Erster Teil
1
»Nun, Meister Schwan, für diesmal ist Er christlich durchgekommen, straf mich Gott! Ohne Willkomm und Abschied! Herr Gott von Dinkelsbühl, tut mir fast leid, daß ich Ihm nicht ein paar aus dem ff auf Sein gesundes Leder aufmessen darf, aus purer Freundschaft. Und dazu bloß ein halb Jahr! Aber ich hoff, so ein heißgrätiger Bursch wie Er wird bald wieder das Heimweh nach unserer lustigen Kartaus bekommen. Aufs Frühjahr spätestens, wenn die Bäum ausschlagen, werden wir wieder die Ehre haben. Ich will derweil ein paar tüchtige Haselstöcke ins Wasser legen, damit sie den gehörigen Schwung und Zug kriegen zum Willkomm, wenn's heißen wird: ›des Ebersbacher Sonnen wirts sein Gutedel ist wieder da.‹ Adjes, Meister Schwan, glückliche Reise und nichts für ungut.«
Es war unter dem Tore des Ludwigsburger Zucht-und Arbeitshauses, wo einer der Aufseher einem jungen Menschen dieses spöttische Lebewohl sagte. Dem untersetzten stämmigen Burschen konnte niemand im Ernste den Meistertitel geben, denn er schien kaum zwanzig Jahre alt zu sein. Auch sah er sehr sauer zu der Ehrenbezeigung, die nicht gerade aus wohlwollendem Herzen kam; sein breites rotwangiges Gesicht spannte sich zu einem trotzigen Ausdruck, den eine tiefe Schramme auf der Stirne [] noch erhöhte. Er hielt die Augen, wie aus Verachtung, zu Boden geheftet, aber dann und wann schoß er seitwärts einen Blick hervor, der wie ein bloßes Messer funkelte. Der Aufseher gab ihm statt des »Abschieds«, den er ihm gerne zugedacht hätte, einen derben Schlag auf die Schulter und ging lachend hinweg. Der entlassene Sträfling ballte die Faust und sah ihm mit ingrimmigen Blicken nach.
Eben wollte er mit einer Gebärde, welche ein nichts weniger als anständiges, aber um so aufrichtigeres Gesinnungsbekenntnis enthielt, dem Zuchthause den Rücken kehren, als er, noch einmal umschauend, einen Gegenstand gewahrte, der den Haß auf seinem derben lebhaften Gesichte plötzlich in das entschiedenste Widerspiel verwandelte. Es war ein Greis, der in der Gebrechlichkeit des Alters an einem Stabe über den Hof gegangen kam; er trug schwarze Kleidung, und die beiden weißen Überschlägchen, die ihm von der Halsbinde herabhängend auf der Brust spielten, bezeichneten seinen geistlichen Stand. Seine Erscheinung machte einen sichtlichen Eindruck auf alle Begegnenden; die ausgelassensten Züchtlinge verstummten, als er im Vorübergehen einen Blick auf ihre Arbeiten warf; der rohe Aufseher wich ihm von weitem aus. Jedem bot er seinen zuvorkommenden Gruß; er war immer der erste, der das schwarze Käppchen über den spärlichen weißen Haaren lüpfte, und doch sollte es ihm offenbar dazu dienen, sein greises Haupt vor der Herbstluft zu schützen; denn neben dem Käppchen trug er den dreieckigen Hut unter dem Arm.
[] Der junge Mensch war unter dem Tore des Zuchthauses stehengeblieben. In seinen Mienen zuckte es wie Gewitter und Regenschauer; aber zum Weinen schienen diese Züge zu derb. Unwillkürlich bewegte er den Fuß, um dem alten Geistlichen entgegenzulaufen; er besann sich jedoch wieder und blieb schüchtern stehen. Als jener näher kam, zog er die Mütze und trat ihn mit einer linkischen Verbeugung an. Man konnte denken, wenn er ein Hund gewesen wäre, so wäre er mit freudigem Winseln an ihm emporgesprungen und hätte ihm Gesicht und Hände geleckt. So aber war er ein Wesen, um das der Zuchthausaufseher schwerlich seinen Pudel hergegeben hätte, ein entlassener Sträfling, ein unbändiger Mensch, voll Trotz und Roheit; und doch regte sich in seinem Herzen etwas, das wir auch in den winselnden Tieren ahnen und das die Bibel mit den Worten bezeichnet: das Seufzen der Kreatur.
»Mit Verlaub!« stammelte er, – »ich wollte nur dem Herrn Waisenpfarrer Adieu sagen, weil der Herr Waisenpfarrer immer so gut gegen mich gewesen ist – ich hätt ja nicht fortgehen können ohne das.«
Der Waisenpfarrer – denn dieser war es, dem die Seelsorge im Zuchthause oblag – neigte sich mit freundlichem Lächeln zu ihm. Er hatte aus den verlegenen, halb verschluckten Worten des sonst sehr anstelligen Burschen den rechten Kern herausgehört. »So ist Er denn also jetzt frei, Friedrich?« sagte er zu ihm. »Ich wünsch Ihm von Herzen Glück. Nun gebrauche Er aber auch seine Freiheit so, wie man eine Gottesgabe gebrauchen muß.«
[] »Ich versteh schon, Herr Waisenpfarrer!« erwiderte der Jüngling, der mit der ersten Anrede seine Beengung weggesprochen und sich in einen Ton bescheidener Zutraulichkeit hineingefunden hatte. »Ich versteh schon. Das ist wie mit dem Wein. Der ist auch eine Gottesgabe. Wenn man aber solche Gottesgabe zu hart strapaziert, so wirft sie den Menschen hin, daß er gleichsam wie vierfüßig wird. Dagegen, wenn man sie mit Maß genießt, so erfreut sie das Herz und macht helle Gedanken im Kopf. Grade so ist's auch mit der Freiheit. Wenn man von der über Durst trinkt, so kann sie einen auch wohin werfen, wo zum Beispiel keine Freiheit mehr ist.«
Bei diesen Worten wies er mit dem Daumen über die Schulter nach dem Gebäude, das er soeben verlassen hatte, und seine weißen Zähne blinkten lachend zwischen den kirschroten Lippen hervor.
»Ja, so ist's, mein Freund«, versetzte der Geistliche. »Man pflegt wohl zu sagen: ich nehme mir die Freiheit, das und das zu tun. Das ist nur so eine höfliche Redensart. Mancher aber nimmt sich mehr Freiheit, als er einem andern gönnt, und tut einem andern etwas, was er sich selbst nicht angetan wissen will. Das aber ist zu viel Freiheit, und Er weiß wohl, was zu viel ist, das ist vom Übel. Eigentlich sollten wir unsere Freiheit bloß dazu anwenden, um einander lauter Liebes und Gutes zu tun; denn wenn die Menschen alle einander dienen würden, dann wäre ja ein jeglicher so wie ein Diener auch wieder ein Herr, und dann wäre die wahre Freiheit in der Welt.«
[] »Ja, wenn alle so wären, wie der Herr Waisenpfarrer, dann wär's keine Kunst, ihnen zu dienen. Aber so ist's nicht in der Welt. Da ist viel Herzenshärtigkeit und Schlechtigkeit, nicht bloß solche, die den Nebenmenschen übervorteilt, sondern auch Bosheit, die ihm ohne allen Grund die Milch sauer macht, und wenn man auf so einen Giftmichel trifft, so meint eben die Faust gleich, sie müsse ein Wörtlein mit ihm reden.«
»Mein Sohn«, sagte der alte Geistliche, »man hat den Verstand dazu, daß man der Faust nicht ihren Willen läßt. Und es kommt nur darauf an, daß man einem Menschen seine gute Seite abgewinnen lernt. Eine gute Seite hat auch der Schlimmste. Wenn man aber einmal diese gefunden hat, so ist's, als hätte man den Schlüssel zu einer sonst verschlossenen Türe, und wenn man hineingeht, so trifft man oft auf Dinge, die man gar nicht hinter dieser Türe gesucht hätte. Da ist zum Exempel ein gewisser Friedrich Schwan. Den hat man mir geschildert als einen rohen, verworfenen Burschen, dessen Herz keiner guten Regung fähig sei – Faust in Sack! Die Leute urteilen eben nach der Außenseite – und wie ich ihn nun selber kennenlernte, da fand ich in ihm einen Menschen, dessen Herz wie ein wild aufgeschossenes Reis ist, trotzig und aufrührisch gegen jedes rauhe Lüftchen, weich und geschmeidig gegen jeden freundlichen Sonnenstrahl, einen Menschen, der gegen harte Worte und Behandlungen störrisch bleibt und den man mit Güte um den Finger wickeln kann. Ist's nicht so?«
[] »Ja, so ist's, Herr Waisenpfarrer«, antwortete der junge Mensch verlegen und gerührt.
»Nun, das ist aber auch keine Kunst, gegen Gute gut zu sein. Wenn's weiter nichts wäre als das, so würden wir ja durch die breite Pforte in den Himmel eingehen, statt durch die schmale.«
»Das ist wahr, Herr Waisenpfarrer«, erwiderte der junge Mensch bedenklich. »Aber wenn alle Menschen unterdiensthaft gegeneinander wären, wie Sie vorhin gesagt haben, so wäre es gerade dasselbe Ding.«
»Allerdings. Aber da die Menschen im allgemeinen bis jetzt nicht geneigt sind, uns die Himmelspforte so breit und bequem zu machen, so dürfen wir deshalb der schmalen nicht untreu werden. Wir müssen gegen unsere Nebenmenschen gerade so liebreich und dienstfertig sein, wie sie eigentlich gegen uns sein sollten, unangesehen, ob sie es sind oder nicht. Vielleicht gewinnen wir sie dadurch und bewegen sie, unser Beispiel nachzuahmen.«
»Ja, ja, Herr Waisenpfarrer«, fiel der junge Mensch lebhaft ein, »das ist gerade, wie wenn ein ungebautes Stück Feld umgebrochen werden soll. Da kommt es nur drauf an, daß einmal ein Anfang gemacht wird, der für den Fortgang und fürs Fertigwerden Bürgschaft gibt, und ist also ein kleines umgepflügtes Flecklein fast schon so wichtig wie das ganze künftige Neubruchland.«
»Er hat mich gar wohl gefaßt«, versetzte der alte Herr mit freundlichem Lächeln. »Wenn das Reich Gottes auf Erden erscheinen und ihm die Stätte bereitet [] werden soll, so tut es zuerst not, daß ein Kern von guten Menschen gezogen wird, von welchen die Güte und der Segen allmählich auf die andern übergehen kann. Die müssen aber festhalten wie ein Häuflein Streiter, von denen der Ausgang einer Schlacht abhängt. Ja, mein Sohn«, fuhr er fort und legte ihm die abgemagerte Hand auf dieselbe Schulter, welche vorhin der Aufseher so unsanft berührt hatte, »da muß man den Pflug über das trotzige Herz gehen lassen, da muß man eine Beleidigung nicht mit Tätlichkeiten erwidern, die ins Zuchthaus führen. Vielmehr, wer zu jenen Kerntruppen gehören will, der muß gegen seinen Feind gar noch ein gutes Wort und ein freundlich Gesicht aufzuwenden haben, und was noch weit mehr heißen will, es muß ihm sogar von Herzen gehen.«
Der Jüngling, der irgendeinen Widersacher im Geiste vor sich stehen sehen mochte, trat bei dieser Zumutung betreten einen Schritt zurück. Die Größe der Aufgabe war ihm augenscheinlich schwer aufs Herz gefallen. – »Aber«, sagte er, »da wird mancher denken, wie es im Evangelium heißt: das ist eine harte Rede, wer kann sie hören?«
Der Greis lächelte. »Mein junger Freund ist sehr bibelfest«, versetzte er, »ich bemerke das heut nicht zum erstenmal. Die besten Kernsprüche, die schönsten Liederverse hat er fest im Kopfe behalten, aber ob auch in einem feinen Herzen? Das ist nun die Frage. Diese schönen Stellen, welche die Jugend in den Schulen auswendig lernt und oft recht gedankenlos dahersagt, sind Samenkörnern zu vergleichen.[] Nun ist es zwar um ein Samenkorn ein edles Ding, aber der aufgewachsene Baum und seine Früchte sind doch noch etwas ganz anderes. Oh, mein lieber Friedrich, ich fürchte« – bei diesen Worten hob er liebreich den Finger gegen ihn auf –, »ich fürchte, dieses trotzige Gemüt muß noch durch Leiden gebeugt und recht umgebrochen werden, wenn es ein Boden werden soll, darin der Same zu Früchten aufgehen kann. Mein Sohn, habe Er immer den vor Augen, von dem wir jene Sprüche überkommen haben, der nicht schalt, da er geschlagen ward, und nicht dräuete, da er litt. Ich will Ihm aber nicht mit einem Male ein Werk auflegen, das für manche zartere Seelen noch zu schwer ist. Fange Er im Kleinen an, mein lieber Sohn. Strebe Er, sanftmütig zu werden. Denke Er immer zur rechten Zeit daran, den aufquellenden Zorn zu bezähmen; denn der Zorn hat einen bösen Urahn, den Mörder von Anbeginn, und wenn man ihn herausläßt, so gleicht er der Kugel, von der das Sprichwort sagt: ›wenn sie aus dem Rohr ist, so ist sie des Teufels‹. Vor allem aber will ich Ihm eines ans Herz legen. Er ist vermöglicher Leute Kind, und in einem Wirtshause fallen manche Brocken ab. Benütze Er diese Gelegenheit, um Gutes zu tun und nach Seinen Kräften den traurigen Unterschied, der in der Welt ist, ein wenig auszugleichen. Er kann, ohne Seinen Vater zu übervorteilen – und das darf Er ja nicht tun! –, manchem armen Schlucker etwas zufließen lassen. Ich sage das nicht, daß Er meinen soll, Er könne sich ein Verdienst vor Gott damit erwerben. [] Aber der rechte Glaube wird auch immer die rechten Werke gebären, und hinwiederum, wer die rechten Werke tut, der setzt zugleich sein Inneres in die rechte Verfassung, wie sie vor Gott sein soll; denn Gutes tun macht ein gelindes Herz. Deshalb, mein Sohn«, beschloß er mit einem unbeschreiblich heitern und scherzhaften Lächeln, »will ich Ihm, da Er noch so jung ist, nicht zumuten, daß Er gleich als Flügelmann unter jene Kerntruppen tritt, von denen ich gesprochen habe. Suche Er nur zuerst als Marketender bei ihnen anzukommen, dann kann Er sich allmählich weiter aufdienen, bis –«
Ein Geräusch unterbrach ihn, das ihm den frommen Scherz aufs kläglichste verbitterte. Unzweideutige Schläge hallten von dem untern Stockwerk her, dem der Geistliche und sein aufmerksames Beichtkind nahe standen. Sie folgten mit unerbittlicher Regelmäßigkeit aufeinander, so daß der Greis die schwache Hand ausstreckte, als ob diese abwehrende Gebärde der Grausamkeit ein Ende machen könnte. Man hörte kein Geschrei, sondern nur ein dumpfes Knurren, in welchem jedoch der menschliche Ton zu unterscheiden war. Dieses Knurren, das sich in Zwischenräumen wiederholte, machte den Vorgang weit unheimlicher, als wenn die lautesten Wehklagen ihn begleitet hätten.
Der junge Friedrich ballte die Faust gegen das Gebäude. »Diese Prügelhunde!« rief er, »es ist ihnen nur wohl, wenn sie zuschlagen können.«
Der Waisenpfarrer legte ihm wieder die Hand, die aber diesmal zitterte, auf die Schulter. »Mein Sohn«,[] sagte er, »die Menschen haben es mit der Sünde verdient, daß der Schmerz und das Wehtum in die Welt gekommen ist. Wo aber Strafe ist, heißt es, da ist Zucht, und wo Friede ist, da ist Gott.«
Die Schläge hallten dazwischen fort. Der Greis brach mit einem tiefen Seufzer die Unterredung ab. »Nun lebe Er wohl, mein lieber Friedrich«, sagte er. »Gott sei mit Ihm auf allen Seinen Wegen. Denke Er an das, was ich Ihm gesagt habe, damit wir uns fröhlich und ebendarum niemals mehr an diesem Orte wiedersehen.«
Er drückte ihm die Hand und wankte, so eilig als er es vermochte, an seinem Stabe dahin. Zwar hatte auch er die Meinung seinerzeit ausgesprochen, daß durch grausame Züchtigungen der Wille Gottes erfüllt und sein Kommen vorbereitet werde, aber er schien doch nicht gern dabei zu sein und hatte es in diesem Augenblick wohl tief empfunden, daß das Reich Gottes, so wie er es verstand, noch sehr ferne sei.
Der junge Friedrich aber blieb unter den Fenstern des Zuchthauses stehen und lauschte dem Geräusch der Pein, vor welchem sein ehrwürdiger Beichtiger entflohen war. Er fühlte zwar nicht geringe Entrüstung über die Gewalt, die hier einem Menschen angetan wurde, aber der Schmerz des Armen verursachte ihm, der selbst schon manchen derben Puff ausgehalten hatte, kein besonders zartes Mitgefühl.
Die Schläge hörten endlich auf. Bald hernach öffnete sich die Türe, und von einer unsichtbaren Hand geschleudert, kam ein Mensch herausgeflogen. [] Der Stoß war nicht eben sanft gewesen, doch hie der Hinausgeworfene sich wie eine Katze auf den Füßen. Sein Gesicht zeigte trotz der zigeunerischen Farbe die Spuren überstandener Anstrengung, es war dunkelrot, und ein schielendes Auge gab diesen jugendlichen Zügen einen furchtbaren Ausdruck. Der junge Zigeuner, der soeben einen rauhen Abschied durchgemacht hatte, schüttelte sich am ganzen Leibe, er kehrte sich gegen das Zuchthaus um, streckte die Zunge, so lang er konnte, heraus und ging dann gemächlich seiner Wege.
»Ich glaub, sie haben dich mit ungebrannter Asche gelaugt, und das scharf«, sagte Friedrich, als er an ihm vorüberkam.
»Ich glaub auch«, war die trockene Antwort des Zigeuners, der einen Blick aus seinem scheelen Auge über den Frager hinlaufen ließ und sich von dannen machte.
Friedrich, der auf den Burschen neugierig geworden war, folgte ihm von weitem nach. Aber erst als sie Ludwigsburg mit seinen vornehmen regelrechten Straßen hinter sich hatten, wagte er, die Gesellschaft des verachteten Zigeuners aufzusuchen. Dieser schien nachlässig vor sich herzuschlendern, und doch hatte er Mühe, gleichen Schritt zu halten und ihn endlich einzuholen.
»He, wohinaus, Landsmann?« schrie er ihn an.
»Dem Hohenstaufen zu«, antwortete der Zigeuner seitwärts herüber, ohne sich in seinem Gange aufhalten zu lassen.
»Dann haben wir ja schier gar einen Weg«, sagte [] Friedrich, an seiner Seite gehend. »Der meinige führt nach Ebersbach.«
»Da können wir wenigstens eine Strecke weit beisammenbleiben«, erwiderte der Zigeuner.
Die beiden jungen Burschen gingen nun mit wackeren Schritten durch die Ebene und dann jenseits des Neckars über die Anhöhen hin, welche zwischen diesem und der Rems liegen, und machten nach einer tüchtigen Wanderung bei einem einsamen Wirtshäuschen halt, wo Friedrich seinen Gefährten zu Gaste lud. Eine Flasche vom Saft des Apfels und ein Rettich, der den Sommer überlebt hatte, war alles, was ihm ein paar gesparte Pfennige aufzutischen erlaubten. Die vorgerückte Jahreszeit ließ sich so mild an, daß die beiden Wanderer im Freien auf der verwitterten Bank unter dem alten Apfelbaum ihr Mahl verzehren konnten. Hungrig und durstig griffen sie zu und ließen sich's nach der Weise der Jugend schmecken.
Wie lustige Sperlinge genossen sie der wiedererlangten Freiheit, schalten auf das Gefängnis, von dem sie herkamen, spotteten über die Schwachheiten der Aufseher und erzählten sich lose Streiche, womit sie deren Wachsamkeit umgangen hatten. Unter Plaudern und Lachen war die Flasche nur allzubald geleert. Sie kehrten alle Taschen um, bis sie in der erdenklich kleinsten Münze, aber auch mit dem erdenklich größten Jubel die nötige Summe zusammengebracht hatten, um eine zweite zu bestellen.
»Wie bist du denn eigentlich«, fragte Friedrich unter dem Einschenken, »in den Gasthof zur Kardätsche [] geraten? Mit bloßem Vagabundieren hast doch so jung nicht so hoch in die Wolle avancieren können.«
»Nein«, erwiderte der Zigeuner unbefangen, »ich hab krumme Finger gemacht.«
»Pfui«, rief Friedrich, »Stehlen, das ist was Hundsgemeines, heißt das, wenn –«
»Von z'wegen was seid Ihr hineingekommen?« unterbrach ihn der Zigeuner etwas rasch. Ungeachtet des Ärgers über die biderbe Bemerkung vergaß er nicht, daß sein Genosse der herrschenden Nation angehörte und daß er den größeren Teil der Zeche bezahlt hatte: Grund genug, ihn in der majestätischen Mehrzahl anzureden. – »Man wird Euch auch nicht bloß um der Kostbarkeit willen hinter Glas und Rahmen aufgehoben haben.«
»Ich hab einen durchgeprügelt und das lederwindelweich. Der Heuchler gab dann vor, er könne den Arm nicht mehr gebrauchen. Es war aber erlogen, und so schickten sie mich eben auf ein halb Jahr an das Örtchen, von dem man nicht gern red't.«
Der Zigeuner machte ein unbefriedigtes Gesicht. »Und habt Ihr Euch niemals an fremdem Eigentum vergriffen«, fragte er, »daß Ihr da so auf dem höchsten Gaul sitzen könnt? Seid Ihr niemals einem andern in die Äpfel gegangen oder in die Kirschen? Denn«, setzte er eifrig hinzu, »Stehlen ist Stehlen, das sag ich.«
»Ja, meinem Vater bin ich wohl über die Kirschen gegangen und auch über die Geldlade. Aber das ist[] was anderes, das geht ja vom eigenen und heißt eben vor der Zeit geerbt. Das ist nicht gestohlen. Stehlen heißt, wenn man fremden Leuten das Ihrige nimmt, und das ist eine Schmählichkeit.«
»Wenn bei uns einer«, versetzte der Zigeuner höhnisch, »seine Eltern bestehlen würde, so könnte seines Bleibens nicht mehr sein; der ärgste Spitzbube würde ihn verachten und anspeien. Bei uns ist es Sitte, daß man die Eltern ehrt und liebt und daß man ihnen eher zubringt, als daß man sie bestiehlt. Dafür lassen sie es aber auch an ihren Kindern nicht fehlen, sie geben ihnen den letzten Bissen vom Munde weg, und des halb ist es gar nicht möglich, daß so etwas bei uns vorkommt. Ist mir auch eine ganz besondere Lebensart, daß ich einen Fremden schonen soll, der mich nichts angeht, und soll mich dagegen an meinem Vater vergreifen, der mir der Nächste ist in der Welt. Das bring mir ein anderer in den Kopf, mir ist es zu hoch. Kommt mir gerade vor, wie wenn im Krieg einer sich von den Feinden abwenden wollte und auf seine Freunde schießen.«
Friedrich war betroffen. Sein gesunder Verstand sagte ihm, daß etwas Wahres an dieser Ansicht sei, und doch konnte er sie nicht zugeben, da sie den Sitten und Gewohnheiten, unter denen er aufgewachsen, völlig widersprach. Die beiden jungen Leute stritten eifrig und konnten sich lange nicht verständigen. Darin waren sie zwar einer Ansicht, daß auf die »Herrschaft« keine strengen Begriffe von Eigentum anzuwenden, daß die Tiere im Walde, die Fische im Wasser eigentlich Gemeingut seien; aber über den[] Rest des großen Kapitels vom Mein und Dein konnten sie nicht einig werden.
»Stehlen und Stehlen ist zweierlei«, rief Friedrich zuletzt. »Geh du nach Ebersbach und frag von Haus zu Haus, ob die Leut nicht einen Unterschied machen, und die Leut müssen doch auch wissen, was sie tun. Überall gilt's für eine größere Schande, wenn einer einem Fremden was stiehlt, als wenn er's den Eigenen nimmt; denn da bleibt's ja in der Familie.«
»Dann sollte man ihn auch in der Familie abmurxeln«, sagte der hartnäckige Zigeuner, »und jedem davon ein Stück zum Kochen geben, wenn eure Gesetze so schlecht sind, daß sie bloß den einen Diebstahl strafen, den andern aber nicht.«
»Oha«, sagte Friedrich, »umgekehrt ist auch gefahren. Selbiges ist anders. Die Gesetze, die sind so überzwerch wie du, die behaupten auch, Stehlen sei Stehlen. Wie es herauskam, daß ich meinem Vater ein paar hundert Gulden genommen hatte, die er mir nicht gutwillig geben wollte, um in die Fremde zu gehen, da taten sie mich geschwind nach Ludwigsburg zum Wollkardätschen, ob ich gleich erst ein unverständiger vierzehnjähriger Bube war. Damals hab ich auch gelernt, was der Willkomm und Abschied für höfliche Komplimente sind, und hab empfunden, wie es patscht, wenn Haselholz und Hirschleder zusammenkommen.«
Der Zigeuner schlug ein lustiges Gelächter auf. »Aber nicht wahr«, rief er triumphierend, »mit einem solchen Leibschaden noch stundenlang drauflos [] marschieren und dann auf einem hölzernen. Bänkchen herumrutschen, das könnt auch nicht ein jeder.«
»Nun, nun«, entgegnete Friedrich, »man merkt's dessenungeachtet wohl, wo du dermalen deine schwache Seite hast. Du sitzt ja so windschief da, als wenn das Bänkchen unter dir brennte, die armen Seelen in der Hölle, die auf dem Glufenhäfelein sitzen, können nicht öfter wechseln und nicht possierlicher den Fuß an sich ziehen. Aber das muß man dir lassen: mannlich hast du dich gehalten. Wenn ich nur noch ein paar übrige Kreuzer hätt, so ließ ich dir einen Kirschengeist zum Einreiben kommen.«
»Einreiben! Wer wird auch die Gottesgabe so sündlich verschwenden! Den Kirschengeist muß man innerlich brauchen, von innen heraus kuriert er noch einmal so schnell.«
»Das glaub ich dir!« lachte Friedrich. »Überhaupt hab ich schon oft gedacht, ihr Zigeuner müsset ein gutes Fell haben, stich- und kugelfest. Man könnt's, schätz ich wohl, zum Überzug für ein schwaches Gewissen brauchen.«
»Es dient oft auch dazu. Ja, eine gute Haut, die muß der Zigeuner haben, und hartgesotten muß er sein, wenn er solch mühseliges Leben aushalten soll. Frost und Hitze muß ihm gleichviel gelten. Halbnackt muß er gehen können, wenn ihm der gefrorne Schnee unter den Füßen kracht, und die schwerste Bürde muß ihm wie ein Flaum sein, wenn ihn die Sonne mittags auf die Glieder sticht. Sein Lager ist unter Gottes freiem Himmel, und in böser [] Nacht hat er's nicht immer so gut, daß er auch nur im Hüterhäuschen unterkriechen kann. Oft hat er nur einen Baum zum Obdach, unter dem schläft er zufrieden, wenn der Sturm durch die Äste fährt und die Blätter schüttelt, daß ihm der kalte Regen auf die Stirne tropft.«
»Herr Gott«, rief Friedrich mit rauher Rührung, »ich kann doch auch was vertragen, aber so ein Leben muß ja den besten Mann umbringen! Mußt du nicht selber sagen, daß es vernünftiger wäre, wenn ihr das Heidenleben aufgäbet, eine christliche Ordnung anfinget und ließet euch mit andern ehrlichen Christenmenschen in Handel und Wandel ein? Wer ein paar tüchtige Arme hat und einen Kopf, der sie regiert, der wird nicht sobald mit leerem Magen ins Bett gehen und nicht im kalten Regen schlafen dürfen.«
»Wir sind so gute Christen wie ihr«, versetzte der junge Zigeuner eifrig, »es mag sich fragen, ob wir nicht besser sind? Aber wie wollten wir denn mit euch leben? Ihr stoßt uns ja aus und wollt keine Gemeinschaft mit uns haben. Wie kann der Zigeuner, dem ihr mit Verachtung die Türe weiset, sein ehrlich Brot bei euch verdienen? Ich bin aus einer Familie, die schon seit zweihundert Jahren hier im Württembergischen, dann im Deutschherrischen drunten und in den beiden Markgrafschaften am Rheine drüben hin und wieder zieht. Nun fehlt es uns zwar dort nicht an Bekanntschaften, aber ich möchte doch auch in all diesen Landen einen einzigen Menschen sehen, wenn unsereiner z.B. käme [] und ihm sagte: ›Ich will ein ander Leben führen und ein ordentliches Wesen anfangen, da bin ich, nimm mich auf, teile dein Haus und dein Brot mit mir, soviel als dir meine Dienste wert sein mögen‹ – den Menschen möcht ich sehen, der darauf sagen würde: ›Tritt ein und bleibe bei mir.‹ Auch unter den Unsrigen möcht ich den Menschen sehen, dem es im Schlaf einfallen könnte, eine solche Bitte zu tun. Denn jeder weiß die Antwort im voraus und weiß, wie man beiderseits voneinander denkt. Das ist jetzt eben einmal von Anbeginn so und wird auch nicht mehr anders werden. Ich weiß wohl, ein mancher von den Meinigen ist eines bösen Todes gestorben, und wie könnte es auch anders sein? Das Element, in dem einer lebt, ist natürlicherweise auch zuletzt sein Tod. Das ist allenthalben so. Wer sein Leben lang im Hanfsamen sitzt wie ein freier Spatz, der find't wohl auf die Länge auch ein hänfenes Ende. Man tät's wohlfeiler nehmen, wenn man's haben könnte. Ein paar fette Kapitälchen verzinsen, essen und trinken, was gut schmeckt, mit vier Schweißfuchsen fahren oder auch nur mit zweien, – meint Ihr, der Zigeuner habe zu einem solchen gemächlichen Leben nicht so viel Genie als irgend jemand in der Christenheit?«
»Mir zweifelt's gar nicht!« lachte Friedrich. – »Aber jetzt kann ich auch auf einmal begreifen, warum du es für so schandhaft hältst, wenn von euch einer seinem eigenen Vater etwas nehmen würde, und an diesem Beispiel wird mir's klar, daß du eigentlich Ehr im Leibe hast. Denn die Moral ist bei euch im[] Grund die nämliche wie bei uns, nur daß sie natürlicherweise umgekehrt ist.«
Mit diesen Worten, die zwar keine klare Anschauung des Standpunkts, aber doch eine gewisse Ahnung desselben verrieten, suchte er die obschwebende Streitfrage zu lösen. »Aber es wird spät«, fuhr er fort, »und wenn wir die Buttel auch auswinden wie ein Leintuch in der Wäsche, so pressen wir doch keinen Tropfen mehr raus. Weißt was? Komm du mit mir über Ebersbach, ich will dir einen heidenmäßigen Kirschengeist einschenken zur inwendigen Kur. Ob du links am Staufen vorbeigehst oder rechts, das ist gehopft wie gesprungen.«
»Ja, es ist am End ein Ding«, entschied sich der Zigeuner, »und auf eine Stunde soll mir's nicht ankommen.«
Die beiden jungen Burschen erhoben sich und stiegen die gelinden Anhöhen hinab, an deren Fuße das Filstal sich gegen den Neckar öffnet. Wohlgemut schlenderten sie die Straße an dem Flüßchen aufwärts; der Zigeuner pfiff gellende Weisen, Friedrich aber schwieg still, und unter seiner breiten Stirne schien ein mächtiger Gedanke zu arbeiten. Die Worte des Waisenpfarrers gingen ihm im Sinne herum; das Vertrauen des ehrwürdigen alten Mannes hatte ihn stolz gemacht, und es war ihm zumute, als ob er gar nichts nötig hätte als ein bißchen guten Willen, um ein großes Werk zustande zu bringen.
Sie waren wohl eine gute Stunde so zugeschritten, ohne ein Wort miteinander zu reden, als Friedrich [] auf einmal stehenblieb und seinen Gefährten kräftig am Arme faßte. »Und ich sag dir«, rief er, »du bleibst bei mir! Ich will dir zeigen, daß ich auch ein guter Christ bin. Wenn ich dein armes verstoßenes Volk in das Erbe einsetzen könnte, das von Gott und Rechts wegen einem so gut gehört wie dem andern – mit einem Schlag wollt ich das tun. Nun kann ich aber weiter nichts, als an einem einzelnen, der mir unter die Hände kommt, ein christlich Werk verrichten. Du gehst mit mir, da ist keine Widerrede, die Sonne von Ebersbach hat Raum für viele! Da wird sich schon ein Plätzlein für dich finden im Haus und ein Stuhl am Tisch und ein Brocken in der Schüssel. Zu tun gibt's auch immer etwas, du dienst meinem Vater als Knecht, wie ich, und sollst es nicht schlechter haben als ich. An Frost und Schneepatschen, an Last und Hitze wird's zwar nicht fehlen, je nachdem die Jahreszeit ist; aber das Schlafen im kalten Regen und alles andere, was dazu gehört, das soll und muß ein Ende haben. Komm her, schlag ein.«
Der andere hatte ihn anfangs mit seinem scheelen Auge verwundert angesehen; die Zuversichtlichkeit seiner Rede schien aber jedes Bedenken bei dem Zigeuner verwischt zu haben, und er tat, wie ihn sein Gefährte hieß. Friedrich erwiderte seinen Handschlag mit einem noch kräftigeren, und zufrieden, wie wenn sie einen guten Markthandel abgeschlossen hätten, setzten sie ihren Weg miteinander fort. Der Tag begann sich eben zu neigen, da breitete sich das Ziel ihrer Reise, ein beträchtlicher Flecken, [] in angenehmer Talweite zwischen den Anhöhen wohlgelegen, freundlich und heimatlich vor ihren Augen aus.
2
»Frau Sonnenwirtin, jetzt ist's an mir!« rief der ältere von zwei Männern in hellblauen Wämsern, die am Wirtstische saßen. »Bringt nur gleich zwei Bouteillen auf einen Streich. Und wenn das Vermögelein draufgehen sollte, der Friede muß stet und fest sein. Man sagt ja, ein Prozeß sei etwas Fettes. Nun gut, auf etwas Fettes muß man brav trinken, damit's einem den Magen nicht verdirbt.«
»Nach Befehl!« erwiderte die Wirtin, eine große schlanke Frau, aus deren gelblichem Gesichte starke Knochen hervortraten; und die Flaschen auftragend fuhr sie fort: »G'segn's Gott, ihr zwei Müller, Ober und Unter! Das ist das wahre Wasser auf eure Mühlen und wird sie besser treiben als das Haderwasser, dem ihr einige Zeit her den Zugang verstattet habt. Ja ja, ich gratulier! Ein fetter Vergleich ist besser als ein magerer Prozeß. Das Sprichwort sagt's zwar umgekehrt, aber ich hab doch recht. Auch ist's gescheiter, das Geld in die Sonne zu tragen, als zum Advokaten, denn bei dem wär't ihr doch nicht so 'ring durchgekommen, wie mit so ein paar Bouteillen Zehner.«
Die beiden Zunftgenossen, welche einen über ihre Gerechtsame entstandenen Streithandel noch beizeit geschlichtet hatten, ließen ihrer guten Laune vollen[] Lauf. Sie saßen schon den halben Nachmittag hinter ihrer Friedensflasche und hatten, wie das in solchen Fällen zu geschehen pflegt, die streitigen Punkte sowie die Gründe, die zur Beilegung rieten, mehr als ein dutzendmal umständlich durchgesprochen. Lachend trank der jüngere der Wirtin zu, der ältere aber bedachte sie mit einer derben Liebkosung. – »Was die Sonnenwirtin noch ein fester Kerl ist!« rief er, »ich glaub, die wär Manns genug, um noch Zwillinge zu bringen.«
Die Frau schoß einen scharfen Blick aus ihren grauen Augen auf den Necker, stieß ihn mit einem halb scherzhaft, halb ernstlich gemeinten Scheltwort zurück und verließ, ihren Geschäften nachgehend, das Wirtszimmer.
»Ich glaub, Euch juckt's schon wieder nach einem Prozeß, Vetter!« sagte der jüngere Müller lachend. »Paßt nur auf, die da versteht keinen Spaß. Ihr werdet wohl wissen, daß man ihr kein gebrannteres Herzeleid antun kann, als wenn man sie an ihre Kinderlosigkeit erinnert.«
»Weiß wohl«, entgegnete der andere, »und ebendarum hab ich's getan, weil ich die neidige, gelbe, giftige Kröte noch gelber sehen will, als unser Herrgott sie geschaffen hat. – Komm her, Peter«, unterbrach er sich, einem Eintretenden zurufend, »du hast treulich mit zum Frieden geraten, nun ist's billig, daß du auch mit uns trinkst. Ihr werdet nichts dagegen haben, Vetter, wenn ich meinem Knecht einschenke? Hol dir ein Glas und geh her.«
Der Knecht tat, wie ihm geheißen wurde, und setzte [] sich dann hinter einen andern Tisch auf die Bank, die vorm Ofen längs der Wand hinlief. Von dort aus nahm er seinen wohlberechtigten Anteil am Gespräch, stellte sich auch in seinem Reden und Benehmen völlig auf den Gleichheitsfuß mit seinem Herrn und dessen Gefährten; nur dadurch, daß er nicht unmittelbar bei ihnen Platz nahm, beobachtete er den Standesunterschied.
»Der gelbe Neidteufel!« fuhr der obere Müller fort. »Man darf nur den Sonnenwirt vergleichen, was er unter seinem ersten Weib für ein Mann war, und was er unter dem dürren Rippenstück für einer geworden ist. Damals war er aufgeweckt und kameradschaftlich und gar nicht b'häb in Handel und Wandel und Geldsachen. Jetzt ist er schwach und hat keinen eigenen Willen mehr, dabei aber gegen andere Leute ein wahres Untier an Geiz und Hochmut. Der alte Kerl, er trägt den Kopf wie ein Edelmann und meint wahrhaftig, er sei aus anderem Teig gebacken als wie unsereiner.«
»Das macht eben der Reichtum«, sagte der Knecht von seiner Bank herüber.
»Ja, er ist grausig reich«, versetzte der untere Müller. »Der Holzschlegel rindert ihm auf der Bühne. Er wird wohl auf zwölftausend Gulden geschätzt. Aber freilich, wie Ihr sagt, Vetter, so verhält sich's: er ist b'häb und faßt das Tuch an fünf Zipfeln.«
»Ja, und guckt in neun Häfen zumal«, fiel der andere ein.
»Wo der gedroschen hat, darf man kein Korn mehr suchen«, ergänzte der Knecht.
[] »An all dem ist das vorteilhaftige böse Weibsbild schuldig! Sie will alleweil oben hinaus; sie möcht's gern der Pfarrerin und der Amtmännin gleichtun, schmeichelt sich auch bei ihnen an und verlästert andere Leute, denn das hören solche Frauen immer gern. Oh, die ist falsch wie Galgenholz. Und wie ist sie nur mit ihren Stiefkindern umgegangen! Die hat sie von Anfang an zurückgesetzt und verkürzt, in der Meinung, sie werde eigene bekommen, und wie das nicht eingetroffen ist, so hat sie's ihnen aus Mißgunst noch ärger gemacht. Die älteste Tochter hat den kahlköpfigen, trockenen Krämer da drüben geheiratet, um nur aus der Hölle loszuwerden. Die andere, die Magdalene, tät, schätz ich wohl, mit einem Frosch vorliebnehmen, wie die Prinzessin im Märlein.«
»Ihr trefft den Nagel auf den Kopf, Vetter?« rief der jüngere Müller mit mürrischem Lachen. »Wie? oder wißt Ihr's nicht? Hat ein blindes Schwein eine Eichel gefunden?«
»Nun, was ist's denn?«
»Habt Ihr den Laubfrosch noch nie aus und ein gehen sehen? Wißt Ihr denn nicht, was man für Werg an der Kunkel hat?«
Der andere schüttelte den Kopf.
»Das Ausrufungszeichen in dem froschgrünen Rock!« fuhr der jüngere hitzig fort. »Er sieht akkurat aus, wie Ihr ihn gestempelt habt. Seid Ihr denn heut ganz auf den Kopf gefallen?«
»Was, der Bartkratzer, der sogenannte Herr Chirurgus, der Heuchler, der Kopfhänger, die magere Kuh[] Pharaonis? Jetzt wird mir's anders! Jetzt hab ich eine Stärkung vonnöten! Kommt, Vetter, ich will's an Euch hinlassen.«
Damit erhob er sein Glas. »Ich will's ausstehen«, erwiderte der andere mit sauersüßer Miene, kam ihm mit dem seinigen entgegen, und sie stießen miteinander an. Nachdem der Knecht durch einen Wink beschieden worden war, den Dreiklang voll zu machen, lehnte sich der ältere Müller in seinen Stuhl zurück und fuhr verwundert fort: »Ei so guck einer! Der Alte schlägt seine Mädchen doch recht unterm Preis los, denn die paar Fußbreit Grundherrschaft, die der grüne Darmfeger besitzt, werden justement einen Sack Erdbirnen ausgeben, und was er jahraus, jahrein mit seiner Rasiererklinge aus den hiesigen Schweinsborsten und Igelsstacheln heraussticht und schabt, das wird ihn auch nicht gerade fett machen. Die Figur gibt's. Aber der Alte trifft zwei Fliegen mit einem Schlag. So ein Schlucker darf kein groß Heiratgut fordern; da behält der Schwäh'rvater seine Kronentaler brav in der Truhe und hat noch den Profit, daß ihm der fromme Schwiegersohn, so oft er den Morgen- und Abendsegen liest, um ein baldsanftseliges Ende betet. Seine erste Tochter wird auch nicht viel mitbekommen haben, wie er sie hinausgegeben hat; denn ich seh just nicht, daß ihr Eh'krüppel sonderlich stark spekuliert, weder in Käs noch in Schwefelhölzlen. Ekonträr, im Gegenteil, seine Firma geht einen sehr bedächtlichen Gang und blüht wie die späten Obstsorten; ich glaub, er hat's aufs langsam reich werden [] angelegt. Aber es ist doch ein Herr Handelsmann, in Stuttgart heißen sie's gar Kommerzienrat, und das ist Numero zwei. Den neuen Schwiegersohn kauft er vielleicht noch wohlfeiler, und das ist noch ein kostbarerer Artikel, das ist gar ein halber Doktor. Die Frau Chirurgussin wird sich natürlicherweise Flügel an die Haube machen lassen müssen, wenn sie mit der langen froschgrünen Stange ranggemäß über die Straße rudern will. Schad ist's übrigens um die Magdalene. Sie gäb grad so einen Arm voll für einen wackern Junggesellen, wie Ihr z.B., Vetter. Aber so weit gibt sich der Hochmut nicht herunter, unsereiner ist ihm nicht gut genug; so eine Rasierklinge ohne Handhab' schneid't ihm immer noch besser. O blinde Welt! Die Hand vom Butten, Vetter, 's sind Weinbeeren drin.«
»Meinthalben Rosinen und Zibeben!« fuhr der jüngere auf. »Habt Ihr mich auf der Muck? Wollt Ihr mich ins Gered bringen? Ihr schwätzt mir da recht hinterfür heraus, wie ein Mann ohne Kopf! Was will ich von dem Mädle? Habt Ihr wo läuten hören? Bin ich dem Sonnenwirt auf irgendeine Art oder Weise zu Hof geritten? Zwar, es fragt sich noch, wenn er einen wohlfeilen Schwiegersohn finden will, ob ihm nicht einer so gut ist wie der andere. Wenn's im Abstreicht geht, darf auch ein Bettelmann zur Auktion kommen, und das ist doch just nicht meine Nummer, wie Ihr selber am besten wißt. Übrigens kann mir die ganze Sippschaft gestohlen werden. Macht mir nichts vor! In dem Punkt versteh ich keinen Spaß.«
[] »Na, wollen den Geist ruhen lassen«, versetzte der ältere. »Aber soviel ist gewiß, wenn die erste Frau, die rechte Mutter, noch am Leben wär, so fiel die Aussteuer ein wenig größer aus und der Hochmut ein wenig kleiner.«
»Ja, und mancher böse Auftritt wär unterblieben und mancher Lärm und Spektakel bei Tag und auch bei Nacht, der die Sonne mehr in Finsternis als in Glanz brachte bei der Gemeinde. Und die Hauptsonnenfinsternis wär gewiß auch nicht so schwarz ausgefallen unter dem linden Regiment der rechten Mutter.«
»Was meint Ihr damit? Ja so, jetzt geht mir auf einmal ein Licht auf. Ihr sprecht vom Gutedel, vom jungen Sonnenwirtle. Mag leicht sein, daß der mit Verstand und Güte gradgebogen worden wäre, der knorrige Hagbuchenstock. Zwar ist es schwer zu sagen, ob das Mutterherz den rechten Weg gefunden hätte nachmals, wie es nötig wurde; denn die selige Sonnenwirtin war eben die gute Stunde selber und den Stab Wehe hat sie nimmermehr zu führen verstanden. Der Sonnenwirt sah dem Früchtlein auch in allweg zuviel durch die Finger, solang sie lebte und solang der Erbprinz die Nüsse noch mit den Milchzähnen knackte. Er hielt ihn zwar fleißig zur Schule an und sah auch sonst zum Rechten; aber ich weiß nicht, es hat eben doch an etwas gefehlt.«
»Ja«, lachte der jüngere Müller, »wohlgezogen, aber übel gewöhnt, das war er von Anfang an.«
»Ist denn ein Sohn da?« fragte der Müllersknecht von seiner Bank herüber.
[] Sein Dienstherr sah ihn verwundert an. »Ja so«, sagte er nach einer Weile, »du hast dich schon so bei mir insinuiert, daß ich schier gar gemeint hätte, du seiest seit Jahr und Tag in meinem Haus, und bist doch erst eine Woche da. Freilich auf die Art hast du den jungen Sonnenwirtle noch nicht zu Gesicht kriegen können. Wundert mich übrigens, daß du in deinem Deizisau nichts von ihm gehört hast; denn er ist ein Gewaltiger vor dem Herrn, und wenn man ihm nicht den Krattel beizeiten vertreibt, so kann er, schätz ich wohl, im ganzen Land bekannt werden.«
»Wo ist er denn?« fragte der Knecht.
»Er ist an einem Örtlein, wo du nicht gern hinkämst«, war die Antwort, und die beiden Müller brachen in ein Gelächter aus. »Jetzt rat einmal.«
Die Tür ging abermals auf, und ein Mensch in hohen Wasserstiefeln trat herein. Er trug einen Kübel, den er vorsichtig auf einen Stuhl setzte. »Ist die Frau nicht da?« fragte er.
»So, du bist's, Fischerhanne?« rief der obere Müller. »Was hast denn da? Du gehst ja mit dem Kübel so sachte um, wie wenn du Perlen in der Fils gefunden hättest.«
»Guten Abend, ihr Mannen«, sagte der Fischer. »Tut's so? ist's schon Feierabend? Nein, die Perlen geraten nicht hierzuland, außer in der Glasfabrik. Forellen sind's, frisch aus dem Bach, ich hab sie nur geschwind im Kübel hergetragen.«
»Was meint Ihr, Vetter? Wie wär's, wenn wir so ein paar Silberfischlein in die Küche schicken täten?[] Der Wein schmeckt noch so gut dazu. Wie, Fischerhanne, gib her, laß einmal sehen, was hast für War?«
»Ich kann keine davon hergeben«, sagte der Fischer. »Die Alte tät mich mit dem Besen zum Haus hinausjagen. Sie hat morgen ein Pfarrerskränzlein, und da braucht sie die Fusch alle.«
»So, so, die hochwürdigen Herren begnügen sich nicht mit dem geistlichen Fischzug und wollen daneben auch leibliche Gräten beißen?«
»Ihr lebet ja auch nicht vom Wasser allein, obgleich Ihr Müller seid«, erwiderte der Fischer, indem er trotz seiner abschlägigen Antwort den Kübel herüberholte und mit seinen zappelnden Insassen auf den Tisch setzte.
»Pflanz dich nur her«, sagte der andere. »Du gehörst ja in ein Element mit uns. Ein Glas Wein für den Fisch! Willst nicht? Und meinethalb noch einen Freitrunk drüber, daß der Weinkauf richtig ist.«
»So macht nur geschwind, daß die Alte nicht dazu kommt«, erwiderte der Fischer. »Aber mehr als einen auf den Mann kann ich nicht hergeben, und hier könnet ihr sie auch nicht essen, denn die Sonnenwirtin darf beileib nichts davon wissen.«
»Freilich, 's ist ein halber Kirchenraub!« rief der ältere Müller lachend, fuhr in den Kübel, griff mit sicherer Hand eine große schöne Forelle heraus, zu welcher der Fischer gewaltig sauer sah, schlug sie mit dem Kopf gegen die Tischecke und steckte sie eilig in die Tasche. Der jüngere war ebenso schnell seinem Beispiel gefolgt.
[] »So, Fischerhanne«, sagte der ältere, nachdem sie den Handel beendigt hatten, »wir wollen das Element leben lassen, das unsere gemeinschaftliche Nahrung ist. Nahrung, wohlverstanden! Denn für den Hunger ist's zwar gut, aber nicht für den Durst. Der Eulenspiegel hat's allezeit den starken Trank geheißen; es treibe Mühlräder, sagte er, und deshalb sei es ihm zu stark für seine Natur.«
Er klingelte am Glase, um noch eine Flasche zu bestellen. »Aber jetzt ist's recht«, rief er, als die Türe aufging; »jetzt kommt auch einmal die Oberkellnerin, die Magdalene. Komm her, du Hübsche und du Feine, da gibt's schmachtende Herzen zu laben.«
Das Mädchen, das auf den Ruf der durstigen Sturmglocke erschienen war, konnte man nicht ansehen, ohne ihr freundlich gesinnt zu werden. Sie trug auf einem wohlgewachsenen Körper ein rundes, unschuldiges, gutmütiges Gesichtchen, ein weiblich mildes Abbild von den derben Zügen ihres Bruders und zugleich eine Bürgschaft, daß auch hinter dieser rauhen Schale ein guter Kern verborgen sein könnte. »Hab ich's nicht gesagt?« rief der ältere Müller, »und es verlohnt sich der Müh, es zweimal zu sagen; wiewohl wir nicht in der Mühle sind! Das Mädle gäb einen staatsmäßigen Arm voll, nicht zu viel und nicht zu wenig, für einen braven Junggesellen.«
Er blickte dabei mit einer Spaßvogelsmiene auf den andern. »Wenn Ihr sie zu Eurer Käther hin heiraten wollt, so müßt Ihr eben ein Türk werden«, [] erwiderte dieser trocken. »Aber jetzt ist's wieder an mir! Eine Buttel für mich!« rief er barsch, auf die Flasche deutend, dem Mädchen zu und konnte es doch nicht lassen, ihr nachzublicken, bis sie in der Türe verschwand. Sie war feuerrot geworden und hatte die Flasche mit niedergeschlagenen Augen vom Tische genommen.
»Und wie sie so leibhaftig geht und steht!« rief der erste, der nicht müde werden konnte. »O du Milch und Blut!«
Magdalene erschien nicht wieder. Statt ihrer kam die Hausfrau, stellte die gefüllte Flasche auf den Tisch und nahm die Forellen, die der Fischer indessen auf den Stuhl zurückgebracht hatte, mit hinaus.
»Da trink, Fischer!« rief der jüngere Müller einschenkend. »Der treibt die Seelenmühle, vielleicht treibt er dir auch ein wenig Blut in die farblosen Backen.«
»Ja, das ist wahr, du siehst aus, wie wenn du's mit einer Wasserjungfer hättest«, sagte der ältere.
»Und so alt bist du geworden, Kerl!« fügte der jüngere hinzu.
»Wenn man sich tagtäglich im Wasser hetzen und verkälten muß und hat magere Bissen dabei«, entgegnete der Fischer unmutig, »so ist's kein Wunder, wenn der Firnis abgeht.«
»Wie alt bist denn, Fischerhanne? Du siehst aus, wie wenn du schon das Schwabenalter erreicht hättest, und bist doch, glaub ich, mit dem Sonnenwirtle aus der Schul gekommen.«
[] »Ja, den hat man aber auch sorgfältiger aufgehoben als mich, da ist's kein Wunder«, versetzte der Fischer mit hämischem Tone, und ein Strahl leuchtete flüchtig in seinen toten grauen Augen auf. »Der ist ja so gut verwahrt, daß ihn kein rauhes Lüftle anwehen kann. Wie lang sitzt er denn noch im Zuchthaus?«
»Er wird seine Zeit jetzt so ziemlich abgesessen haben.«
»Was, der Sonnenwirt hat einen Sohn im Zuchthaus?« rief der Müllerknecht aus voller Lunge herüber. Er hatte die frühere Antwort nicht recht begriffen.
»Sachte, Peter, sachte mit der Braut!« sagte sein Herr und hielt ihm die Flasche hin, um einzuschenken. »Mußt nicht so laut schreien. Im Haus des Gehenkten ist nicht gut vom Strick reden.«
»Aber wie ist so was möglich? Guter Leute Kind im Zuchthaus!« sagte der Knecht leise, auf den äußersten Rand seiner Bank vorrückend, die Hände auf den Knien und den Kopf soweit als möglich vorgestreckt.
»Es ist just kein Wunder«, versetzte der Fischer.
»Er ist eben ein heißgrätiger, unbändiger Bursch«, sagte der jüngere Müller.
»Ei, du kennst ihn ja am besten, Fischerhanne«, rief der ältere. »Gib acht, Peter, der kann's dir sagen, der ist mit ihm in die Schul gangen.«
»Da wirst du wenig Gut's von ihm zu hören bekommen«, lachte der jüngere Müller. »Wenn der Sonnenwirtle am Jüngsten Tag dem Fischerhanne [] gegenüber gestellt werden tät, und es käm auf sein alleiniges Zeugnis an, wie sein Urteil in der andern Welt lauten sollt, ich glaub, der Frieder müßt in die unterste Hölle fahren.«
»Wahr ist's«, sagte der Fischer, »ich kann ihn nicht leiden und hab ihn nie leiden können. Wir sind einander von Anfang an spinnenfeind gewesen. Ich weiß eigentlich selbst nicht recht, wie's gekommen ist, 's ist weiter nichts Besonderes zwischen uns vorgefallen. Die Buben hadern und raufen viel miteinander und werden doch nachher oft die besten Freunde. Aber bei uns hat der Haß immer tiefer gefressen; es ist, als ob's uns von Natur eingepflanzt gewesen wäre. Das erstemal, daß wir einander zu Gesicht kriegten, sah er mich mit bösen Augen an, und ich war wider ihn und er wider mich.«
»Da ist auch kein Wunder dran«, meinte der untere Müller. »Ob seine Augen, die er an dich hingemacht hat, so bös gewesen sind, das weiß ich nicht, er ist nicht gerade besonders gezeichnet in den Augen. Aber er war ein Muttersöhnchen, hatte immer was zu beißen und zu knacken; mit den Gröschlein und Sechserlein von den Döten und Dotinnen konnte er allzeit den großen Hansen machen; und in der Schule saß er beständig obenan, denn das Spruchbuch und den Katechismus lernte er wie's Wasser.«
»Ich weiß schon, wo du hinauswillst, Georg«, versetzte der Fischer, ohne Gesicht oder Augen zu erheben. »Es ist wahr, ich bin ein armer Teufel, und ein Bub, der im Wachsen ist, hat einen starken Appetit, und es mag sein, daß mir die überflüssigen [] guten Bissen, die man bei ihm sah, manchmal zu schaffen machten; aber so gar mißvergünstig bin ich doch nicht, und werd's auch damals nicht gewesen sein. Seine Gelehrsamkeit hat mir's auch nicht angetan. Der Ehrgeiz hat mich nie gestochen; meine Vorfahren sind arme Fischer gewesen, soweit man hier in Ebersbach zurückdenken kann, und darum hab ich auch weder Vogt noch Professor werden wollen.«
»Aber womit hat er dir's denn angetan?«
»Warum stellen sich Hund und Katze wider einander, wenn sie einander ansichtig werden? Warum gibt's Leute, die manche Tiere nicht leiden können? Gerade so geht's auch dem Menschen mit dem Menschen. Ein Gesicht gefällt einem, ein anderes ist einem zuwider. Übrigens hat er's nicht an tätlichem Anlaß fehlen lassen. Er war ein stolzer, übermütiger Bub, der keinen was neben sich gelten ließ. Beim Soldätlesspiel war er der General, und wenn man Räuberles spielte, mußte er der Hauptmann sein. Kommandieren und die andern herumpudeln, das war sein Pläsier. Die ihm recht untertänig waren, denen spendierte er, was er nur aufbringen konnte. Mir hat er nie was geschenkt.«
»Das muß man ihm lassen«, sagte der ältere Müller, »gutherzig und freigebig ist er allezeit gewesen.«
»Ja, aber da hat der Fischerhanne doch recht«, fügte der jüngere hinzu, »am gutherzigsten war er eben gegen solche, die seinem Stolze am besten hofieren konnten.«
»Gutherzig?« rief der Fischer. »Eine eigene Art[] von Gutherzigkeit hat er von jeher gehabt. Er war noch nicht acht Jahre alt, so jagte er den Nachbarn zum Spaß die Hühner fort, aus purer guter Laune schlug er ihnen die Gänse tot, hetzte die Hunde auf Weiber und Kinder und lachte wie ein kleiner Teufel über ihre Angst. Und wie er dann zu seinem Namenstag eine Flinte bekam, da hieß es erst: Hellauf! Da schoß er mitten im Ort auf Hühner, Enten, Gänse, was er erwischen konnte, und der Sonnenwirt bezahlte den Schaden und war stolz darauf, daß er ihn zahlen konnte!«
»Und noch mehr darauf, daß die Blitzkröte schon so ein guter Schütz war«, fiel der jüngere Müller ein. »Das war's ja eben! Durch die Nachsicht, die man ihm schenkte, und durch den Beifall der Speichellecker, die bei den Eltern einen Stein im Brett gewinnen wollten, wurde er immer noch mehr verhetzt, und so kam er von einem Schabernack zum andern. Die ärgsten Streiche erfuhr der Alte gar nicht, die sind von der Mutter vertuscht worden. Da ist mancher Sechsbätzner, mancher Krug Wein als Schmerzensgeld hinter seinem Rücken aus der Sonne gewandert.«
»Wenn man dem Ding nachdenkt«, sagte der obere Müller, »so hat es mit so einem verzogenen Söhnle eigentlich nicht anders kommen können. Ich glaub, ein anderer war auch so geworden.«
»Vielleicht lauft er sich die Hörner noch ab«, versetzte der jüngere. »Wiewohl, es wird schwer halten. Er ist eben einmal an die Gewalttätigkeit gewöhnt. Wenn man ihm irgendwie einen Riegel vor die Tür[] schiebt, so muß er mit dem Kopf durch die Wand, das tut er nicht anders.«
»Ja, und sein Hochmut wird ihn auch nicht anders werden lassen«, sagte der Fischer, »denn das ist der Hauptteufel, der ihn reitet.«
»Der steckt in der ganzen Sippschaft. Ist die Magdalene vorhin wieder hereingekommen? Nein, weil man sich einen kleinen Spaß mit ihr herausgenommen hat, so hat sie den Wein durch die Mutter geschickt.«
»Aha!« sagte der ältere Müller leise, dem Fischer zuwinkend, »hast ihn hören trappen?«
»Immer hat er sich für was Besonderes gehalten«, fuhr dieser fort, ohne auf die Bemerkung achtzugeben. »Ha, wenn ich nur daran denke, was er mir einmal für eine Zumutung gemacht hat! Das war das einzige Mal, daß ich was Apartes in die Schule mitbrachte, wo ich mir was drauf zugut tun konnte. Der Herzog war eben vorher durch den Flecken gefahren, und da fand meine Mutter auf der Straße ein kleines Stück hellblauen Sammet, Gott weiß, woher und wie er auf den Boden gefallen war. Meine Mutter wußte nicht, was damit tun, nun zerschnitt sie's in Läpplein und machte mir eine Windmühle, wißt ihr, wie's die Buben an Stecken haben; wenn sie damit springen, so dreht sich's herum. Das Ding sah hoffärtig aus, und die ganze Schule hatte Respekt davor. Den Sonnenwirtle aber verdroß es, daß er mir's zum erstenmal nicht gleichtun konnte; er ließ sich aber nichts anmerken, sondern verspottete mich und schalt mich den herzoglichen [] Windmüller. Da war's auch bei den andern aus, ich konnte mich allein an meiner Windmühle ergötzen; sie sahen mich nicht mehr darum an. Ein paar Tage drauf ist meine Windmühle weg. Ich hatte niemand anders im Verdacht als den Frieder und sagt's auch den andern Buben. Wie der's aber hört, so speit er Gift und Galle, paßt mir auf, und an der Rathausecke stellte er mich, wie ich mich unterstehen könne, ihn zu bezichtigen, daß er mich bestohlen habe. Jetzt, was meinet ihr, daß er mir zugemutet hat? Ein Messer nahm er in die Faust, und mir bot er ein anderes dar und sagte, ich solle mich wehren. Natürlich hab ich mich dafür bedankt, und dann fiel er über mich her und prügelte mich durch; denn er war weitaus der Stärkste von uns allen.«
»Und hatte er wirklich die Windmühle gestohlen?«
»Nein, ich fand sie hernach wieder; ich hatte sie nur verlegt. Auch hätt ich's nicht so schwer genommen, nicht einmal die Prügel bekümmerten mich, wiewohl er immer eine harte Tatze hatte. Nein, aber der Hochmut, daß er den fürnehmen Herrn spielen wollte und sich duellieren, wie ein Edelmann, das hat mir ihn zuwider gemacht. Und er war dazumal ein Bub von zehn Jahren. Wenn das am grünen Holz so ist, wie wird's am dürren werden?«
»Duellieren hat er sich wollen, wie ein Offizier?« rief der Knecht. »Ei, so verreck!«
»Da hat sich das adelige Blut frühzeitig geregt«, sagte der jüngere Müller lachend.
»Wenn die selige Sonnenwirtin nicht so ein kreuzbraves [] Weib gewesen wär«, versetzte der ältere Müller, »so könnt man auf allerlei Gedanken kommen.«
»Und was ist denn sein Vater Großes?« fuhr der Fischer eifrig fort. »Er mag meinethalb für ein paar Batzen hochmütig sein, aber alles hat seine Grenzen. Er ist Wirt, muß den Leuten für ihr Geld Kratzfüße machen; er ist Viehhändler, patscht jedem Roßkamm in die Hand; er ist Metzger, muß den Ochsen und Säuen im Gedärm herumfahren.«
»Es müßt's nur das Metzgerhandwerk machen«, sagte der ältere Müller, »damit übt er eine Art von Blutbann aus, und das ist doch was Adeliges.«
»Ja«, rief der andere, »und darin stehst du ihm nach, Fischerhanne. Denn du und die, über deren Leben und Tod du Gewalt hast, haben kein Blut.«
»Oder nur weißes.« Die andern lachten.
»Sorget nur nicht für mich!« sagte der Fischer etwas ärgerlich. »Meine Untertanen haben auch Blut.«
»Ja, und Galle.«
»Ja, und beißen können sie auch.«
»Aber der Ochs hat Hörner.«
»Wenn er zu hitzig stoßt, so brechen sie ab.«
»Wenn sie nur schon abgebrochen wären!« sagte der ältere Müller. »Aus dem Burschen könnt noch was Tüchtig's werden. Ich wollt, man tät ihn mir anvertrauen, ich zög ihn durchs Kammrad, daß er geschlacht würde.«
»Nichts Gewisses weiß man nicht, – heißt's im Sprichwort«, erwiderte der jüngere.
[] »Ja, es ist nicht so leicht, mit ihm fertig zu werden«, sagte der Fischer. »Er ist ein böser Bub.«
»Wenigstens mutwillig und unbändig«, versetzte der ältere Müller. »Unter allen Streichen, die ich von ihm weiß, hat mir einer immer am besten gefallen. Da war vor ein Jahr sieben oder achten ein Hausknecht hier in der Sonne, wißt ihr, der Mathes – ich seh ihn heut noch vor mir, 's ist so ein persönlicher langer Kerl gewesen, und etwas langsam im Geist. Der wollte gescheiter sein als der Frieder, und das konnte mein Frieder nicht vertragen. Was tut er also? Um Mitternacht schleicht er aus dem Bett, die Stiege hinunter, bricht den Fuhrleuten in die Güterwagen vor dem Haus auf der freien Straße ein und bringt den Raub seinem Vater übers Bett. Der Knecht, den andern Tag, der ist natürlich schön ausgelacht worden ob seiner Wachsamkeit. Und das hat der stolze Bub mehr als einmal getan, und der gute Mathes konnt ihn nie erwischen. Das Ding hat ihm das Leben so sauer gemacht, daß er's nicht in der ›Sonne‹ aushalten konnte. Es trieb ihn aus dem Dienst, ich glaub, er dient jetzt in Beutelsbach drüben, das alte Beuteltier.«
Der Müllerknecht hatte Mund und Augen aufgesperrt. »Verfluchter Bub!« sagte er endlich. »Das hat der ›Sonne‹ gute Kundschaft bringen können. Ich wär auch eingekehrt und hätt mich zum Spaß berauben lassen, pur aus Fürwitz.«
»Es ist doch eine gefährliche Übung«, sagte der Fischer. »Wenn die Katze das Mausen verschmeckt hat, so läßt sie nicht mehr davon, und was eine [] Distel werden will, das fängt zeitig an zu brennen. Es ist nicht lang angestanden, daß er seine G'studiertheit an einer Geldkiste ausgelassen hat.«
»Was?« rief der Knecht. »Ist er im Ernst eingebrochen?«
»Pst, Peter, schrei leis!« erwiderte sein Herr. »Ja, aber nur bei seinem Vater, und der hat's ja.«
»Vierhundertunddreißig Gulden sind doch keine Kleinigkeit«, sagte der Fischer.
»Vierhundertunddreißig Gulden!« rief der Knecht. »Da wundert's mich nicht, daß er im Zuchthaus sitzt. Und sein eigener Vater hat ihn hineinsperren lassen?«
»Er konnte es nicht vertuschen, wenn er auch gewollt hätte. Übrigens ist's nicht seine diesmalige Zuchthausstrafe, denn das ist schon die zweite. Damals aber war er erst vierzehn Jahr alt.«
»Das ist aber doch auch hart«, meinte der Knecht, »einen vierzehnjährigen Buben ins Zuchthaus zu schicken.«
»Laßt mich reden, ihr Mannen!« sagte der jüngere Müller, »ich kann am besten erzählen, wie die Sach zugegangen ist, ich hab ja auch einen Spieß in selbigem Krieg getragen. Wahr ist's, und was wahr ist, das muß wahr sein, dem Frieder hat sich das Blättlein übel gewendet, wie ihm Gott seine Mutter nahm. Von der Stund an hatte alles, was er tat, eine andere Farbe.«
»Das ist eben der Unterschied«, fiel der ältere Müller ein, »ob man etwas mit Liebe ansieht oder mit Haß. Und den Haß, den hat das Ripp, die jetzige[] Frau, ins Haus gebracht; die Liebe aber ist mit der ersten ins Grab gegangen.«
»Verzogen war er, das ist richtig«, fuhr der jüngere fort. »Aber es kommt nur drauf an, was man dem Kind für einen Namen gibt. Vormals hieß man's artig, witzig, aufgeräumt; nachher hieß man's übermütig, tückisch, boshaft. Und wo man früher Anzeichen von Mannhaftigkeit gelobt hatte, da sah man jetzund nichts mehr als den hellen lautern Teufelstrotz.«
»Mir ist's von Anfang an so vorgekommen, selbiges Kind«, sagte der Fischer.
»Da sind deine Augen just für die Stiefmutter recht gewesen, Fischerhanne. Ich glaub auch, sie hat dir die Augen abgekauft; ich will davon schweigen, aber du hast immer einen Stein bei ihr im Brett gehabt, und ich weiß nicht, ob die Fische, die du ihr zugetragen hast, immer aus dem klaren Wasser gekommen sind.«
»Selbige Augen«, unterbrach ihn der andere Müller, »hat sie dann auch dem Sonnenwirt eingesetzt, und da hat der alte Esel seinen Sohn gleich in einem andern Lichte gesehen.«
»Freilich, weil er immer ärger geworden ist«, sagte der Fischer.
»Mach kein' so krummen Kopf! Narr, er ist ärger geworden, weil man ihn ärger gemacht hat. Und das muß man sagen, für seine Schwestern hat er sich ritterlich gewehrt und hat nicht leiden wollen, daß man sie wie Stallmägd behandle.«
»Ja, und dann hat's eben wüste Auftritte gegeben.«
[] »Ja, und dann hat er seine Mutter geprügelt«, sagte der Fischer.
»Wenn er ihr doch nur ein Dutzend Rippen eingeschlagen hätte!« versetzte der ältere Müller. »Brauchst 's ihr aber nicht wieder zu sagen, Fischerhanne«, setzte er etwas erschrocken hinzu, »oder 's ist aus mit der Freundschaft. Du weißt, ein Mensch hat allezeit den andern nötig.«
»Wie kam er denn aber zum Stehlen?« fragte der Knecht.
»Ich will's dir sagen«, fuhr der jüngere Müller fort. »Wie er sah, daß er doch immer den kürzern zog, weil sein Vater auf seiten der Stiefmutter war, so wollte er in die Fremde gehen und begehrte einen Zehrpfennig nach Amerika.«
»Nach Amerika?« rief der Knecht. »Das ist ja ein Weltskerl!«
»Der Alte aber«, fuhr der Müller fort, »war dazumal schon b'häb geworden und behielt die Schlüssel zur Geldtruhe fest im Sack; auch meinte er, der Bub, der erst vierzehn Jahr alt war, sei noch zu jung zum Reisen, und darin hatte er gänzlich recht, denn der Bub ist nachher richtig auch nicht gar weit gekommen und nicht gar lang fortgeblieben. Der aber meinte, was man ihm nicht gutwillig gebe, das könne er ja mit Gewalt nehmen, und beerbte seinen Vater vor der Zeit, noch eh ihm der Alte aus der Helle gegangen war.«
»Oder aber«, sagte der ältere Müller, »er hat als sein eigener Richter seine Jahr und seine Taschen vollgemacht und eben sein Mütterliches eingesackt.«
[] »Es ist just, wie man's ansieht. Übers Geld zu kommen und die Schlösser aufzumachen, war dem G'studierten, wie ihn der da heißt, eine Kleinigkeit; er hatte ja dem Alten schon mehrmals den Spaß gemacht. Kurz und gut, er nahm ihm vierhundert Gulden, brachte sie ihm aber nicht übers Bett.«
»Vierhundertunddreißig!« fiel der Fischer ein.
»Mein'twegen vierhundertunddreißig, wenn das Sündenregister voll sein muß. Du mußt's ja wissen, denn du bist der erste gewesen, Fischerhanne, der ihn des Einbruchs zieh.«
»Hab ich gelogen?« fragte der Fischer.
»Ja, die Wahrheit hast du gelogen.«
»Dann ist er durchgegangen?« fragte der Knecht.
»Ja, aber er kam nicht nach Amerika, sondern bloß bis Heilbronn. Dort ließ er sich bei den kaiserlichen Husaren anwerben als Freiwilliger. Pferd und Montur bezahlte er flott von seinem eigenen Geld. Wenn er nur bei ihnen geblieben wär!«
»Ist erst noch wahr!« rief der ältere Müller. »Der Kerl hätt's zu was bringen können. Der? der hätt General werden können.«
»Ist er denn desertiert?« fragte der Knecht.
»Nein, aber nach zehn Wochen stach ihn der Fürwitz, ob man ihn zu Ebersbach vergessen habe, und da kam er mit einem Urlaubspaß als Husar angeritten. Das war ein Aufsehen! Dem Amtmann trotzte er ein Attestat ab, daß er von ehrlichen Leuten geboren sei. Beweisen konnte man ihm nichts, wiewohl das Geschrei und der Verdacht wegen der vierhundert Gulden allgemein war, und niemand wagte, ihn [] zu greifen, den kaiserlichen Husaren, bis er im Hecht bei der Zeche schwedische Dukaten, auch halbe Gulden blicken ließ. Diese verrieten ihn, denn sie waren von seines Vaters Geld. Nun gab's Lärm im Ort. Der Frieder aber sprang in den Sattel, jagte den Flecken auf und ab mit gezogenem Degen – den Fischerhanne hätt er schier gar erritten; er hieb nur einen Zoll zu kurz, so hätt man sehen können, ob du weißes Blut hast oder rotes – und drohte mit sechzehn andern Husaren, mit denen er den Flecken besetzen wolle. Die kamen aber nicht. Dem Amtmann ritt er vors Haus, klopfte auf den Schenkel, höhnte und drohte. Von da ging's vor die ›Sonne‹, wo er's ebenso machte. Kurz, er trieb allen erdenklichen Übermut, wie ein losgelassener Eber; denn natürlich, er war betrunken. Wie er nun vollends seine Pistolen losschoß und niemand seines Lebens mehr sicher war, da mußte die Bürgerschaft ein Einsehen haben. Ich gesteh's, und es reut mich jetzt noch nicht: ich lud meine Flinte mit Schrot, der Zeiger Frank und der Spanner Eberhard, des Chirurgen Bruder, taten desgleichen – wer ihn eigentlich getroffen hat, weiß ich nicht. Aber er stürzte vom Gaul wie ein Mehlsack. Das Pferd war hin, er selbst hatte den linken Fuß voll Schrot, und also war's leicht mit ihm fertig werden.«
»Das ist ja ein Mordkerl!« rief der Knecht. »Aber hat es Euch und den andern Schützen keine Ungelegenheit gemacht«, fragte er weiter, »daß ihr der Obrigkeit so mir nichts, dir nichts ins Handwerk gegriffen habt?«
[] »Bewahr!« lachte der Müller. »Obrigkeit und Bürgerschaft waren froh, daß sie die Belagerung überstanden hatten, und der Amtmann hat, glaub ich, dem Vogt nichts davon berichtet, auf was Art der Sturm abgeschlagen worden sei.«
»Und seitdem«, fragte der Knecht, »sitzt er im Zuchthaus?«
»Ich hab dir's ja gesagt«, erwiderte sein Herr, »daß er jetzt zum zweitenmal drin ist.«
»Was? Ist er seinem Vater abermals über den Geldkasten gegangen?«
»Nein, in dem Fach hat er ein Haar gefunden und hat ihm abgesagt.«
»Man kann ihm nichts Böses nachsagen«, versetzte der Fischer, »bis auf das, was man nicht weiß. In einem Wirtshaus läßt sich manches verschleppen, man kann da nicht so nachrechnen, wo die Sachen hinkommen. Ich möcht doch auch wissen, aus welchem Beutel er auf dem Tanzboden immer so dick getan hat.«
»Ich glaub, er hat dem Herzog hier und da einen Hirsch weggebüchst«, sagte der jüngere Müller.
»Ja, ja«, rief der Fischer, »die Flinte, die er als Bub von seinem Vater kriegte, hat ihre Früchte getragen. Das ist die zweite gefährliche Kunst, die er schon gelernt hat, eh er hinter den Ohren trocken war.«
»Nu, wenn's weiter nichts ist«, sagte der ältere Müller, »so wollt ich nur, er tat alles wegbüchsen, was mit Geweih und Hauer in Wald und Feld spaziert. Das wär ein Verdienst, für das man ihm, weiß Gott, [] bei allen Gemeinden im Ländle das Bürgerrecht geben dürfte.«
»Freilich«, stimmte der Knecht ein, »Wildern ist keine Sünd, nur darf's nicht herauskommen.«
Und gegen diesen festen Glaubenssatz wagte selbst der hartnäckig grollende Fischer nichts einzuwenden.
»Was hat ihn denn zum zweitenmal in das Ding da, das man nicht gern beim Namen nennt, gebracht?« fragte der Knecht weiter.
»Seine Gewalttätigkeit«, antwortete der Fischer.
»Eine Prügelei«, erwiderte der jüngere Müller gleichmütig.
»Was die Prügelei betrifft, da kann ich nicht wider ihn sein«, sagte der ältere. »Gib acht, Peter, das mußt dir erzählen lassen, das ist ein Staatsstückle. Der Kreuzwirt – den kennst du ja, er hat seinen Namen nicht umsonst, denn er ist gar ein frommer Kreuzträger und eine wahre Kreuzspinne dabei – der hatte von jeher ein scheeles Aug auf den Frieder gehabt.«
»Auf den Alten auch. Der verzeiht's ihm heut noch nicht, daß er ihn beim Kirchenkonvent angebracht, weil er einen Ochsen geschlachtet hatte am Sonntag. Der Sonnenwirt wurde damals um ein Pfund Heller gestraft.«
»Auch den Frieder«, fuhr der ältere Müller fort, »hat er einmal bei seinem Vater verschwätzt, so daß er Hiebe von ihm kriegte. Der Alte hat nachher selber eingestanden, er habe dasmal seinem Sohn unrecht getan.«
»Ja«, fiel der jüngere ein, »ich hab's mit meinen [] eigenen Ohren gehört, und ich war dabei, wie er zum Frieder sagte, er solle es nur dem Kreuzwirt bei Gelegenheit wieder eintränken.«
»Und dies ist auch gekommen«, fuhr der ältere fort. »Denn so eine Teufelsgelegenheit bleibt niemals aus. Nun, was geschieht? Auf dem Heimweg vom Kirchheimer Markt trifft der Frieder mit dem Kreuzwirt zusammen, und der fängt an, ihn zu hänseln und zu rätzen, denn so gottselig er sich stellt, das Necken und das Kratzen kann er nicht lassen. Zuletzt, wie er noch nicht genug hatte, kommt er auch auf die Zuchthausstrafe, die der Frieder durchgemacht hatte, und sagt zu ihm: ›Du bist ein ganz geschickter Kerl, dir kann's nicht fehlen, du verstehst ja zwei Handwerk, das Metzgen und das Wollkardätschen; wenn dir's in einem fehlschlägt, so kannst du dich auf das andere werfen.‹ – Er das sagen, und der Frieder ihn am Kragen nehmen und zu Boden werfen, das war eins. Der hat Prügel gekriegt! Nun, der Fischer weiß ja, was der Bub für eine Tatze hat.«
»Es ist ihm recht geschehen«, sagte der jüngere Müller. »Einen Gefallenen muß man aufheben undnicht noch tiefer niederdrücken.«
»Paß nur auf, Peter, jetzt kommt erst der Hauptspaß«, fuhr der ältere fort. »Wie er ihn genug geprügelt hatte und ausschnaufen mußte, so sagt er zu ihm, er solle ihm jetzt versprechen, daß er dessentwegen nicht klagbar werden wolle. Der Kreuzwirt, am Boden, verspricht's mit Ach und Krach und schwört's ihm hoch und teuer. Der Frieder [] aber, wie er den Schwur hört, fällt er abermals mit neuer Kraft über ihn her. ›Sieh, meineidige Kanaille‹, sagt er, ›ich weiß, daß du doch nicht Wort hältst, und dafür will ich dich gleich im voraus prügeln.‹«
»Das ist ja ein Fetzenkerl!« rief der Knecht mit ungeheuchelter Bewunderung aus.
»Der Kreuzwirt klagte auch richtig beim Amt, und da kam eben mein Frieder noch einmal auf ein halb Jahr nach Ludwigsburg.«
»Es heißt von ihm wie vom Esau«, sagte der Fischer: »›Seine Hand war wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn.‹«
»Hast das fromme Sprüchle vom Kreuzwirt gelernt?« spottete der jüngere Müller. »Nein«, fuhr er fort, »dem haben seine Prügel gebührt, und ich bin dem Frieder nicht feind darum. Wenn nur die Schand nicht wär, denn Zuchthaus ist eben einmal Zuchthaus.«
»Meint Ihr, Vetter?« rief der ältere. »Es kommt auch darauf an, von wegen was man ins Zuchthaus kommt. Und wenn einer sonst guter Leute Kind ist, so kann man so einen Unschick wieder vergessen. Wenn er jetzt unter eine tüchtige Hand käm und gehobelt würde – in zehn Jahren könnt er der angesehenste Mann sein und tat kein Hahn mehr darnach krähen, daß er in seinen jungen Jahren hat das Wollkardätschen erlernen müssen.«
Ein rascher Hufschlag unterbrach das Gespräch. Der jüngere Müller trat ans Fenster. »Was der Sonnenwirt noch stet auf dem Gaul sitzt«, bemerkte er. »Er [] muß einen guten Handel gemacht haben; er sitzt so aufrecht und trägt die Nase so hoch.«
Nun kam die Hausfrau herein mit einem weißen Tuch auf dem Arm. Ihr folgte Magdalene mit dampfenden Schüsseln. Ein Tisch in der andern Ecke des Zimmers wurde gedeckt und das Essen aufgetragen. Das Gesinde erschien, Knechte und Mägde. Draußen hörte man die befehlende Stimme des Hausherrn. Endlich trat er selber ein, untersetzt und etwas beleibt, in Gestalt und Angesicht seinem Sohne ähnlich. Aus seinen Gesichtszügen sprach derselbe Trotz, derselbe Eigensinn, nur daß dieser Ausdruck bei ihm, dem gebietenden Herrn des Hauses, mehr das Bewußtsein der anerkannten Rechtmäßigkeit und eben darum auch mehr herrische Strenge hatte. Wenn man jedoch sein Gesicht näher prüfte, so fand man, daß die innere Naturkraft nicht so groß war als das Ansehen, das er sich geben zu müssen glaubte. Er grüßte die Gäste kurz und setzte sich ohne viel Umstände mit seinen Hausgenossen zu Tische. Für ihn wurde besonders aufgetragen, und ein Teller mit Besteck lag vor ihm, während die andern alle, die Hausfrau nicht ausgenommen, gemeinsam aus der Schüssel speisten.
Unter dem Geklirr der Löffel flüsterten die Gäste zusammen, und manche bittere Bemerkung, manche boshafte Spottrede wurde den Essenden, ohne daß sie es hörten, als Tischsegen zugeworfen.
»Der Sonnenwirt meint, man müsse es für eine Gnad halten, wenn man nur in seinem Haus noch trinken dürfe«, sagte der ältere Müller.
[] »Wenigstens ein anderer Wirt«, erwiderte der jüngere – »wenn er auch noch so hungrig und durstig ist, setzt er sich ein Vaterunser lang zu den Leuten hin, und wenn er auch weiter nichts sagt als: ›Auch hiesig?‹ und ›Tut's so beieinander?‹ und ›Wohl bekomm's!‹ so sieht man doch, daß er Lebensart hat, und dann kann er ja wieder aufstehn und seinem Geschäft nachgehen. Aber der! Ja, wenn wir Pfarrer wären oder Schreiber, so würd er sich eine Ehr draus machen. Aber wir sind eben nicht weit her, wir sind ja bloß seine Mitbürger.«
»Seht nur die Alte, Vetter!« sagte der ältere und stieß ihn an. »Seht, wie sie ihren Leuten auf die Mäuler guckt, wie sie ihnen die Bissen zählt, wie sie dem Löffel, der aus der Schüssel kommt, mit den Augen nachfolgt. Was sie für ein Gesicht macht, wenn sie meint, es hab eins zu vollgeladen oder komm zu oft angefahren.«
»Halt, jetzt ist die Sippschaft erst vollständig, jetzt kommt der Freier!« unterbrach ihn der jüngere, verstohlen mit dem Finger auf einen Mann mit spitzem, knochigem Gesichte deutend, der, mit einem hellgrünen Leibrock angetan, ins Zimmer trat und sich nach einer stattlichen Begrüßung an einen Tisch zunächst dem Speisetisch setzte.
»Schau, schau! Der grüne Chirurg!« erwiderte der andere. »Der macht Kratzfüß! Was die Alte ihr Spinnengesicht umwandelt, als ob sie Honig und Marzipan gefressen hätt. Sogar der Sonnenwirt nickt ihm freundlich zu, die Sache muß richtig sein. Aufgepaßt, Vetter! Seht Ihr, wie ihm die Alte ein [] Tellerlein füllt, und zwar von des Sonnenwirts eigenem Essen. Ja, ja, mit Speck fängt man Mäuse. Was er Komplimente macht! Er will's nicht annehmen, aber die Essensstunde hat er sich wohl gemerkt, der Schmarotzer.«
»Er will eben von der Gelegenheit profitieren, solang sie da ist. Er weiß wohl, daß nicht alle Tag Kirchweih ist. Wenn er einmal ernstlich angebissen hat, so wird man ihm das Gasthütlein schon herunterziehen, und dann kann er die Finger darnach lecken.«
»Ihr könnt die Leute recht heruntermachen«, sagte der Fischer. »B'hüt Gott beieinander, ich will nur heimgehen, sonst werd ich noch angesteckt.«
»Gut Nacht, Fischerhanne, und halt reinen Mund.«
»Wes Brot ich ess, des Lied ich sing!« versetzte der Fischer etwas zweideutig und wandte sich mit einem »G'segn' Gott«, das er dem Speisetische zurief, nach der Türe.
In diesem Augenblick ging die Türe auf, und herein trat der Sohn des Hauses. Aus seinem von der Wanderung geröteten Gesichte leuchtete das verklärende Gefühl einer guten Tat, einer Tat, welche dem Himmel die erste Genugtuung für bisher begangene Fehltritte darbieten sollte. Dieser Ausdruck gab seinem Gesicht eine auffallende Ähnlichkeit mit den Zügen seiner Schwester. Da stieß er unter der Türe auf den Fischer, der ihm wie ein böses Vorzeichen entgegentrat, und sein Gesicht verfinsterte sich. Einen Augenblick maß er ihn schweigend mit den Augen. »Du auch da, Giftmichel?« sagte er, indem [] er an ihm vorüberging. Der Fischer fletschte die Zähne gegen ihn und machte sich hinaus.
Friedrich blieb ein wenig stehen, um sich zu sammeln; dann näherte er sich dem Tische und trat zu seinem Vater, der bereits durch einen Wink der Frau auf ihn aufmerksam gemacht worden war und ihm schweigend entgegensah.
»Grüß Gott, Vater!« redete er ihn an. »Da bin ich wieder und versprech Euch, daß es mit Gottes Hilfe nun anders werden soll, denn ich bin nun kein Kind mehr, und wenn ich Euch bisher oft durch meinen Unverstand betrübt habe, so hab ich mir jetzt vorgenommen, Euch hinfüro ein treuer, gehorsamer Sohn zu sein.«
»Mach nicht so viel Redensarten!« sagte der Alte. »Wenn dir's Ernst ist, so tu's, ohne davon zu reden; aber versprich nichts, was du nicht halten kannst. Setz dich und iß.«
»Ja, Vater, aber ich hab zuvor eine großmächtige Bitte«, fuhr Friedrich fort, ohne sich durch den Empfang irremachen zu lassen. »Ich möcht eine Seele vom Verderben retten, und das kann ich nicht, wenn Ihr mir nicht dazu helft.«
Der Alte erhob sein Gesicht. Die Stiefmutter sah ihn mit gespannter Neugier und finsterer Miene an. Er hatte sie noch nicht gegrüßt, er hatte nur für seinen Vater Augen gehabt.
»Ihr meint gewiß, Vater«, sprach er weiter, »da, wo ich herkomme, hab ich nur lauter schlechtes Zeug gelernt. Aber so ist's nicht, vielmehr bin ich in gute Hände geraten und hab Christentum gelernt. [] Ich hab gelernt, daß jeder gute Christ und redliche Mensch seinen verachteten Mitbrüdern aufhelfen müsse. Weil das aber nicht einer für alle tun kann, so mein ich, es sei genug, wenn ein Mensch oder eine Familie sich eines einzigen annimmt.«
»Wo will denn das hinaus?« fragte der Alte barsch.
»Vater, ich hab Euch einen Menschen mitgebracht, der keine Heimat hat, eine vater- und mutterlose Waise, denn das ist er, und wenn auch seine Eltern noch leben. Und ich bitt Euch, so lieb Euch Euer Sohn sein mag, der Euch freilich schon Kummer und Verdruß gemacht hat – so lieb es Euch sein mag, daß der ungeratene Sohn noch was Ordentliches in der Welt werde, so hoch bitt ich Euch, Vater: laßt den Menschen, den ich mitbringe, als Euren Knecht in Eurem Hause sein.«
»Wo ist er denn?« fragte der Alte ungeduldig.
»Er wartet hinterm Haus am Garten.«
Die Stiefmutter gab dem Chirurgus einen Wink, und er schlich sich unbemerkt hinaus.
»Wer ist er denn?« fragte der Alte weiter.
Friedrich schwieg eine Zeitlang in sichtlicher Verlegenheit; die siegesfrohe Zuversicht, die er bei seinem Eintreten gezeigt hatte, war allmählich von ihm gewichen. »Vater«, hob er endlich an, »Ihr werdet in Eurem Herzen nicht sogleich die Stimme finden, die für ihn spricht. Man hat gegen diese Leute manches einzuwenden, und das ist auch kein Wunder, denn man behandelt sie auch danach.«
»Mach's kurz und gut«, rief der Alte und schlug auf den Tisch. »Was ist das vor eine Manier? Wenn's [] was Rechtes ist, so sag's frei heraus, und ist's was Dummes, so halt das Maul! Was brauchst du mir durch die Ränkeleien da das Essen zu verderben.«
Indessen war der Chirurg wieder eingetreten. »Es ist ein Zigeuner«, sagte er langsam und nachdrücklich, indem er zu dem Tisch trat.
»Ein Zigeuner?« rief die Stiefmutter und schlug ein gellendes Gelächter auf. Die beiden Müller und der Knecht, welche aufmerksam zugehört hatten, lachten aus vollem Halse mit. Auch das Gesinde am Tische stimmte in das Gelächter ein, doch nur allmählich und schüchtern, da der Sonnenwirt nicht mitlachte, sondern die Stirne in dräuende Falten gelegt hatte. Magdalene war mit einem wehmütigen Blick auf den Bruder hinausgegangen.
»Ich weiß wohl, Vater, daß es eine Zumutung ist«, fuhr Friedrich unerschrocken fort. »Aber soll's denn der arme Teufel büßen, daß seine Eltern Zigeuner gewesen sind?«
Der Chirurgus unterbrach ihn. »Das hängt vielleicht«, sagte er mit etwas näselnder Stimme, »das hängt vielleicht mit der Prädestination zusammen, die der Herr Pfarrer predigt.«
»Ich red mit meinem Vater und nicht mit Ihm!« warf Friedrich stolz von der Seite dem Chirurgus zu. »Wie kann man denn verlangen, daß diese Leute ehrlich werden sollen, wenn man nicht endlich einen Anfang mit ihnen macht? Und wie kann man denn anders anfangen, als mit dem christlichen Zutrauen, das man in einem christlichen Hause einem von diesen armen Leuten schenkt? Wenn man dann in [] einem Haus angefangen hat, so machen's die andern nach, und eben darum sprech ich zu Euch, Vater, weil Ihr ein angesehener Mann seid und ein Beispiel geben könnt.«
Die Stiefmutter hatte inzwischen Blick und Winke mit dem Chirurgus ausgetauscht. »Wie sieht er denn aus?« fragte sie jetzt mit dem Tone der Neugier.
»Er schielt auf einem Aug' und sieht aus wie ein leibhaftiger Galgenvogel«, antwortete der Chirurgus.
»Was will denn Er?« fuhr Friedrich erzürnt herum. »Wenn man Ihn auf ein Erbsenfeld setzen tät, so könnt man vor den Spatzen sicher sein.«
Der alte Sonnenwirt fuhr auf und versetzte seinem Sohne eine derbe Ohrfeige: »Ich will dir unartig gegen meine Gäste sein. Man muß dir die Äste abhauen, wenn du zu krattelig wirst. Halt's Maul jetzt und pack dich. Ich will dich heut nicht mehr vor Augen haben. Das käm mir geschlichen, einen Zigeuner ins Haus zu nehmen. Das wär eine Gesellschaft für dich.«
Friedrich sah seinen Vater an. Einen Augenblick hatte seine Hand gezuckt; dann aber wandte er sich ruhig nach der Tür. »Ich glaub, ich wollt, ich wär wieder im Zuchthaus«, sagte er, während er hinausging.
Die beiden Müller zahlten ihre Zeche und standen auf. Der Sonnenwirt, der sich ebenfalls erhoben hatte, wünschte ihnen, freundlicher als zuvor, gute Nacht. »Der Bursch ist doch ziemlich mürb geworden«, sagte er zu dem älteren, »er hat nicht gegen die Ohrfeige rebelliert, und es hat den Anschein, als ob er jetzt das vierte Gebot in Ehren halten wollte.«
[] Der Müller, geschmeichelt durch diese vertrauliche Anrede, blieb etwas zurück, während der jüngere nebst dem Knecht die Wirtsstube verließ. »Ja«, sagte er zum Sonnenwirt, »der Frieder ist nicht so unrecht, man wird's noch erleben. Was, die Zigeunergedanken werden ihm schon vergehen. Um den ist mir's gar nicht angst. Man muß ihn eben jetzt noch ein wenig kurz aufzäumen, dann wird er schon gut tun. Und das bißle Ungelegenheit, das er in seiner unverständigen Jugend gehabt hat, wird ihm unter vernünftigen und christlich denkenden Leuten ins künftige nicht aufgerechnet werden. Er ist ja guter Leute Kind. Ja, ja, Herr Sonnenwirt, der kann sich einmal seine Frau holen, wo er will. Wofern aber jemals eins so töricht sein wollt und wollt ein Haar in der Partie finden, so will ich nur so grob sein und will's frei heraussagen, Herr Sonnenwirt, für mein Gretle wär er mir immerhin gut genug. Jetzt habt Ihr gehört, wo Ihr anklopfen könnt, wenn Ihr keine bessere Schmiede wisset.«
In dem Gesicht des Alten, das erst ganz wohlgefällig ausgesehen hatte, zog allmählich der Ausdruck unendlichen Spottes auf. Er sah den Müller mit halb zugekniffenen Augen an, so daß dieser in Verlegenheit geriet und die Hände aus den Wamstaschen, wo sie während seiner Rede gesteckt hatten, hervorholte. »So, meint Ihr?« erwiderte er trocken und stieß dann ein hochmütiges Gelächter aus.
»Nichts hab ich gemeint!« rief der Müller wütend. »Ihr könnt meinethalben Euren Galgenstrick verknöpfeln und verbandeln, wo Ihr wollt.« Er ging [] und schlug die Türe hinter sich zu, daß das Haus davon erdröhnte.
Indessen war Friedrich zu dem Zigeuner hinabgegangen, der, verabredetermaßen seines Bescheides harrend, an dem Gartenzaune lehnte. Er reichte ihm ein Fläschchen, ein Brot, eine Wurst und ein Stückchen Geld. Das letztere hatte er sich unterwegs von seiner Schwester geben lassen; bei den Lebensmitteln mochte ihm in etwas uneigentlicher Form die Lehre des Waisenpfarrers vorgeschwebt haben. »Da nimm, iß und trink«, sagte er mit einer sonderbaren Hast und Heftigkeit, »und dann mach, daß du zum Teufel kommst.«
Der Zigeuner griff gleichmütig zu, dann heftete er sein scheeles Auge auf den Wohltäter. »Was, und mit dem Dienste ist's nichts?« sagte er.
»Schweig still und mach mich nicht scheu! Ich bin so schon wild genug. Trink deinen Kirschengeist! Sieh, ich hab dir Wort gehalten, soviel an mir gewesen ist.«
Der Zigeuner schnitt eine höhnische Fratze: »Blitz und Mord!« rief er, »so wohlfeile Versprechen kann mir ein jeder tun und mich ein paar Stunden umführen. Ich seh schon, wie's steht. Das Christentum hat, scheint's, auf einmal ein Loch gekriegt und, nach dem einen feurigen Backen zu schließen, gar noch einen Plätz auf das Loch.«
Friedrich stieß einen Schrei aus, wie nur der tollste Jähzorn ihn eingeben kann, warf sich über den Zigeuner her und ließ ihn seine Faust aus Leibeskräften fühlen. Der Zigeuner war bloß darauf bedacht, [] sein Fläschchen vor Schaden zu hüten, übrigens wehrte er sich nicht gegen die Schläge, die er in reichlichem Maße bekam, sondern brach statt dessen in ein schallendes Gelächter aus.
