[] Das Turkosgrab

Vier Thujabäume lispeln mürrisch, rauschen à la Byron und stehen gelangweilt tagaus tagein auf der Ruhestätte der in deutscher Gefangenschaft gestorbenen Turkos Mohamed Ben Abdelkader und Achmed Ben Hemen und kopfgroße Stücke grauen Muschelkalkes hat man zwischen sie geworfen; ringsum aber in den Flutmulden und auf den Rücken der weiten nur mit dünnem Humus bezogenen Kiesanhäufung blühen Enziane und weißstrahlige Lechfelddisteln, um am nächsten Tage von den nägelbeschlagenen Trampelstiefeln – im Marsch! Marsch! zertreten zu werden.

Nachdem die Hitze zwölf Stunden lang über den Asphaltdächern und dem also zertretenen Grase dieser weiten Kiesanhäufung gestanden hatte, der Himmel bläulich grau gewesen war und der aufgewirbelte Staub in den heißen Luftsäulen sich nicht hatte fortbewegen mögen, sondern braun und träge zwischen ihnen stehen geblieben war, ist mit einem Male die Welt ein helles Grün und ein makelloses Blau geworden, über das der Abend sein Farbengewusel aus braunen und purpurnen Tuben zu werfen beginnt. Und ich hänge zwischen diesen Farben, ich bin losgelöst von Allem, ich fliege, ich bin schwerelos, ich bin nur durchglüht von farbigem Licht und nur durchrauscht von dem Gedanken an den gewaltigen Ball, der da wundersam im Raume fliegt. Ich fasse es nicht, es ist nicht zu fassen – aber es ist kein schmerzliches Entsagen verbunden mit dem ganz hellen Bewußtsein dieses nie zu lösenden Rätsels – denn je ausgemachter und sinnfälliger eine »Tatsache«, um so schwindeln machender ist ihr Rätsel –, es umkost und umschmeichelt mich vielmehr, es trägt mich, mein Leben kommt mir vor als ein unsagbar wohliges Schweben auf den ungeheuren Fittichen eben dieses Rätsels – ich schwebe, ich fliege, oh alle Welt: ich bin frei und schwerelos!

Ich bin nicht frei, ich bin nicht allein – allein in ihren Kobaltarmen, ihren schreckhaft flatternden Falterflügeln! Aber daß ich mit Menschen reden muß, daß ich ihre hohlen Stimmen hören, [] ihre kriechenden Gedanken, ihre Gedanken ohne Klang! erdulden, ihren übel riechenden Atem, ihre ganze unsägliche Erbärmlichkeit und unheilbare Blindheit über mich ergehen lassen muß –!

Ich bin mir zu gut und liebe mich zu sehr, ich halte mich viel zu gerne an goldenen Zügeln, um über euch meinen fressenden Hohn zu gießen, ich beschmutze mich nicht, ich werde nicht rasend und dionysisch rabiat, aber –: zwischen zwei Propellern, länglichen, an ihrem oberen Ende zugespitzten und bläulich durchschimmernden Faunsohrmuscheln sitzt ein kleines Gesicht, dessen niedere Stirne jäh hinter den Brauen zurückflieht, dessen Vogelaugen wasserhell und dumm wie Wasser sind, dessen Mund wie ein plumper Kerb in das braunrote Fleisch gehauen und dessen Nase wie ein grober Klotz in die ganze Nullität hineingepflanzt ist. Aufgesetzt hat sich dieses Ding, so leicht und hohl, daß ein kleiner Knabe mit ihm Schlagball spielen könnte, auf einen winzigen Rumpf; der hat seine Verwachsenheit in Fischbein und starken Stahl gezwängt und wird von zwei Zündhölzern getragen, deren Mechanismus sich in einer grotesk ängstlichen Agrandezza darbietet, die Ähnlichkeit hat mit der eines automatisch betriebenen Kinderspiels. Aber seine Stimme brüllt und seine Verdauung ist schlecht und sein Geist weiß nicht, ist er Wind oder ein wirklich-unwirkliches Vakuum; es fließen ihm wohl Bilder und Klänge zu, aber sie rufen kein Echo wach und malen kein Bild und verlieren sich spurlos in dem gähnenden Raum. Doch ein Winkel ist in dieser Höhle, der hat sich in der gähnenden Hohlheit, Taubheit seiner Jahre ausstaffiert mit Paragraph und Paragraph und hat eine Drüse wachsen lassen, die ein Odeur sekretiert von Furcht und Stolz – von Stolz? Von Furcht und Stolz. Und komprimiert und symbolisiert ist dieses, der klägliche Leib und sein ihm genügender Geist, in einer braunen Warze, die ängstlich und eindringlich unter dem linken Auge sitzt, denn – siehst du sie an, so gerät der Wurm in Wut. Aber er hat sich in blaurotes Tuch verkrochen und hat dank dessen die Narrenerlaubnis, seiner Wut zu frönen, und er frönt ihr rückgratlos und gern, aber er nennt es strafen und erziehen – strafen, o heiliger Aristoteles, das Nichts setzt sich in Positur! –, wir haben es ihn so gelehrt, wie wir ihn daran gewöhnt haben, in seiner Verwachsenheit die Krone zu sehen der Kraft, in seiner Steifheit die Höhe der Eleganz und in seiner granitummauerten Borniertheit [] das Privilegium souveräner Verachtung der einfarbig gekleideten Intelligenz. Er kommt daher ein buntes dummes Tier, aber ein gefährliches Tier, das instinktmäßig die ihm gegen übertretende Überlegenheit fühlt und sie dann ankollert – ein Truthahn! Vorsicht! ein Truthahn! Und in erotischer Beziehung ist er nicht intakt, er ist ohne Frage ausgepichter Onanist, denn er vermeidet das Adjektiv »geschlechtlich«, er übergeht es beim Vorlesen und wird rot dabei, das vierzigjährige Kind mit den Propellern und Verschönerungsbarteln. Er kriecht vor seinen Vorgesetzten wie ein Pinscher, der alsobald geprügelt werden soll, aber ist er mit seiner grinsenden Kompagnie allein, so sieht er ihr Grinsen nicht und kreuzt die Arme und schlingt den Mantel um sich, er stellt die Beine breit, der Zweiseitengewehregroß, der Napoleonknirps, die Unfähigkeit und Minderwertigkeit und Mannlosigkeit – sogar zum Studium war er zu dumm, so wurde er Offizier, der Schwarm der Frau, vielmehr die unerschütterliche Einbildung des Schwarms der Frau, die Stütze und der Stolz des Staats und seiner Untertanen zielbewußter Erzieher, der Edelmensch, das Rassetier, der gott-und königstreue Pfau, das wandelnde Schimpfwort und der stolzierende Paragraph, eines Hohlraums Strafgewalt und der nicht mehr nur zum Lachen reizende Bramarbas, der inkarnierte – deutsche Pöbelgeist! Daß ich nicht allein sein kann! Daß ich mit symbolisierenden Warzen, mit priviligierten Truthähnen leben muß! –

Brauner fließt das wuselige Wolkenöl aus den himmlischen Tuben und es schauert und friert den schwindenden Tag; kalt und grünlich schimmert seine wasserblaue Haut und knisternd schließen sich die Lechfelddisteln – Timbuktu! gesungen habt ihr den Namen oft, Timbuktu! Tombuktu!

Salz für Gold und Salz für Sklaven und Salz für Elfenbein und ein stolzer Strom von Süd nach Nord, von Nord nach Süd, Sudan und Sahara tauchten um dich ihre Klingen und Speere in Blut, im fernen Konstantine und Mogador machte dein Name die Augen leuchten – und doch nur ein Haufe gelben Tons, der sich um drei plumpe Turmobeliske legt, über die der Wüstenwind, der Wind aus der ewigen Wüste, den Sand in grauen Wolken treibt, in denen die Sonne zusammenschrumpft, um dann wieder aus ihnen hervorzuglühen wie das blutunterlaufene Auge eines zornigen Elefanten! Timbuktu! Dschingere-ber! Es singt der Sand und unter der blutunterlaufenen Sonne glüht dein Turm wie eine reifende [] Banane, bräunlich-gelb wie eine Banane aus Monrovia, wie ein ins Ungeheure gewachsener Opal. – Es schneite, als man deinen Freund begrub, und es schneite, als du nach acht Wochen kalter Einsamkeit zum letzten Mal aus deiner Baracke tratest. In grauen Geschwadern, in ewigen Ketten trieb der Sturm die kugelnden Wolken über dich und leise pfeifend und klatschend – es singt der Sand! – umtanzte umschlug umwirbelte dich der Schnee. Drei Schritte weit flackerte dein Auge, dann ward Alles weiße Unendlichkeit. Die fraß sich in dich und biß sich in dich und verbrannte zischend dein Herz – es singt der Sand! – Und dann wird es wohl wieder geschneit haben, als man auch dich begrub und kopfgroße Stücke grauen Muschelkalks über euch häufte – – bis an die Knöchel sinken die Stiefel ein und die Stapfen, die sie nachlassen, sind grau und schimmern von der Seite gesehen ziegelrot auf dem glitzernden Tuch; einen Ring bilden sie um das schwarz-graue Viereck, das die ekelhafte contradictio in adjecto des militärischen Pfaffen mit drei leutseligen Worten beschmutzte, und laufen dann in einer melancholischen Serpentine zurück zu den Asphaltdächern, hinter denen gerade die Sonne herabgefallen ist – – Timbuktu! Tombuktu!

Gleich vier schwarzgrünen Bronzestatuen stehen die Thujabäume über dem einsamen Grab, düster à la Byron und voll ewiger Langerweile, und die grauen Muschelkalksteine unter ihnen schimmern bleich und weiß wie dicke Dinosaurierknochen. –

Nun habe ich wieder mein Werk getan und meinen Himmel voll Sterne genagelt. Aber ich mag die Sterne nicht mehr, denn ich will die Erde lieben und nur in Farben leben! Doch die Erde verfliegt und die Farben bleiben keine Farben mehr – was tue ich mit zitternden und ihr Zittern in Wellen forttragenden Atomen, die wieder nur Bilder und Klänge sind – verfluchter Kreis! Oder mache ich wieder den Desperadosprung: »Die Welt bin ich und mein fliegender Gedanke und außer mir ist nichts«? – Ich möchte nicht mehr einsam sein und Spinnefäden aus mir um mich spinnen, einsam grausam boshaft, wütend kannibalisch wie die Spinne in ihrem Netz; es sei denn, daß ich, wie die gekäfigten Spinnen der Sage nach einem Jahr Hungerns, zum Diamanten würde; aber mir widersteht der Asket und ich bin zu wenig kalt und klar für solche glänzenden Kohlen und kalten Schmuckschaustücke. Ich möchte sein wie ihr: ein unbewußter Trieb, der sich bewußt und wirklich glaubt und sich geborgen fühlt in allen [] Pöbelgöttern – geborgen, gefesselt, denn drüben liegt der Wahnsinn und lauert der süße – Sprung in den Himmel! Aber – daß ich mit Menschen leben muß und daß es eben – Menschen von heute sind! Ein Stück meines Problems, ihr ironischen Sterne.

Ihr verkriecht euch, ihr laßt einen silbernen Schleier unter euch fallen und eine Brücke baut ihr unter euch, eine Hängebrücke von weißen Wolken, geradewegs über den Zenit eine Wogenwolkenbrücke, eine geschwungene Silberwolkenleiter? Ich will auf ihr wandern, ich wandere auf ihr, das Gewehr geschultert, mit weitem hallenden Schritt und in den Gliedern den schütternden Frost.

So wandere ich nun, und wenn ich zähle, so zähle ich: es fehlt nicht viel an dreißig Jahren – was bin ich nur? Ein Wolkensteiger mit dem ewig haftenden Blick in die Tiefe trotz der Erkenntnis der nie zu überbrückenden Entfernung bis zu dieser Tiefe. Ich sehe Farben und seltsame Klänge dringen zu mir und ich weiß doch, daß ich nie zu den Dingen, zu den spöttischen Malern und Sirenen-Müttern, gelange, von denen jene zu mir kommen. Warum kann ich nicht zu ihnen stürzen, warum kann ich nicht auf meiner Wolkenleiter wandern, ohne zu ihnen hinabsehen zu müssen voll kindlich-weiser, voll kindlich-törichter Sehnsucht? Und warum wandere ich allein? Es gibt so viele Wolkenleitern, hohe und niedere und solche, auf denen das Blut zu kristallenen Nadeln gefriert; aber sie sind einander fremd und laufen alle nach verschiedenen Winden; sie kreuzen sich wohl und wenn ihre Wanderer sich begegnen, so sehen sie sich wohl groß und mit einem traurigen Lächeln an und sie grüßen sich, aber sie verstehen einander nicht und gehen ihre Straßen weiter, allein und nie verstanden. Und sollten sie sich und ihre Schatten, denn auch ihre Schatten wandern auf ihnen ewig und ernst, auch die Hand reichen und auf dem schmalen Punkte stehen bleiben und ihre Glieder schmerzlich süß umeinander schlingen – sie kennen sich nicht und erkennen sich nicht, sie bleiben zwei Welten (mit undurchdringlichen Grenzmauern und reichen sich die Hände wieder und gehen ihre Straßen fort, allein und nie verstanden – – Hallo! die Leiter bricht und der Morgen braust!

Eine Mulde hat sich der Lech in den Kies geschnitten, der grimmige schäumende Narr und Umsonst, aber die zähere Zeit zwängte ihn ein und hat Gras und Enziane über sie geworfen: hier liegen wir, frierend, ewig wartend und flach auf dem Leib [] wie hingemäht – wenn die Raketen fauchend in ihrem grünlichen Lichtschein über uns eilen und mit auffallend verkürztem letzten Schenkel ihrer parabolischen Bahn zischend zwischen uns niederfahren oder die Scheinwerfer mit unheimlichen Phosphorfingern über uns tasten und die fernen Baumgruppen aufflammen lassen in einem kalten giftigen Schweinfurter Grün, so pressen wir unsere Köpfe noch tiefer in das Gras, dessen schwerer Tau nun fast zu Reif geworden ist.

Die Sprossen der zerbrochenen Leiter – denn die Morgenkälte knickte sie wie Glas – sind herabgefallen und liegen leuchtend wie aufgehäufter Silberschutt am Horizont. Aber die Nacht formt sich einen Fächer daraus und hebt ihn und hält ihn abwehrend gegen die gelben und braunen Bänke, die langsam aus dem Osten klettern. Dunkler wird sie und drohend leuchtender und wölbt sich noch einmal über mir in ihrer verführerischen Majestät: bleibe ich in dir, halte ich mich an dich und flüchte mit dir blindlings in rauschende maestosos sostenutos? Den letzten Schleier ziehst du fort von den uralten Nägeln, die ich in dich geschlagen, den letzten Wolkenschimmer streifst du fort von deinem Samt und deinen schwarzen Sammetfransen und tiefer hängst du deine leuchtende Mondampel – aber stärker und sonnenbrauner wird der junge Tag, den Silberfächer reißt er aus deiner steifgefrorenen Hand und wischt dich fort wie einen heiligen Spuk. Die Elfenbeinrippen seiner zärtlichen Waffe färbt er rosenrot, Hörner und Zungen und drohende Papageienschnäbel schießen aus ihr hervor und stechen in die kopflos flüchtende Nacht, bis in einer stolzen Kugel rötlichen Goldes der Tag über die Nebellachen rollt, die sich schwer und trag über die Lechauen gelagert haben und aus denen die Baumwipfel hervorlugen wie Klippen alten Basalts.

Das Heiligenbild

Ich hatte es meiner geraden Figur und dem Teufel, der mich unter euch hat geboren werden lassen, zu verdanken, daß ich zu einer achtwöchentlichen Übung eingezogen war, und ich war glücklich, wie man in deutscher Vergewaltigung glücklich sein [] kann, wenn ich zwischen Steinen und Wolken und Bäumen, deren Zusammenleben mir als Flachländer neuartig und verlockend war, eben diese Vergewaltigung vergaß.

Denn ich bin kein Patriot und kein Staatsbürger privilegierter Richtung, und bin Wanderer und Klausner und nenne mich euch gegenüber einen Kosmoaristokraten und stehe bewußt und selbstgewollt außerhalb jeder Massenvereinigung. Die Bürgervorteile und kleinen Faulheiten, die ich in dieser bestbevormundeten und schabloniertesten aller Pöbelherden genieße, sind mir aufgezwungen und verhaßt und sollten sogar in euren Augen kein Äquivalent sein dürfen für die Eingriffe einer brutalen Polizei, die in jedem »Untertanen«, auf den sie ihre feige Faust legt, sogleich den zukünftigen oder verkappten »Verbrecher« sieht, und eines Militarismus, der im Solde eines sinnlosen und plebejischen Mammonismus und eines von ihm angesteckten Junkertums sein Söldnertum bombastisch und feige in eine gottgewollte Notwendigkeit umlügt und seine Paragraphenmacht zur Vergewaltigung friedfertiger Tölpel mißbraucht, und dessen mit Nimbus umgebenes Subalternoffizierkorps in seinen »Untergebenen« das bequeme, weil wehrlose, Objekt unflätiger Wutausbrüche sieht. Ich möchte mein Leben, wie ich es heute sehe und es heute für lebenswürdig ansehe, lieber unter Wegelagerern leben als unter diesem Gesindel seelischer Kretins, deren Feigheit und gewollte Blindheit und faule Kriecherei vor atavistischen Hohlheiten zum Himmel stinkt. Vergleiche ich mich, meine nie wiederkehrende Einzigartigkeit, meinen Mut zu mir selbst, meine Verachtung euch gegenüber und meinen unzerstörbar darin begründeten Wert mit euch, die ihr vor religiösem Macht- und Geschäftstrug – einen Betrug, den jedes Kind durchschaut –, vor monarchischen Popanzen und gesellschaftlichen Verranntheiten, deren ungeheure Lüge kein Gegenstück in der Geschichte findet, demütig und eurer Lüge hell bewußt den Hut zieht, so würgt mich der Ekel, der Ekel, mit euch die gleiche Luft zu atmen, derart – – aber ich speie diese Wut nicht aus und ich lache dieses Lachen nicht, ich fliehe auch nicht vor euch und drücke mich schmollend in eine Grönlandecke, ich sehe fort und blicke traurig in meine Welt – – – Aber mein Leben rennt mir fort, auf donnernden Rädern rast es mit mir fort und ich habe nicht viel Zeit mehr bis zum Grab. Oh mein goldenes Leben, meine durstigen Augen! Oh mein heller Blitz in der ewigen Nacht! –

[] Mein anständiger Antipode, falls Dummheit sanktioniert, ist aber der Korpsstudent, der heute schweißtriefend neben mir marschiert. Er ist so dumm; ihm ist alles und gar er selbst so klar und fest, so unzweifelhafte Wirklichkeit; er hat sich so selbstverständlich in sie eingefügt, wie man in einem Bau einen Ziegel zwischen andere fügt. Er sieht in unseren Institutionen die natürlichsten Notwendigkeiten, er sieht Segnungen in ihnen, ja er kennt Wahrheiten, religiöse politische philosophische, absolute Wahrheiten, bezahlte gelehrte gepredigte – gedruckte Wahrheiten! – Als ob nicht jede Wahrheit, was wir so Wahrheit nennen, in dem Augenblick, in dem sie in der Form der von allen gebrauchten Sprache den Mund ihres Verkünders verläßt, zur Verzerrung, Zwei-, Drei-, Tausenddeutigkeit und Unwahrheit wird! Als ob sie nicht ein subjektiv gedeutet sein wollender, unverbindlicher Ausdruck eines augenblicklichen körperlich-seelischen Zustandes und Allgemeingefühles ist! Und erst gedruckte, Zeitungs-Wahrheiten! Die Zeitung ist die Kloake einer Zeit, das Sinnbild aber unserer Zeit ist die – Zeitung. – Und auf alles, was ich einwende, meint er ehrlich überzeugt und stereotyp: »Dös sein so Sprüch.« Ist es zu glauben, daß man so dumm, so bayrisch dumm sein kann, daß man eine solche Mauer im Kopf tragen kann, daß man nicht mit allen Fasern fühlt, daß man lebt! Ist es möglich, daß ihm die garnicht auszudenken ungeheure taumelnde Fragwürdigkeit des Lebens, sein ganz einzigartig Wunderbares nicht zum Bewußtsein kommt! Aber er wird ein braver Bürger werden und sein Diplomexamen machen, reisen und Kinder zu Staatsbürgern erziehen und, wer weiß! er wird reich werden – der Arme, der zu ewiger Armut Verdammte!

