht geschehen. Ehe ich aus dem Schlosse ging, flehte ich die Cousine fußfällig [] an, mich ohne Hindernisse ziehen zu lassen und bis zur Heimreise vor Verfolgung zu schützen. Das versprach mir die Arme in Wehmut, ich verdanke wohl ihrer Fürbitte, daß man mich von dort her unbeachtet ließ.« Und in überströmender Bewegung rief sie aus: »Wie ein Engel des Himmels erschien mir der Herr Kandidat, als er in der Tür stand. Denn Tag und Nacht flehte ich um Rettung aus dieser Stätte des Unglücks. Hier im Hause habe ich menschenfreundliche Pflege gefunden, aber jetzt ist auch hier alles verstört.« Fritz sah sich in dem Zimmer um. »Dies ist die Stube«, sagte Dorchen leise, »dort an der Wand stand der Schrank mit dem blutigen Gewande, und ich habe mich oft des Abends gefürchtet, wenn ich hier allein saß.«

Die Frau des Hausbesitzers trat herein, Fritz dankte ihr im Namen der Familie, und die Rede kam auf die Schrecken der Gegenwart.

Im Gasthofe, der mit polnischem Kriegsvolk gefüllt war, fand der Reisende mit Mühe ein Unterkommen. Der mutlose Wirt wies ihn ab, und es bedurfte der Fürsprache eines entschlossenen Hausknechts: »Wir dürfen doch unsere Vettern aus dem Deutschen nicht wegen der polnischen Schnauzbärte wegjagen? Da ist noch das Stübchen neben dem Hamburger Kaufmann, die beiden können sich miteinander unterhalten.« Auf diese Empfehlung wurde Fritz angenommen und fand in seinem Stubennachbar, der ihm an der Treppe entgegentrat, einen artigen jungen Mann, welcher über den jämmerlichen Zuständen die gute Laune nicht verloren hatte und höflich sagte: »Ich habe seither bedauert, daß hier keine Geschäfte zu machen waren, jetzt werde ich dafür durch die Ankunft des Herrn und das Vergnügen seiner Nachbarschaft entschädigt. Kann ich Ihnen in dieser verwirrten Stadt behilflich sein, so bin ich zu allen Diensten erbötig.« Darauf stellten die Herren sich einander vor. Als der Hausknecht den Namen König hörte, wurde sein Gesicht noch schlauer, als es zuvor gewesen war; er erklärte dem Gaste: »Dieser also ist Herr Buschmann, ich aber heiße Schlegel«, und bewies ihm fortan in den kleinen Diensten des Hauses die größte Aufmerksamkeit.

Als Fritz das Fräulein wiedersah, sagte er: »Noch etwas Schweres habe ich mitzuteilen. Wenn die Sorge um Ihre Sicherheit es gestattet, so muß ich sogleich unsere Geistlichen aufsuchen und mich erbieten, ihnen in ihrem heiligen Amte bei den Verurteilten zur Seite zu stehen. Denn ich hörte, daß bereits einige der Prediger in eigener Todesgefahr geflohen sind, und daß die übrigen durch die Jesuiten bedroht werden, weil sie von ihrer Pflicht nicht weichen wollen. Da wird ihnen vielleicht die Hilfe eines Landsmanns willkommen sein.«

Dorchen wagte kein Wort des Widerspruchs, obwohl sie sich um [] die Gefahr des Jugendfreundes ängstigte, sie hüllte sich schnell in die Enveloppe und führte ihn zu ihrem Bekannten, dem Herrn Prediger Köhler. So stark war die Spannung dieser Tage und so verzweifelt die Stimmung, daß der ehrwürdige Herr dem Fremden, nachdem dieser sein Anerbieten getan, weinend um den Hals fiel und ihn sogleich zur Begleitung aufforderte. Bis zur Nacht weilte Friedrich in den Zellen der Verurteilten. Dann saß er still und bleich im Hause seiner Vorfahren, umgeben von der liebevollen Sorge der Hausgenossen. Als Dorchen in zärtlicher Besorgnis ihn bat, auch an sich selbst zu denken, sagte er: »Bedauern Sie mich nicht meines Amtes wegen, wünschen Sie mir Glück, denn ich habe heut Großes erlebt; bedauern Sie vielmehr uns alle darum, daß es ein deutscher Fürst und unser Landesherr ist, welcher dieses greuliche und in der Christenheit unerhörte Bluturteil gegen Deutsche hierhergesandt hat. Morgen früh aber bitte ich das Fräulein und unsere Gastfreunde, die Fenster des alten Hauses zu verhängen, die Tür verschlossen zu halten und in einer Hinterstube für die Armen zu bitten, damit das Schreckliche von Ihren Augen fernbleibe.«

Am nächsten Tage wurde zuerst Herr Konsul Roesner im inneren Hofe des Rathauses mit dem Schwert gerichtet, dann auf offenem Markt, grausam und unter Martern, neun Bürger und Bürgersöhne, von denen mehrere an dem Tumult gar nicht beteiligt waren. Als Friedrich in der Schreckensstunde den Zug der polnischen Reiter sah, welcher das Schafott umringte, das fremde Kriegsvolk an den Ecken des Marktes und auf dem traurigen Gerüst die Unglücklichen im Armensünderkleide, da wirbelte in seinem Haupte Gegenwärtiges und Vergangenes, was er vor sich sah und was einst an derselben Stätte geschehen war, wild durcheinander. Waren es Fremde, die vor seinen Augen geopfert wurden, war es einer seiner Vorfahren, oder war er es selbst, der in Todesnot stand? Die Schläge der Totenglocke klangen ihm wie ein Schreckenston, den er schon einmal in seiner Kindheit gehört. Und als einer der Verurteilten, der im Preußischen geboren war und den er im Gefängnis besucht hatte, mitten in dem Totengebet mit heiserer Stimme murmelte: »Unser König wird uns rächen«, da wußte Friedrich auch, daß er die wilde Rede nicht zum erstenmal hörte; schon früher, vor langer Zeit, ob im Wachen oder im Traume, war der Ruf nach Rache in sein Leben gedrungen. Und ihm war, als ob alle Büßer im Armensünderkittel sich gegen ihn neigten und mit heiserer Stimme von ihm Rache heischten. Lange stand er so, gepeinigt durch einen Sturm der Leidenschaft, und er faltete in der Bedrängnis die Hände. Da stieg das Bild des verstorbenen Vaters vor ihm auf, er dachte an das klare, feste, liebevolle Wesen, neigte das Haupt und bat in der Weise des Vaters, daß der Himmel ihm seine Seele festigen möge gegen die Dämonen der Wut und Rachsucht. –

[] Gern hätte Friedrich seine Jugendfreundin an demselben Tage hinweggeführt, aber der Fuhrmann verweigerte die Fahrt. In der Stadt waren die Häuser geschlossen, weil man eine Plünderung durch die Polen befürchtete, aus der Umgegend kamen Schreckensgerüchte von bewaffneten Banden, welche den Deutschen auflauern sollten. So wurde er gezwungen, noch mehrere Tage zu verweilen. Er sah in dieser Zeit den zweiten Bürgermeister, Herrn Zernecke, für den sich der Adel der Umgegend verwendet hatte und dessen Schicksal noch unsicher zwischen Leben und Tod schwebte; der milde, auf alles gefaßte Herr fand einen Trost darin, mit dem Landsmanne von dem traurigen Geschick seiner Stadt zu reden und von der unsicheren Zukunft des polnischen Preußens an der Weichsel. In diesen Tagen war auch der Hamburger zuweilen ein willkommener Gesellschafter, er bewies sich als ein kaltblütiger und beherzter Mann, der mit Verachtung in die wilde Unordnung hineinsah und die Sorge um das eigene Behagen nicht vergaß. Er blieb dem Sachsen treu zur Seite und machte bei Gängen durch die Stadt gern den Führer.

Als der Hamburger erfuhr, daß Friedrich mit einem Fräulein, welches ihm anvertraut sei, nach Berlin abreisen wolle, sagte er warnend: »Möge der Herr nicht für anmaßend halten, wenn ich einwende, daß der Weg bis an die preußische Grenze noch keineswegs sicher ist. Die Polen sind wie aufgestörte Hornissen in Bewegung, und ein sächsischer Paß wird den Herrn nicht schützen. Derselbe braucht entweder eine polnische Eskorte oder einen Passierschein von den großen Woiwoden der Gegend.«

»Beides habe ich nicht«, versetzte Fritz bekümmert, »ich muß es darauf ankommen lassen.« Herr Buschmann schüttelte den Kopf: »Ich möchte dem Herrn nicht zudringlich erscheinen; doch da auch ich in das Deutsche zurückkehre, so wage ich den Vorschlag, daß wir die Reise bis Berlin miteinander machen und uns in die Kosten teilen; ich habe mir Passierscheine verschafft, und meine Gegenwart könnte Sie vor Unannehmlichkeiten von seiten der Polen bewahren.«

Der Kandidat empfand, daß er dafür dankbar sein müsse, und doch war ihm die Gesellschaft des Fremden durchaus nicht willkommen. Er entschuldigte sich deshalb höflich, daß er dem Fräulein die Entscheidung überlassen müsse. Als er zu Dorchen von dem Anerbieten sprach, nahm sie es eifriger an, als ihm lieb war. »Mir ist der Gedanke fürchterlich, daß Sie meinetwegen noch in Gefahr kommen könnten.«

Als er aber den Tag vor der Abreise in das Hoftor trat, winkte ihm der Hausknecht nach dem Stall und begann, auf den Besen wie auf ein Zepter gestützt: »Herr Kandidat König, Sie sind ein guter Mann, aber Ihr Bruder ist schlauer.«

»Wie, Schlegel, du kennst meinen Bruder?« fragte Friedrich überrascht.

[] Der Knecht nickte. »Jetzt bin ich nur ein Schlegel, früher war ich der Böttcher selbst und stand mit Ihrem Bruder in einer Kompanie. Ich bin der Veränderung wegen desertiert. Aber diese polnische Schlächterei gefällt mir nicht« – er spuckte zornig aus –, »sogar die Henker sind hier betrunken. Und sollten Sie Ihren Bruder wiedersehen, so sagen Sie ihm: Wenn mir der Hauptmann einen Pardonbrief schickt, so komme ich zur Kompanie zurück. Das ist mein Geschäft, ich aber wollte von dem Ihren reden. Ich habe Sie zu dem Hamburger gebracht, weil Sie von der richtigen Größe sind und ich dem splendiden Herrn eine Freude verschaffen wollte. Als ich aber ihren Namen hörte und von ihrer Verwandtschaft mit Markgraf Albrecht, taten Sie mir leid, obgleich Ihr Bruder auf mich geschossen hat.«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte Fritz ungeduldig.

»Das ist's ja eben; Ihr Bruder würde mich schon verstehen. Nämlich der dort oben ist kein Hamburger und heißt nicht Buschmann, sondern ist ein Edelmann und ein preußischer Werbeoffizier, welcher Sie eingefangen hat. Leicht genug haben Sie es ihm gemacht.«

»Du kommst sogleich mit, ich werde ihm deine Aussage vorhalten.«

»Ich werde nicht kommen, und Ihnen würde das auch nichts nützen«, versetzte Böttcher. »Denn wenn Sie ihn hier abschütteln, was Sie ja leicht können, so reist er Ihnen nach und läßt Sie als Rekruten arretieren, sobald es ihm im Preußischen gelegen ist.«

»Und wenn ich nicht über Berlin zurückkehre?«

»Dann reist er Ihnen durch Polen nach und Sie mögen sich verlassen, daß er auf dem Wege für sein Geld Helfer findet, welche Sie festnehmen.«

»Du unterstehst dich, mit mir zu scherzen.«

»Nein«, versetzte Böttcher, »Sie haben mehr als zwölf Zoll, da hört aller Spaß auf. Wer so groß ist, der kommt nach Potsdam, das ist wie Amen in der Kirche, mag er ein Russe oder ein Engländer sein. Mich wundert's, daß Sie als Student den Werbern entlaufen sind.«

»Sagst du mir das, um mich zu schrecken, so wisse, daß ich nicht furchtsam bin. Redest du in guter Absicht, so sprich kurz, wie die Gefahr zu meiden ist.«

»Sie wollen durch das Preußische?« fragte Böttcher.

»Ich habe ein Gesuch an den König.«

Böttcher pfiff durch die Zähne: »Dies wird Knirpsen schon recht sein. Doch das ist Ihre Sache. Für diesen Fall ist meine Meinung: Der Hamburger reist auf Werbung für einen mächtigen Mann, für den Fürsten Leopold von Dessau. Das weiß ich, weil er so unvorsichtig war, durch mich einen Brief an den Feldmarschall auf die Post zu schicken. Deshalb wird ihm viel daran liegen, Sie wohlbehalten in Berlin abzuliefern; denn wenn er Sie auf dem Wege [] dorthin bei einem Regiment festhalten läßt, so behält Sie das Regiment, und ihm entgeht der Fang. Darum meine ich, daß Sie bis Berlin, solange er Ihnen nicht mißtraut, durchaus nichts von ihm zu fürchten haben, zumal auch eine Demoiselle von Adel bei Ihnen ist. In Berlin aber dürfen Sie nicht in das Quartier gehen, zu dem er Ihnen raten wird, sondern müssen einen Schutz suchen und Ihre Wege vor ihm verbergen. Ich kenne die Schliche, denn ich selbst war eine Zeitlang im Dienst eines Werbers, und ich weiß auch, daß die vom Regiment Schulenburg und Markgraf Albrecht, welche hier zunächst an der Grenze liegen, meinem Hamburger auf den Dienst lauern, weil er ihnen die größten Leute für den Dessauer wegfängt.«

Fritz antwortete: »Laß mich eine Weile nachdenken.« Er setzte sich auf eine Bank, und Böttcher fuhr mit dem Besen umher. Nicht lange, und der Jüngling sprach aufstehend: »Deiner Rede glaube ich; deinem Vorschlag aber folge ich nicht, und den Betrüger nehme ich nicht mit auf die Reise. Doch wenn du selbst in das Preußische zurückwillst und deinen Dienst hier sogleich aufgeben kannst, so führe ich dich bis Berlin als meinen Bedienten mit.« Böttcher sah ihn groß an: »Sie sind doch klüger, als ich dachte. Jetzt lassen Sie mich überlegen. Fort von hier kann ich jeden Augenblick; gehe ich mit Ihnen, so weiß der Hamburger, daß ich ihn verraten habe, er wird sich an mir rächen wollen, und fängt er uns, so schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe. Auf der anderen Seite freie Reise, außerdem guter Lohn, denke ich.« Friedrich nickte. »Und Böttcher auf dem Bock des ersten Wagens und kapabel, dem, der hinter uns fährt, einen Nebel vorzuhexen.« Diese letzte Aussicht gefiel ihm am meisten. »Ich gehe mit, wenn Sie mich als Diener des Fräuleins in den Paß schreiben lassen, und wenn Sie mir versprechen, Ihre Rechnung mit dem Hamburger erst morgen abzumachen, denn sonst könnte er mir noch heut etwas zuleide tun.« Das versprach Friedrich. Am nächsten Morgen früh bat er den Fremden in die Wirtsstube und sagte ihm leise, daß er Grund habe, ihn für einen preußischen Werbeoffizier zu halten. Herr Buschmann war nur einen Augenblick betroffen, dann entgegnete er drohend: »Um meiner Sicherheit willen bestehe ich darauf, zu erfahren, wer dem Herrn diesen Verdacht beigebracht hat.«

»Nicht an dem Herrn Offizier ist es, mir zu drohen«, antwortete Fritz. »Demselben ist bewußt, daß ein lautes Wort von mir ihm unter den Polen große Unannehmlichkeit bereiten kann. Ich fürchte, der Herr hatte die Absicht, mich in einen Zustand zu versetzen, der für mich lebenslängliche Gefangenschaft wäre; ich darf jemand, den ich unter den Fremden für meinen Landsmann halte, nicht in ein ähnliches Unglück bringen und werde schweigen, wenn der Herr mich nicht zu anderem nötigt.«

»Ich bin dem Monsieur König für diese Rücksicht verbunden«, [] versetzte der falsche Buschmann mit höflichem Lächeln. »Auch ich habe Pflichten zu erfüllen gegen die Firma, für die ich reise, und bitte daran zu denken, wenn meine Bekanntschaft dem Herrn in Zukunft einmal zu einer unangenehmen Erinnerung werden sollte.« Beide grüßten einander, Friedrich verließ den Gasthof. Vor dem Hause seiner Ahnen erwartete ihn der Reisewagen, in den durch Böttcher schon vor dem Morgengrauen das Gepäck eingestaut war. Er hob das geliebte Mädchen in den Wagen, schüttelte dem Hauswirt die Hand, warf noch einen traurigen Blick über die alten Hausmauern und den Marktplatz und fuhr zum Tore hinaus. Erst vor der Stadt stieg Böttcher, der sich in einen alten Lakaienmantel gehüllt hatte, beim Kutscher auf.

Auf dem Wege brauste der Sturm und flog der Schnee; hinter den Reisenden lagen Verwüstung und Schrecken, vor ihnen das friedliche Leben der Heimat. Um Dorchens Mund spielte wieder das holde Lachen, welches einst dem Jugendgespielen so entzückend gewesen war, und der Kandidat verlor viel von der feierlichen Strenge, die ihm unter den Polen auf der Stirn lag. Nie hätte Dorchen für möglich gehalten, daß der ernste Mann so zarter Sorgfalt fähig wäre, wenn er sie bat, sich fester zu verhüllen, wenn er unablässig kleine Erfindungen machte, um den Schnee abzusperren, der sich das Eindringen durchaus nicht wehren ließ, und vollends, wenn sie abends in die Herbergen kamen, in denen die Wirtsleute das Dorchen immer für die gnädige Frau hielten. Da bewies der Kandidat so viel ritterliches Zartgefühl, daß Dorchen zuweilen ängstlich wurde, denn er brachte die Nacht jämmerlich zu, während sie selbst auf leidlichem Lager ausruhen konnte. Aber er war nicht allein gut, er war auch sehr gescheit. Während er sie von vielem unterhielt, was die Frauen damals nicht sehr kümmerte, über das polnische Wesen, welches dem Fräulein völlig verleidet war, und über das preußische, vor dem die Sächsin eine unbestimmte Scheu hatte, erschien ihr alles, was er sagte, großartig, und über jedes hatte er seine eigenen Gedanken, so daß ein verständiges Mädchen sich gar nichts Besseres wünschen konnte, als immer mit ihm durch die Welt zu fahren. Es begegnete ihnen auch so wenig Ärgerliches, als auf einer Reise nur möglich war. Einmal blieben sie in einer Schneewehe stecken, aber während der Fuhrmann eine Schaufel aus dem Wagen zog und den Weg zu räumen begann, stapfte Friedrich gleich einem Hünen den Schnee mit den Füßen nieder, so daß die Pferde hindurch konnten. Ein andermal brach ein Rad, und der Wagen neigte zur Seite, so daß Dorchen aufschrie, da ergriff ihr Begleiter das Handbeil des Fuhrmanns, schlug im Nu einen Baumast ab und stemmte ihn mit Riesenkraft unter den Wagen. Und während der Fuhrmann nach dem nächsten Dorfe ritt, um ein Rad zu holen, und die Reisenden beim Zwielicht im Kieferwald festsaßen, wo viel Ursache war, sich vor [] Räubern zu ängstigen, da wußte der Kandidat lustig zu erzählen, wie er auf der Leipziger Tour einmal im gefüllten Wagen umgeworfen war, und die klagenden Frauen und Kinder aus dem Gewimmel im Korb des Wagens wie aus einem Bergwerk ans Tageslicht herausgezogen hatte, so daß gar keine Angst aufkommen konnte. Wurden die Reisenden ja einmal angehalten, so verhandelte der neue Diener mit dem ungefügen Volk in polnischer Sprache, er schrie noch lauter als die Angreifer, und die stürmischen Überfälle endigten nach kleinen Geschenken in Versöhnung.

Fritz fuhr nicht in demselben guten Vertrauen, er sah öfter besorgt rückwärts und sprach leise mit dem Diener. Aber auch ihm wuchs die Zuversicht, als sie ungefährdet die preußische Grenze erreicht hatten und auf geradem Wege der Hauptstadt zurollten.

Bei der letzten Raststelle vor Berlin sagte Böttcher vertraulich: »Noch ist der Hamburger uns nicht vor, und ich glaube auch nicht, daß er eine andere Straße gewählt hat, denn dies ist der kürzeste Weg und der beste.«

»Wahrscheinlich folgt er uns gar nicht«, antwortete Fritz. Der Diener schüttelte den Kopf: »Sie sind ihm wohl tausend Taler wert, dafür lohnt sich's, den Weg zu machen.«

Sie waren noch nicht weit gefahren, als ein leichter Wagen sie überholte. Böttcher ließ den Fuhrmann in einem Gehölz halten und bat den Kandidaten, auszusteigen. »Das war der Offizier«, flüsterte er. »Er hat sich vermummt, ich erkannte ihn doch; er ist immer hinter uns her gewesen; jetzt, wo er uns zu haben meint, jagt er voraus. Er wird der Torwache den Befehl geben, uns festzuhalten, während Sie die Pässe vorzeigen. Wir aber fahren sogleich vom Wege ab und versuchen, auf einer anderen Seite in die Stadt zu dringen. Hat er noch nicht Zeit gehabt, uns bei allen Toren anzumelden, so kommen wir durch. Auf jeden Fall bitte ich Sie, mir hier meinen Lohn zu geben. Denn in der Stadt suche ich mir sogleich einen Schlupfwinkel.«

Der Wagen lenkte vom Wege ab, und während Dorchen in freudiger Hoffnung auf die Rauchwolke sah, welche am klaren Winterhimmel über der großen Stadt schwebte, erwartete ihr Begleiter mit klopfendem Herzen die bevorstehende Einfahrt.

Der Schnee lag auf der Straße, und die Wintersonne warf ihre kalten Strahlen darüber, als die Reisenden ohne Hindernis in Berlin einfuhren. Fritz gab der Torwache als Zweck der Reise ein Gesuch bei Seiner Majestät an und als Aufenthalt die Wohnung des sächsischen Geschäftsträgers, dessen Frau eine Verwandte Dorchens war und dieser die weitere Reise in die Heimat vermitteln sollte. Dem sächsischen Beamten teilte er die Gefahr mit, in welcher er schwebte, aber ihm wurde die verlegene Antwort: »Unsere Stellung ist jetzt in Berlin so schlecht, daß wir darauf gefaßt sind, selbst abzureisen, und unsere Verwendung in dieser widerwärtigen Angelegenheit würde Ihnen mehr [] schaden als nützen.« Da beschloß Fritz, es darauf ankommen zu lassen. Er erhielt einen Diener zur Begleitung, der ihn vor das Schloß führen sollte, damit er dem König, wenn dieser von der Wachtparade zurückkehre, sein Gesuch mündlich vortrage. Denn es war bekannt, daß König Friedrich Wilhelm zu dieser Stunde Bitten und Eingaben gern persönlich in Empfang nahm.

Fritz wartete am Schloß, er dachte, daß diese Stunde auch über sein eigenes Leben entscheiden könne, aber er war nach dem Schweren, was er erfahren, in einer so gehobenen Stimmung, daß in ihm kein Bangen aufkam, obgleich die Offiziere der Portalwache ihn nicht aus den Augen ließen und leise miteinander sprachen. Endlich kam der König mit einem großen Gefolge von hohen Offizieren heran, und der Diener raunte dem Harrenden einige Namen zu. Der nächste beim Könige war der Fürst von Anhalt-Dessau. In demselben Augenblick trat ein Offizier an den Dessauer, und Fritz erkannte den Werber von Thorn; der Fürst blieb im Gespräch mit dem Offizier einige Schritt zurück, und beide sahen nach dem Sachsen hin. Als der König den großen Mann am Schloßportale wahrnahm, ging er schnell auf ihn zu, hielt vor der tiefen Verbeugung an und maß ihn höchst wohlgefällig mit den Augen.

»Der Kandidat der Theologie König aus Kursachsen wagt Eurer Majestät in tiefster Ehrfurcht zu nahen, um Urlaub für seinen Bruder zu erbitten, welcher als Freikorporal bei ›Markgraf Albrecht‹ steht.« Der Fürst von Dessau kam heran. »Königliche Majestät, der Mann gehört mir, er hat sich in Polen meinem Werber durch die Flucht entzogen. Der Offizier ist ihm nachgereist, um ihn zur Stelle zu rekognoszieren.«

»Der Offizier spricht die Unwahrheit«, antwortete Fritz mit lauter Stimme, »er hat mich nicht geworben, und ich bin nicht vor ihm geflohen, sondern ich habe ihm vor meiner Abreise erklärt, daß ich wegen der hinterlistigen Täuschung, welche er vergebens an mir versucht hatte, seine Reisegesellschaft verschmähe.«

»Habt Ihr von dem Offizier Handgeld genommen?« fragte der König, immer noch in die Betrachtung des großen Mannes vertieft.

»Es konnte zwischen uns von Handgeld nie die Rede sein«, antwortete Fritz, »da er in der Maske eines Hamburger Kaufmanns den Verkehr mit mir suchte.«

»Dann also kommt der Mann dem Offizier Eurer Durchlaucht nicht zu«, entschied der König.

»Es war meine Absicht«, versetzte der Fürst mit verhaltenem Unwillen, »Eurer Majestät diesen Mann für das Potsdamer Regiment vorzustellen.«

»Das ist etwas anderes«, sprach der König. »Er hat mehr als zwölf Zoll, ich schätze ihn auf nahe an dreizehn. Legt ihm ein Gewehr in den Arm, damit wir die Höhe messen.« Schnell wurde [] ein Gewehr herzugebracht und an den Leib des Sachsen gelegt. »Ich sagte ja, es sind fast dreizehn. Ich bin Eurer Durchlaucht sehr obligiert.« Und der König wandte sich um, um das Unangenehme, was jetzt kommen mußte, nicht zu sehen und zu hören, ganz ähnlich dem Knaben, welcher nach einem unangenehmen Streiche sich der Verantwortung entziehen will.

Da merkte Friedrich, daß er von den Menschen verlassen in großer Gefahr stand, und rief laut hinter dem Könige her: »Gerechter Gott, Vater im Himmel, gib nicht zu, daß der König von Preußen in tyrannischem Gelüste dem hohen Amt der Gerechtigkeit untreu wird, gerade in der Zeit, wo tausende bedrängter evangelischer Herzen auf ihn als Erlöser aus den Greueln der Verfolgung hoffen. Wenn der Feldherr, den du gerüstet hast zum Beschirmer des reinen Glaubens und der Gerechtigkeit, selbst zu einem ungerechten Tyrannen wird, welche Hoffnung bleibt dann noch den gequälten Opfern von Thorn?«

Er hob flehend die Arme gen Himmel; das Gewehr, welches sie an ihn gelegt hatten, fiel klirrend zu Boden.

»Höre ihn nicht, Herrgott!« rief der Dessauer, zornig den Hut lüftend: »Er hat das Gewehr auf die Steine geschmissen.«

Der König hatte bei der Beschwörung den Schritt gehemmt, er stand abgewandt und sah von der Seite auf den Bittenden. Jetzt kehrte er sich zu ihm und fragte heftig: »Was schreit er hier von den Gequälten zu Thorn über den Platz?«

»Ich stand in meinem geistlichen Amt auf dem Blutgerüst bei den armen Märtyrern, welche gerichtet wurden, weil sie Deutsche und Evangelische waren, und ich vernahm die Seufzer, mit denen sie für ihre Zugehörigen den Schutz Eurer Majestät anriefen.«

Der König sah ihn ungnädig an, aber der begeisterte Blick, welcher dem seinen begegnete, bändigte den Ausbruch des Zornes, und er gebot dem diensttuenden Offizier: »Behaltet ihn hier, ich will ihn allein sprechen.«

Friedrich hatte nicht nötig, lange am Portal zu warten. Ein Kammerdiener kam heraus, maß mit den Augen die Größe, winkte, ohne ein Wort zu sprechen, und führte durch einen Hof und langen Gang in ein Empfangszimmer. Gleich darauf trat der König ein, den Hut auf dem Haupte, den Stock in der Hand, offenbar nicht in guter Laune. Er trat vor den Bittsteller und stampfte mit dem Stock auf den Boden. »Er hätte auch nicht nötig gehabt, die Arme aufzuheben und den Himmel gegen mich um Hilfe anzurufen. Ich bin kein Tyrann, sondern ein christlicher König, der den Willen hat, vor unserem Herrgott ein ehrlicher Mann zu bleiben; warum hat er geschrien wie ein Bärenhäuter?« Wieder stieß der König auf den Boden. »Warum graut ihm davor, meinen Rock zu tragen?«

»Euer Majestät halten zu Gnaden, ich fühlte, daß man ungerecht [] und gewalttätig gegen mich verfuhr. Und solche Gewalttätigkeit, mit welcher ich in königlicher Gegenwart bedroht wurde, kränkte mich gerade deshalb in tiefster Seele, weil ich Eurer Majestät in wahrhafter Ehrfurcht und herzlichem Vertrauen genaht bin. Denn ich habe in der Stadt Thorn wohl erkannt, daß Eure Majestät die Zuflucht der Deutschen und Evangelischen sind, und die unglücklichen Männer, deren grausames Ende ich anschauen mußte, haben mich beauftragt, ihre letzten flehentlichen Bitten Eurer Majestät vorzutragen.«

Da rief der König: »Es ist eine greuliche und unerhörte Geschichte, und ich habe mir alle Mühe gegeben, den Bürgermeister und die anderen zu retten. Das Blut schreit zum Himmel. Aber der polnische König hat nicht mehr Macht als ein Dorfschulze. Es ist Euer eigner Kurfürst«, fuhr er wieder unwillig fort. »Wie sieht es jetzt in der Stadt aus? Liegen noch die polnischen Reiter darin?«

»Die Stadt und Umgegend ist mit Fußvolk angefüllt, die Soldaten sind bei den Evangelischen einquartiert und wirtschaften wie in Feindesland; in der Marienkirche, welche seither evangelisch war, hielten die Jesuiten Hochamt und sangen Jubellieder, daß die Ketzerei gedämpft sei. Auch der Rat wird zur Hälfte polnisch gemacht.«

»Was habt Ihr sonst in Thorn gesehen?« fragte der König. »Erzählt geradeaus und ehrlich.«

Friedrich begann seinen Bericht über die Standhaftigkeit und die letzten Stunden des Konsuls Roesner und der übrigen Gerichteten. Der König setzte sich und hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, bis der Erzähler mit den Worten schloß: »Königliche Majestät, in diesen schrecklichen Tagen habe ich das Größte erlebt, was einem Diener des heiligen Amtes zuteil werden kann, denn ich sah fromme deutsche Männer, welche mit Gottvertrauen mutig in einen elenden Tod gingen. Jeder von den zehn Gerichteten konnte sich Leben und Freiheit retten, wenn er seinen Glauben abschwor. Aber nur einer von elfen wurde schwach, die anderen zehn blieben treu bis zum Tode.« Da faltete der König die Hände: »Was sagtet Ihr vorhin über eine Hilfe, die sie von mir begehrt haben?«

»Mehrere der Gerichteten hinterlassen Frau und Kinder in bitterer Not, denn ihre Habe ist eingezogen, und die Kinder werden den Müttern entrissen, um in polnischer Weise erzogen zu werden. Da hofften die Sterbenden, daß Eure Majestät sich der armen Witwen und Waisen erbarmen werde, und ich versprach, ihr demütiges Flehen hierherzutragen.«

»Ich will versuchen, ihnen zu helfen«, antwortete Friedrich Wilhelm. »Sie sollen nach Preußen kommen. In meinem Lande befehle ich, und die Leute gehorchen, aber selbst in meinem Lande vermag ich nicht immer zu tun, was ich will, denn auch hier muß ich [] mancherlei Rücksicht nehmen; und vollends dort draußen, wo alles widerhaarig und feindselig ist. Ihr sagtet etwas von den letzten Worten des seligen Roesner. Was meinte er, als er klagte: Der Bürgermeister büßt für sein eigenes Unrecht und für die Sünden der Vorfahren? War das richtiger evangelischer Glaube?«

»Sich selbst klagte Herr Konsul Roesner darum an, weil er früher der polnischen Krone zu treu gedient und den Übergriffen der Polen nicht immer Widerpart gehalten habe«, antwortete der Kandidat. »Wenn der Verstorbene aber die Sünden der Vorfahren beklagte, so dachte er wohl an frühere Schicksale seiner Stadt. In alter Zeit wollte die Mehrzahl der Bürger von Thorn lieber zu Polen gehören als zu dem Ordensland Preußen. Damals hat die polnische Partei in der deutschen Stadt viele Mitbürger, weil sie zu Preußen hielten, in Bruderhaß auf dem Schafott hingerichtet und die Stadt unter die Krone Polen gebracht. Jetzt haben die Polen den Nachkommen jener Alten dasselbe getan, denn sie haben durch Hinrichtungen den Enkeln vergolten, daß die Ahnen einst ihre Köpfe der Krone Polen untergestellt hatten. Und in Thorn gibt es Leute, welche ausrechnen, daß es seit jener alten Hinrichtung der preußischen Partei jetzt gerade das siebente Glied ist, an welchem die Strafe vollzogen wird nach den Worten der Schrift. Solches Gericht des Herrn ist uns Menschen furchtbar und entsetzlich.«

»Es wird auch an den Jesuiten und Niepozwalums heimgesucht werden bis ins siebente Glied«, rief der König, seinen Stock schüttelnd. »Woher wißt Ihr aber, daß die Hingerichteten gerade Nachkommen jener alten Übeltäter sind? Der Schuster Wunsch war ein geborener Brandenburger, wie kommt er dazu? Das riecht nach Prädestination.«

»Der Tod traf die Armen nur, weil sie in der Stadt lebten, über welcher der Fluch hing«, antwortete Friedrich traurig. »Gerade das, was Eure Majestät sagen, macht uns solch göttliches Strafgericht allzu hoch und schwer, und uns bleibt nichts übrig, als demütig zu rufen: Des Herrn Wege sind nicht unsere Wege. Als die Angst über diese Strenge mir im Herzen riß, hat mich der Gedanke getröstet, daß unser Vater im Himmel dadurch die Menschen an die Pflicht mahnen will, altes Unrecht ihrer Vorfahren wieder gutzumachen, und daß er nur zuweilen an den einzelnen schwere Vergeltung übt, um die Menge der Irrenden und Verstockten auf den rechten Weg zu weisen. Darum vertraue ich, er wird noch die Herzen der Könige lenken und wird das unglückliche Thorn, welches ihn jetzt in der Not anruft, nicht gänzlich den wilden Polen überlassen, sondern ihm die Rettung bereiten.«

Während der Theologe in seiner Begeisterung sprach, ging eine Tür auf. Zwei halbwüchsige Knaben in Soldatenröcken traten ein und stellten sich militärisch auf. Der König schritt in großer Bewegung [] auf und ab, musterte aber doch im Vorübergehen die Knaben und gebot dem einen, indem er mit dem Stock seinen Rücken berührte: »Geradestehen!« Dann wandte er sich zu dem Fremden und begann in gütigem Ton: »Hast du dich um die Thorner gegrämt, so habe auch ich ihretwegen schlaflose Nächte gehabt und Gott angerufen, daß er da helfen möge, wo unser guter Wille nichts vermag.« Er trat wieder dicht vor den Jüngling, sah an ihm hinauf und fragte, ihm einen Knopf am Rocke drehend, vertraulich: »Warum willst du meinen blauen Rock nicht tragen?«

»Eure Majestät, ich bin Theologe, und mein Amt ist nicht der Krieg, sondern Verkündigung der Lehre, welche gegeben ward, um Frieden auf die Erde zu bringen.«

»Ich soll Euch also ziehen lassen?« fragte der König wieder unzufrieden. »Und was wollt Ihr noch?«

»Ich flehe Eure Majestät an, meinem Bruder Urlaub zu geben. Der Vater ist gestorben, die Mutter ist krank.«

Der König ging einige Schritte und sah sich den Bittsteller wieder an. »Wieviel Kinder hat Euer Vater hinterlassen?«

»Nur meinen Bruder und mich.«

»Hat Eure Mutter einen Sohn in meinem Dienste, so will ich ihr den zweiten nicht nehmen«, entschied der König mit Selbstüberwindung. »Du sollst nicht von mir gehen und zu den Wolken schreien, daß ich ein Tyrann bin. Dein Bruder kann Urlaub haben, aber unter einer Bedingung: Du bürgst mir dafür, daß er in meinen Dienst zurückkehrt, und du bürgst mir mit deinem eigenen Leben. Kommt er nicht, so kommst du und trittst für ihn ein. Willst du mir das versprechen, so sollst du ihn haben.«

Friedrich stand betroffen; er wußte, daß die Mutter daran dachte, den Sohn in ihrer Nähe zu bewahren, und er fürchtete auch, stille Hoffnungen des Bruders durch sein Gelöbnis zu kreuzen.

»Kurz und gut«, fuhr der König fort, »keine Bedingung und Ausrede; willst du als ein ehrlicher Mann versprechen: er oder du?«

»Ja«, antwortete Friedrich leise.

Der König maß ihn noch einmal mit den Augen, öffnete schnell die Tür des Vorzimmers und rief dem Offizier zu: »Der Freikorporal König von Markgraf Albrecht hat von morgen Urlaub nach der Heimat; sorge dafür, daß dieser hier einen sichern Paß bekommt, seinen Bruder zu begleiten.«

Bei den Sachsen

Als Friedrich mit dem Urlaub in das Quartier des Bruders trat, fiel August ihm gerührt um den Hals. »Du hast mir deine brüderliche Liebe erwiesen, wie der Vater wollte; wird auch für mich eine [] Gelegenheit kommen, dir dafür zu danken?« »Vielleicht kommt die Zeit, wo einem von uns ein weit größeres Opfer zugemutet wird«, antwortete Fritz, welcher an Dorchen dachte. Es wurde eine frohe Heimfahrt für beide. Die als Knaben geschieden waren, fanden einander in männlichem Jugendmut wieder, und jeder freute sich über die Tüchtigkeit des anderen. Auch die Mutter genoß, als die Brüder Hand in Hand vor ihr standen, zum ersten Male seit dem Tode des Gatten ein großes Glück. Aber nur wenige Tage durfte Fritz bei der Mutter weilen, die Reise hatte seine Ferienzeit völlig in Anspruch genommen, er mußte aufbrechen, um seinen neuen Zögling in Empfang zu nehmen und nach England zu geleiten. Als er schied, war Dorothee noch nicht aus Berlin gekommen, und Fritz sagte sich vergebens zum Troste, daß ihm dies lieb sein müsse.

In der zärtlichen Pflege der Mutter suchte August sich die Gedanken an das freudlose Leben der Zukunft fernzuhalten. Aber bald wurde er durch Gerüchte und durch die Zeitungen daran ermahnt. Die Ereignisse zu Thorn und der tiefe Unwille Friedrich Wilhelms hatten zwischen dem preußischen und polnischen Hofe so große Feindseligkeit aufgeregt, daß ein kriegerischer Zusammenstoß zu erwarten war. Die sächsischen Truppen wurden eilig vermehrt, der Verkehr an der Grenze stockte, die Behörden der beiden Länder verweigerten einander bereits die gewöhnliche Aushilfe und Unterstützung. August wurde von den sächsischen Offizieren, die er zufällig traf, mit kalter Nichtachtung behandelt und erkannte mit Schrecken, daß die Frage an ihn herantrat, ob er gegen sein Vaterland in das Feld ziehen dürfe. Er schrieb, ohne der Mutter von seiner inneren Unsicherheit etwas zu sagen, deshalb an den Bruder nach London. Doch bevor die Antwort einlief, kam sein Vormund angefahren, und mit ihm ein Hauptmann von Wölfert aus einer nahen sächsischen Garnison. Der Vormund erklärte, es sei unmöglich, daß in solcher Zeit sein Mündel in preußischen Dienst zurückkehre, und der Hauptmann setzte hinzu: er habe den Fall seinem Obersten vorgetragen, Monsieur König könne sogleich in dem sächsischen Regiment als Fähnrich eintreten, um nach einem Jahr Leutnant zu werden. August weigerte sich standhaft, obgleich die Mutter die Hände rang und ihm zurief, es werde ihr Tod sein, wenn er wieder in die ägyptische Dienstbarkeit ziehe. Endlich entschied der Vormund: »Wenn mein Herr Neffe sich durch ein Versprechen, welches sein Bruder unter ganz anderen Verhältnissen gegeben hat, verpflichtet hält, in dem Dienst einer feindseligen Macht zu beharren, so würde als letztes Mittel übrigbleiben, ein allerhöchstes Verbot gegen die Rückkehr zu veranlassen. Doch bevor dies Äußerste unternommen wird, ist der nächste Weg der beste, daß mein Neffe unter Angabe der patriotischen Gründe um seine Entlassung aus dem preußischen Dienst einkomme. Ist diese früher verweigert worden, so [] ist jetzt die Lage der Sache eine ganz andere, auch den Herren Preußen kann nichts daran liegen, einen Sachsen wider seinen Willen bei der Fahne festzuhalten.«

Wenige Tage darauf erhielt August die Antwort des Bruders: »Da der Wille unserer lieben Mutter und Dein Pflichtgefühl für die sächsische Heimat auf der einen Seite stehen, auf der anderen das Versprechen Deiner Rückkehr, so darfst Du durch die Bitte um Entlassung allerdings versuchen, des preußischen Dienstes ledig zu werden. Wird Dir der Abschied verweigert, so müßte einer von uns beiden sich zur Verfügung des Königs Friedrich Wilhelm stellen.« Dies entschied. Der Korporal sandte zum zweitenmal sein Abschiedsgesuch an die Kompanie und schrieb zu gleicher Zeit einen beweglichen Brief an seinen Gönner, den Major Vogt. Er selbst erwartete wenig von diesem Versuche und bereitete sich zur Abreise. Und als er nach mehreren Wochen die Antwort aus dem Stabsquartier erhielt, pochte ihm das Herz. Aber glückselig las er den Inhalt, denn der Major schrieb, daß sein hoher Chef, der Markgraf, die Berechtigung dieses Abschiedsgesuches anerkannt und die Entlassung verfügt habe. Der Entlassungsschein sei bereits ausgefertigt, nach Berlin zur höchsten Kenntnisnahme gesandt und werde dem Bittsteller demnächst zugehen. Darauf wünschte ihm der Major höflich Glück zur Lösung seines Dienstverhältnisses und sprach den Wunsch aus, daß er in seiner Heimat sich als braver Offizier bewähren möge.

Befreit von der Last, die ihn lange bedrückt, atmete August auf. Er fuhr mit dem Schreiben in die Garnison des Herrn von Wölfert, empfing Glückwünsche und wurde sogleich zum Obersten geführt. Auch dieser nahm ihn zuvorkommend auf und sagte: »Auf Grund dieses Briefes, dessen Handschrift und Schreiber mir wohlbekannt sind, können Sie zur Stelle in mein Regiment eintreten.«

»Doch habe ich den Entlassungsschein noch nicht in Händen«, wandte August ein.

»Der Brief genügt«, versetzte der Oberst. »Übrigens darf es nicht von dem Belieben eines fremden Monarchen abhängen, ob ein Sachse in das Heer seines Vaterlandes eintreten soll oder nicht. Und ich rate Ihnen, nicht zu zögern, denn unsere Augmentation wird in kurzem beendigt sein, und der Aufschub könnte Ihnen die Stelle unsicher machen, die Zusendung des Entlassungsscheins erfolgt bei den gegenwärtigen gespannten Verhältnissen vielleicht erst nach langer Zeit.«

So wurde August Fähnrich in einer Kompanie des Leibregiments. Die beglückte Mutter rühmte jetzt, daß ihre Verwandten dies für ihn durchgesetzt hatten, und erzählte, wie Tanten und Bäschen deshalb beim Stabe und in Dresden hin und her gelaufen waren, er vernahm auch, daß Herr von Mickau mit der Mutter vertraulich einige artige Geschenke besprach: seidene Roben und einen Satz [] von dem neuen Meißner Porzellan, welche an Gönnerinnen in der Hauptstadt als Rekompens gesendet wurden. In seiner Freude sorgte er wenig darum. Sein Dienst wurde ihm leicht, er war durch die preußische Schule fest geworden und fand sich schnell in das Abweichende des Kommandos und der militärischen Einrichtungen. Die Mehrzahl seiner Kameraden hatte nicht mehr Schulweisheit zur Fahne gebracht als die preußischen, aber sie waren bequemer im Verkehr. Er stand jetzt in größerer Garnison und hatte Gelegenheit, auch im Gespräch mit unterrichteten Zivilisten seine Bildung zu erweisen und gescheite Urteile zu hören. Der Familie wegen empfing er Freundlichkeit selbst von Unbekannten, und wenn er seinen gegenwärtigen Zustand mit der Öde und Verlassenheit der preußischen Garnison verglich, so kam er sich vor wie in einer besseren Welt.

Als er einst mit solchen Gedanken auf der Straße ging, sah er an einer Haustür einen kleinen Mann stehen im Schlafrock, mit rötlicher Nase und gescheiter Miene. Der Kleine betrachtete ihn mit unverhohlener Bewunderung: »Welche Freude, Herr Fähnrich, daß ich Sie hier wiederfinde.« Das Gesicht des Fähnrichs zog sich drohend zusammen, er erkannte denselben Magister, der früher als Pasquillant der Familie schwere Tage bereitet hatte, und wollte mit kaltem Dank vorübergehen. Aber der Kleine vertrat ihm flehend den Weg. »Obwohl mir bewußt ist, daß Sie mich ohne Vorliebe regardieren wegen eines alten unbegründeten Verdachtes, so muß ich Ihnen doch sagen, da ich Sie jetzt als Herrn Offizier vor mir sehe, daß auch ich mit großer Bekümmernis den Verlust Ihres hochverehrten Vaters vernommen habe; er war ein Mann ganz nach dem Herzen aller Edlen, und ich sehe und vernehme mit Freuden, daß sein Herr Sohn ihm nachgeartet ist.«

»Ich danke Ihnen, Herr Magister«, antwortete August von oben herab.

»Gehen Sie nicht so stolz vorüber, verehrter Herr Landsmann«, bat der Kleine, »erweisen Sie mir nur auf einen Augenblick die Ehre, einzutreten, damit ich des schmerzlichen Gefühls enthoben werde, daß die selben ungünstig von mir denken; denn ich habe Sie bereits gekannt, als Sie Ihr erstes rotes Röckchen trugen. Denken Sie noch daran, wie ich Sie damals in aufrichtiger Schätzung Ihrer Familie mit einer Tüte Pfeffernüsse regalierte? Heute bitte ich um die Erlaubnis, Ihnen mit einem Glase eigenen Wachstums aufzuwarten.« – »Ich kann mich nicht aufhalten, Herr Magister.«

»Nur im Stehen«, bat der Magister.

Der Fähnrich blieb in dem Flur, der Magister brachte ihm mit Verbeugungen eine Kanne Landwein zugetragen und erzählte, während der Gast das Glas in der Hand hielt, daß seine Frau in dieser Stadt einen sehr reichen Onkel beerbt habe und daß er jetzt als[] wohlhabender Hausbesitzer die Ernte des eigenen Weinbergs an gute Freunde ausschenke. »Doch«, fügte er mit einem trüben Blick nach dem Innern des Hauses hinzu, »nicht alle Götter lächeln dem Sterblichen freundlich zu; wer von Minerva und den Musen Gunst erfährt, wird vielleicht von Venus und Juno kurz gehalten.« Eine scharfe Frauenstimme aus der Tiefe des Kellers rief seinen Namen und fügte einige Scheltworte hinzu. »Mehr Juno als Venus«, sagte er wehmütig und wies mit dem Daumen nach der Tiefe.

Seit dieser Begegnung hatte August zuweilen Mühe, sich der Verehrung des Magisters zu entziehen, zumal wenn er des Nachmittags beim Hause vorbeikam, wo der Kleine durch die Gunst solcher Götter, mit denen er auf gutem Fuße stand, in einen gehobenen und redseligen Zustand versetzt war. Es ergab sich bald, daß der Magister eine besondere Vorliebe für kriegerisches Wesen hatte. Sooft die Trommler durch die Straßen schritten und die Wache aufzog, stand er an der Tür. »Cäsar hatte wenig Haupthaar«, sagte er zu dem Fähnrich, seine eigene Perücke hin und her ziehend, »und Prinz Eugen ist nicht hoch von Wuchs; auch ich habe seit meiner Jugend zu nichts so große Zuneigung gehabt als zum Amt eines Obersten oder Generals. Glauben Sie, hochverehrter Herr Fähnrich, es gibt für einen Mann keine größere Lust, als zu kommandieren: Schießt mir dorthin oder jagt mir den aus der Stadt, Himmeldonnerwetter! Puff! Und nieder mit ihnen! Das war mein Beruf, und, vertraulich zu reden, ich habe noch Stunden, wo ich meiner Juno einen Possen spielen und mich unter die Fahnen des Kriegsgottes stellen möchte.«

»Ich kann's nicht raten, Herr Magister«, antwortete August. »Bevor Sie so weit kommen, daß die Liktoren mit den Rutenbündeln vor Ihnen herschreiten, müssen Sie sich erst der Gefahr unterziehen, selbst Spießruten zu laufen.« – »Das schreckt mich nicht«, versetzte der Gelehrte geheimnisvoll, »auch in Bürgerhäusern gibt es Besen, welche widerwärtig streichen.«

Als August eines Abends in sein Quartier kam, fand er auf der Hausschwelle eine kleine Gestalt sitzen, welche sich mit dem Taschentuch schneuzte und dann die Hände zum Himmel hob.

»Was tun Sie hier, Herr Magister?« fragte er verwundert. Der kleine Mann fuhr in die Höhe und sprach schluchzend: »Ich melde mich!« – »Wozu, Herr Magister?« Der Kleine griff wieder nach seinem Taschentuch. »Ich halte es nicht länger aus. Die öfter erwähnte Juno verdient es nicht besser. Ich melde mich als Rekrut bei Ihrer Kompanie!«

August lachte. »Beschlafen Sie's, Herr Magister.« Aber der unzufriedene Gatte faßte ihn am Ärmel und erklärte heftig, er wisse wohl, was er sage, er wolle jetzt werden, was ihm immer im Sinne gelegen, denn zu Hause halte er es nicht aus, und er wolle in die Kompanie zu Herrn König treten. – August sagte, um ihn zu [] beruhigen: »In der Finsternis kann Ihre Annahme nicht stattfinden, machen Sie mir morgen früh die Freude, auf ein Schälchen Tee mein Gast zu sein.« Am andern Morgen lud August den Premierleutnant zu sich, und beide harrten des Magisters. Dieser stellte sich pünktlich ein, setzte sich ernsthaft zu seiner Tasse nieder, und als August die Verhandlung mit der Frage einleitete: »Wissen Sie auch, Herr Magister, daß Sie sich gestern bei mir zum Rekruten gemeldet haben?« Da erklärte der Verzweifelte nüchtern und bestimmt, daß er das sehr wohl wisse und daß er auf seinem Willen bestehe. August hielt ihm vor, wie wunderlich es sei, daß er Frau und Hausstand aufgebe, der Magister aber sprach sich über alles zivile Leben, ja sogar über das Glück der Ehe verächtlich aus und behauptete, wenn der Herr Fähnrich, für den er besondere Affektion empfinde, ihn nicht annehme, so gehe er von hier sofort zu einer andern Kompanie. Die Offiziere sahen einander an. »Wohlan«, sprach der Fähnrich aufstehend, »wenn Sie es so haben wollen, so muß ich Ihr Verlangen erfüllen und Sie bei meinem Kapitän melden.« – Gerade das wollte der Magister. »Habe ich Sie aber gemeldet, so werden Sie erfahren, daß wir keine lustigen Zechbrüder sind, welche mit sich spielen lassen.« Auch das wußte der Gelehrte, und er bat den Fähnrich und den Leutnant sogleich sein Versprechen in ihre Hand zu empfangen, damit die Sache endlich die erforderliche Festigkeit erhalte. August meldete dem Kapitän den Handel, und dieser gab erfreut den Befehl, am nächsten Morgen den Rekruten zu ihm zu führen.

Den Tag darauf ging August in das Haus des Magisters, und da dieser noch schlief, trat er auf die Schwelle des Schlafzimmers und gebot: »Der Rekrut Magister Blasius soll aufstehen und zum Kapitän kommen!«

Hinter der Gardine bewegte sich's, der Magister steckte den Kopf heraus: »Hören Sie, Herr Fähnrich, ich habe nicht geglaubt, daß es so eilen würde. Entschuldigen Sie gütigst, ich kann heute nicht kommen.« Zugleich erhob eine weibliche Stimme sehr heftige Beschwörung mit vielen Scheltworten. Der Fähnrich behauptete seinen Ernst, fragte den Magister, ob er gesonnen sei, gutwillig mitzugehen oder nicht, und als der Magister erklärte: »Heut kann ich wirklich nicht«, schickte August nach der Wache. Im Hause entstand Geschrei und Wehklagen, eilig wurde der vornehme Bruder, Doktor der Rechte und angesehener Beamter, zu Hilfe geholt. Dieser kam zugleich mit der Wache und wollte den Fähnrich über die Nichtigkeit seiner Ansprüche verständigen, August aber wies ihn kurz ab: »Ich bitte, daß Sie mir in meinem Beruf keine Kollegien lesen; verfahre ich unrecht, so wissen Sie, wo ich zu belangen bin.« Da zog sich der Doktor schleunig zurück, der Magister aber stand, im Nachtkleide, festgehalten durch die Arme seiner Gattin, welche ihn in heller Verzweiflung vor der Kriegsmacht schützen wollte. Erst das Geklirr [] der eintretenden Wache befreite den kleinen Herrn, der sich jetzt gutwillig zum Abgang rüstete, unterwegs seinen Soldatenmut wiederfand und auf die zornige Frage des Fähnrichs, ob er das Regiment zum Narren habe, versicherte, daß ihm das kräftige Verfahren gerade recht sei, seine Frau brauche nicht zu wissen, daß er aus eigener Neigung Militär werden wolle. So wurde er zum Hauptmann geführt, legte dort bereitwillig den Eid der Treue ab, schrieb eigenhändig seinen Namen in die Stammliste und erhielt sogleich Urlaub und das Recht, bis auf weitere Order zu der Gattin und seinem Hauswesen zurückzukehren.

Während aber August ganz mit sich zufrieden war, flüsterte und summte es durch die ganze Stadt, und nach der Residenz liefen bogenlange Beschwerden. Der Bruder des Magisters erklärte laut, er werde den Schimpf, welcher der Familie angetan sei, nicht ruhig ertragen, und wenn es ihn das halbe Vermögen kosten solle. Seine Klagen und, wie die Offiziere behaupteten, wohlangebrachten Geschenke hatten auch Erfolg, denn ein geheimer Kriegsrat fuhr als Musterkommissar des Regiments mit einer Kommission von Offizieren und Beamten in die Garnison ein.

Als der Fähnrich vor die Kommission gefordert wurde, wollte der Vorsitzende zuerst von ihm wissen, aus welchem Grunde der Hauptmann den kleinen, alten, offenbar unbrauchbaren Magister angenommen habe. August fühlte sich durch den Verdacht, welcher der Frage zugrunde lag, in der Seele seines Vorgesetzten bitter gekränkt und entgegnete; »Ich muß einer hohen Kommission die Antwort auf diese Frage verweigern, weil die Frage ganz unmilitärisch ist, denn dem Soldaten steht es durchaus nicht zu, einen Vorgesetzten nach dem Beweggrund seiner Handlungen zu fragen.« Und als der Rat aufs neue drängte: »Sie sollen nur Ihre Meinung zu Protokoll geben, die Sie sich jedenfalls gebildet haben«, da versetzte der Fähnrich: »Meine Meinung zu sagen wäre ich vollends nicht verpflichtet. Doch bin ich bereit zu erklären, was ich selbst in ähnlicher Lage tun würde. Wenn eine Person wie der Herr Magister sich bei mir, als dem Hauptmann, freiwillig meldet, so werde ich sie annehmen zum Nutzen des Regiments und des königlichen Dienstes, auch wenn ich sie für völlig unbrauchbar halte. Denn da ich weiß, daß dem Eingeschriebenen selbst sein Wunsch bald verleidet wird und daß seine Anverwandten ihn in keinem Fall beim Regiment lassen, so bin ich sicher, als Ersatz für ihn einen brauchbaren Mann zu empfangen. Jeder Kapitän aber ist durch seinen Eid verbunden, die Kompanie für des Königs Majestät vollzählig und in gutem Stande zu erhalten.«

Dagegen wußte der Vorsitzende nichts einzuwenden, aber er bedräute jetzt den Fähnrich selbst: »Wie durften Sie sich unterstehen, einen verheirateten Mann von Kondition aus dem Bette zu holen?

[] Ist Ihnen nicht bewußt, daß der Magister als graduierter Gelehrter einen höheren Rang hat als Sie selbst?« Auf solche Fragen verlor August die Geduld: »Wenn ein graduierter Mann sich durch Handgelöbnis verbunden hat, als Soldat einzutreten, so hole ich ihn, sobald mein Hauptmann es befiehlt, zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht aus dem Bett oder aus der Kirche, ohne zu fragen, wie vornehm er ist. Und wenn es der Herr Geheime Kriegsrat selbst wäre, ich würde Sie holen und im Falle des Widerstandes arretieren. Und ich bitte, meine Rede Wort für Wort ins Protokoll zu schreiben.«

Da hob der Vorsitzende empört die Hände zum Himmel, und der Fähnrich wurde mit starken Vorhaltungen über sein dreistes und zu Gewalttaten geneigtes Wesen aus dem Verhör entlassen. Doch ein alter Oberstleutnant von der Kommission folgte ihm in das Vorzimmer und reichte ihm dort die Hand. Vom Obersten erhielt er kurz darauf einen langen schriftlichen Verweis wegen seines heftigen und keineswegs respektuösen Benehmens, unterderhand aber die Versicherung, man sei beim Stabe ganz mit ihm zufrieden; so daß er merkte, der Dienst werde hier anders gehandhabt als im Preußischen. Der Magister empfing, ohne einen Ersatzmann zu stellen, seinen ehrlichen Abschied. Und er blickte seitdem scheu und betrübt zu dem Fähnrich auf, wenn dieser stolz an ihm vorüberging.

Nur eins war wunderlich, der Entlassungsschein aus dem Preußischen kam nicht. August hatte sogleich nach der Anzeige des Majors dem Bruder geschrieben, daß er den Abschied erhalten, ihm war damals gar nicht eingefallen, daß sich noch ein Hindernis erheben könne, weil er wußte, daß Annahme und Entlassung der Unteroffiziere vom Chef des Regiments allein abhing. Jetzt stiegen ihm Zweifel auf.

Aber er vergaß seine Bedenken über einem frohen Ereignis. Das Regiment wurde nach Dresden kommandiert, um die Besatzung der befestigten Residenz zu verstärken. August freute sich während des Marsches, wie alle jungen Offiziere, auf das großartige Leben, doch merkte er nach der Ankunft schon in den ersten Tagen, daß ein Fähnrich, der nicht aus vornehmer Familie war oder sorglos Geld ausgab, nur von der Straße den Glanz und die Herrlichkeit betrachten durfte. Und der Dienst in seiner Kompanie wurde beschwerlicher, denn der neue Premierleutnant war ein junger Graf, der gar nicht beim Regimente stand, sondern die Uniform auf seinen Reisen trug, und der Leutnant war Sohn eines Herrn vom Hofe und blieb die meisten Abende der Woche vom Dienst dispensiert.

Doch auch August sollte der Wunder teilhaftig werden, womit die prächtige Stadt damals den Zugereisten überraschte. Als er einst in der Nähe des Schlosses das Gewühl reichbekleideter Spaziergänger betrachtete, die Portechaisen, in welchen vornehme Damen von riesigen [] Heiducken geleitet wurden, vergoldete Karossen, edle Pferde in prächtigem Geschirr, die Kutscher in Tressenlivree auf hohem Bock und an dem Trittbrett hängende Lakaien, da fuhr ein vornehmer Wagen vorüber, in welchem zwei Frauen saßen, und eine von den beiden glich der Tochter seines alten Hauptmanns. »Es war nur eine Ähnlichkeit«, sagte sich August, während ihm das Blut zum Herzen schoß; da sah er, als der Wagen um die Ecke rollte, daß eine kleine Hand zum Fenster herauswinkte. Er eilte nach, aber er vermochte die schnellen Pferde nicht einzuholen. War es ein Zufall oder war es ein Gruß, und war Friederike zu einer Dame geworden, welche in der Karosse fuhr? Ihm wurde siedend heiß. Vergebens suchte er sich auf das Aussehen der anderen Frau zu erinnern, ihm kam vor, als sei sie sehr jung gewesen; auch von dem Wagen und den Pferden wußte er nichts Ungewöhnliches anzugeben. Es nutzte ihm nichts, daß er die nächsten Tage in jeder Freistunde durch die Straßen irrte und argwöhnisch in jeden Wagen blickte. Er sah das geliebte Mädchen nicht wieder.

Als August am ersten Tage des nächsten Monats sein Traktament geholt hatte und in sein kleines Quartier zurückkehrte, fand er in der Stube ein Paket, welches ein fremder Mann für ihn abgegeben, und darin zwei bunte Porzellanfiguren, Schäfer und Schäferin, von denen jede zierlich auf einem Felsen saß. Er hatte bis dahin der neuen Erfindung keine Beachtung gegönnt, aber er wußte doch, daß die Figuren eine kostbare Zuwendung waren. Natürlich dachte er sogleich an Friederike. Sollte dies eine Gegengabe für den Stieglitz sein? Aber er verwarf den Gedanken sogleich wieder; nach allem, was er von ihr wußte, sah ihr dies seltsame Geschenk nicht ähnlich. Er stellte die Figuren auf die bunte Kattundecke der Kommode, wo sie neben dem Tabakskasten und den Tonpfeifen standen, wie aus dem Feenland in das gemeine Menschenleben verschlagen.

Doch bei dieser Spende blieb es nicht; am Ersten des folgenden Monats wurde wieder etwas abgegeben, diesmal eine Puderquaste mit goldenem Griff; nach gleicher Zwischenzeit erschien eine Bonbonniere mit süßem Inhalt, und dabei lag ein Zettel, auf welchem mit grober Hand geschrieben war: Du hast dich, wo es not, zu geben bald beflissen. Empfange jetzt den Dank, vertrau trotz Hindernissen.

Das konnte von niemand anderem kommen als von der Tochter des Hauptmanns; aber nach der ersten Freude kam ihm wieder die Verwunderung, und er zürnte sich selbst wegen des geheimen Mißbehagens, das er empfand.

Unterdes wurde er auch während des Dienstes durch kleine Abenteuer in Anspruch genommen. Sein Regiment gab die Wache, er visitierte vor dem Quartier des Kapitäns die Parade der Kompanie und marschierte mit der Mannschaft nach dem Pirnaischen Tor ab.

[] Auf dem Wege wurde er selbst durch seinen Obersten aufgehalten. Wie er zur Wache kam, hatte der Unteroffizier bereits die Vergatterung geschlossen, durch welche das Tor während der Ablösung für den Verkehr gesperrt ward, und eine Anzahl Leute wartete am Gatter geduldig auf die Eröffnung. Als die Schildwache ihm auftat, weil der Offizier im Dienste war, wollte sich ein Mann in grauem Habit, der einen Hut mit goldener Tresse und an der Seite einen Hirschfänger trug, ebenfalls vordrängen, begann, da ihn der Posten zurückwies, gröblich zu schimpfen und mühte sich, das angelehnte Gatter mit seinen Händen aufzureißen, indem er rief, daß er ebensoviel Recht habe zu passieren wie der Offizier, so daß der Soldat ihn endlich zurückstoßen mußte. Als August sich umwandte, nach dem Namen fragte und zur Ruhe ermahnte, schrie der Fremde: »Ich bin gräflicher Hausmeister, und Sie haben mir nichts zu befehlen; ich will doch sehen, wer sich untersteht, mir das Tor zu sperren.« Und er drängte aufs neue und riß am Gatter. Da ließ August den Tobenden arretieren und nach der Hauptwache schaffen und ersuchte den Offizier der abgelösten Mannschaft, welcher den Vorfall mit angesehen hatte, den Hergang und die grobe Widersetzlichkeit des Mannes zu melden. Der Platzadjutant kam später selbst zum Tor, ließ sich von dem Fähnrich berichten und lobte: »Sie haben ganz recht getan.« Der Arretierte wurde von der Hauptwache zum Auditeur des Gouverneurs gebracht und von diesem mit einem scharfen Verweis entlassen.

Wenige Tage darauf wurde der Fähnrich zu seinem Obersten befohlen, der ihm mit den Worten entgegenkam. »Sie müssen hohe Gönner haben, Monsieur König. Mir ist durch ein Billett des Feldmarschalls mitgeteilt worden, daß der König die Gnade gehabt hat, Sie zum Leutnant zu ernennen. Ich bekenne Ihnen meine Verwunderung, da solche Ernennung ohne Mitwissen des Regimentschefs ungewöhnlich ist.«

»Ich bitte den Herrn Obersten, die Versicherung anzunehmen, daß ich hier ganz fremd bin, keinerlei Connaissance habe und meine Beförderung niemals auf einem anderen Wege betreiben würde als auf dem, welcher mir durch die Zufriedenheit des Herrn Obersten eröffnet wird.« Der alte Herr schüttelte den Kopf. »Und doch ist die Sache unzweifelhaft. Hier ist der Patentbrief, von Seiner Majestät unterschrieben, und mir bleibt nichts übrig, als Ihnen Glück zu wünschen.«

Aber der neue Leutnant wurde schnell aus den Träumen von Glück und Liebe aufgeschreckt, als er wenige Tage darauf wieder zum Obersten beordert wurde. »Was, zum Teufel, Leutnant König, ist mit Ihnen los? Sie sind vor Seiner Majestät hart verklagt. Aus dem geheimen Konseil geht dem Regiment der Befehl zu, Sie wegen Ehrenkränkung eines gräflichen Hausmeisters zur Untersuchung zu [] ziehen, Ihnen außer der gebührenden Strafe aufzuerlegen, daß Sie den Mann um Verzeihung bitten und, falls Sie sich weigern, Ihre Entlassung zu verfügen.« August war über den jähen Sturz wie vom Donner gerührt. »Der Vorfall ist bereits früher vor dem Auditeur des Gouvernements verhandelt«, sagte er. »Werde ich vom Regiment für strafbar befunden, so muß ich mich der Strafe unterwerfen. Den Zivilisten um Verzeihung zu bitten, bin ich meiner Soldatenehre wegen durchaus nicht imstande, und ich flehe den Herrn Obersten an, mich im Interesse des Dienstes gegen diese ungewöhnliche Zumutung zu schützen.« Darauf erzählte er den Sachverhalt und berief sich auf die Zeugen.

»Das ist eine widerwärtige Affäre«, sagte der Oberst bekümmert. »Der grobe Hausmeister ist in Diensten der polnischen Gräfin Orczelska, welche zur Zeit die einflußreichste Dame der Residenz und Seiner Majestät so wert ist, daß ich besorge, die Ombrage der erwähnten Dame wird Ihnen verderblich. Ich rate, daß Sie sich sogleich mit einer Supplik an den Feldmarschall wenden, damit dieser Ihnen möglich macht, Seiner Majestät direkt Ihre Sache vorzutragen.«

»Gestatten der Herr Oberst, daß ich diesen letzten Schritt erst dann tue, wenn das Regiment über mein Recht und Unrecht entschieden hat.«

Das war dem Obersten unwillkommen, weil er sich und dem Regiment nicht eine mächtige Feindin zuziehen wollte, doch konnte er das Begehren des Leutnants nicht abschlagen. August erschien vor der Kommission, diese entschied, daß der Offizier nur seine Pflicht getan habe, und das Regiment berichtete in gleichem Sinne. Aber der höchste Bescheid darauf war nur eine Wiederholung der früheren Forderung: Abbitte oder Entlassung.

Der Oberst war gedrückt und verlegen, als er dem jungen Leutnant die königliche Order mitteilte, August aber mußte lachen, so daß der alte Herr unwillig sagte: »Monsieur König, das ist kein Scherz, es geht zwar nicht an den Kopf, aber an den Kragen.«

»Verzeihung, Herr Oberst, mir war nur wunderlich, daß ich zu meiner Verteidigung gegen eine Dame bataillieren soll.«

»Was aber wollen Sie tun?«

»Jetzt bitte ich den Herrn Obersten um Erlaubnis, selbst beim Feldmarschall und bei Seiner Majestät um Rücknahme der Order bitten zu dürfen.« Er eilte zur Stelle in das Palais des Feldmarschalls Grafen Flemming, welcher der mächtige Minister König Augusts des Starken war, früher ein Offizier von Verdienst, der lange in preußischem Dienst gestanden hatte, jetzt ein gewandter Diener und lustiger Gesellschafter des Königs, ein Mann, der an wenig glaubte und sich über wenig in dieser schlechten Welt wunderte. August erhielt leicht Einlaß und fand in dem Grafen einen stattlichen [] älteren Herrn in seidenem Schlafrock, der ihn wohlwollend empfing. Während er das Ereignis vortrug, glaubte er zu hören, daß der Minister vor sich hinsagte: »Die betrunkene Katze«; der laute Bescheid aber war: »Ich denke, die Affäre des Herrn läßt sich arrangieren. Ich an Ihrer Stelle würde den Burschen auch nicht um Verzeihung bitten. Melden Sie sich morgen bei dem diensttuenden Offizier vor den Appartements des Königs und erwarten Sie mich dort, ich werde Sie selbst einführen.«

Alles geschah, wie er gesagt. Am anderen Morgen schritt der Feldmarschall, dem harrenden August zuwinkend, nach den Zimmern des Königs; nicht lange, die Tür öffnete sich, und der Leutnant erhielt Befehl, einzutreten. Seine Majestät stand hoch mit königlicher Miene ihm gegenüber, immer noch eine gebietende Gestalt, obgleich das wüste Leben die vielgerühmte Kraft und Völligkeit bereits gemindert hatte. Er musterte das Äußere des Leutnants und drückte dem Grafen durch ein Kopfnicken seine Befriedigung aus. »Ich vernahm, worum es sich für Euch handelt«, begann der Herr gnädig, »erzählt selbst den Vorfall.« Und als August berichtet hatte, sprach der König: »War es, wie Ihr sagt, so hat der Verhaftete geringen Grund zu seiner Beschwerde. Ihr tatet ganz recht, ihn nicht durchzulassen. Daß Ihr ihn als Arrestanten auf die Hauptwache führen ließt, ist wohl im jugendlichen Diensteifer geschehen.« Und zum Grafen gewandt, fuhr er französisch fort: »Die kindische Gräfin hat ihren Kopf auf die Deprekation gesetzt; ich kann im Grunde dem jungen Manne nicht verdenken, daß er sich weigert, dem Schurken Gregor Abbitte zu tun, der Mensch hat sich unter den Polen das Brutalisieren angewöhnt. Versetzen Sie den Leutnant zu einem anderen Regiment, damit er dem Kinde aus den Augen kommt.«

»Das Leibregiment hat sich seiner angenommen«, antwortete der Minister mit ehrerbietigem Achselzucken ebenfalls französisch. »Die Versetzung wird in der Garnison Aufsehen machen, und die Offiziere werden sich beklagen, daß sie an höchster Stelle bei Erfüllung ihrer Dienstpflicht nicht geschützt werden.« Und in deutscher Sprache fuhr er fort: »Der unbedeutende Vorfall würde am besten beigelegt werden, wenn der Leutnant der Gräfin selbst ein artiges Bedauern über das Rekontre ausspräche. Der militärische Stolz, welcher ihn verhindert, dem Hausmeister Entschuldigungen zu machen, dürfte einer liebenswürdigen Dame gegenüber nicht genieren.« Der Leutnant rückte sich zurecht, um gegen die Zumutung zu protestieren, aber er sah die zusammengezogenen Brauen des Grafen und fing einen warnenden Blick auf, so daß er stumm blieb. Auch dem Könige gefiel der Vorschlag des Staatsministers nicht, er betrachtete den blühenden Jüngling wieder von Kopf bis zu Fuß, aber mit weit geringerem Wohlwollen, und sagte kurz: »Das ist nicht nötig. Die [] Sache soll durch mich erledigt werden«, und verabschiedete den Leutnant durch eine kleine Bewegung seiner Locken.

August meldete seinem Obersten den guten Erfolg der Audienz. »Haben Sie etwas Schriftliches erhalten?« fragte dieser. Und auf die verneinende Antwort sagte er: »Hier aber liegt eine königliche Order. Wir warten also ab.« Aus dem Kabinett erfolgte nichts weiter, August tat seinen Dienst wie zuvor, bis ihn einst der Oberst nach der Parade auf die Seite nahm: »Soeben ist durch das Stadtkommando an mich die Anfrage ergangen, warum Sie die Abbitte noch nicht getan, und dazu der Befehl, die königliche Order unverzüglich auszuführen. Suchen Sie sich schnell selbst zu helfen, wenn Sie Gönner finden.«

Wieder stand August in der Antichambre des Feldmarschalls. Er mußte diesmal lange warten, wurde auch gar nicht eingelassen, der Graf trat heraus, um wegzufahren, und sagte im Vorbeigehen achselzuckend: »Ich bin nicht imstande, Ihnen beizustehen. Der Einfluß jener Dame ist übermächtig geworden. Was ich damals vorschlug, nicht in der Meinung, daß es nötig sein werde, ist jetzt die letzte Hilfe. Suchen Sie die Gräfin auf und sagen Sie ihr etwas Verbindliches, die Dame läßt mit sich reden.« Damit schritt der Minister vorüber. August ging langsam hinterdrein, an der Treppe blieb er stehen und lehnte sich an die Brüstung. Das also war das Ende seiner Hoffnungen, so sah der Dienst in seinem Heimatlande aus! Warum sollte er nicht zu der schönen Gräfin gehen? Das taten ja alle, von Seiner Majestät und dem Feldmarschall an. Warum sollte er, der Leutnant, eine andere Ehre haben als diese? Es war einmal der Welt Lauf. Da kam ihm sein erschossener Hauptmann in den Sinn, er schlug mit der Faust auf den Pfosten der Treppe und rief laut: »Nein!«

»Ja!« antwortete eine Mädchenstimme, und eine kleine geballte Hand schlug neben der seinen auf die Treppe. Vor ihm stand ein junges Fräulein von etwa dreizehn Jahren in elegantem Hauskleide, mit einem feinen Gesicht, das über ihr Alter klug schien; sie neigte das Köpfchen zur Seite, sah ihn schlau an und fragte: »Monsieur König, Leutnant im Leibregiment? Kommen Sie schnell mit.« Sie flog ihm voraus durch mehrere Zimmer und rief lustig an der Tür des letzten: »Bibi, ich habe ihn eingefangen, da ist er!« Ein Mädchen sprang von der Arbeit auf, die Robe, über welcher sie nähte, rauschte auf das Parkett, und Friederike stand, mit hoher Röte übergossen, vor dem Leutnant. Auch August war von dem unverhofften Anblick so überrascht, daß er sich stumm verneigte.

»Ist das ein Wiedersehen von zweien, die einander gut sind?« schalt das mutwillige Fräulein. »Hier ist Bibis Hand, Monsieur König.« Sie zog die Widerstrebende vorwärts. »Wollen Sie ihr einen Kuß geben, so wende ich mich ab.« Sie flog in einen Sessel, warf sich [] hinein und vergnügte sich damit, ihren roten Samtpantoffel vom Fuß in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen. August folgte dem Rat, den die junge Dame gegeben hatte: »Seit Wochen suche ich Sie vergebens.«

»Ich bin hier als Dienerin der Komtesse«, antwortete Friederike befangen.

»Das ist nicht wahr«, rief die Komtesse über die Schulter zurück. »Sie ist meine liebe Freundin und mir von dem Herrn Vater geschenkt, damit sie mich zu einer Deutschen mache.« Man hörte der Sprache des Fräuleins an, daß sie von Fremden erzogen war. »Ich wundere mich über den Herrn Leutnant, weil er mit Worten so sparsam ist.«

»Ich höre der gnädigen Komtesse zu«, versetzte August.

»Ja so«, sagte die Kleine und schnellte wieder in ihren Sessel zurück.

»Es ist mir weit besser geraten, als ich zu hoffen wagte«, erzählte Friederike. »Ich hatte mich wegen eines Unterkommens an unseren Herrn Major Vogt gewandt, und dieser schrieb meinetwegen an den Herrn Grafen, den er aus der Zeit des preußischen Dienstes kannte. Da traf es sich gerade, daß unser Herr Graf selbst für die Komtesse Tochter eine Person suchte, welche in Sachsen fremd wäre und ohne Familienanhang. So hatte ich das Glück, hierherzukommen. Denn, Monsieur König, Sie ahnen nicht, wie gut mein liebes Fräulein ist.« Sie eilte zu der Komtesse und neigte sich über die Hand, die kleine Dame aber faßte sie bei den Ohren, küßte sie und streichelte ihr mit der Hand die Wange, wie eine Mutter ihrem Kinde. »Ich weiß alles«, sagte sie stolz, zu August aufsehend, »daß der Herr Leutnant sich wie ein echter Kavalier gegen Demoiselle Bibi benommen hat. Nein, viel besser. Sie waren ein bescheidener Schäfer, und ich hoffe, Sie sind ihr von ganzem Herzen gut, obgleich ihr nur stumm aus der Ferne füreinander geseufzt habt. Aber Sie sollen wissen, daß Ihre Schäferin auch sehr hübsch zu reden versteht. – Ihren Vogel hat ein Läufer hergebracht, und Sie können ihn im Hause wiedersehen.«

»Dagegen habe ich der lieben Demoiselle für größere Überraschungen zu danken«, sagte August, »die mir hier in mein Quartier geflogen sind.«

Friederike sah befremdet zu ihm auf. »Das war ich«, lachte die Komtesse. »War der Vers nicht schön? Ich habe ihn aber nur abgeschrieben.«

»Von einer anderen Verwendung meiner jungen Herrin aber weiß ich«, sagte Friederike mit glücklichem Lächeln, sich vor dem Offizier verneigend: »Ich gratuliere dem Herrn Leutnant zu seiner Charge.«

»Ach, dieses Glück, welches ich der gnädigen Komtesse zu danken habe«, versetzte August traurig, »hat nicht lange gedauert; ich bin [] gezwungen, meinen Abschied zu nehmen; auch Seine Exzellenz, von der ich eben komme, vermochte mir nicht zu helfen.« Und er erzählte das Unglück. »Mir wurde der Rat gegeben, die Gräfin selbst um Verzeihung anzugehen, aber ich kann mich nicht dazu entschließen.«

Beide Mädchen protestierten lebhaft dagegen. »Das dürfen Sie nicht, um dieser Demoiselle willen«, versetzte die Komtesse mit mehr Ernst, als sie bis dahin gezeigt. »Verzögern Sie, womöglich, die Entscheidung bis auf morgen, Monsieur König, vielleicht habe ich Gelegenheit, mit dem Herrn Vater über Ihren Handel zu sprechen. Jetzt aber dürfen Sie der Demoiselle noch einmal die Hand geben, und dann schicken wir Sie fort. Wollen Sie in Zukunft meinen Liebling sehen, so müssen Sie sich bei mir melden, denn ich bin Herrin im Hause und außerdem Gouvernante dieses Kindes.« August versprach alles und schied mit neuem Lebensmut.

Am Abend war bei dem Staatsminister glänzende Gesellschaft, der König selbst war zugegen und alle Herrschaften des Hofes, welche sich der König begehrte. Beim Beginn der Assembleen war die Komtesse anwesend, vielleicht nach polnischem Brauch, vielleicht weil der Vater, der sie zärtlich liebte, auf den Geist und Takt stolz war, welchen sie bei solchen Gelegenheiten bewies. Die junge Dame empfing an Stelle der abwesenden Hausfrau die Gäste und zog sich zurück, sobald der König sich zum Spiel niedersetzte oder der Tanz begann. Da der König sie seine kleine Hebe nannte, ihr Vater der mächtigste Mann des Landes war und ihre verstorbene Mutter eine Prinzessin vom höchsten polnischen Adel, so wurde sie auch von den Damen mit ungewöhnlichem Respekt behandelt. Und Monsieur August hätte sich über die Haltung gewundert, mit welcher das ausgelassene Kind die Gräfin Orczelska begrüßte, denn bei dem Empfange war das Kind die vornehme Dame, die Gräfin aber, ungeachtet ihrer nahen Beziehungen zum Könige, doch die Unsichere.

Als der König mit der Orczelska und dem Hausherrn sich zum Trisette gesetzt hatte und die Karten ausgeworfen wurden, trat die kleine Komtesse an den König und bat: »Bevor ich Eurer Majestät gute Nacht sage, flehe ich um gnädige Erlaubnis, auch einmal hinter dem Stuhl mitzuspielen.« Der König wandte sich um: »Willst du mein Partner werden?« Das Fräulein nickte: »Ich will auf Eure Majestät gegen die Gräfin halten, wenn Gräfin Orczelska mir das verstattet.«

»Worum will die Komtesse mit mir wetten?« fragte die Gräfin.

»Geld habe ich nicht, aber ich für mein Teil setze meinen Papagei, welcher der Frau Gräfin neulich so gut gefiel, und die Frau Gräfin verspricht, wenn sie verliert, einem Herrn, den ich auswähle, eine Freundlichkeit zu erweisen, die ich auch bestimme.« Da antwortete die Orczelska: »Das ist gefährlich, Komtesse. Ehe ich darauf eingehe, müßte ich wissen, wer der Herr ist.« Das Fräulein nahm schnell [] ein Pergamentblatt, schrieb mit dem Goldstift den Namen August K. und wies ihn der Polin. Diese las, nickte ihr lachend zu und sah den König an, und die Damen legten die Fingerspitzen zur Bekräftigung aufeinander. Das Spiel begann, der König hatte nicht gute Karten, aber die Gräfin war beflissen, ihr Spiel zu verlieren, und so machte sich's, daß die Majestät und mit ihr das Fräulein gewannen. Da verneigte sich das Kind vom Hause tief vor dem König und der Gräfin und sagte: »Majestät, der Herr, dem die Gräfin einen Gefallen zu tun versprochen hat, ist August König, Leutnant im Leibregiment, und das Gute, was die Frau Gräfin ihm tun wird, ist, daß sie die Forderung aufgibt, er solle ihrem Hausbedienten Abbitte tun.« Die Gräfin errötete vor Unwillen und wandte sich zum Minister: »Diese Surprise haben Exzellenz arrangiert. Das Spiel mit dem Gleichklang der Namen war kein Meisterstück.«

»Papa ist unschuldig, gnädige Gräfin«, sagte die Kleine. »Ich traf den Leutnant zufällig in unserem Hause, als er von Papa ohne günstigen Bescheid entlassen war. Seien Sie nicht böse auf mich, daß es mir Freude macht, auch einmal jemanden zu protegieren. Hätten Sie den armen Jungen gesehen, wie traurig er war, er hätte auch Ihnen leid getan. Bitte, schenken Sie mir die Verzeihung für den Leutnant und nehmen Sie dafür den Papagei.«

»Frauen halten ihr Wort gegeneinander«, sagte die Orczelska. »Ich bitte Eure Majestät, den genannten Leutnant zu pardonieren.« Und zu der Tochter vom Hause gewandt, fuhr sie fort: »Er soll sich nicht nur bei der lieben Komtesse bedanken, sondern auch bei mir.«

Da aber entschied seine Majestät mit hoher Würde: »Es ist für einen Offizier am besten, wenn er niemandem zu Dank verpflichtet ist als seinem Landesherrn. Teilen Sie ihm seinen Pardon mit, Flemming.«

Unsicheres Glück

Am Ersten jedes Monats durfte der glückliche Leutnant seine liebe Demoiselle im Hause des Grafen besuchen; dann war immer die kleine Komtesse zugegen; sie las in einem Buche und fuhr nur zuweilen in das Gespräch der Liebenden hinein. Doch trotz dem Zwang, den ihre Gegenwart auferlegte, lernte August jetzt sein Mädchen in anderer Weise lieben als früher; er erkannte nicht nur, daß ihr Herz an ihm hing, auch daß sie gescheit und redlich war und in ihrem Charakter dem Vater gar nicht unähnlich. Zuweilen verwünschte er die Beschränkung des Verkehrs, doch trug gerade das Ungewöhnliche der Besuche dazu bei, seinem lebhaften Sinn das Verhältnis reizvoll zu erhalten. Und als sein Regiment in die alte [] Garnison zurückkehrte, wurde zwar die Trennung schwer, und das Abkommen der Liebenden, einander fleißig zu schreiben, vermochte nur wenig zu trösten, aber August behielt doch die gehobene Stimmung. Er war wieder geneigt, sich für ein Glückskind zu halten, wozu ihn einst die Frauen im elterlichen Hause ernannt hatten. Wurde er auch zuweilen durch Fortunas Finger herabgedrückt, immer wieder war er in die Höhe geschnellt, und er hoffte, daß die Zukunft auch seinem größten Herzenswunsch hold sein werde.

Seine Mutter freilich fand er in ernsten Sorgen, als er sie von der Garnison aus besuchte. Das Vertrauen zu dem Vormunde war gründlich erschüttert. Die Großmama, welche in der letzten Zeit hinfällig geworden, hatte dem vornehmen Vetter Verfügung über den größten Teil ihres Vermögens gestattet, und der Herr war in weltmännischem Leichtsinn der Versuchung unterlegen, dasselbe zur Bezahlung seiner drückenden Schulden zu verwenden. Die Sicherheit, welche er etwa noch bieten konnte, war so ungenügend, daß ein großer Verlust in Aussicht stand.

In dieser Zeit war für Madame König der Anblick ihres Leutnants und der Gedanke an seine gute Karriere die beste Erquickung. Und wenn sich August in der neuen Montur mit seinem silbernen Degen ritterlich um Dorchen bewegte und das Fräulein zu den Tulpen und Narzissen des Gartens führte, gefiel er jetzt auch der gnädigen Frau von Borsdorf; sie bedachte, daß trotz der Schulden das Gut doch nach einigen Jahren einen Landwirt ernähren könne, und da sich auch die polnischen Aussichten als Trugbilder erwiesen hatten, so ging diesmal ihr Herz auf, und sie sagte, auf die Kinder weisend, zu ihrer Freundin: »Es ist ein hübsches Paar, und sie halten treu zusammen.« Aber sie erhielt nicht die Antwort, welche sie begehrte, denn diesmal wurde Madame König zur Vorsicht gemahnt durch den Wunsch, für ihren Sohn eine reiche Partie, wenn auch eine bürgerliche, zu gewinnen, und sie antwortete: »Es ist eine Kinderfreundschaft, meine Liebe, man kann beide ruhig gehen lassen, sie denken sich weiter nichts dabei«, so daß Frau von Borsdorf Mühe hatte, ihre Kränkung zu verbergen und auf dem Rückwege das verwunderte Dorchen schalt, weil sie zu vertraulich mit dem Leutnant gewesen sei.

Nur einen geheimen Kummer hatte August. Sein preußischer Abschied kam nicht. Die Wetterwolken zwischen Preußen und Sachsen hatten sich verzogen, sie konnten nicht mehr das Hindernis sein. War es die Ungnade des Königs? August suchte sich diese Möglichkeit auszureden, aber die Ungewißheit bedrückte ihn so sehr, daß er zum zweitenmal an seinen Gönner Vogt schrieb, welcher jetzt Oberstleutnant des Regiments war, und um Nachricht bat. Auf diesen Brief erhielt er keine Antwort, wohl aber schrieb ihm sein alter Freund Roncourt, er sei veranlaßt, ihn zu benachrichtigen, daß sein [] Name in der Regimentsliste nicht gestrichen und nur durch besondere Gnade des Chefs mit dem Vermerk »beurlaubt« versehen sei, daß aber der Hauptmann heftig von Desertion spreche und behaupte, daß die Kompanie solche Schonung nicht länger ertragen könne. Während August noch den Schreck über diese Nachricht in sich herumtrug, ließ ihn der Oberst kommen und erklärte mit umwölkter Stirn, ihm sei der Privatbrief eines höheren Offiziers von Markgraf Albrecht zugegangen, der König von Preußen habe den Entlassungsschein nicht an das Regiment zurückgeschickt und nach wiederholten Anfragen den Bescheid erteilt, er verweigere den Abschied. Auf dienstlichem Wege sei in dieser unangenehmen Angelegenheit keine Hilfe zu finden.

Bestürzt antwortete August: »Der Herr Oberst haben, als ich eintrat, auf den Entlassungsschein keinen Wert gelegt.«

»Allerdings«, versetzte der Oberst, »unter den damaligen Konjunkturen und da die Erteilung zweifellos schien. Doch verhehle ich Ihnen nicht, daß es dem Regiment unangenehm sein würde, wenn die Herren Preußen an unserem Hofe Alarm schlagen sollten. Deshalb rate ich, die Sache auf diplomatischem Wege zu erledigen.«

»Ich bitte den Herrn Obersten, sich für diesen Weg meiner anzunehmen.«

»Mein junger Freund«, antwortete der Oberst wohlmeinend, »in dergleichen diffizilen Fällen gilt als Regel, daß die große Treppe weniger bequem zum guten Ziele führt als die kleine. Geht die Angelegenheit auf der großen Treppe durch das Regiment an die Majestät, so gibt es auf eine kühle Verwendung aus Dresden eine Antwort von kurzer Höflichkeit aus Berlin, und die Sache kann für immer zu Ihrem Nachteile entschieden sein; während durch Connaissancen und Privatregards ohne Schwierigkeit das Gewünschte erreicht wird. Sie kennen ja den würdigen Herrn von Reck.«

Das mußte August zugeben. Denn Herr von Reck, Besitzer eines nahen Gutes, war Dorchens Vormund; August hatte schon als Knabe auf dem Gute zugleich mit Dorchen im Wasser gelegen und war jetzt zuweilen bei Jagden ein willkommener Gast. »Der Kavalier«, fuhr der Oberst fort, »ist ein Verwandter unseres Geschäftsträgers in Berlin; wenn er diesen veranlaßt, bei dem Staatsminister von Grumbkow einige gute Worte einzulegen, so wird der Entlassungsschein ohne allen Lärm erteilt.«

August war mit diesem Bescheid unzufrieden, aber er fand keinen besseren Rat. Er fuhr sogleich auf das Gut des Herrn von Reck, machte ihn zum Vertrauten seiner Not und erhielt das Versprechen warmer Verwendung. Er sah jetzt ein, daß er in übler Lage war. Es wurde ihm leicht, gegen die Mutter zu schweigen; aber das größte Mißbehagen empfand er, als er an seinen Bruder schrieb, denn er getraute sich nicht mehr, diesem seine Verlegenheit mitzuteilen. Sich [] selbst sagte er, daß er dem Bruder nicht unnötige Sorgen machen dürfe, aber im Grunde bangte ihm vor dem entschiedenen Willen des Ältesten. Bald jedoch gewann er wieder Zutrauen auf einen guten Ausgang dieser Angelegenheit, denn er empfing einen neuen Beweis, daß das Glück nicht müde wurde, ihm Überraschungen zu bereiten.

Einst sah er auf der Straße einen kleinen Herrn vor sich hergehen mit gebeugtem Haupte, in schwarzem Trauerkleide, den Degen an der Seite. Erst nach einer Weile erkannte er seinen früheren Rekruten und wollte verwundert über den Wandel im Äußeren des Magisters mit kurzem Gruß vorüber, als der Kleine aufblickte und ihn anredete, während ein Freudenschimmer über sein Gesicht zog: »Es ist mir ein unerwartetes Vergnügen, den Herrn Leutnant wiederzusehen.«

»Guten Morgen, Herr Magister«, versetzte August und ging weiter. Aber der Kleine drängte sich an seine Seite und bat, indem er, die Hand am Degen, gleichen Schritt zu halten suchte: »Entziehen sich der Herr Leutnant nicht meiner Gesellschaft, da mir jetzt ein mitfühlendes Herz Bedürfnis ist. – Juno ist gestorben, lieber Monsieur König.«

»Ich bedaure, Herr Magister.«

Der Kleine griff nach seinem Taschentuch. »Sie war zuweilen strenge«, sagte er, »jedoch lag das mehr in ihrem Charakter als in einer ungünstigen Gesinnung gegen mich, denn sie meinte es manchmal besser zu mir als ich selbst.« Er wischte sich die Augen: »Lugete Veneres Cupidinesque! Sie hat mir alles hinterlassen, was sie besaß: drei Häuser, und in dem Kasten, dessen Schlüssel immer in ihrem Bett steckte, war viel mehr, als irgend jemand gedacht hatte; und kurz, Monsieur König, ich bin auf meine alten Tage ein reicher Mann.« Wieder faßte er nach seinem Tuche.

»Dazu wünsche ich Glück, Herr Magister«, sagte August, immer noch bemüht, sich zu entziehen.

Aber der Witwer fuhr, Tritt haltend, fort: »Wer zu den Sechzigen gekommen ist und in der Welt allein steht, findet das Glück nicht groß. Hat der Herr Leutnant einige Zeit für mich übrig, so wage ich die Bitte, mit mir hier auf den Friedhof zu treten und das Monument zu betrachten, welches ich der Seligen gesetzt habe.«

Er bat so angelegentlich, daß August mit ihm ging. Als der Kleine mit Genugtuung die Urne aus Sandstein gewiesen und die Tafel, deren Inschrift den Verlust einer zärtlichen Gattin beklagte, setzte er sich auf eine Ecke des Grabsteines und begann feierlich: »Herr Leutnant, ich habe Sie hierhergeführt, weil es mich drängt, Ihnen etwas mitzuteilen. Ich kann das einsame Leben nicht länger ertragen.«

»Wollen Sie wieder heiraten?« fragte August verwundert.

[] »Damit ist es vorbei«, sagte der Magister, den Gedanken mit der Hand abwehrend. »Nein, Monsieur König, ich habe den Wunsch, Sie nach römischem Recht zu adoptieren und zu meinem Erben zu machen.«

»Herr Magister«, versetzte der erstaunte August, »das ist ein Gedanke wie damals, wo Sie mein Rekrut werden wollten. Es würde Ihnen bald leid tun. Sie wissen, ich habe schon einmal Unannehmlichkeiten gehabt, weil ich Ihrem Wunsche willfährig war; es könnte mir jetzt noch übler bekommen.«

»Mir war es damals widerwärtig«, klagte der Magister, »und es geschah gegen meinen Willen, daß die Verwandten sich einmischten. Jetzt aber ist auch mein Bruder tot, obgleich er jünger war als ich, und er hat keine Kinder hinterlassen. Da habe ich Sie mir ausgewählt. Sie waren mir angenehm seit Ihrer Kinderzeit, und Sie haben das richtige heroische Wesen, denn mein Erbe soll nur ein Mann von Bravour sein.«

Da August trotz der ernsten Zumutung, die ihm gestellt wurde, ein Lächeln nicht bergen konnte, hob der Kleine den Finger und sagte feierlich: »Herr Leutnant, wenn Ihnen das Innere meines Herzens bekannt wäre, würden Sie nicht lachen. Lassen Sie sich vor dieser Urne erzählen, was ich noch keinem Menschen vertraut habe, auch nicht meiner Seligen. Ich war ein fröhliches Kind von guten Anlagen, hatte immer Freude an dem Poetischen und einen guten Stilus, so daß die Lehrer und auf der Universität die Herren Professoren mich lobten und meine Mutter auf mich, als den ältesten der Kinder, ihre ganze Hoffnung setzte. Aber ich war demütig erzogen und von schüchterner Natur. Da, als ich bereits Magister war und den Degen trug, wurden meine Mutter und meine verstorbene Schwester von einem jungen Offizier so schwer beleidigt, daß ich die Pflicht fühlte, Satisfaktion von ihm zu fordern. Ich fühlte die Pflicht, Monsieur König, denn ich hatte das richtige Ehrgefühl; aber als es dazu kam, versagte dem armen Magister der Mut.« Er verdeckte die Augen mit der Hand. »Dies wurde das Unglück meines Lebens, denn seitdem war ich mir selbst verächtlich; die Leute wunderten sich, daß ich herunterkam und in die Schenke ging, und meine Mutter starb in Kummer.« Er stützte den Kopf auf die Hand. »Sie werden mich ganz gering achten, Herr Leutnant.«

»Nein, lieber Herr Magister«, rief August in herzlichem Mitgefühl. »Ich kann mir jetzt auch denken, weshalb Sie immer Soldat werden wollten.«

»Nicht wahr?« fragte der Magister aufblickend, »als Soldat hätte ich die Dreistigkeit erhalten. Sie aber, Monsieur König, haben das resolute Wesen, welches ich mir wünsche. Als Sie mich arretierten, fühlte ich in meinem Herzen die größte Hochachtung vor Ihnen. Seit der Zeit lag mir auf der Seele, wie glücklich ich wäre, wenn ich [] einen solchen Sohn hätte. Darum will ich Sie dazu machen, indem ich Sie an Kindesstatt annehme, und ich bitte Sie, mißachten Sie meinen Antrag nicht, denn er kommt aus gutem Herzen und ist ernsthaft gemeint.«

Da schüttelte August die Hand des Magisters und antwortete: »Der Herr Magister hat mir größeres Vertrauen geschenkt als sonst jemanden. Ich will meinen Dank dadurch beweisen, daß auch ich Ihnen etwas offenbare, was noch niemand von mir gehört hat. Aber, Herr Magister, nicht auf dem Friedhofe, sondern im Freien, wenn Sie mich begleiten wollen.« Der Kleine erhob sich bereitwillig, und August führte ihn aus dem Tore zwischen die Getreidefelder. Dort begann er im Sonnenlicht unter den blühenden Ähren: »Ich will zu Ihnen von einer Demoiselle sprechen, die ich innig liebe und die, wie ich hoffe, auch mir zugeneigt ist. Sie ist sittsam und gut erzogen, aber sie trägt ein schweres Unglück, sie hat vor dem Gesetz keinen Vater.« Und er erzählte den ganzen Verlauf seiner Liebe, wie er Friederike kennengelernt und wie er Jahr und Tag den Zwang getragen, sie nicht zu sprechen. Er erwähnte auch bescheiden den Stieglitz und das Honorar für die französische Stunde, den Tod ihres Vaters und wie er sie verloren und in der Hauptstadt wiedergefunden, und er schloß mit den Worten: »Herr Magister, meine Mutter lebt, und sie würde es als eine Untreue des Sohnes gegen den verstorbenen Vater betrachten, wenn ich in eine andere Familie treten wollte. Kann ich aber nicht der Sohn des Herrn Magisters werden, das Glück meines Lebens würde ich Ihnen danken, wenn Sie mich zum Schwiegersohn annehmen wollten.« Während August feurig von der Geliebten erzählte, saß der kleine Magister unter Kornblumen und Feldmohn auf einem Stein, und um ihn wogten die Ähren im Winde. Er saß still mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen, und die Tränen liefen ihm immer stärker an den Wangen herab, ohne daß er es selbst wußte. Nur einmal, als der Erzähler von dem gewaltsamen Tode des Hauptmanns berichtete, stand er auf und starrte den Jüngling mit wildem Blick an, aber er setzte sich sogleich wieder. Als August geendet hatte, blieb der Kleine noch immer sprachlos, der Mund zuckte ihm krampfhaft, und er rang vergebens mit seiner Bewegung. Endlich begann er leise: »Jener erwähnte Hauptmann Spieß war als Fähnrich in sächsischem Dienst und trat bei der Reduktion in ein preußisches Regiment. Der Magister Blasius aber und sein Bruder haben nach der Sitte der Gelehrten ihrem Namen die lateinische Endung angehängt, und die verstorbene Mutter der Demoiselle Friederike, welcher Sie gut sind, hieß mit ihrem Familiennamen Blaß und war die leibliche Schwester desselben Magisters, welchen Sie kennen. Der Hauptmann nahm die Tochter als sein Kind feindselig in das Preußische. – Lassen Sie mich jetzt allein, Monsieur August. Ein alter Mann wünscht der göttlichen Vorsehung zu danken, [] daß sie es mit ihm in seinen alten Tagen weit besser gefügt hat, als er verdient.« Er winkte grüßend mit der Hand und ging allein durch die Kornfelder dahin.