Bei diesem Lachen hielt Friedrich betroffen inne. »Hund, was lachst?« fragte er zornig.
Der Zigeuner schüttelte sich. »Herzensbruder«, sagte er, »ich muß lachen, daß dich das Mitleid und der Jammer zum Prügeln treibt. So was ist mir noch nie vorgekommen.«
Er leerte das Fläschchen auf einen Zug, schleuderte es mit einem »Juhu« hoch empor, und während es klirrend zu Friedrichs Füßen niederfiel, schallte das Jodeln des Zigeuners schon aus einiger Ferne herüber. Verblüfft starrte ihm Friedrich nach.
3
Es war inzwischen dunkel geworden. Friedrich wollte eben ins Haus zurückkehren, als er eine Gestalt herausschlüpfen sah, in der er seine Schwester Magdalene erkannte. Sie ging in das Gärtchen, und er hörte sie dort am Brunnen Wasser pumpen: denn es ist eine unlöbliche Gewohnheit der Leute, das Wasser, das sie morgens frisch haben könnten, abends zu holen und über Nacht stehenzulassen. Bald aber hielt sie in dieser Verrichtung inne und fing leise zu weinen an. Er wollte zu ihr treten, da kam jemand aus dem Hause nachgegangen, horchte eine Weile umher, fuhr, ohne ihn zu bemerken, ins Gärtchen [] hinein, und die gellende Stimme der Stiefmutter rief: »Wo bleibst du denn, lahmes Mensch? Was dröhnsest da so lang?«
Magdalene antwortete mit stockender und gedrückter Stimme.
»Was? Ich will nicht hoffen, daß du heulst!« fuhr die Stiefmutter sie an.
Das Mädchen schwieg.
»Was hast du denn?« fragte die Alte hart und lieblos weiter. Als das Mädchen abermals keine Antwort gab, rief sie: »Das muß was Besonders sein. Der Herr suche mich nicht so schwer heim und lasse mich's nicht erleben, daß du dich am End gar vergangen haben wirst.«
»Oh, Mutter«, rief Magdalene, die hier plötzlich ihre Stimme fand, »wie könnt Ihr mich so verschänden! Ihr solltet Euch der Sünde fürchten, so etwas so laut vor der Nachbarschaft zu sagen, da Ihr doch wißt, wie ungerecht Euer Gerede ist. Ihr müßt's ja selber am besten wissen, daß ich Euch niemals aus den Augen gekommen bin.«
»Nun, nun, ich will ja weiter nichts gesagt haben, als daß das Heulen und Aunxen überflüssig ist, wenn man ein gut Gewissen hat.«
»Mein Gewissen ist gut«, erwiderte Magdalene unmutig. »Wenn nur auch alles andere so gut wäre.«
»Ei was, es steht alles gut. Mach jetzt nur, daß du ins Bett kommst. Du mußt morgen mit hellen Augen und roten Backen aufstehen, weißt wohl, warum.«
»Oh, Mutter, seid barmherzig und bringt den Vater [] auf andere Gedanken! Auf meinen Knien wollt ich Euch anflehen, wenn ich wüßte, daß es bei Euchanschlüge.«
»Still mit den Narreteien da!«
»Mutter, ich hab einen Abscheu vorm Heiraten. Ichwill Euch bei den höchsten drei Namen schwören, ledig zu bleiben mein Leben lang.«
»Damit wär mir gedient!« rief die Stiefmutter mithöhnischem Lachen. »Was ein recht's Mädle ist, dashat eine wahre Begier aufs Heiraten und kann nicht bald genug eine eigene Haushaltung überkommenwollen, um darin tätig und fleißig zu sein nacheigenem Sinn. Ein recht's Mädle sucht seinen Elternvom Hals zu kommen, sobald es kann, und willnicht als eine unnütze Brotesserin zu Haus auf derfaulen Haut liegen.«
»Lieg ich auf der faulen Haut?« entgegnete Magdalene vorwurfsvoll. »Werd ich nicht gepudelt vom frühen Morgen bis in die späte Nacht? Hab ich dasbißle Essen nicht so gut verdient, wie wenn ich Eure Magd wär?«
»Nun, so sei froh, daß du jetzt bessere Tage kriegst.«
»Ich will keine bessere Tage, ich bin ja zufrieden. Ich will noch härter arbeiten, will Euer Kehrbesen sein und Eure Ofengabel, will schlumpen und pumpen, nur laßt mich bleiben wie ich bin.«
»Das wär ein Kunststück! Bin ich eine Hex? Kann ich dich halten, daß du bleibst, heut wie gestern, und morgen wie heut? Kann ich's verhindern, daß du eine alte Jungfer wirst?«
[] »Eine alte Jungfer kann auch in Himmel kommen.«
»Ja, aber durchs Nebentürle. Und jetzt hör auf mit dem Geschwätz. Es ist eine Ehr für dich, daß dich der Chirurgus nehmen will, so ein Herr! Wart, wenn du an seinem Arm daher stratzen kannst, das wird eine Hoffärtigkeit sein! Du verdienst's gar nicht, daß es so hoch hinaus soll mit dir!«
»Freilich verdien ich's nicht! Er soll eine andere nehmen, meinetwegen die verwitwete Herzogin, die tät vielleicht besser für ihn passen.«
»Was hast du gegen den Chirurgus?« rief die Sonnenwirtin zornig. »Was kannst du wider ihn sagen?«
»O Mutter«, begann das Mädchen nach einer Weile mit bebender Stimme, »denkt an Eure eigene Jugend zurück – er ist so alt – und so –«
»Du wüste Strunz du!« rief die Sonnenwirtin. »So, da liegt der Has im Pfeffer? Der Ehstand ist eine christliche Anstalt, dem Herrn zum Preis, und nicht für Üppigkeit und Fleischeslust. Wenn du so liederliche Gedanken hast, so bet, daß sie dir vergehen, oder behalt sie wenigstens bei dir und schäm dich. Wenn die Leut wüßten, daß du so fleischlich denkst, sie täten mit Fingern auf dich zeigen.«
Magdalene schluchzte: »O Mutter, Mutter!«
»Ja, Mutter!« spottete jene. »Ich weiß wohl, was Jesus Sirach einer Mutter einschärft im Sechsundzwanzigsten: ›Ist deine Tochter nicht schamhaftig, so halte sie hart, auf daß sie nicht ihren Mutwillen treibe, wenn sie so frei ist. Wie ein Fußgänger, der durstig ist, lechzet sie und trinket das nächste [] Wasser, das sie krieget, und setzet sich, wo sie einen Stock findet, und nimmt an, was ihr werden kann.‹«
»Paßt das auf mich? Ich will ja lieber gar keinen?« rief Magdalene laut weinend.
Ohne sich irremachen zu lassen, fuhr die Sonnenwirtin fort: »Ich bin auch jung gewesen, aber in der Furcht Gottes, und so freches Zeug ist mir nicht im Schlaf eingefallen, geschweige daß es mir über die Lippen gekommen wäre. Dein Vater, wie ich ihn genommen hab, ist auch kein heurig's Häsle mehr gewesen. Im Gegenteil, dein Bräutigam ist dir noch näher im Alter. Wo ist der Mensch, dem's in der Welt nach seinem Kopf geht? Ein Christ muß sich in das schicken, was unser Herrgott über ihn verhängt. Jetzt heul, soviel du willst, heut mein'thalben die ganze Nacht da unten. Aber morgen hat's ein Ende mit dem Heulen, oder wenn's dich zu sauer ankommt, so wird dir dein Vater schon ein freundliches Gesicht herausbringen helfen, du weißt, er hat Mittel und Wege. Jetzt gut Nacht, Jungfer Braut.«
Die Alte schoß aus dem Gärtchen in das Haus zurück, wie ein unheimlicher Nachtvogel. Friedrich eilte, sich zu seiner Schwester zu gesellen, denn, dachte er, die kann's brauchen. Sie wär in der Dunkelheit leicht zu finden; er durfte nur dem Schluchzen nachgehen, das ihren jungfräulichen Busen zu zersprengen drohte. Stillschweigend faßte er ihre Hand.
Sie hatte ihn nicht kommen hören; erschrocken und [] zornig riß sie die Hand weg und rief: »Wer ist da?«
»Gut Freund, Schwesterle. Hat der gelbe Drach wieder Gift gespien? Was ist denn das für ein Bräutigam, dem du die alten Knochen wärmen sollst?«
»Ach Gott, der Chirurg!«
»Was! der Zaunstecken?« – Und nun folgte eine Flut von Scheltwörtern, die immer drolliger wurden, so daß das arme Mädchen zuletzt selbst darüber lachen mußte. Plötzlich aber fiel sie in das vorige Weinen und Schluchzen zurück und warf die Arme um den Hals des lustigen Trösters: »O lieber Bruder!« rief sie – sie mochte nicht Frieder sagen wie die andern, und Friedrich klang ihr zu vornehm, zu gewagt – »lieber Bruder, ich wollt, ich wär bei unserer Mutter! Sieh, ich bin dir die ärmste Kreatur auf der ganzen Gotteswelt! Morgen soll der Verspruch sein, und das ist mein Tod. Ich kann ihn nicht ansehen, er ist mir zu arg zuwider!«
»Soll ich ihn zerbrechen?« fragte er grimmig durch die Zähne.
»Um Gotteswillen, fang keine Händel an! Du würdest mich nur aus dem Regen in die Traufe bringen.« Sie schwieg eine Weile und fuhr dann verzagend fort: »Es gibt nur ein einziges Mittel, um aus dem Jammer hinauszukommen.«
»Vermutlich. Was denkst du?«
»Ich spring in die Fils, und das noch heut nacht.«
Friedrich lachte überlaut. »Du arm's Närrle! Das[] müßtest du künstlich angreifen bei dem niedern Wasserstand. Nein, das ist nicht der Weg. Ich weiß einen andern – und der wär ganz sicher, sobald man sich fest darauf verlassen könnte.«
»Du bist ein leidiger Tröster.«
»Ja sieh, Kind, es steht ganz bei dir, und du hast's in der Hand, ob das Mittel zuverlässig sein soll oder nicht. Kannst du dich auf dich selbst verlassen?«
Er sprach diese letzten Worte mit besonderer Stärke, und es lag dabei etwas Geheimnisvolles in seiner Stimme, so daß seine Schwester ihn verwundert ansah. »Ich weiß nicht, wo du hinaus willst«, sagte sie.
»Der Mensch kann alles, was er will«, hob er an. »Heißt das, ich hab mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Der Mensch kann nicht alles, was er will, denn ich mag wollen, so viel ich will, so kann ich z.B. nicht Tag aus Nacht machen.« Er schwieg eine Weile, um seine Gedanken auf der ungewohnten Spur zu sammeln.
»Ja, das kann ich auch nicht«, sagte Magdalene dazwischen, mit einem Tone, welcher deutlich verriet, daß ihr das eine brotlose Weisheit dünke.
»Wart nur, ich bin noch nicht auf dem rechten Trumm. Ich hätt eigentlich sagen sollen: der Mensch kann alles, was er nicht will.«
»Jetzt hör auf!« rief Magdalene unwillig. »Du bist dem Narren übers Säckle kommen. Wenn du mir keinen bessern Rat weißt als solches Kauderwelsch, so muß ich ungetröstet ins Bett gehen.«
»Ich schwitz wie ein Magister«, sagte er. »Ich möcht dir das Ding recht glatt eingeben und bring's nicht [] richtig heraus. Aber halt, jetzt geht's. So hätt ich sagen sollen: was der Mensch nicht haben will, das kann er sich vom Leib halten.«
»Da, halt uns den Regen vom Leib, weil du so ein überstudierter Kopf bist«, sagte Magdalene spottend.
Es fing nämlich soeben zu tröpfeln an.
»Gegen den Regen sind Schirme gewachsen, oder auch zum Beispiel die Laube dort. Komm, wollen uns drin bergen, denn es macht nicht bloß naß herunter, sondern auch recht kühl, und ich bin noch lang nicht fertig.«
Die beiden Geschwister gingen miteinander nach der Laube. Sie wär noch sommerlich genug überrankt, um vor dem Regen zu schützen, der jetzt in größeren Tropfen auf die Blätter niederschlug.
»Den Regen kann man sich allerdings vom Leib halten, wenn man irgendwo unterzustehen vermag«, fuhr Friedrich fort. »Aber ich seh jetzt doch, daß mein Gleichnis nicht auf alles paßt. Denn, wenn mich zum Beispiel ein Blitz trifft, so kann ich ihn nicht –«
»Behüt uns Gott!« unterbrach ihn seine Schwester. »Unberufen, unberufen, unberufen!« – Nachdem sie sich beeilt hatte, diese Zauberformel gegen böse Einflüsse und Vorbedeutungen dreimal auszusprechen, machte sie ihm lebhafte Vorwürfe wegen seiner sündlichen Rede.
»Das ist nur so figürlich gesagt«, erwiderte er. »Ich hab dir bloß zeigen wollen, daß es Dinge in der Welt gibt, die man sich nicht vom Leib halten kann, wo man konträr wollen muß, man mag wollen [] oder nicht. Jetzt kann ich dir aber auch um so besser beweisen, daß es dafür andere Dinge gibt, die man sich vom Leib halten kann, wenn man nur recht tüchtig will. Zum Beispiel den Chirurgen –«
»Gott Lob und Dank, endlich kommst du doch auf den rechten Text. Aber sag nur einmal, wie?«
»Du nimmst ihn eben nicht.«
»Aber wenn der Vater sagt: du mußt?«
»Dann sagst du: ich will nicht.«
»Kann ich mir dann auch die Streich vom Leib halten?«
»Ja sieh, lieb's Kind, das ist's eben, darauf hab ich von Anfang an hinaus gezielt, und jetzt ist der Text vollständig. Vogel friß oder stirb! das ist der Text. Wenn aber das Vögele nicht fressen will, und es will eben um keinen Preis nicht, so muß es zwar sterben, aber die Sach ist doch nach seinem Schnabel gegangen. Das Leben ist der höchste Preis, den ein Vogel oder ein Mensch einsetzen kann, und mehr als das Leben kann man einem auch nicht nehmen. Wenn einer nun seinen Sinn fest darauf richtet, daß er denkt: die und die Nuß will ich nicht beißen! so muß ihm zum allerersten das Leben wohlfeiler sein als der Schnabel. Dann wird's aber auch ganz gewiß nach seinem Schnabel gehen und wird oft nicht einmal das Leben kosten. So sagst du jetzt, du mögest den Dürren nicht.«
»Für mein Leben nicht!« rief das Mädchen leidenschaftlich.
»Just, wie ich sagen wollte! Du bekennst also selber, daß dir dein Leben nicht so lieb ist, als es dir lieb [] wär, des dürren Stecken ohne zu sein, und vorhin hast du ja gesagt, du wolltest lieber in die Fils springen. Damit pressiert's übrigens gerade nicht so sehr, nur muß es dein völliger Ernst sein, und zwar so, daß du dich lieber totschlagen ließest. Sieh, dein Leben wird dir doch lieber sein als eine trockene Haut oder ein heiler Rücken. Was ein heiler Rücken wert ist, das weiß ich aus Erfahrung, und ich kenn auch des Vaters schwere Hand.«
»Ja, ich auch.«
»Du wirst sie aber doch nicht so fürchten, wie den Tod.«
»Nein, das gerade nicht.«
»Nun sieh, jetzt kannst du an dir selbst die Probe machen, ob's ein Ernst ist oder eine bloße Redensart mit dem, was du gesagt hast. Die Menschen brauchen viel leere Redensarten. Da sagt einer: Das und das lass' ich mir ums Leben nicht gefallen! Und nachher, wenn's drauf und dran kommt, läßt er sich's gefallen um des Esaus Linsengericht oder auch noch um weniger, oder weil er einen Buckel voll Schläg fürchtet. Nimm dir einmal die Sach genau in Augenschein. Was kann dir der Vater tun? Umbringen wird er dich nicht, du bist ja sein eigen Fleisch und Blut. Aber puffen wir er dich, dessen kannst du gewiß sein, und mach dir nur keinen blauen Dunst darüber.«
Magdalene seufzte.
»Auch sonst wird's dir übel gehen; du wirst ein wahres Hundeleben haben, mehr noch als bisher. So leid mir's tut, dir das für gewiß zu sagen, so [] müßt ich ja doch ein schlechter Ratgeber sein, wenn ich's verschweigen wollte.«
Magdalene seufzte abermals.
»Ich glaub's gern«, fuhr er fort, »daß es dir schwer eingeht, aber dennoch mußt du's recht genau ins Aug fassen. Übrigens kannst du dir dabei voraus denken, wie du bei jedem scheelen Blick, bei jedem Streich, an jedem Hungertag sagen wirst: ist mir doch lieber, als wenn ich bei dem Zaunstecken sein müßte, den ich nicht mag. Und dann, wie lang wird's dauern? Nur so lang, als sie meinen, daß sie dich zwingen können. Wenn deine Geduld größer ist als ihre Bosheit, so wird ihre Bosheit zunichte. Der schlanke Freiersmann macht am Ende den Kuhhirten von Ulm, oder es find't sich unterdessen eine andere Gelegenheit, die dem Vater in die Augen sticht, so daß er ihm selber den Laufpaß gibt. Zeit gewonnen, ist alles gewonnen. Mit dem Teil Ungemach, das du dir nicht vom Leib halten kannst, kaufst du dein junges Leben los von größerem Ungemach und behältst es unverschandiert, so daß dir der grüne Schleicher sein Lebtag nicht ins Bett kommen kann. Ich sag dir, Magdalene, was ich da gesprochen habe – es ist zwar gar nichts Neues, und viele reden desgleichen, aber sie wissen nicht, was sie sagen; denn es ist ein Geheimnis! Wer's aber recht versteht, der kann Wunder damit tun, und Wunder sind auch schon damit getan worden! Mit drei einfältigen Wörtlein: Ich tu's nicht! und ich tu's eben nicht! Damit kann ein rechter Kerl – Mannskerl oder Weibskerl gilt gleich viel – einen [] Güterwagen sperren, und wenn sechs Dutzend Mecklenburger vorgespannt wären. Jetzt wirst du verstehen, warum ich gesagt hab: Das Mittel ist sicher, wenn man sich darauf verlassen kann. Frag dich nun selber, ob es sicher ist.«
Die Schwester trat fest und aufrecht vor den Bruder hin. »Und ich tu's eben nicht!« rief sie, seinen Ton nachahmend, indem sie dabei auf den Boden stampfte.
»So gefällst du mir«, sagte er lachend. »Komm, setz dich wieder. Sei nur standhaft und laß dir sonst weiter keine graue Haar wachsen. Ich bin ja um den Weg. Wenn sie dir den Futterkasten gar zu arg versperren, so will ich dein Rabe sein, und wenn des Alten Hand zu schwer wird über dir, so will ich dazwischen springen und die schwersten Streiche auffangen. Du weißt ja, er ist leicht abzuleiten: wenn er Hist töbert, so braucht man ihm nur mit einem ungäben Wort zu kommen, dann läßt er Hist fahren und tobt Hott. Laß mich nur machen, ich will dir den Regen mit dem Dachtrauf vom Leib halten, ich hab ja ein dickes Fell.«
Magdalene wurde vollends ganz zuversichtlich, während sie dieses Schutz- und Trutzbündnis verabredeten. »Verlaß dich nur auf mich«, sagte sie, »ich will zäh sein wie eine Katze.«
»Recht so«, erwiderte Friedrich. »Was will das bißle Ungemach heißen, wenn die Alte sich dafür das Gallenfieber an den Hals ärgert. Es ist doch ein wüst's Weibsbild, und was sie für abscheuliche Reden führt!«
[] »Ach, ich hab mich so geschämt«, sagte Magdalene, indem sie wieder zu weinen begann und den Kopf auf ihres Bruders Schulter legte. »Sie hat mir das Herz im Leib herumgedreht mit ihren bösen Worten. Ich will ja dem Mann sonst nichts Schlimmes nachgesagt haben, aber warum soll er mir denn mit's Teufels Gewalt gefallen? Es ist ja doch wahr, daß er alt ist und häßlich, und soll ich denn das nicht sagen dürfen?«
»Freilich darfst du's sagen, und ein recht's Mädle darf wohl ein Aug auf ein Mannsbild haben und lugen, ob was Wohlgefälliges an ihm ist oder nicht. Die Heuchlerin, die! Glaub mir nur, wenn eine so verdammlich und augenverdreherisch redet und so den Willen Gottes vom Zaun bricht, die ist gewiß ein fauler Apfel.«
»Ach geh, du wirfst das Beil auch gleich zu weit hinaus. Nachsagen kann man ihr nichts, und sie hat dem Vater immer genau Haus gehalten, nur gar zu genau.«
»Meinetwegen, aber was sie da von ihrer Jugend schwätzt, das ist die lautere pure Heuchelei, und eh ich's ihr glaube, eher glaub ich, daß sie ein Hufeisen verloren hat. Für was braucht sie bei dir gleich auf so schandliche Gedanken zu kommen? Es sucht keiner den andern hinterm Ofen, er sei denn selber dahinter gesteckt. Bleib du bei deiner Art und schäm dich nicht. Der lieb Gott hat nichts dawider, wenn dir ein frischgrüner Apfelbaum besser gefällt als eine dürre Pappel. Was, Dummheit! Gleich und gleich gesellt sich gern.«
[] »Ja, du scheinst mir auch ein feiner Hecht zu sein!«
»Mit den Alten werd ich's niemals halten, soviel ist gewiß. Jetzt möcht ich nur mein Schwesterle recht anständig versorgt sehen. Wart einmal, wir haben ja die Auswahl unter den jungen Burschen, wollen geschwind Musterung halten.«
»Ach, schwätz nicht so überzwerch heraus.«
»Mit welchem soll ich denn gleich anfangen? Ja, da ist zum Exempel heut abend der untere Müller dagewesen, der Georg.«
Er bemerkte ein leichtes Zucken an seiner Schwester und drehte ihr Gesicht zu sich herum. »Was?« rief er, »hab ich gleich auf den rechten Busch geklopft? Es ist nur schad, daß ich in der Dunkelheit nicht sehen kann, wie du dazu aussiehst.«
»Laß mich zufrieden«, sagte sie. »Ich hab was Nötigeres zu tun jetzt, als nach den jungen Burschen auszuschauen. Behalt deinen Spott bei dir.«
»Wenn dir's Ernst mit ihm ist, morgiges Tages bring ich ihn herbei, und wenn ich den Kälberstrick dazu nehmen müßte! Ich bin ihm ohnehin noch eine Rache schuldig. Er hat mich einmal helfen liefern, und wiewohl ich ihm das nach Gestalt der Sachen nicht sonderlich nachtrage, so wär mir's doch zweimal recht, ihn zur gnädigen Straf an eine lebenslange Kette zu legen.«
»Still, still!« rief sie und hielt ihm, übrigens erst, nachdem er ausgesprochen hatte, die Hand auf den Mund. »Komm, es ist schon so spät, wir müssen ins Bett. Der Vater könnt lärmen.«
[] Sie gingen leise in das Haus zurück und sagten einander gute Nacht. Friedrich aber wartete, bis seine Schwester in ihre Kammer hinaufgehuscht wär, und sagte: »Ich muß doch probieren, ob man heut noch Wind und Wetter beobachten kann.« Er schlich über den Öhrn, klinkte unhörbar die Türe zum Wirtszimmer auf, wo ein Knecht in der Ecke schnarchte, durchmaß das Zimmer mit großen Schritten, aber so lautlos, daß ihm kaum der Sand unter den Füßen knisterte, ging durch ein zweites kleineres und legte das Ohr an die Türe, die ins Schlafgemach seiner Eltern führte. Er hatte sich nicht getäuscht, sie waren noch in einer Gardinenunterredung begriffen.
»Auch wider den untern Müller hätt ich eigentlich nichts einzuwenden«, hörte er seinen Vater sagen.
»Wie kommst du denn auf den?« fragte die Sonnenwirtin dagegen.
»Mir deucht's seit einem Vierteljahr oder so etwas her, daß er ein Aug auf das Mädle hat. Er hat mir schon so eine Art Wink gegeben, freilich nicht mit dem Holzschlegel, denn er hat gar einen besonderen Stolz. Aber er ist ordentlich, bringt sein Sächle vorwärts und tät auch sonst besser für ein jungs Mädle passen als so ein alter Krachwedel.«
»Ei, Alterle, wie tust du doch so jung!« erwiderte die Sonnenwirtin. »Übrigens hab ich ebenmäßig nichts wider den Müller, und dem könntest du außerdem einen großen Gefallen erweisen. Ich hör, er will bauen, und da werden ihm ein paar tausend Gulden eine Frau erst recht wert machen.«
[] »Das geht nicht!« brummte er dagegen. »Von der ›Sonne‹ kann ich nichts weggeben. Die ist und bleibt der Grundstock in der Familie, die darf nicht einen Strahl von ihrem Glanz einbüßen.«
»Dann wird er wenig Lust haben«, sagte sie. »Zum Bauen hat er das Geld nötig. So wacker er ist, so ist er doch noch zu jung, als daß ihm jemand so viel leihen tät! Also muß er's erheiraten.«
»Soll anders wohin gehen.«
»Der Chirurgus dagegen sagt, es sei eine Schande für einen Mann, wenn er beim Heiraten aufs Geld sehe. Er begehrt nichts dazu, er sagt, deine Tochter wär ihm lieb, und wenn sie nackt und bloß zu ihm käme, er wolle sie schon ernähren.«
»Nu, wenn sich kein anderer meldet, so kann er sie haben.«
»Ja sieh, aber er pressiert eben und wird auch nicht gerad warten wollen, bis es uns gefällig ist. Mit dem Probieren ist's so eine Sach. Die Mannsleut sind nicht so uninteressiert heutzutag. Wenn nun kein anderer käm, und der Chirurgus ging sonstwo auf die Brautschau, so blieb eben das Mädle sitzen, und das wär doch ein Spott und eine Schand.«
»Hm!« brummte der Sonnenwirt.
»Der Habich ist besser als der Hättich«, fuhr die Frau fort, »und wenn man einmal etwas tun will, so tut man's besser gleich, damit's nachher nicht zu spät ist. Mir kann's zwar soweit einerlei sein; es ist dein Kind und nicht meins. Was geht's mich an, wenn sie eine alte Jungfer werden will? Meinetwegen kann sie in der Wirtschaft bleiben, solang [] sie mag. Deshalb ist mir's am liebsten, wenn ich dabei ganz aus dem Spiel bleiben kann. Nichts Schwereres für eine Stiefmutter, als solcherlei Pflichten zu erfüllen; denn wenn ich noch so gut sorge, so bin ich doch eben die rechte Mutter nicht, und wird mir mein Sorgen noch obendrein verdacht. Mach du die Sach mit deiner Tochter ab. Sprich mit ihr und frage sie, was ihr gefällig sei.«
»Fragen!« brauste der Sonnenwirt auf. »Man wird so ein Ding noch lange fragen. Sie soll froh sein, wenn man sie versorgt. Nun ja, der Haue muß ein Stiel gedreht werden. Also, wenn kein anderer um den Weg ist, so mag's mein'thalben der Chirurgus sein. Aber da soll er sich nur das Maul abwischen: bar Geld kriegt er keins von mir.«
»Sei ganz ruhig. Bis wann soll denn die Sach jetzt richtig werden?«
»Das laß ich dir über.«
»Sieh, Schwan«, hob die Sonnenwirtin mit einem freundlichen und überzeugenden Tone an, »ich hab das schon vorausbedacht, denn ich muß ja doch an alles denken. Weißt, morgen ist ja der Monatstag, da kommen die geistlichen Herren wieder zusammen.«
»Hm«, brummte der Sonnenwirt.
»Der Amtmann wird auch dabei sein, vielleicht sogar der Vogt von Göppingen.«
»Hm, ja.«
»Und weil unser Haus eigentlich doch auch ein wenig über den Leisten geschlagen ist, so könnte man dem Ding einen Anstrich geben, daß es ein [] recht gesellschaftliches, fürnehmes Aussehen bekäme. Weißt, auf so was verstehst du dich! Wenn die Herren dann aufstehen müssen und Gesundheit trinken, so wird der Verspruch zur Hauptsach, und die Herren mögen wollen oder nicht, sie sind dann eigentlich nur um des Verspruchs willen da.«
Der Sonnenwirt hatte immer beifälliger gebrummt. »Dabei soll's bleiben!« sagte er endlich. »Aber jetzt laß mich schlafen, hast mir die Zeit lang genug gemacht.«
Auch Friedrich hatte genug gehört. Leise, wie er gekommen wär, schlich er hinaus und begab sich auf seine Kammer, wo er lange nicht schlafen konnte.
Als er in der Frühe seiner Schwester auf der Treppe begegnete und sie ihm guten Morgen sagte, klang ihre Stimme gar nicht so entschlossen wie vergangene Nacht. »Du machst ja ein Gesicht wie die Katz, wenn's donnert«, raunte er ihr zu; »stell dich krank, Magdalene, stell dich krank und mach, daß du nur über den Tag hinüberkommst.«
»Es wär keine Verstellung«, erwiderte sie, »wenn ich mich wieder legte.«
»Tu's, tu's!« rief er und sprang die letzten acht Staffeln mit einem Satz hinab.
Er ging den Fußweg am Bache hin, der mitten durch den Flecken läuft. Die Gänge der Mühle klapperten ihm eifrig entgegen. Von der Brücke aus sah er den jungen Müller im Hofe beschäftigt, allerlei Holz zusammenzusägen. Er blieb unschlüssig stehen, als aber jener aufblickte, setzte er sich in [] Bewegung, als ob ihn der Weg zufällig hier vorüberführe.
»Guten Morgen«, rief er in den Hof hinein.
»Schön Dank.«
»Treibt's gut um?«
»So so, la la«, war die verdrossene Antwort.
»Ich glaub, an dir ist ein Zimmermann verloren gangen«, sagte Friedrich, indem er näher trat und sich gegen die Mauer lehnte.
»Hm, 's ist nur so ein wenig gebosselt.«
»Man sagt ja, du wollest bauen, Georg?«
»Willst mir dabei an die Hand gehen, Frieder?«
»Ja, ich! Was hätt'st du von mir? Soll ich dir Steine zutragen?«
»Hm, ja, aber solche, wo der Karl Herzog drauf geprägt ist.«
»Oder der alt Kaiser? Du hast's gut vor, Brüderle, solche Bausteine sind mir zu schwer, die muß ich liegen lassen.«
Die beiden sahen einander an, und ihre scheinbar gleichgültigen Mienen spielten ein langes stummes Frag- und Antwortspiel.
»Ich muß eben sehen, wie ich ein Dukatenmännle ins Hauskrieg«, sagte der Müller endlich. »Vielleicht wissen mir die Zigeuner eins.«
»Oder ein Bettelmädle mit ein paar tausend Gulden«, entgegnete Friedrich, den Stich verbeißend.
»Weißt mir eine?« fragte der Müller und sah ihn forschend an.
Friedrich schlug die Augen nieder und wühlte mit dem Fuß im Sägmehl, das am Boden lag. »Ist denn[] das Bauwesen so nötig?« fuhr er endlich in seiner Verlegenheit heraus.
»Justement so nötig, als dein Geschwätz unnötig ist«, war die Antwort.
»Oh, ich will nicht lang mit dir ränkeln, du zuckerigs Bürschle, du. Bau du mein'twegen so hoch, wie der babylonisch Turm gewesen ist.«
Dieses brummend, nahm er einen verdeckten Rückzug, das heißt, er setzte den eingeschlagenen Weg an der Mühle vorüber fort, um in einem weiten Bogen wieder nach Hause zu kommen.
Der junge Müller sah ihm verwundert und ärgerlich nach. »Ich glaub, der hat Maulaffen feil«, brummte er, indem er wieder zur Säge griff.
»Die Katz maust links, die Katz maust links!« sagte Friedrich zu sich, mit bedenklichem Gesichte seine Schritte fördernd. »Ich wollt nur, daß der Tag im Kalender durchgestrichen wär.«
Von Not und Eifer getrieben rannte er dahin, obgleich er eigentlich nicht wußte, warum er zu eilen habe; es wär eine Aufregung in ihm, die seinem Gesicht in diesem Augenblick ein besonders kräftiges Aussehen gab. Die Leute, die auf der Straße oder an den Fenstern waren, mußten ihn unwillkürlich mit Wohlgefallen betrachten, und ein Mädchen, das ihm begegnete, grüßte ihn auf eine Weise, die trotz seiner gedankenvollen Selbstvergessenheit nicht unbemerkt von ihm blieb. Es wär ein schlankes Mädchen mit gelben Zöpfen, noch sehr jung und von auffallend hellen Gesichtszügen; in ihren Mienen lag eine eigentümliche Mischung von Zutraulichkeit [] und Unschuld. Sie grüßte ihn mit dem gebräuchlichen Bauerngruße, das heißt, sie »wünschte ihm die Zeit«, aber mit einem Blicke, der, so schnell und schüchtern er vorüberglitt, eine Freundlichkeit, eine gewisse Teilnahme und Hingebung aussprach, die nur in einem Blicke so ausgesprochen und eben deshalb nicht weiter beschrieben werden kann. Genug, ihm wär, als hätte sich das junge Mädchen mit diesem Blicke ganz und voll und warm in seine Arme gelegt, und er, für einen solchen Eindruck nichts weniger als unempfänglich, fühlte sich hingerissen, obgleich er sich erst einige Sekunden nach der Begegnung bewußt ward, daß er gegrüßt worden sei, daß er einen Blick dabei wahrgenommen und daß dieser Blick ihm gegolten habe. Jetzt erst blieb er stehen und sah ihr nach. Sie wär schon ziemlich weit entfernt, und ihre Zöpfe flogen lustig hinter ihr her. »Ich kenn doch jedes Kind hier«, sagte er, »ist's vielleicht eine Fremde? Sie trägt sich übrigens ganz Ebersbachisch. Aber das ist ein blitznett's Schelmengesicht!« – Er wäre ihr gerne nachgegangen, aber er scheute die Mühle. Auch fiel ihm nur allzubald die Sorge wieder aufs Herz, die ihn aus dem Hause getrieben hatte. Er wandte sich, durchmaß einige Gäßchen, ging weiter oben über das Wasser zurück und kam unverrichteter Dinge nach Hause, wo ihm ein vielsagender Duft aus der Küche entgegenströmte.
Nach dem Essen, als er Gelegenheit fand, einen Augenblick mit seiner Schwester allein zu sein, fragte er sie: »Ist dir's noch wie gestern?«
[] Magdalene versuchte zu lachen; es wollte ihr aber nicht recht gelingen. »Ich tu's eben nicht!« flüsterte sie, indem sie in der gestrigen Haltung auf den Boden stampfte; aber ihre Stimme klang wie eine ohnmächtige Einsprache gegen das Schicksal, und über ihre Augen flog ein Nebel hin. Die Geschwister hörten des Vaters Tritt; da stoben sie auseinander.
Friedrichs Beklemmung stieg immer höher. Der Geist der Gewalttätigkeit begann in ihm wach zu werden. Er ging unruhig durch das Haus und suchte ein Brett, das ihm gerecht wäre. Dann stieg er auf den Boden, um Erbsen zu holen. Er wollte dem Chirurgus einen halsbrechenden Empfang bereiten. »Wenn sie mich auch wieder nach Ludwigsburg schicken«, dachte er, »was tut's!« Als er aber mit seinen Vorbereitungen fertig wär, fiel es ihm ein, daß die geistlichen Herren, die heute ihr »Kränzchen« in der ›Sonne‹ hatten, mit nächstem anrücken würden, und er entsagte seinem Attentat. Vor der Klerisei hatte er einen wohlbegründeten Respekt. Denn, dachte er in seiner rohen Weise, statt des Chirurgen könnt mir auch einer von den Pfarrern abe hageln, und das tät mir schlimmer gedeihen, als wenn ich meinem Vater einen Strick um den Hals gemacht hätt und hätt ihn an den Schild hinausgehenkt. Nicht lange, so erschienen die ersten der erwarteten Ankömmlinge. Von ihren weitschößigen schwarzen Röcken umrauscht, stiegen sie ernsthaft die Treppe empor, und ihre weißen Bäffchen oder Überschlägchen, wie man dieses geistliche Würdezeichen [] in Süddeutschland heißt, begleiteten ihre Unterredung, indem sie, beim Sprechen von den Halsmuskeln in Bewegung gesetzt, taktmäßig über der Brust auf und nieder klappten. Arglos überschritten die Pastoren die verhängnisvolle Staffel, die, wenn Gedanke und Tat ein Ding wären, ihnen ein Stein des Anstoßes und gewiß auch nicht geringen Ärgernisses geworden sein würde. Dem Chirurgus hatte es sein guter Geist eingegeben, daß er die Nachhut bildete, und so gelangte auch er wohlbehalten unter den Fittichen der geistlichen Macht herauf. Die Herren verfügten sich in ihr besonderes Kabinett. Die übrigen Mitglieder der Gesellschaft ließen nun auch nicht länger auf sich warten; als die allerletzten kamen, um keine unschickliche Eile zu beweisen, der Pfarrer und, Saul unter den Propheten, der Amtmann des Orts. Mittlerweile fanden die dampfenden Schüsseln ihren Weg aus der Küche ins Kabinett. Die Sonnenwirtin und Magdalene trugen sie. Letztere hatte, als einen schwachen Versuch, sich mit Krankheit zu entschuldigen, ein Tuch um den Kopf gebunden, das ihr aber noch unterwegs von der sorgsamen Mutter abgerissen wurde. »Morgen kannst Kopfweh haben, soviel du willst«, sagte sie, »aber heut darfst nicht wehleidig sein.« Der Sonnenwirt begnügte sich, die Herren zu empfangen, ins Kabinett hinein zu komplimentieren und von Zeit zu Zeit nachzusehen, ob nichts fehle. Der Chirurgus durfte die Flaschen auftragen helfen, was dem Amtmann und dem Pfarrer Anlaß gab, ein wenig zu sticheln. Nachher hatte er die Ehre, einem [] von den Herren Schnupftabak zu besorgen, und zuletzt, als man nichts mehr von ihm wollte, zog er sich mit einer feinen Wendung zurück. Mit dem Hauptauftritt mußte man natürlich warten, bis die Herren ihre nächste Aufgabe, nämlich die teils gebackenen, teils blau abgesottenen Forellen vom Tische verschwinden zu machen, bereinigt haben würden.
Friedrich war mit der Aufwartung im gewöhnlichen Wirtszimmer bei den Fuhrleuten betraut worden, erhielt aber nach einiger Zeit durch Vermittlung seiner Mutter, die ihm doch nicht recht traute, vom Vater den Befehl, in den Stall zu gehen und die Pferde zu füttern. Die unschuldigen Tiere mußten sich dabei manchen Puff gefallen lassen. Als er wieder heraufkam, sah er, was ihm sein Verstand schon gestern abend hätte voraussagen können, seine Schwester als »glückliche Braut«. Der Vater hatte sich inzwischen die Freiheit und die Ehre genommen, sie als solche im Kabinett vorzustellen, das man, um der Sache mehr Öffentlichkeit und Ansehen zu geben, gegen das Wirtszimmer offengelassen hatte. Die Herren wünschten Glück, stießen mit den Gläsern an und machten etliche versteckte skurrile Witze, alles das, wie es bei solchen Gelegenheiten zu geschehen pflegt. Magdalene knixte mit ängstlichem Lächeln und zwang die Tränen zurück, die freilich sehr nahe waren, aber wie hätte sie vor so gewaltigen Herren wagen können, einen Willen geltend zu machen? Der Chirurgus stand neben ihr, ganz grün vor Seligkeit. Die Sonnenwirtin freute [] sich, daß sie den niederdrückenden Einfluß, den die Herrengesellschaft auf das Mädchen üben würde, so sicher voraus berechnet hatte. Der Sonnenwirt schmunzelte und schwamm in Wohlbehagen über die honoratiorenschaftliche Haupt- und Staatsaktion. Friedrich seinerseits ließ im Wirtszimmer seine festliche Bewegung an einer Flasche aus, die, als sie mit lautem Klirren am Boden zerbrach, die allgemeine Stimmung durch Schrecken, Lachen, Zorn und Scheltworte hindurch in das gewöhnliche Geleise zurückbrachte. Die Türe des Kabinetts schloß sich wieder, die Wirtschaft ging ihren Gang, und als die Herren abends ihre Sitzung aufhoben, blieb es ein Geheimnis, was der Gegenstand ihrer Unterhaltung gewesen war, ob die Ewigkeit der Höllenstrafen oder die Aufbesserung der Besoldungen. Nur eines hatte sich entschieden und unabänderlich festgestellt, nämlich, daß Magdalene jetzt das wär, was sie vergangene Nacht um keinen Preis, selbst nicht um den Preis ihres Lebens, hatte werden wollen.
Friedrich redete den ganzen Abend kein Wort mit seiner Schwester. Als sie ihn einmal lange schüchtern und bittend ansah, antwortete er mit einem Blick, der ihr deutlich sagte, daß er, wenn er Gelegenheit hätte, seinen tollen Jähzorn tätlich an ihr auslassen würde. Sie vermied es deshalb, allein mit ihm zusammenzutreffen. Da man ihr jetzt keinen Zwang mehr antat und ihr Bräutigam, geduldig auf besseres Wetter wartend, sich beizeiten nach Hause gemacht hatte, so ging sie noch vor dem Abendessen zu Bette.
[] Auch diese Nacht konnte Friedrich die Augen lange nicht schließen. Es war ihm sehr übel zumute. Der Zorn über das feige Benehmen seiner Schwester hatte sich in eine seltsame Bangigkeit verwandelt. Er fühlte sich ganz im Stich gelassen und begann zu ahnen, daß ihm das Leben noch harte Nüsse zu knacken geben werde. Daß die Menschen nicht seien, wie sie sein sollten, das war ihm klar geworden; wie er aber selbst unter solchen Umständen eigentlich sein sollte, das wußte er so wenig, daß es ihm nicht einmal einfiel, auch nur die Frage an sich zu stellen. Mitleid, Angst, Empörung wechselten auf die wunderlichste Weise in ihm ab, und das Heimweh nach der sichern Umfriedigung des Zuchthauses kehrte ihm aber und abermals zurück. Er hatte es mit angesehen, wie neben den Verbrechern auch arme Waisen zu nicht schimpflicher Arbeit in dasselbe aufgenommen wurden, und ihr Los wollte ihn wie ein neidenswertes Glück bedünken. Aber mitten unter diesen verschiedenen Regungen fand er noch Raum genug in seinem Herzen, um mit vielem Behagen an das hübsche Mädchen zu denken, das ihn heute auf der Straße gegrüßt hatte.
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Der Jüngling, dessen groben, verworrenen Lebensfaden wir zu verfolgen unternommen haben, war, als er die väterliche Schwelle wieder betrat, über eine jener unsichtbaren Grenzen geschritten, welche [] sich durch die Gesellschaft und durch den einzelnen Menschen selbst hindurchziehen. Er empfand vor seinem Vater, wo nicht Achtung, denn zu dieser gehört ein ausgebildeteres Bewußtsein, so doch eine unbestimmte Scheu, ja sogar unter rauher Decke einen Rest kindlicher Zuneigung; und dennoch sagte ihm ein unbestechliches Gefühl, daß er durch den bloßen Rücktritt aus dem Kreise des Waisenpfarrers in den Kreis des Sonnenwirtshauses um eine Stufe gefallen sei. Das Leben war hier ein ganz anderes und wies mit seinen alltäglichen und doch gebieterischen Zwecken so manche Forderung der reifenden Seele zurück, welche dort, obwohl unter dem einförmigen Frondienst des Wollekrämpelns, von einem Geiste, den seine Zeitgenossen apostolisch nannten, geweckt worden war; aber die fortgesetzte Berührung mit dem Alltagsleben mußte auch zugleich die Wirkung haben, daß dieses Gefühl allmählich wieder in ihm abgestumpft wurde. Sein blutiges Handwerk, wie es das unendliche Weh, das aus den stummen Augen der Tiere jammert, zum Schweigen brachte, so schlug es auch die verwandte Stimme in der Menschenbrust nieder. Daneben waren die Gäste, mit denen er täglich in der Wirtsstube zu tun hatte, gewiß lauter »ehrliche Leute«, aber wahrhaftig keine Tugendspiegel, und er hatte nur zu viele Gelegenheit, die mehr oder minder klare Betrachtung anzustellen, daß Achtbarkeit und guter Ruf in dieser Welt sehr oft weniger von einem streng ehrlichen und sittlichen Wesen, als von Klugheit und zufälligen Umständen abhängen. Je minder klar [] aber diese Betrachtung in ihm aufstieg, desto gefährlicher war sie ihm. Überhaupt wußte sein Kopf nichts von Nachdenken, sondern nur von raschen Eindrücken, die sich unter lärmenden Zechgenossen und auf dem Tanzboden entweder befestigten oder ebenso rasch wieder verdampften. Dieses Bedürfnis, eine immer rege mißbehagliche Unruhe zu verjubeln, söhnte ihn auch wieder mit seiner Schwester aus, bald nachdem sie dem aufgedrungenen Bräutigam angetraut worden war. Denn da sie von ihrem Manne ziemlich leidlich behandelt wurde, so hatte sie dann und wann den Trost, dem geliebten Bruder einen auf die Seite gebrachten Groschen zustecken zu können, und Friedrich, den der Vater sehr kurz zu halten für gut befand, verschmähte die klingenden Beweise der Schwesterliebe nicht.
Während er auf diese Weise teils gleichgültig, teils in dumpfer Lustigkeit dahinlebte, kehrten auch seine äußeren Umstände ganz in das gewöhnliche Geleise zurück. Zu Hause ging er unangefochten aus und ein und stand mit der Stiefmutter in jenem mürrischen Verkehr, wo Gewohnheit die Stelle der Liebe vertritt. Auch in der Gemeinde wär er geduldet; niemand zeigte sich ihm widerwärtig, mancher blickte ihn freundlich an, und des Makels, der auf ihm haftete, schien nicht gedacht zu werden. Ihm selbst war nicht wohl und nicht wehe; mit dem Zuchthause hatte er auch den Waisenpfarrer vergessen. Ein strenges Gesicht machte ihm niemand mehr als der Amtmann. Aber dies hatte wenig zu sagen, denn der Amtmann galt persönlich nicht sehr viel bei der [] Gemeinde und zu Hause gar nichts; auch nahm der im Grunde gutmütige und schwache Mann eigentlich nur deshalb eine Amtsmiene gegen ihn an, weil er ihn einmal in Untersuchung gehabt hatte und ihn nun, wo nicht mit Worten und Werken, so doch mit Gebärden polizeilich überwachen zu müssen glaubte. Dagegen war er bei der Frau Amtmännin sehr gut angeschrieben, und zwar zu seiner eigenen Verwunderung besser, als er es verdiente, denn er hatte sich schon manche boshafte Bemerkung über ihr Pantoffelregiment erlaubt. Vielleicht wär ihr nichts davon zu Ohren gekommen; genug, die stolze, kräftige Frau empfand eine gewisse Teilnahme für den jungen Burschen, der schon so früh über die Schranken der bürgerlichen Ordnung gesprungen war. Es schien ihr nicht unangenehm zu sein, wenn sie ihren Fleischbedarf von ihm ins Haus getragen bekam, und der alte Sonnenwirt, der keine Art von Gnadenschimmer aus den Augen ließ, sorgte alsbald dafür, seinem Sohne dieses Ehrenrecht auf dem Wege des Herkommens zu überweisen. Die gestrenge Frau pflegte ihn dabei sehr huldvoll zu behandeln, sie reichte ihm manchmal ein Glas Wein, ermahnte ihn zu vernünftiger Aufführung, ergötzte sich aber besonders gerne an seinen eigentümlichen freimütigen Äußerungen. An solchen ließ es Friedrich selten mangeln; denn wenn er einmal seine Schüchternheit gegen Vornehmere überwunden hatte, so tat er seiner Zunge, zumal wenn aufgemuntert, keine Gewalt mehr an. Die Gunst der Amtmännin ebnete ihm auch sonst noch seinen Pfad; der Schütz und die [] Scharwächter, welche die Polizei im Flecken handhabten, ließen diese Stimmung ihrer Gebieterin nicht unbeachtet und drückten bei manchen Unregelmäßigkeiten des jungen Burschen, bei manchen kleinen Verstößen gegen die öffentliche Ordnung alle ihre Augen zu.
Unter diesen Umständen wär er eines Morgens mit seinem Korbe ins Amthaus eingetreten. Die Amtmännin prüfte den Inhalt und sagte wohlgefällig: »Das gibt ein schönes Brätchen, ich hab alle Konsideration vor Seines Vaters Geschmack, sag Er ihm einen Gruß, und ich sei wohl zufrieden.«
»Oh, ich hab's selber ausgewählt, Frau Amtmännin«, erwiderte Friedrich.
»Um so besser, so darf Er's auch selber in die Küche tragen. Geh Er, mein Sohn, und bring Er's der Kathrine hinaus. Daß Er sich aber nicht untersteht, dem Mädchen zu flattieren; ich habe mir sagen lassen, daß Er ein galanter Junker sei.«
Friedrich lachte und trug das Fleisch in die Küche. »Da, Jungfer«, sagte er, »und die Frau hat mir einen Kuß aufgetragen als Zugabe.«
Das Mädchen ließ mit einem leisen Schrei den Korb fallen und flüchtete sich hinter den Herd. Sie hatte etwas Demütiges und Gedrücktes in ihrem Wesen und sah, obwohl noch jugendlich und nicht unschön, doch blaß und verblüht aus. Sie war eine Verwandte der Amtmännin, die sie unter dem Namen einer Hausjungfer, eigentlich aber als Dienstmagd, zu sich genommen hatte.
»Es ist nicht so ernstlich gemeint, Jungfer«, lachte[] Friedrich. »Nur sachte mit der Braut! Das Fleischle da hätt so sauber bleiben können, wie Ihre Tugend von meinetwegen bleiben soll.«
Er hob das Fleisch vom Boden auf, warf es ihr auf den Herd und verließ die Küche, indem er brummte: »Was sich die nicht einbildet, und ist nur so ein Flügel.«
Als er wieder ins Zimmer kam, um zu fragen, was die Frau Amtmännin auf morgen zu befehlen habe, fand er ein Glas Wein eingeschenkt, zu dem er sich nicht lange nötigen ließ.
»Hat's draußen was abgesetzt?« fragte sie. »Ich meinte einen Fall zu hören.«
»Oh, der Jungfer ist nur ein kleiner Poss passiert. Darauf hab ich weiter gar nichts gesagt als ›Sachte mit der Braut!‹, und da ist sie gleich ganz schiefrig geworden.«
Die gestrenge Frau lachte recht gnädig. »Es kommt ja nur auf den Mosje Friedrich an«, sagte sie, »ob er aus dem Sprichwort Ernst machen will. Das Mädchen ist aus einer sehr guten, aber während der Minderjährigkeit des Herzogs unterdrückten und herabgekommenen Familie. Nun, dafür hat sie sich desto besser in der Welt fortbringen gelernt; das ist auch eine Aussteuer. Sie ist schon bei einem adeligen Geheimenrat in Diensten gewesen und weiß, was Mores sind. Das gäb eine Wirtin, die den vornehmsten Gästen gewachsen wäre.«
Sie sagte dies alles auf eine scherzhafte Weise, in welcher gleichwohl etwas Aufmunterndes lag. »Aber freilich«, fügte sie hinzu, »Wirte sehen mehr auf [] äußeres als auf inneres Metall, und bei Wirtssöhnen wird man ohne Zweifel den gleichen Gout antreffen.«
»Konträr, im Gegenteil«, versetzte der junge Mensch, »ich seh bei einem Mädle aufs Herz und nicht auf die Batzen. Liebreich ist über hübsch, und hübsch ist über reich. Aber Exküse, Frau Amtmännin, mein Sinn steht darauf, daß, wenn ich einmal heiraten tu, so muß es ein freies Mädle sein. Ich will mein Weib nicht aus der Dienstbarkeit holen. Arm darf sie wohl sein, aber keine solche, die schon auf der Adelsbank herumgerutscht und in vornehmen Häusern herumgepudelt worden ist.«
Die Amtmännin fuhr aus dem Armsessel auf, und ihre Kontusche von Perse rauschte wie eine Windsbraut durch das Zimmer. »Er Flegel, der Er ist!« schrie sie, »meint Er denn, ich werde meine Perlen vor solche Schweine werfen! Eine Zigeunerin wird Er noch kriegen oder des Seilers Tochter, wenn's hoch kommt, wozu alle Aussicht vorhanden ist! Reis Er sich auf der Stelle, und laß Er sich's nicht beigehen, mir wieder unter die Augen zu treten.«
Friedrich hatte eben das Glas ergriffen, um zur Bekräftigung seiner Rede einen herzhaften Schluck zu tun, als dieser unerwartete Sturm bei vermeintlich heiterem Himmel ausbrach. Er setzte verblüfft das Glas auf den Tisch, ergriff seinen Korb und machte sich rücklings gegen die Türe, wobei er den eben eintretenden Amtmann empfindlich auf den Fuß trat. Dieser neue Fehltritt wär nicht geeignet, ihm seine Fassung wiedergewinnen zu helfen; vielmehr [] gelangte er strauchelnd und taumelnd zur Tür hinaus, von grimmigen Blicken und unfreundschaftlichen Segenswünschen verfolgt.
»Aber die kann einem den Marsch machen!« sagte er verwundert zu sich, als er auf der Straße war. Er trug langsam seinen Korb nach Hause, ohne sich recht erklären zu können, wodurch er die Frau so plötzlich gegen sich aufgebracht habe. Desto deutlicher stand ihm die doppelte Tatsache vor Augen, daß er um eine nicht zu verachtende Gönnerschaft ärmer und um einen furchtbaren Feind reicher geworden sei. Er verabredete hinter dem Rücken seines Vaters mit einem Knecht, daß dieser künftig statt seiner das Fleisch ins Amtshaus tragen solle; aber trotz dieser Auskunft machte ihm der Vorgang nicht wenig zu schaffen. Verschüttet Öl ist nicht gut aufheben, sagte er den ganzen Tag bedenklich mit dem Sprichwort zu sich.
Was konnte er unter dem Gewichte dieser Betrachtung Besseres vornehmen, als die Flasche aufzusuchen, in welcher der Deutsche, der Jüngling wie der Greis, der gemeine Mann wie der vornehme, schon so manche Verlegenheit ersäuft oder erst recht großgezogen hat! Sein Vater war ausgeritten, Ochsen zu kaufen, und wurde erst in später Nacht zurückerwartet; die Stiefmutter aber stand nicht in so hohem Ansehen bei ihm, um ihretwegen die Hausordnung einzuhalten. Er erlaubte sich, das Nachtessen zu umgehen, und besuchte dafür ein Bäckerhaus, wo er gerne einzusprechen pflegte.
Die Stube war halbdunkel, als er sie betrat. Auf[] einem Ofenbänkchen dämmerte der Bäcker, wie es ihm schien; die Wärme des Ofens ließ sich bei der vorgerückten Jahreszeit recht behaglich empfinden. Hinter dem erhellten Fenster, das in die Küche ging, bewegte sich eine Gestalt, die er für die Bäckerin hielt. »Duselst, Beck?« sagte er, dem Manne im Vorübergehen einen freundschaftlichen Rippenstoß versetzend; »'n Schoppen Grillengift, Beckin!« rief er dann, gegen die Küche gewendet, und schlug ein paarmal mit der Faust auf den Tisch. Dann setzte er sich und stützte verdrießlich den Kopf auf die Hand.
Ein Licht wurde gebracht und vor ihn gestellt, ohne daß er den Kopf erhob. Gleich darauf stellte dieselbe Hand den begehrten Wein im Schoppenglase vor ihn auf den Tisch. Ohne aufzusehen, wurde er doch der Hand gewahr, die mit dem Glase vor seinen Augen erschien. Sie hatte, trotzdem daß sie nichts weniger als glatt und geschont aussah, etwas Zartes; die wohlgedrechselten Fingerchen schlangen sich allerliebst um das Glas, und an die Hand schloß sich ein zierlicher, runder, voller Arm. Eben wollte er verwundert fragen, wie die beleibte Bäckersfrau zu so anmutigen Gliedmaßen komme, als ein fremdes feines Stimmchen das in den Wirtshäusern übliche »Wohl bekomm's« dazu sprach. Er tat die Hand von den Augen, sah hin, ließ den Arm auf den Tisch fallen, hob den Kopf und starrte mit freudigem Schrecken die Erscheinung an. Es wär niemand anders als das hübsche Mädchen mit den gelben Zöpfen, das ihm neulich bei seinem unglücklichen [] Werbungsversuch begegnet war, und das er seitdem nicht aus dem Sinn verloren hatte.
»Ei«, sagte er lustig, »heut hätt ich eigentlich einen schwarzen Strich in den Kalender machen sollen, jetzt mach ich aber einen roten dafür. – Was ist denn das, Beckin?« rief er der eintretenden Frau entgegen. »Habt Ihr Euch eine Kellnerin aus dem himmlischen Reich verschrieben?«
»Das ist keine Kellnerin«, entgegnete sie, »es ist mein Dötle (Patchen), das mir ein bißle im Haushalt und in der Wirtschaft aushilft.«
»Wie heiß'st denn, du Herzkäferle?« fragte er.
»Christine«, antwortete das Mädchen mit schüchternem Lächeln und trat einige Schritte von ihm weg, indem sie zugleich jenen hingebenden Blick auf ihn fallen ließ, der ihm schon einmal durch die Seele gedrungen wär.
»Bist du von hier?«
»Ja wäger ist sie von hier«, sagte die Bäckerin, »sie ist ja des Hirschbauern Tochter.«
»Daß dich der Strahl!« rief er. »Ich hätt geglaubt, ich sollt Kind und Kegel im Flecken hier kennen. Ja, dort hinaus bin ich freilich in Jahr und Tag nicht gekommen.«
»Arme Leut sind unwert«, versetzte die Bäckerin, »denen läuft niemand nach.«
»Oh, Beckin, redet nicht so! Ihr wißt wohl, daß es mir anders ums Herz ist. Aber«, wandte er sich zum Mädchen, »wo steckst denn du, du Zuckerstengele, daß ich dich noch kein einzig's Mal ins Aug gefaßt hab? Man sollt dich ja wahrhaftig für eine Fremde halten.«
[] »Sie ist nie viel unter die Leut kommen«, antwortete ihre Patin für sie. »Sie ist von Kind auf immer so ein Dürftele gewesen.«
»Es ist heut nicht das erst'mal«, sagte Christine leise und freundlich.
»Ja, gelt?« erwiderte er lebhaft, »neulich sind wir einander auch begegnet?«
»Das ist wiederum nicht das erst'mal gewesen.«
»Ja, das Mädle hat Euch noch einen Dank abzustatten von lang her, für etwas, da Euer Herz nicht mehr dran denkt. Geh, erzähl's ihm, Christinele.«
»Ich nicht!« rief das Mädchen und zog sich kichernd hinter den Ofen zurück. »Erzählet Ihr's, Dotel«
»Muß ich das Maul für dich auftun, du Dichele?« sagte diese. »Nun also! Ich will anfangen, wie man ein Märlein anfängt. Es ist einmal ein klein's Mädle gewesen, hat Bäcklein gehabt wie Milch und Blut, das Spruchbuch hat's unterm Arm getragen, und ein großer Apfel, so rotbackig wie es selber, der hat ihm aus dem Schürzentäschle herausgeguckt. So ein Apfel unter der Schulzeit – Ihr werdet's wohl noch wissen –, das ist für ein Schulkind so viel oder noch mehr als für einen jungen Burschen ein Schoppen Wein im Beckenhaus. Kommt so ein barfüßiger Flegel daher, ein paar Jahr älter als das Kind, und sagt: ›Gleich gibst mir dein' Apfel, oder ich schlag dir ein paar Zähn in Hals!‹ Mein Christinele schreit und rennt, was gilt's, was hast! Aber der Bub hintendrein und faßt sie am Fittich und schüttelt sie und will ihr den Apfel nehmen. Da kommt aber einer über ihn, und wer anders als der [] Sonnenwirtle, der Frieder, der nie kein Unrecht mit müßiger Faust hat ansehen können. Der faßt den groben Zolgen und schüttelt ihn ebenmäßig und steckt ihm ein paar, aber nicht wie's die Buben austeilen, sondern wie's die Buben von einem Mann kriegen, wenn ein Markstein gesetzt wird.«
»Gott's Blitz!« rief er fröhlich lachend, »jetzt geht mir ein Licht auf. Das ist ja der Fischerhanne gewesen, ja, ja, den hab ich einmal durchgeliedert, weil er ein Kind mißhandelt hat, wie ein Räuber und Buschklepper.«
»Ja, und dann habt Ihr dem Kind noch ein Brot dazu gegeben. Da, nimm, habt Ihr gesagt, damit dir der Apfel kein' öden Magen macht.«
»Kann sein«, sagte er, »das weiß ich nicht mehr, jedenfalls ist's gern geschehen. Was, und das Kind bist du gewesen, du Engele, du goldig's?« rief er hinter den Ofen.
»Freilich«, erwiderte die Bäckerin. »Aus Kindern werden Leute und so weiter, Ihr wißt ja, wie das Sprichwort sagt. Aber die Guttat, die hat Euch mein Christinele in einem feinen Herzen nachgetragen, beides, das Brot und daß Ihr meinen Apfel verteidigt habt, – denn von mir ist er gewesen.«
Er hatte nicht mehr ganz ausgehört. »Ist's wahr«, rief er, indem er das Mädchen, das sich sträubte und anmutig lachte, hinter dem Ofen hervorzog, »ist's wahr, daß du mich noch kennst und hast selbiges Stück im Herzen behalten?«
»Ja, es ist wahr«, antwortete sie, »und ich hätt gern –«
[] »Was hätt'st gern? Wieder ein Stück Brot?«
Sie lachte überlaut. »Heimgegeben hätt ich's gern.«
»So, du möchtest mir die Laib heimgeben?« Er schlang den Arm um ihre Hüfte und gab ihr mit einem Wink zu verstehen, daß jetzt die beste Gelegenheit zu einer ihm anständigen Belohnung wäre. Die Bäckerin hatte den Kopf gewendet, der Mann schlief auf der Ofenbank. Er drückte sie an sich und suchte mit dem Munde ihre Lippen. Sie wich ihm lächelnd aus, ohne die vielverheißenden Augen von ihm abzuwenden, und wie er sie am Kinn fassen wollte, um das unbotmäßige Köpfchen in festen Verwahrsam zu nehmen, kam sie ihm plötzlich mit den Lippen zuvor. Sein Wunsch wär in Freiheit gewährt, ehe er zu Zwangsmitteln schreiten konnte; ein Kuß, nicht lang, nicht voll, nicht feurig, aber blitzartig treffend wär ihm an den Mund geflogen und fuhr ihm durch Mark und Bein. Ihre Lippen hafteten nur einen Augenblick; im selben Augenblick war sie ihm unter dem Arm durchgeschlüpft und huschte in die Küche hinaus.
Mit diesem Kusse wär der Würfel über sein künftiges Schicksal geworfen.
In der ersten Aufwallung seiner Leidenschaft wollte er dem Mädchen nacheilen, aber eine andere Regung hielt ihn zurück. Er glaubte in dem hellen, freundlichen Gesichte, obgleich es fast noch unmündig aussah, einen Zug zu erkennen, der keine Zudringlichkeit aufkommen ließ, und besorgte, daß er die gute Meinung, die das Mädchen seit den Kinderjahren in ihrem dankbaren Herzen von ihm behalten hatte, [] leicht verscherzen könnte. Diese Betrachtungen hüllten sich jedoch in das Gewand des Stolzes. »Was, soll ich den Küchemichel machen?« sagte er zu sich und setzte sich trotzig wieder an den Tisch.
Die Stube füllte sich allmählich mit Gästen. Was auf dem Dorfe Wirtshausbesucher sind, die bilden so ziemlich denselben unveränderten Kreis und wechseln nur den Ort. Heute findet man sie in der ›Sonne‹, morgen geben sie dem ›Dreikönig‹ etwas »zu lösen«, übermorgen sind sie beim ›Becken‹, überübermorgen in der ›Krone‹, donnerstags gehen sie zum, wütigen Esel', freitags kriechen sie zum ›Kreuz‹, und am Sonnabend tut ihnen die Wahl weh zwischen dem Dutzend von Wirtshäusern, die noch übrig sind.
Friedrich nahm sich den Abend zusammen, um seinen Herzenszustand nicht zu verraten. Er verriet ihn aber jeden Augenblick. Er trank ein Glas um das andere, um Christinens Gegenwart zu genießen und etwa ihre Hand beim Darreichen zu berühren. Hierzu mußte er jedesmal den Augenblick wählen, wo sie gerade im Zimmer anwesend war, und dies nötigte ihn, oft einen starken Rest mit einem einzigen Zuge zu leeren. Die andern hatten sein Treiben schnell durchschaut und gaben ihr mutwilliges Ergötzen bald durch einen Augenwink, bald durch ein schiefgezogenes Maul zu erkennen. Die Gläser, die er aus Christinens Hand empfing, stiegen ihm nach und nach in den Kopf. Er sang, lachte, schwatzte viel und ließ- seine gute Laune an einem und dem andern der Anwesenden aus, endlich aber [] auch an der abwesenden Frau Amtmännin, die er sich nicht entblödete, eine alte Kupplerin zu schelten. Wer weiß, welch törichtes Zeug er noch angerichtet haben würde, wenn nicht Christine, vielleicht absichtlich zu seinem Besten, den klugen Einfall gehabt hätte, die Magnetnadel nach dem entgegengesetzten Pol zu drehen. Sie wischte auf einmal mit einem ›Gut Nacht‹, das wenigstens deutlich auf sein Ohr berechnet war, zur Türe hinaus. Er wagte ihr nicht seine Begleitung anzubieten, aber nun war auch seines Bleibens nicht länger mehr. Allen Neckereien und Herausforderungen der andern zum Trotz machte er sich so schnell als möglich los; er hoffte, sie noch unterwegs einzuholen. Da er aber bei all seiner Aufregung doch so viel Rücksicht genommen hatte, um einigermaßen den Schein zu meiden, so gelang ihm sein Vorhaben nicht.
Er ging mit eiligen Schritten ans Ende des Fleckens, wo etwas abgesondert das Häuschen ihres Vaters lag. Seine Tritte hallten durch die Nacht. Er umging das Haus, aber kein Licht war zu sehen. Er lehnte sich lange an den Backofen, der wie ein großer Bauch aus dem Hause hervorragte. Dann setzte er sich auf die Deichsel des Wagens, der unter dem Schupfe stand. Im Hause war alles stille, nirgends ein Laut, weder ein Tritt in einer Kammer, noch das Krachen einer Treppenstufe zu vernehmen. »Du leichtfüßig's Vögele du«, sagte er, »bist schon ins Bett geschlupft und schlafst. Gut Nacht, Christinele, gut Nacht, Schatz! Mein mußt du werden, und wenn ich die Stern vom Himmel reißen müßt!«
[] Seine Zechgenossen, als er die Stube verlassen hatte, sahen einander erst stillschweigend an, dann machten sie allerlei Bemerkungen, sowohl über den unerhörten trunkenen Freimut, mit dem er die Maria Theresia des Fleckens anzutasten gewagt, als über das plötzliche Feuer, das sich durch Flammen und Rauch verraten hatte, und zwar kreuzten sich die Bemerkungen über diese beiden Gegenstände.
»Ich glaub, der hat 'n Leibschaden unterm Hut«, fing einer an.
»Schätz wohl, und unterm Brusttuch desgleichen«, sagte ein anderer.
»Der hat dem Dr– 'n Ohrfeig geben!« versetzte ein dritter.
»Reitet der das Maul spazieren, oder das Maul ihn?«
»Ja, der reitet sich selber hinein.«
»Und die Augen sind auch mit ihm durchgegangen.«
»Ich glaub, die hat's ihm angetan.«
»Beckin, ich glaub, Euer Dötle kann hexen. Sie gäb übrigens eine zierliche Sonnenwirtin, heißt das, wenn ihm der Alte, nach Gestalt der Sachen, die Regierung übergibt.«
»Oh, ihr Leut, redet doch nicht so gottlos!« sagte die Bäckerin lachend dazwischen.
»Der wird ankommen, wie die S– im Judenhaus.«
»Er ist und bleibt halt des Sonnenwirts sein Frieder.«
»Ja, ja!« riefen alle zusammen, und nachdem sie in[] solchen sprichwörtlichen Redensarten dem »Geist« Luft gemacht hatten, gingen sie heim, um denselben für dieses Mal »ruhen zu lassen«.
5
Der trotzigste Bursche in ganz Ebersbach war mit einem Schlage so umgewandelt, daß ihn sein eigener Vater nicht mehr erkannte. Er zeigte sich demütig, dienstfertig und zu allem willig; seine angeborene Gutherzigkeit brach siegreich hervor, wie wenn nach langem Unwetter der Himmel wieder blau erscheint. Sein Vater wurde täglich zufriedener mit ihm: denn einmal ersparte ihm Friedrich ein paar Knechte, so fleißig und anstellig war er jetzt; dann tat er der Kundschaft sichtlichen Vorschub, sowohl in der Metzig, wo der weibliche Teil des Fleckens die Fleischeinkäufe am liebsten bei ihm besorgte, als auch in der Schenke, wo seine heitere Laune an die Gäste, während er selbst sich des Schlemmens enthielt, manche Flasche mehr absetzte; und endlich konnte es dem Alten doch auch nicht ganz gleichgültig sein, den einzigen Sohn, in dessen Hände dereinst die ›Sonne‹ kommen sollte, so einschlagen und in sich gehen zu sehen. Von dem Vorfall mit der Amtmännin erfuhr er nichts, denn diese hatte ihre Pille stillschweigend verschluckt; und als es ihm nach einiger Zeit auffiel, daß Friedrich kein Fleisch mehr ins Amthaus trug, so entschuldigte dieser sein Wegbleiben damit, daß die Amtmännin nicht undeutlich [] die Absicht blicken lasse, ihm ihre Köchin zu kuppeln, worauf der Alte sein Betragen höchlich billigte. Er ließ schon in der Stille sein Auge unter zwei oder drei Posthalterstöchtern in der Gegend umherschweifen, denn wie die alten Grafen von Württemberg auf den Herzogshut, so war der Sonnenwirt mit allen erdenklichen Mitteln darauf bedacht, der ›Sonne‹ durch Verbindung mit einer Postgerechtigkeit, die durch Heirat am wohlfeilsten zu erlangen war, einen höheren Aufschwung zu geben. Noch immer zwar blieb er in Mienen und Worten streng gegen seinen Sohn, denn er hielt es, wie er sagte, für geraten, den Burschen »in der Stange zu reiten«; aber wenn er sich von ihm unbeachtet glaubte, so schmunzelte er oft recht behaglich hinter ihm her. Unter diesen Umständen mußte auch die Stiefmutter zu einer berechneten Freundlichkeit auftauen, denn bei eintretenden Veränderungen wurde Friedrich, ob es ihr nun gefallen mochte oder nicht, eine bedeutende Person für sie. Übrigens dauerte diese Konsideration, wie die Frau Amtmännin es genannt haben würde, nur kurze Zeit: nachdem ihr der Fischer seinen heimlichen Bericht abgestattet hatte, begann auf ihrem Gesichte ein zweideutiges Lächeln stehend zu werden, welches hinter Friedrichs Rücken oft ebenso höhnisch als das seines Vaters wohlgefällig war. Diesem hatte sie längst seine Pläne abgelauscht und wußte ihn durch gelegentlich hingeworfene Reden eifrig darin zu bestärken. Zu dem Fischer sagte sie bei jener Gelegenheit: »Ich hab mir's von Anfang eingebild't, daß der [] Bub nicht gut tun wird, es ist seine Art nicht.« – »So einem reichen Söhnlein«, erwiderte der Fischer, »hätt man Zuchthaus und alles verziehen. Ich möcht nur auch sehen, wie man selbigenfalls mit unsereinem umging; da wär kein Aufkommen mehr. Wiewohl, der begehrt doch den Berg abe, er kann eben das Glück nicht vertragen.«
Inzwischen waren Friedrichs Versuche, Christinen in den nächsten Tagen nach jener Begegnung im Bäckerhause wieder anzutreffen, vergeblich gewesen, und nach einem unangenehmen Auftritt mit dem obern Müller, der aus Groll, daß er ihn nicht unter seine schwiegerväterliche Aufsicht bekommen konnte, sich einige Anzüglichkeiten gegen ihn erlaubte, gab er diese Versuche völlig auf. Nicht daß er das Feld als Besiegter geräumt hätte, denn der Müller war sowohl mit der Zunge als mit der Faust zu kurz gekommen, aber er vermochte es nicht zu ertragen, seine Herzensangelegenheit zum Gegenstand roher Scherze gemacht zu sehen. Er hätte der ganzen Welt verbieten mögen, ein Wort davon zu reden; wußte er doch nicht, daß es für die menschliche Zunge, wie sie nun einmal bei vielen seiner Nachbarn beschaffen war, keinen köstlicheren Genuß gab, als eine Liebschaft zu verarbeiten, und daß ihr solch ein Festmahl um so süßer schmeckte, je mehr Gift und Bitterkeit sie beimischen konnte.
Da er Christinen nirgends zu Gesicht bekam und die Entfernung von ihr nicht länger aushalten zu können meinte, so beschloß er endlich, geradezu in die Familie seiner Geliebten einzudringen, ein Unternehmen, [] das auf dem Lande meist mit mehr Schwierigkeiten und Verlegenheiten verbunden ist als in der Stadt, weil der Bauer den Dingen ohne Umschweif auf den Grund geht und über den Zweck eines Besuches nicht in entfernten Anspielungen und Feinheiten, sondern ganz rund und glatt und grob belehrt sein will. Auch wird auf diesem Wege nicht leicht eine Liebschaft, sondern nur eine schon vorher abgemachte Werbung ins Werk gesetzt. Nun würde zwar der Eintritt in das Haus des Hirschbauern nicht so viel Kopfzerbrechens erfordert haben als anderwärts ein solcher Versuch, denn die Leute waren bitterlich arm und hatten sogar schon während einer Krankheit des Hausvaters Unterstützungen aus dem Kirchensäckel genossen, der in den Gemeinden für Kirchenzwecke und Armenfürsorge gestiftet ist und gewöhnlich »der Heilig« genannt wird. Man konnte deshalb ohne große Scheu voraussetzen, daß sie einen Zuspruch aus der ›Sonne‹ wohl auch nicht verschmähen und die Überbringung desselben durch den Sohn des Hauses, statt durch einen Knecht, als eine besondere Ehre aufnehmen würden; allein der junge Mensch war trotz der Roheit, in welcher ihn die herrschende Sitte seiner Umgebung erhielt, zumal wo es sich um das Betragen des Vermöglicheren gegen den Armen handelte, zartfühlend genug, sich die Türe zu dem Mädchen seines Herzens nicht mit einem unumwundenen Almosen eröffnen zu wollen. Er erdachte sich vielmehr einen anderen Weg, der ihn ohne Demütigung derselben, aber doch mit einer kleinen Strafe [] für ihre Zurückhaltung, zu dem ersehnten Ziele führen sollte. Neben einer Kuh und einer Ziege, die dem Hirschbauer als Überreste eines ohnehin geringen Viehstandes geblieben waren und so kümmerlichen Unterhalt gewährten, daß der Backofen am Hause nur noch wie ein Spott über die Nahrungslosigkeit aussah, besaß die Familie ein Lamm, das aber eigentlich Christinen gehörte, welche es einst als krank, aufgegeben und wertlos vom Schäfer zum Geschenk erhalten, durch ihre mitleidige Pflege jedoch sich selbst und ihrem kleinen Bruder zur Freude davongebracht hatte. Alles dieses war von Friedrich ausgekundschaftet worden, und so trat der junge Bewerber eines Tages mit dem gleichgültigsten Gesichte unter dem Vorwande eines Handels in das Haus. Christine, die ihn vom Fenster aus kommen sah, begab sich geschwind aus der Stube, um ihre Bestürzung nicht merken zu lassen; aber sie müßte kein Mädchen gewesen sein, wenn sie nicht, nachdem der erste Schrecken vorüber war, das Herz in die Hände genommen und sich wieder an ihre Kunkel gesetzt hätte. Gleichwohl konnte sie es nicht wehren, daß, als sie eintrat und mit demütig leisem Gruße an dem Besuch vorüberging, eine helle Röte ihr ins Antlitz schoß. Dieselbe wich jedoch schnell, als das Mädchen gewahr wurde, daß ihr Schäflein dem jungen Metzger verkauft sei, daß sie es verlieren und an die Schlachtbank abgeben müsse. Das Geld lag schon blank auf dem Tische, ein lockender Preis, dem die Armut nicht wohl widerstehen konnte. Christine erblaßte und hob kindlich zu weinen an; [] sie richtete ihre Augen mit einem so schmerzlichen Blick auf den Beschützer ihrer Kindheit, der ihr jetzt das antun konnte, daß dieser, dem der Stachel des stummen Vorwurfs durch das Herz ging, sein Spiel beinahe bereute und es schneller, als er sich vorgenommen hatte, zu Ende führte. »Es scheint«, sagte er, »der Jungfer tut es and nach dem Tierlein; ich würd mich ja der Sünde fürchten, ihr so ins Herz zu schneiden; nun ist's aber einmal gekauft und bezahlt, und da beißt die Maus keinen Faden davon; also wird's, schätz ich, das beste sein, ich geb's ihr derweil in Verwahrung und lass ihr's anbefohlen sein, bis ich's einmal nötiger hab als just heut; mir ist's nicht so eilig damit, und bei ihr kommt vielleicht einmal eine Zeit, wo sie ihr Herz von dem Tierlein losmacht und an etwas anders hängt.« – Er blickte ihr dabei listig lächelnd ins Gesicht, wo durch die Regenschauer wieder ein Sonnenschein geschlichen kam, und da dem Hirschbauer die Sache weder lieb noch leid zu sein schien, die Mutter aber beifällig lachte, so fuhr er fort: »So wären wir also handelseins, aber das muß ich mir ausbedingen, daß ich unterzwisperts nach meinem Lamm schauen darf, ob's auch in guter Wartung steht, denn es ist und bleibt mein Eigentum, und ich will's hier nur eingestellt haben; also von Zeit zu Zeit werd ich so frei sein und anfragen, ob's brav gedeiht.« Dabei krabbelte er kunstgerecht an dem Lämmchen herum, wartete keine Antwort ab, sondern sprang gewandt wie ein Kavalier auf andere Dinge über, schwatzte von dem und jenem, streichelte [] und neckte den kleinen Wollkopf, der, dem Äußern nach noch glücklicher als Christine, sein gerettetes Lamm festhielt, fragte nach den beiden älteren Söhnen, welche ja seine Schulkameraden seien, und als die Mutter nicht ermangelte, dieselben herbeizurufen, so lud er sie kurzweg ein, den »Weinkauf« über den abgeschlossenen Handel zu trinken, denn derselbe müsse stät und fest sein. Dabei faßte er die beiden Bursche, die ungefähr in seinem Alter sein mochten, an den Armen, trieb sie zur Tür hinaus, ohne ihnen Zeit zu einer Widerrede zu lassen, nahm Abschied und war mit ihnen fort, ehe jemand etwas zu tun oder zu sagen wußte. Die Hirschbäuerin allein war gefaßt genug, ihm nachzurufen, er möchte so frei sein, ihnen bald wieder die Ehre zu schenken.
Der Hirschbauer sah sein Weib eine Weile in stiller Verwunderung an, während Christine sich wieder auf die Seite machte, um wenigstens dem ersten Anlauf etwaiger Erörterungen auszuweichen, wobei sie jedoch wohlweislich die Türe ein wenig offen ließ.
»Das hätt'st du auch können bleiben lassen«, sagte er endlich verdrießlich, »es kommt mir grad vor, wie wenn man dem Marder den Schlüssel zum Taubenschlag ausliefert.«
»Wenn du dich nur nicht auf Gesichter verstehen wolltest«, entgegnete sie. »Hast ihm denn nicht in die Augen gesehen? Der meint's ehrlich.«
»Ein Sohn aus einem fürnehmen Haus!«
»Ei, hat nicht auch der reiche Boas die Ruth geheiratet, die arme Ährenleserin?«
»Man lebt jetzt nicht mehr im Alten Testament.[] Und wenn auch er aus der Art geschlagen wär, was wird der Sonnenwirt dazu sagen? Wart, du wirst eine Ehr aufheben.«
»Kommt Zeit, kommt Rat.«
»Die Zeit bringt nicht bloß Rosen, sie bringt auch Disteln.«
»Je nachdem man's pflanzt. Das Sprichwort sagt: Mädchen müssen nach einer Feder über drei Zäune springen. Von den armen gilt das zweimal.«
»Ich will mein Kind keinem nachwerfen«, fuhr er auf.
»Davon ist auch nicht die Red«, sagte sie. »Nachwerfen und Versorgen ist nicht einerlei. Wenn du das aber so sicher hast, wie den Weck auf'm Laden, so kannst du freilich sitzen und warten, bis ein Freier aus Schlaraffenland angeritten kommt, um sich die vollen Kisten und Kasten zu besehen.«
»Schwätz du dem Teufel ein Ohr weg«, sagte er, der Türe zugehend. »Ich aber will keine Unehr und keinen Unfrieden von der Sach haben.«
»Du bist kurz angebunden«, warf sie ihm nach, »und aber, was du sagst, gibt auch noch kein' langen Faden. Denk nur auch dran, daß das fürnehm Füllen einen großen Fleck hat, der's nicht schöner macht. Der Sonnenwirt muß ja selber wissen, daß er nicht mehr den höchsten Preis daraus löst. Aber was zum Reitpferd verdorben ist, gibt oft noch ein gutes Ackerpferd, und einem geschenkten Gaul guck ich nicht ins Maul.«
Der Alte blieb in der Türe stehen. Die letzten Bemerkungen [] seines Weibes schienen ihm doch einigermaßen einzuleuchten. Er antwortete nichts darauf, dachte aber eine Weile nach und ging dann mit einem halb mürrischen, halb zufriedenen Brummen hinaus.
Die Mutter rief Christinen, die gar nicht weit gewesen war. »Mach, daß du an die Kunkel kommst, Sonnenwirtin«, sagte sie. »Meinst du, es sei schon so weit und du könnest Feierabend machen?«
»Mutter«, erwiderte das Mädchen, auf die grobe Füllung der Kunkel deutend, »ich weiß wohl, das gibt kein Hochzeitskleid.«
»Unser Herrgott hat die Welt aus nichts erschaffen und den Menschen aus einem Erdenkloß. Die Amtmännin ist, just wie ihre Kathrine, eine arme Hausjungfer gewesen bei einer großen Herrschaft, und jetzt ist sie eine allmächtige Frau, die einen ganzen Flecken regiert, und wie! Laß du nur den lieben Gott walten. Aber das sag ich dir«, rief die alte Bäuerin mit erhobener Stimme, indem sie dicht vor ihre Tochter trat und ihr die geballte Faust vor das Gesicht hielt, »das sag ich dir, daß du mir keinen dummen Streich machst, sonst lass ich kein ganzes Glied an dir.«
Christine antwortete nichts, sie spann emsig fort und ließ die Spindel nur leise auf dem Boden tanzen.
Während dieser Zeit war es ihren Brüdern im Bäckerhause, wohin Friedrich sie geführt, nicht wenig wohlgegangen. Wein war eine seltene Kostbarkeit für sie, und die Kameradschaft des Sonnen [] wirtssohnes schmeichelte ihnen, unerachtet des Makels, der ihm anklebte, so sehr, daß sie den Mund kaum zusammenbrachten und jeden Spaß, den er auftischte, mit lautem Gelächter begrüßten. Christinens wurde mit keinem Wort erwähnt, aber beim Aufbruch gab er ihnen eine Flasche von seinem »Grillengift« mit, damit die zu Hause, wie er sich ausdrückte, auch etwas davon hätten. Ohne Zweifel hatte er damit nicht bloß die beiden Alten gemeint. Zur Steuer der Wahrheit und Vollständigkeit der Geschichte muß noch gesagt werden, daß er die Zeche schuldig bleiben und sich von der schmunzelnden Wirtin eine Borgfrist von etlichen Tagen erbitten mußte; denn der Schafhandel, so große Vorteile er ihm auch in der Zukunft versprach, hatte für den Augenblick seine Barschaft völlig erschöpft.
Im Weggehen wandte er sich an den einen von seinen beiden neuen Freunden. »Tätest mir einen Gefallen, Jerg?«
»Zwei für ein', Frieder.«
»Ich hab eine schöne Pirschbüchse«, sagte er lächelnd, »die mir unwert geworden ist. Sei so gut und trag sie morgen nach Rechberghausen zum Krämerchristle; der wird dir dafür geben, was recht und billig ist. Erinnere ihn, daß er mir versprochen habe, sie wieder zurückzunehmen, wenn ich sie nicht mehr wolle. Ich muß morgen meinem Vater einen Gang nach Eßlingen tun und kann's also nicht selbst besorgen. Auf die Nacht, wenn's dunkel ist, geb ich dir das Gewehr, und morgen abend, wenn [] ich von Eßlingen komm, könntest draußen auf der Ruhbank auf mich warten.«
»Gern.«
»Der dreiäugig Spitzbub!« rief er am andern Abend, als er das Geld zählte, mit welchem ihn sein Freund vor dem Flecken an der Straße erwartete, »der nimmt ja einen Heidenprofit und milkt mich wie eine Kuh, aber ich will ihn schon dafür kriegen. Was hat er denn gesagt?«
»Er hat gesagt, er hab dir freilich versprochen, er wolle die Büchse wiedernehmen, aber nur für den Fall, daß sie dir nicht gut genug sei, und das könnest du selbst nicht sagen; aber daß die Katze je vom Mausen lassen könnte, das hab er nicht geglaubt und auch kein Versprechen darauf getan.«
Friedrich lachte überaus lustig. »Der Galgenstrick!« sagte er, »so, der will mich noch dafür strafen? Nun«, setzte er mit ernstem Tone hinzu, »ich hoff, das soll meine letzte Strafe gewesen sein. Auf dem Weg, den ich geh, kann ich keine Strafe mehr brauchen.«
Es war ein doppelter Zweck, den er mit diesem Geschäft erreichen wollte. Erstens hatte er nun wieder etwas Klingendes in der Tasche, denn es wäre ihm unerträglich gewesen, mit leeren Händen zu lieben. Zweitens aber – und das war der Grund, warum er Christinens Bruder mit dem Verkauf des Jagdgewehres beauftragt – hatte er sein Mädchen in verdeckter Weise wissen lassen, daß er um ihretwillen nicht bloß auf den Pfad der Tugend zurückkehren, sondern auch jeden andern Weg meiden [] wolle, der, wenn auch nicht gerade bürgerliche Verabscheuung darauf ruhte, doch anderswohin als zu der Verbindung mit ihr führen konnte.
6
Immer häufiger wurden die Besuche und heimlichen Berichte, die der Fischer der Sonnenwirtin abstattete und für die er nicht nur manche Guttat aus Küche und Keller nach Hause trug, sondern auch das Versprechen erhielt, daß es ihm dereinst, wenn sie durch allfällige Ereignisse zur ausschließlichen Herrschaft im Hause gelangen würde, noch viel besser gehen solle. Denn wer hinderte sie zu hoffen, daß, wenn der einzige Sohn aus der Art schlüge und sich selbst um die Erbschaft betröge, sie durch ein Testament ihres Mannes, dem sie im Alter ziemlich weit nachstand, in die Führung der Wirtschaft eingesetzt werden könnte, zu welcher sie sich für tüchtiger erkannte als die beiden Tochtermänner, den Chirurgus und den Handelsmann.
Aber auch unter den Mitbürgern des jungen Mannes erregte das neue Leben, das ihm aufgegangen war, ein großes Gemurmel. Man konnte der Familie des Hirschbauern nichts vorwerfen als ihre Armut, allein diese Eigenschaft genügte, um den Umgang eines Wohlhabenden mit ihr für die öffentliche Meinung des Fleckens, und zumal in den Augen des städtisch gekleideten Teils desselben, höchst verwerflich zu machen. Gestern hatte man sie noch mit einer Mischung [] von Mitleid und Geringschätzung arme Leute genannt, heute hieß man sie schon Gesindel, das mit Preisgebung der eigenen Ehre ein ungeratenes Früchtlein aus gutem Hause einziehe; und Friedrich selbst, dem man seine bisherigen Jugendstreiche beinahe so gut wie vergeben hatte, kam nun als Genosse dieser Verachtung nur um so schlimmer weg, indem man alles Vergangene auffrischte, um zu beweisen, daß er von jeher nur Zuneigung zu schlechtem Volke und Hang zu schlechten Streichen gehabt habe. Ihm wurde es als Verbrechen geachtet, daß er sich zu so geringen Leuten herunter gab; Christinen und den Ihrigen wurde es als Schimpf angerechnet, daß sie sich mit einem gewesenen Sträfling einließen, der doch so manchem, wenn er seine Neigung anderswohin gewendet haben würde, gut genug gewesen wäre. Das Gerücht von abermaliger übler Aufführung des jungen Sonnenwirtle drang bald zu der Frau Amtmännin, die es nach Kräften verbreitete und in den nächsten Tagen der Frau Pfarrerin, als diese auf einen Nachmittagsbesuch zu ihr kam, erzählte. Diese wußte es schon, obgleich nicht so vollständig wie die Frau Amtmännin. Beide Frauen ließen die Sonnenwirtin holen und empfingen sie mit einem Strom von wetteifernden Zurufen: »Denk Sie doch, Frau Sonnenwirtin« – und: »Ei, was denkt Sie denn, daß Sie Ihrem ungeratenen Sohn so freien Lauf läßt – Weiß Sie denn auch –? Das sollt Sie seinem Vater sagen, damit er dem Unfug ein Ende macht!« Die Sonnenwirtin, als sie endlich das Wort ergreifen konnte, versicherte zum [] größten Verdruß der beiden vollgeladenen Erzählungshaubitzen mit Seufzen, daß sie von allem bereits vollständig unterrichtet sei; dem Vater, setzte sie kopfhängerisch hinzu, habe sie bisher nichts sagen mögen, teils um ihm einen so schweren Herzstoß, teils um dem Sohn, den sie vergebens in Güte herumzubringen gehofft, böse Tage zu ersparen; sie sehe aber wohl ein, daß sie endlich, obgleich ungern genug, den Mund auftun müsse. In diesem löblichen Vorsatze mit vereinten Kräften von ihnen bestärkt, ging sie in die ›Sonne‹ zurück und machte ihrem Manne die schon längst für eine passende Stunde aufgehobene Eröffnung, daß sein Sohn mit einem Lumpenmädchen, mit einem Bettelmensch sich in eine Liebschaft eingelassen habe. Sie hatte aber nicht den rechten Augenblick gewählt, denn der Sonnenwirt antwortete ganz trocken: »Das ist seine Sache, Jugend will vertoben, man kann nicht nach allen Mucken schlagen, die Kuh muß auch dran denken, daß sie selbst ein Kalb gewesen ist.« – »Ich weiß gar nicht, wie du mir vorkommst«, sagte die Sonnenwirtin, »man sollt ja meinen, du seiest in deiner Jugend ärger gewesen als der Herzog selbst.« Der Sonnenwirt lachte pfiffig vor sich hin, denn es ergötzte ihn, seine Frau an derartigen Vorstellungen, die sie ärgerten, kauen zu sehen; dann sagte er im Fortgehen: »Ich will ihm übrigens bei Gelegenheit ein wenig den Marsch machen, damit er nicht meint, es werde ihm durch die Finger gesehen; wenn's einmal Frühling ist, so kann man nicht alle Kräutlein hüten, aber man muß davor sein, daß nicht der [] ganze Salat schießt; auch würd ich mich dafür bedanken, nachher einen Schaden zu haben und noch einen Spott dazu.« – Die Sonnenwirtin sah ihm, als sie allein war, mit starkem Kopfschütteln nach und sagte giftig hinter ihm drein: »Du mußt mir ein sauberes Kraut gewesen sein in deinem Frühling.« Sie brachte es auch mit wiederholten Vorstellungen nicht weiter, als daß der Alte einmal gegen seinen Sohn im Vorübergehen einige Worte hinwarf. »Sieh dich vor, du!« bemerkte er ihm, »du weißt, das Sprichwort sagt, an rußigen Kesseln wird man schwarz; wenn's zu Dummheiten kommt, so hoffe nicht, daß du an mir einen Helfer in der Not haben werdest.« Die Bemerkung war eine von denen, die keine Antwort verlangen, und Friedrich ließ sie auch unerwidert, denn er konnte sich wohl denken, daß er durch eine Darlegung seiner wahren Absicht den Vater nicht sonderlich begütigen, sondern eher einen Kampf mit ihm herbeiführen würde, den er solang als möglich hinauszuschieben gesonnen war. Übrigens schien das Sprichwort, das jener angeführt, seinen Inhalt an ihm bewähren zu wollen, denn Friedrich wurde um diese Zeit in einen verdrießlichen Handel verwickelt. Der obere Müller, der ohnehin nachgerade einen großen Haß auf ihn geworfen hatte, vermißte eines Morgens einen Bienenkorb. Es hing von der Person und den Verhältnissen des Täters ab, ob man diese Entwendung als eine Tat bübischen Mutwillens oder als einen gemeinen Diebstahl betrachten wollte. Der Verdacht fiel auf einen der Söhne des Hirschbauern, dessen Armut und [] neuerliche Verrufenheit für die niedrigere Auffassung der jedenfalls unsauberen Handlung entschied, und es fanden sich Augenzeugen, welche an dem der Entdeckung vorhergegangenen Abend spät gesehen haben wollten, wie Friedrich auf der Brücke unweit der Mühle seinem Gesellen pfiff. Es konnte jedoch nichts bewiesen werden, und die Sache mußte beruhen bleiben; aber das Gerücht ruhte nicht, und die aus vorsichtiger Ferne geschleuderten Schimpfreden des Müllers gaben dem Verwerfungsurteil über die Wahl des jungen Mannes neue Nahrung. Dieser hat übrigens, als er zehn Jahre später über ganz andere Dinge die umfassendsten und rückhaltlosesten Bekenntnisse ablegte, jede Teilnahme an jenem verhältnismäßig geringen Vergehen standhaft in Abrede gezogen.