Ich widerspreche ihm nicht mehr, ich höre nicht hin auf ihn – oh! jetzt beginnt er zu fluchen, rastlos, ingrimmig: Sakrament! Sakrament! Da ducke ich mich und – suche mich von mir zu verlieren dadurch, daß ich mich dem ledernen Teufel auf meinem Rücken zuwende und ihn, der eben ein quälender Teufel ist, immer persönlicher, immer lebendiger, immer gedanklicher, immer unwirklicher gestalte – dadurch, daß ich ihn in meine Muskeln, in mein Blut, in meine Nerven aufnehme, ihn als ein Nichts, als die immateriellen Beziehungen körperlicher Dinge zueinander, als einen nur in meinem Gehirn flatternden Gedanken konzentriere. (Und hier freue ich mich wieder, den Punkt zu haben, um den sich Alles dreht: denn dieser Gedanke ist das im [] Kontakt stehen irgend welcher vielleicht irgend wie chemisch veränderter Hirnzellen, und diese Hirnzellen und ihr gegenseitiger Kontakt, vielmehr das Gedachtwerden dieser Hirnzellen und ihres Kontakts, ist das im Kontakt Stehen irgend welcher vielleicht irgend wie chemisch veränderter Hirnzellen – – –) Aber ich gebe diesem nur durch mich und nur in mir existierenden Nichts die absonderlichsten Namen, immerzu immerfort, bis ich seinen ureigenen, seinen ewig prädestinierten gefunden habe, den, den die Leute gebrauchen. Da springt er aus mir und wandert neben mir zottig und braun, und ich bin von ihm befreit. Er redet mit mir, stoßweise, ein wenig atemlos und mit einer näselnden Phonographenstimme:

Daß du deinen alten Trick auch auf mich anwendest! Du objektivierst jedes Unbehagen und jede Wohligkeit, denn jede Wohligkeit wird zum Unbehagen, und läßt uns neben dir trotten wie einen interessanten Spuk. Haschisch, mein Lieber! Fürchtest du nicht – denn du bist dir selber zur Last, auch mit deinen Entzückungen, lügen wir uns nichts vor! –, dich eines Tages ganz in einen Spuk verwandelt zu sehen, der neben dir, der du nur aus glanzlosen Augen und hochbeinigen Stelzen bestehst, einhergeht und mit dir sein langweiliges Palaver hält? Denn ich langweile dich – – wir gehen ins Manöver, vierzehn Tage lang – hörst du?

Vierzehn Tage lang, bergauf bergab, in stillen Fichtenwäldern über großästiges feuchtes Moos, über schäumende Bäche, über vergrämte Moore müde entlang an schwarzen giftigen Teichen, und den Blick auf die Berge, bei Tage bei Nacht, unter Sonne unter Mond den Blick auf die Berge, und zu Füßen feuchtes Moos – aber am Biwakfeuer liegst du abseits in Reih und Glied und frierst und frierst und schnarchst dazu und ich, ich weiß nichts Besseres zu tun, als in die zuckende Flamme zu blicken und in ihr, kitschig genug, das Abbild meines Lebens zu sehen: eine zukkende Flamme und rings, oben, unten, kalte Nacht. –

Nach meinem Empfinden ein Bürgervergnügen – ich bevorzuge Schneepaläste, deren Wände die Nordstürme und deren Decken Polarlichter sind. Denn es wird mir die Welt zu organisch. Wohin ich sehe, grinst mir Leben entgegen, grünes, rotes, allerorten lungerndes Leben. Und das tut, als sei es die Quintessenz und das Extrakt der Welt, das stellt sich an, als ob es allein das Privileg des – Lebens hätte, das gibt sich, als sei es da, die Welt zu – fressen und zu – erlösen; wovon? von dem Fluch des Lebens! [] Das hängt einem ja zum Halse heraus! Ich denke, ihr werdet euch eures Lebens nicht mehr bewußt, ich muß annehmen, ihr habt es nicht, ihr wiegt es nicht auf der Hand, wo ihr vor lauter Leben nicht mehr den Kontrast und den Stein seht; ich postuliere, daß es für euch schon eine Erlösung sein muß, Brücken zu sehen, Maschinen, geschmeidiges wuchtendes hohnlachendes Eisen (statt dessen aber kriecht ihr vor eurem Eisen und euren Maschinen und macht, wie immer, eure Schöpfung zum Gott, der euch erdrückt und zermalmt). Ich, ich bevorzuge Schneepaläste und mag mich nicht belästigen lassen von dem Kannibalismus des Organischen. Es soll rein und frei um mich sein und immer kühl. Das Leben aber ist eine warme Brühe, es ist eine der groteskesten Verirrungen der Welt, eines ihrer kindischsten und unreinsten Fratzenspiele, das Leben ist das Plebejertum der Welt! – Und nur in der Vereinzelung ist es erträglich, vom Standpunkt der Ironie; denn ich empfinde einen angenehmen Kontrasteffekt in dem verlorenen Klumpen rotgefrorenen, voll magisterweiser Deutungen und zwergischer Weltverachtung vollgepfropften Lebens, das sich wiederfindet auf unendlichen Öden, deren Dekken Polarlichter sind. Wir sehen die Welt so falsch, wir verpesten mit unserer Geilheit und Fruchtbarkeit und rücksichtslosen Gefräßigkeit und Pariaruhlosigkeit und unserem Dreikäsestolz ihren eisigen Hohn und ihre steinerne Ruhe und ihre vernichtende Gleichgültigkeit. Wir begehen die Ungeheuerlichkeit und machen die gesamte Welt restlos zu einer Erscheinung in uns, zu einem organischen, der Verdauung analogen Prozeß. Aber im Schneekristall und in einer Zwillingsstreifung des Plagioklas steckt ihre ganze Vornehmheit, ihr ganzes ironisches Was geht's mich an! gegenüber der Form und ihr souveränes Festhalten an der einmal für immer erwählten; in der Amöbe, dem schleimgrauen Ich weiß nicht, was? ihr Plebejertum, ihre unreine hungrige, durch nichts als eben diesen Hunger motivierte Angst – das Leben ist die leibgewordene Angst –, ihr albernes verbohrtes zwecklos gewordenes Kleben an der Form und ihr peinlicher Wechsel, ihre haltlose Nachgibigkeit gegenüber der Form. Dieses Leben, um zu fressen, dieser sich selbst verdauende Darm, diese ewige Diarrhöe! Dieses heimliche Stehlen der Wurzelfaser am Stein, diese Pygmäendiebssaugnäpfe des autokannibalistischen Größenwahnwurms! Aber das Organische ist ein schnell verschwindender verschwindend kleiner Einzelfall, eine kleine Verirrung, ein dunkler Punkt, [] der Stein ist die Welt und erst im Stein liegt ihr Abgrund und ihre furchtbare Tiefe. Oh, wenn ihr einen Begriff hättet von der Vornehmheit, der sarkastischen Aristokratie des Gesteins!

Er hatte sich außer Atem geredet und merkte es und ward mürrisch darob und schwieg, und stapfte neben mir mit seinem ledernen verkniffenen Gesicht, seiner breitbeinigen staubbedeckten Landstraßenfigur. –

Ja, ich habe Heimweh nach Schnee, nach Tod und Nordlichtfransen.

Als ob es Farben und Formen, unabhängige Dinge in Raum und Zeit gäbe! Als ob dieses nicht alles nur ein Bild im Organismus wäre, der als solcher wieder nur Bild und Gedanke und Traum ist. Das Organische, wenn ich dir denn nachgeben will, ist der geheimnisvolle Schacht, in dem der Gedanke niedersteigt zu dem ebenso geheimnisvollen Stoff – aber nein! was kennen wir denn anderes von der Welt als eben nur ihre gedankliche Seite! Wenn es überhaupt andere Seiten an ihr gibt.

Hoho! Zum Purzelbaumschlagen! Zum Einsperren! Da haben wir ihn, den Einschachtelungsclown, den Zirkelnarren! Der Idealist! Da trottet er hin im Gleichschritt, im muffigen Massenschritt – der Transzendentalist! Als ob erst das Suchen hinter dem »Schein« der Dinge rechte Tiefe wäre! Als ob es nicht die Tiefe eines Schattens wäre, die man hinter der Tiefe der ganzen vollen lichten Welt noch sucht! Ich will es ja einräumen, (daß die »Dinge« vielleicht nicht nur so sind, wie sie uns erscheinen; aber ganz gewiß sind sie auch so, und nur dieses Auch so geht uns an, das andere ist Spuk und ein Locken zum Irrsinn; was wir in Urteilen, deren Richtigkeit sich bewährt hat, erkennen, das sind die uns zugänglichen Seiten eines wirklichen Seins und Geschehens. Aber du – – soll ich es dir verraten? Es ist der Neid des Organischen, die Rache am Stein, am Schnee, am Tod und an den Polarlichtfransen! Die Sklavenrache! Der Sklavenneid! Das Parasitenressentiment!

Du redest mir zu laut, du redest wie die heutigen Rezensenten, du redest mir zu viel in Worten um der eigenen tönenden Worte willen. Du größenwahnsinniger Schwätzer, du Igel, du Hohltopf-Hohlkopf und Positivist und billiger Wortejongleur! Du – Mensch von heute! Du – Tornister!! Laß uns nachdenklich sein. Das gleiche Atom, das in der Schneeflocke niederfällt oder im Dolomit des Marmolata schläft, kreist in der Buche, die dort zwischen [] den Fichten schon gelb werden will, und in mir, dessen Auge ungewollt auf ihr haften bleibt; derselbe Zauber, der die Nordlichter an den Himmel wirft, begleitet jeden Gedanken in mir und jeden Schmerz – –

Still! Ihr könnt keine Gegensätze sehen; ihr versteift euch immer auf Übergänge und Anklänge und Ähnlichkeiten und behauptet sogar, Gleichartigkeiten sehen zu können – faule Kompromisten.

Dann schwieg er und kniff den Mund zusammen wie eine Ledernaht. –

Ich weiß ja, daß ihr Narren es fertig gebracht habt, euch als den Sinn der Erde – als den der Welt, wagt ihr nicht mehr – hinzustellen; ich weiß ja, daß der femininische Idiotismus: Die Größe aller wahren Kunst und Religion liegt darin, uns unser Menschenschicksal als Teil des Weltgeschicks erkennen und empfinden zu lassen, bei euch tausend Jünger und Ohren, lange andächtige Ohren gewonnen hat – als ob ihr euren weichen Krimskrams identifizieren dürftet mit dem ehernen Gang der Gestirne! Ich weiß ja, ach! was weiß ich nicht – –

Und hier begann er zu stolpern und unwohl zu werden und lief an den Wegrand, wo er sich erbrach. – Dann marschierte er wieder neben mir und kniff den Mund zusammen ingrimmig wie eine Ledernaht. – –

Du, es ist etwas Furchtbares über uns, in uns, unter uns – die Welt, das Leben, der Stein, der Gedanke, das sind – Schutzwälle, bebend gegen das Furchtbare vorgehaltene Schilde. Wenn das an einem Morgen die Schilde fortrisse und wir ihm gegenüberständen – es ist etwas Ungeheures über uns, unter uns! Wenn nur die Welt aus dem bestände, was wir in Worten nennen – komm, daß ich es leise sage: sie hätte nicht das Recht zu sein.

Das mag ich eher hören und gelten lassen – etwas Furchtbares in uns, unter uns, aber nichts Heiliges, Mystisches, Metaphysisch-Muckerisches hinter den Dingen! Aber was nützt solches Wissen, dero Bücherbinsenweisheit und Abseitergegrübel? Denn ihr könnt es nicht stündlich in euch tragen, es würde euch eilends den Boden unter den Füßen rauben, daß ihr kopfüber in die Schwerelosigkeit und den Wahnsinn purzeltet. Es genügt und ich bin es zufrieden, wenn ihr einmal im Jahre fühlt, daß ihr über einer Gähnung wandelt, unbewußt, blind, wie die Kinder – oh ihr Kinder! Und wenn euch nur einmal im Leben der Gedanke [] durchhaut, daß die Brücke, auf der ihr steht und Jahrmarkt spielt, dünn ist wie Glas – –

Du – da du doch nach Art alter Positivisten und Journalisten mit mir einen Seitensprung ins Transzendente tust – und es ist noch etwas anderes Furchtbares –: ich fühle das dünne Glas ewig unter mir und mir wird es hohl und schwerelos – ich werde eines Tages wahnsinnig sein.

Da kniff er wiederum den Mund zusammen und zog ihn schief und nach einer Weile kicherte er:

Dann wird ein Anderer neben dir trotten, im Gleichschritt, im Massenschritt und auch im Bette vielleicht liegt er neben dir und grinst dich an und die Welt des Wahnsinnigen ist so wirklich wie deine von heute und so wahr wie deine von gestern: du schaffst sie ja so gut wie jene, nicht wahr, mein Freund? Aber warum denn gleich wahnsinnig werden? Sieh, da haben sie ein Haus gebaut, einen weißen Turm daneben gestellt und auf den ein schwarzes Schieferzwiebeldach gesetzt; rings um das Haus begraben sie ihre Toten und um Haus und Turm und bunte Gräber haben sie eine Mauer gezogen so, daß im Sommer, wenn es stark geregnet hat und das Barometer noch mehr fällt, das braune Leichenwasser aus den Fugen quillt. Und wer hier wirkt und Seelen tötet und Stunde um Stunde intellektuelle Purzelbäume schlägt in diesem zweimal, dreimal Leichen-Gotteshaus – da steht er und ist schwarz und rot, schwammig und fett, seine Köchin neben ihm und die ehrerbietigen Honoratioren – die, deren Seelen er schon totgeschlagen. Sie sehen auf uns herab, erhaben, ein wenig mitleidig, auf unseren Staub und Schweiß – sieh, wie ihre Weiber die Nüstern blähen! Und die Alten blicken unsere Spaten an und schauen nachdenklich zu, wie ihr allzusamt dahertrottet krumm und gebeugt, gleicherweis ein Fragezeichen, als ließen euch die Staubhieroglyphen auf den Stiefeln eures Vordermanns keine Ruh, aber alle sehr bei der Sache, beinahe ein wenig bang und begeistert, als wollten sie gleich Hurra! schreien, wenn sie in die schwarzen Mündungslöcher unserer Gewehre äugen. Und wenn der feiste Töter und Taschenspieler da oben eine Bemerkung macht – denn ein Pfaff ist für alles kompetent –, sind ihre Gesichter gespannt und sie lächeln verständnisvoll und ehrerbietig stupid – wenn der nicht wahnsinnig werden sollte! Wenn dieser zweifache, dreifache Verwesungspriester nicht Grund hat, wahnsinnig zu werden! – Aber sein Gewissen ist schwarz wie [] sein Kleid und tot wie seine Herde, seine Fühlhörner sind kürzer als wir ahnen, aber sie reichen dazu aus, um ihn wissen zu lassen, daß er in stündlicher Lüge lebt, in stündlichem Selbstbetrug; sein Ernst ist eben gegenüber dem unseren wie eine Seifenblase, die an einer Mauer zerschellt. Unser lustiger Ernst und unsere schmerzliche Lustigkeit, unser – ungeheurer Ernst, der – bringt dich um! Weiter weiter, wir gehen ins Manöver, mein Freund.

Auf staubigen Straßen, über Stoppelfelder, über vergrämte Moore entlang an schwarzen giftigen Teichen – hoppla! stolperst du, mein Kamerad?

* *

*

Wir liegen im Quartier und ich und der arme Korpsstudent sind einquartiert bei einem Krämer, dessen Haus am Markt ist bunt bemalt und voller Blumen so, daß die kopfhängerischen Fuchsien und knalligen Geranien die niedrigen Fenster noch niedriger scheinen lassen. Er empfängt uns draußen vor der Tür, den Bleistift hinterm Ohr und freut sich unserer Freude über das saubere Quartier. – Es ist Zapfenstreich geblasen und der Tornister liegt auf dem Flur und schnarcht, leise, rhythmisch, es liegt ihm noch der Marsch im Blute; aber mein Bett ist weich und ich versinke in ihm, als falle ich in warme Brunnen oder richtiger in vierzehn Mädchenarme, und breitgestreckt, die Arme lässig hinter dem Kopf verschränkt, auf weichen Mädchenleibern durchdenke ich den verflossenen Tag.