Am nächsten Tage reiste der Magister mit Briefen, die ihm August für die Geliebte und für die Komtesse geschrieben hatte, nach der Residenz. Beim Abschiede sagte er dem Glücklichen: »Ich komme nicht eher zurück, als bis ich durch das geheime Konseil für mich eine Tochter und für Sie die Jungfer Braut erhalten habe, und ich hoffe, daß ich das Kind mitbringe.«

Unterdes empfing Herr von Reck die Antwort seines Verwandten; sie war so ungünstig wie möglich. Der König hatte auf ein wohlwollendes Fürwort, welches in seinem Tabakskollegium an ihn gerichtet wurde, zornig geantwortet, er werde dem Flüchtling den Entlassungsschein nicht geben und wenn die sächsische Majestät selbst ihn darum angehe. Er wolle ein Exempel statuieren. Auffällig sei nur, daß er trotzdem die Sache liegen lasse und beim Regiment nichts verfüge. Vielleicht könne noch eine zu guter Stunde von der Familie übergebene Supplik nützen, und dafür eröffne sich gute Gelegenheit, weil der König in den nächsten Wochen das Kottbuser Land bereisen und ganz in der Nähe des Herrn von Reck verweilen werde.

Nach Empfang dieses Briefes ließ sich Herr von Reck durch sein Mündel, welches für die Sommermonate zum Besuch war, die Londoner Adresse des Kandidaten König geben und schrieb zunächst nicht an August, sondern an den Ältesten der Familie.

Dorchen war an einem hellen Sommertage mit sorglosem Herzen durch die Felder gewandelt. Jetzt lehnte sie an dem neuen Geländer des Steges, von dem sie als Kind ins Wasser gefallen war, band Feldblumen zu einem Strauße und dachte an vergangene Zeiten. Da vernahm sie schnelle Tritte, derselbe Mann, von dem sie selig geträumt, kam auf sie zu. Sie wußte bereits, daß er im Herbst aus England zurückerwartet wurde, und flog ihm freudig entgegen. Aber sie hielt erschrocken vor dem schwermütigen Ernst an, der auf seinem Antlitz lag. »Ich komme meines Bruders wegen, dessen Ehre und künftiges Leben in großer Gefahr sind«, begann Fritz gemessen. »Einen Tag war ich bei der Mutter; ich habe ihr nur gesagt, daß ich wegen Augusts Entlassung mit Ihrem Herrn Vormund verhandeln müsse. Dies ist jetzt geschehen. Von hier gehe ich, um mich nach meinem Versprechen dem Könige von Preußen zu stellen. Ich habe keine Hoffnung, zurückzukehren. Vorher wollte ich noch einmal das liebe Fräulein sehen; ich bitte Sie, daß Sie meiner freundlich gedenken.« – »Muß der Herr Kandidat gehen?« fragte Dorchen, einer Ohnmacht nahe.

»Ich muß. Die Gefahr ist für meinen Bruder und für mich nicht dieselbe. Er hat harte Strafe zu befürchten, die er schwerlich ertragen würde, ich habe davon nichts zu erwarten. Leben Sie wohl, [] Dorothee.« Ihn übermannte die Rührung, er wandte sich schnell ab und schritt dem Hause zu. Dorchen neigte sich über das Geländer, die Sommerblumen schwammen im Wasser dahin.

In der Wohnung des Magisters saßen am Abend desselben Tages drei Fröhliche zusammen; der Magister als Hausherr und Vater nahm den Ehrenplatz auf dem Sofa ein, aber der neuen Würde ungewohnt, fuhr er hin und her, um Tischgerät herbeizuholen, so daß Friederike ihn bitten mußte, ihr Recht als Tochter zu beachten. Die Demoiselle goß den Herren aus großer Kanne den vornehmen Trank der Schokolade, welche der Magister aus der Residenz mitgebracht, in die Schälchen, und August freute sich innig über die sichere Ruhe, mit welcher sie sich in der neuen Umgebung bewegte. Während er erzählte und die beiden zuhörten, trat sein Bursch herein und brachte einen Brief, den ein Expreßbote vom Gute des Herrn Reck zugetragen hatte. Darin schrieb der Gutsherr vorsichtig, daß Augusts Bruder angekommen sei und sich dem König von Preußen während dessen Reise vorstellen wolle. Dem Herrn Leutnant werde erwünscht sein, dies zu erfahren und vielleicht mit dem Absender des Briefes Rücksprache zu nehmen.

August saß betäubt, und in dem Bestreben, sich und der Geliebten den furchtbaren Ernst der Nachricht zu verhüllen, sagte er: »Mein lieber Fritz! Ich denke, ihm gelingt es, mit dem König fertig zu werden.« Aber er rief gleich darauf: »Ein Fremder muß mir schreiben, daß mein Bruder in der Nähe ist.«

Niemand antwortete. August stützte den Kopf in die Hand und starrte auf den Brief. Da sagte Friederike ruhig: »Ist der Herr Bruder von großer Leibeslänge und sein Versprechen gegen unseren König von der Art, wie er dem Monsieur August erzählt hat, so wird dem Könige mehr an dem Bruder gelegen sein als an meinem lieben Monsieur, und der König wird den Bruder nach Potsdam schicken.«

August stand auf. Die Worte waren wie ein Windeshauch, der den Nebel vor seinen Augen zerriß, er sah die Geliebte unverwandt an, sie ebenso ihn, doch keines sprach von dem, was zu tun sei. Endlich beugte sich Friederike über den Bauer, in welchem der Stieglitz alt und lebensmüde saß, und redete zu dem Vogel: »Wenn unser lieber Monsieur August seine Strafe überstanden hat und wieder als Gemeiner bei Markgraf Albrecht eingekleidet wird, dann ziehen auch wir beide fort von hier in das kleine Haus an der Stadtmauer. Die Rieke kocht und wäscht ihrem Schatz, und der Vogel singt.«

Da ergriff August seinen Hut und sprang aus dem Zimmer.

[]
König Friedrich Wilhelm

Das Kottbuser Ländchen lag wie eine preußische Insel rings von sächsischem Gebiet umgeben. König Friedrich Wilhelm war zur Besichtigung gekommen, hatte Soldaten gemustert und Kammergüter bereist. Jetzt war er bei einem ansehnlichen Gutsherrn zu Gaste, welcher sich mehr als andere Standesgenossen um die Kultur seines Gutes und der Umgebung bemühte.

Da der König den Aufenthalt in freier Luft liebte, so hatte der Gutsherr ein Zelt aus roher Leinwand aufgeschlagen mit einem größeren Raume für die Mahlzeit und einem kleineren daneben, wohin die Majestät sich zu ihrer Bequemlichkeit zurückziehen konnte. Die Vorderseite des Raumes, in dem der König bei Tische saß, war offen, so daß der Herr von seinem Sitz ein großes Tabaksfeld überschauen konnte, dessen hochaufgeschossene Stauden dem Wirte zu Freude und Stolz gereichten, denn er versuchte als erster in dieser Gegend den Bau der einträglichen Pflanze.

Der König war in sehr vergnügter Stimmung; er hatte unter den aufgesetzten Speisen Rauchfleisch mit Erbsen gefunden, einem alten Rheinweine tapfer zugesprochen und hörte jetzt am Ende der Mahlzeit wohlgefällig an, was der Landwirt von den Vorteilen des Tabakbaues erzählte.

»Aber der Dünger, Kottwitz, wo soll der in dieser magern Gegend herkommen?« fragte die Majestät. Und als der Gutsherr von seiner Absicht sprach, einen schlechten Teich auszutrocknen und nach einer Vorfrucht Tabak dorthin zu pflanzen, schüttelte der König das Haupt und sagte: »Kottwitz, das wird Lausewenzel. Die Sache mag gut sein, aber rauchen tu' ich deinen Tabak nicht.«

Da wagte der Landwirt die Güte seines Tabaks zu verteidigen, trug eine Büchse und Tonpfeifen herzu, stopfte eine Pfeife und bat ehrerbietig, die Majestät möge nur einmal selbst versuchen.

Der König aber, welcher diesem Tabak nichts Gutes zutraute und dem auch unlieb war, daß eine fremde Hand gestopft hatte, legte die Pfeife beiseite und sprach wohlwollend weiter.

Der diensttuende Offizier wurde hinausgerufen; der König sah sich wiederholt nach ihm um und rief dem Eintretenden ungeduldig entgegen. »Was gibt's, Einsiedel? Was hast du? Brennt das Pulver in der Tasche?«

»Eure Majestät, ein auswärtiger Zivilist fleht um Gehör. Er gibt an, ein Kursachse zu sein, Magister und Kandidat der Theologie, mit Namen König.«

»König?« wiederholte die Majestät nachdenkend. »Was will der Sachse? Hast du ihn nicht gefragt?«

»Er will Eurer Majestät sein Anliegen selbst vortragen. Ein schöner Mann, Majestät, wenigstens einen Zoll über sechs Fuß.« Der [] König stand schnell auf. »Den kenne ich, er soll sogleich hereinkommen.« Er winkte mit der Hand, die Gesellschaft trat ehrerbietig aus dem Zelte, und Friedrich wurde eingeführt. Er war bleich, aber er trug das Haupt hoch, als er nach ehrfurchtsvoller Verbeugung begann: »Eure Majestät befahlen mir vor zwei Jahren an Stelle meines Bruders, welcher damals in Eurer Majestät Diensten stand, zu kommen. Ich habe die Ehre, mich zu melden.«

Die Miene des Königs verfinsterte sich, und die Finger umfaßten heftig das Rohr. »Euer Bruder ist ein fahnenflüchtiger Deserteur, und Ihr seid nicht viel besser. Ihr habt zwei Jahre gebraucht, um Euch an Euer Versprechen zu erinnern.«

»Halten Eure Majestät zu Gnaden, ich war als Erzieher zwei Jahre im Ausland, hier ist mein Reisepaß und das Zeugnis meines Prinzipals; meine Angehörigen hatten mir in zu großer Sorge um meine Zukunft verborgen, daß Eure Majestät die Entlassung meines Bruders, welche ihm durch den Chef des Regiments erteilt war, kassiert haben. Vor wenigen Tagen kam ich in mein Vaterland zurück, erst dort habe ich das Schicksal meines unglücklichen Bruders erfahren. Von der Stunde an wußte ich wohl, was ich zu tun hatte.« Er bot die Papiere.

»Nimm die Schreiberei«, sagte der König zu Einsiedel.

»Es ist, wie er sagt«, berichtete dieser hineinblickend, »in dem Briefe versichert Herr von Reck, daß er selbst die schmerzliche Überraschung des Anwesenden gesehen, und er fleht die Gnade Eurer Majestät für den redlichen Mann an.«

»Der von Reck ist ein ordentlicher Kerl, aber Euch, Sachse, nützt sein Fürwort nichts. Euer Bruder hat mich unverantwortlich hintergangen, und Eure Regierung hat alle amikabeln Regards vergessen, als sie meinen Fahnenkorporal ohne Entlassungsschein zum Offizier annahm. Was soll daraus werden, wenn die Ehre und Reputation der deutschen Offiziere in solcher Weise prostituiert wird? Ich will ein Beispiel geben, daß ich mich nicht durch schöne Worte hinter das Licht führen lasse. Euer Bruder mag zum Teufel gehen, Ihr aber, da ich Euch jetzt habe, tretet zur Stelle statt seiner ein.«

»Was Eure Majestät über mein Schicksal beschließen, muß ich mir gefallen lassen«, sprach Friedrich ergeben, »denn ich habe Eurer Majestät versprochen, wenn Dieselben es fordern, mein Leben zur Verfügung zu stellen. Dazu bin ich jetzt bereit; aber eben deshalb flehe ich für meinen armen Bruder um Gerechtigkeit. Dieser ist nicht so schuldig, wie Eure Majestät annehmen, und er ist der Verzeihung und Gnade nicht unwert; auch seine Offiziersehre wage ich in tiefster Submission vor Eurer Majestät zu verteidigen. Er hatte von seinem preußischen Vorgesetzten unter amtlichem Siegel die Zuschrift erhalten, daß seine Entlassung von dem hohen Chef des Regiments bereits ausgefertigt sei und daß nur durch die Kommunikation an [] Eure Majestät die Zusendung verzögert werde. War mein Bruder im Irrtum, wenn er dies Schreiben für eine Lösung seines Dienstverhältnisses hielt, so hat er sich doch nicht darauf verlassen, sondern die sächsischen Kommandeure selbst, welche ihm den Eintritt in den sächsischen Dienst antrugen, haben ihm die Zusicherung gegeben, die Aushändigung des Entlassungsscheins bewirken zu wollen, nötigenfalls durch die Gesandtschaft.«

Der König stieß heftig mit dem Stocke auf. »Das ist eben die Lacheté, und dafür müßt Ihr jetzt entgelten.«

»Haben die sächsischen Oberoffiziere aber zu voreilig der Gnade Eurer Majestät vertraut«, fuhr Friedrich demütig fort, »so vertraue ich, daß die hohe Gerechtigkeit des Königs von Preußen nicht das Versehen derselben meinem Bruder zurechnen wird, der damals noch jung war und sich in betreff seiner Offiziersehre willig auf das Urteil seiner Vorgesetzten verließ.«

»Ich würde diese beim Kopfe kriegen, wenn ich sie hätte; so aber muß ich mich jetzt an Euch halten.«

»Mein Schicksal habe ich mit Vertrauen einem Herrn übergeben, der die Gedanken der Könige lenkt und ihre Taten richtet, und ich stehe vor Eurer Majestät als ein Mann, der gefaßt ist, sich von allen Hoffnungen, die er sonst für seine Zukunft hegte, zu scheiden. Aber da bis jetzt mein Beruf war, die heiligen Gebote mir und anderen zu erklären, so gestatten Eure Majestät mir auch zu sagen, daß das Versehen, welches durch meinen Bruder und durch die sächsischen Behörden etwa gegen Eurer Majestät hohes Amt begangen wurde, geringfügig ist gegenüber dem größeren Unrecht, welches Eure Majestät selbst an meinem Bruder begangen haben.«

Der König hob den Stock und trat ihm näher. »Was untersteht Er sich?«

»Ich spreche aus, was der gerechte Sinn des Königs von Preußen ohnedies recht gut weiß. Mein Bruder trat als Ausländer freiwillig in Eurer Majestät Dienst, aber er wurde dadurch nicht Eurer Majestät Sklave. Als unser Vater starb und die Familienverhältnisse eine Rückkehr in die Heimat wünschenswert machten, hat mein Bruder wiederholt um seinen Abschied angehalten, und dieser ist ihm wiederholt verweigert worden; zuletzt wurde ihm Urlaub, um seine kranke Mutter zu besuchen, nur erteilt, nachdem Eure Majestät mich als Bruder wegen der Rückkehr verpflichtet hatten in einer Weise, welche bei Christen und Heiden ungewöhnlich ist.«

Einsiedel trat einen Schritt vor und machte eine abwehrende Bewegung. »Laß den sächsischen Pfaffen nur schwatzen«, sagte der König grimmig, »er hält seine Henkerspredigt. Was wagt Er mir mit seiner Zunge noch auf die Seele zu reden?«

»Nichts weiter«, sagte Friedrich fest, bebte ihm auch in tiefer Bewegung die Stimme. »Für mich selbst habe ich nichts zu bitten.

[] Eure Majestät werden Ihre Macht an mir üben, wie Sie es vor Gott verantworten können. Ich weiß, daß Eure Majestät in dem Rufe eines strengen Herrn stehen, und manche nennen Eure Majestät hart. Trifft mich die Härte, vielleicht haben andere den Segen.«

»Das hieß Ihn Gott reden«, rief der König, den Stock senkend.

Auf der Landstraße rollte ein Wagen heran; gleich darauf war außerhalb des Zeltes eine Bewegung erkennbar. Der Offizier eilte hinaus und brachte die Meldung: »Herr von Reck ist angekommen, um Eure Majestät von kursächsischer Seite zu begrüßen. Er hat eine Demoiselle mitgebracht und erfleht für sich und seine Begleiterin Audienz.«

»Jetzt schicken die Sachsen noch gar ihre Schürzen aus, um mir den Nachmittag zu verderben«, grollte der König. »Höre, Einsiedel, diesen hier will ich so gleich in der Montur meines Regiments sehen. Der Sergeant Döpel soll mit ihm tauschen.«

»Der Döpel ist anderthalb Zoll größer«, wandte der Offizier ein, welcher trotz seines Berufes ein gewisses Mitleid mit dem Fremden fühlte.

»Tut nichts«, sagte der König, »du mußt an den Knien nachgeben.«

»Der Döpel ist auch schmäler in den Schultern; es ist schade darum, der Mann wird sich schlecht präsentieren.«

»Dummes Zeug«, rief der König. »Zieh ihn hier gleich hinter der Leinwand an« – er wies auf den Nebenraum des Zeltes. »Rechts um und marsch!« befahl er seinem Opfer und sah ihm behaglich nach. »Die Fremden laß herein!«

Der sächsische Gutsbesitzer wurde mit Dorchen in das Zelt geführt. Der König stand würdig in der Mitte des Raumes: »Ich weiß mich sehr wohl auf Sie zu besinnen, Herr von Reck. Ist es ein Verwandter von Ihnen, der bei Marwitz steht?«

»Zu Befehl, Majestät, es ist mein Bruder!«

»Was also führt Sie zu mir?«

»Mir ist die Ehre geworden, Eure Majestät im Auftrage der sächsischen Regierung ehrfurchtsvoll zu begrüßen. Zugleich wage ich mein Mündel, Dorothea von Borsdorf, höchster Gnade zu empfehlen.«

Der König sah in guter Laune auf das hübsche Mädchen. »Will das Fräulein in preußischen Dienst treten?« Dorothea wollte sich tief verneigen, aber sie sank auf die Knie und hob die gefalteten Hände flehend auf.

»Stehen Sie auf, junges Frauenzimmer«, sagte der König zurücktretend; »ich kann's nicht leiden, wenn Fremde vor mir knien. Am wenigsten Weiber. Ich knie auch nicht vor Ihresgleichen. Was ist Ihr Begehr?«

»Retten Eure Majestät den Fritz König.« Die Miene des Monarchen [] umwölkte sich. »Ha so! Hat er Sie angestiftet, zu mir zu kommen?« – »Nein«, rief Dorchen, »und er soll nie erfahren, daß ich gewagt habe, seinetwegen zu Eurer Majestät zu dringen.«

»Er ist ihr Bräutigam?« fragte der König, zu dem Begleiter gewandt.

»Nein!« entschuldigte sich Dorchen, »er ist nur ein guter Freund aus der Zeit, wo wir Kinder waren. Damals hat er mich mit eigener Lebensgefahr vor dem Ertrinken bewahrt, und«, fuhr sie errötend und stockend fort, »auch später hat er sich meinetwegen in Gefahr gestürzt, um mich in Polen aus schrecklicher Lage zu befreien.«

»Ich denke, er war in England«, sagte der König mit erwachendem Mißtrauen.

»Es war vor seiner Reise, damals, als er zuerst vor Eurer Majestät Angesicht kam. Ich war während jener fürchterlichen Wochen zu Thorn, und er brachte mich zu meinen Verwandten zurück.«

»Darum also wagte sich der Candidatus unter die Säbel der Polen? Und Sie haben die Geschichte ebenfalls erlebt? Ich kann sie nicht aus dem Gedächtnis bringen, und wir müssen sagen: Der Herr weiß alles zum besten zu lenken, aber wir ängstigen uns, weil wir seine Gedanken nicht verstehen.«

»Dasselbe sagte damals auch Fritz.«

»So?« fragte der König, »er ist wohl ein heftiger Theologe, der gegen die Andersgläubigen auf seiner Kanzel paukt?«

»So ist er nicht, er folgt mehr der Lehre von der Liebe und dem Erbarmen, nur daß er kein Kopfhänger ist.«

»Das ist recht«, bestätigte der König zufrieden. »Die Diskutierer auf der Kanzel kann ich nicht leiden und die Kopfhänger auch nicht. Wer ein gutes Gewissen hat, soll freudig und beherzt geradeaus sehen. Tun Sie das auch, mein Kind, und sagen Sie mir ehrlich, was Sie wollen. Ich soll den Mann nicht für mich haben, sondern Ihnen zurückgeben, weil Sie ihn selber behalten wollen.«

Ein glühendes Rot flog über Dorchens Gesicht. Unter den kurzen Worten des Königs zerriß der Schleier, welcher ihr das eigene warme Gefühl verborgen hatte, und leise sagte sie: »Das will ich nicht!« Aber im nächsten Augenblick lag sie wieder auf den Knien und rang die Hände. »Ich habe gewagt, Herr König, was für ein armes Mädchen zu viel und schwer ist, verachten Sie deshalb meine Bitte nicht. Ja, ich bin ihm gut, und was noch niemand von mir gehört hat, Eurer Majestät will ich es gestehen, damit Eure Majestät sich unser erbarmen. Ich weiß, daß er aus brüderlicher Liebe sich ausgeliefert hat wie jemand, der in den Tod geht, denn er ist nicht zum Soldaten erzogen, sondern zum Geistlichen.«

»Wie können Sie sagen, Demoiselle, daß er zu mir gekommen ist wie einer, der sich dem Profos ausliefert? Hat er eine solche Meinung vom König von Preußen?«

[] »Nein!« rief wieder Dorchen, noch immer kniend, »ich hätte nicht gewagt, zu kommen, wenn Monsieur Fritz nicht zu Eurer Majestät ein ganz anderes Vertrauen hätte. Denn damals, als wir die unglückliche polnische Stadt verließen, sagte er zu mir mit schwerem Seufzen: Als Sachse wollte ich, wir hätten das nicht erlebt, und ich wollte lieber, wir wären unter dem König von Preußen zu Hause.«

»Nun«, sagte der König, »was nicht ist, kann noch werden.« Er schob die Leinwand zurück und rief:

»Herein, Sergeant!« Friedrich trat ein im blauen Rock des Königs. Er stand steif da, aber die Augen waren ihm feucht, und er hatte Mühe, die Haltung zu bewahren.

Als Dorothea den Geliebten in der Montur erblickte, verlor sie alle Fassung, die Tränen brachen ihr aus den Augen, und sie verbarg ihr Gesicht im Tuche. Unterdes betrachtete der König mit innigem Vergnügen das Aussehen des Theologen. »Die Montur ist gar nicht zu enge«, sagte er zu seinem Vertrauten, »mit dem Maß hattest du recht, er käme doch noch ins erste Glied. – Was ist hier los?« fuhr er verwundert gegen Dorothea fort. »Herr von Reck, Ihr Mündel ist mit der Veränderung nicht zufrieden. – Hat Er gehört, was diese von Ihm erzählt hat?«

»Ja«, antwortete Friedrich leise, »wider meinen Willen.«

»Es geschah auch nicht mit meinem Willen, Fräulein«, versuchte der König zu begütigen, »aber das Unglück ist einmal geschehen, nun wißt ihr's beide. Hören Sie auf mit dem Weinen!« – er stampfte mit dem Stocke auf – »das kann ich nicht leiden. Sie gefielen mir vorhin besser. Was sagt Er zu den Geständnissen dieser Demoiselle?«

»Die Erinnerung daran wird mir für mein Leben das höchste Glück sein; ihre Worte gleichen dem letzten Gruß eines Freundes, von dem ich für immer scheide.«

»Wegen meines Rockes?« fragte der König.

»Ja«, sagte Fritz. »Auch die Mutter hatte den Wunsch, daß Fräulein Dorothea einst die Gattin meines Bruders wird.«

Der König sah enttäuscht von einem zum andern. »Zum Teufel mit Eurem Bruder!« rief er unwillig.

Wieder trat der Offizier ein, diesmal selbst in Alteration. »Der Freikorporal König von Markgraf Albrecht meldet sich in Arrest.«

Dorchen stieß einen leisen Schrei aus und tat einen Schritt auf Fritz zu, als wenn sie bei ihm Schutz suchte; auch der König stand überrascht. »Einsiedel, ich will ihn nicht sehen. Trägt er sächsische Montur?«

»Er kommt zivil, er hat heut früh seine Entlassung aus dem sächsischen Dienst genommen.«

»Hast du ihm gesagt, daß der Bruder statt seiner angenommen ist?«

»Gewiß«, antwortete der Offizier, »und ich habe ihm gesagt, [] daß er wie ein Verrückter handelt, wenn er sich jetzt in unsere Hände und vor die Augen Eurer Majestät wagt. Ich habe ihm geraten, er soll zur Stelle seinem Pferde die Sporen geben und nach Sachsen zurückreiten, denn was ihm hier bevorstehe, sei ein Kriegsgericht und dahinter Ketten oder eine Kugel.«

»Das war recht«, sagte der König.

»Er aber meinte, er könne nicht dulden, daß der Bruder für sein Unrecht bezahle, und müsse darauf bestehen, sich selbst anzugeben.«

»Warum hat er nicht früher so gedacht?« grollte der König und sah von der Seite auf Friedrich. »Es ist zu spät, der andere ist bereits angenommen.«

»Das hielt ich ihm vor; er aber meinte, er könne nicht leben mit einer solchen Schuld gegen seinen Bruder auf der Seele, und ich sollte so barmherzig sein und ihn melden.«

»Wie war er?«

»Wie ein braver Kerl vor dem Duell, höflich aber kurz.«

Der König sah wieder nach den Liebenden. Die weinende Dorothee hatte die Hand des Rekruten ergriffen, und er blickte ihr traurig ins Gesicht. »Geht beide dort hinein«, gebot der Monarch, »und damit die jungen Leute nicht miteinander allein bleiben, leisten Sie ihnen Gesellschaft, Herr von Reck.« – Darauf befahl er dem Offizier: »Ich will den Ausreißer doch sehen, halte für alle Fälle die Wache bereit mit Ober-und Untergewehr.«

»Eure Majestät haben ja niemand mitgenommen als den Döpel, weil Dieselben meinten, Sie wollten Kottwitzen nicht zuschanden essen; und der Döpel steckt, wie Eure Majestät befohlen, in dem schwarzen Rock des Theologen.«

»Dann bleibst du selbst gegenwärtig. Diese schwadronierenden Sachsen sollen sehen, daß wir mit ihrem Mundwerk und ihren Flatusen auch noch fertig werden.«

August trat ein, stellte sich aufrecht hin und begann seine Meldung: »Freikorporal August König!«

Der Monarch unterbrach ihn rauh: »Ist mir nicht bewußt. Warum tragt Ihr nicht die sächsische Montur, wenn Ihr Euch bei mir meldet? Ich mag's nicht leiden, wenn ein fremder Offizier sich wie ein Federfuchser kleidet.«

»Ich habe meinen Abschied aus kursächsischem Dienst genommen und heute früh erhalten.«

»Abschied?« fragte der König. »Es kommen dabei Irrtümer vor.«

»Hier ist mein Entlassungsschein«, sagte August, ein Papier herausziehend. Der König winkte dem Offizier, der es abnahm und meldete: »Der Schein ist in Ordnung.«

»Kümmert mich nicht weiter«, entschied der König. Einsiedel gab dem Delinquenten das Papier zurück.

»Raucht Ihr Tabak, Leutnant König?« fragte der Monarch.

[] »Zu Befehl, Eure Majestät.«

»Dann zündet Euch diese Pfeife an. Reich sie ihm«, gebot der Herr seinem Vertrauten, »und sorge für Feuer.«

August setzte erstaunt den Tabak in Brand. »Raucht!« gebot der König unwillig. »Ich habe zu tun.« Er setzte sich auf einen Holzstuhl an den Tisch, nahm einen Anschlag über die Kosten der Entwässerung, welchen der Gutsherr zurechtgelegt hatte, und las darin. August stand still und steif am Eingang des Zeltes und blies stark riechenden Dampf aus der Pfeife. Auch der Adjutant harrte unbeweglich. Der König ergriff ein Papier nach dem anderen und vertiefte sich darein, das dauerte eine Weile. Endlich fragte er über die Schulter: »Wie schmeckt der Tabak?«

»Schlecht, Eure Majestät«, antwortete August, die Arme anziehend, »er fuselt.«

»Das war Sein Glück«, rief Friedrich Wilhelm aufstehend, »ich habe es dem Kottwitz im voraus gesagt. Es ist gut, Leutnant König, Ihr könnt abtreten. Und da Ihr von hier sogleich in Eure Garnison zurückreisen werdet, so mögt Ihr einen anderen Abschied als der ist, den Ihr in Eurer Tasche tragt, für einen Namensvetter von Euch mitnehmen, der auch August König hieß und vor Jahren in meinen Diensten stand. Die Aushändigung ist durch gewisse Umstände verspätet worden. Setze dich, Einsiedel, und schreibe für den gewesenen Freikorporal August König einen richtigen Abschied. Und schreibe darunter das Jahr und den Tag, an welchem der Bewußte die preußische Garnison verlassen hat, damit seine Landsleute ihn nicht für einen verdammten Ausreißer halten. Wißt Ihr, wie lange es her ist?« August nannte das Jahr und den Tag, aber die Worte kamen klanglos aus der Kehle.

Einsiedel schrieb, der König sah wieder in die Rechnungen, bis ihm der Offizier den Abschied zur Unterschrift vorlegte. Der Herr unterzeichnete und winkte, den Schein dem Sachsen zu geben. Aber August verweigerte die Annahme. »Danken Sie Gott und stecken Sie ein«, sagte leise der Offizier. August antwortete ebenso: »Ich kann an meinem Bruder nicht zum Schelm werden.«

»Was gibt's noch?« grollte der König, sich umsehend.

»Er will den Abschied nicht nehmen, Majestät.« Der König erhob sich, und als er sah, daß August das Knie beugte, rief er zornig: »Donnerwetter, wer in meinen Diensten gewesen ist, soll wissen, daß der Soldat nicht kniet, außer im ersten Gliede beim Feuern.«

»Vergebung, Majestät«, bat der Verabschiedete. »Dem August König, welchem die höchste Gnade heut die Entlassung bewilligte, darf ich den Abschied nicht mitnehmen, wenn ich ihm nicht seinen Bruder zurückbringe, welcher sich als sein Stellvertreter der Gnade Eurer Majestät übergeben hat.«

»Der Deserteur will noch Bedingungen stellen?« rief der Monarch in [] hellem Zorn. »Er wagt auf meine Nachsicht zu trotzen? Ich will ihm einen strengen Herrn zeigen. Nimm seinen Degen. Fort mit ihm!«

»Er hat keinen Degen, Majestät«, rapportierte der Offizier und gebot, zu dem Sachsen tretend: »Sie sind verhaftet, folgen Sie mir.« August rückte sich zusammen. Er erkannte, daß er in ungnädige Hand gefallen war, aber er sprach nichts weiter, sondern wendete sich zum Gehen.

Da vernahm der König ein unterdrücktes Schluchzen aus dem Nebenraum des Zeltes. »Oho!« rief er und schlug mit dem Stock auf den Tisch, denn ihm fiel ein, daß er als ehrlicher Mann den älteren Bruder nicht behalten konnte, wenn er den jüngeren im Arrest festsetzte. »Einsiedel!« Der Offizier und sein Gefangener wurden am Eingang sichtbar. »Frage doch den Kerl, ob er in Sachsen eine Braut hat?« Der Offizier wiederholte die Frage, und August antwortete: »Nein!« »Ob er eine gewisse adlige Dorothea Borsdorfin von Person kennt.«

»Ich kenne sie seit meiner Kindheit«, sagte August.

»Frage ihn«, gebot der König weiter, »ob er die Dreistigkeit gehabt hat, sie heiraten zu wollen.«

»Es war zwischen den Eltern vielleicht die Rede«, versetzte August. »Ich glaube aber nicht, daß ihr Gemüt mir zugewandt ist.«

»Sie will ihn durchaus nicht zum Manne«, brach der König gegen den Unglücklichen los. »Sie will Seinen Bruder; daß er es nur weiß.«

Der König rührte an die Leinwand. »Bringen Sie Ihre Anbefohlenen heraus, Herr von Reck!«

Dorothea traf mit ihrem Vormund heran, hinter ihnen Friedrich in der Montur. »Hier, Fräulein«, sagte der Monarch mit einer unbeholfenen Ritterlichkeit, die ihm doch gut stand, denn man merkte ein ehrliches Wohlwollen, »hier sind zwei Brüder. Einer davon gehört mir, der andere mag gehen, wohin er will. Der, den Sie heiraten wollen, den nehme ich, und ich will mir Mühe geben, die Einwilligung Ihrer Verwandtschaft durchzusetzen.«

Das Fräulein stand zwischen den beiden Brüdern. »Majestät«, flehte sie zitternd.

»Ängstigen Sie sich nicht«, versuchte der König zu trösten, »ich meine es gut, und ich will Ihnen beweisen, daß ich kein Tyrann bin, obgleich dieser hier« – er wies auf Friedrich – »mich dafür ausgeschrien hat.«

Dorothea sah zur Erde, aber die Rechte hob sich leise auf Friedrich zu. Der König ergriff schnell ihre Hand und legte sie in die des Kandidaten, stellte sich vor diesen und berührte ihm mit dem Knopfe des Stockes die Brust. »Dich wollte ich«, sprach er, »und du gehörst zu mir. – Ziehe jetzt meine Montur aus, obwohl ich dich lieber darin sehe als in dem schwarzen Rock. Der Feldprediger von Markgraf Albrecht ist hinfällig, ich setze dich in seine Stelle, damit [] sollst du bei mir anfangen. Ihr, Herr Leutnant aus Sachsen, steckt jetzt Euren preußischen Abschied in die Tasche. Da Ihr, um Eure brüderliche Pflicht gegen meinen Feldprediger zu erfüllen, aus dem sächsischen Dienst ausgetreten seid, so will ich dafür sorgen, daß Ihr wieder hineinkommt. Kottwitz!« rief er aus dem Zelt. »Den Herren Sachsen schmeckt der Tabak nicht. Laß den Wagen vorfahren.«

Schluß

Frau von Borsdorf kam zu Madame König und rang nach der ersten Begrüßung die Hände. »Meine Doris ist mit ihrem Vormund ins Preußische gefahren, um vor dem bösen Könige wegen Entlassung des Monsieur August einen Fußfall zu tun. Die Tante schreibt durch die Botenfrau.«

Frau König ahnte nicht die Größe der Gefahr, aber sie wurde von tiefer Rührung ergriffen, daß Dorchen aus Neigung für den Sohn ein solches Wagnis auf sich genommen; alle anderen Pläne, die sie in letzter Zeit wegen einer reichen Heirat gehabt hatte, schwanden dahin; sie fiel der Freundin um den Hals und sagte: »So wird durch unsere Kinder selbst offenbar, was lange unser Wunsch war.« Endlich stimmten die Mütter einmütig zusammen. Doch während sie die Zukunft der Kinder besprachen, fuhr ein Wagen vor, und nicht August, sondern Fritz und Dorchen knieten vor den Frauen und baten um den mütterlichen Segen; August aber stand ruhig beiseite und sah zu.

Als der erste Sturm der Überraschung vorüber war, nahm die Mutter den jüngeren Sohn beiseite und fragte in zärtlicher Teilnahme: »Wie wirst du das ertragen, armes Kind?«

»Mit vergnügter Seele«, versetzte August. Die Mutter sah ihn erstaunt an. »Ich war dem Dorchen niemals so gut wie der Bruder.«

Da wurde der Mutter leicht ums Herz: »Mir ist von der Majorin aus deiner Garnison etwas zugetragen worden. Bei euch ist jetzt eine reiche Partie, die angenommene Tochter des Magister Blasius. Der Mann hat früher schlecht an uns gehandelt, aber er soll sich in seinen alten Tagen sehr gebessert haben, auch bei dem Mädchen ist etwas mit der Herkunft nicht in Ordnung, und das wäre ja ein Hindernis. Aber sie hat eine gute Erziehung erhalten, und es sind drei Häuser vorhanden. Man sagt, daß dein Hauptmann sich sehr um das Mädchen bewirbt. – Du könntest dann den Soldatendienst aufgeben und dich zur Ruhe setzen.«

»Ich bleibe Soldat, liebe Mutter«, antwortete August. »Wegen der gütigen Worte aber, mit denen Sie die Demoiselle erwähnten, küsse ich Ihnen dankbar die Hände. Morgen führe ich der Frau Mutter die Schwiegertochter zu.«

[] Neunzehn Jahre waren den Brüdern in ungetrübtem häuslichem Glück vergangen. Zwei Könige, denen sie den Eid geleistet, waren gestorben; der eine, welcher alle hochgewachsenen Männer zwingen wollte, seinem Staate zu dienen, und der andere, der alle Frauen und Töchter, welche ihm gefielen, für sich begehrte. Zwischen den Nachfolgern war der Krieg entbrannt. In dem zweiten Kampfe, den der junge König Friedrich von Preußen um den Besitz Schlesiens führte, hatte sich Kursachsen mit Österreich verbunden, und Fürst Leopold von Dessau zog mit einem preußischen Heere gegen Dresden heran. Bei Kesselsdorf erwarteten die Sachsen und Österreicher seinen Angriff. Das sächsische Leibregiment, welches jetzt »Regiment Königin« hieß, stand auf dem linken Flügel nach Kesselsdorf zu, und der Hauptmann König hatte den Platz links von seiner Kompanie nahe den Grenadieren an der Flanke. Zweimal schlug das Regiment den Angriff der Preußen zurück. Als im dritten Angriff neue Reihen aus der schwarzen Wolke von Pulverdampf heraustraten, sah der Sachse die Uniformen des Regiments, welches sein verstorbener Freund, der General Vogt, geführt hatte. Ihm gegenüber trieb ein Major zu Pferde seine Kompanie mit geschwungenem Degen vorwärts. Ein Schuß traf das Pferd, daß es ausbrach, in wilden Sätzen bäumte und wenige Schritte vor der sächsischen Front zusammenbrach. In dem gestürzten Reiter erkannte August den alten Stubennachbar Brösicke, er sprang vor und umfaßte den Jugendfreund, ihn aus dem Gewühl zu retten. Da sank er selbst, in den Rücken geschossen, zu Boden. Als der Preuße sich über den Gefallenen neigte, sah dieser ihn mit freundlichem Blicke an und sagte im Sterben leise: »Es war eine sächsische Kugel!«

Am zweiten Feiertage der Weihnacht standen zahlreiche Relaispferde mit Bereitern und Postillionen vor dem Pfarrhofe eines großen märkischen Dorfes, um den siegreichen König Friedrich zu erwarten, welcher nach geschlossenem Frieden in die Residenz zurückkehrte. Auch die Beamten der Umgegend hatten sich eingefunden. Denn bei dem Pfarrhofe pflegte der Herr jedesmal anzuhalten, sooft er des Weges fuhr. Als der königliche Wagen herankam und der König während des Umspanns mit den Versammelten sprach, trat die Frau Pastorin neben ihren Gatten und bot auf der Tablette eine Erquickung. »Ist jemand gestorben?« fragte der König, dem das Trauerkleid der Frau auffiel, den Geistlichen.

»Mein Bruder blieb bei Kesselsdorf, er stand unter den Sachsen im Regiment Königin.«

»Das Regiment hat sich brav gehalten«, sagte der König. »Sind das alles Eure Kinder?« Er blickte über eine Gruppe von Knaben und Mädchen, welche von der offenen Hoftür mit großen Augen nach ihm hinsahen.

[] »Meine Kinder und die meiner lieben Schwägerin«, antwortete der Geistliche und wies auf eine Frau im Witwenkleide.

Der König wandte sich zu seinem Begleiter im Wagen: »Kennen Eure Liebden diese hohe Säule unserer Kirche?«

»Es ist der große Feldprediger, der früher im Regiment Markgraf stand.«

»Wissen Sie, wo wir ihn zuerst gesehen haben? – Es war bei dem seligen Könige im Berliner Schloß zur Zeit der Tragödie von Thorn.«

[]

Aus einer kleinen Stadt

Im Jahre 1805

Es war eine ansehnliche Kreisstadt im Flachland der schlesischen Oder, in der Mitte ein weiter Marktplatz, der Ring, darauf das Rathaus. Von den Ecken des Marktes liefen vier Hauptstraßen zu den beiden Toren. Seit dem letzten Brande standen die Häuser unter neuem Ziegeldach, schön rosa, blau und gelb getüncht, die meisten hatten freilich nur ein Erdgeschoß, doch viele auch ein Stockwerk darüber, wenige aber zwei Stock, und diese wurden als merkwürdig gezeigt. Das Ganze war von einer Mauer umgeben, über welcher noch die Tortürme ragten; alles hübsch regelmäßig, wie von einem klugen Riesenknaben aus seinem Baukasten aufgesetzt. Außerhalb der Stadt zogen sich Scheunen und Ställe der Vorstädte weit hinein in die Ackerflur, auf der viele Bürger der Stadt schweren Weizen erbauten. Es war eine alte Stadt, einst eine Festung deutscher Kolonisten gegen fremdes Volk, und mancher wilde Kriegssturm hatte um ihre Mauern getobt. Aber das war lange her, die Mauern waren brüchig geworden, in dem trockenen Wallgraben breiteten sich Obstbäume, und die Gänse des Stadtkämmerers weideten darunter, die Bürger aber lebten unbekümmert um ihre alte Kriegsherrlichkeit und wußten auch nichts davon. Ihre Erinnerung an frühere Zustände begann mit dem Schwedenkriege, sogar dieser war undeutlich geworden, denn die Konfessionen der Stadt verkehrten in brüderlicher Eintracht, die Gebildeten meinten, daß aller Glaubenshader abgetan und in ihrer aufgeklärten Zeit unmöglich sei, die Frauen hörten am liebsten, wenn ihre Pfarrer von der christlichen Liebe predigten, und die geistlichen Herren saßen beim Glase Ungarwein gern einander gegenüber. Wenn sich die Stadt einmal von vergangener Zeit erzählte, so begann und endete ihre Geschichte mit dem Alten Fritz, der die Provinz für seinen Staat erobert hatte. Die älteren Leute berühmten sich, daß sie ihn persönlich gekannt hatten, und in den meisten Wohnstuben hing sein Bild.

In den Mauern der Stadt walteten unumschränkt die guten Geister der Ordnung und Stille, nur am Abend des Wochenmarktes schrie zu weilen ein trunkenes Bäuerlein. Jedermann ging am Sonntag früh auf seinen Platz in der Kirche und nachmittags in den [] neuen Kaffeegarten, um sich dort ebenfalls hinzusetzen, und das Hauptfest im Jahre war das Königschießen. Außerdem erschien zur Freude der Jugend zuweilen ein mürrisches Kamel mit seinem Affen und zwei Bären oder ein Seiltänzer mit kleinen Kunstpferden, sehr selten ein Trupp Komödianten, den die Polizei ungern sah, weil er immer Schulden hinterließ. Die Honoratioren besuchten im Winter die Vorstellung eines fremden Künstlers, der die Flöte blies und deklamierte oder ein Schattenspiel zeigte; doch auch neue musikalische Erfindungen wurden aufgeführt: die Glasharmonika, wobei dem Stadtdirektor seine eigene Frau ohnmächtig wurde, oder eine Äolsharfe, welche der Verfertiger am Stadtwalde in abgestecktem Raume aufhing. Dieser Genuß war sehr ergreifend, nur trug er dem Manne nichts ein, weil die Leute den Geistergesang am liebsten von fern vernehmen wollten. Unleugbar war fast alles in der Stadt mäßig und bescheiden, auch der Wohlstand war nicht übergroß, aber die Bürger gediehen doch und merkten, daß sie vorwärtskamen trotz der Mißernten in den letzten Jahren. Ihr schlesisches Geld, Böhmen und Gröschel, war schwärzlich; es war auch weniger wert als das Kurant, aber die Bürger nahmen es willig und wurden, wenn sie es ausgaben, gern lustig. Jeder wußte so ziemlich, was der andere besaß, und einige Kaufleute und Fabrikanten galten für reich, ja einer von ihnen sollte die Absicht haben, in seiner Fabrik eine Dampfmaschine aufzustellen.

Großer Luxus wurde in der Stadt nur im Winter sichtbar, wenn die adligen Gutsherren des Kreises im Gasthofe ihr Kränzchen abhielten und untereinander einen Ball veranstalteten. Dafür wurde der Fußboden des Saals und die Treppe sorgfältig mit Wasser und Bürste behandelt, was sonst nicht häufig geschah, und alle Öllampen des Kronleuchters wurden angezündet. Die Edelleute kamen in geschlossenen Kutschen, manche mit silbernem Pferdegeschirr, und die vornehmsten hatten Läufer in bunter Tracht mit einer großen geflochtenen Lederpeitsche als Bandelier. Dann tanzten die Herrschaften vergnügt miteinander, die Damen trugen Ballkleider aus der Residenz, und die Herren schlüpften in eine Nebenstube, um Pharao zu spielen; und wer von dem kleinen Stadtvolk neugierig war, stand auf der Straße und sah zu den erleuchteten Fenstern auf.

Natürlich war ein verständiger Bürger oft unzufrieden mit den königlichen Behörden, welche seine Stadt und das Land regierten, sich in alles mischten und auch da, wo sie das Beste wollten, herrisch und ungeschickt schalteten; noch häufiger ärgerte er sich über die Garnison, über Roheit der Soldaten und Ungezogenheiten der Offiziere, und wenn vor der Hauptwache das Signal zum Gassenlaufen gegeben wurde, verbot er seinen Kindern und Dienstboten zuzusehen. Er wunderte sich auch über den Lauf der Welt, denn er hatte die ganze Französische Revolution erlebt, wie man dort vor kurzer Zeit [] König und Adel in größter Eile umgebracht hatte, und wie jetzt plötzlich ein neuer Kaiser aufgeschossen war. Aber obgleich eine unruhige und kriegerische Zeit gekommen war, in welcher vieles Alte zusammenbrach, das geschah weit draußen, und man unterhielt sich gleichmütig davon, wie von fremden Dingen; denn die Provinz lag abseits in Sicherheit, und das polnische Wesen in der Nähe war zwar übel beleumdet, jedoch nicht mehr zu fürchten.

Und wenn einer von den Bürgern auf rauhen Wegen in seiner alten Kalesche oder in dem unförmlichen Holzwagen der Post nach der Hauptstadt der Provinz fuhr, so fand er dort alles in größerem Maßstab und reichlicher als daheim, doch im Grunde war es nur ein Unterschied in der Größe; er besuchte ebenfalls als Hauptvergnügen den Kaffeegarten, welcher am Abend durch viele bunte Lampen illuminiert wurde, er saß in dem gewölbten Ratskeller und stand im Parterre des Theaters und erzählte nach überstandener Reise vergnügt, daß es in der großen Stadt immer etwas Neues gebe: eine Menagerie, einen Luftballon. Aber im übrigen lebte die Hauptstadt fast ebenso still dahin, wie das ganze Land, höchstens, daß die Schneidergesellen einmal Revolte machten, weil die hohe Obrigkeit sich gar zu einfältig gegen sie benahm.

Heute war Sonntag. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel warm in die reingefegten Gassen, und von beiden Pfarrtürmen läuteten die Glocken. Die Stadt aber befand sich in einem Zustande stiller Aufmerksamkeit und Beobachtung. Denn der neue Arzt war angekommen. »Ein junger, angenehmer Mann«, sagte die Gastwirtin zu ihrer Nachbarin, der Bäckersfrau, »lang von Gestalt und von ernsthaftem Wesen, sein Name steht im Fremdenbuch als Doktor Ernst König. Er hat schöne Wäsche, so stickt hier niemand die Hemden.« Die Bäckerin deutete dasselbe ihren Kunden an, und die Milchfrau trug es weiter; bis endlich der Friseur den Fremden beobachtete und die Neuigkeit zu allgemeiner Kenntnis brachte. Ja, es war nicht zu leugnen, der Doktor sah ansehnlich aus in rundem Biberhut und zierlichen Stulpstiefeln, auch trug er keinen Zopf mehr, sondern das helle Haar halblang, und das Gekräusel dabei war ein natürliches. Das wußte der Friseur genau, denn er traf den Fremden bei seinem besten Kunden, dem königlichen Zoll- und Akziseeinnehmer Köhler, als er diesem den Zopf flocht. Und er sah den beiden Herren bekümmert nach, wie sich diese zu ungewöhnlicher Zeit promenierend nach dem Stadttor bewegten.

»Dort liegt das Riesengebirge«, erklärte der Einnehmer seinem Gast und wies zwischen den Linden des Stadtwalles auf die blauen Berge in der Ferne. »Aber Riesen wohnen nicht mehr in den Tälern, sondern arme Weber, welche wenig zu tun haben, seit der französische Kriegstrubel den Kaufleuten die Wege unsicher macht. Und was Sie in der Mitte sehen, ist die Schneekoppe.«

[]

Der Doktor wandte sich freudig der Richtung zu: »Ich habe vor Jahren dort oben gestanden und den Sonnenaufgang erlebt. Er war unbeschreiblich schön und erhob mir die Seele. Als über den Nebeln der Erde das goldene Tagesgestirn heraufstieg, kam es mir vor wie die Gottheit selbst, welche in dem Chaos unter ihr blühendes Leben schafft. Glücklich ist der Mensch, welchem Gelegenheit wurde, ein Bild solcher erhabener Größe in seiner Seele zu bewahren.«

Der Einnehmer drückte seinem Gaste die Hand. »Ich freue mich, daß Ihr Gemüt offen ist für die Reize der Natur, darin gleichen Sie ganz dem seligen Kriegsrat, Ihrem lieben Vater. Sind Sie auch auf unseren alten Burgen herumgeklettert?

›Dort, wo wildverschlungene Ranken sich
Über Uhunester schwarz verbreiten‹,

wie Matthison so schön sagt, obgleich mir wahrscheinlich ist, daß er sich bei den Nestern nicht den eigentlichen Uhu, sondern vielmehr die Fledermaus gedacht hat.« Er unterbrach sich selbst. »Von dieser Seite sehen Sie durch das Stadttor bis auf den Markt.«

»Ich habe mich über das gute und saubere Steinpflaster gefreut.« –

»An Steinen fehlt es unserer Gegend nicht«, versetzte der Einnehmer, »auch nicht an Besenbindern, welche ihren Edelleuten die Birkenreiser aus dem Walde stehlen. Nun, Sie werden unsere Herren und das Landvolk zur Genüge kennenlernen.«

»Ich bin ja selbst ein Landeskind«, sagte der junge Arzt, »und mein Beruf macht es mir leicht, mit vornehm und gering fertig zu werden. Jetzt freilich, da ich aus der Fremde heimgekommen bin, sehe ich, daß man hier in manchem zurückgeblieben ist.«

»Still!« warnte der Einnehmer, »wir sind in starkem Fortschritt, und wer uns das leugnet, mag sich hüten. Es gibt hier und da Leute, welche Bücher über uns schreiben; diese sind uns durchaus verhaßt, ich hoffe, Sie gehören nicht zu der Zunft.« Der Gast verneinte. »Im Vertrauen, wir fühlen uns in unserer Haut gar nicht wohl, aber wir können nicht leiden, daß andere uns das zu verstehen geben. Wenn Sie einmal unzufrieden mit dem hiesigen Wesen sind, so schelten Sie nur immer gegen mich, man wird Ihnen sagen, daß an mir nichts zu verderben ist, und ich hoffe, Ihr lieber Vater hat Ihnen auch gesagt, daß ich ein zuverlässiger Freund bin.« Er schüttelte dem Doktor die Hand. »Dennoch wundert mich, daß Sie, dem ich über sein gutes Aussehen keine Artigkeit sagen will, an diesem kleinen Ort niedersitzen.«

»Ich folge dem Wunsche meines Vaters, und mir selbst liegt daran, sobald als möglich eine feste Tätigkeit zu erhalten.«

»Sie waren längere Zeit in der Fremde?«

»Ich wurde als junger Arzt von meinem Professor dem kranken [] Prinzen Georg zum Begleiter empfohlen und lebte einige Jahre mit ihm auf Reisen, zuletzt in Paris, wo ich Zutritt zu den Hospitälern gewann.«

Der Einnehmer stand erstaunt still: »In Paris?« rief er, »Sie sind ein Wundermann, und es kann Ihnen gar nicht fehlen. In Paris! Eine lebhafte Stadt, etwas unbändig. Die Straßen sind dort ja wohl mit Köpfen gepflastert, welche die Kleinen den Großen abgeschlagen haben.«

»Jetzt ist gute Ordnung dort«, antwortete der Gast, »und die Polizei strenger als bei uns.« »Natürlich«, versetzte Herr Köhler, »der große Musikus dort versteht es, alle Welt nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Ich sage Ihnen, Ihr Glück unter uns ist gemacht, jedermann schüttelt sich, wenn von Paris die Rede ist, aber jedermann will davon hören.«

Er zog seine silberne Uhr heraus. »Kommen Sie, der Gottesdienst ist zu Ende, wir treffen die Honoratioren jetzt in der Frühstücksstube beieinander; dort werde ich Sie einführen. Auch der Wein ist gut.«

Sie traten in die Weinstube, dort trafen sie die Vornehmen der Stadt an drei runden Tischen versammelt, an dem einen die Offiziere der Garnison, bei ihnen den adligen Stadtdirektor und mehrere Herren vom Landadel, am zweiten die königlichen Offizianten, am dritten Kaufleute und Fabrikanten, den Kämmerer und Apotheker. Herr Köhler stellte den Gast vor und führte zum zweiten Tisch. Alle Augen beobachteten die neue Erscheinung. Der Einnehmer aber deutete leise seinen Vertrauten an, wie es um den Gast stehe, daß er von Paris komme und mit dem Kaiser Napoleon auf der Straße vielfach zusammengetroffen sei. So wurde der Doktor bald Mittelpunkt einer lebhaften Unterhaltung, nur die Offiziere am Herrentisch zeigten eine gesuchte Nichtachtung, sprachen laut und verächtlich von dem revolutionären Wesen und von einem Abenteurer, der durch unerhörtes Glück heraufgekommen sei.

»Ob der Friede dauern wird«, fragte jemand vom dritten Tisch, »bis unser Bündnis mit Österreich und Rußland geschlossen ist?«

»Wir gehören einem so großen Staate an, daß wir nicht nötig haben, von fremder Hilfe unser Heil zu erwarten«, antwortete vom ersten Tisch gewichtig der Stadtdirektor.

»Wir sind so groß geworden«, bestätigte der Einnehmer, »daß niemand mehr recht sagen kann, wo unsere Grenzen sind. Sie werden jedes Jahr geändert. Wie man erzählt, aus Gefälligkeit gegen den Kaiser Napoleon.«

Eine Pause entstand. »Er ist ein Korse«, rief verächtlich der Reiterleutnant Baron Hille, welcher aus einer nahen Garnison herzugeritten war.

»Ohne Zweifel«, bestätigte der Einnehmer. »Ob dieser Mann [] aber als Korse, als Franke oder als Gallier nichtsnutziger ist, vermag ich nicht zu entscheiden. Ich hörte jede dieser drei Eigenschaften an ihm tadeln. Vielleicht würde der Herr Baron uns sagen, weshalb man der Insel Korsika nichts Gutes zutrauen darf.«

»Der Kerl und sein republikanisches Gesindel werden laufen, wenn sie von preußischen Husaren attackiert werden«, rief der aufgeregte Leutnant wieder. Ein beifälliges Summen der Offiziere bestätigte die Worte. Auch die vom Zivil nickten mit dem Kopfe.

»Der Kaiser trägt hohe Stiefeln«, sagte der Einnehmer, »die mögen ihn wohl bisher am Laufen gehindert haben. Denn diese Eigenschaft hat er noch nicht sehen lassen; wenn er es ja einmal versuchte, ist er noch immer vorwärts gekommen.«

Wieder Stillschweigen. »Tun Sie, als wären die drüben nicht da«, sagte der Einnehmer leise zum Doktor, »Sie müssen Ihnen zuerst guten Tag sagen.« Das geschah auch. Nach einiger Zeit, als der Fremde gerade einmal von seinem Sitz aufgestanden war, erhob sich ein kleiner Herr in zimtfarbigem Rocke und blendend weißer Wäsche, trat zu dem Doktor, gab sich als Kammerherrn von Bellerwitz zu erkennen und leitete das Gespräch mit den Worten ein, daß er den Vater des Herrn Doktors wohl gekannt habe.

Auf dem Markte erscholl rauher Anruf und Tritte. Mehrere der Anwesenden eilten an das Fenster. »Sie bringen ihn!« sagte der Stadtdirektor zu dem Kammerherrn.

Ein schlanker Bursch wankte, den Oberkörper vorgeneigt, zwischen bewaffneten Führern, an dem entblößten Haupte hatte er eine Hiebwunde, das geronnene Blut klebte in den Haaren und entstellte ihm das Gesicht. Vor dem Hause des Weinkaufmanns stand ein Brunnen, der Gefangene schrie mit heiserer Stimme: »Wasser!«, und als die Wächter ihn fortstoßen wollten, warf er sich auf die Steine. Vergebens mühten sich die Männer, ihn in die Höhe zu bringen. Mit dem Stadtdirektor eilte der Doktor auf die Straße, holte Besteck und Verbandzeug aus der Tasche und erbat Erlaubnis, dem Manne die blutende Wunde zu verbinden. Die Frau des Weinkaufmanns trug mitleidig ein Handbecken herzu, und als der Verwundete auf die Schwelle des Hauses geschleift war, reichte ihm der Arzt einen Trunk, wusch und verband die Wunde und sprach ihm tröstend zu. Der Verwundete sah den Hilfreichen dankend an, erhob sich nach einer Weile schweigend und wurde auf Befehl des Direktors vorläufig in das Stadtgefängnis geführt.

In der Weinstube sagte der Direktor: »Der Mensch ist Untertan des Grafen und wird dort durch die Karbatsche von seiner Störrigkeit geheilt werden.«

Der Doktor fragte mit Teilnahme: »Was hat er verbrochen?«

»Er wollte ein Mädchen aus dem Dorfe des Grafen heiraten, welches untertänig ist wie er, und da das Mädchen hübsch und sauber [] war, weigerte ihm der Inspektor die Ehe und bestimmte das Mädchen zum Dienst auf dem Hofe, wo sie ihre drei Jahre aushalten soll. Darüber geriet der Bursche außer sich, vergriff sich tätlich an dem Inspektor und entsprang.«

»Der Graf soll den Kerl zu meiner Kompanie geben, bei uns werden ihm die Mucken ausgetrieben«, begann der Kapitän von Buskow, der die Garnison befehligte, ein hagerer Mann mit harten Zügen, dem man wohl ansah, daß er die Fuchtel zu gebrauchen wußte.

»Was wird jetzt mit dem Unglücklichen geschehen?« fragte der Doktor.

»Er wird morgen dem Grafen ausgeliefert werden«, antwortete der Stadtdirektor, »und hat von seinem Inspektor keine nachsichtige Behandlung zu erwarten.«

»Wie ist es möglich, daß er in die Hände desselben Mannes geliefert wird, den er beleidigt hat?« fragte der Doktor. »Ist er schuldig, sich an dem Gutsbeamten vergriffen zu haben, so gehört der Fall doch wohl vor das königliche Gericht.«

»Der Inspektor übt die Polizei auf den Gütern des Grafen, und der Graf hat die Gerichtsbarkeit über seine Dorfleute«, belehrte der Stadtdirektor, »in Kriminalfällen hat der Inspektor erst dem Gericht Anzeige zu machen.«

»Und wenn er den Burschen vorher halbtot schlagen läßt, wie Sie selbst annahmen? Oder wenn er ihn auf andere Weise im Ortsgefängnis mißhandelt, was wird dann geschehen?«

Der Stadtdirektor zuckte schweigend die Achseln und ging an seinen Tisch.

Da verließ den Doktor die Vorsicht, und er sagte nachdrücklich: »Zustände, welche dergleichen möglich machen, sind tyrannisch und im schreienden Widerspruch gegen die Gebote der Humanität.«

»Sansculotte«, murmelte der Reiterleutnant halblaut.

Das Behagen in der Stube war gestört, die Herren verhandelten in leisem Gespräche, vom dritten Tisch ersuchten einige der Herren den Einnehmer, sie mit dem Gaste bekanntzumachen, und der Fabrikant drückte diesem kräftig die Hand und sprach seine Freude darüber aus, daß er sich in der Stadt niederlassen wolle.

Als der Doktor mit seinem Vertrauten auf den Markt trat, begann der Einnehmer: »Die drei Tische, welche Sie heut gesehen haben, finden Sie bei uns überall. Die am ersten Tisch schwadronieren wie der Baron, oder sie drücken lächelnd die Hände wie der Kammerherr, der zweite Tisch versieht die Plackerarbeit des Staates und fügt sich, und der dritte denkt still auf seinen Vorteil und verzieht den Mund über die beiden anderen. Das übrige Volk aber sitzt stumm auf der Bank oder der bloßen Erde. Übrigens wünsche ich Ihnen Glück zu Ihrem Eintritt bei uns.«

[] »Ich fürchte, nicht bei allen eine günstige Meinung erweckt zu haben«, antwortete der Doktor, »ich habe Ihre Warnung von vorhin nicht beherzigt.«

»Das ist wahr, aber Sie waren stolz und menschenfreundlich. Sie werden im ganzen Kreise als Revolutionär herumgetragen werden, und jedermann wird begierig sein, Sie kennenzulernen, am meisten unser Adel. Da Sie keinen Talar tragen, der mit Hieroglyphen bedruckt ist, was freilich das Wirksamste wäre, so ist schon etwas wert, daß Sie sich durch abenteuerliche Ideen von den hiesigen Menschen unterscheiden. Kommen Sie, heut sind Sie mein Gast auf ein Gericht Gerngesehen.«

In seiner Wohnung ging der Einnehmer zum Schreibtisch und holte eine seltsam gestaltete goldene Berlocke heraus. »Wissen Sie, was das ist?«

»Es stellt eine Guillotine vor.«

»Richtig! Ich habe sie vor zwölf Jahren dem Kammerherrn abgekauft, der damals noch jung war und sie wohlgefällig an der Uhr trug. Ich hebe sie auf und erinnere ihn zuweilen daran, was ihm unlieb ist. Es hat Stunden gegeben, mein junger Freund«, fuhr er ernster fort, »wo der königliche Einnehmer Köhler hier unter dem Bilde des Alten Fritz die Ansicht hatte, daß ein solches Hackebrett auch anderswo als bei den Franzosen gute Dienste tun würde gegen unerträglichen Hochmut und ein vornehmes Schmarotzertum ohne Kraft und ohne Ehre, welches bei uns alles verdirbt. Trotz alledem sind die, welche wir hier im Kreise haben, noch lange nicht die Schlechtesten. Wer als Rabe geboren ist, von dem kann man nicht verlangen, daß er wie eine Lerche singen soll. Heute habe ich Lust, Ihnen die Berlocke zu schenken.«

»Tun Sie das nicht!« bat der Gast.

»Dann hebe ich sie für den Kammerherrn auf«, entschied der Einnehmer. »Und jetzt denken wir daran, daß Essen und Trinken zu den unvergänglichen Freuden des irdischen Daseins gehört. Ich habe einen Menescher Ausbruch im Keller, an dem Sie Freude haben werden.«

Nach dem Essen ging der Arzt in das Gefängnis, was ihm der Direktor während des Verbandes bewilligt hatte. Er fand den Burschen, dem die Arme von den Fesseln befreit waren, finster auf dem Schemel sitzen. Als er ihm die Wunde besorgt hatte und einige ermutigende Worte sagte, faßte der Gefangene plötzlich seine Hand, und die Tränen stürzten ihm über die bleichen Wangen. »Der liebe Gott bezahle Ihnen, daß Sie so freundlich gegen mich sind. Ich hätte den Inspektor nicht verprügelt, wenn er nicht meinem Mädchen schon lange nachstellte. Jetzt nimmt er sie auf seinen Hof, und was sie dort aus ihr machen – « Er ballte die Faust und murmelte: »Es wird ein Unglück.« »Erzählt mir von Eurem Mädchen«, sagte der[] Arzt, »ich bin hier zwar fremd, vielleicht kann ich Euch doch in etwas helfen.« Da begann der Bursch sein Mädchen zu rühmen und wurde darüber wieder weich. »Denkt auch, wie Ihr Euer Schicksal zum Besseren wendet«, mahnte der Doktor, »habt Ihr nicht jemand, der bei dem Grafen für Euch sprechen kann?«

Der Gefangene schüttelte den Kopf und sah unwillkürlich auf ein Fenster seines Arrestes, welches in die Stadtmauer gebrochen war: »Der Inspektor soll mich nicht einsperren.«

»Kann ich noch etwas für Euch tun?« fragte der Arzt.

»Ich habe meine Mütze verloren«, sagte der Gefangene finster. »Die Landjäger haben mich durchsucht und meinen Geldbeutel genommen, in dem einige Groschen waren, da kann ich nicht einmal zu einer Mütze kommen.«

Der Doktor legte etwas Geld auf das Fensterbrett und verließ das Gefängnis.

Von dem Gefangenen ging er nach dem Gasthof und fragte, ob der Kammerherr noch in der Stadt sei. – Der Wagen war bereits vorgefahren, doch wurde er von dem Bedienten gemeldet und angenommen. Er erklärte seinen Eintritt mit dem Wunsche, einem Herrn, der sich seines Vaters freundlich erinnere, sogleich seinen Besuch zu machen, und begann nach kurzem Gespräch: »Ich habe soeben dem Gefangenen den nötigen ärztlichen Beistand geleistet, der junge Mann ist in verzweifelter Stimmung, und die Sache kann weitere Folgen haben.« Und er erzählte von der Eifersucht des Burschen. »Es war bereits davon die Rede«, sagte der Kammerherr unbehaglich, »und der Mensch ist leider im Kreise nicht unbekannt, er gilt für einen guten Musikus und war zur Kirmeszeit und sonst in den Dörfern eine beliebte und auch gefürchtete Person; ich traue ihm wohl zu, daß er neues Ärgernis bereitet.«

»Vielleicht könnte dies vermieden werden, wenn die Braut des Mannes nicht in den gefürchteten Hofdienst treten müßte.«

»Das ist nicht zu verhindern«, erklärte der Kammerherr bestimmt.

»Durch Ihr Fürwort«, sagte der Arzt bittend. Der Kammerherr sah ihn erstaunt über diese Zumutung an.

»Die Ansprüche, welche an das Mädchen gemacht werden, stehen im Widerspruch zu allem, was man Kultur und Zeitgeist nennt, und eine gewisse Unzufriedenheit im Publikum äußert sich gern in Privatbriefen und Pasquillen. Der Graf selbst wird vielleicht ein Interesse daran finden, daß der Vorfall nicht nach der Residenz getragen wird.«

»Wenn er nicht ein näheres Interesse hat, die Person im Dienst zu behalten«, fuhr dem Kammerherrn heraus. Er sah den Doktor mißtrauisch an.

Doch dieser fuhr beharrlich fort: »Ich habe den warmen Wunsch, [] mir in dieser Gegend Wohlwollen zu erwerben, und ich glaube dasselbe dadurch zu verdienen, daß ich ein Unglück verhüten helfe. Dies würde hier der Fall sein, wenn sich ein anderer anständiger Dienst für das Mädchen fände.«

»Sie haben nicht ganz unrecht«, gab der Kammerherr zu, der recht gut wußte, daß an höchster Stelle nichts widerwärtiger war als ungünstiges Geräusch im Volke und der Vorwurf der Inhumanität. Und er bedachte, daß der dreiste Fremdling vor ihm vielleicht selbst solchen Vorwurf irgendwo erheben könnte. Deshalb fuhr er fort: »Wie ich höre, waren Sie in Gesellschaft des Prinzen auf Reisen, stehen Sie mit dem Herrn noch in irgendwelcher Verbindung?« »Er hat mir erlaubt, ihm zu schreiben«, sagte der Doktor, sich erhebend.

»Ich freue mich ausnehmend unserer Bekanntschaft«, schloß der Kammerherr sehr artig. »Und was jene Affäre betrifft, ich treffe noch heut mit dem Grafen zusammen, vielleicht finde ich Gelegenheit, ein gutes Wort einzulegen. Kommen Sie in die Nähe meines Hofes, so versteht sich von selbst, daß Sie nicht vorbeifahren.«

Als es Abend wurde, stand der Doktor in seiner neuen Wohnung. Sie sah aus wie viele andere, vielleicht etwas heller und sauberer; die Dielen von Tannenholz frisch gescheuert, die Wand mit blauer Kalkfarbe gemalt, die Möbel bis auf eine alte verschnörkelte Kommode geradlinig, hager, ohne jeden unnützen Schwung. In der Stube und auf dem Lande verkündeten bereits die Eingeborenen, jeder nach seiner Weise, das Lob des Gastes. Der Baron von der Reiterei schalt ihn einen frechen Bürgerlichen, den man schon ducken werde, der Kammerherr sagte daheim: »Er ist dreist, aber er ist ein geistreicher Kopf«, die Gastwirtin lobte den artigen Dank, mit dem er von ihr geschieden war, der Fabrikant erklärte seiner Frau: »Zu dem könnte ich Vertrauen haben«; sogar ein armer Flüchtling gedachte in dieser Stunde des Fremden, während er mit blutenden Händen das Gitter seines Kerkers aus den Steinen brach, und der Einnehmer sagte, vor seinem Schrank die Bände von Jean Paul liebevoll betrachtend: »Endlich eine Seele mit höherem Schwung, nur den ›Titan‹ versteht er nicht zu schätzen.« Alle Welt beschäftigte sich mit ihm und war bereit, ihn nach ihrer Art hoch zu achten. Mußte man ihn nicht glücklich preisen, wie er so dastand, jung, gutgestaltet, freundlich aufgenommen an einem Ort, wo er überreiche Gelegenheit erhielt, seinen Beruf zu üben, nichts auf seiner Seele, keine Leidenschaft, keine arge Tat, die ihm den Frieden stören konnten. Und doch stand er allein, traurig, mit beschwertem Mut: »Du, mein verklärter Vater, dessen Bild ich in der Seele trage als mein höchstes Gut, oft sagtest du mir, daß das Bewußtsein erfüllter Pflicht das einzige dauerhafte Glück auf Erden bleibt. Aber ich fürchte, fröhlich macht es nicht, und den männlichen Stolz, als ein Herr durch das Leben zu gehen, verleiht es doch nicht. So freudige Menschen, wie ich zuweilen unter den [] Fremden gefunden, wie sie der englische Dichter zu schildern weiß, sehe ich hier nirgends. Jeder wandelt mit eng angezogenen Armen seine Straße, damit er nicht anstoße. Viele sind wie Freigelassene, welche sich in ihrem Gemüt noch als Knechte betrachten, die Mehrzahl stöhnt in der Sklaverei. Auch der kräftige Mann erhebt sich einmal über die andern, indem er sie neckt und verspottet, und in der nächsten Stunde ist sein Genuß, alles Irdische als verächtlich zu betrauern und vor einer Graburne zu seufzen. Es ist eine edle Poesie, die uns aus der alltäglichen Wirklichkeit in reinere Luft erheben will, aber traurig, traurig ist es, daß in dem Leben des Tages nichts gefunden wird, was mit Begeisterung erfüllt. Die kraftvolle Hingabe an Schönes und Großes, das in Wirklichkeit unter uns lebt, wird sie den Deutschen jemals kommen, und werden wir in unserm stillen Lande auch einen Anteil daran gewinnen? – Vielleicht langsam, nach harten Kämpfen, in einem späteren, glücklicheren Jahrhundert. Das gelobte Land, welches du, lieber Vater, entbehrtest und das ich nicht erblicke, das werden die Späteren einnehmen. – Ich murre nicht mehr, mein Vater; wie du für mich lebtest, so will ich für das nächste Geschlecht mich hingeben; ich will meine Pflicht tun gegen die anderen, und ich will danach ringen, daß ich dies täglich vermag.« Er setzte sich nieder, faltete Bogen zusammen und zog die Linien zu dem Geheimbuch, das er als Arzt für seine Kranken führen wollte.

Am nächsten Morgen kam die Wirtin des Doktors und erzählte, daß der Gefangene in der Nacht ausgebrochen sei. »Wohin kann er sich geflüchtet haben?« fragte der Doktor den Einnehmer. Dieser wies nach dem Gebirge: »Wahrscheinlich wird er Schmuggler, denn er weiß in der Gegend Bescheid.« Und als der Doktor in der nächsten Woche, einem Briefe des Kammerherrn folgend, auf dessen Gut kam, sah er bei der Hausbedienung ein sauberes Mädchen, welches ihm durch die traurige Miene auffiel. Als er in den Wagen stieg, stand sie hinter dem Bedienten auf den Stufen und betrachtete ihn unverwandt. Auf dem Rücksitz fand er hinter dem Kissen einen kleinen Nelkenstrauß eingeklemmt, und bald erfuhr er, daß die Kammerherrin selbst sich entschlossen hatte, die Braut des Flüchtlings in ihren Dienst zu nehmen.

Am Ringvall der Vandalen

Der königliche Einnehmer Köhler blieb dem Doktor der liebste und vertrauteste Umgang. Er war ein gesetzter Mann in guten Mitteljahren, in dem behaglichen Gesicht glänzten zwei hübsche, ausdrucksvolle Augen, welche er beim Sprechen gern zusammendrückte. Er war als Ehrenmann geschätzt, aber seiner spöttischen [] Einfälle wegen mehr gefürchtet als geliebt, und der Kammerherr nannte ihn kaustisch. Unverheiratet und nicht ohne Vermögen, sah er gern Gäste bei sich; auch diese hatten sich zu hüten, daß er ihnen nicht mit Wort oder Taten einen Possen spielte, der zuweilen derb war.

Einst hatte er den jüngeren Freund zum Abend auf einen Rehrücken geladen, der ihm als Geburtstagsgeschenk zugegangen war. Da öffnete sich die Tür, und wahrscheinlich angezogen von dem Duft des Bratens, den er im Vorübergehen aufgefangen hatte, trat der steife Hauptmann von Buskow in die Stube. Da die Beharrlichkeit des unbeliebten Gastes bekannt war, so hielt der Doktor den Abend für verdorben. Köhler aber sah den Freund mit seinem schlauen Blicke an, schob ihm ein Buch zu und zog den Hauptmann vertraulich zur Seite. »Ihnen ist bekannt, daß die Tungusen Hunde verspeisen.« Der Hauptmann hatte nichts dagegen einzuwenden. »Unter uns besteht eine Abneigung gegen diesen Genuß, wie der Doktor behauptet mit gutem Grund; wie ich sage, ohne Grund. Und heut will ich ihm das beweisen. Sie sind gerade der rechte Mann, dabei den Dritten abzugeben, denn Ihnen, als einem Militär, wird allerlei Fremdartiges im Feldkessel nicht unerhört sein.«

»Sie werden doch nicht« – fragte der enttäuschte Hauptmann. »Bst!« mahnte der Einnehmer. »Niemand darf etwas merken.«

»Sie haben aber doch noch etwas anderes in der Küche«, fragte der Offizier.

»Natürlich nicht«, versetzte der Einnehmer, »er darf keine Wahl haben.«

»Recht so; doch leider bin ich heut verhindert«, bedauerte der Besucher und entfernte sich nach gleichgültigen Reden. Und die beiden Freunde blieben allein. Als aber der Hauptmann einige Tage darauf in Gegenwart anderer den Doktor spöttisch fragte, wie ihm der seltsame Braten geschmeckt habe und der Doktor den Einnehmer befremdet ansah, antwortete dieser: »Denken Sie, Herr Hauptmann, wie es mir neulich erging. Meine Wirtin war in der Stille widersetzlich geworden, und da sie es für unehrliche Küchenarbeit hielt, den befohlenen Braten in die Pfanne zu tun, so hat sie hinter meinem Rücken ein wirkliches Reh, das mir zufällig der Oberförster geschickt hatte, gebraten und uns vorgesetzt.«

Seit der Zeit bestand eine Spannung zwischen dem Einnehmer und der bewaffneten Macht, und daraus wurde bald offene Feindseligkeit. Ein Bauer hatte nämlich dem Herrn Köhler einen jungen flügellahmen Storch zugetragen, den dieser sorgfältig fütterte und zähmte; der Storch lief gern aus dem Hofe und wurde ein eifriger Besucher der Gassen und des Marktes. Die Bürger freuten sich über das kluge Tier des Herrn Einnehmers, und die günstige Meinung, welche der Kinderwelt von den sozialen Verpflichtungen des Storches beigebracht war, verschaffte ihm auch die achtungsvolle Freundschaft [] der Straßenjungen. Der Storch aber gewann bei den Besuchen des Marktes eine Vorliebe für die Schildwache und für die Herren Offiziere, welche an der Vergatterung der Hauptwache auf und ab schritten; ihn mochte bedünken, daß dies eine ehrenvolle Beschäftigung sei, und er gewöhnte sich an, unter dem Jubel der Kinderschar auch seinerseits vor der geweihten Stätte ernsthaft hin und her zu gehen. Als Herr Köhler dies erfuhr, ließ er ihm vom Schneider blau und rote Frackschöße machen und band sie ihm über die Flügel. Da war natürlich, daß in der Bürgerschaft laute Heiterkeit entstand, daß aber die Kriegsmacht in den Frackschößen eine persönliche Kränkung sah. Der arme Storch bezahlte die Zeche, er wurde an einem der nächsten Tage in der Dämmerstunde dem Einnehmer tot ins Haus gebracht, und dieser wollte erkennen, daß sein Liebling durch einen Degenstich gemeuchelt sei. Er schwieg, wie ihm die Klugheit gebot, aber er sann auf Rache. In der Weinstube der Honoratioren stand nach alter Sitte ein Tabakskasten, aus dem sich die Gäste mit Diskretion bedienen konnten. Die Bürgerlichen brachten ihre Tabaksbeutel mit, die Herren vom Militär pflegten aus dem Kasten zu requirieren. Da geschah es eines Tages, daß nach dem Genuß der Frühstückspfeifen das gesamte Offizierskorps der Stadt in einen Zustand der Abspannung und Schwäche verfiel, durch welchen die kriegerischen Übungen des Nachmittags verhindert wurden. Der jüdische Wirt bewies erschrocken seine Unschuld, indem er andere Pfeifen aus demselben Kasten stopfen ließ, und es war auf niemanden sonst etwas zu bringen, doch war der Einnehmer an dem gefährlichen Morgen in der Stube gewesen. Und es ist gar nicht zu ermessen, wie weit dieses Kriegsfeuer zuletzt um sich gefressen hätte, wenn es nicht durch größere Ereignisse ausgetilgt worden wäre.

Unterdes gewann der Doktor Vertrauen und Zulauf und erhielt reichliche Gelegenheit, seine Kunst zu erweisen. Es währte nicht lange, daß er auch die Anstrengungen fühlte, denn einen großen Teil seiner Praxis fand er auf den Dörfern, und fast täglich, wenn die Kranken der Stadt besucht waren, mußte er mit jeder Art von Fuhrwerk meilenweit über Land. Zumal als der Herbst und Winter kam, wurde die Reise in offenem Wagen oder Schlitten, auf schlechten Landwegen durch wirbelnden Schnee und dunkle Nacht zur Beschwerde. Er aber fuhr, eingehüllt in seinen Pelz, einen Säbel zur Seite, unermüdlich nach allen Richtungen des Kreises, und die Leute rühmten an ihm, daß er den Armen ebenso bereitwillig helfe wie den Vornehmen. Als gewissenhafter Mann empfand er die furchtbare Verantwortung seines Berufes, denn die Wissenschaft hatte zu seiner Zeit von den Geheimnissen des inneren körperlichen Lebens weit weniger erspäht als wohl jetzt. Der Arzt war deshalb oft unsicherer, nur auf Beobachtung äußerer Erscheinungen und auf Mutmaßungen angewiesen, und der junge Doktor verbrachte manche [] schlaflose Nacht in Zweifel und Gewissensbedenken, und doch durfte ihm niemand etwas davon ansehen, und er mußte dergleichen schwere Sorge allein tragen, ohne einen Vertrauten.

Noch etwas störte ihm das Behagen. Es wurde ihm bitterlich sauer, Honorar zu fordern, am schwersten bei den anspruchsvollen Reichen; den Armen gab er lieber, als er nahm. Dies Gefühl vermochte er nicht zu überwinden, und seine Forderungen niederzuschreiben, blieb ihm die widerwärtigste Arbeit. Da war es natürlich, daß seine Einnahmen nicht im richtigen Verhältnis standen zum Umfange seiner Tätigkeit. Doch besaß er von seiner Mutter ein mäßiges Vermögen, welches ihn von den Honoraren unabhängig machte, und er betrachtete dies als ein großes Glück.

Allmählich drang der Ruf, den er als Arzt gewann, über die Grenzen seines Kreises hinaus. Unter anderen Einladungen in die Ferne erhielt er einst die eines Landgeistlichen, der für seine kranke Frau, welche in Behandlung eines anderen Arztes gewesen war, ein Gutachten erbat. Der warme Ton des Briefes und die Weise, in welcher der würdige Senior seine Angst um die liebe Frau aussprach, gewannen ihm im voraus besondere Teilnahme des Doktors. Der Wagen rollte durch eine fruchtbare Ebene, deren üppiges Grün in der warmen Frühlingsluft das Auge erfreute. Dennoch wurden dem Reisenden die Meilen des Weges zu lang, und der Kutscher, der zuletzt in der Gegend nicht mehr bekannt war, mußte einige Male nach der Pfarre fragen. Endlich trabten die Pferde über unbebautes Land, das mit Ginster und Dornen bewachsen war, bei einem runden Hügel vorüber, in einen weiten Hof mit Scheunen und Ställen, die einer großen Feldwirtschaft angehörten, und hielten vor einem langgestreckten, niedrigen Bau unter Schindeldach.

Der Senior trat aus dem Hause dem Gaste entgegen, ein Mann in höheren Jahren, mit weißem Haar, aber von kräftiger Haltung, mit einem großen Kopf und vollem Angesicht, dem man die milde Gutherzigkeit ansah. Nach der ersten Begrüßung bat der Gast, zu der Kranken geführt zu werden, und er konnte nach sorgfältiger Prüfung des Falls dem Gatten zuletzt die frohe Mitteilung machen, daß die Krankheit heilbar und Genesung zu erwarten sei. Darauf erst erhob sich in der Studierstube des Herrn Seniors das unter treuen Deutschen notwendige Wechselgespräch, welches zu einer persönlichen Annäherung zu führen pflegt. Daraus erfuhr der Doktor, daß Behörden und Gemeinden sich in übergroßer Liebe zum Herkömmlichen niemals entschlossen hatten, ein neues Wohnhaus zu errichten, daß aber die Pfarre doch zu den besten des Landes zählte, viele reiche Dörfer gehörten dazu und vieles Ackerland; der Himmel aber hatte die Pflichttreue des Herrn Seniors durch reichen Kindersegen vergolten, die Söhne waren Beamte und Lehrer geworden, mehrere Töchter an Pastoren der Umgegend verheiratet. »Nur die jüngste [] Tochter lebt als treue Gehilfin der Mutter im Hause«, schloß der Senior seinen Bericht, »unsere Henriette ist Trost und Freude unseres Alters. Und dies idyllische Dasein wäre so glücklich, daß kaum ein Wunsch übrigbliebe, wenn wir noch gar so einsam und allein lebten.«

»Bei solcher Pfarre muß doch ein großes Dorf sein.«

»Es ist gar kein Dorf da«, belehrte der Geistliche, »nur wenige Hütten, die zum Hofe gehören. Das Dorf wurde im Dreißigjährigen Kriege verwüstet, es stand auf der öden Stätte, an welcher sie vorübergefahren sind, daneben liegt noch eine hohe Schwedenschanze; das Dorf wurde nicht wieder aufgebaut, nur die Kirche und Pfarre sind erhalten.«

Der Doktor trat wißbegierig an das Fenster. Eine schlanke Frauengestalt schritt behend vorüber, wie ein Lichtschein hob sie sich von dem dunklen Hintergrunde ab. Er sah eine rosige Wange, braungelocktes Haar, ein edel geschnittenes Profil, einen vollen, kräftigen Arm.

»Das war die Tochter«, sang es in ihm, »wie ist sie schön.«

»In solcher Einsamkeit helfen die Bücher«, fuhr der Senior fort. Der Doktor wandte sich um, das helle Licht war verschwunden, er stand in der grauen Wirklichkeit der schmucklosen Stube.

»Es ist vor allem der teuere Gottesmann Luther, mit dessen Lebenslauf und Werken ich mich beschäftige«, bedeutete der Senior, behaglich auf seinen großen Bücherschrank zeigend. Der Doktor sah artig nach den Titeln. »Hier finden Sie sein Bild«, erklärte der Pastor, an die Wand tretend. »Dort das seiner Käthe, und hier darunter sehen Sie die Stätte, an welcher er verborgen gehaust hat.« Er wies auf eine kleine Radierung der Wartburg.

»Als Student habe ich in den Ferien die Wartburg besucht«, fiel der Doktor ein, »auch die Studierstube, wo der Teufel mit dem Tintenfaß geworfen wurde.« »Darum könnte ich Sie beneiden«, rief der Pastor. »Es ist nämlich eine besondere Fügung, daß der große Mann in zwei wichtigen Lagen seines Lebens auf fürstlichen Burgen in Verborgenheit gelebt hat; sowohl auf der Wartburg als auch später im Fränkischen auf der Koburg. Von der letzteren jedoch ist mir eine Abbildung zu erhalten nicht gelungen.« »Die Koburg habe ich nicht selbst gesehen«, sagte der Doktor arglos, »doch habe ich von meinem Vater gehört, daß irgendwo bei Verwandten ein Neues Testament aufbewahrt wird, in welches der Reformator einem meiner Vorfahren, der mit ihm bekannt war, auf der Koburg einen Spruch eingeschrieben haben soll.« »Das ist ja eine große Erinnerung«, rief der Senior, den Arzt mit einer neuen Art von Achtung betrachtend. »Also Ihre Familie war mit Doktor Luther bekannt. Bitte, setzen Sie sich und erzählen Sie.« Er faßte den Gast mit beiden Händen und drückte ihn auf das Sofa. –

»Es ist lange her, Herr Pastor«, antwortete der Doktor hilflos, »und ich bekenne, gar nichts weiter von der Bekanntschaft zu wissen.«

[] Da öffnete sich die Tür und Henriette trat ein. Der Gast schnellte in die Höhe, wieder kam ihm vor, als ob ein heller Schein den Raum erleuchte. Er sah mit einer Mischung von Bewunderung und Scheu das Mädchen vor sich und verbeugte sich tief. Ihre Wangen röteten sich bei ihrem gehaltenen Dank. »Der Kaffee steht im Garten«, sagte sie leise dem Vater.

»Das war ein guter Gedanke. Unsere Kaffeestunde ist vorüber, lassen Sie sich als Reisender noch eine Schale gefallen. Unterdes gewinnt die Küche Zeit, ihre Pflicht zu tun.«

»Ich kann Sie nicht so lange aufhalten«, wandte der Doktor ein, mit geringerer Ehrlichkeit, als ihm sonst eigen war, da er gern bleiben wollte. Und das mußte er zur Stelle versprechen. Denn Vater und Tochter sahen ihn ganz erschrocken an, und der Senior hob beschwörend die Hände: »Ohne Abendessen den weiten Weg zurückmachen, das dürfen Sie uns nicht antun. Henriette! Tabak, Pfeifen und Fidibus, denn auch in der freien Natur soll der Mensch seiner Bequemlichkeit gedenken.«

Der Vater übernahm die Führung, der Doktor ließ sich nicht nehmen, den Tabakkasten zu tragen. Als sie so im Hausflur standen, wo der Geistliche noch schnell die Räumlichkeiten des Hauses erklärte, rollte ein Wagen in den Hof. Dem Gast entging nicht, daß ein leichter Schatten wie ein Bedauern über das offene Angesicht der Tochter flog. Aus dem Korbwagen stiegen zwei Bauernmädchen in ihrer Sonntagstracht; der Kutscher aber sprach angelegentlich mit dem Hausherrn. »Mit dem Müller geht's zu Ende«, wandte sich der Senior betrübt zur Tochter, »und er verlangt meinen Beistand. Gottesdienst muß allem vorgehen; seien Sie mir nicht böse, lieber Doktor, wenn ich Sie um eines Sterbenden willen auf eine Stunde allein lasse, meine Tochter und diese wackeren Mädchen werden Sie unterdes umherführen. Er eilte in seine Stube, sich für die geistliche Handlung zu rüsten. Der Doktor überlegte, ob er bei dem Tausch gewonnen hatte; über Doktor Luther brauchte er nicht mehr Auskunft zu geben, aber die Unterhaltung mit der Tochter war auch gestört.«

Die Bauernmädchen begrüßten unterdes das Pfarrkind. »Der Wagen traf uns auf dem Wege, da stiegen wir ein«, erklärte die eine. »Wir kommen bitten«, begann die andere, »ob Sie mit Blumen zur Hochzeit aushelfen wollten.«

»Was fällt euch ein, ihr Mädel, daß ihr mich heut so fremd anredet?« schalt Henriette. »Wir sind Dutzschwestern und vom Vater zusammen konfirmiert«, erklärte sie dem Gaste, »hier Bärbel, die Schulzentochter, und Liesel vom Freibauer; ihr Vater und wir grenzen mit der Flur. Sie denken, weil ein Herr aus der Stadt dabei ist, müssen sie vornehm reden. Kommt alle mit, wir führen den Herrn in den Garten.« Sie öffnete die Hintertür des Hauses.

[] Dort lag der Garten, zwischen dem Hause und dem Kirchhofe eingehegt, ein wohlgepflegter Raum mit gradlinigen Beeten, auf denen die Frühlingsblumen: Primeln, Narzissen und stolze Kaiserkronen, in üppiger Pracht blühten. Dahinter lief die niedrige Mauer des Friedhofes, halb verdeckt durch Flieder- und Jasminbüsche, man übersah den Friedhof mit den einfachen Denkmälern, die der Landmann nach der Väter Sitte errichtet, und in seiner Mitte die alte Kirche mit ihren gemauerten Strebepfeilern, dem blauen Holzdach und einem spitzen Turm, dessen oberer Teil auch aus Holz gezimmert war. Henriette beachtete wohl, wie sehr dem Gast das kleine Landschaftsbild gefiel, und als er dies mit einfachen Worten sagte, wies sie auf eine große Geißblattlaube an der Seite.

»Hier sitze ich oft am frühen Morgen, überlege mir die Arbeit für den Tag und sehe, wie der Turm und das Kirchdach vom Frühlichte erglänzen. Hier ist es immer traulich und still. Nur des Sonntags füllt sich der Friedhof mit den Kirchgängern aus unserer Gemeinde, mit großen und kleinen; dann summt die Unterhaltung zwischen den Kreuzen, denn die Leute, die sich hier treffen, haben einander viel zu erzählen, und die Kinder lassen sich schwer abhalten, umherzuspringen, sie klettern auf die Steine der Mauer, kauern dort wie eine Reihe Schwalben und gucken neugierig in den Garten.« Sie führte nach der Laube, nötigte zum Sitzen und bot den Gästen die Tassen mit dem geschätzten Tranke; dem Doktor aber trug sie, wie sich geziemte, die Pfeife herzu. Als er ablehnte, bat sie so freundlich, daß er nicht gänzlich zu widerstehen wagte und eine kleine Meerschaumpfeife herausholte, die ihn seit der Studienzeit auf seinen Reisen begleitete. Dazu brachte er sein Feuerzeug, Stahl und Schwamm, aus der Tasche und suchte den Feuerstein. Das Mädchen, erfreut, helfen zu können, zog die Schublade des Tisches auf und reichte ihm einen schönen glatten Stein mit scharfer Kante. Und als der Gast das Stück aufmerksam betrachtete, sagte sie: »Wir finden dergleichen oft bei der alten Schanze, der Vater sagt, es sind Naturspiele.«

»Der Stein ist doch wohl von Menschenhand geschliffen und geschärft; diese Art geformter Feuersteine wird an solchen Stellen gefunden, wo einst Gräber der alten Heiden waren. Man fängt an, solche Erinnerungen zu sammeln. Wenn Sie es erlauben, will ich mir den Stein zum Andenken aufheben.«

Da fragte das Mädchen in dem Wunsch, ihm etwas Liebes zu erweisen, ob sie ihm mehr von derselben Art geben dürfe.

Nun lag dem Doktor gar nichts an den Feuersteinen des alten Heidenvolkes, aber ihr Erröten und der fragende Blick ihrer Augen waren so anmutig, daß er eifrig bejahte und sich wider alle Wahrheit für einen Freund von derartigen Kuriositäten ausgab, und die holde Freude, mit welcher sie seine Antwort aufnahm, beruhigte sein Gewissen vollends über die Lüge. Denn sie hob jetzt aus dem [] Innern des Tisches ein graues Säckchen an das Licht, klapperte lustig mit dem Inhalt und stellte es triumphierend vor den Doktor hin. »Da sind ihrer viele, große und kleine!« rief sie.

Zuletzt wurde durch andere Mittel die Pfeife in Brand gesteckt, und die blauen Wölkchen kräuselten sich in der Laube und fuhren zwischen dem Geißblatt in den Bereich der Sonnenstrahlen. Die Bienen summten, und die Vögel sangen wie vor tausend und aber tausend Jahren, die Herzen schlugen, und die Menschen gewannen einander lieb, jetzt, wie in uralten Zeiten. Mitten im Gespräch sprang Henriette auf, »die Mutter!« rief sie. »Ich sehe schnell nach ihr. Meine Gespielen werden unterdes auf den Kaffeetisch achten, Bärbel, sorge dafür, daß die Tasse des Herrn Doktors nicht leer bleibt!« Sie eilte davon. Der Gast saß mit den Bräuten zusammen. Es waren zwei dralle, tapfere Mädchen, beide hübsch, und beide saßen ihm im Bewußtsein ehrenvoller Gesellschaft steif und schweigend gegenüber. Nur Bärbel erhob sich zuweilen, sah ihm in die Tasse und setzte sich wieder fest auf ihren Sitz. Als der Doktor aber durch einige Fragen nach den beiden Verlobten und dem neuen Hausstand das Eis gebrochen hatte, wurden beide auf ein mal gesprächig und erwiesen sich als frohsinnige und gescheite Kinder. Und Bärbel vergaß über der Unterhaltung ihre Pflicht keineswegs, sowie der Herr etwas getrunken hatte, goß sie trotz seinem Proteste nach und tat ihm auch reichlich Zucker hinein, bis der Doktor endlich den Löffel über die Tasse legte. Diese Erklärung, daß er an der Grenze des Möglichen angelangt sei, wurde von ihr geachtet. Die Mädchen aber waren viel schlauer, als der Fremde ahnte, denn sie fingen an, verblümt von Mamsell Jettchen zu reden, indem sie zuerst die Kühe des Pfarrhofes lobten, welche unter Obhut des Fräuleins standen, und dabei erzählten, daß die reiche Pachtersfrau in der Nähe eifersüchtig war, weil sie es nicht dahin bringen konnte, daß ihre Kühe die gleiche Menge Milch gaben. Dann kam heraus, daß Jettchen beim letzten Erntekranz mit den beiden Bräutigamen getanzt hatte und daß sie sehr gut tanze, endlich, daß sie eine Nähschule für kleine Dorfmädchen halte; kurz, es war nicht die Schuld der beiden Bräute, wenn der fremde Herr eine geringe Meinung von Jettchen nach der Stadt mitnahm.

Henriette kam zurück, und die Mädchen erhoben sich zum Gehen. »Die Mutter hat mich fortgeschickt, sie bedarf meiner heut nicht mehr, die Frau Kantorin ist zur Pflege gekommen. – Alles, was hier blüht, Liesel und Bärbel, sollt ihr haben, soweit es sich zu der Hochzeit schickt.« Sie standen vor zwei großen Myrtenbäumen still, die nach sorgfältiger Winterpflege fröhlich ihr junges Grün trieben.

»Von den Myrten schneid' ich euch so viel, als die Bäume entbehren können. Schickt den Tag vorher eure Brüder mit den Körben, die Brautkränze winde ich euch hier.«

[] Die Mädchen machten nicht viel Dankesworte, aber in ihren Mienen erkannte man die stolze Befriedigung, denn sie waren zumeist der Myrte und des Kranzes wegen gekommen, und alles war ihnen wohlgelungen. Beim Abschied reichten sie auch dem Doktor die Hand und gingen mit schnellem Schritt über den Hof ihrem Dorfe zu.

»Sie heiraten beide in der nächsten Woche«, sagte Henriette, »und ich muß bei zwei Hochzeiten Brautjungfer sein. Sie bekommen beide gute Männer und sind selbst kreuzbrave Mädel, die immer auf sich gehalten haben.«

Vom Hofe klang das Gebrumm der Kühe. »Mir ist zumute«, begann der Doktor, »als wäre ich hier nicht fremd, denn auch ich stamme aus einem Pfarrhaus vom Lande.«

»Ihr lieber Vater war Pastor?« rief erfreut das Mädel, denn der ansehnliche Herr wurde ihr dadurch auf einmal viel vertraulicher.