Die Sonnenwirtin würde zweifelsohne nicht unterlassen haben, von diesem Vorfall in täglichen und nächtlichen Gesprächen mit ihrem Manne erschöpfen den Gebrauch zu machen, allein sie mußte es bei einer kurz und hart hingeworfenen Mitteilung der Neuigkeit bewenden lassen, welche auf den Sonnenwirt diesmal einen beinahe nur oberflächlichen Eindruck machte, weil ihm selbst ein viel schlimmerer Handel auf den Hals gekommen war, infolgedessen zwischen den beiden Eheleuten wochenlang außer dem Nötigsten nur wenig, und auch dieses Wenige nicht in Güte gesprochen wurde. Gegen den Sonnenwirt hatte nämlich eine jener liebreichen Basen, die es überall gibt und die niemals reichlicher blühten als in der sogenannten guten alten Zeit, natürlich [] nur aus den höchsten und reinsten Beweggründen, nichts Geringeres als eine Ehebruchsanzeige vor das geistliche Gericht gebracht. Die Denunziation war, ihrer Urheberschaft gemäß, von der Angabe zahlloser Einzelheiten und haarkleiner Umstände begleitet, so daß der an sich unwahrscheinliche Verdacht gegen einen Mann in den Sechzigen und eine zwar »rösche« (noch frische), aber wohlberufene Witwe, denn eine solche war der Mitgegenstand der Anklage, doch etwas Fleisch und Blut erhielt. Eine lange und widrige Untersuchung wurde eingeleitet, bei welcher eine Reihe von Zeugen erscheinen mußten, ohne daß jedoch der Bezicht zu jenem Grade erhärtet wurde, der das Gericht genötigt hätte, an eine Verschuldung zu glauben. Auch die beiden Angeklagten gestanden nicht das mindeste Verdächtige ein, und die Angeberin, da sie sah, daß sie ihre Klage nicht beweisen konnte, zog dieselbe zurück. Sie glaubte, mit einem Widerrufe davonzukommen, allein der Sonnenwirt verlangte für sich und seine mitangeklagte Gevatterin Satisfaktion, und so wurde sie wegen Lügens und falschen Denunzierens zu einer übrigens mäßigen Geldstrafe, in welche sich die Herrschaft (der Staat) und der »Heilige« teilten, sowie zur Abbitte verurteilt. Aus Rücksicht auf den dem Honoratiorentum verwandten Stand des Sonnenwirts wurde die Sache nicht auf dem Rathaus, sondern im Amthause verhandelt, auch in das Kirchenkonventsprotokoll nur ein kurzer Auszug aufgenommen und die Untersuchung selbst in einem Separatprotokoll niedergelegt, welches man jedoch, [] um aller Verantwortung enthoben zu sein, an das Oberamt einsendete, wo sodann, da die Akten keine bestimmten Verdachtsgründe ergaben, die Angelegenheit ohne weitere Folgen liegen blieb. Wie es jedoch in allen solchen Fällen zu geschehen pflegt, so blieb genug davon an den Beteiligten hängen, und in der Sonne schienen die Flecken über den Glanz Meister zu werden, zumal die Geistlichkeit in ihrer Abneigung vor jedem Skandal das Monatskränzchen, das überhaupt nur unter einem sehr nachsichtigen Vorgesetzten im Wirtshause gehalten werden konnte, eingehen ließ. Denn der Spezialsuperintendent, dein sie untergeben war, stand seiner seits unter einem Konsistorialrat, der das im Evangelium erzählte Erscheinen seines obersten Kirchenherrn auf der Hochzeit zu Kana mit den Worten verurteilte: »Hätt's auch können bleiben lassen!« Unter allen Nachwehen aber, die den Sonnenwirt trafen, plagte ihn am empfindlichsten die Eifersucht seiner Frau; denn diese wollte ihn nicht freisprechen, wie die Konventsrichter ihn freigesprochen hatten. Ihr Schweigen und Trutzen veranlaßte ihn, sie geradezu zu fragen, ob sie denn etwas von der Verleumdung glaube; worauf sie seufzend erwiderte, sie stelle die Sache Gott anheim, der ins Verborgene sehe. Auf diese Weise wußte sie jedem unmittelbaren Wortwechsel auszuweichen, quälte aber ihren Mann teils durch finsteres Stillschweigen, teils durch abgebrochene Redensarten, die ihn von weitem her trafen und wehrlos stachen, weil er sie nach dem Wortlaut nicht auf sich beziehen mußte und doch dem Sinne [] nach auf niemand anderes beziehen konnte. So erzählte sie ihm spöttisch, sein Sohn habe auch wieder einmal einen kleinen Verdruß gehabt, es sei nur schade, daß die Sache werde weltlich vom Amt allein abgemacht werden, denn wenn sie geistlich gerichtet würde, so könnte man immerhin hoffen, daß die Konventsherren ein Einsehen haben würden von wegen der Süßigkeit des Honigs; dann schimpfte sie auf den Hirschbauer und seinen Sohn und bemerkte dabei, der Apfel falle eben nicht weit vom Stamme, es sei gemeiniglich einer so liederlich wie der andere! Durch dieses Betragen, bei welchem die Leidenschaft ihr Salz dumm gemacht hatte, trieb sie den Vater auf die Seite des Sohnes und versäuerte ihm die Neigung, gegen etwaige Irrgänge desselben einzuschreiten. Friedrich hatte in dieser Widerwärtigkeit von Anfang an fest die Partei seines Vaters genommen. Zu Hause schwieg er über den kitzlichen Gegenstand, wie jedermann dort darüber schwieg. Auswärts aber wachte er über jedes Wort, das die Leute redeten, und wehe dem, der sich die geringste Anspielung erlaubte! Die Ohrfeigen und Püffe, die er, oft nur im Vorübergehen auf der Straße, austeilte, wurden sprichwörtlich; denn sein Eifer bedachte auch manchen Unschuldigen, der mit seiner Rede etwas ganz anderes gemeint hatte. Durch diese beständige Kriegsbereitschaft wurde die Zahl seiner Freunde nicht vermehrt. Sein Vater aber schien ihm, ohne jedoch viel mit Worten merken zu lassen, so gewogen, daß Friedrich oft dachte, er könne kaum eine günstigere Zeit finden, [] um sich die väterliche Einwilligung zur Heirat mit der Tochter des Hirschbauers zu erbitten.
Vielleicht wäre sie ihm zuteil geworden und hätte den Wildbach seines Schicksals in ein fortan friedliches Bette geleitet. Doch wer kann dies sagen? Vielleicht wäre es auch dein Vater in dieser milden Stimmung gelungen, den Sohn, der guten Worten so zugänglich war, andern Sinnes zu machen, bevor er sich unwiderruflich gebunden hätte. Allein der Sonnenwirt berührte den Gegenstand nicht mehr, weil er nach seiner Sinnesart nicht daran dachte, daß es seinem Sohne mit dieser Liebschaft Ernst sei, und diesem fehlte immer noch die Hauptbedingung, die ihm die Zunge lösen konnte, nämlich das Jawort des Mädchens, das er liebte. Er hatte von der Erlaubnis, nach seinem Lamm zu sehen, möglichst fleißigen Gebrauch gemacht, er hatte Christinen durch Vermittlung ihrer Brüder, denen er das Geld dazu gab, in den Lichtkarz und auf den Tanzboden gebracht, er hatte keine Gelegenheit versäumt, mit ihr zusammenzutreffen, aber seine Wünsche waren noch weit von ihrem Ziel. Beim Heimgehen von einem Tanze, wo er sie begleitete und eine Strecke hinter ihren Brüdern blieb, flüsterte er ihr alles Liebe und Schmeichelnde zu, was ihm sein Herz zu dieser Stunde eingab; sie ging still und vor sich blickend neben ihm her, und als er heftig beteuerte, er müsse noch ihr Schatz werden, er tue es nicht anders, oder er gehe weit fort nach Amerika, antwortete sie lachend: »Mein Schatz, das kannst du schon sein, aber damit bin ich der deine noch nicht; [] nach Amerika mußt aber nicht gehen, denn da geht niemand hin, der was recht's ist.« Mit einem Sprung war sie bei ihren Brüdern und neckte ihn, daß er so langsam nachkomme. Wie sie ihm aber an ihrem Hause gute Nacht sagte, traf sie ihn wieder mit einem Blicke, wovon ihm das Herz wirbelte. So hielt sie ihn, und ließ ihn doch nicht näher kommen. Wenn sie allein mit ihm war, benahm sie sich scheu, und vor den Leuten war sie schnippisch gegen ihn. Er sagte sich, daß sie als ein armes Mädchen gegen ihn, den Sohn wohlhabender Leute, die sie nicht mit günstigen Augen ansehen würden, doppelt auf ihre Freiheit zu halten berechtigt sei; deshalb ertrug er ihr Wesen mit ungewohnter Geduld und begnügte sich mit der halben Gunst, daß sie unter vier Augen du zu ihm sagte. Wenn er bei einer solchen Gelegenheit einen Kuß begehrte, so konnte sie ihm den Bescheid geben: »Ich will mich noch besinnen, bleibenlassen ist gut dafür.« Wurde er dringender, so sagte sie: »Soll ich mich zu meinem Schafknecht so heruntergeben?« und entsprang ihm lachend. Ihre Augen aber fuhren fort, das Gegenteil von ihren Worten zu reden, und dies gab ihm wieder eine Zuversichtlichkeit, die sie zu beleidigen und zu nur um so übermütigeren Zurückweisungen zu reizen schien. »Ja, ja, man darf nur knallen und ausfahren!« pflegte sie bei solchen Anlässen spöttisch zu sagen. Endlich aber erwachte der ungestüme Zorn in ihm, den er so lange gebändigt hatte. An einem sonnigen Dezembernachmittage kam er an ihrem Haus vorbei; sie hatte ihn den Fußweg kommen [] sehen und stand hinter dem Hause, wo das freie Feld sich öffnete und die Berge der Alb herunterschauten. Er tat, als führe ihn der Weg nur so vorbei; denn er hatte sich aus Unmut ein paar Tage nicht blicken lassen. Als er sie sah, grüßte er und lud sie zum Mitgehen ein, sie schlug es ab, fragte aber, warum er »nirgends hinkomme«. »Bist brav?« fragte er dagegen.. »Freilich!« erwiderte sie. »Gib mir einmal deine Hand«, sagte er. Sie ließ ihm die Hand, und er versuchte, ihr schnell und verstohlen einen Silberring an den Finger zu stecken. »Du tust mir ja so weh!« schrie sie, denn sie fühlte bloß einen Druck und Schmerz am Finger, ohne zu wissen, woher: »Wer wird einem auch so weh tun!« Indem sie sich sträubte und ihre Hand aus der seinen zu ziehen suchte, fiel das Ringlein zu Boden. »So!« sagte er in ausbrechendem Grimme, »ichhab's nicht hingeworfen, ich brauch's auch nicht aufzuheben, und wenn du nicht anders wirst, so kann meinetwegen der Handel zu Ende sein.« »Komm, Hansele!« rief Christine dem Lamme zu, das frei umherging und in diesem Augenblicke zu ihr gesprungen kam, »komm, dein Herr will dich mitnehmen, der Handel, sagt er, reue ihn.« Friedrich gab dem armen Tiere einen Stoß, daß es an die Wand flog, und ging ohne Abschied fort. »Bin ich mit dem Puff gemeint gewesen?« rief ihm Christine nach. Er hörte es nicht mehr, wenigstens gab er keine Antwort. Sie setzte sich zu dem Lämmchen, das jämmerlich schrie, auf den Boden, streichelte und untersuchte es; es hinkte ein wenig, hatte aber [] sonst keinen Schaden genommen. Nachdem sie es beruhigt, suchte sie nach dem Ringlein, das sie bald im Grase fand; sie steckte es an den Finger und sah eine Weile seufzend hinter dem Trotzkopf her, dann zog sie es wieder ab und verbarg es sorgfältig an ihrer Brust.
Friedrich strafte sie mit achttägigem Wegbleiben. Es kam ein großer Markttag und mit ihm der letzte Tanz vor der geschlossenen Zeit, die von Weihnachten bis Neujahr dauert. Sonst hatte er immer dafür gesorgt, daß sein Mädchen zum Tanze kam; diesmal tat er keinen Schritt. Auch er war entschlossen, nicht hinzugehen; als er aber von weitem die bekannten Töne des Ländlers vernahm, spiegelte er sich vor, er wolle seinen Unmut vertanzen und vertrinken. Gesagt, getan; aber das erste, was ihm beim Eintritt in die Augen fiel, war Christine, die anscheinend sehr wohlgemut mit einem jungen Burschen tanzte. Er hätte laut aufschreien und dreinschlagen mögen, aber er bezwang sich und wählte schnell eine Tänzerin. Christinen zum Trotz tanzte er unaufhörlich, ohne sie ein einziges Mal aufzufordern. Aber auch sie blieb nicht verlassen sitzen, denn die Buben, wie man die jungen unverheirateten Männer nennt, kümmerten sich wenig um das, was man im Flecken über ihre Familie sprach, und hatten Wohlgefallen an ihrer Jugend und Schönheit. Sie war jedoch darauf bedacht, mit keinem zweimal nacheinander zu tanzen, und auch er wechselte seine Tänzerinnen fleißig, denn so gerne er ihr einen eifersüchtigen Verdruß bereitet haben würde, so [] fand er doch keine, mit der er durch längeres Zusammenhalten in den Ruf einer Liebschaft hätte kommen wollen. Sonst hatte er, wie es bei verbundenen Paaren Sitte ist, nur mit ihr und sie nur mit ihm getanzt; heute machten sie jedes für sich die Runde durch die ganze junge Welt, soweit sie nicht verliebt oder verlobt, verbandelt oder verhandelt war. Einmal kamen sie beim Ausruhen nebeneinander zu stehen. »Tut's so?« fragte Christine freundlich und gelassen zu ihm herüber. »Ich mag mich nicht am Narrenseil herumführen lassen«, schnaubte er zu ihr hinüber und riß seine Tänzerin von neuem in die Reihe. Sein Herz kochte, das Tanzen war ihm entleidet, und er setzte sich zum Wein, den er mit Heftigkeit in sich goß. Gleichgültig und düster sah er von hier aus der Lustbarkeit der andern zu, oder vielmehr, er sah nur Christinen, die zwar keinem einzelnen besondere Gunst erwies, aber sich von jedem schön tun ließ und sich gar nicht um ihn zu kümmern und ihn durch ihre Munterkeit und ihr helles Lachen, das ihn unsäglich beleidigte, für seine Gleichgültigkeit strafen zu wollen schien. Da das Betragen der beiden allgemein auffiel, deren Vereinigung schon zu so vielem Geschwätz Anlaß gegeben hatte, so mußte er über die Trennung allerlei Bemerkungen und Neckereien hinnehmen, die ihn innerlich wütend machten, und der Abend würde ohne Zweifel, wie so oft auf dem Lande geschieht, mit Raufhändeln geendet haben, wenn die jungen Männer, die ihn um seiner Leutseligkeit willen liebten, sich nicht zu mäßigen gewußt [] hätten und wenn nicht Christine, die sich ihrer Anziehungskraft vollkommen bewußt zu sein schien, plötzlich vom Tanzboden verschwunden wäre. Als er sie nicht, mehr sah, gab er zwar den Gedanken, ihr nachzugehen, mit stolzer Überwindung auf, aber die Lustbarkeit hatte allen Reiz für ihn verloren, und die eintönige Tanzmusik klang ihm wie ein ewig wiederkehrender Spott. Er blieb noch eine Weile in dumpfem Brüten sitzen, machte einige vergebliche Versuche, mit den Lustigen lustig zu sein, und entfernte sich dann, um einen schweren Kopf und ein noch schwereres Herz zur Ruhe zu legen.
Den andern Tag wurde er zum Pfarrer beschieden. Er zerbrach sich vergebens den Kopf, was die Ursache dieser Vorladung sein möge. Der Pfarrer, ein dürres kleines Männlein, kanzelte ihn heftig ab, daß er sich der Kinderlehre entziehe und dadurch so göttliche als fürstliche Gebote übertrete; bis ins vierundzwanzigste Jahr habe ein lediger Bursche die Kinder lehre zu besuchen, schärfte er ihm ein und eröffnete ihm, es sei vom löblichen Kirchenkonvent beschlossen worden, künftig strenger auf die Befolgung der Vorschrift zu halten und jedes Wegbleiben unnachsichtlich mit einem Sechser »in den Heiligen«, bei längerem verstockten Beharren aber sogar mit Einsperrung ins »Zuchthäuslen« zu bestrafen; wenn er sich wieder beigehen lasse, die Kinderlehre zu schwänzen, so werde er, der Pfarrer, ihn unfehlbar aufschreiben lassen und bei dem Herrn Amtmann und den Konventsrichtern den Fall zur Anzeige bringen. Damit hatte er seinen Bescheid und durfte [] gehen. Kaum vermochte er sich zu halten, daß er nicht aufbrauste. Bei seinem Stolz und vollends in seiner jetzigen Stimmung konnte ihm nichts so quer in den Weg kommen, als die Zumutung, in seinem Alter, noch drei Jahre lang, zur Kinderlehre zu gehen und das tonlose Poltern des Pfarrers über die Rechtfertigung durch den Glauben anzuhören, während doch jetzt sein Dichten und Trachten darauf gerichtet war, durch die Liebe von allem. Übel erlöst zu werden. »Das kommt mir geschlichen!« sagte er zu sich, im Pfarrhofe noch einmal grimmig nach dem Fenster emporblickend, wo ihm gepredigt worden war. »Ebensogut hätt man mir die Rute andiktieren können, wenn ich noch ein Kind sein soll. Nun, ich geh eben nicht hin und zahl jedesmal die Straf. Freilich wird sich's damit auf die Länge nicht abtun lassen: wenn er einen verstockten Sünder in mir erkennt, so gibt's wieder eine Predigt, und zwar vorm Konvent, und dann legt sich auch der Amtmann drein. Man ist doch wie in einem Netz, aus dem man nicht herauskommt. Am besten wär's eben, ich kam schnell unter den Pantoffel; wenn's mit dem dummen Ledigsein aus ist, so hat das Kinderlehrgeläuf von selbst ein End.«
Hiermit war er in der Reihenfolge seiner Gedanken auf einen Gegenstand geraten, der ihm, so wie die Sachen zwischen ihm und Christinen standen, wenig Trost einflößen konnte.
[] 7
Friedrich hatte traurige Feiertage, obgleich es ihm äußerlich gar nicht übel ging. Sein Vater bedachte ihn am Weihnachtsabend mit einem stattlichen Geldgeschenk, zum sichern Zeichen, daß alles wieder im alten Geleise sei. Er war nie so reich gewesen, aber gerade dies machte ihn unglücklich, denn das Geld erinnerte ihn nur daran, daß er es jetzt nicht mehr zu dem Zwecke brauchen konnte, zu welchem allein es ihm früher erwünscht gewesen wäre, nämlich Christinen seine Liebe durch Geschenke zu beweisen.
Er würde sich wohl schnell über die Gesinnung des Mädchens beruhigt haben, wenn er ein Gespräch angehört hätte, das eines Abends zwischen ihr und ihrer Mutter stattfand, während er eben auf dem Wege von Hohenstaufen her, wohin sein Vater ihn geschickt hatte, auf das Haus zugeschritten kam.
»Jetzt hab ich aber die stillen Seufzer überlei«, sagte die Mutter. »Du bist selber schuldig, greifst dein Sach ganz verkehrt an.«
»Mutter, habt Ihr nicht gesagt –?«
»Weiß wohl, was du meinst, aber man muß alles mit einer Art tun, nicht oben'naus und nirgends'nein. Wenn eine arm ist, wie du, so soll sie nicht die hochmütig Jungfer machen, sondern die kluge im Evangelium, die ihre Lampe mit Öl füllt und dem Bräutigam entgegengeht. Sie muß sich 'runtergeben können und muß sich etwas gefallen lassen, aber freilich mit Maß. Zu lützel und zu viel verderbt allzeit das Spiel. Narr, ich hab deinen Vater [] am Schnürle geführt, er hat mir nicht weiter gucken dürfen, als ich ihm verstattet hab. Aber du bist eben so ein Zimpferle, weißt dich nicht umzutun, meinst, die gebratenen Tauben müssen dir ins Maul fliegen.«
»Was soll ich denn tun?« fragte Christine.
»Tu, was du willst«, sagte die Mutter zornig, »steck mein'twegen der Katz das Heu auf, dumm genug wär'st dazu, nur geh, daß ich das Geseufz und Geheul nicht länger hören muß.«
Christine verließ die Stube und trat schauernd vor das Haus in die Nacht hinaus, wo sie im gleichen Augenblick zu ihrem freudigen Schrecken beim Schein der Sterne, die in der Kälte hell funkelten, den Gegenstand der Unterredung und ihres Kummers auf sich zukommen sah. Sie glaubte, es sei seine Absicht, in ihrer Nähe umherzustreichen und zu spähen, und eine frohe Hoffnung zog in ihr Herz ein. Wie er aber näher kam, so schien es, als ob ihn bloß der Zufall diesen Weg führe, denn er sah sich nicht einmal um. Sie rief ihm einen Gruß zu und fragte, eingedenk der Lehre, die ihr so eben die Mutter gegeben: »Willst nicht auch einmal wieder nach deinem Lamm sehen?« – Da der Schatz, wie sie ihm erlaubt hatte, sich zu nennen, keine Antwort gab, obwohl er unschlüssig stehengeblieben war, so fuhr sie etwas vorschnell fort: »Oder magst 's nicht wenigstens holen, wenn du nichts mehr von uns willst?«
Friedrich hörte aus diesen Worten nichts als spöttische Ablehnung heraus. »Es ist schon so gut wie [] abgestochen!« erwiderte er, indem er den Fuß zum Weitergehen hob.
Dieser starre Trotz verdroß sie, und sie rief ihm nun mit nicht sehr glücklichem Spotte nach: »Da wird man dem Herrn wenigstens das Fell herausgeben müssen und die Wolle.«
Sein Blut kochte, denn er glaubte eine Anspielung zu vernehmen, an die das Mädchen entfernt nicht dachte. Von der Wolle hörte er nun einmal gar nicht gerne reden. »Das Fell behalt Sie, Jungfer«, sagte er, »und die Wolle kann Sie an die vielen Dörner stecken, an denen Sie letzt hangenblieben ist.« Damit ging er fort. Sie lehnte sich an den Türpfosten und blieb noch lange, bitterlich weinend und vor Kälte zitternd, stehen, bis die Tritte ihres Vaters und ihrer Brüder, die von einem Geschäft nach Hause kamen, sie vertrieben.
Mit den beiden letzteren setzte Friedrich den gewohnten Umgang fort. Wie aber zwischen ihm und ihnen von der Herzensangelegenheit nie gesprochen worden war und selbst die Verabredungen, wonach sie ihre Schwester da oder dorthin bringen sollten, immer in gleichgültiger Form gemacht worden waren, so wurde auch der Störung des Verhältnisses nicht erwähnt. Nur einmal sagte Friedrich mit deutlicher Beziehung: »Ich merk's eben wohl, man vergißt mir meine Strafen nicht, man sieht mich für gezeichnet an.« Worauf jene ruhig antworteten: »Wird doch das nicht sein.«
Unmut und Unruhe trieben ihn umher, und auch in ruhigeren Stunden, wenn dann und wann der [] Schmerz der vermeintlich verschmähten Liebe ihn zu quälen abließ, empfand er eine drückende Leere, und das Leben kam ihm schrecklich arm und öde vor. Er fühlte es, ohne es klar zu erkennen, daß die Menschen um ihn her wie Schatten waren, daß keiner ihm etwas sein konnte, daß niemand in seiner ganzen Umgebung seinem wie in der Wildnis und Irre schweifenden Gemüt, seinem hungernden Geist eine Heimat und Erquickung zu geben vermögend war. Was er aber hell bewußt in sich trug, war eine maßlose rebellische Bitterkeit darüber, daß er, statt ins Ehebett, in die Kinderlehre wandern sollte. Einen grausameren Hohn über seine verunglückte Bewerbung meinte er sich nicht erdenken zu können. Dazu fühlte er sich nicht bloß alt genug und den Kinderschuhen entwachsen, um vom Leben noch eine andere Schule zu verlangen, als die Eintrichterung von Bibelsprüchen und Gesangbuchversen, sondern er hatte auch diese Sprüche und Verse samt der ganzen Schulbildung, worin er selbst Höhergestellten wenig oder nicht nachstand, so vollkommen inne, daß die Wiederholung des Unterrichts ihn nicht einmal in diesem Fache mehr fördern konnte. Für die Bildung seines »inneren Menschen« aber, woran die Religionsschule, die diesen Ausdruck gern gebrauchte, sich hätte erproben lassen können, war das bürgerliche und gesellschaftliche Leben, in dessen Schöße er sich tummelte, so inhaltsleer und so sehr in die blinde Unterwerfung unter eine gewissenlos schwelgende »Herrschaft« hineingepredigt, daß es zu den Glücksfällen gerechnet werden mußte, wenn [] eine über das gewöhnliche Maß ausgestattete Natur in diesem Wesen eine wohnliche Hütte fand oder, was noch besser, auf gelindem Wege hinausgedrängt wurde. Eine Hütte aber, wohnlich nicht bloß für den Leib, sondern auch für die Seele, war kaum anderswo zu finden als bei den Pietisten, welche auf einem noch ungebrochenen Glauben fußten, dessen kindliche Kraft noch nicht durch die Ausbreitung der Bildung und Wissenschaft verlorengegangen war, auf einem Glauben, der ihnen in körperlicher Wirklichkeit vormalte, wie sie dereinst nach der Erlösung aus diesem Tal des Jammers und der Sünde in den Wohnungen der Seligen über dem blauen Himmelsgewölbe mit Kronen auf den Häuptern und in weißen Gewanden einherwandeln würden, der aber in seinen Beziehungen zum irdischen Leben die dürre streit- und herrschsüchtige Kirchenlehre, mit welcher er nur über das Jenseits einverstanden war, weit hinter sich ließ und eine Liebe und Gleichheit der Kinder Gottes predigte, woran trotz der Demut dieser Predigt die Inhaber von Thron und Altar großes Ärgernis nahmen. Allein, es war nicht jedem gegeben, ein Pietist zu werden, und nicht jeder, dem es gegeben gewesen wäre, hatte das freilich sauer erworbene Glück, sein Lebenlang unter den Flügeln eines Mannes, wie der Waisenpfarrer im Ludwigsburger Zuchthause, geborgen zu sein.
In dieser Verlassenheit und Vernachlässigung mußten alle Richtungen einer so kräftig angelegten Seele in einen unbezähmbaren Willensdrang verschmelzen, der in seiner dumpfen Ungeduld überall auf [] ebenso dumpfe Hindernisse wie auf Mauern ohne Fenster stieß und ziellos, zwischen Antrieben bald des Wohlwollens, bald der Widerspenstigkeit umherirrend, zuletzt an einem einzigen Gegenstande haften blieb, von welchem dieser noch durch den Stachel beleidigter Eitelkeit gespornte Wille Befriedigung aller Sehnsucht und Heilung aller Schäden für das ganze Leben forderte. Die Versagung dieses höchsten Wunsches, an den er zumal die besten Vorsätze für sein künftiges Verhalten geknüpft hatte, machte den Jüngling an sich und der Welt verzweifeln, und abermals wollte der wilde Geist über ihn kommen, den er schon so manches Unheil hatte vollbringen lassen.
Das Jahr ging zu Ende. Am letzten Tage saß Friedrich in einer müßigen Stunde am runden Tische in der großen Wirtsstube und las in der Bibel, die mit ihren Heldensagen und Abenteuern der Phantasie des Volkes eine von der Kirche erlaubte Unterhaltung und einen Ersatz für die verschütteten heimischen Überlieferungen bot. Er las eigentlich nicht, sondern blätterte nur, denn er wußte alle diese Geschichten auswendig, die in der Predigt und Kinderlehre geistlich gedeutet wurden, beim unbefangenen Lesen zu Hause aber mit ihren guten und bösen Beispielen einen ganz natürlichen Eindruck machten. Da waren Geschichten von Erzvätern, die sich betranken, Kebsweiber hielten und verstießen, durch Schelmenstreiche reiche Familienhäupter wurden oder in fremdem Hofdienste sich gegen das Volk zu Finanzkünsten hergaben, welche einen Württemberger [] sehr an den erst zwölf Jahre zuvor in Stuttgart gehängten »Jud Süß« erinnern mußten. Liebliche und heldenmäßige Züge wechselten da mit gar unheiligen: ein Volk zog aus einem Lande auf das Geheiß seines Führers, der einen Totschlag begangen, wie eine Zigeunerbande fort, indem es die entlehnten silbernen und goldenen Geräte behielt; ein kühner Hirt und Räuber, durch treue Freundschaft ewig im Lied zu leben würdig, stahl als Hauptmann einer Schar loser Leute seinem König einen Zipfel des Mantels vom Leibe weg samt Speer und Becher, diente als Überläufer dem Reichsfeind und mißbrauchte, als er später daheim die Krone trug, sein königliches Amt zu Lüsternheit und Meuchelmord, wobei er sich von jenen Erzvätern, wie auch von späteren Landesvätern, doch wenigstens dadurch unterschied, daß er über seine Tat nachher Leid und Reue trug. Bedenkliche und zweifelhafte Fragen über diese Erzählungen, die beinahe die einzige geistige Speise des Volkes waren, konnte der junge Mensch, das wußte er wohl, keiner Seele in seiner Umgebung vorlegen. Hatte doch selbst der Waisenpfarrer einmal einen leisen Versuch mit den Worten abgewiesen, man müsse nicht gar zu viel grübeln, Gott wähle oft seine eigentümlichen Wege und Werkzeuge, um seine Pläne auszuführen. Am liebsten aber schlug er die beiden Bücher von den ritterlichen Taten der Makkabäer auf, und oft mußte er unwillkürlich nach der nahen Alb hinübersehen, wenn er las, wie diese Helden sich in das Gebirge warfen, um von dort aus die Freiheit und das Gesetz[] ihres Landes zu verteidigen. Eben las er wieder, wie sie beschlossen, sich durch die Heiligung des Sabbaths nicht vom Kampfe abhalten zu lassen, gleich ihren Brüdern, die sich wehrlos in der Höhle schlachten ließen, da ertönte in der Straße die Schelle des Aufrufers, und er öffnete das Fenster, um zu hören, was es gäbe. Das löbliche Amt ließ durch den Fleckenschützen ausschellen, die jungen Burschen sollen sich bei Strafe nicht beigehen lassen, in der kommenden Neujahrsnacht zu schießen, ein Verbot, das jährlich eingeschärft und übertreten wurde. »Die können nichts als verbieten!« brummte Friedrich, indem er das Fenster zuschlug, »das Schießen ist nun einmal ein alter Brauch, wiewohl, wenn man's dem Ungeschick überließ, die Jugend durch Verlust von je und je ein paar gesunden Fingern zu kurieren, was ja sowieso geschieht, so wär's wahrscheinlich längst mit dem Knallen vorbei. Aber der Reiz des Verbotenen zieht eben viel stärker als die Furcht vor Schaden. Es ist mir, als ob der Schütz beim Ausrufen ein Aug zu mir hätt herauflaufen lassen. Umsonst hat er wohl auch nicht g'rad vor meinem Haus geschellt. So? meint ihr? Dein Amtmann und du, ihr habt, scheint's, ein besonderes Zutrauen zu mir? Ich will euch Ehre machen. Wartet einmal, ob ihr mich kriegt.«
Er dachte nicht daran, wie oft er zu sich gesagt, daß er die Knabenschuhe vertreten habe, sondern schlich sich, als es dunkel wurde, zu einem Invaliden, der nicht weit von der ›Sonne‹ auf Leibgeding wohnte, und dem er schon manchen Bissen und Trunk gespendet [] hatte. Von diesem entlehnte er sein altes Schlachtgewehr, das schlecht schoß, aber um so mächtiger knallte, und bald unterschied man aus den Schüssen, die im Flecken und um denselben losgingen, einen, der alle anderen überdonnerte. Er hatte die Silvesternacht eröffnet und krachte regelmäßig in kurzen Pausen durch das Geknatter des jugendlichen Mutwillens hindurch. Da und dort geschah ein Unglück, da und dort fiel einer der Lärmmacher den hin und her rennenden Wächtern in die Hände, und sein Puffer verstummte; aber den Donnerknall hörte man ununterbrochen beinahe die ganze Vormittnacht und jedesmal weit entfernt von dem Orte, wo der vorübergehende Schuß gefallen war und die Wächter angelockt hatte. »Wer feuert denn so kartaunenmäßig?« fragten die Leute im Flecken. »Wer sonst, als der Sonnenwirtle«, antworteten andere, »er ist am besten an dem zu erkennen, daß ihn keiner von den Scharwächtern erwischt.« Für den Eingeweihten war das sicherste Wahrzeichen wohl das, daß der unsichtbare Donnerer überall, nur nicht an des Hirschbauern Haus sich hören ließ. Das hätte ihm der Stolz und der Groll nicht zugelassen. Doch lobte er die alte Muskete und verglich sie in seinem Sinn mit Davids Saitenspiel, vor welchem der böse Geist von Saul entwich; denn mit jedem Schusse, der aus dem schwergeladenen Laufe fuhr, meinte er um einen Teil seines Unmuts erleichtert zu sein, und es war ihm, als ob er alle Hindernisse, die sich ihm in dieser schnöden Welt entgegenstellten, über den Haufen schieße.
[] Dazwischen ging er einmal in die ›Sonne‹, um nachzusehen, ob man seiner nicht bei der Bedienung der Gäste bedürfe. Die Einkehr war diesen Abend nicht so stark wie sonst, weil sich die Neujahrsnachtgäste in die vielen Wirtshäuser des Fleckens verteilten und weil man wußte, daß der Sonnenwirt auf eine zeitige Ruhe mehr hielt als auf eine lange Silvesterfeier. Derselbe war jedoch heute ungewöhnlich aufgeräumt, er trank, schwatzte, lachte und kneipte abwechselnd ein paar junge Weiber, die mit ihren Männern zum Weine gekommen, in die Backen, so daß einer der Anwesenden dem Wirtssohne zuflüsterte: »Du, dein Gestrenger hat'n Sturm.« »Da braucht's keine Brille, um das zu sehen«, erwiderte Friedrich. Die Sonnenwirtin, die vor den Leuten gute Miene zum bösen Spiele machen mußte, suchte ihrem Manne sein Betragen, womit er vielleicht bloß den umlaufenden Gerüchten zu trotzen beabsichtigte, durch Spottreden zu verleiden: »Du bist so alt«, sagte sie, »daß die Männer da nicht einmal mehr eifersüchtig auf dich werden.« »Es ist auch ziemlich lang her«, entgegnete der Sonnenwirt lachend, »daß du ein junger Drach gewesen bist, und euer Gift ist doch nur süß, so lang die Drachen jung sind. Ich weiß nicht«, setzte er, gegen die Gesellschaft gewendet, hinzu, »meine Alte ist das Leben ziemlich gewöhnt, sie ist verhärtet, aber wenn sie unser Herrgott oben hielt und ich an den Füßen, ich glaub, ich ließ schnappen und nahm mir eine Junge.« »Ich wollt auch«, rief die Sonnenwirtin, »unser Herrgott nahm eins von uns beiden zu sich, dann ging ich [] wieder nach Strümpfelbach.« Das Gelächter, womit diese Reden aufgenommen wurden, bezeugte, daß an und für sich nichts Feindseliges damit gesagt sein sollte, wie man denn auch wußte, daß die Sonnenwirtin nicht von Strümpfelbach gebürtig war: es waren uralte landläufige Witze, die man im Scherze von den verträglichsten Ehepaaren hören konnte. Hier aber war ihnen viel geheime Galle beigemischt, und Friedrich nahm wahr, daß sich zwischen dem Vater und der Stiefmutter eine Kluft zu öffnen beginne, die, wenn sie nicht die belachte Ortsveränderung zur Folge hatte, doch den Vater bald ganz auf die Seite des Sohnes bringen konnte. »Jetzt wär's gut Wetter für mich«, dachte er unwillkürlich, »jetzt würd ich vielleicht meine Rechnung nicht ohne den Wirt machen. Der Fehler ist nur, daß ich gar keine zu machen habe. Die Hauptnummer, die Glücksnummer will nicht her, die mit den gelben Zöpfen und dem verstockten, trotzigen Herzen; was helfen mir alle Anschläge ohne sie? Drauf! drein! Schlagt an! Feuer! drunter und drüber!«
Und abermals krachten die schweren Schüsse, in welchen der törichte Knabe seinen Unmut und sein Pulver verschoß.
8
Eben hatte er wieder seine Davidsharfe brummen lassen und eilte in schnellen Wendungen durch Zwischengäßchen vor den Wächtern davon; da führte ihn sein Weg an dem Bäckerhause vorbei, wo er [] Christinen zuerst gesehen hatte. Er hörte lustige Stimmen hinter den Läden und blickte durch eine Spalte in die Stube, wo er seinen Invaliden und andere Bekannte am Wirtstische sitzen sah. Christine war nicht zu sehen, also konnte ihm sein trutziges Ehrgefühl den Eintritt nicht verwehren. Während er sich noch ein wenig besann, wo er das Gewehr unterbringen sollte, sah er in der schneehellen Nacht einen Mann nicht mit den sichersten Schritten daherkommen, in welchem er den Fleckenschützen erkannte. »Der hat schon einen Stich«, sagte er zu sich, »und will noch die Sicherheit des Orts bewachen; da wird's heut Nacht noch zum Durchbruch kommen; ich will ihm einstweilen eins aufspielen, damit er munter bleibt.« Er schlich sich auf die Seite und gab in der Geschwindigkeit seinem Gewehr eine verdoppelte Ladung; dann kam er leise hinter den Schützen herangeschlichen. Dieser hatte das Geräusch des Ladstocks gehört und lauschte vorgebeugt mit dem Finger an der Nase, ohne recht zu wissen, wohin er sich wenden solle; auf einmal tat es hart an seinem Ohr einen Knall, daß er der Länge nach mit der Nase in den Schnee fiel und sein dreieckiger Hut weit hinausflog. Im Nu hatte der Täter das Gewehr versteckt und saß drinnen in der Wirtsstube neben dem Invaliden, der ihn mit einem pfiffigen Blinzeln bewillkommte. »Nicht wahr, meine alte Lise ist noch gut bei Stimm?« flüsterte er ihm ins Ohr, »ich hab jeden Knall herausgehört, und bei jedem hat mir das Herz im Leib gelacht.« Dann fuhr er in einer angefangenen Geschichte vom [] Prinzen Eugen zu erzählen fort, unter welchem er es bis zum Profosen gebracht hatte. Friedrich wußte seine Geschichten alle auswendig, versah ihn mit Wein und ließ ihn erzählen und unterhielt sich indessen leise mit dem uns schon bekannten Müllersknecht, der ihm seit jener Schilderung seiner Jugendbegegnisse eine Art von Bewunderung zollte, seine Bekanntschaft teils in der ›Sonne‹, teils an anderen Orten pflegte und auf den Haß seines Meisters gegen den mannhaften jungen Burschen so wenig Rücksicht nahm, daß er selbst durch den Verdacht des Müllers wegen des Bienendiebstahls, nachdem Friedrich ihm mit der aufrichtigsten Miene seine Unschuld versichert hatte, sich nicht im geringsten gegen ihn einnehmen ließ. Der Alte sollte jedoch seine Geschichte nicht zu Ende bringen, denn kaum war er durch Friedrichs Eintritt unterbrochen worden, so erhob sich eine neue Störung. Die Tür wurde heftig aufgestoßen, und der Schütz kam in einer bogenförmigen Linie hereingeschossen. »Da muß er herein sein, der Mordtäter, der mir nach dem Leben getrachtet hat!« schrie er, indem er die glühenden Augen von einem zum andern laufen ließ. Die ganze Gesellschaft versicherte, sich mit den Augen zuwinkend und durcheinander schreiend, hier sei niemand, der ihm etwas getan habe, und alles fragte, was ihm denn geschehen sei. Er erzählte sein Abenteuer, wobei er den Oberkörper wiegte und dann wieder einen Schritt vorwärts oder rückwärts geriet; dieses Schwanken wurde noch dadurch vermehrt, daß er in seiner ohnehin nicht festen Stellung [] beständig argwöhnisch in der Gesellschaft umhersah, ob er nicht an irgendeinem Merkmal seinen Angreifer erkennen könne. Das Gelächter, die Spottreden und schalkhaft verkehrten Fragen der ergötzten Zechbrüder machten ihn noch wilder; er schimpfte und fluchte und bestand darauf, »hier oder wenigstens in der Nähe herum irgendwo müsse er versteckt sein, der keinnützig Lump, der sich sogar an seiner ihm von Gott vorgesetzten Obrigkeit vergreife.«
»Jetzt hast genug hasseliert, Schütz!« rief ein Mann mit verwogenem und zugleich verfallenem Gesicht, das den Ausdruck einer grämlichen Lustigkeit hatte und blutige Spuren trug, als ob es auf irgendeine Weise zerschunden oder zerkratzt worden wäre. »Komm, schwenk dir die Gurgel aus, hast dich ja ganz heiser geschrien. Hier hältst vor der unrechten Schmiede: von denen, die hier sitzen, ist seit mindestens einer Stunde keiner aus der Stube kommen. Bist aber auch ein rechter Leichtfuß, heißt das, du mußt nicht besonders fest auf den Füßen sein, daß dich ein blinder Schuß gleich zum Purzeln bringen kann. Da sieh den Profosen an, der ist ein anderer Kerl, den haben sie um einen Fuß kürzer gemacht, und doch steht er auf seine anderthalb anders hin als du auf deine zwei ganze. Den schmeißt keiner so leicht um, weder mit einer blindgeladenen Kanone noch mit einer scharfgeladenen Büttel. Laß das Hasselieren sein, sag ich, und komm her, ich bring dir's. Es vertreibt dir den Schnapsgeruch.«
Der Invalide, der an der Tischecke saß, hatte alsbald [] zum Beweis für das Gesagte den Stelzfuß auf dem Tisch und trommelte damit nach Wein. Zugleich machte er Anstalt, seine Geschichte wieder aufzunehmen, aber es glückte ihm nicht.
»Dein gut's Wohlsein, Küblerfritz!« sagte der Schütz, das dargebotene Glas annehmend und auf einen Zug leerend, mit einer Mischung von Freundlichkeit und Spott, »es scheint, du machst jetzt Feuerkübel und verlegst dich aufs Löschen. Wünsch Glück dazu. Lösch aber nur zuerst den Brand in deinem eigenen Haus, du Mann im Feuerofen. Wiewohl, dein Feuerteufel, deine Margret, ist heut abgekühlt worden; sie hat ganz krumme Finger gehabt und hat laut geschnattert, wie ich sie wieder aus dem Häusle herausgelassen hab, wegen der großen Kälte ist sie nur auf ein paar Stunden dreingesprochen worden.«
»Was? ist dein Weib heut eingesperrt worden, Kübler?« fragte der Invalide.
Der Kübler nickte mürrisch. »Ihr wisset ja, wie sie ist und wie sie mein Mädle von meinem ersten Weib plagt und den Waisen, den ich aus dem Heiligen in der Kost hab. Zu dem sagt sie immer: ›Du Bettelhund! du Herrenhund! du schlappohriger Hund!‹ und schlägt ihn zwischen die Löffel, zwischen die am Kopf, mein ich, wenn er den Löffel in der Schüssel zu voll macht. Er ißt freilich schier mehr, als er einträgt, das Kostgeld ist so mager. Ihr könnt auch in meinem Gesicht sehen, wie sie mich diese Feiertage gezeichnet hat. Vor Weibernägeln ist auch der Stärkste nicht sicher. Ich hab sie aber durchgewalkt, [] daß ihr die Knochen heut noch mürb davon sind, und hätt eigentlich keine Hilfe nötig gehabt vom Kirchenkonvent; ich kann gottlob allein mit ihr fertig werden.«
»Hat sie dich denn verklagt?«
»Nein, das läßt sie wohl bleiben. Der Pfarrer hat eben von irgendeiner guten Nachbarschaft gehört, daß es wieder einmal Händel bei uns gegeben hat, und hat dann die Sach vor Kirchenkonvent gebracht. Sie haben gemeint, sie müssen heut noch eine Sitzung halten, die Herren, und das ganze Kutterfaß vom alten Jahr ausleeren. Es sind noch viele vorgeladen gewesen.«
»Haben sie dich gestraft?«
»Nein, wiewohl ich die Schläg nicht abgeleugnet hab, aber meines Weibes Bosheit ist eben Gott und der Welt bekannt. Doch bin ich auch nicht ungerupft davongekommen. Sie hat über mich geklagt, ich sei ein Faulenzer und verdiene nichts ins Haus. Jetzt sagt selbst, ihr Mannen, ob das wahr ist?«
»Nein, nein!« riefen alle zusammen, »das kann man dir nicht nachsagen.«
»Ich weiß wohl«, fuhr der Kübler fort, »es geht knapp bei uns her, und Armut ist eine Haderkatz. Wenn man vollauf hat, so kommt man viel leichter miteinander im Frieden aus. Aber meine Schuld ist's nicht, wenn's manchmal sogar am Kreuzer fehlt. Mein Weib mit ihrem abscheulichen Fluchen, wegen dessen sie gestraft worden ist, und mit dem Spektakel, den sie immer mit meinem Kind hat, schreckt die Leut ab, daß sie nicht gern ins Haus [] kommen und lieber ihr Sach woanders machen lassen. Aber man darf den Herren nur etwas an die Kunkel stecken, und wenn's eitel Alteweiberfäden wären, gleich machen sie ein Gespinst daraus. Mein Weib hat mit keinem Wörtle beweisen können, daß ich faul sei, und die Herren haben ihr eigentlich auch nicht geglaubt; und doch hat mir da der Pfarrer eine lange Predigt und Vermahnung geben, ich solle fleißig arbeiten, damit mein Weib keine Gelegenheit habe, über mich zu klagen. Ist das auch recht? Statt daß er mich in Schutz nimmt oder wenigstens meinem Weib aufgibt, sie solle beweisen, was sie wider mich sage, hilft er noch auf eine gewisse Art dazu, als ob das Geschwätz einen Grund hätt, und er weiß doch selber keinen.«
»Ja«, lachte Friedrich, »wer vor Kirchenkonvent kommt, kriegt immer eine Vermahnung auf den Weg und eine Salbung, wenn sie auch gar keine Heimat hat. Für was wären denn die Herren da?«
»Das Ding hat mich so erzürnt«, sagte der Kübler, »daß ich's gar nicht loswerden kann. Ich wär vielleicht heut abend zu Haus geblieben, denn ich hätt's wohl nötig, bin nicht mehr der lustig und durstig Küblerfritz, der ich in meinen ledigen Jahren und bei meinem ersten Weib gewesen bin. Aber der Pfarrer hat mir's angetan, der ist schuld, daß ich die Batzen in Wein aufgehen lass, anstatt zu sparen. Ich spür's in allen Gliedern, heut nacht muß noch ein Rausch getrunken sein. Juhu! Komm, Frieder, stoß mit mir an. Du bist auf eine Art auch im gleichen Spittel krank mit mir.«
[] Friedrich stieß an. »Alle bösen Weiber sollen mit dem alten Jahr hinfahren!« rief er.
»Du bist übrigens heut noch nicht am schlecht'sten wegkommen, Kübler«, sagte der Schütz, der inzwischen, von dem Invaliden und dann von Friedrich gleichfalls mit einem Glase Wein begrüßt, sich am Tische seßhaft gemacht hatte, teils, weil es ihm bedünken mochte, hier sei's gut Hütten bauen, teils, weil er im Sitzen seine angehende Trunkenheit besser verbergen zu können glaubte. Dies gelang ihm auch, und er wurde sehr gesprächig, wobei er freilich zuweilen stark mit der Zunge anstieß, auch seine Amtsstimme über die Gebühr anstrengte, was jedoch auf dem Lande, wo jeder im Reden ein wenig schreit, nicht besonders aufzufallen pflegt. »Dem Küfer da drüben ist's nicht so gut gegangen«, fuhr er fort, »den werdet ihr heut abend noch nirgends gesehen haben.«
»Nein, er ist ein stiller Mann«, sagte der Bäcker, der sein Glas stehend am Ofen trank und seine Frau dann und wann ein wenig in der Bedienung ablöste; »man sieht ihn nie außerm Haus, als wenn ihn das Geschäft hinausführt, und am Fenster läßt er sich auch selten blicken. Er ist eingezogen, wie nicht leicht einer.«
»Absonderlich heut!« lachte der Schütz. »Da wär's eine Kunst für ihn, sich an seinem eigenen Fenster sehen zu lassen, und wo er jetzt ist, wird er freilich nicht gern ans Fenster gehen.«
»Was? Ich will nicht hoffen!« rief der Invalide.
»Ist er denn –«
[] »Eingezogen, wie der Beck bereits gesagt hat.«
»Der Küfer ist eingesteckt?« riefen alle zusammen.
»Ach, er sitzt eben ein wenig bei mir im Hauszins«, sagte der Schütz, »und frieren tut's ihn nicht, denn ich hab ihm einen guten warmen Ofen gemacht; sonst tät er's nicht aushalten die vierundzwanzig Stunden im Turm.«
»Der Küfer im Turm!« rief alles. »Was hat er denn getan?« fragte der Bäcker. »Der tut ja keinem Hühnle weh und ist so ein ruhiger Mann, daß es viel ist, wenn man nur in der Nachbarschaft merkt, ob er zu Haus ist, oder nicht.«
»Was hat er gebosget?« fragte der Kübler.
»Er muß sein Weib doch sehr leis geschlagen haben, wenn Ihr nichts davon gehört habt, Beck«, sagte der Schütz.
»Ja was, so hab ich's nicht gemeint«, sagte der Bäcker; »natürlich, Stuß gibt's überall, auch in der stillsten Haushaltung.«
»Ein Weib prügeln, das ist doch keine so besondere Sach«, riefen die andern durcheinander. »Und die Küferin«, meinte einer, »hat's eben auch dann und wann nötig.«
»Die Weiber«, bemerkte der Bäcker, »müssen iebott (zuweilen) Streich han, sonst meinen sie, man hab sie nicht lieb.«
»Aha, Beckin«, riefen die Gäste, »hat er Euch seine Liebe auch schon bewiesen?«
»Nein, der Mein macht nur Spaß«, sagte sie, »mich hat er noch nie geschlagen.«
[] »Und dessentwegen ist der Küfer in Turm kommen?« fragte der Müllerknecht.
»Bewahre!« antwortete der Schütz, »bloß vor Kirchenkonvent. Sein Schwäher, der Schneider, hat ihn beim Herrn Pfarrer verklagt, daß er, wie der Herr Pfarrer mir erzählt hat, sein Weib um nichtswürdiger Ursachen willen jämmerlich traktieret hab. Also hat mich der Herr Pfarrer zum Herrn Amtmann geschickt. Der hat aber gleich gesagt, da werde es etwas setzen, denn der Küfer sei zwar in seinem Handwerk fleißig und kein übler Haushälter, aber sonst ein eigensinniger, hartnäckiger Gesell. Es ging auch so, wie der Herr Amtmann gesagt hatte, denn obwohl man mich zweimal zu ihm schickte, denn ich muß eben alles ausrichten, weil der Herr Amtmann den Amtsknecht fast ganz ins Haus braucht, als seinen Leibdiener, so kam er doch nicht, so daß ich ihn zuletzt mit zwei Männern hab holen müssen. Das hat er aber wohlweislich vorausgesehen und sich ins Sternwirts Keller etwas zu schaffen gemacht, damit ihm der Spektakel nicht in seinem Haus über den Hals käm.«
»Und darum ist er in Turm kommen?« wiederholte der Müllerknecht.
»Nein, er hat dann böse Reden geführt, denn so still er sonst sein mag, so hat er vor Konvent das Maul weit aufgetan. Wie man ihm fürgehalten hat, warum er ungehorsam gewesen sei, hat er gesagt, er habe vor dem Kirchenkonvent nichts zu schaffen, es sei ihm solches ein Schimpf, sein Weib hab die Schläg nötig, der vorige Pfarrer und Amtmann [] haben ihm selber gesagt, er solle sie nur schlagen, wenn sie's brauche. Wenn ihn der Herr Amtmann für sich zitiere zum weltlichen Amt, so komme er, und man brauche ihm nicht mit dem Holzschlägel zu winken, aber auf kirchenkonventliche Zitation komme er nicht, sonderlich, wenn man ihm den Büttel schicke – damit hatte er mich gemeint –; man solle ihm ein geschworen Weib schicken oder die Hebamme, das seien des Pfarrers seine Amtsboten.«
Alles lachte zusammen.
»Zuletzt ist's dann vollends faustdick kommen«, fuhr der Schütz fort. »Da hat er sich vernehmen lassen, es geh hier viel Unordnung vor, so nicht gestraft werd, der Pfarrer melier sich mit hiesigen Weibern, die Leute reden ihm viel nach. Ich hab vor der Tür nicht alles verstanden, denn vorher hat er ein wenig geschrien, das Schärfst aber hat er nicht mehr so laut gesagt, er wird gedacht haben, es schalle auch so noch deutlich in die Ohren. Den Herr Pfarrer aber hat man nachher verstehen können, der hat ihn angeschrauen, er sei ein liederlicher Gesell, was er denn von ihm sagen könne? Und man müsse die Sache ans löbliche Oberamt nach Göppingen berichten. Der Herr Amtmann aber hat ihn einstweilen in Turm sperren lassen.«
»Wenn er da bleiben muß, bis von Göppingen Bescheid kommt«, sagte Friedrich, »dann kann er lang sitzen.«
»Wird nicht so gefährlich sein«, sagte der Schütz, »er behält sein frei Logis ein Tag oder zwei, bis die[] Sache ein wenig versaust ist, und dann darf er heraus und abwarten, was vom Oberamt kommt.«
»Was kann ihm denn blühen?« fragte der Müllerknecht.
»Ich wollt eine Wette drauf eingehen«, antwortete der erfahrene Diener der Obrigkeit, »er kriegt nicht mehr denn einen Ordinari-Frevel, und natürlich muß er deprezieren. In Göppingen sieht man eben drauf, daß es am Gehorsam und schuldigen Respekt nicht mankiert, aber auf das Geschwätzwerk selber läßt sich der Vogt nicht ein, er nimmt's nur so überhaupt, wie der Teufel die Bauern.«
Alle lachten über diese Bemerkung, welche besagen sollte, daß der Oberbeamte derlei Dinge in Bausch und Bogen abzumachen pflege.
»Vielleicht«, äußerte Friedrich, »denkt er auch, das Geschwätz habe einen Grund; denn um drei Gulden fünfzehn Kreuzer wär's billig geschimpft. Ist denn was dran? Ich hab doch nie gehört, daß man dem Pfarrer mit Weibsbildern etwas nachsagt.«
»Nein«, versetzte der Kübier, »das hat auch der Küfer nicht sagen wollen von dem alten Krattler. Aber das ist wahr, daß er sich Schwätzereien zutragen läßt von jeder Magd am Brunnen und von jedem bösen Weibermaul. Die stecken sich hinter die Pfarrerin und schleichen zu ihr in die Küche; von ihr erfährt's dann er, und auf die Art ist's eine beständige Spionerei im Flecken, durch die eine Menge nichtsnutziges, läppisches Zeug an die Obrigkeit gebracht wird und vieles, was eher der Müh wert wär, unbeachtet bleibt. So ist eigentlich die [] Obrigkeit in der Gewalt von etlich bösen Zungen, denn der Pfarrer meint, er müss nach allem sehen, und weil er das nicht kann, auch überhaupt die Natur bei ihm zu kurz ist, so behilft er sich mit dem Geschwätz. Und der Amtmann, der läßt sich dann in jeden Lauf laden, aus dem einer schießen will, ohnehin, wenn der Pfarrer den Finger am Drücker hat oder auch die gestrenge Frau Amtmännin. Die andern Konventsmitglieder aber, die drinsitzen, sind der Garnichts, das weiß man ja. Dann braucht man nur bei den Herren was anzubringen, absonderlich, wenn man beim Pfarrer ein paar gottselige Redensarten mit unterlaufen läßt, dann sehen sie nicht auf die Sache selber, sondern, daß etwas angebracht ist, das ist ihnen der Hauptpunkt, und daraus machen sie dann ein Protokoll und ein Geschäft, wie wenn sie dabei gewesen wären und alles besser wüßten, als der, den's doch angeht.« – Mit diesen Worten reichte er sein Glas dem Schützen, der sich auch gleichmütig, während über seine Vorgesetzten losgezogen wurde, den Mund stopfen ließ.
»Zu was wären sie denn sonst da?« bemerkte Friedrich.
Der Invalide stieß ihn an und flüsterte: »Sei Er doch politisch und laß Er den Kübler allein das Maul brauchen. Der steckt in Schuhen, woran nichts mehr zu flicken ist. Aber Ihm könnt's Schaden bringen, denn der Schütz ist ein Kalfakter; er schmarotzt, soviel man ihm gibt, und nachher trägt er alles, was er dabei gehört hat, seinen Herren wieder zu.«
[] »Was liegt mir dran?« entgegnete Friedrich trotzig.
»Und was ist denn noch mehr heut vorgekommen bei der Kirchenzensur?« fragte der Invalide den Schützen, um das Gespräch abzulenken.
»Oh, mehr als viel«, sagte dieser, »die Sitzung hat noch nie so lang gedauert, es ist mir ganz schwach worden vom langen Warten im Öhrn. Zuerst«, begann er mit einer Amtsmiene, »sind Kirchenstuhlstreitigkeiten unter den Weibern abgemacht worden; das ist ja ein stehender Artikel bei allen Konventssitzungen. Dann hat man junge Bursche vorgefordert, die aus der Kinderlehre weggeblieben sind, und hat sie mit Vermahnung wieder springen lassen.«
Friedrich biß sich auf die Lippen, sagte aber nichts, um nicht den Spott der Gesellschaft gegen sich herauszufordern.
»Dann hat man eine Separatistin fürgehabt, die in Jebenhausen drüben bei der gnädigen Frau in die Stund gangen ist.«
Der Gesellschaft war dies so gleichgültig, daß sie nicht einmal nach dem Namen fragte.
»Ferner hat man die alte Anna fürgenommen, die mit dem krummen Fuß, die mit ihren drei Waisen dreißig Kreuzer wöchentlich hat. Der ist fürgehalten worden, daß sie als ein altes baufälliges Weib gleichwohl etlichmal nach Zell hinunter in die Kirche gegangen sei, mit Verachtung des hiesigen Gottesdienstes, und habe sich deshalb die Bürgerschaft über sie beschwert.«
»Ja, die Bürgerschaft!« rief der Kübler. »Ein paar alte Weiber werden zum Pfarrer geloffen sein, und[] vielleicht der Kreuzwirt, und werden ihm nach dem Maul geredt han.«
»Was ist ihr geschehen?« fragte der wohlwollende Invalide, in der Absicht, seinen Liebling nicht auch wieder in diesen Ton verfallen zu lassen.
»Sie hat sich verantwortet, sie hab's nur drei- oder viermal getan und sei sie allweg von andern Leuten hinuntergeschickt worden, weil sie eben unerachtet ihrer Gebrechlichkeit sehen müsse, wie sie etwas verdiene, und dann sei sie, um wenigstens das Wort Gottes zu hören, dort in die Kirche gegangen. Man hat dann beschlossen, daß man ihr von den dreißig Kreuzern, die sie aus dem Almosen hat, zehn nehmen und künftig nur noch zwanzig geben wolle, und ihr bedeutet, wenn sie ferner nach Zell in die Kirche gehe, so werde man ihr das Almosen gar nehmen. Sie hat mich gedauert, denn sie hat schrecklich geheult.«
»Predigt man denn in Zell ein anderes Wort Gottes als hier?« rief Friedrich, indem er wild mit der Faust auf den Tisch schlug. »Das ist doch überaus, wenn so ein – er besann sich vor dem Schützen einen Augenblick –, wenn so ein Pfarrer meint, man dürf keinen anderen hören als ihn, und nimmt einem armen alten Weib darum das Brot! Und was man in den Kirchen hört, das ist doch meistens nur um der Einkünfte willen gepredigt. Wenn sie's umsonst tun müßten, wie im Evangelium, und dem Volk noch Brot dazu geben, ei, wie geschwind stünden die Kanzeln leer.«
Ein Gemurmel durchlief die Gesellschaft; es schien [] aber keinen Widerspruch anzudeuten. Der Invalide fragte schnell: »Was hat's noch weiter geben?« und schob sein Glas dem Schützen hin, der ihm bereitwillig Bescheid tat, ohne den rebellischen Reden sichtliche Aufmerksamkeit zu schenken.
»Allerlei Sabbatentheiligungen sind abgerügt worden«, fuhr er fort. »Einer ist am Sonntag ins Feld gangen, ein anderer hat gedroschen, und des Kühlers sein Bruder ist auch vorgewesen, der hat am Sonntag eine Bettlade angestrichen, und so noch andere mehr. Die sind ein jedweder um ein halb Pfund Heller in Heiligen gestraft worden.«
»Nächstens wird man am Sonntag nicht einmal mehr einen Bissen zu sich nehmen dürfen«, murrte Friedrich.
»Ja«, rief der Kühler, »du hast vielleicht gar nicht weit daran vorbeigeschossen, denn der Pfarrer in Hattenhofen drüben hat sich bereits verlauten lassen, man sollt eigentlich den Tag des Herrn mit Fasten zubringen.«
Die Gesellschaft lachte unwillig.
»Die Obrigkeit macht aber doch auch billige Ausnahmen«, sagte der Schütz zu Friedrich. »Wie Sein Vater verwichenes Jahr um Ostern angebracht worden ist, daß er am Sonntag mit einem Wagen Haber nacher Stuttgart gefahren sei, da ist ihm nichts geschehen, weil er sich hat verantworten können, der Haber gehöre der Herrschaft und habe zur Gottesdienstzeit in Stuttgart sein müssen.«
»Jawohl!« lachte Friedrich bitter, »wenn's für die Herrschaft ist, dann ist's keine Sund! Ich hab geglaubt, [] vor Gott sei alles gleich. Aber der Herzog jagt auch am Sonntag, wenn's ihn ankommt, und fragt nach keinem Pfarrer nichts. Ich hab ihn selber schon am Sonntag hier durchreiten sehen.«
»Und letzten Sommer hat man Seinen Schwager auch entschuldigt, weil er an einem Sonntag Garben eingeführt hat, die von den wilden Schweinen übel zugerichtet gewesen sind. Da hat der Konvent ein Einsehen gehabt und hat judiziert, es sei ein Notwerk gewesen.«
»Ja, was!« sagte ein Bauer, »bei so fürnehme Leut hat man freilich ein Einsehen.«
»Ich will doch nicht hoffen«, rief ein anderer, »daß der Kirchenkonvent auch noch den wilden Säuen den Kopf heben sollt, die uns das Feld verderben und die beste Frucht wegfressen! Unsereins muß sich das ganze Jahr hindurch schinden und plagen, damit man in Stuttgart in Saus und Braus leben kann, und man sollt nicht einmal seine Frucht eintun dürfen, eh die Beester sie vollends ruiniert haben?«
»Man hat nicht bloß mit dem Sonnenwirt und solchen Leuten ein Einsehen«, bemerkte der Schütz dem vorigen Redner, »sondern auch mit dem gemeinen Mann. Wie im Heuet das Gewitter auf unsere Markung geschlagen hat, Göppingen zu, und ein Hochwasser zu befürchten gewesen ist, hat nicht da der Herr Amtmann am Sonntag früh ausschellen lassen, die Leute sollen und müssen ihr Heu sogleich heimtun, daß und damit es nicht vom Wasser fortgenommen werde?«
[] »Ei, ich wollt, er hätt's draußen gelassen«, erwiderte der Angeredete, »das Wasser ist nicht stärker worden, wie man hat voraussehen können, und mit dem Heu hat man nachher seine liebe Not gehabt. Hätt man's liegenlassen dürfen, so wär's auf dem Feld trocken worden.«
»Das war dazumal«, sagte einer aus der Gesellschaft lachend, »wo der Blitz dem Käsbalthes sein Paar Ochsen erschlagen hat. Ich seh ihn noch immer, wie er dagestanden ist und eine Faust gegen den Himmel gemacht und geschrien hat: ›Jetzt soll aber auch unserm Herrgott sein bestes Paar Engel verr–.‹«
Ein schallendes Gelächter folgte auf diese Erzählung. »Das dürft auch nicht beim Kirchenkonvent vorkommen«, bemerkte einer.
»Ei, so schlag!« rief der Müllerknecht, immer von neuem in Lachen ausbrechend und das verpönte Wort in unschuldigerer Wendung wiederholend: »so, unserm Herrgott soll sein bestes Paar Engel kapores gehn?«
»Ja, und dem Herzog sein schönstes Paar Tänzerinnen!« knirschte der Kübler, indem er das Glas auf den Tisch stieß.
In der Wirtsstube wurde es plötzlich so still, daß man eine Fliege summen hörte, die sich in der Tag und Nacht gleichen Wärme des Bäckerhauses lebendig erhalten hatte.
»Oh, daß ich könnte ein Schloß an meinen Mund legen und ein fest Siegel auf mein Maul drücken!« sagte die Bäckerin mit biblischer Betonung.
[] »Was!« rief der Kühler wild, »ist denn eine zerbrochene Fensterscheib in der Stub, daß man seine Wort hüten muß?«
Friedrich sah unwillkürlich nach dem Schützen hin.
»Vor Kirchenkonvent wenigstens dürft so etwas nicht bekannt werden«, sagte der Müllerknecht, der soeben noch eine Verwünschung der Engel Gottes weit minder verfänglich gefunden hatte als einen Fluch über die Tänzerinnen des Herzogs.
Der Schütz, dem der Blick des jungen Burschen nicht entgangen war, versetzte: »Ich denk, der Herr Amtmann und der Herr Pfarrer werden froh sein, wenn sie nichts davon erfahren. Es ist besser, eine solche unverständige Red bleibt in der Gemeind, denn wenn sie weiter käm, so könnt sie einen an Leib und Seel zeitlebens unglücklich machen.«
Der Kübler, dem der Wein mehr und mehr in den Kopf stieg, brummte einiges dagegen, und der Schütz, etwas steif von Trunkenheit und Autoritätsbewußtsein, schien nicht geneigt, ihm eine Antwort schuldig zu bleiben, so daß der Invalide sich abermals ins Mittel legen zu müssen meinte. »Ich hab die Kirchenkonventsgeschichten satt bis oben herauf«, sagte er leise zu Friedrich, »und doch weiß ich dem Kerl das Maul nicht anders zu stopfen, denn daß ich ihn aus der Schul schwatzen laß; das kitzelt seinen Hochmut.« Und zum drittenmal fragte er ihn, »was sonst noch verhandelt worden sei«. »Ein Husarentanz«, sagte der Schütz.
»Was?« riefen die andern und sperrten Maul und Augen auf.
[] »Die Konventsherren werden doch nicht getanzt haben«, sagte der Müllerknecht.
»Dummes Geschwätz!« entgegnete der Schütz. »Dem Herrn Amtmann war angezeigt worden, daß in einem Lichtkarz bei der kropfigen Lisabeth Kuchen gegessen worden seien und daß des Xanders Bäsle, die bei ihm dient, den Husarentanz dabei getanzt habe, wobei auch ledige Bursche zugegen gewesen seien. Die Tänzerin und die Lisabeth, weil die den Karz ohne Erlaubnis gehalten, sind jede ein paar Stunden ins Häusle gesprochen und mit einem Weiberfrevel gestraft worden, und von dem Weibsgeziefer, das im Karz Kuchen gessen hat, ist jede um elf Kreuzer gestraft worden, so auch der Beck, der neben der Lisabeth wohnt und die Kuchen backen hat.«
Friedrich horchte hoch auf: dies war der Karz, in welchen Christine durch seine Vermittlung eingeführt worden war. Er hütete sich aber wohl zu fragen, ob Christine unter den Gestraften gewesen sei.
»Der Husarentanz?« fragte der Müllerknecht, »was ist denn das für ein Tanz?«
»Kein besonders anständiger«, antwortete ihm Friedrich.
»Der Husarentanz«, sagte der Schütz, »nun, das ist eben der Husarentanz. Wer wird denn den nicht kennen?«
»Der Schütz«, rief der Kübler, »stellt sich doch, als ob er alles wüßt! Ich bin euch gut dafür, daß er ihn selber nicht kennt.«
[] »Was, ich?« erwiderte der Schütz und richtete sich stolz empor, »ich soll ihn nicht kennen?«
»Nein, ich wett, was du willst.«
»Ein Flasch Wein!«
»Eingeschlagen!«
Und ohne an seine Amtswürde zu denken, sprang der Schütz vom Stuhl auf, setzte den Hut verkehrt auf den Kopf, nahm die Rockzipfel zwischen die Zähne und führte einen seltsamen Tanz mit plumpen Sprüngen auf, die sich um so abscheulicher ausnahmen, da er im wachsenden Rausche seines Körpers nicht mehr mächtig war. Wenn das Mädchen, von dem er erzählte, nur zum zehnten Teil so häßlich getanzt hatte, so hatte Friedrich mit seiner Bezeichnung vollauf recht gehabt. Die Gesellschaft brüllte vor Lachen, aber in den Augen der Männer malte sich zugleich die Verachtung, welche die Bäckerin noch deutlicher ausdrückte, indem sie, ohne lachen zu können, mitleidig nach dem Lustigmacher hinsah. »Da tanzt unsere Obrigkeit!« sagte der Kübler.
»So, das ist der Husarentanz!« keuchte der Schütz, indem er atemlos auf seinen Stuhl zurückfiel. »Jetzt eine Halbe dem Küblerfritz!«
Das Gelächter dauerte noch lange fort, während er sich schon den Preis seiner Schaustellung schmecken ließ. Er wurde mit zweideutigen und spöttischen Lobsprüchen überschüttet, und der Invalide sagte ihm, er sollte sich beim Ballett in Stuttgart anstellen lassen, da würde er am besten hintaugen.
Diese Aufnahme seiner künstlerischen Produktion[] machte ihn wieder ein wenig nüchtern. »Aber das Schönste hab ich noch gar nicht erzählt!« rief er, um den ihm allmählich klar werdenden Eindruck des Possenspiels, das er soeben aufgeführt hatte, zu verwischen. »Ein Hexenprozeß ist heut noch zu guter Letzt verhandelt worden!«
»Ein Hexenprozeß? Was? Wird wieder einmal eine Hex verbrennt?«
»Nein, dazu bietet die Obrigkeit nimmermehr die Hand. Aber doch ist's ein Hexenprozeß gewesen, und das ein saftiger. Ich hab schon gemeint, die Sitzung geh zu End, die Herren haben nur noch ein wenig von wegen der Kirche und Schule diskuriert – der Wetterhahn ist lahm worden, und die Schulmeisterin will eine Küche und mag sich nicht mehr mit dem schlechten Verschlag zum Kochen behelfen – da kommt auf einmal der Franzos den Gang herangestiegen, wie ein welscher Hahn, und den Hut hat er ganz schief aufgehabt, so daß ich gleich gedacht hab, da sei bös Wetter im Anzug.«
»Wer ist der Franzos?« fragte der Müllerknecht.
»Man heißt ihn so, weil er ein Jahr im Elsaß das Sattlerhandwerk gelernt hat und davon ein wenig welscht. Er hat eine Hammelayin zum Weib. Ich hab ihn gleich müssen bei Konvent anmelden, und weil ich neugierig gewesen bin, hab ich die Tür ein wenig offengelassen. Da hat er schrecklich getan und immer mit den Händen dazu gefochten und hat den Schmiedhannes verklagt, daß er heut in Gegenwart des ganzen löblichen Magistrats, just vor der Konventssitzung, in einem Streit wegen eines [] Gartenzaunes die Hammelayischen insgesamt Hexen gescholten habe. Das sei ein Schimpf und eine Schande für ihn und seine Gefreund'ten, und er klage im Namen der ganzen Hammelayischen Familie, man möchte den Schmied zur gebührenden Strafe ziehen und ihm eine christliche Abbitte auferlegen. Ich hab gleich den Schmiedehannes holen müssen, und der hat auch ohne weiteres bekannt, daß er diese Rede vor gesessenem Gericht ausgestoßen hab, und es sei wahr, er bleibe dabei, denn die alte Hammelayin sei ihm schon vor fünf Jahren einmal in aller Früh ohne Haub im Hemd und Rock begegnet, hab auch eine schwarze Katz bei sich gehabt, die so groß als ein Kalb gewesen sei. Der Herr Amtmann hat ihm drauf die Sach ausreden wollen, er hab vielleicht einen starken Morgenschnaps getrunken gehabt und die Katz durch eine zu große Brill angesehen. Er aber ist dabei beharrt, daß er keinen Rausch gehabt habe, und wie ihm der Herr Amtmann zugesetzt hat, so ist er zornig worden und hat sich verschworen, der Teufel solle ihn zu Sägmehl verreißen, wenn er weiter als für sechs Kreuzer getrunken gehabt hab. Auf das ist der Herr Pfarrer aufgefahren, und der Herr Amtmann hat ihm gleich zwei Pfund Heller andiktiert, weil er sich mit Fluchen vermessen hab, absonderlich in Gegenwart des Herrn Pfarrers. Das hat ihn denn etwas mürber gemacht, und endlich hat er sich zureden lassen, daß er den Hammelayischen solche Gottlosigkeiten nicht beweisen könne, sondern aus Zorn und Unverstand gered't hab. Er hat dann dem [] Franzosen für die Hammelayischen Abbitte tun müssen und ist als ein schlecht bemittelter Mann, den die zwei Pfund Heller schon sauer ankommen, auf zweimal vierundzwanzig Stund in Turn gesprochen worden, heißt das, erst wenn das Quartier vom Küfer frei wird.«
»So was muß man eben auch nicht auf seine Nebenmenschen bringen, wenn man's nicht beweisen kann«, bemerkte der Müllerknecht, »das ist doch das Allerärgste, was man einem nachsagen kann.«
»Die Obrigkeit nimmt ja so etwas gar nicht mehr an«, sagte einer der Bauern, die in der Gesellschaft saßen, verdrießlich. »Da können alle Greuel geschehen, man fragt nichts darnach, und wenn einer das Maul drüber auftut, so wird er noch gestraft. Die Herren glauben's nicht oder tun wenigstens so, und man sagt, auch der Herzog hab's nicht gern. Wer weiß, was dabei im Spiel ist, daß man dem Teufel so den freien Lauf läßt. Vorzeiten ist das anders gewesen.«
»Also wenn's nach Euch ging«, sagte Friedrich, »so müßt man die alten Weiber wieder schwemmen und an der Leiter aufziehen und verbrennen. Saubere Zeiten sind das gewesen! Wenn ich irgend etwas an der Obrigkeit lob, so ist es das, daß sie solchem dummen Geschwätz kein Gehör mehr gibt.«
»Was?« schrien die in der Gesellschaft anwesenden Bauern zusammen, »das soll dummes Geschwätz sein? Heißt's nicht in der Bibel: ›Die Zauberer und Greulichen sollst du mit Feuer verbrennen?‹ Und das soll ein dummes Geschwätz sein? Soll's denn [] keinen Teufel mehr geben? Wer das nicht glaubt, der glaubt auch nicht an die Ewigkeit und glaubt nicht, daß es selige und verdammte Geister gibt.«
»Ich hab wenigstens noch keinen gesehen«, bemerkte Friedrich kalt.
»Der glaubt gar nichts!« rief einer, und die anderen sahen den Gegenstand dieses Verwerfungsurteils mit einem gewissen Abscheu an.
»Oder«, sagte ein anderer, »ist er vielleicht –? Ich weiß nur nicht, wie ich's angreifen soll, denn man wird ja gleich gestraft, wenn man seine Wort nicht auf die Goldwaag legt.«
»Soll ich vielleicht selber ein Hexenmeister sein?« lachte Friedrich. »Nur herzhaft raus mit der Farb! Ich lauf deswegen nicht sogleich vor Kirchenkonvent, ich bin nicht so empfindlich, auch hat man seiner Lebtag keinen Esel einen Hexenmeister gescholten, denn dumme Leut kann der Teufel, scheint's, nicht brauchen.«
»Was die alte Hammelayin betrifft«, sagte der Invalide, um das Gespräch von dieser Klippe ab wieder in ruhigeres Fahrwasser zu leiten, »so ist es gewiß und wahrhaftig, daß sie eine mächtige Raffel unter der Nas sitzen hat.«
»Ja«, sagte ein anderer, »sie hat aber nicht bloß ein bös Maul, sondern es ließ sich sonst noch allerlei über sie sagen. Wißt ihr noch, wie ihre ältere Tochter, die jetzt den Schneider hat, wie die mit dem Diegelsberger hat Hochzeit gehabt? Die Hochzeit ist im ›Hecht‹ angestellt worden, und der Bräutigam, dem's schon um acht Uhr weh gewesen ist, nachts [] um zwölfe will er noch einen Tanz tun, – plötzlich stürzt er nieder und ist in Zeit einer Minut maustot. Es ist so schnell gangen, daß ein tanzendes Paar über ihn zu Fall kommen ist; die haben einen Greusel davongetragen, daß sie's ein paar Tag lang geschüttelt hat. Man hat viel drüber gesprochen.«
»Nun ja, was wird's gewesen sein?« sagte Friedrich, »ein Steck- und Schlagfluß.«
»Ja, so hat man bei Amt auch gesagt und hat ihn mit einer Leichenpredigt auf dem Kirchhof begraben. Ich weiß noch, wie sie angefangen hat: ›Hui, hui, sagt der Tod, der starke Held, ich kann auch mittanzen.‹ Aber es gibt Leut, die wollen's besser wissen, die sagen – Nun, ich will nichts gesagt haben, aber so viel ist gewiß, daß der Alten die Heirat von Anfang an nicht nach ihrem Gusto gewesen ist. Die Junge hat erschrecklich getan und hat sich nicht trösten lassen wollen. Nachmals aber hat sie den Schneider genommen; ich weiß noch, auf ihrer Hochzeit ist grad die Nachricht ankommen, daß ihr Schwager, der Goldstein, der sein Weib mit drei Kindern hier hat sitzen lassen, in Speier die Religion schangschiert hab und eine Katholische geheiratet und sei mit ihr nach Pennsylvanien gangen.«
»Von der Alten erzählt man ein feines Stücklein aus ihren jungen Jahren, wo sie bei Seines Pflegers Vater im Dienst gewesen ist«, hob ein anderer, zu Friedrich gewendet, an. »Damals hat sie's mit einem Balbierersgesellen gehabt aus Adelberg. Er hat ihr zu Familie verholfen, eine Tochter ist's gewesen, ich[] glaub, eben die Schneiderin, die so unglücklich hat Hochzeit gehabt. Sie hat ihn aber verschont und hat ihn nicht angegeben, daß er der Vater zu ihrem Kind sei. Er hat's ihr nachher schlecht gedankt und ist von ihr wegblieben. Jetzt, was hat das leichtfertig Mensch getan, das nichtsnutzig? Über einmal, wie ihr Herr in die Küche kommt, sieht er ein Paar Strumpf im Kamin hängen. Was sind denn das für Würst, fragt er, sollen denn die geräuchert werden? Die Magd, nicht faul, reißt die Strümpf geschwind herunter und gibt vor, die Strumpf gehören ihr, sie hab sie schnell wollen trocknen, weil sie naß geworden seien. Er aber, ebenso flink, reißt ihr noch einen aus der Hand und sieht, daß es ein Mannsstrumpf ist. Wie er ihr nun das fürgehalten hat und sie hat nicht wollen weichgeben, so hat er sie beim Pfarrer angezeigt, und da hat sie endlich nach vielem Leugnen gestanden, ein Schäfer hab ihr geraten (sie wird aber keinen dazu braucht haben), sie solle sehen, daß sie ein Kleid oder etwas, das der Mensch mit Salvene auf'm bloßen Leib getragen hab, zur Hand kriegen könne, und solle es in den Rauch hängen, dann werd's dem Täter warm werden und immer wärmer und werd keine Ruh haben, bis er wieder zu ihr komme.«
»Die Frag ist nur, ob der Barbier auch richtig wiederkommen ist«, bemerkte Friedrich.
»Nein, kommen ist er nicht mehr«, sagte der Erzähler.
»Dann will ich's gern glauben!« rief Friedrich mit hellem Lachen. »So kann ich auch hexen. Ich sag [] nur: Kurrle, Murrle, dann muß der Krug dort auf dem Schrank tanzen. Aber wenn ich nicht dazu den Schrank mit den Händen schüttle, so tanzt der Krug eben nicht. Hexenwerk mag schon mancher und manche probiert haben, das will ich zugeben, aber die Frag ist nur, ob was dabei herausgekommen ist.«
»Vielleicht ist der Balbierer doch innerlich verbronnen«, stammelte der Schütz.
Friedrich lachte ihn aus. »Ja«, sagte er, »wenn er Schnaps gesoffen hat.«
»Mir hat doch einmal ein Zimmermann erzählt«, fiel der Müllerknecht ein, »es hab ihn nachts eine Hex gedrückt und gepeinigt, daß er schier erstickt sei. Er sei dann aufgewacht und hab die Unholdin in Gestalt einer schwarzen Katz auf ihm liegen sehen. Da hab er mit der letzten Kraft nach der Axt neben seinem Bett gegriffen und hab nach der Katz gehauen. Die sei mit einem lauten Schrei davongefahren und hab ein Stück von der Vorderpfot dahinten gelassen. Morgens sei zwar nichts mehr davon dagewesen, wohl aber Blut auf'm Bett und an der Axt. Drauf hab er seine Gedanken auf ein altes Spittelweib geworfen und sei in den Spittel gangen, um nach ihr zu sehen. Man hab ihm aber gesagt; er könn sie nicht sehen, sie liege todkrank im Bett. Er sei aber dennoch zu ihr gedrungen und hab sie mit Gewalt aufgedeckt, und da habe sich's gezeigt, daß ihr die linke Hand gefehlt habe, die sei ihr von seiner Axt abgehauen gewesen.«
»Hu, mir gräuselt's!« rief einer um den anderen [] von der Gesellschaft, die sehr andächtig zugehört hatte.
»O Peter, glaub doch kein so Ding!« sagte Friedrich. »Was wird sich denn ein Weib in eine Katz verwandeln können? Wenn du dir von jedem Zimmermann solche Spän aus'm Verstand hauen läßt, so wirst bald so dumm, daß man Riegelwänd mit dir hinausstoßen kann.«
Der Streit gegen den hartnäckigen Ungläubigen brach abermals aus, und diese Leute, die ein derbes Wort über Pfarrer und Kirche ertrugen, wurden ganz wild darüber, daß es mit Hexen und Gespenstern nichts sein sollte, und verteidigten mit einer wahren Glaubenswut ihr Dogma, daß der Teufel bösen Menschen die Macht verleihe, auf wunderbare Weise Schaden zu tun, und daß Gott abgeschiedenen Geistern, guten wie bösen, von Zeit zu Zeit aus dem Grabe an die Oberfläche der Erde heraufzusteigen erlaube.
»Nun ja«, sagte Friedrich endlich einlenkend, »ich will ja nicht dawider sein, daß sich's andrer Orten vielleicht so verhält, wie ihr saget, denn das weiß ich ja nicht. Aber hier bei uns gibt's keine Hexen und keine Geister, das behaupt ich.«
»Und warum denn nicht?« rief einer.
»Weil mir noch keine Hex beikommen ist, und es gibt doch ganz gewiß solche, die mich zu Tod drücken täten, wenn sie könnten, aber sie können eben nicht.«
»Und warum keine Geister?« fragte ein anderer.
»Weil ich noch keine gesehen hab! Und was ihr von euch erzählet, daß euch schon vorgekommen sei, das [] muß mir selber erst auch widerfahren sein, bevor und daß ich's glaub; denn ich kann doch nicht einsehen, warum ich ein anderer Mensch sein soll als andere.«
»Andere Leut sind aber doch anders beschaffen«, sagte der Müllerknecht. »Es gibt Sonntagskinder.«
»Ich bin auch am Sonntag geboren«, erwiderte Friedrich, »und hab zeit meines Lebens nie was geschaut. Ich weiß ganz gewiß«, fuhr er mit wachsender Wärme fort, denn der Wein stieg ihm nach und nach in den Kopf, »wenn ein Verstorbenes wieder zu den Menschen kommen könnt, so wär ich so gut ein Geisterseher wie irgendeiner in der Welt.«
»Warum das? Woso?«
»Meine Mutter«, sagte der junge Mensch, indem er trotz seiner Lebhaftigkeit die Stimme dämpfte, »meine Mutter würde sich's nicht nehmen lassen, nach mir zu sehen, wenn das ihr gestattet würde. Und warum sollt ihr's nicht verstattet sein wie den andern Geistern? Aber eben das, daß sie nicht zu mir kommt, ist mir ein Beweis, daß die anderen auch nicht können.«
»Narr, sie will dich eben nicht erschrecken«, lallte der Kübler, dessen Augen allmählich gläsern wurden.
»Sie weiß recht gut, daß ich nicht an ihr erschrecken kann, mit welchem Aussehen sie mir auch erscheinen mag. Oft«, fuhr er nachdrücklich fort, nachdem er einmal die Scheu überwunden hatte, von diesem Gegenstande zu reden, »oft hab ich um Mitternacht, wenn ich ganz allein gewesen bin, ihren [] Geist beschworen, leis und laut, und hab sie gebeten, wenn es ihr möglich sei, so möcht sie den Himmel auf einen Augenblick verlassen und zu mir kommen. Aber es hat sich nichts darauf ereignet, ich bin allein gewesen nach wie vor, und hab auch nichts um mich vernommen als das stille Sausen der Nacht, das aber nicht von Geistern kommt, sondern von der Luft, weil die Nacht gar gehörsam ist.«
»Gott steh uns bei!« hatten die anderen während dieser Erzählung gerufen, die ihnen fremd und seltsam deuchte.
»Das ist ein grausamer Mensch!« sagte der eine, womit er die Grauenhaftigkeit dieses Treibens bezeichnen wollte.
»Der glaubt an gar nichts!« wiederholte der andere. »Der kommt einmal in den Himmel, wo die Engel schwarz sind und Wauwau singen.«
»Jetzt soll einmal die Beckin erzählen, ob sie schon einen Geist gesehen hat!« rief der Invalide, fortwährend bemüht, das Gespräch in einem ungefährlichen Gange zu erhalten.
»Ja, die Beckin soll erzählen!« riefen ihm mehrere Stimmen nach.
Die Bäckerin richtete den Kopf im Sorgenstuhle auf, worin sie den ganzen Disput verschlafen hatte. Man mußte ihr erst erklären, um was es sich handle. »Ha, daß es Hexen und Geister gibt«, sagte sie gähnend, »das leidet keinen Zweifel, aber zu mir ist noch keine Hex gekommen, weder bei Tag noch bei Nacht, und keinen Geist hab ich auch noch nie gesehen.«
[] »Ihr habt eben ein ruhiges Gemüt, Bas«, sagte Friedrich lachend, »auf Euch könnt, glaub ich, eine Hex die ganze Nacht reiten, Ihr tätet nichts davon inn werden. Übrigens ist's nicht recht, in der Neujahrsnacht zu schlafen und Eure Gäst mit Gähnen anzustecken. Morgen ist ja Kirch, da könnt Ihr's reinbringen, was Ihr heut nacht am Schlaf versäumet.«
»Ja, ja!« rief der Müllerknecht. »Letzten Sonntag hab ich mich auch an der Beckin ihrem ruhigen Gemüt erbaut unter der Predigt. Der Herr Pfarrer hat geschrauen, daß man's in Reichenbach hätt hören können, aber die Beckin hat sich nicht verrührt, sie hat ganz klein ausgesehen in ihrem Stuhl, und der Kopf ist ihr zwischen den Achseln eingesunken gewesen wie ein Schnitz, der oben in einem Hutzelbrot steckt.«
»Ach was!« entgegnete die Frau unschuldig, »man muß sich die ganz Woch leiden, wenn man auch noch das bißle Kirchenschlaf nicht hätt, so wär's ja nicht zum Prästieren.«
Die Gesellschaft brach in ein wieherndes Gelächter aus, das lange kein Ende nehmen wollte, bis endlich der Bäcker seine Frau aufmerksam machte: »Du, Weib, da klopft's am Küchenfenster.« Sie horchte hin, ohne daß etwas zu hören war; nach einer Weile aber klopfte es wiederholt und vernehmlich.
»Aha, das ist ein Geist!« rief der Müllerknecht.
»Machet mir nicht angst«, rief die Bäckerin. »Ich will's übrigens mit ihm aufnehmen«, setzte sie hinzu und ging in die Küche.
[] »Ich glaub auch nicht an Hexen«, sagte der betrunkene Schütz.
»Warum nicht?« schrien die Bauern eifrig.
»Weil mein Glas schon eine ganze Ewigkeit leer dasteht und sich nicht füllen will. Wenn's Hexenwerk gäb, so müßt's von selber voll werden.«
Der Kübler, der kaum mehr die nötige Kraft zum Reden besaß, obgleich er unermüdlich zu trinken fortfuhr, schob dem Nimmersatt sein Glas hin.
»Jetzt möcht ich aber doch nächstens aus der Haut fahren über die Hungermuck, die einem da den ganzen Abend hinhockt!« sagte der Invalide leise zu seinem jungen Nachbar. »Wenn ich doch nur auch ein Mittel wüßt, wie man ihn fortbringen könnt, den Halunken.«
»Da wird bald geholfen sein«, flüsterte Friedrich und wußte sich vom Tisch und zur Stube hinauszumachen, ohne daß sein Weggehen jemand in die Augen fiel.
Der Invalide, der nichts von seinem Vorhaben ahnte, erdachte inzwischen gleichfalls einen Kunstgriff, um den beschwerlichen Schmarotzer fortzubringen. »In der ›Sonn‹ ist's heut lustig«, sagte er, »der Sonnenwirt hat die Spendierhosen an und läßt eine Flasch um die andere springen; ich hab gehört, er hab einen Fahnen auf'm Hut wehen.« – Friedrich hatte ihm anvertraut, daß sein Vater den Wein etwas spüre und guter Dinge sei.
»Das kommt selten vor, daß der Sonnenwirt 'n Spitzer hat«, sagte der Müllerknecht. »Wahr ist's aber: [] wenn er angestochen ist, dann spendiert er. Außerdem tut er's nicht.«
Auf den Schützen wirkte die Mitteilung sichtbar beunruhigend. Er wußte nicht recht, wie er es angreifen solle, um alsbaldigen Gebrauch von ihr zu machen. Endlich siegte doch die Lockung über die Furcht, daß man seine Absicht merken könnte. Er behauptete stotternd, er müsse im Flecken nachsehen, ob keine Ungebühr vorgehe, wünschte umständlich gute Nacht und schwankte zur Türe hinaus, während der Invalide und der Müllerknecht einander heimlich anlachten.
»Der hat auch schwer geladen«, sagte der Müllerknecht hinter ihm drein. »Der hätt nicht noch mehr nötig.«
Kaum war er draußen, so kam Friedrich wieder herein. »Alle Teufel!« flüsterte er dem Invaliden zu, indem er sich geschwind wieder zu ihm setzte, »warum habt Ihr ihn fortgelassen? Wo ist er hin?«
»Ist er Ihm denn nicht begegnet?« fragte der Invalide, der das sonderbare Benehmen seines jungen Freundes nicht begriff.
»Ich hab mich hinter die Tür versteckt. Wo ist er denn hin?«
»Rechts hinunter, der ›Sonne‹ zu.«
»Ruft ihn, ruft ihn zurück!« sagte Friedrich mit größter Hast, ohne zu bedenken, daß dazu ein hölzernes Bein nicht das tauglichste war. »Es ist zu spät«, murmelte er in kalter Bestürzung, »gebt acht, jetzt fliegt er.«
[] Dem Invaliden ging ein Licht auf. Es war aber keine Zeit mehr, etwas zu ersinnen, das die Gefahr abwenden konnte, ohne den Täter zu verraten, denn in demselben Augenblick erfolgte auf der Straße ein furchtbarer Knall, der das Haus erschütterte. Alle sprangen vom Tisch auf, ausgenommen den Kübler, der stumm verwundert um sich sah. Friedrich war der erste, welcher hinausstürmte, da er glaubte, unmittelbar nach dem Knall, dessen Ursache ihm nur zu gut bekannt war, einen Schrei von einer weiblichen Stimme vernommen zu haben, der ihm das Mark durchschnitt. Draußen stand der Schütz unbeweglich wie eine Salzsäule. Er überließ es den andern, sich mit ihm zu beschäftigen, und eilte mit klopfendem Herzen weiter. Obgleich es hell war, sah er niemand und wollte eben wieder umkehren, als er nicht weit von sich schluchzen hörte. Er ging dem Tone nach. Im Schatten eines Hauses stand ein Mädchen angelehnt, das die Hände vors Gesicht hielt und heftig zitterte. »Um Gottes Jesu willen!« sagte er, »ist ein Unglück geschehen?« Er eilte auf sie zu und zog ihr die Hände vom Gesicht. Es war Christine.
»Hat's dir etwas getan?« fragte er verzweiflungsvoll.
»Nein, es ist nur der Schreck«, antwortete sie. »Es ist mir in alle Glieder gefahren und hat mich so angegriffen, daß ich weinen muß.«
»Gott sei Lob und Dank!« flüsterte er. »Da hätt ich eine schöne Dummheit anrichten können.«
»So?« sagte sie, noch immer weinend, »jetzt weiß[] ich, wer mir das getan hat; für solche Streich bedank ich mich. Vor so einem Mutwillen ist man ja seines Lebens nicht sicher.«
Der Brauskopf, der soeben noch bereit gewesen wäre, sie fußfällig um Verzeihung seiner unsinnigen Torheit zu bitten, war plötzlich umgewandelt. »Du tust ja, wie wenn's dich mitten auseinandergerissen hätt«, sagte er kalt. »Sei du froh, daß dir's nichts getan hat, und lauf nicht rum bei der Nacht, dann widerfährt dir nichts.«
»Ich kann ja heimgehen«, erwiderte sie tiefbeleidigt. »Den Gang hätt ich mir ersparen können. Ich will mir's merken. Gut Nacht!« Sie bog um das Haus und war verschwunden.
Er wandte sich trotzig und ging zurück. Die Gesellschaft hatte indessen den Schützen wieder in die Wirtsstube gebracht. Auch an ihm war die Gefahr glücklich vorübergegangen, und nur der Knall hatte ihn anfangs bis zur Sinnlosigkeit betäubt. Doch führte er noch etwas verwirrte Reden und versicherte, er habe einen Geist gesehen, einen weiblichen Geist, der ihn durch den Blitz des Feuers mit großen Augen angestarrt habe. Es wurde lebendig in der Wirtschaft. Die Scharwache kam, um vergebliche Untersuchungen nach dem Urheber der gefährlichen Mine anzustellen; auch hatte der Lärm Gäste aus anderen Wirtshäusern hergelockt. Friedrich ließ Wein heraufschaffen, zunächst für den Schrecken, wie er sagte, den der Schütz gehabt; aber es fanden sich auch noch andere Abnehmer. Man sprach und schrie über den Vorfall; die einen [] schimpften auf den Täter, die andern lachten. Der Invalide spottete, daß man über einen Mordschlag ein so großes Aufheben mache; in seinen Schlachten habe es anders gedonnert, sagte er und machte einen neuen Versuch, seine Kriegsgeschichten zu erzählen; aber die Leute waren zu aufgeregt, um ihm zuzuhören. Gegen Friedrich wurde kein Verdacht laut; die wenigen, die den wahren Täter erraten hatten, wußten zu schweigen.
Mitten im Tumult zupfte ihn die Bäckerin am Arm und gab ihm ein Zeichen. Er folgte ihr in die Küche. »Es ist ein absonderlicher Briefträger dagewesen«, sagte sie und gab ihm einen Brief: »Das Christinele hat gesagt, es hab den ganzen Abend keinen Menschen finden können, der ihm den Brief fortgetragen hätt, und in die ›Sonne‹ hab es nicht mit ihm gehen mögen; da hab es eben versucht, ob das Briefle nicht hier an seinen Mann zu bringen wär, und richtig, es hat keinen Metzgergang getan. Ich bin nur froh, daß dem Kind nichts geschehen ist; denn kaum ist es fort gewesen, so ist der teufelhäftig Knall losgegangen. Die Jugend wird immer schlimmer. Ich wollt, man tät den Malefizkerl, der den Mordschlag gelegt hat, an den Ohren kriegen und tüchtig schütteln, das wär ihm gesund.«
»Dem Mädle ist nichts widerfahren«, sagte Friedrich etwas verlegen, »ich hab draußen nachgesehen, es ist kein Mensch verunglückt. Was steht denn in dem Brief?«
»Weiß ich das?« entgegnete sie mit schlauem Lächeln, »kann ich wissen, was ihr für Geschäfte [] miteinander habt? Nun, ich will nicht neugierig sein.«
Sie ging in die Stube. Friedrich erbrach mit bebender Hand den Brief und las ihn bei der trüben Küchenampel. Christine bat ihn um Verzeihung und rief ihn zu sich zurück! In seinem Entzücken dachte er nicht daran, daß seit der Ankunft dieses Briefes schon wieder eine neue Wolke zwischen ihn und sie getreten war, er stand wie von einer Flamme umgeben, drückte den Brief ans Herz und jauchzte laut auf. Zu gleicher Zeit erscholl auch in der Stube ein Jauchzen und Gläsergeklirr. Die Glocke vom Turm hatte den neuen Zeitabschnitt zu verkündigen begonnen, der eigentlich mit jeder Sekunde eintritt, der aber da, wo zugleich die Jahreszahl sich mit ihm verändert, einen tieferen Eindruck auf den Menschen macht, und nach alter Sitte stießen die Leute mit den Gläsern an und riefen einander Glückwünsche auf das neue Jahr mit seinen noch verschleierten Geschicken zu.
Friedrich eilte in die Stube, ergriff sein Glas und stieß mit an.
»Prosit's Neujahr!« rief ihm der Invalide zu. »Es lebe das Jahr Siebenzehnhundertneunundvierzig!« antwortete er.
»Siebenzehnhundertfünfzig!« schrie man ihm von allen Seiten entgegen, und der Rechnungsfehler wurde mit lautem Gelächter zurechtgewiesen. »Der will das Neujahr leben lassen und kann nicht hinein!« spottete einer. »Fünfzig schreibt man jetzt, und das zehn Jahr lang, mußt dich dran gewöhnen«, [] sagte ein anderer. »Kannst nicht aus der Zahl heraus, wo das Jahrhundert in sein Schwabenalter gekommen ist?« fragte ein dritter.