In der Nacht, windig und kalt, in welcher der Wind die Wolken aufschlitzte und mit den hervorbrechenden Regenschauern wie mit Birkenbesen über die Stoppeln fegte, hatte ich Posten gestanden, auf einer Höhe, neben einer überflüssigen Fichte. Es war still in mir, niemand sprach mit mir, ich empfand weder Regen noch Kälte und ward mir wie nur im Traum bewußt, daß zuweilen der blanke Mond eilends wieder hinter die Wolken flüchtete. Bei einem Gestorbenen, der mit aufgerissenen Augen in den Himmel starrt und auf dessen Retina der Nachthimmel sich gelb und grau und blau wie im Leben malt, muß es nicht ganz anders sein. Nur daß ich eben mir meines Sehens alle Stunden drei Male und dann wie im Traum bewußt ward; in der Zwischenzeit war ich gestorben, empfindungslos, ein Gras, ein Baum wie die anderen [] Menschen. Oder auch: meine Haut hatte sich gedehnt, riesenweit, und war durchsichtig geworden und auf ihr malten sich wie auf öldurchtränktem Papier der Mond und die Wolken, meine dösende Silhouette und die überflüssige Fichte; auf einer ungeheuren Kugel und aufgeblasenen Schweinsblase, mit der man dir Faschings um die langen Ohren schlägt, waren sie impressionistisch mit Strichen und dicken Klecksen aufgemalt; und alle Stunden drei Male tippte ein Finger an diesen im Raume aufgehängten Pergamentenball, daß er zuckte und leise vibrierte: dann eben ward ich mir meines Sehens bewußt. – – Als aber der Morgen zwischen Tag und Nacht seinen orangefarbenen Gedankenstrich am Osthimmel zog und die Kälte mit einem Male wie durch einen Riß ungehindert vom Himmel fiel, sah ich wieder die Welt und erkannte mein Ich wieder, mein nie zu fassendes, ruhlos gespensterndes, ich erkannte beide, die immer eins und ewig zwei sind, wieder im Anschaun meiner Welt und konnte wieder zu mir reden. Denn über Nacht hatte es in den Bergen geschneit und der von allen Winden reingefegte Himmel überzog sich bräunlich rot und hing wie die von einem unglaubwürdigen Irgendwo spöttisch hergeflatterte Seligkeit über dem Schnee und der grummetgrünen Ebene, ihren weißen Türmen und schwarzen Fichtengruppen und ihren zwanzig nebelkochenden Schluchten, leuchtend über den Vorbergen, die Kopf an Kopf wie wüste schwarze Berberlöwen das selige Gebirge schirmten. Das sickerte und drang und wuchs, wuchs immer eindringlicher und stürmte mit immer süßerer Leidenschaft in mich, das zog mich immer höher, immer näher mitten hinein in seine braune Morgentrunkenheit, bis ich plötzlich meiner harten Einsamkeit wieder gewahr wurde und zu taumeln begann und mich gegen das Furchtbare wehren mußte und nach den – Namen der Bergspitzen fragte und traurig wurde bis zum Tod. Denn ich stehe noch auf der Brücke und noch manche Gott- und Muckernachklänge brummen verführerisch in mir fort: ich tauche noch zu gerne mystisch unter in das All und verliere noch immer zu gerne mein Ich. Aber kein noch so intensives Welt- und Allgefühl sollte in mir den Wert des Bewußtseins meiner umschlossenen Einzigartigkeit und meines Alleinseins mehr aufwiegen dürfen. Noch taumele ich oft zwischen der Wortwelt der Menschen und einer abstrusen atavistischen unio mystica. Es soll klar um mich sein und rein: Ich und die Wirklichkeit, die ich raubend in mich ziehe [] und forme und genieße. – Aber nun – konnte ich wieder zu mir reden. Mit einem Male fangen die Schluchten an überzukochen, sprudelnd wie siedende Milch und gelöschte Kalke, die Berberlöwen beginnen zu fauchen und ihre Nüstern zu blähen und über dem Karwendel kriecht eine lange Wolke wie eine Riesenwegschnecke; da wirft der Tag die Sonne wuchtig wie einen Ball ins Land, ein Zittern geht durch die Luft und die Wolkenkephalophore färbt sich rot wie mit dem Safte der Purpurschnecken von Es Sur und kriecht träge, unendlich träge über die Berge und bedeckt sie mit bläulichem Schleim. Und nun währt es nicht lange und der Rauch der Schluchten und der Atem der fauchenden Berberlöwen flattert grau und zerrissen über die Ebene, bleibt hier an einem Kirchturm hängen und verfängt sich dort in einer Fichtenhöhe, und als die Sonne den ruhlosen nutzlosen endlich aufgetrunken hat, stehen die Berge da fern und fremd wie blaue Schatten – es ist heißer Tag und wir sind schon lange wieder auf staubigen Straßen, die sich wie weiße Schlangen in bösen Krümmungen von Hügel zu Hügel winden.

Als wir einige Stunden marschiert waren, mißmutig und in verbissenem Schweigen, begann mich das Bild eines schwangeren Bauernmädchens, das mich am Morgen zwischen ihren patzigen Stockmalven und Dahlien angelacht hatte, zu belästigen. Meine Gedanken hafteten wie Kletten brünstig an der prallen Rundung ihres Leibes und betasteten derb und hungrig ihre schweren Brüste und die ganze groteske Gestalt; und nun wandelte sie neben mir, schwerfällig und hinhaltend, als warte sie auf die Stunde, mich in den Graben zu ziehen. Ich konnte nicht mit ihr reden und meinen Spott mit ihr treiben, obwohl sie schon aus mir gesprungen war und neben mir ging, ich sah fort von ihr und ward wütend auf mich und begann aus blöder Verzweiflung mit dem Korpsstudenten zu plaudern, aber nach zwei Minuten hatten unsere Gespräche und seine Gedanken ihre Brettermauer erreicht, sie liefen noch ihren Weg zurück und fielen dann um faul und tot. Da wandelte sie wieder neben mir und trug ihren Leib, und das Gras im Graben ist hoch und heiß und die Luft steht still und brennend über den Stoppeln und baut schwüle Grotten und lüsterne Lauben – bis der Tornister von mir springt, stolpert und im Stolpern die Hure in den Graben wirft, wo sie nichts mehr ist als eben eine Hure und ein ungewaschenes Weib. Dann stapfte er weiter neben mir.

[] Sieh! von der habe ich dich nun befreit; ein Teufel schlägt den anderen tot. Aber – – he! bist du vielleicht verliebt? Weißt du, wie die Schwätzer, die veilchenblauen Träumer und samtenen Gefühlsjongleure? Das ist mir eine gar köstliche Sache! Man heißt es das reine Glück, den Hauch der Seligkeit, das tiefe Untertauchen in den Rausch der Dinge und das Ahnen einer Unsterblichkeit, und es ist doch das pure Plebejertum und die Schamlosigkeit katexochen. Und merke, weniger die Liebe, aber das Dulden, geliebt zu werden. Nicht die Liebe, die springt aus dem Fleisch, das ich soeben in den Graben warf; eine angenehme tierische Sache, die sich feige umlügt in die stupide Adoration eines Ideals, seines Ideals, im Grunde seiner Selbst; man kann sie als zwiefache Belästigung definieren. Ich habe im Grunde nichts wider sie, nur lüge man sich nichts vor und wolle nur das pralle Fleisch. Aber das Dulden, geliebt zu werden! He! wirst du vielleicht geliebt? Ich meine, nimmst du die Liebe eines Anderen entgegen, ohne daß dich ihre Komik zum Lachen und ihre Anmaßung zur Empörung bringt? Denn in Käuze deiner Art verliebt sich mancherlei – eine tiefe Melancholie, eine blanke Ironie und ein weich-kluges Gesicht, ein dichtes Haar, in dem man zausen kann und ein robuster Leib! Aber kannst du es vor dir verteidigen, geliebt zu werden? Bist du – klein genug, geliebt zu sein? Willst du wirklich in den Staub gezogen werden? Mit blutigen fleischigen Tatzen heraus aus deiner stolzen Einsamkeit?

Denn – Wasser auf deine Muckermühle – die Liebe ist der größte in den Staub Zieher, weil sie der gröbste Verwirklicher ist. Deine Gestalt, dein Haar, dein helles Auge, deine Stimme – oh deine Stimme! – das ist und ist in ihren Augen unbestreitbare unbezweifelbare Wirklichkeit. Aber du willst nicht wirklich sein, du willst nicht nur aus Knochen und Nerven und feiner Haut und einer lieben, ach! wie guten Seele bestehen, du magst nicht nur eine angenehme Umhüllung deines Geschlechtsapparates sein; denn du willst deine zu siebentausend Deutungen lockende Undefinierbarkeit heilig halten, heilig wie deine Einsamkeit! Einsam und rein! Und tapfer deine Fragwürdigkeit hochgehalten! Nicht in den Staub und die Wahrheit, in das schwüle Fleisch, in den üblen Geruch der Masse, nicht wirklich und plump wesenhaft, Frage und Fragwürdigkeit – meinthalb kokette – mußt du sein und leuchtender Abgrund – es muß dich empören, geliebt zu werden! – – Es erübrigt sich, daran zu erinnern, daß die Frau [] nicht uns liebt, sondern ihr irgendwie verlogenes, überliefertes, irgendwie aufgezwungenes Ideal des sie vollendenden anderen Geschlechts, dieses Ideal, in das sie das Wenige, das sie von uns weiß, d.i. das Nichts, das sie von uns weiß, notdürftig hinein preßt und lügt. Und wenn du ferner in Erwägung ziehst, daß die Frau, wie unnötig zu beweisen, in intellektueller Beziehung inferioris generis ist, sie ist ausgesottenster Philister und Spießbürgerin trotz ihres exaltierten Getues, trotz ihrer feinen Wildheit, trotz ihrer Unbezähmbarkeit, – ihre Liebe berührt dich nicht und du steigst von dir herab, um dich deinem Zerrbild anzunähern, um in eine Pfütze zu platzen; es muß dich empören, geliebt zu werden! – –

Als ich gewahr wurde, daß der Geschwätzige schwieg, sah ich, daß er neben mir auf einem Hügel lagerte, auf einer Hügelweide, deren Klee- und Thymianbewuchs würziger duftete als vor einem Jahr auf den Heiderücken Holsteins. Und je länger wir hier lagen, desto weiter rückte ich von der schnarchenden Masse fort, bis ich allein und abseits mich auf die braunen Zottelglieder meines Weggefährten bettete. In wirrem Durcheinander sind die Hügel und fichtendunklen Täler rings zur Ruhe gekommen, ein grüner Garten ungeheurer Maulwurfshaufen, zwischen denen die Sonne an blauen Seilen wie ein riesiges Kohlenbecken hängt – Licht in der ewigen Nacht. Aber ich bin dieses Lichtes, dieses Harz- und Klee- und schweren Thymianduftes müde und sehne mich in eine andere Welt. Die Welt hat tausend Seiten und sieben hundert Möglichkeiten anderer Perspektiven, ich möchte eine andere leben als die, in der ich Fremdling und einsamer Wanderer und ein irrender Abenteurer des Stolzes genug gewesen bin – wie bin ich müde! –

Still! und knurre nicht! Habe ich gesagt, daß ich den Dingen in Herz und Nieren sitzend eins mit ihnen mich fühlen möchte? Ich wollte nichts als nur für eine arme Stunde andere Augen und andere Sinne und einen anderen Raum und eine andere Zeit. –

Aber nach einer Weile lief mein Weggenosse wieder neben mir und verspottete mich meiner Feigheit wegen, die in meiner Verlassenheit zwischen der brennenden Sonne und den heißen Hügeln über mich gekommen war.

Er hat wohl recht – mich herzugeben für ein verbautes und wurmstichig erbärmliches Holzgestell, das ein Weib mit den Bändchen und Fähnchen ihres Ideals verbrämen wird, um es [] brünstig als ihren Popanz anzubeten! Und das nennt man nun – so ist eben alles vermiesquemt und verdreht. Soll man sich aber dessen stündlich bewußt sein und mit Pose seinen Fuß auf die Rücken von hundert erschlagenen Lügen stellen?

Siehst du! Aber man könnte auch auf diesen schillernden Lügen, wie auf seinen Trieben, reiten und auf ihnen mitten hinein ins Epikuraikum voltigieren. Aber dazu bist du zu dick und zu dumm, wer weiß? dazu bist du zu deutsch – das hilft dir nichts. Einsam, hart und stolz: du kannst nicht umhin und mußt den Stein protegieren; schreibe ein Sonett auf ihn, es lohnt sich schon, und darnach dadurch gondelst du langsam über ihn ins Nichts. –

Wie der Dampf aus den Nüstern eines Drachen quillt der Staub an der Spitze unseres Zuges hoch und bleibt hinter uns in einer gelben Wolke unbeweglich auf der Straße stehen, nachdem er dicke Krusten auf unsere Lippen gelegt und mit zähen körnigen Pflastern unsere Augen und Nasen verklebt hat –

ei warum? ei darum!
ei bloß wegen dem Tschingterassa bumbterassa – –

Und dann waren wir ins Quartier gekommen. –

Nun wird sich draußen der Himmel über mir wölben, kalt und stolz, und ich habe nichts, womit ich mich gegen ihn wehren könnte, als das, das ich in mir trage und dessen Namen ich nicht kenne und von dem ich nichts Anderes weiß, als daß es etwas unvergleichlich Tieferes und Stolzeres ist als alle Sonnen und Nachthimmel.

Einen Brunnen höre ich rauschen, wehmütig und in seiner glucksenden Wehmut sich genug, und die Straßen sind winkelig und eng, ihre Häuser weiß und bunt bemalt und von ihren Galerien und Erkern hängen blaue und rote Blumen zwischen dickem dunklen Grün. Wie winkelig diese Straßen sind und wie der Mondschein in ihnen Zickzack geht und von toten Tagen träumt!

Spuk und Traum. Wenn der Furchtbare unter uns wollte, daß dieses Alles, Gassen und Blumen und Himmel und Monde, verschwände, so würde er es fortwischen, wie wir unsere melancholischen Gedanken verscheuchen. Aber er will es noch nicht, er spielt noch ein wenig mit seinen Bildern und Winkelstraßen, lustig traurig – ein weißer Bajazzo.

Wie unnötig das ist, wie unnötig deine Lustigkeit, deine Traurigkeit [] und du selber, wie über die Maßen unnötig! Es liegt keine Nötigung vor, zu sein; denn sonst wärst du nicht der Eine stolze Bajazzo. – Wie doch das Ding an Sich und die Eindeutigkeit und Einheit der Welt in einen Narrenwitz ausläuft! Ein Ding kann nur immer dadurch bestehen, daß es durch ein anderes bedingt wird; denn »es hat seinen Grund in sich« heißt soviel wie: der Schnee ist weiß weil er weiß ist. Du mußt immer erst zwei sich bedingende, sich gegenseitig schaffende Welten setzen. Es sei denn, daß eine transzendente Kausalität anthropomorpher Unsinn ist, es sei denn, die Welt wäre zum Vergnügen da und zum Spaß, zur Freude wäre sie da und zum lachenden Wohlgefallen und zur Lust an sich. – Und daß du nicht schläfst! Daß du dein starres Auge immer weit aufgerissen hältst! Trägst du ein Leid und magst die Träume nicht und willst dich im ironischen Spiel, zu dem wir dir gerade gut genug sind, vergessen, dich – erlösen, armer Bajazzo?

Aber stückweise, als nähme eine Riesenhand gelassen Häuser und Straßen fort, verschwand der Mond und Spuk, und es war, als senkte mich wer an starken Tauen tief in den Brunnen des Nichts. – –

Nach einigen Stunden, nach einigen Sekunden, denn das Nichts und der Schlaf auf Mädchengliedern ist ohne Zeit, fand ich mich wieder auf einer steinigen Öde, auf der gruben abenteuerliche Wesen ein Grab. Sie knieten und gruben mit kurzen Spaten, und wenn sie sich erhoben, um den Schweiß von ihrer Stirn zu wischen, so waren ihre Gesichter alt und grau und voller Falten, voller Falten, die die Enttäuschung tagaus tagein und die endliche Hoffnungslosigkeit in sie geschnitten hatte. Und ihr Leib bestand aus nichts denn aus einem grünlich schillernden Magen mit verdoppelten oder verdreifachten Gliedmaßen und dem ins Groteske angeschwollenen Zeugungsapparat. Als sie aber das Grab so tief gegraben hatten, daß ein Kind sich in ihm hätte verbergen können, legten sie ihre Spaten beiseite und hinkten und humpelten schwerfällig fort und kehrten mit einem offenen Sarge zurück, in dem die Leiche eines riesigen Wurmes lag. Megascolides australis! murmelten sie und senkten ihn hinab und baten mich, die Grabrede zu sprechen. Und ich hielt damals jene Rede über den Regenwurm.

»Nein, ich meine nicht jenen speckweißen Darm, jenen mit tausend Mäulern, mit seiner ganzen Haut fressenden blinden tauben [] Schlauch, der in den eitergelben Hautgeschwüren des Rindes oder eines Rehbocks schmarotzt, um sich von dort aus schillernd wie angelaufener Stahl und leuchtend wie der unwirkliche Spuk des zerteilten Lichts zu Tänzen und Nektartränken und Liebesspielen in die Luft zu werfen, – das ist mir viel zu dumm – – das ist mir viel zu dumm, meine arme Seele!

Jedoch der Regenwurm, der erdefressende Wurm –! Oder dieser australische Riesenwurm? fettig und speckig und meterlang? Ja? Ja, meine arme Seele, mein flügellahmer flügelgebrochener Flug?

Dann laß dir sagen: du bist durchaus nicht die speckweiße Made, die ihre Hülle abstreift und ihr Eiterlager verläßt und sich als schimmernde Imago, als blauer seliger Sommerspuk in den Äther schwingt und Nektar trinkt und Lieder singt und Liebe pflegt, – du gleichst vielmehr dem Wurm, dem erdefressenden, und wenn dein Leib verfault, so frißt man deinen Leib und wirft dich wieder zurück in die Erde als Kot, du mühselig Erdefressender und ewig Gefressener.