»Mein Großvater war es«, fuhr der Doktor, dem das Herz aufgegangen war, redselig fort. »Dieser war Geistlicher in einem märkischen Dorfe; er hatte eine gute Stelle und eine große Wirtschaft und das ganze Haus voll Kinder, denn er erzog neben den eigenen noch die seines verstorbenen Bruders. Dies Geschlecht hat sich über das ganze Land verbreitet bis nach Sachsen und in das Reich. Mein Vater war der jüngste Sohn. Er trat in königlichen Zivildienst und lebte längere Zeit in den polnischen Provinzen. Meine liebe Mutter starb, als ich noch klein war, und der Vater hat mich als sein einziges Kind erzogen. Seine Tage unter fremden und feindseligen Menschen vergingen einsam, viel Arbeit und wenig Freude, ich allein war es, für den der ernsthafte, stille Mann lebte. Und ich habe die Liebe eines guten Vaters so voll genossen, wie wohl wenig Kindern zuteil wird.« Das Mädchen sah, daß ihm die Lippen zuckten. »Mein kleines Bett stand neben dem seinen, und er selbst legte mich des Abends in die Kissen, dann faltete er mir die Hände zusammen und saß an meiner Seite, bis ich einschlief. Frühzeitig wurde ich der Vertraute von vielem, was ihm durch die Seele zog. Als ich in die lateinische Schule kam, machte er mit mir noch einmal das ganze Lernen durch und freute sich innig, wenn ich ihn in der Mathematik etwas lehren konnte, was er selbst vergessen hatte. Oft legte er den Arm um mich und hielt mich lange fest, und dabei sah er zufrieden vor sich hin. Noch jetzt, wenn ich allein bin, sehe ich sein Antlitz, die Augen voll Liebe zu mir, und fühle die Wärme in meinem Herzen. Als ich auf die Universität gehen mußte, war die Trennung für den Sohn sehr schwer, für den Vater wohl noch schwerer.«

Während er so erzählte, hatten sie sich auf eine Bank gesetzt, welche unweit der Kirchhofsmauer stand; die Sonne war untergegangen, zum letzten rosigen Widerschein der Wolken warf der Mond sein blasses Licht, und im dämmrigen Doppellicht glänzte die Natur.

[] »Sie aber mußten, da Sie noch jung waren, unter wildfremde Menschen! Das war doch das größere Leid.«

»Ich denke, allein zu sein im leeren Hause, in dem die Stimme des geliebten Kindes verhallt ist, war noch schmerzlicher. Ich fand auf der Universität ein sorgloses Treiben und gewann bald gute Kameraden, ich sah und hörte viel Neues und viel Schönes.«

»Mein Vater studierte in Königsberg, Sie aber gewiß in Halle, denn dort waren alle jüngeren Amtsbrüder des Vaters.«

»Ja, ich war dort«, rief der Doktor, und die Erinnerung an eine frohe Zeit erhellte sein Antlitz, »ich fand daselbst berühmte Lehrer und hatte zum erstenmal die Freude, ein gutes Theater zu besuchen, denn ich ging und ritt fleißig nach Lauchstädt, wo die Gesellschaft aus Weimar spielte. Und das wurde für mich der größte Genuß.«

Schüchtern setzte Henriette die Unterhaltung fort: »Die Komödie kenne ich aus unserer Hauptstadt, dort war ich zwei Jahre bei meiner Tante. Erst als meine Schwester heiratete, nahmen mich die Eltern hierher zurück. Dort habe auch ich gefühlt, wie schaurig schön die Kunst ist und wie sie die Seele erhebt. Denn ob sie zu weinen zwingt oder ob sie lachen macht, es ist immer eine Wonne.« Genau dasselbe war die Meinung des Doktors. Sie saßen auf der Bank, und jetzt schien der Mond über ihnen, er allein, die Sonne hatte ihm ganz das Feld geräumt; ruhig und freundlich sah er hernieder, wie einem Himmelskörper über einem Pfarrhofe schicklich ist, und er warf seine Strahlen durch das Baumlaub auf zwei junge Gesichter, die beide einander zugewandt und beide in heiterer Bewegung waren. Und während jedes dem andern herzlich in die Augen sah und auf die Worte lauschte, vergnügte sich der Mond damit, die alte verstoßene Mauer mit neuem Goldglanz zu bekleiden, die Steine des Kirchhofs, unter denen die Dahingegangenen so ruhig schlummerten, mit blendendem Weiß zu übermalen und sogar den alten grauen Kirchturm mit überirdischem Licht zu verklären, so daß die Fledermaus, welche von dem Dichter als Uhu erwähnt wird, wegen des ungewohnten Scheines mit den Augen blinzelte.

Noch immer sprachen die beiden begeistert von der Komödie und freuten sich, daß ihr Urteil über das gemütvolle Stück »Die Jäger« so ganz übereinstimmte. Deshalb überhörten sie den Wagen des heimkehrenden Vaters und fuhren empor, als sie die Stimme des alten Herrn hinter sich vernahmen, welcher um Entschuldigung bat, weil er so spät kam.

Da der Senior vor der Abendkühle warnte, mußte der Gast in das Haus zurück, und Henriette eilte in die Küche. Noch einmal sah der Arzt nach der Kranken, dann kam das Abendessen, vergeistigt durch einen ausführlichen Bericht des Seniors über die trüben Schicksale, von welchen Katharine von Bora in ihren letzten Lebensjahren betroffen wurde. Der würdige Herr war über den neuen stillen Zuhörer [] hörer so erfreut, daß er die Unaufmerksamkeit gar nicht merkte; denn für den Gast gab es nebenbei viel zu sehen und auch zu denken. Nach dem Essen noch ein herzlicher Abschied und der Doktor fuhr in die stille Nacht hinaus.

Er sah glückselig vor sich hin. Den Liederklang, die sanfte und wehmütige Poesie, welche ihm so oft das Herz gerührt, hatte er heut als wirkliches Leben genossen. Da war das Getrümmer aus wilder Vergangenheit, um welches die Brombeeren rankten und dämmrige Schatten schwebten, daneben der ehrwürdige Friedhof und die Kreuze, an denen die Kranzgewinde in der Luft zitterten, das bemooste Turmdach, um welches im trägen Fluge die Eule flatterte, alles durch die Abenddämmerung in geisterhaften Schleier gehüllt. Und dicht daneben das frische junge Leben des Mädchens, ihre rosigen Wangen, der warme Gruß ihrer blauen Augen, die unschuldige Sicherheit. So voll Anmut, wenn sie vor ihm stand, im Strohhut und einfachen Brusttuch, noch anmutiger, wenn sie sich niederbeugte; eine Blume zu pflücken, und wenn sie das Haupt neigte, um auf den Gesang der Nachtigall im Fliederbusch zu hören oder auf die Worte, die er selbst zu ihr sprach. Friedlich und gleichmäßig zwischen kräftigem Schaffen und sinnigem Träumen verlief ihr Leben, wie der klare Bach, der durch die Auen der Dichter fließt, so heiter war sie und doch so rührend, o Henriette!

Als der Doktor nach Hause kam, stellte er das Säcklein mit den alten Feuersteinen aus den Heidengräbern sorgfältig auf seinen Schreibtisch, ging eine Weile auf und ab und sah sich die Leinwand, an der eine liebe Hand geknüpft hatte, immer wieder an. Endlich setzte er sich nieder und schrieb noch in der Nacht an einen Universitätsfreund, den er in Koburg wußte und der ihm einst ein zierliches Bild in sein Stammbuch gemalt hatte, ob er ihm eine Abbildung der Feste verschaffen könne.

Dieser Anschlag gelang über Erwarten. Nach einiger Zeit traf mit der Post eine Rolle ein, in welcher ein hübsches Bild der Burg und Stadt lag, die der treue Freund selbst mit Wasserfarben gemalt hatte. Das Format war, dem Patriotismus des Koburgers gemäß, allerdings viel größer gefaßt, als der Doktor sich gedacht; doch ließ er das Bild einrahmen und wagte dazu einen innigen Brief an Fräulein Henriette zu schreiben, in welchem er sie bat, das Bild als seinen Dank für die Feuersteine zu betrachten und ihrem Herrn Vater an seinem Geburtstage aufzustellen.

Als nach einiger Zeit eine Kiste vom Dorfe eintraf, fand er darin mit stiller Enttäuschung nur einen Brief des dankbaren Vaters, welcher mit feierlichen Worten ausdrückte, daß dies schöne Bild ein Hauptschmuck seiner Stube geworden sei. Zugleich aber bat der Pastor im Namen seiner Tochter um Vergebung wegen Übersendung [] einer Beisteuer zum Haushalt, da das Dorf etwas Besseres nicht biete. Unter den Frühlingsblumen lagen wohlhäbige Kunstwerke der Küche und Wirtschaft. Und obwohl die Tiere, welche das Material dazu geliefert hatten, von dem Dichter nicht unter die poetischen Gebilde der Natur aufgenommen waren, so bemerkte der Doktor diesen Mangel der Sendung doch durchaus nicht. Er stellte zuerst die Blumen in ein Glas, ging mit ihnen aus dem Kerzenlicht nach der Nebenstube, in welche der Mond sein volles Licht warf, betrachtete den Strauß, wie er vom Monde beschienen wurde, stand lange am Fenster und blickte auf zum Nachthimmel. Aber zuletzt gedachte er doch fröhlich des Schinkens und der Würste. Und als er mit den Geschenken beim Abendessen saß, wurde er den Gedanken nicht los, wie wehmütig es war, daß er das Gute fern von der Spenderin verzehren mußte. So aß und trank er in heimlicher Sehnsucht; neben den Schein seiner Kerze malte das sanfte Himmelslicht ein schräges Bild des Fensters auf den Fußboden, und er sah zuweilen liebevoll darauf hin. Er hatte das Abbild der Stätte, an welcher die großen Erinnerungen seiner Familie hingen, ausgetauscht gegen Gewöhnliches und Vergängliches aus dem Rauchfang, und er kam sich vor wie ein reicher und glücklicher Mann. O Henriette!

Es wird Krieg

Es sah nach Krieg aus. Zuerst wurde diese Möglichkeit an der bewaffneten Macht erkennbar, die Offiziere drillten eifriger, schritten noch stolzer als sonst durch die Gassen und wurden in der Weinstube lästig, weil sie mehr tranken und wetterten und allzuoft das französische Gesindel mit kräftigen Worten aufrieben. Auch unter den Honoratioren war die Heiterkeit geschwunden; es wurde viel leise geredet, und es gab heftige Erörterungen. Der Stadtdirektor klagte über die Arbeitslast, und der Einnehmer fand keinen Beifall, als er erzählte, der Hauptmann habe die Kompanie angelernt, nur immer geradeaus auf Napoleon loszurücken und diesen durch Pelotonfeuer zu erschießen.

Dennoch erschreckte die Nachricht, daß der Krieg erklärt sei. Wurde er auch, wie jedermann wußte, in weiter Ferne geführt, so handelte es sich diesmal doch um weit mehr als um einen Marsch nach Polen. Die Kompanie sollte ausrücken. Die Offiziere hielten am Abend vorher mit einigen Bekannten vom Landadel ein festliches Gelage, und die Soldaten empfingen von dem guten Willen der Quartiergeber eine letzte Mahlzeit. Am Morgen schlug der Tambour Reveille durch die Straßen, und die Soldaten eilten aus den Quartieren, die älteren begleitet von ihren Frauen und Kindern, welche bitterlich schluchzten. Als sich nach langen Vorbereitungen die Kompanie in Bewegung setzte, schritten die Offiziere mürrisch [] und durch die schlaflose Nacht verstört dem Tore zu, und die Angehörigen der Kompanie drängten, das Geleit gebend, zu beiden Seiten. Auch die Schwester des Hauptmanns, das kleine Fräulein von Buskow, zog in ihrer schwarzen Enveloppe auf dem Bürgersteige vorwärts, um ihrem Bruder noch so lange als möglich nahe zu bleiben, und die Leute, welche wußten, daß sie heut das beste Recht hatte, wichen, wo sie ging, teilnehmend zur Seite. Die Soldaten aber brachen rechts und links aus und nahmen noch einmal von ihren Frauen und Mädchen Abschied, viele mit nassen Augen; nur die Polen unter ihnen, welche aus Südpreußen als Rekruten zugeführt waren, sahen gleichgültig geradeaus und hofften in der Stille auf eine Gelegenheit, dem verhaßten Dienst zu entweichen. Die Bürgerschaft aber, jung und alt, stand fast vollzählig auf der Straße oder an den Türen und rief den Scheidenden Grüße zu. Oft waren Offiziere und Mannschaft ihnen verleidet gewesen, heut dachten sie doch daran, daß die armen Leute in Gefahr und Tod gingen, viele Quartierwirte steckten ihren Soldaten auf dem Wege gefüllte Flaschen zu, und Fleischer Beblow versprach dem seinen noch am Tore zweimal wöchentlich Kost für Weib und Kind.

In den nächsten Wochen kam den Bürgern ihre Stadt still und leer vor; sie vernahmen nicht mehr die täglichen Signale der Garnison, nach welchen sie sich gerichtet hatten fast wie die Soldaten, und sie spotteten, daß alte Zunftgenossen, welche in ihrem Erwerb zurückgekommen waren, mit einem unförmlichen Säbel an der Seite den Wachtdienst bei den Toren versahen. Zuweilen kamen noch durchziehende Truppen, und lange Reihen von Proviantwagen rasselten auf dem Pflaster, auch die Schwadron, bei welcher der Baron stand, ritt durch die Stadt, und der Leutnant hielt vor der Frühstücksstube an, ließ sich ein Glas Wein auf das Pferd reichen, schleuderte das geleerte Glas großartig auf die Steine und jagte seinen Reitern nach. Doch blieb die Schwadron nicht lange aus; an einem Mittag war sie wieder da und zog langsam, ohne Begeisterung, in entgegengesetzter Richtung zurück. Täglich umstanden die Leute das Posthaus und drängten sich nach Briefen und Zeitungen. Aber in den Zeitungen war wenig zu lesen, nur zahllose Gerüchte kamen aus den großen Städten, meist Gutes verheißend; und wenn jemand auswärts gewesen war, liefen die Leute an den Wagen des Heimkehrenden und fragten ihn aus. Eine schwüle Erwartung lastete auf den Gemütern, jederman hoffte, wenn er mit andern zusammen war, das Beste und redete tapfer, aber im geheimen fühlte jeder Zweifel und Bangen.

Der Doktor hatte das Haus des Seniors durch die ganze Zeit nicht besucht; ihn hielt das Zartgefühl ab, ungeladen in eine Familie zu treten, in welche er nur als Arzt gerufen worden. Einmal aber war er auf der Landstraße dem Wagen begegnet, worin der Senior mit seiner Tochter saß. Da war er von seinem Sitz gestiegen und hatte [] schnell in den andern Wagen hinein nach dem Befinden der Frau Pastorin gefragt. Es wurde nur ein kurzer Austausch von Frage und Antwort, aber der Vater lud zu einem Besuche ein, sobald ihn der Weg in die Nähe führe. Der Doktor sah in ein liebes Antlitz, hörte den Ton einer sanften Stimme und erkannte – durfte er sich's gestehen? – die Freude, welche Henriette bei der Begegnung fühlte. Das war für ihn ein glücklicher Tag gewesen. Dann kamen Kriegsgeräusch und Sorge. Jetzt ließ es ihm keine Ruhe, er mußte wissen, wie sie im Pfarrhause diese Wochen gespannter Erwartung verlebten.

Als er aus dem Wagen sprang, stand sie auf der Schwelle. Der Korb, den sie hielt, entglitt ihrem Arm, aber sie trat dem Gast gleich darauf mit strahlenden Augen entgegen. Keines wußte recht, was es bei der Begrüßung sagte, doch beide fühlten in der Unruhe sich so froh und glücklich, daß sie nicht das wilde Gebell des Hofhundes vernahmen und nicht die Frage des Kutschers, ob er ausspannen solle. Das Mädchen gedachte zuerst ihrer Pflicht, sie löste die Hand, welche er festhielt, aus der seinen, aber ihm war, als wollte sie ihn mit sich hineinziehen. Unterdes gebot die Stimme des Vaters: »Halte den Herrn Doktor nicht auf, wir sind auch da, ihn zu begrüßen.« Wie ein alter Freund trat er in das Haus, setzte sich vor allem zur Frau Pastorin, die er außer Bett fand, und empfing ihren Dank und ausführlichen Bericht über die besiegte Krankheit, während Henriette herantrug, was in einem gastfreien Pfarrhause für den Gast zu finden war. Der Doktor hing mit seinen Augen an jeder Bewegung des lieben Mädchens, und ihm kam vor, als schwebe sie gelöst vom Erdboden über die Schwelle. »Sie hat darauf bestanden, heut eine Babe zu backen«, sagte die Mutter zufrieden, »es muß ihr geahnt haben, daß ein lieber Besuch kommen würde.« Henriette nickte fast unmerklich mit dem Haupte. Der Senior dankte nochmals für das schöne Bild, welches jetzt prächtig über dem Sofa hing, und kam dabei natürlich auf Doktor Luther. Aber er setzte von diesem mit einem großen Schritt über drei Jahrhunderte in die Gegenwart, indem er ein aufgeschlagenes Buch vor den Doktor legte: »Dies ist unsere Bitte: Verleih uns Frieden gnädiglich, Herrgott, zu unsern Zeiten; es ist ja doch kein anderer nicht, der für uns könnte streiten.« Und da die Frauen gerade das Zimmer verlassen hatten, fuhr er leiser fort: »Wir sind hoffentlich sicher, daß der schreckliche Krieg nicht in unsere Nähe kommen wird?«

Der Doktor sah in den gefüllten Wirtschaftshof und über die Strohdächer der Scheunen und Ställe, und ihn überkam eine plötzliche Angst: »Es wird einem Preußen nicht leicht, die Möglichkeit anzunehmen, doch wenn Sie auch an das Unwahrscheinliche denken wollen, so erlaube ich mir die Frage, haben Sie nicht die Absicht, das Wertvollste der Habe und vielleicht auch Fräulein Henriette für einen solchen Fall in einer Stadt zu bergen?«

[] »Wir haben noch nicht daran gedacht«, antwortete der Senior würdevoll, »ich bin Ihnen aber dankbar, daß Sie daran erinnern. Meine Schwägerin in unserer Kreisstadt wird uns gern diese Sorge abnehmen; denn Sie haben recht, in der Stadt ist doch besserer Schutz.«

Diese Aussicht machte dem Doktor das Herz wieder leicht, und da Henriette eintrat, bat er: »Gönnen Sie mir die Freude und führen Sie mich in den Garten.«

Sie hing den Hut über den Arm, und beide eilten dem Vater voraus ins Freie.

»Als Sie bei uns waren, blühten die Rosen noch nicht«, sagte das Mädchen; »und jetzt sind sie dahin. Wenn ich im Sommer davorstand, dachte ich, Sie müßten die Blüte sehen, denn sie war dies Jahr schöner als sonst.« Sie hielt vor einem Bäumchen an, selbst so schön und begehrenswert, daß er, hingerissen, ihre Hand faßte; sie ließ ihre Hand in der seinen, und er fühlte das warme Leben, welches darin zuckte. So traten sie nebeneinander zum Garten hinaus und erstiegen die alte Schanze.

Es war ein kreisrunder Wall von mäßigem Umfang, er schloß auf der Innenseite einen vertieften Raum ein, der höher als das Land draußen und wohlgerundet wie ein Kessel war. »Hier führen Stufen hinab«, wies Henriette, als sie auf dem Rande standen, »der Rasen ist jetzt glatt. Als Kinder sind wir oft mit Freuden in die Tiefe gerutscht.« Und sie schwang sich behende vor ihm hinunter. »An dieser Stelle finden wir zuweilen Glücksblätter«, sagte sie in der Tiefe und blickte scharf auf den niedrigen Rasen. Endlich beugte sie sich hinab. »Hier ist Klee mit vier Blättern.« Vergnügt hielt sie ihm das grüne Blatt hin. »Nehmen Sie, es soll Ihnen Gutes bedeuten.« Der Doktor stand wie bezaubert, der Wallring umschanzte das liebe Mädchen und ihn gegen die ganze Welt, nichts war zu sehen als der Himmel, welcher wie eine lichtblaue Glocke über dem Ringe stand. Er nahm das Blatt aus ihrer Hand, und hingerissen von der heiteren Unschuld ihres Wesens und dem warmen Blick, mit dem sie ihn bittend ansah, neigte er sich zu ihr und küßte sie leise auf den Mund. Sie stand still und schloß einen Augenblick die Augen; aber gleich darauf sah sie mit rosigen Wangen wieder zärtlich zu ihm auf. Keins von beiden sprach. Sie hob den Strohhut vom Boden und führte den Gast die Höhe hinauf. Dort blickten sie von dem Wall herab in die helle Landschaft. Die Herbstsonne neigte abwärts, über die Stoppelfelder vor ihnen neigten sich weiße, glänzende Fäden wie ein dünner Schleier, dahinter sah man in der klaren Luft Dorf neben Dorf, bei jedem ragten die Dächer aus einem Kranz von Bäumen, deren Laub im Sonnenlicht wie bräunliche Bronze schimmerte, bis sich die letzten Baumgruppen wie ferne Inseln am dämmrigen Horizont verloren. »Ich zeige Ihnen auch die Gegend, wo Sie wohnen«, sagte das Mädchen. »Manchmal haben wir dort hinausgesehen und [] gefragt, ob Sie wohl einmal kommen würden. Der Vater war unsicher, ich aber dachte, Sie müßten doch nach der Mutter sehen.« Und fröhlich setzte sie hinzu: »Es war heut nicht der erste Kuchen, welcher für Sie gebacken wurde.«

Als sie in die Nähe des Friedhofs kamen, bellte ein Hund. An der Stelle, wo der Sage nach einst die Hütten eines Dorfes gestanden hatten, weidete der Schäfer eine kleine Schafherde. »Sie gehört uns«, erklärte Henriette stolz, »der alte Christian versieht sie mit seinem Knaben; er ist auch unser Wächter und muß einige Stunden des Tages ausruhen.« Der Alte stand zwischen wilden Schlehen und Brombeeren, den Rücken einem alten Gemäuer zugekehrt. Er nahm den Hut ab und gebot dem Hund, nicht durch sein Gebell zu stören. Henriette wies auf die Steine: »Das ist der Rand des verfallenen Brunnens, der, wie man sagt, einst mitten in einem Dorfe war. Der Vater ließ das Holzdach darüber zimmern, damit an den Kirchtagen nicht ein Kind darin verunglücke.«

»Guten Tag, Schäfer«, grüßte der Doktor, »Eure Herde darf auf einen guten Herbst hoffen, denn die Spinnweben hängen weiß über den Feldern.«

»Die einen weben Glück, und die andern verkünden Unglück«, antwortete der Alte, »und das Unglück wird mächtiger als das Glück.«

»Wer verkündet Unglück?« fragte der Doktor, ergötzt durch das feierliche Aussehen des Weissagenden. Der Schäfer antwortete nicht, er wandte sich zu der Tochter seines Herrn und wies mit dem Stabe nach dem Brunnen: »Sie geht wieder um!« »Redet nicht so etwas, Christian«, sagte Henriette unzufrieden, »Ihr wißt, der Vater kann es nicht leiden.« Wieder zeigte der Schäfer geheimnisvoll hinter sich: »Sie tut, was sie muß, und niemand kann es ihr wehren. Die aber am Leben sind, mögen sich wegen ihrer Warnung in acht nehmen.« Der Doktor sah seine Begleiterin fragend an. »Die Leute haben eine Scheu vor dem Platze, wo der Brunnen steht«, erklärte das Mädchen. »Es geht die Sage, daß sich zur Zeit des Schwedenkrieges, als das Dorf noch stand, ein Weib in den Brunnen gestürzt hat, um ihren Verfolgern zu entgehen.«

»Heut nacht war das Brunnenweib wieder da«, sagte der Alte; »vom Kirchhofe kam sie her, sie zog in langem weißen Gewande wie ein Rauch, und als ich nach dem Brunnen hinsah, war das Holzdach fort und eine schwarze Öffnung vorhanden, die Gestalt aber schwebte um den Brunnen, wirbelte in die Höhe und versank darin. Das kann auch der Herr Senior nicht fortschaffen. Meine Schafe wissen Bescheid, es geht selten eines bis zu den Steinen, und der Hund weiß es auch, er winselte die ganze Nacht.«

»Das Unheil ist bereits gekommen, Alter«, sagte der Doktor, »ein harter Krieg hat angefangen.«

[] »So erzählt man sich«, versetzte der Schäfer, entschlossen, nichts weiter zu berichten, und ging scheltend zu seinen Schafen.

»Auch unsere Hofleute sind durch diese Zeit aufgeregt und sehen und hören jetzt allerlei«, fügte Henriette hinzu, um den Schäfer zu entschuldigen. Aber die finstere Sage und die Verkündigung des Alten befingen doch beider Gemüt, sie gingen ernsthaft und schweigend nebeneinander.

»Die Mutter wartet mit dem Essen«, rief der Senior aus dem Garten, »jetzt will auch ich von unserem Gaste etwas hören, denn wir vernehmen hier wenig Neues, und doch nimmt der Streit der Großen auch uns die Ruhe.«

Die letzte Stunde verlief in Mitteilung der Gerüchte, welche durch das Land flogen, und der Doktor war nicht mehr mit Henriette allein. Nur beim Abschiede lag ihre Hand noch warm in der seinen. Wieder fuhr er in stiller Seligkeit heimwärts. Und immer sah er sie in der Tiefe des Ringwalls vor sich, wie er sie küßte.

Nun war zu jener Zeit ein Kuß noch kein Beweis von Liebe; ernsthafte Männer und ehrbare Frauen gönnten diesen Beweis freundlicher Gesinnung einander gern, und vor andern waren die Landsleute des Doktors bereitwillig. Aber jedermann wußte auch, daß es dabei große Unterschiede gab. Heut pochte sein Herz in der holden Ahnung, daß er dem Pfarrkinde lieb geworden sei; und an dies beseligende Gefühl, das in ihm aufschoß, spann seine Phantasie zahllose Fäden, die sich aus der Gegenwart in die Zukunft hineinzogen, ein ganzes Gewebe von neuem Glück, das er für sich zu hoffen wagte.

Ein scharfer Windstoß pfiff an dem Wagen vorüber; die Pferde scheuten, der Kutscher wandte sich um. »Es ist etwas in der Luft«, sagte er und knallte mit der Peitsche.

Der Doktor fuhr aus seinen Träumen auf. Vor der sinkenden Sonne erhob sich eine Wolkenbank, über ihm aber wölbte sich blau und lichtvoll der Abendhimmel, und ein großer Raubvogel, gefolgt von einer Schar Krähen, flog in der Höhe dahin. Und wieder schlug ein plötzlicher Windstoß an seine Wange, riß Blätter und Äste von den Bäumen und trieb sie im Kreise um Pferde und Wagen. »Es ist ein Wirbel«, sagte der Doktor, »er zieht vorüber.« »Das bedeutet was«, rief der Kutscher und peitschte aufs neue die erschreckten Pferde. Sie fuhren im scharfen Trabe durch niedriges Gehölz, das sich zu beiden Seiten des Weges breitete; da schrie eine wilde Stimme: »Halt!« Aus dem Gebüsch sprang in brauner, verschossener Jacke ein Mann, der die Krempe seines Filzhutes tief in die Stirn gedrückt hatte. Der Kutscher hob drohend die Peitsche. »Ist dies der Doktor aus der Kreisstadt?« rief der Fremde.

»Was wollt Ihr?« fragte der Doktor und faßte nach seiner Waffe.

»Kennen Sie mich noch, Herr?« Es war der Flüchtling, welcher [] einst dem Arzt den Verlust seiner Mütze geklagt hatte. »Eine große Schlacht ist gewesen im Sächsischen, die hiesigen Soldaten sind gelaufen wie eine Schafherde, den Offizieren ist es heimgezahlt; es liegen viele still auf der Erde.«

»Woher wollt Ihr das wissen?«

»Ich fuhr über die Grenze mit einem Marketender, jetzt bin ich zurückgeritten, Pferde ohne Reiter waren genug zu haben. Der Franzose zieht heran, und der Inspektor wird auf das Strohbund gelegt. Sie wollte ich fragen, wie es meinem Mädchen auf dem Schlosse geht.« – »Ich habe sie vor wenig Tagen gesund gesehen.« –

»Ich bitte, sagen Sie ihr, der Hans läßt sie grüßen, und sie soll mir treu bleiben. Jetzt wird bessere Zeit, und wenn der Franzose kommt, kann ich mich wieder im Lande sehen lassen.«

»Wie dürft Ihr bessere Zeit hoffen für Euch und Euer Mädchen? Wenn der Franzose bei uns einbricht, dann werden wir alle unglücklich. Versteht Ihr nicht, was feindliche Einquartierung heißt und Mißhandlung durch Fremde? Mit dem Kriege ziehen Hunger und Krankheit ins Land, und ich sage Euch, nur ein schlechter Kerl freut sich über das Unglück seiner Heimat.«

»Den andern mag es meinetwegen gehen, wie es will, und Ihnen, Herr, wünsche ich nichts Böses, aber den Grafen und den Inspektor sollen die Franzosen streichen.«

»Doch Ihr seid ein Preuße.«

»Wenn die österreichischen Pascher mich einen Preußen gescholten haben, so habe ich sie geknufft, wie recht war«, versetzte der Mann finster, »aber unter den Franzosen kann man auch leben.«

»Denkt Ihr so, dann geht Eurer Wege, ich will nichts mehr mit Euch zu tun haben«, versetzte der Doktor unwillig.

»Ich wollte Ihnen noch wiederbringen, was Sie mir damals gegeben haben«, sagte der Bursch und legte Geld auf den ledernen Schurz des Wagens. Der Doktor beugte sich vor und schob das Geld weg, daß es auf den Weg fiel. »Fahr zu, Kutscher!« Die Pferde zogen an, und im Windgebraus ging's weiter. Nach einer Weile drehte sich der Kutscher um und rief in den Wagen: »Er steht noch am Wege, wo er stand.«

Als der Doktor spät durch das Stadttor fuhr, rannten die Leute in den Straßen hin und her, auf dem Markt sammelten sie sich in Haufen um weinende Soldatenfrauen. Die erste Botschaft von einer verlorenen Schlacht war gekommen, und die Menschen gaben sich in Schreck und Klage dem Eindruck hin oder suchten sich mit trotzigen Worten dagegen zu wehren.

Wie empörte Meereswogen durch den gebrochenen Damm über das schutzlose Land dahinfluten, so folgten jetzt die Unglücksbotschaften mit reißender Schnelle aufeinander. Das Heer geschlagen und wieder geschlagen, zur Kapitulation gezwungen und gefangen, [] der König geflüchtet bis in den entferntesten Osten des Staates, die Residenz in der Hand des feindlichen Siegers. Schrecklicher noch wurde dies gehäufte Unglück, das die Zeitungen verkündeten und das jeder vernahm, durch zahllose Berichte von einzelnen, welche selbst einen Teil der Schrecken erlebt hatten. Bald kamen Soldaten der Garnison zurück, einzeln oder in kleinen Haufen, die sich der Gefangenschaft durch Flucht entzogen hatten; sie kamen ohne Waffen, zerlumpt, verhungert, klagten das Greuliche, das sie erlebt, und fluchten über die Offiziere, welche sie geführt. Der Feind zog näher heran, auch die Provinz hatte seinen Einbruch zu erwarten, die Festungen allein vermochten ihn durch ihre Gegenwehr aufzuhalten. Seit einem Menschenalter hatten die Bürger der Stadt keinen Krieg gesehen, nur ältere Leute wußten aus ihrer Jugend von den Feldzügen Friedrichs II. zu erzählen. In gesetzlicher Ordnung hatten die Lebenden Gedeihen und Glück gefunden. Jetzt auf einmal sollten sie herrenlos und rechtlos dem Gelüst eines übermütigen Siegers preisgegeben sein. Da war kein Wunder, daß der Kleinmut in die Herzen drang und daß mancher an Flucht dachte.

Der Stadtdirektor kam aus der großen Stadt zurück, ging mit gesenktem Haupt umher und vertraute endlich kummervoll seinen Getreuen, daß der mächtige Minister, welcher an des Königs Statt die Provinz regierte, in Gegenwart vieler Räte mit gerungenen Händen geklagt hatte, alles sei verloren. Der Einnehmer machte eine Dienstreise nach der nächsten Festung. Nach der Rückkehr saß er bei seinem Glase stiller als sonst und antwortete auf die Fragen, was er vernommen habe, bärbeißig: »Nichts; nur einen Anschlag hoher Obrigkeit habe ich in der Festung gelesen. Wir alle sollen den feindlichen Truppen mit Bereitwilligkeit und Höflichkeit entgegenkommen und nach Kräften ihre Forderungen befriedigen. Ich hoffe, Männer und Frauen werden sich das gesagt sein lassen. Da wir sie in den nächsten Wochen erwarten dürfen, so mag jeder die Zeit benutzen, neue Gardinen aufzustecken und sein Silberzeug für die Franzosen zu putzen; denn, wie man hört, picken diese gleich den Dohlen nach allem, was glänzt.« Das ließen sich die Städter gesagt sein, und in den Häusern begann heimliches Pochen, Graben und Mauern.

»Sie sind bekümmert, Herr Hutzel«, begrüßte der Doktor im Vorübergehen einen wohlhabenden Hausbesitzer, der in dem Ruf stand, sich selbst alles Gute zu gönnen, anderen aber wenig. »Nehmen Sie sich in acht, wer so ängstlich aussieht wie Sie, dem trauen die Feinde zu, daß er viel zu verlieren hat.« Der Mann wurde noch bleicher, als er vorher war. »Ich ersuche Sie, sich nur einen Augenblick herein zu bemühen.« Er führte durch den Hof in den Garten und sah sich argwöhnisch um. »Ich habe zu Ihnen ein Vertrauen, wie sonst zu keinem Menschen«, sagte er; »ich bin jetzt der [] Verzweiflung nahe und bitte Sie flehentlich um einen Rat.« Der Arzt erwartete Mitteilungen über eine ernste Krankheit, aber Hutzel fragte: »Wohin soll ich verstecken?«

»Sie haben ja ein eigenes Haus, geschlossenen Hof und dazu diesen Garten.«

»Alles unsicher«, klagte der Mann. »Verschlagen und vermauern ist unmöglich, weil ich dazu einen Handwerker brauche. Ich ließ vermauern. Als ich den Arbeiter bezahlte, lachte er so auf eine gewisse Weise, und mir fiel auf das Herz, daß ich ganz in seiner Gewalt war, denn wer steht mir dafür, daß er nicht schwatzt oder gar dem Feinde sagt: Halbpart, und ich verrate euch was. Ich brach also mit diesen meinen Händen die Steine wieder auseinander und hob die Kiste heraus. Jetzt wollte ich im Hofe das Pflaster aufreißen und ein Loch machen; auch das war nicht zu bewirken, ohne daß der Knecht oder die Magd etwas davon merkten, und ich war wieder in der Macht dieser Leute. Ich ging bei Nacht mit Grabscheit und Laterne in den Garten und vergrub die Kiste. Auf einmal höre ich von der andern Seite des Zaunes die Stimme meines Nachbars, des Tischlers, der mir ohnedies aufsässig ist: ›Sie sind es, Herr Hutzel? Meine Frau sah das Licht und dachte, es wären Spitzbuben.‹ Und ich war wieder in fremden Händen und mußte wieder forttragen.«

»So vergraben Sie in dem Stadtwald.«

»So weit aus meinen Augen?« wehklagte der Mann.

»Dann also lassen Sie es darauf ankommen und verstecken Sie gar nicht.«

Aber die kopflose Sorge wich in dem Volke bald männlicheren Gedanken; einige der Edelleute, welche in der Friedenszeit mit alten Rechten und ererbtem Ansehen stolz über dem Volke gestanden hatten, bewährten sich jetzt als beherzte Männer, welche wohl wußten, daß ihnen ihre Vorrechte große Pflichten auferlegten. War auch das alte Heer geschlagen, sie waren bereit, ein neues zu rüsten, mehrere tausend Förster und Jäger in der Provinz trugen die Büchse, groß war die Zahl der heimgekehrten Soldaten, und nach Hunderttausenden zählten die Männer, die den Gutsbesitzern untertänig dienten; in Herrenhöfen und Bauerndörfern stand ein guter Schlag Pferde. In wenig Wochen vermochten sie ein neues Heer aufzustellen. So dachten die Besten vom Adel, aber auch in den Städten und auf dem Lande arbeitete derselbe Gedanke.

Der Doktor kam bei dem Hause des Fleischers vorüber, wo der Hauptmann gewohnt hatte, er sah die Schwester des Offiziers vor der Tür sitzen, die Hände im Schoß gefaltet und das Haupt geneigt; ein Bild demütiger Trauer. Er grüßte und wollte vorübergehen, da er dem kleinen Fräulein wenig bekannt war; sie aber stand auf und sagte, zu ihm tretend, mit tränen den Augen: »Auch mein Bruder ist verwundet und gefangen«; und als der Doktor ehrliche Teilnahme [] aussprach, trocknete sie die Tränen: »Es ist nicht der Bruder allein, was mich weinen macht. Wäre ich ein Mann, so würde ich nicht weichmütig hier sitzen, sondern mir ein Gewehr schaffen.« Der Fleischer, ein hünenhafter Mann, trat hemdärmelig in die Tür. »Meiner ist auch wieder da« – er meinte seinen Soldaten –, »er hat dem Fräulein die schlimme Nachricht gebracht; jetzt sitzt der arme Kerl in seiner Kammer und fragt mich, was aus ihm werden soll. Er schämt sich, in seiner Montur auszugehen, und die Obrigkeit weiß nichts mit ihm anzufangen.« Der Meister schlug die Arme übereinander. »Ich habe mir's überlegt, Herr Doktor, wie man mit diesem Napoleon fertig werden kann.« Der Doktor blickte ihn fragend an. »Man muß ihn hinausschmeißen«, sagte der Fleischer entschlossen.

»Das ist es ja eben, was unsere Soldaten nicht vermochten.«

»Die hatten zu schlechte Kost; da konnte nichts Gutes herauskommen, ich hab's immer gesagt. Wir selbst müssen es tun. Es sind mehr als dreihundert handfeste Männer von guter Kraft in der Stadt, wir haben es ausgezählt. Mein Sohn geht auf der Stelle mit, im Notfalle fasse ich auch den Kuhfuß.«

»Wo aber sollen die Anführer herkommen?«

»Daran liegt's«, sagte der Fleischer bedenklich. »Wissen Sie, zu wem ich Vertrauen hätte? Das ist unser Herr Einnehmer, Sie gehen als Doktor mit; ich denke, wenn's zum Einhauen käme, würden Sie auch nicht hinten bleiben.« Als der Doktor dem Freunde von dem guten Zutrauen des Zunftmeisters berichtete, antwortete dieser ernsthaft: »Ich habe mein lebelang nur einmal ein Gewehr abgefeuert, und ich fürchte, ich habe einer Ente den Kopf zerschossen, weil sie gar zu nahe vor mir saß. Dennoch bin ich dem Fleischer für die Meinung dankbar; denn in solcher Zeit erkennt man, daß man von den andern für einen ehrlichen Mann gehalten wird. Dieser Sturmwind fegt bei uns viel Spreu von der Tenne.«

Und die Feinde kamen.

Es war ein finsterer Dezembertag, als der erste feindliche Reiter, die Pistole in der Hand, durch das Stadttor ritt, hinter ihm ein Offizier und vier Mann. In deutscher Sprache fragte der Offizier am Tore die Bürger, die aus den Häusern gelaufen waren, und als er erfuhr, daß keine Soldaten in der Stadt standen, sprengte er auf den Ring und stieg vor dem Gasthofe ab, ein junger, blühender Mann mit gebräuntem Antlitz. In der Torfahrt verhörte er wieder den Wirt, der ihm zögernd Bescheid gab, und nachdem er sich versichert hatte, daß in der Nähe nichts von den preußischen Truppen gesehen worden war, quartierte er sich gemütlich ein und forderte ein Frühstück und den Arzt. Dem eintretenden Doktor stellte er sich vor: »Kapitän Dessalle. Es ist nur ein Ritz in das Fleisch, für den ich Ihre Hilfe erbitte«, sagte er höflich in französischer Sprache, [] zog seine Uniform aus und wies eine tiefe Wunde am Arm. Der Doktor verband schweigend. »Wir kommen als ungebetene Gäste«, sagte der Fremde lachend. »Sie werden sich an uns gewöhnen müssen, mit Ihrem Könige und seinem Heer geht es zu Ende.«

»Das wird der Himmel verhüten«, versetzte der Arzt.

»Der Himmel ist denen günstig, die sich selbst zu helfen wissen, das versteht unser großer Kaiser am besten. Ist Ihnen gefällig, mit mir zu frühstücken?« Der Doktor dankte.

Am Abend war die Wirtsstube mit Gästen gefüllt, denn die Bürger eilten neugierig zum Trunk, um den jungen Feind zu betrachten, der sich so ungezwungen unter den Würdenträgern der Stadt niederließ, als gehöre er dorthin. Während die Leute leise darüber stritten, ob er ein Franzose war, da doch seine Mannschaft aus Schwaben stammte, zog er die kleine Tochter der Wirtin an sich und fuhr ihr durch die blonden Locken. »Meine Puppe kann ich dir nicht zeigen«, sagte die Kleine zutraulich, »die habe ich vor den Franzosen versteckt. Dort unter dem Schenktisch liegt sie und schläft, wo der Vater das Geld und die silbernen Löffel vergraben hat.«

Die Leute lachten. »Ach, du Unglückskind«, rief die entsetzte Wirtin. Der Fremde aber holte ein Geldstück aus der Tasche. »Hier hast du einen französischen Groschen, bitte deine Mutter, daß sie dir dafür einen hübschen Husaren kauft.«

Und als er sich, artig grüßend, in seine Stube zurückgezogen hatte, rühmte ihn die Wirtin: »Der ist von ganz anderem Schlage als unsere hochnäsigen Offiziere.«

Es ergab sich, daß die Feinde herangeritten waren, um eine Anzahl Pferde in Empfang zu nehmen, welche der Kreis dem Feinde zu liefern hatte, und der stolze Stadtdirektor verhandelte demütig mit dem Offizier, der sich so sicher und überlegen zu gebaren wußte, als sei er schon lange Regent der Landschaft. Am andern Tage wurden die Pferde, zumeist aus den königlichen Ämtern, auf den Ring geführt. Der Tag verging unter Hufgeklapper und trübseligen Verhandlungen, bis endlich die Gäule im Gasthofe und einigen nahen Ställen untergebracht wurden. Die wenigen Reiter, welche den Franzosen begleitet hatten, schliefen in den Ställen.

Im Morgengrauen des nächsten Tages pochte es an das geschlossene Stadttor. Als der Torwächter öffnete, sah er den wohlbekannten Reiterleutnant aus der nächsten Garnison, hinter ihm den Junker, einen Unteroffizier und dreißig Gemeine der Schwadron. »Wo liegt der Feind, und wieviel sind ihrer?« fragte der Leutnant. Sobald er den Bescheid erhalten, rückte das Kommando in die Stadt. Die hinteren Ausfahrten der Häuser, in denen die Einquartierung lag, wurden auf den Rat des Unteroffiziers besetzt, die Reiter drangen ein und fingen zwei Gemeine, welche gerade die Pferde putzten. Doch ging der Überfall nicht ohne Lärm ab, und dem feindlichen [] Unteroffizier gelang es, sich mit zwei Mann nach dem Gasthause zu schleichen. Da befahl der Leutnant seinem Kommando, vor dem Gasthofe aufzureiten.

Ein Fenster öffnete sich, der Fremde sah heraus und fragte in französischer Sprache: »Guten Morgen, meine Herren, was steht Ihnen zu Diensten?« Als Antwort fiel ein Schuß, den einer der Reiter ohne Kommando abgab. Der Franzose dankte im nächsten Augenblick in gleicher Weise, und der Reiter stürzte verwundet auf das Steinpflaster. »Ihr alle habt denselben Willkommen zu erwarten, wenn ihr euch nicht fortmacht«, rief der Fremde. Zur Stelle saßen einige Mann ab, drangen in den Gasthof und auf die enge Treppe, aber der Franzose trat mit seinen Pistolen in die Stubentür und rief ihnen zu: »Wer von euch sich untersteht, heraufzukommen, den schieße ich nieder wie euren Kameraden.« Da hinter dem Zornigen drei Karabiner im Anschlag lagen und die Stürmenden keinen Befehl erhielten, die Treppe und Stube mit Gewalt zu nehmen, so wichen sie abwärts, und hinter ihnen wurde das Haus von vorn und hinten verschlossen. Das Kommando zog sich zurück und machte in achtungsvoller Entfernung auf dem Ringe halt. Unterdes hatte sich der Platz mit Neugierigen gefüllt, der Baron ritt unter die Bürger und rief: »Herr Beblow und Meister Schilling, ich ersuche Sie, in den Gasthof zu gehen und dem Feinde vorzustellen, daß er sich gutwillig ergebe, er muß ja die Unmöglichkeit einsehen, sich zu befreien.« »Das ist nicht unsere Sache«, antwortete Schuster Schilling mit Kopfschütteln.

»Ich versichere euch auf meine Ehre«, ermutigte der Leutnant, »ihr werdet nicht erschossen, nur ich habe das zu befürchten, wenn ich mich nähere.«

Die Bürger traten schweigend zurück. Der Doktor, welcher herangekommen war, sah, wie der alte Unteroffizier errötete und unwillkürlich die Faust ballte. Das Kommando hielt unschlüssig, der Leutnant ritt vor demselben hin und her. Auch der Doktor fühlte, daß ihm die Wange heiß wurde, und rief: »So dürfen die Leute nicht stehenbleiben, ich bin bereit, mit dem fremden Offizier zu verhandeln.«

»Ich lasse Sie nicht allein gehen«, sagte der Einnehmer. »Wenn wir aber als Abgesandte zu diesem gallischen Helden eindringen, so ist Vorsicht nötig; ich verlange einen Trompeter.«

Ein junger Reiter ritt freiwillig vor. »Bleibt Ihr nur zurück, mein wackrer Junge, ich wünsche zivile Musik. Holt Eure Trompete, Turmwächter Steinmetz, und marschiert vor uns her, Ihr seid, solange Ihr blast, sicher wie in Abrahams Schoß.«

»Mir ist unbekannt«, sagte Steinmetz bekümmert, »was bei dergleichen Handlungen gebräuchlich ist.«

»Es wird heut nicht so genau genommen«, tröstete der Einnehmer.

[] Die Trompete wurde geholt. Steinmetz, der Türmer, schritt in Parade vor. Da sein Gemüt schwer belastet war, so geriet er auf das Signal, welches er oft in ähnlicher Gemütsstimmung vernommen hatte, und blies das Stück, welches gebräuchlich war, wenn ein Husar Spießruten lief.

Der Gastwirt ließ eine kurze Leiter durch das untere Fenster herab. Die Herren stiegen, von dem fremden Unteroffizier geleitet, die Treppe hinan und richteten dem Franzosen ihren Auftrag aus. Dieser aber wies auf die Pistolen, welche auf dem Tische lagen, und antwortete: »Ihr Offizier soll heraufkommen, mich zu holen, wenn er es vermag; lebendig bin ich nicht zu haben, und jede weitere Verhandlung ist unnütz.« Mit diesem Bescheide verließen die Gesandten den Gasthof. Als sie zu dem Kommando zurückkehrten und die Antwort überbrachten, ritt der Unteroffizier heran und rief in grimmiger Bewegung: »Herr Leutnant, ich bitte um Erlaubnis, mit einem Beritt abzusitzen und den Feind gefangenzunehmen.«

»Nein«, antwortete der aufgeregte Leutnant, »es ist Befehl, Verlust an Mannschaft zu vermeiden, mag der Franzose bleiben, wo er ist, wir reiten hinten herum und holen die Pferde aus den Ställen.« So geschah es. Das Kommando schwenkte in eine Nebengasse ein und zog mit einem Teil der Pferde, welche der Franzose requiriert hatte, wieder zum Tore hinaus. Die Leute verliefen sich, der Markt wurde leer. Als der Doktor einige Stunden später in den Gasthof gerufen wurde, fand er den Offizier zum Aufbruch bereit. »Ihr Kommando ist artig gewesen«, rief der Fremde lachend dem Eintretenden zu, »es hat mir die Hälfte der Pferde zurückgelassen. Sind das die Husaren Friedrichs des Großen? Sie verstehen, in den Hintergassen herumzureiten.«

»Sie werden nicht immer so vorsichtig geführt werden«, versetzte der Doktor finster.

»Sie selbst hätten mich gern gefangengenommen«, sagte der Franzose mit spöttischem Lächeln. »Sie heißen König, mein Herr, wenn ich recht vernahm. Stammen Sie hier aus der Gegend?«

»Ich bin in Schlesien geboren.«

»Der Name ist häufig unter den Deutschen, bei uns in Frankreich würde er lange Zeit dem Besitzer eine schlechte Empfehlung gewesen sein.«

»Dafür ist Ihr Kaiser jetzt um so mehr beflissen, die Welt mit Königen zu versehen.«

»Diese sind gut genug für die Fremden«, sagte der Offizier hochmütig. »In Frankreich gibt es nur einen Herrn, und das ist unser Stolz. Doch Verzeihung, ich wollte Sie nicht verletzen.« Er hielt die Hand auf den Tisch. Der Doktor bemerkte an dem Mittelgliede des kleinen Fingers einen dünnen Goldreif mit einem Vergißmeinnicht, wie er ihn sonst wohl schon gesehen hatte; er dachte sich, daß der [] Ring von einem Mädchenfinger herkomme, und als er die stattliche, elastische Gestalt des jungen Kriegers betrachtete, mußte er zugeben, daß es diesem auch bei Frauen wohl geglückt sein müsse. Trotz der patriotischen Abneigung freute ihn, daß der kräftige Mann eine Stelle in seinem Herzen hatte, die anderen Gewalten als seinem Kaiser gehörte.

Nachdem der Verband erneuert war, legte der Fremde ein Goldstück auf den Tisch. »Ich bin Ihnen Dank schuldig.«

»Sie haben mir nur Gelegenheit gegeben, meinen Beruf zu üben«, antwortete der Doktor höflich. »Es ist meine Pflicht, jedermann hilfreich zu sein. Von einem Feinde nehme ich kein Honorar.«

Der Fremde sah ihn scharf an, aber er nickte beistimmend: »Vielleicht treffen wir uns einmal wieder, und nicht als Feinde, denn der Kaiser pflegt festzuhalten, was er erobert hat, und dies ist die Zeit, wo alte Throne in den Trödelladen kommen.«

»Dafür wurde auch Ihrem schwäbischen Landesherrn ein neuer gezimmert«, versetzte der Doktor.

»Ich bin keine Schwabe«, antwortete der Fremde stolz, »und nur durch einen Zufall zu diesem Kommando gekommen. Meine Leute sind unbändig, aber ich denke, sie werden mit der Zeit zu guten Soldaten.«

Kurz darauf trabte der Franzose mit seinen Reitern und den Pferden aus dem Tor.

»Der Baron ist entlarvt«, sagte der Einnehmer, dem Fremden nachsehend, »und doch wäre mir lieb, wenn das Pferdegetrappel von heut früh nicht zu meinem Alten mit dem Krückstock heraufgeschallt hätte.« Er wies auf das Bild des Königs, an dem ein Trauerflor befestigt war.

Die Verlobung

Diesem ersten Besuch des Feindes folgten andere, deutsche Bundestruppen des Kaisers, Franzosen und Italiener; die Deutschen aber roher und zügelloser als die Fremden. Dennoch hielten sie im ganzen in der Stadt so leidliche Manneszucht, daß die Bürger sich verwunderten und erzählten, es sei strenger Befehl des Kaisers, die Städte zu schonen. Jämmerlich aber waren die Botschaften, welche von den Dörfern kamen. Dort hausten die Feinde ganz unmenschlich, alle Gewalttaten und Greuel, welche dem zuchtlosen Sieger möglich sind, wurden begangen. Und wenn der Doktor über Land fuhr, oft angehalten und in eigener Gefahr, hörte er Klagen, die ihm das Herz zerrissen, und sah, was ihn entsetzte, geleerte Höfe, verdorbenen Hausrat, gemißhandelte Frauen und Männer, die an Schlägen und Wunden elend darniederlagen. Dann war sein einziger Trost, daß [] ein Mädchen, das er liebhatte, durch die Flucht nach der Stadt davor bewahrt wurde, solches Elend in der Nähe zu schauen.

Des Abends standen die Leute jetzt in Haufen auf dem Stadtwall trotz Kälte und Schnee und horchten schweigend in die Ferne. Wenn der Wind den Schall herzutrug, konnte man das dumpfe Dröhnen schwerer Geschütze hören, welche der Feind gegen Festungsmauern und gegen die Häuser umschanzter Städte richtete.

Weihnachten kam heran; nach altem Brauche trugen die Kinder aus dem Walde große Moospolster herzu, legten sie auf Bretter und steckten mit spitzigen Hölzlein bunte Bilder hinein, in der Mitte das Christkind mit Maria und Joseph, Ochs und Eselein und an die Seiten Schäfer und ihre Herden, darüber aber hingen sie einen großen goldenen Stern und Engel, welche auf einem Papierstreifen die Inschrift wiesen: »Gloria in excelsis.« Solchen Bau hatte der Doktor als Kind jedes Jahr zusammengefügt. Als jetzt die Knaben seiner Wirtin das Moos aus dem Walde heimbrachten und ihm fröhlich vorzeigten, wurde mit dem kräftigen Waldgeruch die ganze Freude und Sehnsucht der Kinderzeit in ihm wach; er setzte sich zu ihnen und half bei der künstlichen Arbeit, schnitt, wie sie, die Bilder und lehrte sie eine offene Hütte zu pappen, in welcher die ruhmvolle Krippe des Christkindes aufgestellt werden konnte. Aber während er sich aus den Schrecken der Gegenwart hineinzuträumen suchte in den glückseligen Frieden der Kinderarbeit, kam ihm vor, als vernehme er den dumpfen Schall ferner Schüsse, er sah die tödlichen Geschosse in feurigem Bogen herniederbrechen in die Wohnungen friedlicher Menschen, er sah abgehärmte Gestalten in den tiefsten Gewölben der Häuser kauern, und er fragte sich in tiefer Empörung: Du heiliger Lehrer, dessen Geburt die Kleinen im kindischen Spiel darstellen, du fordertest Liebe und Frieden auf Erden. Deiner hohen Lehre stimmt alles Holde und Freundliche in unserem Herzen zu. Hat sie recht? Oder ist Kampf und Streit der Nationen als eine ewige Notwendigkeit von der göttlichen Vorsehung geboten, und müssen wir im Kriege töten und uns töten lassen, um in friedlicher Zeit menschenwürdig zu leben? Sind die Greuel dieses Jahres nötig, und kann ein Mensch das Recht haben, dies Fürchterliche über Millionen andere heraufzubeschwören? Und wenn er sich antwortete: Dies Leid ist der Preis, den der Mensch dafür bezahlt, daß er einem Volke angehört und einem Staat, und Krieg ist der Zweikampf der Völker, der als das geringere Leiden an die Stelle getreten ist einer rohen Selbsthilfe der einzelnen, welche unablässig zerstört; dann blieb er vor der Frage stehen: Wie weit bin ich als einziger schuldig, mich dem Kampfe meines Heimatstaates hinzugeben? So dachte er, über Moos und Fichtenreiser des Waldes gebeugt, aber die Antwort fand er nicht.

Dieselben Festungen, um welche in den Kriegen Friedrichs des [] Großen der Kampf getobt hatte, wurden jetzt von den Franzosen belagert. Bei jeder hofften die Städter, daß die Kriegskraft der Fremden, die in der Provinz nur mäßig war, an den Bastionen zerschellen würde, doch eine Festung nach er andern wurde von schwachen Kommandanten, lange bevor die Not dazu zwang, dem Feinde ausgeliefert. Als aber die Hauptstadt des Landes trotz dem Widerspruch, den mutige Bürger erhoben, übergeben ward und der Feind zugleich mit der Stadt auch die Regierung des Landes in Besitz nahm, da drang auch in die Seelen der Bessern die Mutlosigkeit. Und von da folgte in den öden Wintertagen eine Unglücksnachricht der andern, nichts schien festzuhalten, worauf man gehofft hatte, nicht die Mauern, nicht die Menschen. Dem Feind gehörte die ganze Provinz, nur im Süden widerstand noch ein schmaler Landstrich: die Festungen an Österreichs Grenze und die Berge der Grafschaft Glatz; auch diese, wie man annahm, nur deshalb, weil es den Franzosen an Belagerungsgerät und Mannschaft fehlte.

Aus der Hauptstadt aber kamen immer neue Erzählungen von dem Übermute der Sieger, den Erpressungen der Befehlshaber; der eine hatte alles Silbergeschirr aus dem Laden eines Goldschmieds für sich requiriert, der andere brauchte täglich ein Faß Wein, sich darin zu baden; die königlichen Offizianten wurden mit kaltem Hohn wie Bediente behandelt, vornehme Gutsbesitzer standen demütig harrend im Vorzimmer der Fremden und erbaten als Gunst, ihnen Feste veranstalten zu dürfen. Von dem König aber und von dem Heere, die weit entfernt im äußersten Norden lagerten, drang selten eine Kunde in das Land.

Viele gaben die Hoffnung auf, daß das alte Wesen jemals wiederkehren werde, und nicht wenige freuten sich darüber. Mancher, den die schlechte Zeit wundgedrückt hatte, dachte, daß es nützlicher sei, den Sieger zum Freunde und Herrn zu haben, als den schweren Druck länger zu ertragen.

Denn das meiste, was der Bürger bis dahin mit scheuer Ehrfurcht betrachtet, hatte sich verächtlich gezeigt. Streng waren die Kleinen bevormundet worden, jetzt waren die höchsten Behörden, die ersten Offiziere in ihrer hohlen Eitelkeit und in der Erbärmlichkeit ihres Charakters erwiesen. Darüber klagte das warmherzige Volk mit Bitterkeit und die Schlechten mit hämischer Freude. Wenn einer der Gutsherren, der einen Sohn beim Heere hatte, nach der Stadt kam, so waren die Leute nicht mehr willig, die Mützen zu ziehen; sie wiesen vielleicht hinter seinem Rücken mit Fingern auf ihn und flüsterten sich zu, wie er sich die Einquartierung abgekauft und wie er bei den Feinden zu Hofe gegangen war.

Auch das neue Wesen der Fremden, welches so gewaltig der alten Ordnung überlegen war, dünkte vielen stärker und besser. Ja, der Kaiser verstand aufzuräumen; er würde durch wenige Federstriche [] den Stolz der Herren abschaffen, die mit Läufern durch die Straßen zogen und ihre untertänigen Leute zwangen, ihnen zu dienen, gleich als ob diese Negersklaven wären. Nicht nur in den Schenken, wo loses Volk verkehrte, auch in den Häusern studierter Männer, welche sich ihrer Wissenschaft und ihrer Erfahrung im Staatsdienst rühmten, vernahm man das Lob des Kaisers, und wenn deutsche Offiziere, die in französischem Dienst standen, in einer Gesellschaft seine Gesundheit ausbrachten, so schrien auch schlesische Landeskinder ihr Hoch dazu.

Und etwas Unerhörtes geschah; das ganze Land füllte sich mit Spionen. Die Fremden verstanden mit einer teuflischen Fertigkeit, die sie in andern Ländern erworben hatten, schwache Menschen als Zuträger zu gewinnen; überall schlichen sich französische Agenten ein. Wer in größerer Gesellschaft ein freies Wort wagte, der lief Gefahr, angezeigt zu werden. Man wußte, daß hier und da jemand bei Nacht aufgehoben und nach der Hauptstadt geführt war. Vorsichtig und scheu gingen die Leute aneinander vorüber, ein Nachbar traute nicht mehr dem andern.

In der Stadt lebte ein pensionierter Rat, der wenig beliebt war. Man sagte, daß er wegen grober Amtsvergehen seinen Abschied erhalten habe. Dieser Mann suchte jetzt die Gesellschaft des Doktors, erzählte viel und laut von seinem Patriotismus und fragte den Doktor, der ihn kalt behandelte, nach seinen Ansichten.

»Lassen Sie sich nicht mit dem ein«, sagte einst die Gastwirtin vertraulich, »es geht mich nichts an, aber die Leute erzählen, daß er insgeheim mit dem Feinde zusammensteckt. Wenn Sie viel mit ihm gesehen werden, so kommen auch Sie ins Gerede.«

»Wenn er in solchem Verdacht steht«, versetzte der Doktor erstaunt, »wie können die Honoratioren ihn an ihrem Tische und in der Unterhaltung neben sich dulden?« Die Wirtin zuckte die Achsel. »Sie mögen es wohl aus Furcht tun.« Als der Doktor den Einnehmer deshalb befragte, antwortete dieser: »Ich rede nicht mit ihm, früherer Geschichten wegen, ob er spioniert, weiß ich nicht; aber glauben Sie mir, die ärgsten Spione sind unsere Oberbehörden, welche aus reiner Feigheit sich und die Verwaltung den fremden Schuften in der Hauptstadt zu Füßen legen.«

Das nächste Mal begann der Doktor traurig:

»Es geht mit unserm Widerstand zu Ende. Die letzten Truppen, welche sich noch in der Grafschaft hielten, sind über die böhmische Grenze gesprengt.«

Der Einnehmer zuckte die Achseln: »Ich werde wohl nicht mehr lange über Steuern quittieren. Zwei Könige haben mit ihrem Stock dies Wesen zurechtgeschlagen, unter zwei andern ist es verloddert. Ich sage Ihnen, Doktor, der fühlende Mensch soll sich um diese Dinge nicht grämen.«

[]

»Um was denn sonst?« fragte der Doktor.

»Um nichts«, antwortete der Einnehmer, »dem Weisen darf nichts auf Erden den Appetit verderben.« Beide saßen einander schweigend gegenüber.

Wieder begann der Jüngere: »Ich las, wie ein wohlmeinender Schriftsteller die Deutschen ermahnt, daß ihnen doch die Herrschaft bleibt im Reiche des Geistes, in der Wissenschaft und Poesie. Darin kann kein anderes Volk sich mit uns messen, und unsere heimische Art lebt sicher fort in unserer Muttersprache.«

»Auf der andern Seite der Oder reden sie polnisch, jenseits des Gebirges böhmisch, und unsere Edelleute freuen sich, wenn sie französisch parlieren können; erzählen Sie doch den Bürgern und Bauern von der Größe unserer Wissenschaft und Dichtkunst«, antwortete der Einnehmer.

Wieder langes Schweigen. »Wohlan«, ermutigte sich der Doktor, »aus Trübsal und Gefahren steigt ein neues Leben empor; was unhaltbar war, fällt um uns in Trümmer. Die eigennützige Politik der Kabinette hat ihre Schwächen erwiesen. Die Schranken, mit welchen die Nationen voneinander getrennt wurden, sind gebrochen; für die Völker kommt jetzt eine Zeit brüderlicher Vereinigung.«

»Das sagen ja die Franzosen immer«, versetzte der Einnehmer, »und dabei treiben sie den Bauern die Kühe aus dem Stalle und raffen unsere sauer verdienten Groschen in ihre Tasche.«

»Auch der Kaiser, welcher jetzt mit seiner Geißel auseinanderwirft und zerschlägt, ist der Diener einer höheren Macht; er zwingt uns zur Buße und Einkehr in uns selbst, denn er lehrt uns, daß vieles, was wir in schlaffer Gutmütigkeit aus der Vergangenheit bewahrt haben, ein Unrecht geworden ist. Ob er bestimmt ist, ein besseres Leben bei uns heraufzuführen; wer wagt das zu entscheiden?«

»Das wage ich, als königlicher Steuereinnehmer, indem ich Ihnen im Vertrauen sage, daß ich ihn für einen Schurken, einen Dieb und Einbrecher halte. Aber andere unserer großen Herren sind nicht viel besser. Er nimmt's dreist in Scheffeln, die andern furchtsam in Löffeln. Und ich wiederhole Ihnen, der Weltlauf war immer so, und nur in seinen vier Wänden vermag der Mensch glücklich zu sein. Zuweilen hilft dazu ein Glas Wein.« Er trug eine Flasche Ungar heran. »Das trinken wir aus«, ermahnte er, »sonst holen es am Ende die Volksbeglücker.« Die Freunde setzten sich zusammen. Der Wirt wollte nicht von Politik reden und erzählte kleine schnurrige Geschichten, denen der Gast mit halbem Ohr zuhörte. Beide Weltbürger, der, welcher sich aus der gemeinen Außenwelt in die Stille des Hauses retten wollte, und der andere, der nach dem Haß der Könige eine Freundschaft der Nationen erwartete, sollten noch erfahren, daß sie selbst Besseres zu tun hatten, als über den Fall ihres Staates traurig nachzudenken.

[] Auch der Doktor hatte mühevolle Tage. Es gab viel Krankheit in den ausgesogenen Dörfern, die Wege waren unsicher geworden und nächtliche Fahrten galten für gefährlich. Er fuhr mit Säbel und Pistole bewaffnet zu seinen Kranken; aber die einsamen Reisen unter dem Nachthimmel waren ihm ganz recht. Wenn der Schneesturm um seinen Schlitten heulte, und wenn die Wintersonne auf das weiße Bahrtuch schien, in welches die Landschaft gehüllt war, sann er ernsthaft über die großen Fragen, welche den Menschen beschäftigen, wenn er zertrümmern sieht, was ihm bis dahin lieb und ehrwürdig gewesen ist.

Als er bei einem Krankenbesuch auf dem Lande wieder Klagen über die Roheit und Raubsucht der Feinde angehört hatte, sagte der Bauer endlich: »Woanders ist es noch schlimmer hergegangen; bei dem Herrn Senior haben sie arg gehaust, und er ist kaum mit dem Leben davongekommen.« Da befahl der Doktor dem Kutscher, sogleich nach dem Pfarrdorf zu fahren.

Der Weg bog von der Landstraße ab, zur Seite die wüste Stätte und das Dorngebüsch um den verfallenen Brunnen, dahinter der alte Ringwall. Über dem Deckel des Brunnens hämmerte der alte Christian. Der Doktor ließ halten: »Wie geht's in der Pfarre, Schäfer?« Der Alte schüttelte den Kopf: »Der Herr Senior will durchaus, daß ich den Deckel wieder festschlage; die Arbeit ist doch vergebens. Sie leidet's nicht mehr.«

»Wer will's nicht leiden?« Der Mann wies scheu in den Brunnen hinab. »Die einst hier heruntersprang.« Er warf die Axt weg: »Hier fing das Unglück an. Am Morgen kam die Magd mit der Nachricht gelaufen, der Brunnen wäre offen und das Holz nirgends zu finden. Der Herr meinte, es sei hineingestürzt. Es war ganz fest, sagte ich; ich selbst habe in den letzten Tagen daran gefaßt, wie können die Bohlen hinunterfallen? Dann haben Fremde dort nach Wasser gesucht, sagte der Herr, griff nach seinem Hut und ging selbst zur Stelle, doch war nirgends etwas zu finden. Und gleich darauf kamen die Räuber und Mörder über uns. Ach, und unser armes Fräulein!«

»Fahr zu, Kutscher«, schrie der Doktor in der Ahnung eines Unheils. Als er in den Hof einfuhr, fand er dort den Staatswagen des Kammerherrn. Der Bediente grüßte und berichtete ungefragt, daß die gnädige Frau zum Besuch beim Pfarrfräulein sei. Der Doktor wurde in die Amtsstube des Seniors geführt. »Erst auf dem Wege hierher habe ich vernommen, daß Sie in Gefahr gewesen sind.«

»Es war eine schwere Zeit«, antwortete der Geistliche, welcher kränklich und gebeugt vor ihm saß, »und ich besorge, die Prüfungen sind noch nicht zu Ende. Es ist uns im vorigen Herbst und Winter übel zugesetzt worden. Zuerst kamen kleine Kommandos, sie nahmen uns das Vieh aus den Ställen, kaum daß den Frauen gelang, die letzte Milchkuh zu verstecken; bis endlich an einem Sonnabend, [] da ich gerade memorierte, das Unglück hereinbrach.« Er hielt inne und sah den Doktor unruhig an. »Wir sind Ihnen bereits Dank schuldig, und Ihr Besuch erscheint mir wie eine Fügung des Schicksals; ich weiß, daß meine Henriette großes Vertrauen zu Ihnen hat, und es könnte sein, daß wir bald einmal Ihre Hilfe für Sie erbitten müssen.« »Ist sie krank?« fuhr der Doktor auf.

»Ich fürchte, obgleich sie im Hause umhergeht wie sonst.« Er hielt wieder inne. »Dem Arzte soll man mit Vertrauen entgegenkommen«, fuhr er, sich selbst ermutigend, fort, »und ich will Ihnen alles erzählen, wovon wir sonst ungern reden.« An jenem Sonnabend war der Hof im Augenblick durch wilde Gestalten, durch Pferde und schreiende Soldaten gefüllt; sie drangen in die Stube mit wütenden Gesichtern und rohen Flüchen; der ganze Haufe war betrunken, leider waren es Deutsche. Sie hielten mir Pistolen an die Schläfen, drehten das Tuch um meinen Hals, um mich zu ersticken, und forderten das Geld und Silberzeug.

Während meine Frau zitternd in der Kammer herbeisuchte, was sie begehrten, hielt mich die Tochter fest umschlungen, um meinen Leib vor den Schlägen der Bösewichter zu schützen. Aber zwei, die Offiziersepauletten trugen, rissen sie von meinem Herzen und wollten sie mit rohen Liebkosungen zur Stube hinausziehen. Da hörte ich in halber Ohnmacht, wie unsere alte Magd, die an der Tür auf den Knien lag, jemanden anschrie: »Herr, rettet unser junges Fräulein!« In dem Augenblick sprang ein junger Offizier über die Schwelle, ein schöner Mann, wie vom Himmel kam er. Er sah sich in der Stube um und schlug den Bösewichtern, welche mich quälten, die Pistolen zur Seite, und wie mein Kind, welches gebrochen auf den Knien lag, von den zwei Wüterichen fortgeschleift wurde, fuhr er auf diese zu und gebot ihnen mit flammendem Blick: ›Lassen Sie das Mädchen los.‹ Als die beiden sich unter Flüchen weigerten, packte er den Frechsten bei der Brust, warf ihn zurück und rief: ›Wagt es, ihr Hunde, die Braut eines französischen Offiziers anzurühren.‹ ›Braut?‹ schrien die andern, ›Lügner! Schlagt den französischen Windbeutel nieder.‹ Der Franzose zog seinen Säbel heraus und sagte jetzt ganz ruhig: ›Ich ersuche alle Anwesenden, Zeugen meiner Verlobung zu sein.‹ Er beugte sich zu meiner Tochter herab, welche im Schoß der Mutter auf dem Boden lag, zog ihr den Ring vom Finger, der ein Geschenk ihrer Pate war, und steckte ihr einen andern an, den er an der Hand trug. ›Herr Pfarrer, so verlobe ich mich mit Ihrer Tochter‹, sagte er, und gleich darauf fuhr er die beiden Bösewichter an: ›Hinaus.‹ Unterdes waren einige seiner Leute in die Stube gedrungen, hatten die Marodeure aus dem Hause gejagt und bewachten die Tür. Es wurde still, wir hörten in unserer Betäubung Säbelgeklirr aus dem Hofe. Kurz darauf kam der französische Offizier zurück und rief meiner Tochter zu: ›Der Elende wird Sie nicht mehr belästigen.‹ Er hatte ihn [] dort vor der Scheune zum Tode verwundet. Der Mensch starb wenige Stunden darauf und wurde von seinen Leuten in aller Stille auf einem Karren fortgeschafft. Der Senior wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auch sein Zuhörer barg sein Gesicht hinter der aufgestützten Hand.

»Meiner Tochter lief der Schauder durch die Glieder«, fuhr der Geistliche fort, »der Franzose redete ihr tröstend zu: ›Armes Mädchen, fassen Sie Mut, es soll Ihnen kein Leid mehr geschehen‹; er hob sie auf und übergab sie der Mutter. Sie wurde aus dem Zimmer geführt. Als wir allein waren, fuhr der Offizier fort: ›Für die nächsten Tage lasse ich Ihnen einen zuverlässigen Mann als Sauvegarde im Haus, und später, hoffe ich, sollen Sie von aller Einquartierung verschont bleiben.‹ Er rief einen seiner Reiter herein, es war ein alter Haudegen von sehr gutem, kriegerischem Aussehen. Bisher hatte der Offizier deutsch geredet, wenn auch mit fremder Aussprache, mit dem Alten besprach er sich französisch. Dann wandte er sich wieder zu mir: ›Was hier vorgefallen ist, zwingt mich, sogleich aufzubrechen, um Sie und mich selbst zu sichern. Ich bitte Sie, bevor ich scheide, um ein Glas Wein; ich wünsche, die Gesundheit meiner Braut zu trinken.‹ Als er trank, lief ihm vom Arme das Blut herab. Und als er aufbrach, sagte er noch, meine Hand ergreifend, in seinem fremdartigen Deutsch: ›Mein ehrwürdiger Vater, als ich die Heimat verließ, hatte ich eine Schwester, welche Ihrer Tochter ähnlich war, und einen Vater mit weißem Haar, gleich dem Ihren, und es sah in der Stube fast so aus wie hier.‹ Und meinen Dank unterbrach er mit den Worten: ›Grüßen Sie meine Braut und sagen Sie ihr, wenn ich wiederkomme, werde ich fragen, wann sie Hochzeit machen will‹, und ein französisches Lied singend, ritt er mit seinen Leuten von dannen. Doch einen Empfehlungsbrief für spätere Einquartierung hat er zurückgelassen.« Der Senior holte ein Papier aus dem Schreibtisch und wies es dem Doktor. Es war ein offener Brief in französischer und deutscher Sprache, worin der Unterzeichnete seine verlobte Braut und deren Eltern der Ehre aller Kameraden empfahl. Die Unterschrift war »Dessalle, Kapitän«, mit Angabe des Regimentes.

Der Doktor legte das Blatt auf den Tisch, er wußte jetzt, woher der Ring mit dem Vergißmeinnicht kam, und er wußte auch, wo die Armwunde empfangen war, die er verbunden hatte. »Und Sie haben später von diesem Dokument Gebrauch gemacht?« fragte er mit klangloser Stimme.

»Es hat uns einigemal in der Not gute Dienste geleistet«, antwortete der Geistliche gedrückt.

»Sie haben dadurch die Verlobung Ihrer Fräulein Tochter mit dem Fremden anerkannt«, sagte der Doktor traurig; »hat auch Fräulein Henriette ihre Zustimmung ausgesprochen?«

»Sie hat nie ein Wort dafür und dagegen gesagt, den Ring des [] Fremden hat sie abgezogen und verwahrt ihn in ihrer Kommode. Lange war sie auf den erlittenen Schreck bettlägerig; als sie wieder zu einigen Kräften kam und die Mutter von dem Unglückstage anfing, brach sie in Schluchzen aus und geriet in solche Aufregung, daß wir bis jetzt vermieden haben, davon zu reden, sie selbst erwähnt niemals den Offizier.«

»Hat Kapitän Dessalle seit jenem Tage sich nicht wieder gezeigt?«

»Nein. Einmal hat er mir in kurzem Billett angezeigt, er sei verhindert, uns wiederzusehen, da er im Dienste verschickt werde.«

»Darf ich mir die Frage erlauben, wie Sie selbst die dreiste Tat des französischen Offiziers ansehen und was Sie ihm gegenüber und vielleicht vor andern zu tun gedenken?«

Der Senior faltete die Hände. »Ich stelle alles dem Willen des Höchsten anheim, er wird es wohlmachen.«

Dem Doktor empörte sich das Herz über solche christliche Ergebenheit.

»Die Heimsuchung ist über mein Haus gekommen, wie über unser Volk«, fuhr der Senior fort, »der Kaiser hat alles zerschlagen, worauf wir vertrauten, und niemand vermag zu sagen, ob er nur wie ein Skorpion ist, mit dem wir gezüchtigt werden, oder ob er ein Bote der Vorsehung ist, um uns, wenn auch wider unsern Willen, zu einem besseren Glück zu führen. Ist er nur ein Werkzeug der Zerstörung, so wird Gott ihn finden und zerbrechen, ist er ein großer Reformator in irdischen Dingen, so wird er sich auch unsern Dank verdienen, und die Herzen werden sich ihm freudig zuwenden.«

Es war wenige Tage her, da hatte der Doktor, welcher jetzt in tiefer Empörung dem Alten gegenüber saß, ganz ähnliches gedacht; heut tönten ihm die Worte wie Vaterlandsverrat in das Ohr. Er verstand wohl, was der Senior vor ihm nicht aussprach; der fromme Mann hatte in seiner Ergebenheit bereits bei sich ausgemacht, daß der Herr ihm vielleicht einen Offizier des Kaisers als Schwiegersohn bestimmt habe, und er war bereit, ihn zu empfangen. Schmerz und Zorn wurden in dem Doktor so übermächtig, daß er vergebens nach Worten rang.

Es war ein langes, unfreundliches Schweigen.

»Die Frau Kammerherrin hält die Meinigen lange auf«, sagte der Pastor, nach der Tür sehend.

Der Doktor erhob sich. »Was Sie mir mitgeteilt haben, werde ich als Geheimnis bewahren. Ist das Leiden Ihrer Fräulein Tochter eine Folge des großen erlittenen Schreckens, so haben Sie Heilung von der Zeit zu hoffen; hat die Störung ihrer Gemütsruhe einen anderen Grund, so wird ihr Leiden nur beseitigt werden, wenn der Grund des Kummers wegfällt. Als Arzt vermag ich nur dann zu raten, wenn Fräulein Henriette sich entschließen kann, mir so weit ihr Vertrauen zu schenken, als der Arzt in solchem Falle beanspruchen [] muß. Darum lasse ich sie herzlich bitten. Es wird gut sein, wenn Sie ihr dies vorher mitteilen.« Als er die Stube verließ, fuhr der Wagen des Besuches ab. Henriette stand auf den letzten Stufen der Treppe. Da sie den Gast erkannte, wich alles Blut aus ihrem Gesicht, und sie hielt sich an dem Treppengeländer fest. Er blickte sie traurig an, grüßte schweigend und förmlich und stieg in den Wagen. Er sah nicht mehr, daß das Mädchen sich über die Treppe beugte und in lautes Schluchzen ausbrach.

Der Doktor drückte sich in eine Ecke des Wagens und versuchte, an alles mögliche andere zu denken, um die bitteren Empfindungen zu betäuben. Ihn übermannte fast die Trauer, daß sie jetzt vielleicht unglücklich war durch den übermütigen Einfall eines Fremden. – Doch wahrlich, es war Torheit, sich um dies Abenteuer zu grämen. War der Fremde nur ein frecher Taugenichts, so durfte der Ringwechsel aus dem Stegreif unter keinen Umständen ihre Zukunft bestimmen, und war er ein Mann von Ehre, so verstand es sich von selbst, daß die Sache keine weiteren Folgen hatte. Aber er war ihr Retter! »Wie vom Himmel kam er«, sagte der Vater. So dachte wohl auch die Tochter. Es war natürlich, daß ihr der Franzose lieb geworden war, dessen Ring sie bewahrte. – Und welches Recht hatte denn er selbst an das Mädchen?

Er rang in seinen Gedanken gegen das Neue, das wie ein giftiger Qualm seine Hoffnung auf Liebe und Glück verdorren machte. Und je länger er sich mühte, um so wilder wurde der Sturm in seinem Gemüt, bis ihm sein ganzes Leben entweiht und zerbrochen dünkte.

So kam er nach Hause und warf sich den Rest der Nacht ruhelos auf seinem Lager umher. Kalt und grau war der Morgen, und die finstere Entsagung, zu der er sich zwingen wollte, wurde immer wieder durch das Auflodern eines wilden Schmerzes gestört. Nur ein Strahl von Hoffnung fuhr zuweilen durch das Dunkel in seiner Seele: Henriette selbst würde seinen Bei stand begehren. Aber Tag auf Tag verrann, und vom Pfarrdorf kam keine Botschaft.

Wohl aber traf er mit dem Kammerherrn zusammen, der ihm erzählte: »Meine Frau hat bedauert, neulich bei dem Herrn Senior Sie nicht gesehen zu haben. Das ist ja eine ganz poetische und romantische Begebenheit. Dem Fräulein darf man, abgesehen von der gegenwärtigen Kriegslage, zu der Partie gratulieren. Ich war im Auftrage der Stände genötigt, mit den Franzosen zu verhandeln. Da erkundigte sich der Prinz selbst nach der Familie des Seniors und rühmte den Bräutigam mit warmen Worten.«

»Und wie erwähnte Fräulein Henriette den Franzosen?« fragte der Doktor kalt.

»Sie hat meine Frau mit Tränen gebeten, über die ganze Angelegenheit gegen sie selbst und andere zu schweigen. Dies Zartgefühl macht ihr Ehre bei der jetzigen Unsicherheit aller Verhältnisse. Ich [] zweifle aber nicht, wenn erst der Friede geschlossen ist, wird sich dort alles günstig gestalten. Meine Frau ist bezaubert von der Haltung und Liebenswürdigkeit des Mädchens.«

So war es entschieden. Ein kurzer Traum von Liebe und Glück! Sonne und Mond verklärten den Friedhof so freundlich mit ihrem Licht, das Ende ist doch ein Grab für Liebe und Hoffnung; kurz war die Seligkeit, und ihr folgt ein ödes Leben voll von Entsagung. So dachte der Doktor daheim, er trat aus dem Sternenlicht in den dunklen Schatten und barg sein Gesicht in den Händen.

Nach den Bergen

Die ersten Boten des Frühjahrs kamen. Die Schneeglöckchen blühten, und der Fink erhob in den Hausgärten seinen mutigen Ruf. Die Kinder banden buntes Papier und Flittern an Fichtenreiser, liefen durch die Gassen und schrien, daß sie den Winter ausgetrieben hätten und den Sommer wiederbrächten; und wo sie von der Hausfrau Brezeln hofften, da sangen sie schmeichelnd von einer goldnen Schnur, die um das Haus gehe, und von einer schönen Frau Wirtin darin. Ach, das Gold war in den Häusern der Bürger selten geworden, aber die steigende Sonne übte doch ihren alten Zauber. Die Mutlosigkeit, welche unter den Schneewolken geherrscht hatte, schwand dahin. Die Bürger schritten wieder rüstiger einher, Augen und Herzen erhoben sich in neuer Hoffnung. Noch war es ein schüchternes Ergrünen, und der nächste Schneefall mochte es verderben, aber die Leute erzählten doch frohlockend, daß dem fremden Kaiser nicht alles geglückt war und daß oben in der Grafschaft und um die Grenzfestungen sich wieder Soldaten ihres Königs tummelten. Ein neuer Gouverneur war angekommen, und seine Husaren streiften weit in das Land, fast täglich kam Botschaft von kecken Unternehmungen, welche dem Feinde Schaden getan, daß sich die mutigen Reiter durch die engen Täler, über Eis und Schnee der Berge gewunden, um plötzlich über die Franzosen herzufallen, daß sie mit dem alten Husarenstolz schonungslos auf jede Übermacht einhieben und mit ihren Gefangenen und Beutepferden in der Ferne verschwanden, gleich Luftgestalten, welche der Berggeist Rübezahl aus seinem Reiche gesendet hat, die Fremden zu necken.

Seitdem wurde wie mit Geisterhilfe dem Feinde ein Tort nach dem andern getan, auch da, wo niemand an die Möglichkeit dachte. Die Franzosen wollten in der Münze der Hauptstadt Geld schlagen mit den vorhandenen Prägstöcken, welche jetzt in ihrer Gewalt waren; als sie den verschlossenen Raum öffneten, fanden sie alles leer, die Prägstöcke waren durch unsichtbare Hände in die Berge geschafft. Dem Feinde fehlten Hohlgeschosse zur Belagerung der [] Festungen, die Gußformen dazu verwahrte er in Eisenwerken Oberschlesiens; als die Arbeit beginnen sollte, wurden die Hütten bei Nacht von Bewaffneten umstellt, die Formen herausgeholt und zerstört. Und wieder weit abseits, an der polnischen Grenze, hatte ein wackerer Edelmann auf seinem Gute die Monturen aus den nächsten Garnisonen gesammelt und vermauert, die Feinde aber hatten davon erfahren, ihm den Hof verwüstet und besetzt. Da zogen in nächtlichem Ritt die Geister aus den Bergen über die Oder, quer durch das ganze Land, räumten heimlich aus und schafften alles fort.

Zuweilen kam dem Doktor vor, als ob auch um ihn herum etwas Geheimnisvolles vorgehe. Unter den jüngeren Männern der Stadt war ein Assessor sein Tischgenosse in dem kleinen Zimmer des Gasthofes. Der andere war immer schweigsam gewesen und hatte sich selten aufgetan; jetzt saß er noch verschlossener als sonst, bis er einmal nach dem Essen die Hand des Arztes ergriff. »Wir nehmen heut Abschied, bewahren Sie mir ein freundliches Andenken.« Dies klang so feierlich, daß der Doktor befremdet fragte: »Sie wollen mich auf längere Zeit allein lassen?«

»Es gibt jetzt wenig zu tun«, antwortete der andere ausweichend, »und ich mache die Reise in eigenen Angelegenheiten.« Am anderen Tage sagte die Wirtin, auf den leeren Platz weisend: »Der ist auch fort. Vorige Woche ist der Sohn meiner Schwester gegangen, wer weiß, ob wir sie wiedersehen.«

»Wohin?« fragte der Doktor.

»Wir wissen es nicht«, antwortete sie. »Einer ist wie der andere am frühen Morgen zum Tore hinaus, auf die Grafschaft zu. Seine Sachen hat der Assessor mir übergeben, aber das Gewehr, welches er sich gekauft hatte, ist nicht darunter, und vor einigen Tagen hat ein Fremder, der sich einen Pferdehändler nannte, eine Kiste von ihm in das Gebirge mitgenommen.«

Da fiel dem Doktor ein, daß er vor kurzem auch den Einnehmer mit einem Fremden im Gespräch getroffen. Der Besuch war bei seinem Eintritt mit kurzem Gruß davongegangen, der Einnehmer aber hatte auf des Doktors fragenden Blick ausweichend geantwortet: »Er macht Geschäfte mit Pferden und anderem nach der Grafschaft hin.«

Doch nicht jedermann war geneigt, die Geister der Berge zu rühmen. Auf der Bank der städtischen Promenade saß der pensionierte Major von Henner, bot seinen Rücken den Strahlen der Mittagssonne und stützte die gefalteten Hände auf seinen Stock. Er gehörte zum ersten Tisch, war als wackerer Mann in der Stadt geachtet und hatte auch in dieser Zeit der Schwäche seinen harten Mut nicht verloren. Heut sah er trübsinnig zu dem Arzte auf, als dieser nach seinem Ergehen fragte.

[] »Ich habe als junger Soldat manche Woche erlebt, wo die ganze Welt den König und seine Armee verloren gab, und unsere Soldaten machten doch alle Hoffnungen der Feinde zuschanden. Jetzt aber, Herr, traure ich, daß ich solchen Frevel erleben muß.« Und den Trost des Doktors abweisend, fuhr er fort. »Mit den Franzosen wären wir zuletzt fertig geworden, aber wir selbst geben uns den Rest. Was in der Grafschaft vorgeht, muß einem alten Preußen das Herz brechen. Der Mann, welcher dort im Namen des Königs regiert, befiehlt nicht wie ein preußischer Offizier, sondern wie der Räuber Karl Moor, der keinen Gott und keinen Herrn über sich erkennt. Die gute Zucht unseres Heeres hat er wie einen lahmen Hund totgeschlagen, der Unterschied zwischen Edelmann und Schneider ist aufgehoben, Gassenlaufen und Stock sind verpönt, jedermann muß als Gemeiner eintreten, jedermann kann Offizier werden, auch mein Bedienter, und die Gemeinen sollen vor allem durch das sogenannte Ehrgefühl gedrillt werden. Nicht preußische Soldaten erzieht er, sondern einen Haufen von Räubern, die in ihrer Höhle die Helden spielen und beim ersten scharfen Gefecht auseinander laufen. Daß mit dieser Flunkerei jetzt Tritt, Tempo und Subordination zum Teufel gehen, das ist das Anzeichen von unserem Ende.« So klagte finster der Alte.

An demselben Mittag stand der Einnehmer vor seinem geöffneten Bücherschrank und musterte wählerisch die Bände. »Ich suche, was das Gemüt mit heiterer Ruhe erfüllt«, brummte er.

Die Haushälterin trat in die Tür. »Fräulein von Buskow wünscht den Herrn Einnehmer zu sprechen.«

Der Einnehmer schloß unwillig den Schrank: »Die Schwester des Meuchlers! Aha, seid ihr klein geworden? Ich denke, sie will um Verzeihung bitten. Lassen Sie ein!«

Das Fräulein trat schnell in das Zimmer, eine kleine, behende Dame in schwarzer Enveloppe und schwarzer Kapuze. Der Einnehmer verneigte sich höflich gegen ihren artigen Gruß, sah aber wieder sehr majestätisch aus, als er sie einlud, auf dem Sofa niederzusitzen.

»Ich komme, Sie um allerlei zu bitten«, begann das Fräulein leise, »was Sie vielleicht von Ihrer Garderobe entbehren könnten, vor allem, wenn Sie dicke, alte Stiefel haben und vielleicht etwas Warmes unterzuziehen; am liebsten auch um Geld.«

»Von allem ist wenig vorhanden«, sagte der Einnehmer, verwundert auf die niedlichen Füße sehend, welche kaum bis zum Boden reichten, »da Sie aber die Stiefel doch nicht für sich brauchen, so sagen Sie mir auch, wem Sie damit den Weg durch dieses Jammertal besohlen wollen.«

»Armen Soldaten«, antwortete das Fräulein, »welche sehr abgerissen sind.«

»So ist es mehr als einer?«

[] »Ach, lieber Herr Einnehmer«, entschuldigte die Kleine schüchtern, »es ist eine ganze Kompanie, über achtzig Mann.« »Wo?« fragte der Einnehmer erstaunt. »Hier draußen beim Schießhause. Sie sitzen in der Scheune meines Hauswirtes, dort habe ich sie verlassen.«

»Sie?« fragte der Einnehmer. »Achtzig arme Marodeure können Ihnen und der Stadt große Unannehmlichkeit bereiten.«

Die Wangen des Mädchens röteten sich: »Es sind keine Marodeure, die meisten sind Grenadiere von der Kompanie, welche einst mein seliger Vater gehabt hat; sie waren bei unseren Truppen in der Grafschaft und wurden nach Böhmen gedrängt. Dort haben sie sich ranzioniert und sind über die Berge wieder in das Land gekommen. Sie wollen unsern König aufsuchen. Vorige Nacht lagen sie im Stadtwald; heut in der Frühe kam ein alter Sergeant, der meinen Bruder und mich von früher kennt, in einem Bauernmantel zu mir und fragte um Auskunft wegen des Marsches zu Seiner Majestät und ob ich der Mannschaft mit etwas helfen könnte, denn es geht ihr sehr schlecht; die wenigsten haben noch Schuhwerk und nichts Warmes in den kalten Nächten, und sie fürchten, den Franzosen in den Weg zu laufen. Ich bat meinen Hauswirt, den Fleischer, um Hilfe, und er bewies sein gutes Herz, denn er ging mit mir hinaus, öffnete seine Scheune und schenkte ihnen auch einen Hammel, etwas Speck und Brot. Aber das ist immer wenig für so viele. Herr Einnehmer, es ist ein Jammer, die armen Leute anzusehen.« Sie fuhr schnell an die Tasche, wischte mit dem Tuch ein paar Tränen ab und zog sogleich wieder entschlossen ihre Hülle zurecht.

Der Einnehmer sah ihr immer noch verwundert zu. »Also das ist der Charakter«, sagte er endlich. »Bevor ich Ihnen antworte, noch eine Frage: Warum wenden Sie sich gerade an mich?«

»Es ist mir von einem durchreisenden Bekannten geraten worden«, versetzte das Fräulein zögernd.

»Hieß er vielleicht Weiß?« fragte der Einnehmer.

Das Fräulein trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und hob den Zeigefinger. »Ich denke, Schwarz«, sagte sie.

Der Einnehmer stand auf. »Da haben wir die Bescherung. Dieser schwarze Peter spielt in seinem Leichtsinn einen königlichen Offizianten einem jungen Fräulein in die Hände, welches mehr Elfe oder Sylphe als Steuerzahlerin ist. Bleiben Sie ruhig sitzen, liebes Fräulein. Ich überlege nur, was wir zu tun haben. Unterdes und vor allem werden Sie einen Imbiß zu sich nehmen, das haben Sie heut gewiß noch nicht getan.« Er holte die Flasche aus dem Wandschrank und gebot der Haushälterin, schnell etwas aufzutragen. Während das Fräulein sich gehorsam an den Tisch setzte und einige Bissen aß, schritt er auf und ab und sah sie von der Seite an.

Der Einnehmer galt für streng in Beurteilung weiblicher Schönheit, [] es gefiel ihm nämlich selten eine, und zwar wegen einer Geschichte aus seinen jungen Jahren, die längst dunkel geworden ist, mit einer höheren Ratstochter, welche aus Eitelkeit treulos an ihm gehandelt hatte. Wie er aber heut die Sylphe so plötzlich an seinem Tisch essen sah, ruhig und ohne Ziererei, als ob das eine gleichgültige Sache sei, wurde sein Urteil milder. Er sah ein regelmäßiges Gesicht von klugem Ausdruck, hübsche, muntere Augen, dunkle Löckchen, welche aus dem Capuchon herausquollen, und eine zierliche Gestalt.

Endlich hatte er seinen Entschluß gefaßt: »Die Leute müssen morgen in der Frühe fort. Nicht nach Ostpreußen, wohin sie gar nicht mehr dringen können, sondern nach der Grafschaft. Wer marode ist, wird gefahren; meine Stiefel und Röcke tun's nicht, es muß einiges geschafft werden. Sie und ich dürfen hier nicht allein als Verschwörer auftreten. Der Stadtdirektor muß Mitschuldiger sein.«

»Aber er meldet aus Furcht alles an die Franzosen.«

»Wenn wir beide allein das Geschäft machen, so erfährt er doch davon, und wir werden von ihm ohne Zweifel in der Hauptstadt angezeigt, aus reiner elender Angst vor Verantwortung, die ihn treffen könnte. Ich gehe sogleich zu ihm.« Das Fräulein faßte ängstlich seinen Arm und klagte: »Mir ist, als verriete ich meine Freunde.« Der Einnehmer aber sagte, an ihr Glas mit dem seinen rührend, achtungsvoll: »Vertrauen Sie mir und erwarten Sie meine Rückkehr. Ich wollte, ich könnte die Flasche mit Ihnen austrinken.« Er gab seiner Bedienung einige Befehle und eilte zum Stadtdirektor.

Als er zurückkam, fand er seinen Gast beschäftigt, die Sachen in ein Bündel zu schnüren, welche er aus seiner Garderobe preisgegeben hatte. »Um den feinen Rock ist's schade«, sagte das Fräulein, »er ist auch nicht warm, den kann der Herr Einnehmer noch tragen; dagegen ist eine alte Friesdecke vorhanden« – »die Motten waren darin«, unterbrach die Haushälterin –, »wenn Sie diese schenken wollten, würden die Leute dankbar sein.« Bereitwillig gewährte der Einnehmer, der Bund wurde gepackt. »Und jetzt erlauben Sie, daß ich Sie begleite«, sagte der Einnehmer, »es ist auf dem Wege noch einiges abzumachen. Überlassen Sie das Bündel meiner Bedienung.«

»Ich muß es heut noch hinaustragen«, bat das Fräulein.

»Sie wollen doch nicht bis zum Stadtwald gehen mit dieser Last auf den Schultern?«

»Ja, Herr Einnehmer«, antwortete das Mädchen entschieden, »die armen Leute draußen frieren; es hilft doch einigen, die kalte Nacht leichter zu überstehen.«

»Ihr Fleischer soll anspannen; ich habe ohnedies noch mit ihm zu reden.«

Während die Dienstmagd das Bündel voraustrug, gingen beide auf den Markt. »Der Stadtdirektor ist ein noch größerer Hase, als ich gedacht«, erzählte Herr Köhler seiner Begleiterin wie einer alten [] Bekannten. »Ich sagte ihm also, der Sergeant sei zu Ihnen gekommen, Sie hätten mich gefragt, wie Sie sich verhalten sollten, die Ranzionierten wären in der Scheune einquartiert. Da hatte er Lust, die Bürgschaft gegen sie aufzubieten. Ich überzeugte ihn aber, daß ein Kampf mit den desperaten Menschen sehr bedenklich sei.«

»Sie haben ja keine Waffen, Herr Einnehmer«, sagte das Mädchen lachend.

»Vielleicht haben sie die Armatur versteckt«, antwortete der Einnehmer, »holen sie plötzlich hervor und rennen brüllend durch die Straßen. Auch bedeutete ich ihm, daß dieselben Unholde zu ihm kommen würden, um im Namen des Königs achtzig Paar Stiefel und warme Decken zu requirieren, außerdem natürlich Lebensmittel und Getränk und einen bis zwei Wagen. Und als er über diese Zumutung in die größte Aufregung geraten war, gab ich ihm zu bedenken, daß man seine Weigerung falsch deuten werde, wenn unsere Soldaten wieder ins Land kämen. Da verlor er vollends den Kopf und klagte fast mit Tränen über die fürchterliche Zeit und seine schwierige Stellung. Zuletzt kapitulierte ich mit ihm und erbot mich aus alter Hochachtung, die Sache so einzurichten, daß er außer Verantwortung bleibe. Es fand sich, daß im städtischen Stall einige eingebrachte Soldatenpferde stehen, welche von den Franzosen noch nicht abgeholt sind. Diese werden morgen mit einem Wagen nach dem Stadtwald fahren, dort wird Ihr Sergeant sie gewaltsam requirieren; wo er mit ihnen hinfährt, ist seine Sache. Unterdes schaffen wir allerlei hinaus, was die Leute brauchen.«

»Wer aber soll das bezahlen?« fragte das Fräulein ängstlich.

»Hm, ich denke der Direktor. Seien Sie ruhig, es wird alles unserm guten König berechnet werden.« Das Fräulein drückte in freudiger Aufregung den Arm ihres Begleiters. »Es freut mich, daß ich zu Ihnen ging; ich hatte vorher Angst.«

Die Angst war nun wieder dem Einnehmer angenehm, und er fuhr behaglich fort: »Offen und gesetzlich verfahren, ist immer vorteilhaft. Sie äußerten eine Vorliebe für wollene Decken, der Kaufmann hier führt dergleichen, ich will sogleich anfragen, wenn Sie ein wenig warten wollen.« Und als er herauskam, fuhr er fort: »Gefunden; jetzt aber müssen wir uns trennen; ich will meinen Schuster zu Rate ziehen, er ist ein nachdenklicher Kopf.« Das Fräulein schwebte davon. Schuster Schilling saß mit Frau, Kind und Lehrjungen vor dem Kaffeetopf und sah verwundert auf den Besuch: »Lassen Sie sich nicht stören, Meister, ich habe Zeit.« Zum Glück war der Meister fertig und führte in die gute Stube gegenüber.