»Mag leicht sein«, sagte Friedrich halblaut, so daß nur der Invalide es hören konnte, »in dem Jahrzehnt, das sich mit vierzig schreibt, hat meine rechte Mutter noch gelebt, und da ist es wohl zu begreifen, daß mir die Zahl wie eine alte Heimat ist, aus der man nicht gern heraus mag. Also das Jahr Siebenzehnhundertfünfzig soll leben!« rief er, nochmals das Glas erhebend, und in seinem Herzen setzte er hinzu: »das Jahr, das mir Ersatz geben soll!« Es war ihm, als ob er jetzt wieder eine Mutter hätte. Er hielt es nicht lange in der Gesellschaft mehr aus. Es war still und sanft in ihm geworden, und diese innere Glückseligkeit taugte nicht zu dem, was um ihn her vorging. Das Lachen und Johlen nahm überhand, und zwar um so ungestörter, als die Polizei sich selbst daran beteiligte. Der Schütz, der durch den Schrecken ziemlich nüchtern geworden war, hatte die neue Gelegenheit zum Trinken nach Kräften benutzt und machte schon wieder Riesenfortschritte in der Trunkenheit. Der Kübler hatte von seinen fünf Sinnen keinen einzigen mehr ganz beisammen und belustigte die Gesellschaft durch die grunzenden Laute, die er von sich gab. »Bringet die Noten im Kübel her, die S– will singen!« rief der Schütz, aber während er sich über seinen Genossen lustig machen wollte, stürzte er auf einmal mitsamt dem Stuhl zu Boden und stand nicht mehr auf. Das wilde Gelächter über diesen Auftritt schallte noch [] lange hinter dem Flüchtling her, der die Herrlichkeit hinter sich ließ, ohne gute Nacht gesagt zu haben.
Zu Hause fand er seinen Vater noch wach und noch immer von Gesellschaft umgeben. Er brummte über sein langes Ausbleiben, doch mehr, wie es schien, aus väterlichem Wohlwollen, daß er sich ihm an einem so heiteren Abend entzogen hatte, als aus Mißmut darüber, daß er seiner Pflicht nicht nachgekommen war. Noch in später Stunde waren Fuhrleute angelangt; sie fluchten wacker über den langen Aufenthalt, der ihnen durch verschiedene Zufälle und am meisten durch den Eßlinger Zoll verursacht worden war. Friedrich widmete sich mit Eifer ihrer Bedienung, und ihre Scherzreden bewiesen, daß er von lange her bei ihnen wohl angeschrieben sei. »Er geht so leichtfüßig einher, als ob er in der Luft wandeln tät«, sagte einer derselben von ihm, und die Bezeichnung war richtig, denn das Gefühl, das ihn seit dem Empfang von Christinens Brieflein beseelte, hatte ihm gleichsam Flügel an die Sohlen geheftet.
Er ging als ein glücklicher Mensch zu Bette, trunken von Liebe und auch ein wenig vom Wein. Da er nicht sogleich einschlafen konnte, so hörte er noch den Neujahrswunsch der armen Kinder, die, mit Lichtern umherziehend, vor den Häusern zu singen pflegten. Es war ein einziger Vers, der für jedes Mitglied der Familie, und wenn sich ihre Zahl noch so hoch belief, besonders wiederholt wurde. Zuerst traf die Reihe den Hausvater, dann die Mutter; [] die Kinder, soviel ihrer waren, wurden jedes einzeln angesungen, dann kamen die Mägde, dann die Knechte und ganz zuletzt, wenn der Gratulationszug vor einem Wirtshause hielt, die bekannteren Gäste, die darin wohnten. Sie sangen, als die Reihe an Friedrich kam:
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Der erste Gegenstand, mit welchem er sich bei seinem Erwachen am Neujahrsmorgen beschäftigte, war der Brief, der ihn gestern nacht so glücklich gemacht hatte. Er zog ihn unter dem Kopfkissen hervor und las ihn aber und abermals. Dabei konnte er freilich eine Wahrnehmung, die ihm im ersten Jubel so gut wie entgangen war, nicht ganz unterdrücken. Der Brief war ziemlich abscheulich geschrieben, sowohl was die Handschrift, als was die Rechtschreibung betraf; jene stellte in Unbehilflichkeit und Verworrenheit das gerade Gegenteil von der [] zierlichen Gestalt der Schreiberin dar, und die Gesetze der Rechtschreibung hatte sie erbarmungslos mißhandelt, mit ganzen Buchstaben gegeizt und andere am unrechten Orte verschwendet, so daß man, um den Sinn des Schreibens zu verstehen, mehr dem Laut als den Schriftzeichen nach lesen mußte. Friedrich hatte, wie bereits bemerkt, alles gelernt, was ihm die Schule bieten konnte; sein Vater hatte ihn nach der Konfirmation noch ein Jahr lang im Hause des Schulmeisters untergebracht, um den durch den Tod seiner Mutter meisterlos gewordenen und im Wirtshaustreiben der Verwilderung anheimfallenden Knaben unter eine gleichmäßige Zucht zu bringen; und er schrieb seinen Brief oder Aufsatz, der Bildung der Zeit gemäß, so gut als irgendein anderer. Ohne Zweifel erblickten der Pfarrer und Amtmann zwischen ihrer und seiner Bildung eine breite Kluft: wenn man aber auf der heutigen Bildungsstufe das, was von seiner Hand aufbewahrt worden ist, mit den Bildungsurkunden von der Hand seiner Vorgesetzten vergleicht, so merkt man kaum einen Unterschied; denn man findet bei ihm nicht häufig Fehler, und auch sie schreiben keineswegs ganz fehlerfrei. Dagegen war seine Art zu schreiben und Christinens Brief wie Tag und Nacht oder, wie eine Hühnerpfote von einer menschlichen Hand absticht; und so gewiß ein warmer Körper, wenn man ihn mit kaltem Wasser übergießt, von einer unangenehmen Empfindung befallen wird, so gewiß ist es, daß ein Liebender, der einigermaßen schulgerecht schreiben kann, im höchsten [] Feuer seiner Neigung wenigstens für einen Augenblick abgekühlt wird, wenn der Gegenstand derselben, den er doch bewußt oder unbewußt als etwas Vollkommenes verehrt, die Erwiderung nur in eine unschöne und stümperhafte Form zu kleiden vermag. Aber die Liebe führt auch eine gewaltsame Begeisterung mit sich, welche derlei ungleiche Gefühle, so wie sie aufsteigen wollen, rasch wieder zu unterdrücken weiß, zumal wo die Liebe die Blüte eines rauhen und kräftigen Willens ist, der ohnehin keinen Widerspruch duldet. Doch auch das Gewand der Demut muß sich dazu hergeben, den Mißton einzuhüllen: wenn der Liebende entdeckt, daß sein Inbegriff aller Vollkommenheit auch einige Unvollkommenheiten in sich mitbegreift, so beruhigt er sich bei dem Zugeständnis, daß ja auch er nicht ganz untadelhaft sei und folglich nicht das Recht habe, von seiner Geliebten vollendete Mangellosigkeit zu verlangen; und diese Beruhigung dauert mit besonderer Festigkeit, solange, als die Sehnsucht nicht erfüllt ist, solange das frische Gesicht und die reizende Gestalt noch als etwas Vorenthaltenes vor der Seele des Sehnenden schweben. Zudem liest ein Liebender nicht bloß den Schriftzeichen und dem Laute nach, er liest vornehmlich auch mit dem Herzen, und diesem sagte das hübsche junge Mädchen in seinem armen schlechten Briefe so herzliche und liebreiche Worte, daß die kleine Abkühlung bald wieder der zurückkehrenden ersten Flamme weichen mußte.
Christinens Brief ist infolge von Begebenheiten, zu [] welchen wir bald gelangen werden, noch jetzt vorhanden; er lautet in verständliches Deutsch umgeschrieben so:
»Geliebter Schatz, es ist mir von Herzen leid, daß ich dich so erzürnet habe, ich bitte dich, verzeihe es mir wieder, ich will's nimmer tun. Wenn es sein kann, so komm du noch einmal zu mir, daß ich mündlich mit dir reden kann. Weiter weiß ich nicht zuschreiben, als daß du seiest von mir zu tausendmal gegrüßt und in den Schutz Gottes befohlen. Ich verbleibe dein getreuster Schatz bis in den Tod. Meinen Namen will ich nicht nennen, wenn du mich lieb hast, wirst du mich wohl kennen. Datum diesen Tag. Nehme fürlieb mit dieser schlechten Handschrift, ich kann vor Traurigkeit nicht besser schreiben.«
»Gelieder Satz, du seie von mir zu tausendmal geschriet und in den Sutz Gottes befohlen!« wiederholte Friedrich halb entzückt, halb lachend, als wär das Mädchen gegenwärtig und müßte sich wegen ihres schülerhaften Schreibens von ihm necken lassen. Dabei machte er eine Bewegung, wie wenn er ihre gelben Zöpfe fassen wollte, einer Glockenschnur ähnlich, an der man läutet, damit oben jemand zum Fenster heraussehe, um nachbarlichen Verkehr zu pflegen oder ein Almosen zu spenden.
Mitten in diesen zärtlichen Träumereien fiel es ihm jedoch ein, daß er die Schreiberin des Briefes für ihre doppelte Mühe gar schlecht belohnt habe. Er hatte ihr mit harten Worten ihr nächtliches Umherstreichen vorgeworfen, dessen Zweck doch nur der [] gewesen war, ihre schlechte Handschrift an den rechten Mann zu bringen, und während sie alle ihre wirklichen oder vermeintlichen Sünden durch ein Entgegenkommen, das ihn zu Dank verpflichten sollte, gutzumachen bemüht war, hatte er das so vielen Störungen ausgesetzte Verhältnis plötzlich wieder auf den alten Traurigkeitsfuß zurückgeschleudert. Und zwar hatte er sich dies zuschulden kommen lassen in einem Augenblick, wo er durch einen unverzeihlichen Knabenstreich, der gar nicht zu seinen auf ein ehrbares Hausvatertum gerichteten Absichten paßte, das Leben seiner Geliebten in Gefahr gebracht hatte. Seine Reue war ebenso ungestüm, wie der Ausbruch seines Zornes gewesen war, und er schlug sich mit Macht vor die breite Stirne, hinter welcher der Wein von gestern abend eine dumpfe Wolke zurückgelassen hatte, so daß die zwiefache Buße des Leibes und der Seele zusammentraf. Nachdem er sein schuldhaftes Ich mit einer Flut nicht eben gelinder Schimpfworte überschüttet, tausend Gelübde der Besserung wiederholt und auf diese Weise in figürlichem Sinn sich seihst den Kopf gewaschen hatte, ging er in den Hof hinab, um dieses Bad am Brunnen in körperlicher Handlung zu wiederholen. Bald fühlte er sich auch so erfrischt, daß er ganz munter mit den Knechten und Mägden scherzte.
Kaum hatte er sich aber diese Selbsterleichterung von der Beschwerde des Körpers und den Vorwürfen der Seele verschafft, so überfiel ihn das Bedenken, ob auch Christine ihn so schnell zu absolvieren [] geneigt sein werde. Alle Zurückweisungen, die er von ihr hatte erdulden müssen, kamen ihm wieder in den Sinn, und der Gedanke, daß sie ihn heute heimgehen heißen könnte, wie er sie gestern heimgeschickt hatte, erfüllte ihn nach der kurzen Anwandlung von Heiterkeit plötzlich mit Wut und Verzweiflung. Im ersten Augenblick entschloß er sich trotzig zum Dableiben, als ob sie ihm den gefürchteten Schimpf bereits angetan hätte; im nächsten trieb ihn sein kochendes Herz wieder zum Gehen an. Aus diesen blitzschnell und gewaltsam abwechselnden Empfindungen der heftigsten Leidenschaft und des mißtrauisch aufgeregten Stolzes entsprang endlich eine Liebeserklärung, die keiner Anleitung zur Kunst des Liebens entnommen war, auch keineswegs ein Muster in derselben genannt zu werden verdient, aber als eine glaubwürdig überlieferte und ihren Helden scharf zeichnende Begebenheit nicht verschwiegen werden darf.
Daß er Christinen diesen Vormittag allein zu Hause finden würde, hatte ihm ihr Brief klar gesagt, obgleich es nicht mit Worten darin zu lesen stand: denn wozu würde sie sich gestern nacht so viele Mühe gegeben haben, den Brief noch in seine. Hände zu bringen, wenn sie nicht sicher gewesen wäre, daß die Ihrigen am Neujahrsfeste alle in die Kirche gehen würden.
Die Glocke hatte schon das zweite Zeichen geläutet, als er die ›Sonne‹ verließ und mit einer Bedächtigkeit, welcher man seinen inneren Zustand nicht angesehen haben würde, verschiedene Seitengäßchen [] einschlug, um möglichst wenigen Kirchengängern zu begegnen. Und doch konnte er sich überall sehen lassen: in dem neuen Rock von dunkelblauem Tuch mit großen Knöpfen und in den kurzen Beinkleidern von schwarzem Samt – die hirschledernen, über die er gegen den Zigeuner gescherzt hatte, waren seit Weihnachten verbannt – trat seine gedrungene Gestalt stattlich hervor; das scharlachene Brusttuch (Weste) paßte zu dem Stahl und Messer, die er in den Gürtel gesteckt; der Dreispitz auf dem Kopfe gab dem jugendlich kräftigen Gesicht ein unternehmendes Aussehen, und die weißen Strümpfe über den Schnallenschuhen umschlossen ein derbes Paar Beine, auf welchen der Mann im Vollgefühl der Jugend wie auf festen Säulen wandelte. Er wandte sich dem Felde zu, wo er zu dieser Stunde auf niemand treffen konnte und wo die dicht fallenden Schneeflocken die Spuren seiner Tritte schnell wieder ausfüllten. Die Glocken läuteten zusammen; als sie schwiegen und die Orgel einfiel, die man bis aufs Feld heraus hörte, lenkte er die Schritte zu des Hirschbauern Haus. Er fand die hintere Türe angelehnt, verschmähte es aber, sich derselben zu bedienen, sondern stieg die außen an der Seite emporführende Treppe hinauf, welche den rechtmäßigen Eingang ins Haus gewährte. Im Hinaufsteigen konnte er durch das Fenster sehen, und seine Auslegung der nächtlichen Briefträgerei hatte ihn nicht getäuscht, denn Christine saß allein in der Stube und las, so schien es wenigstens, ganz vertieft im Gesangbuch, auf dessen aufgeschlagener Seite [] ein Blättchen mit einem flammenden, von einem Schwert durchstochenen Herzen eingelegt war.
Sie mußte jedoch nicht so vertieft gewesen sein, als sie scheinen wollte, denn als er zur Türe eintrat, saß sie nicht mehr am Tisch, sondern stand aufrecht mit dem Buch in der Hand; allein so eifrig sie darin zu lesen schien, so zeigte sich doch in ihren Mienen eine Spannung und Bewegung, welche deutlich verriet, daß ihre Gedanken ganz anderswo als bei einem geistlichen Liede waren. Sie war ihm nie so schön vorgekommen: ihr helles Gesicht, obgleich heute nicht so rotwangig wie sonst, blinkte von Morgenfrische, und die gelblichblonden, streng gescheitelten Haare umschlossen es mit einem freundlichen Rahmen; ein feuchter Schimmer schwamm in den niedergeschlagenen Augen; durch das schwarze Gesangbuch, das in den gefalteten Händen ruhte, erhielt das gleichfalls schwarze Wams, das sonst ein alltäglicher Anblick ist, etwas Feierliches, das den lockenden Reiz der Erscheinung dämpfte; das ärmliche Unterkleid war von einer reinlichen weißen Schürze beinahe ganz zugedeckt.
Sein Herz klopfte, während er im langsamen Eintreten die liebreizende Gestalt mit den Augen verschlang. »Ist's erlaubt?« sagte er, an der Türe stehen bleibend.
»Ich kann's nicht verwehren«, antwortete sie, und ihre Augen verirrten sich von dem Liede, aber nicht weiter als bis an den Rand des Buches.
»Sie trutzt mit mir«, dachte er.
Beide schwiegen geraume Zeit still, dann begann er [] wieder: »Ich hab geglaubt, wenn man einen einlade, so vergönne man ihm auch ein gutes Wort. Wird ja einer nicht vor Amt geladen, ohne daß man ihm dort eröffnet, warum er vorgeladen ist.«
»Das ist auch meine Absicht gewesen«, sagte Christine, »aber wie ich den Brief geschrieben hab und bei Nacht ausgetragen, weil ich meine Brüder nicht hab drum wissen lassen wollen, und hab nicht früher fortkommen können, als bis alles im Bett gewesen ist, da hab ich nicht gewußt, daß es mir so aufgenommen wird und so ausgelegt. Es ist mich sauer genug ankommen, denn ich hab mir wohl sagen können, daß sich so etwas nicht schickt. Deswegen bin ich nun auch bitter gestraft dafür und seh's jetzt vollends ganz ein, daß ich's hätt nicht sollen tun.«
»Der Brief gilt also nichts?« fragte er.
Sie sah in ihr Gesangbuch, ohne zu antworten. Abermals folgte ein langes Stillschweigen.
»Wenn's so steht zwischen uns«, hob er wieder an, »so hätt ich auch können daheim bleiben.«
Sie legte das Buch auf den Tisch. »Es ist nicht meine Schuld«, sagte sie. »Ich hab's ja nicht so haben wollen. Aber ich möcht mich an keinen hängen, der schlecht von mir denkt und mich eine Nachtläuferin heißt. Ich hab noch niemand Anlaß geben, etwas Unrechts von mir zu glauben, am allerwenigsten –« Sie stockte, denn das Du wollte ihr nicht über die Lippen.
»Hab ich denn wissen können, daß du meinetwegen unterwegs bist?« rief er.
[] »Das ist gleichviel«, erwiderte sie. »Niemand hat das Recht, wenn er mich auch bei Nacht antrifft, mir das Rumlaufen vorzurücken, und das auf eine Art, daß man wohl versteht, wie's gemeint ist. Ich bin noch keinem nachgelaufen und werd auch keinem nachlaufen mehr.«
»Nun ja«, versetzte er, »wenn ich gewußt hätt, was für einen Botengang du tust, so hätt ich ja gewiß nichts dergleichen gesagt.«
»Das glaub ich«, bemerkte sie, unmutig über diese leichte Entschuldigung.
»Jetzt laß es aber gut sein!« rief er, auf sie zugehend. »Bis du austrutzt hast und auspredigt, ist der Pfarrer mit der Predigt auch zu End.«
»Nicht so geschwind!« rief sie und wich rasch vor ihm zurück.
»So? da kann ich also heimgehen?« sagte er, erbittert über den ernstlichen Ton, mit dem sie ihn zurück gewiesen hatte.
Sie gab keine Antwort.
»So kann's nicht zwischen uns fortgehen!« rief er, allmählich wild werdend. »Jetzt sag's grad raus und laß mich nicht lang warten: wie hast's mit mir?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich glaub, wir taugen nicht recht zusammen, wir zwei beide. Ich will nicht von den vielen Haken reden, die die Sach hat und die mich schon oft traurig gemacht haben. Aber wer mein Schatz sein will, der darf mich nicht so anfahren und darf mich nicht gleich beschuldigen, daß ich auf unrechten Wegen sei, eh er sich nur Zeit [] nimmt, die Augen aufzutun. Wenn einer auf seinen Schatz nichts hält, so tut's nicht gut zwischen ihnen. Mein Vater und meine Mutter sind oft hart gegen mich; wenn mein Schatz auch so wär, was hätt ich dann gewonnen? Mit meinem Schatz will ich ein besseres Leben führen, oder lieber will ich bleiben, wie ich bin. Es ist mir ohnehin nicht so besonders drum zu tun; ich kann allein sein, und ich glaub, ich will's auch.«
Obgleich er sich gestehen mußte, daß das Mädchen vollkommen recht habe, und obgleich sie ihm in diesem Augenblicke mit ihrer ganzen Art zu denken und zu reden unsäglich gefiel, denn das war nicht mehr das schüchterne, kindische Wesen, das andere Leute für sich reden ließ, so gestattete ihm doch sein starrer Trotz nicht, aus ihren Worten etwas anderes als einen bittern Bescheid herauszulesen. »Wenn man mir so ausbietet«, sagte er, »dann will ich nicht überlästig sein.«
Sie schwieg, ohne aufzublicken.
»Es ist also Ernst?« wiederholte er. »Ich soll gehen?«
»Wer mir's so macht, den werd ich nicht bleiben heißen«, antwortete sie entschlossen, aber zugleich drangen ihr die Tränen in die Augen.
»Nein!« rief er wild, und die seinigen rollten, während er das Messer zog. »So geh ich nicht fort! Hie auf dem Platz muß es sich zwischen uns entscheiden. Sag ja oder nein, willst du mich, oder willst du mich nicht? Wenn du mich willst, so versprech ich dir, daß dergleichen Dummheiten, wie gestern [] nacht, von nun an nicht wieder vorkommen sollen, du bist ohnehin ganz allein schuld daran gewesen, weil du mich ganz wild und falsch gemacht hast die Zeit daher, und unartig will ich auch nicht mehr gegen dich sein, will dich vielmehr auf den Händen tragen und ein Leben mit dir führen, daß ganz Ebersbach ein Exempel dran nehmen soll. Willst du mich aber nicht, so verzeih mir's Gott, du kommst nicht lebendig von der Stell. Sieh das Messer hier, das bis jetzt bloß unvernünftigen Geschöpfen den Lebensfaden abgeschnitten hat, das soll dann ein edleres Blut trinken. Sag nein, und ich stech dir's ins Herz, ich treff gut, darauf kannst dich verlassen, und das auf den ersten Stoß. Der zweite dann, der gilt mir, denn wenn du nicht mein werden willst, so soll dich auch kein anderer haben, und wenn du tot bist, so will ich auch nicht mehr leben. Dich will ich, auf der ganzen weiten Welt nur dich, und wenn das nicht sein kann, so ist es zu dieser Stunde mit uns beiden aus.«
Christine war einen Augenblick starr und bleich vor Schrecken dagestanden, wie er mit dem funkelnden Messer auf sie zuschritt. Bald aber änderte sich ihr Gesicht. Im Gegensatz zu ihm, der in ihren Reden nur Bitterkeit fand, sog sie aus den seinigen nur den Honig heraus. Aufgelöst durch das Übermaß von Feuer und Liebe, das aus dieser fürchterlichen Liebeserklärung hervorbrach, und ohne sich durch die rohe, gewalttätige Beimischung von neuem abstoßen zu lassen, warf sie sich ihm, als er geendet hatte, so heftig an den Hals, daß sie ihm kaum noch Zeit [] ließ, die Spitze des Messers zu wenden. Er schleuderte es rasch zu Boden, während sie ihn mit beiden Händen umklammerte. »Stich zu, wenn du das Herz hast!« rief sie laut weinend. Er schlug die Arme um sie und drückte sie fest ans Herz. Sie machte die eine Hand los und hielt sie ihm vor die Augen. »Da sieh, du blinder Hess, du ungläubiger Thomas«, sagte sie, unter dem Weinen lachend, »wie kannst du so an der Wand hinauffahren und so ruchlos Zeug machen, siehst denn nicht, daß ich deinen Ring am Finger hab, seit du da bist? Ich hab dir doch vorher müssen ein wenig schandlich tun, du unartiger Bub du!«
»Ist's wahr?« rief er. »Willst mein sein? Sag'snoch einmal.«
»Meinst du's auch ehrlich mit mir?« fragte sie, indem sie den Kopf aufhob und ihm in die Augen sah.
Er schwur es mit tausend Eiden, wovon einer den andern an Kraft und Derbheit übertraf. »Bist jetzt mein?« fragte er dann abermals.
»Ja!« schrie sie unter dem Druck seiner Arme, die sie wie eiserne Klammern preßten.
»Ganz mein?«
»Ganz! Du kannst mich sieden oder braten, nur erstick mich nicht.«
Er ließ sie einen Augenblick los, aber nur, um sie im nächsten desto fester in die Arme zu fassen, und die Sinne vergingen ihr unter dem Ungewitter der Leidenschaft, das über sie losbrach. Es war, als ob der Pfarrer mit den Liebenden im Bunde wäre, [] denn seine heutige Neujahrspredigt schien die längste werden zu wollen, die er je gehalten hatte.
»Jetzt will ich gern sterben«, seufzte Friedrich, als er aus dem Rausche des Entzückens endlich wieder zu sich kam. »Noch einmal will ich dir's geschworen haben, daß ich nimmer von dir lassen will, was auch kommen mag, und will dir treu sein bis in den Tod.«
»Du mußt jetzt nicht vom Sterben reden«, sagte ihm Christine leise ins Ohr, indem sie den Kopf verschämt an seine Schulter lehnte, »ich hab's jetzt doppelt nötig, daß du für mich lebst.«
»Ja, ich will, und Müh will ich mir geben, daß ich immer den richtigen Weg geh und daß du keine Unehr von mir hast und keine Sorgen um mich. Gelt, das ist doch eigentlich Ursach gewesen, daß du dich so lang besonnen hast? Gesteh's nur frei heraus, ich nehm's dir nicht übel.«
»Nein«, sagte sie, »ich hab mich nie zum Richter über dich aufgeworfen und hab's ja wohl gewußt, wie gut du bist und daß in deinem Herzen kein fauler Butzen ist und kein falscher Blutstropfen in deinen Adern. Meinst du denn, sonst hätt ich dir so getraut?«
»Warum hast du mich dann aber so lang zappeln lassen und hast mir soviel böse Stunden gemacht?«
»Ei, bin ich's nicht wert, daß du dich ein wenig um mich hast verleiden müssen?«
»Freilich bist du's wert. Ich mein nur, wenn du so große Stück auf mich hältst, wie ich's in meinen Augen nicht verdien, und hast zugesehen, wie ich[] mich verleiden muß, so hast du ja dir auch eine Qual mit angetan. Und hast du nicht selber geschrieben, du seiest so traurig, daß du vor lauter Leid schier nicht schreiben könnest?«
»O du!« sagte sie und schlug ihn mit dem Finger auf die Lippen.
»Ich will den Baum nicht loben, der auf den ersten Streich fällt, aber du hast mir's doch ein wenig gar zu arg gemacht, hast mich ja am ewigen Feuer braten lassen. Hättest's dir selber nicht zuleid tun sollen. Jetzt sag's nur: warum bist so unbarmherzig gewesen gegen mich und dich?«
»Ich kann's nicht sagen«, kicherte Christine wie damals, als sie sich im Bäckerhause hinter dem Ofen versteckte.
»Ich küss dich so lang, bis du's sagst, denn ich merk jetzt schon, daß es was zu bedeuten hat.«
»Da kannst lang küssen.«
»Oder ich drück dich, bis dir der Atem ausgeht.«
»Dann sterb ich in deinem Arm.«
»Wart, ich will dir schon zeigen, wer Herr ist. Willst du Daumenschrauben kennenlernen?«
Kaum hatte er ihre Finger etwas zwischen den seinigen gepreßt, so schrie sie: »Halt! Laß nach! Ich will ja alles gestehen!« Sie legte den Mund an sein Ohr und sagte: »Sieh, meine Mutter hat zu mir gesagt, wenn ich einen dummen Streich mache, so schlage sie mir alle Glieder entzwei, und –«
»Ja? Und?«
»Ach, du brauchst nicht alles zu wissen.«
Er erhaschte ihre Finger und wiederholte die vorige [] Folter. »Und damit's nicht zu dem kommen soll, was mir meine Mutter gedroht hat«, bekannte sie stöhnend und lachend zugleich, »hab ich dich und mich so plagen müssen.«
Er lachte aus vollem Herzen. »So?« sagte er, »du hast also so ein gut's Zutrauen zu mir gehabt, daß du gleich gedacht hast, du werdest dich bei mir vor einem dummen Streich nicht behüten können?«
»Ach, ich hab dich eben von Anfang an so lieb gehabt, du böser Bub du!«
»O du mein lieb's Weible du!« rief er, indem er sie in seine Arme zog und ihren Kopf an sein Herz legte.
»Aber das hör ich gern!« rief sie. »Das tut mir wohl! Oh, sag noch einmal so!«
»Mein lieb's Weible! Und jetzt will ich dich auch recht um Verzeihung bitten, daß ich dir's so wüst gemacht hab, absonderlich gestern nacht, wo du meinetwegen ausgewesen bist und ich dir noch schnöde Reden dafür geben hab. Gelt, du verzeihst mir's? Sieh, es ist mir von ganzem Herzen leid.«
»So, jetzt kommst endlich, du Hinterfürhühnle? Hast Ursach genug gehabt, das gleich zu sagen, aber der hochmütig Herr hat sich nicht runter geben wollen.«
»Ja, sieh, um Verzeihung bitt ich niemand, als einen recht guten Freund, und von dir hab ich vorhin noch nicht gewußt, ob du Freund oder Feind mit mir bist.«
»Oh, geh du! Du hast wohl gewußt, daß ich dir[] nicht feind bin. Aber gelt, jetzt glaubst, daß du den besten Freund auf der Welt an mir hast?«
Er beteuerte ihr diesen Glauben mit wiederholten Liebkosungen.
»Was hast denn zu meinem Brief gesagt?« fragte sie nach einer Weile. »Gelt, du hast gewiß gesagt: jetzt kriecht sie endlich zu Kreuz?«
»Ich hab denkt: so, jetzt ist sie endlich in sich gangen und bereut's, daß sie so unchristlich gewesen ist und sich und mir das Leben so sauer gemacht hat.«
»Was nicht sauret, das süßet auch nicht. Aber was hast du denkt, daß ich so wüst geschrieben hab? Ich hab's schier im Finstern tun müssen.«
»Schreib du, wie du willst, mir ist alles recht, was du schreibst. Wirst's schon noch besser lernen, bis du Sonnenwirtin bist, und die Rechnungen und Geschäftsbriefe kann ich ja einmal selber schreiben.«
»Ja, das glaub ich, daß es noch eine gute Zeit anstehn wird, bis ich Sonnenwirtin bin.«
»Nun ja, du wirst doch meinem Vater nicht um den Tod beten?«
»Gott behüt und bewahr mich!« rief Christine eifrig. »Gelt, das ist nicht dein Ernst? Nein, ich gönn ihm und wünsch ihm noch ein langes Leben –«
»Und Enkel genug?«
Sie schlug ihn auf den Mund. »Ich hab nur sagen wollen, es wird noch manches Wässerlein den Bach hinunterlaufen, bis man uns zusammenläßt. Ach, ich bin eben ein gering's Mädle und von armen Eltern, und die deinigen sind reich und hoffärtig; [] du kannst's dir selber sagen, daß es da nicht so ganz glatt gehen wird. Mir selber geht auch viel ab, was zu dem Stand gehört. Wiewohl, ich will dir versprechen, daß ich's an nichts fehlen lassen will, und nichts versäumen, was ich noch lernen kann. Aber wenn auch du vielleicht mit einem solchen Versprechen zufrieden bist, so ist's dein Vater noch lang nicht, denn er sieht noch auf ganz andere Eigenschaften.«
Er ging mit starken Schritten vor ihr in der Stube hin und her. »Ich will dir nichts vormachen, was nicht wahr ist«, sagte er. »Ich kann zwar im jetzigen Augenblick, glaub ich, viel auf meinen Vater bauen, aber so leicht wird's nicht gehen, daß ich sagen kann: ich darf nur blasen. Er wird vielleicht ein wenig aufgucken, wenn ich ihm sag, was ich vorhab; sein Leibstückle ist's nicht, denn das hat einen anderen Klang. Wir müssen uns also darauf gefaßt machen, daß man uns ein paar Berg in Weg wirft, und falsche Zungen können auch dazwischenkommen. Aber, wie gesagt, ich steh jetzt mit meinem Vater so, daß ich hoffen kann, wenn er meinen Ernst sieht, so gibt er nach. Die Hauptsach aber ist: ich hab dich lieb und will dich, und mir bist du recht, und darum mußt auch allen anderen gut genug sein. Ich will doch sehen, wer mir das über den Haufen wirft, was ich mir einmal fürgenommen hab. Ich bin fest überzeugt und weiß ganz gewiß, wenn ein Mensch seinen Willen ernstlich auf etwas setzt, und es ist nichts Unrechts, so führt er's auch durch. Ich aber hab meinen Sinn fest darauf [] gerichtet, daß du mein Schatz und mein Weib werden sollst, und wie ich meinen Willen bei dir erreicht hab, so werd ich ihn bei meinen Eltern und bei den deinigen erreichen.«
Christine beruhigte sich oder beschwichtigte wenigstens ihre Unruhe im Anschauen und Anschmiegen an ihren Freund. Er gefiel ihr gar zu gut; er kam ihr so männlich vor und war unter dem zuversichtlichen Reden gleichsam gewachsen.
»Nun hast du mein Herz und meine Hand und meinen Eid«, fuhr er fort. »Jetzt mußt du mir aber auch versprechen, daß du mir treu sein willst, denn ich muß dir nur gestehen, das Rumschwanzen und Lustigtun mit den ledigen Burschen auf'm Tanzboden, das muß jetzt ein End haben, und die Husarentänz im Karz stehen mir auch nicht an.«
»Was, Husarentänz? Ich weiß nicht, was du willst. Seit wir nicht mehr gut miteinander gestanden sind, bin ich gar nicht in Karz kommen, und daß ich selbigsmal auf den Tanzboden gangen bin, das hätt dir doch dein Herz sagen sollen, warum das geschehen ist.«
»Du hast ja aber gar nichts mit mir gemacht.«
»Hätt ich kommen und vor dich hinknien sollen?«
»Aber gelacht und geschwätzt hast mit den andern, wie wenn ich gar nicht da wär.«
»Ich hab doch nicht schreien und heulen können, wiewohl mir das nah genug gewesen ist; es ist mir schwer ankommen, mich so zu verstellen, nachdem ich hingangen bin, bloß um dich zu sehen, und du gar nichts von mir gewollt hast.«
[] »Und unter den Karzgängerinnen, die gestraft worden sind, bist du nicht?«
Sie wußte von nichts. Er mußte ihr den Vorgang erzählen. In ihrem abgelegenen Häuschen hatte sie von der Geschichte gar nichts gehört.
»Jetzt ist's recht«, sagte er lachend. »Aber jetzt möcht ich erst einmal den Husarentanz von dir sehen. Wie, mach mir ihn einmal vor.«
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Sag das nicht noch einmal«, entgegnete sie ernsthaft. »Es wär mir leid, wenn's dein Ernst wär!«
»Nein«, sagte er und nahm sie in die Arme, »ich hab dich bloß ein wenig necken wollen. Ich hab dich lieb und wert, und verlaß dich drauf, daß ich dich immer in Ehren halten werd. Aber das mit den ledigen Buben, das hast du mir noch nicht versprochen.«
»Du wirst mich noch bös machen!« sagte sie. »Was will ich von den ledigen Buben! Aber ich will dir's schwören, damit die arm Seel Ruh hat. Da, sieh, ich schwör's! Und jetzt wollen wir sehen, wer seinen Eid am längsten hält, du oder ich.«
Auch er gab sich nun seinerseits zufrieden. Sie plauderten zutraulich miteinander und malten sich ihr künftiges häusliches Leben aus, wobei es nicht an Scherzen und Neckereien fehlte. Während sie so Arm in Arm in der Stube herumgingen, rief Christine auf einmal: »Hu, wie kalt geht's an mich hin! Was ist denn das?« Auch er empfand jetzt den kalten Luftstrom, und beide untersuchten, woher derselbe komme. Eine von den runden Fensterscheiben [] fehlte, und durch die offene Lücke drang die kalte Winterluft ins Zimmer. »Das ist vorhin nicht gewesen!« rief Christine erbleichend. »Sieh nur, da liegen die Glasscherben auf der Bank! Herr Jesus, da ist jemand vor dem Fenster gewesen und hat uns zum Schabernack die Scheib eingedrückt. Ich hab doch nichts gehört.« »Ich auch nicht«, sagte er, den Tatbestand in stummer Bestürzung prüfend. »Wir sind verraten!« rief sie weinend und verbarg das Gesicht an seiner Brust. »Sei ruhig, der Wind wird's getan haben«, sagte er; aber er selbst war keineswegs so ruhig, als er schien, denn er hatte noch eine andere Entdeckung gemacht, die Christinens Argwohn nur zu sehr bestätigte. Auf den Staffeln der Außenseite waren im Schnee frische, scharfe Fußstapfen wahrzunehmen. Dies konnten nicht seine eigenen sein; denn zur Zeit seines Kommens hatte es ziemlich stark geschneit, und seine Tritte mußten daher bald wieder verwischt worden sein. Es war ihm kaum zweifelhaft mehr, daß, nachdem es zu schneien aufgehört, jemand sich die Stiege heraufgeschlichen und die Scheibe eingedrückt habe, worauf der Täter, wahrscheinlich in der Meinung, durch das Klirren der Gläser in der Stube einen Schreck erregt zu haben, schnell wieder entflohen war. Von dieser Wahrnehmung aber teilte er Christinen nichts mit; vielmehr suchte er sie, als sie ihn darauf aufmerksam machte, daß ja gar kein Wind gehe, auf den Glauben zu bringen, die Katze werde es getan und vielleicht von außen durch das Fenster hereingewollt haben. Dies war jedenfalls ein annehmbarer [] Grund, wenn die Eltern bei ihrer Heimkunft der Sache nachfragten, und er hieß sie inzwischen das Loch mit einem Tuch verstopfen.
Sie waren noch im Reden und Raten über den Vorgang begriffen, und Christine hatte ihre Verstörung noch keineswegs überwunden, als die große Glocke auf dem Turme anschlug. »Horch, die Betglock!« rief sie, »die Kirch ist aus, jetzt mach, daß du fortkommst!«
Sie küßten und herzten einander, während Christine ihn beständig forttrieb.
»Heut abend kommen wir zusammen, nicht wahr?« sagte er.
»Ja, sobald meine Leut im Bett sind, und das ist ziemlich früh.«
»Ich treff dich hinterm Haus, und dann spazieren wir ins Feld. Der Boden ist mit lauter Zucker bestreut. Meinst nicht, es werd dir zu kalt sein?«
»Mich friert's nicht, wenn ich bei dir bin, aber jetzt mach dich fort.«
Sie wollte ihn bereden, das Haus durch die hintere Türe zu verlassen. »Nein«, sagte er, »vorn, wo ich herein bin, da will ich auch wieder hinaus. Ich red ohnehin nächster Tag ganz frei und offen mit deinen Eltern.«
»Laß es nur noch ein wenig anstehen«, sagte sie, »es ist mir so angst.«
»Und wenn sie fragen, ob jemand unter der Kirch bei dir gewesen sei, so sagst ohne weiteres ja, ich sei dagewesen.«
Sie versprach alles und trieb ihn wiederholt zur[] Eile an, so daß er, als sie sich voneinander losrissen, noch lange nicht genug geküßt zu haben meinte.
Er hatte seinen guten Grund, das Haus auf der Vorderseite zu verlassen. Es sollten nicht doppelte Fußstapfen hinterbleiben, die vielleicht ein endloses Gewirr von Vermutungen wachgerufen haben würden. Er trat sorgfältig in die vorhandenen Spuren und folgte ihnen, um auf diese Weise etwa herauszubringen, wer vor dem Fenster gewesen sein möchte. Die Spuren führten an den äußersten Häusern des Fleckens hin und dann kreuz und quer durch einige Gäßchen, wo sie sich aber bald mit anderen Fußstapfen vermischten. Er mußte seine Nachforschung als fruchtlos erkennen und ging kopfschüttelnd seines Weges. Die Leute kamen eben aus der Kirche. Er konnte es nicht vermeiden, manchem verwunderten und neugierigen Blick zu begegnen; da er sich aber ruhig in den Zug mischte, so brachte dies viele, die sich mehr mit Anhörung der Predigt als mit Musterung der Zuhörer beschäftigt hatten, auf den Glauben, daß er gleichfalls aus der Kirche komme.
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In der ›Sonne‹ wurde der Neujahrstag mit einem Familienessen gefeiert. Die beiden Schwiegersöhne hatten sich mit ihren Frauen nach der Kirche zur Gratulation eingefunden und blieben nach hergebrachter Weise zu Tische da. Als Friedrich nach Hause kam, fand er schon die ganze Familie versammelt. [] »Da muß irgendwo ein Rädle gebrochen sein«, dachte er, denn der Empfang war in der Tat ein sehr wunderlicher. Der Chirurg wußte seinem Gesicht einen gewissen verlegenen Ausdruck zu geben; der Handelsmann, ein kugelrundes Figürchen in hellgelbem Rock, himmelblauer Weste und mit lang herabfallenden weißen Halstuchzipfeln, drückte seine kleinen Äuglein listig zusammen und ließ dabei die vorspringenden wulstigen Lippen offenstehen, so daß sie gleichsam einen stummen, aber sichtbaren Seufzer eines ehrbaren Verwerfungsurteils bildeten; die beiden Frauen schlugen die Augen nieder und schienen sich kaum entschließen zu können, dem Bruder die Hand zu geben, als dieser mit einem treuherzigen »Prosit 's Neujahr!« auf sie zugegangen kam. Der Sonnenwirt sah dieser gezwungenen Begrüßung etwas verwundert zu; er kannte augenscheinlich den Grund derselben noch nicht, mochte aber denken, sein Sohn werde es bei der Verwandtschaft durch irgendein nicht gar zu bedeutendes Ungeschick verschüttet haben; wenigstens ließ er das, was vor seinen Augen vorging, geschehen, ohne sich mit Fragen darein zu mischen. Friedrich aber hatte sogleich an dem zuverlässigsten Wetterglase erkannt, daß etwas Schweres gegen ihn im Werke sein müsse, nämlich an dem gelben Gesichte seiner Stiefmutter, welchem ein offener triumphierender Hohn eine Art von Blüte verlieh. Es war ihm übrigens jede Verlegenheit erspart, denn die Kinder des Krämers, die dieser mitgebracht hatte, deckten mit ihrem jubelnden Empfange alle Lücken in der Liebe der Erwachsenen[] zu: sie hatten dem Großvater geschriebene Neujahrswünsche überreicht und als Gegengeschenk neue Kreuzer nebst mürbem Gebäck erhalten; jetzt sprangen sie im vollen Jubel ihres Glückes an dem kinderfreundlichen jungen Oheim empor und nahmen ihn in Beschlag, bis das Essen aufgetragen war.
Solange das Gesinde, das diesmal an einem besonderen Tische speiste, sich in der Stube befand, wurde von der Witterung und von der heutigen Predigt gesprochen, welche sich der mit einem guten Gedächtnis begabte Chirurg sehr ausführlich anzueignen gewußt hatte. Nachdem aber Knechte und Mägde sich entfernt und auch die Kinder auf Befehl ihres Vaters, jedes ein Stückchen Kuchen in der Hand, die Stube verlassen hatten, begann dieser mit mutwilligem Blinzeln: »Ist der Schwager heut auch in der Kirche gewesen?«
Friedrich wurde rot. »Ich hab Gott anders gedient«, sagte er.
»Vielleicht zu Haus eine schöne Predigt gelesen oder ein Stück in Arndts ›Wahrem Christentum‹?«
Friedrich schwieg, der inquisitorische Ton, aus welchem eine geheime Bosheit sprach, machte ihm das Blut, aber jetzt nicht aus Scham, nach dem Kopfe steigen.
Der Sonnenwirt, der noch mächtig am Braten arbeitete, hielt einen Augenblick inne, um zu schauen, wo die Sache hinaus wolle, und sah bald den Tochtermann, bald den Sohn mit fragenden Blicken an.
[] Die Sonnenwirtin hatte dem ersteren, der den Laufgraben mit so viel Geschick eröffnet, einen Blick der Zufriedenheit zugeworfen. Nun rückte sie selbst ins Feld, um ihm zu Hilfe zu kommen. »Wenn er's nicht sagen will, wo er gewesen ist, so muß ich das Maul für ihn auftun«, sagte sie. »Des Hirschbauern seiner Jungfer Tochter hat er den Morgensegen vorgebetet, just unter der Kirch. Nun gibt's zwar Freigeister, die alles auf die leicht Achsel nehmen – (dabei ließ sie einen Blick an ihrem Manne hinstreifen) – und Spülwasser löscht auch den Durst, wie das Sprichwort sagt; aber noch sagen, man hab Gott gedient, das ist eine Sünd, die unser Herrgott gewißlich zu den anderen Missetaten mit aufhaspeln wird. Ich hab mich's von deinem Hab und Gut kosten lassen«, setzte sie gegen ihren Mann hinzu, »daß die Person, von der ich die Sach weiß, nichts weiter sagt, damit's nicht vor den Pfarrer kommt, was dein christlich gesinnter Sohn unter Gottesdienst versteht.«
Der Krämer kicherte und riß einige Witze, die Friedrich beinahe außer sich brachten; aber er schwieg noch, denn die plötzliche Entdeckung, daß er nicht bloß, wie ihm schon zuvor klar gewesen, verraten, sondern daß sein Geheimnis in die schlimmsten Hände überliefert sei, hatte ihn etwas seiner Fassung beraubt.
»Wer hat dir denn die Sach hinterbracht?« fragte der Sonnenwirt seine Frau.
»Das darf ich nicht sagen«, antwortete sie, »ich hab Stillschweigen angeloben müssen, kannst dir [] wohl denken warum, aber die Person ist zuverlässig.«
»Und doch möcht ich raten«, sagte der Chirurg mit einem wohlwollenden Blicke auf seinen jungen Schwager, »solchen unbekannten Personen nicht allzuviel zu trauen. Man muß einen nicht gleich auf eine bloße Delation hin verdammen.« – Der Chirurg war weltklug: er wollte es mit der angegriffenen Partei nicht verderben; auch hatte er, seit sein Ziel erreicht war, seiner Schwiegermutter mehrfach gezeigt, daß er nicht ganz und gar in ihr Hörnlein zu blasen gesonnen sei. Dabei mochte er ein wenig von der Abneigung seiner Frau angesteckt worden sein, gegen welche er sich oft über die Unselbständigkeit und Untertänigkeit des Krämers lustig machte.
Die Sonnenwirtin hatte inzwischen in dem Gesichte ihres Stiefsohnes gelesen. »Was brauchen wir weiter Zeugnis?« rief sie. »Er leugnet's ja selber nicht, daß er sich mit dem schlechten Mensch eingelassen hat.«
Der Sonnenwirt hatte eben die Gabel mit einem Stücke Braten erhoben; es war aber in Gottes Ratschluß vorgesehen, daß er dasselbe nicht in den Mund bringen sollte, denn Friedrich fuhr auf, durch das böse Wort aus seiner Befangenheit herausgerissen, und rief: »Über mich kann man sagen, was man will, das will ich alles geduldig tragen, aber auf das Mädle laß ich nichts kommen, denn das Mädle ist brav, und wer schlecht von ihr reden will, der kann sich vor mir in acht nehmen; ich leid's von niemand, selbst von Vater und Mutter nicht! [] Es ist mir leid, Vater, daß die Sach so vor Euch gebracht worden ist, denn ich hab's ganz anders fürgehabt, wie Ihr Euch wohl selber einbilden könnt. Aber nun es einmal ohne meine Schuld heraus ist, will ich's Euch frei bekennen: das Mädle ist mein Schatz, und ich hab's treulich und ehrlich mit ihr und will keine andere heiraten als das Christinele allein. Ich hab mir Eure Einwilligung zu einer gelegeneren Zeit erbitten wollen, aber jetzt ist eben die Gelegenheit vom Zaun gebrochen.«
Ein starres, sprachloses Staunen hatte sich der Familie auf dieses unumwundene Geständnis bemächtigt; der Sonnenwirt hatte die Gabel mit dem Braten auf das Tischtuch fallen lassen, wo sie, über den Rand hinausragend, keinen Halt fand und, der Sonnenwirtin unterwegs das Taffetkleid beschmutzend, ihren Fall auf den Boden fortsetzte. Die Anstifterin des Auftrittes konnte deshalb an dem ersten Geräusche der Explosion keinen Anteil nehmen; sie schoß mit einem wütenden Blicke auf ihren ungeschickten Eheherrn hinaus, um die Flecken an ihrem Kleide womöglich zu vertilgen. Nachdem die bestürzten Geister sich wieder etwas gesammelt hatten, machten sich die Gefühle über das unerhörte Unterfangen des jungen Menschen in verschiedener Weise Luft. Der Krämer stieß ein schrillendes Gelächter aus, das dem Geheul eines jungen Hundes nicht unähnlich klang, und seine kleinen Äuglein verschwanden in den Fettbergen, womit sie umgeben waren. Seine Frau, Friedrichs älteste Schwester, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und lamentierte. [] Der Chirurgus bewegte den seinigen gravitätisch hin und her und begnügte sich, durch die stumme Gebärde seine ernste, aber unvorgreifliche Mißbilligung an den Tag zu legen, während seine Frau schmerzlich ausrief: »Ach Bruder, wirst denn gar nie gescheit werden?«
Der Sonnenwirt hatte gleichfalls einige Zeit gebraucht, um aus einer Art von Erstarrung zu sich zu kommen. Als er sich erholt hatte, streckte er den Finger gebieterisch gegen seinen Sohn aus. »Laß dir im Hirn verganten!« rief er, »vor allem aber reis dich, daß ich dich heut nicht mehr sehen muß, und hörst? komm mir ein paar ganze Tag gar nicht vors Angesicht.«
Friedrich stand gelassen auf, um dem Gebote seines Vaters zu gehorchen. »Ihr werdet noch besser von der Sach denken lernen, Vater«, sagte er, indem er sich zum Gehen anschickte.
»Still!« rief der Alte, »sei ganz still, red gar nichts, denn jedes Wort, das aus deinem Munde geht, ist ein Nagel zu meinem Sarg.«
Der Sohn schwieg und ging schnell zur Türe hinaus.
»Es ist doch schrecklich«, jammerte die Krämerin, »daß sich der Bub gar nicht geben will. Kaum meint man, man hab ihn auf dem rechten Weg, so kommt wieder ein ärgerer Streich.«
»Ja«, sagte der Krämer, »das gäb eine Eh, die man aus dem Heiligen verhalten müßt.«
»Freilich, wie die Lumpensippschaft, aus der das liederlich Ding abstammt«, ergänzte seine Frau.
[] »Ach Gott, ich will ihr ja sonst weiter nichts nachgered't haben«, sagte ihre jüngere Schwester, die sich zur Heirat mit dem Chirurgen bequemt hatte, »aber sie hat eben gar nichts als 'n Gott und 'n Rock.«
»Eine schöne Partie für uns!« rief die Krämerin. »Der Bub ist einmal im Kopf nicht richtig. Bei seiner Tauf ist der vorig Amtmann zu Gevatter gestanden, und jetzt will er uns ein solches Bauernmensch in die Familie bringen.«
»Ich möcht nur wissen, mit was sie ihm's angetan hat!« seufzte die Chirurgin, die bisher seine Lieblingsschwester gewesen war.
»Pah!« lachte der Krämer, »sie handelt mit kurzer War, und da beißt so ein Unverstand gleich an.«
»Ja«, sagte seine Frau, »Schwarz ist auch eine Farb.«
»Für den Liebhaber!« fiel die Sonnenwirtin ein, die eben wieder in die Stube getreten war. »Der Geschmack verbirgt sich nicht. Es heißt nicht umsonst: Sage mir, mit wem du umgehst, so will ich dir sagen, wer du bist. Diese Liebschaft bringt's einmal recht an den Tag. Da kann man wohl auch sagen: Hudel find't Lumpen, Hutsch find't sein Hätsch.«
Der Sonnenwirt, dem es bei all seinem eigenen Verdrusse doch durch die Seele schnitt, seine Frau in seiner Gegenwart so von seinem Sohne reden zu hören, sagte unmutig zu ihr: »Das Zeugnis muß ich dir geben, daß du mir da ein schönes Zugemüs angerichtet hast. Hättest's nicht besser anbringen können, als just überm Essen. Wem du den Neujahrsschmaus [] bereitest, von dem darfst nicht fürchten, daß er nichts übriglassen werde.«
»Da muß ich freilich sehr um Verzeihung bitten«, entgegnete sie, »wenn ich gewußt hätt, daß dir das Essen wichtiger ist als der Lebenswandel deines Sohnes, so hätt ich geschwiegen; aber ich hab eben gemeint, ich müss' reden, solang's noch Zeit ist und eh er vollends ganz in den Abgrund taumelt. Wiewohl, ich hab's auch früher nicht an Ermahnungen fehlen lassen, und die Sach ist dir schon lang sehr nah gelegen; wenn's ein Wolf gewesen wär, er hätt dich gefressen.«
Der Sonnenwirt trommelte am Fenster. »Hab ich mir denken können«, schnauzte er nach einer Weile herum, »daß der Bub so aus der Art schlagen und mit der dummen Liebschaft Ernst machen würd? Jetzt muß man freilich mit ihm Ernst machen«, fuhr er gegen den Chirurgen fort, dem er noch am liebsten ein Wort gönnen mochte, »und wenn man zu den schärfsten Mitteln greifen müßt, so ist das Unglück nicht so groß, als wenn man der Sach den Lauf läßt. Hier muß man mit der Katz durch den Bach.«
Der Chirurgus, der bis jetzt das Reden den andern überlassen und sich dadurch seine Meinung freibehalten hatte, räusperte sich und erwiderte: »Das ist gar kein Zweifel, Herr Vater, diese Liebschaft ist ein Übel, eine Art Geschwür, das man um keinen Preis aufkommen lassen und im Notfall mit Schneiden oder Brennen beseitigen müßte. Jedennoch möcht ich unmaßgeblich raten, nicht allsofort zum [] Äußersten zu schreiten, sondern erst gelindere und womöglich auflösende Mittel zu versuchen. Der Schwager ist zwar – hm, hm – kann's nicht in Abrede ziehen – er ist ein wenig ein Springinsfeld, aber er hat doch, mit Salvenia zu reden, kein so ungattiges Temperament, daß man gleich die Beinsäge bei ihm in Anwendung bringen muß. Ich schmeichle mir, bereits eine Arznei ausfindig gemacht zu haben, welche sich als probat erweisen dürfte. Für jetzt wäre es wohl nicht angemessen, den Herrn Vater länger mit dem faulen Handel zu behelligen, der, wie ich zu sagen mir erlauben muß, nicht zu ganz richtiger Zeit an ihn gebracht worden ist; denn bei Reden und Mitteilungen, insonderheit wenn ihnen etwas Bitteres beigemischt ist, sollte man, wie bei den Latwergen aus der Apotheke, immer die passende Stunde beobachten. Zur Essenszeit beigebracht aber kann eine unverhoffte und widrige Nachricht leicht eine Indigestion effektuieren, woraus dann, je nach Beschaffenheit der Leibeskonstitution, vielfache Infirmitäten fließen können. Aus diesem Grunde würde ich dem Herrn Vater raten, sich jetzo eine kleine Bewegung in der frischen Luft zu machen, damit die etwas gestörten Lebensgeister wieder erwecket werden. Was aber den Schwager anbelangt, so muß man ihn mehr wie einen Patienten, denn wie einen Delinquenten ansehen, und wenn man den rechten Punkt bei ihm trifft, so hoffe ich, er werde noch zu kurieren sein. Man muß ihn nicht ganz wegwerfen.«
»Ja«, setzte seine Frau mit einem Seitenblick auf[] die Krämerin hinzu, »und seine Schwestern sollten's doch nicht so leicht vergessen, wie er sich ihrer angenommen hat und ihnen immer ein guter Bruder gewesen ist.«
Die Sonnenwirtin hatte die anzüglichen Bemerkungen ihres abtrünnigen Tochtermannes mit einem giftigen Lächeln verschluckt und einen Blick mit dem Krämer zu wechseln versucht, der aber, in der Erkenntnis, daß er es aus zu großer Dienstbarkeit gegen die Schwiegermutter mit dem Schwiegervater verschüttet habe, die Augen verlegen zu Boden schlug. Als jedoch ihre Stieftochter daran zu erinnern wagte, daß Friedrich seine Schwestern gegen sie in Schutz genommen, fuhr sie auf. »So?« rief sie, »das soll ihm noch als eine Tugend angerechnet werden, daß er den häuslichen Frieden untergraben hat und Hader angestiftet und hat seine ruchlose Hand gegen seine Mutter aufgehoben? Und darob lobt man mir ihn ins Gesicht, wie wenn ich nicht die Frau im Haus mehr wär?«
»Still jetzt!« rief der Sonnenwirt auf den Tisch schlagend, »ich hab genug an dem Neujahrsschmaus, will nicht auch noch einen Nachtisch dazu!«
Die Familie ging mit einem sauren Abschied auseinander. Der Sonnenwirt lehnte eine Einladung des Krämers ziemlich trocken ab, nahm seinen Hut und schloß sich im Weggehen dem Chirurgen an, der ihn ins Freie zu begleiten versprach.
[] 11
Abends zur verabredeten Zeit traf Friedrich, mit Christinen zusammen. »Hat's was gegeben?« fragte er. Sie verneinte es. »Bei mir hat's schon eingeschlagen!« sagte er und erzählte ihr den Auftritt, den es über Mittag abgesetzt hatte, wobei er jedoch die grellen Farben desselben sehr zu mildern Sorge trug. Christine weinte und sagte: »Ich hab's wohl vorausgesehen, daß ich den Deinigen nicht recht sein werd. Ach Frieder, wie wird's mir gehen? Da liegen viel Berg und Täler dazwischen, bis wir zwei zusammenkommen.«
»Reut's dich?« fragte er. »Mich reut's nicht.«
»Solang du so gegen mich bist, wie jetzt, reut's mich auch nicht. Aber wir werden eben viel zu leiden haben miteinander, das gibt schon der Anfang. Es ist kein gut's Zeichen, daß es uns gleich am ersten Tag so hinderlich gehen muß. Ich möcht nur auch wissen, was für ein Neidhammel uns bei deiner Mutter verraten hat.«
»Das möcht ich auch herausbringen«, sagte er. »Hat dich vielleicht einer von den ledigen Buben gesehen gestern nacht, wie du den Brief ins Beckenhaus tragen hast?«
»Mit deinen ledigen Buben!« spottete sie. »Du meinst immer, das ganz ledig Mannsvolk sei hinter mir auf dem Strich.«
»Ich sag's nicht aus Eifersucht«, entgegnete er. »Aber es ist ja wohl möglich, daß dich einer auskundschaftet hat und hat dich vielleicht mit mir [] reden sehen. Du sagst ja selber, der Neid werd ihn getrieben haben.«
»Ich bin keinem begegnet«, sagte Christine, »und wenn mich je einer gesehen hätt, hätt er mich nicht erkannt, so flink bin ich gewesen. Nur einer fällt mir ein, der hat mir ins Gesicht gesehen und könnt mich möglicherweis erkannt haben. Den rechnet man aber kaum zu den ledigen Buben, und er wird dich nicht eifersüchtig machen. Der Fischerhanne ist's gewesen; der ist vor seinem Haus gestanden und hat, scheint's, auf das Schießen gehorcht, hat aber dabei geschnattert vor Kälte.«
»Der Fischerhanne!« rief Friedrich. »Jetzt weiß ich, wo ich dran bin. Der weißblütig Neidteufel hat mich von jeher verfolgt. Da ist gar kein Zweifel, der ist dir gestern nacht nachgeschlichen – wenn ihn nur der Mordschlag troffen hätt! – und hat auch heut meinem Gang nachgeforscht. Dem möcht ich jetzt für die zerbrochene Scheib eins von seinen Gesichtsfenstern ausstoßen oder ein Eck von seinem siebeneckigen Kopf wegschlagen.«
»Nein, du wilder, gewalttätiger Bub!« sagte Christine, »laß du ihn lieber in Frieden, sonst würdest nur aus Übel Ärger machen.«
»Es ist auch wahr«, erwiderte er. »Und zudem, seit du mein bist, ist mir's so wohl, daß ich der ganzen Welt in Fried und Freundschaft die Hand geben möcht. Ich muß mich eigentlich zwingen, dem Fischerhanne gram zu sein, wie er's ja doch verdient. Auch meinem Vater hab ich heut kein bös Wort geben können, wiewohl's nicht recht von ihm [] ist, daß er sich gegen unser Verhältnis hat einnehmen lassen und hat mich gar nicht anhören wollen.«
»Bleib du immer so«, sagte Christine, »und wie du lieb gegen mich bist, so sei's auch gegen deine Nebenmenschen. Wir müssen die Hindernisse, die man uns in den Weg wirft, durch Liebe zu überwinden suchen.«
»Aber dem Racker tu ich doch noch einmal einen Tuck«, bemerkte Friedrich. »Es gibt Menschen, mit denen man in Liebe und Güte nicht fertig wird, sonst fressen sie einen aufm Sauerkraut.«
»Du solltest eher auf das denken, wie du ihn gewinnst, damit er uns nicht weiter verschwätzt.«
»Dafür ist schon gesorgt: meine Frau Mutter hat zu verstehen gegeben, sie hab ihn abgefunden, damit er dem Pfarrer nichts zutrage. Der schreit schon, wenn einer am Sonntag eine Bettlad anstreicht. Wie würd er erst einen Lärm machen, wenn er erführe, was wir für einen Gottesdienst miteinander gehalten haben.«
»Red doch nicht so gottlos heraus!« unterbrach ihn Christine. »Es ist ja eine Sünd und eine Schand, wie du schwätzt!«
»Was? Wenn ein Bub sein Mädle in Arm nimmt, die unser Herrgott füreinander geschaffen hat? Da müßtest du ja Reu und Leid tragen für jeden Kuß, den du mir heut unter der Kirch geben hast!«
»Ach, Gott verzeih mir's! Ich hab dich eben so lieb, und darum hab ich's getan. Aber recht ist's [] doch nicht, und so davon zu reden, das ist sündlich.«
»Du Annemergele, du! Aber wir wollen nicht streiten. Komm, wollen lieber küssen.«
»Mein'twegen, die Kirch ist ja schon lang aus.«
Sie gingen, sich küssend und umschlingend, weit ins beschneite Feld, ohne dem Frost eine Gewalt über ihr Jugendfeuer zu gönnen; ja, sie warfen einander, wenn sie sich müde geküßt hatten, mit Schneeballen, und traf er sie mit einem gar zu derben Wurfe, so gab dies wieder Anlaß zu Söhnungsbitten und neuen Liebkosungen. Dazwischen zerstreute er ihre stets auftauchenden Besorgnisse wegen der Zukunft durch die bündigsten Versicherungen und Schwüre. Der Mond sank erblassend gegen Westen hinab, und die ersten Schauer der Morgenkälte wehten über die Flur, als sie sich endlich trennten. Immer später kam in den nächsten Nächten die abnehmende Sichel auf den Schauplatz, und immer noch traf sie das Paar und beleuchtete eine Glückseligkeit, die sich um die Welt nichts kümmerte. Wenn aber je Christine wieder zu sorgen und zu zagen begann, so wußte Friedrich sie zugleich zu necken und zu trösten. »Ich glaub, der Mut verfriert dir«, sagte er, »wir werden uns in der Hüterhütte bergen müssen. Sieh, du bist mein Weib vor Gott, ich werd nicht von dir lassen und nicht eher ruhen, bis du es auch vor den Menschen bist. Ich hab einmal gesagt: Ich will! und das Wollen in eigner Sach ist viel stärker, als das Nichtwollen in fremder Sach. Wenn ich eher den Kopf hergeb als meinen Willen und [] mein Herz, und das darfst mir zutrauen, so wird das Nichtwollen schon mürb werden. Merk dir nur eins und laß dir's gesagt sein: Will und Lieb, die stiehlt kein Dieb.«
12
Zu dem Gantverfahren, das der alte Sonnenwirt seinem Sohne angeraten hatte, schien er ihm volle Zeit und Muße verstatten zu wollen; denn er ließ ihn seine Tage und Nächte ungestört nach seinem Gutdünken hinbringen. Friedrich befolgte das Gebot seines Vaters, ihm nicht vors Angesicht zu kommen, buchstäblich, und obgleich seine Stiefmutter täglich über die gestörte Hausordnung seufzte, wenn er sich das Essen durch die Dienstboten auf seine Kammer bringen ließ, so wußte sie doch nichts dagegen einzuwenden, weil er sich auf den unmittelbaren Ausspruch des Familienoberhauptes berufen konnte. Dabei ließ er sich's jedoch angelegen sein, mit seinen Dienstverrichtungen immer da einzugreifen, wo er den Vater nicht gegenwärtig wußte. Die Nächte widmete er den Zusammenkünften mit seiner Geliebten, und da er mit allen Gängen und Schlichen vertraut war, so machte es ihm keine Schwierigkeit, beim Heimgehen wieder in das verschlossene Haus zu kommen. Es schien ihm beinahe, als ob sein Vater, nachdem er einmal seine Willensmeinung ausgesprochen, den Dingen ohne weiteres Einschreiten den Lauf lassen wollte.
Hierin täuschte er sich aber sehr. Der Sonnenwirt[] hatte, nach reiflicher Beratung mit dem Chirurgen, seinen Plan und Entschluß gefaßt, und wenn die Ausführung desselben sich gerade so lange verzögerte, um einen bereits gesponnenen Schicksalsfaden vollends unabänderlich zu befestigen, so war ja dies einer von den Fehlschlägen, welche die kurzsichtigen Ratschläge der Menschen so häufig treffen. Der Sonnenwirt wollte sichergehen und seinen Plan gründlich durchsetzen. Er schickte seine Frau, mit einem Brätchen aus der Metzig, ins Amthaus, um durch sie der Amtmännin zunächst mitteilen zu lassen, was er mit seinem Sohne vorhabe. Hierzu hatte er einen doppelten Grund. Einmal beanspruchte die Obrigkeit dieselbe unbedingte Gewalt über den Bürger, welche dieser über das Tun und Lassen seiner Kinder, selbst in ihren eigensten Angelegenheiten und noch im erwachsenen Alter, auszuüben sich berechtigt glaubte, und es wäre sehr übel vermerkt worden, wenn man in einem Hause auch nur eine Familiensache ins Werk zu setzen gewagt hätte, ohne sich vorher den Rat des gestrengen Herrn unter der Leitung seiner noch gestrengeren Frau zu erbitten oder ihnen wenigstens der äußeren Form nach die Ehre der Gutheißung zu lassen. Außerdem aber wollte der Sonnenwirt durch diese Unterwürfigkeit für den Fall, daß sein Sohn den Widerspenstigen machen würde, sich des amtlichen Beistandes versichern.
Die Amtmännin nahm das Geschenk und die Mitteilung der Sonnenwirtin mit Wohlgefallen auf. Sie gestand ihr offen, daß es ihr jedesmal übel werde,[] wenn sie den ungeschliffenen Flegel nur von weitem sehen müsse. Auch war sie der Ansicht, daß für die Ruhe des Fleckens nicht besser gesorgt werden könne als durch seine gänzliche Entfernung auf immer oder doch auf möglichst lange Zeit; denn, meinte sie, ein so gewalttätiger Mensch, der kein Gesetz achte, könnte am Ende, wenn nicht alles nach seinem Kopfe gehe, wohl noch imstande sein, Mord und Totschlag zu verüben oder gar den Leuten die Häuser über dem Kopfe anzuzünden. Sie verhehlte der Sonnenwirtin nicht, daß gar mancherlei über ihn gemurmelt werde. Man sage, er habe an Silvester nicht nur beinahe die ganze Nacht auf höchst gefährliche Weise im Flecken geschossen, sondern auch seinen Feinden einen Mordschlag gelegt, der so Menschen als Gebäuden einen erheblichen Schaden hätte bringen können; anderer Greueltaten zu geschweigen. Alles dieses werde mit leichten Stücken zu beweisen sein, sowie man ihm nur ernstlich zu Leibe gehen wolle, und das Amt halte also bereits wieder neue Blitze gegen ihn in der Hand. Es sei sonach eine wahre Wohltat für den ungeratenen Jungen, wenn man ihn diesen Blitzen noch zu rechter Zeit entziehe, und möge er dann fortbleiben oder, was sie zwar nicht hoffe, später geschult und gebessert zurückkehren, so sei jedenfalls die ›Sonne‹ vor dem Unglück behütet, durch eine so unanständige Heirat zu einem Pöbelwirtshause zu werden, aus welchem ehrbare Leute wegbleiben müßten. Die Sonnenwirtin stimmte allen ihren Reden aus mütterlichem Herzen bei und brachte dieselben, nachdem [] sie mit der Amtmännin viel darüber gespottet, welch eine Wirtin das Bauernmensch geben würde, freigebig mit Zusätzen vermehrt, ihrem Manne heim.
Nach dieser vorläufigen Verlässigung begab sich der Sonnenwirt mit dem Chirurgus zum Amtmann, dem er mit Hilfe des letzteren vortrug, er habe, wie dem Herrn Amtmann wohl bewußt sein werde, einen Sohn, der unerachtet aller väterlichen Bemühungen und trotzdem daß er viel Geld auf seine rechtliche und christliche Erziehung verwendet, bis jetzt nicht habe einschlagen wollen und ihm nun gar noch das Kreuz mache, in seiner Minderjährigkeit an eine ganz ungleiche Heirat mit einer Bauerntochter, die nichts sei und nichts habe, zu denken. Da nun das Sprichwort mit Recht sage: »Wohl aus den Augen, wohl aus dem Sinn«, so habe er sich resolviert, ihn in die Fremde zu schicken. Er habe in Frankfurt, oder vielmehr in Sachsenhausen, welches gleich daneben überm Mainstrom liege, einen leiblichen Bruder, der daselbst gleichfalls Wirt zur ›Sonne‹ und in jungen Jahren durch eine Glücksheirat mit einer Witwe in den Besitz derselben gekommen sei. Dem wolle er seinen Sohn zuschicken, in der Hoffnung, daß derselbe unter einem fremden Himmel und bei andern Leuten seine Torheit vergessen und sich vielleicht den Kopf auf eine zuträgliche Art verstoßen und die Hörner ablaufen werde. Er habe sich nun die Freiheit nehmen wollen zu fragen, was der Herr Amtmann von der Sache denke. Der Amtmann erwiderte, der Gedanke habe seinen ganzen Beifall, denn fremde Städte und fremde Menschen sehen,[] das putze den Kopf aus. »In dem Frankfort«, sagte er, »bin ich auch schon gewesen«, worauf der Sonnenwirt und der Chirurgus ihre untertänige Verwunderung ausdrückten, daß der Herr Amtmann schon so weit gereiset sei. Die Amtmännin, welche sich ungesäumt im Rate eingefunden hatte, sprach davon, wie wohltätig es überhaupt wäre, wenn man alle ungeschlachte junge Leute ein wenig in die weite Welt schicken könnte, um dort gehobelt zu werden. Als sodann der Sonnenwirt die Möglichkeit zur Sprache brachte, daß sein Sohn es etwa an der gewünschten Reiselust fehlen lassen könnte, hieß ihn der Amtmann ganz außer Sorgen sein, denn er werde jedenfalls mit seiner vollen Autorität dazwischen fahren und gedenke, mit einem jungen Trotz- und Querkopf schon noch fertig zu werden; er schreibe ohnehin heute noch einen Bericht über mehreres nach Göppingen und wolle in denselben einfließen lassen, daß der junge Mensch, der dem löblichen Oberamt auch schon mehr als billig zu schaffen gemacht, mit seiner Erlaubnis in die Fremde gehe.
Darauf empfahl sich der Sonnenwirt nebst seinem Schwiegersohne unter vielen Danksagungen und berief zu Hause sogleich seinen Sohn zu einer Unterredung in Ernst und Güte, nach welcher Friedrich mit väterlicher Einwilligung in das Haus des Hirschbauern ging, um von Christinen Abschied zu nehmen. Nur unter dieser Bedingung hatte er sich dem Willen seines Vaters gefügt. Bei dieser Fügsamkeit waren allerdings die Drohungen des Amtmanns, von [] welchen ihn sein Vater in Kenntnis zu setzen für geeignet befunden hatte, der natürlichen Gutmütigkeit seiner vom Glück der Liebe befriedigten und deshalb auch für die Mahnungen der Kindespflicht zugänglichen Seele zu Hilfe gekommen; aber keine Rücksicht hatte ihn zur Nachgiebigkeit gegen den Wunsch seines Vaters bewegen können, sogleich und ohne Abschied von Christinen abzureisen, und der Sonnenwirt war genötigt gewesen, von diesem Begehren abzustehen, wenn nicht sein ganzes Vorhaben daran scheitern sollte. Friedrich erklärte seinem Vater, daß er morgen früh vor Tag den Stab ergreifen wolle und sagte ihm deshalb auf der Stelle Lebewohl. Von der Stiefmutter nahm er keinen Abschied. Dagegen verabschiedete er sich freundlich vom Chirurgen, welchem er bei seiner Bewerbung und nachher seine Abneigung mehr als einmal in nicht gar feiner Weise gezeigt hatte und in welchem er nun einen gutgesinnten Schwager gefunden zu haben glaubte. Derselbe gestand ihm zwar nicht, daß er der Urheber dieser Trennung sei, in welcher er das auflösende Mittel erblickte, das er dem Sonnenwirt empfohlen hatte; doch sagte er ihm offen, er sei mit dem Entschlusse seines Vaters einverstanden und halte diese Reise für die beste Art, von einer Sache loszukommen, die nun eben einmal nicht sein könne, worauf Friedrich erwiderte, es sei ihm zwar leid, daß seine Standhaftigkeit auf diese Probe gesetzt werde, aber es freue ihn auch wieder, weil er hoffe, daß er die Probe bestehen werde. Der Chirurgus und seine Frau schüttelten über diese Erklärung [] den Kopf, ließen es aber hierbei bewenden, weil sie der jugendlichen Festigkeit in Durchführung gefaßter Vorsätze, vielleicht eigener Erfahrung zufolge, kein großes Vertrauen schenkten. »Wirst du auch den weiten Weg finden?« fragte Magdalene mit Tränen in den Augen. »Bis nach Heilbronn«, antwortete er düster lachend, »kenn ich ihn schon, und das wird ungefähr halbwegs sein.« Der Chirurgus holte mit Wichtigkeit eine Homannsche Karte des Deutschen Reiches, die er besaß, und demonstrierte ihm mit dem Zirkel, daß das noch nicht ganz den dritten Teil der Reise betrage. »Dann muß ich eben noch ein wenig weiter gehen«, sagte Friedrich, »das Frankfort wird ja nicht aus der Welt liegen; ich geh eben der Nas nach; und die Leut an dem Main da drunten werden die Nas auch grad überm Maul tragen, justement wie wir hie.« Dann schüttelte er seinen Verwandten die Hände und ging. Bei dem Schwager Krämer klopfte er nur im Vorübergehen ans Fenster und rief seiner Schwester einen kurzen Abschiedsgruß zu, lockte aber ihre Kinder eine Strecke weit mit sich und entließ sie geküßt und beschenkt.
Nachdem er diese gleichgültigeren Angelegenheiten abgetan hatte, trat er den schweren Gang zu Christinen an. Diesmal suchte er keine Nebengäßchen, sondern ging den geraden Weg bis ans Ende des Fleckens und sah dabei allen Begegnenden herzhaft und freundlich ins Gesicht. Als er aber die Treppe soweit unter sich hatte, um im Hinaufsteigen einen Blick durch das Fenster werfen zu können, stieß er [] einen Fluch aus, sprang den Rest der Stufen mit zwei Sätzen hinauf und stürzte wütend in die Stube, wo der alte Hirschbauer seine Tochter soeben an den Zöpfen ergriffen hatte und die Hand aufhob, sie zu schlagen. »Halt!« rief Friedrich, warf sich zwischen beide und riß die Tochter von dem Vater weg. »Wenn Euch Euer Leben lieb ist«, rief er, »so untersteht Euch nicht, ihr ein Haar zu krümmen! Mir allein kommt das Recht zu, sie zu schlagen, wenn sie etwa gefehlt hat.«
»Das könnt ich brauchen«, polterte der Hirschbauer, »daß mir einer meine Tochter verführt und noch dazu in meinem Haus den Meister spielen will. Weiß wohl, wo die Häglein niedrig sind, da drüber steigt man gern; aber mich soll Armut und Niedrigkeit nicht so weit bringen, daß ich Mutwillen mit mir und den Meinigen treiben lass.«
»Es ist von keinem Mutwillen die Red«, sagte Friedrich, »und ich bin kein Verführer. Ich will Eurer Tochter alle Ehr und alle Treu erweisen, und meine Absicht ist auf nichts anders gerichtet, denn daß wir als Ehleut zusammen kommen.«
»Und dazu geht man in die Fremde?« rief die Bäuerin mit zornigem Lachen. »Ja, ja, weit davon ist gut für 'n Schuß!«
»So, das ist auch schon ausgeschwätzt?« sagte Friedrich. »Wer hat Euch denn das hinterbracht?«
»Seine Mutter ist dagewesen«, erwiderte die Bäuerin, »Er braucht nichts zu leugnen.«
»Ich will auch nichts leugnen, begreif's aber wohl, daß Unsamen hier ausgestreut worden ist. Wahr [] ist's, daß ich gehen muß, weil mein Vater für jetzt nicht gut zu dieser Heirat sieht und weil er vielleicht meint, in einer andern Luft wachse mir auch gleich wieder ein anderer Kopf. Aber alles hat seine zwei Seiten. Mein Vater kann mir nichts befehlen, was für mein ganzes Leben gelten soll, denn über die Zukunft muß ich selber Herr sein, und sein Vater springt auch nicht mehr hinter ihm drein, um ihm die Fliegen abzuwehren oder ihn zu hüten, daß er den Fuß nirgends anstoßt. Aber wenn er mir jetzt in die Fremde zu gehen befiehlt, so gehorch ich ihm und glaub ihn auch damit besser herumzubringen als mit Ungehorsam und Trotz. Er wird dann schon sehen, daß ich in dem, was meine eigene Sach ist, mein Herz nicht ändere, und zuletzt wird er mit seinem einzigen Sohn ein Einsehen haben und wird uns zusammen lassen. Damit jedoch mein Schatz und die Ihrigen nicht an mir zweifeln, deswegen bin ich herkommen, um den Verspruch vor meinem Fortgehen richtig zu machen und mit euch darüber zu reden.«
Der Hirschbauer und sein Weib sahen einander an; diese Erklärung lautete ganz anders als das, was die Sonnenwirtin ihnen geringschätzig und spöttisch vorgesagt hatte, um sie gegen ihre Tochter und deren Liebhaber aufzureizen.
»Seine Mutter«, hob der Hirschbauer wieder an, »hat uns gesagt, daß Er mit leichtem Herzen fortgeh und selber froh sei, der Fessel wieder ledig zu werden. Und wenn nun das auch nicht so ist und Er andere Absichten hat, so wird Er mir doch nicht [] zumuten wollen, daß ich meine Tochter einer Familie aufdringen soll, die nichts von ihr wissen will.«
»Laßt das gut sein, Vetter«, sagte Friedrich. »Die Sach ist nicht mehr anders zu machen. Das Mädle will mich, und ich will sie; uns zwei reißt niemand mehr auseinander. Also handelt, wie ein rechtschaffener Vater an seinem Kind handeln soll, und tretet nicht auch noch zu unsern Feinden.«
Die beiden Alten eiferten und schalten heftig über diese eigenmächtige Art, eine Liebschaft anzufangen, und namentlich meinte die Hirschbäuerin, ihre Tochter hätte wohl eine Züchtigung dafür verdient. Auch beteuerte sie, sie habe nie daran gedacht, daß er darum in ihr Haus gekommen sei, um durch ein Liebesverhältnis mit ihrer Tochter seinen Eltern Verdruß zu machen, und wälzte jede Verantwortlichkeit dafür feierlich von sich ab. Allein ungeachtet des polternden Tones waren beide sichtbar besänftigt durch die Offenheit, mit welcher der junge Mann seine Gesinnung ausgesprochen hatte. Sie gaben sich jedoch Mühe, dies nicht merken zu lassen, und der Hirschbauer sagte: »Man spricht aus, daß Er so gewalttätig sei und daß man von Ihm nichts als Ungelegenheit haben werde; Er soll ja haben verlauten lassen, wenn Er Seinen Willen nicht durchsetze, so werde Er alles über einen Haufen stechen und den Flecken anzünden.«
»Das ist nicht wahr!« rief Friedrich entrüstet, »es ist kein solches Wort aus meinem Mund gangen. Wer hat das gesagt? Er soll sich stellen und mich überführen.«
[] Der Hirschbauer schwieg.
»Ich weiß schon«, fuhr Friedrich fort. »Meine Stiefmutter – Ihr müßt sie nicht meine Mutter heißen –, die sucht mich auszurotten, sie gönnt mir das Schwarze unterm Nagel nicht. Aber saget selber: wie stimmen ihre Reden zusammen? Wie kann sie denn behaupten, ich möcht über alle Berg und aus diesen Banden los sein, wenn sie hinwieder von mir sagt, ich sei auf meinen Willen so versessen, daß ich sengen und brennen woll, wenn ich Eure Tochter nicht krieg? – Ohne die hätt ich bei meinem Vater ein leichteres Spiel. Wenn meine Schwester und ihr Mann, der Chirurgus, nicht wären, so ging ich gar nicht fort, denn sie tät mich in meiner Abwesenheit vollends ganz untergraben, aber ich hoff, die zwei werden mich verteidigen.«
»Vielleicht«, sagte der Hirschbauer nach einigem Besinnen, »ließ sich ein Wort mit Seinem Herrn Schwager reden und auch mit dem Herrn Pfarrer. Wenn die beiden Herren etwas bei Seinem Vater ausrichten, so könnt man ja noch einmal von der Sach reden. Aber so, wie's jetzt steht, kann ich nicht nur so ohne weiteres meine Einwilligung geben, denn ich will mir nicht nachsagen lassen, daß ich mich mit den Meinigen in eine Familie eingedrungen hab, wo wir überlästig sind.«
»Redet mit dem Pfarrer und dem Chirurgus, wenn ich fort bin«, sagte Friedrich, »denn fort muß ich jedenfalls auf einige Zeit, das tut mein Vater nicht anders. Und füget mir's dann zu wissen, wie die Unterredung ausgefallen ist. Jetzt aber bin ich die [] längst Zeit dagewesen, und Ihr werdet es nicht anders als billig finden, daß ich von meinem Schatz unter vier Augen Abschied nehm, denn mein Schatz ist und bleibt sie, und wenn der Himmel einfällt. Nun behüt euch Gott, Vetter und Bas, und geb, daß ich bald Schwährvater und Schwieger zu euch sagen kann. Haltet mir mein' Schatz gut; ich will nicht, daß sie euch zur Last fallen soll, und werd das Kostgeld für sie bezahlen, solang sie bei euch im Haus ist, denn ich seh sie als mein Eigentum an und will sie bei euch eingestellt haben wie das Lamm, das ihr gehört.« – Hiermit legte er lachend einen guten Teil des Reisegeldes, das ihm sein Vater gegeben hatte, auf den Tisch; denn er hatte unter dem Reden wahrgenommen, daß sich die zerbrochene Scheibe noch in. dem Zustande, wie sie von Christinen verstopft worden war, befand, und daraus den Schluß gezogen, daß die Armut der Leute nicht einmal gestattet habe, den Glaser zu holen. »Ihr zwei aber«, sagte er zu den beiden Söhnen, die ebenfalls in der Stube anwesend waren, sich aber sowenig wie Christine ins Gespräch mischten, »ihr zwei kommt in einer Stunde ins Beckenhaus, wir müssen den Abend noch einen Abschiedstrunk miteinander tun.«
Er gab dem Bauer und der Bäuerin die Hand zum Lebewohl, und sie ließen es schweigend geschehen, daß er sein Mädchen am Arme nahm und mit sich aus der Stube zog. Ein Seufzer der Bäuerin, den man verschieden auslegen konnte, und ein Kopfschütteln des Bauern, das schon nicht so viele Deutungen [] zuließ, war alles, was nach seinem Weggehen geäußert wurde.
Christine fiel ihm draußen laut weinend um den Hals. »Wenn mich nur mein Vater geschlagen hätt«, schluchzte sie, »vielleicht wär mir's leichter geworden. Sieh, es hat mir Stich auf Stich durchs Herz geben, wie ich gehört hab, daß du fortgehst; mein Herz hat sich ganz zusammengezogen, und seitdem tut mir's fortwährend weh. Ach Gott, was soll aus mir werden, wenn ich dich nicht mehr hab!«
»Mach mir das Herz nicht schwer«, sagte er. »Sieh, es ist mir ja schrecklich, daß ich von dir gehen muß, aber es kann nicht anders sein, und ich bin bei dir und du bei mir, wo ich auch sein mag in der Welt. Es ist wohl weit weg, aber doch nicht so gar weit, daß wir nicht einander schreiben oder sogar zueinander kommen könnten, wenn's nottut. Denk dir alle Möglichkeiten der Reih nach, so muß es uns doch zuletzt nach Wunsch und Willen gehen. Entweder gibt mein Vater nach, wenn er unsere Beständigkeit sieht, dann ist ja alles recht und gut; oder wir müssen warten, bis er das Zeitliche segnet, dann ist's zwar schlimm, aber doch besser als gar nichts; oder er verstoßt mich, wenn er mir den Sinn nicht brechen kann, dann kann er mir aber auch nichts mehr verbieten, und heißt's eben: Mann, nimm deine Hau, ernähr deine Frau; oder find ich vielleicht in der Fremde bei meinem Vatersbruder oder sonstwo eine Heimat, man kann ja nicht wissen, wie's geht in der Welt, dann laß ich dich nachkommen; wenn's vielleicht fürs erst nur ein Dienst [] wär, den ich dir da drunten verschaffen könnt, so wären wir doch näher beieinander und könnten's nach und nach weiterbringen. Kurzum, ich mag mir ausdenken, was ich will, das End vom Lied ist eben immer, daß wir Mann und Weib werden.«
»Ja, aber da drunten gibt's gewiß schöne Jungfern, die mich bei dir ausstechen.«
»Sorg du nicht für mich, hab du vielmehr acht, daß du mich nicht von den Ebersbacher Buben aus deinem Herzen vertreiben läßt.«
»Ei, so laß doch endlich das Geschwätz mit den Buben sein!« sagte sie schmollend.
»Was dir recht ist, muß mir billig sein«, erwiderte er. »Such du mich nicht hinterm Ofen, dann guck ich auch nicht, ob du dahinter steckst. Jetzt laß uns aber die letzten Stunden nicht mit Zank und Trutz verderben, es ist ja doch keinem von uns beiden Ernst damit.«
Nachdem sie noch längere Zeit in solchen Wechselreden verbracht, sagte Friedrich: »Ich muß jetzt gehen, ich hab noch Geschäfte mit meinem Pfleger. Ich nehm aber jetzt nicht Abschied von dir, denn ich tu's nicht anders, ich komm heut zu dir in deine Kammer, nachdem's jetzt mit deinen Eltern so gut wie richtig ist.«
»Sei aber vorsichtig«, sagte sie, »und mach kein Geräusch, sonst könntest bald sehen, daß es nicht so richtig ist, wie du meinst.«
»Hab du keine Angst«, erwiderte er.
Er begab sich zu seinem Vormund, einem im Flecken angesehenen Ratsherrn, um ihm einen Abschiedsbesuch [] zu machen und zugleich aus seinem mütterlichen Vermögen einen Zuschuß zu seinen Reisemitteln zu verlangen, welche soeben einen beträchtlichen Ausfall erlitten hatten. Der Vormund aber schlug ihm sein Ansinnen rundweg ab; er wußte ihm haarklein vorzurechnen, was er von seinem Vater zu Weihnachten und was er heute von ihm als Reisegeld erhalten habe, schärfte ihm die Tugend der Sparsamkeit ein, machte ihm derbe Vorwürfe über die dumme Liebschaft, die ihn aus dem Vaterhause treibe, und ermahnte ihn schließlich, sein Hab und Gut nicht »an Menscher zu hängen«. »Ich wär nicht zu Ihm gekommen, wenn ich nicht Geld braucht hätt!« sagte Friedrich und wetterte im Fortgehen die Türe hinter sich zu. Mit tausend Verwünschungen kehrte er dem Hause des Vormundes den Rücken und sagte dann zu sich: »Ich darf mich wohl zusammennehmen, wenn ich bis zu meinem Ziel kommen soll, ohne unterwegs zu betteln oder zu stehlen; und zu meinem Vetter sollt ich doch wenigstens auch noch ein paar Batzen mitbringen, sonst ist's ja eine Schand; und meiner Christine muß ich doch auch was schicken, denn leerer Gruß geht barfuß. Der Teufel hol den Hornabsäger, den Kümmichspalter, der mir mein eigen Geld vorenthält. Ich darf, weiß Gott, auf dem Weg kein einzigmal was Warms essen, wenn ich mit meinem Zehrpfennig langen soll.«
Er ließ aber im Bäckerhause nichts von seiner Verlegenheit merken, sondern plauderte treuherziger und fröhlicher, als es ihm eigentlich um das Herz [] war, mit seinen Schwägern, wie er sie offen vor den Leuten nannte, und als die Bäckerin teilnehmend bemerkte, sie sei nur noch begierig, was diese Geschichte für ein Ende nehmen werde, die sich in ihrem Haus angesponnen habe, rief er leichtfertig lachend: »Das wird eine schöne Eh geben, wo der Mann die Häfen verbricht und das Weib die Schüsseln!«
Lachend gingen seine Gesellen mit ihm fort. Auf dem Wege eröffnete er ihnen, daß er diese Nacht in ihrem Hause bei ihrer Schwester zuzubringen gesonnen sei. Sie fanden das in der Ordnung und ließen ihn mit sich ein.
13
»Und nun den letzten Kuß!« sagte Friedrich, als kaum der Morgen graute. »Das Scheiden und Meiden ist ein schlechtes Handwerk, und der bös Gott woll's dem behüten, dem's zuerst eingefallen ist, aber es muß nun einmal sein.«
»Wenn ich nicht Sorg hätte, mein Vater oder Mutter könnt aufwachen, so ließ ich dich noch nicht fort«, sagte Christine, unwillkürlich seinen Arm umklammernd. »Es hat sich ja noch nicht einmal ein Hahnenschrei hören lassen.«
»Sie werden bald krähen, und dann währt's nicht lang mehr, so wird's lebendig im Ort, und ich kann nicht mehr unbeschrien fortkommen, was mir unlieb wär, weil ich des Geschwätzes mit den Leuten [] überdrüssig bin und nicht jedem auf die Nas binden mag, warum ich in die Fremde soll. Fort muß ich ja doch einmal, und so ist's eins, ob wir den bittern Kelch jetzt trinken, oder ein wenig später. Denk dir, wir seien verheiratet, was wir ja auch eigentlich sind, und ich müss verreisen auf längere Zeit. Wie mancher hat schon von Weib und Kind weg in Krieg müssen und ist gar nicht wiederkommen.«
»Wann wirst auch du wieder zu mir kommen?« seufzte Christine.
»Am Sankt Nimmerlestag, wo die Eulen bocken. Frag nicht so schäckig, weißt ja doch selber wohl, daß ich komm, wenn ich kann und darf. Soll ich dir denn alles wieder herleiern, was ich dir gesagt hab und worauf unsre Hoffnung steht? Ich müßt mich ja heiser predigen.«
Christine schluchzte überlaut. »Mein Herz sagt mir, wir sehen einander nie wieder, und ich werd in Schand und Not verlassen sein.«
»Und mir sagt das mein das Gegenteil. Welches hat nun recht? Da bleibt nichts übrig, als daß wir die zwei Herzen gegeneinander wetten. Gib acht, auf die Art kannst keinsfalls in Nachteil kommen. Gewinn ich's, so sehen wir uns wieder; wenn ich aber die Wett verlier, so bleibt dir doch mein Herz, und dann kannst auch nie verlassen sein.«
»An dir ist ein Advokat verloren gangen«, sagte Christine, »du machst, daß ich in all meinem Jammer wieder lachen muß.«
»Zieh du dein Herz besser«, erwiderte er, »dann wird's dir auch bessere Reden geben. Und wenn du[] nicht aufhörst, mich betrübt zu machen, so geh ich hinunter und verklag dich bei deiner Mutter.«
»O Jemine!« rief Christine kichernd, »die tät mir das Fell schön vergerben!«
»Jetzt aber genug«, versetzte er. »Alles hat seine Zeit, sagt Jesus Sirach, und alles muß ein End haben, sag ich. Lachen und Weinen, Reden und Küssen, alles hat sein gesetztes Maß und Ziel, und wenn ich jetzt nicht endlich von dir geh, so kann ich ja auch nicht wieder zu dir kommen. Also b'hüt dich Gott, herztausiger Schatz!«
»Wart noch ein wenig!« sagte sie. »Wir müssen erst noch einen Denkzettel voneinander haben. Hast dein Messer nicht bei dir?«
»Willst mich abschlachten und einsalzen, daß ich gleich ganz bei dir bleib?«
»Nein. Ich hab vor etlich Wochen im Karz gehört, wie man's machen muß, wenn eins dem andern aus der Ferne ein Zeichen geben will, daß man aneinander denkt. Komm, streif dein linken Arm auf.«
Er entblößte den Arm. Sie machte ihm mit dem Messer eine kleine Wunde daran und sagte: »Jetzt laß mir geschwind an meinem Goldfinger ein wenig Blut heraus.«
»Das kann ich nicht«, sagte er, »ich kann dir nicht weh tun.«
»Es ist kein Wehe so groß als Herzeleid, sagt dein Jesus Sirach«, erwiderte sie. »Wenn du aber nicht willst, so muß ich's eben selber tun.« Sie tat's und tropfte ihm ihr Blut in seine Wunde, die sie alsbald[] sorgfältig verband. Dann ritzte sie sich gleicherweise an ihrem linken Arm, gab ihm das Messer und sagte: »Gib mir auch Blut von deinem Goldfinger – mach's aber nicht so arg, sei doch nicht so grob gegen dich, ein paar Tropfen sind genug.« Nachdem sie sich sein Blut angeeignet, verband sie gleichfalls eilig ihren Arm.
»Jetzt sind wir ja ganz blutsverwandt«, bemerkte er.
»Das ist's nicht allein«, erwiderte sie. »Wenn's wieder verheilt ist, so brauch ich nur mit der Nadel drin zu stüren, dann gibt's dir einen Stich in Arm, da, wo du mein Blut drein empfangen hast, und ebenso umgekehrt, wenn ich einen Stich da spür in meinem Arm, so weiß ich, daß du mir an dem deinigen ein Zeichen gibst, und seh daraus, daß mein Schatz in dem Augenblick an mich denkt.«
Er lachte. »So lang die Narben frisch sind«, sagte er, »mag's wohl sein, daß sie hie und da ein wenig stechen. Aber ich werd auch ohne das oft genug an dich denken.«
»Wenn's nun aber sein muß«, versetzte Christine, »so mach in Gottes Namen, daß du fortkommst, und geh recht leis mein Katzenstiegele hinunter, damit niemand im Haus aufwacht.«
Sie herzten und küßten einander, daß Friedrichs Ausspruch, »alles müsse ein Ende haben«, beinahe darüber zuschanden geworden wäre, und nachdem er manchen vergeblichen Versuch gemacht, den Strom ihrer Tränen durch Abtrocknen zu hemmen, schlich er so leise, daß man kein Geräusch hören konnte, die schmale steile Treppe hinab und kam mit Hilfe [] des hölzernen Riegels, der anstatt eines Schlosses diente, leicht durch die hintere Türe aus dem Haus.