Alle deine brennenden Abendröten und brausenden Sonnenaufgänge sind ein Erdefressen und ein schmerzliches Dich-hindurch-Wühlen durch widerstrebenden Staub; alle deine Fliegerstunden in den purpurnen Strudeln des Glücks und deine Nachtstunden zwischen den Sargbrettern deiner Einsamkeit sind ein Erdefressen und ein sehnsüchtiges Dich-empordrängen-Wollen an eine Oberfläche, die dir versagt ist, denn die Sonne würde dich verbrennen, und ein Untertauchen-Wollen in eine schweigende Tiefe, die dir versperrt ist, denn die diamantene Härte und heulende Einsamkeit des Steins würde deinen Leib zerdrücken; alle deine heroischen Überwindungen und knirschenden Entsagungen sind ein Erdefressen und eine an widerspenstigen Erdklumpen sich offenbarende Dyspepsis; und alle deine Paroxismen einer tiefgründigen Erkenntnis, alle deine Gott- und Unsterblichkeitshalluzinationen und alle deine kindischen Convulsionen vor den Toren des ewigen Rätsels sind ein Erdefressen und ein widerwillig überdrüssiges Betasten und Wiederkäuen des ewig Gefressenen und Ausgeschiedenen und wieder Gefressenen; Erde bist du, Erde frißt du, Erde wirst du bleiben ewiglich; und der Kot der gefressenen Erde, den du an die Oberfläche trägst und den deine Brüder im Wurme weiter fressen, das sind deine Bücher, deine klugen Bücher – –

[] Hoppla, stelle dich auf den Kopf und – tanze, meine liebe Seele! –«

Hoppla, stelle dich auf den Kopf und tanze, meine liebe Seele! murmelten sie und schaufelten die Erde in das Grab und machten dann zusamt einen Sprung, daß sie alle auf den Kopf zu stehen kamen. Und so begannen sie mit ihrem Kopf die aufgeschüttete Erde festzustampfen. Dabei wurden ihre Sprünge höher und höher und es sah am Ende wohl aus, als tanze über dem Grabhügel ein Schwarm abenteuerlicher Riesenmücken – wie man an Sommerabenden, wenn nach einem Regen die Sonne noch einmal scheinen will, die Mückenschwärme an den Wegrändern tanzen sieht.

Dann fiel ich zurück ins Nichts. –

Als ich des Morgens aufwachte, sah ich, daß ich unter einem Heiligenbild geschlafen hatte, einer Mutter Gottes und unter ihrem brennenden Herzen.

Da schüttelte ich eilends Traum und Spuk von mir und trank mit vollen Lungen die Morgenluft, die herb und klar unter dem golddunstigen Himmel lag.

Berberitzen

Der Tag war hell und heiß gewesen, jetzt lag ich in einem Bach nackt und kühl und ließ seine Wellen über mich springen. Forellen lebten in ihm und neben ihm standen die Erlenstämme vornehmgrau und rotbeerige Berberitzengebüsche; vom hohen Ufer aber breitete eine Eschenreihe hoch und weitausgreifend ihre Zweige über uns. Die Sonne hängt noch hoch und tastet zwischen den Blätterlücken hindurch mit zitternden Händen über mich und die springenden Wellen und die eisenbraunen Kiesel – eisenbraun: es werden Sphagnummoose oben zwischen den Bergen wachsen – die hundert Berberitzentrauben aber streichelt sie, daß sie durchscheinend werden wie rotes Glas oder längliche Tropfen ganz hellen Blutes – diese säuerlich kühlenden Blutstropfen! diese feine Vogelspeise!

Ich bin allein und die Leute sind fort, auch der Tornister liegt oben und macht ein verdrießliches Gesicht, ich bin allein zwischen Blättern und Früchten und Kieselsteinen und kalten Wellen, die da hinten aus einem Moos zwischen den Bergen kommen. [] Oben auf der Höhe aber mitten in der Sonne sind die Feldküchen angelangt und rauchen und lassen von einem verspäteten Vormittagswind ihren schweren Speisegeruch in mein zärtliches Tal tragen, für einen Augenblick nur, dann stirbt der Wind – Bierfässer werden angefahren und mit hohlen Hammerschlägen angezapft, auf einem anderen Biwakhügel aber spielen sie Märsche und Operettengefühle – daß sie nicht in dir allein sein können und dich kostend genießen! daß sie immer schnell – als hätten sie Angst, als hätten sie Furcht vor deiner smaragdenen Zärtlichkeit – eine Mauer um sich bauen! eine Mauer von Wurst und Bier und Tschingteramusik!

Als die Sonne hinter die hohen Eschen hinabgeglitten war, begann über den Bach hin zwischen den grauen Erlenstämmen und gelbrindigen Berberitzen der schlanke Stock eines Weidenröschens zu leuchten, still, rot, eine kluge Flamme. Es ist ganz still – eine Forelle schießt über mich und schnellt sich von meiner Brust so ungestüm hoch, daß die Luft und die Erlen, wir alle jäh erschrecken. –

Und als der Schrecken verstummt und in sich wieder versunken war und es abermals begann, zwischen uns still und heimlich zu werden und sich aus großen, zärtlichen Augen anzusehen, flüchtete ich und habe mich angekleidet und bin den Hang hinaufgeklettert, bin vorsichtig und fremd zwischen den schlafenden Leuten hindurch gegangen und habe mich abseits unter einer Fichte hingelegt, deren Nadeln und strähnige Flechten Winters und Sommers nach den Bergen sehn.

Ihr seid anders als das Meer und ich vermag euch nicht zu lieben. Ich mag euch wohl nicht lieben, weil ich nicht wie ihr werden kann, hart, fern und kühl ihr meine leibgewordenen Sehnsüchte! Wie ihr euch hinter den sonnennachmittagsmüden Berberlöwen aufbaut, ihr blauen Steinleiber und weißen Schneegreisenköpfe – aber das Meer ist immer jung und wogt ruhelos, ewig verlangend, ewig geschlagen, voll von Schaumstandarten und brausendem Zorn – und wenn die Sonne auf dir liegt und die Winde sich brausend verlaufen haben, voll glatter tückischer Träume, das schäumend schöne Weib, ohne Seele und voll seliger Sehnsüchte – ihr seid anders als das Meer und ich hasse euch, weil ich noch nicht ganz bin wie ihr. Nun aber spielt die rote Sonne auf eurem Schnee, es wird Abend auch für euch und ihr fangt an, eures harten Stolzes müde zu werden – wie ihr träumt [] und Wünsche werdet! verlangende, in alle Fernen weisende, wieder junge immer junge Wünsche! Nun liebe ich euch. Aber der Abend geht und läßt euch stehen wie blaue Schatten und gläserne Unwirklichkeiten. Jetzt hüllt ihr euch frierend in eure Wolkenwatte und die Nacht, der Mond und der Spuk ist wieder Herr geworden.

Nun liegt der Tornister in Reih und Glied und friert und friert und schauert unter dem Tau, den die müde Luft vor lauter Müdigkeit und Überdruß weinen zu müssen glaubt, während die vier Feuer immer wieder dicke rote Kleckse auf die Flechten und Fichten und Zelte werfen. Der Mond aber flieht vor dem Qualm und Rauch, den sie hastig in grauen Kugeln und weißen wulstigen Miniaturkumuluswolken aufzuwerfen nicht müde werden, und spielt mit sauertöpfischer Melancholie in den Nebellagern, die sich unten auf der Ebene aufgestapelt haben, zieht lange Bänder und Spiralen aus ihnen, baut himmelhohe hagere Klageweiber und kopfwackelnde Greise aus ihnen, hält sie eine Weile hoch und grinst dazu und läßt sie gedankenlos fallen, um bald das nutzlose Spiel wieder zu beginnen.

Ach! du holder Spuk und grinsende über dich selber witzelnde Sinnlosigkeit, ach! du unnötiger wahnsinniger weißer Gedankenjongleur und Planetenspinner! Wenn du mich einmal deine ganze säuerliche Süße und Vogelfeinheit hast kosten lassen, so mußt du mich ja schnell wieder zurückziehen in Qualm und Spuk und Nebelfeuchtigkeit. Nun möchte ich mich auch in Wolkenwatte hüllen und eine Zeit lang ferne sein können – den Tag über Stolz und am Abend ein wenig Müdigkeit – – ich will mich auch in mich senken und nur auf meinem Mantel soll der Mond und die Flamme und die feuchte Kälte spielen. – – und als ich sah, daß Gott wahrhaftig tot sei und der Stoff und das Ding an sich und das Ureine und die definitiven Wahrheiten, und wie alle die Verwesungsdünste und Schatten des toten Gottes heißen mögen, eben nur Schatten und Verwesungsdünste seien, und daß das Einzige, was wir können, nur das ist: uns des ewig Relativen und Sprachbedingten unserer Erkenntnis bewußt zu bleiben und diese Erkenntnis von allem, so kurz und weit es geht, zu reinigen, was wir als fälschende, anthropomorphisierende, Zutat früherer Zeitalter erkannt haben, fiel ich heraus aus eurer Welt und wies traurig zynisch auf eure Mäntelchen und Mätzchen, auf unsere lustig windbeutelnden Weisheiten hin. Da fingen die Weiber an, [] mir nachzulaufen – weiß Gott, warum? – und die Frauen begannen mich zu »lieben«, und ich ließ es eine faule lange Weile mir wohl unter ihnen sein; ich belog mich wohl und nannte sie einen schönen schweren Rausch, in dem ich die Fragwürdigkeit meiner Welt – denn eure Welt ist fest! –, die ich nicht glaubte ertragen zu können, vergäße. Nebenbei liebte ich sie als das unverhüllteste Tier gegenüber unserer erbärmlichen Manns-Kultur-Verkleidung und krüppelhaften Feigheit. Denn ich habe nie das Leben an sich verneint, dazu verlange ich zu wenig von ihm, dazu kenne ich zu wenig eine Hinterwelt und ein künftiges Leben, dazu bin ich zu wenig Pfaff und schmollendes Kind, dazu wissen wir zu wenig von ihm, dazu – bin ich zu gesund. Aber am Ende wurde mir dieser Rausch, wie es die Art der Räusche ist, zuwider und ich glaubte, einen feineren und tieferen in der Kunst gefunden zu haben. Und ich berauschte mich an ihr und ich verrannte mich mit ihr und verlor mich wollüstig in dem Selbstgenuß und Wahn, totem Stein und toten Worten Leben und, wie ich glaubte, tiefen Sinn und über die Erfahrung hinausreichende Bedeutung geben zu können, bis ich erkannte, daß meine Stanzen und Berberlöwen an sich wertlose, durchaus nicht in das »Wesen der Dinge«, dessen erstrebenswerte Findbarkeit trotz seiner Entlarvung als Spuk immer noch in mir fortspukte, hineindringende, durchaus nicht die Sinnenerfahrung und deren logische Verarbeitung überfliegende Übermenschlichkeiten, sondern ganz individuelle Erzeugnisse einer ebenso individuellen seelischen Erkrankung seien. Ich sah ein, daß ich die Fähigkeit, die mich bestürmenden Eindrücke mir restlos zu assimilieren, verloren, vielleicht auch nie besessen hatte, so daß sie als Fremdkörper in mir liegen blieben, bis ich die mir wesensfremden und mich quälenden »künstlerisch« ausgeschieden hatte – Sekretionen einer dyspeptischen Seele, Notwendigkeiten und Selbstoperationen eines erkrankten Organismus. Der Sturz schmerzte und hier zum ersten Male schämte ich mich, und ich zerschlug meine Berberlöwenköpfe und grinsenden Sphinxe und zerriß meine Stanzen und Prometheusverse – –

»Was blieb mir noch zurück? Ein Herz müde und frech; ein unsteter Wille; Flatter-Flügel; ein zerbrochenes Rückgrat – – oh ewiges – Umsonst!«

Aber ich bin nun für alle Zeit jedes Wahnes und jedes Rausches müde, ich will endlich frei und rein und ganz gewollt einsam sein und dem Furchtbaren, denn das Leben ist etwas über [] alle Maßen Furchtbares, furchtlos in die Augen sehen und es immer mehr umhämmern zu einem willfährigen Objekt meiner Lust – nicht eines »uninteressierten« Erkennens, nicht einer größenwahnsinnigen Kunst.

Aber deswegen muß ich zurück in die Stadt, in ihre tausend Verführungen zum Rausch, ihre alles übertosen wollenden brausenden Massenwiegenlieder, ihre tausend stürmenden Liebeslokkungen; denn die Einsamkeit zwischen Mondspuk und Schnee ist ein wohlfeiler Stolz und ein leichtes Genießen, sie kann sich ihrer selber noch nicht ganz sicher sein – wir wollen uns beide erst auf die Probe stellen, ich und meine tapfere Einsamkeit, und mitten hinein in die Versuchung springen, unseren Weg unbekümmert gehen, geradewegs ins Furchtbare hinein, zwischen Not und Seligkeit und Wahnsinn mitten durch.

Mein kleines Lieb – ich warnte dich und deine Freunde warnten dich, aber du wolltest mich trotzdem lieben, du liebtest mich wohl gerade meiner Warnung wegen. Deine kleine Seele ward voll von mir, ich rauschte in deinem Blut und wie klug du warst, als du batest, nur in dir das Tier zu sehen, das – so – hungrig! sei. Aber du sollst von nun an genug geküßt haben, du sollst von nun an genug in meinem Arm wie ein verbranntes Blatt schauernd zusammengebrochen sein – genug! mein Kobold. Der Wagen braust, ein Knirschen, ein kleiner weher Schrei – jetzt braust er in brennende Sonnen und eisige Unsterblichkeiten. –

Still! still! – die Nacht ist kühl und das Feuer erlosch und der Tornister in Reih und Glied friert und friert. Die Sterne mögen nicht scheinen und der Mond fiel schon lange irgendwo hinten zwischen die Berge – aus den Tälern aber ist der Nebel hochgekrochen und liegt schwer auf uns mit seinem feuchten Leib – es ist kalt, grimmig kalt. Und nach acht Stunden – denn soeben krähte schon irgendwo ein Hahn – wird die Sonne durch den blauen Himmel wie durch ein Brennglas auf uns glühen. Still! still – die Nacht ist still – – –

Intermezzo

Ich gleite über einer Tiefe, die so klar und zärtlich grün ist, daß das Verlangen, in sie hinab zu stürzen, zu einer schmerzlichen [] Qual wird, und deren Oberfläche so blaßblau opalisiert wie leidende Kampanulazeen und so rotviolett wie kleine sehnsüchtige Enziane und so grünlich gelb wie der Himmel über den Winterabendröten zu der Stunde, wenn der traurige Abendstern zu scheinen beginnt; die Höhen aber auf den Ufern dieses Sees, in dem ein König ertrank, des Namens eines Königs wert, leuchten unter der müden Herbstsonne in gelbem und rotem Laub und strecken sich in schwarzem Fichtensamt und braunen Eichenblättern, sie haben sich Leopardenfelle übergezogen, zwischen denen der See wie eine Perlmutterschale ruht.

Der Wind der Höhe bläst um mich unruhig und stolz und über mir kleben die Legföhren an den weißgrauen Klippen des Wendelsteins wie Samt und dunkles Moos, aber in weißer blendender Unwirklichkeit, ein erstarrtes seliges Meer von Eis – oh ich sehe den Menschen, der der gottlose Gott der Erde geworden ist, dort unten aus der Ebene, aus deren Rauch und bunten Städtemosaiken auch ich heraufstieg, auf brausenden Flügeln Steine und köstliches Bauwerk auf euch tragen, um auf euch seine Horste aufzuschlagen, von denen er des Morgens aufsteigt und zu denen er des Abends zurückkehrt beuteschwer an Lämmerfleisch und Wein und blonden Frauen. Aber der müde Rausch der Schönheit und der stolze der Macht sind nur Vorberge und kleine Versuchungen und niedere Ruhestiegen zu der rauschlosen Reinheit, zu der mein Wagen weiter donnert.

Die Stadt und der Wahnsinn

Lebewohl! mein zottiger Weggenosse! Vierzehn Tage hocktest du auf meinem Rücken und sprangst, wenn wir unser beider Last und Langerweile müde waren, fröhlich herunter, um neben mir deine Sprüchlein zu machen wie ein näselnder Phonograph. Durch stille Schluchten und über feuchtes Moos, über Moore entlang an giftigen Teichen, auf weißen Staubstraßenschlangen und unter glühenden Sonnenkohlenbecken, unter klatschenden Regenwolkeneimern und unter schweigsamen Mondspukspiegeln marschiertest du tapfer neben mir – das Manöver ist aus und die Kette der Vergewaltigung tat einen Riß und du wirst wieder, [] nachdem der Geist dich trug, auf fleischernen Rücken hocken, bleiern und faul und ewig gelangweilt und zu deiner ledernen Realität verdammt. Lebewohl, du zottiger Phonograph, du schwätzendes Nichts und unwirkliche Beziehung zwischen malträtierten Muskeln und einem Rinderlederranzen! Lebewohl – – –