»Sie haben alles richtig prophezeit, wie es geworden ist«, sagte der Einnehmer. »Es ist eine schwere Zeit gekommen.«

»Ja«, sagte der Schuster, »die Konjunktion in der Politik war so, [] daß dies alles kommen mußte, und, Herr Einnehmer, glauben Sie mir, es kommt noch mehr.«

»Das sag' ich auch«, bestätigte dieser. Und sich dem Ohre des Schusters nähernd, sprach er leise: »Achtzig Paar Bauernstiefel müssen binnen zwei Stunden in aller Stille ankommen.«

»Das ist unmöglich«, antwortete der Schuster; »es arbeitet jetzt niemand auf Vorrat, denn er könnte ihm genommen werden.«

»Diesmal wird bezahlt, und ich bin Ihnen gut dafür.«

»Für wen soll's denn?«

»Nicht für die Franzosen«, sagte der Einnehmer. »Ich fordere gute Stiefel in einer Marktkiste, je mehr, um so besser.«

»Also je mehr, um so besser«, wiederholte der Meister. »Das ist mir ganz recht, Herr Einnehmer. Eine Stunde, nachdem zwischen den Potentaten der Friede geschlossen ist, sollen Sie dreißig Paar haben, Kernstiefel, meine eigene Arbeit.«

»Also haben Sie die Stiefel fertig?«

»Ich habe sie«, bestätigte der Schuster geheimnisvoll, »aber ich kann nicht dazu. Ein Familienvater, der für Weib und Kind zu sorgen hat, muß in dieser Zeit seine Stiefel einmauern.«

»Und leise in Socken auftreten«, sagte der Einnehmer, »das tun jetzt viele. Die dreißig Paar aber schlagen Sie sogleich heraus und mauern für Ihre Kinder neue ein. Es kommt jetzt eine andere Konjunktion, Meister, das Glücksrädlein könnte sich drehen.«

»Gott geb's«, sagte der Schuster.

Auf einer Waldblöße in der Nähe der Scheune fand der Einnehmer die Soldaten um lodernde Feuer versammelt, der Waldbelaufer trug ihnen hilfreich Holz herzu. Es waren in der Mehrzahl jüngere Männer, dazu einige alte Unteroffiziere; ein Sergeant mit grauem Schnurrbart befahl. Wohl hatte das Fräulein recht, sie zu bedauern, so hager und bleich die Gesichter, mit struppigem Bart und tiefliegenden Augen, die Monturen zerrissen und durch Sonnenbrand und Winterschnee entfärbt. Aus dem klaffenden Schuhwerk ragten die erfrorenen Zehen, viele hatten Lappen darüber gebunden oder abgezogene Felle. Aber die Leute saßen und regten sich mit fester Haltung, stramm und selbstbewußt, und man erkannte hinter dem Elend eine Zucht und harte Kraft, die nicht gebrochen war. Mitten unter der Kompanie wirtschaftete das Fräulein; es zerriß alte Leinwand zu Verbandszeug für einen Fußkranken, wachte über einigen großen Töpfen, in denen die Suppe kochte, und antwortete nach allen Seiten auf Fragen und Bitten, befahl den Leuten und schickte sie hin und her. Sie nickte von dem Holzscheit, auf dem sie saß, dem Einnehmer freundlich zu. »Zwei von der Mannschaft haben Frau und Kind in ihrer Garnison zurückgelassen und möchten diesen zu wissen tun, daß sie noch leben. Könnten Sie vielleicht helfen?« Der Einnehmer zog seine Brieftasche und nahm die Leute [] beiseite, und er hörte, wie die Kleine unterdes einem andern zurief: »Alle Wetter, Kerl, untersteh dich nicht, mit deinen schmutzigen Fingern in den Topf zu fahren; willst du hinsetzen, du Tolpatsch! – Hier ist einer, Herr Einnehmer, der die Hand beschädigt hat und sich nicht selbst helfen kann; für diesen wird Ihre Decke zu einem Kapottrock zusammengeheftet. Man kann das auf mancherlei Art machen, am schnellsten geht's so, wenn man in der Mitte ein Loch schneidet.« Die kleinen Hände flogen bei der Arbeit, und wenn sie die Kälte spürte, blies sie darauf und heftete weiter, sah dazwischen wieder nach den Töpfen und redete tröstend mit einem und dem andern über seine Not.

Sie ist nur mit Puk oder Ariel zu vergleichen, dachte der Einnehmer, das putzige Ding weiß die ganze Kompanie zu kommandieren wie ein Hauptmann, es muß im Blute liegen. »Jetzt aber, Sergeant«, begann er, »sollen Sie in Empfang nehmen, was wir bringen: Decken, Stiefel, Lebensmittel, soviel sich in der Eile beschaffen ließ. Sie müssen unterschreiben, was sie empfangen haben, ich brauche meinen Beleg. Morgen früh, vor Sonnenaufgang, wird ein großer Korbwagen mit Strohschütten und zwei Pferden wie von ungefähr herauskommen. Ich rate Ihnen, Wagen und Pferde in Beschlag zu nehmen, verstehen Sie? Lassen Sie Ihre Kranken aufsitzen. Dieser mein Kutscher wird mitkommen, er ist eines Bürgers Sohn und zuverlässig und wird Sie gern durch den Stadtwald auf Seitenwegen der Grafschaft zufahren. Denn dort ist jetzt unser Generalgouverneur, und dorthin will Sie der König haben. Sie haben die Waffen in Böhmen abgeliefert, sind also wehrlos?« fragte er teilnehmend.

»Wir haben sie in den Bergen versteckt«, antwortete der Sergeant; »sind wir erst glücklich in der Grafschaft, so holen wir sie wieder.«

»Die französischen Vorposten stehen auf Ihrem Wege, Sie müssen ausweichen.« Und er gab leise die Richtung an, nannte ihm das Dorf, wo er einen getreuen Führer finden werde, und den Namen des Mannes.

Auch das Fräulein wunderte sich jetzt, daß der Herr, den sie bis dahin aus der Ferne nur als einen Lebemann gekannt hatte, in Verschwörungsgeschäften so guten Rat wußte.

»Und jetzt, Fräulein«, schloß Herr Köhler, »bitte ich, daß Sie auch an sich selbst denken. Die Sonne sinkt, und Sie haben sich gegen die kalte Nachtluft nicht vorgesehen. Erlauben Sie, daß ich Sie mit mir zurücknehme.« Das Fräulein erhob sich ohne Weigern und überreichte einem der Leute den fertigen Überwurf. »Sie müssen noch sehen, wie gut Ihr Geschenk einem preußischen Grenadier steht«, sagte sie froh. »Fahrt hinein, Mann, damit der Herr Euch betrachtet.« Der Soldat streifte die warme Hülle über. »Wie ein Herold aus dem Volk der Samojeden«, sagte der Einnehmer.

[] Die Mannschaft hatte unterdes emsig Kisten und Fässer abgeladen, und die Unteroffiziere hatten von dem Inhalt verteilt, jetzt umstand die Kompanie mit neuem Lebensmut die Scheidenden.

»Des Himmels Segen über Sie, liebes Fräulein, und über Sie, guter Herr!« rief der Sergeant.

»Hier, nehmt die Schere, Nadel und Zwirn«, sagte das Fräulein mit nassen Augen. »Die Laterne behalten Sie«, riet der Einnehmer noch aus dem Wagen, »und geben Sie ja acht, daß der Stadt kein Schaden geschieht. Lebt wohl, ihr braven Männer, und wenn Ihnen alles gelungen ist, Sergeant, so lassen Sie mich's durch den Mann wissen, den ich Ihnen genannt habe.«

Als der Einnehmer mit seiner Begleiterin zurückfuhr, begann er ernster, als sonst seine Art war: »Alle tragen wir Schweres, aber keiner von uns allen leidet und wagt so viel, und sie gehen freiwillig wieder hinein. Und keiner klagte, wie diese armen Leute. Sie kommen aus unablässigem Elend, und alle waren dankbar. Wir lassen uns gern durch erdachte Geschichten rühren, welche in Büchern erzählt sind, aber diese freiwillige Hingabe und die wortlose Treue sind größer als alle Erfindung, und sie sind jetzt nichts Unerhörtes« – und er zog plötzlich sein Taschentuch heraus und kämpfte mit einer Bewegung, die ihm stark zusetzte. Da auch das Fräulein schwieg, fuhr er nach einiger Zeit in seinem Selbstgespräch fort: »Doch einen gibt es, der auch in Büchern versteht, das Edelste menschlicher Gefühle lebendig zu machen. Ich denke, Jean Paul ist auch Ihr Liebling.«

»Ich habe nichts von ihm gelesen«, sagte das Fräulein.

»Dann müssen Sie mir erlauben, daß ich Ihnen morgen etwas von ihm zuschicke.«

Das nahm das Fräulein dankbar an.

Als am nächsten Abend der Sohn des Fleischers zurückkam und berichtete, daß er Wagen und Mannschaft glücklich einige Meilen in das Land gebracht hatte, schlug Herr Köhler vergnügt sein Buch in eine alte Zeitung und übersandte es mit höflichem Gruße dem Fräulein.

Der Einnehmer erzählte dem Freunde von seinem Abenteuer und war gekränkt, daß dieser finster und, wie ihm vorkam, mit geringer Teilnahme zuhörte und zuletzt nichts weiter sagte als: »Es geht jetzt mancher nach jener Landecke, dem die Fremden das Herz empört haben.« Doch wenige Tage darauf sollte der Doktor selbst Gelegenheit erhalten, von einer ähnlichen Begegnung zu berichten.

Auf einer Fahrt über Land hielt sein Wagen am Gasthofe eines nahen Marktfleckens; er wickelte sich aus dem Bärenpelz und trat in die gefüllte Wirtsstube. Als wohlbekannter Mann empfing er höfliche Grüße, die Wirtin wischte mit der Schürze einen Schemel ab; bald war er der Mittelpunkt eines Kreises von Zuhörern und mußte von [] den Neuigkeiten erzählen, die aus dem fernen Osten durch Reisende nach der Kreisstadt gebracht wurden.

»Unser König soll zu uns kommen«, rief ein stämmiger Ackerbürger mit einer entschlossenen Miene, »wir Schlesier werden ihn nicht im Stiche lassen, wie mancher vornehme Verräter getan hat.« »Guter Wille tut's nicht«, sagte der Doktor, dem Manne zunickend. »Wollen Sie für ihn fechten, Herr Krause?« »Warum nicht«, antwortete dieser, »wir haben es satt, anzusehen, daß die Feinde unsere Pferde aus dem Stalle führen und den Hafer vom Schüttboden, und daß die Dickköpfe aus dem Reiche mit ihrer groben Rede durch das Land ziehen und den Bürger mißhandeln; von uns kommen mehr als zehn oder zwanzig auf einen von den Fremden; wenn zehn von uns nur immer einen totschlagen, so sind wir sie los. Warum geschieht das nicht? Warum sind die Vornehmen so bereit, dem Feinde zu gehorchen? Einmal über das andere wird uns befohlen, alles zu liefern, was die Schufte verlangen. Wenn wir Führung hätten, so stünde die Sache anders.« Ein beifälliges Gemurmel begleitete die entschlossenen Worte. »Geben Sie mir Ihre Hand«, sagte der Doktor und schüttelte dem Mann die Rechte, »möchte die Zeit kommen, wo dem König solche Gesinnung zu helfen vermag.«

»Habe ich recht gehört, so war hier von unserem König die Rede«, klang eine feste Stimme aus dem Hintergrunde, und ein Fremder trat heran. Es war ein großer junger Mann in einfachem Reiserock: »Ich komme in meinen Geschäften aus Preußen und bin auf dem Wege der Königin und den Kindern des Königs begegnet; sie fuhren auf offenem Schlitten im Schneesturm über die Heide, um den französischen Reitern zu entgehen. Es war bitter kalt, der Wind heulte, und die Kälte drang mir bis in das Mark. Als ich meinen Schlitten anhielt und mich erhob, grüßte die Königin, aber es war ein trauriger Blick, und die kleinen Prinzen nahmen still ihre Mützen ab, während der Schnee ihnen um die freundlichen Gesichter flog.«

Die Wirtin rang die Hände. »Unser armer König in dem kalten Lande, und seine Frau und die Kinderchen bei dem Wetter auf offenem Schlitten.«

Niemand sprach, die Leute sahen scheu vor sich nieder.

»Was der König jetzt in der Stille erträgt und leidet«, fuhr der Fremde fort, »das vermag wohl keiner von uns zu ermessen; ich denke, wenn er wüßte, wie treu seine Schlesier ihm zugetan sind, würde er in seinem Unglück eine Freude haben.« Er wandte sich zu dem Doktor: »Ich vernahm, daß Sie nach der Kreisstadt fahren, durch einen Schaden am Fuhrwerk werde ich hier aufgehalten. Darf ich die Bitte wagen, daß Sie einen Geschäftsreisenden mitnehmen? Freilich würde Ihnen auch ein Mantelsack lästig werden.« Der Doktor gab das bereitwillig zu, denn die Art des Reisenden gefiel ihm, und die beiden traten aus der Wirtsstube, alle Anwesenden folgten [] ihnen bis zum Wagen. »Kutscher, lege den Mantelsack des Herrn unter die Decke, meinen Arzneikasten stelle obenauf.« Der Fremde sah den Doktor dankbar an; die Leute umstanden den Wagen und nahmen schweigend die Mützen ab, als die Pferde anzogen.

»Ich bin erst seit kurzem in dieser Gegend«, begann der Doktor, »aber in solcher Zeit gewinnt man unser Volk lieb.«

»Wer war jener Mann, der so tapfer sprach?« fragte der Reisende.

»Ein wohlhabender Ackerbürger, der erst vor kurzem geheiratet hat, aber mit der Waffe umzugehen weiß, denn er ist Schützenhauptmann; ich glaube, daß er nicht mehr gesagt hat, als er tun würde.«

»Wie will er wohl die zehn Mann zusammenbringen«, fragte der Fremde wieder, »welche den Feind, der auf ihren Teil kommt, unschädlich machen sollen?«

»Wahrscheinlich meinte er, daß sich alle Einwohner des Kreises, welche eine Waffe führen können, zu einer Landwehr vereinigen müßten.«

»Gut!« rief der andere, »einfaches Exerzitium und einige militärische Disziplin können in sechs bis acht Wochen eine Kreiswehr herstellen, welche zu vielem brauchbar wäre, vorausgesetzt, daß Waffen und Uniformen zu schaffen sind und daß der Feind nicht die Ausbildung hindert, indem er die Rädelsführer erschießt. Können Sie mir mitteilen, wo in diesem Teil der Provinz Truppen der Franzosen stehen?«

Der Doktor erzählte, was er wußte.

»Mir wurde gesagt, daß in Ihrer Kreisstadt und der Umgegend kein Militär zu finden sei.«

»Das ist wahr, aber wir sind keinen Tag vor Streifpartien und Durchzügen des Feindes sicher. Holla!« rief er einem Bauern zu, der ihnen eilig entgegenkam, »es sind doch keine Soldaten auf dem Wege?« Der Bauer wies nach rückwärts: »Sie halten im Dorfe vor der Schenke«, und mit einem Fluch setzte er hinzu: »Es sind bayrische Reiter!«

Der Doktor sah seinen Begleiter an: »Wir wollen umkehren, wenn Sie es wünschen.« Der Fremde blickte scharf in die Ferne. »Zu spät«, sagte er halb für sich. »Sie sehen uns, wie wir sie. Es tut mir leid, daß ich Sie in Ungelegenheit bringe; ich habe allerdings den Wunsch, von den Herren dort nicht festgehalten zu werden.«

»Sie traten unsicher auf, als Sie in den Wagen stiegen. Ich vermute, Sie haben einen Schaden am Fuße.«

»Nehmen wir an, eine Verstauchung«, antwortete der Fremde.

»Dann sind Sie mein Patient, und ich bringe Sie zur Kur in meine Wohnung. Ich für meinen Teil habe einen Reisepaß.«

»Ich auch«, sagte der Fremde, »Kaufmann Heller aus Löwenberg.«

»Fahre zu, Kutscher!« gebot der Doktor.

[] Bayrische Reiter hielten den Schlitten an. Ein höherer Offizier ritt heran, die Reisenden grüßten. »Herr Doktor König!« sagte der Major, während der Doktor seinen Paß herauszog, »ich habe Sie bereits in Ihrer Stadt gesehen. Wer ist Ihr Begleiter?«

»Mein Patient, den ich zur Kur in die Stadt bringe.« Der Bayer öffnete einen Augenblick das Papier, welches der Fremde ihm hinreichte, beide sahen einander fest in die Augen; dem Doktor pochte das Herz.

Ein alter Wachtmeister, welcher das Wagenleder aufgeknöpft hatte, meldete respektvoll: »Der Mann dort hat einen preußischen Offiziersäbel zwischen den Beinen.«

»Sie sind jetzt billig zu kaufen«, sagte der Fremde.

So schmerzlich war der Klang dieser Worte, daß der bayrische Offizier schweigend das Papier zurückgab und der Mannschaft zurief: »Passiert!«

Der Kutscher fuhr im Schritt an den Reitern vorüber, und dem Doktor dünkten die Minuten eine Ewigkeit, sein Gefährte hatte sich zurückgelehnt und schwieg lange; endlich begann er: »Es ist Zeit, daß ich mich und meinen Säbel vorstelle: Rittmeister Helwig von den Husaren.«

Der Doktor wandte sich erstaunt zu ihm. Unter vielen Geschichten von Schwäche und Hilflosigkeit, welche seit dem letzten Herbst von Mund zu Mund getragen wurden, war eine andere gewesen, welche so ermutigend klang, daß die Hörer sie gar nicht glauben wollten. Ein junger Husarenleutnant sollte mit einer halben Schwadron ein Bataillon der Feinde zersprengt und einen großen Transport Kriegsgefangener, man sprach von zehntausend Mann, befreit haben. Der junge Husar war deshalb außer der Reihe zum Rittmeister befördert worden.

Dieser Tapfere war der Reisegefährte. Der Doktor sprach mit warmen Worten seine Freude über den Zufall aus, und beide fuhren als gute Genossen in eifriger Unterhaltung der Stadt zu.

»Wir haben unerhörtes Unglück gehabt«, sagte endlich der Rittmeister, »wir haben es ja wohl in vielem verschuldet; aber wenn uns auch die französische Führung im großen überlegen war, glauben Sie mir, unsere Soldaten sind da, wo die Tüchtigkeit des einzelnen den Ausschlag gibt, fester und kriegstüchtiger als die Feinde; und sie wissen das auch. Nehmen sie den Franzosen einen Mann, und wir treiben sie wieder über den Rhein zurück. Ich hoffe, den Tag zu erleben, wo wir auch mit dem Feldherrn die letzte Abrechnung halten. In der Grafschaft befiehlt jetzt als Gouverneur Graf Götzen, einer der Besten, die wir in Preußen haben. Ich muß ohne Aufenthalt zu ihm. Können Sie mir dabei helfen? Denn wie ich sehe, wird der Weg unsicher.«

»Ich bin bereit, in der Stadt sogleich einen andern Wagen zu [] nehmen, was bei meinem Berufe niemandem auffällt, und ich begleite Sie nach jeder Richtung, die Sie wünschen, im Fall Sie meine Gesellschaft für vorteilhaft halten.«

»Gewiß«, antwortete der Rittmeister, »wenn Sie mir erlauben, als Ihr Gehilfe mitzufahren; einige Meilen von hier finde ich auf dem Gute eines Bekannten ein Pferd, von da helfe ich mir weiter.«

Als der Doktor seinen Begleiter glücklich durch die feindlichen Kommandos gebracht hatte und am späten Abend nach Hause kam, fand er eine Gestalt auf der Treppe sitzen. Die Erscheinung machte Platz, stieg aber hinter ihm die Stufen herauf. Es war ein Mann in einem Bauernmantel, der mit abgezogenem Hut in das Zimmer trat. Der Doktor erkannte den flüchtigen Knecht, der ihm die Nachricht von der verlorenen Schlacht zugetragen hatte. Hans drehte den Hut in den Händen. »Ich wollte Sie nur fragen, weshalb Sie mir damals das Geld auf den Weg geworfen haben.«

»Weil ich dir das Geld geschenkt hatte, und weil ich annahm, daß du nicht auf redlichem Wege erworben hattest, was du mir zurückgeben wolltest; vor allem aber, weil mir mißfiel, daß du dich über das Unglück unserer Soldaten freutest.« Der Mann sah vor sich nieder. »Herr Doktor, ich will auch unter die Soldaten gehen, wenn Sie meinen.«

»Du? Wie kommst du zu dem Entschluß?«

Hans holte tief Atem. »Mir ging die Geschichte im Kopfe herum. Ich bin kein schlechter Kerl, und Sie sollen mich nicht dafür halten. Aber ich lasse mir nichts Unrechtes gefallen, und ich war damals im Zorn über die großen Herren. Jetzt sehe ich, wie die fremden Spitzbuben mit unsern Bauern umgehen. Hafer, Stroh und Heu sind weg, Pferde und Kühe, Gänse und Hühner sind weg, und wie haben sie die armen Leute mißhandelt! Da fiel mir ein, daß sie kein Recht dazu haben. Letzten Sonntag hatte ich mich auf das Gut des Kammerherrn geschlichen und sah von weitem, wie mein Mädchen zur Kirche ging. Ich wagte mich auch hinein, bevor die Türe zugemacht wurde, und stand ganz hinten. Da hörte ich, wie der Prediger zuletzt seine Bitten sprach für das gequälte und geängstigte Land. ›Wer helfen kann, der helfe‹, sagte er; ›die beste Hilfe aber ist beim Herrn.‹ « Hans faltete bei dem Bericht die Hände. »Sogleich fiel mir ein, daß ich auch helfen kann, ebensowohl mit dem Säbel als mit der Trompete, und ich möchte Trompeter werden bei den Husaren. Am Abend sah ich aus meinem Versteck, wie ein verdammter Franzose, der auf dem Schlosse liegt, mit meinem Mädchen schöntun wollte, und das schlug dem Fasse den Boden aus. Die Hunde müssen fort, so oder so«, rief er. »Das meinte auch das Mädchen, als ich abends mit ihr zusammentraf. Sie klagte über die Dreistigkeit und verlangte, daß ich Sie befragen sollte.«

Der Doktor fühlte den Zorn des Mannes mit und verstand die [] Mahnung, welche auch an ihn selbst gerichtet wurde. »Du hast jetzt noch weniger gutes Leben unter den Soldaten zu erwarten als zu anderer Zeit: schweren Dienst, schlechte Kost und tägliche Gefahr.«

»Das tut mir nichts«, antwortete Hans, »ich war unter den Paschern, Herr; dort heißt's auch, heut trinken und morgen sinken, und ich wollte fragen, ob Sie mir zu den Husaren helfen können.«

»Kannst du dich einige Tage in der Nähe aufhalten, ohne von der Obrigkeit gefaßt zu werden, so gehe ich selbst mit dir in das Gebirge.«

»Ich wünsche mir nichts Besseres«, rief Hans erfreut, »wenn Sie mir sagen, wohin, so führe ich Sie über die Berge auf Wegen, die kein Franzose betritt.«

Am Morgen suchte der Doktor seinen Freund auf, welcher mit stillem Anteil einen Schmerz beobachtet hatte, dessen Grund ihm der andere verbarg. »Ich verlasse die Stadt auf mehrere Wochen und gehe nach der Grafschaft; dort fehlen in den Lazaretten die Ärzte, und die Not ist groß. Während meiner Abwesenheit soll mein Vetter, der als junger Arzt in der Hauptstadt lebt und nach Wissen und Charakter durchaus Vertrauen verdient, mich hier vertreten. Er wird noch heut eintreffen. Fragen Sie nicht, mein Freund, was mich bestimmt, jetzt von hier zu gehen; vielleicht kommt der Tag, wo ich gegen Sie ohne Schmerzen davon reden kann.«

Der Einnehmer faßte seine Hand: »Wenn ein gewissenhafter Mann wie Sie solchen Entschluß faßt, so muß er gehen, und es nützt nichts, Worte darüber zu machen. Aber sobald Sie dürfen, kehren Sie zurück; denn es gibt Leute hier, kranke und gesunde, welche Sie jeden Tag vermissen werden.«

Darauf besprachen die beiden, was für die Reise durch feindliche Truppen nötig war.

Der Einnehmer sah den Scheidenden von der Treppe ernsthaft nach. »Du bist nicht der einzige, der mit sich herumträgt, was ihn plagt.« Er griff rückwärts nach seinem Zopf. Darauf gebot er der Haushälterin, den Friseur zu holen. Als der Alte eintrat mit der demütigen Vertraulichkeit, zu der sein Beruf berechtigte, sah ihn der Einnehmer feindselig an: »Blaschke, schneide Er mir den Zopf ab. Ich will mit seinesgleichen nichts mehr zu tun haben.«

Blaschke erschrak sehr, und sein großer Beutel fiel auf die Diele. Denn die Zahl der Zöpfe, welche er band, wurde mit jedem Jahre kleiner, und das ansehnliche Geflecht des Einnehmers erschien ihm zuweilen als das letzte Tau, welches seine Kunst in den empörten Wogen der neuen Zeit vor dem Untergang bewahren könnte. »Aber Herr Einnehmer«, bat er.

»Fort mit dem Zopf, und fort mit Ihm selbst«, gebot der grimmige Kunde zum zweitenmal. »Er ist ein Spion.«

»Hochverehrter Herr Einnehmer«, flehte der entsetzte Blaschke, [] »Sie kennen mich doch seit vielen Jahren als einen redlichen Bürger.«

»Einer von Seinem Handwerk hat eine Festung an die Franzosen verraten, und Er würde es auch tun. Er ist an mir und meinem Zopf zum Judas geworden. Gesteh Er zur Stelle, wer hat Ihn bestochen, damit er zutrage, was bei den Honoratioren und in der Bürgerschaft zu erhorchen ist. Wenn er nicht alles bekennt, so schneide ich den Zopf eigenhändig mit der Papierschere ab und werfe den Zopf und den Blaschke zum Fenster hinaus.«

Der Alte legte die Hand auf das Herz: »Niemals hat mir jemand einen solchen Antrag gestellt«, beteuerte er in ehrlicher Entrüstung.

Der Einnehmer stillte ein wenig seinen Zorn: »Es wäre auch unnötig; Er schwatzt ohnedies gegen jedermann alles aus, was Er weiß.« Er setzte sich: »Abgeschnitten aber wird doch. Fortan Tituskopf, Blaschke, die Welt ist zu schlecht.«

»Herr Einnehmer, mir ist zumute wie bei einem Begräbnis«, klagte der Friseur und hielt mit unsicherer Hand die Schere.

»Welcher von den dreizehn Zöpfen in der Stadt mag wohl einem Franzosen gehören?« fragte der Einnehmer mit plötzlicher Milde.

»Kein einziger, das kann ich als Vaterlandsfreund attestieren.«

»Der pensionierte Rat drüben ist ja wohl auch ein guter Preuße?«

»Der gehört zu den Besten; Sie glauben gar nicht, mit welcher Verachtung er von dem Feinde zu mir redet.«

»Mein alter Blaschke unterhält sich also gern über allerlei mit dem braven Manne?«

»Ja, das gestehe ich aufrichtig.«

Der Einnehmer wandte sich um und sah den Alten fest an: »Er hat neulich bei mir den reisenden Händler gesehen. Als der Herr Rat von drüben wegen dieses Kaufmanns mit ihm sprach und Ihn ausfragte, was hat er dem Herrn Rat berichtet?«

»Nichts als die volle Wahrheit«, antwortete der Friseur gekränkt: »daß ich den Fremden frühmorgens bei dem Herrn Einnehmer fand, und daß der Fremde mir hier auf dem Sofa als ein hübscher Herr erschien, der recht militärisch aussah.« Und schlau fuhr er fort: »Ich sah auch später, als er in den Wagen stieg, daß er etwas Schweres hereinhob und daß er Pistolen bei sich hatte.«

Der Einnehmer pfiff vor sich hin. »Es ist richtig. Der Zopf ist schuld, daß ich den Franzosen in der Hauptstadt angegeben bin. Fort mit den Haaren, und fort mit Ihm selbst!«

Am Nachmittag richtete sich Herr Köhler so ein, daß er zu einer Stunde, wo Minchen von Buskow auf dem Stadtwall zu gehen pflegte, ihr begegnete. »Bitte, Fräulein, bewundern Sie dort unten die goldenen Ränder der schwarzen Wolke.« Er trat mit ihr zwischen die Bäume.

[] Das Fräulein sah neugieriger auf die neue Haartracht als auf die Wolken. »Es gibt wieder Regen.«

»Wohl möglich«, bestätigte der Einnehmer und hob vor ihren Augen seinen Finger. »Sollten Sie einmal an Ihren Günstling Schwarz oder Neger schreiben, so bitte ich, ihm mitzuteilen, daß ich von jetzt ab auf einer anderen Behandlung bestehen muß. Die Besuche nicht mehr in meiner Wohnung, sondern im Amtslokal, und nicht allein, sondern mit wenigstens zwei Begleitern, ihre Uniformen unter dem Zivilmantel erkennbar. Ich muß auch fordern, daß mir eine bis zwei Pistolen auf die Brust gesetzt werden, und bitte nur dafür zu sorgen, daß keine Kugeln darin sind, damit nicht durch Zufall ein Unglück geschieht. Am Ende des Besuches jedoch, bevor die Herren auf ihren Wagen steigen, darf eine Kugel in die Wand gefeuert werden.«

»Was ist geschehen?« fragte das Fräulein erstaunt.

»Ein Besuch, den der erwähnte Herr mir abgestattet hat, ist in der Hauptstadt angezeigt worden, und ich erhielt von einem Beamten eine klägliche Warnung. Da der Kaiser sich unsere Provinz angeeignet hat und unsere hohen Behörden so pflichtgetreu sind, ihm dabei jeden Vorschub zu leisten, so sollen auch wir gezwungen werden, ihm die Steuern in seine Tasche zu liefern. Wer sich nicht fügt, wird beseitigt. Man behauptet, daß Ihr Schwarzer hier Kassengelder erhoben hat. Das Morgenrot der Freiheit geht endlich bei uns auf, liebes Fräulein, und es fehlt in dieser Stadt und Umgegend nicht an Lerchen, welche die neue Sonne ansingen. Auch wer Briefe schreibt, mag sich hüten.« Das versprach das Fräulein. Als aber der Einnehmer beim Abschiede fragte: »Nun, wie gefällt ›Quintus Fixlein‹?« Da antwortete sie ehrlich: »Herr Einnehmer, das ist mir zu hoch.«

»Wie ist das möglich?« fragte Herr Köhler enttäuscht.

»Ich bin ein einfaches Soldatenkind. Seit die liebe Mutter starb, habe ich dem Vater und dann meinem armen Bruder gekocht, gestrickt und genäht, denn das Bügeln war für mich zu schwer, und bin wenig mit Büchern umgegangen. Wenn ich einmal lese, so sind mir die Reisebeschreibungen am liebsten; dabei denke ich, daß ich mich auch in der Fremde durchschlagen könnte, wie Robinson. Dann laufe ich in meinen Gedanken mit Papagei und Sonnenschirm durch den Busch und freue mich über die vielen Lama, welche um mich herumspringen. Die Wilden würden dem kleinen Wichtel nichts tun.«

Sie war so anmutig in ihrer Einfalt, daß der Einnehmer nichts Feindseliges zu erwidern vermochte und auf dem Heimwege seiner Menschenfreundlichkeit nur den bedauernden Ausdruck gab: »Schade, jede Poesie fehlt.«

[]

Der Räuber Moor

Es war ein heller Morgen des beginnenden Frühlings, die Sonnenstrahlen streiften in der frischen Bergluft mit wohltuender Wärme die Wangen des Reisenden. An den gefrorenen Gleisen des Waldweges hing weißer Reif, aber Zweige und Blattknospen des Laubholzes ragten glatt und rund, gefüllt mit geheimem Leben, unter den Bäumen sproßte das junge Grün, und um kleine weiße Blüten flogen die ersten Schmetterlinge. Die Amsel pfiff ihr Lied, und hinten im Walde krächzten die Krähen, sonst war es still, kein Mensch auf den Feldern und Wegen zu sehen. »Halt, wer da!« rief ein Posten, hinter dem Busch hervortretend. Der Wagen, welcher den Doktor mit seinem Begleiter bis hierher geführt hatte, hielt an, und sie wurden einen mäßigen Hügel hinaufgeführt, dessen freie Höhe mit jungen Fichten umwachsen war.

Auf der Höhe empfing sie ein Offizier. Als er Namen und Begehr des Doktors erfahren hatte, sagte er: »Sie treffen den Generalgouverneur in der Nähe, ich schicke Sie sogleich zu ihm.« Aber schon kam der Rittmeister aus der Umgebung des Grafen ihm entgegen: »Seien Sie gegrüßt und dreimal willkommen, wenn Sie bei uns bleiben.« Im nächsten Augenblick stand der Doktor dem Grafen gegenüber; er sah eine hagere Gestalt von mittleren Jahren, das Antlitz bleich, die Wangen etwas eingesunken, zwei große Augen, welche hell und glänzend in die Welt blickten.

»Sie kommen ersehnt«, begrüßte ihn der Gouverneur mit freundlicher Stimme, »und werden finden, daß Sie vielen wohltätig sein können. Ein edler Mann Ihres Berufes, welcher aus der Hauptstadt zu uns durchdrang, ist schwer erkrankt, und wir müssen seinen Beistand entbehren; nichts aber fehlt unseren armen Leuten so sehr wie ärztliche Hilfe, und die Krankheit, gegen welche wir ratlos sind, wird uns schädlicher als der Feind. Der Rittmeister sagt mir, daß Sie entschlossen sind, uns auch mit den Waffen zu dienen; Sie sind uns aber am wertvollsten als Arzt, und ich bitte Sie, Ihren Beruf bei uns zu üben. Auch bei mir selbst«, fügte er lächelnd hinzu. Da der Doktor sich bereit erklärte, fuhr er fort: »Wer sicheres Leben aufgibt, um zu uns in die Berge zu kommen, der hat ein Recht darauf, daß wir ihn wie einen werten Freund empfangen. Indem ich Sie auffordere, unserem König das Gelöbnis der Treue in meine Hand abzulegen, begrüße ich Sie als Kameraden. Alle sind wir durch diesen Eid zueinandergesellt wie Bundesbrüder, und dieselbe brüderliche Gesinnung, die wir Ihnen entgegenbringen, werden Sie, wie ich hoffe, auch uns erweisen.« Seine Augen flogen über den Kreis der Offiziere, welche um ihn versammelt waren, und hafteten mit so seelenvollem Ausdruck auf dem Doktor, daß diesem vorkam, als ob er vor einem Mann von ungewöhnlicher Herzensgüte stehe.

[] Er legte das Gelöbnis in die Hand dessen ab, der jetzt auch für ihn der höchste Befehlshaber wurde, und wandte sich dann fort, um seinen Beruf zu üben, zu einem Husaren, der einen Schuß durch das Bein erhalten hatte und, an einen Baum gestützt, zur Seite lag. Der Graf warf einen zufriedenen Blick nach ihm, dann sprach er zu seinem Gefolge.

Einzelne Offiziere kamen heran, den Doktor zu begrüßen, auch seine Kunst in Anspruch zu nehmen. Unterdes sah er in der Nähe den Gouverneur, welcher Nachrichten empfing und absandte, und beobachtete die schnelle und feste Weise des Mannes und die Gewandtheit, mit welcher er jeden behandelte.

Vor dem Aufbruch trat der Gouverneur wieder zu ihm: »Als der Adjutant mir von Ihrer Absicht erzählte«, begann er vertraulich wie zu einem jüngeren Kameraden, »waren Sie mir nicht ganz fremd, denn Ihr Name stand bereits eingezeichnet in die Zahl derer, auf welche wir uns in Notfällen gern verlassen möchten.« Und da der Doktor ihn verwundert ansah, fuhr er fort: »Gute Freunde senden uns zuweilen die Namen solcher, welche nach ihrem Charakter geeignet sind, für uns Opfer zu bringen. Und Sie waren in Ihrer Stadt nicht sicher, daß nicht bei Gelegenheit einer von uns bei Ihnen angeklopft hätte als bei dem Manne, der sein Vaterland liebt. Das große Unglück hat viel Schwäche und Mutlosigkeit zutage gebracht, aber im Heer und im Volke auch viel Treue und dauerhafte Kraft. Sie ist für uns in den Bergen die beste Hilfe, die kann der böse Feind uns nicht nehmen, und um dieser Gerechten willen wird der Himmel uns nicht verderben, sondern aus unseren Prüfungen siegreich hervorgehen lassen.«

Und lächelnd setzte er hinzu: »Das sind hohe Worte bei geringer Macht, denn wer uns jetzt sieht, ohne uns zu kennen, der kann uns wohl mit Freibeutern oder Räubern vergleichen.«

»Das geschieht auch von solchen, welche nicht hier waren«, versetzte der Doktor und erzählte von den Klagen eines alten Soldaten aus König Friedrichs Zeit.

Der Graf lachte: »Es gibt viele, die deshalb über uns klagen werden. Aber der Stock, die Fuchtel und das Gassenlaufen waren auch nicht immer da, sie kamen als revolutionäre Neuerungen in die Welt, und sicher haben damals viele alte Krieger den Untergang alles kriegerischen Heldenmutes von ihnen befürchtet.«

Auf dem Wege nach der Festung, welcher der Doktor im Gefolge des Gouverneurs zufuhr, übersah er mit größerer Muße die Gesellschaft, in welcher er sich befand; der Graf hatte nicht ohne Grund an die Räuber gedacht, denn das Aussehen der Offiziere und Gemeinen war ungewöhnlich und durchaus gegen das Reglement; entschlossene Mienen und kriegerische Gestalten, mehr als eine von edler ritterlicher Haltung, aber nach den Uniformen aus allen [] Truppenteilen zusammengesetzt, jede Art von Husarendolman und Kopfbedeckung, sogar bayrische Uniformen, notdürftig zugerichtet, die meisten einander nur darin gleich, daß sie durch Regen und Sonne, durch Biwak und feindliche Waffen entfärbt und durchlöchert waren. Auch die Pferde waren zum größten Teil aus dem Lande zusammengerafft oder vom Feinde erbeutete, viele unansehnlich und strapaziert durch übermäßigen Gebrauch.

In seinem Berufe fand der Doktor große Aufgaben und schwere Arbeit. Nicht alle Lazarette waren in der Stadt und in der darüberliegenden Festung, mehrere hatte der Graf mit gutem Grunde an anderen Orten der Grafschaft eingerichtet, und die Sorge dafür wurde durch die Entfernung erschwert. Kaum in einem der Lazarette gebot ein gelernter Arzt, Typhus und bösartige Fieber herrschten in allen, überall war kaum das Notdürftigste für die Verpflegung eingerichtet. Da kam dem Doktor zugute, daß er in Paris die Einrichtungen kennengelernt hatte, welche damals für die besten galten. Bald gewann er durch seine Vorschläge und das sichere Wesen, das er bei der Anordnung bewies, das ganze Herz des Gouverneurs. Und er hatte so viele Gelegenheit, zu helfen und zu retten, daß er am Abend oft todmüde, und doch in gehobener Stimmung zu seinem kleinen Quartier in der Stadt zurückkehrte. Nach wenigen Tagen wurde ihm in der Nähe des Gouverneurs ein Feldbett aufgeschlagen.

Der Graf selbst erfuhr auf seine Frage, daß er ernsthaft krank sei, und daß sein Leiden, wenn er sich nicht mehr schone, für ihn verhängnisvoll werden müsse.

»So dürfen Sie nicht zu mir reden«, sagte er gutlaunig, »Schonung und Pflege sind unmöglich, und ebensowenig darf ich unbrauchbar werden, solange der Krieg dauert; von Ihnen also fordere ich, daß Sie mich zwischen Szylla und Charybdis durchsteuern.« Und den Arzt aufmerksam betrachtend, auf dessen erblichenen Wangen man die übergroße Anstrengung lesen konnte, setzte er hinzu: »Gern bäte ich, wenn ich Erfolg hoffte, daß auch Sie vor einer Niederlage sich in acht nehmen. Ich vermag im Notfall noch zu kommandieren, wenn ich auf dem Kissen liege, was soll aber aus unsern armen Kranken werden, wenn Sie nicht zur Stelle sind? Doch wieviel Sie auch in den Hospitälern zu tun haben, ich muß Sie noch außerdem für mich in Anspruch nehmen; eine Stunde des Abends müssen Sie mir opfern und sich gefallen lassen, daß Ihr Patient Ihnen vorklagt.«

Der Doktor merkte bald, wie edelherzig dieser Befehl war. Jedesmal, wenn er kam, fand er durch den alten Diener zwei Kuverts gedeckt, dann mußte er mit dem Grafen zum Abendessen niedersitzen. In dieser Zeit sprach sein Chef vertraulich zu ihm wie zu einem jüngeren Bruder, zuweilen von der Politik, lieber von seinen [] persönlichen Freunden und von allerlei Menschen, die er kennengelernt hatte. So brachte er den Gast dahin, auch seinerseits zu erzählen, was ihm durch das Gemüt gezogen war.

Er entließ ihn nach einem solchen Abend mit einem Händedruck: »Das ist meine Kur. Sie haben mir meine Arznei gereicht, jetzt vermag ich wieder zu arbeiten.«

Durch dies Vertrauen gewann der Doktor zuweilen Einblick in das stille Triebwerk der Politik, und seine Verwunderung wurde immer größer über den Umfang der Tätigkeit, welche vom Kabinett des Gouverneurs ausging. Denn dorthin kamen Nachrichten aus allen Teilen der Provinz, Briefe vom Kaiserhof in Wien, vom Auswärtigen Amte Englands, aus der Umgebung des russischen Kaisers; dazu vertraute Mitteilungen aus dem Hauptquartier in Ostpreußen und andere aus der Residenz, welche oft auf seltsamen Umwegen eingingen, manche in einer Chiffreschrift geschrieben, zu welcher der Graf allein die lösenden Zeichen kannte. Dazwischen jede Art von militärischen Berichten und Projekten.

Draußen fand sich der Doktor mitten in das stürmische Treiben eines Feldlagers versetzt; in dem engen Raume der Festung Glatz drängten sich fast alle zusammen, welche mit Tat und gutem Rat zu helfen bereit waren. Vornehme Gutsbesitzer, zuweilen aus weit entlegenen Kreisen, kamen und gingen, brachten Nachrichten und nahmen geheime Aufträge mit sich. Höhere Verwaltungsbeamte der Provinz arbeiteten in engen Büros, die in einer Zimmerecke eingerichtet waren; ein Oberster Gerichtshof sprach auch in bürgerlichen Händeln Recht; ihn hatte der Graf eingerichtet, weil er die Urteile, welche von den Obergerichten der Provinz im Namen des fremden Kaisers erlassen wurden, als nichtig behandeln mußte. Bei diesem Gericht fand der Doktor seinen Assessor aus der Kreisstadt beschäftigt. Und wer aus den überfüllten Häusern auf die Gassen trat, der stieß auch hier auf eine Menge abenteuerlicher Gestalten: Schmuggler von der nahen Grenze, welche ihre Ladungen in die Magazine geliefert hatten, Soldaten von fast jedem Regimente des Heeres, wie sie sich aus der Gefangenschaft gelöst oder durchgeschlagen hatten, Freiwillige aus allen Ständen der Bevölkerung, die sich zum Dienst anboten, Treiber, welche Schlachtvieh herbeiführten, jüdische Lieferanten mit ihren Proviantwagen. In den Werkstätten schnitten, nähten und hämmerten dichtgedrängt die Handwerker bis in die Nacht, auf allen Plätzen wurde exerziert, und noch des Abends klangen überall, wo Soldaten einquartiert waren, die Hörner, Trompeten und Pfeifen der Musiker, denn jede der neugebildeten Kompanien und Schwadronen war stolz auf eigene Musik, und sie wurde ihr gern gestattet, nur daß ihre Musiker auch als Soldaten fechten mußten. Unter den eifrigsten war Hans, der in der Schwadron des Rittmeisters sofort zu einer Trompete gekommen [] war und wenige Wochen nach seinem Eintritt vor dem Doktor an seinen Säbel schlug und stolz meldete: »Der war heut zum erstenmal dabei.« In dem engen Raum stießen die Menschen, so verschieden an Vergangenheit und Bildung, oft hart aneinander, aber obenauf war bei Offizieren und Gemeinen eine trotzige Zuversicht zur eigenen Kraft und Vertrauen zu der Führung.

Mit Befremden sah der Doktor in den ersten Tagen einen Offizier, der ihm scheu aus dem Wege ging, den Reiterleutnant vom runden Tisch, und er versagte sich nicht, den Rittmeister nach seiner Brauchbarkeit zu fragen.

»Ich habe ihn unter den andern tüchtig einhauen sehen«, sagte dieser gleichgültig. »Diese Art Mut hat er, zu selbständigem Kommando würde ich ihn ungern verwenden; er ist weichlich erzogen, um seine Person besorgt und braucht eine Stunde zum Anziehen.«

Aber an einem der nächsten Tage redete der Baron den Arzt an: »Sie haben mich damals gesehen, wo ich meine Pflicht nicht tat; es war mein erstes Kommando, bei welchem ich mit einem Feinde zusammentraf. Der Gedanke an den Morgen läßt mir seit der Zeit keine Ruhe. Wenn jetzt hier die näheren Umstände bekannt würden, müßte ich mir eine Kugel durch den Kopf schießen. Ich bitte also, schweigen Sie gegen jedermann.«

Wenn der Arzt mitten in der Nacht aus einem seiner Lazarette ins Quartier ging, sah er in dem Arbeitszimmer des Grafen noch Licht und zuweilen den Schatten einer auf und ab schreitenden Gestalt. Da sagte er dem Grafen bei der nächsten Zusammenkunft: »Das darf ich als Arzt nicht dulden!«

»Lagen Sie zu Bett, als Sie es sahen?« antwortete der Gouverneur.

»Ich hatte einen schweren Fall.«

»Ich auch«, versetzte der andere heiter. »Aber wir tun, was wir müssen, nicht auf gleiche Weise. Ich tummle mich in diesem Wirrwarr mit leichtem Sinn, Sie aber ernsthaft und mit schwerem Mut; und wenn Sie einmal ausruhen, so sehen Sie in sich gekehrt aus, als ob die Welt rings um Sie leer wäre.«

»Solchen Ernst, den ich auch in meinem Vornamen mit mir herumtrage, habe ich wohl von meinem Vater geerbt«, antwortete der Doktor.

Der Graf rückte ihm den Stuhl, schenkte ihm das Glas voll und legte sich auf dem Sofa zurück. »Erzählen Sie mir von Ihrem lieben Vater.«

Das tat der Doktor gern. Lange bevor er geendet hatte, hielt der Graf, neben ihm sitzend, seine Hand fest. »Ich danke Ihnen, mein Freund. Und jetzt will ich erfahren, was Ihnen unter uns leichten Husaren das Herz schwer macht.«

So vieler Freundlichkeit konnte der Doktor nicht widerstehen.

[] »Ich hatte ein Mädchen liebgewonnen; es war das erste frische Aufblühen einer innigen Neigung, und die Geliebte wurde mir plötzlich entfremdet.« Er berichtete von dem Überfall und von der Verlobung im Pfarrhaus, wie ihm der Geistliche erzählt hatte. Der Graf hörte zu, ohne durch eine Frage zu unterbrechen. Als der Erzählende zu den Worten kam, welche der Franzose bei dem Ringwechsel gesprochen, fiel ihm die Spannung im Gesicht des Hörers auf. Nachdem er geendigt hatte, saß der Graf einige Augenblicke in Nachdenken. »Man sucht bei solcher auffallenden Tat nach den Beweggründen. Ein toller Streich, wie man ihn etwa einem verwegenen Fähnrich zutrauen könnte, scheint dies nicht zu sein. Ist die Demoiselle das, was man eine Schönheit nennt?« – »Ich glaube, ja«, versetzte der Doktor. – »So war es dies«, schloß der Graf. »Daß der Vater die Nichtigkeit einer solchen Verlobung nicht sogleich und nicht in der nächsten Zeit betont hat, dürfen Sie dem armen alten Herrn, der bis auf den Tod bedrängt war, nicht als übergroße Schwäche auslegen. Zunächst kommt es doch darauf an, wie das Fräulein selbst die Sache ansieht.«

»Ich habe sie durch den Vater bitten lassen, mir ihr Vertrauen zu schenken, sie ist nicht darauf eingegangen; sie verhüllt ihre Seele auch vor mir, und darüber traure ich. Ich hatte freilich noch kein Anrecht auf so hohes Vertrauen.«

»Auch Schüchternheit und Scham können ein unschuldiges Weib, dem geliebten Manne gegenüber, zum Schweigen veranlassen. Und von dieser Seite ist noch nichts verloren. Dagegen scheint mir dieser französische Rittmeister wohl wert, daß man sich nach ihm erkundige. Vielleicht kann ich Ihnen Auskunft verschaffen. Unterdes lassen Sie sich's gefallen, daß ich mich Ihnen in der Rolle eines Vertrauten aufgedrängt habe, und entsagen Sie der Hoffnung nicht so hartnäckig wie bisher.«

Nach einer Zusammenkunft mit dem französischen General, welcher die gegenüberliegenden Truppen befehligte, rief der Graf am Abend seinem Tischgenossen entgegen: »Heut war ich Ihnen noch dankbarer, als ich wohl sonst bin, denn Sie haben mir die unvermeidlichen Viertelstunden der Konversation mit dem Franzosen erleichtert. Ich habe Auskunft über den Kapitän erhalten. Also, jene Szene im Pfarrhause hat den Prinzen und die Generalität weit mehr beschäftigt, als anzunehmen war. General Lefebre selbst war genötigt, deshalb beim Prinzen die Lärmtrommel zu schlagen, nicht wegen des Zweikampfes, sondern weil der Herr Dessalle damals in seinem Zorn das gesamte Offizierskorps eines deutschen Rheinbundstaates vor den Ohren der Mannschaft und anderer Zuhörer mit sehr bedenklichen, respektwidrigen Ausdrücken bezeichnet hatte. Durch den zweiten Offizier, der sich vorsichtig dem Säbel des Kapitäns entzogen hatte, und durch die Unteroffiziere wurde dies nach [] dem Todesfalle zur Anzeige gebracht, die höheren Offiziere aber begingen in patriotischem Grimm die Taktlosigkeit, wegen dieser Ehrenkränkung Klage beim Oberkommando zu erheben. Prinz Jérôme vernahm in seiner Weise lachend und wohlgefällig das Abenteuer und dachte offenbar von dem Kapitän darum nicht schlechter, weil er den deutschen Tölpeln eins versetzt hatte. Um seinen Günstling aber den weiteren Folgen zu entheben und die Angelegenheit durch Hinziehen zu beendigen, sandte er ihn mit Briefen an den kaiserlichen Bruder. Dies ist der Grund, weshalb der Offizier vom Horizont verschwunden ist und während dieses Feldzuges schwerlich in unserer Provinz erscheinen wird. Das letztere wenigstens ist günstig«; – und ernsthaft fügte er hinzu – »der Kapitän gilt, soweit dem Urteil meines Berichterstatters zu trauen ist, für einen Mann von Ehre; er ist durch eigene Tüchtigkeit heraufgekommen.«

Der Doktor saß in düsterem Schweigen, und der Graf fuhr ermutigend fort: »Denken Sie jetzt auch an die Freuden und Sorgen des nächsten Tages. Hundert gute Monturen sind heut früh von den Husaren eingebracht worden. Wir sollen Armeen aus der Erde stampfen und ein Kornfeld bauen auf der flachen Hand; das wird uns nicht leicht, doch viele helfen mit Freuden. Hätten wir nur eine Million Taler und sechs Monate Zeit, dann wollten wir Waldläufer uns sehen lassen.« Und er begann vertraulich von seinen Plänen für die Ausrüstung zu erzählen, bis der andere das eigene Leid vergaß.

Ja, es war eine endlose, mühevolle Arbeit. Alles fehlte. Am wenigsten noch die Mannschaft. Die Treuen kamen zum Teil aus weiter Ferne, sogar aus den süddeutschen Fürstentümern, welche einst zu Preußen gehört hatten. Auch an Kompanieoffizieren war kein Mangel, von allen Waffen stellten sie sich ein, manche von zweifelhaftem Wert, aber auch nicht wenige der Besten, deren Name in späteren Jahren von Mund zu Mund ging. Doch weit schwerer als die Menschen war die Ausrüstung zu beschaffen. Wo das Pulver finden? Der Graf ließ eine Pulvermühle errichten, bald fehlte dafür der Salpeter; Schmuggler trugen mit Lebensgefahr einzelne Zentner auf dem Rücken über die österreichische Grenze. Zuletzt ließ der Gouverneur gar durch Streifpartien das Sprengpulver aus den Bergwerken, welche jetzt für den Feind fördern mußten, entführen. Wo die Musketen hernehmen? Die Gewehre, welche heimlich in der Landschaft gesammelt wurden, hatten jede Art von Kaliber, und es waren meist leichte Jagdflinten, im Krieg auf die Länge gar nicht zu gebrauchen; fast an jeder mußte repariert und gebastelt werden. Der Graf richtete deshalb auch eine Gewehrfabrik ein, aber natürlich vermochte diese nicht sofort Großes zu leisten. Woher das Tuch und Leder holen für Monturen und Riemenzeug? Woher endlich die Kavalleriepferde, seit der Feind den ganzen Winter über die Tiere aus den Ställen geholt hatte, darunter Gespanne, die der Landwirt nicht [] entbehren konnte. Und über allem, woher das Geld nehmen für den Sold der Festungstruppen und des kleinen mobilen Heeres? Ohne Geld und Löhnung war keine geordnete Verpflegung möglich, und wenn die Leute hungern mußten, liefen sie wieder auseinander. Die Geldsummen, welche durch patriotische Männer herzugebracht oder durch treue Steuereinnehmer den behenden Boten des Grafen ausgeliefert wurden, auch einzelne Sendungen, welche der Graf durch unermüdliches Schreiben von Wien und London zu erhalten wußte, reichten gerade von einer Woche zur andern, die Vermittler und Agenten waren zum Teil unsicher, und Veruntreuungen blieben nicht aus.

Und doch wuchs durch die rastlose Sorge und Tätigkeit des einen Mannes in den Frühlingsmonaten eine Kompanie und Schwadron um die andere herauf.

Aber je rühriger sich die neugebildeten Truppen im Lande tummelten, um so argwöhnischer vermehrte auch der Feind sein Heer. Gegen jedes Tausend, das der Graf ins Feld schickte, konnte der Kaiser, der von den Pyrenäen bis zur Weichsel gebot, durch einen Federstrich zehntausend senden, und je lästiger die Zwerge in den Bergtälern wurden, um so heftiger begehrte der Riese in der Ebene das Ende und die Bewältigung des Widerstandes.

Das sagte einst der Doktor zum Gouverneur, als er neben ihm auf einer Bastion stand und in die anmutige Sommerlandschaft hinabsah. Der Graf heftete seinen Blick auf den fernen Horizont: »Nicht bei uns liegt die Entscheidung, aber was wir von den Feinden auf uns ziehen, halten wir dort ab, wo unser Schicksal entschieden wird. Ob Österreich sich entschließt, uns zu helfen, ist noch immer die Frage; nur solange wir Preußen hier in diesem Lande von uns reden machen, können wir auf die Hilfe hoffen. Und ist bei einem Friedensschluß die Provinz mit allen ihren Festungen in der Hand des Feindes, so dürfen Sie annehmen, daß Schlesien für Preußen verloren ist, und dann ist unser Staat selbst verloren. Da haben Sie drei Gründe dafür, mein Freund, weshalb unsere Husaren wieder ausreiten, um den Franzosen die Wämser zu klopfen.« Er wies auf den gewundenen Weg, auf welchem Reiter und Fußvolk hinabzogen. »Heut müssen Sie mir gestatten, daß auch ich den Ritt mitmache, wir gedenken einen guten Fang zu tun.«

Am Abend bliesen die heimkehrenden Husaren Fanfare; der Graf hatte in einem ernsten Gefecht dem Feinde herben Verlust zugefügt und führte eine ansehnliche Zahl Gefangener mit sich zurück. In einem bayrischen Major, der gefangen neben dem Grafen einritt, erkannte der Doktor denselben Offizier, welcher früher ihn und den Rittmeister auf der Landstraße angehalten hatte. »Jetzt ist es an uns, Ihnen zu danken«, rief er bei der freundlichen Begrüßung. Da auch der Rittmeister das seine tat, so fehlte es dem Bayern nicht an [] Bequemlichkeit und Gesellschaft. Der Major erwies sich als wackrer Mann von Ehre, und die Besuche des Arztes wurden für beide angenehm.

»Kennen Sie einen französischen Hauptmann Dessalle?« fragte einst der Doktor.

»Sie nennen einen Namen, der uns Bayern sehr lästig geworden ist«, antwortete der Major. Er erzählte mit Zurückhaltung von dem Zweikampf und was der Doktor sonst schon wußte. Wir Bayern sind in die Notwendigkeit versetzt, Erklärungen von ihm zu fordern. Meine Landsleute, an denen er zum Ritter geworden ist, waren so sehr im Unrecht, daß wir uns schämen müssen, und es wäre ganz in der Ordnung gewesen, wenn der Prinz Jérôme oder der Kaiser die strengste Bestrafung der Schuldigen, soweit diese noch am Leben waren, gefordert hätten. Das aber hat man nicht getan, dagegen hat der Prinz in Gegenwart eines bayrischen Generals vor einem großen Kreise die Geschichte von der Verlobung erzählt und dabei den ritterlichen Franzosen bis in den Himmel erhoben; und uns Bayern bleibt nur übrig, diesen Herrn mit dem Säbel zu begrüßen, sobald wir seiner habhaft werden. Glauben Sie mir, Doktor, auch unter uns sind viele, welche es für einen traurigen Krieg halten, wo Deutsche gegen Deutsche kämpfen und für Fremde einander totschlagen; wir für die Franzosen, und Sie für die Russen, denn beide haben wir von den Fremden Hinterlist und Tücke zu erwarten. So klagte der Bayer.

Mit gemischten Gefühlen vernahm der Doktor, daß jene Stunde im Pfarrhause auch über die Zukunft seines Gegners dunkle Schatten warf.

Aber der Doktor sollte noch von anderer Seite an den Fremden erinnert werden.

In der Tür einer Weinstube der Stadt traf er auf einen Husarenoffizier, dem ein jüdischer Händler gerade einen Brief zusteckte. »Komm zu uns herein, Bruder Doktor«, rief der Offizier mit hartem polnischen Akzent, »sind wir alle gerade lustig.« Da die Aufforderung von einem Liebling des kleinen Heeres kam, so folgte der Doktor der Einladung und saß in der fröhlichen Gesellschaft nieder. Der Offizier neben ihm zog den Brief aus der Tasche und lachte. »Dies hat mir der Jud zugesteckt, es kommt von einem alten Bekannten von mir, der im Stabe des französischen Generals ist. Bevor ich den Brief dem Gouverneur abgebe, will ich ihn selber lesen.« Er brach auf und lachte wieder. »Schreibt mir Ossowski kuriose Sachen. Kaiser will mir ein polnisches Regiment geben und mich zum Obersten machen, wenn ich hier quittiere und hinüberkomme. Ich werde sogleich antworten; Wirt, geben Sie eine Feder!« Und er malte auf einen Zettel mit großen Buchstaben: »Mein Herr, Sie haben mir auf polnisch geschrieben, ich habe als preußischer Offizier [] verlernt, auf polnisch zu antworten. Darum schreibe ich Ihnen deutsch, daß ich den für einen verdammten Kujon halte, welcher einem Preußen solchen Antrag macht; wenn ich Sie einmal finde, werde ich Ihnen das mit meinem Säbel beibringen! Mit gebührender Hochschätzung bin ich Ihr ergebener.« Er gab den empfangenen Brief und seine Antwort dem Adjutanten. »Schaffe das zu den Franzosen, lieber Bruder, und mache eine Adresse!«

Die Kameraden lachten und sammelten sich um den ehrlichen Gesellen. Und ein Husarenstreich nach dem andern kam zum Vorschein. Endlich sagte der Pole: »Dabei fällt mir ein, daß ich ohnedies schon einem Franzosen versprochen habe, mich mit ihm zu hauen, wenn wir einander treffen. Das war so. Im Winter streifte ich an der polnischen Grenze, und ich kam bis an die Straße, die durch Polnisches nach Ostpreußen führt; dort legte ich mich, wie Kater tut, auf die Lauer. Die Schwadron versteckte ich im Walde und zog mich mit wenigen Husaren quer über Feld zu einem einzelnen Wirtshaus, daneben war nur Scheune und Stall, nach beiden Seiten offene Straße. Ich postiere also einen Mann auf die Leiter, die am Dach der Scheune lehnt, und sperre den Kretschmer und sein Weib in den Keller. Die Pferde fressen zwischen Hof und Scheune aus dem Futterbeutel, und die Mannschaft sitzt daneben. Wir waren Tag und Nacht durch Wälder gezogen, Pferd und Mann sehr herunter. Ich aber gehe in das Haus und suche in der Kammer neben der Schenkstube, ob ich eine Schüssel finde, und ziehe mich schnell aus, um mich zu waschen, was überaus nötig war. Meine Husaren geraten unterdes über ein Fässel Branntwein und machen sich in größter Eile alle naß, wie Fliegen in Buttermilch. Auf einmal entsteht ein Getrappel und Geschrei, und bevor ich in die Kleider komme, höre ich die Stubentür aufgehen; ich schiebe also leise den Riegel vor die Kammertür und gucke durch den Ritz. Ein französischer Offizier tritt in die Stube, er hat einen Arm in der Binde und Pistole und Kuriertasche in der linken Hand. Zuerst sieht er sich argwöhnisch um, weil aber nichts in der Stube unordentlich ist, legt er Pistole und Tasche auf den Tisch und untersucht mit dem Säbel das Bett. Ich fahre wie ein Blitz hinter seinem Rücken aus der Kammer, packe die Tasche und halte ihm meine Pistole an das Ohr, wie er sich gerade herumdreht. Den Säbel konnte er, da ich ihn an das Bett drängte, mit seinem gebundenen Arm nicht ziehen. So war er einen Augenblick wehrlos in meiner Hand und sagte ruhig: ›Schieß!‹ ›Nein‹, antwortete ich auf französisch, ›ich halte die Tasche, Sie halten meine Leute, wir tauschen und machen Waffenstillstand!‹

›Gut! Auf Parole‹, sagte er. ›Ich bin Kapitän Dessalle, und wer sind Sie?‹ – Hatte ich keine Hosen an und schämte mich deshalb, den Namen eines preußischen Offiziers zu nennen, so sprach ich: ›Leutnant Brummteufel von Bila-Husaren, wegen der Reinlichkeit [] im Hemde.‹ Ich gab die Tasche in seine Hand, und er ging an die Tür und befahl seiner Mannschaft, meine Schlingel freizugeben. Darauf zog ich mich schnell an, er ließ eine Flasche Wein aus seinem Mantelsack bringen, wir saßen einander gegenüber und tranken; beim Abschied sagte er: ›Mein Herr, heut bin ich Ihnen etwas schuldig geblieben, ich bin gewöhnt, meine Schulden zu bezahlen, treffen wir uns wieder im Krieg oder Frieden, so hoffe ich, nicht verhindert zu sein, die Waffen zu gebrauchen. Dann werden Sie mir Genugtuung geben.‹ ›Ich bin immer zu Ihren Diensten‹, sagte ich, ›und mein wirklicher Name ist Witowski.‹ Er grüßte noch mit der Hand und ritt dorthin und ich dahin. Am Abend aber holte ich meinen Husaren Futter und Brot aus der Schenke.«

Näher rückte der Feind und enger wurde der Kreis, in welchem die preußischen Fahnen wehten. Wenn es einmal gelang, den Gegner durch kühnen Angriff zurückzuwerfen, so kehrte er verstärkt wieder. Bei kleinen Unternehmungen waren die neugebildeten Kompanien und Schwadronen fast immer glücklich, bei größeren versagte die Kraft. Schon waren von den vier Festungen, über welche der Generalgouverneur gebot, zwei belagert, und der Fall der einen, des wichtigsten Waffenplatzes, stand bevor. Vergebens sandte der Graf Boten und Befehle durch den Ring der Belagerer, um den Kommandanten zur Ausdauer zu veranlassen, vergebens ersann er einen verzweifelten Zug seines kleinen Heeres hinaus in die Ebene, um die Festung zu entsetzen; das Wagnis gelang nicht, er selbst hatte es wohl kaum gehofft. Unterdes lag er, vom Fieber geschüttelt, auf dem Lager, aber seine Energie, mit welcher er festhielt, was er noch in Händen hatte, und die behende Kraft, mit welcher er neue Hilfsmittel ersann, wurden nicht vermindert. Wenn der Doktor die schnellen Atemzüge und den glitzernden Schein der Augen beobachtete, da fühlte er herzliche Hochachtung vor einer Hingabe, die immer das Vaterland im Auge, das eigene Leben für nichts achtete, und vor einem Geiste, welcher der Schwäche des Leibes so siegreich widerstand. Als der Graf in einer solchen Stunde nach einem schmerzlichen Seufzer den teilnehmenden Blick des Arztes auffing, begann er: »Ich bin nicht mutlos, Doktor, aber traurig. Daß wir nicht hier sind, um Siege zu erfechten, und daß wir zuletzt untergehen müssen, wenn nicht ein erbarmendes Geschick von außen Hilfe sendet, das haben wir immer gewußt. Auch darauf bin ich gefaßt, daß unser Nachbar Österreich nach den letzten Ereignissen noch weniger geneigt sein wird, uns zu helfen, als er früher war. Was mir in der Stille zusetzt, das ist der Verlust an guten Kameraden und getreuen Herzen, den ich fast täglich erfahre. Solche Empfindung steht im Kriege einem Manne, der den Befehl hat, übel an, und vollends bei meiner abenteuerlichen Stellung ist sie eine Schwäche. Aber einen nach dem andern sehe ich fallen und verderben. Gerade [] in dem kleinen Krieg trifft das Schicksal die Bravsten, sie alle spielen bei ihren Wagnissen mit Tod und Teufel; dem Schlauen gelingt es fünfmal, und wenn er ein unerhörtes Glück hat, zehnmal, zuletzt fällt die Karte doch gegen ihn. Von meinen Getreuesten, die Sie fanden, als Sie hier ankamen, wie wenige sind noch übrig? Im großen Kriege verschwindet das Leben des einzelnen in der Masse; bei unserem Freibeuterkampfe zählte ich die Häupter, denen ich vertrauen kann, und vermisse jedes, das aus dem täglichen Verkehr schwindet. – Auch der Schlaukopf ist dahin, mein Geschäftsreisender, der unermüdlich durch das Land zog und mit gewissenhaften Einnehmern seine Geschäfte machte; er hat uns zuweilen geholfen, wenn der letzte Pfennig ausgegeben war. Zuletzt wollte er auch einmal auf eigene Faust Krieg spielen und raffte sich einige Mannschaft zusammen. Dabei vertraute er zu sehr seinem Glück und kam in die Hände des Feindes. Neulich, als wir den bayrischen Major fingen, saß er als Gefangener in Zivilkleidern gebunden auf einem Karren, an welchem unsere Husaren vorüberjagten. Es wäre leicht gewesen, ihn loszuhauen, jetzt muß ich durch allerlei Kunststücke die Courtoisie der Franzosen wachrufen, damit diese uns nicht den armen Burschen als Spion abtun.«

In den nächsten Tagen wurde der Gouverneur von dem neuen französischen General, einem der nichtswürdigsten Werkzeuge des Kaisers, zur Verhandlung hinausgeladen auf das Feld inmitten der beiden Heere. Mit kriechender Höflichkeit begann der Franzose die Unterredung, in welcher er zur Übergabe mahnte, denn er wollte sich gern bei seinem Kaiser den Ruhm sichern, daß er den hartnäckigen Widerstand des Gegners bewältigt habe. Da ihn aber der feste Widerstand des Grafen reizte, brach die rohe Heftigkeit seines Wesens heraus. Er schrie, daß das preußische Heer des Königs geschlagen und vernichtet, der König selbst verschwunden sei: »Dies Königtum hat aufgehört, die jetzt noch widerstehen, sind nichts als Räuber und Mörder.« Er forderte die Offiziere auf, den unsinnigen Mann zu verlassen, der sie ins Verderben führen würde, er drohte, das Gut des Gouverneurs, das dieser in der Grafschaft hatte, niederzubrennen, die Familie desselben der Wut der Soldaten preiszugeben und ihn selbst an den Galgen zu hängen. Wohl niemals hat der Stellvertreter eines Königs solche Sprache ertragen. Die preußischen Offiziere griffen an ihre Waffen, um den frechen Franzosen niederzuhauen, der Graf trat dazwischen, wehrte dem Eifer und schied mit den Worten: »Wir respektieren in Ihnen den Vertreter Ihres Kaisers, aber wir verhandeln mit solchem Manne nicht mehr.«

Als der Gouverneur am Abend erschöpft auf dem Lager lag und sein Vertrauter ihm sagte: »Wie der Franzose die gleißende Höflichkeit aufgab und durch seine Drohungen Sie in Ihrem innersten [] Leben kränkte, da erkannte ich, wie schwer es ist, die innere Empörung für das gemeine Wohl zu bändigen; ich hätte schwerlich der Versuchung widerstanden, den schlechten Mann niederzuschlagen oder gleich einem Hund wegzustoßen.«

»Loben Sie meine Zurückhaltung nicht«, sagte der Graf, »denn ich fühlte in diesem Augenblick tief die Demütigung, daß ich nicht als freier Herr ihm gegenüberstand, sondern als Diener eines Staates, der nicht in der Lage ist, seine Vertreter vor solcher Beleidigung zu schützen. Hätte ich aber dem Franzosen geantwortet, wie er verdiente, so wäre das dem Kaiser sehr willkommen gewesen, denn er hätte darin eine Veranlassung gefunden, über Verletzung des Völkerrechts und der französischen Ehre zu deklamieren und den Frieden, welchen er widerwillig und mit argen Hintergedanken, nur aus Rücksicht auf andere Mächte, uns bewilligen muß, zu erschweren. Er weiß heut so gut wie wir beide, daß zwischen uns und ihm ein ehrlicher Friede unmöglich ist, für ihn steht die Frage nur so, auf welchem Wege er uns umbringen soll, und für uns, wie wir seiner ledig werden. Er ist uns darin überlegen, daß er in seiner klaren Entschlossenheit genau sieht, wie die Sachen stehen. Beten Sie, Doktor, daß nicht eine Wahrheit werde, was heut der arge Mann von dem Schicksal unseres Königs und des Heeres gelogen hat.«

Nicht alles wurde als Wahrheit bestätigt, aber die Entscheidung war bei Friedland gegen Preußen gefallen durch die Unfähigkeit oder Hinterlist des russischen Feldherrn. Die Kunde, welche der Graf bald vom Prinzen Jérôme erhielt und dem Heere verbarg, verbreitete sich doch mit seltsamer Schnelle. Nach diesem Schlage schwand den Soldaten die Hoffnung und der Mut.

Und der Kampf um die Festung begann. Der Graf hatte mit Aufgebot aller Kraft ein verschanztes Lager auf einer Höhe errichtet, deren Besitz für die Behauptung der Festung entscheidend war.

»Auch Sie erwarten in den nächsten Tagen einen Sturm des Feindes«, sagte der Doktor zu dem Rittmeister, welcher einsilbiger als sonst an seiner Seite ging.

»Mich kränkt's, daß Sie mich gerade in der Arbeit haben, Doktor, und daß ich nicht dabei sein kann. Es ist eine gute Disposition, die der Graf für die Verteidigung jener Höhe dort gemacht hat, aber nach meinem Husarenverstand mutet sie unseren Offizieren und Soldaten allzuviel zu, denn alles bei uns ist noch zu locker. Wer unsern Gouverneur kennt wie Sie und ich, der muß ihn lieben und verehren bis zur Schwärmerei, und ich kenne keinen Mann auf Erden, der so rein und ohne Rücksicht auf sich selbst für seinen König und für andere lebt. Er ist hier wie die Sonne, die uns allen die Kraft zum Leben gibt, er allein, so daß, wenn er uns verlorengeht, in demselben Augenblick alles auseinanderfällt. Er hat nur eine Schwäche, er beurteilt uns alle im Grunde zu günstig. Beachten[] Sie seinen Blick, er sieht immer still verklärt in die Ferne, das große Ziel hat er fest im Auge und erfinderisch wie ein Dichter ersinnt er hundert Wege und Auskunftsmittel, um dahin zu gelangen, aber nicht so genau schätzt er die Hindernisse, welche ihm bei den nächsten Schritten in dem Wege stehen. Sein ganzes Wesen treibt ihn dazu, der Tüchtigkeit menschlicher Natur zuviel zu vertrauen, und trotz dem großen Scharfsinn, mit welchem er im ganzen die Sachen beurteilt, wird seine Rechnung zuweilen fehlerhaft, weil er die kleinen Reibungen und die Fehler seiner Werkzeuge nicht genug berücksichtigt.«

»Wie vermöchte er dieses Leben auszuhalten«, versetzte der Doktor, »die Unsicherheit, die ganz unerhörte Stellung eines Diktators, wenn nicht ein Zug von Begeisterung und sanguinischem Glauben in ihm wären? Und ich ahne, daß er auch von den Menschen, die ihn umgeben, manches kennt, was er allen verbirgt. Unser bayerischer Freund sagte mir, als er ausgewechselt wurde, beim Abschiede: ›Ich lasse Sie mit Bedauern hier zurück, denn die Braven hier sind alle verraten und verkauft.‹ Darauf erzählte er, daß ihm hier vielerlei für die Franzosen mitgeteilt worden sei, ›einiges Schriftliche habe er verbrannt‹, schloß er, ›denn ich habe nicht vergessen, daß ich ein Deutscher bin, und will mich, wenn ich Sie als ehrlicher Soldat bekämpfen muß, nicht zum Angeber gegen die Fremden machen.‹«

»Sie haben das doch dem Gouverneur mitgeteilt?« fragte der Rittmeister.

»Hören Sie, was er mir antwortete: ›Wenn man mich mit Schillers Räuberhauptmann verglichen hat, so wissen Sie jetzt auch, daß die Herren Spiegelberg und Schufterle unserer Gesellschaft nicht fehlen.‹«

Ein hoher Stabsoffizier schritt über die Bastion, ein älterer Mann mit einem hageren, bronzefarbenen Gesicht und finsteren, scharf geschnittenen Zügen. Der Doktor und der Rittmeister salutierten; als er vorüber war, stieß der Rittmeister mit innerem Abscheu seinen Säbel auf den Stein. »Das ist er, und er ist vielleicht nicht der einzige.«

»Wie ist es möglich, daß der Graf solche Menschen im Amte duldet, wenn er sie für Verräter hält?« fragte der Doktor bestürzt.

»Er hat sich lange geweigert, den Verdacht gegen sie aufkommen zu lassen, obgleich ihnen niemand traute. Jetzt endlich überwacht er sie. Aber dieser und noch ein anderer haben höheren militärischen Rang als der Graf selbst. Als Stellvertreter des Königs kann er sie, sobald ihr Verrat erwiesen ist, verhaften, im äußersten Fall erschießen lassen, aber solange er keinen Beweis gegen sie hat, darf er ihnen den Befehl nicht nehmen. Der Gouverneur hat getan, was ihm ganz widerwärtig ist, dort oben in dem Büro hat er einen [] geheimen Polizeidienst einrichten müssen, um Beweise gegen die höchsten Offiziere seiner eigenen Garnison zu finden. Es ist ihm bis jetzt nicht gelungen, und glauben Sie mir, das ist seine unablässige Sorge.«

Der Sturm auf das verschanzte Lager hatte begonnen, unter dem rollenden Donner der Geschütze und dem Knattern der Musketen eilte der Doktor zu dem Verbandsplatz für die Verwundeten. Jetzt hörte und sah er die Sckrecken, welche der Zweikampf der Völker jedem einzelnen bereitet, aber anders als vor einem halben Jahre empfand er das Furchtbare des Krieges, und auf alles gefaßt, sagte er sich: »Wunderlich ist es, daß derselbe Kriegssturm, welcher das Beste im Manne lebendig macht und das Höchste von ihm fordert, zugleich und oft in derselben Seele das Widerwärtigste und Gemeinste großzieht, rohe Wildheit, Geldgier und alle Laster, welche erwachen, wenn die alte feste Ordnung seines Lebens aufhört. Das Erhabenste ist zugleich auch das Schrecklichste, und mit dem Göttlichen in uns wird auch der Teufel mächtig.« Bald nahm die Sorge um die herbeigetragenen Verwundeten ihn völlig in Anspruch.

Am Abend drängten sich die geschlagenen Kompanien mürrisch und mutlos durch das Tor. Die Festung wurde belagert, und die Rechnung ging jetzt um den Tag, an welchem sie fallen müsse.

Der Diener hatte den Tisch mit dem Abendessen des Doktors, wie er pflegte, an das Bett des Grafen gerückt, da begann der Kranke: »Ich muß mich Ihrer freuen, solange ich Sie habe. Was jetzt noch zu tun bleibt, ist das Schwerste von allem und doch so widerwärtig, daß niemand es loben wird.«

»Sie werden tun, was Ihre Pflicht ist«, sagte der Doktor, »nicht jede Pflichterfüllung wird durch den Beifall der Lebenden und der Späteren gerühmt. Ich bin gelehrt, daß man bei solcher Erfüllung niemals an den Beifall der Menschen denken soll, nur darauf, daß man der Mahnung des eigenen Gewissens und vernünftiger Erwägung folge.«

»Das ist eine strenge Lehre, mein Freund; auch die Besseren sorgen, vielleicht nicht um den Beifall der Menge, aber doch um die gute Meinung solcher, die ihnen wert sind. Wir Soldaten vollends, bei denen Befehl und Gehorsam so schonungslos sind, brauchen einen starken äußeren Antrieb, damit wir unsere Pflicht tun; der Soldat vermag Anerkennung und Ruhm nicht zu entbehren, und ebensowenig die Furcht vor Strafe, und die höheren Offiziere bedürfen diesen Sporn noch mehr als andere. Wenn Sie fragen, woher es kommt, daß in diesem Jahre gerade unter den Hohen unserer Armee soviel offene Schwäche zutage trat, die bis zum Verrat ging, so gibt es darauf eine kurze Antwort: weil sie vor ihrem guten König keine Furcht hatten. Ein General und jeder, der selbständiges Kommando führt und despotisch gebietet über Untergebene, muß im Grund [] seiner Seele unablässige Scheu hegen vor dem Stirnrunzeln seines Herrn und dahinter vor Festung oder einer Kugel.«

»Ich selbst bin jetzt in der Lage, an eine Verurteilung und Festungshaft für mich zu denken«, fuhr er mit traurigem Lächeln fort: »Denn, Doktor, es geht mit uns zu Ende. In dem Pulvermagazin fehlt das Pulver, man hat mir seit Monaten falsche Bestände angegeben; ein unsichtbarer Feind hat sich beeilt, diese Hiobspost und andere hier zu verbreiten; den Leuten ist der Mut gebrochen, sie wissen, daß wir nicht mehr imstande sind, ernstem Angriff zu widerstehen. Bedauern Sie mich, denn mir ist auch die letzte Ehre des Soldaten versagt, diese Festung bis zum letzten Laib Brot und zur letzten Patrone zu verteidigen. Ich bin nicht zum Kommandanten der Festung bestellt, sondern zum Gouverneur des Landes. Meine Provinz ist klein geworden, aber außer diesen Steinen habe ich noch einige andere dem Feinde streitig zu machen, und erst auf dem letzten darf ich vergessen, daß ich meinen König und den Staat noch in andern Sachen zu vertreten habe als in militärischen. Dann erst darf ich die Scheide wegwerfen und an nichts denken als an einen ehrlichen Soldatentod. Jetzt sollte ich diese Festung der Ehre ihres Kommandanten anvertrauen, aber dieser würde morgen dem Feinde das Tor öffnen und dadurch die Wochen, die ich noch gewinnen kann und auf die jetzt alles ankommt, zugunsten der Franzosen preisgeben. Deshalb werde ich die Demütigung einer Übergabe auf meinen Namen nehmen.«

Da vergaß der Doktor seine eigene Philosophie und rief in tiefem Schmerz: »Herr des Himmels, soll eine Übergabe auch hier das Ende sein! Unermeßliche Mühe und Arbeit haben Sie aufgewandt, uns allen sind Sie ein Vorbild geworden der Hingabe an Amt und Beruf. Ihrem Beispiel verdanke ich, daß ich erkannt habe, was ein Mann seinem Vaterlande schuldig ist, und jetzt sollen Sie demselben Schicksal verfallen wie die Schwachen und Schlechten, die anderswo den Befehl hatten? Und Sie sollen nicht unterliegen im ehrlichen Kampfe gegen den Feind, sondern durch elenden Verrat und durch die Gemeinheit anderer? Wahrlich, das ist ein fürchterliches Geschick. Die Ehre, die sich um Ihr Haupt gesammelt, soll Ihnen in der Meinung der Menschen genommen werden durch den Zwang kleiner und nichtswürdiger Verhältnisse.« Er wandte sich in seiner Bewegung ab.

»Sagten Sie nicht soeben«, begann der Graf mit weicher Stimme, »daß man die Pflicht tun soll ohne Rücksicht auf den Beifall der Menschen und nur das eigene Gewissen und vernünftige Urteil anhören?«

»Das habe ich gesagt, ich weiß wohl, daß Sie so handeln werden; aber das Volk bedarf auch Beispiele von Tugend und Größe, die ihm das Herz erwärmen. Und es wird krank, wie wir geworden [] sind, weil uns so sehr die Männer fehlen, deren Wert man mit Begeisterung empfindet. Sie waren der Mann, meinen schlesischen Landsleuten in finsterer Zeit ein solches Vorbild zu werden, und für mich ist es furchtbar, daß Ihnen durch ein ruhmloses Ende dieses Kampfes die Krone geraubt wird.«

Der müde Mann erhob sich und sprach leise: »Seien Sie ruhig, mein Freund. Was ich bis jetzt nur meinem König vertraut habe, sollen Sie erfahren: ich übergebe die Festung nicht. Wenn ich mit dem Feinde das Übereinkommen schließe, ihm die Tore an einem bestimmten Tage zu öffnen, so tue ich dies, um Zeit für die Verteidigung zu gewinnen. Gegenwärtig sind wir durch Verrat und Entmutigung wehrlos gegen den drohenden Angriff, ich brauche einige Wochen, um das zu bessern. Nur durch den Vertrag mit den Franzosen habe ich die Möglichkeit gewonnen, mich mit unserm Könige in gesicherte Verbindung zu setzen. Diese Verbindung habe ich benutzt, ihn anzuflehen, daß er mir erlaube, nicht mehr sein Stellvertreter im Lande, sondern nur Kommandant dieses Platzes zu sein. Die übermütigen Feinde verletzen jeden Tag den Vertrag, den ich mit ihnen schloß, und jeden Tag darf ich ihnen das nichtige Schriftstück vor die Füße werfen. Und nun wissen Sie, was Ihrer Freundschaft tröstlich sein soll; wenn nicht Friede wird, sollen sie mich lebendig nicht haben. Wir bewahren, will's Gott, dem Könige unsere Berge, oder wir machen dem Feinde die Mühe, uns ein Grab zu schaufeln.«

Die Franzosen drängten, dem abgeschlossenen Vertrage zuwider, während der Waffenruhe näher an die Festung heran; der Graf, welcher unterdes die Schäden an den Werken, an den Vorräten und in den Gemütern seiner Soldaten gebessert hatte, schloß drohend die Tore und verkündete seinen Entschluß, am Ende der Waffenruhe die Feindseligkeiten wieder zu beginnen. Da kam der Friede. Sogleich bestand der Gouverneur darauf, daß die Feinde die Grafschaft und die nächsten Landkreise räumten, und er setzte seinen Willen durch.

Er hatte das Gebiet für Preußen behauptet.

Als der Graf die Bedingungen des Friedens erfahren, lud er eine Anzahl Männer zu sich, welche ihm persönlich nahegestanden hatten. Der Doktor fand einige Offiziere von der früheren Garnison, Offizianten, welche in den Büros arbeiteten, adlige Gutsbesitzer aus der Provinz, die in den letzten Monaten sich und ihr Vermögen für den Staat eingesetzt hatten. Der Graf erhob sein Glas, trank die Gesundheit des Königs und sagte: »Wir lassen andere trauern über den Vertrag, welcher jetzt als Friede den Völkern verkündigt wird; wir wissen so gut wie der Herr der Franzosen, daß dies nur ein Waffenstillstand ist, den beide Teile, wir und der Kaiser, gebrauchen, um aufs neue zu rüsten; wir wissen, und der Kaiser ahnt es [] auch, daß die Feindschaft zwischen ihm und uns eine tödliche geworden ist, die nur enden wird mit der Vernichtung des einen. Wir aber vertrauen dem gerechten Gott, daß wir die Sieger bleiben. Während die Waffen ruhen, bereiten wir uns für den neuen Kampf. Wir haben hier in Not und Enge wie Brüder miteinander gelebt, und treue Genossen bleiben wir einander, wohin uns auch das Schicksal führt. Groß, wie die Niederlage unseres Vaterlandes war, soll auch die Erhebung sein, jeder Preuße, der die Waffen tragen kann, soll ein Krieger werden. Und so scheiden wir voneinander als Männer, welche jederzeit bereit sind, ihr Leben hinzugeben für ihren König und für die Befreiung ihres Vaterlandes. Jeder von Ihnen sammle in dem Kreise, in dem ihn sein Beruf festhält, die Gleichgesinnten. Für mich aber erflehe ich von der Vorsehung als das höchste Glück meines Lebens, daß mir vergönnt werde, Sie wieder um mich zu versammeln an dem Tage, wo wir die Waffen zu neuem Kampfe gegen den bösen Feind erheben.«

Die Begegnung

Wie siehst du jetzt im Frieden aus, liebe alte Stadt? Als der Friede verkündet war, hat man am Sonntage darauf mit drei Glocken zur Kirche geläutet, statt mit zweien; und der Pastor hat von der Kanzel den Herrn um Kraft gebeten, auf daß die Stadt den Frieden ertrage. In deinem Aussehen ist wenig geändert, die Mauern hat niemand gebrochen, und die armen Zunftgenossen, die mit dem Säbel an den Toren standen, sind auch nicht erschossen worden, nur ein bayrischer Soldat hat beim Hinausreiten einen von der Wache aus Rachsucht übel geschlagen, weil ihm das Getränk der Stadt mißfiel. Straßen und Häuser stehen wie sonst, und die Menschen unterhalten sich und mühen sich, sind unzufrieden und hoffen auf eine bessere Zukunft wie immer. Und wenn sie im Wirtshause beieinander sitzen, so fragen sie, ob das wirklich eine Zeit des Friedens sei, in der sie leben. In den Festungen liegen die Franzosen wie in der letzten Zeit des Krieges, französische Generäle regieren in der Hauptstadt, französische Kommandos durchziehen das Land, holen das Vieh aus den Ställen und die Brotfrucht vom Boden, nur daß sie die Gänse und Hühner auf dem Hofe verschonen. Das Zahlen, Liefern und Steuern hat sich im Kriege so eingebürgert, daß man die Gewohnheit im Frieden nicht loswerden kann. Ja, die Last wird ärger, denn neben den Feinden fordert jetzt auch die eigene Regierung. Wo aber sind unsere einquartierten Soldaten geblieben, wo schultert der Posten, der sonst vor der Hauptwache auf und nieder schritt, und wo sitzen die Offiziere vom runden Tisch der Weinstube? Alles verschwunden, die Kompanie ist aufgelöst, die Leute [] haben sich verlaufen, denn der Staat ist sehr klein geworden und soll sich den Luxus eines großen Heeres nicht machen. Nur der Hauptmann ist wieder da und wohnt beim Fleischer Beblow wie sonst, aber in der Dachstube. Er ist auf Halbsold gesetzt, trägt auch nicht mehr seinen blauen Rock, sondern geht wie andere in einem alten, verschossenen Zivilkleide, noch finsterer und mürrischer als sonst, und seine kleine Schwester näht und kocht für ihn und arbeitet zuweilen bis in die Nacht, damit sie ihm mit einem Paket Tabak Freude machen kann; sie bittet und drängt ihn, bis er sich entschließt, des Nachmittags mit ihr auf dem Stadtwall spazierenzugehen, denn ihm selbst ist widerwärtig, daß die Leute ihn in seinem Zustande ansehen. Auch Schuster Schilling ist da, aber die gegenwärtige Konjunktur vermag ihn durchaus nicht zu befriedigen, denn für seine neuen Stiefel findet sich kein rechter Absatz; mancher, der früher Schuhwerk trug, hat die Laune, jetzt barfuß durch die Welt zu gehen. Hutzel steht wieder an seiner Tür, immer noch mißtrauisch; er hat an drei Orten eingegraben und noch nicht alles hervorgeholt, und ißt mit seiner Familie aus Blechlöffeln, weil er sich die bittere Sorge, noch einmal zu verstecken, nicht machen will. Vollends in der Weinstube ist eine Änderung bemerkbar; der ganze erste Tisch und der Tabakskasten sind verschwunden, der Stadtdirektor, ein gedrückter Mann, sitzt jetzt bei den anderen Offizianten, und wenn der Kammerherr einmal vom Gute hereinkommt, so nimmt er seinen Platz neben dem Einnehmer. Nur Herr Köhler ist bis auf seinen Tituskopf ganz der alte, wohlhäbig und schlau; wenn er über den Lauf der Welt gespöttelt hat, zieht er sich daheim unter seine Dichter zurück, auch am Bilde des Alten Fritz hängt noch der Trauerflor. Und wenn er auf dem Stadtwall den Buskows begegnet, so bewegt er seinen Hut mit der Miene, die ihm niemand nachmachen kann. Denn die untere Hälfte seines Gesichtes weist einen finstern Trotz wegen des Storches, und aus den Augen lacht die Befriedigung wegen seiner Verschwörung mit der Sylphe.

Heut aber hat er sein Zimmer festlich geschmückt, er hat selbst in einem Garten der Vorstadt den großen Blumenstrauß geholt und auf den Tisch vor dem Sofa gestellt, und in seiner Küche wird eine Kalbskeule am Spieß gedreht, denn sein Liebling, der Doktor, ist wiedergekommen und zum ersten Male sein Gast.

Der Winter war vergangen und der Sommer in das Land gezogen, bevor der Doktor aus der Grafschaft nach der Stadt zurückkehrte. Er hatte seine Kranken nicht verlassen wollen, und er wußte, daß sein Vetter ihn daheim zur Zufriedenheit der Leute vertrat. Als er jetzt seinem Freunde gegenüberstand, hielt ihm dieser einen gefüllten Becher entgegen.

»Auf solchen Willkommen habe ich mich lange gefreut«, begrüßte ihn Herr Köhler. »Wenn wir alle in diesem Jahre zerstoßen, verärgert [] und zurückgekommen sind, Ihnen hat der Krieg wohlgetan, denn Sie stehen anders vor mir als damals, wo Sie gingen. In Ihnen ist Lebensmut und stolze Sicherheit. Natürlich, wenn wir krank sind, wird der Arzt unser Herr. Nun, ich denke, dies Herrengefühl werden Sie unter uns nicht verlieren, denn wir sind jetzt alle arme Patienten, die nach guten Ärzten seufzen. Heut aber nichts von ärgerlichen Dingen, sondern wie Nestor zur betränten Hekuba sagt: Trink ihn aus, den Trank der Labe, und vergiß den großen Schmerz.«

Als beide in Behagen beieinander saßen, begann der Einnehmer: »Sie bleiben doch jetzt bei uns und mit leichterem Herzen?« Er sah den Freund prüfend an.

»Ich nehme meine Praxis wieder auf«, antwortete dieser, dem fragenden Blick ausweichend. »Meinen Vetter behalte ich hier, bis sich ihm irgendwo Aus sicht auf erfolgreiche Tätigkeit bietet.«

»Hm!« sagte der Einnehmer, »das bedeutet wohl, er soll ins Feld, sobald es wieder losgeht?«

»Er oder ich«, entgegnete der Doktor. Er hob ein Buch, welches aufgesperrt neben ihm lag, und las: »Reden an die deutsche Nation. – Der große Mann erhebt darin strenge Anklage gegen die Selbstsucht und Genußsucht des lebenden Geschlechtes, aber die Ermahnung zur Buße und Einkehr in uns selbst kam den Deutschen zur rechten Stunde.«

»Der Selbstpeinigung wegen lassen wohl auch Sie Ihre Pfeife im Winkel stehen?« fragte der Einnehmer und faltete die Hände: »Ich bekenne die Selbstsucht und Genußsucht meines Jahrhunderts, auch meine eigene. Ich habe seither, wenn der Winter dem Transport günstig war, zwei- bis dreimal ein Dutzend Austern gegessen; waren die Austern nicht frisch, so wurden sie von der Weinwirtin gebraten, das versteht die Frau. Ich bekenne auch die Sünde, daß ich zuweilen ein Glas Ausbruch getrunken habe, und ebenso hatte ich die Selbstsucht, grob zu werden, wenn ein andrer meinen Zaun ungebührlich benutzte. Von solcher Versunkenheit heilt uns der große Napoleon gründlicher als Ihr Professor. Die Austern finden nicht mehr den Weg hierher, und unsere Zäune sind vom Feinde eingerissen und als Brennholz verbraucht. Wenn es jemandem schlecht geht, so kom men die Pastoren mit und ohne Bäffchen und rufen Zeter über die Sündhaftigkeit. Ich denke, bei uns ist weniger schlechte Sitte, Üppigkeit und Selbstsucht, als bei den Franzosen, welche so siegreich über uns triumphieren. Mich kränkt's, daß man jetzt überall die Menschen anklagt und nicht die Verhältnisse, unter denen sie zu leben gezwungen waren. Dennoch muß ich ernstlich darauf bestehen, daß Sie sich diesen Wein mit Genußliebe gefallen lassen, denn ich habe in Hoffnung auf diese Stunde der Versuchung widerstanden, die Flasche allein auszutrinken.«

Der Doktor hatte in den ersten Tagen viel auf die Grüße und [] freundlichen Anreden der Bürger zu antworten. Er erkannte, daß er der Stadt wert geworden, und begann aufs neue seine Tätigkeit in der frohen Empfindung, daß er hier in Wahrheit heimisch war. Unter den ersten Kranken, welche seine Hilfe begehrten, war auch der Hauptmann auf Halbsold. Der Doktor stieg zwei enge Treppen hinauf in eine Dachwohnung; dort fand er den Hauptmann verfallen und mürrisch in seinem Bett, davor das kleine Fräulein, mit einer Arbeit beschäftigt. Es war keine tödliche Krankheit, nur die Nachwirkung der früheren Strapazen und befördert, wie der Arzt argwöhnte, durch die schmale Kost, denn in Kammer und Stube sah es dürftig aus. Ein kleines altes Sofa, mit geblümtem Baumwollstoff überzogen, war von Sonne und Luft so gebleicht, daß man die ursprüngliche Farbe nur an viereckigen Stücken erkannte, welche an einer geschützten Stelle ausgeschnitten und von vorn eingesetzt waren. Über dem Sofa hing das Pastellbild eines älteren Offiziers, wahrscheinlich des verstorbenen Vaters. Der Doktor ließ sich, um zu verschreiben, von der Schwester in ihr kleines Hinterstübchen führen, lobte die Aussicht, welche hinter den Dächern der Nachbarhäuser den Stadtwald und die blauen Berge wies, tröstete die Besorgte und freute sich über die ruhige Sicherheit, mit welcher die kleine Dame sich in ihren Wänden bewegte, und daß, bei aller Einfachheit, der Raum so sauber und wohnlich war. Als er herunterkam, winkte ihn die Hauswirtin in ihre Stube. »Es geht knapp dort oben zu«, sagte sie vertraulich, »und die Schwester näht bis in die Nacht, wenn sie Arbeit findet. Du lieber Gott, wer hat jetzt Geld, um andere nähen zu lassen? Ich habe es übernommen, ihr Arbeit zu verschaffen; wenn Sie unter Ihren Bekannten jemanden wüßten; das Wartegeld des Bruders reicht ja nicht viel weiter als zur Miete, die aber bezahlt er jeden ersten. Sie glauben gar nicht, wie tätig unser Fräulein ist; sie hat immer noch Hilfe für andere übrig, und man hört sie niemals klagen.«

Seitdem wurde der Doktor ein regelmäßiger Besucher der Geschwister; die aufrichtige Hochachtung, welche er der Schwester bewies, tat auch dem Bruder wohl, und er wurde bald nicht mehr mit mürrischem Argwohn betrachtet. Einst vernahm er schon auf der Treppe Musik, und als auf sein Klopfen nicht geantwortet wurde, trat er endlich ein. Der Hauptmann saß im Bett und spielte leise auf einer alten Geige, Minchen aber stand daneben vor ihrem Notenpult und blies die Flöte. Da der Doktor vor Jahren sich auf demselben Instrument geübt hatte, so verstand er, daß sie mit Fertigkeit und mit gutem Ansatz zu blasen wußte. Errötend legte sie die Flöte weg; da aber der Arzt sie beim Abschiede an der Treppe bat, ihrer Gesundheit wegen das eifrige Blasen zu meiden, winkte sie ihn wieder in ihre Stube und sagte vergnügt: »Wundern Sie sich nicht darüber; ich habe die Flöte, als der selige Vater noch lebte, bei [] der Kompanie gelernt, und sie greift mir die Brust gar nicht an. Weil der Bruder oft bekümmert ist über seine Untätigkeit und über unsere beschränkte Lage, so haben wir uns ausgedacht, wenn er erst wieder gesund ist, wollen wir miteinander auf Reisen gehen und kleine Konzerte geben; wir nehmen einen fremden Namen an, und wenn wir etwas erworben haben, kommen wir wieder hierher zurück. Es fehlt uns nur manchmal an Noten, die ich für mich abschreiben könnte.«

»Was ich selbst besitze, steht Ihnen zu Diensten.« Das war dem Fräulein lieb, und ein Austausch wurde beschlossen.