Nachdem er sich noch mehrmals umgekehrt und manchen Blick nach dem Schauplatze seines Glückes zurückgesendet hatte, ging er der Sonne zu, um sein Reisebündel zu holen. Alles schlief noch; ungehört betrat und verließ er sein väterliches Haus. Aber auch von diesem, so wenig Gutes er in letzter Zeit daselbst erlebt zu haben meinte, fühlte er sich noch eine geraume Weile festgehalten und starrte mit feuchten Augen nach den Fenstern hinauf, hinter welchen seine Mutter ihn geboren und mit so unendlicher Liebe aufgezogen hatte, hinter welchen der Mann waltete, der doch immer sein Vater war. Sein rauhes Herz war von einer unsäglichen Wehmut ergriffen, in welcher die innerste Seele des Volksstammes, dem er angehörte, sich spiegelte. Der Schwabe, obgleich er eines der unstätesten Völker ist und vielleicht sogar seinen Namen vom Schweben und Schweifen hat, ist doch darum dem Heimtum nicht minder als dem Wandertriebe verfallen. Während viele jahraus, jahrein entlegene Länder durchziehen, kleben andere an ihrer Heimstätte fest, als ob sie mit ihr verwachsen wären, – ja, man erzählt von einer alten Frau, die in Tübingen auf der Ammerseite wohnte, sie habe nie in ihrem Leben den Neckar gesehen –, und selbst von jenen reißt sich mancher erst nach vergeblichen Versuchen und nur um den Preis des bittersten Heimwehs von der heimischen Scholle los, mag aber auch freilich, wenn einmal das Heimweh überwunden ist, an sich erleben, [] daß die Heimat, die er nicht entbehren zu können glaubte, jahrelang fern und tot und seinem Herzen etwas Fremdes hinter ihm liegt. Doch wird es kaum einen geben, den nicht wenigstens im Alter wieder die Sehnsucht nach den heimischen Bergen, Tälern und Gewässern befinge. Freilich werden diese widersprechenden Triebe der Wanderlust und der Heimseligkeit, die bei dem Schwaben nur mit besonderer Stärke hervortreten, in jedem Menschenschlage wahrzunehmen sein.
Friedrich wischte sich die Augen mit der Hand aus, stieß seinen Wanderstecken hart auf den Boden und ging in entschlossenem Reiseschritt die Straße hinab; da räusperte sich jemand über ihm, und eine Stimme rief: »Wo naus schon, Frieder, wo naus?«
Er blickte ärgerlich in die Höhe und erkannte seinen Invaliden, der nach der Weise alter Leute nicht lange schlafen konnte und zu dieser frühen Stunde aus seinem Ausgedingstübchen zum Fenster heraussah. »In die Fremde«, antwortete er, einen mutigen Ton in seine Stimme legend.
»Weiß schon«, erwiderte der Invalide, »und weiß eigentlich auch, warum.«
»Ja freilich!« entgegnete Friedrich lachend, »es gibt kein Warum, das nicht auch sein Darum hätt. Übrigens sagt man: die Fremde macht Leut.«
»Ich streit's nicht. Wer nie hinauskommt, kommt auch nie hinein. Und was das Heimweh betrifft, so hat selbiger Schwab in der Fremde gesagt: ›Schwaben ist ein gut Land, ich will aber nit wieder heim: grob Brot, dünn Bier und große Stunden!‹« [] Friedrich lachte und schlug ein paarmal mit dem Stab in die hart gefrorne Schneebahn; dann machte er eine Bewegung, um seinen Weg fortzusetzen.
»Er hat aber doch 'n kuriosen Zwilch an Seinem Kittel«, hob der Invalide wieder an. »Läßt sich da um ein Weibsbild von Haus und Hof fortschicken. Ist sie denn auch soviel wert?«
Friedrich schwang den Stecken um seinen Kopf, daß es durch die scharfe Morgenluft pfiff. »Profos«, sagte er, »wenn ich Euch gut zum Rat bin, so redet mit mehr Respekt von ihr, denn ich versteh kein' Spaß in dem Punkt. Oder könnt Ihr vielleicht etwas von ihr sagen, das nicht recht wär?«
»Das kann ich nicht und will's auch nicht«, erwiderte der Invalide. »Nun nicht so hitzig! Das Mädle kann brav sein, ich will ihr gar nichts tun, aber darum fragt sich's doch noch zehnmal, ob sie zu Ihm taugt. In meinen jungen Jahren, ach, was hab ich mich nicht verleiden müssen um mein Weib, bis ich sie gehabt hab, und nachher, wiewohl ich nichts weniger als schlecht mit ihr gehauset hab, hab ich oft denken müssen, ich hätt grad ebensogut eine andere nehmen können. Wenn man einander einmal innen und außen kennt, dann sieht man erst ein, daß man nicht bloß für die Kürze, sondern auch für die Länge hätt sorgen und auf das und jenes hätt sehen sollen, was nicht bloß in die Augen sticht; denn die Schönheit vergeht und die Jugend mit, und das Leben ist oft so gar lang.«
[] »Aber das Sprichwort sagt doch: Frühe Hochzeit, lange Liebe.«
»Das Sprichwort hat nicht immer recht, sonderlich je nachdem die Hochzeit gewesen ist.«
Friedrich grub nachdenklich mit dem Stecken im Schnee.
»Wenn ich Er wär«, fuhr der Invalide fort, »so würd ich da draußen die Zeit und die Vernunft walten lassen und meinem Vater nachgeben; auch blieb ich nicht zu lang in der Fremde, denn viel Rutschen macht böse Hosen, das sieht Er an meinem Fuß.«
»Ihr, ein alter Soldat, werdet mir doch nicht zumuten, daß ich mein Wort breche?« fuhr Friedrich auf. »Ich hab mich mit heiligen Eiden verschworen, und dabei bleibt's.«
»Wenn's so steht«, erwiderte der Invalide, »so will ich weiter nichts gesagt haben als: 's wär eben gut, wenn alle junge Leut könnten vor alt werden, eh sie jung würden.«
»Das mag sein«, entgegnete Friedrich, »weil's aber unser Herrgott anders hat haben wollen, so kann ich nicht wider ihn streiten und muß eben der Natur ihren Lauf lassen.«
Damit verabschiedete er sich von dem Invaliden, der ihm noch lange voll Teilnahme nachsah, wie er ausschritt und der Schnee unter seinen kräftigen Tritten krachte.
Er hatte die letzten Häuser hinter sich und meinte nun recht einsam in die Welt hinauszuwandern, als ihn auf einmal ein Wurf, nicht ganz sanft, an die[] Schulter traf, daß der Schnee ihm am Gesicht vorüberstäubte. Er kehrte sich zornig um; da war es Christine, die ihn geworfen hatte.
»Ei!« rief er, »ich hätt gute Lust, mit dir zu zanken. Ich hab geglaubt, du stecktest tief im warmen Nest, und jetzt laufst hinter mir drein, erkältest dich und verbitterst mir das Scheiden noch einmal.«
»Schiltst schon wieder auf mein Geläuf?« sagte sie, sich an seinen Arm hängend. »Sei ruhig, ich kann nicht mehr weinen, die Kälte treibt mir die Tränen zurück. Ich werd doch auch mein' Schatz noch ein wenig begleiten dürfen.«
»Ein paar Schritt mein'twegen. Dann aber machst links um und läßt mich ›in den Schutz Gottes befohlen sein‹.«
»Du Spottvogel! Ja, erst noch will ich dich in unsers Herrgotts Schutz empfehlen und all Stund für dich beten, daß dir's gehen mög wie dem Handwerksburschen, der in der Fremde so wunderbar behütet worden ist.«
»Wie ist denn das gewesen?«
»Hast nie was davon gehört? Mir ist's einmal im Karz erzählt worden. Ein Handwerksbursch ist, weit von seiner Heimat weg, abends spät in eine fremde Stadt kommen und hat nach der Herberg gefragt. Er ist arg müd gewesen, und in den vielen krummen und buckligen Gassen hat er sich auch noch die Füß auf dem Pflaster verstoßen müssen. Gelt? Ach Gott, so wird's dir auch gehen auf deiner Wanderschaft.«
»Mach nur fort.«
[] »Bis er zur Herberg kommen ist, ist's schon ganz Nacht gewesen. Wie er nun durch den finstern Hausgang an der Wand hintappt, da kommt plötzlich etwas wie ein starker Mann über ihn her und packt ihn fest um den Leib –«
»Donnerwetter!« unterbrach er sie, »da hätt ich aber dreingeschlagen!«
»Nein! Wart nur, 's kommt ganz anders, du G'walttätle du! Der Handwerksbursch hat vielleicht auch geflucht oder wenigstens im Schrecken einen Laut von sich geben; denn auf einmal sieht er einen Lichtschein vor sich in der Tiefe, und eine Stimme ruft von unten herauf: ›Um Jesu Christi willen, gehet keinen Schritt weiter oder Ihr seid des Todes!‹ Wie nun das Licht näher kommen ist, da hat er erst gesehen, daß er vor der Kelleröffnung steht, und tief unter ihm steht der Wirt mit dem Licht in der Hand und heißt ihn warten, bis er heraufkomme und die Falltür zumache. Drauf hat er sich umgesehen nach dem Freund, der ihn vor dem jähen Sturz bewahrt hat, aber da ist niemand weit und breit gewesen. Wer kann's also anders gewesen sein als der Engel, der ihn zu seinem Schutz begleitet hat? Sieh, und einem solchen Engel möcht ich dich auch anempfohlen haben, daß er keinmal von dir wiche und ließe dir kein Leid geschehen.«
»Wie der, der mit dem jungen Tobias auf die Wanderschaft gangen ist? Ich ließ mir's auch gefallen, wenn du der Engel wärst.«
»Ach, wenn ich mit dir könnt! Ich wollt gewiß nie über Müdigkeit klagen.«
[] »Das wär ein lustig's Reisen und ein tröstlicher Reis'kamerad. Aber –
»Oh, wenn ich dran denk«, rief Christine, von einem plötzlichen Schauer ergriffen, »daß ich dich nimmer säh – und alles, was dann über mich käm –, ich tät mir einen Tod an.«
»Wie meine Schwester? Die hat auch gesagt, sie spring in die Fils, und den Tag drauf hat sie meinen Schwager genommen. Damit jedoch die arm Seel Ruh hat, will ich dir jeden Trost und jede Hoffnung und jeden Schwur, alles von A bis Z noch einmal runtersagen.« Nachdem er dies unter wiederholten Liebkosungen getan, schob er sie sanft einige Schritte in rückwärtsgekehrter Richtung auf der Straße fort und sagte dann: »Jetzt tu mir's zulieb und sieh dich nicht mehr um; ich will mich auch nicht mehr umsehen.«
Er wandte sich und schlug rasch seinen kräftigen Wanderschritt wieder an. Kaum hatte er sich ein wenig entfernt, so rief sie: »Frieder, nur noch ein einzigen Blick!«
Er blieb stehen.
»Nur noch ein einzig's Wort!« rief sie. »Will und Lieb, die stiehlt kein Dieb. Nicht wahr?«
»Ja, lieb's Weible«, antwortete er. »Will und Lieb, die stiehlt kein Dieb. Jetzt aber geh heim. Der Morgen kommt, es wird empfindlich kalt. Willst [] gleich machen, daß da fortkommst?« wiederholte er und bückte sich, als ob er den harten Schnee zu einem Wurfe ballen wollte.
Sie lief lachend eine Strecke weit davon. Als sie haltmachte und sich nach ihm umsehen wollte, war er schon hinter der nächsten Biegung der Straße verschwunden, und schluchzend deckte sie die Augen mit der Schürze zu.
14
Selten wohl hat ein deutscher Hausknecht dem Fürsten Reichserbpostmeister in so kurzer Zeit soviel zu verdienen gegeben als der junge Schwabe, der in der ›Sonne‹ zu Sachsenhausen eingetreten war. In Ebersbach fragte man sich noch, ob er jetzt wohl sein Reiseziel erreicht haben werde, da kam schon ein Brief von ihm »An die ehrbare und bescheidene Jungfer Christina Müllerin, in beliebigen Händen zu eröffnen, in Ebersbach, cito, cito, franco.« Der Brief lautet so: »Gott zum Gruß und Jesum zum Beistand. Hertzgeliebter Schatz, ich muß Dich mit einem betrübten Hertzen beschreiben, und diese Zeilen werden Dich, wie ich in meinem Hertzen glaub, betrübet antreffen. So will ich Dein Hertz erleichtern und Dich mit ernsthaftem Hertzen berichten: Liebe Christina, glaube Du, daß mein Hertz nicht wanckhen wird und Dir noch jederzeit treu verbleiben, so lang noch Gott eine Ader in meinem Leib laßt. Wann Du andere Buben entlaßst und Dich ihrer entläßst, und ich erfahre, daß Du Dich so [] haltst, wie es einem braven Menschen gehört, so soll mir keine Andere mehr an meine Seite kommen. Ich wollt Dir gern was schicken, ich forcht, Du möchtest in dem Eberspächer Markt zu dem Tanz gehen und Dich mit Einem einlassen; so will ich jetzt Dir noch nichts schicken, sondern auf Deine Aufführung warten. Wann Du Dich hältst, so will ich Deiner nicht vergessen und Dich auch nicht lassen. Solltest Du Dir Dein Leben verkürzen, wie Du gesagt hast, so schreibe ich mich aus der Schuld und gib es Dir und den Deinigen über. Was ich gesagt hab, das halt ich Dir und laß Dir Deinen Willen. Ich wünsche, daß Gott der Allmächtige Dein Hertz regiere, und führe Dich zu allem Guten, und gebe Dir Glück und Segen, und regiere Dein Hertz, daß es nicht fallen noch irr gehen kann. Das wünsch ich Dir aus getreuem Hertzen. Noch Eins: Ich verlange eine Nachricht von Dir. Ich will Dir die Überschrift sagen, wie Du an mich schreiben sollst. Weiter kann ich Dir nicht schreiben, als Du sollst mir nicht übel nehmen, weil ich so s–mäßig geschrieben hab. Die Nacht ist mir auf den Halß gekommen, und vor Betrübnus hats nicht sein können. Du und die Deinige seynd tausendmal gegrüßt und in den Schutz Gottes befohlen, und bleibe Dir getreu bis in den Tod. Joh. Fr. Schwan. – Dieser Brief zukomme an Joh. Friedrich Schwahn, Hausknecht bei der ›Sonne‹ in Sachsenhausen bei Frankfort a.M.«
Noch ehe Christine sich zu dem großen Unternehmen entschließen konnte, einen Brief von der Fils nach dem Main zu schreiben, der doch auch die Postgebühr [] durch seine Länge rechtfertigen mußte, oder ehe sie vielleicht den Unmut ganz überwunden hatte, den ihr ohne Zweifel das fortgesetzte Mißtrauen in ihre Treue verursachte, schickte er einen zweiten Brief, zwar kürzer als der erste, aber dafür um so zärtlicher und leidenschaftlicher, auch obendrein von einem Geschenke begleitet, aus welchem sie bei einigem Nachdenken schließen konnte, daß er über ihre »Aufführung« an dem gefürchteten Markttage, den erst die nächste Woche brachte, schwerlich so unruhig war, als er sich gestellt hatte, um, freilich nicht eben unter einem feingewählten Vorwande, den bekannten Zustand seiner Barschaft zu verbergen, den er in seinem ersten Briefe einzugestehen sich geschämt hatte und der sich seitdem in etwas gebessert haben mochte.
In diesem zweiten Briefe schrieb er: »Gottes Segen zum Gruß und Jesum zum Beistand. Hertzgeliebter Schatz, hertzgeliebte Christina, ich kann es nicht unterlassen, vor lauter Sorgen und Bekümmernus und Gedanken Dich zu beschreiben, und ich kann Tag und Nacht nicht ruhen, bis ich eine Antwort von Dir hab. Bitte Dich um Gotteswillen, schreibe Du mir, wie es Dir geht und wie es mit Dir sey. Ich kann Tag und Nacht nicht ruhen vor lauter Seuftzen und Sorgen. Wann Du mir etwas zu melden hast, so schreib mir es gleich, ich will Dich nicht verlassen so lang ich leb. Übrigens schick ich Dir hier einen kleinen Gruß; wann Du mir schreiben tust, so will ich Dir ein Mehreres schicken. Ich hab nicht Zeit, Dir mein gantzes, mein gantzes Hertz [] zu schreiben; ich will Dich berichten, wann Du mir wieder schreibst. Brich den Brief an Deinen Vater auf. Du bist tausendmal grüßt. Ich verbleibe Dein getreuer Schatz bis in den Tod.«
Der eingelegte Brief an den alten Hirschbauer, den sie lesen sollte, erhielt Versicherungen seiner unwandelbaren Gesinnung, wie folgt: »An meinen Vetter Müller. Ich kann nicht unterlassen, an Euch zu schreiben, weilen Er so viele Müh an sich genommen und unterschiedliche Sachen wegen Seiner Tochter Namens Christina mit mir geredt hat: so will ich Ihm redlich schreiben wie ichs gegen ihr meine, daß ich keine Andre mehr begehre als sie, und ich sobald ihrer nicht vergessen kann. Wann es seyn kann, wie Er mit mir geredt hat, daß Er mit dem H. Pfarrer und mit dem Chirurgus reden könnt, daß man uns zahmen (zusammen) lassen will, so bin ich gleich resolvirt, sie zu nehmen, denn so leicht kann ich Sie nicht lassen, und Sie mich nicht. Ich lasse auch mein Leben, eh ich sie entlassen oder verlassen will: so bitte ich Ihn nur herzlich, die Christina ein halb Jahr bei ihm zu behalten.«
Auch der Invalide erhielt einen Brief »in beliebigen Händen zu eröffnen«, welcher seine Zweifel wegen des Verhältnisses zu Christinen nicht sowohl widerlegen als einfach in folgenden Schlußworten niederschlagen sollte: »– So lang ich einen Blutstropfen im Leib hab, so will ich mich ihrer annehmen. Hiemit will ich beschließen und schließe Euch in die Vorsorg Gottes.«
[] Der Hirschbauer sagte nach dem Empfang seines Briefes zu der glücklichen Christine: »Er hat doch ein beständiges Gemüt. Ich wollt's dir ja gern gönnen, daß ihr zusammen kämet, aber ich besorg mich eben, wenn er seinem Vater merken läßt, wie es ihm ums Herz ist, so läßt ihn der nicht zurück. Ich will jetzt doch einmal ins Pfarrhaus gehen, oder vielleicht noch lieber vorher zum Chirurgus. Ich weiß nicht, wo ich zuerst hin soll.« – Christine wußte es auch nicht. Ihre Gedanken waren allein darauf gerichtet, wie sie es angreifen solle, um einen recht großen Brief zu schreiben, mit dem ihr Schatz zufrieden sein müßte, obgleich sie ihn darin für seinen unmanierlichen Argwohn recht heruntermachen wollte. Sie dachte aber, sie wolle erst den Markttag vorübergehen lassen, um ihm dann schreiben zu können, daß sie nicht zum Tanze gegangen, sondern den ganzen Tag und Abend daheim geblieben sei.
Der Invalide schüttelte zu Friedrichs Beteuerungen hartnäckig den Kopf und sagte beim Wein zu der Bäckersfrau: »Wenn so ein junger Mensch verliebt ist, so meint er, es gebe in der Welt nichts als seinen Gegenstand, und wenn er einmal zehn Jahr und drüber verheiratet ist, so kann er oft gar nicht begreifen, warum er grad die genommen hat, da's doch soviel andere gegeben hätte.«
»Beständigkeit ist doch eine Tugend«, erwiderte die Bäckerin. »Aber arg ist mir's einmal, daß der erste Funke zu dem Brand in meinem Haus hat angehen müssen. Wenn ich das vorausgesehen hätt, so hätt ich mich lieber ohne mein Dötle beholfen, und dann [] wär sie ihm vielleicht in Jahr und Tag nicht vors Aug kommen. Mir schwant's, das Ding geht zu keinem guten End.«
»Wider das Schicksal ist kein Kraut gewachsen«, versetzte der Invalide. »Das ist im Leben wie in der Schlacht: an einem fährt's vorüber, und den andern trifft's.«
Es kamen noch weitere Briefe von Friedrich, die sich alle um einen und denselben Angelpunkt drehten. Von seinem eigenen Ergehen schrieb er kein Wort, auch nicht von dem, was er im fremden Lande zu sehen und zu hören bekam. Dagegen zeigten seine Briefe die Merkwürdigkeit, daß er fortwährend mit der Jahreszahl auf gespanntem Fuße stand. Seine Hand schien einen unbezwinglichen Widerwillen gegen dieselbe zu empfinden. In allen diesen Briefen hatte er immer zuerst die falsche Zahl hingeschrieben, dann ausgestrichen und die richtige darübergesetzt; in einem war sogar das falsche Datum unberichtigt stehengeblieben. Allerdings ein unerheblicher Umstand für ein Mädchen, das kein andres Datum kannte als »diesen Tag«, an welchem sie ihrem Liebsten schrieb.
[]Zweiter Teil
15
Christinens Brief war immer noch nicht fertig, und ihr Vater hatte den Weg zum Pfarrer und Chirurgus gleichfalls noch nicht gefunden, da verbreitete sich eines Tages im Flecken das Geschrei, des Sonnenwirts Frieder sei wieder da oder wenigstens im Anzuge begriffen. Die Nachricht drang mit großer Schnelligkeit selbst zu dem entlegenen Hause des Hirschbauers, und einer von Christinens Brüdern machte sich sogleich auf, um Kundschaft einzuziehen. Es verhielt sich wirklich so, wie das Gerücht sagte. Ein Fuhrmann, der in der ›Sonne‹ einkehrte, hatte den Erben derselben unterwegs, und zwar in ziemlich abgerissenem Zustande, angetroffen; zur Bestätigung, daß er die Wahrheit sage, zeigte er ein Schreiben vor, das ihm der Wanderer mitgegeben hatte, um es an denjenigen seiner beiden Schwäger, zu welchem er noch das meiste Vertrauen hatte, zu bestellen. Es ging soeben sehr lebhaft in der ›Sonne‹ zu, weshalb die Neuigkeit wie ein Lauffeuer sich verbreitete. Der Fuhrmann erzählte noch, er habe den Frieder aufsitzen heißen; derselbe habe sich aber geweigert, da er nicht nach Hause kommen wolle, bis er wisse, wie er aufgenommen werde. Er gab den Brief einem Knechte, der ihn zum Chirurgus hinübertrug. Dieser ließ nach einer Weile dem Sonnenwirt sagen, es sei endlich Nachricht von seinem [] Sohne da; wenn der Herr Vater aufgelegt sei, sie zu hören, so wolle er mit dem Briefe herüberkommen. Der Sonnenwirt antwortete, er habe im Augenblick alle Hände voll zu tun, und auf den Abend wolle er Ruhe haben; morgen sei auch ein Tag, um von verdrießlichen Dingen zu reden.
Auf den andern Tag wurde in der ›Sonne‹ ein Familienrat zusammenberufen, welchem der Chirurgus den Brief seines jungen Schwagers vorlas. Derselbe lautete gleich eingangs so über alle Maßen niedergeschlagen und unterwürfig, daß die Sonnenwirtin einmal über das andere in ein triumphierendes Gelächter ausbrach. »Geliebter Schwager«, las der Chirurg, »ich weiß mir nicht mehr zu helfen, so will ich Ihn um Gottes Willen gebeten haben, mir einen Rath zu ertheilen, denn ich laufe in der Irr, als wie ein verlornes Schaf; so rufe ich zu Gott, er möchte mir einen Hirten senden, der mich wieder auf den rechten Weg bringen sollte. Meine Reise ist nicht bestanden, wie ich geglaubt hab: mein Herr Vetter hat des Gerichtsschreibers Sohn von Boll zum Knecht, und hat ihn nicht fortschicken können, weil er auch ein Freund von ihm sei. So bin ich diesesmal in mich selber gangen und mußt erst erkennen, was ich bei meinem Vater vor gute Tag gehabt hab und ihm nicht gefolgt, so bitt ich nur noch diesesmal zu helfen und mich nicht zu verlassen. Meine Eine Bitt an die Meinen ist, mir nur noch so viel zu helfen, daß ich nur einer von seinen Taglöhnern sein möchte. Ich werde gewiß meinem Vater in allen Stücken gehorsam sein; wann ich es nicht tue [] und ihm im Geringsten was anstelle, so sprich ich das Urteil wider mich und schreibe meine eignige Hand unter, daß ich auf den ewigen Arrest soll gesetzt werden. Ich weiß wohl, ich hab es gegen den Herrn Schwager nicht verdient, weil ich Ihn schon in vielen Stücken erzürnt und beleidiget hab, es ist mir aber herzlich leid, es wird inskünftige nicht mehr geschehen. So mein ich nun, ob der Schwager nicht eine Bitte vor mich bei dem Herrn Amtmann tun möchte. Man redt wider mich in Eberspbach, es sollte einen Heiden erbarmen über solche Reden: ich soll gesagt haben, ich wolle alle Häuser in Brand stecken und den und jenen todt stechen. Mein Hertze hat noch niemal daran gedacht. Geliebter Herr Schwager, ich gedenke auch noch an Gott, und gedenke bei mir selbst, ich möcht hinkommen wo ich wollt, und Gott möchte mich auf das Krankenbette legen, ich gewiß mein Vaterland durch solche Streich nicht verschertzen will. So bitte ich den Schwager mich auf diesesmal nicht zu verlassen und mir einen Rad zu geben und zu helfen« –
»›Rad‹ schreibt er«, unterbrach sich der Chirurg im Lesen: »er kann doch sonst besser schreiben und hat das Wort weiter oben auch richtig geschrieben.«
»Seine Hand weiß mehr als er und hat das Rechte troffen«, bemerkte die Sonnenwirtin, »der Weg, den er geht, führt wohl noch zu Galgen und Rad.«
»Ist der Brief aus?« fragte der Sonnenwirt.
»Ich hab das Vertrauen zu Ihm«, fuhr der Vorleser fort, »und glaub in meinem Hertzen, daß Er des Herrn Amtmanns sein Hertze am besten erweichen [] kann. Mein Vater schickt einen Knecht fort auf Fastnacht; er erbarmet sich meiner gewiß und nimmt mich wieder an, wann ich befreit bin von dem Herrn Amtmann. Ich hab nicht längere Weil gehabt; wann ich mich sehen darf lassen, so will ich mündlich mit Ihm reden. Er ist von mir viel tausendmal gegrüßt und schließe ihn in die Vorsorg Gottes. Sein getreuer Schwager bis in den Tod.«
»Es muß ein wenig konfus in seinem Kopf hergehen«, fügte der Chirurg hinzu, »denn er lebt mit dem Datum noch im vorigen Jahr.«
»Er kann eben in gar nichts ordentlich sein«, bemerkte die Sonnenwirtin.
»Jetzt, was ist zu tun?« fragte der Chirurg.
Der Krämer, der nicht wieder die Mißgriffe von neulich begehen wollte, half sich mit Achselzucken, Händereiben und Lächeln nach allen Seiten hin.
Die Sonnenwirtin sagte: »Entweder ist er der Landstreicherei obgelegen, hat sein Geld vertan und ist gar nicht bei dem Vetter gewesen, oder hat er drunten gleich zum Einstand schlechte Streich gemacht und ist wieder fortgejagt worden. Wenn sein Gewissen gut wär, tät er nicht so erbärmlich und so untertänig schreiben. Das ist sonst sein Sach nicht.«
»Soviel ist richtig«, sagte der Sonnenwirt nach einigem Nachdenken, »daß der Gerichtsschreiber in Boll drüben einen Sohn in die Fremde geschickt hat, und das erst ganz kürzlich, denn ich hab's erst vor ein paar Tagen gehört, nur hab ich nicht sagen hören, wohin. Weil er aber allerdings zu unsrer Gefreundschaft gehört, und mein Bruder in Sachsenhausen [] also auch ein Vetter von ihm ist, so ist's wohl möglich, daß er ihn dorthin getan hat; denn seine Buben sind dickköpfig und haben wenig Beruf für die Schreiberei.«
»Es kommt natürlich alles darauf an, ob die Angabe wahr ist«, bemerkte der Chirurg.
»Wenn's wahr ist«, sagte der Sonnenwirt, »so müssen die beiden schier miteinander bei meinem Bruder drunten angekommen sein.«
»Man muß eben hinunterschreiben«, meinte Magdalene.
»Ja, aber was fangt man derweil mit dem Buben an, bis Antwort kommt?« fragte die Krämerin. »In Plochingen, von wo er schreibt, kann man ihn doch nicht liegenlassen, daß er dort eine rechte Zech hinmacht.«
»Und wenn man ihn ohne weiters wieder ins Haus nimmt«, sagte die Sonnenwirtin, »so setzt er sich fest und fangt das alt Lied wieder an und ist dann nicht mehr fortzubringen, wenn's auch zehnmal von Sachsenhausen kommt, daß all sein Vorgeben verlogen sei.«
In diesem Augenblicke hörte man ein Posthorn und gleich darauf den Knall einer Peitsche. »Der Postreiter hält vorm Haus, der Hausknecht soll ihm das Pferd halten«, sagte der Sonnenwirt, der ans Fenster getreten war. Es freute ihn jedesmal, wenn Briefe für den Flecken in der ›Sonne‹ abgegeben wurden oder wenn Postpferde zur Einkehr genötigt waren, weil er den Beweis darauf zu gründen hoffte, daß eine Zwischenpost hier errichtet werden sollte. [] Nach einer Weile kam der Postknecht herein und überreichte ihm einen Brief: »An Herrn Hans Jerg Schwan zur löblichen Sonne in Eberspbach«. Der Sonnenwirt befahl einen Schoppen und las den Brief bedächtig, während jener den Wein stehend trank; denn in seinen hohen, steifen Stiefeln würde ihm das Sitzen eine Arbeit gekostet haben, die sich für einen kurzen Aufenthalt nicht verlohnte.
Der Sonnenwirt hatte den Brief erst zu Ende gelesen, als der Postknecht schon wieder zu Pferde saß und blasend gen Göppingen weiter ritt. »Der Bub hat nicht gelogen«, sagte er, »es verhält sich vielmehr alles so, wie er behauptet. Mein Bruder schreibt mir da, er hätt ihn gern behalten, aber er habe dem Gerichtsschreiber in Boll für dessen Sohn bereits zugesagt gehabt. Als Gast wär er ihm willkommen gewesen, solang er hätte bleiben mögen, auch habe alles im Haus den Vetter gern gehabt; der aber habe sich nicht halten lassen, sondern sei nach etlichen Tagen wieder fort.«
»Und hat sich, Gott weiß wie lang, in der Welt herumgetrieben«, sagte die Sonnenwirtin.
»Nicht gar lang, dem Datum nach«, entgegnete der Chirurg, dem der Sonnenwirt den Brief hingereicht hatte.
»Es ist zwar dumm von dem Buben«, versetzte der Sonnenwirt, »daß er auf die Einladung nicht länger blieben ist; man hätt sich unterdessen für ihn umsehen und ihn anderswo unterbringen können. Aber verdenken kann ich's ihm doch grad auch nicht, daß er seinen Verwandten nicht als unnützer Brotesser [] hat hinliegen wollen, nachdem man ihn nicht zum Schaffen angenommen hat.«
»Ja«, bemerkte Magdalene, »das Sprichwort sagt: Zwei Tag ein Gast, den dritten ein Überlast.«
»Von seiner Liebschaft schreibt er gar nichts«, sagte die Sonnenwirtin. »Soviel gute Wörtlein er sonst gibt, so spricht er doch nicht mit einer Silbe davon, daß er in dem Stück nachgeben wolle.«
»Er schreibt aber, er wolle in allen Stücken gehorsam sein und nicht das geringste mehr anstellen«, entgegnete der Chirurgus. »Man kann ihn also beim Wort nehmen und ihm beweisen, daß er auch das versprochen habe.«
»Recht degenmäßig schreibt er, das muß man sagen«, bemerkte die Krämerin. »Ich hätt gar nicht glaubt, daß der Strobelkopf, der störrig, so mürb werden könnt.«
»Der hat sich in der Fremde die Hörner verstoßen«, sagte der Sonnenwirt behaglich lachend; »das sieht man jedem Wort an, das er schreibt. Jetzt weiß er nimmer, wo aus und wo ein. Ja, ja, es ist eben ein ganz anders Leben da drunten als bei uns. Die Leut sind dort viel alerter und aufgeweckter, und wenn auch bei manchem nicht viel dahinter ist, so ist's eben doch unsereinem, wie wenn er der Garnichts dagegen wär.«
»Das glaub ich«, sagte der Chirurg, »das kann solch einem trutzigen, stutzigen Schwabenkopf spanisch vorkommen.«
»Ich bin ja selbst auch schon drunten gewesen«, fuhr der Sonnenwirt fort. »Ja was! Bis unsereiner [] sich nur besinnt, was er sagen soll, haben die dem Teufel ein Ohr weggeschwätzt. Es mag sein, daß wir im Schreiben und sonst in mancherlei Solidität mehr sind als sie, wenigstens gibt man sich bei uns in der Schul mehr Müh, aber nachher müssen wir ihnen weit nachstehen, sie sind viel zu geschwind für uns. Mein Sohn ist gewiß keiner von den Langsamen im Geist, aber ich steh dafür und kann ganz ins Feuer sehen, daß sie ihm gleich über den Kopf gewachsen sind. Und dann machen sie gar keine Umständ, wie man's bei uns macht. Sie sind eigentlich doch auch wieder fadengrad wie wir, und noch mehr als wir. Bei uns, da tut man einen Besuch jeden Tag, den er da ist, gleichsam mit dem Seilstumpen anbinden, damit er ja sieht, daß man ihn nicht fortlassen will. Mein Bruder aber, der gar kein Schwab mehr ist und in dem Klima ganz die Art angenommen hat, wie die andern auch sind, der hat wahrscheinlich ein einzigs Mal gesagt: Du bist willkommen, Vetter, und bleib, solang du magst; und dann hat der Bub natürlich bald gemeint, man sei seiner überdrüssig, weil man's ihm nicht zehn-und zwanzigmal gesagt hat. Es hätt aber nichts zu sagen gehabt, denn wenn sie einen loswerden wollen, so wissen sie schon den Schnabel aufzutun. Nun, jetzt hat er auf einmal einsehen gelernt, daß die Welt größer ist als sein Kopf, und kommt aus der Fremde wie der Schneck, wenn er die Hörner einzieht und wieder in sein Haus zurückgeht.«
»Der Herr Vater ist also der Meinung, ihn wieder anzunehmen?« fragte der Chirurg.
[] »Was bleibt sonst übrig?« antwortete der Sonnenwirt. »Ich wüßt nicht, wo ich ihn in der Geschwindigkeit hinschicken sollt.«
»Dann kann er gleich den alten Tanz wieder anfangen«, sagte die Sonnenwirtin.
»Dafür kann man ihm tun«, entgegnete er. »Eh er nicht ausdrücklich versprochen hat, daß er sich mit der Person weder mündlich noch schriftlich mehr einlassen will, kommt er mir nicht ins Haus.«
»Ich will ihm das nach Plochingen schreiben«, erbot sich der Chirurg.
»Braucht nichts zu schreiben«, versetzte der Sonnenwirt. »Zuerst muß man ja doch mit dem Amtmann reden, daß der seiner Heimkunft keine Schwierigkeit in den Weg legt, nachdem er nun einmal die Hand in der Sach hat. Dann ist's überhaupt besser, man gibt dem Buben gar keine Antwort und läßt ihn zappeln, er wird dadurch nur um so mürber.«
»Wart, du wirst eine schöne Rechnung vom Plochinger Bärenwirt kriegen«, lachte die Sonnenwirtin.
»Ich hab ihn nicht heißen in den Plochinger Bären hinliegen.«
»Irgendwo muß er aber doch sein«, bemerkte die Frau des Chirurgen schüchtern.
»Warum ist er nicht gleich hierhergekommen?« entgegnete der Sonnenwirt. »Wenn ich ihn auch nicht ohne weiters angenommen hätt, so hätt man doch dafür sorgen können, daß er eine Weile wo unterkommen wär.«
»Mir scheint's auch das nötigste, daß man sich zuerst mit dem Amt verständigt«, sagte der Chirurg.
[] »Das übrige wird sich finden. Er hat Verwandte hier und in der Gegend und wird nicht im Bären bleiben, denn er weiß, daß das den Herrn Vater verdrießen muß.«
»Wenn nur auch der Herr Amtmann seinen Konsens gibt«, bemerkte der Krämer, der die Notwendigkeit fühlte, im Familienrat endlich etwas, das einer eigenen Meinung glich, zu äußern.
»Es liegt ja nichts Sonderliches wider ihn vor«, versetzte der Sonnenwirt.
»Wenn's dem Herrn Vater geliebt«, sagte der Chirurg, »so bin ich erbötig, ins Amthaus mitzugehen. Ich muß nur erst einen andern Kittel anziehen, damit ich ein wenig amtsmäßiger aussehe.«
»Ja, wir wollen die Sach lieber gleich abmachen«, erwiderte der Sonnenwirt.
Als der Chirurg mit seiner Frau nach Hause ging, um sich »amtsmäßig« anzuziehen, sagte diese zu ihm: »Wenn du nichts dagegen hast, so will ich meinem Bruder nach Plochingen schreiben, will ihm auch etwas Geld schicken, daß er seine Rechnung dort zahlen kann, und will ihn nach Hattenhofen hinüber zum Vetter gehen heißen; der behält ihn schon etliche Zeit, und dort ist er auch mehr abseits, daß ihn nicht so viele Menschen sehen.«
»Tu das meinetwegen«, sagte ihr Mann.
Die beiden Männer gingen ins Amthaus und trugen dem Amtmann ihr Anliegen vor. Derselbe machte ein bedenkliches Gesicht und sagte: »Ich hätte rebus sic stantibus nichts Erhebliches dagegen einzuwenden, daß der halb und halb exilierte junge Mensch, [] selbstverständlich unter der Bedingung künftigen Wohlverhaltens und radikal gebesserter Aufführung wie auch völliger Vermeidung aller Turbulenzen und Extravaganzen, aus dem Quasiexil in sein elterliches Haus zurückkehre; allein da ich nun einmal über seine Entlassung an das Oberamt berichtet habe, so habe ich auch über seine Wiederannahme die amtliche Entscheidung nicht mehr in der Hand. Ich will jedoch an den Herrn Vogt in Göppingen schreiben und wohldemselben vorstellen, daß der junge Mensch gleichsam als verlorner Sohn und reuiger Sünder unter die ihm von Gott verordnete Autorität sich wieder zurückfügen wolle. Vielleicht dürfen wir uns eines günstigen Bescheides versehen. Sobald solcher an mich herabgelangt, werde nicht ermangeln, davon Meldung zu erlassen.«
Nach einigen Tagen kam der Amtsknecht, um den Sonnenwirt zum Amtmann zu berufen. Der Sonnenwirt schickte nach seinem Beistand. »Der Schwager hat schon wieder geschrieben«, sagte dieser, als sie miteinander nach dem Amthause gingen. »Diesmal schreibt er aus Hattenhofen, wohin er von Plochingen gegangen ist.«
»Ich hab mir's wohl gedacht, daß er sich's nicht getrauen wird, zu Plochingen im Wirtshaus liegenzubleiben«, versetzte der Sonnenwirt lächelnd. »Was schreibt er denn?«
»Er schreibt beinahe noch lamentabler als das letztemal. Übrigens scheinen ihm unterm Warten kuriose Gedanken aufgestiegen zu sein, und er traut dem Landfrieden nicht recht; denn er schreibt im Verlauf[] des Briefes: ›Ich glaube, der Herr Schwager wird mich nicht nur herzulocken, damit ich möchte in Arrest gesetzt werden, sondern der Herr Schwager hat's noch jederzeit redlich und getreu mit mir gemeint.‹«
Der Sonnenwirt lachte äußerst behaglich. »Er hat Angst«, sagte er, »und da wird, hoff ich, auch die Zucht Eingang bei ihm finden.«
»Gott geb's«, erwiderte der Chirurg. »Diesmal hat er auch das Datum richtig geschrieben; vielleicht ist das ein Omen, daß er auch sonst wieder in die Ordnung kommen wird.«
»Gott geb's«, sagte der Sonnenwirt.
»Nun, Sein Gutedel ist ja wieder da, Herr Sonnen wirt«, begann die Amtmännin, welche diesmal zugegen war, mit saurem Gesicht. »Der hat nicht lang gut getan.«
»Es ist bei meinem Bruder kein Platz für ihn gewesen, mit Ihrem Wohlnehmen, Frau Amtmännin. Der hat einen halbstudierten Hausknecht angenommen. Will auch sehen, was da noch draus wird. Aber was will ich jetzt machen? Es ist doch mein eigen Fleisch und Blut, das ich nicht in der Irre laufen lassen kann. Ich nehm ihn aber nicht eher an, als bis er versprochen hat, daß er die unverständige Liebschaft aufgeben will.«
»Meinetwegen«, sagte die Amtmännin. »Aber mir soll der Grobian nicht wieder ins Haus kommen, ich will mir keine Unverschämtheiten mehr von ihm machen lassen, und wenn ich nicht eine Wäsche gehabt hätte an dem Tag, wo mein Mann nach Göppingen[] schrieb, so wäre die Sache vielleicht nicht so schnell gegangen.«
Der Sonnenwirt verlor einen guten Teil seiner Behaglichkeit beim Anblick dieser fortdauernden Ungnade der Amtmännin gegen seinen Sohn, obgleich er die Ursache dieses Grolls in seinem Herzen gebilligt hatte.
»Die Antwort vom Herrn Vogt ist angekommen«, sagte der Amtmann, der dieselbe als eine Art Schutzwaffe gegen seine Frau betrachten mochte. Er nahm den Brief zur Hand, entfaltete ihn langsam, räusperte sich mit Wichtigkeit und las, während der Sonnenwirt und sein Schwiegersohn eine ehrerbietige Haltung annahmen, mit nachdrücklicher Betonung wie folgt: »Wohledler, insonders vielgeehrter Herr Amtmann! Weilen mit einem jungen Menschen ich jedesmal viel lieber überflüssige Geduld haben als mit der äußersten Strenge fürgehen will, solang noch Hoffnung vorhanden sein kann, es werde einer in sich gehen, mithin in bessere Wege und so obrigkeitlichen als väterlichen Gehorsam zurücktreten: so will ich nicht darwider sein, daß den jungen Schwahnen sein Vater wieder auf- und annehme. Es ist aber jenem mit allem Ernst zu bedeuten, daß, so der geringste neue Fehltritt wider ihn werde herauskommen, man solchenfalls Altes und Neues zusammennehmen und wider ihn mit aller Schärfe verfahren werde. Ich verharre damit unter göttlichen Schutzes Erlassung des Herrn Amtmanns dienstwilligster« etcetera. »Also wonach sich zu achten!« fügte der Amtmann der Vorlesung bei. »Da nun meine Frau [] Seinen Sohn nicht gerne im Hause sieht, so will ich's unterlassen, solchen zu zitieren, muß aber dem Herrn Sonnenwirt die Verpflichtung aufgeben, selbigem aufs ernstlichste einzuschärfen, unter welcher Bedingung einzig und allein ihn wieder zu admittieren beschlossen worden ist, und daß ich bei dem geringfügigsten neuen Vorfall unverweilt gegen ihn einzuschreiten mich bemüßigt sehen würde.«
Der Sonnenwirt versprach, seinem Sohn das Nötige zu sagen, sowie auch dafür zu sorgen, daß er das Amthaus meide, es wäre denn, daß er besonders vom Herrn Amtmann vorgeladen würde. Der Amtmann pries die Milde und Menschenfreundlichkeit des Vogts, wobei die Amtmännin einfließen ließ, die gutmütigsten Menschen seien gemeiniglich diejenigen, die sich nicht gern viel zu schaffen machen. Hierauf hielt der Chirurg in rednerischer Unterstützung des Sonnenwirts eine lange und wohlgesetzte Danksagung für die große Mühewaltung, welche der Herr Amtmann auf sich zu nehmen die Güte gehabt. Die Amtmännin ermahnte den Sonnenwirt, künftig den Stab Wehe zu gebrauchen, damit man von seinem Früchtlein nicht noch mehr Mühe habe. Der Sonnenwirt versprach das beste, und die beiden Männer empfahlen sich in Unterwürfigkeit.
»So, schon alles im reinen?« sagte die Sonnenwirtin, als sie Bericht über ihren Gang erstatteten. »Nun ja, da kann man jetzt gleich den Verspruch mit der Jungfer Hirschbäuerin folgen lassen.«
»Das hat gute Weg«, entgegnete der Sonnenwirt. »Wie ich gesagt hab, dabei bleibt's. Wenn der Bub[] wieder mein Haus betreten will, so muß er zuerst heilig versprechen, daß er weder mündlich noch schriftlich mehr etwas mit ihr zu schaffen haben will.«
»Soll ich nach Hattenhofen schreiben?« fragte der Chirurg.
»Wie wär's denn?« sagte die Sonnenwirtin, die ihm zum Schabernack wenigstens eine kleine Ungemächlichkeit aufladen wollte. »Der Herr Sohn hat ja heut seinen Schabes nicht. Wie wär's, wenn Er des Schuhmachers Rappen vorspannen tät und tät sich selber nach Hattenhofen auf den Weg machen? Er kann's ja doch nicht erwarten, bis Er Sein räudig's Schaf wieder in der Kur hat. Übrigens denket an mich, ihr beide: solang man singt, ist die Kirch nicht aus. Ihr werdet's noch erleben, das ich recht behalt.«
»Ich hab ohnehin ein Geschäft draußen«, erwiderte der Chirurg, der ihr die Befriedigung nicht gönnte, daß er bloß auf ihre Veranlassung einen Weg von ein paar Stunden machen sollte. »Ich muß eine Weibsperson dort schneiden, die ein Geschwür im Munde hat. Für böse Mäuler gibt's kein probateres Mittel als unsre Instrumente.«
Der Sonnenwirt lachte und nahm sein Erbieten an, persönlich mit dem Flüchtling zu reden, ihm förmlich das von dem Vater ausbedungene Versprechen abzunehmen und ihn dann gleich aus seinem Zufluchtsorte mitzubringen.
»Du bist doch recht brav«, sagte seine Frau zu ihm, als er sich zu Hause anschickte, über Feld zu gehen.[] »Sieh, es freut mich von ganzem Herzen, wie gut du gegen meinen Bruder bist.«
»Quod medicamenta non sanant –«, murmelte der Chirurg vor sich hin und hielt wieder inne. Dann wandte er sich zu seiner Frau: »Solang man singt, ist die Kirche nicht aus«, hat deine Mutter gesagt, »und mir hat ein Vögelein gepfiffen, sie werde wohl recht haben. Zwar, wenn dein Bruder jetzt Vernunft annimmt, so will ich ihm alles Gute gönnen und will gerne dazu geholfen haben. Aber die Kugel, die bergab geht, rollt gemeiniglich so fort ohne Aufenthalt. Ohnehin, wenn dein Vater heut stirbt, so nimmt er morgen sein Bauernmensch. Meinst du, du würdest nicht besser zu einer Sonnenwirtin taugen? Und sollt ich zum Wirtschaften nicht so gut Geschick haben als zum Rasieren? Deine Mutter ist so giftig und höhnisch, daß sie meinen Rasiertag meinen Schabes heißt. Ei, mir stände es gar wohl an, einen Ruhetag aus ihm zu machen, wenigstens was das Bartschaben betrifft.«
Er ging, und Magdalene sah ihm seufzend nach. Dieser Seufzer mochte wohl mancherlei zu bedeuten haben.
16
Kaum war es am nächsten Tage Abend geworden, als im Bäckerhause jemand eilfertig in die Stube hereinschlüpfte. Die Bäckerin war allein; sie saß im Großvaterstuhle und hatte die Hände schlaff in den Schoß gelegt. Sie blickte den Eintretenden scharf [] durch die Dämmerung an. »Wer ist's?« fragte sie endlich, da sie ihn nicht erkannte.
»Grüß Gott, Bas«, sagte eine bekannte Stimme.
»Herrjeses, der Frieder!« rief sie. »Was, schon wieder aus der Fremde da? Was ist denn das? Wie geht denn das zu?«
»Schrecklich ist's«, erwiderte der Ankömmling, »wenn man alt und jung, Kind und Kegel immer auf die nämlich Frag Antwort geben soll. Wo ich geh und steh, greift man mich mit Fragen an und verlangt Rechenschaft von mir, warum ich schon wieder da sei. Ich will's Euch nachher alles haarklein sagen, aber zuerst hab ich eine Bitt an Euch. Tut mir die Liebe, Bas, und gehet, so groß und schwer Ihr seid, den Abend noch hinaus zum Hirschbauer und saget einem von der Christine ihren Brüdern, am liebsten dem Jerg, denn der ander ist hinter den Ohren nicht trocken, daß ich notwendig mit ihm zu reden hab. Ich kann mich keinem Menschen sonst anvertrauen als Euch, denn der Profos hat's in den Gliedern, heißt das, soweit sie nicht hölzern sind.«
»Ach Friederle«, seufzte die Frau, »ich tät's gewiß gern, aber bei mir ist's auch mit dem Springen vorbei. Ich kann dem Profosen mit seinem Gliederweh Gesellschaft leisten: seit ein paar Tagen weiß ich, warum ich immer so müd bin, ich hab geschwollene Füß.«
»Wird doch das nicht sein. Sollen denn meine beste Freund in so kurzer Zeit presthaft werden?«
»Meine Mutter ist an der Wassersucht gestorben«,[] sagte sie, »und ich weiß jetzt auch, was mir blüht. Eure Hochzeit erleb ich schon nicht mehr; wenn ihr aber zusammenkommet und vergnügt miteinander lebet, so soll mich's noch unterm Boden freuen. Dem Jerg will ich durch den Beckenbuben entbieten, daß er zu mir herkommt; denn wenn ich auch die Füß nicht recht mehr brauchen kann, so ist das Mundstück noch gut im Gang. Was soll ich ihm denn ausrichten?«
»Ach, Bas, Ihr machet mir das Herz schwer. Es wird doch so schlimm nicht sein.«
»Wie Gott will. Wo soll sich der Jerg einfinden?«
»Man paßt mir auf jedem Schlich auf. Saget meinem Schwager und vergesset ja nicht, ihn so zu heißen, morgen um Vesperzeit oder etwas später, wenn der Tag sich neigt, woll ich ihn unter den Linden an der Schießmauer treffen. Den Grund, warum ich nicht zu ihm ins Haus kommen kann, und alles andere will ich ihm mündlich sagen.«
»Kann mir's schon denken. Es soll pünktlich ausgerichtet werden. Heut abend muß er noch zu mir kommen.«
Hierauf erzählte er ihr, wie seine Reise abgelaufen und unter welcher Bedingung er in sein väterliches Haus zurückgekehrt sei. Dann sprach er ihr von den Vorsätzen, an welchen er gleichwohl in betreff seiner Liebsten festhalten werde, unterbrach sich aber bald mit den Worten: »Ich seh wohl, Ihr habt Ruh nötig, und ich darf nicht lang ausbleiben. Gott tröst Euch, Bas, ich dank vielmals für die Freundschaft und will bald wieder nach Euch sehen.«
[] Die beiden Schwäger, wie sie sich nannten, begrüßten sich den folgenden Abend an dem verabredeten Orte aufs herzlichste. – »Wir haben schon gewußt, daß du wieder da bist aus der Welt«, sagte Christinens Bruder, der nach Bauernart nicht sogleich den eigentlichen Zweck der Zusammenkunft berührte. »Das Christinele hat vor Freuden geweint. Jetzt sag mir nur auch, wie ist's dir denn gangen da draußen?«
»So so, la la«, antwortete Friedrich. »Die Leut wären schon recht, aber 's ist eben alles ganz anders als bei uns. Da schnurrt jedermann nur so an einem vorbei und läßt einem das Nachsehen; und wenn einer so im Vorbeischießen was an dich hinwelscht, – bis dir eine Antwort eingefallen ist, ist der schon über alle Berg. Dann können sie doch auch wieder recht gesellschaftlich sein, sonderlich die in Sachsenhausen; und wenn sie dich gern haben, so geben sie dir die gröbsten Schimpfreden, über die's bei uns zu Mordhändeln käm. Bei ihnen aber ist das aus Freundschaft gered't, und wenn sie dich ein schlechts Luder heißen, so ist das lauter Liebe und Güte. Die in Frankfort, die auch viel rüber kommen sind, und wir zu ihnen nüber, die sind feiner, aber sie hänseln und föppeln einen gern, und in ihrer schnellen, spitzigen Sprach kann dir das in die Nas fahren wie ein Pfeil. Wiewohl, ich bin ihnen auch nichts schuldig blieben. Einmal haben sie mich gefragt, wie man denn im Schwabenland die Holderküchle – Holderküchelche sagen sie – macht. Ich hab aber gleich gemerkt, daß sie bloß ihren Spott mit mir [] treiben wollen, und hab ihnen erzählt, man mach das Feuer und den Teig grad unter dem Holderbaum an und zieh dann einen Zweig um den andern mit dem Blust nur in den Teig runter und laß wieder schnappen, dann hängen die Küchelche am Baum, wie wenn sie dran gewachsen wären.«
Jerg lachte unmäßig. »Wenn sie das glaubt haben, so müssen sie rechtschaffen dumm sein.«
»Nein, dumm sind sie grad nicht. Sie haben eben arg drüber gelacht. Jetzt wollen wir aber von andern Dingen reden, Jerg, denn wir sind hier nicht zusammen kommen, daß ich dir Späß vormach, sondern mir ist's Ernst, und das bitterer. Sieh, ich bin noch ganz der nämlich gegen euch, wie da ich gangen bin, aber die Sach ist ein wenig anders worden. Zuerst, und vor allem andern muß ich dir sagen, daß ich der Christine mein Wort halt, der Schein mag sein, wie er will.«
»Das kannst ihr ja selber sagen, Frieder«, sagte Jerg mit schlauem Lächeln.
»Nein, Jerg, das ist's ja eben. Sieh, ich will und muß dir's frei heraus bekennen, daß ich hab versprechen müssen, mit deiner Schwester weder mündlich noch schriftlich etwas zu haben.«
»Das ist freilich ein ander Ding«, sagte Jerg.
»Hör mich voraus. Wenn ich nichts mehr von ihr wollt, so hätt ich mir's ersparen können, mit dir zu reden; aber darum grad hab ich dich ja hieher bestellt, denn mit dir ist mir's nicht verboten.«
»So red, daß man weiß, wie man mit dir dran ist.«
»Sieh, Jerg, wie ich die Stell bei meinem Vetter [] besetzt gefunden hab und ist meines Bleibens nicht gewesen, da ist mir die Welt auf einmal vorkommen wie ein groß Wasser, in das ich gestoßen bin und untergesunken bis an Hals. Ich hab auch die Welt erst kennenlernen und hab jetzt eingesehen, daß es nicht so leicht ist, in dem Wasser zu schwimmen, als ich vorher gemeint hab, und hab keine Gelegenheit hinausgelassen, mit verständigen Leuten drüber zu reden, die in der Welt herumgekommen sind. Sieh, überall ist alles zünftig, und da kann man nicht so hineinsitzen, wie man will. Das kann nur der, der ein Geschäft ererbt oder so viel Geld hat, um sich eins zu kaufen. Andere schlupfen hinein, indem sie eine Meisterstochter oder Witwe heiraten, und dabei muß man oft ein Aug zudrucken und dem Teufel ein Bein brechen, auch oftmals einen krummen Buckel machen, bis man allen recht ist, die ein Wort mitzureden haben, oder man muß gar zum schlechten Kerl werden, seinen Eid brechen und seinen Schatz sitzenlassen, vielleicht mit dem Kind dazu. Wieder andere kommen gar nicht hinein und bringen's ihr Lebtag zu nichts. Ich hab glaubt, wenn ich die Christine nachkommen ließ und tät ihr einen Dienst verschaffen, so könnten wir, jedes in seinem Dienst, nach und nach einiges erübrigen und einander zuletzt heiraten. Aber Kutz Mulle, blas Gersten, da könnten wir dienen und ledig bleiben unser Leben lang. Ja, wenn mein Vetter mich hätt bei sich behalten können und hätt mich vielleicht liebgewonnen, der hätt mich auf die ein oder ander Art versorgen können, so daß ich [] gar nicht mehr zurückgekommen wär und die Christine auswärts geheiratet hätt. So aber ist das nichts gewesen, und ich bin auf einmal rat- und hilflos dagestanden in der weiten Welt. Mein Vetter hat mich zwar liebreich gehalten und hat mich heißen als Gast bleiben; aber ich bin mir eben fremd vorkommen und hab ihm nicht in die Länge beschwerlich sein wollen. Ich sag dir, Jerg, ich bin dir ganz verzagt gewesen und hab nicht mehr gewußt, wo aus noch wo ein, grad wie ein Kind, das aus seinem Bett gefallen ist, und tappt in der Nacht herum und kommt nicht mehr zurecht, oder wie einer, der das Wasser am Kinn spürt und keinen Boden unter den Füßen mehr und in der Angst nach einem Strohhalm langt. Du magst vielleicht denken, ich hätt doch versuchen sollen, anderswo in der Fremde in einem Dienst unterzukommen. Aber ich hab kein Glück: das hab ich gleich gesehen, wie's bei meinem Vetter nichts gewesen ist. Und wenn ich bei fremden Leuten in Dienst gangen wär, so hätt ich damit eine große Scheidewand zwischen mir und meinem Vater aufgerichtet und hätt ihm gezeigt, daß ich ihm Trotz bieten will; wenn mir's nachher in der Welt nicht geglückt wär, wie's wahrscheinlich ist, so wär mir die Heimat zugeschlossen gewesen, und ich hätt der Christine zweimal nicht Wort halten können, was mir doch die Hauptsach ist. Auch ist mir's durch den Kopf gefahren, beweisen kann ich's freilich nicht, daß des Gerichtsschreibers Sohn von Boll, der mich bei meinem Vetter verdrängt hat, weil er schon vor mir Anwartschaft [] gehabt hab, daß der vielleicht meinem Vetter einen Floh ins Ohr gesetzt hat –«
Er stockte. »Von wegen deiner Liebschaft?« meinte Jerg.
»Nein«, sagte Friedrich und ließ die Stimme sinken, »er hat's ihm vielleicht gesteckt, ich sei nicht ganz hautrein und sei schon in Ludwigsburg gewesen.«
»Das wär aber liederlich, das wär schlecht!« sagte Jerg.
»Ich trau so einem Schreiberssöhnle nicht viel Guts zu; er hat vielleicht besorgt, ich könnt ihm doch vielleicht noch den Rang ablaufen, und das wär auch keine Kunst für mich gewesen. Kurzum, ich bin auf einmal wie an der Welt End gestanden, wo sie mit Brettern vernagelt ist, und hab mir sagen müssen, daß da eben nichts übrigbleibt, als umkehren und gute Wort geben. Wie ich dann vollends bedacht hab, was das einen Spott und ein Gelächter geben wird, wenn ich schon wieder komm, und hab's doch nicht anders machen können, wenn ich nicht alle Brücken zwischen mir und meinem Schatz hab abwerfen wollen, da ist mir der Mut ganz und gar gesunken, und hab nichts mehr vor Augen gesehen, als daß ich eben jetzt alle Schmach muß auf mich nehmen und zu Kreuz kriechen. Herr Gott, wie ich noch ein Bub gewesen bin und hab Schläg kriegt, da hab ich nicht gemuckst und hab sagen können: ›Ich will noch mehr!‹ daß mein Vater schier verzweifelt ist. Und jetzt, wo ich groß bin, hab ich dir Brief nach Haus geschrieben – Brief – ich sag dir, Jerg, der jämmerlichst Bettler schreibt nicht [] erbärmlicher und demütiger. Aber ich hab eben gar nichts anders mehr gewußt, und – die Heimat ist halt doch das Best in der Welt. Doch hab ich bloß Gehorsam versprochen. Aber das hat mich nichts genutzt. Wie man einmal gesehen hat, daß ich gehörig mürb bin, und das ist kein Wunder, denn ich hab den Amtmann noch auf'm Hals gehabt, da hat man mich noch weiter trieben. Ich bin nicht eher angenommen worden, als bis ich buchstäblich versprochen hab – ich hab dir's ja schon gesagt und will's nicht wiederholen.«
»Und was soll ich ihr jetzt sagen?« fragte Jerg.
»Was ich meinem Vater versprochen hab, das halt ich ihm, aber ich halt auch, was ich deiner Schwester versprochen hab, und das geht vor, denn es ist ein älteres Versprechen. Auch hab ich keineswegs geschworen, daß ich sie in alle Ewigkeit nicht mehr sehen, noch ihr schreiben wolle, und noch weniger hab ich gesagt, ich wolle mein Herz von ihr abziehen und ihr mein Wort brechen. Zwischen uns bleibt alles im alten Recht. Sag ihr nur, sie solle etliche Zeit Geduld haben, wie ich mich auch gedulden muß. Ich muß erst wieder festen Boden unter den Füßen haben, damit ich in Ruh sehen kann, wie Has lauft, und kann Zeit und Gelegenheit walten lassen. Vielleicht wächst der Axt von selber ein Stiel. Sag ihr, jedenfalls nehm ich keine andere, und wenn ich Haus und Hof dahinten lassen müßt oder müßt alt und grau mit ihr werden, bis wir vor den Altar kommen. Das muß ihr für jetzt genug sein. Und deinem Vater sag, es bleib bei[] unsrer Abred, und er soll sie bei sich behalten, wie wir ausgemacht haben, bis etliche Zeit verstrichen ist; sowie ich wieder ein wenig zu Kräften komm, will ich ihn dafür schadlos halten. Du aber versprichst mir, daß wir uns je und je im Beckenhaus treffen, damit ich Nachricht von meinem Schatz hab; denn du bist jetzt mein Mündlich's und mein Schriftlich's mit ihr.«
»Bleib's dabei«, sagte Jerg.
»Und jetzt sag mir noch eins, offen, Aug in Aug: glaubst du meinen Worten und willst du dich bei den Deinigen und bei deiner Schwester für mich verbürgen, daß ich's noch so treulich mein wie sonst, trotzdem daß der Schein gegen mich ist? Die Hand drauf, Schwager, Bruderherz?«
»Ja, ich glaub dir, da hast meine Hand.«
»So, jetzt geh ich mit leichterem Herzen heim. Gut Nacht, und grüß mir mein' Schatz vieltausendmal.«
17
Bald genug sollte Friedrichs Ahnung, daß der natürliche Gang der Dinge von selbst zwischen zwei widerstreitenden Versprechen entscheiden werde, in Erfüllung gehen.
In der Stellung des dienenden Sohnes, in die er zurückgetreten, waren ihm ein paar Monate leer und trüb dahingegangen, ohne daß seine Herzensangelegenheit einen weiteren Zusammenstoß zwischen ihm und seinem Vater verursachte. Diesem genügte [] es, seinen Sohn der herrschenden Sitte gemäß ehrlich und christlich, wie die stehende Redeweise der Zeit sich ausdrückte, erzogen zu haben, und er meinte seine ganze Verantwortlichkeit abgetan, wenn er einem Irrweg desselben die einfache Schranke des väterlichen Verbotes entgegensetzte. Er glaubte ihm weder die Gründe, durch welche ein älterer Freund die unerfahrene Jugend manchmal von einem Fehlgriff abzuhalten vermag, noch die Achtung vor der Freiheit des menschlichen Willens schuldig zu sein, der über sich selbst zu verfügen berechtigt ist, und wenn er auch den Einsatz mit dem Preise der ganzen Zukunft bezahlen müßte. Was Wunder, wenn der Sohn für dieses starre Nein, das er von Anfang an vorausgesehen, ein ebenso starres Ja in Bereitschaft hatte, dessen zeitweilige Hintanhaltung eben jenen Waffenstillständen glich, die man im Kriege nur deshalb schließt, um bei einer vorteilhaften Gelegenheit wieder losschlagen zu können. Er hielt buchstäblich Wort und vermied in dieser ganzen Zeit jedes Zusammentreffen mit Christinen. Auch besuchte er keinen Tanz, denn er wußte wohl, daß er sie nicht daselbst finden würde. »Ich will sie lieber so lang gar nicht sehen«, sagte er zu Jerg, »denn einander sehen und nichts voneinander haben, das tut viel weher; sag ihr nur, sie soll derweil fleißig an mich denken, ich werd das im Arm oder noch besser im Herzen spüren.« Er traf häufig mit ihm im Bäckerhause zusammen; das eine Mal sprach er lustig mit ihm dem Grillengifte zu und bekannte, daß er erst jetzt einsehe, wie [] richtig er es getauft habe; das andere Mal sah man die beiden lange Zeit miteinander flüstern, wobei Christinens Bruder Nachrichten von bedenklicher Art zu bringen schien, welche Friedrich gelassen aufnahm und, nach seiner Miene zu schließen, mit ermutigenden Zusicherungen beantwortete. Die Bäckerin, die kränkelnd im Sorgenstuhle saß, beobachtete solche Unterredungen mit Kopfschütteln und sprach gegen ihren Mann die nämliche Vermutung, die der Chirurg in einem lateinischen Zitat angedeutet hatte, mit deutschen Worten aus.
Allmählich begann auch im Flecken ein neues Gemurmel umzulaufen, das zuerst von den jungen Mädchen aufgebracht und bald auch durch die Pfarrmagd vom Brunnen in den Pfarrhof überliefert wurde. Man stichelte und spottete, daß Christine nicht mehr aus dem Hause zu gehen wage, woran sie doch sehr klug tat, denn sie hatte, als sie sich zuletzt auf der Straße blicken ließ, bemerkt, daß man mit Fingern hinter ihr herdeutete. Der Fischer aber hatte niemals ein so reiches Geschenk aus der Sonne heimgetragen, als an dem Tage, wo er der Sonnenwirtin berichtete, was über die Tochter des Hirschbauers gezischelt und gemunkelt wurde.
Eines Abends kam der Bäckerjunge zu Friedrich in die ›Sonne‹ und hinterbrachte ihm heimlich, der Jerg sei im Bäckerhause und lasse ihm sagen, daß er doch gleich hinkommen möchte, denn er habe etwas Dringendes mit ihm zu reden.
»Du, 's ist Feuer im Dach«, – mit diesen Worten empfing ihn sein Geselle, als Friedrich sich zu ihm[] setzte – »meine Schwester ist auf morgen vor Kirchenkonvent geladen.«
»Gottlob!« rief Friedrich, »jetzt kommt's doch endlich zum Treffen! Sag ihr nur, ich werd noch heut bei ihr sein.«
Er trank schnell aus und eilte nach Hause zurück. Da er seinen Vater mit Essen beschäftigt fand, so setzte er sich in eine dunkle Ecke, wo er wartete, bis derselbe fertig sein würde.
»Was hast? Was guckst? Hast Hunger?« fragte dieser, den seines Sohnes auf ihn gerichteter Blick beunruhigte.
»Nein, Vater, ich muß Euch etwas sagen und will Euch nicht überm Essen stören, weil ich weiß, daß Ihr das nicht leiden könnt.«
Der Alte, der etwas neugierig war, beschleunigte seine Mahlzeit. »Nun, was ist's?« fragte er dann vom Tische aufstehend.
Friedrich stand gleichfalls auf. »Vater«, sagte er, »ich hab Euch versprochen, mit der Christine keinen Verkehr mehr zu haben, weder schriftlich noch mündlich, und hab das auch streng gehalten bis daher. Jetzt aber ist an der Sach ein anders Trumm aufgangen, die Christine ist vor Kirchenkonvent zitiert –«
»Liederlicher Hund!« schrie der Alte und hob die Hand auf, ließ sie aber alsbald wieder sinken, da er gewahrte, daß sein Sohn, ohne einen Schritt vor dem Schlage rückwärts zu weichen, in drohender, entschlossener Haltung vor ihm stand. Es kam ihm erst jetzt klar zum Bewußtsein, daß er eigentlich [] immer eine geheime Furcht vor ihm gehabt habe.
»Inkommodiert Euch nicht, Vater«, sagte Friedrich, »über das bin ich hinausgewachsen, und was das Schimpfen anbetrifft, so weiß ich, daß Ihr auch jung gewesen seid – Ihr werdet mich verstehen.«
»Sprichst du so mit deinem Vater?« schrie der Sonnenwirt, der wütend und zugleich in einiger Verwirrung durch die Stube hin und her lief. Seine Frau hatte ihm von ihrer ausgekundschafteten Neuigkeit nichts mitgeteilt, sei es, daß sie eine für den Stiefsohn besonders ungünstige Gelegenheit abwarten oder daß sie ihren Mann von dem amtlichen Verlauf der Sache überraschen lassen wollte.
»Mein Sprechen«, sagte Friedrich, »hat keine weitere Absicht, als daß mein Vater ein billig's Einsehen haben soll, und wenn auch nur in dem Punkt, daß ich notwendig mit dem Mädle reden muß, eh sie vor die Herren kommt, denn sonst weiß ich ja gar nicht, was sie dort aussagt.«
Der Alte hielt in seinem Toben inne. »Wenn du das Mensch dahin bringen kannst, daß sie nicht auf dich aussagt«, versetzte er, »so kannst mit ihr reden, so viel du willst. Aber das wiederhol ich dir und will dich erinnert haben, daß ich dir's schon einmal gesagt hab, glaub nur nicht, ich hätt einen Kreuzer übrig, um dir aus solchen Streichen herauszuhelfen. Find du sie ab, wie du kannst, und friß aus, was du mit ihr eingebrockt hast, – ich helf dir nicht dabei.«
»Fürs Abfinden wär ja noch mein Mütterlich's da«, [] erwiderte Friedrich, »und so braucht ich Euch nicht zur Last zu fallen.«
»Da wird viel übrig sein«, höhnte der Alte, »wirst weit damit springen nach solchen Sprüngen, die du schon gemacht hast.«
»Ich will jetzt nicht darüber streiten«, sagte Friedrich, »ich bin zufrieden, daß Ihr mir mein Wort zurückgegeben habt und daß ich mit dem Mädle reden kann, ohne wortbrüchig zu werden.«
Er brach schnell ab, um weitere Erörterungen zu vermeiden. Als er sich entfernt hatte, erzählte der Sonnenwirt seiner Frau, die aus der Küche kam, was zwischen ihm und seinem Sohn verhandelt worden war.
»Du hast den Gaul am Schwanz aufgezäumt«, sagte sie, »daß du ihm sein Wort zurückgibst. Jetzt geht das alt Luderleben wieder an. Und dazu den Schimpf und die Schand!« – Sie wußte so gut zu lamentieren, wie er vorhin zu toben gewußt hatte.
»Er hat versprochen, das Mädle rumzubringen, daß sie nicht auf ihn aussagt«, erwiderte der Sonnenwirt.
Seine Frau trat voll Verwunderung einen Schritt zurück. Sie hatte besser von ihrem Sohne gedacht und fühlte sich durch diese Mitteilung sonderbar überrascht. »Wär's möglich?« sagte sie. »Aber sieh zu, das sind am End faule Fisch.«
»Gelogen hab ich nicht«, murmelte Friedrich bei sich, während er den lange nicht betretenen Weg zu Christinen einschlug. »Was kann ich dafür, daß mein Vater mit so schlechten Gedanken umgeht.«
[] Es war, als ob er in ein Trauerhaus käme, als er in die Stube des Hirschbauers trat. Die Alte heulte bei seinem Anblick laut auf und fuhr sich in die Haare, als ob sie sie ausraufen wollte, und der kleine weißköpfige Bube, der sich an ihrem Rocke hielt, heulte vor Angst mit, ohne von dem Vorgang etwas zu verstehen. Der Bauer, ohnehin von Alter und Mangel erschöpft, saß ganz gebeugt und gebrochen auf einem schadhaften Stuhl am Ofen; seine beiden älteren Söhne lehnten ernsthaft, doch ohne sichtbare Betrübnis neben ihm an der Wand. Christine aber flog, gleichfalls laut weinend, dem Ankömmling entgegen. »Mein Frieder, mein Frieder!« schrie sie an seinem Halse. »Bist endlich da? Sieh, ich kann mein Elend auf keinem Berg übersehen!«
»So bleib im Tal«, erwiderte er.
»Jetzt treibt er noch sein Gespött mit uns«, sagte der Alte mit dumpfer, sinkender Stimme.
»Nein, alter Vater«, erwiderte Friedrich, indem er, Christinen um den Leib haltend, zu ihm trat und seine Hand mit Gewalt faßte, »'s ist mir jetzt eben nicht spöttisch zumut, aber ich seh nur nicht ein, was es für ein Jammer sein soll, daß ich jetzt endlich vor den Herren und vor der ganzen Gemeinde erklären kann, daß ich mich mit der Christine in allen Treuen versprochen hab und sie heiraten will. Und das sagst du morgen vor Kirchenkonvent, Christine, und gibst alles an, wie's wahr ist, und sagst unverhohlen, ich sei der Vater zu dem Kind, das du unterm Herzen trägst. Heulet doch nicht so«, wandte er sich zu der Alten, die bei diesen Worten [] wieder in ein lautes Geschrei ausbrach, »das ist eine natürliche Sach, wer A gesagt hat, muß auch B sagen, und mich wundert's nur, daß die Leut noch so ein Zetermordio drüber verführen können, da es doch so oft und allerorten vorkommt. Es ist nur, bis das Kränzle verschmerzt ist. Sehet einmal die Kinder an, die das Kyrie nicht abgewartet haben, und vergleichet sie mit den andern, die rechtmäßig kommen sind. Ist ein Unterschied zwischen ihnen? Und macht man noch einen Unterschied zwischen einer Frau, die vor zehn, zwanzig Jahren am Mittwoch hat vor dem Altar stehen müssen, und einer, die ihr Kränzlein in Ehren, wie sie's heißen, vor den Menschen, aber vielleicht nicht vor Gott getragen hat? Wenn einmal Gras drüber gewachsen ist, so verzollt jedermann die ein für so gut wie die ander, und denkt keine mehr dran; ja, es ist schon oft genug vorkommen, daß eine, statt an ihre Vergangenheit zurückzudenken, ihre jüngeren Leidensschwestern aufs bitterste verfolgt hat, und ist noch liebloser mit ihnen umgangen, als eine, der man nichts hat vorwerfen können. So darfst du's einmal nicht machen, Christine, sonst halt ich dir einen Spiegel vor, in dem du etwas schauen kannst, was dir solch ein unchristlich's Betragen verbieten soll.«
»Er ist doch ein sündhafter Mensch«, sagte der Hirschbauer, den übrigens Friedrichs Reden sichtlich aufgerichtet hatten. Die Alte aber verharrte in ihrer Trostlosigkeit und schalt ihn heftig, daß er es mit einer so wichtigen Sache, wie das Ehrenkränzlein, so leichtfertig nehme.
[] »Von wem hab ich das gelernt?« entgegnete er. »Bei armen Leuten freilich, die das Strafgeld nicht aufbringen können, ist's etwas Wichtig's, weil sie dann einen Schimpf auf sich nehmen müssen, der nicht so bald wieder von ihnen abgeht. Von den Vermöglicheren aber steckt die Herrschaft das Geld dafür ein, und was ich mit Geld bezahlen kann, das kann ich doch nicht so schwer nehmen. Jetzt saget selber, wer handelt und redet leichtfertig, die Herren oder ich?«
»Ja, wenn mein Kind schellenwerken müßt«, sagte der Bauer, »das tat mich vollends unter den Boden bringen.«
»Dafür bin ich noch da«, versetzte Friedrich. »Ihr werdet doch nicht glauben, solang ich noch einen Kreuzer hab, werd ich's zulassen, daß mein künftig's Weib die Straf mit dem Karren abverdienen muß.«
»Wenn Er nur auch auf Seinem Sinn bleibt!« seufzte die Alte, die sich nach und nach gleichfalls ein wenig zufrieden gab.
Er tat seine reiche Schatzkammer von Schwüren und Beteuerungen auf und spendete nicht karg daraus. Sein zuversichtliches Wesen beruhigte die Familie allmählich, wie seine Erscheinung Christinen schon längst beruhigt hatte. Ungescheut zog er sie zu sich nieder und saß am Tische, als ob er nach längerer Abwesenheit sich mit seinem Weibe auf Besuch bei den Schwiegereltern befände. Er ließ Wein kommen und steckte mit Hilfe desselben alle durch seine muntere Laune an. Der alte Hirschbauer, wenn er auch noch von Zeit zu Zeit den [] Kopf schüttelte, ließ sich doch durch seine unbefangene Art, die Dinge anzusehen und anzufassen, einmal übers andere zum Lächeln bringen; die beiden Söhne aber, durch Friedrichs herzhaftes Auftreten ganz und gar gewonnen, erfüllten die Stube mit Gelächter über die lustigen Einfälle, die er zum besten gab. Die Bäuerin, nachdem sie den peinlichen Teil des Gesprächs einmal überstanden und hinter sich liegen hatte, suchte ihre Neugier zu befriedigen und ließ sich von seiner weiten Reise erzählen, wobei der kleine Wollkopf an seinen Lippen hing und mit aufgerissenem Munde in die zunehmende Heiterkeit einstimmte, die er so wenig begriff, als er zuvor den Jammer begriffen hatte. Christine aber lehnte sich selig, und durch kein elterliches Verbot gestört, an ihren Liebsten an; es war ihr wie ein Traum, daß er ihrer Unglücksahnung zum Trotze so bald wieder zurückgekommen und dennoch so lange für sie nicht auf der Welt gewesen war. Jetzt aber war er ihr auf einmal wie ein Stern gerade in der schwärzesten Nacht aufgegangen, und sie vergaß das Elend, das ihr vorhin so unübersehbar gedeucht hatte, vergaß, daß sie morgen vor dem geistlichen Gericht erscheinen sollte, um sich zu verantworten wegen der Missetat, die sie aus Liebe zu ihm begangen hatte.
18
Morgens in aller Frühe war Friedrich schon wieder bei Christinen, um ihr die Stunden der Angst bis [] zu dem Gange, den sie diesen Vormittag anzutreten hatte, zu vertreiben, noch mehr aber, um vor der öffentlichen Erklärung, welche er zu geben beabsichtigte, jeder Unterredung mit seinem Vater auszuweichen, der wirklich zu glauben schien, er werde, in den Lauf der Welt sich fügend und von der Unmöglichkeit einer anderen Handlungsweise übermannt, sein Mädchen die ganze Verantwortlichkeit für das Geschehene allein tragen lassen.
Die gefürchtete Stunde war endlich angebrochen. Er nahm Christinen an der Hand und führte sie mit tröstlichen Worten von ihren Eltern fort. Arm in Arm ging er mit ihr durch den Flecken, und die lachende Frühlingssonne, die zu dem Gange schien, bestärkte ihn in dem Glauben, daß die himmlischen Mächte ob dieser Liebe nicht zürnten. Er trat aufrecht wie ein Sieger neben Christinen einher, die mit niedergeschlagenen Augen an seiner Seite ging, und die Leute, die ihnen begegneten, machten zwar verwunderte Gesichter, wagten aber doch erst, nachdem das Paar vorüber war, die Köpfe zusammenzustecken und einander ihre spöttischen Bemerkungen mitzuteilen. Am Rathause ließ er ihren Arm los: »So, jetzt mußt dein' Strauß allein ausfechten«, sagte er, »aber wenn ich gleich nicht dabei sein darf, so hab nur guten Mut, du weißt ja, daß ich nicht weit bin und dir nachher im Protokoll beispringen werd; hier unten will ich deiner warten.« – »O Frieder, wie ist mir das Herz so schwer, und ich schäm mich so vor den Herren«, erwiderte sie. – »Hätt fast was gesagt!« rief er und trieb sie die[] Treppe hinauf, »schämt sich eine Braut auch, zur Hochzeit zu gehen? Sei du froh, daß wir endlich einmal wenigstens im Kirchenkonventsprotokoll miteinander kopuliert werden!«
Er wartete lange unter dem Rathause. Da er sich den neugierigen Blicken der Pfarrerin ausgesetzt sah, die von ihrem Fenster auf ihn herabschaute, so wechselte er seinen Standort, doch so, daß er immer die Türe des Rathauses im Auge behielt. Allein er mußte von manchem Vorübergehenden neugierige Fragen aushalten, denn auf dem Lande steht man nicht ungestraft an einer Ecke ruhig still, und beinahe hatte er die Geduld verloren, als nach einer vollen Stunde Christine auf der Rathausstaffel erschien und sich nach ihm umsah. Er winkte ihr. »Du hast aber lang gemacht«, sagte er verdrießlich, »ich glaub, du hast alles, was sich seit deiner eigenen Geburt zugetragen hat, gebeichtet.« – »Was kann denn ich dafür?« erwiderte sie. »Halt dich nur parat, der Büttel folgt mir auf'm Fuß, ich hab's noch gehört, wie er Befehl erhalten hat, dich vorzuladen.« – »Wart am Bach drüben auf mich«, sagte er, »da gehen nicht so viel Leut.« – Sie eilte von ihm weg, froh, aus der Nähe des Rathauses zu entkommen. Kaum war sie verschwunden, so kam der Schütz heraus und winkte ihm. »Er erspart mir einen Gang«, sagte er. – »Und einen Schoppen?« lachte Friedrich. – »In der, ›Sonne‹«, erwiderte der Schütz grinsend, »hätt ich, schätz wohl, heut keinen bekommen, das Geschäft trägt's nicht aus. Übrigens ist hier keine Zeit nicht zu verlieren, Er ist vor löbliches [] Kirchenkonvent zitiert und hat ohne Aufenthalt zu erscheinen.« – »Das kann geschehen«, erwiderte Friedrich und ging die Treppe hinauf.
Als er an der Türe des Rathauszimmers auf sein Klopfen keine Antwort erhielt, trat er mutig ein und wünschte einen guten Morgen, blieb jedoch an der Türe stehen. An dem Tische mit geschweiften Füßen, über welchem ein neugemaltes Bild der Justitia hing, saß der Pfarrer obenan, neben ihm der Amtmann, dann der Anwalt, der als Untergeordneter des Amtmanns die Schulzenstelle versah, nach diesem ein Mitglied des Gemeindegerichts und zuletzt der Heiligenpfleger. Diese zusammen bildeten das gemischte Kollegium der Kirchenzensur, dessen vorherrschend geistlicher Charakter, ungeachtet der weltlichen Beimischung, in seinem Namen und im Vorsitze des Pfarrers zu erkennen ist. Das Magistratsmitglied, das über dem Heiligenpfleger saß, blickte den Eintretenden besonders finster an: es war sein Vormund, der sich nicht wenig schämte, seinen Pflegesohn unter solchen Umständen im Verhör zu erblicken. Der Pfarrer räusperte sich. »Tret Er näher daher«, sagte er. Friedrich trat einige Schritte vor. »Es ist mir«, begann der Pfarrer, »von christlich denkenden Leuten, welchen Ärgernis in der Gemeinde leid ist, fürgebracht worden, wie daß die Christina, des Hans Jerg Müllers, Bauren, Tochter, im Geschrei sei, daß sie mit einem Kinde gehe. Als sie daher vor dieses löbliche Zensurgericht fürgeladen worden, hat sie ihre Schwangerschaft nicht leugnen können, und auf Befragen, mit wem sie [] sich göttlichen und menschlichen Gesetzen zum Trotz vergangen, hat sie Ihn als Vater zu ihrem Kind angegeben. Ist das wahr?«
»Ja, Herr Pfarrer und ihr Herren Richter!« sagte Friedrich mit fester Stimme, so daß alle einander betroffen ansahen und dann mit Abscheu auf den jungen Menschen blickten, der mit einem so unerhörten Tone seine Schuld bekannte. Die Freudigkeit, die aus seiner Stimme klang, wurde von diesen Männern, die in den herkömmlichen Bräuchen und Sitten aufgewachsen waren, als eine schamlose Frechheit angesehen.
»Hat Er keinen Verdacht«, fuhr der Pfarrer fort, »daß sie vielleicht noch mit andern Burschen zugehalten hat?«
»Nein, Herr Pfarrer, das hat meine Christine nicht getan.«
»Seine Christine!« sagte Friedrichs Vormund unwillig und höhnisch zum Heiligenpfleger.
»Sie gibt an«, fuhr der Pfarrer fort, »Er habe ihr die Ehe versprochen. Ist das wahr?«
»Ja, Herr Pfarrer, und mit heiligen Eiden.«
»Saubere Eide!« sagte der Pfarrer und las aus dem vor ihm liegenden Protokoll: »›Er habe ihr die Ehe mit vielen Verpflichtungen versprochen; wenn er sie nicht behalte, so solle das erste Nachtmal ihm das Herz abstoßen.‹ Ist dem so?«
»Ja, Herr Pfarrer, akkurat so hab ich gesagt«, antwortete Friedrich ganz vergnügt, daß Christine durch diese Aussage seine redliche Absicht so klar dargelegt hatte.
[] »Er Gotteslästerer!« fuhr der Pfarrer auf, »heißt das ein heiliger Eid, wenn man den Namen Gottes oder seines heiligen Sakramentes so unnütz und ruchlos führt? Ich muß es dem Herrn Amtmann anheimgeben, ob er es nicht seines Amtes hält, gegen diesen offenbaren Frevel vorzufahren.«
»Für Sein Fluchen und Schwören«, nahm der Amtmann, gegen Friedrich gewendet, das Wort, »ist Ihm hiemit ein Pfund Heller angesetzt, unangesehen der andern Strafe, die Ihn für sein Vergehen trifft.«
Der Pfarrer beeilte sich, den Strafsatz ins Protokoll einzutragen und dem Heiligenpfleger aufzugeben, daß er das Geld von dem Kontravenienten richtig einziehe.
»Ich muß es leiden«, sagte Friedrich gelassen, »aber mein Herz hat nichts Böses dabei gedacht, ich hab nicht fluchen und nicht schwören wollen, sondern bloß ein recht festes Versprechen ablegen.«
»Das tut man nicht in so ruchlosen Ausdrücken, die Gott betrüben müssen«, versetzte der Pfarrer.
»Wie kannst du, Lump«, fuhr jetzt sein Vormund gegen ihn auf, »wie kannst du ein Versprechen geben und ein Ehverlöbnis eingehen ohne Einwilligung deines Vaters, da du doch minderjährig bist?«
»Das wird sich auch bei der Strafe finden, Herr Senator«, bemerkte der Amtmann. »Wenn sponsalia clandestina gewesen sind oder ein minderjähriger Bursche sich vor erlangter Dispensation verlobt, so ist laut Resolution vom« – er blätterte eine Weile [] in den umherliegenden Gesetzen, Reskripten und Normalien und fuhr dann ärgerlich, die Stelle nicht gleich zu finden, fort: »so ist laut hochfürstlicher Resolution, die vor kaum vier Jahren emanieret, das Vergehen nicht als ein zwischen Verlobten vorgefallenes, sondern als ein gemeines delictum carnis anzusehen und demgemäß mit höherer Strafe zu belegen, und zwar selbst dann, wenn nachträgliche legitime Verlobung und Heirat erfolgt, was hier alles noch im weiten Felde stehen dürfte.«
Friedrich, der den Sinn dieser Rede ungeachtet der eingestreuten lateinischen Brocken gar wohl verstanden hatte, nahm das Wort und sprach: »Ihr Herren, man kann mich strafen, so viel und hoch man will, darum laß ich doch nicht von meinem Schatz, und wenn man uns auch ansieht, als ob wir wie unehrbare und verrufene Personen wider das sechste Gebot gesündigt hätten, so weiß ich doch, daß nichtsdestoweniger mein Schatz ein ehrlich's Mädle ist und so sittsam wie nur einem von den Herren seine Frau sein kann.«
Die Konventsrichter hatten eine Weile ihren Ohren nicht getraut und ihn deshalb ruhig sprechen lassen, dann aber entstand ein Aufruhr am Ratstische. »Will Er schweigen?« rief der Pfarrer. »Man hat Ihn vorgeladen, damit Er sich verantworte«, herrschte ihm der Amtmann zu, »und nicht, damit Er sein böses Maul brauche.« »Ich möcht dich zerbrechen«, schrie sein Vormund, »bist noch nicht hinter den Ohren trocken und schwätz'st so frech's und ungesalzen's Zeug.« »So einer ist mir noch gar nie [] vorkommen, so lang ich im Kirchenkonvent sitz«, sagte der Heiligenpfleger, »die andern wagen die Augen kaum aufzuschlagen und schämen sich der Sünd, der aber pocht und will noch gut haben.«
»Und lästert göttliche Gebote«, hob der Pfarrer wieder an. »Und fürstliche Verordnungen«, fügte der Amtmann hinzu. Der Anwalt sagte gar nichts, der unerhörte Auftritt hatte lähmend auf seinen Geist gewirkt.
Friedrich wollte abermals sprechen. »Still!« riefen der Pfarrer und der Amtmann. »Still!« schrien die andern Mitglieder hinterdrein.
Friedrich biß die Zähne übereinander und schwieg.
»Wie kannst du's vor deinem rechtschaffenen Vater verantworten«, fuhr ihn sein Vormund an, »daß du dich hinter seinem Rücken in eine solche Lumpenliebschaft eingelassen hast, und was glaubst du, daß er dazu sagen wird, daß du ohne sein Wissen dich mit einem Ehversprechen gebunden hast, und willst jetzt behaupten, du lassest nicht davon? Das will ich von dir hören.«
»Es ist mir ja verboten zu reden«, erwiderte Friedrich störrisch.
»Nein, nein!« befahl der Pfarrer, »darüber darf und soll Er sich verantworten, daß Er den kindlichen Gehorsam so gänzlich hintangesetzt und sich eigenmächtig in eine Verbündnis eingelassen hat, die ein junger Mensch, wenn der Segen Gottes dabei sein soll, nur unter ausdrücklichem Konsens seiner Eltern nach deren reiflicher Erwägung und in der Zucht Gottes schließen soll.«
[] »Herr Pfarrer«, antwortete Friedrich, »meine Meinung ist, wenn ein Mensch heiraten soll, so kann's sein Vater nicht für ihn versehen, sondern jeder muß selber wissen, was sich für ihn schickt. Wenn ich meinen Vater für mich wählen ließ und es tät nachher übel ausfallen, so kann ich ihm doch die War nicht heimschlagen, sondern muß sie behalten. Darum, weil ich die Verantwortlichkeit dafür mein ganzes Leben lang, oder bis Gott anders verhängt, tragen muß, so halt ich's auch für recht und billig, daß es dabei nach meinem Kopf geht und nicht nach einem fremden. Hab ich mich dann vergriffen in meiner Wahl, so muß ich's haben und geschieht mir recht, wenn ich's mein ganzes Leben durch büßen muß, darf mich auch über keinen andern beklagen; muß ich aber einen fremden Fehler büßen, so widerfährt mir groß Unrecht und hilft mich all mein Klagen und Schelten doch nichts mehr.«
»Das sind sündliche, eigenwillige, aufrührerische Reden!« rief der Pfarrer, »Er wird's noch an Galgen bringen, wenn Er so fortfährt, nach Seinem Kopf zu leben und elterliche, obrigkeitliche und göttliche Autorität zu verachten.«
»Herr Pfarrer, was werden wir uns lange mit dem rechthaberischen Tunichtgut herumstreiten?« sagte der Amtmann. »Die Obrigkeit gibt sich viel zu sehr herunter und büßt an ihrem Ansehen ein, wenn sie sich mit den Untertanen in Disputationen einläßt, absonderlich mit einem Buben, der der Rute noch nicht entwachsen ist. Hier liegen die Gesetze und [] Verordnungen. Unsere Sache ist es, sie auszuüben, seine, sich in das Gesetz und in die Welt zu fügen. Wenn er das nicht in den Kopf bringt, so mag er dahinfahren.«
»Ich glaube auch, daß es verlorene Worte sind, die man an ihn verschwendet«, versetzte der Pfarrer.
»Ja, ich hab das öd Geschwätz ganz satt«, sagte der Anwalt, welcher schwerlich damit die Reden des Pfarrers und des Amtmanns meinte, es aber doch im Dunkeln ließ, wem diese verdrießliche Bezeichnung galt.
»Fort mit ihm! Fort!« schrien der Richter und der Heiligenpfleger.
»Einen Augenblick Geduld noch!« rief der Pfarrer. »Seine Aussage ist also, daß Er der Christina Müllerin die Ehe versprochen habe und sie heiraten wolle, wenn Sein Vater das Jawort dazu gibt?«
»Ja«, antwortete Friedrich, »mit der Einwilligung gleich jetzt, und ohne die Einwilligung später, wenn ich mein eigener Herr bin.«
Der Pfarrer wiederholte die vorigen Worte murmelnd, während er sie ins Protokoll schrieb. »Er kann gehen«, herrschte er dann und klingelte. »Den Sonnenwirt!« rief er dem eintretenden Schützen zu.
Christine stand am Bach und weinte, aber ihr Gesicht klärte sich alsbald auf, als sie ihren Freund kommen sah. »Es hat den Kopf nicht gekostet«, sagte er lachend. »Sie haben mir zwar schandlich getan, und zuletzt haben sie mich gar fortgejagt, weil sie nicht Meister über mich worden sind, aber sie haben mir's eben doch Schwarz auf Weiß zu [] Protokoll nehmen müssen, daß es zwischen uns beiden richtig ist, und das ist die Hauptsach.«
Als er ihr dann erzählte, daß er wegen seines Schwures noch extra gestraft worden, war sie sehr betreten und sagte: »Ach Gott, wenn ich das gewußt hätt, so hätt ich dich nicht verraten.«
»Sei nur zufrieden«, entgegnete er, »sie wissen jetzt um so gewisser, daß ich dir Wort halt.«
»Oh, du bist brav«, sagte sie, sich an ihn anschmiegend. »Sieh, das richtet mich immer wieder auf, wenn mich das Elend zu Boden drücken will. Aber das sind wüste Leut, die Herren«, fuhr sie fort, »ich hätt gar nicht glaubt, daß es so herging bei ihnen. Hat der Pfarrer auch so wüst's Zeug an dich hingeschwätzt?«
»Dumm's Zeug g'nug, aber nichts Wüst's. Was hat er denn gesagt?«
Sie drückte sich noch näher an ihn an und wagte ihm nur ins Ohr zu flüstern. »Denk nur«, sagte sie, »›Wann ist die böse Tat geschehen? Wo ist die böse Tat geschehen? Wie ist die böse Tat geschehen?‹ Das hat er mich alles nacheinander gefragt, und es hätt not getan, daß ich ihm noch mehr gesagt hätt, als ich gewußt hab. Ich bin schier in Boden gesunken, so hab ich mich geschämt. Auch hat er wissen wollen, ob's an einem Sonntag geschehen sei? Du kannst dir aber wohl denken, was ich darauf geantwortet hab.«
»Man sollt's nicht glauben«, sagte Friedrich, »was so ein alter geistlicher Hirt vor seinen Lämmern Sprung machen kann. Spricht der von der bösen [] Tat, wie er's heißt, mit einem Gesicht – so – gelt, voll Abscheu?«
»Freilich, ein Gesicht hat er dazu gemacht, als wenn's ihm recht übel wär.«
»Ja, aber protokolliert eine ganze Stund fort und kann gar nicht loskommen von der bösen Tat und wärmet sich dran, wie der König David an der jungen Dirne, von der in der Bibel geschrieben steht. Wenn er's für eine Sund und ein Laster hielt, so blieb er nicht so lang dabei stehen. Mich hätt er so was fragen sollen! Ich hätt ihn an seine Frau verwiesen: die soll's ihm erzählen, wenn er's nicht mehr wisse. Etwas Ähnlich's hab ich ihnen ohnehin gesagt.«
»Du bist aber keck!« versetzte Christine. »Hast du denn nicht auch Abbitt tun müssen?«
»Ich, abbitten? Ich will nicht hoffen, daß du so schmählich gewesen bist.«
»Was hab ich denn machen können? Der Pfarrer hat immer auf mich hineingefragt, ob mir die böse Tat nicht leid sei. Anfangs hab ich darauf geschwiegen, dann hat er geschimpft und gepredigt, und zuletzt hab ich eben zu allem Ja gesagt. Dann hat er unterm Protokollschreiben vor sich hingebrummelt: ›Sie sagt, sie trage Reue und Leid vor Gott und den Menschen, und solle ihr gewiß nicht wieder fürkommen, und bitte Gott und die liebe Obrigkeit um Verzeihung und um eine gnädige Straf!‹ Du weißt ja, er sagt das, was er schreibt, immer vor sich hin, es ist dann so gut wie vorgelesen. Aber meine eigene Wort sind's nicht, sondern er hat sich's eben aus [] meinem Ja herausgenommen, und Ja hab ich gesagt, nur daß es einmal ein End nimmt, denn sonst wär ich gar nicht fortkommen, und dir selber hat's ja so schon zu lang gedauert, ich hab gemeint, du wollest mich fressen, wie ich kommen bin.«
»Geh«, sagte er, »das gefällt mir nicht, daß du dich hast so runtertun lassen. Hättest besser hinstehen sollen.«
»Du darfst mich auch noch schlecht machen«, maulte sie. »Wie du bist aus der Fremde kommen und deines Vaters Haus ist dir verschlossen gewesen, gelt, da hast dich auch runtertun lassen und hast brav versprochen, du wollest nichts mehr von mir?«
»Das hab ich nicht versprochen«, entgegnete er, »und der heutig Tag kann's dir am besten beweisen, daß ich's weder versprochen noch gehalten hab.«
»Ja, das ist wahr«, sagte sie und streichelte ihn.