Auf den Schotterflächen, den Kiesen, die die Schmelzwasser der Gletscher liegen ließen, hat sich der steinerne Krake hingelegt und läßt seine Augen hungrig in den Himmel glühen und seinen zornigen Atem brausen, seine rauchenden Nüstern schwärzen die Nacht, seine Arme aber hat er breit über Land gelegt und sie mit blitzenden Lichtern und ewig gefräßigen Mäulern gespickt, seine eisernen Fühlhörner laufen über die Gebirge und kriechen unter die Meere, er frißt das Land und sein Unrat verpestet die Flüsse, aber sein Magen ist nie gefüllt und seine Lungen sind krank und eng und vergilben im frühen Sommer schon, Asphalt und Stein ist sein Fleisch und seine Knochen gehämmertes Eisen, träge und glühend in der Sonne und schwarz und schmutzig und voll grimmiger Melancholie im Regen, ewig fressend, ewig hungrig, er kaut sich ewig wieder, er lebt im ewigen Inzest, er gebärt stündlich und empfängt in jeder Stunde neu und seine Seele ist die des Tiers, eines hungrigen brünstigen Wolfes, eines abertausendköpfigen, eines abertausend verlangenden, sich wütend widerstrebenden, sich brutal zerfleischenden wolfstollen Wolfs, ein brausender brodelnder Kessel voll von brüllenden, sich ruhlos zerreißenden und auseinanderfahrenden, sich ruhlos wieder vereinigenden in ungeheuren Blasen aufplatzenden und überschäumenden Begierden – Wollust und Brot! Er schreit es am Morgen und Abend und Mittags und Mitternachts und schreit es allerorts in jedem Eisennerv und jeder Asphaltzelle, und wenn er sich im Ekel vor ihrer Gier und Allgegenwart am Morgen erbricht und vor ihrem Fluch Betäubung und Rettung sucht in blutigen Wahnbildern und roten Träumen – ach! diese drohenden Wahnbilder und gaukelnden Träume sind keine sorglos fürsorglichen Götter und hehre Unbekümmerte, sie sind von ihm selber aufgebaut, um ihn selber weiter zu hetzen nach Brot und Brunst! – so tut er es nur, um am Mittag wieder von neuem rasend aufzubrüllen, und wenn er sich des Abends schlafen legt, so tut er es nur, um Kraft zu sammeln zu neuen Hunger-und Begattungsschreien – ah! diese zusammengepreßt gierige, sich vor sich selber ekelnde, von sich selber ruhlos besinnungslos durch die Tage gepeitschte Masse! Mit dem [] Stein, den sie in ihre Adern stampft, mit dem Eisenstück, durch das sie ihre Knochen stützt, dient sie letzten Grundes ihren zwei Teufeln, die ihre Seele umbrausen und ihr langsam den Wahnsinn einblasen, sie zu stillen, sie zu befriedigen und hinzuhalten, sie zu verkleiden und zu verschönern, es ist kein Ding in ihr, kein Stein, kein Ziegel, kein Wagen, kein Pferd, kein Altar und klingendes Instrument, kein Hund, keine Blume und plärrender Papagei, kein Teppich, kein Sessel und Stuhl, kein Wort wird gesprochen, kein Fluch gebrüllt, kein Messer geschwungen und kein Gift gemischt, keine Wahrheit zerstampft und keine Lüge strahlend ausposaunt, keine Litanei wird gelesen und keine Zote gespien, kein Mikroskop präzisiert und keine Säge gefeilt, kein Dom gebaut und kein Museum gegründet, kein Glas geschliffen und kein Skalpell geführt, kein Bild gemalt, kein Hammer geschwungen, keine Nadel geführt, keine Uhr schlägt die Stunde, keine Peitsche knallt, keine Trambahn lärmt, kein Schlagball fliegt, keine Geige klingt, keine Flöte klagt, kein Flugzeug durchbraust die Luft und stürzt zerkracht aufs Land, kein Dampfer durchfurcht den Ozean und fährt brennend in Grund, der nicht letzten Grundes dem Hunger diente, der Liebe frönte, und keine Feder wird geführt und keine Tinte vergossen – trolle dich, purzele dich, stelle dich auf den Kopf, denn die Komödie der Komödien beginnt! Auf den Schotterflächen, den Kiesen, die die Schmelzwasser der Gletscher liegen ließen, hat sich der steinerne Krake hingelegt und läßt seinen zornigen Atem brausen, seine Arme aber hat er breit über Land gelegt und seine Fühlhörner laufen über die Gebirge und kriechen unter die Meere – schlaftrunken kommt der Wind dahergetaumelt, aber entsetzt fährt er hoch und flieht und flüchtet und beginnt selber singend zu brausen, der Himmelshund, und trägt den Schrei des Riesen drohend in das Land.

Seine Arme aber hat er breit über Land gelegt und sie mit blitzenden Lichtern und ewig gefräßigen Mäulern gespickt, fauchend verschluckt er mich, polternd rasselnd dröhnend reißt er mich in sich mit Gestampf und speit mich unter Qualm und Licht und Lärm in seinen Eisenmagen wieder aus – –

und auf dem Bahnhof empfing mich meine Geliebte- wild, fiebernd, ein schönes Tier. Und heute, nach sieben Tagen, da draußen der rote Nebel glüht und brüllt, sitze ich still auf meinem Zimmer, mitten im Herz des Kraken schreibe ich an diesem [] Buch; groß und steil, neunundfünfzig Bogen schrieb ich voll, ich werde anfangen müssen, kleiner zu schreiben, ganz klein – wie die Schlote und Kirchtürme vom Berge aus gesehen; und der Tabakrauch, den ich in zitternden Ringschleiern über sie blase, sind Wolken, die aus den Schluchten der Berge kommen, und meine Stirne der Berg im Vorland, um den sie sich scharen; so stehe ich auf mir und schaue ins Land, auf den Monolog eines langsam – mente captus!

Mein enges Zimmer ist voll von Rauch und voll brütender Melancholie, auf Schränken und Bänken und wurmstichigen Regalen verschlafen meine Bücher die Zeit, meine klugen Bücher die ewig strömende Zeit –

noch kommt mit der Unsterblichkeit gepaart
die Zukunft ewig strömend zu mir her
und schafft auf ihrem unbewegten Meer
in mir den Wellenschaum der Gegenwart:
sie prallt in unergründlich schneller Fahrt
aufgischtend an an meiner Seele Wehr
und bricht durch mich in einem Sturze, der
schon als Vergangenheit sich offenbart.
Bis eines Tages sich der Schaum zerstreut
und meiner Seele Balkenwerk zerfällt –
und Strom ist nicht mehr Strom, still steht die Zeit:
fort strömt die Zeit und trägt die tote Welt
auf ungeteilter Flut zur Ewigkeit,
wo sie mit ihrer Last als Wort zerschellt.

Das strömende Nichts! Ich könnte ihm und meinen klug verschlafenen Büchern eine Nase drehen und als Don Juan endigen, wie's sich gehört. Es ist nicht weit, sie schläft mit mir Wand an Wand; nachdem sie den Tag über einem abgenutzten Gelehrten Romane hat vorlesen müssen, Pariser, Münchener Kitsch, hat sie ihr Haar geöffnet und reckt und dehnt ihre nackten Glieder und öffnet die Schenkel und schleudert mit einem Male wie besessen die Kissen herab und – wie kühl die Luft ist! Aber sie ist nicht [] immer so; es ist dunstig heute und still und der Krake hat seinen Tag, an dem es nebelt und der Ekel vom Himmel fällt; dann hat sie ihre Stunde, in der sie die Haare in Zöpfen flicht, im weißen Nachtkleid unter hohen Plumeaus liegt und Thee mit spitzen Lippen trinkt und dazu Niels Lyhne liest. Sie hört, wie durch den dicken Nebel hinten im Wald die Blätter fallen, und wenn sie das denkt, durch den die letzten Blätter taumeln, schmiegt sie sich in die Kissen und sieht aus klugen Augen nach der Tür, die sich doch gleich öffnen muß.

Wie derart ein zur Kunst und Liebeskunst destillierter Massentrieb ein Leben, das sich sonst längst fortgeworfen hätte, schwebend tragen kann! Und nun muß er ganz ausbrennen in ihr und sich nicht um den Leib kümmern, auch wenn er schon morsch und häßlich geworden ist: sie zwingt ihn durch und will ihn lieben und geliebt. Und erlischt ihre Liebe endlich, so bricht ihr Leib und Leben wie ein des Gerüstes beraubter Bau kopfüber zusammen. Was liebt sie nur? Sie las ein Buch von mir, das fraß sich in sie und wie ein roter Strom überschwemmte und zerbrach ihre Liebe zu sich und ihr Mut zu sich die zeternde Moral und so kam sie zu mir geflogen und liebt den mürrischen Skribifax einer Erkenntnis- und Liebesgeschichte, einen Dichter, wie der Pöbel sagt, in Wahrheit einen, der sich gegen den Dichter und metaphysischen Sonder-Größenwahn mit allen Sophismen und hohnvollen Enthüllungen sträubt und mit allem Ekel, dessen der Einsame gegenüber dem Geruch der affeneitlen und lohnarbeitenden Masse fähig ist, und der nun bald – mente captus!

Aber die Tür öffnet sich nicht mehr und mit dem Don Juan soll es nun aus sein; denn ich habe in mir seine Vorstufe und seine Bedingung, den Faust mit seiner Dann mußt du dich berauschen! Tendenz totschlagen müssen – es schickt sich nicht mehr, es gehört sich nicht mehr, nach den imaginären Brüsten der Natur und, da man sie nicht zu finden weiß, nach den derberen der Wirklichkeit zu angeln; wir wollen doch keinen Abschluß sehen und eine Lösung, eine Lösung ist uns viel zu dumm und mit ihr müßte der Faust zum Pfaffen werden. Oh da liegt sie draußen, die Welt und bunte Schale, wie wir sie nennen und lügen, um einmal vor ewiger Langerweile zu hujahnen, und zum andern vor Hunger und brünstiger Not zu brüllen, aber Tag um Tag, einmal an jedem Tage zündet sie ihre verfluchte Schönheit an und wird dünn und durchsichtig und unwirklich wie Glas, daß [] man ihre Abgründe und die Quellen ihrer Abgründe rauschen zu hören glaubt – ich will nicht mehr in sie hinaus, sie macht mich taumeln und ganz verrückt!

Aber wenn du auch über den Dächern flatterst und aus grasgrünen Augen auf die goldne Stunde lauerst, in der du dich mit dem Furchtbaren vereinigst, das in mir wie ein Kolben bis an die Hirnschale hochstoßen und sie durchbrechen und aus mir als ein Riesenschirm wachsen möchte, unter dessen Schatten die Welt mit einem Ruck ihr Inneres nach Außen stülpt und kreischend die Logik und Vernunft der Oberflächen mit Schellenstöcken aus dem Lande jagt, um an ihre Stelle die Willkür und das Grauen zu setzen, ich presse dich immer wieder zurück und blase deine feuchten Flügel ewig wieder fort!

Das einzige Symptom ist aber meine Gedächtnisschwäche, zumal die Dinge von gestern haben sich nicht eingraben mögen und wollen sich nicht wieder einfangen lassen – ich bin wohl überanstrengt und durch zuviele Gefühle getaumelt und beobachte mein Taumeln zuviel; es wird eine fixe Idee sein, ein Leserückbleibsel, eine zu kraß geratene Vorstellung, die sich mit ihren Widerhaken an meiner Gedächtnisschwäche verfangen hat, wer weiß? nur eine abstruse Eitelkeit – ich werde sie mir vom Leibe schreiben und im Frühjahr will ich ins Gebirge fahren.

Und sollte das Schauerliche doch kommen, so will ich es als eine Laune des Glücks bezeichnen, die Welt auch von der Seite hemmungsloser, alltagsvernunftbefreiter Willkür erleben zu dürfen – oh! ich habe Mut und mag auf dieses Meer endloser Haschisch- und Opiumräusche schon meine weißen Segel hissen, auch wenn es endlos ist, auch wenn seine Winde und Ströme einem ungeheuren Strudel angehören, dessen brüllender Trichter mich schließlich verschluckt. Klingende Morgenröten, brennende Sonnenuntergänge, stahlblaue Mittagshimmelsglocken mit allem blutroten Spuk müssen über diesem Meere wandeln – ich habe von der strahlenden Euphorie, dem jubelnden Optimismus der Paralytiker gehört.

Aber die endliche Gewißheit muß mich doch durchschlagen, daß ich in einem Blick alle Wollüste und Schrecken des Wahnsinns durchjagen und mich gegen ihn bäumen werde, daß ich über ihn springe, hussa! über ihn setze und mit einem Satz wieder Mensch unter Menschen bin.

Wohl weiß ich, daß der Leib des Paralytikers verfällt und verfault, [] wohl kenne ich das »langsame aber stetige Schwinden des Intellekts«, aber ich lasse nicht von meinem Geist, ich halte ihn fest, ich reite auf ihm und zwinge ihn und seinen Knecht durch!

Trotzdem, trotzalledem, ich will mich auf die Stunde rüsten und mich wohl wappnen; ich will hart an mich halten und meine blauen Flügel schon stutzen; ich will nur von Tatsachen schreiben und solchen Tatsachen, wie ihr sie seht, klein, wahr, eng, ohne Mund und ohne Augen und ohne winkende Finger in die Unendlichkeit und in das Nichts, ich will ihr süßes Klettentum und ihre tapfere Unwahrheit und ihr spöttisches: Ja, was willst du nur? nicht sehen, ach! ich möchte schreiben können wie ihr, trocken und ewig ledern und ohne Klang und ohne Jagd und ohne Zittern und ohne Sprung! aber in dem bedachtsamen Zeitmaße eures Schneckenganges und in der klanglosen Langenweile eurer engbrüstigen Perioden. Und wenn ich mich selbst betrachte und von dem schreibe, was ich in mir vorgehen sehe, oder zu sehen glaube, so soll es sein, als ob einer eurer medizinischen Automaten schriebe; ich lebe von Früchten, ich trinke Wasser und verschmähe Wein und Weib, ich hoffe nichts, um nicht die zerrüttenden Stürze der Enttäuschung zu tun, ich halte in Allem an mich kühl und kalt, wir wollen schon durchlaufen durch diesen Nebel und im Frühjahr, im Frühling auf unser Haupt Schnee und Sonne streuen. –

Ich wohne in Schwabing an einer asphaltierten Straße im vierten Stock, ich habe den Blick über die Stadt und sehe alleinsamabendlich, wie sich aus braunem Dunst die Doppelturmbrüste der Frauenkirche in den grünen Himmel blähen, und ahne hinter ihm das Brennen und Gleißen des Gebirgs, und der Mann, dessen Frau mir dieses Zimmer vermietet hat, nennt sich Journalist. Und ein Journalist – – –. Und daß es ihnen insgesamt nur darauf ankommt, zu schreiben und Worte zu vomieren nach einem allgemeinen Wir halten fest und feig zusammen! Innungsrülpskomment, ersehen wir daraus, daß sie sich wie die Gassenköter gegen einen raren Windhund unisono gegen den verschwören, der schreibt, weil er etwas hat, über das er in eigener Sprache schreiben kann. Zumeist sind sie verfluchte Juden, aufgeblähte Nullitäten allzusamt und nennen sich gerne das geistige Deutschland und die Vertreter der führenden Presse; ein rechter Mann muß sie verachten und darf nur über sie reden, als wenn sie Buben wären und er den Bakel führte.

[] Nachzutragen habe ich, daß sie eine kleine Blender-Glanzzeit haben, aber schnell ist ihr einer Gedanke, vielmehr die eigenartige Färbung und einseitige Betonung, die der gestohlene und kastrierte in ihnen annahm, zu Tode gehetzt und –

und ein solcher Kläffer, der sich selbst zu Tode kläffte, war der Mann, der faul und mürrischen Gesichts seinen Spitzbauch durch die Zimmer trug. Schon verbohrt genug in den blanken Blödsinn des Wahren, Guten und reinen Schönen war er in den Schoß einer alma mater, als in die eigentliche Brutstätte solchen Dunstes, gekrochen, hatte sich da und dort strebend bemüht umgetrieben und auch sein kurzes Senkblei in die bekannten Abgründe rollen lassen und wirklich schmerzlich staunend gefühlt, daß hier Abgründe vorhanden waren. Aber über dem Staunen am Rand dieser heulenden Grundlosigkeiten hatte er die Zeit versäumt, in der ein Kopf seines Gelichters entschlossen die Augen zumachen und die Ohren mit hartem Werg verstopfen muß; so konnte er sich nicht mehr sammeln und er war zu ehrlich und auch zu indifferent, sich zu einem äußerlichen Oberlehrerabschluß aufzureißen. Dann las er Nietzsche und der verdarb ihn ganz. Denn er hatte nicht so viel Einsicht, um seine nach dieser Lektüre heftig aufschießende Schreibeseligkeit als ein Schaffen nur aus Oppositionsdrang eines, wenn auch nicht ganz unselbständigen, so doch ganz inferioren Geistes zu erkennen. Er sah nicht ein, daß sein Schreiben nur ein Akt der Selbstverteidigung gegenüber einer erdrückend blendenden Gewalt war, sondern hielt es für ein Zeugnis eigener eigenartiger und ausreichender Begabung, die – wie man so schwätzt – in sich neue Werte fühlt und aus sich neue Werte schafft. Ihn reizte, wie die meisten und allermeisten, die Form und bunte Geistreichigkeit, während er taub und blind blieb gegenüber der Leidenschaft und dem erlösenden Ziel, während er ohne Bedürfnis war nach einem erlösenden Ziel; er blieb Litterat und gehört somit zu dem Gesindel, das ich nach dem Malergesindel am radikalsten verachte. So schrieb er einige Essays über allerhand, gute Freunde – sintemalen er ein angenehmer Freund am Biertisch war – lanzierten sie und so erwarb er sich als geist- und hoffnungsreicher Schriftsteller die Liebe einer klugen Frau, die reich war.

Aber diese Essays über allerhand blieben eben einige, denn bald hatte er seinen einen Gedanken, den des übertriebenen und hemmenden Historizismus, der der Grund und der fortschrittlich [] affektvolle Ausklang seiner blendenden Kritiken war, zu Tode geschrieben. Es war sein Pech, daß er klug genug war, dieses armselige zu Tode Treiben als solches zu erkennen, und so warf er nach einem Jahr seine kritische Feuilletonfeder in die Ecke und lebte von dem Gelde seiner Frau.