Da der Doktor von jenem Besuche des Fräuleins bei dem Einnehmer gehört hatte, so vertraute er dem Freunde an, was er jetzt vernommen. »Das Auswandern sieht ihr ähnlich«, antwortete dieser trocken, »das kommt von den Reisebeschreibungen; mich wundert nur, daß sie nicht die Pickelflöte bläst.«

Aber er ging am nächsten Tage zum Kaufmann, erstand ein Schock feine Leinwand und gebot der Haushälterin, diese mit einer Probe seiner Wäsche zu Frau Beblow zu tragen.

Dasselbe wiederholte sich mehrere Male, bis endlich die Haushälterin bei einer neuen Bestellung Einwände erhob: »Aber Herr Einnehmer, der ganze Schrank ist ja voll Wäsche; es ist mehr Vorrat von Bettzeug, Tischzeug und Leibwäsche, als Sie in Ihrem Leben gebrauchen können, und die neue Wäsche liegt ganz unbenutzt.«

»Das versteht Sie nicht«, bedeutete Herr Köhler unwillig, »ich gedenke steinalt zu werden. Kennt Sie die Geschichte von den sieben fetten und magern Kühen des Pharao?« Die Haushälterin wußte von den sieben Kühen und von den sieben Ähren. »Lese Sie den Vorfall aufs neue durch!« befahl der Herr. »Ein vorsichtiger Wirt, muß beizeiten einschaffen. In kurzem kommen die mageren Jahre, wo alle unsere Weber gegen die Franzosen marschieren müssen. Dann wird alle Leinwand aufhören.«

In der Geißblattlaube des Pfarrgartens saßen Henriette und Bärbel, die Schulzentochter. Auf dem Tisch vor ihnen lag ein kleiner Berg grüner Bohnen, Bärbel hatte, um während ihres Besuches nicht müßig zu sitzen, ein Messer genommen und schnitt in die Schüssel, welche sie im Schoße hielt. Auch für die Unterhaltung sorgte die junge Frau fast ganz allein, denn Henriette saß schweigsam, und die Hand sank zuweilen herab. Sie mochten wohl an Trauriges gedacht haben; Bärbel fuhr sich mit dem Rücken der Hand über die Augen, als sie sagte: »Mir gruselt's, wenn ich bei der Scheune vorbeigehe. Und dann die Verwüstung bei euch, die Schafherde kann ich gar nicht vergessen. Dieses Unglück haben wir nicht gehabt, denn wie die schlechten Nachrichten kamen, sagte mein Karl zu mir: [] ›Bärbel‹, sagte er, ›als der Vater auf dem Totenbette lag und schon fast ganz hinüber war, richtete er sich noch einmal auf und sprach: Karl, wenn Krieg wird, schlachte zuerst die Schafe!‹ Diese letzten Worte des Alten haben wir befolgt; was wir nicht sogleich verkaufen konnten, haben wir geräuchert, und meiner hat es auf unserem Heuboden unter alten Brettern versteckt. Dort hat es niemand gefunden, nur daß wir selbst unser Vieh aufessen mußten. Aber so geht's im Kriege. – Das beste ist noch, daß sie eure silberne Kelle nicht fortgetragen haben, denn diese ist ein schönes Stück und gebührt dir zu deiner Ausstattung.«

Henriette machte eine abwehrende Bewegung.

»Du bist heut wieder traurig«, sagte Bärbel, »willst du allein sein? Ich komme ein andermal.«

»O bleibe«, bat Henriette; »ich kann mit dir über das Vergangene besser reden als mit Vater und Mutter.«

Bärbel setzte sich wieder fest und schlug die Arme übereinander. »So rede«, sagte sie, »denn aus dem stillen Kummer kommt nichts Gutes heraus. Das hauptsächlichste bei der ganzen Geschichte ist: Welchen willst du haben?«

»Wie kannst du so fragen!«

»Das versteht sich«, antwortete die Freundin, »wenn ich an einer Wegzwiesel stehe, so muß ich doch wissen, ob rechts oder links, und ein Mädchen muß auch darauf denken, welcher Ehemann sich für sie schickt. Als ich meinem Karl gut wurde, stürte er mit seinen Augen noch unter allen Mädchen herum, ich aber winkte ihm mit dem Ellenbogen, wie man so sagt, und ich bekam ihn. Du hast ihrer zwei. Sind sie dir beide recht, jeder in seiner Art, so warte ruhig ab und gräme dich nicht um sie.« Henriette schüttelte mit dem Kopf. »Ist aber einer unter ihnen, den du gern hättest, und ein anderer, den du gar nicht magst, so rede: Welchen willst du?«

Da sah Henriette nach der Gartenbank zur Seite, wo sie einst mit dem Besuch gesessen hatte, und sagte leise: »Den Doktor.«

»Er hat mir gut gefallen«, versetzte Bärbel, mit dem Kopf nickend, »er ist auch jetzt bei Wege, denn, wie man hört, fährt er wieder in die Dörfer. Der andere aber soll auch ein schöner Mann sein und dabei sehr martialisch.«

»Er ist mein Retter, Bärbel, aber er war mir fürchterlich. Er weiß wohl, daß ich den Finger krumm bog, als er den Ring daran stecken wollte.«

»Wenn du unsern Hiesigen haben willst und den Fremden nicht«, fuhr Bärbel mit unerbittlicher Logik fort, »so muß zuerst der Hiesige das merken. Ist er dir gut, wie du ihm, so kannst du auch Vertrauen zu ihm haben, und er kann dir raten, wie du den andern los wirst, da der Herr Senior das nicht vermag. Mein Karl«, setzte sie stolz hinzu, »würde den andern durchwamsen, wenn dieser auch [] noch so sehr mit seinem Säbel herumflunkerte. Doch das geht bei euch nicht.«

Henriette stand schnell auf und rief entsetzt: »Denke an das Blut, das bei der Scheune vergossen wurde.« Auch die Freundin schwieg eine Weile, aber sie ließ sich nicht beirren: »Der Doktor ist ein gesetzter Mann und weiß in der Welt Bescheid. Er würde wohl einen Weg finden.«

»Er ging bei mir vorüber«, klagte Henriette, »und sprach kein Wort zu mir; die Soldatenbraut war ihm verleidet. Meine gequälte Seele sehnte sich danach, ihm alles zu sagen; er aber grüßte so fremd und hart, daß mir fast das Herz brach.«

»Ihm war der Kopf dick, da der Herr Senior ihm gerade vorgeklagt hatte. Die Männer haben auch ihre Eifersucht, dann sind sie unvernünftig. Du aber mußt wissen, ob er dir noch gut ist, dadurch wirst du einen bessern Mut gewinnen, und du wirst dein Schicksal nicht mehr so allein herumtragen.«

»Du bist eine treue Freundin«, sagte Henriette, dankbar auf Bärbel sehend.

»Das ist schon recht«, bestätigte diese, »aber ich bin kein Mann. Komm, die Bohnen werden welk.« Und sie ergriff wieder das Messer.

Während der Arbeit überlegte Bärbel, wie sie selbst an den Doktor kommen könne. Denn ihr war deutlich, daß das Pfarrkind niemals den Mut haben werde, ihn anzustoßen. Auch für sie war die Sache schwer. Der Doktor wohnte fünf Meilen entfernt in anderem Kreise, Gelegenheit dorthin war selten, und hinzufahren ging während der Ernte vollends nicht an. Im Briefschreiben war sie immer tüchtig gewesen, aber solche Geschichten konnte man doch in keinen Brief setzen. Sie sann also über jedes Wort, das sie damals von dem Gaste vernommen. Endlich fiel ihr ein, daß dieser studierte Mann eine törichte Grille in seinem Kopfe hatte, diese wollte sie am Flügel fassen.

Sie bog deshalb bei der Heimkehr vom Wege ab nach der Hütte des alten Christian. Sie fand den Schäfer, der seit dem Verlust seiner Herde trübsinnig geworden war, allein in seiner Stube, wie er an einem Vogelbauer schnitzte. »Schäfer, ich habe vor dem Kriege gesehen, daß der Herr Senior in der Schublade allerlei Steine hielt, die man Feuersteine nennt. Diese habt Ihr doch Eurem Herrn aus der Erde geholt?«

»Das ist wohl möglich«, antwortete Christian vorsichtig.

»Könnt Ihr auch mir einen solchen Stein schaffen?«

»Wozu wollt Ihr ihn gebrauchen, junge Frau?« fragte der Alte.

»Er soll nicht für uns, nur für einen Bekannten. Sie sagen, wenn man so etwas unter das Kopfkissen legt, dann erinnert man sich an allerlei, was man vergessen hat.«

[] »Das ist nicht wahr, solche Kraft ist nicht darin«, versetzte der Schäfer, der selbst praktizierte und nicht leiden konnte, daß andere mehr wußten als er.

»Mein Bekannter macht einmal großes Wesen von diesen Steinen, und da will ich ihm behilflich sein; habt Ihr also davon, so gebt her.«

Der Schäfer brachte einen ziemlich großen Stein hervor. »Er hat sogar ein Loch, und ich will ihn mir selbst aufbewahren«, sagte er, um ihn nicht umsonst hinzugeben. Aber Bärbel ließ sich die Ware nicht verteuern und nahm ihm den Stein aus der Hand. »Ach was, an dem grauen Ding ist Euch auch nichts gelegen«, versetzte sie; »wenn wir im Herbst schlachten, bringe ich Euch etwas Besseres dagegen.« Und sie trug den Stein in ihrem Korbe nach Hause. Unterwegs wurde ihr auch der Umweg deutlich, auf dem sie das Geschenk in die Hände des Doktors spielen wollte. In dem Marktflecken, der auf halbem Wege zur Kreisstadt lag, war ihre Gespielin Liesel an den Ackerwirt Krause verheiratet, und in dem Flecken hatte der Arzt zuweilen zu tun.

So geschah es; Bärbel winkte dem Liesel, und dieses rührte mit dem Ellenbogen den Doktor an. Denn als kurz darauf sein Wagen vor dem Wirtshause des Fleckens hielt, schickte die Wirtin eilends einen barfüßigen Jungen zu Krauses. Und nicht lange darauf kam Liesel heran und fragte schüchtern, ob der Herr sich noch auf sie und ihre Gespielin erinnere, die einmal mit ihm in der Pfarre zusammengewesen waren.

Wie gut erinnerte sich der Doktor daran! Als die junge Frau bemerkte, daß ihm die Begegnung etwas Großes war, fühlte sie sogleich ihre Überlegenheit, zog den Stein dreist aus der Tasche und log, er sei von Bärbel gefunden, und diese hätte gemeint, da der Herr sich aus den Steinen etwas mache und schon die andern habe, so müßte er diesen auch erhalten. »Da ich dies gesagt hatte«, erzählte nachher Liesel ihrer Gepielin, »so tat ich, als wollte ich gehen; denn, dachte ich, er muß anfangen, wenn er jetzt wie ein Stock steht, so liegt ihm nichts an dem Jettchen. Er aber wurde Feuer über und über und fragte mich nach allem in der Pfarre aus, so daß ich zuletzt wie dumm sagte: ›Sie sollten einmal wieder hin; es würden sich gewiß alle freuen.‹ Da schüttelte er mit dem Kopf, ich aber tat, als hätte ich's nicht gesehen, und redete herzhaft weiter: ›Denen in der Pfarre sind auch die Franzosen verleidet worden.‹ Darauf sah er mich groß an und fragte: ›Auch dem Fräulein Henriette?‹ ›Der am meisten‹, antwortete ich, ›das ist doch natürlich.‹ Mehr war nicht zu reden, denn die Wirtin stand in der Nähe, und ich wandte mich nur noch zu der Wirtin, gar nicht zu ihm, und sagte: ›Wenn die Bellerwitzin mit der großen Kutsche vorbeifährt, so sagen Sie doch dem Bedienten, die Frau Krause ließe Mamsell Henriette schön grüßen, denn das Pfarrfräulein kommt in der [] nächsten Woche für einige Zeit zum Besuch auf das Schloß.‹ Da wußte er's«, setzte Liesel stolz hinzu, »und es ging ihm im Kopfe herum.«

»Du warst immer die Schlaue«, sagte Bärbel bewundernd. Und als sie gleich am nächsten Tage nach der Pfarre kam, erzählte sie ihrer Freudin: »Am gestrigen Sonntage war die Gespielin mit ihrem Manne bei uns, sie wären gern herübergekommen, nur ging es nicht wegen ihres Kleinen, den sie mit hatte; ist das ein dicker Junge! – Denke dir, sie hat neulich im Wirtshause den Doktor getroffen, der hat sich nach allem bei euch erkundigt und am meisten nach dir, und er wurde dabei ganz feurig und rot, so daß die Gespielin sagte: Du kannst glauben, er ist ihr gut.«

Henriette antwortete nicht, sie stand mit gesenktem Haupt, und ihre Hände zerpflückten die Astern, welche sie dem Bärbel mitgeben wollte, sie sprach auch später kein Wort von dem Doktor, aber sie erzählte von vielem anderen und bestand darauf, die Freundin ein Stück zu begleiten.

Als sie zwischen den Getreidefeldern heimkehrte, lief die Wachtel im Korn neben ihr dahin und ließ ihren Ruf erschallen. Lange hatte die Jungfrau der Hoffnung entsagt und in herber Trauer tröstende Stimmen, die leise an ihr Ohr klangen, weggescheucht; heut hörte sie auf die Sängerin, welche sich immer verbirgt und aus dem Versteck Günstiges kündet.

In der Nähe des Hofes empfing sie den artigen Gruß des Landrats, welcher gerade aus dem Tore fuhr. Daheim waren die Eltern in lebhaftem Gespräch und heiterer, als sie seit langer Zeit gewesen waren. »Denke dir«, rief der Vater, auf einige große Geldrollen weisend, »unverhofft ist das Glück bei uns eingekehrt. Vor einigen Wochen war ich aufgefordert wor den, die Verluste, welche wir in der Kriegszeit erlitten haben, zu berechnen. Es war keine geringe Summe, das viele Vieh und der Schüttboden. Ich erstaunte selbst darüber und dachte, zurückerhalten werden wir in dieser eisernen Zeit doch nichts. Heut legt der Landrat die ganze Summe auf den Tisch und sagt, von der französischen Generalität sei der Befehl ergangen, mir den Betrag auszuzahlen. Auch sei ihm mitgeteilt, daß die französischen Kommandos, welche aus den Festungen geschickt werden, um von den Kreisen Proviant einzutreiben, vom Pfarrhofe nichts mehr zu beziehen hätten, und wir sollen fortan von den Leistungen frei sein.«

Henriette schwieg.

»Die Schulzenfrau hat eine gute Milchkuh zu verkaufen«, sagte hoffnungsvoll die Mutter.

»Und Christian erhält seine Schafherde zurück«, ergänzte der Senior.

Die rosige Farbe, welche die Tochter auf den Wangen heimgebracht, [] war erblichen, als sie fragte: »Erhalten auch alle anderen ebenso wie wir in Gelde zurück, was ihnen geraubt ist?« Der Senior sah seine Tochter betroffen an. »Das wohl nicht; der Landrat meinte, es sei eine besondere Gunst.« »Und weshalb wird uns gewährt, was andern versagt bleibt?« fragte die Tochter wieder.

»Das sagte der Landrat nicht«, antwortete der Alte, erschreckt durch das Aussehen seines Kindes. »Er wünschte nur lächelnd Glück zu der einflußreichen Verwendung.«

»Der Kapitän hat es bewirkt«, entschied die Mutter, »ich dachte mir längst, er würde einmal von sich hören lassen.« Henriette faltete die Hände und starrte vor sich hin. Zu der alten Fessel ein neuer Ring und zu dem alten Jammer neuer Streit! »Was ist dir, meine Tochter?« fragte der Vater.

»Sie regt sich wieder auf, weil von dem Kapitän die Rede ist«, sagte die Mutter unzufrieden.

»Mein Vater, warum hast du dies Geld genommen? Aus den Beuteln unserer Nachbarn haben es die Franzosen erpreßt, um dir ein Geschenk zu machen, und wenn wir befreit bleiben, müssen unsere Nachbarn den Fremden mehr zinsen als seither. An diesen Rollen hängt ein Fluch, die Seufzer und Tränen von Hunderten.«

»Du übertreibst!« sagte der Senior unsicher; »und doch ist dein Einwand nicht unbegründet. Aber im Vergleich zum Ganzen ist dieser Betrag so unbedeutend, daß die Landsleute den Verlust in ihrem Beutel kaum bemerken werden.« Und die Mutter erinnerte: »Dafür haben wir auch mehr gelitten und verloren als andere.«

»Und wäre unser Schaden zehnmal und hundertmal größer, so müßte uns der Gedanke doch bedrücken, daß wir besser und anders gehalten werden als unsere Nachbarn. Vater, wenn du mich liebst, so flehe ich: gib das Geld zurück.«

»Wem?« fragte der Senior. »Wenn ich die angebotene Gunst zurückweise, so muß solche Weigerung uns übel ausgelegt werden, und wir haben bei Gelegenheit neue Quälerei zu erwarten; das Geld aber werden die Franzosen vergnügt selbst behalten, dem Kreise wird es doch nicht zugute kommen. Ich habe es angenommen und quittiert und kann dem Landrat nicht sagen: Es tut mir leid.«

»So verbirg die Rollen in der dunkelsten Ecke und wahre dich, lieber Vater, daß du sie nicht öffnest in Mangel und Not, denn wisse, jeder Groschen davon wird einst von dir zurückgefordert werden.«

»Durch wen?« fragte der Senior erstaunt.

»Durch deine Tochter«, rief Henriette außer sich; »diese Rollen gehören zu dem Kaufpreis, den ein Fremder dafür zahlt, daß er mich wie eine Gefangene am goldenen Ringe hinter sich herziehen darf. Übergroß ist ohnedies die Verpflichtung, die wir gegen ihn haben, und mit ihrem Lebensglück bezahlt dein Kind unsere Rettung [] aus der Gefahr. Nimm nicht neue Gunst und Geschenke, wir tragen schon schwer genug an den alten.«

Der Vater hob die Geldrollen vom Tisch und verschloß sie in seinem Schrank. »Ich tue, wie du willst, mein Kind. Täglich bete ich, daß die Unsicherheit aufhören möge, die ein Brautstand ohne Bräutigam uns bereitet, und bei jeder Nachricht von Siegen des Kaisers hoffe ich, daß der Mann wieder für uns erreichbar wird, welcher bei der Entscheidung nötig ist.«

»Ich hoffe nicht mehr«, sprach Henriette vor sich hin.

Es war kein Zufall, daß in der nächsten Woche der Wagen des Doktors beim Hause des Kammerherrn vorfuhr. Der Gast wurde in der Besuchstube von der gnädigen Frau empfangen, nachdem sie noch mit einem schnellen Blick in den Spiegel ihre Toilette geordnet hatte. Denn der Doktor war bei ihr in besondere Gunst gekommen, zuerst vielleicht, weil er gute Formen hatte und doch im geheimen ein Sansculotte war; bald aber, weil sie ein ehrliches Zutrauen zu seinem Gemüt gewann und zu seinem Geschick, auf ihre Ideen einzugehen. Denn die gnädige Frau war nicht die vornehmste Dame im Kreise, aber die rührigste. Sie war in der Residenz einigemal von der Königin besonders beachtet worden und galt dafür, der hohen Frau ähnlich zu sein, nur daß ihr Näschen etwas spitzer war. Sie trug sich deshalb gern wie ihr Vorbild: Lockenhaar, einen kleinen Schleier um den Hals. In der Tat hatte sie einen weiteren Gesichtskreis als andere Frauen in der Nähe, sie wußte sich etwas damit, daß eine ihrer Cousinen am Hofe von Weimar war, und sprach begeistert über Poesie und über das Ideale; sie war besonders zuvorkommend gegen Bürgerliche, und immer voran, wo es galt, Vornehme zu begrüßen, Feste zu feiern und den Armen Strümpfe zu stricken, zu denen die Schuhe fehlten. Von ihr und ihrem Gemahl war deshalb oft die Rede. Obwohl Spötter ihnen die Beflissenheit, mit der sie sich um alles kümmerten, zum Vorwurf machten, so waren sie doch im ganzen Kreise wohlbeleumdet und nicht unbeliebt.

»Willkommen aus Rübezahls Reich!« begrüßte die Dame den Doktor. »Heut halten wir den flüchtigen Gast fest; Sie sollen von Ihren Abenteuern erzählen. Ihr Graf fuhr auf der Durchreise bei uns vor, und wir haben ihn auch nach Ihnen ausgefragt. Ein bedeutender Mann, leider so kränklich, und doch ist er nicht älter als der Kammerherr, kaum über vierzig, und war noch vor wenigen Jahren einer der elegantesten Tänzer bei den Françaisen am Hofe. Aber die Politik macht die Männer jetzt merkwürdig alt, und doch stand diese Karriere sonst überall in dem Ruf, daß sie am besten konserviere. – Und die furchtbaren Krankheiten, mit welchen Sie zu tun hatten, man hört davon Schauderhaftes. Ach, Doktor, und des Friedens kann man sich auch nicht freuen. Dennoch hoffe ich, [] daß die Männer jetzt mehr Zeit und Gemüt für uns Frauen übrig haben, denn seither war die Unterhaltung von einer traurigen Eintönigkeit: Pferdemangel und Kanonendonner, und man machte sich ein Gewissen daraus, einen Walzer zum Klavier zu tanzen. Sie finden meinen Mann nicht zu Hause, doch dürfen wir ihn jede Stunde erwarten, außerdem ist heut ein lieber Besuch bei mir, den Sie ja auch kennen, die Tochter des Seniors, sie hat den Beinamen ›die Franzosenbraut‹, aber sie ist scharmant, nur ernster als sonst, doch steht es ihr gut.«

So unterhielt die lebhafte Hausfrau, und dem Doktor war lieb, daß sie die Beschwerden allein trug, bis sie sich endlich entschloß, ihn in das Familienzimmer zu führen. Henriette saß neben den kleinen Töchtern vom Hause. Als der Gast eintrat, erhob sie sich langsam, ihn zu begrüßen. Sie hatte sich gemüht, ihr pochendes Herz zur Ruhe zu bringen, dennoch stand sie ihm bleich vor innerer Erregung gegenüber, und nicht anders erging es dem kräftigen Manne. Er fand mit Mühe die schicklichen Worte, sich nach den Eltern und dem Garten zu erkundigen. Sie antwortete ihm, nachdem die erste Befangenheit überwunden war, mit ruhiger Haltung, aber er fühlte heraus, daß sie sich Zwang antat. Die Kammerherrin lud hinaus in den Park. Beiden wurde im Freien und in der Bewegung unter den andern leichter zumute, und doch empfanden sie, daß sie in dieser Stunde zueinander gehörten und wie lästig die gleichgültige Unterhaltung war, an der auch sie teilnehmen mußten. Endlich wurde die Hausfrau abgerufen, und die beiden jungen Fräulein liefen nach dem Obstgarten voraus. Der Doktor und Henriette standen an der Landestelle des Schloßteiches, und vor ihnen war ein kleiner Kahn am Ufer befestigt. Da wies der Doktor mit einem bittenden Blick auf den Kahn, das Mädchen trat hinein und setzte sich schweigend nieder, er löste die Kette, ergriff das Ruder und fuhr so weit vom Ufer ab, daß das gesprochene Wort für fremde Ohren verklang. Während er das Fahrzeug vorwärtstrieb, wagte er in leisen Worten von seiner Liebe zu reden und von seiner Trauer. Die Blätter der Seerosen auf dem Wasser hoben und senkten sich, als ob das Beben seiner Stimme auch sie errege.

Solange er sprach, blickte sie unverwandt auf den Finger ihrer Hand, an welchem der Ring mit dem Vergißmeinnicht fehlte. »Ich lag hilflos am Boden«, begann sie langsam, ohne ihn anzusehen, »gedemütigt, mißhandelt, da hat er mich befreit. Als er den Unhold zwang, zu entweichen, und als er wieder eintrat und mir zurief, daß der andere gefallen sei, da, der Herr verzeihe mir die Sünde, meinte ich die Schmach von mir genommen, und mir war auf Augenblicke, als müßte ich fortan dem Manne folgen, der mich gerächt hatte. Zürnen Sie mir, verachten Sie mich, daß ich so fühlte, nicht wie eine Christin und ein ehrbares Mädchen soll, aber es war so, und ich [] darf die Wahrheit nicht bergen, am wenigsten Ihnen. Und wäre er davongeritten, wie er kam, als ein Fremder, so hätte ich ihm nachgesehen wie meinem Heiligen. Aber eine Demütigung hat er von mir genommen, und eine andere hat er mir an den Finger gesteckt. Daß er mich in meiner Erniedrigung gleich einem Nichts behandelte, welches er sich erkaufen und aneignen könne durch ein unwahres Wort, darum empörte sich mein Gemüt wieder gegen ihn wie gegen die Missetäter, und ich vermochte ihm für seine schnelle Hilfe, die mich gerettet, nicht zu danken.«

Auch der Mann, welcher ihr gegenübersaß, starrte finster zur Seite auf die Wellenringe, welche über das Wasser zogen. Und er fragte tonlos: »So war Ihr Gefühl damals; wie wurde es später?«

»Wie es damals war, so ist es noch heut«, antwortete Henriette in derselben Weise. »Um meinetwillen hat er einen Menschen getötet, und daß ich noch unter andern mein Haupt erheben darf, verdanke ich ihm; dies sind feste Bande, ich vermag sie nicht zu lösen; weil aber seine Hand selbst die Kette um mich gelegt hat, mich anzuschließen an sein Geschick, zürne ich ihm noch heute wie damals, denn er hat damit zerstört, was in meinem Leben fröhlich war, unschuldig und glückverheißend.« Jetzt sah sie ihn an und er sie, und aus ihren Augen quollen die Tränen.

»Und wenn er wiederkommt und Ihre Hand für sich fordert?«

Ein finsterer Schatten flog über ihr Antlitz. »Ich würde ihm dasselbe sagen, was ich heut Ihnen sage: Seine Frau kann ich nicht werden, und einem andern darf ich nicht angehören, solange er sein Anrecht behaupten will.«

»Sie nennen es ein Recht des Fremden? Es war ein übermütiger Einfall, ein ruchloses Spiel! Wie kann solche Tat ihm ein Anrecht an Ihr Leben geben?«

»Zuerst war es ein wilder Einfall, mit der Zeit ist es ein Anspruch geworden. Schon das zweite Jahr trage ich die Last, mit jedem Tage sind die Bande fester geworden, welche mich an ihn schnüren, die Leute betrachten mich als seine Braut, die eigenen Eltern möchten gern das Furchtbare sich und mir verhüllen; der Vater vertraut, daß der Himmel alles ohne sein Zutun fügen werde, die Mutter hofft, daß der Fremde ihrem Kinde einmal Schützer und Versorger werden könne. Ich hatte in den ersten Tagen und Wochen niemanden, vor dem ich mein Elend hätte klagen können, damit er mir rate und mich befreie. Gab es damals einen, der mir in seinem Herzen freundlich gesinnt war, so fühlte auch dieser sich mir entfremdet und ging mit höflicher Kälte an mir vorüber.«

»Henriette!« schrie der Doktor entsetzt.

Sie aber zog ihr Tuch um sich und fuhr traurig fort: »In dieser langen Zeit bin ich ruhiger geworden. Die Fessel, die ich trage, wird schwerer, als sie vormals war, aber ich bin gewöhnt, sie zu [] tragen. In Harren und Leiden ist der Frohsinn untergegangen und die Hoffnung, die einst ein törichtes Mädchen hegte. Ich trage mein Teil still; andere tun es auch.«

»In jenen Monaten bat jemand, der Ihnen von Herzen ergeben ist und der gern sein Leben für Sie hingeben würde, durch Ihren Vater, daß Sie ihm Ihr Vertrauen gewähren.«

»Dem Mitgefühl des Arztes hatte ich nichts zu vertrauen«, antwortete Henriette stolz, »und einem Manne, an dessen Freundschaft ich gern dachte, sah ich bei der Begegnung an seinen Augen an, daß für ihn das Mädchen, welches die fremden Soldaten an sich gerissen hatten, nicht mehr denselben Wert hatte wie das unschuldige Pfarrkind, das ihm die Kleeblätter pflückte.«

»Henriette!« rief der Mann wieder – »zu dem Leid, das ich trage, fügen Sie ein neues, wenn Sie mich so grausam verkennen. Da ich Sie zuerst sah, wurde ich Ihnen gut, wie ich noch keinem Weibe gewesen, es war in meinem einsamen Leben die erste Liebe, und ich war selig, wenn ich an Sie dachte und mich an Ihre Seite. Da kam die Erzählung des Vaters; aus seinen Worten klang vieles, was mir wie Grabgeläut meines stillen Wunsches erschien. Welches Recht hatte ich auf Ihre Neigung? Was wußte ich davon? Sie hatten sich mir herzlich zugeneigt in froher Stunde, aber zweifelnd fragte ich mich, welchen Wert meine Liebe für Sie haben könne; und die Antwort, die ich mir selbst gab, war: daß ich noch wenig für Ihr Herz bedeuten konnte. Als ich von dem letzten Besuch nach Hause kam, habe ich mit dem Gedanken gerungen, ob ich es wagen dürfe, Ihnen zu schreiben und Sie von meiner Leidenschaft zu unterhalten. Ich war mutlos, Henriette, denn nicht ich hatte Sie an dem Schurken gerächt. Seitdem erst habe ich selbst erkannt, wie heiß und stark das Gefühl ist, das ich in mir herumtrage. Lassen Sie sich gefallen, daß ich Ihnen dies heut sage: Fürchterlich und unerträglich ist mir der Gedanke, daß Sie mir fremd werden können.«

Sie saß aufgerichtet im Kahne und zwang sich, fest zu scheinen, aber die Tränen rollten von ihren Augen.

»Ich wage in dieser Stunde nicht davon zu reden«, fuhr der Liebende fort, »was geschehen muß, um die Last einer unmenschlichen Verpflichtung von Ihnen zu nehmen. Vielleicht vermag ich dies, aber nur mit Ihrer Hilfe. Und darum flehe ich nur um das eine: daß Sie sich meine stille Verehrung gefallen lassen und daß Sie zuweilen daran denken, wie in Ihrer Nähe ein Mann lebt, dem Ihr Glück weit teurer ist als sein Leben, und dessen höchster Lebenswunsch ist, Ihre Liebe und Ihre Hand für sich zu erringen.«

Sie bewegte abweisend das Haupt, als sie traurig sagte: »Es ist an meinem Unglück genug; vergessen Sie mich.« Aber als sie ihn einen Augenblick ansah, drang ein heller Strahl ihm in die Seele. Dann blickte sie wieder abwärts und weinte still vor sich hin, er[] aber bewegte leise das Ruder und führte den Kahn dem Lande zu, wo die Hausfrau sie bereits erwartete.

Als der Doktor nach Hause fuhr, lag die Landschaft vor ihm im Zauberglanze der Nacht. Sein alter, sanfter Freund blickte vom dunklen Nachthimmel traulich über die schlafende Erde. Lichter und Schatten zogen in schnellem Wechsel vorüber, jeder Hof und jede Baumgruppe standen geheimnisvoll in farbigem Scheine, der doch keine Farbe war. Nur in leisen Tönen klang das Leben der Natur, die Grillen zirpten im Korn, und eine große Nachtmotte schwirrte an seinem Hut: so weich und mild die Luft und so schön die träumende Welt rings um ihn her! Er aber achtete wenig darauf; ihm selbst war sein Dasein aus dem Dämmerschein sehnsüchtiger Erwartung hineingeworfen in scharfes Tageslicht und in die heiße Leidenschaft der Wirklichkeit. Wie sie vor ihm saß im Kahne, da war sie dasselbe Mädchen gewesen, das er geküßt hatte, und zugleich eine andere, ein stolzes und kräftiges Weib; es waren die Umrisse des Angesichtes, welches ihn einst in mädchenhafter Zärtlichkeit angesehen hatte, aber etwas anderes war in ihr Wesen gekommen: die Brauen zusammengezogen, das ganze Antlitz größer, die Gestalt fester, sogar die Stimme klang ihm tiefer und ernster in das Ohr. Ihren Willen setzte sie gegen den seinen, und fest wehrte sie sein Bitten und Drängen ab. Sie hatten die Rollen gewechselt, er war der sehnsuchtsvoll Harrende geworden, und sie hatte in überlegener Haltung von dem gesprochen, was sie für Pflicht hielt. Dennoch empfand er, daß sie ihm noch nie so lieb gewesen wie in dieser Stunde. – Und er sollte ihr entsagen! Aber als sie das forderte, war sie weich geworden und ihr innerer Kampf wohl erkennbar. In dem Augenblick lag in ihren Augen und dem Ton der Stimme so viel Schmerz und Liebe, daß nicht die strengen Worte in ihm hafteten, sondern die tiefe Empfindung, welche sie dahinter verbarg.

Er strich sich über die heiße Schläfe und mahnte sich zu bedächtiger Überlegung. Was mußte er tun, um sie dem andern zu entreißen und für sich zu gewinnen? Schmachvoll dünkte ihn zu ertragen, daß der übermütige Franzose durch wildes Spiel mit dem eigenen und fremden Leben ein Recht gewonnen hatte über die Tage der Jungfrau und über die Zukunft eines deutschen Mannes; und ganz unleidlich, daß im günstigsten Fall das Glück redlicher Menschen abhängen sollte von Laune und Entscheidung eines Rivalen. Wilde Gedanken zogen wie Nachtvögel durch sein Hirn: War von zweien einer zuviel auf Erden? Aber er scheuchte die finstere Versuchung hinweg. Vergossenes Blut hatte dies unheimliche Bündnis gefestigt, neuer Tod vermochte den Überlebenden ein reines Glück nicht zu verschaffen. Was hier not tat vor allem, war das eine, daß er selbst sich ihr wert machte. Nur die Neigung zu ihm konnte ihr den Entschluß geben, sich von dem andern zu lösen trotz allem, was[] sie jetzt ihre Pflicht nannte und was sie ihm wie einen Schild zur Abwehr entgegenhielt. Ja, er selbst mußte Buße zahlen dafür, daß ihn bei der letzten Begegnung im Pfarrhause allzusehr der eigene Schmerz beschäftigt hatte und zu wenig ihre Leiden. Er wollte sie wiedersehen, sooft das möglich war, ohne daß er sich aufdrängte, er wollte ihre Zurückhaltung ehren und seine Rede behüten, aber wissen mußte sie fortan zu jeder Stunde, daß ein treues Herz ihr angehörte und daß er ein sicherer Berater sein konnte, wenn sie das Vertrauen gewann, das sie nicht zu ihm gehabt. Und er sann darüber, wie er sich ihr auch aus der Ferne vertraulich machen könnte und so lieb, daß ihr Gemüt sich gegen ihn öffnete.

Als er nach Hause kam, setzte er sich zur Stelle nieder und schrieb an sie: »Teures Fräulein! Fürchten Sie nicht, daß ich Ihnen von einer Leidenschaft vorklagen werde, welche meine Seele erfüllt. Nur darum flehe ich, daß Sie mir gestatten, Ihnen zuweilen so zu schreiben, wie ein Freund dem andern schreibt, auch über mich selbst und mein eigenes Leben. Lassen Sie sich leidend gefallen, wenn ich soweit Ihren Anteil in Anspruch nehme. Können Sie mir einmal auf meine Briefe eine Antwort geben, so wird dies für mich eine Seligkeit sein; aber auch; wenn Sie das nicht tun wollen, erlauben Sie mir, zu Ihnen zu reden, wie der Unglückliche zu seinem Beichtiger spricht.« Darauf schrieb er über seine Erlebnisse in den vergangenen Jahren und über vieles, was er dabei gedacht hatte.

Mit diesem Brief fuhr er nach dem Marktflecken zu Henriettens Gespielin und bat, den Brief sicher in die Hände des Fräuleins zu liefern.

»Sie ist noch bei der Bellerwitz; ich trage das Schreiben selbst zu ihr«, versprach Liesel, welche das Sachverhältnis scharfsinnig erkannte. Und als der ungeduldige Doktor nach einigen Tagen wieder vorsprach, erzählte die Vertraute: »Ich ließ sie aus dem Schloß bitten, wir gingen in den Garten, dort gab ich ihr den Brief. Ich saß auf der einen Bank, sie auf der andern; sie brach den Brief sogleich auf und laß sehr lange; dann steckte sie ihn unter ihr Brusttuch und reichte mir die Hand. Als ich fragte: ›Ist vielleicht Antwort?‹ schüttelte sie nur mit dem Kopf und ging zu den Blumen, brach eine ab und gab sie mir. Dann fing sie an, von meinem Kleinen zu reden und von an derem.«

»Was war es für eine Blume?« fragte der Doktor.

»Es war eine weiße Rose; sie war wohl für Sie bestimmt, aber mein Kleiner hat sie sogleich zerrupft.«

[]

Die Warnung

In einiger Entfernung von der Stadt lag am Rand eines lichten Gehölzes der Schießplatz, wo seit alter Zeit die ehrbare Gilde der Bürgerschützen ihre Bahn hatte. Dort stand ein Kaffeehaus, und an sonnigen Ruhetagen zog der Bürger mit Weib und Kind hinaus und genoß auf den Bretterbänken den Kaffee, welchen die Hausfrauen in der Tüte mitbrachten und den die Wirtsleute mit großer Gewandtheit, aus jeder Tüte besonders, zu bereiten wußten und im Geschirr aufsetzten. Heut konnte der Vermögende auch Kuchen dazu erhalten, denn es war der schöne Tag des Königsschießens. Am Morgen waren die Schützen ausgezogen in ihrer grünen Uniform mit gelbem Kragen und großen wollenen Epauletten, vor ihnen Steinmetz mit der Musik und der Zieler, welcher eine große gemalte Scheibe auf dem Rücken trug. Auf der Scheibe war in diesem Jahre ein ungeheurer Drache gemalt und der Künstler hatte ihn so schön gewunden, daß sein Kopf in der Mitte stand; es war aber der Kopf eines Mannes, und der Kopf trug einen kleinen schwarzen Hut.

Die Sonne schien warm, Honoratioren und Bürger saßen, nach Familien geordnet, behaglich im Schatten der Linden und freuten sich der großen Menschenmenge, welche sie alle zusammen darstellten. Die Kinder sprangen um die Tische oder standen vor den beiden aufgeschlagenen Buden, in denen man durch waghalsiges Würfelspiel Pfefferkuchen und Glaswaren gewinnen konnte. Die meisten verloren ihr Gröschel, aber sie hatten dafür die Hoffnung gehabt. Zuweilen spielte die Musik, und in kurzen Zwischenräumen knallten die Schüsse vom nahen Schießplatz in die Unterhaltung. Und hatte einer der Schützen einen guten Schuß getan, so tanzte der Zieler vor Freude und schwenkte die kleine Scheibe, welche er an einem Stocke in der Hand trug.

Heut wurde mehr geschossen als sonst, denn die Bürgerschützen hatten einen Zuwachs gewonnen, auf den sie stolz waren. In der Stadt war auf einmal eine Vorliebe für Scheibenschießen eingerissen, und viele jüngere Männer waren zu einer Freikompanie zusammengetreten; sie trugen keine Uniform und marschierten auch nicht mit der alten Gilde, aber sie schossen als Verbündete mit. Und um in Schritt und Tritt zu kommen, hatten sie einen alten Unteroffizier, der jetzt in städtischem Dienst lebte, zum Exerziermeiser angenommen, sie waren so eifrig bei der Sache, daß auch heut ein großer Teil von ihnen auf der Waldblöße neben dem Schießplatz marschierte, und zuweilen klang das Feuer ihrer Salven zwischen die Schüsse nach der Scheibe. Sogar die Umgegend hatte Schießgenossen herzugesandt, Krause aus dem Marktflecken war da mit seinem Stutzen und einem Dutzend Gefährten, und aus den Dörfern eine Anzahl junger Burschen. Sonst hätten die Bürger für eine Entwürdigung [] ihrer Scheibe gehalten, wenn grobe Bauern und Knechte in den Stand getreten wären, heut dünkte das fast allen recht, denn, wie ein geachteter Bürger sich ausdrückte, es war eine neue Konjunktion gekommen, die Untertänigkeit war aufgehoben und zugleich vieles andere, was sonst die Landleute unansehnlich gemacht hatte, und eine Annäherung hatte stattgefunden zwischen Bürgern und Bauern um des gemeinsamen Schicksals willen, das sie alle trugen.

Beim Schießhause verkehrt auch der Assessor, nicht so still wie früher, er spricht mit Würde zu den Bürgern, welche ihn im Kreise umstehen; denn er ist ganz vor kurzem in der Stadt der größte Mann geworden. Der alte Stadtdirektor ist verzogen, verschwunden, und niemand frägt nach ihm, die Stadt hat eine neue Ordnung erhalten, die Bürger regieren sich selbst, haben sich Ratsherren gewählt und den Assessor zum Bürgermeister. Aber auch er hat eine Büchse in der Hand und wird sogleich wieder mit der Kompanie exerzieren. Weiter ab, da, wo ein schöner Kranz von jungen Fräulein auf Stühlen sitzt, bewegt sich unser Vetter, der junge Arzt; ein heiterer rundlicher Herr, sehr höflich und aufmerksam, er überreicht kleine Sträuße von Feldblumen und ist vielen Müttern und Töchtern angenehmer als sein Verwandter, so daß sie diesen nur in schweren Fällen bemühen.

Hauptperson aber und gewissermaßen das Zentrum dieses ganzen Scheibenschießens ist der Doktor. Vor dem Schießhause steht er mit seiner Büchse neben dem Fleischer Beblow, der als Schützenkapitän goldene Epauletten auf seiner Uniform trägt und so gewaltig um sich sieht, daß die Bürger ihn mit noch größerer Hochachtung betrachten als an Werkeltagen. Der Doktor und Beblow haben viel zu grüßen und auf Fragen zu antworten, Beblow aber gebietet mit lauter Stimme, und der Doktor redet oft leise und vertraulich. Gerade jetzt zu einem jungen Herrn mit einem Schnurrbart, einem großen Gutsbesitzer im Kreise, den er mitgebracht hat. Er führt den Gast einige Schritte zur Seite, als dieser zufrieden beginnt: »Ich sehe, bei dir ist alles in gutem Zuge.«

»Sage dem Grafen«, antwortete der Doktor, »in unserer Kompanie sind etwa hundert Stutzen und ebenso viele Gewehre nach dem Modell. Jeder hat einen blauen Rock, rotes Tuch kann sogleich auf die Kragen gesetzt werden; auch das nötige Lederzeug ist da, nur mit Mänteln sind wir noch zurück; die Leute sind bereit und vom besten Willen. Die Kompanie wird acht Tage nach empfangener Order ausrücken, wenn ihr uns Offiziere und einige Unteroffiziere schickt, denn von diesen letzteren haben wir nur drei im Kreise.«

»Du bist weiter als ich«, sagte der andere, der früher bei den Husaren gestanden hatte; »mich hindert zu sehr der Mangel an brauchbaren Pferden. Der letzte Krieg hat darin arg verwüstet. Über den Grafen aber würdest du dich freuen; er hat von seinem Gut die ganze Provinz mit einem unsichtbaren Netz überzogen und [] ist wieder, trotz seiner Kränklichkeit, Tag und Nacht geschäftig. Doch fand ich ihn in den letzten Wochen ungewöhnlich ernst. Die Niederlagen der Österreicher und die neuen Erfolge Napoleons mögen ihn wohl verstimmen, und ich fürchte, er empfängt keine guten Nachrichten aus der Residenz, dort fehlt in der letzten Stunde der Entschluß.«

»Unterdes tun wir das unsere«, sagte der Doktor ruhig. »Sieh auch die Übungen unserer Mannschaft an.«

»Kommen Sie, Drachentöter«, rief der Einnehmer dem Freunde zu, »wir wandern ein wenig zwischen den Tischen, uns das Völkchen zu betrachten. Hier können Sie die Verdorbenheit unseres Jahrhunderts deutlich erkennen. Mancher Rock ist schäbig und geflickt, weil der Besitzer allzu tief versunken ist, und mancher Mann verschwendet hier seinen letzten Groschen, um die Zichorie mitzutrinken. Auch die Erhebung der Gemüter, welche jetzt bei uns beginnen soll, ist bereits zu beobachten; denn während die Leute alle Fehler ihrer Mitmenschen scharfsinnig besprechen, bauscht sich ihr eigenes Selbstgefühl auf und sie ziehen am Abend tugendhaft und erhoben nach Hause. – Wer ist der Fremde, der hier umherstreicht, er scheint Sie scharf ins Auge zu fassen.«

»Ich kenne ihn nicht«, versetzte der Doktor, »er ist wohl Gast eines Städters.«

»Er sieht mir nicht so aus«, sagte der Einnehmer, »ich will mich doch beim Kaffeewirt erkundigen, der kennt jedermann aus der Umgegend. – Dort sitzt auch der Hauptmann und trinkt unter den Bürgern so gemütlich Kaffee, als hätte er niemals einen Kriegszug gegen Störche gemacht; das beste an ihm ist seine Schwester.«

Am Waldrande in einer Ecke hatte sich die reduzierte Kriegsmacht gelagert, der alte Major, der Hauptmann und das Fräulein. Die Männer rauchten steif und ernsthaft und wechselten nur zuweilen kurze Reden, das Fräulein aber klapperte geschäftig mit den Tassen, und ihre Augen blickten fröhlich in die große Gesellschaft, denn sie hatte heut früh dem Bruder viele Groschen im Beutelchen gewiesen, die sie sich mit ihrer fleißigen Hand verdient, und hatte ihn und den Major als Gäste eingeladen. Darum stand auch ein ganzer Teller Kuchen auf dem Tisch, und während sie eingoß, mahnte sie die Herren so dringend, das Backwerk nicht zu vergessen, daß der Major die Pfeife wegstellte und ritterlich nach dem Teller griff. Um den Bruder machte sie sich weniger Sorge, denn was nicht verzehrt wurde, packte sie in das Körbchen, und er mußte es morgen doch essen.

Während das Fräulein auf den artigen Gruß der vorübergehenden Freunde dankte, errötete sie ein wenig: »Der Herr Einnehmer weiß gewiß«, dachte sie, »daß ich seine Hemden genäht habe, er wird mich wegen des vielen Kuchens für eine Verschwenderin halten.« Aber als der Doktor sie freundlich anredete, gewann sie sogleich die [] Unbefangenheit wieder und sprach mit ihm in sicherer Haltung als eine kleine kluge Dame, die auch weiß, was ihr gebührt.

»Mich wundert«, sagte der Major, den beiden Freunden nachsehend, »daß unser Doktor sich auf diesen neuen Schwindel mit der Freikompanie eingelassen hat.« Aus der Ferne puffte eine Salve. »Die Himmelhunde plackern«, brummte der Hauptmann und blies eine Wolke.

Und wieder eine Salve. »Wir wollen doch einmal das Kinderspiel ansehen«, riet der Major und erhob sich. Sogleich tat der Hauptmann dasselbe, das Fräulein packte schnell ihren Kuchen zusammen, und sie gingen zu drei nach dem Übungsplatz. Dort sahen sie eine Weile zu und vermehrten durchaus nicht das Behagen der Kompanie; denn der Unteroffizier wurde, seit er die großen Herren zu Zuschauern hatte, strenge und tadelsüchtig und verlangte Schweres von der Mannschaft. Die Offiziere, welche seit Jahren mit Tritt und Griff nur in ihren Träumen zu tun gehabt hatten, betrachteten die Sache vornehm und überlegen, aber doch mit steigendem Anteil. Endlich raunte der Major dem Assessor, welcher gerade bei ihm vorbeimarschierte, halblaut zu: »Gewehr anziehen!« Darauf ruckte auch der Hauptmann leise mit den Armen, um den Tritt der Kompanie gewissermaßen durch moralische Nachhilfe zu kräftigen, bis er endlich ausbrach: »Donnerwetter, Unteroffizier, lassen Sie die Leute Distanz halten!«

»Es wird dem Mann allein zu schwer«, bemerkte mitleidig der Major; und im nächsten Augenblick marschierten die Offiziere, jeder neben einem Zuge, auf dem Exerzierplatz umher, bis der Unteroffizier, stolz über solche Hilfe, in Linie aufmarschieren und das Gewehr präsentieren ließ. »Ein Vivat den Herren Offizieren!« Lustig schrie die Kompanie nach. Die beiden Herren dankten und sahen einander betroffen an. »Es ist doch zu nichts gut als zur Bewegung«, sagte der Major mit nachsichtigem Lächeln.

Der Schießplatz war aber seit alter Zeit auch deshalb berühmt, weil sich auf ihm dicht neben den wilden Waffentaten der Männer Holdes und Menschenfreundliches ereignete: zarte Annäherung, anmutiges Wiedersehen und dergleichen. Viele reichgesegnete Ehen waren dort eingeleitet worden, und die Hausfrauen führten ihre Kleinen gern unter die Linden, weil ihnen selbst die Stätte durch große Erinnerungen geweiht war, welche wie unsichtbare Blumengewinde um Bäume und Tische hingen.

Arglos stand Fräulein Minchen, von ihren Herren verlassen, unter den Zuschauern und beobachtete die kriegerischen Bewegungen mit besserem Verständnis als der Einnehmer, sie ahnte auch nichts von dem tiefen Mißtrauen, mit welchem dieser sie selbst betrachtete. Denn Herr Köhler erwartete jede Woche zu hören, daß sie als weiblicher Robinson mit der Flöte statt Sonnenschirm und mit dem Lama, [] ihrem Bruder, in die weite Welt gezogen sei. Endlich überreichte er ihr mit einer Verbeugung das Taschentuch, welches heruntergefallen war, und begann ein kleines Gespräch über Sonnenschein und Festfreude. »Da sehen Sie den neuen Bürgermeister selbst Soldaten spielen.«

»Er macht seine Sache recht gut«, sagte das Fräulein.

»Mit dieser Städteordnung kommen allerlei Ideen auf«, fuhr der Einnehmer fort; »nicht nur die Großen, auch die Kinder sollen auf neue Weise gedrillt werden. Der Bürgermeister hat die Absicht, für arme Mädchen, große und kleine, eine Art Schule einzurichten, wo sie allerlei Weibliches erlernen, und er fragte mich, ob ich jemanden wüßte, der gegen ein Entgelt, das freilich gering ist, eine solche Anstalt übernehmen würde. Eine Stube im Schulhause ist dafür bestimmt, und es handelt sich nur um die Lehrerin. Man wollte deshalb Sie um Ihren Rat fragen. Wissen Sie jemand nachzuweisen, so tun Sie ein gutes Werk.«

Das Fräulein sah den Einnehmer mit großen Augen an. »Sie haben dabei an mich gedacht.«

»Seit ich Sie damals im Kriege auf diesem Platze unter den Soldaten sah«, antwortete Herr Köhler, »glaube ich allerdings, daß Sie eine gute Lehrerin sein könnten, aber die Stelle Ihnen anzutragen, wird der Bürgermeister kaum wagen, da die Stadt gegenwärtig arm ist.«

»Ich bin auch arm«, sagte das Fräulein mit fester Stimme, »und eine sichere Einnahme, auch eine geringe, wäre für mich ein großes Glück. Wenn Sie meinen, daß ich brauchbar bin, so würde ich mit Freuden annehmen.«

»Es wären täglich zwei Stunden und außer den Festwochen nur einmal im Sommer Ferien.« Und dabei dachte er: Warte, Robinson, du sollst kein Kanu behalten, auf dem du in der Ferne Abenteuer suchen kannst.

»Das würde ich gerade noch übernehmen dürfen«, sagte sie mit glänzenden Augen, »ich hätte dann noch Zeit genug für unsere kleine Wirtschaft im Hause.«

»Dann aber wird der Bürgermeister kommen«, schloß Herr Köhler gleichmütig, damit die Dankbarkeit, mit welcher sie ihn betrachtete, sich nicht in Worten ausdrücke. Und er empfahl sich mit weltmännischer Kürze. Er hatte kein gutes Gewissen, denn er selbst hatte längere Zeit intrigiert und gemahnt, bis der neue Magistrat, welcher die dringende Notwendigkeit solcher Schule nicht sofort begriff, zu dem Entschluß gekommen war.

Auch der Doktor konnte sich der geheimnisvollen Begabung des Schießplatzes nicht ganz entziehen. Zwischen ihm und dem Ackerwirt Krause war im letzten Jahre ganz besondere Wohlmeinung erwachsen, nicht durch das Vaterland allein veranlaßt. Auch heut[] hatte der Schützengast auf viele Fragen zu antworten: Liesel hatte das zweite taufen lassen, Bärbel erwartete das erste, und Henriette war tätig im Hause und für die Bedürftigen der Gemeinde besorgt, wie immer. Dennoch schloß Krause seinen Bericht mit Kopfschütteln: »Der Herr Senior ist als ein redlicher Mann und auch als getreuer Seelsorger in der Umgegend geschätzt, aber die Leute verdenken ihm jetzt, daß er von den Lieferungen an die Festung gänzlich befreit ist. Wenn die Kommandos der Franzosen durch den Kreis reiten, halten sie bei ihm an zu einem Frühstück und Glase Wein. Mehr als einer von den Eingepfarrten hat den Geistlichen mit diesen Leuten am Tische gesehen; deshalb schelten manche die Familie Franzosenfreunde. Meine Frau sagt, sie wisse am besten, daß man dem Senior und noch mehr dem Fräulein unrecht tut, aber es ist kein Wunder, daß solches Gerede entsteht. Auch der Kirchenbesuch hat abgenommen.«

In dem stillen Pfarrgarten blühten wieder die Rosen, und durch das stachlige Geäst der Schlehen und Brombeeren schlüpften vorsichtig die Zaunkönige. Das erste Heimwesen hatte ihnen der Kater zerrissen, jetzt waren sie geschäftig bei der zweiten Brut, das Weibchen saß still auf dem Neste, aber der kleine Herr fuhr heimlich zwischen Ranken und Dornen dahin und trug Gutes für die Wirtschaft herzu; und wenn er einmal mit seiner feinen Stimme anschlug, antwortete kaum hörbar das Weibchen. Henriette, welche das leise Locken der Kleinen vernahm, rührte an die Stelle des Mieders, wo sie den letzten Brief des Doktors bewahrte. Wieder war Jahr und Tag vergangen seit jener Unterredung auf dem Wasser, noch immer lag das Verhängnisvolle schwer auf ihr, aber in ihr selbst war ein neuer Sommer erblüht, denn stolz fühlte sie sich als die Freundin und Vertraute des Mannes, der ihr lieb war. Von dem Inhalt seines Lebens war in das ihre übergegangen. Seine Hoffnung und Arbeit für das geknechtete Heimatland, vieles, was er über den Weltlauf dachte und was ihm von Trauer und Freude bei Ausübung seines Berufes durch das Gemüt ging, das empfand sie mit, in ihrer Einsamkeit gehoben durch den Zauber dieser Bundesgenossenschaft. Nur selten hatte sie ihn gesehen, immer im Zwange größerer Gesellschaft, und nie hatte er in der Zeit etwas anderes zu ihr gesprochen, als was auch Fremde hören konnten, aber in seinem Blick und im Ton seiner Rede vernahm sie dasselbe, was aus allen seinen Briefen klang. Auch wenn er schrieb, vermied er, von seinen Gefühlen zu sprechen, die Leserin fand doch in jeder Zeile die treue Liebe.

Ein Postillon blies, die Extrapost fuhr im Hofe an, und Henriette eilte nach dem Hause. Sie traf die Eltern in Begrüßung eines Fremden, der das Deutsche wie ein Franzose sprach. Es war ein behender junger Mann, der keine Uniform trug, aber durch seine Haltung verriet, daß er Offizier war. Als der Vater die Tochter vorstellte, [] begann der artige Gast: »Es macht mich glücklich, die Huldigung, deren Bote ich bin, selbst an Mademoiselle ausrichten zu können, Major Dessalle hat mir aufgetragen, hier einzutreten und diesen Brief dem Herrn Pfarrer zu übergeben.« Der Senior brach auf. »Der Brief enthält nichts als die Mitteilung, daß Herr Dessalle befördert worden, und verweist im übrigen auf Sie, verehrter Herr.«

»Mir ist nur auf kurze Zeit das Glück zuteil geworden, in Paris mit dem Major zusammenzusein; er war mit Aufträgen aus Spanien an die Donau zum Kaiser gesandt und mußte nach seiner Audienz wieder über die Pyrenäen.«

»In das wilde Land und in diesen unbarmherzigen Kampf!« bedauerte gutherzig der Senior. »Vor Jahr und Tag empfingen wir einen ähnlichen kurzen Brief von Paris, worin er mitteilte, daß er aus Italien zurückgekehrt sei und zur spanischen Armee abgehe. Dies ist die erste Nachricht, die wir seitdem erhalten.«

»Das Schicksal des Soldaten!« antwortete mitfühlend der Franzose. »Ich ahne jetzt, wie schwer mein Freund die Entbehrung empfindet, welche ihm der Dienst auflegt.«

»Aber noch stehen Sie«, rief die Frau Pastorin. »Henriette, vergiß nicht die Sorge für unsern Gast.« Die Tochter eilte hinaus und preßte die Hand gegen ihr hämmerndes Herz.

Als sie den Wein hereinbrachte, war der Fremde in lebendiger Unterhaltung mit den Eltern. Sie schenkte ein; als ihr der Franzose ritterlich einen Stuhl heranzog, lehnte sie ab, ging mit dem Schlüsselbund hin und her, ihre Unruhe zu verbergen, blieb nur zuweilen am Tische stehen und hörte mit halbem Ohr Bruchstücke des Gespräches.

Der Ungarwein und die harmlosen Fragen des Seniors machten den Franzosen zutraulich: »Es tut wohl, endlich einmal wieder unter Gutgesinnten zu sein; auf den letzten Stationen hatte ich finstere Blicke und Ungefälligkeit zu ertragen.«

»Es ist ja jetzt Friede«, bedauerte der Pastor, »und wir beten, daß der schreckliche Krieg uns fortan verschone.«

»Nicht jeder in diesem Lande denkt so«, antwortete der Fremde, zog seine Brieftasche hervor und blätterte darin. »Kennen Sie einen Doktor König hier in der Gegend?«

»Jawohl«, antwortete der Senior ohne Behagen; »er hat früher einmal meine Frau behandelt, aber als später meine Tochter erkrankte, hatte sie eine Abneigung, ihn zu Rate zu ziehen, und seit Jahren besucht uns der Arzt aus einer anderen Stadt.«

»Ihre Demoiselle Tochter hatte die richtige Empfindung, als sie sich weigerte, dem erwähnten Manne ihr Vertrauen zu schenken.« Henriette stand unbeweglich und sah dem Franzosen voll ins Gesicht. »Meine Reise geht auch ihn an«, fuhr dieser geschwätzig fort. »Er ist ein gefährliches Subjekt.«

[] »Das tut mir leid«, sagte der ehrliche Senior; »ich wünsche nur, daß er sich als unschuldig ausweise.«

Der Franzose lächelte. »Es wird gut für ihn sein, wenn er das vermag.«

»Sie sollen ihn doch nicht bei unserer Regierung belangen?« fragte der Senior.

Der Franzose lächelte wieder. »Der Kaiser liebt ein kurzes Verfahren und wartet in solchen Fällen nicht darauf, was den Regierungen belieben wird.« Er brach ab und fragte nach der Entfernung bis zur nächsten Festung. Denn diese war im Besitz der Franzosen geblieben, auch nachdem ihre Truppen die übrige Provinz geräumt hatten.

Henriette trat jetzt an den Tisch und sagte langsam, wie jemand, der auswendig Gelerntes hersagt: »Ich hoffe, der Herr wird uns die Ehre erweisen, heut in unserem Hause vorliebzunehmen; ein Abendessen und eine Nachtruhe wird Ihnen nach der langen Reise guttun.«

»Ich handle gegen meine Order«, versetzte der höfliche Franzose, »aber ich vermag einer Einladung aus Ihrem Munde nicht ganz zu widerstehen. Sie werden mir erlauben, heut zur Nacht nach der nächsten Station aufzubrechen, wo mich ein Kommando aus unserer Garnison erwartet, denn mein Auftrag hat Eile.«

»Dann machen wir sogleich zurecht, was Sie bedürfen.«

»Eine stolze Schönheit«, sagte der Franzose, ihr nachsehend, mit dreister Artigkeit, »Major Dessalle hat Geschmack, und ich finde, er ist zu beneiden.«

Henriette ging in die Küche, befahl ruhig den Mädchen und half selbst. Auch während des Abendessens ging sie ab und zu und trug selbst den Wein auf. »Es ist französischer Wein, mein Herr«, sagte sie mit kaltem Lächeln. »Wir wissen Ihnen nichts Besseres anzubieten.« Sie setzte sich einen Augenblick mit zu Tisch, doch aß sie nicht und antwortete auf die Einladung des Fremden, daß heut für sie Fasttag sei. Nach dem Essen verneigte sie sich vor dem Gaste, sagte Vater und Mutter gute Nacht und setzte gleichgültig hinzu: »Das Bärbel hat heut hergeschickt; ich will morgen mit dem frühesten nach ihr sehen; sie erwartet ihre Stunde.«

»Weshalb will Mademoiselle uns verlassen?« fragte der Franzose mit aufsteigendem Argwohn.

»Entbindung einer Freundin«, erklärte der Senior. »Ah so«, sagte der Fremde, zufrieden, daß ihn die zarte Angelegenheit nichts anging.

Henriette rief die alte Magd Susanne in ihre Stube. »Du bist treu und klug, heut sollst du mir das beweisen. Wenn von jetzt ab nach mir gefragt wird, so sage, ich sei zum Bärbel gegangen.« Sie verhüllte ihr Haupt und schlug ein dunkles Tuch um die Schultern. »Schließe hinter mir die Gartentür!«

[] »Sie wollen doch nicht hinaus?« fragte die Magd entsetzt, »zur Nacht und in dieser unsicheren Zeit.«

»Dies ist die Zeit, bei Nacht zu gehen«, antwortete Henriette, das Tuch zusammensteckend. »Wo ist der Knecht?« – »Im Stall mit dem Postillon des fremden Herrn.«

»Er darf von nichts wissen – und wo ist Christian mit dem Hunde?«

»Er sitzt noch im Hirtenhause, wird aber bald zur Nachtwache kommen.«

»Schnell, damit der Hund nicht anschlägt, wenn er meinen Tritt hört. Bete für mich, Susanne, und schweige.« Sie eilte durch den Garten bei dem alten Brunnen vorüber auf die Landstraße. Dort ging sie mit ruhigem Schritt vorwärts. »Ich muß die Kraft sparen«, sagte sie zu sich selbst, »der Weg ist weit, aber ich habe die ganze Nacht vor mir.« Sie spähte mit scharfem Blick auf die Straße und in die Landschaft. Durch das gebrochene Gewölk schien bald heller, bald schwächer ein graues Dämmerlicht, es warf viele seltsame Schatten ihrer Gestalt auf den Weg, hierhin und dorthin, rings um sie im Kreise. Zuweilen blieb sie neben einem Baumstamm stehen und lauschte; alles war still, nur die Frösche schrien lustig im Sumpfe, die Grillen zirpten, und in dem nahen Dorfe bellten die Hunde. In der Niederung zur Seite lag weißer Dampf am Boden, wie eine Wasserfläche breitete er sich über Gräser und Blüten des Grundes. »Dort ist der Richtweg, der mich schneller fördert, und ich vermeide den Wagen des Feindes.« Sie verließ die Straße, betrat das große Ried, welches sich in ihrer Richtung weit hinzog, und achtete sorglich auf die kleinen Erdhaufen, die Zeichen des Weges. Der Nebel deckte ihr die Füße bis an die Knie, und der Landmann in dem nahen Weiler, welcher die hohe Gestalt lautlos an sich vorüberschweben sah, nahm erschrocken den Hut vor die Augen und sprach einen frommen Spruch hinein, damit ihn der Geist nicht schädige.

»Jetzt denkt er meiner«, sagte sie vor sich hin, »denn mir will das Herz zerspringen vor Sorge und Gram um ihn. Immer hat mich getröstet, wenn mein Jammer unerträglich wurde und die Sehnsucht nach Rettung übergroß, daß auch ihm in derselben Stunde das Herz schwer sein müßte bei dem Gedanken an mich. Zu dieser Zeit kommt er wohl heim von einem Kranken, vielleicht auch aus lustiger Gesellschaft, und wenn er in seine Stube tritt, sieht er, wie das Sternenlicht ein bleiches Fenster auf die Diele malt, dann fällt ihm jener Abend ein, an dem er den Brief des Vaters erhielt, und noch ein anderer Abend, wo er neben mir saß auf der Bank. Zwischen uns war nur ein heller Strahl Mondenschein, und der Strahl schien über meine Hand, da legte er seine Hand auf die meine, und der Strahl war wieder da, er konnte ihn nicht zudecken, wie er als Knabe immer gewollt. Er weiß nicht, wie oft ich in meiner Kammer die Hand auf [] das Fensterbrett gelegt habe, damit der liebe Mond sein Licht ebenso darauf werfe wie damals. Seitdem haben wir schwere Jahre verlebt, und von dem Fluch, der auf mir liegt, vermag auch er mich nicht zu lösen.«

So schritt sie vorwärts, eine Meile um die andere. Das letzte Abendrot rückte am Himmel langsam gen Norden, und die Jungfrau wandte zuweilen den Blick rückwärts und suchte den Schein. »Im Sommer mahnst du, freundliches Licht, wie geheime Hoffnung daran, daß die Sonne in der Nähe bleibt und in kurzem wieder heraufsteigen wird über die grünende Erde; wenn aber im Winter von jener Stelle die rote Lohe aufsteigt und den Himmel mit Flammen und zuckendem Glanze anfüllt, dann entsetzen sich die Dorfleute und wahrsagen Böses. Ach, das schwerste Unheil kommt plötzlich über den Ahnungslosen, mitten in Friede und Freude bricht es hinein. Als ich heut am Dornenstrauch stand und das Zwitschern der kleinen Vögel hörte, war mir freudig zumut, und ich dachte an nichts, als an den heimlichen Gesang, der von ihnen zu mir klingt. Die Kleinen ahnen es auch nicht, wenn das Raubtier gegen sie heranschleicht.« Und ihr Schritt wurde schneller.

Zur Seite lag der Hof, in welchem ihre Gespielin wohnte; vielleicht wachte sie jetzt im Bett, über die Wiege des Kindes gebeugt. Und die Wanderin dachte daran, ob sie an das Tor pochen sollte, um den Beistand ihrer Vertrauten wachzurufen, aber sie schüttelte das Haupt und schritt schnell vorüber. In dem Marktflecken schlug die Uhr Mitternacht, und in weiter Entfernung hallte aus den Dörfern derselbe Schlag; die ängstliche Stunde der Nacht begann. Daheim, als sie noch Kind war, hatte auch ihr in dieser Stunde vor dem Friedhofe gegraut, aber später war sie oft bei Nacht über die Stätte gegangen und hatte der Furcht sich entwöhnt. Vor sich sah sie die Umrisse des Gehölzes, durch welches der Weg führte, und besorgt spähte sie in die dunkle Masse des Laubwerkes, das sich wie aus schwarzem Stein gehauen vor ihr hinzog. Dort unter dem ersten Busch, der am Wege stand, entdeckte sie in der fahlen Dämmerung undeutlich eine menschliche Gestalt. Ein Mann lag am Boden. Da durchfuhr sie heiße, bebende Angst; der Gedanke an jenen schrecklichen Tag im Pfarrhause, alles Entsetzen, das sie seitdem in der Erinnerung empfunden, wurden in ihr übermächtig, sie flog dahin wie ein gescheuchtes Wild. Ein Tier des Waldes sprang neben ihr auf, und neues Entsetzen schüttelte ihr die Glieder; lange lief sie, Atem und Kraft begannen zu versagen. Erst als sie wieder ins Freie gekommen war, blickte sie zurück und erkannte, daß niemand folgte. Sie lehnte sich an einen Baum des Weges, bis der Herzschlag, der ihr die Brust zu zersprengen drohte, beruhigt war, und wieder dachte sie, wie der geliebte Mann jetzt ahnungslos im Schlummer lag, während das Verderben unsichtbar auf schnellen Rossen gegen ihn [] heranzog. Sie sah ihn unter den Feinden stehen, hochaufgerichtet, das Antlitz bleich und zusammengezogen, wie es damals war, als sie ihm von der Treppe nachgeblickt hatte, sie sah die Gewehre der Feinde gegen ihn im Anschlage und hörte die Salve, mit welcher der böse Feind einen Deutschen, der ihm verhaßt war, vom Leben schied. Da zuckte sie zusammen und wankte wieder vorwärts, mutlos und halb gebrochen. Dort bei der großen Linde stand ein steinernes Kreuz aus alter Zeit. Sie lehnte sich an den Stein, schlug die Hände zusammen, neigte das Haupt und bat für seine Rettung, bis die finstere Einbildung verschwand.

Mit neuem Mute ging sie weiter. Es war jetzt hohe Nacht, auch die leisen Töne der Natur waren verstummt, rings um sie feierliches Schweigen.

Als er noch klein war, dachte sie, hat ihm sein Vater die Händchen im Bett zusammengelegt und die holde Kindergestalt mit Freuden betrachtet, wie sie im Schlummer gleich einem Engel dalag, die bräunlichen Haare kräuselten sich schon damals zu Locken, rosig waren die Bäckchen, die Beinchen hatte er heraufgezogen, wie die Art der schlafenden Kinder ist, und die kleinen Finger halb geschlossen. »Lieber, süßer Knabe, jetzt bist du recht groß geworden, aber wenn ein heiterer Schein über dein Antlitz zieht, dann blicken die Augen so voll und unschuldig wie die eines Kindes in die Welt.«

Sie kam durch ein Dorf; in einer Seitengasse sang der Wächter und blies herzhaft in sein Horn. Hier war es friedlich und sicher, und sie setzte sich auf eine Bank, die vor der Schenke stand. Der Morgen war nahe und das Schwerste vorüber; sie hörte den Huf schlag der Pferde im Stall und das Schnauben, mit welchem sie ihr Futter erwarteten. Wohin würde er flüchten, wenn ihre Warnung kam? Sie wußte es wohl; in die Berge der Grafschaft, wo jetzt sein vornehmer Freund weilte. Und sie nickte zufrieden mit dem Haupt. Der würde wohl Rat wissen; und wenn das Volk aufstand und der Kampf losbrach gegen den hinterlistigen Kaiser, dann zog der Geliebte an der Seite des Grafen hinaus, ach, hinaus in neue Gefahr. Wieder sah sie auf zum Sternenhimmel. »Frisch, Mädchen! Bald krähen die Hähne«, ermunterte sie sich selbst.

Das erste fahle Licht des Morgens hob sich, und immer noch schritt die verhüllte Gestalt den Weg dahin, der Tau hing sich in Haar und Tuch, die Tropfen rannen ihr von der Stirn herab; war es das Wasser der Luft oder der Angstschweiß der Ermüdeten? Das rosige Frühlicht breitete sich über den Himmel, und die Lerche sang in der Höhe; aber schreckhaft klang ihr das Getriller des Vogels. Was geschlafen hatte, erwachte, auch die Gefahr fuhr mit Windeseile heran, so langsam war ihr Schritt, und endlos dehnte sich die Straße. Die Spitzen der hohen Pappeln färbten sich mit bräunlichem Gold, [] und auf dem Rasen am Wege konnte man deutlich die grauen Tauperlen erkennen.

Wie würde er erschrecken, wenn er sie sah! Sie schüttelte das Haupt. »Er weiß wohl, daß ich nicht geringer Dinge wegen zu ihm komme; wenn ich eintrete, ahnt er auch, was ich bringe; er ist ein mutiger Mann und sorgt beizeiten für alle Fälle; sein kleiner Mantelsack ist immer gepackt, wie er mir einst geschrieben, damit er sich nicht verweile, wenn er zu einem Schwerkranken über Land gerufen wird. Er rafft schnell seine Papiere zusammen, die geheimen Briefe, in denen von der Rüstung die Rede ist; dann schlägt er den Mantel um, nimmt den Reisesack und geht mit mir aus seiner Wohnung, ohne jemandem zu sagen, wohin. Ich aber weiche nicht von seiner Seite, bis er im Wagen zu einem Tore hinausfährt, welches von den Feinden abliegt. O Vater des Himmels, laß mich diesen Augenblick erleben!«

Sie sah die Strohdächer der Vorstadt im Morgenlicht gerötet und hörte in den Höfen das Gebrumm der Rinder. Kein lebendes Wesen war ihr begegnet, als wollten Nacht und Morgen liebevoll das Geheimnis der Wanderin bewahren. Sie kam an das Stadttor, noch war es verschlossen, und sie lehnte sich einen Augenblick an die Mauer, bevor sie mit dem schweren Klopfer pochte. Schlaftrunken rief der Wächter: »Wer da?« – »Eine Kranke, welche Arznei begehrt«, die Torflügel drehten sich schwerfällig in ihren Angeln, und sie fragte nach der Wohnung des Arztes. Auch in der Stadt war es still, kein Mensch auf den Straßen, Türen und Fensterläden geschlossen und vom rötlichen Lichte gefärbt. Sie schritt hastig auf den Markt, suchte das Schild des Doktors und faßte nach dem Klingelzug; da wollte ihr die Kraft versagen, betäubt setzte sie sich auf die Schwelle und verhüllte ihr Angesicht im Tuche.

Aber als in der Ferne ein Wagen rasselte, sprang sie auf und riß an der Klingel. Der Doktor war bereits bei der Arbeit und zu sprechen. Sie trat schnell ein und schloß hinter sich die Stubentür. »Retten Sie sich«, rief sie, »die Franzosen sind auf dem Wege, Sie aufzuheben.« Der Doktor sprang auf und erkannte die verhüllte Gestalt; er eilte auf die Wankende zu und umfaßte sie mit seinen Armen. Sie lag an seiner Brust und weinte, aufgelöst in bangem Schmerz, wie ein Kind am Herzen der Mutter.

Banges Harren

Am späten Abend fuhr der Wagen des Flüchtigen in den Hof des Grafen. Überrascht erhob sich dieser von seinem Arbeitstisch, als der Doktor eintrat. »Das Neue, was Sie bringen, ist nichts Gutes«, rief er bei der warmen Begrüßung, »ich sehe es Ihnen an.«

[] »Ich komme leider in persönlichen Angelegenheiten. Napoleon hat Befehl erteilt, mich durch die französische Besatzung von Glogau aufheben zu lassen. Die Warnung ging mir von einer Seite zu, welche keinen Zweifel an dem Plane übrigließ. Ich eile vor allem zu Ihnen, denn es ist möglich, daß nicht gegen mich allein so unerhörte Gewalttat beabsichtigt wird.«

»Auch ich lebe hier von Spähern umgeben, aber ich bin ein erfahrener Verschwörer und nahe an der Grenze. Haben Sie etwas zurücklassen müssen, was Sie nicht in fremder Hand sehen möchten?«

»Hier ist meine Korrespondenz«, antwortete der Doktor, »ich will sie am liebsten bei Ihnen niederlegen.«

»Vortrefflich!« sagte der Graf. »Ist es leicht, Ihrem Wege hierher nachzuspüren?«

»Ich habe den Wagen mehreremal gewechselt.«

»Sie haben also jedenfalls Zeit, bis morgen bei mir auszuruhen. Der Sturm erhebt sich auch von unserer Seite gegen den Kaiser, wir stehen am Kriege. Die Gewalttat, welche er gegen Sie versucht hat, ist ein so auffälliger Angriff gegen die Ehre und Selbständigkeit einer Regierung, daß er dergleichen nicht oft wiederholen kann, ohne starkes Geschrei auch bei anderen Nationen gegen sich aufzuregen. Und da ihm hier die Sache mißlungen ist, so bin ich überzeugt, daß er gegen Sie den tückischen Sprung nicht zum zweiten Male macht; man sagt, daß die Bestien vom Katzengeschlecht beschämt davongehen, wenn ihnen der Ansprung auf die gehoffte Beute mißglückt. Erklären wir ihm, was ich immer noch hoffe, in letzter Stunde den Krieg, so hat er um anderes zu sorgen, und bewahren wir in unserer Schwäche den Frieden, so fällt für ihn der Grund weg, eine solche Razzia gegen einen einzelnen Fremden zu befehlen. Dennoch sollen Sie sich vorsehen. Unterdes werde ich persönlich dem schlechten Manne dafür zu Dank verpflichtet, daß er Sie in meine Arme geführt hat.«

»Mir ist doch nicht verständlich«, sagte der Doktor nach Besprechung ihrer gemeinsamen Tätigkeit, »wie gerade ich, ein einfacher Privatmann am kleineren Ort, in bescheidenen Verhältnissen, zu der Ehre komme, von den Franzosen in so auffälliger Weise heimgesucht zu werden.«

»Weil Sie zufällig am leichtesten erreichbar waren«, versetzte der Graf, »Sie dürfen annehmen, daß der Kaiser im ganzen weiß, was wir treiben. Er wollte an einem von uns, gleichviel an wem, ein Exempel statuieren, um unserer Regierung seinen Argwohn und seine Verachtung zu zeigen und um die Schwachen unter uns zu schrecken. Freilich weiß er auch, daß er gegen die Bewegung in den Gemütern nichts ausrichten kann. Er kannte die Stimmung schon, als er uns im Frieden eine halbe Selbständigkeit bewilligte; seitdem hat, was in Spanien geschieht, seine Sorge vor einer Volkserhebung [] unter uns so gesteigert, daß diese Sorge ihn wie ein Gespenst verfolgt.«

»Kannte er uns, so war er ein Tor, daß er unseren Staat nicht vernichtete«, rief der Doktor.

»Wie gern hätte er es getan! Aber die Vernichtung Preußens hätte die Habgier der großen Nachbarn erregt. Für ihn allein war die Mahlzeit zu groß, und dem Bären und zweiköpfigen Adler einen Teil zu überlassen, verbot ihm die Klugheit, deshalb ertrug die Tigerkatze knurrend, daß das gepackte Wild halbtot den Krallen entkam. Jetzt vertraut er darauf, daß unserer Regierung die Kraft zu einem Entschluß fehlen wird, denn er, der Mann von stahlhartem und schnellem Willen, mißachtet gründlich unseren Herrn und hält die große Bedenklichkeit desselben für seinen besten Verbündeten. Er weiß wohl, daß er auf unserer Seite der Elbe nichts zu erwarten hat als Feindseligkeit. Im übrigen Deutschland ist das anders. Dort streichelt er mit Samtpfoten die Dichter von Weimar, weil er annimmt, daß sie großen Anhang unter den Gebildeten haben, denen solche Behandlung ihrer Größen wohltun wird. Die deutsche Poesie ist ihm so gleichgültig, wie Geschrei der Frösche im Sumpf, und während er den Herren dort Artiges über ihre Mannhaftigkeit sagt, ist ihm die Mannhaftigkeit eines Doktor König, welcher in seinem Kreise zweihundert Gewehre gegen ihn erheben kann, viel wichtiger als aller Verskram, für den er sich eine halbe Stunde vor den Audienzen vorbereitet hat. Da ihm die brutale Gewalt gegen Sie mißlungen ist, so wird er vielleicht auf etwas anderes sinnen, was uns wehe tut. Die Bestie in ihm ist älter geworden und die Geschmeidigkeit vermindert.« Und als die beiden spät in der Nacht sich trennten, sagte der Graf: »Ihr Zimmer ist bereit. Morgen lasse ich Sie über die Berge nach Böhmen fahren. Der Herzog von Braunschweig hat dort seine Rüstungen schneller beendigt als wir und ist bereits im Marsche gegen die Sachsen. Zu ihm sende ich Sie, ich habe übernommen, unsere Landsleute, die von den schlesischen Besitzungen des Herzogs kommen, an ihn abzugeben, und Sie werden dabei zu tun finden.«

Einige Tage nach der Flucht saß Henriette zwischen Bärbels Bett und der Wiege, aus welcher ein kleiner Kerl, das Abbild der Mutter, in die fremde Welt guckte. »Es war schon recht, daß du selbst gegangen bist, wenn's nur nicht bei Nacht gewesen wäre.«

»Wie durfte ich warten?« sagte Henriette.

»Ich hätte sehen mögen, wie sich der Doktor anstellte«, fragte neugierig die Freundin.

»Gut«, antwortete Henriette mit einem glücklichen Lächeln, »und gerade so, wie ich gedacht hatte. Er nahm seine Sachen in die Hand und ging mit mir auf die Gasse. Dort waren erst wenige Menschen; wir kamen zu einem Bekannten von ihm, einem Fleischermeister, [] als die Leute eben aufstanden. Die Frau war sehr freundlich gegen mich und weckte ein Fräulein, ein liebes Mädchen, das in demselben Hause wohnt; diese kam sogleich herunter, ihr empfahl mich der Doktor. Du hättest hören sollen, wie herzlich er das tat. Während der Fleischer ihm den Wagen bespannte, hatte er noch eine schnelle Unterredung mit seinem Vetter, dem jungen Arzte. Ich stand am Wagen, als er abfuhr, und er hielt meine Hand, als die Pferde schon anzogen. Der Meister begleitete ihn bis zum Stadtwald und kam mit gutem Bescheid zu uns zurück. Vom Walde aus fuhr er meilenweit auf Nebenwegen, wo kein Fremder seine Spur finden konnte. Unterdes holte der junge Herr für mich ein Fuhrwerk, das mich zur Liesel bringen sollte. Das Fräulein bestand darauf, mich bis dahin zu begleiten. Wir waren etwa eine Stunde gefahren, bis zu einer Wegscheide, da wies der Kutscher auf den anderen Weg: ›Dort kommen französische Soldaten.‹ Wir wandten uns um und sahen einen Kutschwagen mit einer Anzahl bewaffneter Reiter in schnellem Trabe der Kreisstadt zu fahren. Fräulein Minchen hielt meine Hand fest, doch keines von uns vermochte zu reden. Nicht lange, und ein einzelner Reiter sprengte bei uns vorüber, wendete das Pferd und sah in den Wagen. Ich hatte mir das Gesicht verhüllt und tat, als ob ich schliefe. Der Mann rief dem Kutscher zu: ›Woher und wohin?‹ und als dieser den Namen des Marktfleckens sagte, rief er: ›Gut!‹ und ritt zurück. Wir berechneten in großer Angst den Vorsprung, den der Doktor hatte; er war doch schon einige Meilen voraus. Heut erhielt ich durch Liesel einen Brief von ihm, daß er glücklich beim Grafen angekommen ist. – Als ich mit Krause zu dir kam, lag dein Kleiner bereits in der Wiege. Du wirst mich für eine untreue Freundin gehalten haben, Bärbel.«

»Ich wußte, es mußte ein großes Hindernis sein.«

»Und was mir lieb ist«, fuhr Henriette fort, »zu Hause haben sie nichts von dem nächtlichen Gange gemerkt, die Mutter wunderte sich nur, daß ich so sehr ermüdet aussah, und meinte, ich hätte mich um dich geängstigt. Liebes Bärbel, diesmal um einen andern.«

»Jetzt sind sie beide fort«, klagte Bärbel, »und niemand kann sagen, wenn einer von ihnen wieder sichtbar werden wird. Das ist ein schlechter Zustand für dich, du hast solches Schicksal nicht verdient.«

»Beklage mich nicht«, rief Henriette. »Wünsche mir Glück, daß es so gekommen ist, denn die Unsicherheit, in der ich lebte, ist jetzt zu Ende. Da ich allein durch Nacht und Nebel ging, schwand die Wolke von meiner Seele, die mir bisher den Trübsinn gemacht hat; ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Es wird mir schwer, dies allein zu vollbringen, ohne den Beistand des treuen Mannes, aber es muß geschehen, und wenn er glücklich heimkehrt, soll er erfahren, daß ich redlich gegen ihn gehandelt habe.«

[] »So ist es recht«, lobte Bärbel. »Aber wie willst du den andern fortschicken, er ist ja gar nicht vorhanden, und kein Mensch kann sagen, wo er verweilt. Das Land Spanien ist unermeßlich weit und alles voll von grausamem Kriege. Auch der Postbote wird ihn nicht auffinden.«

»Ist es auch schwer«, entgegnete Henriette, »ich suche mir einen Weg.«

Aber Bärbel fuhr fort, Unheil vorauszusagen: »Seinen Ring mußt du ihm zuschicken.« Henriette nickte. »Wie kannst du hoffen, daß dieser durch die wilden Länder zu ihm dringt? Sie werden unterwegs den Ring herausnehmen und den Brief zerreißen. Ich an deiner Stelle würde mich kurz entschließen und den Hiesigen heiraten. Wer weiß, ob der andere überhaupt kommt. Käme er, so müßte man ihm sagen: Warum sind Sie so lange ausgeblieben? Jetzt ist es zu spät.«

»Auch er trägt meinen Ring am Finger.«

»Er hat ihn ja selbst genommen.«

»Und ihm hat niemand widersprochen«, antwortete die Jungfrau traurig.

Aber das Weib, welches danach rang, unerträgliche Fesseln zu lösen, die Männer, welche zum Kampf gegen den Feind rüsteten, alle Völker eines Weltteils, die sich gegen die Tyrannei einer verhaßten Nation empörten, sollten noch einmal vergebens hoffen, sich winden und an ihrer Kette zerren. Nur um so tiefer schnitten die Bande in ihr Leben, auch der Widerstand der Verzweiflung war vergeblich gewesen. Hütet euch, deutsche Herzen, daß der Mut nicht schwinde und die grünende Saat eurer Liebe nicht niedergetreten werde unter dem gepanzerten Tritt kalter, harter, tückischer Selbstsucht, die eine fremde Nation und ihr gottverfluchter Meister gegen euch verüben.

Der Doktor erreichte an der sächsischen Grenze das kleine Heer des Herzogs von Braunschweig; dort war er bei Aufnahme seiner Landsleute tätig, die von den schlesischen Besitzungen des Herzogs eintrafen. Er begleitete ihn bis nach Dresden und ritt beim Einzuge des Tapferen in die feindliche Residenz unter seinem Gefolge. Von dort kehrte er nach Böhmen zurück und weilte als vertrauter Agent seines Freundes in Prag, wo sich eine große Zahl patriotischer Preußen gesammelt hatte.

Da kam wie ein Wetterschlag die Botschaft, daß Österreich seinen Frieden mit Kaiser Napoleon geschlossen habe. Ein Brief des Grafen, welcher dies mitteilte, rief ihn wieder nach dem Gute desselben.

Der kranke Graf streckte ihm von seinem Bett die Hand entgegen. »Hier liege ich, mein Freund; Sie wissen, daß meine Krankheit getäuschte Erwartung heißt.« Mit geheimer Trauer erkannte der Arzt die Fortschritte, welche das Leiden des Kranken in den[] letzten Jahren gemacht hatte: »Ich verlasse Sie nicht, wenn Sie mich in Ihrer Nähe dulden wollen, bis Sie sich vom Lager erheben. Der Sorge um Gewehre und Patronentaschen sind wir ledig, und Sie werden endlich Zeit gewinnen, an sich selbst zu denken. Wir hatten uns in der Jahrzahl verrechnet, nicht in unserer Hoffnung.«

»Es freut mich, daß Sie so mutig wiederkehren, nachdem Sie überall Vereitlung wackerer Pläne erlebt haben«, sagte der Graf traurig.

»Ich war besser daran als Sie«, versetzte der Doktor. »Sie wurden täglich gequält durch die Nachrichten über wechselnde Stimmungen an den Höfen und in den Kabinetten. Ich habe daheim und jetzt in der Fremde im Volke gelebt, da stellt sich unsere Lage anders dar. Das glimmende Feuer des Hasses vermag der Franzose nicht mehr auszutilgen; ein frischer Luftzug, und die Flamme lodert zum Himmel!«

»Und wenn der starke Luftzug in der rechten Stunde fehlt?« fragte der Graf.

»Es ist ein alter Bauernglaube, daß jeder Hausbrand sich zuletzt selbst einen Wind erregt, der ihm die Flamme schürt. So wird es auch bei dem Feuer sein, zu dem Sie die Scheite getragen haben. Wie fand der Kampf mit dem Fremden uns vor drei Jahren und wie jetzt? Damals ein friedliches Volk, hilflos gegenüber dem Widerwärtigen, auch in den Besseren Unsicherheit und Mangel an Entschluß. In drei Jahren hat der Kaiser uns gegen seinen Willen zu Männern gemacht, und wenn wieder drei Jahre über das Land gezogen sind, bereiten wir ihm das Verderben.«

»Sagen Sie mir das alle Tage«, bat der Kranke, »denn dieser Glaube allein kann mir zur Genesung helfen. – Der König ist gegen mich gnädig gewesen«, fuhr er abbrechend fort, »er hat mich zum Chef des Husarenregiments ernannt, bei welchem Ihre liebsten Bekannten stehen. Helwig führt eine Schwadron; und Ihr getreuer Hans ist Stabstrompeter.«

»Dann werde auch ich in neuer Weise Ihr Untergebener«, sagte der Doktor, »denn ich habe mit dem Rittmeister besprochen, daß ich im nächsten Kriege bei seiner Schwadron als Freiwilliger eintrete.«

Der Kriegslärm war verstummt, der Friede, wie der Senior gewünscht hatte, dem Lande erhalten, da saß der würdige Herr am Schreibtisch und neben ihm die Tochter, und er schrieb zwei Briefe, die ihm beide schwer wurden. Den ersten an den französischen Major. Darin versicherte er in warmen Worten lebenslänglichen Dank und bekannte darauf, daß die Rücksicht auf das Glück seiner Tochter ihn nötige, jene schnelle Verlobung rückgängig zu machen, er sende den aufgesteckten Ring zurück und bitte um Wiedergabe des Reifes, den sein Kind am Finger getragen. In den Brief schloß [] er den Ring des Fremden ein. Den zweiten Brief aber schrieb er auf Henriettens Wunsch an Graf Götzen, erzählte darin kurz, was dieser bereits wußte, und bat inständig, da ihm der Weg in das Feldlager der Franzosen unbekannt sei, daß der Graf bei der französischen Gesandtschaft Beförderung des inliegenden Schreibens an den Major befürworten möge.

Als kurze Zeit darauf eine freundliche Antwort des Grafen einlief mit der Anzeige, daß er das Seine getan und den Brief so sicher als möglich befördert habe, fiel Henriette dem Vater um den Hals, und zum erstenmal seit mehreren Jahren setzte sie sich an das Klavier und sang die Lieblingslieder des Hauses. In der nächsten Woche aber erbat sie Erlaubnis, das Liesel zu besuchen. Denn der Doktor war wieder in der Heimat und hatte für diesen Tag bei Krause seinen Besuch angekündigt.

Draußen fuhr der Tauwind um die laublosen Bäume und raufte das Stroh am Scheunendach, auch in dem Gemüt der Menschen bargen schwarze Wolken den fröhlichen Sonnenschein. Aber als Henriette dem Freunde gegenüberstand, brach ihr die helle Freude in Tränen aus den Augen. Jetzt erst gehörte er ihr, und sie hatte ihn vor dem Verderben gerettet.

Der Hauswirt wies seinen Gästen vergnügt einen Quell, den er in seinen Hof geleitet hatte; das Wasser, welches bis dahin heimlich in der Erde geflossen war, rann lustig in den neuen Steinbehälter, um fortan im Sonnenlicht zu fließen, solange tätige Menschen im Hofe lebten. Die Liebenden standen am Brunnen und zwischen ihnen plätscherte leise das Wasser, da erzählte Henriette von dem Briefe, den sie durch den Vater an den Franzosen gerichtet, und daß sie den Ring von sich abgetan; und ihre Gestalt hob sich in stolzer Freude, als sie die Seligkeit in seinem Antlitz sah.

»Ich hatte, während ich als Bote zu Ihnen ging, mir überlegt, daß ich dies tun müßte. Jetzt habe ich dadurch den inneren Frieden wiedergefunden, den ich lange entbehrt.«

»Geliebtes Mädchen!« rief der Mann.

»Still, mein Freund«, sagte sie feierlich. »Was Sie mir einst geschrieben von Schweigen und Entsagung, das gilt noch immer für uns beide.« Sie hielt ihren Finger, an dem einst ihr Ring gesteckt, in den Quell. »Kein Wasser wäscht von dem Finger, daß der andere ihn für sich genommen, und nicht mein Wille allein vermag mich zu befreien.«

»Ich werde Ihr Gefühl ehren, wenn es mir noch so schwer wird; aber ist denn nötig, daß ich noch immer Ihrem Hause fernbleibe? Diese Entbehrung ist allzu groß.«

»Sie ist nötig«, sagte Henriette bittend, »und nicht nur um der Leute willen« – sie hob ihre Hand –, »wenn der ersehnte Tag kommt, wo ich wieder habe, was mir genommen ward, dann, mein [] Freund, fegt Susanne das Haus, und ich trage Blumen hinein, Sie zu empfangen.«

Armes Mädchen! Das war keine Zeit, Gutes zu hoffen.

Es ist wieder einmal Sommer, der Tambour der Bürgerschützen trommelt durch die Straßen und ladet zum Feste, aber die Stadt ist diesmal nicht bereitwillig, sich zu freuen. Es ist vieles nicht in der Ordnung. Die ganze Stadt sieht heruntergekommen aus, die Hauswände sind lange nicht neu getüncht, neue Häuser sind gar nicht gebaut und die schlechten Giebel der alten kaum notdürftig gebessert. Die Menschen gehen ernst und mißvergnügt einher, und die Zahl der fadenscheinigen Röcke, welche der Steuereinnehmer genau kennt, ist größer geworden. Die Schützen ziehen aus mit ihrer Musik, und der Zieler trägt die Scheibe; diesmal ist nichts darauf als ein Hirsch, an welchem die grimmigen Hunde heraufspringen. Das edle Tier hat den tödlichen Schuß empfangen, sinkt auf die Knie und das Blut strömt aus der Wunde. Es war die alte Geschichte, aber der Künstler wußte nichts Besseres und hatte sie neu gemalt. Der Bürgerschützen sind weniger geworden, denn manchem kommt das ganze Vergnügen zu teuer. Und wo ist die Freikompanie geblieben? Nur einzelne davon treten in den Stand und schießen mit, weil sie sich einmal dazu verpflichtet haben. Unser Freund, der Doktor, hält sein Gewehr, wie vor Jahren, aber er hat nicht nötig, sich leise mit den Bekannten zu bereden. Auch die Gesellschaft, welche unter den Linden Kaffee trinkt, scheint nach allem nicht so glänzend wie früher, viele Honoratioren fehlen, und Minchen Buskow fehlt, sie ist zum Besuch auf das Land gegangen, da ihre Schule Ferien hat. Sogar die Zahl der Buden ist vermindert, aus zweien ist eine geworden, denn nur die Frau mit dem Pfefferkuchen hat ausgelegt, dem Glasmann lohnt sich's nicht mehr, die Leute wollen ihre Groschen im Würfelspiel nicht dranwagen. Die Kinder allein schwärmen in heller Freude umher wie immer, und zu den früheren sind, gottlob, einige neue gekommen, kleine Wutzel, welche neben ihren Müttern auf dem Grunde kauern und mit Kienäpfeln spielen. Dort erscheint endlich unser Einnehmer, der schlaue Herr, er zieht eine Tüte aus der Tasche und spricht strafend zum Kaffeewirt: »Ich fordere besonderen Aufguß für diese gebrannten Möhren, denn die Mischung von Zichorie und Eichel, die Sie in die Töpfe schütten, ist für meinen Magen unerträglich; der ganze Platz riecht danach, ich wollte, Bonaparte würde zur Strafe für seine Sünden täglich einige Stunden mit Zichorie geräuchert.«

»Ach, Herr Einnehmer«, klagte der Kaffeewirt, »mit dem Zucker steht es noch schlechter. Den Kaffee bringen die Schmuggler zuweilen über die Grenze, aber der Zucker ist unerschwinglich.«

»Sie können hier schönen Heidehonig ziehen«, sagte Herr Köhler. »Unterdes rate ich Ihnen, die französische Sperre dadurch zu [] betrügen, daß Sie die Stücke Zucker dreimal so klein schlagen als sonst. – Sie haben recht, es geht uns schlechter als vor dem letzten Kriege. Alles klagt und schreit; da aber niemand mehr den Schreiern ihren Mund zuhält, so wird ihnen zuletzt durch lautes Klagen das Herz leichter und sie denken wieder an künftige, bessere Zeiten. – Wer fährt da heran? Beim Styx! Das ist die Kutsche der Bellerwitze.«

Der Diener öffnete den Schlag und die gnädige Frau stieg aus mit ihren beiden Fräulein, die in der Zeit hübsch in die Höhe geschossen waren und vornehm in das Getümmel der Bürger hineinstarrten. Als der Doktor herankam, die Dame zu begrüßen, hielt sie ihm einen Brief entgegen. »Dies brachte ein Bote aus dem Hause des Seniors auf unsern Hof und fragte, ob wir Gelegenheit nach der Kreisstadt hätten. Da ich selbst in der Stadt zu tun hatte und da der Brief für Sie bestimmt war, übernahm ich die Besorgung. Demoiselle Henriette soll krank sein. Leider ist das arme Mädchen übel daran; diese alte unglückliche Geschichte mit dem Franzosen bringt sie und die ganze Familie in eine falsche Stellung.« Der Doktor bestätigte durch eine stumme Verneigung, winkte seinen Vetter herzu und stellte den Einnehmer vor. Die gnädige Frau war erfreut, endlich dem Herrn persönlich bekannt zu werden, von dem der Kammerherr so viel Liebes erzählt hatte.

»Ich habe die Ehre, Ihren Herrn Gemahl seit der Zeit zu kennen, wo er eine kleine Guillotine als Berlocke trug«, sagte der Einnehmer mit artiger Verbeugung. Unterdes nahm der kleine Doktor behend die jungen Fräulein in Anspruch und die Gesellschaft bewegte sich schwatzend und lachend zwischen den Bänken. Als die Kammerherrin sich aber nach ihrem großen Günstling umsah, war dieser verschwunden. »Er ist zu einem Kranken gerufen«, entschuldigte der Vetter.

In dem Schreiben bat der Senior um einen Besuch, da seine Tochter erkrankt sei. Die Pferde rannten im gestrecktem Trabe, aber dem Liebenden dehnte sich der Weg zu unerträglicher Länge. Seine Briefe waren seither immer den regelmäßigen Weg gegangen, und seit Wochen hatte er Henriette nicht gesehen; doch schon beim letzten Zusammentreffen war sie bleich und still gewesen, und er kannte wohl den Gram, den sie trug. Von jenem Fremden war keine Antwort gekommen, seit Jahr und Tag keine Nachricht, das Harren und Bangen des Mädchens wurde unruhiger, sie hatte ihm gestanden, daß sie jedesmal beim Eintritt eines Besuches zusammenschrecke, denn sie fürchte, es müsse der Franzose sein. Heut ahnte der Doktor Unheil für sie und sich und bereitete sich vor, den Feind selbst zu finden.