»Recht hab ich aber doch«, fuhr er fort, »das spür ich in meinem Herzen. Die's trifft und die vor Konvent kommen, müssen Buße tun und Strafe leiden, und sind doch um nichts schlechter als die andern. Ich weiß gewiß, die wenigsten sind sauber, und viele, die nicht vorgeladen und nicht gestraft werden, haben noch viel ärgere Sachen aufm Gewissen, und wenn vollends unser Herrgott Umgang hält und sieht nach den Gedanken, so möcht ich doch auch wissen, wer vor ihm besteht. Wenn ich dann vollends an die Offizier und Hofkavalier und an den Herzog selber denk – der treibt, was der Welt Brief ausweist, vor dem ganzen Land, und das ganz Land [] weiß, wer seine Damen sind, denn so heißen sie's bei Hof, wenn sie aber mit uns deutsch reden, dann erfahren wir, wie das Kind getauft ist. Und zudem geht er noch manchem ehrlichen Mann ins Revier, absonderlich in Stuttgart, wo man sich aber oft noch eine untertänige Ehr draus macht. Der gemeine Mann denkt anders drüber. Ganz kürzlich ist mir noch erzählt worden, wie's ihm ein Bauer gemacht hat auf der Jagd. Da hat er eine italienische Tänzerin, seine Hauptliebschaft, bei sich gehabt, die ist als ein Bub verkleidet gewesen, Page heißen sie's, und ist ihm hinausgekommen, daß er vielleicht geglaubt hat, sie woll ein wenig schwärmen, denn am Hof geht's her wie in der Arch Noä, und wie er so im Wald rumjagt, um sie zu suchen, trifft er einen Bauern und schreit ihm zu: ›Bauer, hast du den Pagen nicht sehen reiten in Samt, blau und weiß?‹ ›Ja‹, sagt der Bauer, ›eben ist sie da abe.‹ Drauf lacht der Herzog, was er nur kann, und jagt den Berg hinunter, wie ihn der Bauer gewiesen hat. Und so einer will Resolutionen erlassen, daß zwei Leut, wie wir, die's ehrlich miteinander haben, nach den Ehrennamen, die sie uns geben, sollen gestraft werden. Und seine Mutter, die alt Herzogin, die er in Göppingen droben gefangen hält, die sagt von ihm aus, er sei nicht einmal seines Vaters rechter Sohn. Und solche Leut, die sich selber des Ehbruchs beschuldigen, wollen ihre Untertanen wegen Übertretung des sechsten Gebots strafen. Da soll doch ein siedig's Donnerwetter!«
»Bitt dich um Gottes willen!« sagte Christine, die[] ihm, obgleich sie ganz allein waren, schon mehrmals den Mund zu stopfen gesucht hatte, »du red'st dich ins Unglück!«
»Ich sag's ja nur dir«, entgegnete er, »und der Bach da wird's auch nicht ausschwätzen. Aber der Pfaff soll einmal vor den Herzog treten und ihn fragen, was er zu der bösen Tat sage und ob er nicht Gott und die liebe Obrigkeit um Verzeihung bitten wolle.«
»Ich muß jetzt heim«, sagte Christine, »begleit mich noch ein, wenig.«
»Komm, Frau Friederin. Wenn du jetzt auch noch nichts weiter bist als das, so bist du doch mehr als des Herzogs Damen alle miteinander. ›Kebsweiber‹, sagt die Bibel, wenn sie's noch gnädig macht. Aber der Salomo ist ein Judenkönig gewesen und kein Herzog Karl zu Württemberg und Teck samt seinen Resolutionen.«
19
»Lausbub, liederlicher!« schrie der Sonnenwirt seinem Sohne bei dessen Heimkunft entgegen, »lügst mich an, als ob du bemüht wärst, Schimpf und Schand von mir abzuwälzen, und tust in gleicher Zeit das Gegenteil, machst schlechte Anschläg mit deiner Person zusammen, gibst bei Kirchenkonvent vor, du habest ein Ehverlöbnis eingegangen, um mich dadurch, wie du vermeinst, zu meiner Einwilligung zu zwingen, und sprengst mich selber vor die Herren, daß ich deine Schandtaten ausbaden soll.«
[] »Nur gemach, Vater«, erwiderte Friedrich dem Wütenden, »von Lügen kann gar nicht die Rede sein, denn wie ich's mit der Christine hab, das hab ich Euch ja schon von Anfang an ohne Umschweif und ganz unverränkelt gesagt, und ausgemacht hab ich mit ihr nichts anderes, als daß wir bei der Wahrheit bleiben wollen. Habt Ihr aber gemeint, ich werd sie überreden, daß sie sich selber zum Nachteil und zur Schmach eine Lüge sagen solle, so seid Ihr eben schief dran gewesen, denn ich hab Euch nichts dergleichen versprochen. Dessen ist Euer Sohn nicht fähig. Zur Zeit Eurer Jugend mag's vielleicht Mode gewesen sein, ein armes Mädle mitsamt ihrem Kind ins Elend zu stürzen und sich von ihr rein zu schwören. Jetziger Zeit aber hält man so etwas für eine Schlechtigkeit, ich wenigstens halt's dafür, und ein rechtschaffener Vater sollt's auch dafür halten und sollt seinem Sohn nicht zureden, daß er's tue, sondern wenn er damit umgeht, das Mädle zu verraten, das ihn lieb hat und auf ihn vertraut, und das unschuldig Würmle – sein eigen Fleisch und Blut, Vater! – zu verleugnen, so sollt er ihm väterlich ins Gewissen reden und ihm vorstellen, daß ein Mensch, der das tut, sein Leben lang, und ob's ihm noch so gut ging, keine ruhige Stund mehr haben kann.«
Der Sonnenwirt tobte und ergoß sich in Verwünschungen über die Zuchtlosigkeit und dazwischen in Klagen über die unehrerbietige Aufführung seines Sohnes. Die Sonnenwirtin, welche zugegen war, freute sich innig über diese Stichelreden und schürte [] den Zank, so daß es beinahe zu Tätlichkeiten kam. Der Sonnenwirt brach jedoch endlich ab und sagte: »Ich will nicht länger mit dir streiten, aber das erklär ich dir rundweg und hab's auch vor den Herren gesagt, mein' Konsens geb ich nun und nimmer dazu.«
»Dann steh ich wenigstens vor aller Welt gerechtfertigt da, wenn's ein Unglück gibt«, antwortete Friedrich.
»Und was das Rabenkind Geld kostet!« wandte sich der Sonnenwirt zu seiner Frau. »Denk nur auch, der Amtmann tut's nicht anders, als daß die Straf in Geld bezahlt werden soll. Fünfundzwanzig Gulden fordert er für den Fehltritt. Ich hab gebeten, man soll's den Burschen abverdienen lassen, wie andere seines Gelichters auch, die man in die herzoglichen Gärten nach Stuttgart und Ludwigsburg zum Arbeiten schickt; Schimpf und Spott ist er ja schon gewohnt. Aber der Amtmann hat gesagt, es sei nicht zu machen, und hat mir eine Verordnung vorgelesen, worin es heißt, die Beamten sollen besser auf das herrschaftliche Interesse sehen und, wo möglich, die Delinquenten künftig an den Beutel hängen, statt sie ihre Strafen in öffentlichen Arbeiten abverdienen zu lassen; ja, wenn auch nur die Terz, Quart oder die Hälfte der Strafe in Geld bezahlt werden könne, so müsse das geschehen und könne dann der Rest, wenn es absolut nicht anders herauszuschlagen sei, in eine Arbeitsstrafe verwandelt werden; sogar wenn einer nur eine Erbschaft zu erwarten habe, so müsse darüber an die Regierung berichtet [] und der Bescheid abgewartet werden; und wenn je die Beamten sich nicht danach achten und dadurch das fürstliche Interesse Not leiden lassen sollten, so werde man sich an sie selbst und an ihr eigenes Vermögen halten. Das, hat der Amtmann gesagt, könn ich ihm nicht zumuten.«
»Da ist's kein Wunder«, bemerkte die Sonnenwirtin, »daß die Zucht immer mehr aus der Welt verschwindet. In der guten alten Zeit, wo man noch auf Sittsamkeit und Gottesfurcht gehalten hat, hat man die Sünder zu einer schimpflichen Haft, ja bei Wasser und Brot, verurteilt, damit sie auch gewußt haben, wie's tut, und nur in Ausnahmefällen bei gebrechlichen Personen hat man die Verwandlung der Straf in Geld verstattet. Jetzt aber ist die Ausnahm zur Regel worden, und auch wer nicht zahlen kann, der muß wenigstens der Herrschaft den Vorteil durch Arbeiten einbringen, damit sie ja nichts verliert. Lieber Gott, was ist das für eine Welt! Der Reich legt das Geld hin und lacht dazu, und der Herzog, als ob's an den Steuern nicht genug wär, lebt noch von den Sünden seiner Untertanen.«
»Und geht ihnen mit einem guten Beispiel voran«, lachte Friedrich. »Zürnen wird er ohnehin keinem drüber, denn es trägt ihm ja Geld ein, woran's ihm immer fehlt.«
»Schweig du still!« gebot der Sonnenwirt. »Ich hab dann den Amtmann bitten wollen«, fuhr er gegen seine Frau fort, »er solle dem Buben attestieren, daß er abhängig sei und über kein Vermögen zu verfügen hab. Der Amtmann aber hat mich ausgelacht [] und hat mir geantwortet, da müßte man allen Kindern bei Lebzeiten ihrer Eltern Armutsattestate ausstellen, und überdies sei dies grad bei dem Buben nicht wahr, da er ja sein Mütterliches besitze, wenn er auch nicht frei darüber verfügen könne.«
»Und von dem Mütterlichen«, sagte Friedrich, »wird die Strafe bezahlt, dann könnt Ihr Euch nicht beklagen, Vater, daß ich Euch Unkosten verursach.«
»Du wirst dein Mütterlich's bald eingebrockt haben, du Lump, wenn du so fort machst«, versetzte der Sonnenwirt.
»Vater«, sagte Friedrich, »gebet mir die Christine und gebet mir mein Mütterlich's dazu, daß ich 'n Anfang hab, dann will ich's Euch schriftlich geben, daß ich Euch nicht bloß mit keiner weiteren Anforderung beschwerlich fallen will, sondern will auf alles Erbteil an Euch verzichten.«
»Du hast ohnehin kein Recht darauf«, erwiderte der Sonnenwirt. »Ich kann erben lassen, wen ich will, und wenn du dich nicht besserst, so laß ich dich ganz aus meinem Testament.«
»Vater«, versetzte Friedrich, »wenn's durch Eure Härte dahin kommt, daß ich vielleicht noch vor Euch sterben muß, dann wird Euch gewiß dieses Wort gereuen.«
»Es wär dir vielleicht besser, du führst noch bei guter Zeit in die Grube, eh das Unglück größer wird«, entgegnete der Alte. »Du kannst dich ja doch in nichts schicken. Mach nur so fort und verschenk Erbschaften, eh du sie hast. Du scheinst mir's [] mit dem Eigentum leichter zu nehmen, als billig ist. Freilich, du hast ja schon Proben davon gegeben und hältst dich lieber nach Zigeuner- als nach Christenart.«
Friedrich fuhr auf, und der Zank drohte noch heftiger auszubrechen, als man über die Straße ein großes Geschrei vernahm, das demselben ein Ende machte. Es war ein Lärm und ein Zusammenlaufen, dessen Ursache man bald erfuhr. Während in der ›Sonne‹ Vater und Sohn in bösem Wortwechsel begriffen waren, hatte sich in der Nachbarschaft noch ein ärgerer Auftritt zugetragen. »Der Kübler hat sich leiblos gemacht!« rief man von allen Seiten. So war es auch. Der Kübler, der schon lange mit seinem Weibe im Unfrieden gelebt, hatte ihr zum Abschied Arndts ›Wahres Christentum‹ ein paarmal um den Kopf geschlagen und sich dann mit einem stumpfen Messer den Hals abgeschnitten. Da solche extreme Begebenheiten unter der zahmen Bevölkerung ziemlich selten waren, so geriet der ganze Flecken in Aufregung, und jeder andere Handel schwieg über dem unehrlichen Grabe des Selbstmörders, den man nach Vorschrift bei Nacht in einer Waldklinge verscharrte.
20
Wenige Tage nach diesem Vorgang traf Friedrich, der sich nun an kein Verbot mehr gebunden fühlte, die Familie Christinens in großer Bestürzung an. [] Christine und ihre Mutter weinten laut, als er eintrat, und der Alte, der sein häusliches Mißgeschick mit leidlichem Gleichmut ertragen hatte, schien heute ganz zerschmettert zu sein. Auf Friedrichs Befragen erzählte er, er sei vom Pfarrer und auch vom Amtmann vorgefordert worden. Der Pfarrer habe ihm eine recht bibelmäßige Predigt gehalten wegen der Sünde, daß er die standeswidrige Liebschaft seiner Tochter geduldet, und ihn vermahnt, nunmehr in christlicher Demut das Unglück derselben als eine Strafe Gottes für seinen Hochmut hinzunehmen, auch ihm eröffnet, daß, wenn er nicht seine Einwilligung zu ihrer Heirat mit dem Sonnenwirtssohne entschieden versage, er in allen künftigen Fällen von Not oder Krankheit auf eine Unterstützung aus dem Heiligen nicht mehr rechnen dürfe.
»Das kommt von meiner Frau Stiefmutter her, die hat sich hinter den Pfarrer gesteckt«, sagte Friedrich bitter. »Aber wartet nur, Vetter, es kommt gewiß noch eine Gelegenheit, wo ich's dem Höllenpfaffen eintränken kann, daß er einem Vater zumuten will, er solle dazu mithelfen, seine eigene Tochter um ihre Ehre zu bestehlen.«
»So lang's am Sonnenwirt fehlt«, versetzte der Hirschbauer, »ist's eigentlich gleichgültig, ob ich meine Einwilligung geb oder nicht, und das hab ich auch dem Pfarrer gesagt. Aber es hat mir schier das Herz auseinandergerissen, daß man arme Leut so unterdrückt. Ich soll aus Hochmut Ihm die Tür zu meiner Tochter offengelassen haben, ich soll auf [] unrechten Wegen eine vornehme Verwandtschaft gesucht haben, während ich von Anfang an gegen die Sach gewesen bin! Ich will Ihm jetzt keinen Vorwurf mehr machen, seit Er sich gestern vor'm Kirchenkonvent so wacker gehalten hat und hat Gott und der Wahrheit die Ehr geben, was nicht ein jeder tut; aber das kann ich Ihm sagen, Er ist ein Nagel zu meinem Sarg, und wenn das Ding sich nicht bald anders wendet, so wird man sehen, wie tief mir's ins Herz gefressen hat. Armut und Niedrigkeit kann ich tragen, aber der Schmach und Verachtung bin ich mein Leben lang aus dem Weg gangen, und ich spür's am Verfall in meinen morschen Knochen, daß mich auch diesmal zuletzt der Sensenmann drüber wegführen wird.«
»Ich hoff vielmehr, Ihr sollt auf die Trübsal noch Freud an uns erleben«, sagte Friedrich, dem die Worte des alternden, gebeugten Mannes ins Herz schnitten.
»Da müßt's gar anders kommen«, erwiderte der Hirschbauer. »Für jetzt ist ein Tag schwärzer als der ander. Nach dem Pfarrer hat mich der Amtmann erfordert und hat gefragt, wie es denn mit der Christine ihrer Straf steh.«
»Die zahl ich!« unterbrach ihn Friedrich. »Das versteht sich von selbst. Das Geld kann ich freilich jetzt nicht geschwind herhexen, aber der Amtmann muß eben ein Einsehen haben.«
»Der tut arg pressant«, sagte der Hirschbauer. »Daß ich das Geld nicht aufbringen kann, hat er gleich von selber anerkannt und gesagt, ich müsse eben [] ohne Verzug um Strafverwandlung einkommen, damit sie's abverdienen könne, und wenn ich vernünftig sein und versprechen wolle, dem Sonnenwirt nicht mit ungeschickten Heiratsbegehren für sie zur Last zu fallen, so wolle er sehen, daß die Strafe, weil es das erstemal sei, glimpflich ausfalle. Nach dem, was er mir zu verstehen geben hat, soll's auf das hinauskommen: der Schütz und sein Weib sind, scheint's, faul, und da soll meine Tochter bei Amt alles tun, was sie nicht verrichten mögen, Botengänge, Ausputzen, den Gefangenen ihr Sach besorgen –«
»Das sind appetitliche Geschäfte zum Teil«, bemerkte Friedrich.
»Und außerdem soll sie dem Amtmann oder vielmehr der Amtmännin im Feld und Garten schaffen.«
»Hat er das gesagt?« rief Friedrich ganz erfreut.
»Wenn's nicht anders sein kann«, fuhr der Hirschbauer fort, »so wär das freilich nicht das Schlimmst, wiewohl michs hart ankommt, das Mädle gleich von jetzt an, sechs Wochen lang, denn so lang will's der Amtmann, in meinem bißle Feld entbehren zu sollen, so daß ich mit meinen Buben nicht so viel wie sonst im Taglohn verdienen könnt.«
»Jetzt hab ich ihn!« rief Friedrich voll Freude.
»Dem will ich's vertreiben, aus meiner Christine einen Fleckensträfling zu machen, der den Gefangenen ausmisten soll. Habt nur ein wenig Geduld, die Trübsal soll schnell vorübergehen!«
Er stürmte fort, ohne der erstaunten Familie zu erklären, [] was er vorhabe. Hierauf begab er sich zu seinem Vormund, um das Geld zur Bezahlung seiner Strafe von ihm zu fordern. »Es ist Notsach, ich kann's dir nicht verweigern«, sagte das Gerichtsund Kirchenkonventsmitglied, »aber nimm dich in acht, ich schick hinter dir drein, ob du's auch gewiß aufs Rathaus trägst und nicht anderswo vertust.«
»Ich hab Ihm noch nichts unterschlagen, Herr Vetter«, bemerkte Friedrich.
»Sollst's auch wohl bleiben lassen«, erwiderte der Richter.
Friedrich blieb einen Augenblick stehen und besann sich. Zwar sagte er sich voraus, daß ein Versuch, auch das Geld zur Bezahlung von Christinens Strafe zu erlangen, ein ganz vergeblicher sein würde, aber doch meinte er ihn machen zu müssen. Der Unglaube, mit dem er seine Bitte vorbrachte, wurde jedoch vollkommen gerechtfertigt, denn der Vormund hielt ihm eine derbe Strafrede und meinte, es werde für sie ganz gesund sein, wenn sie auf einige Zeit nach Ludwigsburg komme, um sich alldorten alle dummen Gedanken vergehen zu lassen. Friedrich wünschte ihm einige tausend Teufel auf den Hals und empfahl sich.
Mit dem Gelde versehen, ging er in das Amthaus, wo er den Amtmann allein in seinem Zimmer traf. »Hier«, sagte er, indem er das Geld auf den Tisch legte, »will ich dem Herrn Amtmann das Strafgeld für mein' Schatz überbringen.«
Der Amtmann lachte. »Und wo ist denn das Seinige?« fragte er.
[] »Dazu hat's nicht gereicht, ich will's abverdienen.«
»Er ist ein Querkopf«, sagte der Amtmann, die Stirne schnell wieder in Falten legend. »Das sind Flausen, man kennt Seine Vermögensumstände und die ihrigen. Das ist ja«, fuhr er sehr verdrießlich fort, das Geld auseinanderlegend, »das sind ja dieselben Sorten, die ich Seinem Pfleger heut geschickt habe. Es scheint, dem ist mein Geld nicht gut genug, daß er die erste Gelegenheit benutzt, es mir wieder zurückzuschicken; mit ein wenig Geduld und Umsicht hätt er's wohl loswerden können. Nun ja, das ist also die Strafe für Ihn, die Er ritterlicherweise für Seine Amaryllis hat einsetzen wollen. Für diese hätte es nicht soviel ausgemacht, ich taxiere sie nicht so hoch.« Er zählte das Geld und sagte: »Sein hochwohlweiser Herr Vormund muß den Beutel noch einmal auftun, er hat im Rechnen manquiert. Das ist nur die Strafe; dazu gehört aber noch das Surplus, von jedem Gulden drei Kreuzer für das Zuchthaus in Ludwigsburg, ferner drei Kreuzer Tax vom Gulden und endlich von zehn Kreuzern ein Kreuzer Schreibgebühr.«
Friedrich erbot sich, das Fehlende gleich zu holen. »Das sind Blutigel!« sagte er unterwegs zu sich. Aber es ergötzte ihn, obgleich der Spaß auf seine eigenen Kosten ging, das lange Gesicht seines Vormundes zu sehen, als derselbe sich eines Irrtums in der Rechnung überführt sah und noch einmal in die Kasse greifen mußte, was ihm sogar bei fremdem Gelde schwerzufallen schien.
Als Friedrich den Nachtrag gebracht und der Amtmann [] das Geld gezählt hatte, nahm jener das Wort: »Und jetzt, mit des Herrn Amtmanns Wohlnehmen, möcht ich fragen, wie es mit der Christine werden soll.«
»Was geht das Ihn an?« sagte der Amtmann.
»Wir gehen einander nun doch einmal näher an«, erwiderte Friedrich, »und da wird man's nicht anders als billig und christlich finden, wenn ich mich um sie bekümmere. Ich hab gehört, der Herr Amtmann wolle sie ihre Strafe hier bei Amt und mit Feld- und Gartenarbeit abverdienen lassen.«
»Und wenn dem so wäre?« sagte der Amtmann, nach und nach aufmerksam werdend.
»Es wär mir nicht lieb, wenn sie vor dem ganzen Flecken Strafarbeit verrichten müßt –«
»Wer fragt denn darnach, ob's Ihm lieb ist oder nicht?«
»Und zudem, Herr Amtmann, sind das keine herrschaftlichen Geschäfte.«
Der Amtmann richtete sich hoch auf, und sein sonst gutmütiges Gesicht nahm einen bösartigen Ausdruck an. »Ich glaub, Er will den Advokaten machen!« sagte er.
»In dem Punkt wär ich nicht ganz untauglich dazu«, antwortete Friedrich. »Es gibt nichts in der Welt, Herr Amtmann, das nicht seine gute Seite hätte. So auch das Zuchthaus. Dort bin ich mit einem zusammengewesen, der hat mir erzählt, ein Amtmann habe ihn, wie er einmal zum Schellenwerken verurteilt gewesen sei, statt dessen in seinen eigenen Privatgeschäften arbeiten lassen; es sei jedoch [] herausgekommen, und man habe ihn, was ihm übrigens nicht willkommen gewesen sei, zu öffentlichen Arbeiten abgeführt, der Amtmann aber« – hierbei sah er dem Amtmann scharf in die Augen – »sei um zwanzig Reichstaler gestraft worden.«
Der Amtmann wurde blaurot im Gesicht, so daß man bei seiner nicht eben magern Gestalt einen Augenblick einen gefährlichen Anfall befürchten konnte. Es ging aber vorüber, und er sagte verächtlich: »Ihm, einem Züchtling, einem vielfältigen Facinoroso, wird man viel Glauben schenken, wenn Er etwas wider mich vorbringen will.«
»Der Herr Amtmann«, erwiderte Friedrich, »vergißt, daß ich nicht allein darum weiß.«
»Es ist wahr«, versetzte der Amtmann, »ich habe aus gutem Herzen dem alten Müller angeboten, seine Tochter die Strafe auf eine leichte und gelinde Art abbüßen zu lassen. Dabei war es nicht sowohl mein als meiner Frau Gedanke, sie in unserer Privatökonomie nebenher zu beschäftigen; es ist aber nicht mit einem Wort die Rede davon gewesen, daß sie das im Strafwege tun solle, sondern sie hätte Geld dabei von uns verdient, das wir jetzt Würdigeren zukommen lassen werden. Die Amtsgeschäfte aber, die ich ihr zur Abverdienung ihrer Strafe habe auferlegen wollen, sind allerdings herrschaftliche Geschäfte. Doch darüber brauche ich mit Ihm nicht zu streiten. Das Gesindel ist nicht wert, daß man humane Absichten mit ihm hat. Sein Weibsbild kommt jetzt nach Ludwigsburg in den Herrschaftsgarten, muß dort sechs Wochen lang arbeiten, wird [] mit Wasser und Brot gespeist, was sie jedoch abermals abverdienen muß, nachts ins Blockhaus eingeschlossen, damit sie nicht dem Bettel und der Liederlichkeit nachziehen kann, und außerdem muß sie den von neuem wieder eingeführten ** karren ziehen. Das hat Er mit Seiner ritterlichen Protektion für sie herausgeschlagen.«
»Es ist mir immer noch lieber, als wenn sie vor dem ganzen Flecken Strafarbeit verrichten soll«, erwiderte Friedrich trotzig. »Was in Ludwigsburg vorgeht, sieht man in Ebersbach nicht. Übrigens hat ihr Vater doch noch Freund, daß er vielleicht die Straf in Geld aufbringen kann. Und auch in dem Punkt bin ich wieder ein Advokat: Ich weiß, daß der Herr Amtmann das Geld nicht zurückweisen darf, weil er für das fürstliche Interesse besorgt sein muß.«
»Es steht aber bei mir, wie lange ich zusehen will«, entgegnete der Amtmann. »Meine Nachsicht wird nicht lange dauern. Und nun sorg Er, daß Er mir aus den Augen kommt. Es geht mir wie meiner Frau mit Ihm. Laß Er sich nicht wieder im Amthaus betreten, ohne daß ich Ihn verlangt habe.«
Den andern Abend spät erschien Friedrich beinahe atemlos in der Stube des Hirschbauern. »Hier ist das Geld für die Straf«, sagte er, die blanken Münzen auf den Tisch legend.
»Wie kommt Er zu dem Geld?« fragte der Hirschbauer, »sein Vater hat's Ihm gewiß nicht gegeben.«
»Nein«, antwortete Friedrich, »aber ich hab's auf eine Art erworben, daß ich's verantworten kann, das[] heißt, zwischen mir und dem, von dem ich's hab, ist offene, ehrliche Sach.«
Er war nicht zum Geständnis zu bewegen, wie er zu dem Gelde gekommen sei, sondern wiederholte beharrlich seine vorige Versicherung, schärfte jedoch dem Hirschbauer ein, er solle, wenn der Amtmann frage, nicht angeben, von wem er das Geld habe, weil das nur neue Weitläufigkeiten zur Folge haben würde; er solle sagen, es sei ein für den äußersten Notfall gespartes Schatzgeld oder was ihm sonst Gescheites einfalle.
Als der Hirschbauer aus dem Amthause zurückkam, erzählte er mit bedenklicher Miene, der Amtmann habe das Geld zwar genommen, dabei aber bemerkt, das sei ein bedenklicher Reichtum, nach dessen Quelle er bei Gelegenheit forschen wolle.
21
Von der ›Sonne‹ war aller Friede und alle Freude gewichen. Beinahe täglich gab es zwischen Vater und Sohn stachlige Reden, Wortwechsel, Geschrei und heftige Auftritte, und wenn Handlungen vermieden wurden, die das letzte Band der Liebe in einer Familie zerreißen, so kam dies bloß daher, daß der Sonnenwirt die entschiedene Erklärung seines Sohnes, ein herabwürdigendes Schimpfwort gegen Christinen werde ihn zu den äußersten Schritten treiben, sich zu Herzen genommen hatte. Auch würde er der Achtung, welche der Mann dem Manne durch [] unbeugsames Beharren auf seinem Willen und seiner Wahl einflößt, schwerlich in die Länge widerstanden und vielleicht würde mit der Zeit seine mürrische Einsprache die Eigenschaft einer jener unangenehmen Gewohnheiten angenommen haben, die man auszurotten oder wenigstens unschädlich zu machen vermag. Gibt es ja doch Eltern, die noch immer über die Heirat eines Kindes brummen, während sie schon die Enkel auf den Armen tragen. Aber die Sonnenwirtin war mit Aufbietung aller ihrer Mittel bemüht, die mildernde Kraft der Zeit und der vollendeten Tatsache zu bekämpfen und keine gelindere Wendung des Zwiespaltes aufkommen zu lassen. Man konnte darüber streiten, ob ihre Stelle – denn sie galt in ihrer Umgebung für eine vorzügliche Wirtin – von Christinen jemals würdig ausgefüllt werden könne, ein Zweifel, der sie wenig kümmerte, außer insofern sie ihn als ein Mittel gegen diese Heirat brauchen konnte; was jedoch für sie als unzweifelhaft feststand, war die Gewißheit, daß sie sich mit dieser Schwiegertochter nimmermehr vertragen würde. Sie war in ihrer Verfolgung gegen sie zu weit und zu offenkundig vorgegangen, als daß sie, nach ihrer Sinnesart, eine Versöhnung je für möglich halten konnte. Nach menschlicher Berechnung mußte sie dereinst ihren Mann geraume Zeit überleben, und wenn sie jetzt diese Heirat seines Sohnes gütlich oder durch Ertrotzung zustande kommen ließ, so glaubte sie, da der Sonnenwirt dann nicht leicht zur Abfassung eines seinem Sohne feindseligen Testamentes zu[] bringen war, voraussehen zu müssen, daß ihr nach seinem Tod das Schicksal bevorstehen würde, von dem jungen Paare aus dem Hause getrieben oder, was noch schlimmer, im Hause mit Füßen getreten zu werden. Friedrich konnte ihr vielleicht vergeben, Christine aber nie; diese Überzeugung mußte sie deshalb hegen, weil sie sich sagte, daß sie an Christinens Stelle ebenso handeln würde. So trieb sie denn täglich den Keil tiefer, um das Band zu sprengen oder gar die Enterbung des Stiefsohnes durchzusetzen. Sie ging oft ins Pfarrhaus und Amthaus, um dort die herrschende Ungunst zu schüren und dann ihrem für Eindrücke von oben empfänglichen Manne wieder zu berichten, was man daselbst über die ungleiche Partie spreche; auch war sie nicht sparsam, ihm Drohungen und Schmähungen, die sein Sohn ausgestoßen, anmaßende und verletzende Reden, die Christine geführt haben sollte, zuzutragen. Hierbei war ihr der Fischer, der sie fleißig mit der faulen Ware seiner Berichte versorgte, von großem Nutzen, und er selbst zog aus dem Familienzerwürfnis nicht geringen Gewinn.
Da die Sonnenwirtin sowohl ihren Mann als seinen Sohn sehr genau kannte, so wußte sie auch bessere Regungen, die eine endliche Ausgleichung des Zwistes hätten herbeiführen können, zu ihren Zwecken auszubeuten. So war es ihr gar nicht unwillkommen, als ihr Mann eines Tages zu ihr sagte: »Es ist mir doch nicht lieb, daß er mich drum ansieht, als ob ich ihm sein Mütterlich's vorenthalten wollt. Wenn der dumm Bub absolut in sein Unglück rennen will, [] so weiß ich am End nicht, ob ich ihn halten soll. Es ist mir nur um die ›Sonne‹ Ich hab mich eben in Gedanken ganz drein hineingelebt, daß er einmal eine Posthalterserbin heiratet und die ›Sonne‹ vollends recht in Flor bringt.«
»Sie werden sich um ihn reißen«, bemerkte sie, »er ist ein guter Brocken, verschreit wie er ist.«
»Ach was!« entgegnete er, »das wär bald vergessen, wenn er nur einmal nicht mehr so üherzwerch wär. Aber ich geb allmählich die Hoffnung auf, daß er wird wie ein anderer Mensch. Er hat eben gar keine Ehr im Leib. So einem Lumpenmensch zulieb auf sein Eigentum verzichten wollen und eine Zukunft in die Schanz schlagen, um die ein anderer tausend Stunden weit auf'm Kopf lief – ich kann's nicht begreifen. Aber wenn er mit Gewalt vom Herren zum Knecht werden will, so kann ich ihn nicht anders machen. Des Menschen Will ist sein Himmelreich.«
»Ja«, sagte sie, »man kann freilich am End nicht wissen, was unser Herrgott mit ihm vorhat. Was einmal Gottes Will ist, da kann man nicht wider den Stachel lecken. Und wenn er nun einmal durchaus drauf versessen ist, sich mit seinem Mütterlichen abfinden zu lassen, wie er sagt, und dir und andern als Knecht zu dienen, unter der Bedingung, daß du ihm seine herzige Hirschkuh gibst, so wär grad jetzt eine gute Gelegenheit vorhanden, wo man sie miteinander hineinsetzen könnt. Du weißt ja, des Küblers Häusle will kein Mensch, und sein Weib sitzt im Elend da und tät's schier umsonst hergeben.«
[] »Ja, die hat auch nicht geruht, bis sie ihn unter dem Boden gehabt hat, und jetzt hat sie das Nachsehen. Das Häusle, ja, das wär freilich billig zu haben, sie wird noch lang vergeblich auf einen Käufer warten, und das Wasser geht ihr an den Hals. Aber meinst du, er werd keinen Abscheu davor haben? Das Haus ist doch arg verschrien, neben dem, daß es klein und schlecht ist.«
»Was, der? Das ist ja ein Aufgeklärter. Der macht sich nichts draus, und wenn der Teufel selber drin gehauset hätt.«
Friedrich schien auch anfangs mit dem Vorschlage nicht unzufrieden zu sein, als er, wie dies in solchen Fällen häufig geschieht, aus dem Munde der Nachbarsleute erfuhr, mit welchem Gedanken sein Vater umgehe. Aber eine Unterredung mit Christinen änderte seinen Sinn.
»So!« rief sie, als er ihr den Plan mitgeteilt, »ich soll in ein Haus ziehen, wo sich einer den Hals abgeschnitten hat und als Geist laufen muß!«
»Dummes Geschwätz!« erwiderte er, »der Küblerfritz schläft ruhig im Kirnberg draußen und ist froh, daß er vor seiner bösen Ripp Ruh hat. Der lauft nimmer.«
»Das mag sein, wie's will, aber mir graust's davor. Und das Haus ist eben einmal unehrlich. Was meinst, was die Leut sagen werden, wenn wir drin wohnen? Da wird's heißen: die beiden hat man hineingesetzt, weil das Haus für jedermann sonst zu schlecht gewesen ist und weil man glaubt, daß es mit ihnen ein gleiches End nehmen wird.«
[] »Du hast den rechten Zipfel erwischt«, sagte Friedrich. »Jetzt seh ich auf einmal in die Sach hinein. Das ist ein giftiger Gedank von der Frau Stiefmutter, und der ganz Vorschlag soll gar nichts als ein Pasquill auf mich sein.«
Seit diesem Augenblicke sprach Friedrich von dem Gegenstande ganz anders. Die wilden Reden, die er gegen die Nachbarn, wenn sie denselben berührten, fallen ließ, wurden seinem Vater alsbald wieder hinterbracht, und die Stiefmutter sorgte dafür, daß sie eher gemehrt als gemindert wurden. Hieraus erfolgten neue Auftritte zwischen Vater und Sohn, die sich um so bitterer entluden, da die Verachtung, die der letztere gegen den Urheber seiner Tage hegte, seit er ihn auf der Zumutung betreten hatte, sein Mädchen mit ihrem Kinde im Stich zu lassen, durch den seinem Gefühl nach in herabwürdigender Absicht gemachten Vorschlag, das Haus des Selbstmörders zu beziehen, noch geschärft worden war. Auch wurde er in seiner Auffassung dieser elterlichen Absicht durch die öffentliche Meinung im Flecken bestärkt, obgleich dieselbe, nach der Weise einer unter jahrhundertlangem Drucke lebenden Bevölkerung, sich nur heimlich zu seinen Gunsten aussprach. Einer um den andern ließ sich verlauten: »Es ist doch nicht recht vom Sonnenwirt, daß er seinen eigenen Sohn in die Hütte des Halsabschneiders setzen will, aber ich will nichts gesagt haben.« Gleichwohl war ein halbes Dutzend von denen, die so gesprochen hatten, nachher gleich bei der Hand, um über die unbesonnenen Reden des Jähzorns, die [] er bei solchen Anlässen ausgestoßen, Zeugnis gegen ihn abzulegen.
Es war wieder einmal Kirchenkonventssitzung, und die Mitglieder, die etwa insgeheim Freude am Skandal hatten, konnten diesmal ihre Lust wirklich büßen. Vor dem Konvent standen der Sonnenwirt als Kläger und sein Sohn als Beklagter. So weit hatte es die Stiefmutter durch ihre Verhetzungen gebracht. Beide wurden konfrontiert. Der Pfarrer als Vorsitzender des Gerichts hielt dem Sohn in Beisein des Vaters vor: »Sein Vater klagt wider Ihn, daß, nachdem er, wiewohl ungern, sich erklärt, daß er Ihm die Christina Müllerin, mit der Er sich vergangen habe, lassen wolle, und vermeint, er könne bei Ihm dadurch etwas Gutes zuweg bringen, so sei Er nur immer ärger, brauche gegen ihn die allerschnödesten und schimpflichsten Reden, stoße allerhand gefährliche Drohworte gegen ihn, Seinen Vater, wie auch gegen Seine Mutter und andere Leute aus, also daß er niemals in seinem eigenen Haus sicher sei.«
»Kann mein Vater sagen, daß ich mich an ihm vergriffen habe?« wendete Friedrich ein.
»Schweig Er still«, befahl der Pfarrer, »ich werde die Punkte der Ordnung nach vornehmen.« Er kramte, durch die Einrede etwas aus dem Konzept gebracht, eine Weile in seinen Notizen und fuhr dann fort: »Pro primo, so sagt Sein Vater, Er habe Geld von ihm gefordert, und da er Ihm gesagt, Er habe ja erst ein Jahrmarktstrinkgeld von ihm bekommen, sechzehn Batzen, warum Er es vertrunken? So habe Er gesagt, Er habe recht getan, und [] wenn Er ein größeres Trinkgeld bekommen hätte, so hätte Er's auch vertan. Ist dem so?«
»Ich muß mich wundern«, sagte Friedrich, »daß mein Vater so elende Händel vor Kirchenkonvent bringt. Er weiß wohl, daß ich mehr Geld von ihm verlangt hab und nicht zum Trinken; statt dessen hat er mich mit einem Trinkgeld abfinden wollen, und dem hab ich dann mit guten Freunden sein Recht angetan und hätt's mit einem größeren auch so gemacht, weil mich ein Lumpengeld nichts geholfen hätt.«
»So sagen alle Verschwender«, bemerkte der Vormund halblaut.
»Item«, fuhr der Pfarrer fort, »wie Er erfahren hat, Sein Vater wolle Ihm des Kühlers Häusle kaufen, habe Er gesagt, der Donner solle ihn erschlagen, wenn er's Ihm kaufe, so zünde Er es an, sollten auch der Nachharn Häuser mit verbrennen, und wenn Sein Vater Ihm nicht dazu helfe, daß Er das Weib bekomme, so wolle Er noch einen größeren Tuck tun. Das gibt nicht bloß Sein Vater an, sondern ich kann Ihm eine stattliche Reihe von Zeugen stellen, die ich habe kommen lassen und die mir solches bezeuget haben.«
»Es sind vermutlich die nämlichen, die mich aufgesteifet haben, ich soll mir's nicht gefallen lassen«, antwortete Friedrich. »Was ich im Zorn gesagt hab, weiß ich nicht mehr. Die Reden, die der Mensch im Zorn führt, muß man nicht auflesen, sondern liegen lassen, dann sind's Funken, die schnell wieder auslöschen. Man hat mich schon viel böse Reden führen [] lassen. Schon damals, wie ich als ein junger Bub vom Gaul heruntergeschossen worden bin, hat man zur Entschuldigung nachher gesagt, ich hab dem Flecken mit Mord und Brand gedroht, und letzten Winter ist wieder so ein Geschrei gangen, und ist beidemal kein wahr's Wort dran gewesen. Dasmal wird's vielleicht auch nicht viel besser sein. Sollt ich aber je im Weindampf von den sechzehn Batzen, die mir mein Vater hier vor Konvent vorrechnet, ein solches Wort haben ausgehen lassen, so ist's von da bis zur Tat noch ein weiter Weg. Mein Vater hat mir des Küblers Häusle noch nicht kauft, und ich hab's noch nicht anzünd't. Wenn jedes unnütz Wort, das einer im Zorn fallen läßt, bei Kirchenkonvent angebracht würd, so stünd am End der ganz Kirchenkonvent da, wo ich jetzt steh.«
»Frecher Bub«, fuhr sein Vormund auf, »du solltest froh sein, daß dein Vater hat für dich sorgen wollen. Des Küblers Häusle ist noch viel zu gut für dich.«
»So klein und schlecht es ist«, sagte Friedrich, »so wär ich für meine Person damit zufrieden gewesen. Aber der Herr Vetter weiß wohl, in welchem Geruch das Häusle bei dem ganzen Flecken steht, und daß ich mit meiner Christine nicht hineinziehen kann. Ja, wenn mir die Herren den Küblerfritz im Wald wieder ausgraben lassen und lassen ihn auf'm Kirchhof in ein ehrlich's Grab legen, dann will ich in sein Häusle einziehen. Das wär zudem ein Werk, das die Herren verantworten könnten, denn was er auch mit Gottes Zulassung getan hat, er ist fürwahr kein schlechter Mensch gewesen.«
[] »Natürlich!« rief der Vormund, »gleiche Brüder, gleiche Kappen.« – Der Anwalt und der Heiligenpfleger brachen in ein Gelächter aus, das sie erst nach einem Blick auf den Pfarrer und Amtmann wieder dämpften.
»Der Herr Vetter zeigt den richtigen Weg an«, versetzte Friedrich. »Wenn ich in das Häusle einzög, so tät mich mancher, wie jetzt der Herr Vetter, dann den neuen Kübler heißen. Nun bleib ich zwar dabei, daß er besser gewesen ist, als man ihn ausgibt, aber darum will ich doch nicht mit meiner Christine in dem Häusle wohnen und so angesehen sein wie der Kübler mit seinem Weib. So wird's gewiß jedem andern auch gehen, und daran können die Herren abnehmen, ob's mein Vater ehrlich mit mir meint, wenn er sagt, er woll mir das Häusle kaufen. Wiewohl, ich glaub gar nicht, daß der Gedank in seinem Kopf gewachsen ist.«
»Item«, hob der Pfarrer wieder an, »soll Er gesagt haben, Sein Vater henke sein Geld lieber an die Stallmägde, als daß er Ihm helfe.«
»Das ist verlogen!« fuhr Friedrich auf. »Mein Vater sollt sich schämen, daß er sich solche Flöh in die Ohren setzen läßt, da er doch recht gut wissen könnt, woher sie kommen.«
»Item«, fuhr der Pfarrer fort, »habe Er mit Gewalt von Seinem Vater Geld haben wollen, daß Er Dispensation wegen Seiner Minorennität bekomme.«
»Ja, das hab ich von ihm haben wollen«, fiel Friedrich ein, »und deswegen ist mir das Trinkgeld, mit dem er mich hat abspeisen wollen, viel zu wenig gewesen. [] Ich weiß nicht, wie's mein Vater und mein Pfleger miteinander haben: wenn ich von dem einen Geld will, so schickt er mich an den andern. Das aber weiß ich, daß ich das Recht hab, meine Minderjährigkeit abzukaufen, damit ich nicht mehr bei meinem Vater um Heiratserlaubnis zu betteln brauch; und wenn ich die Dispensation mit meinem eignen Geld bezahl, so wird niemand, hoff ich, was dawider haben.«
»Er soll dabei gesagt haben, wenn Er nur Geld habe, so brauche Er keinen Pfarrer und keinen Amtmann dazu. Summa Summarum klagt Sein Vater, Er folge ihm nicht, schaffe ihm nichts, gehe nur müßig, sei in der Nacht draußen, und erst am Sonntag habe Er gesagt, der Teufel solle das Geschäft holen, Er wolle ihm keine Arbeit mehr tun, er helfe Ihm ja nicht. Es bittet anbei sein Vater, weil er vor Ihm niemals, weder Tag noch Nacht, sicher sei, so möchte man ihm Sicherheit verschaffen vor Ihm und Ihn also verwahren, daß Er sich an niemand vergreifen und niemand schaden könne.«
»Mein Vater ist kein Mann, wenn er das behauptet«, erwiderte Friedrich. »Ich hab noch nie in meinem Leben Hand an ihn gelegt, ich hab mich nicht einmal, seit ich aus den Bubenjahren herausgewachsen bin, soviel ich auch Ursach hätt, an meiner Stiefmutter vergriffen. Vom Schaffen sag ich gar nichts.«
»Wie kannst du sagen, dein Vater sei kein Mann!« rief der Vormund.
»Er ist kein rechter Mann, ich behaupt's noch einmal. [] Er hat mir zugetraut, ich werd mein Mädle betrügen und mein leiblich's Kind verleugnen. Das tut kein rechtschaffener Mann. Dann ist er in der Hand meiner Stiefmutter wie ein Rohr, das im Wind hin und her schwankt: das eine Mal sagt er, er gebe nie seinen Konsens zu meiner Heirat, das andere Mal will er mir des Küblers Häusle dazu kaufen.«
»Hat Er das vierte Gebot ganz vergessen«, rief der Pfarrer, »daß Er im Beisein Seines Vaters und vor uns so verächtliche Reden wider ihn ausstößt und den kindlichen Respekt ganz hintansetzt? Aber freilich, Er macht's der Obrigkeit auch nicht besser, Er sagt ja, wenn Er Geld habe, so brauche Er keinen Pfarrer und keinen Amtmann, um Seinen Kopf durchzusetzen.«
Friedrich warf einen Blick ingrimmiger Verachtung auf den Pfarrer. »Der Herr Amtmann«, sagte er, »wird wohl wissen, daß seine Macht nicht über die ganze Welt reicht und daß auch noch eine Obrigkeit über ihm ist. Was aber Sie, Herr Pfarrer, anbelangt, so haben Sie meinem Schwäh'rvater mit Drohungen das Versprechen abgepreßt, daß er seiner Tochter und mir die Einwilligung verweigere. Sie nennen das, was zwischen zwei jungen Leuten vorgeht, die einander lieb haben, eine böse Tat. Ist ein Seelsorger nicht dazu da, daß er böse Taten in der Gemeinde gutmachen hilft? Ist er nicht dazu da, daß er die Gefallenen wieder aufrichtet? Ist er nicht dazu da, daß er den unterstützt, der den guten Willen hat, das Geschehene ungeschehen oder doch [] wenigstens wett- und ebenzumachen? Sie wissen von Amts wegen, daß ich geschworen hab, meiner Christine mein Wort zu halten und sie zu heiraten, und Sie wollen dahin arbeiten, daß ein Schaf aus Ihrer Herde mit Gewalt meineidig gemacht werden soll? Sie schärfen von der Kanzel und in der Kinderlehre die Pflichten zwischen Eltern und Kindern ein, und Sie muten einem Vater zu, daß er seine Tochter soll zur ** werden lassen?«
Er wollte fortfahren, aber der allgemeine Tumult übertäubte ihn. Mit Ausnahme des Amtmanns, der behaglich sitzen blieb, war der ganze Konvent aufgestanden und donnerte auf den frechen Redner hinein. Besonders heftig eiferte der Pfarrer, dessen kleine, magere Gestalt sich seltsam von dem wohlbeleibten Umfange seines weltlichen Mitbeamten neben ihm unterschied. Da er in dem Geschrei der übrigen Mitglieder, welche ihn gegen die Lästerungen des Angeklagten in Schutz nehmen zu müssen glaubten, mit seiner Stimme nicht durchdringen konnte, so setzte er sich schnell wieder, ergriff die Feder und schien sich heftig schreibend im Protokoll Recht verschaffen zu wollen.
Als der Tumult verstummte, sagte der Amtmann zum Pfarrer: »Haben Sie auch im Protokoll angemerkt, Herr Pfarrer, wie rechtfertig er ist?«
»Jawohl, Herr Amtmann«, antwortete der Pfarrer mit großer Befriedigung und zeigte ihm das Protokoll. »Sehen Sie, hier steht's schon geschrieben: ›Bei aller seiner äußersten Bosheit will er immer noch recht haben.‹«
[] »Ich hoff, es ist noch eine Gerechtigkeit über uns«, versetzte Friedrich. »Ebersbach ist noch nicht die Welt, ich will mich schon vor dem Herrn Vogt und Spezial verantworten, Euer Protokoll und Bericht, Ihr Herren, ist nicht nötig.«
»Schweig Er nur jetzt still«, sagte der Amtmann ruhig. »Sein Maß wird nachgerade ziemlich voll sein. Übrigens bin ich der Meinung, Herr Pfarrer, daß der Kläger zum Schluß aufgefordert werden solle, zu erklären, ob er denn seinen Konsens zu der Heirat noch nicht geben wolle.«
»Jawohl«, sagte der Pfarrer, »die Frage ist der Form wegen notwendig, und ich stelle sie hiermit an den Herrn Sonnenwirt.«
Der Sonnenwirt war bestürzt darüber, daß die beiden Vorgesetzten, deren Ansichten er doch hauptsächlich bis jetzt gefolgt war, sich gegen ihn einer Fragestellung bedienten, die ihn gleichsam im Stiche ließ. Er kratzte sich hinter dem Ohr und stotterte endlich: »Ich weiß nicht, was ich tun soll, ich sehe eben nichts anderes voraus, als daß es sein Verderben ist.«
»Gut«, sagte der Pfarrer. »Es können nunmehro beide abtreten, und wird das alles ans Oberamt berichtet werden.«
Vater und Sohn gingen miteinander vom Rathause fort und nach Hause, ohne unterwegs ein Wort miteinander zu reden.
Sie waren nicht mehr weit von der ›Sonne‹ entfernt, als eine Stimme über ihnen rief: »Herr Sonnenwirt, schämt er sich nicht, Seinen Sohn vor Kirchenkonvent [] zu verklagen, wo die alten Weiber hinlaufen?«
Sie blickten in die Höhe. Es war der Invalide, der sich seit langer Zeit zum erstenmal wieder am Fenster sehen ließ.
»Auch wieder einmal unters Gewehr getreten?« rief Friedrich hinauf.
»Und Er«, sagte der Invalide zu ihm, »hätt's auch nicht so weit kommen lassen sollen. Ich hab's Ihm schon einmal gesagt.«
»Damals war's schon zu spät«, lachte Friedrich. »Auf Wiedersehen!«
Sein Vater war, ohne dem Invaliden zu antworten, vorausgegangen. Unter der Haustüre wartete er auf ihn. »Willst du dein Mütterlich's nehmen und nach Amerika gehen?« sagte er zu ihm.
»Ich will mit meiner Christine drüber reden«, antwortete Friedrich und machte sich unverweilt auf den Weg.
Nach einer halben Stunde kam er heim und brachte die Antwort. »Sie will nicht«, sagte er, »sie erklärt, sie wolle sich in Ebersbach nicht nachsagen lassen, sie habe so unrechte Dinge getan, daß sie habe nach Amerika gehen müssen, wo bloß die schlechten Leute hinwandern. Ihr Wahlspruch sei: Bleibe im Lande und nähre dich redlich.«
»Es steht geschrieben, das Weib soll dem Mann folgen«, sagte der Sonnenwirt.
»Das müßt sie auch, wenn mir's Ernst wär«, erwiderte Friedrich. »Aber ich bin mit mir selber nicht im klaren, wie's mit dem Amerika ist, ich [] weiß nicht, ob's Balken hat oder ob ich drin schwimmen kann. Wenn ich allein wär, ging ich schon; so aber laß ich's auf die Christine ankommen, weil ich selber nicht weiß, was besser ist.«
»Da siehst du's: sie hängt wie ein Radschuh an dir und hindert dich überall am Fortkommen.«
»Und wenn sie mir jetzt schon ganz verleidet wär – ich hab ihr mein Wort gegeben, und das halt ich ihr.«
22
Heu und Frucht waren eingetan, und alles ging seinen gewöhnlichen Gang, nur in Friedrichs Heiratsangelegenheit wollte keine Bewegung kommen. Alles, was er bisher getan hatte, um dieselbe ins Werk zu setzen, war wie ein Schlag ins Wasser gewesen. Längst hatte er seine Supplik an die Regierung eingereicht und als Minderjähriger um Heiratserlaubnis gebeten. Damals war er sehr vergnügt von Göppingen zurückgekommen und hatte Christinen erzählt, der Vogt, dem er die Schrift zum Beibericht gebracht, habe ihm zwar scharfe Vermahnungen gegeben, aber den Ausspruch getan, wenn ein Bursche sein Mädchen ehrlich machen wolle, so müsse man ihn eher aufmuntern als abschrecken. Er hatte also nicht mit Unrecht darauf vertraut, daß die höhere Behörde sein Anliegen nicht aus dem engen Gesichtskreise der Fleckenregierung betrachten werde. Leider aber wurde der Vogt bald hernach auf ein anderes Oberamt versetzt, und sein Nachfolger ließ [] die Schrift liegen. »Da braucht's nichts als Geld«, sagte Friedrich, »man muß eben seine Schreiber schmieren, damit sie ihm die Sach im Andenken erhalten; wenn nur das Geld nicht so rar wär!« Die Zeit rückte immer näher, wo sein Kind unehlich zur Welt kommen sollte, um nach der herrschenden Meinung sein Leben lang einen Makel zu behalten, und Christine jammerte darüber so, daß sie oft mit ihren Klagen seine eigene Verzweiflung betäubte. Ihr Vater war bettlägerig geworden; zwar verdienten seine herangewachsenen Söhne über die Sommerszeit durch Taglohn so viel ins Haus, daß er nicht wie früher bei dem Pfarrer um Unterstützungen nachsuchen mußte, aber bei jedem Bissen ließ sich die Armut mitschmecken, und Christine, die nach dem ordnungsmäßigen Gang der Dinge, statt dem elterlichen Hauswesen zur Last zu fallen, einem eigenen hätte vorstehen sollen, wurde von den Ihrigen scheel angesehen. Sie machte sich ihnen schon dadurch als eine Bürde fühlbar, daß sie durch Arbeiten wenig und zuletzt nichts mehr zur Erhaltung der Familie, der sie doch zehren half, beitragen konnte. Macht man ja doch nicht bloß in jenen Kreisen des Lebens, welchen man das Vorrecht der Roheit zugesteht, die Erfahrung, daß die Not die Zartheit der Gesinnungen leicht verwischt und der gefährlichste Prüfstein für alle Liebe und Freundschaft ist. Christine hatte ein Recht, ihr Elend am Halse des einzigen auszuweinen, der ihr zu Trost und Hilfe verpflichtet war, und sie machte von diesem Rechte fleißigen Gebrauch; auch war [] es natürlich, daß die Beschwerden eines Zustandes, der selbst eine im Schoße des ungetrübten Glückes lebende Frau zur Schwermut reizen kann, das oft von den notwendigsten Hilfsmitteln entblößte Mädchen maßlos unglücklich machten. All dieser Jammer stürmte auf Friedrich herein, der dem Gefühle seiner Hilflosigkeit bald in stumpfem Hinbrüten, bald in Ausbrüchen einer wahnsinnigen Wut gegen die herzlose Zähigkeit der Welt den Lauf ließ. Auf den Schwager, dem er einst vertraut hatte, konnte er schon längst nicht mehr rechnen; derselbe hatte sich von ihm losgeschält und ihm erklärt, er wolle es nicht durch Parteimachen für eine Sache, die er von Anfang an getadelt, mit seinem Schwiegervater verderben, auch hatte er seiner Frau untersagt, sich ihres Bruders ferner anzunehmen.
Um diese Zeit lief die Sonnenwirtin eines Tages ins Amthaus, um der Amtmännin zu erzählen, daß ihre älteste Tochter, die Krämerin, wenn der Herr Amtmann sie nur vernehmen wollte, Greueldinge von dem ungeratenen Bösewicht aussagen könnte. Der Amtmann versammelte, von seiner Frau angetrieben, seine beiden Urkundspersonen und ließ die Krämerin rufen, welche weinend vor ihm erschien. »Ihr Bruder«, gab sie zu Protokoll, »habe drei Gulden gefordert, damit er sein Memorial und Bericht zu Göppingen bekomme. Darauf habe sie ihm gesagt, sie wolle nicht zum Vater gehen, weil sie wisse, daß er sich bloß darüber erzürne; er solle seinen Pfleger schicken. Nun habe er aber angefangen zu toben: er sehe wohl, daß er's verloren habe, morgen wolle [] er einen Rausch trinken und sein Messer schleifen, in seines Vaters Haus hingehen und das Geld fordern, und wenn er's nicht gebe, ihn niederstechen, und wenn seine Mutter etwas sage, ihr's auch so machen. Dann habe er Geld genug und nehme alles, was vorhanden sei. Dieses alles habe er mit einem recht unmenschlichen und bestialischen Grimm und Eifer ausgesprochen; das Donnerwetter solle ihn in die Ewigkeit hinüberschlagen, wenn er das nicht tue; weshalb ihr so angst geworden, daß sie nicht ruhig habe zum heiligen Abendmahl gehen können.«
Nachdem der Amtmann das Protokoll aufgenommen und die Angeberin entlassen hatte, sagte einer der beiden Gerichtsbeisitzer: »Es wird doch nötig sein, daß man den Frieder auch verhört.«
»Wozu?« versetzte der Amtmann. »Ich weiß schon zum voraus, was der sagen würde, der Advokat. Ich schicke eben einfach den Bericht nach Göppingen, und wenn von dort wieder nichts kommt, wie auf die Kirchenkonventsverhandlung, so kann mir's gleichgültig sein. Wiewohl, der neue Vogt wird es vielleicht mit dergleichen komminatorischen und kalumniösen Redensarten etwas schärfer nehmen. Vielleicht läßt er auch die Sachen ad cumulum zusammenkommen; denn mir ahnt's, daß noch mehr bevorsteht und daß ich noch weitere Protokolle und Berichte schreiben muß.«
Indessen schien es doch, daß Friedrichs Drohungen nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen seien, denn unerwartet gab ihm sein Vater, der etwa unruhig geschlafen haben mochte, das Geld zu seiner Werbung[] in Göppingen, und bald hatte er es dahin gebracht, daß seine Supplik bei der fürstlichen Regierung lag. Nachdem aber seine Angelegenheit diesen Schritt vorwärts getan hatte, erfolgte wieder ein langer Stillstand, und jeder vorüberfliehende Tag mehrte ihm das Gewicht der Klagen Christinens, die in der Ungeduld ihres Jammers meinte, wenn sie nur einmal rechtmäßig die Seinige wäre, dann würde allen anderen Sorgen auf immer abgeholfen sein.
Abermals liefen die Weiber im Flecken zusammen und erzählten sich von gräßlichen Reden, die er ausgestoßen haben sollte; ja man legte ihm die Versicherung in den Mund, er wolle den nächsten besten, der ein paar Gulden im Sack habe, über den Haufen stechen, um mit dem Geld nach Stuttgart gehen zu können. Allein ungeachtet dieser rohen Worte waren und blieben die Straßen sicher vor ihm, und er gelangte auf diesem Wege so wenig in den Besitz des unentbehrlichen Geldes, als er es diesmal von der unstet hin und her schwankenden Gesinnung seines Vaters herauszubekommen vermochte.
Christine riet ihm, sich in dieser Verlegenheit an die Bäckerin zu wenden; sie selbst hatte nicht das Herz dazu. Mit der Geduld, welche eine fortwährende Vereitelung eines fieberhaft betriebenen Planes manchmal einflößen kann, begab er sich zu Christinens Base, deren Krankheit soweit fortgeschritten war, daß sie den ganzen Tag regungslos im Lehnstuhle saß, und sprach sie um ein Darlehen an. Die [] Bäckerin, die der leidvollen Entwickelung des Liebesverhältnisses stets mit großer Teilnahme folgte, antwortete schmerzlich seufzend: »Ich tät's gewiß gern, aber der Mein läßt mir den Schlüssel zum Geldkästle nicht über, und Ihr wisset ja selber, wie b'häb er ist.« Sie sprachen noch miteinander, als der Knecht des oberen Müllers in die Stube trat. Er hatte im Vorbeigehen durch das Fenster Friedrichs Anwesenheit bemerkt und kam herein, um einen Schoppen mit ihm zu trinken. »Da, der Peter könnt vielleicht aushelfen«, sagte die Bäckerin, »der hält sein' Lohn zusammen und hat doch auch zur rechten Zeit wieder eine offene Hand; was gilt's, der tut sein Sparhäfele auf?« Der Knecht ließ sich erklären, um was es sich handle, und sagte, jawohl, die paar Gulden gebe er gerne her. Friedrich konnte sich ohne Beleidigung nicht weigern, sie anzunehmen, und doch drückte es ihn, daß er, der Sohn des reichen Sonnenwirts, zu einem Knechte, obwohl es sein guter Bekannter war, durch ein Darlehen von erspartem Lohne in Verpflichtung und Abhängigkeit treten sollte; und zwar drückte es ihn um so mehr, weil er wußte, daß der Knecht selbst, bei seiner gutmütigen aber beschränkten Sinnesart, sich über diese Betrachtung nicht erheben konnte.
Da er aber nun einmal die Mittel in der Hand hatte, seine Sache in Stuttgart zu betreiben, so versäumte er es nicht, davon schleunigen Gebrauch zu machen. Christine war ihm an dem Abend, wo sie ihn zurückerwartete, einige Schritte vor den Flecken entgegengegangen. An derselben Stelle, wo sie auf beschneitem[] Wege einst von ihm Abschied genommen, saß sie nun unter einem Baume, von welchem schon einzelne herbstlich rote Blätter zu fallen begannen, und erhob sich, als sie ihn die Straße daherwandern sah. Er war sehr befriedigt von dem Erfolge seiner Reise und erzählte ihr, man habe ihm versprochen, die Resolution auf sein Memorial solle ihm auf dem Fuße nachfolgen. »Du weißt ja«, sagte er, »schmieren und salben hilft allenthalben. Ohne Trinkgeld richtet man in Stuttgart nichts aus. Aber sie brauchen's auch redlich. Das ist dir ein Wohlleben in den Tag hinein, daß ich dir's gar nicht beschreiben kann. Ich möcht nur wissen, wer das ganz Nest verhält, ich glaub, das Land muß sie eben verhalten, denn schaffen sieht man keinen Menschen, als höchstens die Wirte und die Putzmacherinnen. Schon am frühen Vormittag liegen die Männer im Wirtshaus oder spielen in den Kaffeehäusern, und denk nur, die Weiber, hab ich mir sagen lassen, laufen des Nachmittags zueinander in die Kaffeevisit und bleiben bis abends acht Uhr und drüber beieinander sitzen, und mit was meinst, daß sie sich die Zeit vertreiben? Mit Kartenspielen, und das so hoch, daß erst vorgestern eine, wie ich gehört hab, mehr als hundert Gulden verloren hat. Und dabei treiben sie einen Luxus, daß es nicht zum sagen ist: Atlaskleider tragen sie und goldene Uhren, goldene Armbänder, eine Menge Ringe mit kostbaren Steinen, und Perlen um den Hals anstatt der Granaten.«
Christine seufzte.
»Und der Herzog vollends«, fuhr er fort, »der lebt[] wie der Vogel im Hanfsamen. Er ist grad so alt wie ich, hab ich mir in Stuttgart sagen lassen. 's ist doch eine konfuse Welt. Ich muß bei ihm einkommen und meine Minderjährigkeit wegsupplizieren, damit ich heiraten und ein Hauswesen führen kann: und er ist im gleichen Alter, höchstens ein Jahr älter, und ist schon zwei Jahr verheiratet und regiert seit sechs Jahr ein ganz Land, daß es blitzt und kracht.«
»Versteht er denn sein Handwerk?« fragte Christine.
»Was weiß ich? Aber herrlich und in Freuden lebt er, und anderen verbietet er, was ihm selber schmeckt. Denk nur, ich hab auch die Herzogin gesehen. Aber die ist schön, und noch so jung, aber mächtig stolz. Mich wundert's nur, daß sie die ** leidet, die er neben ihr hält, und was meinst, die baden im Burgunderwein.«
»Pfui«, sagte Christine, »da möcht ich nicht davon trinken.«
»Oh, es gibt Leut, die ihn nachher kaufen, weil man ihn natürlich wohlfeil haben kann. Und vor acht Tagen hat er in Ludwigsburg ein Feuerwerk geben und hat dabei für fünfmalhunderttausend Gulden in die Luft aufgehen lassen. Man spricht noch heut in Stuttgart in allen Wirtshäusern davon, aber sie schimpfen, weil's in Ludwigsburg gewesen ist. Ich hätt's doch auch sehen mögen.«
»Ich nicht«, sagte Christine. »Es ist sündlich, das Geld so hinauszuschmeißen. Rechne nur auch einmal aus, wie lang arme Leut davon hätten leben können. Aber ich kann dir auch eine Neuigkeit [] sagen: Denk nur, dein Vater hat uns heut eine Schüssel Mehl geschickt.«
»So, mein Vater? Es ist zwar nicht viel, aber es freut mich doch an ihm. Hat er sie dir geschickt?«
»Nein, er hat eben sagen lassen, da schick er's. Es ist mir um der Meinigen willen lieb, denn du hast keinen Begriff davon, was ich von ihnen schlucken muß. In deiner Gegenwart lassen sie's nicht so heraus, aber du wirst doch auch selber schon gemerkt haben, was wir ihnen wert sind. Besonders meine Mutter und mein Hannes, die haben gemeint, sie werden Ehr und Vorteil von uns ernten, und statt dessen haben sie mich eben immer noch auf'm Hals. Meine Mutter hat gleich zu brotzeln und zu backen angefangen, du weißt ja, wie sie ist; sie hat gesagt, sie mach's für meinen Vater, aber der hat nichts davon gessen, und dann hat sie's für sich behalten und hat denkt: selber essen macht fett.«
»Hab noch die paar Tag Geduld«, sagte er. »Jetzt kommt ja die Resolution, und dann hat alles Jammern ein End! Dann werden wir zusammen getraut, und das ist die Hauptsach, wenn's auch ohne Kränzle und am Mittwoch geschieht. Der Mittwoch ist auch ein Tag. Und wenn ich mein Mütterlich's hab und Händ und Füß für meine eigene Haushaltung regen kann, dann will ich dich schon wieder rausfüttern, dich und dein Kind.«
»Ja«, sagte Christine, »und unser Herrgott wird weiter sorgen.«
[] 23
Tag um Tag verging, aber keiner brachte die ersehnte herzogliche Resolution. Die Tage wurden zu Wochen, und eine reihte sich an die andere, ohne dem Harrenden das Versprechen zu erfüllen, das er sich in Stuttgart mit fremdem Gelde erkauft hatte. Träg und eilig zugleich ging ihm die unbarmherzige Zeit; während sie ihn endlos auf die Gewährung, die er von der Menschenwelt forderte, warten ließ, zeigte sie ihm jeden Tag den unaufhaltsamen Fortschritt, welchen die Natur machte, um ihm ein Geschenk zu bringen, das jener Gewährung nicht zuvorkommen durfte, wenn es nicht den Stempel des Unglücks und der Schande tragen sollte.
»So kann die Sach nicht fortgehen«, sagte Christine eines Tages zu ihm. »Ich möcht naus, wo kein Loch ist. Die Meinigen haben mir ausgeboten, der Sommerverdienst sei zu End, und mit dem Winter geh das Hungerleiden vollends ganz an. Sogar mein Jerg, der mir immer noch ein wenig den Kopf gehebt hat, sagt, es sei in der ganzen Welt der Brauch, wer die Gais angebunden hab, der mög sie auch hüten.«
»Weiß wohl«, bemerkte er finster, »der Bauer tut alles gern, wenn er muß.«
»Aber bedenk auch, wie sie auf'm dürren Bäumle sind. Ich selber schäm mich, daß ich ihnen fort und fort hinliegen muß, und du solltest dich auch schämen. Ich weiß, was ich tu: wenn meine Zeit [] kommen ist, so trag ich dein Kind in deines Vaters Haus und leg's ihm vor die Tür. Da, er soll's säugen, denn ich werd ihm nichts geben können.«
Dieser bittere Spott der Verzweiflung schnitt ihm glühend ins Herz. »Hat er seitdem nichts geschickt«, fragte er, »kein Brot, nicht einmal eine Schüssel Mehl?«
»Nichts«, erwiderte sie, »kannst dir wohl denken, daß ich dir's gesagt hätt.«
Er knirschte mit den Zähnen. »Wohl, wenn er's nicht sichtbar geben will, so soll er's unsichtbarlich geben. Ruf deinen Jerg, er muß uns behilflich sein, ich will mit ihm deines Vaters Wagen rüsten, und du schaffst Säck her, wenn's dran fehlt, so entlehnst du in der Nachbarschaft.«
»Was willst denn auf dem Wagen führen?« fragte sie schüchtern.
»Die Säck!« rief er noch barscher als zuvor.
»Und was willst in die Säck tun?«
»Fressen!« antwortete er. Seine Augen funkelten, die Narbe in seinem Gesicht war blutrot geworden, und sein ganzes Aussehen erschien so wild, daß sie nicht weiter zu fragen wagte.
Jerg, der kein Mann von vielen Worten war und sich unbedingt an seinen natürlichen Schwager anschloß, sowie er diesen tatkräftig auftreten sah, half ihm den Wagen zurechtmachen, während Christine unter der hinteren Türe saß und die Säcke flickte, wo sie Löcher an ihnen entdeckte. Niemand fragte, was dieses Vorhaben bedeuten solle. Der Vater lag oben im Bett und sah meist stillschweigend an die Wand oder nach der Decke hinauf, und die Mutter befand[] sich bei ihm. Der kleine Bube tummelte sich um den Wagen herum und sah den beiden jungen Männern zu.
Als es Nacht wurde, mußte Jerg die Kuh aus dem Stalle führen, und Friedrich half ihm sie an den Wagen spannen. Dann befahl er Christinen, eine Laterne anzuzünden und mitzunehmen. Sie kam mit der Laterne, blieb aber stehen und sagte: »Um Gottes willen, Frieder, was hast vor? Mir ist's, als sei's nichts Gut's.«
»Hörst den Teufel schon Holz spalten?« sagte er. »So gut du dein Kind in meines Vaters Haus tragen kannst, so gut kann ich ihm auch Futter draus holen.«
»Ach Gott«, seufzte sie, »das ist eine unrechte und gewagte Sach. Ich will nichts davon.«
»Du läßt mir ja keine Ruh!« rief er, und der Grimm klang aus seiner gedämpften Stimme heraus. »Vorwärts!«
Er ergriff sie am Zopfbändel und zog sie fort. Sie verbarg die Laterne unter der Schürze und folgte willig. Der Wagen fuhr langsam durch den Flecken. Es war überall still, kein Mensch begegnete ihnen. Vor der ›Sonne‹ hielten sie an. Auch dort lag alles im Schlafe. – »Ihr beide bleibt da unten«, sagte Friedrich, »für euch ist's ein fremdes Haus, man soll euch keinen Einbruch vorwerfen können. Ich bin hier in meinem eigenen, das weiß sogar der Hund, die unvernünftig Kreatur, denn sehet, er rührt sich nicht.«
Er öffnete einen Laden und verschwand mit einem Sack, den er bald schwerer, als er zuvor gewesen war, wiederbrachte. So trug er mit starker Hand [] einen Sack um den andern herab und bot ihn zu dem Laden heraus, wo ihn Jerg in Empfang nahm und auf den Wagen lud. Ohne durch einen Laut im Hause gestört zu werden, brachte er endlich den letzten Sack. Nachdem das nächtliche Geschäft beendigt war, gab er Jerg einen Wink, mit dem Wagen umzukehren, wobei er die in Eile geladenen Säcke hielt, damit keiner herunterfiel. »Vorwärts, marsch!« kommandierte er dann, und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung.
Christine, die sich in das Unternehmen gefunden zu haben schien und dem seltsamen Tone Friedrichs entgegenwirken zu müssen meinte, bemerkte scherzend: »Du kommst mir vor, wie ein Räuberhauptmann, der über seine Bande hinein befiehlt.«
»Was nicht ist, kann noch werden«, murmelte er dumpf.
Als sie den Wagen abluden, überzählte er die ungleich gefüllten Säcke. »Es werden zirka sechs, sieben Scheffel sein«, sagte er mit der Sicherheit des Kenners.
»Was ist's für Frucht?« fragte Jerg.
»Dinkel und Haber.«
»Da wär ja für Menschen und Vieh gesorgt.«
»Es ist an dem für die Menschen genug. Den Haber betracht ich als bar Geld.«
»Hab mir's wohl vorgestellt.«
»Wollen's gleich auseinander tun. Die Säcke da enthalten Dinkel, die schlachtet ihr ins Haus, ihr brauchet nicht alle, könnt mir noch ein oder zwei davon lassen.«
»Ja, ist denn die Frucht für uns?« fragte Jerg.
[] »Nein, aber für eure Mäuler. Zu was meinst denn, daß ich sie da rausgeführt hab? Mach mir nur keine Umständ. Den Rest davon und den Haber will ich in etwas anders verwandeln, das noch mehr Brot geben soll.«
Jerg lachte verschmitzt.
»Merkst was?« fragte Friedrich.
»Mir ist's immer, als müßt ich wieder einen Gang für dich nach Rechberghausen tun«, sagte Jerg.
»Hast's troffen.«
»Zufällig weiß ich, daß der Christle morgen runter kommt.«
»So nimm ihn zu dir da raus. Ich will dann auch kommen, daß wir mit ihm handelseins werden.«
»Wenn nur dein Vater nicht erfährt, was du ihm für einen Besuch gemacht hast!« seufzte Christine, die nachgerade wieder unruhig wurde.
»Der erfährt's freilich«, erwiderte er. »Der Knecht, der neben der Frucht liegt, ist aufgewacht, hat sichein wenig auf'm Ellenbogen aufgerichtet und hatmich anglotzt. Der schweigt nicht.«
»Jesus, Jesus! Und das sagst du erst jetzt.«
»Es kommt immer noch früh genug. Gut ist's aufalle Fäll, wenn die Sach mit dem Christle morgengleich ins reine kommt. Jetzt aber fort ins Bett undlaß dir von vollen Schüsseln träumen.«
Am folgenden Morgen gab es in der ›Sonne‹, sobaldder Sohn des Hauses sich blicken ließ, einen jenerstürmischen Auftritte, welche der Nachbarschaft sooft verrieten, wie es um den Frieden desselbenstand. Sein Vater empfing ihn mit einer Flut von[] Schimpfworten, warf ihm den nächtlichen Diebstahl vor und drohte, ihn alsbald wieder ins Zuchthaus zu bringen. Der Knecht hatte ihn angegeben, schon deshalb, um, wie er nachher entschuldigend zu ihm sagte, für den Fall der Entdeckung sich selbst von dem Verdachte zu reinigen; doch wollte er ihn nur einen kleinen Sack mit Getreide haben fortschleppen sehen.
»Wenn Ihr mich ins Zuchthaus bringen wollet, Vater, so steht's Euch frei«, sagte Friedrich. »Ihrhabt's ja schon einmal getan. Freilich haben die Leut verschiedentlich drüber geurteilt, daß Ihr Eurem eigenen und einzigen Sohn zum Ankläger worden seid.«
»Das ist nicht wahr«, entgegnete der Sonnenwirt. »Die Sach ist damals ohne meine Schuld offenkundig worden, und ich hab's nicht hindern können, daß sie vor Amt kommen ist.«
»Also wollt Ihr jetzt nachholen, was Ihr damals versäumt habt?«
»Gib raus, was du mir gestohlen hast.«
»Es ist weit fort, Ihr findet's nicht, und wenn Ihr alle Eure Stallaternen anzündet. Laßt mich majorenn werden und gebt mir mein Mütterlich's heraus, dann will ich mit Euch abrechnen und will Euch den Schaden ersetzen, daß nicht ein Kreuzer dran fehlen soll, und wenn der Fruchtpreis derweil anzieht, so soll der Gewinn Euer sein. Dann könnt Ihr von Stehlen sagen, so viel Ihr wollt, 's glaubt 's Euch niemand.«
»Hast du deinem Weibsbild davon gebracht?«
»Ihr könnt in und unterm Bett bei ihr suchen, Ihr[] findet nichts. Es ist aber eine rechte Schand für Euch, Vater, daß ein reicher Mann wie Ihr dem kranken Hirschbauer ein einzigsmal eine Schüssel Mehl schickt.«
»Was?« fuhr der Sonnenwirt auf, »ich hab schon öfter gesagt, daß man hinausschicken soll.«
»Dann ist's unterwegs in irgendein Loch gefallen«, versetzte Friedrich.
Der Sonnenwirt schwieg unschlüssig. Es machte ihn betroffen, obwohl er es sich bei den bekannten Gesinnungen seiner Frau leicht erklären konnte, daß seine Befehle nicht vollzogen worden waren, und unter diesen Umständen glaubte er, bei seinem reichen Fruchtvorrate, den von dem Knecht angegebenen Verlust ohne Geschrei ertragen zu sollen. Er ging zur Stube hinaus und ließ seinen Sohn in Ungewißheit, was er tun werde.
»Hast dein' Hausdieb im Verhör gehabt?« fragte seine Frau draußen.
»Woher weißt du's denn?«
»Du schreist ja so laut, daß man's in Göppingen hört. Und jetzt willst immer noch in deiner Langmut zusehen?«
Der Alte kratzte sich hinter dem Ohr. »Das Stehlen will ich ihm vertreiben«, sagte er. »Du aber sagst mir weder im Pfarrhaus noch im Amthaus ein Wort davon, sonst ist's zwischen uns aus, und ich laß ihn morgen heiraten und nehm alle beide ins Haus zu mir.«
»So hitzig?« maulte sie.
»Erstens«, erklärte er, »hätt ich ihn zwar gern in[] Numero Sicher, aber nicht im Zuchthaus, und zweitens möcht ich mir nicht nachsagen lassen, daß ich dem Hirschbauer nichts als ein Schüssele mit Mehl geschickt hab. Was sie jetzt haben, das sollen sie behalten.«
Der Tag verging ruhiger als er begonnen hatte. Friedrich wußte zwar immer noch nicht, wessen er sich zu versehen habe; auch ließen ihn gewisse Anspielungen seiner Stiefmutter, welche von der Notwendigkeit sprach, Schlösser und Riegel ausbessern zu lassen, nichts Gutes ahnen; doch meinte er aus dem Betragen seines Vaters schließen zu dürfen, daß seine eigenmächtige Pfändung ohne Folgen bleiben werde.
Zur verabredeten Stunde ging er in des Hirschbauern Haus. Der Erwartete war bereits da, ein Mann mit rundem, schelmisch lächelndem Gesicht und einem sogenannten Hörn auf der Stirne, das in der Mitte über beiden Augen saß und so groß war, daß Friedrich es im Scherz ein drittes Auge nennen konnte. »Bist schon da, Dreiäugiger?« sagte er, die Hand bietend. Die Alte hieß ihn sehr freundlich willkommen und bedankte sich bei ihm für den stolzen Küchengruß, den er gesandt habe; sie vermied es klüglich zu fragen, wie er eine so bedeutende Beisteuer aufgebracht. Man schwatzte eine Weile von gleichgültigen Dingen, ohne daß der Hirschbauer, der in der Stube zu Bette lag, sich in das Gespräch mischte. Dann gingen die drei miteinander fort, um unter dem Hause ihr Geschäft miteinander abzumachen.
[] »Was meinst, Christle?« sagte Friedrich. »Der Jerg ist doch ein scharfsinniger Kopf, der hat's von selber gemerkt, daß ich wieder einen Handel mit dir machen will.«
»Es ist gut merken gewesen, Frieder«, sagte Jerg. »Seit einiger Zeit hast du immer das link Aug von Zeit zu Zeit zugedrückt und hast mit dem rechten grad vor dich hingesehen, so daß ich immer hab denken müssen: der tut in Gedanken zielen. Es ist mir dabei eingefallen, was der Krämerchristle von dir gesagt hat: die Katz läßt das Mausen nicht.«
Alle drei lachten. »Ich will dir beweisen, daß ich noch ein scharfsinnigerer Kopf bin als der da«, sagte Christle. »Tut's dir nicht and nach deiner schönen Buchs?«
»Ja, wenn ich die wiederhaben könnt!« rief Friedrich.
»Bruderherz, kannst sie haben! Ich hab dir sie aufgehoben, weil ich wohl gewußt hab, daß du wieder nach ihr fragen wirst.«
Sie lachten noch stärker. »Heißt das«, setzte Christle hinzu, »bei der Hand hab ich sie nicht, sondern ich hab sie in Gmünd versetzt, aber dort kann ich sie jeden Augenblick wiederhaben. Und damit du siehst, daß ich nicht bloß scharfsinnig, sondern auch ehrlich gegen dich bin – wie?« unterbrach er sich, zu Jerg gewendet, »was hat er denn zu dem Geld gesagt, das ich ihm für das Gewehr geschickt hab? Hat er mich nichts geheißen?«
»Ei ja, 'n dreiäugigen Spitzbuben.«
»Siehst, um das nämlich Geld kannst dein Gewehr[] wiederhaben. Jetzt geh und heiß mich noch einmal 'n Spitzbuben.«
»Bist ein Biedermann«, sagte Friedrich.
»Was, du, der best Schütz weit und breit, hast dich zur Ruh setzen wollen? Du könntest's ja vor den Bauern nicht verantworten. Und ein paar Fährten hab ich dir ausgewittert, ich sag nichts, aber das Herz wird dir im Leib lachen. Nun, du kommst doch zu mir und holst die Büchs, dann gehen wir miteinander.«
»Aber Geld hab ich keins«, sagte Friedrich. »Kannst Haber brauchen und etwas Dinkel?«
»Das führ ich nach Gmünd, freilich, und bring gleich das Gewehr mit zurück.«
»Da beim Jerg kannst die Frucht fassen, je eher, je lieber, aber in der Stille muß es sein.«
»Heut abend noch will ich sie holen. Auf Wiedersehen, du verlorner und wiedergefundener Sohn.«
»Der hat gut uneigennützig sein«, sagte Friedrich, nachdem jener sich verabschiedet hatte. »Wenn ich eine glückliche Hand hab, so hat er den Vorteil davon und keine Gefahr. Er weiß die beste Schlich im Wald und die beste Schlich im Handel, aber den gefährlichen Teil überläßt er andern, und wenn's zum Klappen kommt, so hat er nichts getan. Aber wo ist denn meine Christine?«
»Im Beckenhaus«, antwortete Jerg. »Der Beckenbub hat sie in aller Eil geholt. Ich weiß nicht, was dort los ist. Da kommt sie ja!«
Christine kam atemlos herbei. »Weißt was Neu's, Frieder?« rief sie schon von weitem.
[] »Nu, was denn?«
»Die Resolution ist da, du bist schon seit vierzehn Tag majorenn und weißt nichts davon.«
»Was Teufel! Wie kommt denn das, und woher hast denn du's?«
»Von der Dote; die hat mich holen lassen. Aber von wem's die hat, das bringst du nicht raus, und wenn ich dich raten laß, bis die Kuh 'n Batzen gilt.«
»Nu, so sag's.«
»Die Kathrine aus dem Amthaus ist's.«
»Was! Das wär!«
»Ja, die Kathrine ist zu der Dote geschlichen und hat sie ums Tausendgott'swillen bittet, sie soll sie nicht verraten, aber seit vierzehn Tag sei der Bescheid von Stuttgart da und lieg auf des Amtmanns Schreibtisch. Es hab ihr schier das Herz abdruckt, daß wir nichts davon wissen sollen. Du könnest herzhaft auftreten und die Proklamation verlangen. Aber wenn's rauskäm, daß sie's ausgeschwätzt hat, so wär sie unglücklich.«
»Nein, nein, da muß man ganz still sein. Brav ist's von dem Mädle, das muß ich sagen, aber so viel seh ich auch bei der Gelegenheit, daß es keine einem nachträgt, wenn man sie einmal hat küssen wollen.«
»So, du Lümple, was muß ich hören? Ist's beim Wollen blieben? Hat sie dich heißen um ein Haus weiter gehen?«
»Ich hab mir nicht Müh gnug geben. Aber was denkt der Amtmann? Getraut sich der, fürstliche Resolutionen zu unterschlagen? Da steckt gewiß die[] Frau Sonnenwirtin mit unter der Decke. Ich möcht nur wissen, ob mein Vater etwas davon weiß.«
»Ja, ja«, sagte Jerg vergnügt, »man spricht 's ganz Jahr von der Kirbe (Kirchweih), endlich ist sie.« Er ging und ließ die beiden allein.
»Wenn ich gestern gewußt hätt, was ich heut weiß«, sagte Friedrich, »so hätt mein Vater seinen Dinkel und Haber noch. Jetzt darf ich mein Mütterlich's fordern und brauch dich keine Not mehr leiden zu lassen. Wiewohl, ich will's ihm bei Heller und Pfennig zahlen. Aber hätt'st dein Geheul auch noch ein paar Tag unterwegs lassen können.«
»Wenn man eben alles wüßt, dann wär man reich«, versetzte Christine.
»Und hätt ich's nur eine Stund früher gewußt«, fuhr er fort, »dann hätt ich den Handel mit dem Christle nicht gemacht.«
»Was hast denn mit dem gehandelt?«
»Meine Büchs will ich wieder von ihm zurückkaufen. Um deinetwillen hab ich sie von mir getan, und um deinetwillen nehm ich sie wieder an mich. Es ist auch so noch immer möglich, daß ich sie einmal brauch, um Weib und Kind zu verhalten. Doch ist's nur für den äußersten Fall, und besser wär's, ich hätt sie ihm noch gelassen, denn so ein Teufelshirsch kann einen bis ins Zuchthaus führen.«
»Laß du das Wildern sein«, sagte Christine, »und denk auf andere Weg, wie du Weib und Kind ernähren willst. Wiewohl, es geht nicht immer so schlimm aus. Hab ich dir's nie von unsrem Haus erzählt? Es ist ein altes Sagen in unserer Familie, [] ich hab meinen Vater schon davon reden hören, daß sein Urururgroßvater ein arger Wilderer gewesen sei. Den hat der Herzog gefangen und hat ihn wollen auf einen Hirsch schmieden lassen, hat sich aber anders besonnen, wie er schon halb angeschmiedet gewesen ist, und hat ihn begnadigt, weil ihm seine Antworten so gefallen haben, hat ihm auch das Haus da baut und ihn hergesetzt, um den Wilderern aufzupassen, weil ihm alle ihre Schlich und Weg wohlbekannt gewesen sind. Nach ihm ist sein Sohn auf dem Haus gesessen, und dann wieder dessen Sohn, und so immer fort, so daß das Haus seit Urgedenken unsrer Familie angehört. Sie hat sogar dem Herzog eine besondere Steuer draus zahlen müssen, die erst unter meinem Vater in Abgang kommen ist.«
»So?« sagte Friedrich. »Da kommt wahrscheinlich auch der Nam Hirschbauer her?«
»Mag sein, ich weiß nicht«, erwiderte sie.
»Jetzt aber laß uns drauf denken, wie wir unser Haus bauen. Majorennitätserklärung, Proklamation, Kopulation, das muß wie Blitz und Donner aufeinander gehen. Voran, voran, eh's der Teufel erfährt und Unsamen streut!«
24
Gleich noch am nämlichen Abend ging Christine in das Pfarrhaus, um im Auftrag ihres Verlobten, der auf sie wartete, den Herrn Pfarrer zu bitten, daß er [] sie am nächsten Sonntag proklamieren möge. Sie kam aber bald wieder zurück und erzählte, der Pfarrer habe gesagt, er wisse nichts von Majorennisation und Regierungsresolutionen, sei auch nicht verpflichtet, den Amtmann zu fragen, ob etwas Derartiges eingelaufen sei; so könnte ihm jeder kommen.
»Gleich morgen gehst zum Amtmann«, sagte Friedrich, »denn jetzt ist er auf der Jagd. Es ist besser, du gehst, weil er mir gesagt hat, ich soll nicht ungeboten vor ihn kommen.«
»Ja«, sagte sie, »und wenn du kämst, könnt's leicht Häupeleien geben, weil du so strobelig bist. Wir müssen jetzt trachten, daß wir vollends im Frieden durchkommen. Lieber geh ich, ich fürcht mich nicht mehr so vor den Herren. Aber was soll ich denn dem Amtmann sagen, woher wir wissen, daß die Resolution da ist? Die Kathrine dürfen wir nicht verraten, die ist unser guter Engel.«
»Sagst, ich wiss es von Stuttgart her, daß die Resolution vor einigen Wochen schon abgangen sei. Gib acht, das wird ihm Füß machen.«
»Das ist der Red noch einmal wert«, rief Christine und lachte; »jetzt meint er, du habest ihn verklagt, und kriegt Angst.«
»Laß ihn nur nicht schlupfen, weder links noch rechts«, sagte er. »Bekennen muß er. Morgen ist Samstag, und am Sonntag müssen wir das erstmal proklamiert sein.«
Mit lachendem Munde kam Christine den andern Morgen aus dem Amthause. »Ich hätt nicht glaubt«,[] sagte sie, »daß so ein rundes Gesicht so in die Länge gehen könnt. Sieh, so lang ist's worden, wie ich mein Sprüchlein aufgesagt hab. Er hat sich dann aber gleich gefaßt und hat gesagt, die Resolution sei allerdings da, und er würd sie dir schon noch eröffnet haben, es sei ja nichts Pressantes.«
»So, nichts Pressantes? Ich wollt, das Wasser ging ihm einmal bis an Hals, und ich stünd dabei und könnt sagen: ›'s pressiert gar nicht, Herr Amtmann, mit Ihrem Wohlnehmen.‹«
»Es hat ihm aber doch rechtschaffen pressiert«, fuhr sie fort. »Sieh, da ist die Schrift, die soll ich dem Pfarrer bringen, daß es mit dem Proklamieren weiter kein' Anstand hab.«
»Lauf, Christinele, lauf tapfer! Du arm's Weib du, mußt dich halbtot springen um unsere Heirat, und trägst doch den Ehkontrakt mit Brief und Siegel an dir.«
»Ich wollt, du müßtest ihn tragen«, maulte sie, »damit du auch wüßtest, wie das beschwerlich ist.«
»Halt's der Pfarrer auch nicht für pressant?« fragte er, als sie wiederkam.
»Er hat gesagt, es sei eine Sünd von dir, daß du deinem Vater nicht gehorchest, und er sag mir's ins Gesicht, daß so eine ungleiche Heirat eine rechte Dummheit sei und auch ein bös End nehmen werd, aber er hab jetzt sein Gewissen salviert und uns gewarnt; morgen werd er uns proklamieren.«
»Er soll uns ausrufen und einsegnen, nachher mag er schwätzen, soviel er will. Jetzt ist's gewonnen.«
Als er von ihr wegging, begegnete er seiner Schwester [] Magdalene, die eben über die Gasse ging. »Du«, sagte er seelenvergnügt, »morgen werd ich von der Kanzel runtergeschmissen. Du gehst doch auch in die Kirch?«
»Ach Gott, ist's so weit?« rief sie. »Ja, wenn ich kann, will ich gehen.«
»Können!« sagte er, »ich hab noch nie gehört, daß die Weibsleut nicht in die Kirch gehen können, sonderlich, wenn's Neuigkeiten drin gibt.«
»Weiß 's denn der Vater schon?« fragte sie. »Grad will ich zu ihm.«
»Er erfährt's jetzt gleich. Wir haben einen Weg.«
»So, du bist also jetzt majorenn, und ich hab dir nichts mehr zu befehlen?« sagte der Sonnenwirt, als sein Sohn ihm die Neuigkeit angekündigt hatte. »Nun, jetzt kannst du freilich tun, was du willst, aber ich bin jetzt auch nicht mehr verantwortlich dafür.«
»Vater«, sagte die Chirurgin, »der Bruder fragt, ob ich morgen in die Kirch geh. Gehet Ihr?«
»Es wär schon not, daß man für ihn beten tät«, sagte die Sonnenwirtin, die sich der Antwort bemächtigte; »aber ich sorg nur, die Leut könnten's so ansehen, als ob wir unsre Billigung dazu gäben, und der Vater wälzt ja selber alle Verantwortung von sich ab.«
»Ich sag nicht, du sollest daheim bleiben«, antwortete der Sonnenwirt seiner Tochter, »und dein Mann kann's dir auch nicht verbieten, in die Kirch zu gehen. Auch wär's christlich, wenn's einmal sein soll, daß wenigstens eins von der Familie dabei wär.
[] Aber ich kann mich nicht dazu entschließen, ich tät mich ja selber aufs Maul schlagen.«
»Aus Christenpflicht ging ich auch gern dazu«, nahm wieder die Sonnenwirtin das Wort, »aber ich könnt's nicht prästieren, den Blicken so ausgesetzt zu sein, denn natürlich, die ganz Gemeind guckt uns an, wenn wir gegenwärtig sind. Ich weiß nicht, mit was ich die Straf verdient haben sollt, ich hab mich nicht vergangen.«
»Das ist wahr«, seufzte die Chirurgin, »ich könnt die Augen nicht auftun und tät's doch spüren, wie ich die Zielscheib wär, und alle Andacht wär mir verdorben.«
Die Türe ging auf, und der Krämer trat mit seiner Frau herein. »Ich muß um Entschuldigung bitten«, sagte er, »daß ich in meinen Hauspantoffeln komm, aber es läßt mir keine Ruh. Weiß's denn der Herr Vater schon? Es ist im ganzen Flecken herum, daß der Schwager morgen mit seiner Jungfer Christine proklamiert werd. Ist's denn wahr? Was, und die Familie erfährt so was zuletzt?«
»Das wird aber morgen ein Geläuf sein!« rief die Krämerin. »Mein Mann, der los Vogel, hat gesagt, wir könnten einen hübschen Profit machen, wenn wir unsern Kirchenstuhl vermieten täten. Gebt acht, morgen gibt's am heiligen Ort Händel, denn's fehlt an Platz.«
»Wir reden eben davon, ob wir auch gehen sollen«, sagte die Sonnenwirtin, »aber die Chirurgussin und ich, wir meinen, wir könnten's nicht aushalten, wenn einen alles so ansieht.«
[] »Herr meine Sünd!« schrie die Krämerin. »Ich weiß nicht, was mir für ein Unglück passieren könnt, wenn alles um mich rum druckt und guckt und murmelt! Da könnt mich ja was ankommen, wovon man in Ebersbach noch nach hundert Jahr reden tät.«
»Schad ist's aber doch, wenn wir drum kommen«, sagte der Krämer. »So ein Paar sieht man nicht alle Tag. Er ist so mager und sie so dick.«
»Sie wird mich schon pflegen, daß ich wieder zu Kräften komm«, versetzte Friedrich, der alle diese Stiche mannhaft verbiß. Doch war er froh, sich mit einem Scherzwort loskaufen zu können, und beurlaubte sich von der Familie, ohne die Bitte, die er an ein sonst geliebtes Mitglied derselben gerichtet hatte, bei den andern zu wiederholen.
Er brachte den Rest des Tages bei seiner Braut und den Ihrigen zu, wo es ungeachtet des Mangels und der Ungewissen Aussicht in die Zukunft sehr heiter zuging. Der Hirschbauer sprach an diesem Tage zum erstenmal wieder seit langer Zeit und konnte aufrecht im Bette sitzen. Aus jedem Worte aber, das der Bräutigam redete, gab sich das befriedigte Selbstgefühl zu vernehmen. Er konnte jetzt seinem Mädchen und ihrer Familie Wort halten.
Als er abends heimkam, nahm ihn sein Vater auf die Seite. »Laß mit dir reden«, sagte er. »Jetzt hast du alles noch in der Hand. Ein Wort beim Pfarrer, und die Proklamation unterbleibt. Ich will dir was sagen: wenn du zurücktrittst, so soll dein Diebstahl ungeschehen und begraben sein. Bis jetzt ist nicht [] davon geschnauft worden, das hab ich in der Hand.«
»Schwätzet doch nicht immer von Diebstahl«, sagte Friedrich. »Was ich aus meinem Mütterlichen ersetzen kann, das ist mein'twegen genommen, aber nicht gestohlen.«
»Wie meinst du, daß man's vor Amt ansehen werd?«
»Weiß ich das? Ich hab das Gesetz nicht gemacht, und Ihr auch nicht.«
»Du hast's, scheint's, vergessen, wohin dich dein Husarengriff geführt hat.«
»Nein, ich weiß noch recht gut, daß man mir damals eröffnet hat, das Einsacken könnt man vielleicht meiner Jugend und Unverstand nachsehen, aber nach einem alten Reskript – ich weiß nicht mehr, die Jahreszahl ist noch aus dem vorigen Jahrhundert gewesen – sollen ungeratene, unartige Kinder, bei denen der Eltern Zucht nicht anschlage, in Sprengen und eisernen Banden zu öffentlichen Arbeiten angehalten werden, und sonach sei das Zuchthaus eigentlich eine Begnadigung für mich. Wenn Ihr es also meint, so könnt Ihr mich beim Amtmann und Vogt verklagen, wie Ihr mich beim Kirchenkonvent verklagt habt.« – »Du schreckst mich nicht«, dachte er bei diesen Worten, mit festem; Auge den unsichern Blick seines Vaters festhaltend.