Und als das Geld auf Reisen und so weiter ausgehen wollte, kaufte seine Frau ein Haus, in dem sie möblierte Zimmer vermietete, an Studenten und Litteratenvolk vermietete sie und erzog ihre Kinder. Und er sah zu; und kam sich so überflüssig vor bei dem Vermieten, der Erziehung, den Haushaltungssorgen und dem täglichen Rechnen – und die Zeitung, das Essen, das Leben, der Tag, das hängt einem ja zum Halse heraus! Und ein Dienstmädchen, das er aus Verzweiflung attackierte und in Faulheit beschlief, kam glücklich in Wochen. Da begann er seine Frau zu hassen und stöhnte: wie glücklich wär ich, wenn ich allein lebte und könnte die Straßen fegen! – Geh! – Aber da zerdrückte er eine Träne und sprach von seiner Vaterliebe. Aber am ersten Juli werde ich gehen. – Und am ersten Juli verschwand er für einen Tag und kam am nächsten wieder. Hier, kauf dir eine neue Krawatte; wie siehst du aus! So ließ sie ihn stehen und weiter muffen und betrog ihn gesund und mit gutem Gewissen und erzog ihre Kinder. Und dann kam eines Tages jenes Mädchen zu ihr geflogen, meine Geliebte, die am Tage einem abgenutzten Gelehrten Romane vorliest, Pariser, Berliner Kitsch, und des Nachts ihre nackten Glieder dehnt und reckt und mit einem Male wie besessen die Kissen von sich wirft –. Aber sie ist nicht immer so; wenn der Nebel draußen liegt und es still ist – es ist furchtbar still, so still wie nur einer stille sein kann, der vor dem Fenster steht und lauert! In dieser Stille aber hängt der Nebel wie eine glühende Kugel und brüllt – aus vollem Halse, tausendstimmig: mente captus! mente captus! hei is verrückt! –

Nachdem ich für eine Weile hinunter in die Stille flatternd mit Arm und Bein gestürzt war, habe ich über den Tod gedacht und überlegt, ob ich mich nicht bald töten müßte. Denn in drei Tagen hebt mein neunundzwanzigstes Jahr an – dreißig Jahre! – – darum muß man an den Selbstmord denken, ob es nicht bald Zeit wird. Denn ich will ganz Herr über mich sein und meinen Faden abschneiden wann ich will und nicht, wann es jenem Lehmkloß beliebt, der mich aufwarf wie das Wasser aus seiner morastigen Tiefe Blasen wirft. Aber ich war mehr bei meinen Freunden, bei[] den Menschen, die mich kennen, – wie sie sich wohl geben und was sie wohl sagen würden, wenn ich nicht mehr da wäre. Die Eitelkeit fliegt über den Tod, sie ist unsterblich und sieht aus wie ich, denn ich bin der eitelste Mensch, einer der am bewußtesten schreibt und am affektiertesten seine Sätze baut, einer der immer sich selber zuhört und nicht müde werden mag, nach dem Klang seiner Worte die Ohren zu spitzen, einer der mit jeder Silbe kokettiert, weil er nichts anderes hat, mit dem er liebäugeln könnte, und der furchtsamste, denn die Stille, die Stille – wie ein Tiger, der gleich aufspringen will, schaut sie der heulenden Nebelkugel zu – wenn er doch zuspringen wollte, wenn er doch mitheulen wollte, wenn er doch sich um sich selber kugelnd sich in den Schwanz bisse: hei is verrückt! – –

Eins, zwei, drei – – nun schlägt es zwölf! Und mein Zimmer sinkt, sinkt durch die Stockwerke, die Schottermassen – auf den Schotterflächen, den Kiesen, die die Schmelzwasser der Gletscher liegen ließen, hat sich der steinerne Krake hingelegt und läßt seinen zornigen Atem brausen – und sinkt durch die Schottermassen und fällt wuchtend hinab in das Gestein der Erde. Durch einen Schacht, durch den zehn Stürme auf und nieder brausen, wuchtet es hinab, bis es den Mittelpunkt erreicht hat und still steht; und um mich, hoch über mir tief unter mir, dreht sich die Welt – ruhelos. Ich sehe sie nie wieder, ich muß auf ewig hier begraben bleiben, denn wie käme der Mittelpunkt zur Peripherie? Es müßte denn die Kugel zerbrechen und das Gold des Chaos niederfluten.

Geradewegs aus dem Herz des Kraken fiel ich ja herab in diese Tiefe. Woher kam ich noch? Von den Moosen und Bachtälern und den weißen Staubstraßenschlangen, von den Sonnenkohlenbecken an blauen Seilen über mir fiel ich mitten durch das Herz des Kraken hinab in diese Tiefe. Wahrlich, ein ungeheurer Schacht, durch den ich fiel! Aber ich kann noch das schlagende Herz sehn, um das sich der Nebel legt wie eine dünne glühende Haut – die brüllende Stadt! Aber ich schiebe einen Deckel davor, wie man in ein Ofenrohr einen Deckel schiebt, und so bin ich allein.

Der Stein liegt tief im Schlaf, oben, unten, und auch die Stille schreit nicht mehr. Der Tabakrauch aber spielt zaghaft kapriziös über den feuchten schwarzen Strichen, die irgend ein Etwas mich malen heißt, bedachtsam und steif; es ist gewiß der Stein, der [] seine Träume endlos spinnt und mich sie ewig krummen Rückens malen heißt; von allen Seiten, oben, unten, durch alle Poren, Augen, Ohren dringen sie in mich und führen meine müde willenlose Hand – ich bin überhaupt Stein, ich bin das Gehirn des Steins, und was die Leute oben Welt und Leben nennen, das sind nur meine Träume, meine Träume, deren Leib der Stein der Erde ist – ich bin gewiß der Sinn und sicherlich das Herz der Welt. Wie simpel doch die Lösung ist, die einst unmöglich schien –: der Traum des Steins, und der Stein des Traums; das Signum der Welt ist die umgefallene 8 und die Unendlichkeit. Nun muß ich wach bleiben, damit der Stein schlafen und träumen kann, denn das Gehirn schläft nie, es malt ewig die 8 und schläft nicht. Bleibe wach, mein Herz, bis der Stein erwacht und sich zu regen beginnt und seine Träume zu Wirklichkeiten werden und er nicht mehr nur die 8 träumt. Lange schlief er schon und es ist ein heiliges Jahr – wer weiß, er erwacht! Dann wird er seine Glieder recken und die Welt wird sich öffnen, wie man eine Feige öffnet – oh bleibe wach, mein Herz!

Wie sie morgen dein Zimmer suchen werden, deine Wirtin und ihr Journalist! Aber ein heller Raum wird sein und ein lustiges Nichts, wo dein zärtlich Klausnerstüblein war und du am Schreibtische deine langen Tage hocktest, Tabakwolken über Schlot und Kirchturm blasend, müde, kapriziöse Wolken – wie liebe ich euch! Ach, vom Flur aus werden sie gleich mitten ins Leere treten und schwindelnd auf die Straße schauen, wo die Jungen Kreisel schlagen und wo die Alten mit Fingern nach oben zeigen. Wie sollten sie auch denken können, daß ich hier mitten in der Erde säße und meinen Beruf hier hätte!

Der Druck – er dröhnt mir im Ohr! Aber wie könnte er dazu kommen, mich eines Tages zu zerdrücken, wie man eine Mücke zerquetscht oder ein Rosenblatt zerreibt, wie sollte er wohl! Wo er nur Traum ist und auch die tausendtausend Tonnen Steins nur Traum sind und wo der Tag kommen wird, an dem die Welt sich auftut wie man eine Feige öffnet!

Darf ich denn daran denken, daß ich eingekerkert und hier mitten in der Erde gefangen bin und daß so viele Erden wie Menschen sind und in jeder dieser Steinzellen sitzt ein einzel-einsamer Mensch und spinnt am wurmstichigen Rocken seine flächsernen Tage. Aber brüllte ich auch auf wie ein Stier, es hörte mich keiner, es hört uns keiner.

[] Glaubt nur nicht, daß ich toll bin, wähnt ja nicht, daß ich lebendig begraben bin, oh! Traumaufzeichner ist mein Titel und die Träume des Steins hören zu können, ist mein Beruf; ich träume sie und ich träume mich selber zunichte. Ich habe nichts anderes, womit ich mich zunichte richten könnte, wo ich mich doch einmal zunichte richten muß! –

Nun ist es oben Herbst geworden und über die weißen Staubstraßenschlangen bläst ein harter Wind; über das Haar eines Eichenbusches kommt er klirrend gesprungen und fällt klagend und blätterraschelnd über den Hügel hinab, auf dessen Stoppeln und frostgebrochenem Gras ich stehe. Die Sonne aber ist hinter graue Teppichwolken gegangen und zwei Herbstzeitlosen lassen in einer kleinen Senke die Köpfe hangen, während die dritte lang am Boden liegt eine arme Leiche. Wie ist die Welt wüst, sie rauft sich klagend ihr Haar, aber es wird nimmer anders; an den Drähten pfeift der Sturm und in öden Wald taumelt die Nacht und hängt sich schlotternd um die schwarzen Zweige. Wie oft ging ich schwer und bang durch diesen Wald, aber es gibt keine andere Welt, oh! es gibt keine andere Welt und diese wird wohl kaum sich auftun wie man eine goldene Feige öffnet. Sieh, auf dem anderen Hügel liegt der Wald, wenn ich von diesem in das Tal steige und dann gen Westen wieder hügelan gehe. Dieser arme Wald, wie er friert und zitternd seine kalten Zweige aneinander reibt! Nun steigt der Nebel hoch, nun schleicht er tückisch heimlich durch ihn eine tödliche Patrouillenschar und frißt sein letztes Laub. Daran denkt sie, an den Nebel, durch den die letzten Blätter taumeln, und schmiegt sich in die Kissen und macht kluge Augen – aber er kommt nie wieder, mitten in der Erde sitzt er und spinnt seine farblosen Tage. – –

Vor drei, vier Jahren fing es an, mit Gold und purpurnen Schönheiten und ihrem immanenten Zynismus, durch den sie nur noch trauriger und schöner werden, mit Gold und Schönheit und traurigem Zynismus, mit denen alles Verfluchte sich einschmeichelt, fing es an:

Lange Wochen hatte oben an der Küste die Hitze gelegen, die Luft war rein gewesen und das Barometer stand hoch und die Winde, die auf der See hinein in die Luftaufwirbelung wehten, kamen vorwiegend aus Osten und waren frisch und bewegt; Tag für Tag war die Sonne als rote Feuerkugel in das Meer gesunken und von keiner glummenden Nebelbank hinabgetragen und keiner [] kitschigen Waberlohe zu Grabe gebracht, rein und einsam fiel sie zu Tode und machte die Menschen seltsam sehnsüchtig und fiebernd erregt.

Aber wenn sie sich schon anschickte, senkrecht durch den ehern hellen Himmel zu fallen, tauchte unter dem Horizont ein glatter Streifen auf, glänzend silbergrau; manche Tage war er erschienen, dieser glatte Silberstreifen, auf den man immer wieder mit Fingern zeigte und von dem die Fischer erzählen mußten, er sei zu sehen, wenn nach langen Ostwinden die Hitze auf dem Meere liege. Der Horizont selber aber oberhalb dieses Streifens war durch ihn hinausgetragen und aufgehöht und war wie eine dünne dunkle Wellenlinie.

Auf diesem Streifen waren allabendlich die vorüberfahrenden Schiffe mit ihren Spiegelbildern zu sehen, mit ihren Spiegelbildern, die dunkelgrau wie gesättigte Lichtbilder kopfüber über ihnen schwebten; sie hingen aber nicht hoch in der Luft wie sonst die Spiegelbilder am Meer und in der Wüste und die Bildungen der Fata Morgana, sondern waren unterhalb der dünnen dunklen und leise wogenden Horizontlinie. Dann verschmolzen und kreuzten und verhaspelten sich zuweilen die Masten und Raen der Schiffe mit denen ihres Gegenbildes, oder die Rauchsäulen der Dampfer vereinigten sich zu einem wunderlichen Gebilde, ja es erschienen in dem glatten Streifen überraschend und aufregend wie aus dem Nichts zuerst nur derart rätselhafte Rauchfiguren, graue Wimpel und melancholische Kinderfähnchen, und erst später tauchten erlösend die zugehörigen Schiffe auf. Und nochmals, alle diese Fahrzeuge schienen auf dem unteren Rande des glatten Silberstreifens hinzugleiten, während ihre Spiegelbilder von der dünnen dunklen Horizontlinie über ihnen herabbaumelten und kopfüber weiter schwammen. Und solche Spiegelungen sind, wie der dicke Bademeister immer wieder sagen mußte, häufig, wenn nach anhaltenden Ostwinden die Hitze auf dem Meere liegt.

An dem Tage aber, der mit weit durch die Jahre reichenden Beilen mich hierhin mitten in die Erde geschlagen hat, war der Himmel wieder unbewölkt, fünf weiße Wolkenfäden und eine dumme Gänsefeder taumeln verloren über ihn, sonst ist er unbewölkt und so strahlend einsam, daß man weinen möchte, und wird nun, so rein ist seine Atmosphäre, über dem blauen Meer rosenrot. Und die Sonne in ihm ist feurig ernst und drohend [] groß, und je tiefer sie fällt und je ovaler sie wird, desto eindringlicher wird die dunkle Wellenlinie des Horizonts, und wie sie die leise wogende endlich berührt hat, ist sie eine saffrangelbe Ellipse geworden. Nun sinkt sie schnell, jetzt nur noch ein schmales langgestrecktes Segment, dann verschwindet auch dieses und hinterläßt nichts denn eine lange leuchtend goldne Linie – das sind die noch erleuchteten Wogen des fernen Meeres.

Noch ist der Silberstreifen glatt und vornehm silbergrau, wie er war, da die vorüberfahrenden Schiffe mit ihren luftigen Konterfeien Raen und Rauchwolken verhedderten, oder da die Sonne noch wie ein zusammengepreßter Ball leuchtend süßer Saffranfransen über ihm hing; auch das Meer vor ihm wogt unbekümmert fort, tiefblau und traurig.

Da steigt an seinem unteren Rande eine zweite Sonne hoch, es ist, als ginge die müde wieder auf: ein rötlich gelbes ängstliches Segment, ein strahlender Halbkreis, eine goldene – aufbrechende Scheibe, aus der mit einem Male züngelnde Flammen gegen die leuchtend goldne Linie des Horizontes schlagen. In immer strahlenderem Glanze greifen und lecken sie hoch, ein melancholischer Teufel heizt wütend ihren Kessel, daß sie sich schnell mit der goldnen Linie zu einem feuerroten – Pilz vereinigen, einem Steinpilz mit zusehends sich verdickendem Stiel. In den pustet der abstruse Sonnenpilzheizer bitter schmerzlichen Gesichts, bis es eine Terrine wird, eine feurigrote Punschterrine, eine saffrangelbe Teebüchse mit goldenem Deckel, an den er – plötzlich mißbilligend schief gezogenen Munds zwei Lotschnüre hängt. Nun preßt er seine saffrangelbe Büchse mit beiden Händen, bis sie ein wundergoldnes Viereck wird, eine rechteckige Sonne aus purem Golde in einem silbergrauen Streifen zwischen matt rötlich gelbem Himmel und tiefblauem Meer.

Nachdem der Sonnenmodler dieses Viereck sechzig schwere Sekunden hat leuchten lassen, knüpft er seine Schnüre zusammen und windet sie geschäftig um seinen Riesengoldwürfel; ächzend zieht er sie zusammen, schweigend buchten die Schmalseiten sich ein und formen zitternd und dann in gelassener Herrlichkeit aus dem Würfel einen Becher, einen Sonnenbecher, dessen gold dunkler Haute Sauterner in der Horizontlinie wallend überschäumt – – –

Aber der Becher zerbricht und zerfließt wie ein schöner Rausch; der Stiel zwischen Fuß und Schale wird dünn und [] schmal, ein dünner Stiel, der rasch zerreißt, so daß nun bald nur ein Riesengoldtropfen von der wallend glänzenden Linie des Horizontes gegen ein immer schmaler werdendes Segment aus purem Golde hängt, das sich von dem unteren Rande des silbergrauen Streifens ihm entgegen hebt.

Immer vollkommener wird der Strom des Silberstreifens, Segment und Tropfen spült er fort, auch die wogend goldne Linie des Horizonts ist mit einem Male verschwunden – lachend springt der Teufel ins Meer.

Im Osten ist eine rosige Gegendämmerung verbrannt, der Silberstreifen zerfließt und das Meer wird schiefergrau und wüst. –

Gott, kommen Sie! Die Sonne kann auch mal ausschaun wie eine Suppenterrine oder eine Berliner Weiße mit Schuß. Darüber exaltieren Sie sich! Nicht wahr, es ist ein optisches Phänomen, Strahlenbrechung, verschiedene Erwärmung und verschiedener Wassergehalt der Luft, etcetera – soll ich Ihnen sagen, was es ist? Kitsch ist es, Kitsch, Kitsch, Kitsch! Aber nachher, wenn es dunkel wird und schiefergrau und wüst, wüst, oh! wie wüst – ach! kommen Sie, Sie fade Punschterrine.

An diesem Abend gefiel sie mir und am nächsten infizierte sie mich mit Syphilis.

Das war am 23. Juli gewesen; am 24., in der Nacht, in der sie mich zwischen ihre sehnigen Schenkel nahm, gewitterte es und dann fiel über Strand und See ein ungewöhnlich dicker Nebel; in diesem Nebel rannte am 26. Juli mittags zwischen zwölf und eins, drei Meilen vom Strand die »Stettin« und die »Reval« zusammen, dort wo die Tage vorher auf jenem spiegelnden Silberstreifen die melancholischen Kinderfähnchen geflattert hatten. Unter den Ertrunkenen der Stettin war Marion, von der ich, gleichzeitig mit der Nachricht ihres Todes, diesen Brief erhielt:

Mein Freund,

ich nannte Sie eine fade Punschterrine und nenne Sie heute mein brennendes Herz. Sie kennen die Gartenblume, der man diesen Namen gibt; ein abscheuliches Karmoisinrot, dazu läßt sie diese ihre karmoisinroten Blütenköpfe melancholisch hängen und riecht ein wenig nach toten Fröschen oder Ähnlichem – denken Sie nicht an sie. Doch bitte, denken Sie an sie. Denn diese melancholischen Blumenköpfe, oh liebster Freund, diese melancholischen Köpfe – ich habe Ihnen die Syphilis gegeben. Kennst du [] sie, Geliebter? Ich hab mir sagen lassen, es ist so ein kleines Viech, so ein kleines Korkenzieherviech. Sei nicht böse, Liebster, – so ein kleines Viech! Sehen Sie, die Sonne ist auch zuweilen nur eine Punschterrine.

Wissen Sie noch – ach Liebster! Liebster! Aber mein Freund, nun schenken Sie mir – nicht wahr, so sagen sie? – eine arme Stunde lang Gehör, eine Viertelstunde für diesen süßlichsten aller Briefe.

Ich hatte die schönsten Ponnys und die gewitzigsten Bonnen und als man mich von Genf nach Hause brachte, war ich die entzückendste Puppe geworden und wußte Alles, und begann dann bald mit meinem eigenen Leib auf diesem Gebiete zu experimentieren. Es hatte mit Liebe nichts gemein, es war mir nur um das süße Prickeln zu tun, wenn ich die ergötzlich echauffierten Gesichter meiner Kavaliere sah, die sie in dem fraglichen Augenblick schnitten. Was für Gesichter! Was für viehische schwitzende stöhnende viehisch dumme Gesichter! Was für Kartoffeln! Was für groteske Tomaten! Und nun so über diese Lust der Lüste, über diesen Abgrund aller Abgründe Herr zu sein und immer mehr zu wissen und immer wieder das schon Gewußte bestätigt zu sehen: es ist eine schmutzige Geschichte; der Instinkt hat sie überwältigt und die Sinnlichkeit wirft die heißen Tölpel über mich – was für eine Kolportagengeschichte! Nicht wahr, die Kolportagengeschichte, richtig gelesen, ist doch der Clou und die Quintessenz aller Litteratur? Es ist so wunderbar traurig, mein Freund, eine Messalina zu sein nur um des Lachens willen und des unglaublich süßen »Triumphes auf Trümmern.« Du wirst verstehen, Geliebter, es war eine entzückend süße Geschichte. Denn nichts kitzelt so sehr unsere Eitelkeit, als welche die Wurzel aller Wurzeln unserer weiblichen Wohlgefühle ist, als eine zerbrochene Illusion und das süße Gefühl, Illusionen zerbrechen zu können; während der plumpe blinde Genuß – der blinde Genuß ist uns viel zu plump und riecht uns zuviel nach Bauernmädchen und Volk.