Es war Abend, als er im Pfarrhofe aus dem Wagen sprang, er fühlte sich fast erleichtert, daß er den Senior allein ohne den argen Gast in der Stube traf. Wie vor Jahren stand er dem Vater [] gegenüber. Was war seitdem alles draußen in der Welt geschehen – und hier in dem stillen Hause immer die alte Angst und Not!

»Meine Tochter hat gewünscht, daß wir Sie zu Rate ziehen«, begann der Pastor bekümmert und verlegen. »Es ist derselbe Zustand und dasselbe Leiden wie damals, als Sie zuletzt hier waren.«

»Ist es durch eine äußere Veranlassung hervorgerufen?« fragte der Arzt, doch er wußte die Antwort voraus.

»Ich habe Ihnen erzählt, wie es uns im Kriege ergangen ist«, antwortete der Senior zögernd; »auch das Weitere will ich nicht verbergen. Ich fürchte, ein Brief, den ich erhalten, hat ihr den Weinkrampf und das Fieber veranlaßt.« Er überreichte ihm ein Schreiben. »Es ist fast ein halbes Jahr alt«, sagte er, »die Stadt, welche darin angegeben ist, liegt ja wohl an der portugiesischen Grenze.« In dem Briefe stand:

Ehrwürdiger Herr! Ich kann es Ihnen und Fräulein Henriette nicht verdenken, wenn Ihnen ein Bräutigam zuwenig und zuviel ist, der seine Pflichten so völlig vernachlässigt. Ich habe keine andere Entschuldigung als den Dienst meines Kaisers, der mich seither ohne Unterbrechung von Ihnen ferngehalten hat. Ich vermag aber ungeachtet der Mitteilungen Ihres Briefes auf ein Verhältnis nicht zu verzichten, welches mir verhänignisvoll geworden ist und an welches sich für mich teure Hoffnungen knüpfen. Deshalb werden Sie vergeben, wenn ich den Ring, den ich jetzt am Finger trage, nicht zurücksende; ich bitte Sie vielmehr, mir zu gestatten, daß ich in nächster Zeit mich selbst bei Ihnen einfinde und persönlich um die Neigung Ihrer Tochter werbe. – Oberst Dessalle.

»Dies ist mehr, als ich für möglich hielt«, rief der Doktor empört und warf das Papier auf den Tisch. »Darf ich Fräulein Henriette sehen?«

Als er an das Bett der Kranken trat, wandte sie ihm ihr heißes Antlitz zu mit einem verzweiflungsvollen Blick, der ihm in das Herz schnitt. Er nahm ihre Hand und fühlte ein Zucken, als ob sie ihm die Hand entziehen wollte. Er saß lange am Bett und zwang sich, in leichtem Tone mit der Mutter von Gleichgültigem zu reden. Er konnte der Geliebten so, daß sie allein ihn verstand, nur sagen, daß er die Ursache der Krankheit kenne. Beim Abschied warf er in ihrer Gegenwart hin: »Ich habe im Marktflecken Kranke und übernachte dort bei Bekannten; ich kann morgen früh wieder herankommen.«

Eine schwere Krankheit brach aus. Nur der Doktor verstand die Größe der Gefahr und die Ohnmacht des Arztes, sie zu besiegen und während ihm geheime Angst die Wangen entfärbte, mußte er sich sicher und überlegen stellen, um der Kranken und den Eltern den Mut zu erhalten. Aber wenn er allein war, rang er die Hände gegen den Himmel und flehte fassungslos um Erbarmen. Weit anders erging [] es in lichten Augenblicken der Geliebten; wenn sie zu ihm aufsah, die ermutigenden Worte vernahm und die treue, zärtliche Sorge erkannte, dann erschien ihr seine Gegenwart wie eine Arznei, die ein Engel ihr zutrug. Als er mit bewegter Stimme und feuchten Augen sagen konnte, daß die Macht der Krankheit gebrochen sei und Genesung zu hoffen, sprach sie leise: »Ich will wieder beherzt sein um Ihretwillen.«

Der Doktor hatte in diesen Wochen wenig darauf geachtet, daß auch in der Stadt eine fieberhafte Erwartung in die Menschen gekommen war. Endlich durfte er zu seiner Kranken von einer neuen großen Hoffnung reden. Zwischen Napoleon und Rußland war der Krieg unvermeidlich geworden, für Preußen der Tag der Erhebung nahe gerückt. Und er berichtete, wie sich's in der Kreisstadt und auf dem Lande wieder heimlich rühre, und wie es nur eines königlichen Wortes bedürfe, um die Armee von vielen Tausenden zum Verzweiflungskampf zu bewaffnen.

Als das Mädchen ihm mit leuchtenden Augen zuhörte, fuhr er heiter fort: »Ich habe bis jetzt gehorsam nach Ihrem Willen getan und meine Liebe still vor aller Welt geborgen. Jener Brief aus fernem Lande aber veranlaßt mich, das lange Schweigen zu brechen, und ich erflehe von Ihnen, Geliebte, die Erlaubnis, bei den Eltern um Ihre Hand zu bitten.«

Da aber schlug Henriette die Hände vor das Angesicht und rief in heißem Schmerz: »Das war die Angst, welche mich krank gemacht hat. Wenn Sie bei den Eltern um mich anhalten, so verliere ich alles, was mir noch den Mut gibt zu leben; denn ich müßte auf Ihre Werbung mit Nein antworten.« Sie brach in Schluchzen aus. Er mühte sich, erschreckt durch den Anfall, sie mit zärtlichen Worten zu beruhigen, aber auch als sie aufgehört hatte zu weinen, saß sie in sich gekehrt auf ihrem Lager. »Unablässig quält mich der Gedanke«, rief sie endlich, »wie unglücklich Sie durch Ihre Neigung zu mir geworden sind. Ihnen vergehen die Jahre im einsamen Haushalt, und die Abhängigkeit von dem Belieben eines Fremden ist Ihrer unwürdig.«

»Sie wird es nicht sein«, antwortete bittend der Doktor, »wenn Sie mir sagen, weshalb sie nötig ist.«

Aber Henriette schüttelte das Haupt und weinte von neuem.

Wieder mühte er sich, sie zu trösten und sprach leise zu ihr von seiner Liebe und seinem Vertrauen, bis sie ihm schwermütig die Hand hinhielt. »Wollen Sie mich noch ertragen, wie ich bin, so bitte ich Sie: Lassen Sie es zwischen uns bleiben, wie es bisher war.« Und als er ihr dies versprach, neigte sich das Mädchen über seine Hand und küßte sie.

Er aber fuhr in stürmischer Bewegung heimwärts. Was war der Grund ihrer Angst und was schloß ihr den Mund? War es zu hoch [] gespanntes Pflichtgefühl gegenüber einer nichtigen Verlobung, oder war es geheime Sorge, daß er selbst mit dem Fremden in tödlichen Streit geraten könne? Was es auch war, gegen den Franzosen sammelte sich in seinem ehrlichen Gemüt ein bitterer Haß, und der letzte Trost, den er fand, war der, daß auch für ihr und sein Geschick die Entscheidung kommen werde durch den bevorstehenden Krieg.

Als mit der fortschreitenden Genesung seine Besuche seltener wurden und endlich ganz aufhörten, da sagte die Mutter verwundert zum Senior: »Der Doktor hat doch so vielen Anteil an dem Mädchen gezeigt und die weite Reise so oft gemacht, daß es mir manchmal auffällig war, und jetzt läßt er sich nicht mehr blicken.«

»Ich fürchte, er hat im Grunde etwas gegen uns«, antwortete der Pfarrer gedrückt.

Aber das erlösende Wort, welches die Waffen in die Hände des zornigen Volkes drücken sollte, wurde nicht vernommen, zum dritten Male war die Hoffnung auf Erhebung und auf Rache vergeblich gewesen. Zu der alten Schmach kam eine neue, die größte, greulichste. Als Bundesgenosse des höhnenden Tyrannen mußte das preußische Volk gezwungen seine Söhne in den neuen Krieg senden. Jetzt erst zahlten König und Staat die schwerste Buße für die Sünde, daß sie vor der großen Niederlage zehn Jahre lang preußisches Land und treue Herzen ausgetauscht und weggegeben hatten wie eine Ware, und daß sie ihre Grenzsteine herausgerissen und eingesetzt nach dem Gefallen des fremden Kaisers. Damals war der alte Stolz und die Ehre, welche die Ahnen um den Thron gesammelt, verloren worden, und darum zwang jetzt ein Übermächtiger das gedemütigte Volk, in Sklavenketten hinter ihm herzuziehen als ein Teil seines reisigen Trosses. Sobald dieser furchtbare Zwang dem Volke deutlich wurde, da schwand auch wackeren Männern das Zutrauen zu dem Willen und der Kraft der Führer, an welche sie sich in öden Jahren gehalten. Die Heftigsten dachten daran, sich von ihrem Vaterlande loszusagen, die Besonnenen trugen finster und schweigend ein unerhörtes Geschick. Und einer von ihnen, welcher den Schmerz wie eine brennende Wunde fühlte, schrieb an seine Geliebte: »Jetzt habe ich nichts mehr, was mir dies Dasein wert macht, als den Gedanken an Sie, Henriette. Ich weiß, daß dieses Reich des Antichrists nicht dauern kann, und ich weiß, daß wir seiner ledig werden müssen, so wahr eine göttliche Vernunft über dem Leben der Völker und der Menschen waltet; aber ich vermag aus dem Abgrund, in den sie uns wirft, den Weg zur Rettung nicht zu erspähen, und ich fühle mich in meinem Volke so schwach und der Ehre bar, daß ich auf den letzten Anspruch Unglücklicher verzichte, auf das Mitleid anderer Nationen mit unserem Geschick.«

Doch während die Klugen und Scharfsinnigen verzweifeln wollten, hatte eine höhere Gewalt, welche das Schicksal der Menschen [] und der Völker mit furchtbarer Genauigkeit abwägt nach ihren Gedanken und Werken, bereits dem Tyrannen den Pfad gewiesen, auf dem er verderben sollte, unerhört, abenteuerlich, wie sein Leben gewesen war. Die Geister der Zerstörung arbeiteten geschäftig in ihm selbst. Daß er schlecht war und ein Bösewicht im Purpur, das wußten Millionen, aber während auch seine Gegner in ihm noch den starken überlegenen Geist bewunderten, war er in der Tat bereits ein berückter Träumer, dem Wahngebilde das Hirn betäubten. Einst hatten ihn phantastische Ideen seiner Jugend zu den Sanddünen der Pyramiden geführt, die grünen Fluren am Nil sollten damals eine Station werden für seinen Alexanderzug nach Osten, weit über Syrien hinaus ins unermeßliche Blaue. Seitdem hatte er unter schwachen Dynastien und verrotteten Staatswesen aufgeräumt und bei dieser Arbeit eines Totengräbers alles eingebüßt, was die Seele des Mannes festigt gegen unsinnige Einfälle. Die Menschen und Völker waren ihm geworden wie Brettsteine, die er hin und her setzte. Achtung vor menschlicher Tugend, vor Leben und Glück der Nationen war ihm verloren, und verloren war ihm zugleich die Fähigkeit, sich selbst zu beschränken, Zeit und Raum abzuwägen und eigene und fremde Kraft verständig zu berechnen. Und in dem verwüsteten Geist erhob sich aufs neue der Unsinn aus seiner Leutnantszeit; den Blick nach Osten gewandt, träumte er wieder sich und sein Heer über Steppen und Ströme hinaus Tausende von Meilen bis an die Fluten des Ganges und darüber ins unermeßliche Leere. Mancher aus seiner Umgebung erschrak, wenn er einmal wie ein Trunkener von seinen Plänen sprach, keiner wußte, wie sehr der Wurm in ihm bereits das Mark des Lebens zerfressen hatte. Die Klugen wußten es nicht, aber der einfältige Sinn des Volkes ahnte, daß unsichtbare Gewalten gegen ihn geschäftig waren.

Henriette stand auf dem Ringwall und blickte hinaus nach der fernen Heerstraße, auf der sich die Kolonnenzüge bewegten. Seitwärts bei den Dornen arbeitete der alte Christian emsig mit Haue und Schaufel, hieb in die Erde und rodete das Gestrüpp. »Was tut Ihr dort, Schäfer?« fragte das Mädchen. Der Alte trocknete sich mit dem Ärmel die Stirn. »Es muß alles heraus«, sagte er, »seine Zeit ist gekommen. Denn jedem auf Erden ist der Tag bestimmt, wo es hinweg muß; dem Dornholz hier und den Menschen dort.«

»Es will kein Ende nehmen mit dem Heereszuge und dem reisigen Fuhrwerk«, klagte Henriette, »seit acht Tagen fährt es dahin von früh bis zur Nacht, zahllos sind die Menschen, Tiere und Wagen; es ist, als ob ein ganzes Volk auswandert in ein anderes Land.«

Der Schäfer trat zu ihr. »Je mehr ihrer hinziehen, um so besser. Die dort oben in der Luft ziehen auch mit.«

»Was wollt Ihr damit sagen, Christian?«

»Haben Sie jemals so viele Krähen und Raben gesehen?« fragte [] der Alte, und er hatte recht, in ungeheuren Schwärmen flogen und schrien die dunklen Vögel.

»Sie finden Futter an toten Pferden und Abfällen, wo die Soldaten lagern.« Der Schäfer schüttelte, seiner Überlegenheit bewußt, den Kopf, dann sagte er leise: »Haben Sie heut nacht nichts gemerkt? Das Schwedenvolk, das hier herum und auf dem Kirchhofe liegt, ist aus der Erde gestiegen, einer nach dem andern, alle in grauen Mänteln, und die Gesellschaft breitete sich aus über die Felder und wälzte sich in der Luft nach derselben Richtung, in der diese fahren. Reiter und Fußvolk ziehen unten und die Grauen und ihre Vögel fliegen oben, und die oben sind mächtiger.«

Nachdem der wilde Schwall vorübergerauscht war, kam Bärbel nach der Pfarre mit geringem Lebensmut. »Unser Hof ist leer«, klagte sie; »es war eine schreckliche Woche, jeden Tag und jede Nacht rohes Volk im Hause, und das wüste Lärmen und Fordern in fremden Sprachen, nichts war ihnen gut genug, und wenn einmal ein Offizier sich unser erbarmte und die Leute schalt, so verhöhnten sie ihn und drohten. Ein Alter unter ihnen, der mit der deutschen Sprache umzugehen wußte, sagte meinem Manne: ›Trage auf, Bauer, was du hast; wir wollen's genießen, weil wir leben, denn wir ziehen zu Grabe.‹ An einem Abend, wo die ganze Stube voll war, hatten sie geschrien und getrunken, daß uns Angst wurde, und mit einem Male fing ein junger Bursche an laut zu weinen, redete auf französisch zu den anderen und alle wurden still und ließen die Köpfe hängen. Die ganze Zeit über haben wir, Karl und ich, die Nacht auf der Ofenbank gesessen, ich legte mich an die Schulter des Mannes, wenn mir die Augen zufielen, die Kleinen hatte ich in der Wiege vor mir. Wie sollten wir dieses Jahr durchmachen?«

»Dein Karl soll mit dem Wagen kommen; was die Pfarre entbehren kann, erhaltet ihr vor andern, ich will's beim Vater ausmachen.«

Auch in der Kreisstadt gab es bedächtige Männer, welche eine große Entscheidung voraussahen. »Ich frage gern in schweren Zeiten meinen Schuster um Rat«, sagte der Einnehmer zu seinem Freunde, »er ist kein großer Redner, aber er sieht die Dinge mit einem Mutterwitz an, den mancher Klügere nicht hat.« Schuster Schilling pochte lustig am Leder herum, als sein Kunde ihn begrüßte: »Nun, Meister, was wird aus diesem Kriegszuge des Kaisers herauskommen?«

Schilling schüttelte lange den Kopf und sagte gewichtig: »Der Mann ist niemals als Schustergeselle bei den Moskowitern gewesen, wie ich damals von Südpreußen aus, sonst würde er jetzt nicht zu ihnen gehen. Wie weit, glauben Sie, wird seinen Leuten auf dem langen Wege das Schuhwerk vorhalten? – Es ist alles zerrissen, bevor er zu den eigentlichen Moskows kommt, und wer soll dort für so vieles Volk neue Stiefeln machen? Das Land ist zu groß und mit zu[] wenig Menschheit besetzt, und es fehlt dort auch an anderem. Von Birkenrinde können sie nicht leben.«

»Die Stiefel läßt er aus Ihrem Laden holen, Meister, und die Speckseiten aus dem Rauchfange unserer Bauern, alles wird ihm ins Russische nachgeschafft.« Schilling lächelte: »Dann müßte er sein Heer zurückführen und sich alles selber holen, sonst wird das wenigste bis zu ihm durchdringen; die Russen können das durchaus nicht leiden. Nämlich die Russen sind gutmütig, aber sie haben diese Eigenschaft: Ist einer artig, so sind sie grob und nehmen ihm mit Gewalt, was er hat; und ist einer grob, so sind sie ins Gesicht artig und mausen ihm das Seine hinter seinem Rücken. Nehmen tun sie in jedem Falle. Jetzt geht Bonaparte grimmig gegen sie vor; folglich werden sie sich zurückziehen und über alles hinter seinem Rücken herfallen, und er wird mit dem einen Arm nach vorn und mit dem andern nach hinten hauen müssen. Diese Art Prügelei hält niemand auf die Länge aus.«

»Gut Meister. Was aber soll mit uns werden? Wir sind seine Verbündeten geworden.«

»Das ist mir ganz recht«, erklärte der Schuster, »wir halten uns hübsch zurück und immer mehr zurück, lassen ihn vorwärts und machen hinter der großen Ratte die Falle zu.«

»Meister«, rief der Einnehmer, »wenn Sie mir nicht für mein Schuhwerk unentbehrlich wären, würde ich Sie unserm König zum Minister empfehlen.«

»Ich habe nie großen Ehrgeiz gehabt«, sagte der Meister bescheiden.

Der Sommer kam und der Herbst, der Handwerker nähte und pochte in seiner Werkstatt, und der Landmann tengelte seine Sense, um die Brotfrucht einzubringen. Der Bürger hielt zuweilen in der Arbeit an und lauschte, und der Mäher ließ die Sense sinken und sah hinauf in die Luft, als ob von dort etwas Neues heranziehe. Gedanken und Träume der Leute irrten umher in weiter Ferne, und heimliche Erwartung schärfte jedem Auge und Ohr.

Die Frühstücksstube war lange verödet gewesen, jetzt traten die Herren wieder ein; sie saßen aber nicht wie sonst am Tische, sondern standen und gingen auf und ab, während sie von den neuen Siegen des Kaisers erzählten. Da sagte einst im Spätherbst der jüdische Weinwirt geheimnisvoll zum Einnehmer: »Einer von unsern Leuten ist aus Warschau zugereist, dort hat er sichere Nachricht erhalten von der großen Armee; das große Heer ist klein geworden, an den Landstraßen liegen überall tote Pferde und umgeworfene Karren, alle Städte sind angefüllt mit Kranken und Sterbenden, niemand will sie mehr begraben; alles, was der Kaiser über seine Siege schreiben läßt, ist erlogen.«

Seitdem folgte eine Botschaft der andern, von einer endlosen [] Heerreise in Wüsteneien, von Siegen, die so mörderisch waren wie Niederlagen, von Hunger, Elend und Untergang. Die Kunde klang zuerst undeutlich aus der Ferne wie Weheschrei eines Nachtvogels. Aber als der Wintersturm über die kahlen Felder fegte und die letzten Blätter von den Bäumen riß, wurde der Schicksalsruf lauter und lauter, bis er wie Posaunenschall in die Ohren drang. Mancher wackere Städter, der während des Sommers gedrückt seines Weges gegangen war, hob jetzt trotzig das Haupt, und die, welche einst bei der Freikompanie gewesen waren, griffen nach dem Gewehr, das lange verstäubt im Winkel gestanden, und prüften die Schlagfeder. Die Zeit war nicht danach, daß sich die Leute ohne Not neue Ware kauften, aber Schuster Schilling hatte große Kundschaft, und seine Werkstatt wurde der Unterhaltung wegen von vielen besucht, denn er hatte zuerst alles vorausgesagt. Eine Freude, wilde, grimmige Freude, wie die Leute niemals gefühlt, brach in Gebärde und Worten heraus. Als Beblow erfuhr, daß die Flucht der Franzosen begonnen, stieß er seinen Stahl dem gefällten Rinde bis an den Griff in den Leib, sprang in den Laden und fiel seiner Frau vor allen Leuten um den Hals; wo Bekannte zusammenstießen, schüttelten sie einander die Hände, lachten und weinten in einem Atem.

Draußen heulte der Wind, kalter Regen wandelte den gefallenen Schnee in mißfarbigen Schlamm und machte das Verweilen auf der Straße unbehaglich. Die Bürger saßen mit ihren Hausgenossen nahe am Ofen. Doch sooft draußen ein Karren rasselte, wenn der Sturm Dachziegel herunterwarf oder ein starker Tritt auf dem Pflaster erklang, liefen die Leute an die Fenster; um jeden Wagen, um jeden Reiter, der mit seinem Pferde anhielt, sammelte sich im Augenblick ein neugieriger Haufe, dann gab es kurze Zeit ein Gewühl, niemand wußte warum, bis jung und alt sich wieder in den Häusern verlor. Als der Einnehmer in sein Amtslokal ging, fand er vor der Posthalterei einen gedrängten Haufen; da dies nicht die Stunde war, wo die ordentliche Post erschien, und da Herr Köhler jeder Sache auf den Grund ging, so trat er näher und schritt durch den Kreis, welcher einen Schlitten umgab. In dem Schlitten saßen zwei Männer, in große Pelze gehüllt. Der Posthalter kam eilig heraus und reichte dem Postillon Papiere, und als der Einnehmer ihn fragend ansah, sagte er leise: »Es ist ein französischer Herzog, durch Stafette angekündigt, er hat's eilig, weiterzukommen.« Da stellte sich Herr Köhler zurecht, um diesen Herzog zu betrachten. Von den beiden Männern saß der größere aufrecht und blickte finster um sich. »Du bist der Herzog nicht«, sagte sich der Beobachter, »dann also der andere.« Der Kleinere saß müde zurückgelehnt in seinem Pelze verborgen.

Endlich gelang es dem Einnehmer, bei einer ungeduldigen Bewegung des Verhüllten den Kopf zu sehen; er erkannte in dem trüben Tageslicht ein fahles, gelbliches Angesicht und fing einen harten [] Blick aus stechenden Augen auf, so daß er unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Der Postillon schwang sich auf seinen Sitz und hob die Lederpeitsche, da griff Herr Köhler entschlossen in seine Brusttasche, zog den Hut, trat mit tiefer Verneigung an den Schlitten und legte etwas auf die Decke. Die Peitsche knallte, und der Einnehmer schritt, immer noch mit entblößtem Haupt, nach rückwärts, während die Pferde anzogen; dann setzte er seinen Hut gemütlich auf und schritt zu seinen Tabellen. Als er zur Mittagsstunde mit dem Doktor über den Markt kam, trat der Bürgermeister zu ihm. »Dies Buch ist auf der Gasse gefunden worden, der Ratsdiener sagt, daß Sie es dem Fremden heut früh überreicht haben.«

»Ha, in der Tat!« rief Herr Köhler und betrachtete mitleidig den Band, welcher durch den Schlamm des Weges traurig verdorben war, »es ist das meinige. Ich will Ihnen sagen, wie die Sache zusammenhängt. Dieser Fremde, der heut morgen als Flüchtling hier durchkam, war der Kaiser Napoleon. Ich wollte ihm etwas Lektüre auf den Weg geben, aber der undankbare Kerl versteht Gutes nicht zu schätzen«, und er wies das Buch; es war von seinem Lieblingsdichter und hatte den Titel: Katzenbergers Badereise.

Der Verlobte

Immer noch fiel der Schnee in großen Flocken, aber die weiße Decke, welche sich über die Straßen der Stadt breitete, war trügerisch, denn wo ein Fußtritt oder ein Schlitten eindrückte, füllte sich die Spur mit schlammigem Wasser. Durch Schnee und Regen klangen dumpfer als sonst die Sonntagsglocken, da kam ein plumper Bauernschlitten, mit grauer Leinwand überdeckt, von zwei abgetriebenen polnischen Gäulen gezogen, durch das Stadttor. Ein alter Mann mit langem grauen Schurrbart und einer polnischen Mütze trieb als Kutscher die elenden Pferde und sah wild zur Seite, als der Stadtsoldat herantrat und sein »Halt! Wer da?« rief; denn wegen des durchziehenden französischen Volkes hatte die Stadt auch für den Tag eine Torwache bestellt.

Der Kutscher antwortete etwas in fremder Sprache, wovon die Wache nur »L'Empereur« verstand.

»Die Geschichte mit dem Lamperör ist zu Ende«, sagte der Stadtsoldat unwillig, »mit euch macht man jetzt wenig Federlesens. Die Hintergasse hinein zum Spital, dort meldet euch!«

Ein kurzer Befehl kam aus dem Fuhrwerk, der Kutscher peitschte die Mähren und fuhr geradeaus dem Markte zu. Der Torwächter sah ihm entrüstet nach: »Das Volk will noch nicht parieren«, brummte er und setzte sich wieder in sein Schilderhaus, »auf dem Markte werden sie euch schon anhalten.« Der Schlitten fuhr beim [] Gasthofe vor, der Hausknecht stand in der Tür, er rührte sich nicht, dem Kutscher zu helfen. »Fahrt fort, ihr findet hier kein Unterkommen.« Da rief aus der Leinwand die Stimme eines Mannes: »Ich lasse die Frau Wirtin ersuchen, sich herzubemühen.« Nach einer Weile kam die Wirtin langsam heran, aber sie schlug vor dem Schlitten die kräftigen Arme übereinander, gerüstet, den Fremden abzuweisen. Die Leinwand öffnete sich, in dem Schlitten lag, auf Futtersäcken, in Decken gehüllt, ein Mann in französischer Uniform, deren verschossene Goldstickerei schließen ließ, daß der Kranke ein vornehmer Offizier war.

»Ein alter Bekannter bittet um ein Quartier, Frau Wirtin; ich habe vor einigen Jahren bei Ihnen gewohnt.« Die Wirtin starrte in das Gesicht. »Das ist ja der fremde Kapitän, der unsere Reiter aussperrte. Mein Gott, wie sehen Sie aus?«

»Weisen Sie mich nicht ab, denn ich bin krank.«

»Ich darf Sie nicht nehmen«, sagte die Frau mit erwachender Teilnahme; »die Kranken müssen alle ins Hospital.«

»Ich brauche nur einige Tage Ruhe, um mich zu erholen, und werde Ihnen dankbar sein.«

»Ich muß Sie aber sogleich anmelden beim Magistrat und auch bei dem Herrn Doktor.«

»Das ist mir recht, ich bitte um den Besuch des Arztes«, sagte der Franzose. Er wurde mit Hilfe seines Begleiters und des Hausknechts aus dem Schlitten gehoben und die Treppe hinaufgeführt. Da die Wirtin ihn einmal aufgenommen hatte, gedachte sie freundlicher ihrer Pflicht und fragte, was er begehre: »Wärme in das Zimmer und etwas Warmes zu trinken.«

»Das fordern sie alle«, sagte die Wirtin im Herausgehen, »er ist sehr verändert, aber noch immer ein schöner Mann. Wie prächtig sah er damals aus, als er mit der Pistole jedermann niederschoß.« Der Fremde legte erschöpft den Kopf in die Kissen. Eine Stunde darauf öffnete der alte Begleiter leise die Tür. Der Doktor hatte die Botschaft erhalten, daß ein französischer Oberst seine Hilfe begehre; als er vor das Bett des Fremden trat, der sich in unruhigem Halbschlummer hin und her warf, fuhr er zurück und sein Antlitz wurde so blutlos, wie das des Kranken. Vor ihm lag der Feind seines Lebens, der ihm und einer anderen seit Jahren Glück und Frieden verstört hatte; hilflos lag er vor ihm, er sah, wie der Arzt sieht, den Beginn einer schweren Krankheit, und er sollte ihn heilen. Wie er so unbeweglich stand, richtete sich der Franzose halb auf und starrte ihn mit großen Augen an: »Ich bin krank, mein Vater«, murmelte er leise in deutscher Sprache; doch gleich darauf fuhr er französisch fort: »Sie sind es, Herr Doktor? Solches Wiederfinden haben wir beide nicht gewünscht. Aber Sie sehen, ich halte mein Wort und komme zurück, damit Sie mich weiter in die Kur nehmen. Machen Sie mich[] schnell gesund, Herr, denn mein Kaiser braucht mich.« Der Doktor setzte sich zum Bett und tat die Fragen an den Kranken selbst und an den alten Franzosen, welcher an der Tür stand, dann verordnete er, was zunächst nötig war, und sagte gehalten: »Ich werde mir vor allem Mühe geben, durchzusetzen, daß Sie im Gasthofe bleiben, das Hospital ist leider überfüllt, und den Kranken wird es schwer, sich dort zu erholen. Ich bringe sogleich Bescheid.«

»Kein Hospital«, rief der Fremde heftig, »auch in dem Gasthofe denke ich nicht zu bleiben; ich habe hier in der Nähe eine Familie auf dem Lande, in welcher ich meine Genesung abwarten will, dort hoffe ich bessere Pflege zu finden.«

Als der Arzt wiederkam, war die Krankheit zum Ausbruch gekommen. Der Fremde warf sich in wilden Phantasien umher. Der Doktor lauschte auf die tollen Reden in französischer und deutscher Sprache, und er hörte mit Schrecken, wie die Bilder von Gefechten und die Todesangst vor einem kalten Strom, in dem der Kranke neben seinem Pferd treiben mußte, mit anderen Gedanken wechselten, von einem Pfarrhause, das er suchte und nicht finden konnte. Er sah auf die Hand des Liegenden, der Ring mit dem Vergißmeinnicht steckte daran. Als er das Bett verließ, nahm er den alten Begleiter beiseite und sagte: »Ich will bewirken, daß Sie hierbleiben und die Pflege Ihres Herrn übernehmen dürfen.« Der Franzose dankte mit tränenden Augen. »Ich werde dafür sorgen, daß Sie selbst gut verpflegt werden, damit Sie in diesem Dienste aushalten können, und ich werde Ihnen, wenn die Krankheit sich steigert, noch einen Mann zur Hilfe beiordnen; dafür geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie dem Kranken mit Festigkeit widerstehen, wenn er in lichten Augenblicken den Willen ausspricht, Bekannte zu sehen, die er in dieser Gegend hat, und daß Sie, wenn er es noch so dringend verlangen sollte, ohne mein Wissen keine Nachricht nach auswärts abgehen lassen. Die Krankheit droht mit Ansteckung, und ich kann es nicht verantworten, andere der Gefahr auszusetzen.« Der Alte versprach alles.

Als der Doktor nach Hause kam, warf er sich in den Sessel und schlug die Hände vor das Gesicht. Von den bitteren Pflichten seines Berufes sollte ihm keine erspart bleiben; nach jener Krankheit der Geliebten die Todesgefahr des Mannes, der sich zwischen ihn und sein Glück gedrängt hatte. Es war ein schwerer Fall; wenn er sich zurückzog und dem für die Fremden bestellten Chirurgus die Behandlung überließ, wer konnte ihn tadeln? Wenn der Fremde ein Opfer der Krankheit wurde, wie tausend andere, so war die Geliebte frei! Dieser Gedanke wirbelte ihm durch das Hirn, aber nicht lange. Er erhob sich, trat an das Fenster und sah hinaus zu den grauen Schneewolken: »Das ist mein Kriegsdienst«, sagte er bitter, »er bringt nicht nur das Leben in Gefahr, auch die Seele.« Und er [] legte die heiße Stirn an die kalten Scheiben, dann maß er mit festem Schritt sein Zimmer. »Sie muß es wissen«, sagte er laut, und von neuem überkam ihn die Angst, und wie sehr er sich in seinen Gedanken wehrte, auch ein anderes Gefühl, das mit Eifersucht nahe verwandt war. Wer konnte sagen, ob ihr nicht als Pflicht erschien, dem Kranken zur Pflege herbeizueilen? Durfte er das hindern? »Nein!« rief er laut. »Sie hat das Recht, zu fordern, daß ich ihr jetzt vertraue, wo für uns beide die Zeit der Prüfung kommt.« Und er schrieb ihr, auch von seinem innern Kampf, er gelobte ihr, alles für den Kranken zu tun, was er vermöge, und flehte, daß sie sich und die Eltern jetzt keiner Gefahr aussetze. Erst als er auf diesen Brief die kurze Antwort erhielt: »Ich werde tun, mein Freund, was Sie für recht halten«, wurde er ein wenig getröstet.

Die Krankheit stieg; es vergingen Tage, wo der Doktor selbst nicht an die Genesung glaubte. Er kam und ging, saß halbe Stunden bei dem Bett und lauschte auf die Atemzüge eines Lebens, das ihn elend machen sollte, wenn er es erhielt. Dann kam ein Tag, wo der alte Husar mit Tränen der Dankbarkeit seine Hand ergriff und erstaunt war, daß der gute Doktor die Hand so heftig zurückzog. Endlich durfte er dem Kranken sagen: »Die größte Gefahr ist beseitigt, jetzt kommt alles darauf an, daß Sie Kräfte gewinnen.«

»Sie haben redlich an mir gehandelt, mein Herr«, sagte der Franzose, »ich weiß recht gut, daß Sie das Überwindung gekostet hat. Ich sah zuweilen, wie Ihr Auge auf mich gerichtet war; Sie sind Patriot und hassen in mir den Feind Ihres Vaterlandes.«

»Ich habe gegen Sie meine Pflicht getan wie gegen jedermann«, antwortete der Doktor, »und ich denke, Sie werden auch nach Ihrer Genesung mir dies Zeugnis geben.«

»Ich habe Ihre Sorge und die der guten Wirtin lange in Anspruch genommen; mein treuer Diener sagt mir, daß ich Wochen hier gelegen. Ist es für andere nicht mehr gefährlich, in meine Nähe zu kommen, so wünschte ich wohl, daß einer Familie, die ich in dieser Landschaft kenne, Nachricht von meinem Hiersein gegeben wird.«

»Wenn Sie diese Rücksicht auf die Gesundheit anderer nehmen«, antwortete der Doktor, »so muß ich Sie bitten, noch einige Tage zu warten.«

»Ich bin geduldig geworden«, seufzte der Franzose und sank müde in die Kissen zurück.

Als aber der Doktor das nächste Mal eintrat, begann der Kranke wieder: »Sie sollen wissen, daß ich eine Braut hier in der Nähe habe.«

»Sie haben davon in Ihren Phantasien gesprochen.«

»Wohl möglich«, nickte der Franzose. »Es war eine wunderliche Affäre, mein Herr. Ich hatte Gelegenheit, einen guten alten Mann und seine Tochter aus den Händen von Marodeuren zu befreien; die [] Marodeure waren Ihre deutschen Landsleute, keine Franzosen. Ich war eine Zeitlang allein unter trunkenen Wilden, und um die Situation zugunsten der Gefährdeten zu wenden, sagte ich zu den Schuften, daß die junge Dame meine Braut sei; und da ich nicht für eine Unwahrheit verantwortlich werden wollte, so verlobte ich mich zur Stelle mit ihr.«

»Waren das Fräulein und der Vater damit einverstanden?« fragte der Doktor mit rauher Stimme.

»Die schöne Henriette war ziemlich bewußtlos, als die Ringe gewechselt wurden, das ist wahr; der Vater hatte nichts einzuwenden. Sie schweigen, mein Herr, Sie halten die Sache für den übermütigen Scherz eines jungen Offiziers, der ich damals war? Ich habe nichts dawider, wenn ein bedächtiger Deutscher den schnellen Entschluß verurteilt. Doch da Sie als Arzt auch gern beobachten, was in der Seele vorgeht, so will ich zu meiner Rechtfertigung Ihnen im Vertrauen zweierlei sagen. Zuerst natürlich, daß das Mädchen sehr schön war und daß die rührende Hilflosigkeit, in der sie am Boden lag, mir die ganze Seele bewegte, und ich versichere Sie, es sind seitdem Jahre vergangen, aber ich sehe die holde Gestalt noch oft in dieser Weise vor mir. Warum schweigen Sie, mein Herr? Hören Sie noch etwas. Als ich in die Stube sprang und mich umsah, die Schufte zurückwarf und die gebrochene Gestalt an der Hand hielt, da Doktor, war mir plötzlich zumute, als hätte ich das alles schon einmal erlebt und gewollt, und als müßte ich sie mir verloben, um ihr Leben vor Ärgerem zu bewahren. Und ich tat es wie etwas, das sich von selbst versteht. – Übrigens hat das Abenteuer zu meinem Glück geholfen, soweit jemand von Glück sprechen kann, der vor Ihnen liegt wie ich. Der Bruder des Kaisers, der damals in Ihrer Hauptstadt befahl, erfuhr davon, fand die Geschichte plaisant und sandte mich in guter Absicht mit Briefen zum Kaiser. Auch diesem muß durch seine Umgebung oder den Prinzen der Vorfall bekannt geworden sein, und er war aus irgendeinem Grunde nicht unzufrieden, vielleicht weil ein Franzose sich darin weniger gewalttätig darstellte als die Deutschen, und erwies mir seitdem bei jeder Gelegenheit persönliche Gnade. Er behielt mich in seiner Nähe, dann wurde ich nach Italien und Spanien geschickt und schnell befördert. Der Kaiser vergißt nichts. Als vor dem Ausmarsch nach Rußland mein Regiment bei ihm vorüberzog, rief er mich heran und fragte mit einer wahrhaft liebenswürdigen Freundlichkeit: ›Oberst, wie geht es Ihrer deutschen Frau?‹ Und als ich antwortete: ›Meine Braut lebt noch in ihrer Heimat bei den Eltern‹, setzte er hinzu: ›Der Bräutigam war in der Fremde. Ich hoffe, wenn diese weite Promenade beendet ist, werden Sie der Kaiserin die Generalin Dessalle vorstellen.‹«

Der Doktor bezwang die innere Empörung. »Haben Sie nie daran gedacht«, sagte er bitter, »daß Ihr plötzlicher Einfall das Lebensglück [] eines Mädchens, welches Ihnen doch fremd war, zerstören konnte?« Der Franzose erhob sich in seinem Bett und sah den Arzt groß an: »Mein Herr, ich will die Dame zur Oberstin Dessalle machen.«

»Wenn aber sie selbst diese Ehre nicht zu würdigen weiß?«

Der Kranke legte sich wieder zurück und lächelte. »Ihr Vater hat mir in der Tat in den letzten Jahren so etwas in einem Briefe angedeutet, den ich in Spanien erhielt, und wie er schrieb, auch meinen Ring zurückgeschickt. Der Ring lag übrigens nicht in dem Briefe. Ich mußte antworten, daß ich diese Aufkündigung eines zarten Verhältnisses für allzu streng halte, den Ring meiner Braut bewahren und vorläufig meine Rechte gegen jedermann behaupten werde, bis ich Gelegenheit erhalte, von ihr selbst Erhörung zu erbitten. Ich nahm an, daß dies in kurzem möglich sein werde, und ahnte nicht, daß ich mich als Kranker ihr vorstellen würde.«

Der Doktor stand auf. Während er aber nach Haltung rang, um dem Egoismus des Fremden ruhig entgegenzutreten, sah er, daß ein Kranker vor ihm lag, dessen Arzt er war. Und er begnügte sich zu sagen: »In einigen Tagen darf die Familie benachrichtigt werden, dann werden Sie auch meinen Beistand entbehren können.«

Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, sagte der Franzose zu seinem Begleiter: »Dieser Mann ist mein Feind, und wir sind hier nicht in guten Händen.«

»Ach, Herr Oberst, wenn Sie wüßten, wie er um Sie gesorgt hat; oft kam er noch in der Nacht und saß mit gefalteten Händen an dem Bett, ihm verdanken wir, daß Sie alles überstanden haben.«

»Einerlei!« rief der Kranke; »ich will fort, alle Leute hier hassen uns. In dem Pfarrhause finden wir bessere Gesinnung.«

Der Doktor schrieb sogleich an den Senior, teilte die Krankheit und den Wunsch des Obersten mit, ersuchte um Entscheidung und verbarg dem Pastor nicht, daß zwar die Gefahr der Ansteckung bei nötiger Vorsicht geschwunden sei, daß aber der Aufenthalt des Obersten in der Pfarre der Familie doch vielleicht nachteilig sein könne.

Der Brief, welchen Bärbel zugleich mit einem andern an Henriette überbrachte, erregte im Pfarrhause große Bestürzung. Der Vater fühlte die Verpflichtung der Familie, aber auch, daß das Einlagern des kranken Franzosen in dieser Zeit eine schwere Sache sei; auch die Mutter hatte alten Hoffnungen beinahe entsagt, sie fürchtete die Ansteckung und Belästigung, die Tochter entschied: »Wenn er zu uns will, und wäre er ein Pestkranker, wir dürften es ihm nicht verweigern; hat er sein Leben für uns aufs Spiel gesetzt, so ist jetzt der Tag gekommen, wo wir es für ihn wagen müssen. Danken wir dem Himmel, daß er dies so gefügt hat, die Last der Verpflichtung uns leichter zu machen.« Bärbel aber schlug, als sie mit Henriette allein war, die Hände zusammen. »Wie kannst du das tun, den,[] welchen die Leute für deinen Bräutigam halten, ins Haus nehmen, während du einen andern lieber hast? Was soll dieser dazu sagen?«

»Ja, Bärbel«, rief Henriette, »gerade des andern wegen. Die beste Stube soll der Franzose haben und Pflege wie ein Bruder, das ist sein Recht.«

»Das ist nicht recht und wird nicht gut«, entschied Bärbel kopfschüttelnd und ging nach Hause, zum ersten Male unzufrieden mit ihrer Freundin.

Der Senior kam mit seinem Wagen nach der Stadt, den Kranken abzuholen. Er suchte zuerst den Doktor auf. »Wir dürfen uns dem Wunsche des Obersten nicht entziehen nach allem, was vorhergegangen ist, auch meine Tochter ist der Meinung. Würde Ihre Begleitung nicht vorteilhaft sein?« fragte er furchtsam. »Wir haben zwar gar keinen Anspruch darauf, ein so großes Opfer zu verlangen.«

»Hat Ihr Fräulein Tochter den Wunsch ausgesprochen?«

»Es fiel mir auf dem Wege ein«, sagte der Senior, »damit Sie an Ort und Stelle anordnen könnten, wie der Kranke gehalten werden soll.«

»Dafür ist meine Begleitung nicht nötig«, versetzte der Doktor finster, »sagen Sie Fräulein Henriette, daß ich, sobald sie meine Anwesenheit wünscht, zu jeder Stunde bereit bin. In den ersten Tagen bedarf der Kranke Schonung, auch aufregende Gespräche sind soviel als möglich zu vermeiden.«

Henriette ging den Tag über geschäftig durch das Haus, sie ließ sich nicht nehmen, das Zimmer für den Obersten und ein kleines daneben für den alten Franzosen selbst einzurichten, und trug aus dem einfachen Hausrat alles zusammen, was irgendwie zur Bequemlichkeit eines werten Gastes dienen konnte. Die Mutter sah verwundert zu. »Ob sie insgeheim noch daran denkt, daß er sie zur Frau haben will?« Und sie fragte: »Willst du die blühende Hyazinthe nicht auf den Tisch stellen?«

Henriette verneinte: »Sie riecht zu stark in der Krankenstube.«

Wie der Abend kam, zündete sie in allen bewohnten Zimmern Lichter an, hing auch im Flur die große Laterne auf, so daß das Haus mit vielen leuchtenden Augen in die Finsternis hineinblickte. Dann setzte sie sich still hin, die Hände im Schoß gefaltet, und wartete.

Der Wagen fuhr vor, die Mutter eilte neugierig in den Flur, dort den Gast zu begrüßen. Henriette blieb wie ein Bild von Stein sitzen; es war derselbe Sessel, an dem sie damals auf dem Boden gelegen hatte, und dieselbe Stelle, auf welcher er ihr den Ring angesteckt. Da trat der Franzose ein, gestützt auf den alten Husaren; langsam erhob sie sich und verneigte sich wie gegen einen vornehmen Fremden. Auch der Franzose stand einen Augenblick festgebannt, die Augen flogen wie einst durch das Zimmer und hafteten [] auf dem tiefernsten Antlitz der Jungfrau vor ihm. »Haben Sie Nachsicht mit einem Kranken«, begann er in gemessenem Tone, »wenn er nach langem Aufenthalt unter Menschen, die ihm feindselig waren, alte Bekannte aufsucht, bei denen er menschliches Mitgefühl für sich erhofft.«

»Mein Vater und ich verdanken dem Oberst, daß wir heute hier stehen, Sie zu begrüßen; wenn der Aufenthalt in unserem Hause für Ihre Genesung irgend von Nutzen sein kann, so sind Sie uns als Gast willkommen.« Er verbeugte sich schweigend, sprach einige Worte zum Senior und der Hausfrau und bat dann, ihm zu gestatten, daß er auf sein Zimmer gehe. Dorthin geleiteten ihn die Eltern. Der Empfang war überstanden, Henriette war zufrieden, daß er ihr diesen leicht gemacht hatte, und bat still um Kraft, die nächsten Wochen zu ertragen.

Als der Oberst sich mit Hilfe des Alten auf dem Lager zurechtgerückt hatte, begann er trotz seiner Müdigkeit in guter Laune: »Nun, Vater, wie gefällt dir die Braut und das Hochzeitshaus?«

»Mademoiselle ist schön und entschlossen, sie ist die Herrin im Hause; daß sie dem Herrn Obersten ergeben ist, möchte ich nicht behaupten.«

»Aus dem Vater habe ich herausgehört, daß sie wenigstens keinen Freiwerber hat. Aber die guten Leute hier fühlen sich im Grunde auch belästigt durch unsere Gegenwart, und es kann wohl sein, daß sie bald Landesfeinde in uns sehen. Es tut nichts. Seit den traurigen Nächten im russischen Schlitten und in dem widerwärtigen Gasthofe kommt mir dies Bett vor, als stände es im Elternhause« – er streckte dem Diener die Hand entgegen –, »ruhe auch du, mein Alter, dir tut es nicht weniger not als mir, und für die Zukunft vertrauen wir unserm alten Glück.«

Am andern Morgen wurde der Gast spät sichtbar. Henriette traf ihn im Zimmer des Vaters, er grüßte sie artig und sprach sie an mit der gewöhnlichen Aufmerksamkeit, welche ein Mann von Selbstgefühl der Tochter des Hauses zu widmen hat; dann redete er zum Vater weiter von den Beschwerden des letzten Feldzuges, ruhig und gehalten, nur einmal wurde er lebhafter, als er seinen Diener erwähnte. »Meinem Alten verdanke ich, daß ich nicht im Schnee zurückgeblieben bin. Ich war gestürzt und lag betäubt, da wußte er mir ein Gespann zu verschaffen – er hatte es nicht ohne Kampf mit anderen armen Teufeln gewonnen –, lud mich darauf und war durch viele öde Meilen mein Fuhrmann.«

»Er ist von Ihrem Regiment?« fragte der Senior.

»Er war Wachtmeister, als ich eins hatte; es ist dahin, hochwürdiger Herr. Der Alte aber und ich gehören noch in anderer Weise zusammen. Er ist mein Pflegevater, und wenn ihn diese Eigenschaft bei Ihnen irgendwie empfehlen kann, so bitte ich herzlich, [] lassen Sie es ihm zugute kommen.« Das versprach der Senior bereitwillig und fragte, ob er ihn an den Tisch ziehen sollte.

»Das würde er auf keinen Fall annehmen« sagte der Oberst, »überlassen Sie ihm selbst, sich unterzubringen; er versteht gut, heimisch zu werden.«

»Das ist er schon«, versicherte der Senior, »und nicht von heut. Er findet auch die alte Magd wieder, die er früher mit seinem Französisch unterhalten hat.«

Der Oberst war aufgestanden und betrachtete die Bilder an der Wand; dem Senior war erfreulich, daß sein Gast die Erinnerungen an Doktor Luther so angelegentlich ins Auge faßte.

»Ich bin Protestant«, sagte der Oberst, sich umwendend, »und ich bin der Sohn eines Pfarrers. Mein Vater war ein strenger und trübsinniger Mann, der seinen wilden Knaben oft mit Härte behandelte. Dem Sohne wurde das Vaterhaus verleidet, und da er einst mit sechzehn Jahren wegen eines kleinen Vergehens schwere Züchtigung erlitten hatte, entlief er in dem kindischen Gedanken, sich allein durch die Welt zu schlagen, am liebsten als Soldat. Er gesellte sich zu dem Troß eines Regiments, das in den Krieg zog, es ging ihm elend, was ganz in der Ordnung war; bei einer Retirade wurde er durch den Schlag, den ihm ein Betrunkener versetzte, von dem Karren geworfen, auf den er hungernd und erschöpft gekrochen war. Wie er so verloren am Wege lag, fand ihn ein Unteroffizier von den leichten Reitern. Der Reiter nahm den Knaben mit sich und gewann ihn lieb wie einen Sohn, er wandte auf ihn, was er konnte, und bat für ihn bei seinen Vorgesetzten. Der Knabe wurde in eine Militärschule aufgenommen und trat in das Regiment, in welchem sein Pflegevater stand. Seitdem hat der Alte ihn behütet und für ihn gesorgt, mehr als für sich selbst. Sein Pflegekind ist Oberst geworden, und er ist immer noch Wachtmeister. Ich hoffe, wir beide bleiben beieinander, solange wir leben.«

Als er so sprach, sah er auf seine Hand. Ihr Ring steckte daran. Da stand sie auf und verließ das Gemach.

In solcher Weise führten sich die beiden Fremden im Hause des Seniors ein. Der Oberst war fast den ganzen Tag auf seinem Zimmer, nur des Mittags und eine Stunde nach Tische erschien er in der Familie, er verstand aber, sich in dieser Zeit die gute Meinung der Eltern zu gewinnen. Da er bekannt hatte, daß er Protestant war, so wagte der Senior zuweilen einen kleinen Ausflug in Doktor Luthers Leben und Schriften; bei solchen Spaziergängen bewies der Gast eine bezaubernde Bereitwilligkeit, mitzugehen, die nicht nur durch den Wunsch, zu gefallen, veranlaßt wurde. Offenbar war ihm selbst diese Art der Unterhaltung angenehm, weil sie ihn an die eigene Knabenzeit erinnerte oder weil ihm solche liebevolle Hingabe an längst vergangene Zustände etwas Neues war. Das Herz der [] Mutter gewann er ganz und gar. Er war demütig dankbar für jede Freundlichkeit, die er von ihr empfing; er wollte nicht leiden, daß sie ihm etwas zutrug, und zeigte sich trotz seiner Schwäche stets beflissen, ihr ein Aufstehen und einige Schritte Weges zu ersparen. Henriette fragte sich: Ist dies die Artigkeit eines gewandten Mannes oder ist es Gutherzigkeit? Bis er einmal, als die Frau Pastorin dagegen protestierte, daß er ihr ein Glas Wasser herbeiholte, angelegentlich bat: »Erlauben Sie mir das; ich habe durch meine Schuld zu früh das Glück verloren, meiner Mutter die Pflichten des Sohnes zu erfüllen, und mir ist jetzt zumute, als könnte ich hier das Versäumte nachholen.«

Aber auch Henriette vermochte die kalte Förmlichkeit nicht zu behaupten, die sie in den ersten Tagen gegen ihn gezeigt hatte. Wenn er in anmutiger Nachlässigkeit über Wildes und Gefährliches sprach, das er erlebt hatte, oder wenn er kleine drollige Geschichten erzählte, was er gut verstand, und dabei einmal unbefangen wie ein Kind lachte, so mußte sie sich selbst zugeben, daß er in solchen Augenblicken wahrhaft liebenswürdig war. Sie selbst behandelte er mit gleichförmiger Artigkeit, ohne sie durch auffallende Zuvorkommenheit scheu zu machen, aber in dieser leichten und sicheren Weise lag etwas, was ihr Angst machte; er betrachtete sie im Grunde immer als ihm angehörig, und sie kam sich vor wie ein gefangener Vogel, der aus dem Bauer in eine geräumige Stube versetzt ist, feste Wände umgeben ihn doch von allen Seiten.

Doch ganz unverändert blieb sein Wesen ihr gegenüber auch nicht; sie merkte, daß sie ihm gefiel, aber sie ahnte nicht, wie sehr. Wenn sie kam und ging, folgte ihr ein bewundernder Blick; wenn sie gesprochen hatte, saß er lauschend, als klänge ihre Rede in seiner Seele nach; wenn er, durch Vater oder Mutter veranlaßt, etwas erzählte und lebhaft wurde, wandte er sich unwillkürlich an sie, als ob nur sie vorhanden sei. Nach einer rauhen Woche voll Sturm und Regen schien die Sonne warm an die Scheiben, da ging er zum erstenmal hinaus in den Garten, und wie er wieder in das Zimmer trat, überreichte er ihr ein Schneeglöckchen und sagte dabei: »Erlauben Sie, daß ich den Raub von den Beeten an die Herrin zurückgebe. Es ist ein guter Name, den die Blume im Deutschen hat; wenn das Glöckchen geläutet hat, stellt sich nach und nach die ganze Gemeinde auf den Beeten ein. Lassen Sie mich hoffen, daß auch mir nach dem ersten winterlichen Gruß hier eine wärmere Neigung erblühe.« Henriette hatte keine andere Antwort als eine stumme Verneigung, aber in ihrem Zimmer schritt sie unruhig auf und nieder. Was hatte sie auf sich genommen? So durfte das nicht fortgehen, die Not wurde größer, als sie je gewesen; von den Eltern hatte sie keine Hilfe zu erwarten, sie selbst mußte dem Fremden jede Hoffnung benehmen. Aber ihr bangte vor der Stunde.

[] Während sich in dem Pfarrhause ein stiller Kampf vorbereitete, fuhr draußen in Stadt und Land der Frühlingssturm durch die Seelen. Der König war in die Provinz gekommen, das Volk rüstete zum Kampf.

Der Senior hatte in seinem Zartgefühl zum Gast nie über das Große gesprochen, was draußen in der Welt vorging; Besuch von Bekannten hatte sich nicht eingestellt, und die Familie lebte so allein, als wäre mit dem Pfarrdorf auch die ganze Umgegend in eine Wüstenei verwandelt. Der Senior wunderte sich zuletzt darüber und sagte zur Tochter: »Auch keiner von den Amtsbrüdern läßt sich sehen.«

»Weil der Franzose bei uns wohnt«, antwortete Henriette traurig. »Das Haus ist den Nachbarn verleidet.«

»Von seiner Krankheit ist doch Ansteckung nicht mehr zu befürchten«, sagte der Vater, »und wenn die Leute mit dem Obersten bekannt wären, würden sie über den freundlichen Mann anders urteilen.«

Sooft die Zeitung in die Pfarre kam, bat der Oberst darum und brachte sie schweigend zurück. Es stand wenig darin, er las doch daraus, daß er in Gefahr sei, Kriegsgefangener zu werden. Das sagte ihm auch sein Begleiter. »Als am Sonntag die Glocken läuteten, trat ich in den Garten, mir das Bauernvolk hier zu betrachten. Da drängten sie sich an die Mauer, und viele sprangen hinauf, sahen mich tückisch an, schrien und ballten die Fäuste. Die Luft ist schwül, mein Oberst; es wird Zeit, daß wir davonreiten.«

»Warte ab; ich habe hier einen wilden Vogel gefunden, den ich mir zähmen will für unser Haus.«

»Wo ist Ihr Haus, mein Oberst? Das Zelt ist es und der blaue Himmel. Der Kaiser braucht uns.«

»Gut, mein Vater, ich denke daran. Zürne mir nicht, wenn ich auch einmal um ein friedliches Glück sorge. Mir ist es noch nie so gut geworden, und ich könnte den ganzen Tag bei dem Mädchen sitzen, ihr die Maulwürfe wegfangen und die Gießkanne tragen.«

»Wahren Sie sich nur, mein Oberst, daß Ihnen die Demoiselle Gärtnerin nicht das kalte Wasser ins Gesicht gießt. Sie hat kein gutes Herz für uns Franzosen.«

»Meinst du, Alter? Ich bewahre, woran ich festhalte.«

Henriette trug dem Vater ihre Wochenrechnung vor. »Der Oberst macht es dir doch schwer, die Wirtschaft zu führen«, sagte der Senior bedenklich, »wenn nur nicht der tägliche Wein wäre für ihn und auch für den Alten, das letztere ist doch wohl nicht nötig.«

»Du weißt, wie lieb ihm sein Begleiter ist«, antwortete die Tochter.

»Das ist schon recht, aber wo das Geld hernehmen?«

»Der Wein ist zu Ende, ich setze heut die letzte Flasche auf. Der Knecht muß nach der Stadt, neuen holen.«

[]

»Meine Kasse ist leer«, sagte der Senior gutlaunig, zog eine Schublade auf und untersuchte vergeblich.

»Meine Sparbüchse auch«, antwortete Henriette. »Die drei Dukaten Patengeld sind drauf gegangen.«

»Was aber tun?« überlegte der Vater. Er sah die Tochter zweifelhaft an. »Dort in der Ecke liegen immer noch die Geldrollen; jetzt, meine ich, dürfen wir ohne Bedenken etwas davon nehmen, es ist ja zu seiner Bequemlichkeit.«

»Nein, mein Vater«, bat Henriette, »die Summe gehört nicht uns und nicht ihm, und wir dürfen uns daran nicht vergreifen.«

»So schaffe Rat«, sagte der Senior ein wenig ärgerlich. Henriette strich ihm bittend an die Schulter. »Von dem Silberzeug brauchen wir nur ein halbes Dutzend, die Hälfte ist unnütz, und im Notfall können wir die schwere Kelle auch entbehren. Ich fahre selbst nach der Stadt und kaufe Zinn.«

»Lieber Gott«, klagte der Pastor, »man soll ja sein Herz nicht an Dinge hängen, welche Motten und Rost fressen, aber dies war die Ausstattung, als ich deine Mutter heiratete. Diese Stücke sind mit uns alt geworden. Wie wird deine Mutter das ertragen?«

»Sie sitzt in der Kammer und weint, sie hat aber nichts dawider. Ich will es geschickt machen, denn der Oberst darf nichts davon merken.«

»Das versteht sich«, bestätigte der Vater.

Der Wagen des Landrats fuhr vor. Als er eintrat, wollte Henriette sich entfernen.

»Mich führt nichts Geschäftliches her«, begann der Landrat, sie aufhaltend; »es ist eigentlich nur eine Bitte, die ich an den Herrn Senior zu richten habe. Am nächsten Sonntage soll der Aufruf des Königs ›An mein Volk‹ von den Kanzeln verkündet und eine patriotische Mahnung daran gefügt werden. Als alter Bekannter erlaube ich mir den Vorschlag, daß Sie an diesem Tage einer großen Aufregung einem andern Amtsbruder den Gottesdienst und die Verkündigung übertragen.«

»Weshalb, Herr Landrat?« fragte der Pastor betroffen.

»Ein vornehmer Franzose weilt als Gast in Ihrem Hause«, erwiderte der Beamte. »Ich weiß, daß er von unserer Regierung nicht als Gefangener betrachtet wird, und ich kann mir denken, daß Bande zarter Verpflichtung Sie veranlassen, ihm in Ihrem Hause eine Freistätte zu geben. Aber ich meine, es wird Ihnen selbst unter diesen Umständen peinlich sein, von Ihrer Kanzel der Begeisterung und dem tiefen Haß, welcher in unserer Bevölkerung gegen die Franzosen lebt, wirksamen Ausdruck zu geben.«

»Herr Landrat«, versetzte der Senior mit zitternder Stimme, »unser Erlöser hat geboten: Liebet eure Feinde. Haß vermag ich nicht in meine Seele zu bringen, noch weniger von der Kanzel zu [] predigen. Aber ich bin ein Preuße und meinem Könige treu ergeben, und wenn Krieg für die Rettung des Vaterlandes notwendig geworden ist, so werde ich in meinem Amte meine Pflicht tun wie jeder andere Amtsbruder.«

Nicht ohne Verlegenheit widersprach der Landrat: »Auch wenn Sie selbst das Wünschenswerte mit warmen Worten sagen können, so, besorge ich, würde die Wirkung auf Ihre Gemeinde nicht die richtige sein. Es wäre wohl möglich, daß in diesen Tagen leidenschaftlicher Erregung durch die Heftigkeit einzelner Mitglieder der Gemeinde ein Mißton in die heilige Feier käme, der Sie selbst am tiefsten verletzen würde.«

Der Senior setzte sich in seinen Stuhl und faltete die Hände. »Gott, mein Herr, hast du mich vor sieben Jahren darum aus den Händen der Mörder errettet, damit ich diese Demütigung erlebe?«

Die Tochter beugte sich über ihn: »Trage auch diese Prüfung, geliebter Vater.« Sie griff in den Schreibtisch, hob die Geldrollen heraus und legte sie vor dem Landrat auf den Tisch. »Diese Summe haben Sie vor Jahren meinem Vater im Auftrage einer fremden Regierung überbracht, sie ist unberührt geblieben, wie sie damals war. Der Vater hob sie auf bis zu dem Tage, wo er sie hingeben könnte für einen patriotischen Zweck. Jetzt wird zu freiwilligen Gaben für Ausrüstung des Heeres aufgefordert werden; ich bitte Sie, als unsern Beitrag dies hinzunehmen. Andere mögen mehr geben, es ist das letzte Geld, welches der Vater im Hause hat.«

»Ich darf Ihre Gabe nicht ablehnen«, sagte der Landrat, selbst bewegt durch den Schmerz des Vaters und der Tochter. »Ich hoffe, sie wird den falschen Argwohn tilgen, der sich gegen Sie erhoben hat. – Noch habe ich für Ihren Gast dies amtliche Schreiben abzugeben.«

Als der Senior seine Fassung so weit wiedergewonnen hatte, daß er dem Obersten den Brief zu überreichen vermochte, brach dieser schnell das große Siegel auf und bemerkte vor Freude über den Inhalt nichts von der Niedergeschlagenheit des Hausherrn. Er fand einen Freipaß der Militärbehörde zur Reise nach Frankreich mit einer kurzen Zuschrift des Grafen Götz, in welcher gesagt war, daß der humane Beistand, welchen der Oberst in dem letzten Kriege preußischen Untertanen mit eigener Gefahr geleistet habe, die Veranlassung geworden sei, ihn wahrend seiner gegenwärtigen Krankheit mit seinem Begleiter nicht als Kriegsgefangenen zu behandeln. Der Oberst wies verwundert das Schreiben dem Senior. »Wem verdanke ich diese Gunst?« Aber der Senior wußte es nicht.

»Da mein treuer Sergeant mit angeführt ist, muß Ihre Regierung genau mit dem Sachverhältnis bekannt sein.«

»Wir haben Sie beim Landrat angemeldet«, suchte der Pastor zu entschuldigen, [] Aber es gelang doch nicht, dem Gast die Verlegenheit der Familie ganz zu verbergen; was die Herrenstube verschwieg, kam in der Küche heraus. Zwischen dem alten Franzosen und der Dienstmagd Susanne bestand ein gutes Einvernehmen. Der Sergeant half ihr, soweit seiner Würde geziemte, bei der Küchenarbeit, war immer genügsam und gutlaunig. Und es blieb ein stilles Verhältnis, denn keines verstand viel von der Rede des andern, der Franzose aber etwas mehr als Susanne, da er auf seinen Kriegsfahrten allerlei fremde Worte erbeutet hatte. Wie nun am Nachmittage das Fräulein in die Stadt gefahren war und Susanne betrübt am Herde saß und die Augen mit der Schürze wischte, fragte der Sergeant unruhig in seinem gebrochenen Deutsch: »Demoiselle Susanne, weshalb sind Sie heut traurig?« Da kam etwas von einer silbernen Kelle und dem Weine heraus, was der Alte verstand. Als am Abend der Oberst seinem Vertrauten erzählte, daß ein Freipaß für sie beide angelangt sei, sagte der Alte feierlich: »Es ist Zeit für Sie, mein Oberst, den Paß zu gebrauchen, die Rücksicht auf diese armen Leute hier zwingt dazu«; und er berichtete seinem Herrn das Geheimnis der Küche. Der Oberst war betroffen, aber die Nachricht machte ihm mehr Freude als Sorge. Solche Opfer brachte man nur einem Gaste, den man sehr wert hielt, und Henriette selbst machte den Weg, um ihm das Behagen des Mittagstisches zu erhalten! – so daß er dem Alten sagte »Du weißt, mein Vater, daß die Oberstin Dessalle in keinen dürftigen Haushalt tritt und daß es unsere Sache sein soll, ihr, was sie jetzt hingibt, tausendfach zu ersetzen.« Der Alte schüttelte schweigend den Kopf.

Am nächsten Morgen ging der Oberst im Garten auf und ab, als Henriette aus dem Hause kam. Sie wich der Begegnung nicht aus, sondern erwartete, gehoben durch den Willen, eine Entscheidung herbeizuführen, seine Anrede. »Ich fürchte, schon zu lange Ihre Gastfreundschaft in Anspruch genommen zu haben; lassen Sie als Entschuldigung gelten, daß es mir sehr schwer wird, von hier zu scheiden. Es war mein Los, unablässig im Getümmel des Krieges herumgeworfen zu werden. Die gleichförmige Tätigkeit Ihres Haushaltes, der Frieden hier und die gute Gesinnung gegen alle Welt sind für mich ein neues Glück, und mir ist, als würde man hier zufriedener und besser.«

»Sie sind in der Genesung«, antwortete Henriette, »und dies Gefühl macht weich und zufrieden.«

»Es ist noch etwas mehr, mein Fräulein, es ist Ihre Nähe« – er lud sie mit einer Handbewegung ein, auf der Bank Platz zu nehmen. Dort hatte ein anderer neben ihr gesessen, sie ging vorüber und führte zu der Sommerlaube. Noch fehlte den Ruten des Geißblattes das grüne Laub, und die Strahlen der ersten Frühlingssonne fielen grell auf den Erdboben. »Ich bin Ihnen eine Erklärung [] schuldig«, begann der Oberst, »daß ich dem Wunsch Ihres Vaters, der mir in fernem Lande zukam, nicht entsprochen habe. Ihr Ring, den ich an meinem Finger trage, ist für mich bedeutungsvoll geworden, ich betrachte ihn mit einer Art Aberglauben und sorge, mein gutes Glück wird von mir scheiden, wenn ich ihn verliere. Das Ereignis, welches ihn an meine Hand brachte, hat mir zwar Feinde geschafft, aber auch Gunst und Beförderung, es gab Veranlassung, daß der Kaiser selbst mir persönlichen Anteil zuwandte, und ich weiß, daß er auch meine Beziehungen zu Ihnen kennt.«

Das klang selbstsüchtig, und Henriette antwortete kalt: »Für andere hat jene Stunde nicht so günstige Folgen gehabt, mein Herr.«

»Ich stelle meinen Talisman in schlechtes Licht«, fuhr der Oberst fort, »wenn ich an ihm nur rühme, daß er Gunst und Gnade gebracht hat. Ich verdanke ihm viel Besseres. Der Gedanke daran, daß er mich in eine geheime Verbindung mit Ihnen gesetzt hat, ist mir zuweilen in Stunden der Versuchung ein Schutz gewesen; oft dachte ich in der Fremde, wo ich Gefahr und Jammer sah, an die Not Ihres Hauses und an die Hilflosigkeit, in welcher ich Sie, holde Henriette, und Ihre Eltern fand, und wenn mir hier und da gelang, ein gutes Werk zu tun, so bin ich Ihnen dafür zu Dank verpflichtet. In einem spanischen Dorfe waren französische Soldaten grausam ermordet worden; meine Leute hatten einen Einwohner ergriffen und an den Baum gebunden, um ihn zu füsilieren. Sein Weib warf sich vor mir nieder und umfaßte meine Knie. Ich war in Empörung, gerade wie meine Reiter, und ich wollte sie wegstoßen, da preßte sie mir in der Angst die Hand zusammen, und ich fühlte den Druck des Ringes. In dem Augenblick sah ich Sie vor mir am Boden und band den Spanier los, nicht ohne eigene Unbequemlichkeiten, denn meine wütenden Reiter wollten sich das Sühnopfer nicht entreißen lassen. Und wie jenen Schelm, so hat der Ring auch manches Heimwesen der Feinde vor der Zerstörung geschützt und vielleicht auch manches junge Weib vor dem Verderben. Ich sage das nicht, um mich Ihnen als einen hochherzigen Mann darzustellen; ich bin ein wilder Reiter, und ich fürchte, das lange Liegen im Felde hat in mir verdorben, was der Mensch in friedlichen Verhältnissen leichter bewahrt. Es war nicht mein Verdienst, sondern das Ihre, wenn ich in diesen Jahren eines unaufhörlichen Blutvergießens gern daran dachte, daß es auf Erden ein Glück gibt, das ich entbehren muß:

Weib, Kind, geordnetes Hauswesen und das redliche Leben eines honetten Mannes, der seine Pflicht erfüllen kann, ohne täglich anderen wehe zu tun. Je länger mich mein Schicksal aus einem Feldzuge in den andern führte, um so lebendiger wurde der Traum und um so heißer die Sehnsucht nach einem stillen Glück an Ihrer Seite. Wenn ich müde saß am flackernden Feuer, vor meinen Augen das Gewühl des Biwaks, in meinem Ohr das Stöhnen der Verwundeten,[] da klang es in mir wie das Geläut dieser Kirche und wie eine fromme Mahnung, daß auch mir eine andere und bessere Zukunft bereitet sei.« Seine Rede war lebhafter geworden, er sprach das letzte in großer Bewegung.

Henriette sah scheu nach ihm hinüber. »Es war die Sehnsucht nach Erlösung von einem schrecklichen Berufe, was Sie beschäftigte, Herr Oberst, aber es war nicht das fremde Mädchen, das Sie nur einmal gesehen.«

»Vielleicht war es früher so«, antwortete der Franzose; »jetzt ist es mehr. Seit ich hier verweile und das Glück habe, Sie täglich zu sehen, die Sicherheit zu sehen, mit der Sie sich in Ihrem Kreise bewegen, und den Stolz, mit dem Sie meiner Werbung begegnen, seitdem fühle ich mit jedem Tage mich fester in Ihren Banden. Ich weiß jetzt, daß ich ein glücklicher Mann wäre, wenn Sie sich entschließen könnten, mich mit Zuneigung zu betrachten.« Henriette stand auf. »Aus der Phantasie ist eine Leidenschaft geworden, holde Henriette«, fuhr er heftig fort, »und der Gedanke ist mir unerträglich, daß ich Sie verlieren sollte.«

»Und wenn alles wahr ist, was Sie sagen«, rief Henriette, »haben Sie in diesen Jahren nie daran gedacht, wie das Mädchen unterdes gelebt hat, dem Sie im Spiele Ihrer Gedanken eine Neigung zuwandten? Durch Zwang haben Sie mich an sich gebunden, nach meinen Gefühlen aber nicht gefragt; seitdem habe ich lange Jahre die bittere Demütigung getragen, wie eine willenlose Sklavin an einen fremden Mann gekettet zu sein. Hassen kann ich Sie nicht, denn Sie haben in Ihrem wilden Mute mich und meinen Vater geschützt, die Neigung aber, welche Sie fordern, finde ich nicht in meiner Seele, und die Frau des Obersten Dessalle kann ich niemals werden.«

Der Oberst stand auf. »Ich verstehe«, sagte er, »Sie sind eine Deutsche, und wie hier im Lande die Stimmung ist, sehen Sie in mir den Franzosen. Sie werden mir das Zeugnis nicht versagen, daß ich die Gefühle einer deutschen Frau während meiner Anwesenheit gewürdigt habe. Aber die feindliche Spannung, welche jetzt zwei Nationen gegeneinander bewaffnet, wird nicht dauern, in wenig Monaten ist der Zwist zwischen meinem Kaiser und Ihrem Könige entschieden. Schnell wechselt auch bei den Regierungen Genossenschaft und Abneigung. Zürnen Sie mir deshalb nicht, schöne Henriette, wenn ich Ihnen erkläre, daß ich Sie wegen Krieg und Frieden der Völker nicht aufzugeben vermag. Hatte ich Sie vorschnell mit mir verbunden, so bin ich seitdem älter geworden und habe den Wert dieses Erwerbes erkannt, und ich bin entschlossen, alles zu wagen, um Sie mir für die Dauer meines Lebens zu gewinnen.«

Henriettens Gestalt hob sich höher, die mädchenhafte Scheu war abgetan: »Sie rühmen die Rücksicht, die Sie mir bewiesen haben, [] Herr Oberst; und doch wollen Sie zu dem alten Zwang einen neuen fügen; und die Genugtuung, die Sie mir geben wollen, soll die sein, daß Sie mich auf eine Zukunft verweisen, wo Ihre Werbung mir besser gefallen müsse. Meinen Sie, daß solche Selbstsucht Ihnen das Herz eines Weibes gewinnen kann? Sie handeln nicht edel an mir und nicht, wie ein Mann von Ehre gegen ein Weib handelt, zu dem er eben erst von seiner Liebe gesprochen.«

»Henriette!« rief der Oberst unwillig.

Sie fuhr sich über die Stirn. »Nein, verzeihen Sie mir, das ist die Sprache nicht, die mir gegen meinen Retter geziemt; nur bitten darf ich und Sie an das erinnern, was Sie mir von Ihrer freundlichen Gesinnung gegen mich gesagt. Bin ich Ihnen etwas wert und hat Ihnen jemals der Gedanke an mich wohlgetan, so flehe ich, daß Sie jetzt nicht auf einem Anspruch bestehen, der mich jeden Tag unglücklich macht, weil er mich demütigt und meine Zukunft in schwarzes Dunkel hüllt. Geben Sie mir meinen Ring zurück. Einmal haben Sie mich zu Ihren Füßen gesehen; ist es eine Befriedigung für Sie, so will ich wiederum vor Ihnen niederfallen und die Knie meines Retters umfassen, damit Sie die Fessel lösen, durch die ich an Sie gekettet bin.« Sie beugte sich in ihrer Leidenschaft abwärts. Bestürzt wehrte ihr der Oberst. »Sie lieben einen anderen, mein Fräulein!« rief er.

Henriette richtete sich auf. »Vielleicht«, sagte sie tonlos.

»Jetzt begreife ich Ihren Widerstand, Mademoiselle«, versetzte der Franzose bitter. »Aber vergessen Sie nicht, daß der Ring, welcher Sie zu meiner Verlobten gemacht hat, auch mir noch andere Träume als die eines idyllischen Stillebens an Ihrer Seite wachruft. Jener Bayer, der in der Ecke Ihres Hofes liegenblieb, war nicht der einzige. Noch zweimal habe ich seitdem mit Kameraden des Toten ein ähnliches Zusammentreffen gehabt; es hängen für mich auch finstere Erinnerungen an dem Reif, die mein Leben belasten. Ich habe blutigen Preis für ihn bezahlt, und ich ersehne auch deshalb die Nähe der geliebten Gattin, damit sie mir mit ihrer weichen Hand düstere Gedanken von der Stirne scheuche. Zürnen Sie also dem Egoismus des Mannes nicht zu sehr, wenn er fortfährt, gegen jeden anderen sein Anrecht auf Sie zu verteidigen.«

Er wandte sich dem Hause zu; Henriette lehnte an dem Pfosten der Laube und starrte vor sich hin.

Sie war den Tag über für den Gast nicht sichtbar; die Eltern entschuldigten ihre Abwesenheit mit Unpäßlichkeit. Am Abend erklärte diesen der Oberst, daß er genötigt sei, morgen abzureisen, und bat um den Wagen bis zur Poststation. Da der nächste Tag ein Sonntag war, sagte der Senior mit vielem aufrichtigen Bedauern über die Abreise, der Wagen stehe sogleich nach dem Gottesdienst zu seiner Verfügung.

[] Als die Glocken läuteten, bereitete sich Henriette nach einer schlaflosen Nacht, zur Kirche zu gehen. Wie sie aus dem Garten auf den Friedhof kam, standen die Dorfleute in dichten Haufen, aber sie boten dem Pfarrkinde nicht wie sonst freundlichen Gruß, sondern wendeten sich scheu zur Seite. Von allen gemieden wie eine Unreine, schritt sie in das Gotteshaus zu ihrem Sitz.

Der fremde Geistliche predigte über die Pflichten gegen das Vaterland. Nach der Predigt las er den Aufruf des Königs an sein Volk von der Kanzel vor und sagte mit bewegter Stimme: »An euch ergeht heut der Ruf, verlaßt Pflug und Hof, verlaßt Eltern und Kinder, Weib und Braut. Hier im Tempel des Herrn, vor versammelter Gemeinde, gebt Zeugnis, daß ihr Männer seid, bereit zum Kampf und, wenn der Herr gebeut, zum Tode für die Freiheit eures Vaterlandes, damit ihr und eure Angehörigen nicht im Elend der Knechtschaft dahinlebt unter der Geißel des bösen Feindes. Da ich heut an dieser heiligen Stätte zu euch rede, habe ich das Recht, als erster meinen eigenen Namen zu nennen; ich bin bereit, mit Bibel und mit Waffen hinauszuziehen in den Krieg, und wer tun will wie ich, der erhebe sich und nenne im Hause Gottes vor den Ohren der Nachbarn und Anverwandten laut seinen Namen!« Da entstand tiefe Stille, daß man das Rauschen eines Blattes durch die ganze Kirche hören konnte. Ein junger Mann stand auf und rief seinen Namen, und ein Gemurmel, welches klang wie ein leises Gebet, ging durch die Gemeinde. Denn dieser erste war der einzige Sohn einer armen Witwe. Wieder schallte ein Name, und wieder summte der leise Ton andächtiger Freude durch den Raum; dieser war ein prächtiger Bursch, voran bei allen Freuden der Jugend und ein Liebling der Mädchen. Ein neuer Name, und lauter rauschte es unter den Hörern; der sich jetzt darbot, war verheiratet, und sein junges Weib saß auch in der Kirche mit bleichem Antlitz, die Augen nach dem Kreuz auf dem Altar gerichtet, und neben ihr saß ein kleiner Knabe. Neue Namen erklangen schneller nacheinander und zu zweien. Als sich eine ganze Reihe gemeldet hatte, hörte Henriette eine Stimme, die ihr alles Blut zum Herzen drängte, denn neben ihr schallte laut durch den Raum der Name: Ernst König. Sie sah an ihrer Seite den Geliebten stehen und blickte mit einer heiligen Freude zu ihm auf. Er wandelte ihr den Tag der Demütigung in einen Tag der Ehren, denn um ihretwillen war er in die fremde Gemeinde gekommen, damit auch sie heut ein Recht erhalte, das Liebste, was sie hatte, zum Opfer zu bringen.

Als die Rufe verhallt waren, stieg der Geistliche von der Kanzel, schritt zum Altar und forderte die Freiwilligen auf, heranzutreten, damit er mit ihnen bete. Sie kamen herzu, jeder begleitet von seinen Angehörigen; neben dem armen Burschen ging die weinende Mutter und neben dem Ehemann seine Frau, und der Mann hielt seine [] Hand auf dem Kopf des Kindes. Da erhob sich auch Henriette und trat neben dem Geliebten zum Altar, alle knieten nieder, der Prediger betete und erteilte ihnen den Segen. Es war einfacher Gottesdienst, ohne Pracht der Worte im Dämmerlicht der alten Dorfkirche; und wie in dieser einen in vielen hundert anderen.

Langsam schritten die Leute aus der Kirche und sammelten sich auf dem Friedhofe um die Männer, welche am Altar eingesegnet waren. Als der Doktor neben der Pfarrtochter herauskam, drängten die Bauern mit achtungsvollem Gruß an beide heran, denn auch in den Dörfern dieser Gemeinde wußten viele, daß der Doktor seit Jahren ein Führer der stillen Arbeit für das Vaterland gewesen war, und es freute sie, daß er in ihrer Kirche Zeugnis abgelegt hatte. Neben Henriette aber ging auf der anderen Seite das Bärbel, welches wußte, wie der Gespielin heut zumute war, und vor den Leuten seine Freundschaft beweisen wollte.

An der Haustür stand der Oberst, zur Abreise gerüstet; er erwartete Henriette, um sie noch einmal zu sprechen. Als sie vom Friedhofe her an der Seite eines anderen herankam, beide mit verklärtem Antlitz, so feierlich, daß man ihnen ein gemeinsames Glück ansah, da zog sich das Angesicht des Franzosen drohend zusammen, und mit schnellen Schritten auf den Doktor zutretend, begann er: »Mein Herr, jetzt verstehe ich den Widerstand meiner Verlobten und die Abneigung, mit der Sie selbst Ihren Beruf ausübten, während ich krank war. War ich Ihnen bis heut Dank schuldig, so vermag ich von dieser Stunde in Ihnen nur den Todfeind zu sehen, der zwischen mir und einem Weibe steht, welches ich als meine künftige Gattin betrachte.«

Der Doktor entgegnete ruhig: »Ich komme von einer Stelle, wo ich mein Leben einem größeren Kampfe geweiht habe, als der Streit mit einem persönlichen Feinde ist, und in meiner Seele ist zu dieser Stunde kein Raum für Haß und Rachsucht. Daß die Ansprüche aber, welche Sie an die Hand dieses Fräuleins erheben, nichtig sind, und daß Sie unehrenhaft und ruchlos handeln, wenn Sie dieselben gegen den Willen des Fräuleins geltend machen wollen, davon werde ich Sie zu überzeugen suchen, sobald wir beide frei sind von der Pflicht, welche uns jetzt zwei feindlichen Heeren zuführt.«

»Es ist genug«, sagte der Oberst, nachlässig an seinen Pallasch rührend, und sich zu Henriette wendend, fuhr er fort: »Mein Schicksal will es, Fräulein, daß ich wie ein irrender Reiter den Weg zu Ihrer Gunst durch Abenteuer erkämpfen soll; der Kampfpreis wird dadurch für mich um so wertvoller. Leben Sie wohl, schöne Henriette, ich halte fest an meinem Traum.« Er hob den Finger, welcher ihren Reif trug, verneigte sich tief vor ihr und trat in das Haus zurück.

Im nächsten Augenblick rollte der Wagen zum Hofe hinaus; die [] Jungfrau aber legte ihre Hand in die des Geliebten: »Ich habe ihm gesagt, daß ich niemals sein Weib werde. Seit ich heut am Altar neben Ihnen stand, fürchte ich ihn nicht mehr, auch für Sie nicht mehr, mein Freund.«

Bei einem späteren Besuch sagte Bärbel zu Henriette: »Als die beiden mit Worten gegeneinander kämpften, überkam mich ein Graulen. Unser Hiesiger war größer, und der Fremde dunkler und geschmeidiger, aber in Angesicht und Gebärde war einer dem andern ähnlich.«

Henriette antwortete nicht, aber sie blickte so traurig und erschrocken auf die Vertraute, daß Bärbel dachte: Sie weiß es auch, und sie hat deshalb vor dem Fremden heimliche Angst gehabt.

Ins Feld

Während von der ungeheuren Sturmflut des Jahres nur einzelne Wellen nach dem einsamen Pfarrhofe schlugen, brach in der Kreisstadt der Strom durch beide Tore, er rauschte auf dem Markte und auf den Gassen und drang in alle Häuser und Herzen.

Zuerst kamen die flüchtigen Überreste des großen Heeres: einzeln und in Haufen schlichen sie durch das Tor, halb verhungert und halb erfroren, entblößt und in Lumpen, auch das Schuhwerk gerade so, wie ihnen prophezeit war; zerstörte Leben, die dem Untergange verfallen waren, selbst nach ihrer Rettung aus der Faust der Feinde. In dem Entsetzen über das schreckliche Gottesgericht schwand der Haß, womit der Bürger sie kommen sah.

Nicht lange, und russische Reiter folgten. Da die ersten mit ihren langen Bärten, auf kleinen, struppigen Pferden, zum Ringe ritten, geriet die Stadt vor Freude außer sich. Alles lief herzu und umdrängte die Wilden, die Kinder faßten sie an den Beinen, und die Frauen streichelten ihre Pferde. Nur zwei Verbündete, der Einnehmer und sein geheimer Ratgeber, betrachteten die neuen Freunde ruhiger; der Verehrer deutscher Poesie brummte: »Die einen gingen, die andern kamen, dasselbe Ding mit neuem Namen«, und Schilling sagte zu seinen Leuten: »Wenn ihr ihnen die Hände schüttelt, so haltet die Arme steif, damit sie euch nicht zu nahe auf den Leib rücken, denn die Moskowiter tragen Unzähliges an sich, was kriecht und springt.« Als nun vollends die Baschkiren einrückten, spitze Filzmützen über den bartlosen gelben Gesichtern und schräggeschlitzten Augen, bewaffnet mit Flitzbögen und Pfeilen, um den Bonaparte wie einen Sperling vom Baume zu schießen, da staunten die Städter in heller Bewunderung die fremdartige Kriegsmacht an und kamen sich selbst vor wie Prinzen in einem bunten Märchen, während das Heidenvolk auf ihrem Ringe große Feuer anzündete und Stroh breitete, um darauf zu lagern.

[] Unterdes lief aus der Hauptstadt eine Botschaft nam der andern herzu, welche die Landsleute noch näher anging; seit ihr König zu ihnen gekommen war, erkannten sie, daß der Tag da war. Sechs Jahre hatten sie auf diese Zeit geharrt, und immer war ihr Hoffen getäuscht worden; als jetzt endlich der Kriegsruf in ihr Ohr schmetterte, war es keine Überraschung; sie wußten bereits, was sie zu tun hatten, und rüsteten feierlich und still zum Aufbruch. Nur hier und da quoll es aus den übervollen Herzen auffällig hervor. Der alte Trommler der Bürgerschützen, welcher seit einem Menschenalter bei den Festen der Stadt mit seinen Schlägen wirbelte, wurde von diesem Geist der Zeit ergriffen; seine Nachbarn hörten in Stunden, wo sie der Ruhe pflogen, ganz in der Nähe den Sturmmarsch dröhnen, und wenn sie auf die Gasse liefen, war nichts zu sehen, bis sie endlich in das Fenster des Alten hineinlugten. Da ging der Nachbar auf seinen Dielen in die Runde, hatte die Trommel umgehängt und schlug nach Leibeskräften, sich selbst zur Befriedigung.

Steinmetz war seines Dienstes auf dem Ratsturme längst enthoben und nur noch Anführer der Stadtmusik, aber er bewahrte dem Turme, dessen Uhr er aufzog, eine innige Zuneigung. Als der königliche Aufruf bekannt wurde, ging er, ohne jemand zu fragen, mit seiner Musik in der Mittagsstunde auf den Turmkranz und blies dort zwischen Himmel und Erde eine ganze Stunde lang. Was er blies, waren alles Choräle.

Die Jugend der Straße jedoch, welche seit dem Eintritt der Kosaken mit Heldenmut singend und pfeifend auf den Gassen umherschwärmte, hatte sich als Feld für ihre kriegerische Tätigkeit den Platz vor dem Hause des Kommissionsrates ausgewählt. Dort veranstaltete sie jeden Abend unerfreuliche Ständchen, und es nützte nichts, daß der Beunruhigte die Ratsdiener und Stadtsoldaten zu Hilfe rief, denn die behenden Musiker verschwanden, sobald die bewaffnete Macht sich näherte, und waren nach dem Abzug derselben wieder da, so daß der Kommissionsrat endlich mit seiner Familie zu einem Bekannten auf das Land zog. »Jetzt ist auch mein Zopf gerächt«, sagte der Einnehmer.

Es war natürlich, daß die alte Kriegskraft der Stadt, welche ins Zivil versetzt war, am meisten von der Bewegung ergriffen wurde. Major von Henner ließ seine alte Uniform aus dem untersten Grunde seiner Truhe heraufholen und setzte die Stadt in Verwunderung, als er fortan nur in einem seltsamen blauen Rock aus der Zeit des Alten Fritz sichtbar wurde. Auch in der Finsternis machte ihn schon auf mehrere Schritte ein starker Lavendelgeruch kenntlich, welcher die Uniform durch zwanzig Jahre gegen die Motten verteidigt hatte. Nun konnte zwar der Major die neumodischen Rüstungen nicht billigen und verbarg auch seine Kritik durchaus nicht, aber er neigte sich doch allmählich einer milderen Auffassung zu, seit er von der [] Kommission des Kreises ersucht worden war, als Ehrenmitglied an dem Ausrüstungsgeschäft teilzunehmen, und arbeitete mit dem Feuer eines Jünglings an der Sache.

Vollends der Hauptmann war im Nu ein anderer geworden. Jahrelang hatte er mit der Welt und seinem Schicksal gegrollt, jetzt schritt er hochaufgerichtet unter den Bürgern in neuer Uniform einher, grüßte freundlich und empfing achtungsvollen Gegengruß, denn er war zum Führer einer Landwehrkompanie er nannt. Es ist wahr, eine andere wäre ihm lieber gewesen. Dennoch war der Abend, an welchem er sein Patent empfing, der glücklichste seines freudenarmen Lebens. Er trat, ohne Worte zu machen, vor das Bild seines Vaters und sah es mit starren Augen an, bis die Schwester herzukam und ihn umarmte; da brach der finstere Mann in die Worte aus: »Ich hätte mich in dieser Zeit erschossen, wenn du nicht mein Trost gewesen wärst«, und hielt das kleine Fräulein fest, als wäre sie der Fels im Meere und er ein Schiffbrüchiger.

Als am Sonntage nach dem Gottesdienst die Freiwilligen aufgefordert wurden und viele Augen den Doktor vergebens suchten, erhob sich der Bürgermeister vor der Gemeinde und verkündete: »Der Name, den wir alle zuerst erwarten, wird heute in einem anderen Gotteshause unserer Gegend gerufen; ich bin ermächtigt, dies zu erklären.« Den nächsten Tag aber war der Doktor zur Stelle und sammelte aufs neue seine Mannschaft. Nicht jeder, der sich vor Jahren verpflichtet hatte, vermochte zu kommen, dafür fanden sich jüngere ein. Auch die gute Ordnung und Einheit, mit welcher früher der Graf die Rüstungen geleitet hatte, war nicht zu behaupten, es ging in der Hauptstadt tumultuarisch und eigenmächtig zu, und die Freiwilligen meldeten sich zu verschiedenem Dienst. Endlich durfte auch dem regelmäßigen Heere und einer Landwehr, welche neu errichtet werden sollte, nicht zu viele Kraft entgehen. Darum verteilte sich die Kompanie des Doktors in verschiedene Truppenteile; er selbst aber wurde von den Vertretern des Kreises festgehalten und in ihren Rat gezogen. Denn das ganze Geschäft der Rüstung und der Lieferung wurde durch drei kluge Männer geleitet, und diese waren: der Kammerherr als Stellvertreter des Landrats, unser Bürgermeister und Krause, Vertreter der Bauernschaft.

Fast noch eifriger als die Männer sorgten die Frauen. Auch sie bildeten einen Ausschuß, Vorsitzende wurde natürlich die Bellerwitz, und die Tätigste Minchen Buskow. Die Kammerherrin kam jetzt alle Wochen in ihrer Kutsche zur Stadt, und Minchen eilte unermüdlich von Haus zu Haus und erbat Decken, Wäsche, altes Linnen und was irgend sonst durch Frauenhände bei Aufstellung eines Heeres vorgesorgt werden konnte. Wer weiblich war oder sonst kleine geschickte Hände hatte, nähte Hemden, schnitt Binden und zerzupfte die Fäden alter Leinwand. Ganze Bollwerke von Scharpie wurden [] hergestellt, und es ist Grund zu der Annahme, daß der große und grausame Krieg nicht imstande war, sie aufzubrauchen.

Nachdem die Freiwilligen berufen waren, wurde in den Kirchen von Stadt und Land zu Beiträgen für das Vaterland aufgefordert. Das Volk war verarmt, ach, wie sehr! Die ungeheuren Forderungen des Feindes hatten Hab und Gut verzehrt, ein Mißjahr fast ohne Ernte war gerade erst überstanden, zuletzt hatten die Heerhaufen, welche nach Rußland zogen, wie Heuschreckenschwärme vertilgt, was etwa noch in Scheune und Stall zu finden war. Dennoch brachten die Leute eifrig herzu, was sie in ihrer Armut entbehren konnten.

Dabei fand auch der gute Senior die Versöhnung mit seiner Gemeinde. Denn der Landrat hatte in den Dörfern, die zur Kirche gehörten, anschlagen lassen, daß er am nächsten Sonntage nach dem Gottesdienst selbst den Aufruf vortragen werde. Die Kirche war wieder so voll, daß man die Türen nicht schließen konnte, der Senior hielt in großer Bewegung seine Predigt und setzte sich dann, nichts Weiteres ahnend, in den Stuhl neben der Sakristei. Da trat der Landrat, ein starker Mann, der seine Stimme gewaltig erheben konnte, auf den freien Platz vor dem Altar und las den Aufruf so schön, daß er gebieterisch in jedes Ohr klang. Als er die Stellen genannt hatte, wo man die Gaben abliefern konnte, darunter auch das Pfarrhaus, fügte er hinzu: »Die erste Gabe hat unser hochwürdiger Herr Senior selbst in meine Hände gelegt.« Und er erzählte, daß die Franzosen nach den großen Verlusten und der Leibesgefahr, die der Pastor im vorigen Kriege erlitten, diesem eine Summe zurückerstattet hätten; er aber habe das Geld nicht berührt, auch nicht in Zeiten bitterer Not, sondern für diesen Tag verwahrt. Der Redner hob die Rollen in die Höhe. »So hat er sie vor Jahren erhalten, und unerbrochen gibt er sie zurück.« Hierauf nannte er die Summe, welche für die Ohren der Zuhörer sehr groß klang. Da saß der Senior, während ihn seine ganze Gemeinde zufrieden oder mit stiller Reue ansah, unbeweglich, obgleich er im Innern mächtig erregt war; er blickte hinauf zum Balkendach der alten Kirche, und ihm kam vor, als ob die Engel dort oben ihren himmlischen Gesang anstimmten: Ehre dem Herrn und Friede hienieden, Friede auch zwischen dem Pastor und seiner lieben Gemeinde.

In der Kreisstadt aber wurde bei der Aufforderung zu freiwilligen Gaben bekanntgemacht, daß der Einnehmer Hauptperson für die Annahme sein sollte. Daß er es wurde, verstand sich für die Bürger fast von selbst. Denn schon vor einigen Jahren war er der Mann des allgemeinen Vertrauens geworden, damals, als jedermann, der etwas Silberzeug im Hause hatte, eine Steuer vom Lot bezahlen mußte, wofür den einzelnen Stücken ein Stempel aufgedrückt wurde. Die Enkel mögen solches Silber liebevoll bewahren zur Erinnerung an die harte Not ihrer Voreltern. – Damals hatte mancher seinen stillen [] Schatz von sechs Kaffeelöffeln kleinmütig und mißvergnügt herzugetragen, Herr Köhler war aber sehr freundlich gewesen, vorab gegen die kleinen Leute, hatte alles verzeichnet, gepackt, versendet und genau zurückgegeben. Nur Hutzel, den großen Hausbesitzer, hatte er streng behandelt, weil dieser nichts brachte als einen Zettel, auf dem er die Zuckerzange und anderes aufgeschrieben hatte und sich entschieden weigerte, die Wertstücke selbst aus dem Versteck ans Tageslicht zu bringen. Aber der Einnehmer hatte ihn doch gezwungen; seitdem grollte der Mann mit Herrn Köhler. Deshalb war dieser verwundert, als Hutzel jetzt unter den ersten erschien und eine große Geldrolle auf den Tisch legte. »Lassen Sie nachzählen.« Und als er seine Quittung erhalten hatte, fragte er: »Es kommt doch in die Zeitung? Ich bitte zu bemerken: Hausbesitzer und Kirchenvorsteher.« So kamen sie alle, jeder in seiner Weise, manche, die kein Geld hatten, boten Getreide, und ein Stadtbauer wickelte aus seinem Tuch eine ungeheure Wurst. »Sie ist geräuchert und hält sich«, sagte er, um sie dem Vaterlande annehmbar zu machen, »denn Geld ist nicht vorhanden.«

»Wir wollen versuchen, ob wir sie zu Gelde machen können«, versetzte der Einnehmer dankend.

Leider darf nicht verschwiegen werden, daß diese Annahme freiwilliger Gaben Veranlassung zu einer Entfremdung zwischen Herrn Köhler und Minchen von Buskow wurde. Schon als das Fräulein in sein Amtslokal trat, wurde der Einnehmer unzufrieden. Denn er hatte über diesem Geschäft allmählich eine gewisse nüchterne und kritische Ruhe erhalten und dachte bei sich: Die hätte auch zu Hause bleiben können. Sie aber legte ein kleines Papier auf den Tisch und sagte bittend: »Es sind die Trauringe von Vater und Mutter; wir lesen in der Zeitung, daß auch Ringe angenommen werden.«

»Gewiß«, entgegnete Herr Köhler verbindlich, »sie werden nach dem Goldwert geschätzt und eingeschmolzen. Will jemand solche Andenken zum Taxwert zurückkaufen, so steht es ihm frei.«

»Das vermag ich aber nicht«, sagte das Fräulein, die Ringe zum Abschiede liebevoll betrachtend.

»Monatliche Gehaltsabzüge, der ganze Betrag auf zwölf Monate verteilt, Sie haben wegen Ihres Gehaltes Kredit, die Stadtkasse legt es aus, Sie behalten dieses Andenken an Ihre lieben Eltern und haben es doch gegeben.« Er stellte das so überlegen dar, daß Minchen gar nicht zu widersprechen wagte. Der Einnehmer nahm also Goldwaage und Probierstein, taxierte die Ringe, versprach, die Summe aus der Stadtkasse zu erheben, die monatlichen Abzüge von ihrem Gehalt zu veranlassen und ihr alsdann die Ringe wieder zu übermachen. Er besorgte dies mit Hilfe des Kämmerers und schickte sie mit einem Schreiben desselben zurück.