»Sind das artige Kinder«, fragte dieser, »die ihren Eltern das Korn im Sack aus dem Haus tragen?«
»Wisset Ihr nicht, Vater? der Crispinus hat Leder gestohlen, um den Armen Schuh draus zu machen,[] und hat's doch zum Heiligen gebracht, wiewohl er's, glaub ich, sogar bei Fremden gestohlen hat.«
»Wir sind lutherisch. Da gelten keine solche Späß.«
»Nun, so machet doch endlich Ernst und bringet mich ins Zuchthaus. Dann muß eben die Hochzeit aufgeschoben werden, bis ich wieder rauskomm.«
»Ich sag noch einmal, tritt zurück, so lang's noch Zeit ist.«
»Nein, eher will ich mich stocken und blocken lassen. Entweder setzt mich ins Zuchthaus, wenn Ihr nichts Besseres wisset, oder gebet mir mein Mütterlich's heraus, damit die Sach auf ein oder die ander Art endlich in Ordnung kommt.«
»Zu deinem Hochzeitstag kannst's haben, wenn du von deinem Tugendspiegel nicht lassen willst, und kannst dann gleich auch Tauf davon halten. Ich möcht nur auch wissen, was du an ihr find'st. Ich will nicht weiter mit dir streiten, ob du dich mit dem Crispinus vergleichen kannst, aber wenn du das sein willst, so sag nur selber, was du von deiner Crispina hältst, die sich gestohlene Sachen zutragen läßt; denn das leid't kein Zweifel, da machst mir nichts weiß.«
»Angenommen, es sei so, wisset Ihr denn, ob sie's weiß, woher ich's hab?«
»Sie wird wohl denken, es sei dir in der Hand gewachsen?«
»Vater, wenn sie reich war, so möcht sie tun, was sie wollt, Ihr würdet anders von ihr denken. Jetzt ist sie einmal mein, und das Kind, das sie unterm Herzen trägt, ist mein Kind und muß zu seiner [] Mutter einen Vater haben, wie ich zu meinem Vater eine Mutter haben sollt.«
»So renn in dein Verderben, wenn du nicht anders willst«, sagte der Alte, nahm das Licht und ging in seine Kammer.
25
Richtig, das muß man sagen, hatte die Krämerin prophezeit. Nie war seit Jahren in dem doch so christlich gesinnten Flecken die Kirche so gefüllt gewesen wie an dem Sonntag, an welchem Friedrich mit Christinen proklamiert wurde. Außer den Kranken und Gebrechlichen blieb niemand zurück, von den Gesunden fehlte nur die Familie des Sonnenwirts. Der alte Hirschbauer hatte alle die Seinigen in die Kirche geschickt: »die Mucken werden mich derweil nicht fressen«, hatte er gesagt. Selbst der kleine Wollkopf hatte in dem Weiberstande neben seiner Mutter und Schwester Platz gefunden und hörte andächtig der Predigt zu. Wohl gab es ein Zischeln und Murmeln, und alles steckte die Köpfe zusammen, als der Pfarrer vor dem Segen die Verlesung der Paare, die in den heiligen Stand der Ehe treten wollten, begann, aber Friedrich blickte mutig nach der Kanzel und zugleich aufmerksam, ob der Pfarrer in seiner Verkündigung nicht vielleicht irgendein Zeichen seiner Abgunst einfließen lassen werde. Es geschah jedoch nichts dergleichen, und er konnte es höchstens auffallend finden, daß der Pfarrer unter den zu verkündigenden Paaren ihm [] und seiner Braut die letzte Stelle angewiesen hatte; diese Ordnung konnte aber der Reihenfolge der Anmeldung ent sprechen, somit eine zufällige sein. Der Pfarrer erteilte den Proklamierten und der Gemeinde den kirchlichen Segen, und Orgel und Choral beschlossen den Gottesdienst.
Beim Herausgehen aus der Kirche stieß Friedrich auf den Invaliden. »Was, Ihr seid auch in der Kirch gewesen, Profos? Hätt nicht geglaubt, Eure mürbe Knochen täten Euch so weit tragen. Aber 's ist mir eine Freud und eine Ehr. Nur wundert's mich, denn Ihr habt ja auch Mäus dagegen gehabt.«
»Es bleibt dabei, daß Er nicht recht gescheit ist«, sagte der Invalide. »Aber zu Seiner Hochzeit soll nichtsdestoweniger meine alte Lise krachen.«
Friedrich drückte ihm die Hand und begab sich zu den Seinigen, die vor der Kirchentür warteten. Er führte seine Braut am Arme, reichte dem kleinen Buben die andere Hand, und die neue Familie setzte sich, die Mutter und beide Söhne voraus, das Brautpaar hinter ihnen, in Bewegung. Wer von der Gemeinde den gleichen Weg hatte, ging spöttisch lächelnd an ihnen vorbei: auch konnten sie allerlei Bemerkungen hören. Doch schienen die Leute wenigstens das in der Ordnung zu finden, daß das Paar sich heute am Arme führte; daß er, ohne gültig verlobt zu sein, Arm in Arm mit ihr durch den Flecken zu der Kirchenkonventsverhandlung gegangen war, hatte bei der herrschenden Sitte noch größeren Anstoß gefunden als ihre vorzeitige Mutterschaft.
So langsam sie wegen dieses Zustandes gingen, so[] gingen doch zwei von den andern proklamierten Paaren noch langsamer hinter ihnen drein, um sich über sie lustig zu machen. »Das ist ein Schwanenpaar!« sagte der eine Bräutigam. »Im Ludwigsburger Schloßgarten, im See, hab ich auch einmal eins gesehen, die sind grad so gewesen, nur anders, säuberer.«
»Die da sind weiß wie ein Ofenloch«, sagte seine Braut.
»Es gibt auch schwarze«, fuhr der Bräutigam fort. »Ich hab's einmal von einem Reisenden gehört, dem ich den Weg auf den Staufen hab zeigen müssen. Ist ein kurioser Herr gewesen und hat viel Kauderwelsch durcheinander geschwätzt. Sie seien aber eine große Rarität, hat er gesagt.«
»Es wird gut für den Flecken sein«, bemerkte die Braut, »wenn die da gleichfalls eine Rarität bleiben.«
»Kann denn der Schwan auf trockenem Boden laufen?« fragte der andere Bräutigam.
»Freilich«, versetzte der erste, »aber es macht ihm Müh, er wackelt schier gar so schwer daher, wie die da.« Er deutete auf Christinen, und alle vier brachen in ein rohes Gelächter aus.
Friedrich machte seine Arme los und kehrte sich um. »Ihr Spitzruten«, sagte er, »ist ein Ehrentag ein Tag zum Gassenlaufen? Aber gut, wenn ihr's nicht anders haben wollet, so möget ihr's haben. Du Michel, grüner Tralle«, wandte er sich an den einen, »du bist so dumm, daß man Riegelwänd mit dir nausstoßen könnt und daß dein Mädle zu dir [] hat in die Scheuer kommen müssen, statt du zu ihr, aber wenn man euch erwischt hätte, so hätt's noch eine ganz andere Konventsverhandlung geben als bei uns. Verstanden? Und du, Lorenz«, sagte er zu dem andern, »du spitziger Gscheidle, so pfiffig du bist, so weiß ich doch, daß du dich in Zebedä drüben hast nachts von den ledigen Buben müssen in Brunnentrog tunken lassen, zur Abkühlung, wie sie gemeint haben, jedoch ohne alle Not, denn an dir ist nichts Hitzig's als dein Geiz, der dich verführt hat, vom Herrn Vikarius drüben, dem reichen Prälatensohn, sein aushraucht's Spielzeug um ein Draufgeld einzuhandeln, nachdem dein voriger Schatz gestorben ist, man weiß nicht einmal recht an was. Ich will's an dem gnug sein lassen, denn ich seh, daß eure Bräut rot worden sind, und 's wär gut, sie täten sich der Heuchelei und Splitterrichterei noch mehr schämen als der Sund. Euch zwei Lumpen aber hätt ich gute Lust, über einen wackern Stecken tanzen zu lassen, wenn ich heut nicht so vergnügt wär. Wiewohl, ihr brauchet mir nicht viel gute Wort zu geben, wenn ich euch soll den Gefallen tun.«
Die Hirschbäuerin, die mit ihren Söhnen etwas vorausgegangen war, kam eilig zurück, um abzuwehren; aber weder ihre Ermahnung, noch das vielleicht kräftigere Einschreiten der beiden Söhne war vonnöten, denn die Getroffenen zogen mäuschenstille ab und wagten erst in weiter Entfernung wieder zu schimpfen und zu spotten.
Friedrich aber sagte zu seiner Braut: »Christine,[] bleib standhaft und mach mir kein' Streich. Du kannst mein'twegen Hochzeit und Kindbett am gleichen Tag halten, aber nur fein nacheinander, damit nicht ein Segen zu früh kommt und der ander zu spät.«
»Sei doch ruhig«, erwiderte sie, »das hat keine Not.«
»Der Kuckuck hat's gesehen«, fuhr er fort, »daß man sich dreimal proklamieren lassen muß. Gleich das erst'mal sollt man von der Kanzel vor den Altar kommen, damit einem die Welt keinen Prügel mehr in den Weg werfen könnt.«
»Das wär doch nicht gut«, meinte Christine dagegen. »Da könnt ja kein arm's Mädle mehr Einspruch tun, wenn ihr Schatz sie sitzen ließ und ließ sich mit einer andern zusammengeben.«
»Ist auch wahr«, sagte er. »Um der Untreu der Menschen willen müssen die Treuen mitleiden. Übrigens möcht ich nichts mehr von einem, der mich einmal verkauft und verraten hätt, und was den Einspruch betrifft, so wird eine Arme wunderselten dadurch ihr Recht erlangen, weil gleich alles zusammenhilft, daß sie geschweigt wird.«
»Darum ist's eben das best, wenn man sich aufeinander verlassen kann«, sagte Christine, »dann sind die drei Wochen Aufschub auch nicht zu lang.«
»Gott geb's«, erwiderte er, »aber ich wollt, sie wären vorbei.«
Die zweite Proklamation, die am nächstfolgenden Sonntage stattfand, machte schon nicht mehr so viel Aufsehen wie die erste; denn die Menschen fügen [] sich in vieles, und manche neue Erscheinung, die sie im ersten Augenblick mit Keulenschlägen empfingen, ist ihnen im Lauf der Zeiten vertraut und befreundet oder, oft richtiger gesagt, zur Gewohnheit geworden.
An diesem Tage begehrte Friedrich von seinem Vater eine Unterredung, die er die ganze Woche schüchtern aufgeschoben hatte. Er stellte ihm vor, daß es jetzt höchste Zeit sei, an die Einrichtung eines kleinen Hauswesens zu denken, und daß er zu diesem Zwecke sein mütterliches Vermögen heraushaben müsse.
»Nun, nun«, sagte der Alte, »es hat ja noch Zeit. Ich seh überhaupt nicht ein, wozu du so viel Geld brauchst. Du hast ja selbst gesagt, du wollest froh sein, wenn du mir als Knecht dienen dürfest.«
»Ich bin's zufrieden«, entgegnete der Sohn, »aber ich muß doch wenigstens eine Stube haben, wo ich mit meinem Weib drin wohnen kann.«
»Als Knecht kannst du bei mir wohnen wie bisher.«
»Ja, wollt Ihr denn mein Weib auch zu Euch ins Haus nehmen?« fragte der Sohn mit einem Freudenschimmer in den Augen.
»Das kommt noch aufs Wohlverhalten an«, antwortete der Vater mit einem spöttischen Blick. »Am End wär's freilich das best, ich nähm euch beide unter Aufsicht; ihr könntet's vielleicht brauchen.«
Der Alte ging seinen häuslichen Verrichtungennach, ohne sich zu einer bestimmten Erklärung bringen zu lassen. Ein paar weitere Versuche seines Sohnes [] liefen ebenso ab, und er erhielt nichts als ausweichende, rätselnde, stichelnde Antworten, wobei der Alte jedesmal ein Geschäft oder einen Besuch zu benützen wußte, um das Gespräch abzubrechen. Friedrich verging beinahe vor Unmut und Ungeduld, aber er hatte Christinen versprechen müssen, diese letzten Tage der Prüfung vollends in Ruhe auszuharren. – »Sieh, ich hab Eselsgeduld«, sagte er oft zu ihr.
Unterdessen war die Sonnenwirtin nicht müßig gewesen, im Wege der Gunst wie des Hasses auf ihre Gönnerin, die Amtmännin, und durch diese auf den Amtmann einzuwirken. »Es wäre ja doch schrecklich«, sagte sie, »wenn so ein eigensinniger, gewalttätiger Trotzkopf vernünftige Leute abzwingen könnte.« Der Amtmann, der sich gleichfalls von ihm überrumpelt sah, hatte, nachdem die erste kirchliche Handlung durchgesetzt war, doppelte Lust gewonnen, die Heirat doch noch am Ziele zu hintertreiben. Er schalt auf die Regierung, welche viel zu liberal sei und das junge Volk, wenn es nur brav Dispensgelder bezahle, ins Blaue hinein heiraten und den Gemeinden zur Last fallen lasse; übrigens, meinte er, der Sonnenwirt brauche nur den Taugenichts aus dem Hause zu jagen und jede Verbindung mit ihm abzubrechen, dann habe er allen Boden unter den Füßen verloren, und wenn ihn die Regierung zehnmal für volljährig erkläre, so nehme ihn eben die Gemeinde nicht an. »Dafür laß Sie nur mich sorgen, Frau Sonnenwirtin.«
»Wenn nur mein Mann nicht so schwach war!« erwiderte [] die Sonnenwirtin hierauf. »Er will sich's nicht nachsagen lassen, daß er seinen Sohn, der ihm als Knecht zu dienen erbötig ist, von sich gestoßen hab, und doch kränkt's ihn auch wieder, daß er ihm sein Mütterlich's hinauszahlen soll, denn die Zeiten sind eben gar schwer. Die Eve Marget und die Magdalene haben ihren Anteil auch stehenlassen müssen, mit Vorbehalt, daß sie nachher am Vater mehr erben sollen. Nun besorgt er, wenn der Bruder sein Sach ganz rauskriegt und auf einmal, so könnten die Schwestern auch rebellisch werden. Er glaubt, er hab eigentlich die Nutznießung davon sein Leben lang, aber er weiß nicht gewiß, ob man sie ihm nicht vielleicht strittig könnt machen.«
»Jedenfalls«, bemerkte der Amtmann, »ließe sich dieser Streit in die Länge ziehen, ich sehe jedoch nicht ein, zu was das in der Hauptsache führen sollte, denn wenn der Sonnenwirt seinem ungeratenen Sohne die Existenz garantiert, so kann ihn niemand am Heiraten hindern. Übrigens will ich mir die ganze Sachlage noch einmal in Revision nehmen und sehen, ob noch etwas zu machen ist.«
Unter solchen Beratungen war die zweite Proklamation vorübergegangen, und der Vorteil des unabänderlichen Laufes der Dinge schien ganz auf Friedrichs Seite zu sein, als der Amtmann die Sonnenwirtin rufen ließ. »Gratuliere, Frau Sonnenwirtin«, sagte er, »zur leibeigenen Schnur!«
»Was? leibeigen?« rief die Sonnenwirtin. »Und davon hat das schlecht Gesindel gar nichts gesagt? Das hebt ja alle Verpflichtungen auf!«
[] »Vielleicht haben sie es selbst nicht mehr recht gewußt«, sagte der Amtmann, »denn die Sache ist etwas in Vergessenheit geraten. Tatsache aber ist es, daß der Hans Jerg Müller und die Seinigen zu gnädigster Herrschaft im Verhältnis der Leibeigenschaft stehen.«
»Dann«, rief die Sonnenwirtin mit einem Strahl von Hoffnung, »ist's doch möglich, daß der stolz Bub sein Kopf noch ändert. Eine Leibeigene wird er nicht zur Frau haben wollen.«
»Diese Verhältnisse ließen sich ja mit Geld abkaufen«, bemerkte der Amtmann, »denn dazu ist gnädigste Herrschaft stets geneigt. Ohnehin bestund es, in neuerer Zeit wenigstens, aber schon seit lange, in einer jährlichen Geldabgabe. Früher mögen schwerere körperliche Leistungen erfordert worden sein: da es mich nicht interessiert hat, so habe ich auch nicht nachgeschlagen. Die prästierende Abgabe wurde dem Hans Jerg Müller schon vor geraumer Zeit ob summam paupertatem, wie er ja auch schon von der Gemeinde ex pio corpore Unterstützung genossen hat, auf sein untertänigstes Ansuchen nachgesehen, daher es leicht möglich, daß er sich der Verhältnisse selbst nicht klar erinnert. Das einfältige Volk weiß ja niemals, wie es dran ist, noch auf welchen Füßen es steht: die Beamten müssen es ihm sagen, was es zu leisten schuldig ist, und müssen ihm zur Not noch Bittschriften machen, wenn es einige Linderung seiner Lage erzielen möchte. So habe ich auch diesem die betreffende Supplik aufgesetzt, um ihm das Geld zu ersparen, das er einem Advokaten für [] die Schrift hätte geben müssen, und ihn vor den Entenmaiern zu bewahren, den Winkeladvokaten, die der Leute Verderben sind. Es ist recht undankbar von dem alten Habenichts, daß er, indirekt wenigstens, Ihren Stiefsohn in dessen Unfug und übler Aufführung steift; aber auf Dank darf man ja bei diesem Volke nicht rechnen. Ich selbst muß freilich von mir auch gestehen, daß ich die Sache bei mir mit den Jahren habe in Vergessenheit kommen lassen; derlei verwickelte Materien tauchen einem allemal erst wieder auf, wenn man die Akten nachschlägt. Summa Summarum ist jedoch soviel gewiß: der sogenannte Hirschbauer ist nebst seinen Deszendenten leibeigen, und zwar haftet die Leibeigenschaft auf dem Haus. Ob nun, wie es bei diesem Volke nicht ungewöhnlich, die Vererbung des Besitzes samt der darauf haftenden Last seit Generationen direkt vom Vater auf den Sohn stattgefunden hat, ob dabei Töchter hinausgegeben worden sind und ob selbige durch die bloße Emanzipation vom väterlichen Herde infolge des eingegangenen matrimonii – wobei sie ja bloß den Herren wechseln, wie der Frau Sonnenwirtin selbst wissend sein wird, ha, ha! – ob sie schon hiedurch auch von der Leibeigenschaft emanzipieret sind oder ob sie erst noch specialiter mit Gelde abgelöset werden müssen, ja, darüber könnte man einen langen Prozeß führen, und wehe dem, der die Kosten davon zu bezahlen hätte. Für mich ist jedenfalls so viel klar, daß, wenn auch die fürstliche Regierung diesem jungen Menschen die Majorennität und die [] Heiratserlaubnis gnädigst bewilligt hat, ich, im fürstlichen Interesse selbst, vorderhand auf der baren Leibeigenschaftsablösung seiner, wenn auch proklamierten, doch immer nur erst prätendierten sponsa bestehen muß, muß demnach namens gnädigster Herrschaft sowohl, als auch seitens dieser Kommune, deren Gericht und Rat ich mit tunlichster Beförderung des näheren instruieren werde, beharren, daß ein gültiger Ehevollzug des Johann Friedrich Schwanen mit der Christina Müllerin nicht eher ins Werk gerichtet werden kann, als bis und bevor gedachter Ablösungsschilling entweder in barem erlegt oder eine durchaus satisfazierende Kaution dafür geleistet ist; wobei, bewegender Gründe halber, überhaupt zu erfordern sein dürfte, daß sotane Kaution sich auf den gesamten Nahrungsstand des Nupturienten zu erstrecken habe, denn wenn auch, aus Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse und die bei Gericht und Amt notorische Vermöglichkeit des Sonnenwirts, hievon Umgang genommen werden könnte, falls er seinem Sohne zur Seite zu stehen gesonnen ist, so muß doch im vorhandenen Zweifelsfall für den Nupturienten, unerachtet er ein hiesiger Bürgerssohn, genügende Sicherheit verlangt werden, daß er erstlich seine ihm von gnädigster Herrschaft auferlegende praestationes richtig zu erfüllen imstande sei, und zweitens, daß er, wo ihn sein Vater eventualiter außer Brot setzen sollte, gemeinem Flecken nicht mit einem penuriösen und armutseligen Hausstande, mit Ansprüchen an das pium corpus und endlich gar mit einem Heere von mangelhaften Kindern, [] die um Brot und Kleidung schreien und deren wir hier schon genug und übergenug haben, nicht wissend, wo sie unterzubringen, beschwerlich fallen werde.«
Der Amtmann wischte sich den Schweiß von der Stirne; seine Auseinandersetzung schien ihn etwas angegriffen zu haben. Doch lächelte er zufrieden, denn der Vortrag war nunmehr hinlänglich zu Faden geschlagen, um mit der nötigen Geläufigkeit vor dem Magistrat gehalten werden zu können. Die Sonnenwirtin hatte zwar, trotz der Andacht, mit der sie der Rede zugehört, schon der eingestreuten lateinischen Brocken wegen, sehr viel davon nicht verstanden; doch begriff sie vollkommen, daß der Heirat ihres Stiefsohnes noch ein Riegel vorgeschoben werden könne. Sie ließ sich über die beiden Hauptpunkte, auf die es ankam, noch einmal belehren und verließ das Amthaus in vollem Triumphe, nachdem sie es übernommen hatte, ihrem Manne und ihrem Sohne die amtliche Eröffnung, welche der erstere sich zu holen aufgefordert wurde, im voraus mitzuteilen. »Ihren Stiefsohn«, rief ihr der Amtmann nach, »lasse Sie mir nur aus dem Haus, mein alter Anwalt sagt immer von ihm, und mit Recht, er führe eben ein ödes Geschwätz, das gar keine Heimat habe.«
Aus dem Munde der Stiefmutter erfuhr denn Friedrich, welches neue Gewitter gegen ihn heraufbeschworen worden war. Zuerst nahm er die Nachricht, daß Christine leibeigen sei, mit Gleichmut auf und erklärte, dies ändere nichts in seinen Gesinnungen; [] als er vollends hörte, daß diese Abhängigkeit mit Geld gelöst werden könne, machte er sich gar keine Sorge mehr; aber er war wie aus den Wolken gefallen, als er sehen mußte, wie sein Vater die Sache nahm.
»Was!« rief der Sonnenwirt, »ich soll Bürgschaft stellen für die Bezahlung einer Abgab, die mich mit Haut und Haar nichts angeht? Ich bin froh, wenn ich meine eigene Schuldigkeit abgetragen hab, bin hoch genug besteuert, kann mich nicht auch noch um anderer Leut ihre Abgaben annehmen.«
»Vater«, sagte Friedrich, den diese Äußerung zuerst nur ärgerte, »ich glaub, Ihr werdet altersschwach. Es handelt sich ja gar nicht drum, daß Ihr vom Eurigen etwas zahlen sollet. Gebt mir mein Mütterlich's heraus, dann leg ich das Geld dem Amtmann selber hin.«
»Du tust immer, als ob du von deinem Mütterlichen die halb Welt kaufen könntest, und hast doch schon genug davon vertan. Du wirst dich wundern, wenn ich einmal mit dir abrechne.«
»Nun, so rechnet ab, und wenn Ihr so viel Zeit brauchet, bis Ihr wisset, was Ihr alles in die Rechnung schreiben wollet, so müsset Ihr eben derweil die Bürgschaft leisten.«
»Ich nicht. Das Sprichwort sagt: den Bürgen soll man würgen. Und wie kann man denn von mir verlangen, daß ich noch einen weiteren Revers ausstellen soll von wegen deines Fortkommens? Ich hab dir zwar wohl versprochen, daß ich dich bei mir behalten will, und ich will auch dabei bleiben, wenn [] du dich hältst, wie's recht ist, nämlich besser als bisher. Aber Hand und Fuß will ich mir durch einen Revers nicht binden lassen, denn sonst wärest ja du der Herr, und ich müßt mir zeitlebens gefallen lassen, was dir anständig wär. Nein, der Sklav in meinem eigenen Haus will ich. nimmermehr werden.«
Friedrich legte den Kopf eine Weile auf beide Hände, die er auf dem Tische liegen hatte. Als er das Gesicht wieder erhob, war alle Farbe daraus gewichen. »Jetzt seh ich erst, daß es eine abgekartete Sach ist«, sagte er mit einem Blick auf die Stiefmutter und verließ die Stube.
Christine weinte bitterlich über dieses neue Hindernis. »Das ist eine Welt!« sagte der Hirschbauer und kehrte sich nach der Wand. Die Bäuerin heulte und schrie, daß man arme Leute so unterdrücke, die Söhne fluchten, und der kleine Weißkopf, der heute die Welt gar nicht verstand, saß bestürzt und furchtsam in der Ecke. Friedrich aber glaubte zu bemerken, daß der abermals in Zweifel gestellte Erfolg seiner ehrlichen Bemühungen auf die Würdigung seiner Absicht oder wenigstens auf die Schätzung seiner selbst zurückwirke. Die Hirschbäuerin wenigstens schien ihn bereits mit minder günstigen Augen anzublicken; als sie ausgeheult hatte, machte sie ein Gesicht und gönnte ihm beim Abschiede kaum ein Wort. Christine aber nahm ihm wiederholt das Versprechen ab, auch diese Prüfung womöglich durch Geduld und Gehorsam zu überwinden.
Schon die folgenden Tage zeigten ihm, daß er sich[] in seinen Berechnungen völlig getäuscht habe und für den nächsten Sonntag auf die letzte, bestätigende Proklamation verzichten müsse. Er sprach nichts, war in seinen Verrichtungen fleißiger denn je, aber seine wundgebissenen Lippen, seine mit Blut unterlaufenen Augen verrieten den Sturm, der in ihm arbeitete. Die Narbe auf seiner Stirne trat oft blutrot hervor. Die Leute steckten bei diesem Anblick die Köpfe zusammen und murmelten einander zu, das sei ein Kerl, von dem man sich des ärgsten gewärtigen dürfe.
26
Rasselnd und donnernd fuhren eines Vormittags mehrere Jagdequipagen die Straße herauf. Mitten im vollen Jagen hielt die vorderste vor der Sonne und nötigte dadurch die andern zu einem ebenso plötzlichen Halt. In der Sonne gab es ein Rennen und Jagen treppauf und -ab. Der Herzog Karl selbst war es, der in der ersten Kalesche saß und im raschen Vorbeijagen nach dem Schurwald einen Trunk vom Besten begehrte. Die Ehre war groß, noch größer aber die Eile, mit welcher der Befehl ausgeführt werden mußte, denn es war bekannt, daß der Herr nicht gern wartete und weder im Großen noch im Kleinen ein Hindernis seines Willens gelten ließ. Der Sonnenwirt flog daher wie ein Jüngling von achtzehn Jahren, und wenig fehlte, so wäre er die Treppe hinabgefallen; doch brachte er den alten [] Familienpokal glücklich an den Wagen. Sein Sohn sah vom Fenster aus zu, wie ihn der Herzog in Empfang nahm und nach einem guten Zuge wieder zurückgab; er sah, wie der junge Fürst gnädig, aber immer hastig mit seinem Vater sprach, wie dieser unter tausend freudigen Bücklingen sich weigerte, die Zeche zu machen, aber von dem bei dem Herzog im Wagen sitzenden Hofherrn einen mit einem gebieterischen Wink begleiteten Silbertaler an nehmen mußte. Neugierig betrachtete er den von Jugend und Jagdlust strahlenden Landesherrn, dessen Allmacht ihm die Zahl seiner Jahre voll machen und doch den Wunsch seines Herzens nicht erfüllen konnte: das vornehme, freie Gesicht mit den herrisch umherschweifenden hellblauen Augen drückte eine machtbewußte Sorglosigkeit aus, welche die Freuden des Lebens in vollen Zügen schlürfte und sich dabei um keinerlei Bedenken zu kümmern hatte. So mußte es wenigstens einem jungen Menschen erscheinen, dem die Kehrseite solcher Herrlichkeit verborgen blieb. »Nur ein Scherflein von dieser Freiheit und Ungebundenheit!« seufzte er: »ich wollt es ja nur dazu benutzen, um an meinem Weib und Kind ein rechtschaffen Werk zu tun!«
»Wer wird denn dastehen und gucken, wenn's alle Händ voll zu tun gibt!« rief eine Magd, die in die Stube stürzte. »Die Herren in den andern Kutschen wollen auch Wein. Fort! im Hausgang drunten stehen schon Butellen g'nug, 's fehlt nur an Händen, um sie nauszutragen.«
Er eilte hinunter, ergriff mechanisch ein paar Flaschen [] und trug sie vor das Haus, wo sein Vater soeben, trunken vor Glück von dem Wagen des abfahrenden Herzogs zurücktrat und, beständig komplimentierend, seinem Sohn rücklings in die beladenen Arme taumelte. In diesem Augenblick erhob sich ein Angstgeschrei. Das vordere Pferd am herzoglichen Wagen, durch die neugierig umherwogende Menge oder vielleicht durch irgendeine mutwillige Untat der lieben Jugend scheu gemacht, bäumte sich so unversehens und heftig, daß der Jagdpostillon die Meisterschaft zu verlieren in Gefahr war und die andern Pferde gleichfalls unruhig wurden. Das Geschrei der Menschen, besonders aus den hintern Kaleschen, steigerte die Verwirrung der Tiere, der Postillon schwankte im Sattel, die umstehenden Männer, die zufällig keine Helden waren, wichen zurück und versperrten kräftigeren Händen den Platz, so daß nachgerade die Sicherheit des Herzogs an einem Haare hing. Da ließ Friedrich seine Flaschen fallen, daß sie klirrend am Boden zerbrachen, mit einem Sprung hatte er sich des ungebärdigen Rosses bemächtigt, das ihn auf und nieder schleuderte, endlich aber seiner markigen Hand sich fügen mußte. Als der stärkste Widerstand des Tieres gebrochen war, sprang noch ein Knecht herbei, der es vollends bändigen half, und nun kam alles, was Hände hatte, um die überwundene Gefahr noch einmal zu überwinden. Der Herzog, ärgerlich, daß seine Allgewalt vor den Augen der Sterblichen einen kleinen Eintrag erlitten hatte, rief: »Hat nichts zu sagen! Vorwärts! Keine Umstände weiter!« nickte aber im[] Fortfahren dem jungen Menschen, der ihm diesen Dienst erwiesen, gnädig zu, griff dabei in die Westentasche und warf ihm ein Goldstück hin, während der vordere Postillon, seine wiedergewonnene Haltung mit verbissenem Grimm behauptend, die Peitsche gegen die herzudrängende Menge aufhob und der Jagdzug in donnerndem Laufe davonbrauste. Ein Gelächter folgte den unglücklichen Hofherren, die über dem Abenteuer ihres Gebieters nichts zu trinken bekommen hatten und sich ohne Zögern anschließen mußten, um ihren Durst im Schatten der Wälder oder vielleicht im Blute des Ebers zu kühlen. Noch einen Augenblick, und die ganze stolze Erscheinung war verschwunden, und die Straße mit den städtisch großen, aber einförmig grauen Gebäuden sah wieder so werktäglich aus, als ob sich gar nichts zugetragen hätte.
Friedrich war sogleich in das Haus zurückgekehrt, während sein Vater noch im Vollgenuß der gehabten Ehre mit den Nachbarn sprach, wobei er nicht unterließ, sie darauf aufmerksam zu machen, daß der Flecken früher eine Post gehabt habe, von welcher er behauptete, daß sie mit der ›Sonne‹ verbunden gewesen sei.
»Wo hast dein' Goldvogel?« fragte er seinen Sohn vergnügt, als er mit dem Knechte heraufkam, um zu Mittag zu essen. »Der Johann sagt, es sei ein Goldstück gewesen, was dir der Herzog zugeworfen hab.«
»Ich hab's nicht aufgehoben«, antwortete Friedrich.
»Was? Bist von Sinnen?« schrie der Sonnenwirt.[] »Ich hab eine Menschen- und Christenpflicht getan«, sagte Friedrich, »und dafür laß ich mich nicht mit Geld auszahlen. Zudem weiß man wohl, für was der Herzog die Dukaten in der Westentasch trägt – fürs Weibervolk. Das ist kein Geld für mich.«
»Hast's so übrig?« fragte der Vater, indem er den Löffel niederlegte, den er mit dem besten Appetit zu handhaben begonnen hatte. Das Essen wollte ihm nicht mehr recht schmecken. »Du bist mir der Recht zum Obenaussein«, setzte er hinzu.
»Dann hätt das Geld wenigstens mir gehört«, maulte der Knecht, »denn ohne mein' Beistand kann man nicht wissen, wie das Ding ausgegangen wär.«
»Warum hast's nicht genommen?« sagte Friedrich. »Ich hätt's dir nicht mißgönnt.«
»Such, Johann, such!« rief der Sonnenwirt. Aber der Knecht war schon aufgesprungen, und man hörte ihn die Treppe hinunterpoltern. Nach einer guten Weile kam er finster zurück und sagte: »Ich hätt mir's schon denken können, daß so was nicht lang liegenbleibt. Wer's aber genommen hat, ist ein Dieb. Der soll mir kommen. Ich werd's schon rausbringen, wer den gelben Vogel im Käfig hat. Der Fischerhanne, der ist, glaub ich, am nächsten dabei gestanden. Dem wassergrünen Spitzbuben werd ich aufpassen.«
»Schäm dich, Johann«, sagte Friedrich, »daß du dein' Nebenmenschen schlecht machst, eh du weißt, ob er's ist. Der Fischerhanne ist nicht mein Freund und wird's auch nicht werden, aber ich tät mich [] doch zweimal besinnen, eh ich ihn einen Dieb hieß ohne allen Grund und Beweis. Und dir hat er nie was zuleid getan. Esel, warum hast du das Geld nicht gleich aufgehoben?«
Der Knecht sah ihn giftig an und murmelte halblaute Flüche in seine Suppe hinein.
»Das Aufheben wär an dir gewesen, du hochmütiger Herr«, sagte der Sonnenwirt zu seinem Sohne. »Du nimmst, wo du nichts anrühren sollt'st, und läßt liegen, was dein ist.«
Friedrich schwieg. Er hatte einem Advokaten in Göppingen geschrieben, ob er sich nicht seiner annehmen und seine Sache gegen seinen Vater führen wolle. Inzwischen gedachte er jeden unnützen Streit mit diesem zu vermeiden und sich, solange er ihm sein mütterliches Erbe nicht herausgab, als Kind von ihm ernähren zu lassen, was er ihm durch seine Dienste hinlänglich zu vergelten glaubte; denn wenn er auch mitunter, von Zorn und Überdruß ergriffen, in seiner Arbeit nachließ, so meinte er sich doch das Zeugnis geben zu dürfen, daß sein Vater mit Unrecht über solche Unterbrechungen klage, die im Vergleich mit seinem sonstigen Fleiß und Eifer kaum in Rechnung zu bringen seien.
Der Sonnenwirt schwieg gleichfalls und beschäftigte sich wieder mit dem Essen. Im ganzen hatte er doch keinen Grund, sich den Appetit vergehen zu lassen. Sein Sohn hatte dem Herzog einen nicht unbedeutenden Dienst geleistet, der jedenfalls der Sonne zustatten kommen mußte. Konnte dieses Ereignis aber nicht vielleicht auch das Glück des jungen Menschen [] machen und ihn sogar aus seiner verkehrten Richtung herausreißen? Der Herzog war gegen seine Gewohnheit weggefahren, ohne eine Wort zu verlieren; denn wenn er auch das Land wenig schonte, so pflegte er doch den Leuten ein gut Gesicht zu machen und konnte mit dem Geringsten im Volke freundlich reden. Nach einigen Tagen, auf der Rückfahrt, oder auf einer späteren Durchreise, falls er diesmal einen andern Rückweg einschlug, fragte er gewiß nach dem Jüngling, dessen kräftiger Arm ihn vor einer Gefahr bewahrt hatte, und je kleiner dieser sein Verdienst machte, desto höher konnte er in der Gunst des Herrn steigen. Posthalter von Ebersbach! Der Alte konnte diesen Gedanken nicht aus dem Kopfe bringen. Da war aber freilich immer wieder diese fatale Liebschaft im Wege.
Während der Sonnenwirt solchen Gedanken nachhing und dazwischen wieder dem Essen zusprach, dachte sein Sohn an nichts, als daß morgen der dritte Sonntag sei, an welchem er hätte proklamiert werden sollen, und daß heute die Antwort auf seinen Brief aus Göppingen eintreffen müsse. Um dieselbe geheimzuhalten, hatte er nicht die Post, sondern einen Bekannten benützt, der in Geschäften droben war und zu dieser Stunde zurückkommen sollte. Er stand vom Essen auf und ging die Straße hin, um den Brief in Empfang zu nehmen, mit welchem er sodann unter die Erlen an dem Flüßchen eilte. Der Advokat schrieb, er mische sich nur höchst ungern in Händel zwischen Kindern und Eltern, zudem scheine ihm die Sache sehr verwickelt, der [] Ausgang ungewiß, und ohne einen Vorschuß könnte er sich nicht in diese Geschichte einlassen. Abermals eine vereitelte Hoffnung! Er knirschte mit den Zähnen, schüttelte einen alten Weidenbaum, daß er in den Wurzeln krachte, und ging kranken Herzens, denn jetzt wußte er nicht mehr, womit er Christinens tägliches Wimmern stillen sollte, in das väterliche Haus zurück.
Er war dort heute nichts weniger als überflüssig. Dieselbe Straße, auf welcher des Herzogs leichte Kaleschen den Staub aufgewirbelt hatten, kamen jetzt schwere Frachtwagen langsam vor die Sonne dahergefahren. Friedrich half die Pferde ausschirren und versorgen. Dann ging es an die leibliche Pflege der Fuhrleute, die keine geringen Ansprüche machten und mehr Geld sitzenließen, als der Herzog samt seinem ganzen Hof. Hier war die Sonnenwirtin an ihrem Platze. Sie wußte nicht bloß das Bedürfnis und den Geschmack der Gäste zu befriedigen, sondern auch eine Unterhaltung mit ihnen zu pflegen, bei welcher wenigstens der Verstand nicht zu kurz kam, so daß einst ein Fuhrmann zu seinen Gefährten sagte: »So lieb mir Herz und Nieren sind, so möcht ich doch der Sonnenwirtin ihr Herz nicht fressen, denn warum? Sie hat eben kein Kalbsherz, aber ihr Hirn, das tät mir, glaub ich, schmecken, und bin doch dem Kalbskopf feind.«
Kaum waren die Fuhrleute bedient und zum Teil nach ihren Rossen zu sehen gegangen, so kamen abermals Gäste, und zwar diesmal zu ungewohnter Stunde aus dem Flecken selbst. Es war der junge [] Müller Georg, den wir kennen, mit einem Mädchen von nicht ungefälligem Aussehen, das er als seine Braut vorstellte, und einem Schwarm von Sippschaft aus benachbarten Orten hinterdrein, worunter sich auch der Knecht des anderen Müllers befand. Er gehörte, wie sich aus dem Gespräch ergab, zur Verwandtschaft und hatte als Unterhändler dieses Verlöbnis zustande bringen helfen, daher er billig beim Brauttrunke sich mitfreuen durfte. Die vergnügte Miene des Müllers verriet es, und derbe Andeutungen der anderen Verwandten sagten es noch lauter, daß die Braut »Batzen« habe. Ehe die Gäste sich setzten, fand eine lange Begrüßung statt, bei welcher der Sonnenwirt in ehrerbietigerem Tone als gewöhnlich und die Sonnenwirtin mit sauersüßem Gesichte dem Müller Glück wünschten. »Ja ja«, sagte diese, »jetzt habt Ihr das recht Wasser auf Eure Mühle gefunden; der Silberbach, nicht wahr, der wird sie besser treiben als der Ebersbach?« Die ganze Verwandtschaft lachte sehr geschmeichelt zusammen. Nun trat auch Friedrich zu dem jungen Manne, den er trotz jener Husarenjagd wohl leiden konnte, obgleich er in letzter Zeit mit ihm, der sehr eingezogen lebte, nur selten in Gesellschaft gewesen war. Er schüttelte ihm die Hand, begrüßte die Braut gleichfalls und brachte seinen Glückwunsch mit wenigen, aber herzlichen Worten an. »Jetzt tu Wein her, Frieder, und das nur g'nug!« sagte der Müller. »Heut laß ich alle Gäng los! Du mußt auch mittun, wir haben schon lang nicht mehr miteinander getrunken.«
[] »Ja, ich will so frei sein«, erwiderte er freundlich und eilte in den Keller.
»Ihr habt heut 'n Glückstag gehabt, Herr Sonnenwirt«, begann der Bräutigam, als die Gesellschaft, den Wirt und seine Frau mit eingeschlossen, an dem runden Tische Platz genommen hatte. »Ich bin nicht dabei gewesen, hab's aber gehört. Und der Frieder, das ist ja ein Kerl wie ein Löw! Nun, der hat die Wurst nach der Speckseit geworfen; der Herzog wird sich's hinter die Ohren geschrieben haben.«
Der Sonnenwirt erzählte unmutig, wie sein Sohn das ihm zugeflogene Goldstück verschmäht habe. Die Gesellschaft hörte mit Verwunderung und Kopfschütteln zu. Die junge Braut lachte überlaut. Dies ärgerte zwar den Sonnenwirt ein wenig, doch glaubte er darin ein Zeichen von vielem Menschenverstand erkennen zu müssen.
»Ja, er ist sein Lebtag ein besonderer Kopf gewesen«, sagte der Bräutigam. »Aber das muß man ihm doch lassen, hilfreich ist er und meint's vielmals gut. Denkt's Euch noch, wo er die Schramm her hat, die man immer noch auf seiner Stirn sieht? Da ist einmal der Totengräber mit seinem Weib und seinem Mädle am Burggarten runtergefahren, haben ein Wägele mit Heu, glaub ich, geführt, und wie eben die Leut vergeßlich sind, oder vielleicht auch aus Armut, haben sie keine Kette bei sich gehabt und ein mageres Kühle vorgespannt, und haben die Weibsleut den Radschuh machen müssen, wie's auch sonst im Leben oft vorkommt.«
[] Die Gesellschaft lachte. »Ist auch oft nötig«, rief eine rüstige dicke Frau, die für die Braut den Mund auftat. »Wenn ein Mann kopfüber kopfunter bergabe will, so tut's ihm wohl not, daß er ein tüchtig's Weib hat, das ihm den Rappen anhält und den Wagen sperrt.«
»Über das«, fuhr der Müller fort, »ist das Wägele in Schuß kommen, das Kühle hat's nicht mehr verheben können, und wer weiß, wie's gangen wär, da kommt auf einmal der Frieder des Wegs daher, sieht den Unstern und springt bei, er ist schier kaum sechzehn Jahr alt gewesen. Anhalten hat er das Wägele auch nicht mehr können, aber rum hat er's samt dem Kühle gerissen, so daß das Rad am Mäuerle aufgefahren ist und am Vorsprung festgesessen. Kuh und Wagen und Leut, keinem hat's was getan, aber den Frieder hat's mit der Stirn an die Mauer hingeschlenkert, daß man ihm hätt mit einer Latern in Kopf hineinzünden können.«
»Ja, ich weiß wohl noch, wie man mir den gottlosen Buben halbtot ins Haus bracht hat«, sagte der Sonnen wirt.
Die Türe ging auf, und Friedrich erschien mit den Flaschen. Der Müller, der sich entweder sehen lassen oder auch vielleicht das Gespräch noch länger fortsetzen wollte, rief: »Was, das ist alles? Gleich wieder in Keller! Der ganz Tisch muß vollgepfropft sein. Kann dir nicht helfen, Friederle, heut muß ich dir müde Füß machen.«
»Oh, ich tu's ja gern«, rief Friedrich und eilte wieder in den Keller.
[] »Ich hab oft zu mir gesagt«, hob der Müller wieder an, »aus dem Buben kann noch was werden.«
»Im guten oder im bösen«, erwiderte der Sonnenwirt. »Ich hab's auch schon gedacht, daß er nichts Halb's werden will. Seit einiger Zeit aber hat er sich ganz auf die eine Seit geneigt. Ihr wisset's ja selber, wie er mir Verdruß und Bekümmernis macht.«
»Darin will ich ihm den Kopf nicht heben«, sagte der junge Müller, indem er seine Braut zärtlich ansah. »Besser ist besser, das weiß ich. Aber wenn die Sach eben einmal so weit ist, wie bei dem Frieder – ich sag's ganz unmaßgeblich, Herr Sonnenwirt, ich red bloß von mir – wenn ich 'n Sohn hätt, und er ging in solchen Schuhen und wollt eben um Gottes oder 's Teufels willen seinem Schatz Wort halten und sein Kind vor Elend bewahren – ich weiß nicht, was ich tät, aber soviel müßt ich mir doch immer sagen: das Kind, das ist dein Enkel.«
»Unser Herrgott wird davor sein, daß dir so was zustoßt«, sagte die dicke Frau, welche die Sprecherin machte, mit scharfbetonter Mißbilligung. »Hätt'st wenigstens gleich dazu sagen sollen: Unbeschrien! An einem Tag, wie der heutig, mußt kein so Ding reden.«
Der Bräutigam wurde gewahr, daß er einen großen Bock geschossen. Er wandte sich zu seiner Braut, welche blutrot geworden war, und flüsterte ihr unausgesetzt gute Worte zu, ohne weiteren Anteil an dem Gespräch zu nehmen. Anfangs schien sie etwas [] scheu und widerwillig zu sein, auch zog sie den Arm weg und rückte ein wenig, wenn er sie berühren wollte; nach und nach aber ließ sie sich wieder begütigen.
»Das wär mir eine neue Erziehung«, nahm die Sonnenwirtin nach der Tadlerin das Wort, »wenn des Menschen Eigensinn Gottes Will heißen müßt. Des Teufels Will, ja, das ist recht gesagt.« – Sie sah sich im Kreise um und begegnete, wenigstens bei den weiblichen Mitgliedern desselben, lauter beifälligen Gesichtern.
»Herr Sonnenwirt!« begann ein alter Fuhrmann, der beinahe unbeachtet in der Ecke am anderen Fenster saß und dem Gespräche sehr aufmerksam zugehört hatte: »Lasset ein Wort mit Euch reden und gebet Eurem Sohn das Mädle, daß das Geschrei unter den Leuten einmal aufhört. Bei Kannstatt drunten hab ich einen ähnlichen Fall erlebt. Da hat auch ein Wirtssohn eine arme Taglöhnerstochter geheiratet, und die ganz Verwandtschaft ist dagegen gewesen, aber er hat's durchgesetzt, warum? Weil er Herr im Haus gewesen ist nach seines Vaters Tod. Es ist aber ganz gut geraten. Anfangs, freilich, hat man auch dem Teufel ein Bein brechen müssen, denn die jung Frau hat ein wenig hochmütig sein wollen auf ihr fein's Gesicht und ihren neuen Stand und hat dabei natürlich von der Wirtschaft nichts verstanden und der Schwieger nicht folgen wollen; aber der Mann ist gescheit gewesen und hat zu seiner Mutter gehalten und sein Weib links und rechts hinter die Ohren geschlagen, bis sie pariert hat. Jetzt [] geht's, und die Einkehr bei der schönen Wirtin ist groß, und die Mutter, die früher am ärgsten gegen die Heirat gewesen ist, ja, die trägt jetzt ihre Tochter schier auf den Händen.«
»Das paßt wie eine Faust auf ein Aug«, lachte die Sonnenwirtin. »Freilich, wenn ein Vater tot ist, da kann ihm sein Sohn sein Sach und seinen Namen verschimpfieren, und niemand fragt danach. Aber solang der Vater am Leben ist, wird er doch auch noch dreinreden dürfen, wenn ihm der Sohn Schimpf und Schand ins Haus bringen will.«
»Herr Sonnenwirt!« sagte der hartnäckige Fuhrmann, ohne die Einrede der Frau zu beachten, »Ihr müsset ja doch einmal abfahren, und dann kutschiert Euer Sohn. Wollet Ihr ihm auf dem Bock sitzen bleiben und ihn sein Leben lang spazieren führen? Das geht ja doch nicht an, drum gebet nach, so lang's noch Zeit ist und eh's zum Äußersten kommt. Denn ich kenn euch beide: 's hat jeder von euch ein Sperrholz im G'nick.«
»Recht so!« sagte die Sonnenwirtin, »also soll der Sohn dem Vater das G'nick brechen!«
Der Sonnenwirt, der eine Weile etwas unschlüssig dreingeschaut hatte, fuhr auf. Vom Sterben hörte er gar nicht gern reden, eine Rüge war auch nicht nach seinem Geschmack, und der etwas herbe Ton des alten Mannes, den er zwar seit vielen Jahren kannte, reizte ihn so, daß es nur einer kleinen Nachhilfe von seiner Frau bedurfte, um ihn in Harnisch zu jagen. »Ich brauch das Geschwätz nicht«, sagte er kurz angebunden, »brauch mir in [] meinem Haus nichts befehlen zu lassen. Hier bin ich Herr.«
»Adje, Herr Sonnenwirt«, antwortete der Alte, indem er sich mit gemessener Eile erhob und der Türe zuging, »'s gibt noch mehr Wirtshäuser in Ebersbach.«
»Mein'twegen!« rief der Sonnenwirt.
Der Alte ging hinaus, nachdem er der Gesellschaft »Adje beisammen!« zugerufen hatte. Draußen traf er auf Friedrich, der die Treppe langsam und nachdenklich heraufkam. »Frieder«, sagte er zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter, »wir kennen einander schon lang, ich hab dich oft rumtragen, wie du noch klein gewesen bist, und hab dich auf meine Gäul sitzen lassen.«
»Ha freilich, Bot!« erwiderte Friedrich aufgeheitert. »Wir sind immer gut Freund gewesen. Wißt Ihr's nimmer? Ich hab Euch ja einmal den Wagen ausplündert, dem langen Mathes, dem Knecht, zum Torten.«
»Weiß wohl, Friederle, dir ist aber auch mancher Tort gespielt worden, und mein kleiner Finger sagt mir, es stehen dir noch ärgere bevor. Komm, Frieder, komm du mit mir. Alt bin ich, kein Kind hab ich nicht, mein Handwerk kennst du – ich will dich annehmen. Ich spür's, deines Bleibens ist nicht mehr in dem Haus da, es tut nicht lang mehr gut. Komm mit mir, sag ich. Du kennst mich: ich halt dich rauh, wie ich selber bin und wie's bei meinem Wesen hergeht, aber ich halt dich wie ein Vater.«
»Botenjakob!« stammelte Friedrich betreten und[] zögernd, »das ist ein Wort, das alles Dankes wert ist – aber Ihr werdet mir's gewiß nicht verargen, wenn ich sag: es will überlegt sein. Was sollt denn aus meiner Christine werden?«
»Mein Fuhrwesen«, sagte der Alte, »trägt dich und mich, aber ein Haus voll Kinder trägt's nicht mehr, seit die Straß durchs Remstal verbessert ist, und du kannst mir nicht zumuten, daß ich in meinem Alter noch Hunger leiden soll.«
»Wie könnt Ihr mein Fragen so auslegen?« unterbrach ihn Friedrich tief verletzt. »Haltet Ihr mich im Ernst für so undankbar und unverschämt?«
»Nein, nein!« versetzte der Alte mit sanfterer Stimme. »Mußt nicht gleich so auffahren wie dein Vater. Man red't ja nur. Deine Christine wirst freilich nicht mitnehmen können, aber wenn ich einmal sterb, so sitz'st in meinem ganzen Brot und kannst sie holen. Sag dir's selber, ob du hier auch nur so viel voraussehen kannst.«
Friedrich hielt seine Flaschen krampfhaft fest. Es arbeitete mächtig in ihm. Der Vorschlag, das erkannte er wohl, war ein rettender Ausweg, aber er wurde so plötzlich und unvorbereitet damit überrascht, daß sein sonst schneller Geist wie gelähmt war. Wohl hatte er mit leichter Zunge von Verzicht auf seines Vaters Haus und Erbe gesprochen, aber jetzt, wo die Wirklichkeit ihn auf die Probe stellte, schien ihm der Schritt doch ziemlich schwer.
Der Alte, der seinen Kampf beobachtet hatte, fuhr fort: »Wenn du nicht willst, so hilf mir wenigstens meine Gäul aus dem Stall bringen.«
[] »Die sind aber noch lang nicht ausgeruht«, sagte Friedrich, »sie werden noch nicht einmal ganz gefressen haben.«
»Ich bleib auch noch im Ort«, murrte der Alte.
»Was?« rief Friedrich, der erst jetzt den Sinn der Rede begriff, »Ihr wollet die ›Sonne‹ aufgeben, wo Ihr mehr als zwanzig Jahr lang Gast gewesen seid? Wer vertreibt Euch denn?«
»Die ›Sonne‹ scheint mir zu heiß für meine alte Tag, ich will's im ›Stern‹ probieren. Mach nur vorwärts, ich will mir nicht zum zweitenmal ausbieten lassen in dem Haus da. Ich schwätz viel zu lang, hab in acht Tag nicht soviel Wort gemacht.«
»Nein, Jakob«, sagte Friedrich, »so gern ich Euch in allem zu Willen wär, das tu ich nicht. Hat mein Vater Euch beleidiget oder gar Euch das Haus verboten, und vielleicht um meinetwillen, denn so was schwebt mir vor, so will ich wenigstens keinen Finger dazu rühren, daß mein Haus um einen Freund ärmer wird. Wenn Ihr durchaus fort wollet oder müsset, was Ihr selber am besten verstehen werdet, so müsset Ihr den Knecht zu Hilf nehmen. Ich führ Euch keinen Gaul aus'm Stall – und Ihr werdet mir glauben, daß mir's dabei nicht um den Nutzen ist.«
Der Alte fuhr sich mit dem rauhen Rücken der Hand über die Augen. »So eine abschlägige Antwort«, sagte er, »muß ich mir gefallen lassen. Aber ich wiederhol's noch einmal: komm mit mir, und komm gleich. Nicht daß mich's nachher reuen könnt, aber ich spür, 's ist ein Unglück im Anzug. Du [] weißt, in mir ist ein Geist, der mir schon manchmal etwas vorausgesagt hat. Es kann auch nicht anders sein: wenn's der ein hebt und der ander nicht fahren läßt, so muß es zuletzt ein Unglück geben. Schmeiß deine Butellen hin«, setzte er hastig drängend hinzu, »und geh mit, wie du gehst und stehst. Komm, nimm die Hand, die ich dir biet, so eine Gelegenheit kommt nicht zum zweitenmal.«
Friedrich lächelte ein wenig, denn er glaubte sich zu erinnern, daß nicht alle Unglücksprophezeiungen des Alten eingetroffen seien. Auch glaubte er kaum zweifeln zu können, daß zu der guten Gesinnung, die derselbe gegen ihn selbst hegte, sich einige Rachelust gegen seinen Vater gesellt habe. – »Jakob«, sagte er, »in ›Stern‹ mit Euch zu gehen, daraus würd ich mir unter anderen Umständen gar nichts machen, denn der ›Stern‹ ist mir ein ganz honett's Haus. Aber bedenket: wenn ich Euch nach dem, was zwischen Euch und meinem Vater vorgefallen sein muß, gleichsam aus der ›Sonne‹ in den ›Stern‹ ausziehen hilf und vom ›Stern‹ aus mit Euch fortzög, um meinem Vater und Vaterhaus gleichfalls Valet zu sagen – wie arg tät man mir das rumdrehen! Euer Anerbieten, ich sag's noch einmal, ist tausend Danks wert und verdient alle Überlegung, und daß ich gern bei Euch bin, das wisset Ihr ja schon lang. Aber so im Hui kann ich nicht mit. Ich kann den Wein nicht auf den Boden schütten, wie ich heut schon einmal getan hab, denn ich hätt jetzt nicht so viel Geld, um ihn zu zahlen, und möcht Euch doch auch nicht gleich zum Anfang für mich in unnötige Kosten [] bringen. Und dann, wenn ich jetzt fortlief, während noch der Georg mit seiner Braut da ist, so täten die Leut natürlich sagen, ich hab mich dran gespiegelt und geschämt und hab's nicht ausgehalten neben so einem vernünftigen, braven, rechtschaffenen, reichen Paar, und was dergleichen Zeugs ist. Ich seh Euch ja fortfahren, denn wenn Ihr auch aus'm ›Stern‹ abfahret, so müsset Ihr doch da vorbei, und dann geb ich Euch auf alle Fäll das Geleit wie einem Vater, und wir reden weiter miteinander. Darum sag ich Euch jetzt auch nicht Adje.«
»Er tut's nicht«, brummte der alte Mann, während er die Treppe hinunterstieg. »Der Stolz läßt's ihm nicht zu. Es ist einer wie der ander.«
Es war hohe Zeit, als Friedrich mit den Flaschen in die Stube geeilt kam; denn der Vorrat von vorhin war bereits ausgetrunken. Doch fand er die Gesellschaft in munterer Unterhaltung begriffen. Sein Vater hatte den Familienpokal geholt, aus welchem der Herzog heute getrunken; derselbe ging von Hand zu Hand und mußte dann noch einmal gefüllt die Runde machen, da jedes einen gewissen Reiz dabei empfand, das Gefäß, das die landesherrlichen Lippen berührt hatten, an den Mund zu setzen. Von dem Herrn selbst sprach man in verdeckten Wendungen und halben Andeutungen, wie jung er noch sei und wie lebenslustig, und wieviel man noch von ihm hoffen könne, wenn er einmal älter sein werde; denn die Menschen bauen ja stets auf die Zukunft: bei der Jugend bauen sie auf das Alter und beim Alter auf die Jugend derer, die dem folgenden Geschlecht [] angehören werden. Aber auch von der Gegenwart wurde gesprochen, von den Frucht- und Brotpreisen und ähnlichen Gegenständen, die keinem gering scheinen dürfen, weil bei der allgemeinen Ernährung alle beteiligt sind. Gleichwohl zeigte der Sonnenwirt, der sich um diese Dinge sonst oft mehr bekümmerte, als um manche andere noch wichtigere, heute auffallend wenig Sinn dafür. Die Brautschaft des jungen Müllers und die Vergleichung derselben mit der Liebschaft seines Sohnes war es, was ihm beständig im Kopfe herumging. Die Braut gefiel ihm über die Maßen wohl. Der herrschenden Sitte gemäß sprach sie äußerst selten, beinahe nur, wenn sie gefragt wurde; und es deuchte dem Sonnenwirt früh genug, wenn eine erst als verheiratete Frau »das Maul brauchen lerne«. Was sie sprach, das schien ihm »eine Heimat zu haben«; und es klang auch mitunter so rund wie ein harter Taler. Bei lustigen Anlässen brach sie in ein schallendes Gelächter aus, das ihm zu ihren weißen Zähnen und derbroten Wangen ganz prächtig zu stehen schien. Von der Braut mußte er wieder auf den Bräutigam blicken, der in der Fülle seines Glückes neben ihr saß und das eine Mal leise Liebesworte mit ihr wechselte, das andre Mal wieder lebhaft zu der Unterhaltung der Gesellschaft beitrug, deren Bewirtung er übernommen hatte. Der Sonnenwirt erinnerte sich, daß er diesem jungen Manne einst seine Tochter vorenthalten, und konnte gar wohl ermessen, daß in der Ehre, die er ihm mit seinem Besuch antat, auch eine kleine Bosheit verborgen sein mochte, daß er [] da, wo man ihn einst, wenn auch in noch so leiser und unbestimmter Weise, verschmäht hatte, sich jetzt als »gemachter Mann« zeigen wollte; ja, die Zärtlichkeiten, die er seiner Braut erwies, gaben manchmal dem Sonnenwirt einen Stich durchs Herz, als ob sie wie ein Spott auf ihn gemünzt wären. Er dachte aber nicht daran, um wieviel besser er seine Tochter versorgt haben würde, wenn er ihr diesen nach seinem eigenen Geständnis so wackern, fleißigen und angenehmen jungen Mann hätte zuteil werden lassen, und welch ein gutes Beispiel für seinen Sohn ein Schwager gewesen wäre, der, gleichfalls jung und der Lebensfreude nicht abhold, doch das Erfreuliche im Nützlichen zu suchen und bei seiner Wahl, wie es wenigstens schien, Liebreiz mit Verstand und Reichtum vereinigt zu finden wußte. Er dachte nur daran, daß sein Sohn in allen Stücken das Gegenteil von diesem jungen Manne, daß dessen Braut, so sehr sie ihm und eben weil sie ihm gefiel, ein wahres Spottbild auf die Wahl seines Sohnes vorstelle. Friedrich indessen dachte an gar nichts, als an seine und Christinens verzweifelte Lage, an den niederschlagenden Brief des Advokaten, von dem er kaum hoffen konnte, daß er reinen Mund halten würde, und an den liebreichen Antrag des alten Boten, der ihn so seltsam bestürmt hatte. Während ihn diese Gedanken unaufhörlich beschäftigten, mußte er dazwischen, von Georg aufgerufen, der ihn durchaus heiter sehen wollte, mit der Gesellschaft schwatzen, einmal über das andere Bescheid tun, auf das Geheiß des splendiden Bräutigams Wein [] aus dem Keller holen, wieder schwatzen und lachen und immer wieder trinken, so daß er zuletzt kaum mehr wußte, ob er seinen Kopf oder das Mühlrad seines Freundes auf den Schultern habe.
Wie es gerade in lebhafteren Gesellschaften nicht selten vorkommt, war nach einer Reihe ernsthafter Gespräche und lustiger Späße auf einmal die Unterhaltungsspule abgelaufen, und es entstand jene Stille, während welcher jedes Mitglied sich den Kopf zu zerbrechen pflegt, um womöglich einen neuen Stoff zur Verarbeitung aufzutischen. Der Sonnenwirt, der den Wein gleichfalls spürte, hielt sich vor allen als Wirt und Hausherr verpflichtet, in die Lücke zu treten, und der Anlaß zu einer Äußerung lag ihm nur allzunahe. Hatte ihm der Bräutigam vorhin, mehr aus Höflichkeit als Überzeugung, wie ihn deuchte, seinen Sohn gelobt, so glaubte er diese schmeichelhaften Reden jetzt im entgegengesetzten Sinne erwidern zu müssen. »Das muß ich sagen«, begann er, »so ein fein's Brautpaar hab ich lang nicht an meinem Tisch gehabt; da muß einem ja das Herz im Leib drob lachen!« Dann sprach er die vorteilhafte Meinung aus, die er von den beiden jungen Leute hegte, und spendete besonders der Braut ein derbes Lob, das sie mit Erröten, jedoch keineswegs unwillig, hinnahm. Nun aber wendete er sich gegen seinen Sohn. »Da kannst jetzt sehen«, sagte er zu ihm, »wieviel Freud, anstatt soviel Verdruß, du mir hätt'st machen können, wenn du mir so ein brav's Weibsbild ins Haus bracht hätt'st, statt dem Mensch, mit dem du dich vergangen hast.«
[] »Jetzt kommt's!« dachte Friedrich, aber er hielt an sich und sah finster schweigend vor sich hin.
»Es muß eben auch Schatten in der Welt geben«, bemerkte die Sonnenwirtin spöttisch, »sonst tät man ja« – bei diesen Worten deutete sie auf die Braut – »das Licht nicht sehen.«
»Lasset's gut sein, Herr Sonnenwirt und Frau Sonnenwirtin!« sagte der Bräutigam begütigend. »Wir sind ja so vergnügt beieinander. Komm, Frieder, stoß an mit mir: dein Wohl und unser Leben lang lauter gut Ding!«
»G'segn dir's Gott, Georg!« erwiderte Friedrich. »Obwohl du ein Kind des Lichts bist«, setzte er bitter lächelnd hinzu, »so will ich doch in meiner Finsternis auf dein und deiner Braut Wohl trinken und will dir wünschen, daß sie dir immer so lieb bleiben mög, wie meine Christine mir.«
Die Braut machte ein saures Gesicht. Die Sonnenwirtin stieß ein grelles Gelächter aus, in das der weibliche Teil der Gesellschaft halblaut einstimmte, indem sie einander unwillig ansahen.
»Ich laß meine Gäst nicht beleidigen!« fuhr der Sonnenwirt zornig auf.
»Ich hab niemand beleidiget«, erwiderte sein Sohn mit kalter Stimme, während seine blauen Augen immer wilder blitzten.
»So eine Vergleichung«, rief die Sonnenwirtin mit aufreizendem Tone, »die soll keine Beleidigung sein!« Die Weiber nickten ihr lebhaft zu. Der Bräutigam schwieg verlegen; er sah ein, daß er den Freund, mit dem er soeben noch angestoßen, [] nur auf Kosten seiner Braut verteidigen könnte.
»Was!« schrie der Sonnenwirt, »so eine rechtschaffene Person vergleichst du in meinem Haus mit einer –«
»Vater!« unterbrach ihn Friedrich mit dem Tone der Verzweiflung und stand auf, »ich bitt Euch um Gotteswillen, seht Euch vor und hütet Eure Zung! Ich hab's einmal für allemal erklärt und geschworen, daß ich sie nicht runtersetzen und schlecht machen laß, weder von Vater noch Mutter. Sie ist mein Weib vor Gott, und was ich geschworen hab, das halt ich, müßt man auch in Ebersbach etwas erleben, dergleichen seit Menschengedenken nicht geschehen ist.«
»O du blutrünstiger Heiland, er droht seinem leiblichen Vater!« rief die Sonnenwirtin, indem sie die Hände zusammenschlug. Die Weiber stießen Laute des Grauens und Entsetzens aus.
Der Sonnenwirt, der sich gleichfalls erhoben hatte, stand in Ungewisser Haltung an die Stuhllehne angeklammert, schoß aber wütende Blicke nach seinem Sohne. Er fürchtete ihn, weil er ihn zu allem fähig glaubte, und eben diese Furcht erhöhte seine Wut.
»Vater«, begann Friedrich wieder, nach der Wand deutend, wo neben dem Bilde des Herzogs das Bild des Gekreuzigten hing, und seine Stimme, die er zu mildern suchte, zitterte: »Vater, sehet Ihr Ihn, der nicht schalt, da er geschlagen ward, und nicht dräuete, da er litt? Ich will ihm ja gern nachfolgen, [] so gut ich's kann. Wälzet Berg auf mich von Schimpf und Schmach, ich will nicht widerbellen, will's tragen als Euer Sohn. Aber auf mein Weib laß ich nichts kommen, eh mag das größt Unglück draus entstehen. Und leset im Testament, Vater: hat Er nicht seine eigene Verwandtschaft verleugnet und gesagt, die seien seine Eltern, Brüder und Schwestern, die sein Wort hören und den Willen Gottes tun? Ist aber das Gottes Will, die Armut verachten und unterdrücken? Und ist er nicht auch scharf gewesen? Hat er nicht mit der Geißel ausgefegt? Hat er nicht die ewig höllisch Verdammnis ausgegossen über die, so sein Volk betrübt und den Armen und Witwen ihre Häuser gefressen und langes Gebet vorgewendet haben? Und was hat er gesagt, wie sie die Ehbrecherin vor ihn bracht haben, die doch gewiß eine größere Sünderin gewesen ist als mein Weib? ›Wer unter euch ohne Sünde ist‹, hat er gesagt, ›der werfe den ersten Stein auf sie.‹«
»Der kann predigen!« zischelte die Braut mit unterdrücktem Kichern gegen ihren Bräutigam hin. Friedrich, der es gehört hatte, warf ihr einen Blick der Verachtung zu.
»Man sollt schier gar glauben«, sagte die Sonnenwirtin mit ätzendem Spott, »wir haben da den lieben unschuldigen Heiland in unserer Mitte – verzeih mir Gott die Sünd. Ich hab aber nirgend in der Bibel gelesen, daß er so zu seinem Vater geredt hat.«
Der Sonnen wir t war eine Zeitlang sprachlos und außer sich. Die Anrufung der Religion, als Anklägerin [] wider ihn, machte ihn rasend; gleichviel ob sein Sohn mit Recht oder Unrecht zu diesem Mittel gegriffen – es erschien ihm als Bruch der letzten Schranke kindlicher Scheu. »Ich brauch weder 'n Hauspfaffen, noch 'n Hausdieb!« schrie er, »wenn ich eine Predigt brauch, so will ich sie in der Kirch vom Pfarrer hören und nicht von so – so –.« Die Stimme versagte ihm. Der Bräutigam und die anderen Männer, die an der Haltung von Vater und Sohn ersahen, daß es Ernst wurde, sprangen dazwischen und suchten zu vermitteln, indem alles zu gleicher Zeit zusammenschrie. Aber bei dem Vater hatte Wein und Wut über die Furcht gesiegt, und vielleicht gab ihm auch das Dazwischenspringen der Männer, das ihn von seinem Sohne trennte, ein Gefühl der Sicherheit. Er fuhr in den höchsten Kehltönen, blaurot im Gesicht, zu toben und zu schimpfen fort, und durch den ohrzerreißenden Lärm der anderen drang von Zeit zu Zeit seine Stimme vernehmlich durch. »Ich laß mir in meinem eigenen Haus von niemand befehlen – – ich sag, was ich mag – und was ich sag, ist wahr – – – sie ist ein schlecht's Mensch« – er hatte sich Bahn zum Tische gebrochen und schlug mit der Faust darauf, daß Flaschen und Gläser tanzten und umfielen – »ein schlecht's Mensch, sag ich – ein ganz schlecht's, schlecht's, schlecht's –«
Seine Stimme überschnappte, und zugleich erstarb ihm noch aus einer anderen Ursache das Wort im Munde, denn mit weitgeöffneten Augen zurückbebend, sah er, daß sein Sohn das Messer gezogen [] hatte und ihm mit der funkelnden Klinge gegenüberstand. Die Weiber kreischten fürchterlich, die Männer wogten hin und her und wichen teils zurück. Mit wildrollenden Augen war der Unglückliche vorgetreten, die Spitze des Messers nach seinem Vater gekehrt: – wenn man der Leidenschaft in ihrem vollen Ausbruche zutrauen darf, daß sie noch einen Rest von Besinnung in sich birgt, so kann man wohl nicht zweifeln, daß er froh gewesen wäre, sich durch ein dazwischenplatzendes Hindernis die Haltung seines blinden Eides unmöglich gemacht zu sehen. Auch wurde ihm dieser Wunsch, wenn er vorhanden war, erfüllt. Der Müllerknecht, hinter welchem die anderen allmählich zurückgewichen waren, sprang ohne weiteres auf ihn zu und packte ihn kräftig am Arme, um ihn zurückzuhalten. »Messer weg!« schrie er, gleichfalls entbrannt, mit zornig gebietender Stimme und wildem Blick – aber ehe er vollenden konnte, hörte man aus dem Munde des Wütenden einen tollen Schrei, sah seinen Arm mit dem Messer zucken, und das Blut schoß dem zurücktaumelnden Knechte am Arme herab. Die Sonnenwirtin stürzte aus der Stube: »Feurio! Mordio! Feurio! Ein Dieb! Ein Mörder!« hörte man sie nach einem Augenblick auf der Straße schreien, daß es durch die ganze Nachbarschaft gellte. Unten und oben erschallte verworrenes Geschrei. Die Gäste, den Sonnenwirt in der Mitte, stürzten der Frau vom Hause nach. Die Braut ließ sich, an ihrem Bräutigam hängend, von diesem mit fortschleppen und weinte überlaut über [] die böse Vorbedeutung dieses Unglückstages. Der Bräutigam wollte den Getroffenen mit sich ziehen, aber dieser riß sich los und blieb steif und starr vor seinem Angreifer stehen, während ihm das Blut fortwährend vom Arme niedertroff.
Friedrich kam wie aus einer langen Betäubung zu sich und gewahrte, daß er mit dem Knecht allein in der Stube war. Er hatte das Messer noch immer in der Hand. »Da nimm's«, sagte er zu dem Opfer seines Jähzorns, »und stich mich über den Haufen, du tust ein gut's Werk.«
Der Knecht wies das dargebotene Messer zurück. »Ich bin kein Mörder wie du«, sagte er, während seine gläsern gewordenen Augen sich nach und nach wieder belebten.
»Peter! Um Gottes willen! Hat's dir was getan?« rief Friedrich, dem seine Tat erst jetzt zum klaren Bewußtsein kam. »Laß mich sehen, komm, ich will dich verbinden, du verblut'st dich ja.«
Der Knecht stieß ihn zurück. »Ist schon recht«, murmelte er, »'s ist recht, ja, ja – sein' Wohltäter stechen – ist eine neue Art, seine Schulden zu zahlen – 's ist aber schon recht – ich will dich finden – ja, ja! 's ist recht, ist ganz recht.« – Er wiederholte diese Worte wohl ein dutzendmal, während er langsam aus der Stube ging und erst jetzt daran dachte, seinen verwundeten Arm mit der anderen Hand zusammenzuhalten.
Friedrich blieb allein und wie verhext in der Stube zurück. Er blickte auf den Tisch, der soeben noch voll Menschen gewesen war, dann auf das Messer in [] seiner Hand, dann auf das Bild des Gekreuzigten, zu dem er vorhin emporgedeutet und dem er nachzufolgen gelobt hatte. »War das eine Nachfolge?« sagte eine Stimme in ihm. Er hatte gelobt, jede Schmähung zu dulden, die nur über ihn selbst ausgeschüttet würde, und dieser Arme hatte nicht einmal ihn, geschweige Christinen geschmäht. Wenn auch seine Zunge vielleicht Schmähworte beherbergt hatte, die nur durch den Stoß des Messers abgeschnitten worden waren, wenn auch der herausfordernde überlegene Ton, womit er ihm Entwaffnung geboten, sich, wie seine nachherigen Worte zu zeigen schienen, auf eine Gefälligkeit berufen wollte, die zwar eine Verpflichtung, aber keine Abhängigkeit begründet, wenn auch ein christliches Verzeihen ihm fremd und fern zu sein schien – was war das alles gegen einen Mörderstreich? Stolz und Zorn – dies sagte ihm die innere Stimme mehr oder minder klar – hatten ihn in einem Augenblicke zu dem Gegenteil von dem gemacht, was er den Augenblick vorher zu sein sich vermessen hatte.
Indessen blieb ihm wenig Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. Der Lärm vor dem Hause wurde stärker, und die Anzahl der Stimmen mehrte sich. Er hörte den Knecht, dessen Betäubung allmählich in Wut überzugehen schien, aus den anderen Stimmen herausbrüllen: »Er ist nicht bloß ein Mörder, er ist auch ein Dieb! Sein eigener Vater hat ihn 'n Dieb geheißen!« – »Ja«, schrie die gellende Stimme der Sonnenwirtin, »er hat seinem Vater Frucht gestohlen und an sein Mensch gehängt.« – »Man muß [] seiner habhaft werden!« rief eine neue Stimme, an weloher er den Amtmann erkannte. – »Ja!« gellte die Summe der Sonnenwirtin, »kriegen muß man ihn und wenn man das Haus anzünden müßt!« – Bald konnte er auch durch die offen gebliebene Türe Tritte im Hausgang und auf dem unteren Treppenabsatz vernehmen. Die Verfolger kamen. Das Bewußtsein, daß er es mit aufgebrachten, wütenden Menschen zu tun habe, entflammte auch in ihm, der kaum zuvor einem Strahl der Wahrheit und Demut Raum gegeben hatte, von neuem die mörderische Wut, zu welcher sich nun ein unbestimmter Trieb, bevorstehenden Übeln zu entgehen, gesellte. Er flog die obere Treppe hinauf auf den Boden, wo er sich rücklings auf einen Kasten legte, sein Messer in eine danebenstehende Bettlade steckte und in dieser Verfassung die Verfolger erwartete. »Er muß auf der Bühne sein!« rief's unten, und die Schar drang herauf. Die vordersten waren der Amtsknecht, der Fleckenschütz und der Fischer; hinter ihnen drängte es sich auf der Treppe Kopf an Kopf. »Komm mir keiner zu nah!« rief der tolle Bursche und griff nach dem Messer. Sie stutzten und wichen zurück. »Holet ein Gewehr!« rief einer. »Da ist schon eins!« antwortete es vom Fuß der Treppe. »Her da!« rief's oben, »man muß nach ihm schießen, bis ihm der Krattel vergeht!« Er fuhr von seinem Lager auf, ließ das Messer stecken und stürzte nach einem Dachladen, durch den er alsbald verschwand. Ein Geschrei von unten erscholl. »Er hat sich hinuntergestürzt!« schrie der Amtsknecht. Die einen warfen [] sich auf das Messer, um sich desselben zu bemächtigen, die anderen rannten nach dem Dachladen. Der Fischer war der erste, der daselbst ankam und den Kopf hinausstreckte. Er zog ihn aber alsbald zurück und rief: »Nein, er schiebt sich das Dach hinauf und hat mich mit einem Ziegel auf den Kopf schlagen wollen.« »Das Dach aufgehoben!« schrien einige und machten Anstalt, am Sparrenwerk hinaufzuklettern; da flog durch eine Lücke ein Ziegel herein, der zwar keinen traf, aber alle von dem vorgeschlagenem Unternehmen abschreckte. Fluchend und schreiend verließen sie den oberen Boden und gingen auf die Straße hinunter, von wo sie nun sehen konnten, wie des Sonnenwirts Frieder, dem ganzen Flecken zum Schauspiel, auf dem Dachfirst seines väterlichen Hauses ritt. Es war lächerlich und jämmerlich zugleich anzuschauen, obgleich er sich fest wie im Sattel eines Pferdes hielt, seine Verfolger höhnte und heraufzukommen einlud. Der ganze Platz um das Haus war voll Menschen, und aus den anstoßenden Gassen drängten sich immer neue Zuschauer herbei. »Was gibt's? Was gibt's?« riefen die einen; – »'s ist e' Kuh fliegig worden!« – »Nein, e' Stier!« schrien andere. – »Dem Sonnenwirt sitzt ein fremder Vogel aufm Haus!« – »Schießet ihn vom Dache abe!« – »Holet ihn mit der Feuerspritz runter!« – So ging das Geschrei und Gelächter durcheinander. Ein Wagen, der auf; der Straße herausfuhr, mußte haltmachen, weil ihn das Gedränge nicht durchließ. Bei den Pferden stand der alte Fuhrmann und blickte, traurig den [] Kopf schüttelnd, nach dem verwahrlosten Jüngling hinauf, den er hatte retten wollen. In seinen gefurchten Zügen malte sich eine trübselige Befriedigung; er nickte ein paarmal und sagte vor sich hin: »Hab auch wieder einmal eine richtige Vorahnung gehabt.«
Der Sonnenwirt, der sich halbtot schämte, hatte sich mit dem verwundeten Knechte zu seinem Schwiegersohne, dem Chirurgen, zurückgezogen und schickte diesen, ob er dem schmählichen Auftritte nicht auf irgendeine Weise ein Ende machen könne. Der Chirurg, nachdem er die Wunde des Knechts untersucht und verbunden, drängte sich durch die Menge, wurde von dem Amtmann, der ratlos, was er befehlen sollte, in der Haustür der Sonne stand, herbeigewinkt und mit einem heimlichen Auftrage versehen, drängte sich wieder in die Straße durch und gab Zeichen nach dem Dache, um die Aufmerksamkeit seines jungen Schwagers auf sich zu ziehen. Friedrich, der ihn mit seinen Falkenaugen schon längst bemerkt und angerufen hatte, ohne in dem Tumult vernommen zu werden, schrie mit einer Stimme, die alle übertönte: »Still da drunten!« Ein zorniges Gelächter der Menge antwortete ihm. Der Chirurg aber bat und beschwor die Umstehenden so lange, bis wenigstens in der Nähe der Lärm sich etwas legte und eine notdürftige Stille entstand. »Herr Schwager!« rief jetzt Friedrich herab, »was macht der Peter?«
»Er ist den Umständen nach ganz wohl!« antwortete der Chirurg durch die vorgehaltenen Hände, mit[] welchen er das etwas schwache Erzeugnis seiner Lunge zu verstärken suchte. »Die Wunde ist gar nicht gefährlich!«
»Gott sei Lob und Dank!« rief Friedrich und schlug die Hände erfreut zusammen.
»Gib doch acht! Sei nicht so frech!« schrien einige von denen, die ihm wohl wollten.
»Das hat kein Not!« antwortete er und drehte sich wie der Blitz herum, so daß er, die Knie schnell wieder an das Dach anstemmend, nach der entgegengesetzten Seite gerichtet saß. Das tolldreiste Kunststück, das er in der Freude seines Herzens machte, rief bei der Menge einen Schrei des Entsetzens hervor, welchem ein schallendes Gelächter folgte. »Grad wie ein Aff auf einem Kamel!« schrien sie.
»Schwager, geh Er herunter!« rief der Chirurg.
»Wenn mir der Herr Schwager sicheres Geleit verspricht!« antwortete Friedrich, »sonst tut sich's ganz wohl da oben!«
»Ich gebe Ihm mein Ehrenwort, daß Ihm nichts zuleid geschieht!« rief der Chirurg hinauf.
»Sein Ehrenwort?«
»Mein Ehrenwort!«
Er verließ seinen luftigen Sitz mit einem leichten Ruck, der unten von einem Schrei des Schreckens und zugleich der Bewunderung begleitet wurde. »Der sitzt vom Dachgrat ab wie ein Reiter von seinem Gaul!« schrie die Menge. Im nächsten Augenblick hatten sie Ursache, ihn mit einer Katze zu vergleichen, so leicht sah man den behenden Burschen auf Händen und Füßen am Dach herabrutschen, [] bis er den Laden wieder erreicht hatte, durch welchen er im Nu verschwand, noch einmal mit einem Fuße hinauszappelnd, gleichsam zu Ehren des versammelten Publikums, das hierüber in ein wieherndes Gelächter ausbrach.
Nach wenigen Sekunden verriet eine Bewegung der in und vor der Haustüre stehenden Leute, daß in dem verlassenen Hause sich etwas Lebendiges regte und die Treppe herunterkam. Der Amtmann flüchtete sich in den dichtesten Schwärm heraus. »Der Bursche hat heut vormittag schon gezeigt, was er für ein gefährlicher Kerl sein kann!« sagte er und versammelte alsbald eine Schar handfester Männer um sich, worunter der obere Müller nicht fehlte, der durch das Geschrei, daß des Sonnenwirts Frieder seinen Knecht gestochen habe, herbeigezogen worden war. Jetzt erschien der Held des Tages, von niemand um seinen Lorbeer beneidet, in der Haustüre. Ruhig, als ob er nicht begreifen könne, warum die Leute so zusammengelaufen, kam er heraus und suchte mit den Augen seinen Schwager, auf den er sodann zuging. Man ließ ihn vorbei. »Da bin ich«, sagte er zu dem Chirurgen, »ein Mann, ein Wort.« – »Ich halte, was ich versprochen habe«, entgegnete der Chirurg mit schlauem Lächeln. – »Du bist kein Mann, du bist ein Bub!« schrie ihn der dabeistehende Richter an, »dir braucht man nicht Wort zu halten!« – »Greift ihn!« befahl der Amtmann, und ehe der zuversichtliche Bursche sich's versah, befand er sich unter der Gewalt von mehr als zehn Fäusten. Er wehrte sich wie ein Eber, schimpfte,[] tobte, schlug um sich, aber zuletzt erlag er der Übermacht und wurde zu Boden geschlagen. In diesem Kampfe, der lange dauerte und an welchem seine Widersacher sich wetteifernd beteiligten, erhielt er jeden bösen Gruß, den er in Worten oder Werken unter seinen Mitbürgern ausgeteilt hatte, mit Wucherzinsen heimbezahlt. Zuletzt banden sie ihn mit Stricken, so daß er ganz zusammengerollt am Boden lag und ihnen zu den vielen Tierbildern, die sie heute schon an ihm erschöpft hatten, auch noch die Vergleichung mit dem verachteten Igel auf die Zunge legte. – »Etwas hat ihm gehört«, sagte der gleichfalls anwesende Heiligenpfleger, der sich als Zahlmeister auf volle Summen verstand, »jetzt wär's aber genug.« – »Kuh! Narr! Jetzt geht's erst recht an«, erwiderte der Richter lachend seinem Kollegen, den er, im Range etwas höher stehend, dieser vertraulichen Anrede würdigte. – »Fort mit ihm aufs Rathaus!« rief der Amtmann. – Der Gebundene wurde aufgehoben und fortgetragen. Ein Teil der Menge folgte. Andere blieben zurück und redeten noch lange miteinander über die Begebenheit, welche die alltägliche Ruhe des Fleckens völlig unterbrochen hatte.
»Das ist aber ein Mensch, Kreuzwirt!« sagte eine der auswärtigen Frauen von der Brautgesellschaft, die sich jetzt dem Schauplatze näher wagte, zu einem dort stehenden leibarmen Manne mit kleiner spitzer Nase, den wir aus der Unterredung der beiden Müller bei ihrem Friedenstrunke als den geschlagenen Ursächer von Friedrichs zweiter Zuchthausstrafe [] kennen. »Das ist ein Mensch, sag ich! Hat der seinem Vater eine Predigt gehalten und hat ihm die Bibel ausgelegt, wie wenn er der Pfarrer wärl Es ist mir ganz kalt aufgangen, und ich hab mich ganz drüber vernommen. Und kaum ist die Predigt ausgewesen, so hat man gesehen, wer ihn regiert: der Teufel, der Mörder von Anbeginn!«
»Ja, ja, Adlerwirtin«, antwortete der Angeredete mit näselnder Stimme, »das hat man damals auch gesehen, wie er mich auf seines Vaters Anstiften, recht wie ein Erzspitzbub und Mörder, auf dem freien Feld ohne eine einzige Ursach angefallen hat und so behandelt, daß ich außerstand bin, lebenslang einen Batzen zu verdienen, ohne meine tägliche viele Schmerzen, wodurch ich und mein Weib und Kind in die äußerste Armut versetzt und samtlich verderbt worden sind.«
»Nu, nu, Kreuzwirt«, sagte die Adlerwirtin aus der Nachbarschaft, »so gar arg ist's doch grad nicht, wenn man die Leut hört. Weiß wohl, die Zeiten sind hart; man kann sich auch ein bißle verspekulieren, wenn man den Nagel gar zu b'häb auf den Kopf treffen will. Und mit der Bresthaftigkeit ist's auch nicht so schlimm: Ihr seid von jeher ein dünns Pappelbäumle gewesen, und 's kann ja auch nicht jeder ein Eichenbaum sein.«
»Ja, aber mein Arm!« klagte der Kreuzwirt. »Der Mordbub hat mir ihn halb auseinandergeschlagen. Da sehet selber, Adlerwirtin, wie er mir geschweint (geschwunden) ist.«
Die Frau streifte ihm ohne Umstände den schlotternden [] Rockärmel auf und besah sich den Arm mit prüfendem Blicke. »Das ist nicht die Schweine«, sagte sie, »seid nur ganz ruhig, das hat nicht viel zu bedeuten. Der Arm ist eben ein wenig dürrer als der ander. Das kommt oft vor, auch ohne Schlag. Waschet ihn fleißig mit ein wenig Wein oder auch mit Kirschengeist, daß er wieder zu Kräften kommt. Hundsschmalz drauf gebunden soll auch gut sein; ich hab's aber nie probiert.«
»Ihr seid ja ein ganzer Doktor«, sagte der Kreuzwirt. »Ja, ja«, lenkte er wieder in das vorige Gespräch ein, »der Sonnenwirt hat heut ein' sauren Tag erlebt. Dem sitzt gewiß kein Storch mehr aufs Dach. Aber die Zuchtrut ist ihm gesund, er soll nur fein demütiger werden, er hat's nötig. Das ist mir ein Christentum, wenn man durch eigennützige Konzession im Metzgerhandwerk seinen Mitmenschen das Brot vom Maul wegnimmt, durch Geld und Arglist mehr Freiheit im Handwerk an sich reißt als ein anderer ehrlicher Meister. Nun zeigt sich's, was das fruchtet. Der Gewinner, sagt das Sprichwort, muß einen Vertuner haben. Das Auge Gottes siehet alles, höret alles, straft alles zu seiner Zeit. Das Wort des großen Gottes geschähe zu dem Propheten Eli: ›Darum, daß du nicht sauer gesehen hast zu dieser deiner Kinder Bosheit, so soll die Missetat an dem Hause Eli nicht versöhnet werden, weder mit Speisopfer noch Rauchopfer ewiglich, im ersten Buch Samuelis, im dritten.‹ An den Früchten erkennet man den Baum. Kann man auch Trauben lesen von den Dornen, oder Feigen von den Disteln?[] Jetzt hat er's und muß zusehen, wie der Sohn seines Vaters ruhmwürdiges Wirtshaus blamiert. Ist's nicht so, Adlerwirtin?«
»'s ist eben e' Welt«, antwortete diese, welche sich nicht näher in kitzliche Erörterungen einlassen wollte. »Jetzt kann ich mich aber nicht länger aufhalten, denn es will Abend werden, heißt's im Evangelium, und der Tag hat sich geneigt. Meine Leut werden ungeduldig, sie wollen fort. Ja, ja, ich komm ja!« winkte sie gegen ein Häuflein der Umstehenden hin, worunter sich die Ihrigen befanden. »B'hüt Gott, Kreuzwirt, Ihr wisset ja, der Mensch will eben heim.«
Unterdessen hatte man den gefangenen Wildling in das Rathaus geschleppt, wo man ihn gebunden, wie er war, in ein Gelaß warf und liegen ließ. »Der Bursche scheint mir ziemlich betrunken zu sein«, sagte der Amtmann, »er mag seinen Rausch ausschlafen, dann will ich ihn morgen vormittag verhören. Der Herr Pfarrer wird nichts dagegen haben, wenn man einmal am Sonntag Justiz ausübt und ein nötiges Exempel statuiert. Nun wollen wir aber gleich heute noch mit dem Allernötigsten beginnen.« – Er ließ zwei Urkundspersonen rufen und begann sofort eifrig zu amten; denn wie der Staat im Fürsten, so war in ihm die Gemeinde aufgegangen, ja noch weit mehr. Gleichwie ein absterbender alter Baum, dessen Stamm nach unten schon mürbe und hohl geworden ist, doch in manchem Frühling durch seinen grünen Wipfel zeigt, daß die Wurzel noch frischen Saft nach der Krone zu treiben [] vermag, so war von der alten württembergischen, aus schwäbisch-deutschem Recht erwachsenen Verfassung an der Spitze des Staatslebens ein Rest zurückgeblieben, der, neben argem Scheinholz zwar, noch lebendige Bestandteile enthielt und dem giftigen Pfropfreise der fürstlichen Alleinherrschaft empfindliche Hindernisse zu bereiten wußte, während das Gemeindeleben beinahe völlig vom Wurm zerfressen und ertötet war. Die Gemeindebehörde, bestehend in Gericht und Rat, den morschen Überresten des altdeutschen Gleichgewichts von Gewalt und Beschränkung, war, in den größeren Ortschaften wenigstens, unter das Regiment eines fürstlichen Beamten gestellt; sie hatte zwar nicht ganz nichts, aber doch herzlich wenig zu sagen und war von der Wurzel des Gemeindelebens losgerissen, denn sie pflanzte sich, wie der dem Fürsten zur Aufsicht beigegebene ständische Ausschuß – aber nicht so wie dieser von dem noch nicht ganz zugefallenen öffentlichen Auge überwacht – auf dem verrotteten Wege der Selbstergänzung fort, welche noch obendrein in den meisten Fällen ungescheut von dem Beamten selbst in die Hand genommen wurde. Von diesem also, der die fürstliche Herrschaft bei der Gemeinde und die Gemeinde bei der Herrschaft zu vertreten hatte, hing es beinahe ausschließlich ab, welche der beiden Vertretungen, die nur eine gesunde Zeit im Gleichgewichte halten konnte, er bei sich überwiegen lassen wollte. Die eine versprach ihm von einem Volke, dem sein eigenes Rechtsleben fremd geworden war, beinahe mehr Verwirrung als Dank: die [] andere trug ihm von einem Hofe, der seinen Dienern unbedingt befahl und bald so weit kommen sollte, daß er sich ihre Stellen abkaufen ließ, ja sogar Gemeindedienste, über die er gar nicht verfügen durfte, bis auf den niedrigsten herunter um Geld vergab – lockenden Lohn oder wenigstens Ruhe vor Verfolgung ein. Wenn es in solcher Zeit doch immer noch einzelne Beamte gab, die ihre schwere Doppelstellung gegen oben zu kehren und dem ständischen Widerstände wider die fürstliche Willkür Nachdruck zu geben vermochten, so mußte dies dem Lande, dessen Geschichte ihre Namen zum Teil aufgezeichnet hat, ein tröstliches Zeichen sein, daß die alte gute Wurzel noch nicht völlig erstorben sei und in besseren Tagen den kranken Baum vielleicht wieder zu erneuern vermögen werde. Für einen wilden Schößling aber findet sich in einem selbst faulen Gemeindeleben nicht immer so leicht ein Gärtner, der ihn durch Strenge und Milde zugleich in ein gesundes Reis zu verwandeln versteht. Statt die wilden Triebe, die sie mit schlimmen Tiernamen brandmarken, einzudämmen und die Kraft, die sie mit dem Bilde des Löwen bezeichnen, für das kleinere oder größere Gemeinwesen brauchbar zu machen, eilen sie, weil jeder mit sich selbst genug zu tun hat, ihn als einen schädlichen Knorren auszureißen und ins Feuer zu werfen. So war es, und so oder ähnlich wird es immer sein, wo – nicht ohne Schuld der Glieder, doch mehr noch durch die zum Tode oder zu einer reicheren Zukunft führende Entwickelungskrankheit – in dem Baume selbst die [] schaffende und heilende Lebenskraft für eine Zeit verkümmert ist.
Die nämlichen, die in ihrem Feuereifer für das Gesetz ihren verhaßten Gegner geschlagen, niedergeworfen und gebunden hatten, drängten sich jetzt bereitwillig in das Verhör, um anzugeben, was sie Böses von ihm zu sagen wußten oder was ihnen an ihm zuwider war. Jedes ungeschickte Wort, das er im Zorne ausgestoßen, wurde zum Ankläger gegen ihn, und die gefährliche Gesinnung, die in diesen unbedachten Worten zu liegen schien, erhielt ihre ergänzende Bestätigung durch die Gewalttat, welcher er sich heute schuldig gemacht hatte. Der gestochene Knecht, obgleich seine Wunde sich als unbedeutend erwies, schnaubte unversöhnliche Rache und war über die Absicht, die er der Tat unterlegte, noch weit mehr aufgebracht als über diese selbst. Schon auf der Straße hatte sein Geschrei zu vernehmen gegeben, daß gegen den Gefangenen noch eine weitere Untat vorliege, und auf Befragen des Amtmanns erzählte er nun, die eigenen Eltern desselben haben ihn mehr oder weniger unverblümt eines Diebstahls bezichtigt. Hierauf verhörte der Amtmann den Sonnenwirt. Dieser entschuldigte sich, daß er die Tatsache teils um der Schande seines Hauses willen, teils wegen der Geringfügigkeit des Betrages habe vertuschen wollen, gab aber, durch das heutige Betragen seines Sohnes und durch das Zureden seiner Frau vollends aufgestachelt, zu verstehen, daß nach den neueren Aussagen des Knechtes der Diebstahl wohl beträchtlicher gewesen sein möge. Der Amtmann [] ließ sogleich den Knecht aus der ›Sonne‹ rufen, welcher, dem Strome des allgemeinen Unwillens folgend, angab, der Besuch auf dem Kornspeicher sei in jener Nacht mehrmals wiederholt worden und ein größerer Abmangel zu verspüren, sodann auch noch, nach der Aufführung des Angeklagten überhaupt gefragt, zur Vermehrung seiner Schuldhaftigkeit erzählte, er sei einmal in die Worte ausgebrochen, wenn man ihm kein Geld gebe, so wolle er solches nehmen und seine Stiefmutter während der Kirche an das Ofengeräms hinhenken. Auf diese Anzeige schickte der Amtmann Gerichtsmitglieder ab, um in der Sonne und zugleich bei dem Hirschbauer Haussuchung zu halten. Friedrichs Vormund, der die erstere vorzunehmen hatte, kam bald wieder; er brachte ein Brieflein und ein bemaltes Blatt, von der Art der Heiligenbilder, ein mit einem Schwert durchstochenes Herz darstellend. »Außer dem Helgle«, sagte er, »ist nichts aufzutreiben gewesen, was eine Auskunft gab, als vielleicht der Brief da. Dem Inhalt nach ist er von einem Weibsbild, schätz wohl, von der Jungfer Ohnekranz. Ist mir eine neue Mode, daß ein Mädle einem Mannskerl etwas Schriftlich's schreibt; das tut auch kein recht's Mensch; aber die Welt wird alle Tag ärger und die Jugend immer verdorbener.« – Nun kam auch der »Augenschein« vom Hirschbauer zurück, in dessen Hause man jedoch gar nichts gefunden hatte als Not und Jammer ohne Ende. Der Lärm des öffentlichen Schauspiels mochte den flinken Jerg beizeiten auf etwaige Gefahren aufmerksam gemacht haben. »Das ist ein [] Heulen und Schreien, daß einem Hören und Sehen vergeht!« sagte der Heiligenpfleger, der zu dieser Verrichtung beordert worden war, »wenn so ein leichtfertiger Bub nur auch bedenken tät, was er für Unglück stiften kann, so ging er vielleicht vorher in sich und auf bessere Weg. Da ist ein Büschel Brief von ihm, die Alt hat's gleich rausgeben; die Jung liegt aufm Bett und ist ganz weg; und der Vater wird's auch nimmer lang treiben.«
Der Amtmann nahm die Briefe und legte sie zu den Akten, um hiermit sein heutiges Tagwerk zu beendigen, welches mit einem Verhör der Sonnenwirtin schloß oder vielmehr zu einer vertraulichen Unterredung mit derselben in Gegenwart der Amtmännin überging. Die Sonnenwirtin hatte es jetzt ganz in der Hand, die Wetterwolke, die ihr Stiefsohn über sein Haupt heraufbeschworen, in der gewünschten Richtung zu entladen, und sie benutzte die Gelegenheit so eifrig, daß sie darauf bestehen wollte, auch gewisse verfängliche Reden, die ihr Sohn gegen den jungen Herzog geführt haben sollte, ins Protokoll zu bringen.