Darum durfte ich meine Liebhaber nicht »lieben«, ich hütete mich wohl und wechelte die Narren Tag um Tag, denn hätte ich sie geliebt, blauäugig gänseweiß und mit einem kleinen Geruch nach Butterbrot, so wäre ich von meiner süßen Höhe hinab in die blinde Brunst, oh Gott! in den Schrei nach dem Kinde getaumelt; ich liebe eben nur mich und meine helläugige Verachtung. Und [] gerade, sieh Liebster, wie gut mein süßer Heiliger es mit mir meint, als diese Lust ihre zarte Hand verlieren und alt und schwerblütig werden wollte, wurde ich in einer roten Nacht – du weißt. Und nun träufelte die Grausamkeit ihren jungen Saft in meine alternde Lust. Mit unergründlich süßen Augen gab ich ewig lächelnd Lust und Tod, ich war wie das Leben selbst, das in alle Lust den Keim des Todes legt, der uns immer wie eine Strafe anmutet, wie die Bedingung, auf die hin wir das Glück genießen – oh! Liebster! hätte dieser unheilige Heilige ein halbes Jahrhundert später gelebt, von mir hätte er sein Gift bekommen, auf mich hätte er sein entzückendes »Über die Weiber« schreiben müssen! Wie ich ihn unter mir gehabt hätte, wie er meinen Leib hätte küssen müssen, da und dort und überall – dieser grimmige Flucher und schwerblütige, dickblütige Askesenadorant!

Da verschwand das süße Prickeln gemach, zu dem mich die armen Echauffierten reizten, und an seine Stelle trat der nervenpeitschende Genuß einer wilden Verachtung und eines zehrenden Mitleids, eine berauschende Rache am Leben selbst – ein unerhörter, immer durstiger machender, zuckersüßer Trank. – Mein Freund, ich war das Leben selbst, ich glaubte, das Leben selbst zu sein, vielleicht das, das erst das Leben schafft, das hinter ihm steckt und mitleidig verächtlich mit seinem schlechtgeratenen Spielzeug spielt. Und dann kamst du – –

Wirst du mich verstehen? Du hattest viel geliebt und wir waren beide sehr erfahren. Aber während du dein hohnvolles Wissen über das Leben von außen her – wie man so sagt – oh Liebster, von oben her sammeltest, steckte ich mitten in ihm und sog erst mit seinen Lüsten und Giften die Erkenntnis seines grandiosen Nichts. Und so kam es, du Einziger, daß du dich noch über die bunten Bilder der Welt wie über ein gutgeratenes Kunstwerk freuen, ja vielleicht, daß du diese ganze Welt als ein angenehm zu knackendes Rätsel für deinen – o wei! o wei! – starkkiefrigen Intellekt ansehen und dich an der Kraft deiner Kinnbakken ergötzen konntest und an den siebenhundert Schalen, die den süßen Kern beschützen und von denen die eine immer anders und überraschender duftet und raschelt und knistert und gestickt und gefärbt ist als die vorige, während ich nicht mehr aus mir und aus dem Leben herauskonnte; ich vermochte nicht mehr – objektiv zu werden, wie Sie, mein weiser Freund und teurer Weiser. So war das erste, was ich Ihnen gegenüber empfand, Neid und Haß, [] ich war ein Ressentimenttierchen par excellence gegenüber Ihrer aristokratischen Ironie und ironischen Objektivität und, wie es so geht, verliebte ich mich in Ihre Vollkommenheit, während ich sie Ihnen gleichzeitig neidete und Sie haßte, weil ich Sie beneidete, und Sie tausendmal haßte, weil ich Sie liebte. Darum mußte ich dich herab in meine Leiden und Gifte ziehen, du Weisheitsbold und fade Punschterrine.

Und nun – sieh, Liebster! ich saß einmal in einer kleinen Weinbudike, spät zwischen zwölf und eins, mit irgend einem milchbärtigen Kavalier. Es war um die Adventszeit und draußen lag der Mond auf dem Schnee, in einer Ecke aber klimperten zwei Jünglinge auf einer Guitarre alle ihre Weihnachtslieder – mein Liebster! wenn man mitten im Leben sitzt wie ich und nicht mit ihm, wenn auch traurig genug, spielt wie du, muß man blind sein und darf nicht sehen, daß seine Gifte Gifte sind; so habe ich das Süßeste verpaßt und schließe mit der Banalität: zu spät.

Marion

Nun ertrank sie, jämmerlich in einem ungewöhnlich dicken Nebel, aber ihr Gift blieb in mir leben, ich kurierte jahrelang an mir, ihr Gift blieb in mir leben – es wird mich fressen und dann den angenagten, angefaulten Klumpen Fleisches durchtränken mit dem entsetzlichsten Wahn.

Aber das ist nicht wahr, daß der Erdball aus einer unelastischen Stein- und Eisenkruste und einer kompakten Kugel Magmas besteht, es ist nicht wahr, daß sich im Erdball alle nur denkbaren – alle nur denkbaren? – Aggregatzustände der Materie vorfinden, es ist nicht wahr, daß eine Zentralsphäre einatomiger Gase, daß ein massiver Stahlkern – warum nicht Goldkern? – existiert; er ist ein massenmächtiger Stein, in dessen innerster winzigster Zelle ich sitze und Träume spinne. Granit! Über mir, unter mir, allerorts Granit! Der schwitzt an den Fenstern, der Decke, den Wänden, dem Fußboden das Steinwasser in dicken Tropfen aus und macht die Luft schwül, schwüle Luft, schwül, drückend schwül – der Schacht ist zu! Wie eine Faust sich schließt, schloß sich der Stein und fauchend entflog die Luft – – – langsam tückisch kriechend von den Bergen schwillt sie zu trockenem klingendem Sturm und bricht wie ein Räuber pfeilgerade als Mistral in das Meer.

Nun wird sich der Stein weiter ineinander schließen, wie eine [] Faust grimmig sich schließt, er wird mich zerdrücken wie man ein Rosenblatt zerreibt; und meine arme Seele – gleich dem Duft, der jenem roten Saft entsteigt, wird sie hoch und schwerelos durch die Poren des Steines dringen und ein Ich weiß nicht, was? flattern in ein Ich weiß nicht, wohin?, eine Magelhansche Wolke, ein schimmernder Sternennebel en miniature – ein flimmernder Quark, ein okkulter Mist.

Aber ist ein unabhängiger Körper im Mittelpunkte hohl und hängen die Randteile seiner Höhlung gleich weit von seinem unrealen Mittelpunkt – ein Ring und eine Hohlkugel darf aus sich nicht ineinander stürzen. Darum keine Angst, du Narr, dein Zimmer wird schon bleiben, Tisch und Tintenfaß und graue Wand, und sein pfeiferauchender Klausner wird weiter seine Wolken blasen, klausnerisch kapriziös, seine feinen Wolken, von denen die Leute oben sagen, die Polnadeln zuckten geheimnisvoll nervös, wenn die Nordlichter ihre orientbunten Teppiche flattern lassen, die Wolken, von denen die Leute sagen, die Chamsine brausten heiß und staubgefüllt über den Nil und der Mistral fiele wie ein Räuber singend über das träge Meer. Aber auch als Oleanderblüten und steile Mädchenbrüste werden sie ihnen vorkommen, auch abgründige Weisheiten, brunnentiefe Verse und steinschalige Rätselnüsse werden sie ihnen scheinen – den glücklichen Toren und ewig Blinden!

Hart, so wollte ich, sollte der Stein sein und souverän? Einsam und rein? Es ist eine kleine warme Traurigkeit in ihm, eine mikrokosmische feuchte Wehmut und ein weicher Traum, seine Seele ist ein nicht ganz reiner Sehnsuchtstropfen. Eine warme Traurigkeit? Ein glummendes Feuer, ein schlafender Funke, der auf die Stunde hofft, da er Fackel wird und Flamme – ich bin ein schwälender Funke im Stein und werde einmal Flamme, Flamme sein!

Doch noch glummt er klein und schwälend bang und versteckt sich in melancholische Ringe und graue Wolken, in meilendicken steinigen Schalen wälzt er sich durch die Welt, in Planetenhüllen rollt er um die Sonne Jahr um Jahr und er weint seiner eingekerkerten Verborgenheit und der langen Zeit bis dahin, wann er Flamme wird und heller Wahn: ich bin gewiß krank und warte nur darauf, ganz krank zu sein.

Glaubt nicht, daß ich ängstlich bin, wähnt ja nicht, daß ich ein Zittern mit harten Zähnen zerbeiße, ich halte meinen Geist schon [] fest, ich zwinge ihn schon durch, auch wenn ich im Nebel versunken bin, auch wenn ich im Stein vergraben bin, auch wenn ich aus dem Herz des Kraken herabfiel in diese Tiefe, denn – im Frühjahr, im Frühling werde ich auf mein Haupt Schnee und Sonne streuen. –

Es ist der siebente Tag nach dem heiligen des vorigen Monds, an dem die Erde sich auftat und mich verschluckte. Nun werden sie sich oben, die Tiere und glückhaften Narren, an das gähnende Nichts, in das sie vom Flur aus treten und durch das sie leise schwindelnd auf die Straße hinabsehen, haben gewöhnen müssen, wer weiß! sie haben einen Verschlag gebaut und haben für den größten Teil des Tages alles vergessen. Nur die armen Male, wenn die Sorge müde wird und eine kleine Weile schlafen will, werden sie bang und betroffen vor den Brettern stehen bleiben, meine Wirtin und mein Mädchen, das zu ihr geflogen – nun schläft sie Wand an Wand mit dem Nichts; ob sie wohl ihre nackten Glieder noch dehnt und reckt und mit einem wilden Male wie besessen die Kissen von sich wirft? Mir ist, als träten zuweilen ihre Schatten in mein Zimmer und sähen mich scheu und traurig an – geht! geht! Ich schreibe an diesem Buch und muß weiterschreiben, hohe Berge weißer Bogen voll, ich werde anfangen müssen, kleiner zu schreiben, ganz klein – – – Der Journalist! Da! Da! mufft immer fort, murrt ewig hin – horch! horch! durch den Stein, dicht nebenan durch den feuchten harten Stein, trippelt, trappelt, stapft er auf und ab, der an seiner unzulänglichen Unfähigkeit, an seinem armen Halb und Halb Gescheiterte.

Was stapft er hier und wandelt im Kreise um? Taktmäßig, Ticketack Ticketack wie der Pendelschlag der Uhr? Jetzt unter mir, jetzt über mir – der Hund! Ob er ein Astloch sucht? Er will kolportieren, der Reporterhund! Aber ich werde ihm eine Falle legen, ich werde ihm eine Alltäglichkeit schreiben, eine Banalität, die er kapiert – die du bei deiner Kurzdarmigkeit eilends reportieren wirst!

Es ist der siebente Tag und ich habe folgendes an mir konstatiert. Oh! springe auf dich und reite auf dir! Oh Liebster, halte an dich! Es ist, als seien an meiner Schädeldecke elf Bindfäden befestigt – halte sie fest, lüfte nicht für eine Sekunde die Hand! Denn wenn du losläßt – –! Noch nicht, es ist noch nicht an der Zeit, der Funke ist noch nicht zur Flamme geworden, der Stein [] der Erde ward noch nicht brüchig genug und morsch, ich halte die zuckenden zitternden lüstern zerrenden Fäden noch fest – noch nicht!

Ich habe folgendes an mir konstatiert. Die Zeit, in der mein Geist, verbohrt genug, noch Sturm lief gegen das Seiende und sich im heroischen Pathos an ihm töricht zerschmetternd gefiel, die Zeit, in der noch Schwung in mir war und ich mir noch nicht allstündlich die Sporen in die Flanken treiben mußte, jene Zeit, da ich in den Schatten Gottes tobte und in das Ding der Dinge dringen wollte mit Stanzen und zürnenden Apollos, jene Zeit, da ich mit harten Flügelschlägen eben diese Schatten vertrieb und mit grimmigem Hohn dann eben diese Flügel zerhieb, kehrte nach jener Infektion noch einmal wieder und raste sich in einem lodernden Liebesparoxysmus aus, dann fiel sie ab von mir und ließ mich zurück für immer nackt und bloß. Aber in meiner Blöße bewahrte ich das Bewußtsein und den Stolz, einmal fliegend Sturm geritten zu haben, und hütete klar meine wuchtig mir eingetriebene Weisheit von der grandiosen Lächerlichkeit aller unserer Wahrheiten, es war hart in meine Mneme gemeißelt:

Des Daseins Proteusmaske scheint und klingt
und mag dem Kind als Wirklichkeit genügen,
es wird zu Lust und Tränen, blind sich fügen
je wie der Popanz ihm entgegen springt.
Du möchtest ihn enthüllen – ach! es dringt
kein Blick durch diese schillernd bunten Lügen
zu dem, der mit geheimnisvollen Pflügen
das Chaos in die Kosmosmaske zwingt.
Nenn ihn das Furchtbare und deine Welt
sein Maskenkleid und bleibe dir bewußt,
daß jede Maske käuflich ist für Geld –
und diesen Glauben, hörst du Glauben, mußt
als Sprungbrett du betrachten, das dich schnellt
zu aller Deutung grenzenloser Lust.

[] Aber das Sprungbrett schnellte nicht mehr und über diese »Weisheit« und ihren kleinen Stolz kam ich nicht hinaus und – wurde müd und taub und blind. Wohl kannte ich meinen in eine neue Zeit sehnsüchtig winkenden Raritätenwert und betonte ihn um so mehr, je mehr ich fühlte, daß er mein Einziges und Letztes war, aber mein impetus verfaulte und ich wurde traurig steril. Da begann ich zu trinken und abermalen die Weiber zu lieben um ihrer Brüste und nackten Bäuche willen und modelte mir eine feine Rauschtheorie: das Ungeheure ist nur zu ertragen im Rausch und alle unsere Handlungen sind narcotica. Aber als diese narcotica auch anfingen, mir zuwider zu werden und ich erkannte, daß die Flucht zu ihnen auch nur eben eine Flucht und Feigheit war, blieb mir nichts als der resignierende Satz: einsam und rein! und das traurige Symbolum des Steins, hart und taub und kalt wie er und ganz steril. Auf meinem Schreibtisch, plump und stumm und wund von Gletscherschliffen, aus der Heide brachte ich ihn heim, ein alter Heidenstein und dummer Reim:

So bist du mir das Symbolum der Welt
in deiner eisigen Unnahbarkeit
und deiner schweigenden Gleichgültigkeit;
gefährlich nahe schon dem Nichts gesellt
hast du dich auf den höchsten Stolz gestellt
und hebst dich herrisch aus dem Strom der Zeit
und über des Geschehns Formlosigkeit
bleibst du der einzige, der Form behält.
Oh kalten Gleichmuts lautberedter Hohn,
des Unbegreifbarn greifbare Erscheinung
hast du gepreßt in einen Klumpen Ton
und nur ein Ding, ein Nichts in unserer Meinung
verharrst du stumm auf deinem kühlen Thron
als dieser Welt sarkastischste Verneinung.

Und meine Sprache ward glatt und kokett und anstatt Handwerkszeug und Meißel zu sein, ward sie autokratisch und tat nichts als nur mit Worten spielen, mit Worten spielen nur des [] Spielens und müden Spielens und des koketten Klingens wegen. Ich bin gewiß so weit, wie ich wollte, hart und taub und kalt und ganz steril, schimmernd in toten Farben, klingend in toten Klängen. Und ich pflege eine müde böse Lust der Selbstbeobachtung, eine Lust, die mich immer schneller meiner Auflösung zutreibt und die doch keine neue Welt aus sich springen läßt. Denn das agens ist nur die Eitelkeit, grausam gegen mich sein und die letzten Funken meines nun bald völlig erlöschenden Intellekts melancholisch spielend genießen zu können – ein ganz normaler Verlauf: voilà »das langsame aber unaufhaltsame Schwinden des Intellekts.« Sehen Sie, ich bin gewiß ein Mensch, an dem die Natur das Experiment einer langsamen Zerstörung der Psyche durch Reduktion der Nervengewebe anstellt; ein faulender Leichnam, eine stinkende Leiche – aber ich reiße sie durch, du Hund!

Horch! horch! er trappelt unruhiger und schneller, wie einer, der zu Stuhle muß! Husch! husch! Der Darm ist kurz und die Reue ist lang – Lampenputzer ist mein Vater – husch! husch! – am Berliner Stadttheater – tapp! tapp! – Ein kurzdarmiger Reporter – nun ist er oben, es ist mäuschenstill – klack klack klack! – er exkrementiert.