Doch als das Fräulein die Wertstücke wieder in der Hand hielt, fiel ihr ein, daß sie ja doch die Ringe hätte geben wollen und daß [] die Sache nicht in der Ordnung sei. Nun fürchtete sie aber das Mißfallen des Herrn Einnehmers zu erregen, wenn sie die Gabe noch einmal brächte; deswegen verschwor sie sich mit Frau Beblow und beredete diese, in den ersten Nachmittagsstunden, wo Herr Köhler nicht im Lokal war, sondern nur sein vertrauter Schreiber, die Reife als Gabe von einem Unbekannten abzugeben. Das konnte nicht auffallen, weil auch andere ihre Trauringe hintrugen. Sie Sache war schlau erdacht, aber zum Unglück hatte der vereidete Schreiber, der auch als Freiwilliger ausrücken wollte, gerade in seinen Angelegenheiten zu tun, Herr Köhler war selbst zur Stelle, und Frau Beblow fiel in seine Hände. Er hörte mit Verachtung ihre Ausrede, daß diese Gabe von einem Unbekannten komme, denn er hatte die Ringe sofort wiedererkannt, und indem er brummte: »Sie ist leichtsinnig, und es ist ihr nicht zu helfen«, gab er mürrisch die Quittung. Als nun Frau Beblow zurückkam und den unglücklichen Verkauf berichtete, wurde Minchen sehr darüber bekümmert, daß der Einnehmer sie für eine leichtsinnige Person hielt und daß er ihr seine gute Meinung entzogen hätte. Wenn sie seitdem Herrn Köhler begegnete, kam ihr vor, als ob dieser mit geringerer Artigkeit grüßte, und sie dankte ihm scheu und befangen. Das merkte wieder der Einnehmer, und so gerieten die beiden ohne Worte allmählich in ein sehr gespanntes Verhältnis; die Grüße wurden immer kürzer, und weil keines recht wußte, warum, so war auch gar keine Verständigung möglich. Das Fräulein empfand das tief. Ihr Leben im Hause war ohnedies einsam geworden, denn ihr Bruder hatte sie verlassen, um seine Kompanie zu übernehmen, und wenn sie des Abends allein in ihrem Dachstübchen saß, grämte sie sich bitterlich über die schlechte Meinung und dachte nach, wie sie die Feindseligkeit wohl besiegen könnte.

Nun war der Einnehmer auf Ansuchen des Magistrats Ehrenvorstand ihrer Schule geworden; er wurde jeden Monat dort sichtbar, gab seinen guten Rat, ermahnte und lobte die Kinder. Da fiel ihr ein, ob sie ihm nicht durch diese eine Bitte vortragen könnte, von seinem Zorn abzulassen. Sie wählte dazu ein kleines Mädchen, dessen Vater als Landwehrmann mitziehen sollte, und brachte dem Kinde einen Vers bei, den sie sich selbst ausgedacht hatte. Als nun der Einnehmer zu seiner Zeit wieder erschien und die Arbeiten der Kinder besah, welche diesmal sämtlich für das Vaterland verfertigt wurden, verweilte er auch vor der Kleinen, die sein Liebling war, zog eine Tüte Pfeffernüsse aus der Tasche und riet ihr, davon zu nehmen und den Rest unparteiisch unter ihre Gespielinnen zu verteilen. Da stand das Kind feierlich auf und sagte mit hellem Stimmchen seinen Spruch:

»Wir bitten zu dem lieben Gott
Für dein Wohlergehen,
Habe Nachsicht auch mit uns,
Wenn wir was versehen.«

[] »Du kannst hübsch singen, kleiner Vogel«, sagte Herr Köhler erfreut. »Ersuche unser liebes Fräulein, daß sie dir den Vers aufschreibt, und bringe ihn mir nach Hause.« Er selbst sah Minchen so zufrieden an, daß sie erkannte, sein Unwille sei geschwunden. Denn die Musen haben in ihrer himmlischen Güte jedem Menschen die Begabung zugeteilt, daß ihm Verse, welche zu seiner Ehre gedichtet sind, ausnehmend gut gefallen. Deshalb hielt auch der Einnehmer daheim den Zettel mit dem Reime nachdenkend in den Händen und sagte: »Es ist merkwürdig, sie hat doch Poesie.«

Durch das Ersatzgeschäft in seinem Kreise aufgehalten, konnte der Doktor erst später als die Kameraden aufbrechen. Vorher traf er noch einmal bei den Vertrauten im Marktflecken mit Henriette zusammen. Dies Wiedersehen, das letzte vor einer langen Trennung, war dem Anscheine nach ruhiger als ein früheres; sie waren in so begeisterter Stimmung, daß Schmerz und Angst nicht aufkamen. Erst als er beim Abschiede die Geliebte in die Arme schloß, brach die mächtige Bewegung in beiden hervor, er warf sich auf die Knie, und sie hielt die Hand über seinem Haupt, den tränenlosen Blick nach oben gerichtet.

In der Hauptstadt suchte er zuerst den Grafen Götzen auf. Er wurde in ein Krankenzimmer geführt. »Das ist mein Schicksal«, begann der Graf traurig, »mir ist nicht bestimmt, mit meinen Landsleuten ins Feld zu ziehen. Der Wassertropfen verrinnt in der großen Strömung. In vergeblicher Mühe und in Sorge, die unablässig am Herzen nagte, ist die Lebenskraft geschwunden. Ich brauche jetzt die Philosophie, welche Sie mir einst empfahlen; aber das Bewußtsein, daß man früher einmal seine Pflicht getan, ist ein schlechter Trost in dieser Zeit, wo so unermeßlich viel zu tun wäre.«

»Ihnen aber bleibt ein anderer Trost«, entgegnete der Doktor. »Wenn der Hörnerklang der schlesischen Freiwilligen zu Ihren Fenstern heraufschallt, und sooft Sie in der Zeitung lesen, daß unsere Bataillone vor dem Feinde sich brav gehalten, sollen Sie die Freude empfinden, wie wir Schlesier Ihnen mehr als jedem anderen verdanken, daß wir teilhaben an den Ehren dieses Jahres. Sie waren es, und Sie fast allein, der in unserem mutlosen Elend während der Jahre großer Demütigungen uns eine mannhafte Gesinnung und das Vertrauen zu der Zukunft unseres Staates gegeben hat. Wie mir, so haben Sie tausend anderen die Waffen in die Hand gelegt, die wir endlich gebrauchen dürfen. An Sie haben wir uns bisher gehalten, jetzt ist es an uns, Ihrem Beispiel nachzueifern und unserem Meister Ehre zu machen.«

»Darum also tragen auch Sie die Büchse?« fragte der Graf mit melancholischem Lächeln, und abbrechend sagte er: »Freund Helwig ist zum Major ernannt; es ist im Werke, ihn als Führer eines Streifkorps mit dem halben Regiment in den Rücken des Feindes zu senden.

[] Er hat sich bereits wacker getummelt, Sie werden ihn in der Lausitz finden und Mühe haben, zu ihm durchzudringen.«

Es war am Ende des Mai, als der Doktor zu Pferde, in Uniform und mit den Waffen eines reitenden Jägers, in Kottbus eintraf, wo das Streifkorps Ruhetag hielt. Der erste Bekannte, dem er auf dem Marktplatze begegnete, war Hans, welcher sich die Erlaubnis ausgewirkt hatte, zu der Schwadron des Majors überzugehen. Hans lief in voller Freude auf den Einreitenden zu und führte ihn nach dem Gasthofe, wo die Offiziere lustig zusammensaßen, unter ihnen der Pole, welcher die zweite Schwadron kommandierte. Die Freunde sprangen auf, als der neue Freiwillige in das Zimmer trat. Es gab herzliche Umarmungen und viele Fragen.

Wie durch Zauberkunst sah sich der Doktor plötzlich als Genosse streifender Husaren. Die ersten Wochen wurde ihm der Dienst sauer; die Vorübungen, welche er daheim in den letzten Jahren nach Anweisung eines Husarenunteroffiziers gemacht hatte, halfen ihm wenig, aber er war kräftig und unermüdlich und fand bei Offizieren und Mannschaft so bereitwillige Nachhilfe, daß er sich manchmal gegen allzu große Schonung, die man ihm gewähren wollte, sträuben mußte. Da kurz nach seinem Eintritt ein Waffenstillstand geschlossen wurde, so erhielt er mit anderen Rekruten Frist zu notdürftiger Ausbildung. Nach dem Stillstand aber gewann auch er vollgemessenen Anteil an den Freuden und Gefahren des Reiterlebens. Zwar das ersehnte freie Schweifen im Rücken des Feindes vermochte der Major lange nicht durchzusetzen, denn sein General Bülow, ein methodischer Herr, machte nicht viel aus dem Parteigängerdienst und hielt seine Leute lieber fest unter eigenem Kommando. Dadurch wurde dem Doktor Gelegenheit, nach den siegreichen Kämpfen zum Schutz der Residenz in die Scharen der fliehenden Feinde einzuhauen, bis die Nacht dem Reitergefecht ein Ende machte. Seitdem gab es fast jeden Tag kleinere Zusammenstöße mit dem Feinde, selten kamen die Husaren ohne Gefangene und Siegeszeichen in ihre Quartiere. Aber erst Anfang Oktober gelang es dem Streifkorps, sich von dem Vorpostendienst bei der Nordarmee zu befreien. Wie ein junger Jagdfalk, der lange mit dem großen Steinadler in einem Käfig zusammengeschlossen war, flog der Major, den Banden entlassen und froh, sich frei die Beute zu jagen, über die Elbe in das Gebiet, welches noch von der französischen Armee beherrscht wurde. Seine Schwadronen warfen sich auf die Verbindungen des Feindes, fingen die Kuriere ab, verwirrten Kolonnenzüge, störten die Zufuhren, griffen kleinere Heerhaufen ohne Rücksicht auf die Übermacht an und belästigten unablässig den Gegner.

Als in dieser Zeit der waghalsigen Streife das Korps die Festung Erfurt, welche noch in französischen Händen war, umschwärmte, um die ausgesandten Detachements, die aus der Umgegend Fourage[] eintrieben, zu hindern, erhielt Witowski Befehl, mit seiner Schwadron die große thüringische Heerstraße zu beobachten und nach einem Fange auszusehen. Der Pole war darüber höchlich erfreut, denn wie der Führer des Korps gegenüber seinem General, so wollte auch er gern gegen seinen Freund Helwig die Unabhängigkeit behaupten. Vor dem Abmarsch kam er zum Doktor: »Bruder, reit einmal mit mir.«

»Gern«, sagte dieser, »wenn der Major es gestattet.«

Als die Erlaubnis erteilt war, zog die Schwadron unter hellem Gesange südwärts.

Der Pole war ein erfahrener Parteigänger, er hatte sich mit gutem Grunde selbst einen Kater genannt, denn unerschöpflich in kleinen Listen, wußte er sich so gewandt zu schmiegen und zu drücken, daß er den Feinden unsichtbar blieb, bis für ihn der Augenblick des Ansprungs kam. Diesmal führte er mit besonderem Behagen die Schwadron, welche zum Teil mit Piken bewaffnet war, und eine Anzahl Jäger zwischen feindlichen Besatzungen hindurch bis in die Nähe der Heerstraße.

Etwa eine Meile nordwärts der Straße lag einsam ein großes Vorwerk, dahinter ein Gehölz mit einer Lichtung. Dorthin rückte er mit seinem Kommando und erzählte seinem Vertrauten, dem Doktor: »Einer von meinen Husaren ist ein Verwandter des Gutsbesitzers; ihn habe ich verkleidet vorausgeschickt, und ich finde hier gute Kundschaft.« Bis zur Dämmerung kamen und gingen Boten. In der Dunkelheit brach er auf und führte seine Schwadron in die Nähe eines Dorfes an der Straße. »Dort hat sich auf dem Marsch eine halbe Batterie eingelegt, wollen sie herausholen.« Er umstellte das Dorf und postierte Jäger an die Landstraße nach beiden Richtungen. »Bricht ein Fahrzeug heraus, so schießt zuerst die Pferde nieder«, – dann rückte er auf einem Seitenweg von den Feldern gegen das Dorf. Es gelang, die sorglosen Wachen am Eingange zu bewältigen, ohne daß ein Schuß fiel; die Schwadron drang in den Ort und fand die Geschütze und Wagen an einem freien Platz aufgefahren. Ein Teil der Mannschaft saß ab und durchsuchte die Gehöfte, Tumult, Geschrei und Schüsse unterbrachen die nächtliche Stille, in wenig mehr als einer Stunde war die Mehrzahl der feindlichen Artilleristen und die Bedeckungsmannschaften niedergehauen oder gefangen, nur wenige entkamen in das Feld oder bargen sich im Versteck. Die Fahrknechte wurden gezwungen, anzuspannen, und beim ersten Morgengrauen führte der Rittmeister die Gefangenen und die halbe Batterie als Beute aus dem Dorfe. Vergnügt strich er seinen dunklen Schnurrbart. »Gern möchte ich die Kanonen verstecken und abliefern«, sagte er, »damit die Mannschaft ihre Dukaten verdient. Die Feldwege sind von den Erntewagen festgefahren, und die Feinde sollen Mühe haben, uns zu finden.« Er brachte seinen Fang glücklich [] zu dem Vorwerk. Dort befahl er zu füttern und abzukochen. »Jetzt laß uns ausruhen, Bruder, denn wir haben noch etwas vor.«

»Mancher ist entkommen«, versetzte der Doktor, »auch aus meinem Gehöft sind einige Mann über den Gartenzaun gesprungen wir schossen ihnen vergeblich nach.«

»Wir haben die Offiziere, dort sitzen sie verwundet auf dem Protzkasten, die Mannschaft aber, wenn sie auf dem Marsch überfallen wird, hat immer den Brauch, daß sie den Weg zurückläuft, den sie schon gemacht hat, und nicht nach vorwärts. Die Flüchtigen haben weit zu laufen, von dort hinten droht uns heut noch keine Gefahr, die Gefangenen schicke ich sofort auf unsere Garnison zu.« Er gab einem Offizier den Befehl, mit einer Bedeckung und den Gefangenen aufzubrechen, wies ihm leise eine Sandgrube als Versteck an, wo er sie unterbringen sollte, und machte ihm ein bedeutsames Zeichen mit der Pistole: »Wenn einer trotzige Miene macht, geben Sie ihm sogleich einen Freipaß zum Teufel, damit die andern in Furcht bleiben. Doch der Artillerist, wenn er die Geschütze verloren hat, ist geduldiger. Warum lassen Sie den Feuerwerker zurück, Leutnant?« fragte er, auf einen Franzosen deutend, der in der Nähe stand.

»Verwundet!« meldete sich der Mann finster in französischer Sprache, O»und geschlagen ins Kreuz« – und setzte sich schwerfällig auf einen Holzklotz.

»Dann hinein mit ihm ins Haus!« gebot der Pole gutmütig, als er das Blut am Kopfe des Feindes sah. »Dort ist Lazarett und Chirurgus.«

Am Nachmittage rückte der Rittmeister von neuem aus. Auf anderen Wegen weiter gegen Osten kam die Schwadron wieder der Heerstraße nahe. Der Pole teilte sie und stellte die Beritte im Schutze eines Holzes verdeckt auf, er selbst winkte seinen Freund zu sich, stieg ab, kroch auf einen kahlen Hügel und beobachtete liegend mit seinem Fernglase nach beiden Richtungen die Straße. »Aus einem polnischen Landsmann, der unter den Gefangenen war, habe ich herausgebracht«, erzählte er, als der Doktor an seiner Seite lag, »daß vornehme französische Generäle zurück sind, welche mit ihren Wagen und Bedeckung zum Heer des Kaisers reisen. Ist es auch unsicher, vielleicht kommen sie uns noch in den Weg.« Wohl eine Stunde lagen sie spähend auf der Höhe. Endlich rief er mit heller Freude: »Dort kommen sie; es sind Reiter, und sie sind gewarnt, denn sie marschieren vorsichtig. Wir packen sie von vorn, die andern im Rücken.«

Als die Husaren zur Attacke aufritten und die feindlichen Reiter sichtbar wurden, hob sich der Freiwillige im Sattel, schrie den Namen Dessalle und setzte, alles vergessend, den andern voran auf die Heerstraße, seinem Feinde entgegen. Sooft er bis dahin mit den Franzosen zusammengestoßen war, bei jedem Überfall, und wenn er nach einem Treffen hinter dem fliehenden Gegner herjagte, immer [] hatte er erwartet, die Gestalt seines Nebenbuhlers im Anritt gegen sich zu finden. Er wußte, daß er ihm im Felde begegnen würde; jetzt hatte er ihn vor sich und die Stunde der Entscheidung war da. Ein wilder Kampfzorn überkam den bedächtigen Mann, und Leib und Seele unter der Herrschaft plötzlich auflodernder Leidenschaft, rief er zum zweitenmal den Namen des Franzosen. Gellend klang ein Gegenruf, und beide rannten aneinander. Die größere Gewandtheit des Obersten vermochte dem rasenden Anfall des Deutschen nur mit Mühe zu begegnen, denn blitzschnell und mit übermenschlicher Kraft fielen die Hiebe gegen ihn. Neben sich hörte der Freiwillige den Ruf des Polen, doch er schrie: »Mein ist er!«, als wollte er den Beistand anderer abhalten. Von der andern Seite aber jagte Hans herzu mit der Lanze, die er einem Verwundeten entrissen hatte; der Franzose bäumte sein Pferd, den Stoß zu parieren, das Roß überschlug sich, und der Reiter lag betäubt unter ihm am Boden. Da neigte sich der Freiwillige auf seinem Pferde über ihn und ein Strahl wilden Triumphes fiel auf den Gestürzten, gleich darauf schlug er sich im Getümmel mit anderen feindlichen Reitern herum.

Die Hälfte der französischen Bedeckung entrann in schneller Flucht, der Rest wurde niedergemacht oder gefangen. Als Hans zum Sammeln blies und der Doktor an der Stelle vorüberkam, auf welcher er mit dem Franzosen zusammengestoßen war, saß der alte Wachtmeister am Boden und stützte den Körper des Ohnmächtigen. Der Pole aber lachte seinen Freiwilligen an und wies auf die Koppel von Beutepferden, welche durch seine Husaren zusammengetrieben wurde: »Es sind gute Pferde darunter.«

Der Oberst wurde auf einen Wagen gelegt, den ein Husar aus dem nahen Dorfe herbeiholte, und die Schwadron zog mit Pferden und Gefangenen wieder dem Gehöfte zu, in welchem der Rittmeister sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Als die fröhlichen Sieger ankamen, fanden sie dort alles, wie sie es verlassen, nur die Husaren, die zur Bewachung zurückgeblieben waren, erhielten scharfen Verweis, weil sie der Versuchung nicht widerstanden hatten, sich gesellig mit einem starken Trunk zu vergnügen, und weil das Verhör ergab, daß die französischen Artilleristen die Branntweinflaschen aus ihren Protzkästen selbst herzugetragen und wie gute Kameraden an dem Trunk teilgenommen hatten. Die Verwundeten wurden wieder im Hause auf Betten und Streu untergebracht, der Oberst auf das Lager gelegt, welches in einer Kammer neben der Wohnstube stand, und der alte Sergeant zu seiner Bedienung bestimmt.

»Der Oberst ist ein wilder Teufel«, sagte der Pole zum Doktor, »und finster wie die Nacht, auf höfliche Anrede hat er keine Antwort gegeben; ich traue ihm nicht.« Er untersuchte selbst die Kammer, beim Bett war nur ein kleines Fenster, so enge, daß sich auch ein Gesunder nicht hindurchzuschwingen vermochte; er befahl, die [] Kammertür auszuheben, und postierte einen Husaren in die Wohnstube, damit der Franzose allein wäre und doch auffällige Bewegungen seiner Wache nicht verbergen könnte. Der Doktor rief den Alten heraus und sagte ihm, daß er bereit sei, das Bein zu untersuchen, wenn der Verwundete es wünsche. Doch als der Diener dem Obersten dies leise mitteilte, antwortete dieser nur durch eine abwehrende Bewegung des Abscheus, und der Chirurgus des Streifkorps wurde in die Kammer geschickt; er meldete einen Beinbruch, der nicht gefährlich sei, und tat sein Bestes, den Fuß zu schienen. Der Kranke lag still, und der Sergeant ging ab und zu.

Draußen im Hofe und Garten tummelten sich lustig die Husaren, bereiteten ihre Mahlzeit, rauchten und schwatzten. Hinter den Gebäuden des Hofes standen die erbeuteten Geschütze und Wagen, bewacht von freiwilligen Jägern; in einer Abteilung der Scheune lagerten die Offiziere und einige Freiwillige, auch sie gehoben durch den gelungenen Fang. Es wurde dunkel, und Hans ließ bereits durch die Burschen der Offiziere die Streu auf der Tenne breiten zum Nachtlager für die Herren. Da stellte sich der alte Franzose nahe zum Bett des Obersten und begann leise: »Ich bringe eine Meldung, Herr Oberst.« Dieser wandte ihm das düstere Antlitz zu. »Der Feuerwerker hat heut, während die feindlichen Husaren von seinen Leuten unterhalten wurden, heimlich ein Faß Sprengpulver in die Scheune gegenüber geschafft und unter Erbsenstroh versteckt. Vom Faß hat er die Zündschnur gelegt und längs dem Stall mit Stroh bedeckt bis an dieses Haus gezogen. Er ist Savoyarde und fühlt Rachsucht, weil ihn die Husaren verwundet und durch Schläge übel zugerichtet haben. In der Nacht, wenn die Scheune mit Feinden gefüllt ist, will er sprengen, er hofft, die Wache zu betrügen. Das Pulverfaß steht neben dem Lager der Offiziere, die Stoppine läuft hinter dem Haus herum bis zu der Kammer nebenan, wo der Savoyarde wegen seiner Wunde einquartiert ist. Ich sagte ihm, er dürfe es nicht tun ohne Ihre Genehmigung. Sobald der Herr Oberst an die Wand pocht, zündet er an.« In den Augen des Obersten flammte ein grelles Licht auf, als er fragte: »Wo liegt der Arzt aus jener Stadt?«

»Bei den Offizieren in der Scheune.«

»Warum hat es der Tropf nicht getan, ohne Meldung davon zu machen?« murmelte der Oberst.

»Mein Oberst, der Doktor hat Ihr Leben gerettet«, versetzte der Alte.

»Er hat mir gestohlen, was das Glück meiner Zukunft werden soll; er hat sich eingedrängt zwischen mich und eine andere, einer von uns beiden muß von dannen.«

»Wenn das sein muß«, fuhr der Alte fort, »so pflegt mein Oberst das Pulver in der Pistole zu gebrauchen, aber nicht im Faß.«

»Im Kriege trifft der Tod mit jeder Waffe.«

[]

»Aber Oberst Dessalle gebraucht nicht jede.«

»Sie haben Ihre Meldung getan, Wachtmeister; ich werde das Zeichen geben.« Der Alte rückte sich steif zusammen und salutierte militärisch.

Die Sonne war untergegangen, und das Abenddunkel erfüllte die Räume des Hauses. Der Rittmeister kam in die Wohnstube und befahl Licht zu bringen; da der helle Schein auch die anderen Offiziere herbeizog, rief der Pole in den Hof hinaus: »Komm zu uns, Bruder Doktor, es ist Wein hier aus Franken.« Der Freiwillige erschien und saß mit den andern am Tisch nieder.

Der Rittmeister trug ein Glas zu dem Diener. »Trink, alter Vater, da dein Herr nicht kann, und sei lustig; heut mir und morgen dir, so heißt es bei uns Husaren.« Der Alte dankte und stellte das Glas unberührt neben sich. »Dieses Glas aber bringe ich dir, Bruder Doktor«, fuhr der Rittmeister fort, »heut bist du als mein Freiwilliger geritten, und ich habe mich über dich gefreut. Bei uns Polen ist eine Rede: Jedermann schlägt nach seinem Großvater – ich denke, deiner war auch Soldat.«

»Nur eine Stunde seines Lebens«, antwortete der Doktor lachend. »Er war ungewöhnlich hoch gewachsen, deshalb wollte ihn der Vater Friedrichs des Großen in sein Potsdamer Regiment stecken und hatte ihn schon einkleiden lassen. Doch besann der König sich anders und gab ihm eine Pfarre. Der Großvater hielt sich noch im hohen Greisenalter gerade aufgerichtet wie ein Gardist, ich habe eine dunkle Erinnerung an ihn und an sein schönes weißes Haar, wie er mir einst die Hand auf den Kopf legte.«

»Mir hat niemand den Kopf gesegnet«, sagte der Rittmeister ernster, als er sonst zu sein pflegte. »Den Großvater hieben die Konföderierten mit ihren Säbeln zu Tode, und den Vater erschossen die Franzosen, während er in österreichischen Diensten stand, beide habe ich nicht gekannt. Da zog meine Mutter ins Preußische, als ich noch ganz winzig war. Dort sah ich als kleines Kindel zuerst einen Husaren und sagte meiner Mutter sogleich, ich wollte auch einer werden. Solange ich denken kann, habe ich kein anderes Vaterhaus als das Regiment, und keinen andern Segen auf dem Kopf, als den Segen, welchen der Herrgott einem ehrlichen Husaren gibt.« Er stieß das Glas auf den Tisch. »Schenke den Rest ein, Bruder, morgen reiten wir, bevor die Sonne aufgeht, und jetzt pascholl nach unserem Nachtquartier in der Scheune.«

Die Preußen verließen die Stube, es wurde allmählich still, auch draußen verhallte der Lärm. Der Sergeant stellte sich an das Bett des Obersten und beugte sich über ihn, der Kranke schlief. Erstaunt lauschte der andere auf die Atemzüge und harrte längere Zeit, es regte sich nichts. Kopfschüttelnd nahm er das Wassergefäß und ging in den Hof.

Als um diese Zeit der Doktor noch einmal aus der Scheune zum [] Brunnen kam, sah er in der Finsternis an der Seite eine Gestalt am Boden kauern. Als er herantrat, erkannte er den alten Franzosen. »Was tun Sie hier, mein Braver?« fragte er verwundert. Der Alte erhob sich.

»Ich habe eine Kugel für mich gefunden«, entgegnete er grüßend und schritt dem Hause zu. In der Kammer neigte er sich wieder über das Angesicht seines Obersten. Dieser lag unverändert. Der Sergeant saß neben dem Lager nieder, griff nach dem Glase, das ihm der Preuße dargeboten hatte, und trank es aus.

Alles war still, die Sterne stiegen zur Höhe und gingen nieder, die erste Morgenröte stieg herauf. Hans trat aus der Scheune und blies Reveille, auch der Oberst erhob sich in seinem Bett. »Ich werde mich zu Arrest und Kriegsgericht melden sobald der Herr Oberst den Säbel wieder hat«, sagte der Sergeant finster.

»Was meinst du, Alter?«

»Ich habe gestern abend gegen Befehl die Zündschnur durchschnitten und die Leitung unterbrochen.«

»Ich weiß es, mein Vater; ich wußte, daß du es tun würdest, als du hinausgingst, denn ich schlief nicht.«

Mit demselben strengen Ernst meldete der Sergeant weiter:

»Ebenso habe ich gestern gegen den Befehl dem Feuerwerker gemeldet, daß der Herr Oberst oder ich ihm künftig einmal einen Schuß durch das Hirn jagen würden, wenn er sich untersteht, ohne mündlichen Befehl des Herrn Obersten die Stoppine anzuzünden.«

»Es ist gut«, versetzte der Oberst und streckte ihm die Hand hin. »Komm, mein Vater, setze dich zu mir; mir bleibt auf Erden niemand als du.« Er sank auf sein Lager zurück. So blieben beide schweigend, bis der Pole, zum Aufbruch bereit, in die Kammer kam.

»Die alte Rechnung ist noch nicht ganz ausgeglichen, obgleich wir einander gehauen haben«, begann der Pole; »auch ich bin gewohnt, Ehrenschulden zu bezahlen. Sie haben mir damals meine Husaren freigelassen. Wollen Sie mir Parole geben für sich und Ihren Begleiter, daß Sie in diesem Feldzuge nicht mehr gegen uns dienen, so gebrauche ich das Recht, welches ich als Kommandeur eines Streifkorps habe, und lasse Sie sogleich frei abreisen, wohin Sie wollen.«

»Es ist dafür gesorgt, daß mir die Parole nicht schwer wird«, entgegnete der Oberst, nach seinem Fuß weisend, und gab das Gelöbnis. Der Rittmeister rief in den Hof und übergab dem Alten Pallasch und Säbel.

»Da wir Artigkeiten austauschen«, begann jetzt der Franzose nicht ohne Selbstüberwindung, »so lassen Sie sich als meinen Dank mitteilen, daß in der Scheune neben Ihrem Nachtlager ein Faß Pulver steht; die Leitung, welche dazu bestimmt war, Sie auffliegen zu machen, hat mein Sergeant gestern abend unterbrochen, um Sie [] vor einer lästigen Störung Ihrer Ruhe zu bewahren. Wenn Sie diese Tat, die er ohne Befehl, nur als Soldat von Ehre getan, für dankenswert halten, so können Sie ihn dadurch verbinden, daß Sie von einer Untersuchung gegen den Anstifter absehen, damit die Redlichkeit meines Alten gegen den Feind nicht einem seiner Kameraden den Hals kostet.«

»Ich weiß Ihnen nicht besser zu danken, Wachtmeister«, versetzte der Rittmeister, »als daß ich den Kerl zur Stelle loslasse, da ich eine solche Bremse nicht mit mir fortnehmen will.«

»Noch um eine Gunst wage ich zu bitten«, fuhr der Oberst fort: »ich möchte so schnell als möglich diesen Ort verlassen, ohne sonst jemanden zu sehen, und ersuche Sie um einen Wagen für mich und meinen Begleiter.«

»Der Beamte des Vorwerks soll sogleich anspannen«, entgegnete der Pole. »Stoßen wir wieder zusammen, so tue ich nicht den ersten Hieb.«

»Auch ich nicht«, sagte der Franzose. Beide grüßten einander mit der Hand und schieden.

Als der Doktor kurz darauf in die Stube trat, war Oberst Dessalle mit seinem Vertrauten verschwunden. »Wohin ist er gereist?« fragte der Doktor den Rittmeister.

»Südwärts nach der nächsten Stadt«, versetzte der Pole. »Er wird uns das Geschäft nicht stören; wir wechseln die Straße. Die Geschütze muß ich aber sprengen. Das Pulver dazu steht neben unserer Schlafstelle.«

Oberst Dessalle war verschwunden. Der Doktor hatte im Winter und während des nächsten Feldzuges im Frühjahr oft Gelegenheit, bei französischen Offizieren nach ihm zu fragen. Viele kannten ihn, und mancher gab Nachricht über ihn bis zu dem Tage seiner Gefangenschaft; wo er seitdem geblieben, wußte niemand zu sagen.

Zum Frieden

Die Freiwilligen sind fort, die Mannschaft der Linie ist ausgehoben, auch die Landwehr hat Weib und Kind verlassen und ist in das Feld gerückt, und der Kreisstadt fehlt die junge Kraft, welche sich im ersten Frühjahr zornig gegen den Feind erhob. Aber wehrlos ist die Bürgerschaft nicht, denn die gesamte mannhafte Bevölkerung schreitet in Waffen von der Art, wie sie einst von den alten Hünen getragen wurden, und exerziert draußen auf dem Anger. Jeder trägt eine Pike, die Waffe ist schwer, ihre Eisenspitze lang und scharf, der Schaft ein starker Pfahl, und es ist kein Kinderspiel, sie zu führen, mit ihr auszufallen, in gerader Richtung vorwärtszustoßen oder sie gar in der Luft zu schwenken, um den feindlichen [] Säbel, den der Pikenmann in Gedanken vor sich sieht, zur Seite zu schleudern, daß er weit über den Anger bis dahin fliegt, wo die Gänse der Vorstädter friedlich den kurzen Rasen berupfen. Wer aber Herr über solche Waffe geworden ist, der bekommt eine feste Zuneigung zu ihr und Vertrauen zu seiner eigenen kriegerischen Tüchtigkeit. Man kann sich denken, daß Beblow den gesamten Landsturm der Stadt befehligt, sowohl die leichte Kompanie seiner Bürgerschützen, die mit ihren Stutzen den Feind aus der Ferne vernichten, als auch die eigentlichen Stürmer, welche dem Feinde, wenn er doch noch stehenbleibt, dicht auf den Leib rücken und mit Kraft in diesen hineinstoßen. Und wenn der riesige Hauptmann vor seinem Bataillon hinauszieht, des Beispiels wegen selbst mit einem Spieß bewaffnet, der einem Hebebaume gleicht, so erhält der Bürger bei seinem Anblick einen Löwenmut; hinter ihm drein marschieren sie alle, die noch feste Glieder haben, Schilling führt einen Zug und Hutzel einen anderen, und dieser läßt sich auf den Rat seiner Hausfrau den Schnurrbart stehen. Die Stadt ist in ein Heerlager verwandelt, nur der Herr Einnehmer hält sich zurück. Doch auch er sieht vom Stadtwall bewundernd den Übungen zu.

Bald kommen die Tage, wo der Provinz eine starke Heeresmacht nötig wäre, denn noch einmal dringt der böse Kaiser in das Land, auch die Kreisstadt ist in Gefahr, von den Franzosen besetzt zu werden. Beblow mit einem Dutzend Kameraden wäre imstande, als lebendige Dornhecke das Stadttor den Franzosen zu verschließen, jedoch die Mehrzahl seiner Mitbürger erhebt verständigen Einwand, und mancher birgt während dieser Tage die Pike auf dem Oberboden. Sobald aber der Feind den Rücken wendet, sind sie alle wieder auf dem Anger versammelt und fallen trotzig hinter ihm aus. Und einer von ihnen, welcher nicht arm an klugen Gedanken ist, stemmt seine Pike auf den Boden, sieht bewundernd zu dem Eisen der Spitze auf und sagt zu Herrn Köhler: »Es ist die beste Waffe der Welt. Aber sie verlangt einen ruhigen Feind.«

»Sie haben recht«, entgegnet der Einnehmer, »dies ist für uns Bürger die beste von allen Waffen, denn wenn Sie sich täglich eine Stunde wie Helden damit gemüht haben, so sind Sie daran gemahnt, daß das Vaterland jetzt von jedem das Äußerste fordert, arbeiten die übrige Zeit unverdrossen in der Werkstatt für Lieferungen ohne Ende, bei denen die Bezahlung ausbleibt, und essen ohne Murren das schwarze Brot, welches uns jetzt gebacken wird. Ohne die Pike würde der arme Bürger die schwere Zeit nicht ertragen.«

In jenen Tagen, wo das feindliche Heer noch einmal in das Land flutete, bestand der Senior darauf, sein liebes Kind vor der Gefahr in einer Stadt zu bewahren. Da schrieb Henriette an Minchen Buskow, kam zur Kreisstadt und zog zu dem Fräulein in das leere Dachstübchen. Der Aufenthalt Henriettens verlängerte sich bis zum [] Herbst, und das Pfarrkind wurde eine wertvolle Gehilfin in der Schule und bei den Sammlungen für das Vaterland. Am Nachmittag fand man beide auf dem Stadtwall, neben ihnen schritten der Einnehmer und der junge Doktor, und sooft die vier sich recht eifrig unterhielten, war die Rede fast immer von solchen, die draußen im Felde lagen. Henriette hatte die Freude, die Nachrichten von Siegen, welche schnell aufeinander folgten, und andere stille Botschaften, welche durch die Feldpost kamen, gemeinsam mit den Vertrauten des geliebten Mannes zu genießen. Und wenn die wackeren Mädchen des Abends zusammen in der Dachwohnung für die draußen arbeiteten, dann war auch Minchen überglücklich, daß sie der neuen Freundin als Wirtin gegenübersaß; denn dieses Amt hatte sie in ihrem Leben noch niemals gehabt, und sie fühlte sich stolz, wenn sie vor dem erfahrenen Gast auch ihre Tüchtigkeit in der Wirtschaft beweisen konnte. Da die Frau Pastorin durch regelmäßige Sendungen aus Hof und Küche dafür sorgte, daß die Einquartierung der Städterin nicht beschwerlich wurde, so lebten die Mädchen miteinander in behaglichem kleinen Haushalt wie zwei Vögel auf einem Fruchtbaume.

Die große Schlacht bei Leipzig war geschlagen, die Bürger dankten dem lieben Gott in der Kirche dafür und stellten am Abende Lichter an die Fenster. Eine fromme Freude erhob das ganze Volk, nicht reich an Worten, aber so gewaltig, daß in ihr alle Sorge um die unsichere Zukunft des Vaterlandes und alle Erinnerung an die gehäuften Leiden der vergangenen Jahre untergingen.

Als die Straßen wieder frei wurden und die Post regelmäßig Briefe vom Heere beförderte, da erhielt Henriette an einem düsteren Tage des Novembers zwei Briefe; den ersten von dem Geliebten, worin er ihr sein Zusammentreffen mit dem Franzosen berichtete, und den zweiten von ihrem Vater, Einlage war ein an sie adressiertes Billett von einer Hand, die sie wohl kannte und die ihr jetzt ein Grausen verursachte. Sie riß das Schreiben auf, ihr Ring mit dem Vergißmeinnicht lag darin, und der Brief enthielt in französischer Sprache nur die Worte: Leben Sie wohl für immer, schöne Henriette!

Da glitt sie von ihrem Stuhle auf die Knie und hob die Arme gen Himmel: »Vater des Erbarmens, ich danke dir.« Dann eilte sie zum Tisch, schrieb in einen Brief die Worte: »Ich habe den Ring, Geliebter, ich bin frei«, und legte die Zeilen des Franzosen ein.

Am nächsten Tage nahm Henriette von Minchen Abschied, um nach Hause zurückzukehren. Daheim fiel sie den Eltern um den Hals und bekannte ihnen in der ersten Stunde, wie lieb sie den Doktor habe; als die Mutter zärtlich klagte: »Du böses Kind, wie lange hast du uns das verborgen« – antwortete Henriette leise: »Vater und Mutter hatten die Verlobung mit dem Franzosen anerkannt, wie durfte die Tochter sie zu Mitwissern einer stillen Liebe machen, solange der andere ihren Ring trug?«

[] Noch war die Zeit des Harrens nicht vorüber, aber es waren Monate froher Erwartung, welche den Schritt beflügelt und die Wange rötet; Henriette flog wieder geschäftig durch Haus und Hof, und wie der Senior zum erstenmal aus der Küche, wo die Tochter mit Susanne verhandelte, das sorglose Lachen hörte, welches er durch viele Jahre nicht vernommen, da blickte er auf von Luthers Buch, von dem babylonischen Gefängnis der Kirche und lächelte ebenfalls. Des Abends saß er vergnügt in seinem Lehnstuhl, während die Tochter auf dem alten Klavier seine Lieder vorsang, vom Knaben mit dem Röslein und ein neueres, von einem verwundeten Krieger, der die Leute bittet, ihn vom Wagen zu heben.

Die nächste Freude bereitete ein Brief an den Vater, worin der Doktor um Henriettens Hand warb. Der Senior antwortete umgehend mit bewegtem Gemüte.

Es wurde wieder Winter, und die weißen Flocken tanzten nicht nur draußen in Garten und Feld, auch in der großen Vorratsstube des Pfarrhauses, denn die Frau Pastorin schüttete die Flaumfedern in Betten, welche zur Ausstattung für ihre Tochter bestimmt waren, und Henriette saß am Schreibtisch und schrieb lange, glückliche Briefe an ihren Bräutigam. Sie hatte seinetwegen ein gutes Vertrauen, er war nicht mehr den Gefahren des Feldes ausgesetzt, sondern nur denen seines Berufes. Denn er hatte von seinem Major Urlaub erhalten und war in den großen Lazaretten tätig, welche bei Mainz für die Verwundeten errichtet wurden.

Als aber die Frühlingssonne schien und wieder die ersten Schneeglöckchen blühten, da flog die Nachricht von neuen Siegen in Frankreich durch das Land, vom Sturz des Kaisers, vom Einmarsch in Paris und dem lang ersehnten Frieden. Susanne fegte das Haus, und die glückliche Braut wand mit Bärbels Hilfe Fichtenkränze und hing sie über die Türen. Der Doktor hatte ihr geschrieben, wann er kommen würde, und sie stand auf der alten Schanze und blickte stundenlang hinaus nach dem Wege. Weit hinten auf der Straße zog etwas Dunkles heran, näher und näher, sie konnte den Lauf der Pferde erkennen, endlich eine Männergestalt, sie sah, wie der Geliebte die Hand nach dem Pfarrhause erhob, und erspähte die Züge seines Antlitzes. Heftiger pochte ihr Herz, sie flog ihm entgegen und hielt ihn lachend und weinend in ihren Armen.

Hand in Hand gingen sie miteinander dem Hause zu; die Seligkeit dieser Stunde war so groß, daß sie beiden die Lippen schloß, und doch zitterte in leisem Nachklang das Weh vergangener Zeit in ihren Seelen nach. Als sie in die Nähe des Ringwalls kamen, sah der Doktor die Dornen der alten Wustung ausgerodet und den ansehnlichen Platz, der dadurch gewonnen war, mit jungen Obstbäumen bepflanzt; ein Karren und Werkzeug lehnten an dem Brunnenrand. »Du kommst gerade zurecht, den Geist des Brunnens zum letzten [] Male zu schauen. Der Vater hat durchgesetzt, daß der Quell verschüttet wird, damit der Aberglaube aufhöre. Harre einen Augenblick, Geliebter, ich will etwas versenken.« Sie eilte in das Haus und brachte den Goldreif mit dem Vergißmeinnicht. »Der leichte Ring hat uns beiden das Leben schwer gemacht, ich kann ihn nicht ansehen, ohne traurig zu werden.« Sie beugten sich über die Brüstung und sahen in die tiefe gemauerte Röhre hinab, Henriette hob die Hand und warf den Ring hinunter. An dem Aufschlag und den helleren Kreisen auf der Oberfläche erkannten sie das Wasser in der schwarzen Tiefe. »Es soll nichts mehr hineinstürzen«, rief das Mädchen und zog ihn mit sich fort.

»Jetzt führe ich«, sagte der Doktor, »wir suchen den vierblättrigen Klee.«

»Ich suche das Glück nicht mehr, ich halte es fest an der Hand.« Sie stiegen hinab in den Kessel des Ringwalles, und als sie da unten standen, war es gerade wie vor Jahren; rings um sie die hohe Brustwehr, über ihnen der Himmel wie eine blaue Glocke. »Hier fing's an«, sagte er und küßte sie, sie aber legte sich still an seine Brust, umschlang seinen Hals mit den Armen, und wie er sich zu ihr beugte, fühlte er ihre Tränen an seiner Wange.

Acht Jahre seit der ersten Begegnung, acht Jahre treuer Liebe und bitteren Leides! In dem harmlosen frohen Sinn der Jugend schlossen sich die Herzen gegeneinander auf, jetzt war es ein geprüfter Mann und ein gereiftes Weib, welche sich miteinander verbanden. Unter unablässiger Entsagung war ihre erste blühende Jugend vergangen. Und nicht ihnen allein, ihrem ganzen Geschlecht war dieser Zeitraum ein banges, trauriges, ödes Harren gewesen, viele, die einander liebgehabt wie diese beiden, hatten sich in der harten Not und in dem freudelosen Sehnen nach besseren Tagen nicht gefreit, und vielen war der beste Trost gewesen, daß sie miteinander vereinigt werden sollten, wenn über ihr Heimatland die Sonne glücklicher Tage aufgehe. Nicht jeder, der so gehofft, schaute den Tag, mancher lag still in blutgetränkter Erde. Und wenn die Enkel derer, die den Frieden erlebten, von dieser Zeit lesen in Büchern und Briefen der Vorfahren, so fühlen sie noch heut den Schmerz in sich nachzucken wie damals die Lebenden.

In der alten Dorfkirche vor dem Altare, an welchem Henriette schon einmal neben dem Geliebten gestanden hatte, wurden beide verbunden, Minchen war Brautjungfer, der Einnehmer und der junge Doktor führten die Braut, und dahinter schritten Bärbel und Liesel mit ihren Männern. Als die Neuvermählten aus der Kirche kamen, lag das helle Sonnenlicht über der Erde, die Finken schlugen, und die kleinen Zaunkönige zwitscherten in den Zweigen und suchten eine Stelle, wo sie ihr Nest bauen konnten.

Dem Einnehmer verursachte der neue Haushalt, welchen der [] Freund einrichtete, geheime Gedanken, die er jedermann verschwieg.

Als aber auch den Frauen, welche sich in der Zeit der Erhebung um das Vaterland verdient gemacht, durch ein Ordenszeichen ehrenvolle Anerkennung zuteil wurde, und als die Kammerherrin den Orden erhielt, wurde Herr Köhler sehr unwillig und sagte: »Was als Hexe am Blocksberg herumquirlt, das wird vorgezogen, an das arme Minchen aber hat keiner gedacht!« Er nahm die Bürste, glättete seinen Hut noch sorgfältiger als sonst, ging nachdenkend auf und ab, bürstete wieder und brummte dazu: »Jetzt muß ein Ende gemacht werden.« Endlich setzte er den Hut entschlossen auf und wandelte in seinem besten Rocke nach dem Stadtwall, wo er zu dieser Stunde gewöhnlich dem Fräulein begegnete, wenn sie aus ihrer Schule heimging. Er grüßte artig und fragte, ob sie Nachricht von ihrem verwundeten Bruder habe.

»Er hat geschrieben, aber er fürchtet, Invalide zu bleiben; es ist sehr traurig, Herr Einnehmer.«

»Er hat als braver Soldat seine Gesundheit hingegeben, um dem Vaterland zu dienen«, tröstete Herr Köhler. »Das ist der beste Ruhm, den er gewinnen konnte. Der Staat wird jetzt für ihn sorgen, er wird Postmeister oder Salzfaktor. Sie aber, liebes Fräulein, was denken Sie zu tun?«

»Wenn er mich brauchen kann, gehe ich zu ihm«, sagte Minchen, »die Wohnung hier wird mir zu groß.«

»So tauschen Sie mit einer andern«, riet der Einnehmer. »Bitte, setzen Sie sich auf diese neue Bank, die der Magistrat endlich nach vielen Mahnungen für müde Spaziergänger hingestellt hat. Sagen Sie mir einmal aufrichtig: Was halten Sie von mir?«

»Nur Gutes, Herr Einnehmer«, rief Minchen, freundlich zu ihm aufsehend, »ich denke, wir kennen einander.«

»Ein wenig«, sagte Herr Köhler, »aber ich weiß recht wohl, daß ich in der Stadt für einen kratzbürstigen und unbequemen Mann gelte, mit dem nicht gut Kirschen essen ist.«

»Dumme Leute!« rief das Fräulein eifrig, »Sie müssen sich nichts daraus machen.«

»Ich tu's auch nicht«, versetzte der Einnehmer, »wenn Sie es nicht glauben. Was aber halten Sie von meinem Alter? Mitteljahre, näher an fünfzig als an dreißig?« Minchen sah ihn groß an. »Und wie gefällt Ihnen mein Äußeres? Denn zuletzt ist es einer Frau nicht zu verdenken, wenn sie einen hübschen Ehemann lieber hat als einen häßlichen.« Minchens Wangen röteten sich, sie schlug die Augen nieder und zupfte ein wenig an ihrem Kleide. »Kurz und gut!« fuhr Herr Köhler fort, »gefalle ich Ihnen?« Das Fräulein sah ihn nicht an, aber sie nickte unmerklich mit dem Kopfe.

»Nun, da haben wir's«, rief der Einnehmer siegreich und setzte [] sich neben sie. »Könnten Sie sich also entschließen, meine Frau zu werden?« Minchen antwortete nicht, aber ihre kleine Hand zitterte. »Bekümmern Sie sich nur nicht«, bat er besorgt, »es ist ja kein Muß, es ist nur Ihr freier Wille. Wenn Sie mir so gut sind, daß Sie mich heiraten können, brauchen Sie nur Ja zu sagen; das Nein würde der Freundschaft nicht schaden.«

Da nickte das Fräulein wieder ein wenig und sprach leise: »Ich kann's, Herr Einnehmer.« Und sie schlug die Augen auf und sah ihn so warm und treuherzig an, daß dem festen Manne vor Freuden das Herz hüpfte; er drückte ihre Hand fest in die seine.

»Zu allem übrigen«, rief er, »ist der Stadtwall nicht nötig; kommen Sie, Herzensminchen, hängen Sie sich aber an meinen Arm, wir gehen sogleich zu Ihrer Wirtin, denn diese Frau soll Zeuge sein von unserer Verlobung.« Sie gingen miteinander durch das Tor.

Das Sonnenlicht lag auf den Straßen, die Wände der Häuser glänzten lustig in Gelb, Rosa und Weiß, die Leute grüßten, die Hündlein wedelten; und der Einnehmer schritt stolz, seine Gefährtin am Arm, und nahm, jedermann zulächelnd, mit der freien Hand den Hut ab.

Als sie zu dem Hause kamen, bat der Einnehmer Frau Beblow, ihn und das Fräulein in die Dachwohnung zu begleiten. Erstaunt über das festliche Aussehen der beiden folgte die Hausfrau. Oben begann Herr Köhler vor dem Pastellbilde eine Rede: »Verehrte Frau! Der Bruder dieses Fräuleins ist abwesend und ebenso mein Freund, der Doktor, den ich heut gern an meiner Seite hätte, da sind Sie uns die Nächste. Sie haben seit Jahren Ihrer Mieterin eine Teilnahme und ein so freundliches Herz bewiesen, daß ich Sie immer mit aufrichtiger Hochachtung und Dankbarkeit betrachtet habe. Heut wünschen wir beide, Minchen und ich, miteinander verlobt zu werden, und wir bitten, daß Sie das übernehmen und uns die Ringe anstecken.«

»Lieber Herr Einnehmer!« rief die überraschte Frau Beblow und schlug vor Freude die Hände zusammen.

Herr Köhler griff in seine Westentasche. »Hierin, geliebtes Minchen, sind die Trauringe Ihrer lieben Eltern. Ich habe sie nach Ihrem Willen damals zur Hauptstadt gesandt und dort vor dem Einschmelzen zurückgekauft; ich schlage vor, daß dies unsere Verlobungsringe werden. Nehmen Sie die Ringe, Frau Beblow, und vertreten Sie heut die Stelle einer Anverwandten bei mir und meiner lieben Braut.«

Als die erste Bewegung, an welcher Frau Beblow sich stark beteiligte, überwunden war, begann Minchen kleinlaut: »Aber Herr Einnehmer –«

»Du und du«, rief dieser lustig, »einmal muß das doch anfangen.« Das Fräulein aber fuhr traurig fort: »Wo ist Minchens Ausstattung?« – und stellte mit einem Zucken der Hand den Hausrat der Stube vor.

[] »Die Wäsche liegt bereits im Schranke, Frau Einnehmerin«, antwortete der glückliche Bräutigam: »Du hast die ganzen Jahre daran genäht, ohne es zu wissen.«

Als der Friede verkündet ward, rüstete sich die Stadt noch einmal zu einer großen Festfeier. Alles, was nur menschenmöglich ist, wurde ausgesonnen, um die Freude zu erweisen. Der Trommler schlug in der Morgendämmerung Wirbel, Steinmetz blies vom Turme, und die Bürgerschützen bildeten Spalier, in welchem die Schulkinder mit Kränzen auf dem Haupt, der Magistrat und die Stadtverordneten zum Gotteshaus schritten. Der Gottesdienst war sehr feierlich mit Musik vom Orgelchor und mit Posaunen, und sobald die Predigt begann, schoß der Zieler auf dem Kirchhofe mit den Böllern, bis diese so heiß wurden, daß sie nichts mehr vertrugen. Sooft die Schüsse zwischen die Predigt krachten, fuhren die Frauen zusammen, aber jedermann wußte, daß am Ende eines solchen Krieges auch der Triumph gewaltig sein mußte. Nach der Kirche gab es ein großes Festessen für alle Seßhaften mit vielen Gesundheiten. Das war notwendig, es war heimische Sitte, es war seit der Urzeit so gehalten worden. Sobald eine allgemeine Freude den Städtern die Seele erhob, fühlten sie als ehrliche Deutsche auch die Verpflichtung, dem armen Gesellen, ihrem Leibe, etwas Gutes anzutun. Abends folgte die Illumination; alles war erleuchtet, selbst der Kranz des Rathausturmes, jedes Fenster wenigstens mit vier Lichtern, niemand wollte in der Stube bleiben, um auf die Gardinen acht zu geben, alle trieben auf der Straße umher und freuten sich über ihre Lichter und über die der Nachbarn. Sogar Transparente kamen zum Vorschein. Ein sehr geschätzter Bürger, der kürzlich Ratsmann geworden war, hatte ein schönes Gemälde an seiner Haustür befestigt; darauf ein großer Stiefel, über welchem ein Engel schwebte, mit der Unterschrift: Feste Stiefel, reines Herz, so marschiert man himmelwärts. Er selbst stand vor seiner Tür und sah mit Genuß auf das Werk, und als ein alter Kunde ihn begrüßte, sagte er gewichtig: »Ich wollte diesmal nichts von König und Vaterland, denn daran denkt man alle Tage, sondern ich wollte auf das hindeuten, was uns auch im Frieden am meisten nottut.« Nachdem aber die Lichter ausgelöscht waren, ging alle Welt zu Tanze. Auch das war damals so, und es darf nicht geleugnet werden: Wenn die Leute sich recht froh fühlten, fingen sie an zu tanzen. Den großen Ball im Gasthofe eröffnete der Landrat mit der jungen Frau Bürgermeisterin, die noch verschämt ihre neue Würde ertrug. Darauf folgte der Herr Bürgermeister mit Frau Beblow. Und wer kam als Dritter? Seht doch, der Herr Einnehmer! – und mit wem tanzte er? Mit Minchen von Buskow, seiner lieben Braut, sehr zierlich und zart. Darüber freuten sich die Leute am meisten. Hinterdrein tanzte alles, jung und alt! Schilling mit einem neuen roten Sacktuch, das [] ihm aus der Tasche guckte. Hauptperson aber und Ordner des Festes war der junge Doktor, ein lieber Mann, der aus Freundschaft für seinen Vetter immer herbeikam, wenn er gebraucht wurde, und nie unnütze Worte machte, sondern still im Hintergrunde auf und ab ging; er galt aber bei allen Leuten für gescheit und tüchtig, wurde auch später Geheimer Medizinalrat, war aber kein König, sondern hieß mit Namen Bürger. Heut tanzte er mit vielen jungen Damen, aber am liebsten mit einem schlanken Fräulein, das einen Lilienkranz im Haare trug wie eine Feenkönigin, es war die Schwester des Gutsbesitzers, welcher als Kamerad des Vetters vor Jahren heimlich gerüstet hatte.

Gerade als die Festfreude ihren Gipfel erreichte, öffnete sich die Flügeltür, und Doktor König mit seiner jungen Frau kamen herzu. Sie erschienen spät, denn sie hatten nach Henriettens Wunsch am Morgen die Feier in der Dorfkirche begangen. Als die beiden die Schwelle des Saals überschritten, trat der Bürgermeister in die Mitte und winkte, Steinmetz blies Tusch, und die ganze Gesellschaft rief dem jungen Ehepaar das Hoch entgegen.

Freuet euch und tanzt, Meister Beblow und Ackerwirt Krause, denn ihr mit Hunderttausenden euresgleichen habt den bösen Feind geschlagen und das Vaterland aus der Erniedrigung emporgehoben. Die beste Kraft der Nation ist in diesen Jahren der Niederlage und Erhebung bei euch, den kleinen Leuten, nicht bei den Regierenden, deren Stolz und Wille als allzu schwach erfunden ist, und nicht bei den Hoch- und Feingebildeten, deren Leuchte unsicher umherflackert und die auch nach dem Frieden noch nicht wissen, wo das Vaterland anfängt und aufhört. Eure einfältige Treue, ihr Unberühmten, die Fäuste der Söhne, die ihr in das Feld sandtet, eure stille alltägliche Arbeit in der Werkstatt und auf dem Acker, von der ihr dem Staate abgabt, daß euch selbst wenig übrigblieb, das vor allem schuf die Rettung für unseren Staat. Und wenn die späteren Geschlechter einst auf eure Zeit zurückschauen, werden sie, was gesund und groß war, am reichlichsten in den engen Stadthäusern und in den Dorfhütten finden, in denen ihr gelebt habt.

[]

Schluß der Ahnen

Im Hause

Seit zwölf Jahren ist Frieden. Das junge Geschlecht, welches jetzt vor den Häusern mit Bohnen spielt und den Papierdrachen auf die Stadtfelder trägt, ist in der Mehrzahl erst nach dem Kriege geboren, und wenn die Eltern von den Baschkiren auf dem Marktplatze erzählen und von ihrem Heeresdienst mit der schweren Pike, so klingt dies den Kleinen wie die Geschichte von den sieben Zwergen, bei denen Schneewittchen wohnte, oder wie die Sage vom kleinen Däumling, der zwischen den Waffen des Menschenfressers durchkroch. Sie stülpen sich papierne Tüten statt der Filzmützen über das blonde Haar, tragen Häufchen Stroh aus den Höfen auf die Straße und setzen sich darauf. Aber auch den Eltern ist die Zeit rasch zur Sage geworden, mancher hat kleine Abenteuer, in denen er seine Tapferkeit bewiesen, so oft erzählt, daß er selbst daran glaubt, und wenn die Bürger von den großen Erinnerungen reden, die jeder der Älteren im Herzen trägt, so gedenken sie mit Ehrfurcht des Königs, der unter so großem Leidwesen die schweren Jahre durchgekämpft hat, sie freuen sich über den alten Blücher, der den Franzosen so verderblich geworden ist; von ihrem eigenen Hunger und ihren Entbehrungen sprechen sie selten. Alle aber, die damals im Felde gefochten haben und jetzt in friedlicher Tätigkeit unter den anderen wohnen, werden mit großer Achtung betrachtet, und sooft einer von diesen den Angewöhnungen des Feldes zu sehr nachgibt, ein Glas über den Durst trinkt und einen Gegner mit starken Fäusten angreift, wird ihm dies lieber nachgesehen als anderen.

Seit zwölf Jahren ist Friede, aber man merkt nicht, daß die Stadt zugenommen hat. Die Bürger nähren sich sparsam und arbeiten nach der Väter Weise mit Hammer und Webstuhl, doch wenige haben gewagt, ein neues Haus zu bauen oder ihr Geschäft zu erweitern, und die Dampfmaschine, die vor langen Jahren ein unternehmender Mann aufstellen wollte, ist noch nicht errichtet. Die Frühstückstube ist eingegangen, und niemand denkt daran, im Winter ein Faß Austern kommen zu lassen; die Honoratioren leben still dahin in ihren Familien. Wer aus der Stadt in die Landschaft reist, der findet [] auch dort geringe Spuren von zunehmendem Wohlstand; viele der adligen Gutsherren leben in Geldnot, jedes Jahr fallen Rittergüter in die Hand der Gerichte, und der Regen trieft durch die Löcher der leeren Scheunen und Ställe. Die ältesten Leute erinnern sich recht gut daran, daß am Anfange des Jahrhunderts eine weit bessere Zeit gewesen war, aber Alte und Junge haben sich an das knappe Wesen gewöhnt; sie sind darum keine Kopfhänger, nur singen sie ihre Lieder nicht vierstimmig in hellem Chor, sondern einzeln vor sich hin. Die Bürger erkennen aber auch, daß bei ihnen nicht alles beim alten bleibt; neue Laternen werden aufgehängt, die an Ketten über der Gasse schweben, eine neue, stattliche Schule wird gebaut, ein schlammiger Teich vor dem Stadttore in Wiesengrund verwandelt, und gerade jetzt besteht unser Herr Bürgermeister darauf, die vorspringenden Dachrinnen abzuschaffen, welche ihr Wasser auf die Straße schütten, und er wird seinen Willen durchsetzen, ungeachtet die Hausbesitzer kräftig widersprechen. Unter allen Häusern ist die Apotheke am merkwürdigsten geworden, denn der ganze Unterstock wird von außen mit Ölfarbe gestrichen, welche weit über den Markt riecht.

Die kleine Trompete der Post blies wie sonst durch die Gassen, und die Post brachte jetzt täglich eine Zeitung; es stand aber wenig darin, nur was der Polizei genehm war. Dort weit unten hatte sich der Grieche erhoben, und die allgemeine Stimmung der Stadt war gegen den Türken, bei den Männern wegen seiner Grausamkeit und bei den Frauen wegen seiner schlechten häuslichen Gewohnheiten; von den übrigen fremdländischen Nationen betrachtete der Bürger den Franzosen noch immer mit großem Mißtrauen, den Engländer mit Vorliebe. Der Russe galt allerdings für einen Bundesgenossen, doch konnte er bei näherer Bekanntschaft wegen allzu großer Unsauberkeit und Bestechlichkeit nicht geschätzt werden. Diese alle aber lebten draußen in der Fremde. Aus der Hauptstadt ihrer Provinz und aus der großen Residenz des Königs wußten die Zureisenden wenig Wichtiges zu berichten; und die Kreisstadt, die Provinz und der ganze Staat waren wie Dornröschens Burg mit einer unsichtbaren Hecke umzogen, hinter welcher alles laute Leben erstarrt schien. Doch geräuschlos arbeitete in dem Banne die Kraft des Volkes, und es mag einmal die Stunde kommen, wo sie sich müht, die Hecke zu zerreißen.

Eins der schönsten Häuser am Markte, Parterre und Oberstock mit großen Fenstern, gehörte dem Doktor König; er hatte es damals gekauft, als er heiratete. Und wenn die Städter von dem Hause sprachen, sagten sie: Dort wohnt das Glück. Es war ein stilles Glück, werktätige treue Liebe und festes Vertrauen ohne das Bedürfnis vieler Worte, dort wie überall unter den guten Menschen jener Zeit. Dem Hausherrn vergingen die Tage wieder in angestrengter Tätigkeit;[] sein junger Vetter war in eine benachbarte Kreisstadt gezogen, hatte das Fräulein mit den Lilien geheiratet und gewann Ruf und Ansehen. Der Doktor aber wollte die große Praxis auf dem Lande, welche ihm zufiel, nicht einschränken, weil ihm dort viele von früher her wert waren. Wenn er jetzt des Abends ermüdet nach Hause fuhr, freute er sich den ganzen Weg über auf den Gruß seiner Hausfrau und auf den Augenblick, wo sie ihm aus dem Bärenpelz helfen und beim einfachen Abendessen gegenübersitzen würde. War er einmal gegen Abend zu Hause, dann holte er wohl seine Flöte hervor, auf der er in jungen Jahren tüchtig gewesen war, und blies, während der Mond das Fensterkreuz in der dunklen Stube abmalte und sein liebes Weib an seiner Seite saß und andächtig zuhörte; zuletzt legte er die Flöte weg und zog die Geliebte an sein Herz. Henriette hatte sich ausgedacht, wie hübsch es wäre, wenn sie ihn auf der Gitarre begleiten könnte; in der Stille hatte sie sich ein Instrument geschafft, nur wenige Stunden bei dem Organisten genommen und in Abwesenheit des Gatten fleißig geübt. An seinem Geburtstage trug sie ihm die Flöte herbei, und da er ein wenig geblasen hatte, klangen leise die Akkorde ihrer Gitarre hinein. Dem Gatten wurden die Augen feucht, und er küßte ihr die Hand; sie aber errötete über die ungewohnte Artigkeit und sah noch am nächsten Tage heimlich auf die Stelle, an welcher der Kuß gehaftet hatte.

Der Doktor hätte ihr alltäglich die Hand küssen können, denn es war eine gesegnete Hand; was sie im Hause anfaßte, geriet; das Backwerk, welches sie ihrem Herrn zuliebe unternahm, die Blumen, die sie in den kleinen Hausgarten pflanzte, und die Dienstmädchen, welche sie in die Lehre nahm.

Doch alles Gute war nur ein Vorspiel gewesen, als die Zeit kam, wo ein kleines Bett neben dem ihren stand und ein holdes Abbild des geliebten Mannes darin lag.

»So hast du einst ausgesehen«, sagte sie stolz zu dem Gatten, »als dein Vater neben dir saß, deine Händchen zusammenlegte und nicht müde wurde, dich zu betrachten; du machst es mit dem Kleinen ebenso. Siehe, sein Haar wird bräunlich, und man merkt, daß sich's kräuseln wird. Der kleine Engel liegt still auf der Seite, er hat, wie vormals du selbst, die Fäustchen geballt, die kleinen Füße hinaufgezogen. Schlummre, mein Kind, du hast den besten Schutz, denn das Auge deines Vaters ist über dir und wird dich behüten, damit du fest und redlich wirst wie er.«

Etwas aber schwebte in der Zeit, wo Mutter und Kind der Pflege bedurften, behend und geräuschlos wie eine Elfe oder Sylphe durch das Haus; immer hilfreich und zu jeder Stunde bei der Hand und dies war Tante Minchen. Seit der Kleine erschienen war, hatte sie diesen Verwandtennamen angenommen; ihr mußte die Kunst angeboren sein, kleine Weltbürger zu waschen, zu wickeln, umherzutragen [] und mit zärtlichem Gesange in Schlaf zu lullen. Sie wurde der erste Pate, der Graf und Bärbel die andern, und sie gab den Rat, das Kind Viktor zu nennen zur Erinnerung an vergangenen Kampf und Sieg. »Wüßte ich nicht ziemlich genau, daß ich die Mutter bin«, sagte Henriette dankbar, »so müßte ich dich dafür halten. Sieh hin, er verzieht das Mäulchen und will über dich lachen.«

Viktor wuchs heran, als ein kräftiger Knabe mit einem runden Kopf, großen blauen Augen und einem so sonnigen Ausdruck in seinen Mienen, daß er schon auf den Armen der Wärterin von den Vorübergehenden angeredet und geliebkost wurde. Es war wohl die stille Freudigkeit der Eltern, was seiner Erscheinung den lichten Glanz gab, und die Gunst der Stadt und der tägliche Verkehr mit freundlichen Nachbarn verliehen ihm dazu eine frohe Sicherheit und ein keckes Selbstvertrauen, welches sein ernster Vater nicht gehabt hatte. Kurz entschlossen bewegte sich der Knabe unter seinen Genossen, alle kleinen Buben der Stadt kommandierte er, obschon er der jüngste war, sooft er auf der Straße mit ihnen zusammentraf. Aber auch mit Erwachsenen hielt er gute Freundschaft. Einer der besten Freunde war Hans, der Trompeter, der nach dem Kriege sein Mädchen geheiratet hatte, jetzt als erster Ratsdiener die Polizeigewalt der Stadt darstellte und durch energisches Schwenken seines spanischen Rohres an Markttagen ein gefürchteter Mann geworden war. Auch Hans fühlte eine zärtliche Neigung zu dem Kleinen; wenn er ihn auf der Straße traf, hob er ihn auf und küßte ihn mit seinem großen Schnurrbart, nicht zur Freude der Mutter. Viktor begleitete dafür den Diener gern auf Geschäftswegen, und als der Doktor einst die Straße herabkam, sah er, wie Hans mit gehobenem Rohr ein stark betrunkenes Bäuerlein auf die Wache führte und wie sein kleiner Sohn, zum Ergötzen der Leute, ebenfalls mit einem gehobenen Stock hinter dem Bauer herlief und dabei die Zickzackwege desselben getreulich mitmachte. Und es wurde schwer, den Kleinen zu ernster Wohlanständigkeit zu ziehen, denn er war zwar gutherzig, aber übermütig, und ahmte gern alles Lächerliche nach. So hatte der Kammerherr die Gewohnheit, zu schnupfen, dann hielt er die Dose dicht unter seine Nase, welche nicht klein war, zog die Schultern in die Höhe und beugte den Kopf vor, während er mit Genuß die Prise nahm. In dem Familienschatz des Doktors aber befand sich eine silberne Dose, welche als teures Erbstück aufbewahrt wurde, weil die Überlieferung meldete, daß sie dem Großvater von Friedrich dem Großen geschenkt sei, und die Sage hatte vieles für sich, da die Dose nur klein und keineswegs kostbar war. Als nun einst der Kammerherr den Doktor besuchte, sah dieser, daß der Herr mitten im Geschäft des Schnupfens anhielt und den stieren Blick in die Stubenecke richtete. Dort saß der kleine Viktor, in der Hand die silberne Familiendose, welche er heimlich aus dem offenen Schreibtisch des [] Vaters geholt hatte, und stellte in respektwidriger Weise die auffällige Gebärde des fremden Herrn so lächerlich dar, daß der Vater, trotz dem Frevel des Sohnes, Mühe hatte, ernsthaft zu bleiben.

Auch die Unternehmungslust des Kleinen machte den Eltern Sorge. Unweit der Stadtmauer stand als Überrest einer vergangenen Burg ein alter viereckiger Turm mit schadhafter Treppe und ohne Dach, in den Ritzen wuchs Gesträuch, dessen Samen die Vögel hingetragen hatten. Für den Turm hatte Viktor eine Vorliebe, er führte seine Gespielen gern dahin, einen Helm von Pappe auf dem Haupt und eine Fahne in der Hand. Als einst zur Mittagszeit der Kleine nicht aufzufinden war und der Vater in die Haustüre trat, kamen ihm Leute entgegengelaufen und wiesen bestürzt nach dem Ende der Straße, wo das alte Gemäuer ragte. Der Vater eilte dorthin und sah den Knaben auf schwindelnder Höhe in einer Fensteröffnung sitzen. Das Kind hatte den Turm offen gefunden, war die schlechte Treppe hinaufgeklettert und vermochte den Rückweg nicht zu finden. Während Hans unter Lebensgefahr im Innern emporstieg, stand der Vater mit bebendem Herzen draußen und starrte nach der Höhe in dem Gedanken, sein Kind aufzufangen, wenn es herabstürze. Wie er endlich den Geretteten in seinen Armen hielt, wollte er ihn nicht loslassen und trug ihn der ahnungslosen Mutter zu. Lange nachher gestand er dieser: »Seit jenem Tage sehe ich oft im Traume den Turm, die schwarze Mauer, die offene Tür, das Gesträuch, welches zwischen den Steinen herauswächst, und in der Fensteröffnung mein weinendes Kind, und das Entsetzen schüttelt mir die Glieder wie damals.«

Viktor war vier Jahre alt, als seine Schwester Katharina geboren wurde. Auch er wurde von der Aufregung im Hause angesteckt und sah staunend auf das kleine eingewickelte Ding, welches in seiner Wiege lag; zuweilen streichelte er ihr die runden Wangen, endlich erhob er sogar den Anspruch, sie auf seinen Armen zu tragen. Seit sie in der Stube umherlief, ließ er sich ihre Nähe gefallen in dem Wechsel von Herzlichkeit und ruhiger Nichtachtung, womit Knaben ihre jüngeren Geschwister zu behandeln pflegen.

Käthe genoß als zweites Kind den Vorteil, daß die Liebe der Eltern ruhiger, die Pflege sicherer war. »Sie wird sich leichter ziehen als Viktor«, sagte die Mutter behaglich. Freilich, dem Erstgeborenen hatten Schmerz und Freude, Begeisterung und Entzücken der Eltern stärkeren Abdruck ihres eigenen Gemütes eingeprägt, dafür fand Käthe außer ihnen auch eine Kinderseele, durch welche sie in das Leben eingeführt wurde. Oft lief sie auf den Bruder zu, sah ihn liebevoll an und umarmte ihn, und er ließ sich das lächelnd gefallen. Das erste, was die Kleine sprach, waren Worte, die sie dem Bruder abgelauscht hatte. Noch viel später, da sie bis zu den Stricknadeln herangewachsen war, strickte sie als erstes Kunstwerk einen Strumpf für Viktor, und da sie endlich in die Geheimnisse des Kreuzstichs [] eingeweiht wurde, unternahm sie als erste Arbeit einen Gurt für den Bruder. So war natürlich, daß ihre Gedanken viel bei ihm verweilten.

Das Haus des Doktors war ein gastliches Haus, nur geladene Gesellschaft bewegte sich selten darin, denn solche war damals umständlich und feierlich. Die liebsten Gäste waren die guten Freunde aus der Stadt, welche am Abend ungeladen zum »Lichten« kamen; ihnen wurde vorgesetzt, was im Hause war: Punsch, Äpfel und Nüsse. Außerdem erschienen die Universitätsfreunde und Kriegskameraden des Hausherrn, welche hier und da in der Umgegend wohnten. Dann saßen die Männer bei einem Glase Ungarwein bis in die Nacht zusammen und wurden nicht müde, von vergangener Zeit zu reden. Viktor war an solchen Abenden gar nicht von der Fußbank wegzubringen, die er neben den Vater gerückt hatte, auch er hörte mit glänzenden Augen zu, wenn die Herren von den Fahrten nach Lauchstädt erzählten, wohin sie aus der Universitätsstadt zu Pferde und zu Fuß gezogen waren, oder von ihren Erlebnissen und Gefahren im Felde.

Aber die treuesten Hausfreunde, der Einnehmer und seine Frau, blieben nach einigen Jahren aus. Herr Köhler hatte bis zur Höhe seines Lebens in kleinen Verhältnissen seine Pflicht getan, jetzt auf einmal gewann der Staat ein besonderes Zutrauen zu seiner Tüchtigkeit; er wurde ganz außer der Reihe nach der Residenz in einen großen Wirkungskreis berufen. Dies war der erste Verlust, der das glückliche Haus traf, allen wurde der Abschied bitterlich schwer, am schwersten für Tante Minchen die Trennung von den Kindern, welche bis zuletzt an ihrem Halse hingen.

Zu den Besuchern, welche von auswärts kamen, gehörten die Bellerwitze. Sie waren alte Bekannte auch der Hausfrau, und weil im Kriege gewissermaßen die Verbrüderung aller Stände stattgefunden hatte und seitdem jedermann alten Vorurteilen entsagte, geschah es, daß die große Kutsche gern vor dem Hause anhielt und daß die Damen dasselbe Absteigequartier benutzten, wenn sie in der Stadt zu tun hatten. Einst im Winter, als die Herrschaften vom Lande in ihrem Kränzchen einen großen Maskenball veranstalteten, wurde ausgemacht, daß die Kammerherrin sich bei der Frau Doktorin dazu ankleiden sollte. Sie erschien als türkische Sultanin mit Turban, auf welchem ein großer Federbusch von gesponnenem Glase ragte, in weiten Atlashosen und einem langen seidenen Sultansmantel und hatte sich ausgedacht, daß sie an einer Kette, deren Glieder von blankem Blech verfertigt waren, einen Sklaven hinter sich herführen wollte. Nicht jedermann war zu dieser Rolle bereit, endlich fand sich ein kleiner Referendar, der sich seinerseits mit schwarzer Larve verkappte. Viktor wurde in das Ankleidezimmer geführt, um die Masken auch zu sehen. Es war das erstemal, daß er jemand in prächtiger Verkleidung erblickte, er setzte sich still in [] die Ecke, starrte auf die großartige Gestalt und war durch keine Liebkosungen der Sultanin aus seinem Winkel herauszulocken. Als Henriette später zu dem Gatten sagte: »Was hat doch das Kind? Er ist sonst dreist und zutraulich gegen alle Welt, nur nicht gegen diese Familie«, – da antwortete der Doktor lachend: »Woher er das hat, kann niemand sagen. Er kennt aber diese Leute so gut wie wir. Das ist der Scharfsinn der Kinder«, und als er den Kleinen fragte, wie ihm die Frau gefallen habe, sagte der Knabe eifrig: »Sie soll niemanden an der Kette führen.«

Auch später wollte es nicht gelingen, ihn in ein gutes Verhältnis zu den Insassen der großen Kutsche zu bringen. Die Kammerherrin hatte ihrem Gemahl kurz nach Viktors Geburt eine Tochter geschenkt, die kleine Valerie war als Nestling in kinderreichem Hause der Liebling der Eltern, und ihre Mama hatte schon oft die artige Bitte ausgesprochen, daß Viktor doch die Eltern bei einem Besuch begleiten möge. Deshalb nahm der Doktor den siebenjährigen Knaben bei einer Geschäftsreise nach dem Gute mit. Auf dem Wege befand sich Viktor in rosiger Stimmung, denn mit dem Vater zu fahren war sein Stolz. Da sie aber auf der Rampe des Schlosses hielten und der Diener die steinerne Treppe hinaufführte, verstummte das Kind, und wie er unter die jungen Damen kam, stand er steif und schweigsam; der Vater überließ ihn der weiblichen Beredsamkeit, welche auch unter den jüngeren Gliedern der Familie nicht unbedeutend war, und besorgte seine Angelegenheiten. Als er den Knaben wieder abholen wollte, erhielt er von den Fräulein den Bescheid, Viktor hätte nicht bei ihnen aushalten wollen und sei mit dem Diener in den Hof gegangen. Dort fand ihn der Vater beim Pferdestall sitzen. Auf dem Heimwege mahnte er den Sohn an seine Verpflichtung, mit der Kleinen zu spielen, und bekam die unwillige Antwort: »Sie berühmten sich zu sehr bei ihrem Spielzeug und bei einer großen Decke mit Blumen, die in ihrer guten Stube auf dem Boden liegt, und ich sagte ihnen, daß sie Gänse sind.«

Viktor ging in die Schule. Der Diakonus, ein Freund des Doktors, hatte sich erboten, den Knaben in Privatstunde zu nehmen. Auch in dieser Schule wurde Käthe nach den ersten Jahren seine Genossin; er half ihr, schwere Worte lesen, und lehrte sie die Bedeutung der Zahlen, und wenn die beiden runden Kindergesichter sich über die Schiefertafel beugten, strahlte von ihnen ein heller Schein in die Herzen der Eltern. In dem Privatunterricht wuchsen die Kinder heran, Käthe las kleine Geschichten im Bilderbuch, und Viktor lernte mit elf Jahren über den unregelmäßigen Zeitwörtern der lateinischen Grammatik.

Als er einst seine Mappe nach Hause trug, sah er vor dem Gasthofe einen großen Packwagen abladen. Außer vielen Kisten und Koffern auch ungeheure Rollen, und um das Gepäck trieben sich [] fremde Männer umher mit gelockten Haaren und einer auffällig bleichen Gesichtsfarbe. In der Mitte der Bewegung stand ein breitschultriger Herr, der ein buntes Tuch lose um den Hals geknüpft hatte und den Hut verwegen auf einem Ohr trug. Er befahl mit kühnen Bewegungen des Armes und mit einer Stimme, welche gewaltig über den Markt schallte. Die herzugelaufenen Leute sagten einander, daß dies Komödianten seien und der große Mann in der Mitte der Herr Direktor. Viktor fühlte die Aufregung mehr als alle anderen, vieles, was er aus den Erzählungen des Vaters erlauscht hatte, die Begeisterung, mit welcher dieser oft vom Theater gesprochen, das wurde plötzlich in seiner Seele lebendig wie Ahnen eines neuen Glückes. Beim Mittagessen war wieder von den angekommenen Schauspielern die Rede. Auch die Eltern waren in heiterer Erwartung. Damals, als sie einander zuerst liebgewannen, hatten sie ihre Erinnerungen an genossene Aufführungen ausgetauscht. Seitdem war beiden nur selten einmal ein Besuch des Theaters möglich gewesen, und jetzt kam es so nahe an ihre Türe. Sie durften auch hoffen, in ihren frohen Erwartungen nicht getäuscht zu werden. Denn die Gesellschaft hatte einen guten Ruf, und die Vorstellungen der besseren Wanderbühnen hatten damals einen höheren Wert als wohl später; waren auch die Stücke zum größten Teil schwach, das Spiel war keineswegs verächtlich. Von diesem Tage begann für Viktor eine Entfaltung der eigenen Gestaltungskraft, welche fast in allen Kinderseelen durch das erste Eindringen der dramatischen Kunst bewirkt wird. Schon zur ersten Vorstellung wurde er, trotz der Bedenken der Mutter, mitgenommen. In dem großen Saal des Gasthauses war die Bühne aufgeschlagen, davor die Bretterbank, auf welcher Steinmetz mit seinen Gehilfen den musikalischen Teil des Genusses zu besorgen hatte. Als der Vorhang aufging, starrte Viktor in einem Schauer von Ehrfurcht und Erwartung nach der fremden Frau, welche aus dem schön gemalten grünen Wald heraustrat, in einem weißen Gewande und einer hochgepufften Frisur, wie sie damals bei Frauen und Göttinnen modisch war. Und als sie sich verneigte und erklärte, daß sie eine Muse sei und ihre Gesellschaft der Gunst des Publikums empfehle, empfahl sie auch sich selbst bei dem übrigen Publikum und bei Viktor. Sie war so schön und edel, daß die hochnasigen Mädel im Schlosse des Kammerherrn sich mit ihr gar nicht vergleichen konnten. Das Stück aber war »Käthchen von Heilbronn.« Wetter von Strahl, ganz in eine silberne Rüstung gehüllt, die schwarze Feme, das wunderschöne Käthchen, vor allem der gute treue Knappe. Und als in der Mitte des Stückes der Burgbrand kam und mit polizeilicher Erlaubnis im Hintergrund außer dem Transparent ein Schwärmer zuckte – Hans stand in den Kulissen neben zwei Eimern mit Wasser –, da drückte sich der Knabe in seinem Entzücken zwischen Vater und Mutter hinein und hielt sich [] mit den Armen an beiden fest. Mit Besorgnis sah die Mutter nach der Heimkehr die glühenden Wangen, und daß das Kind keinen Schlaf finden konnte. Aber am Morgen war er wieder munter und spielte Feme mit einem alten Tuche.

Als er das nächste Mal in die Komödie mitgenommen wurde, war dort alles lustig, man gab »Das Donauweibchen«; es wurde auch gesungen, die Nixen schwenkten hinter einem Damm von bemalter Leinwand ihre Schleier, der Ritter erschien und sein dicker Knappe, Kaspar Larifari, welcher sich unglaublich lächerlich gebärdete. Aber als Viktor gerade am lustigsten war, erlebte er etwas, was er sobald nicht vergessen sollte; denn auf einmal erschien vor dem Kaspar ein kleines Nixenkind, ein Mädchen von etwa acht bis neun Jahren, mit rosigem Gesicht und rabenschwarzen Locken, sie drehte sich vor dem Manne im Kreise und sang dazu. So schön war das Mädchen, und wie ein Glöckchen klang ihre Stimme durch den Raum, daß die Zuschauer vor Freude in die Hände klatschten. Viktor wandte kein Auge von ihr, und als der Akt zu Ende war, lief er von seinem Platze zu den Musikern. Dort war seitwärts von der Bank, an dem gemalten Portal der Bühne, ein kleiner Vorhang, hinter welchem zuweilen Mitglieder der Gesellschaft verschwanden. Von übermächtiger Gewalt getrieben, glitt Viktor hinter den Vorhang, stieg eine kleine Treppe hinauf und stand in den Kulissen. Dort saß in dem schmalen Raume zwischen Leinwand und Stricken das schöne Mädchen auf einem Schemel; die Händchen im Schoß gefaltet, sah es vor sich hin. Viktor stand in Ehrfurcht vor ihr, unbeweglich wie sie, und hielt den Apfel in der Hand, welchen ihm die Mutter zur Erquickung eingesteckt hatte. Endlich legte er den Apfel leise in ihren Schoß, die Kleine sah erstaunt auf, und die Kinder blickten einander mit großen Augen an. Da tönte ein Glöckchen, das Mädchen fuhr auf und und er sprang die Stufen hinab und drückte sich unter die Zuschauer, welche an der Seite standen und seinen Einbruch in das Heiligtum den Augen der Eltern verborgen hatten. Seitdem studierte Viktor die Theaterzettel und bat, sooft die kleine Tina auftrat, daß er mitgenommen werde. Aber er strich auch, wenn er sich frei machen konnte, bei Tage um den Saal des Gasthofs. Als einmal die Kleine neben der Mutter auf der Straße vorüberkam, stand er wie ein Bild aus Stein, in freudigem Schreck über die Begegnung. Und als das Mädchen zu seiner Mutter sprach – er wußte recht gut, daß von seinem Apfel die Rede war –, wurde er vor Erregung rot und vermochte die Mütze erst zu ziehen, als es zu spät war. Doch des Abends wagte er durch den Ritz an der Seite zu gucken, und da er die Kleine nach ihrem Spiele sah, ihr zuzurufen: »Das war schön.« Sie lachte ihn an. Damit war das Eis gebrochen. Als Vertrauter des Stadtmusikus gewann er in seinem Drange, dicht an der Bühne zu sein, einen Platz auf der Bank des Musikanten, und die Eltern, deren [] Stühle in der Nähe waren, hatten nichts dawider. Dort saß er an der Ecke neben dem Schlitz am Portale, schlüpfte hinter die Gardine und teilte mit der Kleinen, was er Gutes in der Tasche hatte. Auch traf es sich, daß zuweilen der Kopf eines Mädchens hinter dem Vorhang heraussah und eine kleine Hand sich gegen ihn ausstreckte. Ja, einmal, als ihre Rolle zeitig zu Ende ging, kam sie in ihrem Mäntelchen heraus und setzte sich neben ihn auf die Bank. Er legte seine Nüsse in ihre Hand, hielt die Hand mit den Nüssen fest und war sehr glücklich.

Aber auf dies heitere Verhältnis fiel durch Viktors Schuld ein dunkler Schatten. Es wurde ein gefühlvolles Ritterstück gegeben, und die Mutter der Kleinen spielte die Heldin, welcher ihre Kinder von einem mächtigen Bösewicht geraubt werden sollten. Als nun die verzweifelnde Mutter wie eine Löwin gegen das Gitter des Kerkers losfuhr, wurde die Aufregung Viktors übermächtig, und in dem Bestreben, sich von einem schmerzlichen Eindruck zu befreien, hob er das dünne Stöckchen des Vaters, das er leider in der Hand hielt, und tippte damit an eine Pyramide von Hüten, welche die stehenden Zuschauer mißbräuchlich an der Ecke des Podiums aufzustellen pflegten. Die Hüte kollerten und wälzten sich bis nahe vor die Füße der Heldin, das Publikum lachte, kaum konnte die Szene zu Ende gespielt werden. Viktor erschrak über diese Folge seiner Missetat; auch war das Schwenken des Stockes nicht ganz unbemerkt geblieben, sogar hinter den Kulissen hatten sie es gesehen, und die Eltern erfuhren davon. Als das Theater zu Ende war, ging die Kleine an Viktor vorüber, ohne ihn anzusehen, und er fühlte jetzt tiefe Reue, die er hinter stillem Trotz verbarg. Obwohl nicht böse Absicht, sondern nur Ungeschick angenommen wurde, bestand der Vater doch darauf, daß der Sohn bei der Künstlerin Abbitte tun solle. Dies hielt er um so mehr für Schuldigkeit, weil die Eltern der kleinen Tina von den Bürgern als ordentliche Leute gerühmt wurden, sie lebten still in einfachem Haushalt und machten keine Schulden, deshalb wurden die Heldenrollen, welche sie spielten, gern ihrem Charakter zugute gerechnet.

Viktor ging neben dem Doktor stumm zu der Wohnung der Schauspieler, das Herz war ihm sehr beklommen und das Weinen nahe. Vor den Fremden entschuldigte zuerst der Vater die Untat, Viktor aber, der die kleine Tina hinter der Mutter stehen sah, vermochte mit niedergeschlagenen Augen nur die Worte herauszubringen: »Seien Sie mir nicht böse.« Der gekränkte Künstlerstolz der Schauspielerin wurde durch natürliche Gutherzigkeit und durch die Rücksicht auf den angesehenen Arzt überwunden. Sie reichte dem Knaben die Hand, der Heldenvater rückte dem Doktor einen Stuhl hin, und Viktor wurde aufgefordert, mit der Kleinen zu spielen. Er fühlte wieder tiefe Beschämung, als das Mädchen leise [] sagte: »Vater meinte auch, es sei nicht gern geschehen.« Während die Eltern verständige Worte tauschten, saßen die Kinder zusammen vor einem alten Jäckchen von roter Seide, auf welches Tina für eine künftige Pagenrolle silberne Tressen nähte, und über ihnen hing an der Wand die glänzende Blechrüstung, ein Hauptstück des Garderobenschatzes, welches der Künstler nur in den größten Heldenrollen gebrauchte. Die prachtvollen Gewänder an der Wand und die vornehme Weise, in welcher die Fremden auf ihren Stühlen saßen und mit verbindlichem Lächeln die Unterhaltung machten, bezauberten den Knaben. Auch der Vater war mit dem Besuch zu frieden und lud beim Abschiede die kleine Tina in sein Haus ein.

Seitdem sahen sich die Kinder einigemal bei ihren Eltern. Als das Mädchen in das Haus am Markte kam und das ganze Spielzeug zur Genüge betrachtet war, hätte Viktor gar zu gern gehabt, wenn sie mit ihm Kaspar Larifari gespielt hätte, sie aber weigerte sich und fragte nach seinem Brummkreisel, von dem er einiges erzählt. Zuletzt gestand sie ihm vertraulich, daß sie vor allem gern einen Drachen würde steigen lassen. Da konnte er helfen, und am nächsten Tage zogen beide mit dem Papierdrachen auf das Feld, er hielt den Drachen, sie die Schnur, und als der Drache in der Höhe immer kleiner wurde, sah sie glückselig zu dem Steigenden hinauf. »So hoch möchte ich mit dir fliegen«, sagte sie, »immer weiter.« »Aber zuletzt fallen wir herunter«, versetzte der klügere Viktor.

Als endlich der Tag der Trennung kam, trug Viktor der Kleinen ein Halsband zu, das ihm die Mutter auf seine Bitte gekauft; sie aber schenkte ihm einen Schal von bunter Wolle, den sie selbst für ihn gestrickt hatte. Beim Abschied fiel er ihr um den Hals und küßte sie recht herzlich, sie hielt ihn fest umschlungen. Die Mutter hatte vorher die Befürchtung ausgesprochen, daß der Sohn sich ungebärdig stellen und sehr weinen würde. Zur Verwunderung der Eltern war das nicht der Fall, er ging still neben dem Vater nach Haus, ohne sich umzusehen, und erzählte am Abend der Mutter mit glänzenden Augen die Geschichte von dem Kampfe der drei Horatier, die er in der Schule gehört. Er war nicht traurig, sondern gehoben durch die Szene des Abschiedes und durch den ersten Kuß, den er freiwillig einem fremden Mädchen gegeben. Es war eine unschuldige Kinderneigung, aber es war die erste Liebe eines reich begabten, früh entwickelten Knaben. Ob es ihm einst zum Heil oder zum Unglück gereichen sollte, daß er als Kind die Hingabe und die Zärtlichkeit einer solchen Leidenschaft durchlebt hatte? Er selbst sprach selten von seiner kleinen Freundin, aber er dachte fröhlich an sie wie an Weihnachten, und der Diakonus rühmte in der nächsten Zeit den aufgeweckten Geist des Knaben und die schnellen Fortschritte.

Bald darauf verkündeten die Zeitungen, daß draußen in der Welt [] sich ein unruhiges Getümmel erhob, man las von Straßenkampf und Barrikaden bei den Franzosen, auch die Polen rührten sich heftig, im Lande wurde getrommelt, Soldaten marschierten und besetzten die Grenze. Die Herren saßen länger im Gespräch bei einem Glase Wein, Hans führte einen Leinweber auf die Wache, weil dieser im Rausch auf der Gasse nach Menschenrechten geschrien und dem Bürgermeister einen Stein gegen die Haustür geworfen hatte. Auch die Kinder wurden von der Unruhe er griffen. Viktor schritt als Kommandant vor einer Bande Schulknaben, und da er vom Vater wußte, daß man fernes Geräusch von Pferdehufen und das Rollen der Kriegswagen erlauschen könne, wenn man das Ohr an die Erde halte, so zwang er seine Kompanie, sich in der Dämmerung auf das Straßenpflaster zu legen, um dort das Anrücken unbekannter Feinde zu vernehmen. Bei Kindern und Großen legte sich allmählich die Bewegung. Dennoch merkte man, daß sich allerlei Neues an die Stadt heranzog: eine Schnellpost, eine Chaussee, und die Leute sprachen viel von Eisenbahnen, auf denen man fahren könne.

Auch für die Glücklichen im Doktorhause brachten diese Jahre große Veränderungen. Zuerst starb der gute Senior, hoch an Jahren, aufrichtig betrauert von seiner Gemeinde, und die Frau Pastorin zog in weite Entfernung zu einem Sohne, der ebenfalls Geistlicher auf dem Lande war. Während Henriette noch unter diesem Verluste litt, traf sie ein anderer. Viktor mußte das Elternhaus verlassen, um ein Gymnasium zu beziehen. Der Wechsel war so günstig als möglich, die Entfernung betrug nur wenige Meilen, und der Haushalt, in welchen er versetzt wurde, war der des jungen Doktors. Die Aufregung und Betäubung des Aufbruchs barg dem Knaben den Schmerz, welcher ihm bevorstand; die Eltern empfanden den Verlust schon lange vorher. Sie begleiteten den Sohn in die benachbarte Stadt. Als die Trennungsstunde kam und der Wagen vorfuhr, der die Eltern in die Heimat zurückbringen sollte, da warf sich Viktor schluchzend ihnen um den Hals und klammerte sich zuletzt krampfhaft am Vater an. Und er blickte dem rollenden Wagen nach in einem herzzerreißenden Weh, dem ersten großen seines Lebens. Auch die Eltern saßen im Wagen sprachlos und hielten einander bei der Hand, bis die Mutter das eigene Leid über dem stummen Schmerz des Gatten vergaß und ihr Haupt auf seine Schultern legte, um ihn leise zu mahnen, daß er nicht allein geblieben sei; da sagte der Gatte in tiefer Bewegung: »Jetzt weiß ich, wie einem armen Vater zumute ist, der sich von seinem Kinde scheidet. Es ist ein Teil des eigenen Lebens, den man von sich tut. Auch für dich, Geliebte, endet der blühende Sommer, in dem wir so selig waren. In Frieden und Freude des Hauses drängt sich Entbehrung und Sorge; das höchste Glück bereitet dem bittersten Leid nur die Wege. Das ist Menschenlos!«

[]

Vandalen und Thüringer

Wieder vergingen acht Jahre und Viktor wurde Student. Er war ein reichbegabter Schüler, sein fröhliches Naturell erwarb ihm Zuneigung der Lehrer und Mitschüler, und ein behendes Selbstvertrauen, das ihm eigen war, verminderte nur selten seinen Fleiß, denn von dem redlichen Pflichtgefühl der Eltern war doch viel auf ihn übergegangen. Der Doktor folgte der Entwicklung seines Sohnes mit stillem Wohlgefallen. »Er hat einen hochfliegenden Geist und den Mut, etwas zu wagen«, sagte er zu seiner Frau. »Er soll sich erwerben, was seinem Vater nicht zuteil wurde, freie Tätigkeit in einer Wissenschaft, und er soll die Wissenschaft wählen nach seinem Gefallen. Oft, wenn ich ein gutes Buch las, habe ich daran gedacht, daß doch der edelste Beruf des Mannes ist, für Lehre und Bildung in weiten Kreisen tätig zu sein.« Und als die Mutter bescheiden einwendete: »Ist solche Aufgabe nicht sehr schwer und der Erfolg ungewiß, und wie steht es dabei mit der Sicherheit des äußeren Lebens?« – da entgegnete der Doktor hoffnungsvoll: »Er ist einfach erzogen, an geringe Bedürfnisse gewöhnt, und ich erwarte, wenn seine Kraft als Schriftsteller für hohe Leistungen nicht ausreicht, daß er verstehen wird, als gewissenhafter Lehrer seine Pflicht zu tun.«

In diesem Sinne besprach der Vater mit dem Sohne die künftigen Studien. Weil er der Meinung war, daß im Anfange eine kleinere Studentenstadt für Bildung des Charakters vorteilhaft sein werde, riet er ihm die Universität, an welche er sich selbst mit Freude erinnerte.

Dort saß jetzt Viktor am Fenster seiner Studierstube, die Sonnenstrahlen füllten sein Zimmer mit Glanz, und aus dem Garten quoll der Blumenduft herauf; zwischen das ferne Geräusch der Straßen tönte das Gezwitscher der Vögel und das Gesumm der Bienen, welche um die Blüten des wilden Weines schwebten. In gehobener Stimmung saß er und sann. Denn er war zuweilen Dichter, und er hatte nichts dawider, wenn es die ganze Welt erfuhr, zur Zeit wußte es nur seine Familie. Heut dachte er an die Heimat und an die liebe Mutter. Der Segen, den sie auf sein Haupt gelegt, und die Liebe, mit der sie ihn beim Abschiede ans Herz gedrückt, erfüllten ihm das Gemüt, und ihm war, als müßte alles, was ihn bei der Erinnerung bewegte, die ganze Fülle zärtlicher Gefühle in Wort und Vers dahinströmen. Wie starker Glockenton bebte es durch sein Inneres. Aber da er es in Worte fassen wollte, wurde, was als Ton und Vers von seinen Lippen klang, immer nur ein bekanntes Lied, das er bisweilen von der Mutter gehört hatte, und er mußte sich darüber wundern, daß seine Seele von der alten Weise nicht lassen wollte, die nicht einmal ganz paßte und einen anderen Ausdruck gar nicht begehrte [] als den Text von Lebewohl und Wiedersehen. Dazwischen hörte er draußen Trommeln, und ihm fiel plötzlich ein, wie kunstvoll am Abend vorher sein Leibbursch Roller auf einem leeren Tönnchen die Schläger gehandhabt hatte, und welch ein prächtiger Gesell der Freund war mit seiner trocknen guten Laune. Er lief zum Schreibtisch, und was er niederschrieb, war ein munteres Studentenlied, in welchem kleine Abenteuer des Leibburschen nach bekannter Melodie gefeiert wurden, nicht hochpoetisch, aber lustig. Als er die Worte durchlas, fiel ihm der Abend ein, wo er mit dem Stock des Vaters die Hüte auf die Bühne geworfen hatte, und er fragte sich zweifelnd, ob solches Herausspringen aus der Sentimentalität für einen Lyriker geziemend und eine gute Vorbedeutung sei.

Als Schlesier trug Viktor das Korpsband der Vandalen, eines tapferen und ruhmreichen Stammes, bei dem er viele Landsleute fand, und obwohl er seine Zeit nicht ausschließlich den Fehden und Trinkgelagen der Genossenschaft widmete, wurde er doch als ein ansehnlicher Mann, welcher mit Feder und Schläger Bescheid wußte und in dem Ruf diplomatischer Weisheit stand, mit der Zeit zum Konsenior gewählt. Dies Ehrenamt war nicht mühelos, denn obwohl die verschiedenen Korps in der Regel gegen die Burschenschaft und die Wilden zusammenhielten, hegten sie doch auch gegeneinander starken Argwohn, und es gab Grenzstreitigkeiten wegen der Füchse und der Zugewanderten. Am häufigsten zwischen Vandalen und Thüringern. Diese Nation, die zahlreichste von allen, war lange nichts als eine Verbindung von lockerem Zusammenhalt gewesen, hatte sich aber vor einiger Zeit zu einem Korps emporgeschwungen und litt gerade damals an einem unleidlichen Dünkel. Unter ihren Starken waren mehrere Adelige, welche größeren Aufwand und vornehme Neuerungen einführten. Ihr erster Häuptling, ein Herr von Henner, war ein langer, hagerer Gesell, als Schläger gefürchtet und wegen seines Hochmuts übel beleumundet. Ihn konnte Viktor durchaus nicht leiden, schon darum nicht, weil er Neffe eines verstorbenen uralten Majors aus der Kreisstadt war, von dem Viktor als Knabe einen scharfen Verweis erhalten hatte, als er einst mit seiner Kompanie auf dem Stadtwall die Wege verengte. Doch hatte die gemessene Höflichkeit des Thüringers seither einen feindlichen Zusammenstoß verhindert.