Es ist totenstill und abertausend kleine Korkenzieher, immerfort, sie bohren in mir immerfort, in meinem Blut, in meinem Saft, in meinem Hirn, ah! dieser rotgescheckte Blumenkohl! Wie schwer er ist, wie Stein; meine Glieder – schwer wie Stein, mir schwindelt. Meine Füße schmerzen und die schweigsamen Bohrer, immerfort, sie bohren in mir immerfort, sie schicken ihr Gift stoßweis in mein Blut, sie machen meine Knorpel brüchig und meine Knochen morsch. Sie fressen an meinem Mark. Und mein Hirn, mein einst so wackeres Boot und zähes Wüstenreittier, schrumpft zusammen und wiegt leicht wie ein dummes Daunenkissen, ein kleines wulstiges Tändeldiwanschlummerkissen, das hat eine hortensienrot gefleckte Decke, deren Zeichnung sieht aus wie die eines feinen Achats. Und meine Wirbelsäule wird weich und wuchert wie krankes Kirschenholz, das Gummi schwitzt. Mein Blut fließt träg, meine Adern verdicken sich, verschließen sich und in meinem hortensienroten Hirnblumenkohl wachsen tückische Granulationsgeschwüre, die degenerieren fettig und verkäsen und werden schwielig fibrös und erlangen eine harte Konsistenz: verkalkte Gummiknoten wie Taubeneier groß liegen in meinem armen Hirn, gallertige Flächenmassen, grau, graurot, [] von schleimiger Weichheit, gleich Bleikugeln und fließendem Hydrargium drücken sie sich in den einst so köstlichen Teig und lassen meinen Kopf in einem dumpfen Schmerz schwimmen; sie machen meine Augen starr und mein Gesicht gedunsen und bleich und lassen ruhelos über seine verwaschenen Züge ein Wetterleuchten huschen, das sieht aus wie bei einem, der römische Elegien liest. Ich taumle, meine Hände zittern und stoßen sinnlos auffahrend in die Luft, meine Stimme bebt, meine Zunge lallt und der Schlaf kam schon lange nicht mehr zu mir. Ich rieche Petroleum und tote Vögel, es saust mir im Ohr und mein Zimmer dreht sich wie eine magische Laterne um mich, immer um mich – mein Zimmer? ich liege in einem Stall unter brünstigen Kühen – fi! wie das auf mich grün und gelb aus ihnen strullt in einem zwirnsfadendünnen Katarakt! Man hat mir meine linke Seite gestohlen und meine rechte ward Stein, meine Gedärme fraß man auf, ich bin innen hohl wie eine Trommel und meine Lunge ist in den Abort gefallen, man hat mich mit einer Packnadel gestochen, da entwich die Luft mit Gestank und ich bin zu einer grünen Tomate geworden, einer grünen Haselnuß, in der sitzt ein Wurm – oh! alle Himmel! ich bin eine faulende Leiche in einer Gruft von Stein, eine Steinnuß, innen faul und stinkend, die man nach der Sonne wirft – – –

Es ist totenstill – springe auf dich, wir reißen dich durch! Es ist ja nur dein Zimmer, das in die Erde fiel, kein Spuk dringt durch den unendlichen Stein und es ist auch keine Gruft, die Fäulnis birgt, es ist – – die Wände weiten sich, die Decke steigt, der Boden fällt, sie flüchten allzusamt wie ein Blitz zurück, bis sie mit einem Krach gegen die Oberfläche der Erde schlagen. Und das – Zimmer fliegt und kreist um die Sonne und fährt in weiten Spiralen brausend durch die Welt –. Ich fühle es nicht, ich empfinde nur gedanklich die Wucht des Flugs, sonst hänge ich mitten inne in dem ungeheuren Steinhöhlenwürfel, zappelnd wie eine Fliege in den Spinnefäden der Gravitation – der Gravitation? Es braucht nur einen Ruck, um solch Gedankendings zu zerreißen!

Die Welt – ein Produkt von Stoff und Raum und Zeit; du kannst auch für das eine das andere setzen oder für alle das Wörtchen Energie: denn die Stoffe sind in diesen Tagen zur Energie geworden; einstmals nannten wir sie die Ursachen unserer Empfindungen, und die letzte Ursache ihrer Änderungen untereinander [] und ihrer veränderten Beziehungen zu unseren Sinnesorganen, aus welchen Beziehungen die Empfindungen wachsen, nannten wir die Kraft. Und da wir es nicht zu Ende sophisten können, wie die Kraft – was ist die Kraft? wirklich die Funktion bewegter energetischer Raumzentren? – am Stoffe angreift, – vielmehr: wie die Kraft die Funktion des Stoffes ist, denn die Ursächlichkeit haben wir eskamotiert – so ziehen wir das, was wir intensiver in unseren Muskeln fühlen, die Kraft, der schon objektiveren Tastempfindung vor und setzen das angenommene Objekt dieser Empfindung, eben den Stoff, jenem subjektiv sehr »bekannten« und eindringlichen Gefühl gleich und konstatieren statuierend: Materie und Kraft sind nicht zwei Dinge, sondern die Materie – die wir bereits glücklich als Empfindungskomplex definiert hatten – besteht selbst aus Kraftzentren, deren konstante Widerstände sich uns als Stoff darstellen – es ist alles Energie. Und ähnlich ist es um Zeit und Raum bestellt: die Zeit ist die Bedingung, bzw. die Folgeerscheinung der Energie – geschieht nichts, so steht die Zeit still, und steht die Zeit still, so kann nichts geschehn – und da letzten Grundes nur Gleiches Gleiches bedingen und Gleiches nur aus Gleichem fließen kann, – – – und andererseits ist die Zeit die vierte Determinante des Raumes und da die drei anderen Determinanten des Raumes nur vollziehbar sind mit Hilfe der Zeit, d.h. da ein Neben-, ein Hinter- und ein Übereinander nur vorstellbar ist mittels der Zeit, ich muß die Länge, Breite und Höhe erst abschreiten, wenn ich einen Maßstab für sie, einen Begriff, eine Vorstellung von ihnen haben will, – – – es ist alles Energie. Und die Energie ist die Fähigkeit, Arbeit zu leisten, und »Arbeit« ist und bleibt die auf einen Zweck gerichtete Tätigkeit; es ist also das einzig Wirkliche der Welt eine Fähigkeit? Eine Möglichkeit? Ein etwas von unserem Willen, von unserer Notdurft Abhängiges? Die Welt ein um Lohn arbeitender Proletarier? Nur ein Substantiv auf -keit, ein Wort.

Wir haben uns wieder selbst in die Dinge introjiziert; und die Dinge sind hinwiederum eine Introjektion unseres Ichs – eines Allgemeingefühls – in die Inhalte unserer Wahrnehmungen. Und das Ich –? Ein Gefühl? Im »Gefühl« steckt bereits Subjekt und Prädikat: Ich fühle Mich. Und dieses Ich? Nun, vorläufig ein Wort, ein Substantiv; und wenn ein Substantiv die Subjektsfunktion übernimmt, so ist es damit ein Kraftzentrum geworden, und [] zwar ein objektiv vorhandenes, als dessen Wirkungen die wahrgenommenen Vorgänge aufgefaßt werden.

Und die Korrelate der Kraft, die Kapazitäten für Energie, d.i. die Masse, diese Massen der Körper ziehen einander an; und da die Körper Molekularbewegungen von Energiezentren sind und die Energie letzten Endes eine zweckzielende Tätigkeit, ein Substantiv auf -keit ist – – –

Mit Worten läßt sich trefflich streiten!

Doch die Körper sind auch Komplexe von Empfindungen, von Licht- und Tastempfindungen, sie sind Kettenringe von Adjektiven und zwar bilden diese das einzig Positive der Welt! Wir haben sie aber zu einer Nebensache gemacht und ihre angenommenen Ursachen in und außer uns zur einzigen Wirklichkeit, zum Ding, zum Substantiv, und von dem weißt du eben nichts weiter, als daß es ein Dingwort ist und letzten Grundes du selber dieses Dingwort bist. Und du –?

Doch seien wir naiv und unschuldig wie die Straßenkehrer und regierenden Fürsten und lassen die Körper stofflich raumerfüllend sein, undurchdringlich, kraftbegabt und ponderabel: dann ziehen ihre Massen einander an. Und da wir an eine unmittelbare Fernwirkung nicht mehr glauben mochten, an keine Distanzenergie und an keine appetentia, an keine propessio der Dinge zu ihrem proprium bonum, so legten wir den Äther zwischen sie. Er war zwar nur der Sohn der Finsternis und der Nacht und blieb auch als die obere strahlende Schicht der Luft immer noch etwas Göttliches, aber mit der Weile füllten wir mit ihm geheimnisvoll stofflich-unstofflich, ätherisch das Universum aus: es muß etwas da sein, folglich ist etwas da und also existiert der Äther. Warum auch nicht? – Aber er hat sein Dasein nur seinem schönen Namen und unserer Not zu danken. Und mit diesem Imponderablen, Körperlosen und doch Körperlichen – denn so muß er sein, folglich ist er so – pflasterten wir den Raum und schlugen eine Brücke von Stern zu Stern und legten ihn als Kitt und Mörtel zwischen die Atome. Und zwar so wirksam haben wir die Brücke geschlagen und so dick den Mörtel gelegt, daß heute nicht mehr die »Atome« warm und hell und elastisch sind, sondern dieses übernimmt alles der geduldsame Äther; in den letzten Tagen ist es gar die einzig dauernde Substanz geworden, die zwar Masse hat, ob auch Schwere, das ist unbestimmt. Und diesen Äther – d.i. den Sohn der Finsternis und der Nacht oder die Allem zugrunde [] liegende Substanz – zerlegen wir in Atome, wie wir es schon mit den ponderablen Körpern getan und, bei dieser Zerfällung des mit Qualitäten erfüllten Raumes in kleinste Teile, eine Verwechselung begangen hatten zwischen den gedachten kleinsten Teilen des Raumes und den letzten undenkbaren Teilen des Stoffes; – diese Ätheratome rasen regellos und mit derselben unnennbar hohen Geschwindigkeit durcheinander und treiben die Körper, die gegenseitig eine Art Schirmwirkung ausüben – die Körper, deren letzte Bestandteile notabene von Ätheratomen umkreiste Atome sind, die hinwiederum dichtere Ätheratome darstellen – aufeinander und schaffen derart die Gravitation –: die Ätherstoßtheorie.

Der Äther ist aber auch ein Kontinuum, in dem die ponderablen Körper schwimmen und Pulsationen aus führen, deren Wirkungen sich als longitudinale Ätherwellen fortpflanzen und dadurch die Gravitation erzeugen –: Pulsationstheorie.

Oder – Druckdifferenzen im Äther veranlassen Strömungen und durch diese die Gravitation; und wenn die Druckdifferenzen sich ausgeglichen haben, die Blähungen verflogen sind und die Ätherwinde nicht mehr wehen, stehen dann die Sterne still?

Dann gibt es noch eine Handvoll elektromagnetischer – Wortzusammenkuppelungen und physikalisch-mythologischer Weisheiten. Elektromagnetische! Das Sinnenfremdeste ist in diesen Tagen körperlich geworden, ein Ionenphlogiston! Die Elektronen sind nichts als die Knoten und Wirbel des Äthers, die Atome sind nichts als die Komplexe der einander anziehenden Elektronen, und die Körper sind nichts als die Komplexe der Atome – – eine süße Kette, eine feine Schachtelwelt – oh heiliger Sohn des Erebos und der Nyx!

Aber warum soll die Welt nicht ein allumfassendes Bewußtsein, ein Gedanke sein, der sich denkt und dessen Logik die Naturgesetze sind. Denkt? Ich denke, d.h. ich spreche innerlich, heißt nichts, als ich habe in dem Teil der Hirnrinde, der die Sprechwerkzeuge innerviert, eine Erinnerung an die Bewegung dieser Sprechwerkzeuge, oder an die Laute, mit denen ich unwillkürlich eine Empfindung begleitete und sie als inneres oder äußeres Klangbild zum zweiten Male in mir schuf; kurz, Ich – das ist ein Etwas, das Erinnerungen hat –, habe Erinnerungen. Cogito – das sagt nur: etwas hat das Bewußtsein seiner Dauer. Seiner Dauer? Seines Seins?

[] Auf das »Sein« kommt es hinaus? Auf das Sein, als das einzig Wirkliche? Aber um dieses einzig Wirkliche zu finden, muß ich von allem Wirklichen abstrahieren; denn das Sein bleibt übrig, wenn ich von der Wirklichkeitswelt, nämlich von dem sich gegenseitig bedingenden und tragenden Netz der Eigenschaften, Stück für Stück alles nehme, was begriffen werden kann.

Begriffen werden kann? Begreifen? Das heißt nicht einmal: ich erkenne die Identität zweier oder mehrerer Vorstellungen, sondern nur: ich führe eine neue Empfindung, eine neue Vorstellung auf alte, gewohnte, nicht mehr mir fremde, nicht mehr mich schreckende zurück. Und alles in Allem: Worte, welche die Empfindungen noch einmal setzen wollen, flimmernde Worte. – Die Welt, das ist einmal deine Sprache, und einandermal dein Sinnenkreis; aber in der Sprache setzest du die eine Seite der Welt dreimal, einmal grundlegend indem du sie mit deinen Sinnen empfindest, dann Ja zu deinen Empfindungen nickst und sie in Worten nachzubilden suchst und schließlich in deine Nachbildung dich selber hineinprojizierst, mit deinem Ichgefühl, dem Subjekt, und deinem Muskelgefühl, dem Prädikat; und die Welt, deren andere Seite du mit deinen Sinnen erleben und genießen kannst, die erlebst du erst rein, wenn du wie die Kuh oder der weltentrückte Buddha wortlos sprachlos gedankenlos, reaktionslos, – mystisch schaust; als welches mystische Schauen dann nicht viel von einem erhabenen Dösen zu unterscheiden ist. Aber die Reaktion und die Sprache ist deine Welt! Und die Sprache – – –

Das Netz zerreißt, die Fäden der Gravitation schnellen zurück und rollen in bangen Spiralen sich blitzschnell auf und ich hänge im Freien, ich breite meine Flügel, ich schöpfe Luft und atme tief, ich steige brausend hoch und kreise wie ein Geyer in meiner Höhle.

Und es ist, als wäre in ihr die Sonne untergegangen, wie sie droben jenseits der dünnen Schale untergeht und kurz nach ihrem Untergange ein kaltes Meergrün über den Himmel breitet. So meergrün und so sehnsüchtig zart wie die Sprache kleiner Märchen füllt die Farbe meine Höhle, wie die Sprache kleiner Märchen meine Riesenhöhle. Auf leichten weichen Flügelschlägen schwimme ich, ein einsamer Punkt, durch das ungeheure Märchen, durch die endlose sehnsüchtige Süßigkeit. Jetzt bin ich nur noch ein Wort, ein kleines zartes Wort, das mit einer verzuckerten [] Traurigkeit unsterblich durch die Jahrtausende fliegt, durch die Sprache der Menschen, durch ihre märchenschöne Welt, durch alle ihre Geheimnisse und Rätsel, die doch gar keine Rätsel und Geheimnisse, die feine süße Klänge und spielende, ein ganz klein wenig verlogene Kaprizzios sind, singe und fliege ich; und ich bin nur einer dieser Klänge, nur ihr lautester, nur der, zu dem sie alle immer auf und nieder klettern – – Ich! so heißt dieser Klang, Ich! das in sich das Du? schließt, und welches Du! zu sich selber sagt und in dem Du immer sich selber sieht – du märchengrüne Welt! Du meine goldene Verachtung und über alle Himmel fliegender Stolz!

Ein Tropfen Blut fiel in meine Welt – der zerfließt und zerstiebt und wirft die Ahnung von einem noch ungeborenen Pfirsichrot in meine grüne Höhle, in meine ungeheure Weite. Woher kam der Tropfen? Fiel er leise langsam aus meinem Herzen, dessen Riß noch nicht ganz vernarbt ist, jener kleine wehe Riß, der sich auftat, da ich erkannte, daß alles nur ein grünes Höhlensprachenmärchen ist? Aus meinem Herzen, das immer noch eine zarte dünne Sehnsucht weiter tragen möchte nach dem harten Stein, dem kalten Schnee und wer weiß? nach der weißen Haut einer runden Brust, einen törichten Kinderwunsch nach der wirklichen Wirklichkeit?

Ein Tropfen Blut fiel in meine Welt! Rot, rot – der wogt und wächst und schwillt, dick, rot, feuerrot, meine Höhle ist ein ungeheurer Wirbel von Purpur und Rot, der reißt mich fort in seiner Strudelflucht von Feuer und Blut. Wie ein Kork auf einem Strudel schneller und schneller kreist – ich fliege nicht, ich rudere nicht in dem brausenden Blut, ich breite meine Geyerflügel und lasse mich wütend treiben. Aber jetzt rege ich meine Flügel, jetzt peitsche ich das brennende Blut, jetzt – muß ich schneller sein als der wütende Strudel, ein Strudel im Strudel, eine Flucht in der Flucht, denn – hinter mir hat der Strudel einen Schaum geworfen, der hat sich zu tausend gierigen Teufeln geballt – flieg! flieg!

Wir sind die Welt: Not, Brot und Brunst!
In deiner Hüllen Zauberkunst:
in deiner Sinne Farbenglut,
in deiner Sprachen Märchengut
herrscht herrisch der Instinkte Wut!
[]
Versteck dich nicht – wir kennen dich:
aus jedem Finger spricht Verrat,
aus deiner erdenfernsten Tat
schreit laut dein notgepeitschtes Ich!
Heb dich nicht hoch – wir fliegen mit:
aus deines Fluges höchstem Glück
fällst du uns rettungslos zurück:
in Kot nach deinem Himmelsritt!
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – – aber der Regen spülte seine silberglänzende Aschenkruste fort und ließ ihn dastehen in einem stumpfen Glanz, den Wald, durch den das Feuer fuhr; in heulenden Flammen fuhr es durch ihn und nun fällt der Regen sickernd über ihn und es ist wie ein Grab, ist, wie wenn eine Sintflut von Pech über ihn gefallen wäre und hätte nur seine höchsten Wipfel grünen lassen, aber auch deren Blätter sind welk und werden über Nacht zu Boden fallen. Ich bin ein ausgebrannter Wald, eine Sintflut brach über meinen Geist, eine Sintflut radikalster Öde und tiefsten Vergessens, und ließ nur noch die höchsten Gipfel stehen, aber auch über die wird über Nacht die Woge schlagen – – –. Kein Laut, nichts Weißes, nichts Buntes, kein Vogel singt und kein Wind weht, nur in dünnen Bächen sucht sich der Regen in den schwarzen Rindenrillen einen Weg; denn es regnet nicht eigentlich, es liegt nur ein großes nasses Tuch über dem Wald und aus dem sickert die Feuchtigkeit an den Stämmen herab – – ich will ihnen die Zunge ausstecken! – – –

Es ist totenstill; zwischen den schwarzen Stämmen her sind meine Wände gekommen und haben mich schweigend eingeschlossen, stumm sitze ich wieder mitten im Grund der Erde.

[] Es ist totenstill – – es knistert! Es knackt – es bricht irgendwo und leuchtet – es wird Nacht und die Lampe erlischt – es poltert donnernd und irgendwo stürzen Bergemassen ein – es schlägt eine Flamme lohend hoch und verbrennt die Welt – – – – – – welch weißer Glanz?

[]

Holder of rights
ELTeC conversion

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2023). German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-deu). Paralyse : ELTeC ausgabe. Paralyse : ELTeC ausgabe. . ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-ED8A-C