Nun wollte der Zufall, daß Thüringer und Vandalen zugleich den Entschluß faßten, ein Königreich zu errichten, und daß sie zur Festfeier dieselbe Woche bestimmten. Da dies der Gäste und des Lokals wegen nicht paßte und den Vandalen viel an dem gewählten Tage lag, der ihr Stiftungsfest war, so wurde beschlossen, deshalb mit den Rivalen in freundliche Verhandlung zu treten, und Viktor ward mit dem Auftrage betraut. Er begab sich also eines Abends nach dem unterirdischen Gewölbe, in welchem die Thüringer ihren [] Trank in Humpen und Stangen zu heben pflegten. Verwundert blickten die Helden aus rötlichen Gesichtern auf den fremden Gast und das Vandalenband über seiner Brust; doch wurde er von dem Fuchsmajor, der die Pflichten des Marschalls zu erfüllen hatte, achtungsvoll empfangen, zu dem Häuptling geleitet und neben diesem niedergesetzt. Während die wilde Jugend der Thüringer sang und Bierkonvente berief, verhandelten die beiden Würdenträger leise miteinander. Doch leider fand das gute Wort des Vandalen bei dem stolzen Thüringer keine gute Statt, gleich im Anfang nicht, als Viktor, seinem Auftrage gemäß, ihn selbst als Gast einlud. Denn Henner antwortete, daß er nicht zusagen könne, bevor die Genossen ihr Einverständnis erklärt hätten. Als sich vollends herausstellte, daß seinem Volke eine Verlegung des Tages zugemutet wurde, verweigerte er mit trocknen Worten jedes Eingehen auf solchen Wunsch. Durch die ungefällige Art des Gesellen wurde Viktor gereizt, doch gedachte er, daß er nicht in eigenen Sachen, sondern im Interesse seiner Nation zu sprechen hatte, und wahrte seine Würde. Auch als Henner die widerwärtige Angelegenheit eines Fuchses zur Sprache brachte, den die Vandalen den Thüringern entführt haben sollten, behielt der Gesandte seine Haltung. Da die Verhandlungen ins Stocken gerieten und er den aufsteigenden Unwillen bewältigen wollte, sprach er von anderm, erzählte allerlei, und weil er sehr kunstvoll gemalte Pfeifenköpfe in der Nähe sah, so rühmte er die Arbeit und fragte nach dem Maler. Da hielt ihm Henner nachlässig das Bild seines Pfeifenkopfes hin, einen Schild in Blau und Silber geteilt, darin schwarze Vögel, und nannte den Maler.

Viktor lobte das Werk und sagte ruhig: »Mir gefällt nicht der neue Brauch, Wappen auf Burschenpfeifen zu tragen.«

»Manchem mißfällt, was er nicht hat, hätte er's, so würde er es wert halten«, antwortete Henner kalt. »Jedes Land hat seinen eigenen Brauch. Unter euch Schlesiern macht jeder Schuljunge Verse; ich höre, bei euch kauft man ein Leichengedicht zu vier Groschen, und bei Hochzeiten tun's eure Poeten umsonst für Essen und Trinken.«

Dies war eine bösartige Anspielung auf die Begabung, welche auch Viktor nicht versagt war. Denn es war bekannt, daß die Vandalen einige Lieder von ihm auf ihren Bänken zu singen liebten. Der Gast merkte, daß der andere Händel suchte und daß ein Kampfgespräch beginnen mußte, dessen Ausgang beide kannten. Er antwortete also mit kaltem Stolze: »Ich gebe dir mit besserem Grunde deine Worte zurück, daß mancher verlacht, was er wert halten würde, wenn er's hätte. Haben die Schlesier allzuviel Verse, so ihr Thüringer zuviel große Herren. Du bist, wie ich höre, aus dem Lande, in dem der Maikäfer über sieben Fürstentümer fliegt.«

[] »Ich stamme aus Westpreußen«, versetzte Henner stolz, »aber meine Familie ist erst dorthin ausgewandert, sie saß in Thüringen, bevor es ein Preußen gab. Wir sind die Henner aus dem Hause Ingersleben.«

Als Viktor diesen Unsinn hörte, verlor er die Geduld. Im Augenblicke fiel ihm vieles ein, was ihn schon als Knaben an den Bellerwitzen und andern geärgert hatte, die Blechkette und die Ruhmredigkeit. Er erhob sich und verhehlte nicht länger die bedeutsamen Worte, welche dem Betroffenen das Gegenteil von männlicher Klugheit zur Last legen, denn er sagte verächtlich: »Aus dem Hause Ingersleben? Du bist ein dummer Junge.« Henner blieb kaltblütig sitzen und hob gegen einen Vertrauten, welcher neben ihm saß, nur einen Finger in die Höhe, worauf dieser aufsprang und den scheidenden Gast, welcher kampfmutig über den Haufen der Thüringer sah, im Namen Henners auf einen Gang mit kleinen Mützen forderte. Viktor nickte und beobachtete, daß den Thüringern erst jetzt der Zusammenstoß der Großen auffiel und daß sie zahlreich von den Bänken fuhren, um dem Fremden mit gleicher Schmähung zu bezahlen, aber durch eine neue Handbewegung ihres Seniors zurückgehalten wurden. Nur zwei der besten Recken tauschten mit ihm noch Scheltworte und Forderung, und Viktor schied aus dem Heerlager der Feinde mit der Aussicht auf drei Geschäfte, bei denen für die Beteiligten der Hingang auf eigenen Beinen sicherer war als die Heimkehr.

Als Viktor am anderen Morgen früher als sonst erwachte, war ihm in dem nüchternen Grau des Tages das Gemüt doch etwas beschwert; er hatte bis dahin mit Glück und Kunst ähnliche Zusammenstöße überwunden und genoß den Ruf, scharfe Hiebe auszuteilen. Diesmal aber stand dreimaliger Männerkampf mit den besten Schlägern der Universität in Aussicht, und zwar in der gefährlichsten Kampfweise, und er beobachtete an sich selbst mit Befriedigung, daß er in dem Kolleg einer langen philosophischen Erörterung zu folgen vermochte, obgleich ihm die Sekunden und Quarten zuweilen den Faden zerschnitten. Natürlich zog der Zwist sein ganzes Volk in Mitleidenschaft, die Vandalen waren empört, die Thüringer gereizt, und wo Kämpfer aus beiden Stämmen zusammenstießen, wurden wilde Worte und Forderungen getauscht.

Der Morgen des Kampfes brach an. Noch vor Aufgang der Sonne schritt Viktor mit seinen Genossen durch die dämmerigen Straßen einem abgelegenen Gartensaal an der Grenze der Stadt zu, alle schweigsam und mit festem Tritt. Von einem Baum am Wege schlug ein Fink und begleitete die Wanderer eine Strecke, Viktor winkte mit der Hand dem Vogel zu, und der Gruß des Kleinen machte ihm das Herz leicht. Er fand an der Kampfstätte die Gegner bereits versammelt, dazu eine Anzahl aufgeregter Füchse, welche schon vor [] Tagesanbruch die Waffen geschleppt hatten und als Späher das Haus gegen feindliche Gewalttaten bewachen sollten. Die Vorbereitungen waren kurz, wenige Worte wurden gewechselt, auch die Sekundanten hatten nicht viel zu tun: ein Strang über die Pulsadern des rechten Armes gebunden, die leichten Tuchmützen dem Unparteiischen vorgezeigt, die Aufstellung gemessen, dann traten die Sekundanten tiefatmend zurück, der Unparteiische rief sein »Gebunden – los« und Stahl klang an Stahl. Mit Freude sahen die Vandalen, wie gewaltig der Streit wurde, die Kraft des langen Henner war größer, aber seine gefürchteten steilen Quarten sausten unschädlich, bis endlich ein verhängnisvolles Atempo dem Kampf ein Ende machte, die Wange Henners klaffte weit aufgeschlitzt, und von der Schulter Viktors strömte das Blut zur Brust, die Sekundanten sprangen ein, und trotz dem Widerspruch der Kämpfenden wurde der Streit für ausgetragen erklärt. Mit stillem Triumph geleiteten die Vandalen ihren Mann nach Hause. Henner mußte im Wagen nach seiner Wohnung befördert werden.

Es war ein rühmlicher Kampf gewesen und lange haftete die Erinnerung daran, denn er wurde für beide Genossenschaften verhängnisvoll. Der Behörde flog eine Kunde zu, und da der Zufall wollte, daß gerade aus der Residenz eine der periodischen Mahnungen zur Abstellung unerlaubter Verbindungen eingetroffen war, mit scharfen Bemerkungen über seither gewährte Nachsicht, so mußte der Senat, der eine Zeitlang beide Augen zugedrückt hatte, sich ungern entschließen, eine große Untersuchung eintreten zu lassen. Nun hatten die Thüringer am meisten mit Nachtwächtern und Pedellen zu tun gehabt und wurden deshalb zum Objekt des gesetzlichen Zornes auserwählt. Aber auch die Vandalen gingen nicht leer aus. Die Untersuchung ward bis zum Ende des Halbjahres hingezogen, und Viktor erhielt die Andeutung, daß er die Universität verlassen müsse; Henner aber, der übler angeschrieben war, wurde erst festgesetzt und dann mit Entschiedenheit weggewiesen. Die Entfernung der beiden Helden wurde für ihre Nationen verderblich, zwar die Vandalen erhielten sich, aber die Thüringer verloren die Kraft des Widerstandes, sie gerieten kurz darauf mit den Franken in ärgerliche Händel und verschwanden für längere Zeit aus den Akten des Senats und der Geschichte.

Als Viktor nach einer Abwesenheit von anderthalb Jahren in die Heimat kam, fuhr ihm der Vater allein bis zur nächsten Post entgegen. »Ich komme dich abzuholen«, sagte er nach der ersten Begrüßung, »weil ich weiß, daß du mir allerlei zu erzählen hast, was man am besten in der ersten Stunde des Wiedersehens abmacht, damit das Herz frei werde. Setze dich zu mir in den Wagen und denke, daß ich dein ältester Freund bin und daß ich auch einmal jung war.« Da legte der Sohn ein offenes Bekenntnis ab über manches, was er[] als Musensohn zuwenig und als Vandale zuviel getan, und er fand einen nachsichtigen Richter. Zuletzt sagte der Vater: »Ich hoffe, du hast in dieser Zeit für dich erworben, was ein Mann unter allen Umständen im Leben braucht, und das lustige Burschentreiben wird für dich abgeschlossen sein. Von jetzt bist du ein Mann, der fleißig für seine wissenschaftliche Bildung zu arbeiten hat, und dafür schlage ich dir die große Universität in der Residenz vor.« So gelangten beide im besten Einvernehmen nach Hause.

Als der verbannte Häuptling der Vandalen zwischen Mutter und Schwester in das Wohnzimmer trat, fand er dort eine hochaufgeschossene junge Dame, die ihr Haupt stolz auf einem vollen Nacken trug und ihr blondes Haar, unbekümmert um die Mode, in langen Locken um den Kopf hängen ließ. Während er sie staunend betrachtete, rief Käthe: »Kennst du sie nicht? Es ist die Valerie, meine liebste Freundin.«

Kein Zweifel, es war die jüngste Bellerwitzin. Viktor grüßte förmlich, das Fräulein dankte ebenso; er erkannte jetzt in dem Antlitz der Jungfrau die Züge des Kindes, und doch sah sie fremdartig aus. Sie war unleugbar hübsch, die Stimme klangvoll, und wie sie von Käthchen nach der Nebenstube gezogen wurde und das Gelächter der Mädchen herüberklang, mußte er sich bekennen, daß auch ihr Lachen wohltönend war. Dennoch wunderte ihn der Besuch und er fragte die Mutter: »Wie kommt die hierher?«

»Sie ist auf einige Monate zu uns gezogen, um mit Käthchen Unterricht im Klavier zu nehmen, wozu hier gute Gelegenheit geboten ist. Sie ist redlich und hat Charakter.«

Das letztere war nicht unmöglich, aber Viktor war nicht der Mann, seine Ansichten im Handumdrehen aufzugeben, und das Verhältnis zwischen beiden blieb während seiner ganzen Anwesenheit sehr kühl. Das Fräulein sprach in Viktors Gegenwart wenig, und er wandte seine Rede an sie nur dann, wenn die Schicklichkeit es durchaus gebot.

Einst klagte Käthe: »Seit der Kinderzeit bin ich in unserem Stadtwalde nur so weit gekommen, als die gebahnten Wege führen; ich möchte auch einmal draußen die Heide sehen.« Da riet Viktor, am nächsten Morgen früh aufzubrechen und einen Ausflug in die Wildnis zu unternehmen. Es war ein klarer Herbsttag, als die drei sich aufmachten; im Schießhause genossen sie das Frühstück und zogen von dort mit beflügeltem Schritt in den Wald hinein. Nachdem die Mädchen Waldblumen gesammelt und zartem Naturgefühl Genüge getan hatten, ergaben auch sie sich der Fröhlichkeit; sie lachten und sangen, und Viktor erzählte in übermutiger Laune drollige Geschichten. So kamen sie aus dem lichten Laubholz in den großen Kiefernwald und an jungen Schlägen vorüber, bis die gebahnten Wege aufhörten. Vor ihnen lag eine weite Heidefläche, auf der sich nur einzelne [] Stämme erhoben. Der Boden war mit Moos gepolstert, und an dem Heidekraut hingen die verblichenen Blüten.

»Das ist eine wundervolle Wildnis«, rief das entzückte Käthchen. »Merkt auf, wir begegnen Zigeunern.«

»Nur die Richtung nicht verlieren«, mahnte Viktor.

»Wir sind dort herausgekommen, wo die beiden Birken nebeneinander stehen«, sagte Valerie zurückweisend, »ich will den Weg schon finden.«

»Du bist ja sehr klug«, dachte Viktor.

Wie sie weiter gingen, senkte sich der Boden, zwischen dem Heidekraut wuchsen Gräser, von einem nahen Quell schlängelte sich der dünne Wasserfaden durch die Ebene; der Wald ging allmählich in Wiesengrund über, auf dem eine große Rinderherde weidete. Käthe blieb stehen, sah der Herde zu und bewunderte den tiefen Klang der Glocken und die lustigen Sprünge des Jungviehs. Als ein feindseliges Gebrumm näher kam, und Viktor sah, daß der Leitstier der Herde herantrottete, suchte er mit den Augen den Hirten, winkte und rief ihn herzu. Dabei hatte er sich einige Schritte von den Mädchen entfernt, der Stier aber, erzürnt über das Eindringen Fremder in seine Waldeinsamkeit, kam brummend und mit gesenkten Hörnern auf die Mädchen zu. Käthe stieß einen hellen Schrei aus und suchte zu entfliehen; da brach Valerie schnell einen Weidenzweig ab und stellte sich schützend vor sie; doch der Wilde, gereizt durch den Widerstand des Feindes, trabte schnaufend näher. Jetzt sprang Viktor herbei, riß den roten Schal, den Valerie trug, von ihren Schultern, ballte ihn zusammen und warf ihn seitwärts dem zornigen Tier entgegen; er selbst stellte sich als erster vor die Mädchen. Der Stier fuhr wütend auf das rote Zeug los und bohrte mit den Hörnern hinein. Unterdes lief mit Geschrei der Hirt heran, schlug und ermahnte den Meister seiner Herde und trieb ihn endlich wieder den Kühen zu. Viktor holte das gemißhandelte Tuch und gab es an Valerie, welche die zitternde Gespielin in den Armen hielt. »Ich erbitte Ihre Verzeihung«, bat er, »aber ich wußte im Augenblick nichts Klügeres zu tun.«

»Dem Schal hat es wenig geschadet«, entgegnete Valerie ruhig, »und ich glaube, Sie haben uns vor großer Gefahr bewahrt« – sie drehte das Tuch und schlug es wieder um den Nacken. – »Sei tapfer, Käthchen«, bat Viktor die Schwester; »nimm meinen Arm, wir suchen, nachdem der Feind entwichen ist, den Heimweg durch die Birken.«

Als Käthe unter den Scherzreden ihrer Begleiter neuen Lebensmut gewonnen hatte, sagte sie, unzufrieden mit sich selbst: »Ich war die Furchtsame, du aber, Valerie, standest wie eine Heldin vor mir.«

»Das brauchst du nicht zu loben«, antwortete Valerie, »ich bin vom Lande und gewöhnt, bei der Herde vorbeizugehen. Hättest du so oft das Gebrumm des Stieres gehört, würdest du dich auch nicht fürchten. Deinem Bruder aber wollen wir beide danken.«

[] »Wir haben ›Den Dritten abschlagen‹ gespielt«, versetzte Viktor lachend, »und der Stier war der Geschlagene.«

Aber auch dies kleine Abenteuer brachte zu Käthchens Betrübnis keine freundliche Annäherung zwischen dem Bruder und der Freundin zuwege. »Charakter mag sie haben«, sagte Viktor, »und hübsch ist sie ohne Zweifel, aber den steifen Federbusch von gesponnenem Glase trägt sie auch.«

Als er am Ende der Ferien zusammenpackte, sah Käthe von ihrem Nähtisch auf, an dem sie noch etwas für seine Ausrüstung zurechtmachte, und bat: »Schreibe mir manchmal von dem, was du denkst und arbeitest, du weißt nicht, Viktor, wie lieb mir jede Zeile ist, welche ich von dir erhalte. Nimm dich auch ein wenig meiner Bildung an und rate mir, was ich lesen und lernen soll.« Viktor sah in die feuchten Augen der Flehenden, und ihm kam auf einmal zum Bewußtsein, welch einen Schatz von hingebender Liebe er in dem Herzen der Schwester besaß; er zog sie an sich, und sie besprachen einen regelmäßigen Briefwechsel.

In der Residenz begann für den Jüngling eine neue Lehrzeit. Einst hatte ihm der Direktor seines Gymnasiums geraten: »Da Sie mehr begehren als die Abrichtung für ein Brotstudium, so treiben Sie vor allem die Wissenschaft, welche allein Ihnen Methode geben kann; Philologie ist die einzige sichere Grundlage, gleichviel, ob Sie später Jurist, Geschichtsschreiber oder Philosoph werden.« Diesem Rat hatte der Student bisher ein wenig gefolgt, freilich ohne rechten Ernst; jetzt aber setzte er seine Kraft daran. Er erhielt Zutritt zum Seminar und blieb noch fast drei glückliche Jahre auf der Universität. Was er in dieser Zeit der Schwester schrieb, war zumeist ein Widerklang der edlen Stimmungen, welche ihm die Kunst gab, das Theater, die Konzerte, die Museen. Fast überwältigend drang der Zauber des vielen Schönen, das er jetzt mühelos genießen konnte, in sein Gemüt. Auch er verfaßte ein Theaterstück und begann ein zweites, schrieb beide sauber ab und sandte sie dem Vater nach Hause, aber zu seinem Glück nirgendwo anders hin.

Die besten Freunde, die er in der Residenz besaß, waren Onkel und Tante Köhler. Unser Herr Einnehmer arbeitete als Geheimrat im Ministerium. Er stand jetzt in hohen Jahren, hatte eben sein Jubiläum gefeiert, war aber rüstig und lebensfroh wie früher und hatte die gute Laune und Originalität seiner Gedanken in der großen Stadt, welche so gern Kristalle zu runden Kieselsteinen abschleift, nicht verloren. In dem kinderlosen Haushalt wurde Tante Minchen immer noch von dem bewundernden Blick des Gatten verfolgt, der die Elfenkünste zu erforschen suchte, durch welche sie von Morgen bis Abend Behagen um sich verbreitete. Herr Köhler schritt stolzer und ritterlicher einher, wenn er seine Gattin durch die Straßen führte; er kam selten aus seinem Büro nach Hause, ohne ihr etwas [] mitzubringen: einen Veilchenstrauß, eine schöne Frucht, ein Werk des Kuchenbäckers. Bei ihnen verkehrte Viktor wie ein Sohn, und die Abende, welche er allein mit ihnen verlebte, bildeten in ihm vielleicht ebensoviel als die akademischen Vorlesungen. Denn Herr Köhler fand bald einen Genuß darin, seine geheimen Gedanken über Regierung und Weltlauf in die Seele seines jungen Freundes zu senken. Was sonst nur in trockenen Scherzreden mit Laune oder Bitterkeit zutage kam, das klang bei dem Glase Rheinwein – den er jetzt ausschließlich trank – voll und eindringlich in das Ohr des Jünglings. Von dem Verkehr der Völker, den Bedürfnissen und der Verwaltung des Staates erhielt dieser bessere Kenntnis, als mancher junge Arbeiter des Ministeriums erwirbt.

Endlich schrieb Viktor seine Doktordissertation, sehr gelehrt, über etwas von Aristoteles, was die Gesetze der schönen Kunst anging. Als der junge Doktor die Bogen im Prachtbande dem Vater übersandte, legte dieser das Buch in den Schoß der Mutter und sagte freudig: »Was der Vater sich ersehnte, wird beim Sohne zur Tat.« In besonderem Verschluß hatte der Doktor alles gesammelt, was ihm von Arbeiten seines Knaben zugänglich wurde, zarte Gedichte und Trinklieder, die Theaterstücke und Arbeiten des Seminars; wenn er allein war, holte er seine Blätter zuweilen heraus, sah sie der Reihe nach durch, und dabei war ihm zumute, als ob er selbst dies alles gedacht und erfunden hätte.

Als Käthe dem Bruder von der Aufnahme seiner Dissertation schrieb, kam natürlich auch mancherlei über ihre Freundin zutage, und daß Valerie beim letzten Besuche den Vater so lange gebeten hatte, bis er ihr die Hauptsachen der Abhandlung deutlich gemacht. »Die Katharsis des Aristoteles?« brummte Viktor feindselig, »was will die davon wissen? Verstehen wir's doch selber kaum.« In einer Nachschrift der Schwester tauchte sogar der lange Häuptling der Thüringer auf, denn Viktor las die Worte: Richard Henner ist jetzt als Referendarius zum Besuch auf dem Schlosse des Kammerherrn; die Narbe, die er dir verdankt, steht ihm übrigens nicht schlecht. »Sie weiß auch den Vornamen«, dachte Viktor wieder, »Valerie kann ihn ja heiraten« – und er warf den Brief unwillig auf den Tisch.

Darauf schrieb der junge Doktor in der Residenz sein erstes größeres Buch, wieder gelehrt und ästhetisch über gewisse stille Gesetze, nach denen der Dichter Form und Inhalt seiner Werke erfindet. Als nach einem Jahre dieses Werk erschien, wurde es von der Kritik wohlwollend aufgenommen, hier und da gerühmt. Auch Herr Köhler war damit zufrieden, schrieb glückwünschend dem Vater und legte einige Rezensionen bei; zu Viktor aber sagte er: »Morgen kommst du zum Mittagessen, junger Lessing, es ist niemand geladen, die Tante hat dir zu Ehren etwas Gutes in die Küche besorgt.« Es war ein frohes Mahl, die Herbstsonne schien durch das Kristall der [] Gläser und malte kleine goldene Bilder an das weiße Tischtuch, auf dem Kuchen in der Mitte war in Zuckerguß der Vers zu lesen:

»Zum Dank für goldne Worte
Empfange, Kind, die Torte.«

»Das ist Poesie der Sylphe«, erklärte Herr Köhler, brachte die Gesundheit Viktors aus und war sehr lustig. Nach dem Essen trat Viktor mit der Tante in die Stube des Hausherrn, wo dieser, ein Buch in der Hand, seine kurze Siesta zu halten pflegte; Minchen sah über dem Sofa auf das Bild des Alten Fritz und sagte zum Gaste: »Wenn er sich nur entschließen wollte, den schwarzen Flor abzunehmen. Ich habe den Flor so eng zusammengedreht, als möglich ist; aber es macht doch traurig, wenn man hinsieht.«

»Habe ich ihn nach der Schlacht bei Leipzig nicht abgenommen, so ist jetzt vollends kein Grund dazu«, antwortete Herr Köhler. »Die Zeit von 1806 kommt noch einmal wieder, mein Sohn, wir sind auf dem besten Wege. Damals lärmten die Waffen der Franzosen vor dem Bilde des alten Königs, jetzt tun es moderne französische Gedanken, gute und schlimme, mit denen wir in unserer feigen Schwäche nicht fertig werden. Der Trauerflor wird an dem Tage abgenommen, an welchem bei uns die große Knechtung und Fälschung der öffentlichen Meinung aufhört, das will sagen die Zensur. Erst wenn das gedruckte Wort frei wird, kann unser Volk zu einem gesunden Gedeihen kommen. Das Bild ist übrigens einmal für dich be stimmt, Viktor, ich habe es der Tante schon gesagt.« Er ging zu seinem Bücherschrank und holte einen Band heraus: »Komm du hervor, alter Freund«, sagte er und wies seinem Gaste den beschädigten Einband. »Ihn hat einst Napoleon ärgerlich in den Schnee geworfen. Jetzt geht, ihr Lieben, damit ich mich behaglich ausstrecke; in einer halben Stunde bin ich bei euch.«

Die halbe Stunde verging. Da er nicht kam, trat Tante Minchen bei ihm ein; Viktor vernahm einen Schrei und eilte nach. Die Tante kniete auf dem Fußboden, über den Gatten gebeugt – Herr Köhler war entschlafen und erwachte nicht wieder. Ohne Krankheit, im vollen Genuß des häuslichen Glückes, war er geschieden, und »Katzenbergers Badereise« war heruntergefallen und lag neben ihm auf dem Fußboden.

Königin und Landmädchen

Viktor stand der Tante in den ersten Wochen des Schmerzes treu zur Seite, dann reiste er nach der Heimat, die er einige Jahre nicht besucht hatte. Er fuhr nicht mehr mit der Post, sondern auf der neugebauten Eisenbahn. Die Pfeife gellte, der Vater begrüßte den[] Sohn auf einem Perron. Auch in der Stadt war alles verwandelt: eine neue große Straße zum Bahnhof war angelegt, ein mächtiges Gebäude, die neue Realschule, erhob sich zwischen den Rüststangen. Der Ratsturm hatte eine gotische Spitze, und über die Vorstädte ragten mehrere Dampfschornsteine. In der Stadt fand er neugebaute Häuser und neue Menschen, viele, die er als Kinder gekannt, grüßten ihn als Erwachsene. Die alten Häuser kamen ihm klein vor und die Gassen enge. Dort zur Seite stand das Haus des Fleischers, ein großer Mann trat in die Tür mit faltigem Gesicht; es war nicht der alte gute Riese, der den Knaben Viktor gern hereingerufen hatte, der war längst tot – es war sein Sohn, und auch dieser war alt geworden. Das Haus des Schusters Schilling zeigte sich mächtig verändert; ein großes Ladenfenster war ausgebrochen, und darin standen, keineswegs eingemauert, sondern heranlockend hinter Glasscheiben, viele große und kleine Stiefel. »Der verstorbene Meister arbeitete besser als sein Sohn«, sagte der Doktor, »dafür ist der Sohn ein eifriger Politiker und Anführer der Unzufriedenen.« Ein Bursche lief mit bedrucktem Papier die Häuser entlang. »Er trägt das Tageblatt aus, wir haben jetzt eine Druckerei und eine Zeitung, die unserem Bürgermeister viel Kummer verursacht, denn sie will alles besser haben, als es seither war.« Vom Markte kam Hans, der Ratsdiener, heran, schwenkte schon von weitem sein spanisches Rohr und begrüßte den Ankömmling in heller Freude. Aber Hansens Schnurrbart war weiß geworden. Und wie Viktor sich zum Vater wandte, um ihm dies zu sagen, fiel ihm plötzlich auf, daß auch sein lieber Vater gealtert war, das Haar ergraut, das Antlitz gefurcht, und ihn überkam eine so heftige Bewegung, daß er kaum auf eine Frage des Doktors antworten konnte. Nur die Mutter, da sie ihn aus ihren Armen entließ, sah geradeso aus wie sonst, und sein Käthchen fand er als blühende Jungfrau wieder. Nachdem die erste Bewegung vorüber war und er den Eltern gestand: »Ich bin doch nur wenige Jahre entfernt gewesen, aber mir kommt alles verwandelt vor« – da entgegnete der Vater: »Du selbst siehst anders als früher, und hier hat sich vieles in wenigen Jahren geändert. Unsere Stadt ist jetzt durch Eisenbande dem Weltverkehr angeschlossen, fast jede Stunde fliegt Neues heran, mit der Einsamkeit schwindet auch das kleinstädtische Wesen; die gute alte Stadt fühlt zu ihrem Heil und zu ihrem Schaden jeden Pulsschlag unseres großen Staates und jede Bewegung fremder Nationen.«

In ruhigerem Gespräch wurden die Nachrichten über Bekannte ausgetauscht. »Pate Bärbel ist recht stark geworden«, erzählte die Mutter, »und denke dir, mein Liesel hat nahe Aussicht, Urgroßmutter zu werden; ihre Enkelin hat bereits einen Freier.«

»Wie geht's der Familie mit der großen Kutsche?« fragte endlich Viktor die Schwester.

[] »Gut«, antwortete diese heiter. »Der Kammerherr ist kränklich und geht gebückt, die beiden ältesten Töchter sind verheiratet, und meine Freundin Valerie kommt zum Jahrmarkt herein.«

»Sie wird jetzt ihren Vetter Henner heiraten«, sagte Viktor trotzig.

»Woher weißt du das?« fuhr Käthe auf.

»Ich denke mir's nur«, versetzte der Bruder. »Warum sollen die Häuser Bellerwitz und Ingersleben sich nicht miteinander verbinden?«

Käthchen schüttelte den Kopf und sagte mit einem Anflug von Schelmerei: »Ich glaube, diesmal hat mein kluger Bruder sich geirrt.«

»Der junge Henner hat an dem alten Erdwall in der Heimat deiner Mutter nach heidnischen Altertümern graben lassen«, erzählte der Vater, »er nimmt ein ernstes Interesse an diesen Überresten und hat einen großen Sammeltrieb. Ich zeigte ihm alte Steinwaffen, die mir eure Mutter geschenkt hat, er erklärte einige davon für schöne und seltene Stücke und meinte, die sogenannte Schwedenschanze sei eine Opferstätte der Vandalen gewesen, die auch unter den Slawen noch mit Scheu betrachtet wurde, und deshalb sei dort später das christliche Heiligtum errichtet worden. Mir hat das ruhige und sichere Wesen des jungen Mannes recht wohl gefallen.«

»Mit den lebenden Vandalen hat er sich herumgehauen«, grollte Viktor. »Es muß etwas abgelebt und schattenhaft sein, um ihm zu gefallen.« Er bemerkte, daß die Mutter nach diesem strengen Urteil zu Käthchen hinübersah und daß dieses errötete.

Zum Jahrmarkt kam Valerie, und allerdings, trotz berechtigter Kritik, mußte Viktor sich selbst gestehen, daß sie schön war, daß sie sichere Haltung hatte, und zuletzt auch, daß ihr Anmut nicht fehlte. Wie sie hereintrat, die Eltern und ihre Käthe begrüßte, und wie sie sich dann zu ihm wandte – vielleicht mit einem zarten Erröten, sicher mit Freude und Herzlichkeit –, vermochte auch er gegen die Vertraute der Schwester seine förmliche Kälte nicht zu bewahren. Die Mädchen besorgten ihre Einkäufe und setzten sich endlich mit Viktor auf die Bank, welche als ein Überrest alten Stadtbrauches vor dem Hause stand. Während sie von dort die Trachten der Marktbesucher musterten und sich über die Verkäufer des Kleinkrams belustigten, welche unermüdlich die vorübergehenden Landleute durch verbindliche Worte anzulocken suchten, schritt Hans vorüber, feuriger als sonst durch die Genüsse und Geschäfte des Markttages; er trieb ein gebundenes Bäuerlein vor sich her, und da dieses ungern vorausging, so puffte und stieß er es mit seinem Rohr. Valerie stand auf. »Wie darf sich der Diener unterstehen, den Gebundenen zu schlagen?« fragte sie empört.

»Was hat der Mann getan?« rief Viktor der Polizei zu.

»Gemaust!« antwortete Hans hinüber.

[] »Fragen Sie, was der Arme gestohlen hat«, bat die gekränkte Valerie.

»Wurst!« entgegnete Hans im Amtseifer. »Bei der Arretierung hat er um sich geschlagen und war nicht zu bändigen, bis er geschnürt wurde.«

»Wegen gewöhnlicher Eßwaren einen Menschen so zu behandeln, ist nicht recht«, fuhr Valerie hartnäckig fort. »Wie darf man sich wundern, daß die armen Hungrigen bitteren Haß haben gegen alle, welche in glücklicherer Lage sind.«

»Wenn er Hunger hatte, konnte er den Verkäufer bitten«, sagte Käthchen.

»Dann hätte er auch nichts erhalten«, erwiderte Valerie.

»Bist du so?« dachte Viktor, »Eugen Sue bei Bellerwitz?« Und er fragte sie nicht ohne Bosheit nach dem Dichter, den sie am meisten begünstigte. Aber diese Frage hatte auf beide junge Damen eine ähnliche Wirkung, als wenn man bei zwei Champagnerflaschen Draht und Schnur zerschneidet. »Boz« klang zugleich aus beider Munde, und die Worte strömten ohne Ende heraus: Lob und Freude, Lachen und Rührung. Da nun Viktor denselben Dichter in hoher Ehre hielt, so beteiligte er sich tapfer bei dem Erguß, und die drei vergaßen den Lärm des Marktes und fanden in ihrer Begeisterung kein Ende, bis die Sonne völlig unterging und unser alter Freund, der Mond, die Bank mit seinen sanften Strahlen beschien, die aber in der Kreisstadt weniger geschätzt wurden als vormals auf dem Lande. Dennoch hatte dieser Abend Folgen. Denn Viktor behandelte seitdem das Fräulein mit einer Herzlichkeit, welche Käthchen beglückte.

Nur wenige Wochen weilte er im Elternhause; ihn beschäftigte schon wieder eine Arbeit, zu welcher er eine große Bibliothek nicht entbehren konnte. Er besprach mit dem Vater, daß er nach Beendigung dieses Werkes eine Lehrertätigkeit an der Universität oder an einer anderen größeren Anstalt suchen wollte.

Durch dies zweite Buch begründete Viktor seinen Ruf als Kunstschriftsteller. Es war dicker als das erste, aber es war leichter zu verstehen; die Kritik rühmte das Neue und Geistvolle, und der Buchhändler rühmte, daß auch die Leser das Werk begehrten. In den Kreisen der Residenz, welche Literatur und Kunst zum Tee genossen, wurde Viktor ein gesuchter Mann, und im Ministerium war bereits davon die Rede, ihn zur Übernahme einer Professur einzuladen.

Viktor hatte das Weihnachtsfest bei Freunden in der Nähe der Residenz verlebt. Als er nach seiner Rückkehr in einer besuchten Konditorei von dem Zeitungsblatt aufsah, fand er am nächsten Tisch zwei Damen, von denen die jüngere die Aufmerksamkeit der Umgebung auf sich zog. Sie war elegant, aber einfach gekleidet und hatte in Haltung und Bewegung die Sicherheit einer Frau, welche gewöhnt ist, sich unter den Augen vieler zu behaupten. Ihr Gesicht war von[] ihm abgewandt, während sie zu ihrer Begleiterin sprach, doch die halblauten Worte kamen so rein und deutlich aus klangvollem Organ, daß Viktor sogleich merkte, sie müsse von der dramatischen Kunst sein; wahrscheinlich die berühmte Schauspielerin, deren Gastrollen seit einer Woche in den Familien, in welchen er verkehrte, und von den Zeitungen eifrig besprochen wurden. Die Fremde neigte sich nach seiner Seite, und er fiel ihr in die Augen; beide sahen einander forschend an und standen gleichzeitig auf. »Tina!« rief er erstaunt und eilte auf sie zu.

»Ich bin es, Vik«, entgegnete sie freudig, und sie schüttelten einander treuherzig die Hände.

»Gerade las ich von Ihnen«, sagte Viktor. »Sie haben einen anderen Namen als damals in meiner Heimat.«

»Ich führe jetzt meinen wirklichen Namen«, erklärte Tina. »Mein Vater war ein Schauspieler von Ruf, er starb bald nach meiner Geburt; mein Stiefvater brachte mich auf die Bühne.«

»Darum habe ich vergebens so oft in den Theaterzeitungen nach Ihnen gesucht und stehe jetzt vor Ihnen wie jemand, dem ein verlorenes Gut wiedergegeben wird, über alle Erwartungen glänzender, als es vormals war.«

»Gut!« sagte Tina, erfreut über die unverhohlene Bewunderung. »Du bist artig geblieben, Vik, und ich denke, auch ebenso redlich. Komm fort, die Fremden brauchen meine Freude nicht zu sehen. Begleite mich zu einem Wagen, ich soll den Winter über auf Gastspiel hierbleiben und habe Besuche vor. Sobald du Zeit hast, komm zu mir.«

Wie Viktor in ihre Wohnung kam und die Portiere von einem artigen Kammermädchen zurückgeschlagen wurde, sprang Tina aus dem Sessel, eilte ihm entgegen, faßte ihn mit beiden Händen am Kopf und küßte ihn recht herzlich. »Mich freut's, Kamerad, daß ich dich wieder habe«, sagte sie vergnügt; »hier ist dein Halsband« – sie wies auf ihren Hals –, »ich habe es sogleich aus meinem Kram herausgesucht, um dir zu beweisen, daß ich unsere Kinderfreundschaft in Ehren halte. Du bist groß und hübsch geworden, das habe ich mir immer gedacht. Komm, setze dich zu mir und erzähle vor allem von deinen lieben Eltern. Du rauchst doch?«

»In deiner Stube ungern«, versetzte Viktor.

»Bah!« rief Tina und klingelte; die Kerze und ein Kistchen Zigarren wurden gebracht. »Ich bin für niemand zu Hause«, gebot sie dem Mädchen. Viktor erzählte und antwortete auf ihre eifrigen Fragen.

Es klopfte leise, die Jungfer wand sich durch die Portiere. »Fürst Alfons ist draußen«, sagte sie halblaut.

»Ich bin nicht zu sprechen«, antwortete Tina ungeduldig.

»Was soll ich ihm sagen?« fragte das Mädchen.

»Ein Schriftsteller ist bei mir.«

[] »Er hat die Zigarre gerochen«, sagte die kecke Wienerin beim Hinausgehen, »ich sah es ihm an.« Tina lachte.

»Wer ist der Herr, den du aussperrst?« fragte Viktor. »Ein Anbeter«, erwiderte Tina mit guter Laune, »eine Wiener Bekanntschaft; jetzt ist er hier, und wie er versichert, meinetwegen. Übrigens ist er ein gutherziger Mann, welcher mir wirkliche Freundlichkeit erwiesen hat. Wundere dich nicht, daß ihm die Zigarre auffiel, denn seinesgleichen darf hier nicht rauchen. – Ach, Vik, wie glücklich warst du dein Leben lang. Mir ist es nicht so leicht geworden. Zuerst starb der Stiefvater; du hast ihn wenig gekannt, aber er hat brav an mir gehandelt und hätte ein besseres Los verdient. Die Mutter zog mit mir bei den Theatern umher und erlebte noch, daß ihre Tochter Beifall fand; in Wien habe ich sie auf dem Friedhof bestattet, seitdem muß ich mich allein durch die Welt schlagen. Du ahnst nicht, was dies ›allein‹ für eine Schauspielerin bedeutet, ohne Mutter, ohne Verwandte, ohne Freunde an fremdem Orte sich behaupten, preisgegeben dem Urteil jedes Narren, schutzlos gegen Verleumdung, Unbill, tödliche Kränkungen, täglich umlagert von Begehrlichen, Beifall und Ruf oft abhängig von dem guten Willen eigennütziger und gemeiner Menschen.« Sie war aufgesprungen, und ihre Augen funkelten. Als sie aber die ernste Teilnahme ihres Gastes bemerkte, brach sie ab: »Nimm's nicht tragisch, Viktor, ich wollte nicht klagen und täte zuletzt unrecht daran, denn ich habe auch gute Freunde gefunden. Und die treuesten unter den alten Komödianten. Willst du die kleine Tina wieder besuchen, so sollst du einen von unseren wackeren Alten bei mir finden.« Sie nannte den Namen eines Regisseurs.

»Ich kenne ihn wohl«, versetzte Viktor, »wir haben zuweilen bis in die Nacht beieinander gesessen. Denn du mußt wissen, daß ich mich um das Theater kümmere, weil es auch zu meinem Berufe gehört.«

»Du bist doch nicht Rezensent?« fragte Tina besorgt.

»Nicht von denen, welche über dich schreiben«, antwortete Viktor. Als er von ihr schied, war ihm just so zumute wie damals, wo er ihr den Apfel schenkte. Das schwesterliche Zutrauen, mit welchem die berühmte Künstlerin, die zugleich ein schönes Weib war, ihn behandelte, ja auch die freie studentische Weise des Verkehrs waren überaus wohltuend. Mit Ungeduld erwartete er den Abend ihres nächsten Auftretens. Am Morgen erhielt er einen Brief mit einem Theaterbillett: »Lieber Vik«, schrieb sie mit schlechter Handschrift, »wenn Du kannst, setze Dich auf diesen Platz, es ist mir beim Spielen lieb, zu wissen, wo Du mich siehst. Bist Du nach der Vorstellung frei, so komme zu mir, wir wollen plaudern.«

Das erste Stück, welches Viktor als Knabe gesehen, Käthchen von Heilbronn, wurde gegeben, und es erschien ihm wie ein Verhängnis, [] daß dieselbe Poesie die erneuerte Bekanntschaft verklären sollte. Er selbst war kein unerfahrener Beurteiler und nicht durch Kunststücke und einzelne glänzende Momente des Schauspielers zu bestechen. Während der ganzen Darstellung mühte er sich redlich, das Urteil über die Leistung nicht durch die Freundschaft für die Künstlerin beeinflussen zu lassen, doch er verließ das Haus mit beflügeltem Schritt in dem erhebenden Gefühl, daß er etwas Seltenes genossen hatte, sichere Herrschaft über die Kunstmittel; aber was ihn bezauberte, war das Innige, Einfache ihres Spiels, überall echte und eigene Schöpfung. Sie ist eine große Künstlerin, sagte er sich froh.

Als er bei ihr eintrat, fand er sie in ihrem Schlafröckchen neben dem alten Regisseur. Sie stand auf und betrachtete ihn fragend, fast ängstlich; er bot ihr die Hand und dankte ihr von Herzen. Da wurde sie übermütig wie ein Kätzchen, wirtschaftete um den Teekessel, holte die Zigarren und begann: »Liebe Leute, jetzt verwendet fünf Minuten auf mich und lobt mich, sosehr ihr könnt, denn ich bin noch warm von der Arbeit, und seid ihr zufrieden, so ist mir an dem Urteil der andern Menschen hier wenig gelegen.«

Was sie begehrte, taten die beiden mit klugen Worten. Als dabei schnell die Hauptmomente der Rolle durchgegangen wurden, gab sie an, daß sie an einigen Stellen unsicher gewesen sei, ob sie dieselben so oder so fassen solle. Dies erörterten wieder die Herren miteinander und waren nicht überall derselben Meinung, sie jedoch spielte von ihrem Sitz sogleich mit leichtem Anschlage jedem seine Auffassung nach in so schnellem Verständnis und aus dem vollen, so daß man erkannte, sie hätte ebenso leicht nach den Wünschen des anderen gestalten können.

»Wir vermögen Ihnen nichts beizubringen«, sagte der alte Schauspieler, »und Sie haben zuletzt gegen uns das beste Recht, denn alles einzelne ist bei Ihnen wie selbstverständlich aus starker und genauer Empfindung des gesamten Charakters hervorgegangen. Das ist Genie.«

»Nein, mein hoher Herr«, sagte sie, »ich muß mir's auch überlegen und manche Rolle oft durchlesen, bis der Augenblick kommt, wo ich's habe; manches wird mir schwer, und anderes kann ich gar nicht leiden, zum Beispiel nicht die magere Donna Diana mit ihren vielen Roben.«

So flog das Gespräch auf andere Stücke. Der Regisseur erzählte aus seiner reichen Erfahrung von der Art und Weise, wie verschiedene berühmte Künstler sich mit ihren Aufgaben zurechtfanden; auch Tina verstand allerlei Lustiges über frühere Kollegen zu berichten, und Viktor vernahm mit Befriedigung, wie gutherzig und anerkennend sie von anderen sprach. Die Zeit verrann drei frohen Menschen, ohne daß sie es merkten. Als die kleine Uhr zwölf schlug, sprang Tina auf. »Jetzt fort, ihr lieben Herren, Käthchen von[] Heilbronn, kaiserliche Prinzessin von Schwaben, wird zu Bett gebracht. Gehen Sie voraus, Papa, und warten Sie draußen, ich will meinem Kameraden schnell noch etwas sagen.« Sie hob sich zu Viktors Ohr und raunte ihm glücklich zu: »Du bist ein grundgescheiter Junge, und ich habe meine Freude an dir.«

»Gute Nacht!« sagte Viktor und wollte sie küssen, sie aber trat zurück und sprach ernsthaft: »Nein, Vik, das tue niemals.« Doch gleich darauf schüttelte sie ihm wieder die Hand: »Gute Nacht, du lieber Kerl!«

Seit diesem Abende kam es Viktor vor, als ob eine der Musen ihn aus dem Gewühl des Marktes in die reine Luft ihres Göttersitzes entrückt und seine Schläfen mit ihrem unverwelklichen Kranze geschmückt habe. Erst jetzt empfand er die hinreißende Schönheit der Kunst, sie beflügelte ihm die Gedanken und adelte sein Gefühl, und er schritt, die unsichtbaren Blüten um das Haupt, in stillem Glück bei anderen Menschen vorüber. Überall erhob sich ungeduldige Forderung, und in der Menge arbeitete ein wildes Begehren, der Bau des Staates, der seit den Freiheitskriegen neu gezimmert war, krachte in allen Fugen; jedermann klagte und grollte, daß es so nicht fortgehen könne, und der Zwist zwischen Regierung und Volk wurde mit jeder Woche bedrohlicher. Sonst hätte er mit Leidenschaft an dem Streite teilgenommen, jetzt war er ihm fast gleichgültig. Was ihm so übermächtig Gedanken und Phantasie in Anspruch nahm, das war in der Tat die edle Freude am Genuß des Schönen und das Bestreben, die geheimsten Gesetze des Schaffens aus der schöpferischen Arbeit einer Künstlerin zu er raten. Er war durchaus nicht, was Tina einen Anbeter nannte; zwischen ihm und ihr bildete sich ein reines, sonniges Verhältnis wie zwischen zwei Geschwistern, oft empfand er freilich, wie schön sie war und wie hinreißend der Zauber ihrer Anmut, aber auch in vertrauten Stunden, wo er allein neben ihr saß, war es, wie er sich verständig selbst sagte, nicht das Weib, sondern die Künstlerin, welcher er huldigte. Wenn er eines ihrer Stücke für sich durchgearbeitet hatte, dann bat er sie wohl, ihm ihre Auffassung an den Hauptszenen deutlich zu machen. Gelehrt sprechen konnte sie nicht über das, was sie ausdrücken wollte, doch sie spielte auf der Stelle vor mit so richtiger Andeutung durch Worte und Gebärde, daß er ein Bild ihres ganzen Kunstwerkes erhielt. Sie vertraute ihm alles an ohne jede Eitelkeit, sie wies selbst auf die Schwächen ihrer Begabung hin und gestand ihm, wo sie dieselben durch ihre Kunstmittel so gut als möglich verdeckt hatte, auch wo ihr etwas im Innern gar nicht aufgegangen war und sie sich mit einer dramatischen Phrase aus der Verlegenheit geholfen hatte. Bei solchen Stellen konnte er in der Regel ihrem Verständnis helfen, dann lauschte sie andächtig auf seine Erklärung, und er beobachtete mit Entzücken, wie in ihrer Seele die innere Arbeit begann, bis sie [] aufsprang und glückselig rief: »Vik, ich hab's.« Dann spielte sie ihm die Stelle vor.

Auch die Gesellschaft, welche sich des Abends bei ihr zusammenfand, stimmte zu dem idealen Glück, welches Viktor in ihrer Nähe genoß; außer dem alten Regisseur kamen noch einige Herren und Damen von der Bühne, ein lebensfrohes Völkchen, leicht angeregt und immer geneigt, sich mitzuteilen. Männer und Frauen sprachen zuweilen in burschikoser Weise miteinander, dem letzten Überrest alter Theatersitte, aber dahinter merkte man dennoch eine ehrliche Achtung.

In den Morgenstunden fand er bei seiner Freundin auch andere Besucher: begeisterte Theaterfreunde, die den Schweif jeder berühmten Künstlerin bildeten, und weniger harmlose Gäste aus den Kreisen einer vornehmen und verdorbenen Jugend, welche das schöne Weib suchten. Unter den letzteren war ein Gardeleutnant, als roher Wüstling in der Stadt besonders übel beleumdet. Tina saß an ihrem kleinen Schreibtisch, und Viktor bezeichnete in einer neuen Rolle eine Stelle, über die der Regisseur zu befragen war, als der Baron eintrat. Der neue Gast warf sich nachlässig in die Dormeuse, streckte seine langen Beine über den Rand und begann in dem schnarrenden Tone, der damals unter der eleganten Jugend der Residenz Mode war, das Spiel der Künstlerin in ihrer letzten Rolle zu loben, in der wegwerfenden und gemeinen Weise, die für eine Belobte kränkender ist als eine Beleidigung, und er schloß: »Taille und Büste famos, und der Chic unglaublich. Es ist immer Rasse in Ihrem Spiel. Auf Ehre, schöne Tina, ich war ganz weg!«

Viktor, empört durch die Roheit, sagte über die Achsel: »Sie hätten niemanden ein Leid zugefügt, wenn Sie auch heut weggeblieben wären. Da Sie aber einmal hier sind, so nehmen Sie wenigstens die Beine vom Sofa.«

Der Baron streckte sich länger aus und fragte, zu Tina gewandt: »Wer ist der Laffe?«

»Er wird Ihnen seine Adresse zugehen lassen«, antwortete Viktor in seinem alten Vandalentrotz, »aber er wird vorher das Fräulein bitten, Sie in diesem Zimmer allein zu lassen, wenn Sie sich nicht anständig hinsetzen.«

Der Baron erhob sich mit einem Fluche und packte den Griff seines Säbels, Tina warf sich erschrocken zwischen die Streitenden. Da ging die Portiere auseinander, und der Fürst trat herein, ein Veilchenbukett in der Hand. Er war ein wohlhäbiger Herr, etwa zehn Jahre älter als Viktor, mit einem breiten Gesicht von verständigem Ausdruck, ruhig und lässig in allen Bewegungen. Mit einem Blick übersah er die Sachlage, wandte sich an Tina und überreichte, sich verneigend, den Strauß, indem er mit behaglichem Anklange an die österreichische Mundart sagte: »Es sind die ersten Blumen dieses Frühlings, mein gnädiges Fräulein. Die Natur begrüßt uns Menschen [] in diesem Jahre friedlicher als die Menschen einander.« Er wandte sich an den Leutnant: »Ich bin erfreut, Sie einmal hier zu sehen, Herr Baron, gestern habe ich im Klub vergebens nach Ihnen gesucht; ich wollte mir die Ehre geben, Sie für heut zu einem Bärenschinken einzuladen, der aus Ungarn angekommen ist.« Und sich wieder vor Tina verneigend, fuhr er fort: »Das gnädige Fräulein wird verzeihen, wenn ich es hier tue. – Wollen Sie die Güte haben, mich Herrn Professor König vorzustellen.« Und da Tina dies getan, begrüßte er diesen mit der gleichen Gemächlichkeit: »Ich bin Ihnen im Theater begegnet und habe schon oft die Gelegenheit herbeigewünscht, für gute Belehrung zu danken, welche durch Sie nicht mir allein, sondern auch anderen zuteil geworden ist« – ein schneller Blick streifte die Künstlerin. Tina setzte sich, der Fürst desgleichen, und die beiden Gegner konnten es unter dem Zwange seiner unzerstörbaren Artigkeit nicht vermeiden, ebenfalls zu sitzen, der Baron jetzt in anständiger Verwendung seiner Beine. Und Viktor sah mit Vergnügen, daß der ungezogene Leutnant in die bescheidene Rolle herabgedrückt war, welche der Schakal in der Nähe des Löwen spielt; er schnarrte weniger und krümelte einige Brosamen in die Unterhaltung, bis er sich endlich empfahl, in guter Haltung von dem Fürsten, nachlässig von der Künstlerin und von Viktor gar nicht. Bald darauf brach auch der Fürst auf, und der Professor hörte, daß Tina dem Herrn halblaut sagte: »Sie kamen zu rechter Zeit, um eine häßliche Szene zu beendigen.« Der Fürst antwortete artig: »Sie müssen Nachsicht mit uns Männern haben, wir sind nicht immer imstande, unseren dramatischen Eifer an der rechten Stelle zu bändigen.« Als Viktor den Hut ergriff, hielt Tina ihm die Hand hin: »O Viktor, was hast du angerichtet!« Der Fürst erwartete ihn im Vorzimmer und bat, in seinem Wagen Platz zu nehmen und zu befehlen, wohin er fahren wolle. Im Wagen sagte er: »Darf ich Sie bitten, mir anzuvertrauen, was jene Szene mit dem Baron veranlaßt hatte?« Viktor berichtete den Vorgang. »Man ist hier zuweilen plump«, sagte der Fürst. »Halten Sie mich nicht für zudringlich, wenn ich mir eine zweite Frage gestatte: Welche Folgen kann nach Ihrer Ansicht diese Begegnung haben?«

»Vor allem doch eine Forderung von meiner Seite«, antwortete Viktor.

Der Fürst nickte. »In diesem Fall würde ich mich geehrt fühlen, wenn Sie mich zu Ihrem Sekundanten annehmen wollten.« Viktor sah ihn dankbar an.

»Da ich aber auch verhindern möchte, daß der Baron eine wehrlose Künstlerin zum Gegenstande seines Grolles macht, so bitte ich Sie, mir erst morgen früh die Mitteilungen zu gönnen, deren ich als Ihr Sekundant bedarf. Heut wünsche ich mit Ihrem Gegner in dem Charakter eines Wirtes zu verhandeln.«

[] Am nächsten Morgen fuhr der Fürst in früher Stunde bei Viktor vor. »Ich hatte noch Gelegenheit«, begann er, »mit Ihrem Gegner einige Ansichten über den gestrigen Zusammenstoß auszutauschen. Ich nehme an, daß er nicht abgeneigt ist, seinerseits Ihnen durch mich sein Bedauern über das hingeworfene Schmähwort auszusprechen, wenn Sie sich herablassen könnten, auch Ihrerseits ein Bedauern über nachdrückliche Worte, die Sie ihm gewidmet haben, vor einem seiner Freunde zu erklären.«

»Wie vermag ich das?« entgegnete Viktor. »Ich müßte ihm das nächste Mal, wo er in ähnlicher Weise guter Sitte ermangelt, dasselbe sagen.«

»Er wird sich vielleicht in Ihrer Gegenwart fortan mehr in acht nehmen.«

»Er hat durch sein Benehmen nicht mich gekränkt, Durchlaucht, sondern eine Dame«, sagte Viktor.

»An der wir beide Anteil nehmen«, setzte der Fürst verbindlich hinzu. »Sie bestehen also darauf, ihn zu fordern?«

»Nach meiner Empfindung ist das gar nicht zu umgehen. Da Eure Durchlaucht aber mir bei diesem Handel so wohlwollenden Anteil zugewandt haben, erlaube ich mir die Frage, was Sie selbst in meiner Lage tun würden?«

»Fordern«, versetzte der Fürst gemütlich. »Wenn Sie es nicht täten, würde ich es selbst tun. Und die Waffen?«

»Da er im Begriff war, den Säbel gegen einen Waffenlosen zu ziehen, so wünsche ich, ihm mit seiner eigenen Waffe zu dienen. Doch ist mir die Kugel auch recht, ich nehme an, diese wird für meinen Sekundanten bequemer sein.«

»Ich war Rittmeister bei den Husaren«, versetzte der Fürst. »Und die Zeit?«

»Da ich ein freier Mann bin und er im Dienst, so bitte ich Sie, ihm dies zu überlassen.«

»Gut!« erwiderte der Fürst, »ich hoffe, Ihnen in einigen Stunden Bescheid zu sagen.« Er besah noch das Bild einer Madonna, welches an der Wand hing, ließ sich von Viktor ein neues Sammelwerk zeigen, Stiche, nach italienischen Gemälden, und schritt mit seiner angenehmen Ruhe die Treppe hinab.

Im Laufe des Tages erhielt Viktor ein französisches Billett des Fürsten: Säbel angenommen, ich sorge für alles und hole Sie morgen früh sieben Uhr ab.

Nun hatte Viktor nicht ohne Grund Säbel vorgeschlagen; schon als Knabe hatte er den Husarensäbel des Vaters mit Bewunderung betrachtet, als Vandale oft mit der schweren Waffe geschlagen und auch in den letzten Jahren beim Fechtmeister der Universität mit einigen Bekannten geübt. Er hatte bisweilen die Ahnung gehabt, daß er diese Kunst noch im Ernst brauchen werde. Jetzt empfand er [] einen so heftigen Widerwillen gegen den ungezogenen Junker, daß die Sorge für das eigene Leibeswohl davor gar nicht aufkommen wollte, und er fuhr am anderen Morgen mit dem Fürsten zur Stätte des Kampfes, gesammelt und entschlossen, sein Bestes gegen den anderen zu tun.

Sein Gegner erwies sich weit ungefährlicher, als anzunehmen war; in der Sorge, Kopf und Gesicht zu schützen, schlug er viel zu wenig und erhielt nach einigen Augenblicken einen wuchtigen Hieb in die Schulter, der ihn kampfunfähig machte. Mit kaltem Gruß trennten sich die Parteien, die Kameraden des Leutnants konnten die Unzufriedenheit über den Erfolg des Zivilisten nicht verbergen. Als Viktor auf dem Rückwege dem Fürsten dankte, sagte dieser: »Wir alle haben Ursache zu sorgen, daß der Handel geheim bleibt. Ich wünsche es auch um des Fräuleins willen, welches die unschuldige Veranlassung geworden ist.«

Erst viel später erfuhr Viktor, daß er dem Fürsten in dieser Affäre zu besonderem Dank verpflichtet war, denn dieser hatte, als er die Forderung überbrachte, gegen einen ausschließenden Standeshochmut kämpfen müssen, den er erst durch die Andeutung niederschlug, daß er den Streit auf sich zu nehmen gezwungen sei, wenn dem Herrn, den er vertrete, die geforderte Genugtuung verweigert werde.

Viktor war der Ansicht, daß der Fürst ihm wirkliche Freundlichkeit bewiesen habe, und erwartete deshalb fortan eine gewisse persönliche Annäherung. Zu seinem Verwundern war das nicht der Fall, der Österreicher behielt ihm gegenüber eine gleichmäßige, artige Kühle, und sie sahen einander selten.

Von dem Duell verlautete in der Stadt wenig, die Herren vom Klub hatten keinen Grund zu besonderer Befriedigung, und die allgemeine Aufmerksamkeit war auf anderes gerichtet. Der Schauspielerin verhehlte Viktor die Wahrheit und sagte ihr auf unruhige Fragen nur: »Die Sache ist mit Hilfe des Fürsten ausgeglichen.«

Aber für Viktor selbst blieb der Streit nicht ohne Folgen. Es machte ihm in der Stille Freude, daß er etwas für seine Freundin gewagt hatte, und er war seitdem geneigt, sie zu betrachten, als ob sie ihm angehöre. Er fing an, sich mehr um ihr Tagesleben zu kümmern, fragte sie zuweilen nach ihrem Verkehr und den Besuchen, die sie annahm; und da manche ihr huldigten, die ihm mißfielen, verhehlte er seine Mißbilligung nicht. Tina sah ihn bei solcher Kritik mit großen Augen an und, wie ihm vorkam, mit geheimer Sorge, doch antwortete sie demütig und versuchte wohl auch, sich nach seinem Wunsche zu richten.

Sie hatte ihn gebeten, eine neue Rolle mit ihr durchzugehen, er hielt das Buch, soufflierte und las in ihren Szenen die Rollen der Gegenspieler; sie spielte ihre Partie vor. Dabei gerieten beide in Künstlereifer, auch er rezitierte lebendiger und nahm die Stellungen, [] welche der Moment verlangte. Als nun eine Szene von starker dramatischer Bewegung kam, eine Erklärung zwischen zwei Liebenden, welche nach dem Hinundherwogen der Leidenschaft einander in die Arme fliegen, da sprang Tina im Charakter ihrer Rolle und in der Begeisterung des Spieles auf ihn zu und warf sich ihm an die Brust; das Tuch war ihr von den Schultern geglitten, er hielt das schöne Weib und fühlte das Wogen warmer Empfindung an seinem Herzen. Da schloß er sie fester an sich und drückte ihr heiße Küsse auf Hals und Schulter. Sie lag eine Weile hingebend in seinen Armen, dann richtete sie sich langsam auf, und in ihrem Antlitz zuckte eine Bewegung anderer Art, Trauer und Angst. Sie setzte sich kleinmütig in den Sessel und sagte leise: »Das hättest du nicht tun sollen, Viktor.«

»Täglich fühle ich mehr, wie schön du bist«, rief der entflammte Kamerad. »O zürne nicht, daß das Gefühl aufloderte und die Leidenschaft herausbrach, ich wollte dich nicht kränken.«

Tina aber nickte schmerzlich mit dem Haupte: »Ich wußte, so würde es kommen. Wie war deine Freundschaft so schön!« – und kräftig sich zusammennehmend, rief sie in verändertem Tone: »Du dummer Viktor! Du willst doch nicht mein Anbeter werden oder gar mein Liebhaber? Weißt du, was das heißt, mein Freund? Jetzt gehorche ich dir; wenn du aber küssen willst, wie du eben tatest, mußt du mir gehorchen, du mußt meine üble Laune aushalten, mußt mir Veilchenbuketts zutragen und dir gefallen lassen, daß ich sie beiseitewerfe, wenn sie mir nach türkischem Tabak riechen. Finde ich ein Armband hübsch oder ein Spitzenmuster, so mußt du schnell danach laufen und nach dem Preise nicht fragen; du mußt deine Eifersucht – ich sehe dir an, daß du darin stark sein kannst – still hinunterdrücken und gegen andere Männer, denen ich einmal zulache, freundlich sein. Ich werde dich quälen und du mich, du wirst unglücklich sein und wirst zuletzt nicht danach fragen, wie mir zumute ist. Oh, sei kein Tor, Kamerad, und störe nicht den Frieden, in welchem wir jetzt miteinander leben.«

»Du weißt nicht«, rief Viktor widerspenstig, »wie sehr ich unter dem Zauber deines Wesens stehe. Das Kind, das ich einst geliebt, die Künstlerin und das schöne Weib vermag ich nicht mehr auseinanderzuhalten wie verschiedene Leben; für mich bist du immer die eine, nach der ich mich sehne und die ich begehre.«

Wieder sah sie traurig vor sich hin. »Den besten Teil hattest du«, sagte sie leise, »und willst ihn vertauschen mit etwas anderem, was für uns beide ein Unglück wird. – Arme Tina! Noch einmal war die Unschuld der Kinderzeit in dein Leben zurückgekehrt, und du warst so selig darin.« Die Tränen rollten ihr von den Wangen.

»Sprich nicht so zu mir, Mädchen«, versetzte Viktor erschüttert durch diese Klage. »Traurig kann ich dich nicht sehen, und unglücklich sollst du durch mich nicht werden; ich will mich in Zukunft [] besser behüten. Wenn dir unsere Kameradschaft als das größere Glück für dein Leben erscheint, so will ich mich zu beschränken suchen auf den Teil deines Herzens, den du mir zuwenden kannst, wie bitterlich schwer es mir auch werden mag.«

Sie sah ihn forschend an, und da er ihr die Hand bot, hielt sie diese fest und neigte das Haupt.

Nun ging es äußerlich wieder wie vorher, aber die harmlose Zufriedenheit, die Viktor gefühlt, war verschwunden. Unruhig beobachtete er seine Jugendfreundin und machte sich Gedanken über ihre Vergangenheit, über die Verhältnisse zu anderen Männern, die sie früher bereits gehabt oder die sie ihm wahrscheinlich verbarg, und es half ihm wenig, daß er sich selbst sagte, wie töricht solche Eifersucht gegenüber einer Künstlerin sei, welche aus engen Verhältnissen sich mühsam emporgearbeitet hatte und allen Gefahren und Verlockungen des Berufes und ungewöhnlicher Erfolge ausgesetzt gewesen war. Durch dies Grübeln und Zweifeln fielen zuweilen dunkle Schatten in den frohen Schein, der um den Teetisch der Künstlerin glänzte, Tina merkte die ungleiche Stimmung ihres Freundes, sie bewies ihm gegenüber unverändertes Zutrauen und bei Gelegenheit eine fast demütige Fügsamkeit in seinen Willen. Er hatte einst nebenbei erwähnt, daß ihr eines ihrer einfachen Hauskleider besonders gut stehe, sie trug es seitdem immer, sobald sie seinen Besuch erwarten konnte; er hatte gegen sie ein Buch gelobt, als er das nächste Mal kam, fand er es aufgeschlagen, obgleich sie sonst wenig las; er hatte sein Wohlgefallen an einer ihrer Kolleginnen geäußert, er fand die junge Dame seitdem öfter am Teetisch und merkte, wie Tina sich bemühte, diesen Gast im Gespräch zur Geltung zu bringen.

Als Viktor einst nach einem guten Künstlerabend neben dem alten Regisseur heimwärts ging, begann dieser in seiner Freude über die Schauspielerin: »Da hat unser Herrgott einmal etwas Gutes für das deutsche Theater zurechtgemacht, aber der Teufel wird es uns nicht gönnen und die Arbeit verderben.«

»Was fürchten Sie für ihre Zukunft?«

»Daß sie doch einmal irgend jemanden heiratet«, entgegnete der Schauspieler. »Das besondere Talent, welches sie besitzt, ist ihr vom Himmel nur unter Bedingungen verliehen, wie der Jungfrau von Orleans ihre Stärke. Einer Schauspielerin wie dieser ist die Liebe, ja auch die Hingabe an den Geliebten nicht verwehrt; aber dies muß ein Spiel bleiben, welches ein Ende nimmt. Für Haushalt und Ehepflicht, die mancher anderen Künstlerin zur Kräftigung gereichen, ist diese Natur nicht robust genug. Ich kenne sie seit Jahren.«

Da wagte der eifersüchtige Viktor einzuwerfen: »Sie hat doch sicher schon manches nähere Verhältnis zu Männern durchgekämpft.«

»Das könnte aus ihrem Spiele schließen, auch wer es nicht weiß«, antwortete der Alte, »aber sie ist immer mit ihren Leidenschaften [] zu rechter Zeit fertig geworden, und diese haben ihre physische und geistige Kraft nicht vermindert. Ich will ihr gern alles nachsehen, nur soll sie sich für keinen Mann opfern.«

Nach dieser Unterredung sah Viktor die Schauspielerin einige Tage nicht. Die Kammerherrin war mit Valerie nach der Residenz gekommen, die Damen wohnten bei Tante Minchen und nahmen seine Dienste sehr in Anspruch. Während ihrer Anwesenheit äußerten sie den Wunsch, die fremde Künstlerin in einer ihrer großen Rollen zu sehen, und Viktor mußte sie ins Theater begleiten. Ihm erschien dies wunderlich. Er saß nicht an seinem gewöhnlichen Platz, wo ihn Tina zu sehen wünschte, und empfand es wie ein geheimes Unrecht gegen die Freundin, daß er ihrem Spiel neben Valerie zusehen sollte. Vielleicht täuschte er sich, doch ihm kam vor, als ob die großen Augen Tinas von der Bühne unruhig und besorgt nach ihm und seiner Nachbarin blickten, besonders als Valerie sich einmal zutraulich nach ihm wandte und leise zu ihm sprach. Wie er einige Tage darauf die Gäste nach dem Bahnhof geleitet hatte, eilte er zur Wohnung der Schauspielerin. Es war nicht die Stunde, wo er sonst zu kommen pflegte, und er fand Tina in Beratung mit ihrer Gesellschafterin, die zu anderer Zeit in einer Hinterstube für die Garderobe der Künstlerin sorgte. Tina nickte ihm freundlich zu, doch war ihr Blick umwölkt, als hätte sie geweint. Über den Sesseln lagen Theaterroben, ein Hermelinmantel und anderer Königsstaat. »Es ist meine Rüstung für die nächste Vorstellung, du kommst in meine Schneiderstunde.« Sie gab der Gehilfin die nötigen Aufträge und sandte sie hinaus, dann trat sie vor Viktor und fragte heftig: »Wer war die junge Dame neben dir in der Loge?«

Mit einem Anflug von Befangenheit gab Viktor Auskunft und setzte hinzu: »Es ist die nächste Freundin meiner Schwester.« Tina sah ihn durchdringend an. »Sie ist schön!« sagte sie in herbem Tone, kehrte ihm den Rücken zu und setzte sich in einen Sessel. Viktor erwartete schweigend, was kommen würde. Nach einer Weile begann Tina, immer noch abgewandt, mit leiser Stimme: »Nimm den Shakespeare, Viktor, und schlage mir im Romeo den zweiten Akt an von den Worten: ›Oh, wie sie auf die Hand die Wange lehnt.‹«

Er nahm und las. Nach einigen Zeilen stand sie auf, wandte sich ihm zu und spielte die Balkonszene so lieblich und innig und doch mit so stark unterdrückter Leidenschaft in ihn hinein, daß er in einem Schauer von Entzücken und Schrecken die Empfindung hatte, als ob sich ihm das Haar auf dem Haupte sträube. Am Ende der Szene fuhr sie plötzlich fort: »Hinab, du flammenhufiges Gespann« und warf sich bei den Worten: »Nacht, gib mir meinen Romeo« mit voller Leidenschaft an seine Brust, der Schal glitt ihr von den Schultern, sie schlug die Arme um seinen Hals und seufzte leise:

»Da hast du die Schulter, küsse mich!« Das tat er. Sie aber entwand [] sich ihm wieder, warf den Purpurmantel um ihren entblößten Nacken und sprach, indem sie mit hinreißender Zärtlichkeit den Arm gegen ihn ausstreckte: »Geh, Lieber, heut abend erwarte ich dich.«

Mit beflügeltem Schritt eilte Viktor durch die Straßen nach seiner Wohnung; ihm pochte das Herz, daß er die Schläge fühlte. Er fand die Straßen mit Menschen gefüllt, ein unruhiges Hinundherwogen, in den Haufen pfeifende Straßenbuben, und viele wilde Gestalten, die er so zahlreich in den belebten Stadtteilen nie gesehen. Ihn aber dünkte alles wie Geschrei der Raben auf dem Baume, er sprang in seiner Wohnung die Treppen hinauf, legte die Uhr auf den Tisch und schritt auf und ab. Es wurde dunkel; aus der Ferne tönte ein Brausen herauf, dazwischen einzelne Schreie, wie Geräusch der fernen Brandung und Gekrächze der Möven, zuweilen wurde es auf Minuten still, dann erhob sich aufs neue das Getöse und Rauschen näher und drohender. Viktor sah wieder nach der Uhr. Unten dröhnte der regelmäßige Schritt marschierender Soldaten, Kommandorufe und der Anschlag der Gewehre auf dem Pflaster. Aus der Ferne aber klang ein Dröhnen und Rasseln wie von Lastwagen – waren das Geschütze? Horch, ein scharfes Knattern – so klangen Schüsse! Da ergriff er seinen Hut und sprang hinaus auf die Straße. Die Straße war leer wie in tiefer Nacht, die Türen geschlossen; er eilte an den Häusern entlang, um zu ihr durchzudringen, die in dieser Stunde ihn zitternd erwartete. Der Weg war erhellt von einem rötlichen, unheimlichen Lichte. Wie er um die Ecke bog, sah er den ganzen Himmel in heller roter Glut, feurige Lohe und schwarze Rußwolken wälzten sich in wildem Tanze über den Häusern dahin. Ein Haufe von Männern und Weibern quoll ihm entgegen, die Gesichter blutlos, in den Augen Wut und Entsetzen; sie brüllten: »Mord! Heraus zur Hilfe!« Viktor sprang heran – auch ihm starrte das Blut in den Adern –, auf einem Räderkarren, den sie vorwärtszogen, lag ein Mann in den Kleidern eines Arbeiters und ein halbwüchsiger Knabe, und beide waren getötet, das geronnene Blut klebte an Haaren und Kleidern. Wieder rannte er weiter, zu dem Schrecken kam ein wütender Zorn gegen die Bewaffneten, welche arme Leute niederschossen, und gegen eine Regierung, die so Furchtbares, Wahnwitziges geboten hatte.

Als er die nächste Straße erreichte, stand er in einem geschäftigen Haufen Arbeitender zwischen umgestürzten Wagen und ausgebrochenen Pflastersteinen, in dem Dämmerlicht bewegten sich schweigend die dunklen Gestalten, fahl die Gesichter und glanzlos die Augen, gleich gespenstigen Schatten, welche der Tod aus seinem Reiche heraufgesandt hat. Eine heisere Stimme rief dem Zornentflammten in das Ohr: »Zur Hilfe dem Volke, wenn du ein Mann bist!« – ein Gewehr lag in Viktors Hand, er selbst stand hinter den Steinen und stierte nach vorwärts, und über ihm pfiffen die Kugeln, [] die aus einer Salve gegen ihn und seine Umgebung heranflogen. In demselben Augenblick hörte Viktor von der Seite einen französischen Anruf, und er hörte, wie der Mann, welcher an der Barrikade gebot, einem Genossen in polnischer Sprache Befehle gab. Da schlug er den Kolben des Gewehres, welches er in der Hand hielt, gegen die Pflastersteine, daß der Kolben in Stücke sprang und der Schuß zwischen seinen Fingern hindurch an der Schläfe vorbeikrachte, er selbst setzte mit einem Sprung über die Barrikade in die gesperrte Straße, dem rollenden Gewehrfeuer entgegen. Eine neue Salve! Wieder hörte er das Pfeifen der Kugeln um sein Haupt, während er längs der Häuser dahinlief; auch vor ihm war die Straße durch einen Steinwall gesperrt, dort tobte der Kampf. Er sah sich um nach einem Obdach – alle Türen waren verschlossen; doch er kannte die Gegend, auf seiner Straßenseite lag ein Weinkeller, den er oft besucht hatte, er sprang in den Schutz der Türbrüstung und pochte in der Art, wie vertraute Gäste pflegten, wenn sie einmal am späten Abend den Eintritt suchten. Nach einer Weile rasselte der Riegel, er warf sich hinab, und der erschrockene Küfer schloß hinter ihm zu, er war gerettet.

Die Schenkstube fand er leer, nur ein Gast saß still in der Ecke, den Kopf auf den Arm gestützt – es war Henner. Viktor war seinem alten Gegner seither öfter begegnet und hatte mit ihm zuweilen gleichgültige Reden ausgetauscht. Heut trat er zu ihm und bot ihm die Hand, welche Henner ergriff und festhielt. So saßen die beiden nebeneinander, während draußen die Salven krachten und die Fenster von dem Donner schwerer Geschütze klirrten.

»Oh, du mein armes Preußen«, rief Viktor. »Die Vormacht sollten wir sein für andere deutsche Stämme, und jetzt liegen wir am Boden in einem Siechtum, das uns anderen verächtlich und den Feinden zur Beute macht.«

»Was würde Ihr Vater dazu sagen?« fragte Henner ruhiger. »Er gehört zu den wenigen Alten, die über ihrem Schlachtruf: Mit Gott, für König und Vaterland! das Verständnis für den Jammer der neuen Zeit nicht verloren haben.«

»Vielleicht wird er sagen«, antwortete Viktor, »daß die Kanonen jetzt dem Sohne dieselbe Lehre zu Ohren donnern, wie einst dem Vater. Die Stunde ist da, wo der Preuße die Sorge um sein eigenes Leben und seines Herzens Gelüst vergessen muß in der Todesnot seines Vaterlandes.«

»Draußen töten sie einander, und wir sitzen müßig hier«, sagte Henner.

»Ich habe mein Gewehr an den Steinen zerschlagen, weil ein fremder Emissär mir es in die Hand drückte«, versetzte Viktor finster.

»Ist aber dieser wilde Aufstand eine Betörung unserer Arbeiter und überlegtes Werk fremder Anstifter«, sagte Henner, »wie kommt [] es, daß wir alle davon ergriffen sind und kaum der Versuchung widerstehen, Pflastersteine aufzureißen? Wer trägt die Schuld, daß ein redliches und loyales Volk, welches durch so große Erinnerungen mit seinem Fürstenhause verbunden ist, einem solchen plötzlichen Ausbruch seines Grimmes verfällt?«

»Vielleicht sind Regenten und Regierte beide erkrankt, jeder in seiner Weise, und uns allen tut Genesung not«, erwiderte Viktor.

»Was aber vermag der einzelne für solche Besserung zu tun?«

»Zuerst sich selbst gesund zu machen«, rief Viktor. »Der Vater hat mir erzählt, wie ihm einst in der jammervollen Niederlage, als der Staat Friedrichs des Großen zerbrach, der Ruf in die Seele drang, daß auch er sich für das Vaterland hinzugeben habe. Er konnte in seinem Beruf als Arzt dienen und mit seinem Säbel als Soldat. Ich bin nichts als Schriftsteller und habe die ersten frischen Jahre meiner Tätigkeit auf Dinge verwandt, die mir in diesem Augenblick so weichlich und ungesund erscheinen, daß ich mich ihrer schäme. Dies Lippenfechten über schöne Attitüden und über die Geheimnisse einer ästhetischen Wirkung, und ob der Schauspieler das Bein so oder anders setzen soll. Pfui! – unterdes schlich der Haß, die Verzweiflung, die Mordlust in die Seelen der Menschen, neben denen ich täglich vorbeiging. Aus einer furchtbaren Betörung erwache ich. Ihnen aber gelobe ich in dieser Stunde, Henner, ich tue ab von mir jede andere literarische Tätigkeit und all mein üppiges Schwelgen im Lande der Träume. Ich will eine Antwort suchen auf die Frage: Wie uns und unser geliebtes Preußen retten? Der Vater hatte es besser, er sah den Weg vor sich.«

»Damals tat es der Säbel«, sagte Henner, »jetzt vielleicht das gesprochene und gedruckte Wort. Was Sie auch wählen mögen, lassen Sie mich teilhaben an Ihrer Arbeit. Ich bin nicht reich, aber ich kann als unabhängiger Mann leben, und ich denke, diese Freiheit von jeder dienstlichen Abhängigkeit wird jedem nötig sein, welcher von heut ab für die Erhebung seines Vaterlandes tätig sein will.«

Es war draußen stiller geworden, nur einzelne Schüsse und gellende Schreie wurden gehört. An die Tür des Kellers donnerten heftige Kolbenstöße. Viktor sprang auf, ein Offizier mit einer Abteilung Soldaten drang in das Gewölbe, ihnen allen lag in Antlitz und Gebärde das furchtbare Grausen, welches den Menschen entstellt, wenn er andere gewaltsam vom Leben scheidet.

»Hierher hat er sich geflüchtet«, schrie der Offizier. »Packt ihn – zeigen Sie Ihre Hand!« Viktors Hand war von Pulver geschwärzt. »Nieder mit ihm!«

Henner sprang vor, warf sich zwischen die Wütenden und ihr Opfer und drückte ein Bajonett zur Seite, der Stich ging durch Viktors Arm und Seite, das Blut strömte herab. »Er ist unbeteiligt wie ich«, schrie Henner dem Leutnant entgegen.

[] »Er hatte ein Gewehr in seiner Hand«, sagte der Offizier grimmig. »Dies ist keine Zeit, Herr von Henner, um für andere einzutreten.«

»Er hat das Gewehr eines Empörers an den Steinen zerschlagen.« Der Offizier wandte sich ab und gebot: »Vorwärts, durchsucht den Keller.«

Die beiden blieben allein, Viktor ließ sich schwerfällig nieder. »Das ist auch eine Art von Katharsis«, sagte er mit trübem Lächeln und legte den Arm auf den Tisch. Henner eilte dem Offizier nach, und Viktor vernahm die kurzen Reden einer aufgeregten Verhandlung; ihm war jetzt auf einmal so ruhig zumute, als ginge das ganze wilde Treiben ihn wenig an; auch fühlte er den Schmerz der Wunde nicht sehr. Der Leib war matt, aber der Geist war klar, und er dachte bei sich: Der unnütze Lärm wird aufhören, dann kommt eine friedliche Zeit, wo ich mit Henner wieder zusammen bin. Darüber wurde ihm der Kopf schwer und sank nach vorwärts, aber er hörte deutlich Henners Stimme, als dieser sich über ihn neigte. »Ich habe durchgesetzt, daß wir nicht abgeführt werden, wir müssen hier aushalten, der Kampf dauert fort, und die Wege sind gesperrt. Wir helfen Ihnen die Treppe hinauf in die Wohnung des Wirtes. Nebenan ist das Schild eines Arztes, er soll Sie verbinden.« Viktor sah ihn dankbar an. Er wurde auf einem Stuhl in die oberen Zimmer getragen, der Arzt kam und untersuchte die Wunde; der Stich war durch den Arm und an den Rippen vorbeigegangen, und die Verletzung größerer Adern hatte den starken Blutverlust herbeigeführt. Viktor legte den Kopf müde auf das Lager, und Henner saß neben ihm.

Erst gegen Mittag des nächsten Tages war der Verkehr so weit geöffnet, daß Viktor in einem Tragstuhle nach seiner Wohnung geschafft werden konnte. Die Träger kletterten über die Öffnungen zerrissener Barrikaden, und der Wunde sah auf dem Wege die Spuren des kläglichen Kampfes. Als in seiner Wohnung alles zur Pflege eingerichtet war, rief er Henner an sein Bett und sprach ihm leise in das Ohr. »Sage ihr, ich bin in Blut getreten, als ich zu ihr ging. Wenn ich das Leben behalte, so gehört es nicht mehr ihr, sondern einer Pflicht, die noch älter ist als meine Liebe zu ihr.« Henner ergriff den Hut und entfernte sich.

Als Henner zurückkam und seinen neuen Kameraden leidlich bei Kräften fand, fragte er: »Darf ich dir übergeben, was mir anvertraut wurde?« Viktor nickte, und der andere legte ein Billett auf das Lager und öffnete das Siegel. Tina schrieb: »Lebe wohl für immer, mein geliebter Viktor; ich reise morgen ab. Gedenke in Freundschaft deines unglücklichen Kameraden!«

»Was sagte dir die Schreiberin?« fragte Viktor.

»Sie weinte, da sie mir den Brief gab, und vermochte nicht zu reden. Der Fürst war bei ihr.«

[] »Lebe wohl, Tina!« sagte Viktor vor sich hin, »ich denke dein.«

Als er eine Woche später nach wohltätigem Mittagsschlummer die Augen aufschlug, glaubte er noch zu träumen, denn die Schwester stand neben seinem Bette.

»Der Vater schickt mich der Tante zu Hilfe«, sagte das gerührte Käthchen nach der ersten freudigen Begrüßung. »Henner hat zuerst von deiner Verwundung geschrieben, und seitdem jeden Tag von deiner Besserung.«

»Ich habe lange seinen Wert verkannt«, antwortete der Bruder, »er ist mir in schwerer Stunde ein treuer Freund geworden. Ihm verdanke ich, daß ich nicht ein Opfer jener Unglücksnacht wurde.«

Bei diesem Lobe des Freundes leuchteten Käthes Augen, und eine hohe Röte zog über ihr Antlitz, so daß der Bruder sie forschend ansah; da beugte sie sich zu ihm herab und drückte ihr Haupt an das seine. »Bist du ihm gut?« fragte er leise. Er fühlte, daß sie nickte. »Und er dir.« »Ich glaube auch«, sagte sie fast unhörbar.

»Es ist noch jemand aus der Heimat hier«, fuhr Käthe nach einer Weile mutiger fort; »darf sie hereinkommen? Sie wollte mich in diesen schrecklichen Wochen nicht allein lassen, und sie wohnt auch bei der Tante.«

Valerie trat herein und setzte sich still auf den Stuhl an seinem Lager.

Die Heilung ging nur langsam vonstatten. Sobald für Viktor ein Umzug möglich wurde, bestand die Tante darauf, daß er bis zur vollständigen Genesung zu ihr ziehen sollte.

»Der Stich hat mir einen guten Dienst getan«, sagte Viktor, »er überhebt mich jeden Tag der Notwendigkeit, diesen widerwärtigen Karneval der Gasse anzusehen. Liebe Tante, geh an das Bild des Alten Fritz und entferne den Trauerflor; die Presse ist frei, und Henner und ich werden Zeitungsschreiber.«

Das Geheimnis des Buches

Nach Viktors Genesung warben die neuen Freunde den Verleger, welcher in Gemeinschaft mit ihnen eine neue Zeitschrift begründen sollte. Durch gleichgesinnte Mitarbeiter gefördert, gewann ihr Blatt schnell Beistimmung und Leser, und beide fühlten hohe Befriedigung, daß sie das Beste, was sie wußten, mit regelmäßigem Fluß in die Seelen anderer hinüberleiten konnten.

Als nach einem Jahre das Blatt der Freunde fest begründet war, gedachten sie auch des eigenen Haushaltes und warben sich die Hausfrauen. An demselben Tage wurden zwei glückliche Paare verbunden, Käthe verfiel unrettbar dem Hause Ingersleben, und Viktor hob sein liebes Weib aus der Kutsche der Bellerwitze sich in die Arme. Denn diese Familie hatte längst allen Standesvorurteilen [] entsagt; außerdem war, wie ein hochverehrter, leider verstorbener Mitbürger und Ratmann zu sagen pflegte, gerade jetzt eine Konjunktion gekommen, wo derartige Vorurteile nicht zeitgemäß waren. Und der letzte Winterreif, welcher etwa noch an den Schilden ihres Stammbaumes hing, schwand dahin in der Elternfreude über das Glück des geliebten Kindes.

Als der Doktor an einem hellen Sommertage in die Stube seiner Frau kam, fand er diese in Betrachtung der Bilder an der Stubenwand; es waren die Erinnerungen an Luther, welche einst in der Arbeitsstube des Seniors gehangen hatten, darunter auf dem Ehrenplatze das erste Geschenk des Doktors. »Die Farben sind verblichen«, sagte Henriette, »aber sooft ich das Bild ansehe, fühle ich die frohe Erwartung, in der ich damals auspackte.«

»Für uns beide ist die Zeit gekommen«, sagte der Gatte, »wo die Gedanken oft die Vergangenheit suchen. Um die liebe Hausfrau ist es einsam geworden. Ich habe zuweilen daran gedacht, daß wir uns noch einmal in die Welt hinauswagen sollten. Ist dir's recht, so besuchen wir die Kinder.« Und als Henriette erfreut zustimmte, fuhr er fort: »Wir haben auch eine äußere Veranlassung erhalten; eine Verwandte meines Namens, die ich gar nicht persönlich gekannt habe, ist unverheiratet und hochbejahrt im Fränkischen gestorben und hat mir ein Legat hinterlassen. Sie hat zuletzt in einer kleinen Stadt bei Koburg gelebt. Wir machen mit den Kindern einen Ausflug nach Thüringen, Richard kann als Jurist an Ort und Stelle zusehen, ob wir die Summe annehmen dürfen, ohne andere Verwandte, die vielleicht bedürftig sind, zu beeinträchtigen.«

Einige Wochen darauf betrat eine Gesellschaft Reisender den Hof der alten Feste, welche sich mit ihrem doppelten Mauerringe über dem grünen Talgrunde des Itzbaches erhebt. Voran ein alter Herr mit grauem Haar, aber er schritt rüstig in gerader Haltung, und seine Augen blickten klar und heiter in die Runde; am Arme führte er eine Matrone, welcher die Jahre einzelne Silberfäden in das Haar gezogen und die Gestalt völliger gemacht hatten, doch auf ihren Wangen lag noch etwas von dem rosigen Schimmer der Jugend. Um die beiden bewegten sich zwei Männer und zwei Frauen in blühendem Alter. Der Kastellan öffnete der Gesellschaft die Räume, welche zu einem Museum eingerichtet waren. Sie betrachteten die schöngetäfelten Zimmer, die Stube, an welcher der Name Luthers haftet, die Rüstkammer mit Wagen und Geschützen und blieben zuletzt vor dem Galionbild eines dänischen Kriegsschiffes stehen, welches der Landesherr von seinem Kommando in Schleswig-Holstein mitgebracht hatte und das vor kurzem aufgestellt war. Da sagte der Alte erfreut: »Dies ist seit den Freiheitskriegen das erste Siegeszeichen der Deutschen; der Kriegsdienst meiner Söhne Viktor und [] Richard wird mit der Feder geleistet, aber die Enkel werden bei neuen Siegen helfen.« Als die Gesellschaft das Innere der Burg betrachtet hatte, saß sie auf der Plattform nieder und sah hinaus in die sonnige, lachende Landschaft, unten zur Seite die Stadt mit einem reichen Kranz von Villen umgeben, gegenüber die belaubten Hügel, in der Tiefe die grünen Wiesen des Itzgrundes, und südwärts in blauer Ferne die Berggipfel des Mains.

»Ein anmutiges Stück Erde!« rühmte der Vater. »Man fühlt sich heimisch, als hätte man's immer geschaut. Die Werke der Natur und die Arbeit des Menschen schicken sich hier gut zueinander.«

»Das ist die rechte Stimmung«, begann Henner, »damit ich dir überreiche, was ich aus der Hinterlassenschaft des verstorbenen Fräuleins für dich gerettet habe.« Er ließ sich von dem Kastellan ein Buch reichen mit altem, verstoßenem Einband und legte es vor dem Doktor auf den Tisch.

Der Doktor schlug neugierig das Buch auf. Auf dem ersten Vorsetzblatt stand in kräftigen Schriftzügen: »Meinem günstigen Freunde George König, Kaufherrn zu Frankfurt am Main«; darauf Verse aus dem Liede: Eine feste Burg, und als Unterschrift: Martinus Luther aus der Feste Koburg im Reich der Wolken 1530. – »Da haben wir den Band, von dem ich dir manchmal erzählte«, sagte der Doktor zu seiner Gattin. Hinter der Widmung waren mehrere Blätter für eine kurze Familienchronik benutzt. Die Besitzer des Buches hatten ihren Namen mit dem Geburtsjahr und zuweilen auch Frau und Kinder eingetragen.

Der Doktor blickte die Reihe herunter. »Hier steht ein Kriegsmann, Bernhard König, Fähnrich im Regiment Alt-Rosen, darunter seine Schwester Regine König, verehelichte Hermann. Damals muß das Buch in die Familie Hermann gekommen sein«, erklärte er, weiterblickend, »denn es sind einige dieses Namens eingetragen. Hier aber«, fuhr er mit neuem Interesse fort, »steht wieder mein Großvater Friedrich und sein Bruder August. Der Großvater hat also wahrscheinlich den Band in die Familie zurückgebracht. Das ist mir ein teures Geschenk, Richard, und ich bin dir von Herzen dankbar. Und hier kommt der älteste Sohn meines Großonkels August, welcher Pfarrer im Fränkischen war. Dieser hatte das Unglück, in seinen besten Jahren durch einen Sturz ins Wasser das Gehör zu verlieren und lebte längere Zeit als Privatmann mit Weib und Kind in Koburg. Daneben findet sich der Name seiner Frau, einer Geborenen von Sahl aus dem Dorfe Friemar im Gothaischen. Ich erinnere mich ganz gut auf sie, sie stammte aus einem reichen Bauerngeschlecht, von den sogenannten Herren von Friemar. In dem Dorfe nämlich bestanden aus alter Zeit freie Familien, welche ein adliges Wappenschild führten.« Er sah wieder in das Buch. »Hier also folgen die Kinder des Pastors: Beate König; dies ist die Kusine,[] aus deren Hinterlassenschaft Henner das Buch erworben hat, und als letzter Name der ihres Bruders; dieser ist in früher Jugend untergegangen –« Er las und hielt an. Die Kinder, deren Augen an dem würdigen Antlitz hingen, sahen erstaunt die Veränderung in seinen Zügen. Feierlich begann er wieder nach einer Weile, seine liebe Frau anblickend: »Und dieser letzte Name lautet August König, genannt Dessalle, – dahinter von der Hand der Tante: – gefallen 1815 als französischer Oberst in der Schlacht bei Belle-Alliance.« – Der Doktor legte das Buch vor sich hin. »Der Verstorbene hatte den Namen seiner Mutter angenommen; er war ein König, und er war von meinem Blut.«

Da er die Bewegung im Gesichte seiner Frau erkannte, fuhr er zu den Kindern freundlich fort: »Laßt uns eine Weile allein, es sind alte Erinnerungen, die ich mit eurer Mutter besprechen will.« Die Kinder traten ehrerbietig beiseite, und die Eltern saßen nebeneinander; Henriette legte ihre Hand auf die des Gatten. »Er hatte Augenblicke, wo er aussah wie du. Schon damals, als er zuerst in unsere Stube sprang. Daß der Fremde mich immer an dich erinnerte, wenn er mir in die Gedanken kam, das machte mich in der Stille so unglücklich. Als er später in unserem Hause weilte, erschien die Ähnlichkeit wieder, wenn er lebhaft erzählte oder lachte; und, Geliebter, mir war's, als müßte ich mich deshalb vor ihm in acht nehmen.« Sie blickte den Gatten flehend an, als hätte sie ihm etwas abzubitten.

»Die Ähnlichkeit kann nur im Ausdruck gelegen haben; er sah ganz aus wie ein Franzose und gefiel mir bei der ersten Begegnung überaus wohl.«

»Aber wie ist es möglich«, fragte Henriette, »daß er, der doch deinen Namen wußte, dich niemals als Verwandten begrüßt hat?«

»Wer kann das sagen? Bei der ersten Begrüßung war ich ihm ein gleichgültiger Fremder in einer Landschaft, wo er Anverwandte nicht erwartete, mit einem Namen, der nicht selten ist. Auch mag ihm in seiner Stellung die ganze Verwandtschaft, von der er wenig wußte, leidig gewesen sein. Als ich ihn nach Jahren wiedersah, hielt er mich für seinen Feind, und er hatte nicht unrecht. Dennoch meine ich, nach der letzten Begegnung im Felde muß er gewußt haben, daß ich sein Vetter bin. Er brach damals so hastig auf. Wahrscheinlich ging er in jener Zeit zu seiner Schwester und lebte dort verborgen, bis ihn sein Schicksal wieder unter die Adler des Kaisers trieb.«

»Darum stand er so oft vor den Bildern in der Stube des Vaters«, bestätigte Henriette. »Es war das Bild der Feste, welches er beschaute, denn immer flog sein Blick nach der Wand. In Koburg wuchs er auf bis zu seiner Flucht.« – Der Doktor schloß das Buch: »Kommt heran, Kinder, wir Alten haben die Sorgen um die Vergangenheit abgetan.«

[] »Ich aber noch nicht«, rief Henner, »und heut soll sogar Viktor mir folgen, wenn er mich auch als einen Altertümler verhöhnt. In diesem Hofe und an der Stelle, wo wir jetzt behaglich sitzen, verkehrte vor dreihundertvierundzwanzig Jahren einer eurer Vorfahren mit Luther. Das ist doch auch eine Erinnerung, die sich sehen lassen kann. Durch dies Tor kam Herr Georg König heran. Ich behaupte, er muß ein stattlicher Mann gewesen sein. Hier stand er und wartete, ob Doktor Luther in seiner Zurückgezogenheit den Besuch annehmen werde, und diese Holztreppe schritt der große Reformator hinab und fragte euren Ahnherrn wohlwollend nach seinem Begehr. Ist es nicht ein heiterer Gedanke, widerspenstiger Viktor, daß dies einst so war?«

Viktor sah nach dem alten Schloßbau und der Treppe: »Du sagst es, und das Buch macht es wahrscheinlich. Unsere Phantasie mag mühelos, auch wo die beglaubigte Kunde fehlt, noch weiter rückwärts in die Vergangenheit fliegen. Vielleicht suchte schon fünfhundert und tausend Jahre früher ein Ahnherr hier an derselben Stätte einen günstigen Freund oder seine Heimat. Ich will dir, du Verehrer aller Familienerinnerungen, sogar etwas anderes und Größeres zugeben. Vielleicht wirken die Taten und Leiden der Vorfahren noch in ganz anderer Weise auf unsere Gedanken und Werke ein, als wir Lebenden begreifen. Aber es ist eine weise Fügung der Weltordnung, daß wir nicht wissen, wie weit wir selbst das Leben vergangener Menschen fortsetzen, und daß wir nur zuweilen er staunt merken, wie wir in unsern Kindern weiterleben. Vielleicht bin ich ein Stück von jenem Manne, welcher einst an dieser Stelle von dem Reformator gesegnet wurde, und vielleicht war ich es selbst in anderer Erscheinung, der schon auf diesem Berge lagerte, lange bevor die ehrwürdige Feste gebaut wurde. Aber meine Valerie hatte keiner von den alten Knaben, keiner saß meinem Henner am Arbeitstisch gegenüber, um liberale Artikel zu schreiben, und keiner sah wie wir von dieser Höhe hinab in die Landschaft eines großen deutschen Volkes, welches über der Arbeit ist, das Haus seines Staates zu zimmern. Was wir uns selbst gewinnen an Freude und Leid durch eigenes Wagen und eigene Werke, das ist doch immer der beste Inhalt unseres Lebens, ihn schafft sich jeder Lebende neu. Und je länger das Leben einer Nation in den Jahrhunderten läuft, um so geringer wird die zwingende Macht, welche durch die Taten des Ahnen auf das Schicksal des Enkels ausgeübt wird, desto stärker aber die Einwirkung des ganzen Volkes auf den einzelnen und größer die Freiheit, mit welcher der Mann sich selbst Glück und Unglück zu bereiten vermag. Dies aber ist das Höchste und Hoffnungsreichste in dem geheimnisvollen Wirken der Volkskraft.«


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TextGrid Repository (2023). German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-deu). Die Ahnen : ELTeC ausgabe. Die Ahnen : ELTeC ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001D-3E5B-7