Hier machte jedoch der Amtmann ein sehr ernsthaftes Gesicht. »Na, na, Frau Sonnenwirtin«, sagte er, »man muß doch nicht ganz alle Bonhommie hinter sich werfen. Zum cumulus brauchen wir das nicht, es ist cumulus genug da, ein Berg, an dem er mindestens ein paar Jahre abzutragen haben wird. Die Sache hat aber noch eine andere Seite. Wenn ich in meinem Bericht an die Herrschaft, denn vom Oberamt geht er nach Stuttgart ab, dieses delikate [] Sujet berühre und wenn der Herr selbst etwas davon erfährt, so macht er sich Gedanken. Bei einem jungen Menschen gilt der Grundsatz: leben und leben lassen! Wenn daher ein junger Mensch auf anzügliche Weise moralisiert, so sagt man sich gleich: das hat er nicht aus sich, das hat er von andern aufgegabelt. Da entsteht nun die Frage: woher hat er's? von Vater oder Mutter? oder sollte gar der Amtmann oder der Pfarrer, ich will nicht sagen in eigener Person, unvorsichtige oder mißverständliche Ausdrücke gebraucht, aber vielleicht bei den Untergebenen gewissem, einfältigem Geschwätz nachgesehen haben? Wenn man sich aber einmal Gedanken macht, so kommt man an allem Möglichen und Unmöglichen herum, und da kann niemand wissen, was zuletzt noch für Kalamitäten daraus entstehen mögen. Wollen's steckenlassen, Frau Sonnenwirtin, wollen's steckenlassen. Beruht!«
»Und da wir just unter uns Pfarrerstöchtern sind, wie man zu sagen pflegt«, setzte die Amtmännin hinzu, »so will ich erst noch den Herzog in Schutz nehmen. Wenn eine Frau meint, sie habe sich über ihren Mann zu beklagen, so fragt sich's oft, ob nicht sie den ersten Anlaß gegeben hat. Die Hoffart, sagt das Sprichwort, muß etwas leiden. Man mag von ihm sagen, was man will, er hat etwas, das ihn von vielen anderen großen Herren unterscheidet: er neigt sich zur Landesart, hat etwas Populäres in seinen Manieren und schämt sich nicht, mit dem Untertan auf einer espèce von gleichem Fuß zu stehen. Gerade das geht aber ihr völlig ab, sie hält [] es für gemein und wird sich nie dareinfinden. Da ist's nun kein Wunder: wenn sich die Köpfe nicht ineinander fügen, so bleibt auch zwischen den Herzen eine Kluft. Dann hat sie an ihrem Bayreuther Hof sich an den hohen Ton, den feinen Gout, an Oper und Ballett gewöhnt, und er hat, ihrem Geschmack zulieb, Hofdamen, Sänger und Sängerinnen aus Italien, Tänzer und Tänzerinnen aus Paris, alles hat er ihr angeschafft. Nun haben wir die Bescherung. Die Damen und Demoisellen sind hübsch, sie ist vornehm, er leutselig und nicht von Stein – da hat man leicht prophezeien können, wie es kommen wird.«
»Jetzt seh ich erst«, sagte die Sonnenwirtin listig lächelnd, »welch ein groß Zutrauen die Frau Amtmännin zu ihrem Herrn haben muß, denn die Kathrine wär doch kein ganz übler Bissen.«
Die Amtmännin lachte aus vollem Halse. »Ich bin nicht eifersüchtig«, rief sie. »Mein Mann ist ein großer Jäger vor dem Herrn, ein Nimrod, der hat ein Herz von Marmor und geht lieber auf was Wildes als auf was Zahmes aus.«
Dem Amtmann kam die Wendung des Gespräches gleichfalls höchst spaßhaft vor, und unter lautem Gelächter wurde die Sonnenwirtin entlassen.
Am Sonntagmorgen berief der Amtmann, innerlich vergnügt über diese gute Gelegenheit, die Predigt seines geistlichen Mitbeamten zu schwänzen, seine beiden Skabinen oder Gerichtsbeisitzer, welche als amtliche Zeugen bei dem Untersuchungsverfahren, das sie bewachen sollten, aber häufiger beschliefen, den faulsten Überrest der alten Volksgerichtsbarkeit [] bildeten. Er befahl dem Schützen, den er als Diener der Gemeindebehörde benutzte, den Gefangenen vorzuführen. Der Schütz fand denselben auf einer Bank ruhig schlafend und mußte ihn mit einigen Stößen wecken. – »Er hat, scheint's, alles vergessen, was gestern vorkommen ist«, brummte er ihn an. – »Nein«, sagte Friedrich, die Augen ausreibend, »es fällt mir alles wieder ein, auch daß Ihr mich losgebunden habt und ich Euch mein Wort gegeben hab, über Nacht nicht durchzugehen.« – »Sein Wort hat Er gehalten, das muß ich Ihm lassen«, versetzte der Schütz, »jetzt muß ich Ihn aber wieder handfest machen, damit's der Herr nicht merkt, daß Er über Nacht frei gewesen ist, sonst bin ich um den Dienst.« – Friedrich streckte gutwillig die Hände hin, und der Schütz legte ihm Fesseln an, worauf er ihn nach dem Amtszimmer führte.
»Er ist von dar ganzen Burgerschaft wie auch von Seiner eigenen Familie wegen gemeingefährlicher Aufführung, dann auch wegen mörderischen Attentats gegen einen Seiner Nebenmenschen und wegen Diebstahls an Seinem leiblichen Vater angeklagt und hat sich allhier zu verantworten«, begann der Amtmann, nachdem er den Eingang des Protokolls geschrieben hatte.
Friedrich blickte auf seine Ketten und schwieg.
Der Amtmann, der ihn eine Weile aufmerksam betrachtet hatte, hielt ihm in Kürze die Hauptpunkte der Anklage vor und fragte: »Was hat Er hierauf zu erwidern?«
[] Der Gefangene verharrte in seinem störrischen Schweigen.
»Muß ich Ihn durch Prügel zum Geständnis bringen?« fuhr der Amtmann auf.
Ein Zucken lief über den Körper des Gefangenen, so daß seine Kette klirrte, aber er tat den Mund nicht auf.
»Dich sollt man im Mörser zerstoßen!« rief Friedrichs unvermeidlicher Vormund, der neben einem kleinen Spezereigeschäft allerlei mehr oder minder einträgliche Ämtchen bei der Gemeinde und darunter auch das eines Gerichtsbeisitzers versah.
Friedrich blickte ihn verächtlich an.
»Laß Er mich nur machen«, sagte der Amtmann verweisend zu der eifrigen Urkundsperson. Dann hielt er eine eindringliche Rede an den Gefangenen. Er fragte ihn, wie er es vor seinem Vater, vor seiner Mutter, die sich im Grab umkehren müsse, vor seiner ehrbaren Verwandtschaft, ja vor ihm selbst, dem Nachfolger seines Paten, verantworten könne, so viel Unruhe über die Gemeinde zu bringen und noch obendrein dem Gerichte durch seine Halsstarrigkeit zu schaffen zu machen. »Und was soll ich Seiner hochfürstlichen Durchlaucht antworten«, fuhr er fort, »wenn Hochselbige sich herabläßt, sich nach dem jungen Menschen zu erkundigen, der vor den höchsten Augen eine unleugbare Bravour bewiesen hat? Wenn die Antwort lautet, er habe Verbrechen auf Verbrechen gehäuft, endlich sogar seinem Richter die schuldige Ehrerbietung verweigert und durch bösartigen Trotz sich selbst noch tiefer in Schaden [] gestürzt, muß dann nicht der Herr, der sonsten das Verdienst zu belohnen geneigt ist, sich beeilen, einen solchen Namen wieder aus dem fürstlichen Gedächtnis auszulöschen?«
»Ich hab kein' Lohn begehrt«, erwiderte der Gefangene trotzig. Es waren die ersten Worte, die er sprach.
»Nun, so vergrößere Er wenigstens Seine Strafe nicht«, sagte der Amtmann, der das Eis gebrochen sah und rasch auf der gewonnenen Bahn fortfuhr. »Er hat es in der Hand, vielleicht schwerere Bezichte von sich abzuwälzen. Mir geschieht es sauer genug, ein hiesiges Burgerskind criminaliter prozessieren zu müssen. Aber so viel wird Er selbst einsehen: wenn die ganze Burgerschaft klagt, so kann ich doch die Sache nicht vor Ohren gehen lassen.«
Friedrich lächelte bitter. »Es mögen wohl viele hier sein«, sagte er, »die mich gern am Galgen sehen möchten, aber alle nicht. Wenn's aber doch mit mir aus soll sein, und ich soll kein ehrlicher Mann werden können – vor dem Flecken draußen steht ja das Hochgericht, also machen Sie vorwärts, Herr Amtmann! Je kürzer der Prozeß, desto besser für mich.«
Der Amtmann lachte. »So kurzen Prozeß kann ich nicht machen«, sagte er. »Stock und Galgen haben wir wohl noch, aber der Stab ist etwas abgekürzt. Der Oberstab ist in Göppingen, wo Er Sein Urteil empfangen wird. Deshalb will ich Ihn in Güte darauf hingewiesen haben, daß Er sich nicht das Protokoll durch weitere Hartnäckigkeit selbst verdirbt. [] Denn das Sprichwort sagt bekanntlich: wie man berichtet, so richtet man. Übrigens seh ich nicht ein, wie Er behaupten kann, man wolle Ihn nicht ehrlich werden lassen. Wer verwehrt Ihm denn das? Im Gegenteil, es handelt sich ja darum, Ihn auf den rechten Weg zurückzubringen.«
»Ich hab meinem Schatz versprochen, daß ich sie und ihr Kind zu Ehren bringen will«, murrte Friedrich mit einigem Unmut, daß er nicht verstanden worden war. »Solang ich mein Wort nicht halt, bin ich auch kein ehrlicher Mann, und man leid't's ja nicht, daß ich's halten soll.«
»Ja so, das ist's«, versetzte der Amtmann. »Das scheint die Ursache gewesen zu sein, nicht wahr, daß Er die verschiedenen Redensarten ausgestoßen hat, die ich Ihm jetzt vorhalten muß?«
Mit dem befriedigenden Bewußtsein, durch seine Bonhommie dem trotzigen Delinquenten das Band der Zunge gelöst zu haben, zählte ihm der Amtmann die Sünden dieser Zunge auf, welche seine Ankläger zu Protokoll gegeben hatten. Friedrich gab einige als möglich, andere als wirklich zu, wieder andere zog er in Abrede. »Das sind mir Klagen!« sagte er. »Dergleichen Redensarten kann man von jedem Kind in Ebersbach hören. Aber man sollt meinen, der ganz Flecken red französisch, und ich allein schwätz deutsch.«
Der Amtmann protokollierte, während seine Beisitzer gähnten und der Gefangene gelangweilt das Bild der Justitia betrachtete. Nachdem der Amtmann kunstgerecht das Gebäude der Aussagen zusammen getragen [] hatte, aus welchen die Bosheit der Gesinnung hervorleuchtete, nahm er eine neue Prise und ging sodann zu dem Messerstich über, in welchem der tätliche Ausbruch dieser Gesinnung erblickt werden konnte.
»Es tut mir leid«, sagte Friedrich, »daß der Peter so verbost auf mich ist. Ich hab ihn um Verzeihung gebeten, wiewohl vergeblich, und würd's gern noch einmal tun, wenn ein guts Wort eine gute Statt bei ihm fänd. Ich seh wohl ein, daß es nicht recht gewesen ist, aber ich hab's, weiß Gott, nicht so bös gemeint, ich hab's eben in der Hitz aus Unvorsichtigkeit und Übereilung getan, und wie ich gehört hab, daß ihm's nichts geschadt hat, so ist mir's gewesen, als wär ich aus Ketten und Banden erlöst. Er sollt aber jetzt auch keinen solchen Kessel überhängen. Was! das bißle Aderlaß ist ihm gesund gewesen, er ist ja ein Kerl wie ein Ochs.«
»Nun ja, Er darf freilich Gott danken, daß die Sache so gut abgelaufen ist«, sagte der Amtmann etwas zutraulich, »mit Blutvergießen ist nicht zu spaßen, da geht's gleich um den Kopf. Aber«, fügte er hinzu, »wenn Er in der Rage zugestoßen hat, so hat Er doch nicht so gewiß wissen können, ob der Stoß nicht tiefer oder bis ans Leben gehen werde.«
»Ich bin freilich in der Rage gewesen«, antwortete Friedrich, »aber ich hab ihm doch nicht viel tun können, denn er hat mich ja am Arm gepackt gehabt, und also hab ich eigentlich gar nirgends anders hinstoßen können als nach seinem Arm.«
»Glaubt Er«, forschte der Amtmann, »Er habe das[] so sicher berechnen können? Es ist doch nicht wohl anzunehmen, daß man im Zorn zugleich kalt und besonnen zielt. Man stoßt eben zu, und dann kann der Stoß ebensowohl am Arm vorbei und in den Körper gehen.«
»Ja, gezielt hab ich freilich nicht«, erwiderte Friedrich, »und hab mir auch nicht fürgenommen, wie tief es gehen soll. Ich hab ja schier nicht gewußt, daß ich nur gestochen hab. Wenn ich kein Messer in der Hand gehabt hätt, so hätt ich ihm eben die Faust zu Gemüt geführt.«
»Da hätte Er ja aber auch das Messer vorher weglegen können«, sagte der Amtmann.
»Ja was! wenn man im Zorn ist, so denkt man an nichts und stoßt eben zu. Wenn man je was denkt, so denkt man höchstens im Unsinn: Kerl, hin mußt sein!«
»Hin?« fragte der Amtmann, die Gerichtsbeisitzer anblickend und rasch der neuen Fährte folgend.
»Das ist einem aber nicht Ernst«, verbesserte der Gefangene, dem es nachgerade schien, er sei im Begriffe, zu viel zu sagen. »Man ist nachher heilig froh, wenn's nichts getan hat.«
Der Amtmann protokollierte fleißig drauflos, während dem Gefangenen eine dunkle Ahnung verraten mochte, seine Vorsicht komme zu spät und er habe wohl schon viel zuviel gesagt. Auch reichte seine Vernehmlassung vollkommen hin, um die Anklage wegen eines Attentats zu begründen, bei welchem er eine Tötung, wo nicht beabsichtigt, so doch auch nicht geflissentlich vermieden, jedenfalls aber eine[] mehr oder minder lebensgefährliche Verwundung vorausgesehen habe.
Zufrieden mit dem bisherigen Erfolge der Untersuchung, legte der Amtmann die Feder nieder und nahm das Verhör wieder auf. »Jetzt kommen wir an den Fruchthandel«, sagte er. »Er wird nicht in Abrede zu ziehen gemeint sein, daß es ein etwas einseitiger Handel ist, wenn man Frucht einsackt, ohne Bezahlung dafür zu leisten. Pro primo aber, um die Aussagen unter sich in Einklang zu bringen, muß ich fragen: wieviel ist's denn eigentlich gewesen?«
»Herr Amtmann«, antwortete Friedrich, »ich hab meinem Vater gleich im ersten Augenblick erklärt, daß er durch den Handel um keinen Kreuzer kommen solle, und wenn's jetzt an dem ist, daß er aus meinem Mütterlichen schadlos gehalten werden soll, so will ich kein Körnle verschweigen. Natürlich hab ich's in der Nacht und in der Eil nicht so akkurat abzählen können, auch ist in einem Sack mehr gewesen und im anderen weniger, aber ich tu meinem Vater gewiß nicht unrecht, wenn ich's im ganzen auf ein Scheffel sechs oder sieben schätz, Dinkel und Haber, ungefähr zu gleichen Teilen – ganz genau kann ich das natürlich jetzt nicht mehr sagen.«
»Sechs bis sieben Scheffel Dinkel und Haber«, sagte der Amtmann, den Kopf auf die Hand stützend. »Ja, ja, das müssen wir so praeter propter berechnen. Wo sind die pretia rerum?« fragte er, in den auf dem Tische liegenden Akten kramend. »Ja so, meine Frau wird die Zeitung haben. Herr Senator, [] geh Er geschwind zu meiner Frau hinüber; ich lasse sie auf einen Augenblick um die Wöchentlichen Anzeigen bitten.«
Der Richter ging und brachte das amtliche Landesblatt, auf dessen Rückseite die Frucht-, Wein-, Holz-und Salzpreise verzeichnet waren. Der Amtmann nahm das Folioblatt, legte es vor sich auf den Tisch, stärkte sich zuvor durch eine Prise und suchte dann mit dem Finger im Schrannenzettel. »Da steht's«, sagte er, »Göppinger Schranne, Dinkel drei Gulden dreißig, Haber zwei Gulden dreißig.«
»Ja«, sagte der andere Gerichtsbeisitzer verdrießlich, »seit der Ernt hat der Dinkel um dreißig Kreuzer abgeschlagen, im August hat er noch vier Gulden kost't.«
Der Amtmann rechnete mit dem Bleistift auf einem Stück Sudelpapier. »Vier Scheffel Dinkel«, murmelte er, »tut vierzehn Gulden; drei Scheffel Haber, tut sieben Gulden dreißig, beides nach jetzigem Preis. Zusammen also einundzwanzig Gulden und dreißig Kreuzer. Ist Er mit der Taxation zufrieden?«
»Herr Amtmann«, antwortete Friedrich, »ich hab zu meinem Vater gesagt, wenn der Fruchtpreis bis zur Abrechnung anziehe, so solle das sein Nutzen sein; also sollt's eigentlich mir zugut kommen, wenn der Preis unter der Zeit gefallen ist, weil mein Vater ja doch damals nicht hat verkaufen wollen. Aber ich bin nicht so interessiert. Machen Sie nur das Ungerade voll und rechnen Sie zweiundzwanzig Gulden, daß die Zahl rund ist.«
[] »Ich weiß nicht, was Er will«, sagte der Amtmann. »Ich habe ja nach dem heutigen Preis, also zu Seinen Gunsten gerechnet.«
»Richtig, Herr Amtmann«, erwiderte Friedrich, »aber Sie haben vier Scheffel Dinkel und drei Scheffel Haber angenommen, und es können ebensogut vier Scheffel Haber und drei Scheffel Dinkel gewesen sein, oder auch gradaus halb und halb.«
»Ist mir das eine Strohhalmspalterei!« rief der Amtmann verdrießlich. Die beiden Gerichtsbeisitzer lachten. »Wenn's hoch kommt, so macht's 'n Gulden Unterschied, und 'n halben Gulden will er ja selber dreingeben«, sagte der eine. »Kommst endlich ins Rechnen?« rief Friedrichs Vormund, »'s wär wohl Zeit, daß du dran dächtest; hätt'st aber schon früher anfangen sollen.«
»Damit Er sieht, daß Ihm kein Unrecht geschieht, so will ich's Ihm vorrechnen«, sagte der Amtmann und griff wieder zum Bleistift.
»Ach, mir ist's ja nicht ums Geld!« sagte Friedrich zugleich ärgerlich und beschämt. Ihn hatte bloß das verdrossen, daß man von den möglichen Grundlagen der Berechnung die ungünstigste angenommen hatte. Während der Amtmann noch rechnete, hörte man vor der Türe, die der Schütz aus Neugier ein wenig offen gelassen hatte, einen schweren Tritt, der von wiederholtem Räuspern des Kommenden begleitet war, dann einen Wortwechsel mit dem Schützen, welcher endlich sagte: »Wenn Er mit Gewalt nausgeschmissen sein will, so probier Er Sein Glück.« Darauf klopfte es an der Türe erst leise und demütig, [] dann etwas lauter. Der Amtmann ließ einen grimmigen Blick nach der Türe hinlaufen, rechnete aber stillschweigend fort. Es klopfte wieder. »Daß dich das Wetter!« rief der Amtmann und warf den Bleistift hin, »was ist das für ein unverschämter Lumpenkerl?« Einer der Gerichtsbeisitzer ging auf den Zehen nach der Türe und öffnete. Ein halb städtisch, halb ländlich gekleideter Mann stand davor, der, da er sich auf einmal dem Amtmann gegenüber sah, ein paar tiefe Kratzfüße machte. »Mit Ihrem Wohlnehmen, Herr Amtmann!« wollte er beginnen. Zugleich rief der Gefangene, der sich neugierig umgesehen hatte: »Das ist ja der Vetter aus Hattenhofen! Grüß Gott, Vetter!«
»Still!« gebot der Amtmann. »Hab jetzt keine Zeit!« rief er dem Ankömmling zu. »Sieht Er denn nicht, daß hier etwas Dringendes verhandelt wird? Und wie kann Er sich unterstehen, am Sonntag zu kommen?«
»Exküse, Herr Amtmann«, sagte jener, schon halb auf dem Rückzuge begriffen, »'s ist ja eben wegen der Sach.«
»Halt!« rief der Amtmann. »Herein da! Hat Er etwas wider den Angeklagten vorzubringen?«
»Ach nein, Herr Amtmann, wenn Sie's erlauben«, antwortete der Mann etwas weinerlich, »ich verklag ihn nicht, gewiß nicht, und was er von mir hat, das hat er aus gutem freien Willen, und ich will aber auch hoffen, daß ich wieder zu meinem Sach komm.«
»Also eine Schuldklage!« rief der Amtmann enttäuscht. [] »Dazu ist jetzt keine Zeit, das ist nachher vorzubringen. Fort!«
»Der ist pfiffig!« sagte der Gefangene lachend, »der weiß den Pelz zu waschen, ohne ihn naß zu machen. Ich möcht aber nicht haben, daß er in der Sorg wär, er könnt durch mich um etwas kommen, und weil wir ohnehin just an der Abrechnung von meinem Mütterlichen sind, so ist mir's lieber, wenn das auch gleich dazugeschrieben wird.«
»Ich hab's ihm aus gutem freien Willen gelassen, Herr Amtmann«, wiederholte der Vetter, erfreut über die Willfährigkeit des Gefangenen, indem er sich zugleich, dem Befehl des Beamten gehorchend, aber so langsam, daß er jeden Augenblick zurückgerufen werden konnte, nach der Türe zurückzog.
»Gelassen? aus gutem Willen gelassen?« sagte der Amtmann stutzend. »Was ist denn das?«
Der Mann zuckte die Achseln verlegen lächelnd und blieb an der Türe stehen.
Der Amtmann sah den Gefangenen scharf an. »Ich hab's ihm von meinem Mütterlichen zurück versprochen«, sagte dieser.
»Halt!« rief der Amtmann. »Er bleibt da! Bring Er Seine Sache vor! Ich muß wissen, wie es sich damit verhält.«
»Ich will's selber sagen«, nahm der Gefangene das Wort. »Ich hab ja gleich mit rausrücken wollen, sobald ich meinen Vetter gesehen hab. Also, wie sich's um das Strafgeld für meine Christine gehandelt hat, und der Herr Amtmann hat mir die Höll heiß gemacht und all die Unehr und Schmach fürgestellt, [] die über sie hätt ergehen sollen, da hab ich nicht gewußt, wo hinaus und wo hinein, und weil der Herr Amtmann mit dem Geld sehr pressiert hat, so bin ich noch in der nämlichen Nacht gen Hattenhofen gesprungen und hab bei meinem Vetter da einen Besuch gemacht.«
»Und ist der Vetter bei dem Besuch auch selbst zugegen gewesen?« fragte der Amtmann, immer aufmerksamer werdend, den Vetter von Hattenhofen.
»Neinle, neinle, Herr Amtmann, ich bin nicht dabeigewesen«, antwortete dieser mit seinem verlegenen Lächeln.
»Das ist aber ein Galgenvogel!« schrie der Richter auf. »Also noch so ein Stück! Wenn man dem die Schublad aufmacht, so springen lauter Einbrüch 'raus!«
»Still!« befahl der Amtmann. »Kann Er behaupten, daß Sein Vetter Ihn eingeladen oder aufgenommen habe, und was hat Er bei Nacht in dem fremden Haus getan?«
»Es ist mir kein fremdes Haus gewesen, Herr Amtmann«, sagte der Gefangene, »und wenn mich auch mein Vetter selbigsmal nicht hat einladen können, weil er just zu der Zeit geschlafen hat, so hab ich doch von früher gewußt, daß er sein Haus nicht vor mir verschließt.«
»Ja freile, freile!« sagte der Mann von Hattenhofen eifrig bekräftigend. »Mir ist ja die ›Sonne‹ auch nicht verschlossen, und ein Ehr ist der andern wert.«
»Und was hat Er in dem Haus getan?« wiederholte der Amtmann.
[] »Die Straf für meine Christine geholt, wie ich ja schon von Anfang an hab sagen wollen!« antwortete der Gefangene etwas gereizt.
»Also hat er Ihm Geld genommen?« fragte der Amtmann den Mann vom Lande.
»Beileib net, Herr Amtmann, b'hüt uns Gott!« sagte dieser, »bloß e bissele Zwetschgen und e bissele Trilch und e bissele Garn und e bissele Flachs, und aber über alles das hat er mir eine Quittung geben.«
»Hat Er die Quittung da?«
»Ha freile, Herr Amtmann«, rief der Nichtkläger, dem die Freude, sein Anliegen so geschickt anbringen zu können, aus den Augen blinzelte, und reichte die Quittung mit weit vorgebeugtem Leib und ausgestrecktem Arm dem Amtmann hin.
»Hat Er die Quittung in jener Nacht zurückgelassen?« fragte der Amtmann den Gefangenen.
»Nein, Herr Amtmann, damals hat mir's zu arg pressiert. Ich hab dann gleich den Tag darauf das Sach verhandelt und das Geld meiner Christine gebracht, damit's mit der Straf in Richtigkeit kommen soll. In etlichen Tagen hernach bin ich aber wieder hinaus und bin meinem Vetter abermals ins Haus kommen und hab ihm die Quittung ehrlich und redlich auf den Tisch gelegt, er kann's selber nicht anders sagen. Und wiewohl ich rechtschaffen Hunger gehabt hab, so hab ich doch für mich nichts angerührt.«
»Ja, der Frieder ist recht, das muß man ihm lassen«, sagte der Vetter unter fortwährendem leisen Gelächter der beiden Gerichtsbeisitzer. »Ich wär auch[] zufrieden gewesen mit der Quittung, denn sein Wort ist mir so lieb wie bar Geld, trag ihm auch gar nichts nach, und aber nur, weil ich gestern Nacht gehört hab, daß er in Ungelegenheit kommen sei, so hab ich gemeint, ich müß doch sehen, daß ich wieder zu mei'm Sächle komm, eh jemand anders die Hand drauf deckt.«
Der Amtmann selbst konnte das Lachen kaum verbeißen. »Hat Er denn nach dem ersten Besuch Sein Haus nicht besser verwahrt, daß Ihm der ungeladene Gast noch einmal hat hineinkommen können?« fragte er.
»Freile«, antwortete der Vetter vom Lande. »Aber wo der nein will, da hilft kein Verwahren nichts. Dem ist nichts zu hoch und nichts zu tief, er kommt eben hin.«
»Ein schönes Prädikat«, bemerkte der Amtmann. Darauf fragte er beide, ob sie mit der Quittung und der darin enthaltenen Schätzung der auf so ungewöhnliche Weise entlehnten Gegenstände einverstanden seien. Friedrich erwiderte, er habe mehr angesetzt, als er bei dem Verkaufe, mit dem es geeilt, erlöst habe. Auch der Vetter ließ sich die Preise sehr gerne gefallen und erklärte: »Wenn mir's der Frieder abkauft hätt, ich hätt's ihm grad so geben. Wir sind ja immer ein Kuch und ein Muß gewesen, gelt du, Friederle?«
»Es will mir auch so vorkommen«, sagte der Amtmann mit einer gewissen Strenge. »Er sucht mir da Seinem Konsorten behilflich zu sein und dem Streich den Nimbus eines freiwilligen Anlehens zu geben.[] Weiß Er, daß ich Ihn beim Essen behalten und etwan in puncto stellionatus prozessieren könnte!«
Der Mann von Hattenhofen erschrak ins Herz hinein: er glaubte, seine Sache unübertrefflich gut gemacht zu haben, und sah sich jetzt dennoch in der Gefahr, von einem der vielen Rädchen der Justizmaschine, dem er vielleicht zu nahe gekommen, erfaßt zu werden. Doch nahm er sich zusammen und erwiderte: »Wenn's der Herr Amtmann nicht ungütig nehmen will, mein Herz weiß nichts davon, und ich versteh auch kein Wörtle, warum ich gestraft werden soll.«
»Dafür«, sagte der Amtmann, »daß Er Schleichereien macht und die Leute, ja selbst die Obrigkeit irreführen hilft.«
»Mit Verlaub, Herr Amtmann«, hob der vormundschaftliche Gerichtsbeisitzer an, der einen Stein im Brett zu haben glaubte, während der Beamte ihm vielmehr die Zurücksendung seiner Geldsorten nachtragen mochte. »Wenn man fragen darf, woher hat denn das Ding seinen Namen? Das Wort lautet sogar kurios und kommt einem so oft vor. Ich hab schon etliche mal fragen wollen.«
Der Amtmann wurde etwas rot. »Ich kann's Ihm schwarz auf weiß zeigen, wenn Er zweifelt«, sagte er und ging nach einem Aktenständer, auf welchem mehrere seinen Inzipienten gehörige Bücher aufgestellt waren.
»Ich hab ja kein Zweifel, gewiß nicht!« rief der Gerichtsbeisitzer in wahrer Verzweiflung. »Ich glaub ja alles aufs Wort, wie mir's der Herr Amtmann sagt.«
[] Dieser aber, dem mit solcher Bereitwilligkeit im vorliegenden Falle nicht sehr gedient sein mochte, zog ein Buch heraus und blätterte schnell darin. »Bestie!« fluchte er halblaut, da er das Gewünschte nicht fand, stieß das Buch wieder hinein, riß ein dickeres heraus, schlug es auf, zeigte mit dem Finger auf die Stelle und sagte beruhigt: »Da steht's, da kann Er selber sehen! Stellio, eine Art Eidechse, welches ein sehr listiges und ränkevolles Tier, daher stellionatus, das Verbrechen, wo einer ränkevoll handelt, sonderlich mit Schleichereien in Geldsachen, und das Verbrechen doch keinen Namen hat, daher extra ordinem und secundum arbitrium zu bestrafen ist. Da übrigens Inquisit geständig ist«, wandte er sich an den bange harrenden Vetter, »und da Er mehr eine Art Gerechtmacherei als einen eigentlichen Vorteil bezweckt hat, so will ich nicht den strengsten Maßstab anlegen, sondern die Sache für dieses Mal hingehen lassen! Merk Er sich's aber für die Zukunft, damit Er gewitzigt ist.«
Der Amtmann, dem eine stille Ahnung sagen mochte, daß er mit seiner Gesetzesanwendung denn doch bei den eigentlichen Juristen durchfallen könnte, protokollierte nun ein langes und breites, ließ dann den von Hattenhofen unterschreiben und schickte ihn fort. Da dieser aus Respekt das Türschloß nicht in die Klinke fallen zu lassen wagte, so hörte man, wie er draußen im Weggehen leise vor sich hinpfiff. Denn dies ist die Art des Landbewohners: wenn er zu einer Verhandlung mit Herren oder sonst zu einem wichtigen Handel kommt, so räuspert er sich, [] als ob er einen Stein vom Herzen weghusten müßte, und wenn er fortgeht, so pfeift oder summt er bald mehr, bald minder zufrieden, entweder weil es nach seinem oft sehr schlauen Kopfe gegangen ist oder weil er denkt, es habe doch wenigstens den Kopf nicht gekostet und hätte ja noch schlimmer gehen können, als es gegangen sei.
»Wir kommen nun auf das vorige Chapitre zurück«, begann der Amtmann wieder. »Er ist also geständig, außer dem hier verhandelten, bei Seinem Vater einen Diebstahl, den er auf zweiundzwanzig Gulden anschlägt, begangen zu haben?«
»Herr Amtmann«, sagte der Gefangene, »ich kann mir's nicht gefallen lassen, daß man das einen Diebstahl heißt. Ich bin in meinem Eigenen gewesen und hab ja meinem Vater gleich geofferiert, daß ich's ihm aus meinem Mütterlichen wieder ersetzen will.«
»Davon nachher«, erwiderte der Amtmann. »Wer sind Seine Helfershelfer gewesen, und wo hat Er das Geld hingebracht?«
»Ich hab die Frucht ganz allein auf meines Vaters Bühne geholt, es ist kein Mensch mit mir droben gewesen«, antwortete der Gefangene, den Sinn der Frage durch den Wortlaut seiner Aussage umgehend. »Man hat Verdacht, daß Seine Person und einer ihrer Brüder Ihm dabei behilflich gewesen sein werden«, inquirierte der Amtmann.
Friedrich wiederholte seine Versicherung und erbot sich, einen Eid zu schwören, daß keines von den beiden auf seines Vaters Speicher gekommen sei. [] Der Amtmann belehrte ihn, daß ein Angeklagter nicht zum Eide zugelassen werden könne, und hielt ihm dann jenen bei dem Müller begangenen Bienendiebstahl vor, dessen sich der eine seiner angeblichen Schwäger mehr als verdächtig gemacht habe; es sei beinahe so gut wie erwiesen, daß er selbst bei jenem Vergehen mit im Komplott gewesen sei, und man müsse jenen mit allzu großer Nachsicht beiseite gesetzten Fall jetzt hervorziehen, weil er auch auf den neueren Vorgang ein Licht zu werfen scheine. Friedrich war nicht wenig froh, den Verdacht von seinem Lieblingsschwager auf dessen für ihn wie für die Familie unbedeutenderen Bruder abgelenkt zu sehen, beteuerte jedoch, er habe demselben an dem Abend, an welchem er den Diebstahl begangen zu haben beschuldigt sei, unwissentlich und zufällig auf der Brücke gepfiffen und sich lediglich hierdurch verdächtig gemacht. Der Amtmann setzte ihm scharf mit Kreuz- und Querfragen zu, brachte aber nichts aus ihm heraus, was einen Anhalt zum Einschreiten gegen seinen Mitbeschuldigten darbieten konnte. Ebensowenig war ihm über das aus der Frucht erlöste Geld ein Geständnis abzupressen. Da er weder den dritten Genossen verraten, noch sich einer Hilfe, die seinem Mädchen in der Not zustatten kommen konnte, entschlagen wollte, so blieb er beharrlich dabei, er habe das Geld vollständig ausgegeben und sein Vater solle es eben an seinem eigenen Vermögen abziehen.
»Wie hat Er das Geld verwendet?« fragte der Amtmann, immer schärfer in ihn dringend.
[] »Ich hab's vertan«, antwortete er, um der Untersuchung jeden Weg abzuschneiden.
»Wie hat Er's vertan?« rief der Amtmann wild.
»Versoffen!« antwortete er trotzig.
»Du Hallunk!« schrie sein Vormund, während der Amtmann erschöpft in den Sessel zurücksank. Nachdem dieser etwas Atem geschöpft, richtete er sich wieder auf und sagte gleichmütig: »Ich muß und will annehmen, daß Er die Wahrheit sagt; in diesem Fall kommt eben zu Seinen anderen Reaten auch noch der Punkt des asotischen Lebenswandels hinzu. Ich hab's Ihm ja erklärt, daß es ganz bei Ihm stehe, wie Sein Protokoll ausfallen werde.«
Der Amtmann war im ganzen nicht unzufrieden mit dem Ergebnis der Untersuchung, das ihm ziemlich ausgiebig erschien. Er hielt dem Gefangenen seine Hauptvergehen vor und ging schließlich in den Ton der Rüge und Ermahnung über. »Hat Er denn ganz vergessen«, rief er, »was ich Ihm damals so eindringlich gesagt habe, als Er das erstemal auf seinen bösen Wegen betreten wurde, und was ich Ihm dann wieder gepredigt habe, als Er von Seiner ersten Strafe zurückkam?«
»Nein, Herr Amtmann, ich weiß es noch«, antwortete der Gefangene, »Sie haben gesagt, das Zuchthaus sei eine Schule des Lasters, und ich solle mich wohl in Obacht nehmen, daß ich nicht wieder hineinkomme.«
»Und was hat Er von sich selbst denken müssen, daß Er doch wieder hineingekommen ist, und was muß Er heute von sich denken, daß Er abermals, [] und zwar tertia vice bei solcher Jugend, reif dafür geworden ist?«
»Ich hab gedacht und denk, für einen jungen Menschen, an dem noch nicht alles verloren sein kann, sei es doch hart, wenn er in die Schule des Lasters getan wird, wie Sie's ja selber nennen.«
»So?« rief der Amtmann zornig, »wenn Ihm das Zuchthaus nicht gut genug ist, so kann man ihn ja für Seine Mord- und Diebstaten auf die Schandbühne und von da auf die Galeere bringen, vermittelst des Vertrags, den gnädigste Herrschaft mit der Republik Venedig geschlossen hat!«
Den Gefangenen überlief es, daß seine Kette klirrte. »Ich muß freilich ausessen, was man mir kochen will«, sagte er, »ich bin ja schon mehr dabei gewesen und weiß jetzt, wie man's macht, aber ich hab weder eine Mordtat, noch einen Diebstahl begangen.«
»Diebstahl mit nächtlichem Einbruch!« rief der Amtmann, mit der Spitze des Fingers auf das Protokoll klopfend.
»Da drinnen steht's vielleicht so«, entgegnete Friedrich, »aber in meinem Herzen heißt's anders, wenn ich Weib und Kind mit dem, was mir mein Vater schon als Vater schuldig wär, vom Hungertod erretten muß.«
Der Amtmann milderte seinen Ton etwas. »Wenn Er mit dieser Auslegung durchzudringen hofft, so gratulier ich Ihm dazu«, sagte er. »Bei Gericht aber nimmt man die Dinge nicht nach der Auslegung, sondern wie sie sind. Angenommen, es habe einer [] einen Prozeß mit einem andern und es sei auch das Recht ganz auf seiner Seite, so darf er darum doch nicht in seiner eigenen Sache den Exekutor machen oder den Erretter, wie Er's heißt, und sich selbst am Hab und Gut des andern regressieren.«
»Dawider will ich nicht streiten, Herr Amtmann«, erwiderte Friedrich, »'s hat alles Händ und Füß, was Sie sagen. Aber, nicht wahr? wenn ich meinen Vater bei Ihnen verklagt hätt, daß er meiner Christine nichts zu ihrem Unterhalt gibt, so hätt sie lang verhungern können, bis ich hätt Recht bei Ihnen gefunden.«
»Halt Er Sein Maul, Er ewiger Rechthaber!« schrie der Amtmann entrüstet. »Er steht als Angeklagter hier und nicht als Advokat!«
Er griff wieder zu der Feder und schrieb eifrig und zornig fort. Friedrich sah ihm eine Weile zu. »Ich seh wohl, was Sie schreiben«, sagte er dann: »Unerachtet seiner äußersten Bosheit will er immer noch recht haben.«
Der Amtmann fuhr zurück, daß ein Teil der Akten zu Boden fiel. »Ist der Kerl vom Teufel besessen?« murmelte er vor sich hin. Die Gerichtsbeisitzer sahen ihn erschrocken an. Friedrich lächelte. »Ich kann mir's nämlich denken«, fügte er hinzu, da er die Worte von der Kirchenkonventsverhandlung her im Gedächtnis behalten hatte.
»Heb Er mir die Akten auf«, befahl der Amtmann dem einen Gerichtsbeisitzer. »Den Schützen!« rief er dem anderen zu. »Er führt den Arrestanten vorläufig in sein Loch zurück und holt mir den [] hannes Müller!« wies er den eintretenden Schützen an. – »Wo der Teufel nicht hinkommt, schickt er die Obrigkeit«, murrte der Gefangene halblaut, während er abgeführt wurde. – »Wird gleichfalls zu Protokoll genommen!« rief ihm der Amtmann nach.
Das auf Grund der Akten von dem Vogt zu Göppingen eingeleitete Verfahren war bald abgetan und endigte damit, daß eine eingeholte hochfürstliche Resolution dem jugendlichen Übertreter der Gesetze wegen seiner verschiedenen Verbrechen – puncto diversorum criminum, hieß es in der amtlichen Anzeige – eine anderthalbjährige Zuchthausstrafe gnädigst zuerkannte, wobei er allerdings die Wahl hatte, ob er sich unter dem Zentnergewicht der Anschuldigungen für die gnädige Strafe bedanken oder in dieser eine Verurteilung der Anklage erblicken wollte. Zugleich mit ihm wurde der ältere Bruder Christinens nach dem Zuchthause gebracht, bei welchem der halberwiesene Verdacht des Bienendiebstahls und der unerwiesene Verdacht der Teilnahme an dem Fruchtdiebstahl zu einer Strafe von einigen Wochen hingereicht hatte. Die Bewohnerschaft des Zuchthauses aber bestand nach den gleichzeitigen öffentlichen Bekanntmachungen teils in »freiwilligen Armen« ohne Strafe, teils in Züchtungen und Sträflingen, und die Gesellschaft der beiden letzten Ordnungen bildeten Räuber. Diebe, so viel ihrer nicht gehenkt oder gerädert waren, Falschmünzer, Fälscher, Betrüger, Asoten, Verschwender, Vaganten, Heiligenstürmer, verunglückte Selbstmörder, Ehebrecher, Mädchen, die sich zum drittenmal vergangen, [] Kalumnianten, einer »wegen übler Aufführung und irrespektuosen Bezeigens gegen Ober-und Unterbeamte«, einer »wegen enorm ruchloser und sündlicher Reden«, einer »wegen Soldatendebauchierens«, einer »puncto lasciviae«, eine Magd wegen feuergefährlicher Verwahrlosung des Lichts, und endlich mehrere »wegen verschiedener Vergehen«.
Auf dem Wege nach Ludwigsburg benutzte Friedrich einen Augenblick, wo der bewaffnete Begleiter, ein armer Bürger von Göppingen, der einen Fluchtversuch der beiden rüstigen jungen Burschen zu verhindern unfähig gewesen wäre, ein wenig dahinten blieb. »Häng kein so dummes Maul runter«, sagte er zu seinem Unglücksgefährten, »was kann denn ich dafür, daß dich die Immen hintendrein gestochen haben? Immenvater bist ja doch gewesen, das kannst nicht leugnen. Und bedenk auch, Schwager, daß die Deinigen dich leichter ein paar Wochen als den Jerg ein Jahr und vielleicht drüber missen, denn der ist doch am kleinen Finger mehr als du am ganzen Leib.«
Der andere schwieg stöckisch. Der Wächter kam wieder herbei, und die Wanderung wurde fortgesetzt.
Als sie in Ludwigsburg einzogen und sich dem Zuchthause näherten, fanden sie den Weg durch eine große Menschenmenge gesperrt. Ein Leichenzug kam daher, umgeben von zahlreichen Zuschauern und Zuschauerinnen, die beinahe mehr Trauer als Neugierde blicken ließen. Hinter dem Sarge ging zunächst eine Schar von Waisenkindern in ihrer grauen Tracht; ihnen [] folgte eine lange Begleitung von Männern, geistliche und weltliche Beamte an ihrer Spitze; nach einem größeren Zwischenraume kam ein Zug Strafgefangener in der Zuchthauskleidung, von Aufsehern bewacht. Alle hatten die Haltung von Leidtragenden, und selbst in den Reihen dieser vom Leben halb ausgestoßenen Männer sah man nasse Augen.
»Wen begräbt man hier?« fragte der Führer der beiden einzuliefernden Sträflinge eine sich herzudrängende Frau.
»Den alten Waisenpfarrer«, war die Antwort.
Friedrich drückte die Hände gegen die Brust. So manchmal, wenn es ihm in der Welt weh und bange war, hatte er sich nach dieser Heimat, die man in der Welt eine Schule des Lasters nannte, zurückgesehnt, und nun war der gute Geist, der darin waltete, auf immer dahin. Die Welt schien ihm ausgestorben. Er kehrte sich ab und weinte bitterlich. Niemand sah diesen Schmerz, welchen er bei seinem Einzug in das Zuchthaus, obgleich ihn der Gedanke an sein Weib und sein Kind beinahe zu Boden drückte, hinter einer dumpfen Gleichgültigkeit verbarg.
27
Ein stiller Herbstabend breitete seinen Frieden über die Welt. Vom Brunnen, wo sie sich satt getrunken, wurden Pferde und Kühe heimgetrieben, wobei einige Füllen und Kälber munter um sie her sprangen und wohl auch hie und da eine Kuh, deren [] Alter ein gesetzteres Betragen erwarten ließ, zu ein paar Bockssprüngen verführten. Nachdem das Vieh den Trog verlassen hatte, kamen Weiber und Mädchen, um ihre Wassergelten unter dem Rohr zu füllen; sie plauderten und lachten unter sich oder mit den Leuten, die vor den Häusern Feierabend machten. Allmählich wurde es am Brunnen und auf der Straße leer, die Menschen gingen in die Häuser, da und dort hörte man das Vieh in den Ställen brüllen, aber immer tiefer sank das Dorf, schon während der Dämmerung, in die Stille der Nacht, so daß endlich der gesellige Brunnen für sich allein murmelte, doch nicht ganz von den Stimmen des Lebens verlassen, denn ihn begleitete das Plätschern des vorüberziehenden Flüßchens und das Rauschen des Neckars, der unfern über seine Kiesel dahinzog. Die Schatten verdichteten sich mehr und mehr, da kam noch eine Nachzüglerin zum Brunnen, um Wasser zu holen; entweder hatte sie sich über häuslichen Geschäften verspätet, oder scheute sie die Gesellschaft, die zu einer früheren Stunde am Brunnen nicht zu vermeiden war, denn ihre Tracht, die von der Tracht des Dorfes abwich, bezeichnete sie als eine Fremde, die sich vielleicht unter den andern nicht heimisch fühlte; das um den Kopf geschlungene dunkelblaue Tuch ließ nicht erraten, ob sie ein Weib oder Mädchen sei. Sie stand mit dem Leib über die nachlässig gefalteten Hände übergebeugt am Brunnen und wartete in dieser geduldigen Haltung, welche meist von überstandenen Leiden zeugt, auf das Vollwerden ihres Gefäßes. Ein tiefer Seufzer [] sprach es aus, daß sie in ihrem Innern nicht unbeschäftigt war. Während sie so am Brunnen träumte, erscholl ein rascher, zuversichtlicher Schritt durch das schlummernde Tal. Er schien sich zu verlieren, wenn die Straße sich senkte; dann schlug er wieder deutlicher an das Ohr. Bald hatte der Wanderer das Dorf erreicht; er ging langsamer, verweilte hie und da und setzte dann seine Schritte wieder fort. Wie er näher kam, ein kräftiger, untersetzter Mann, entdeckte er die Gestalt am Brunnen und trat, wie um sie zu fragen, auf sie zu. Kaum aber hatte er sie voll ins Auge gefaßt, so umschlang er sie und drückte sie heftig an sich. Mit einem leisen Schrei des Schreckens und Unwillens suchte sie sich loszumachen, da sagte er mit unterdrückter Stimme: »Christine!« Sie sah ihm in das Gesicht und stürzte mit einem zweiten Schrei an seine Brust, die Arme um ihn schlagend. Nach einer langen Umarmung, in welcher sie zuweilen tief Atem holte, sagte sie weinend: »Mein Frieder, mein Frieder! Was für ein Engel führt dich zu mir? Wo kommst denn her?«
»Von Hohentwiel, von Frankfurt, von Ebersbach, aus dem Gefängnis, aus der Welt, aus der Heimat – woher du willst!« antwortete er fröhlich.
»Daß du von Hohentwiel entkommen bist«, sagte sie, »ist das letzt, was ich von dir weiß.. Das hat einen solchen Lärmen durch's Land geben, daß ich's sogar im Zuchthaus erfahren hab. Kannst dir vorstellen, wie mich's gefreut hat.«
»Im Zuchthaus!« versetzte er. »Ich weiß, daß sie[] dich dorthin getan haben. Oh, 's ist scheußlich! scheußlich!«
»Sie haben gesagt, sonst werd eine erst beim dritten Kind so gestraft, mir aber müß man's schon beim zweiten andiktieren, für meinen Umgang mit dir, weil du dich so aufgeführt habest, daß man dich lebenslänglich hab auf die Festung sperren müssen.«
Er lachte wild.
Sie fiel ihm abermals um den Hals; dann sah sie sich scheu um, ob niemand ihr Tun bemerkt habe. Hierauf fragte sie hastig: »Und von Ebersbach kommest, sagst? Was machen meine Kinder?«
»Sie sind ganz wohl«, antwortete er: »das Kleine hat all seine Zähn, du mußt's ja gesehen haben, wie du letzt dort gewesen bist, und lauft ganz allein; und der Groß hat vorgestern zum erstenmal in die Schule dürfen zum Zuhören. Er hat mir aufgeben, ich solle die Mutter schön grüßen.«
Sie schluchzte. »Aber ich vergeß mich ganz«, sagte sie dann erschrocken. »Meine Herrschaft ist im Pfarrhaus, sie sind oft nach'm Nachtessen dort, und die Kinder sind allein. Die Schulmeisterin tät mir's nicht verzeihen, und ich möcht's ihr auch nicht zuleid tun, daß einem von den Kindern etwas geschah.«
»Hat die Kathrine Kinder?« fragte er, sie aufhaltend.
»Ha, was meinst?« antwortete sie, »drei, und das ältest davon ist schier fünf Jahr alt.«
»Was man nicht erleben kann!« sagte er: »ist mir's doch, als hätt sie erst gestern noch im Ebersbacher[] Amthaus gedient, mit ihrem Bleichschnäbele und ihrer schmächtigen Gestalt, und jetzt hat sie schon ein fünfjähriges Kind.«
»Es ist auch in die sechs Jahr, daß sie den Schulmeister hier geheiratet hat. O Frieder, das Weib hat den Himmel an mir verdient. Aber jetzt laß mich, nur 'n Augenblick laß mich, ich komm wieder! Sieh, wenn den Kindern etwas zustieß, die sie mir anvertraut hat, es wär mein Tod.«
»Gleich laß ich dich gehen«, sagte er und faßte sie an der Hand. »Wenn du aber wiederkommst, bleibst dann bei mir und ziehst mit mir fort? Ich leid's nicht, daß mein Weib im Dienst ist. Sieh, bloß um deinetwillen bin ich von Frankfurt hergewandert, um dir zu halten, was ich dir versprochen hab. Meines Bleibens ist im Ländle nicht, kannst dir wohl denken, warum, aber draußen können wir das und jenes probieren, werden uns schon durchschlagen, und das ehrlich, hoff ich. Auch ist jetzt leichter in der Welt fortkommen: es ist Krieg, und der bringt manchen Verdienst unter die Leut. Der König von Preußen ist in Sachsen eingefallen, es geht alles drunter und drüber.«
»Ja, man spricht hier auch davon«, versetzte sie. »Ach Gott, was ist das für eine Welt!«
»Gehst mit mir? und das gleich?« fragte er dringender.
»Soweit ich seh!« rief sie, ihm noch einmal um den Hals fallend. »Aber von meiner Schulmeisterin muß ich Abschied nehmen, sie meint's so gut mit mir.«
[] Sie griff nach ihrer Gelte. Er wollte dieselbe tragen, aber sie gab es nicht zu. »Geh zwischen den Häusern da den Fußweg naus, daß dich niemand bemerkt. Bei den drei großen Bäumen stoß ich wieder zu dir. Die Kathrine will ich von dir grüßen, sie spricht oft von dir, aber was hätt sie davon, wenn du in ihrem Haus gefangen würdest?«
Sie eilte mit dem Wasser fort. Er trank in gierigen Zügen am Brunnen, ging dann den Fußweg hin und wartete an dem bezeichneten Orte. Nach einer Viertelstunde kamen hastige Schritte. Sie war's; an ihrer Hand schwankte ein kleines Bündelein, das er ihr sogleich abnahm. »Ich hab nich! Abschied nehmen können«, sagte sie; »sie sind noch im Pfarrhaus, es ist Besuch ankommen, und da wird der Schulmeister immer eingeladen, denn er gilt beim Pfarrer viel. Weil du nun so pressierst, so hab ich die Kinder einer Nachbarin übergeben und hab meiner Frau sagen lassen, meine Mutter sei plötzlich krank worden, der Bot hab mich am Brunnen troffen, und ich hab ohne Verzug mit ihm fort müssen. Sie wird wohl von selber draufkommen, wie sich's in Wahrheit verhält, und damit sie's um so eher erraten kann, so hab ich mit dem Griffel auf die Schieferplatt im Tisch geschrieben: ›Will und Lieb, die stiehlt kein Dieb‹.«
»Das ist die rechte Parole«, sagte er. »Das hat mich auch wieder ins Land geführt.«
»Jetzt aber erzähl einmal«, sagte sie. »Wenn wir immer so durcheinander schwätzen, so erfährt kein's vom andern was recht's.«
[] »Zuerst müssen wir den Marsch antreten, Frau Landfahrerin«, entgegnete er. »Geh du voran und führ mich den Weg auf die Straße hinaus. Dort können wir nebeneinander gehen und erzählen nach Herzenslust. Hier, so nah am Dorf, ist's doch nicht recht geheuer.«
»Ja, wo naus willst du, Herr Landfahrer?« fragte sie.
»Das versteht sich doch: nach Ebersbach und die Kinder holen, denn ohne die ziehen wir nicht in die Welt hinaus.«
»Jetzt freut mich mein Leben erst!« rief sie entzückt und schritt rüstig in der Dunkelheit voran. Er folgte. »Mir ist's, als wärst du kräftiger worden«, sagte er hinter ihr her, »du trittst ja auf wie eine Burgemeisterin, auch kommst du mir viel runder vor wie ehedem.«
»Ich hab auch ein besseres Leben gehabt in der letzten Zeit«, antwortete sie, immer vorwärts eilend, »kann sein, daß ich mich wieder ein wenig rausgemacht hab. Aber wenn du mich morgen bei Tag siehst, da wirst finden, daß ich nicht mehr das glatt Gesicht von ehedessen hab. Ach Frieder, Sorgen und Not machen den Menschen alt vor der Zeit. Ich fürcht, ich werd dir nicht mehr so gut gefallen.«
»Schwätz mir nicht so verkehrt raus!« erwiderte er. »Daß du nicht siebzehn Jahr alt bleiben kannst, das hab ich gewußt, wie ich dich liebgewonnen hab, und hab mir's auch sagen können, wie ich, gleichfalls aus dem besten Leben raus, fort bin, um dir das Wort zu halten, das ich dir zugeschworen hab. [] Hast übrigens gar nicht so alt ausgesehen vorhin am Brunnen, wie ich zu dir kommen bin. Ich hab dich just fragen wollen: Jungferle, wo ist das Schulhaus? da seh ich auf einmal, daß du's selber bist.«
Sie hatten unter diesen Gesprächen ein Gewirr sich kreuzender Feldwege, welchen sie oft eine Strecke folgen mußten, längs des Dorfes hin durchschritten. Hie und da bellte ein Hund, aber sie verfolgten unangefochten ihren Weg. Von einem Rain, an welchem der Fußsteig steil emporkletterte, flog sie mit einem leichten Sprung auf die Straße hinab und er ihr nach. Er faßte sie eng um den Leib, sie ihn desgleichen, und so wanderten sie in der Nacht zusammen hin. Sie drückte ihn noch einmal fester an sich: »so, jetzt erzähl!« sagte sie.
»Also!« begann er. »Wie ich vor drei Jahren nach Hohentwiel kommen bin, das weißt du. Ich wär aber doch begierig, ob du auch weißt, was dein Hannes, mein hochachtbarer Herr Schwager, dazu beitragen hat. Gelt, das wird er dir nicht gesagt haben?«
»Ich weiß gar nichts«, sagte sie, »als daß du den Tag, nachdem wir uns das letztmal gesehen haben, in der ›Sonne‹ bist gefangen genommen worden und daß es da wieder einen Kampf und ein Getümmel geben hab, wie vor sechs Jahr, wo du vom Dach ins Zuchthaus geflogen bist, und daß man dich dann weit fortgebracht hat, nach Hohentwiel. Kannst dir selber sagen, was mir das gewesen ist, daß ich dich zeitlebens nicht mehr sehen soll, und dazu zwei unversorgte Kinder, von denen eins noch nicht einmal [] auf der Welt gewesen ist. Aber von meinem Hannes weiß ich nichts.«
»Der hat eine Pique auf mich gehabt, von damals her, wo er mit mir ins Zuchthaus kommen ist, und du weißt doch selber am besten, wie unschuldig ich daran gewesen bin. Wie's nun Lärm geben hat wegen der Dummheit im Pfarrhaus –«
»Du sagst recht«, unterbrach sie ihn: »freilich ist's eine Dummheit gewesen. Weißt noch, was ich zu dir gesagt hab, wie du mir nachts mit den Sachen übers Bett kommen bist? ›Bist denn immer noch ein Bub? willst denn gar nie kein Mann werden?‹ hab ich gesagt. Und warum hast denn nicht, wie du mir doch versprochen hast, den Kelch gleich wieder ins Pfarrers Garten geworfen? Ich hab dir doch gesagt, das sei ja der Krankenkelch, werd wohl hundert Gulden wert sein, und wenn's auf dich bekannt werd, so kommest an Galgen.«
»Sei doch vernünftig!« sagte er. »Ich hab ja nicht können. Wie ich mich wieder gegen das Pfarrhaus hingeschlichen hab, hat mich der Nachtwächter gesehen, und da hab ich nimmer trauen dürfen. Ich hab dann eben die Sachen zu Haus im Stroh versteckt, und da hat's am Morgen der Knecht gefunden und meinem Vater bracht, und der hat in der Todesangst alles dem Pfarrer geschickt. Er hat gemeint, man könnt ihn selber als Hehler beim Kopf nehmen, und die Frau Stiefmutter hat ihm natürlich die Höll noch heißer gemacht.«
»Hättst aber auch den Spaß können bleiben lassen!« eiferte sie. »Wenn du nur ein klein bißle Grütz im [] Kopf gehabt hätt'st, so hätt'st doch wissen müssen, daß ein Eidbruch in einem Pfarrhaus, sonderlich wenn Kirchensachen dabei wegkommen, so laut schallt wie die Posaun von Jericho. Und wenn nur auch was dabei rauskommen wär! Aber der ganz Bettel ist ja des Einsteigens nicht wert gewesen.«
»Das ist wahr«, versetzte er, »außer der silbernen Sackuhr, dem goldenen Ring und den paar Batzen Geld ist an der ganzen Lumperei nichts echt gewesen. Das andere Ührle war von Messing und zerbrochen, und dein kostbarer Nachtmahlskelch, den du hast auf hundert Gulden taxieren wollen, was ist er gewesen? von Kupfer und ein wenig verguld't.«
»Drum eben!« sagte sie noch eifriger. »Und doch hast bei der Lumperei nicht bedacht, daß es um den Hals gehen oder, wie sich's nachher auch zeigt hat, eine Lebenslänglichkeit dabei rausspringen kann.«
»Du hast gut reden«, entgegnete er verdrießlich. »Bin ich darum aus meiner sichern Freistatt zu dir kommen, um mir gleich von dir vorpredigen zu lassen? Du hast, scheint's, ganz vergessen, wie man's uns gemacht hat –«
»Das hätt freilich den besten Mann verzürnen können«, unterbrach sie ihn begütigend.
»Zuerst«, fuhr er heftig fort, »stecken sie mich um nichts und wieder nichts auf anderthalb Jahr ins Zuchthaus. Wie ich das überstanden hab und ins bürgerliche Leben zurückkehren will, so nimmt kein Hund mehr ein Stück Brot aus meiner Hand. Da hab ich erst gesehen, daß meine beide frühere [] Zuchthausstrafen für nichts geachtet worden sind; aber die dritte, die hat dem Faß den Boden ausgeschlagen. In meines Vaters Haus hab ich mehr wie ein Vagabund auf dem Heu und Stroh als wie ein Kind im anererbten Bett geschlafen. Mein Mütterlich's, hat mir mein Pfleger mit Lachen gesagt, sei über den Prozeß- und Ersatz- und Zuchthauskosten drauf gegangen, und so hat mir meine Volljährigkeit nichts mehr geholfen. Rechnung hat man mir gar nicht abgelegt, und mein Vater hat mich dabei im Stich gelassen: mein Pfleger, hat er gesagt, sei eben einmal ein Herr auf dem Rathaus, und mit diesem müsse man delikat verfahren. Ich hoff ihm noch eine besondere Delikatesse anzutun. Die Metzger, bei denen ich als Knecht hab herum schaffen wollen, haben mehr oder weniger deutlich das Kreuz vor mir geschlagen. Weil man mir nun von Haus aus gar keinen Vorspann geleistet, vielmehr noch Fußangeln in den Weg geworfen hat, so hab ich um so mehr drauf pressiert, daß es zwischen uns beiden endlich einmal zum Heiraten käme; denn abgesehen davon, daß mir's ohnehin angelegen gewesen ist, so. hab ich gedenkt, wenn die Leute sehen, daß ich gegen meinen Schatz ehrlich bin und dem ledigen Leben mit seinen Lumpenstreichen Valet sage, so werden sie mir nach und nach auch wieder Vertrauen schenken. Aber ich brauch dir ja nicht lang vorzumalen, wie uns das fehlgeschlagen hat. Der alte Pfarrer, der Eiferer und Polterer, steht mir jetzt vergleichsweise als ein Ehrenmann da: der neue aber, den ich bei meiner Zurückkunft von [] Ludwigsburg angetroffen, hab, ist vollends der ganz gemeine Kanzelmelker, der bloß rechnet, wieviel Gulden und Kreuzer ihm das Evangelium trägt und was er aus seinen Verrichtungen für Profit herauspressen kann. Die dritte Proklamation haben wir mit Leichtigkeit von ihm erlangt – um Geld und gute Worte; nur daß ich um des spöttisch mitleidigen Tones willen, mit dem er unsere Namen ablas, ihm das Gesangbuch hätt an den Kopf werfen mögen. Dann aber hat wieder alles dran getrieben, daß die Sache rückgängig worden ist, Vater und Mutter, Amtmann und Pfarrer, und der Pfarrer hat meinem Vater noch ganz anders zugeredet als sein Vorgänger, welch eine Torheit es für ihn sei, eine Schwiegertochter ohne Vermögen ins Haus zu nehmen. Weißt noch, wie wir vier Wochen lang herumgezogen sind zwischen dem Staufen und der Teck, von einem Pfarrhof zum andern, ob wir nicht einen Geistlichen fänden, der uns um Gotteswillen und aus christlichem Herzen kopulierte? War aber alles vergebens, und wie wir heimkommen, so stecken sie uns wegen Entführung und Landstreicherei vierzehn Tage lang ein und bringen mir dann eine Verzichtleistung von dir, die mich so rappelköpfig macht, daß ich erklärt hab, jetzt wolle ich auch nichts mehr von dir wissen. Wie wir dann frei wurden, war's leicht, sich über die falsche Vorspiegelung zu verständigen. Drauf klag ich in Göppingen, und der Vogt sagt selber, das sei keine Art, eine angefangene Kopulationssache nach dreimaliger Proklamation also zu hintertreiben, und gibt einen Bescheid für den [] Pfarrer, daß er fortfahren solle. Wie ich dich nun damit ins Pfarrhaus schicke und der Pfarrer an dich hin zankt und schimpft, das Oberamt solle ihm zuvor die Tax bezahlen, wenn es ihm mit solchem Bettlerpack beschwerlich fallen wolle, was hast du dann zu mir gesagt, du Biedermännin, die mir jetzt predigen will? Hast du nicht gesagt, der Geizhals von einem Pfaffen hab Uhr und Ring an der Wand hängen, man sollt's ihm nur nehmen, dann hätt ich Geld und könnte nach Stuttgart gehen, um ihn zu verklagen und die Kopulation zu erzwingen?«
»Ach freilich hab ich's gesagt«, seufzte sie, »aber ich bin eben auch ganz außer mir gewesen vor Jammer und Verzweiflung und vor Zorn über so ein un geistlich's Betragen gegen die Armen. Aber mein Herz hat nicht dran denkt, daß du das tun würdest, was ich im Zorn rausgeschwätzt hab. Vom Gedanken bis zur Tat ist doch noch ein weiter Weg, und besser hätt'st doch getan, wie du jetzt selber einsiehst, wenn du noch einmal ans Oberamt gangen wär'st.«
»Geh mir weg mit dem Oberamt!« murrte er. »Das eine Mal hören sie einen an, und das andre Mal jagen sie einen fort, sonderlich wenn man oft kommt. Was du gedacht und gesagt hast, das hab ich getan; 's ist just so weit, wie der Weg vom Weib zum Mann. Um Geld und Geldswert ist mir's weniger zu tun gewesen, als um dem hartherzigen Pfaffen zu zeigen, daß ich mehr kann als er und daß er keine Stunde in seinem eigenen Hause sicher ist, wenn ich's nicht haben will. Er mag seine Türen [] und Läden so fest verschließen, als er will, Angst soll er vor mir haben, solang er lebt, und wenn's mich einmal gelüstet, so schieß ich ihn von seiner Kanzel runter, wie den Vogel vom Ast. Ich hab ihm noch ein paar Hostien mitgenommen, bloß um ihm zu zeigen, was ich auf sein Handwerk halte, wenn's einer um des bloßen Gewinns willen treibt.«
»Ich weiß ja wohl«, sagte sie, immer ihn zu besänftigen bemüht, »daß das alles ist, was man dir aus der ganzen traurigen Zeit vorwerfen kann. Du hast leben müssen wie der Vogel aufm Zweig, nur mit dem Unterschied, daß der Vogel leicht sein Futter findet, und ich möcht wohl auch sehen, wie viel sich in so einer Lag ehrlich durchschlügen, ohne sich am Eigentum des Nächsten zu vergreifen. Denn das bißle Gewildschießen mit dem Krämerchristle kann dir kein Mensch als ein Verbrechen andichten, und 's ist ja auch nicht rauskommen. Der einzig Streich mit dem Pfarrer hat dir den Hals brochen. Aber daß mein Bruder dabei gegen dich mitgeholfen haben soll, das will mir nicht ein. So viel denkt mir allerdings noch, daß er dazumal just in Ebersbach gewesen ist. Weißt, er hat sich ja gleich vom Zuchthaus aus unters Militär anwerben lassen und ist nicht mehr heimkommen, bis unser Vater gestorben ist – ach Gott, wenn ich an den Tag denk! – und vor drei Jahr, um die Zeit, wo man dich gesetzt hat, ist er wieder im Urlaub dagewesen.«
»Komm«, sagte er, »du wirst doch nicht im Freien über Nacht bleiben wollen. Ich weiß auf unserem Weg einen kleinen Weiler, wo wir sicher sein werden. [] Wenn die Leut noch auf sind, so müssen sie uns ein Nachtquartier geben, wir sind ja Mann und Weib, und wenn sie schlafen, so weiß ich auch zu helfen.«
Sie verließen die harte, unebene Straße und schlugen einen gemächlichen Waldpfad ein, auf welchem sie in der bisherigen Weise sich umschlingend nebeneinander gehen konnten. »Wie mein Vater am anderen Morgen dem Pfarrer seine Sachen wieder geschickt hat«, fuhr er fort, »da hab ich gleich gemerkt, daß Mohren ist – ja so, das lautet böhmisch für dich – ich will eben sagen, ich hab gemerkt, daß Feuer im Dach ist, daß das Ding Lärm macht, hab mir also den Kopf nicht lang zerbrochen, sondern hab ihn zwischen die Füß genommen und mich in der ›Sonne‹ verborgen, bis ich etwas Luft hätt, um durchzukommen. Das war ein Rennen und Laufen den ganzen Tag, ich hab alles von meinem Versteck aus angehört und mich nicht gerührt. Möglich ist's, daß die Frau Sonnenwirtin in ihrem witzigen Hirn draufkommen ist, hinter den alten Fässern und dem Rumpelzeug im hundertjährigen Staub könnt was Lebendiges stecken, aber gradaus ist sie mir nicht zu Leib gegangen, das ist überhaupt ihr Genie nicht. Gegen die Nacht, während ich eben denk, jetzt könnt ich bald entschlüpfen, hör ich an meinem Versteck herumtappen, klopfen und Frieder! rufen. An der Stimm erkenn ich deinen Hannes, geb aber nicht gleich Antwort. Drauf fährt er fort, ich solle mich doch nicht so verstellen, er sei mit etlichen Kameraden im Urlaub da, sie haben [] von meinem Malheur gehört und meinen's gut mit mir, ich solle nur herfürkommen, sie wollen mich in die Mitte nehmen und mir durchhelfen; auch hab er mir von dir etwas Nötiges auszurichten. Was hätt ich ihm nicht trauen sollen? Mir ist's im Schlaf nicht eingefallen, daß er mir von früher her etwas nachträgt, was mich gar nicht einmal betrifft. Wie ich aber gutsmuts heraussteige, so fassen mich die Soldaten und schreien: Arretiert! Ich hätt mich vor denen pappeten Herrgöttern mit ihren Krautmessern und ihren gemalten Schnurrbärten nicht geforchten, ich hätt's mit allen aufgenommen, aber ich stand dir da, ganz steif und starr über die Verräterei, wenn man mich gestochen hätt, ich hätt kein Blut geben, und so bin ich regungslos von ihnen gefangen und gebunden worden. Wenn sie also nachher behauptet haben, es hab einen Kampf und ein Getümmel gekostet, so haben sie schmählich gelogen, um ihre Heldentat desto größer zu machen.«
»Großer Gott!« rief sie jammervoll: »also mein eigener leiblicher Bruder hat dich ans Messer geliefert, und ich hab kein Wort davon gewußt! Es ist mir nur lieb, daß er jetzt weit weg in Garnison liegt. Und an mir willst du's nicht auslassen, daß mein Bruder so eine Schlechtigkeit an dir begangen hat?«
»Wär ich sonst so weit her zu dir kommen?« antwortete er.
Sie gab ihm ihre Dankbarkeit durch warme Liebkosungen zu erkennen. »Aber gelt«, sagte sie, »ich hab auch nicht lang gefragt, wie ich dich gesehen [] hab? Du hast nur sagen dürfen: Geh mit! und gleich bin ich gangen.«
»So ist's recht«, versetzte er. »Wir sind ja Mann und Weib. An Gottes Segen ist alles, an der Pfaffen Segen gar nichts gelegen.«
»Jetzt erzähl weiter«, drängte sie.
»Auf Hohentwiel«, fuhr er fort, »hab ich keine gute Zeit gehabt. Harte, schwere Arbeit und liederliche Kost tagaus tagein, immer das nämliche Leben zwei Jahre lang, und dazu die Aussicht, daß es in alle Ewigkeit so bleiben soll. Da kann einem der Spaß vergehen. Ich hab aber den Mut nicht sinken lassen, und gleich ein paar Wochen nach meinem Eintritt hab ich mich zu salvieren versucht. Das ist aber nicht so leicht wie im Zuchthaus, von wo mir's ein Kinderspiel war, dich ein paarmal zu besuchen. Sie haben mich zum Festungsbau gebraucht, denn an ihrer unüberwindlichen und unübersteiglichen Festung, wie sie's heißen, bauen sie beständig fort, wie am Turm zu Babel, um sie immer noch unüberwindlicher und unübersteiglicher zu machen. Wenn ich eine Armee gegen sie zu führen hätte, ich wollt ihnen ventre à terre im Nest sitzen, eh sie's merkten, denn ich weiß, wo ihr berühmtes Kleinod schadhaft ist. Das erstemal ist mirs aber schlecht geraten, da hab ich noch im Bubenunverstand und im Desperationsfieber gehandelt, bin nur grad mitten in die Freiheit hineingesprungen, wo sie am breitsten und aber auch am tiefsten war, von einer großen Höhe herunter, aber dann auch keinen Schritt weiter mehr. Die Wachen haben gleich nach mir [] geschossen, aber von obenher trifft man nicht so geschwind, und das Schießen war unnötig, denn ich blieb ganz ruhig liegen, weil ich den Fuß gebrochen hatte. Nachdem ich geheilt war, mußte ich wieder arbeiten, und bei Nacht sperrten sie mich allein in ein' Käfig, wo ich von lauter Quadern umgeben war. Nun war ich schon so gewitzigt, um zu wissen, daß das Verzweifeln zu gar nichts hilft, fraß also allen Grimm und allen Jammer um dich und allen Durst nach Befreiung in mich hinein, Tag und Nacht, und hielt mich still, als ob ich ganz zufrieden wär und hätte die Welt vergessen. Geduld, sagt das Sprichwort, Geduld überwindet Sauerkraut; aber freilich, man darf dabei nicht müßig gehen. Zum Glück hatte ich schon im Ludwigsburger Zuchthaus einige Brocken von der jenischen Sprache aufgeschnappt, und die konnte ich auf Hohentwiel fürtrefflich brauchen.«
»Jenisch?« unterbrach sie ihn. »Was ist denn das?«
»Pass auf!« sagte er. »Die Kochern scheften grandig in Käfer Märtine, schaberen bei der Ratte in Kitteren, fegen Schrenden, Klaminen und Hansel, holchen auf Gschock, tschoren Sore, zopfen Kies aus Rande, kasperen Gasche, achlen und schwächen toff mit nickligen Schicksen, josten im Flach um Jack, schmusen und schmollen, aber kistig holchen Niescher, zopfen sie krank, kistig schupfen sie Schiebes, wenn sie aber in der Leke scheften und ihre Massematte maker werden, bestieben sie Makes Makoles, holchen kistig kapore, werden talcht, an die Nelle geschniert, gekibeset oder getelleret.«
[] »Hör auf, hör auf!« sagte sie. »Da wirds ja einem ganz dumm davon. Das ist rotwelsch, da versteh ich kein einzig's Wort.«
»Wie kannst du denn sagen, es sei rotwelsch, wenn du's nicht verstehst?«
»Grad deswegen! Was man nicht versteht, das heißt man so.«
»Du weißt nicht, daß du ein wahres Wort gesprochen hast, denn rotwelsch und jenisch, das ist die nämliche Zunge.«
»Du mein Heiland!« sagte sie betreten, »das sprechen ja aber nur die –«
»Kochem!« ergänzte er, da sie stockte. »Wenn du willst, kannst du sie auch Jauner, Diebe, Spitzbuben und dergleichen heißen, denn das sind ihre Namen bei den andern Leuten; sie selbst aber nennen sich Kochem. Dies ist die Gesellschaft, in die man mich zu Ludwigsburg und auf Hohentwiel getan hat.«
»Ach Gott, ach Gott!« seufzte sie. »Ich bin doch auch im Zuchthaus gewesen, aber ich hab gottlob keine Gelegenheit gehabt, das Jenische zu erlernen. Ich hab meistens bei einer Aufseherin arbeiten müssen, die mich zu sich genommen hat, und da hab ich, ich kann nicht anders sagen, manches Nützliche gelernt, was ich vorher nicht gewußt hab.«
»Das ist Glückssache«, sagte er. »Früher hat man mich in Ludwigsburg auch etwas apart gehalten, der selige Waisenpfarrer hat's damals nicht anders gelitten; das drittemal aber bin ich unter den großen Troß gestoßen worden. Wiewohl, es war mein Glück, [] denn hätt ich nicht Jenisch gelernt, so säß ich heut noch auf Hohentwiel.«
»Was heißt denn das, was du da hergesagt hast?« fragte sie.
»Es ist nur eine Probe«, sagte er, »und bedeutet so viel als: ›die Kochem sind groß an Mannschaft im Schwabenland, brechen bei Nacht in die Häuser, leeren Stuben, Kammern und Kästen, gehen auf Märkte, rapsen Ware, ziehen Geld aus Taschen, schnellen die Leute, essen und trinken gut mit ihren hübschen, tanzlustigen Weibsbildern (denn daran rühmen sie sich reich zu sein), liegen auf dem Feld ums Feuer, schwatzen und lachen, aber oft kommen Streifer, nehmen sie gefangen, oft machen sie sich davon, wenn sie aber ins Gefängnis geraten und ihre Sachen an Tag kommen, kriegen sie Schläge und Prügel, müssen auch oft sterben, werden gemalefitzt, an den Galgen gehenkt, geköpft oder gerädert‹.«
»B'hüt uns Gott!« rief sie, »und solche Reden gehen aus ihrem eigenen Mund?«
»Das sind Dinge, von denen sie täglich reden, um sich recht an den Gedanken zu gewöhnen, gleichwie der Amalekiter König Agag zu Samuel sprach: Also muß man des Todes Bitterkeit vertreiben.«
»Für 'n Amalekiter mag das schon recht sein, aber es sind doch schreckliche, greuliche Ding, und man kann's nicht verantworten, daß man dich so jung mit so Leut zusammengepfercht hat. Ach, Frieder, ich bitt dich, laß du sie links ziehen und halt dich nicht zu ihnen.«
[] »Nein«, sagte er, »ich hab allen Respekt vor ihnen und will mich auch nicht mit ihnen einlassen. Deswegen gehen wir ja außer Lands, wo auch gut Brot essen ist und wo mich keiner von ihnen kennt.«
»Bei der Flucht von Hohentwiel also sind sie deine Kameraden gewesen? Ich kann mir's jetzt schon denken.«
»Mit Hilfe des Jenischen«, fuhr er in seiner Erzählung fort, »brachte ich bald heraus, welche von den Gefangenen die tauglichsten waren und meinem Gefängnis am nächsten lagen. Zum größten Glücke hatte ich zwei Nachbarn, ganze Kerls, mit denen ich den Teufel aus der Hölle schlagen wollte. Uns zu verständigen, das war uns eine Kleinigkeit. Im Vorbeigehen etwas hingemurmelt, oder im Sprechen mit der Schildwacht oder dem Aufseher ein paar jenische Brocken eingestreut und dabei dem eigentlichen Adressaten den Rücken zugekehrt – das ist für einen Kochem soviel wie ein ganzes Buch; aus zwei, drei Worten, die von einem andern fast ohne Mundbewegung an ihn hergesäuselt kommen, studiert er sich alles raus, was er nötig hat. Freilich braucht's auch manchmal längere Verständigungen. Da kommt man dann am besten mit Singen fort. Ein Gesetzlein aus einem Gassenhauer, wenn die Schildwacht gutmütig und selber lustig ist, oder wenn man nicht trauen darf oder gar einander ein langes und breites zu sagen hat, ein Kirchenlied, das hilft einem weit. Wie hab ich's nicht meinem alten Schulmeister gedankt, daß er mir die Choräle so ferm eingetrichtert hat! Die Soldaten haben oft [] ganz andächtig zugehört, wenn ich ein langes Bußlied nur so halblaut vor mich hingesumset und dabei den Text zwischen den Zähnen zerdrückt, nur hie und da ein deutsches Wort deutlich herausgehoben hab. Das Undeutliche aber war alles jenisch und für meine beiden Leidensgenossen deutlich genug. Das hat dann dazu dienen müssen, noch eine zweite Sprache miteinander zu verabreden, die unsre Hauptsprache werden mußte. Die Quader nämlich waren viel zu dick, als daß wir uns bei Nacht hätten unterreden können, und daran war uns natürlich am meisten gelegen. Nachdem wir aber ein bequemes Alphabet fertig gebracht hatten, so klopften wir einander ganze Nächte fort, und was wir klopften, das waren lauter Worte und Sätze. Gelt, du mußt lachen? Aber die Klopfsprache war mir damals die liebste in der Welt und hat sich auch viel besser bewährt als die Blutsprache, die du mir einmal im Arm auf die Wanderschaft hast mitgeben wollen. Zu allem andern Glück kam dann noch ein kostbarer Fund, ein Nagel nämlich, der mir eines Tags in die Hände geriet, und dieses kleine Werkzeug hat den Grund zu unserer Freiheit legen müssen.«
»Was bist du für ein Mensch!« rief sie. »Man sollt oft meinen, du seiest mehr als ein Mensch.«
»Du kannst dir denken, wie oft mir da die Finger geblutet haben, und dann hab ich's sehr gefühlt, daß ich ein Mensch bin, und wenn ich ans Freiwerden und an dich und unsre Kinder gedacht hab, da hab ich auch wieder gewußt, daß ich einer bin. Um es kurz zu machen, nach einer vierteljährigen [] schweren Nachtarbeit, neben den schweren Tagesarbeiten, war ein Loch durch die Mauer glücklich gebrochen, das niemand entdeckte, aber dann dauerte es noch lang, bis alle günstige Umstände zusammentrafen. Was irgend zum Knüpfen und Binden tauglich war, das hatten wir in den zwei Jahren wie die Hamster zusammengescharrt, und das kleinste Flöcklein Hanf war uns nicht zu schlecht gewesen. Keine Seele kann sich eine Vorstellung machen, was das ein Stück Arbeit gewesen ist und welche Attention, Diebesgeschicklichkeit und Spitzbüberei es erfordert hat, nach und nach die nötigen Stricke zusammenzubringen. Das war fast noch mehr als die Arbeit an der Mauer. Viele Stunden lang müßt ich erzählen, wenn ich dir alles ausführlich sagen wollte; aber wer diese Werke und diese Felsen und diesen spitzen Wolkenkegel nicht gesehen hat, dem kann man doch keinen Begriff von den Schwierigkeiten einer solchen Flucht beibringen. Ich würd's auch keinem übel nehmen, wenn er's nicht glaubte; aber die Tatsache steht nichtsdestoweniger fest, denn ich war lebenslänglicher Gefangener und bin nicht freigegeben worden, und geh jetzt dennoch hier an deiner Seite durch den freien grünen Wald und hab ihnen den Stolz auf die Unüberwindlichkeit ihrer starken Feste Hohentwiel zuschanden gemacht. Und nun frag dich, wenn ich das zustand gebracht hab, ob ich nicht auch imstand sein müsse, dich und deine Kinder durch Fleiß und Geschick irgendwie durchzuschlagen.«
»Oh, du kannst alles, was du willst«, sagte sie mit[] schmeichelndem und zugleich neckendem Tone, »bist ein halber Hexenmeister worden, und ich weiß gar nicht, du redst auch nimmer wie sonst in Ebersbach, dein Reden hat so eine fürnehme Art, und brauchst Ausdrück, wie ich's nie früher an dir gehört hab.«
»Natürlich!« lachte er, »drum bin ich in der Welt drein gewest, und das doppelt. Einmal am Main und Rhein drunten lernt man einen ganz andern Schick, und bei meinem Vatersbruder, obgleich in seinem Haus nichts Neumodisches zu finden ist, kehren gar stattliche Kunden ein, weil er den Wein noch nach der alten Mode schenkt, ungestritzt und wohlbehandelt und dabei billig, so daß Wirt und Gäste bestehen können. Da kommen dir Leute von Welt hin, feine Köpfe, und wenn man auf ihre Reden aufpaßt, so bleibt was an einem hängen. Sie haben mich freilich auch manchmal ein wenig ins Gebet genommen und mir zu verstehen gegeben, man merke mir den Schwaben an, eh ich nur den Mund auftue; aber aus welchem Käfig der Vogel ausgeflogen war, das haben sie mit all ihrem Witz doch nicht ergründet. Dann aber ist auch das Zuchthaus und die Festung eine Welt, die ihre Leute bildet, nicht bloß, wie du meinst, zum Stehlen und Rauben – ei nein, jedes Handwerk, ob es gut oder schlecht sei, erfordert Fertigkeiten und Kenntnisse, die dem Menschen Ehre machen. So ein Stromer oder Jauner, der in den Landen umherzieht, Fuchs und Has zugleich ist, der weiß und kann dir Dinge, die einem gewöhnlichen Ofenhocker nicht im Traum [] vorkommen. Wenn's eine gute Gelegenheit gegeben hat, daß man hat eine Stunde ungestört sich unterhalten können, da hat man Neuigkeiten gehört, daß einem die Welt noch einmal so groß und weit vorkommen ist und daß sogar die Schmieren oder Launiger – will sagen, die Aufseher oder die Soldaten, die die Wache gehabt haben – mit aufgerissenen Augen und Mäulern dabeigestanden sind und das Abwehren vergessen haben. Sie wissen dir von jedem Land, groß oder klein, seinen Regenten und wie er gesinnt ist, seine Gesetze und Einrichtungen, die Nahrungsweise des Volks, den Wohlstand, die Eigenschaften fast jedes einzelnen Beamten, die Verhältnisse zu anderen Ländern und ihren Regenten und Beamten, alles das wissen sie dir wie am Schnürle herzusagen, denn es sind lauter Dinge, die zu ihrem Handwerk gehören und nach denen sie ihr Tun und Lassen abmessen müssen. Ich hab aber oft denken müssen, wie nützlich es wär, wenn die Bürgersleute, die sich doch zum Teil mit Handel und Wandel zwischen so vieler Herren Gebiet, das absonderlich in unserem Land unzählbar ist, fortbringen müssen – ich will nur zum Beispiel von den Wirten reden – sage, wenn sie solche notwendige Wissenheiten in den Schulen und dafür meinetwegen ein paar Sprüch und Vers weniger lernen würden. Aber auch in vielen anderen Dingen trifft man die schönsten Kenntnisse bei ihnen an. Da stehen besonders die Felinger im ersten Rang, und unter diesen wiederum die sogenannten Staatsfelinger. Das sind dir Leute, die fürnehm gekleidet [] in Samt und Seide, oft in eigenen Karossen mit Pferden und großer Dienerschaft als Bergleute oder Doktoren das Reich durchziehen, treiben ihr Handwerk meistens in den Städten, führt mancher gar ein Privilegium von kaiserlicher Majestät mit sich und weiß sich eine Manier und ein Ansehen zu geben, daß jeder Reichsgraf ihn für seinesgleichen erkennen muß. Aber auch die geringeren Felinger, die das dumme Volk mit Quacksalberkünsten, Schatzgräbereien und dergleichen kaspern und brandschatzen, haben bei allem Betrug oft manche gute Wissenschaft in ihrer Kunst. Wir selber haben einen solchen auf Hohentwiel gehabt, der in Krankheiten sehr erfahren war und nicht nur mir und manchem anderen geholfen, sondern auch den Festungsdoktor selbst mehr als einmal ausgestochen hat. Der hat ihm freilich die Ehre nicht gönnen wollen, als wenn es recht kritisch hergangen ist, aber just dann ist auch der Ruhm desto größer gewesen.«
»Wenn aber so Leut so geschickt sind«, wendete sie ein, »dann sollt's ihnen ein Leicht's sein, sich ehrlich und redlich zu nähren.«
»Ist bald gesagt«, erwiderte er. »Diese Leute sind meistenteils von Kindesbeinen auf heimatlos, gehören zu einem verachteten, verworfenen Menschenschlag und würden zu ehrlichen Hantierungen im bürgerlichen Leben gar nicht angenommen, sind auch, was ich zugeben will, teils schon durch ihre Eltern dazu verdorben oder sie sind mit und ohne ihre Schuld aus dem bürgerlichen Leben hinausgestoßen worden – denk nur dran, wie's uns gangen [] ist – und müssen froh sein, daß sie da draußen noch eine Welt finden, in der sie leben können. Das sind Leute, wie zu Davids Zeit, da er vor dem König Saul in die Höhle Adullam fliehen mußte und sich allerlei Männer zu ihm versammelten, von denen die Schrift sagt: Männer, die in Not und Schuld und betrübtes Herzens waren. Jetzt ist's freilich nicht mehr Mode, daß einer aus einem Obersten über solche Männer ein König werden kann, und es deucht mir selber unbegreiflich, wenn ich dem Ding nachdenke, zumal daß von allen Kanzeln sein Lob gepredigt wird, da er doch Stücke getan hat, die heutzutag mit Galgen und Rad bestraft würden. So schickt er zu dem Nabal hin und läßt ihm sagen: ›Gib mir und meinen Leuten, was deine Hand findet‹; wie aber der Nabal Faust in Sack macht, so heißt er einen jeglichen sein Schwert um sich gürten und zieht, vierhundert Mann stark, gegen ihn, just so wie sie jetziger Zeit manchmal aus den böhmischen Wäldern hervorbrechen. Und wiewohl die Abigail sich ins Mittel gelegt hat, daß es nicht zum äußersten kommen ist, so hat er Speis und Trank genug ohne Zeche und Kreide gefaßt und hat eigentlich doch den Nabal umgebracht, denn der hat aus Schrecken über den Anmarsch der vierhundert betrübten Herzen den Geist ausgeblasen und hat ihm erst noch seine Witwe zum Weib lassen müssen. Die Schrift sagt wohl von ihm, der Mann sei hart und boshaftig in seinem Tun gewesen; aber gibt's darum keine seinesgleichen mehr, die, wie er, fast großen Vermögens sind und viele Schafe und [] Ziegen haben? Ich möcht sehen, wenn ihnen einer heutigs Tags so was tät, was weltliche und geistliche Obrigkeit dazu bemerken würden. Von den Zigeunern sagen sie, sie betteln zuerst, und wenn man's ihnen nicht gutwillig gebe, so nehmen sie's mit Gewalt. Aber das hat noch kein Pfarrer als Muster aufgestellt. Vielmehr hat mir schon in Ludwigsburg einer, der bei einem Generalstreif aufgefangen wurde und in Gesetzen sehr bewandert und ein halber Gelehrter war, der hat mir gesagt, es sei erst vor wenigen Jahren ein Kreispatent ausgegangen, daß man das gottlose und verruchte Jauner- und Zigeunervolk, auch wenn man es nicht auf einer Missetat ergreife, – ich weiß den gelehrten Ausdruck nicht mehr, aber der Sinn ist: ohne eigentliches Verhör und Urtel, also daß man ebensogut einen Unschuldigen treffen kann – sage, ohne alle Umstände solle man sie aufs Rad legen und solle dabei nur das unbenommen sein, daß man sie zum Schwert oder Strang begnadigen könne.«
»Das ist freilich schrecklich«, seufzte sie. »Es ist eben eine arge Welt und eine böse Zeit. Aber so froh ich bin, daß du mit ihnen von der Festung entkommen bist, so ist mir's doch noch viel lieber, daß du dich wieder von ihnen losgeschält hast. Ist's auch gewiß wahr?«
»Freilich ist's wahr, so gewiß, als es von Hohentwiel einen Weg nach Sachsenhausen gibt. Ich hab freilich nicht immer den gradsten genommen; 's ist mir gangen wie bei der Erzählung da, wo du mich fort und fort auf Um- und Nebenwege drängst.«
[] »Ich will dich nicht weiter unterbrechen. Erzähl gradaus.«
»Wie wir mit unseren Vorbereitungen endlich fertig gewesen sind, haben wir uns an den steilen roten Felsen hinabgelassen. War aber wenig davon zu sehen, denn wie du dir denken kannst, haben wir eine stürmische Regennacht gewählt. Einer voran, ich in der Mitte und einer zuletzt, wie wir eben drangekommen sind, so sind wir an unserem armseligen Seil hinuntergerutscht. Wir zwei vorderen haben uns nicht lang besonnen, haben's auch nicht geachtet, daß unsere Hände halb durchgeschnitten wurden, sondern sind hinabgesaust wie der Teufel, wenn er mit einer armen Seel zur Hölle fährt. Dem letzten aber ging's nicht so gut. Hat er sich zu schwer gemacht, die Hände zu sehr geschont, oder ist das Seil durch uns schon abgenutzt gewesen, ich weiß es nicht: auf einmal kracht's, bricht, und neben uns geschieht ein mächtiger Fall. Es war ein Glück, daß er uns nicht auf die Köpfe fiel. Ob er sich den Hals abgestürzt hat, weiß ich heut noch nicht. Gott tröst ihn! aber für uns war keine Zeit zu verlieren. Der Fall hatte die Wachen oben rebellisch gemacht, man hört zusammen schreien, und kaum sind wir einen halben Büchsenschuß seitwärts, so brummt schon die Lärmkanone durch die finstere Nacht. Die stand uns aber treulich bei, und wir sagten lachend: ›Kanoniert und trommelt ihr, soviel ihr da droben wollt, Gott befohlen, Hohentwiel!‹ Die Aussicht ist übrigens schön für den Liebhaber, besonders wenn er sich nur ein paar Tage zu [] seinem Vergnügen droben aufzuhalten braucht, wie ein Schwager des Kommandanten, ein Professor, den wir einmal die herrliche Perspektive, wie er's nannte, loben hörten. Wir hatten sie uns jedoch gleichfalls zunutz gemacht und wie eine Landkarte studiert, das Hegau mehr als den Bodensee. Das Hegau ist gar keine üble Gegend zur Flucht, das muß man ihm lassen. Mit waldigen Köpfen oder kleinen Anhöhen, Kopf an Kopf, besät, so liegt es um die Festung da. Sie sind uns nachher oft doch etwas höher vorkommen, als man von oben meint; aber nichtsdestoweniger ein prächtiges Revier für Gäste, die aus dem Luftschloß zur schönen Aussicht abgereist sind; denn es reicht ein Wald dem anderen die Hand. Dazu hatten wir just die Zeit abgewartet, wo das Laub ausschlägt; es deckt einen doch besser, und der Wald sieht so traurig aus, wenn er nackt und kahl ist. Mein Kamerad – ja so, von dem hab ich dir noch gar nichts gesagt; hab ich dir nie von dem jungen Zigeuner erzählt, den ich einmal aus dem Zuchthaus mit nach Ebersbach gebracht hab?«
»Ja«, sagte sie, »du hast ihn bei deinem Vater als Knecht anbringen wollen, und der hat dir dafür eine Ohrfeig hingeschlagen.«
»Richtig, und der war mein Kamerad beim Ausfliegen. Ich hab ihn auf der Festung wiedergefunden. Der ist aber unter der Zeit flügg worden; das ist ein ganz Ausgelernter. Wiewohl, er war schon damals viel schlimmer, als ich ihn dafür angesehen hab. Was meinst, daß er zu mir gesagt hat? Es hab [] ihn höllisch verdrossen, daß es mit dem Dienstle nichts worden sei; er war ein paar Wochen dageblieben, hält unterdessen etliche Freunde herbeigezeiselt und in einer schönen Nacht das Ebersbacher Sonnenwirtshaus ausgeplündert.«
»Das ist aber ein schlechter Kerl!« rief sie zornig. »Dem hast mit deiner Bärenfaust eins gesteckt, gelt?«
»Lieb's Weib«, sagte er bedächtig, »wenn man miteinander aus Numero Sieben fortwill, so nimmt man's nicht so streng mit dem Glauben; da denkt man: du hilfst mir, und ich helf dir. Ich hab gerlacht und hab ihm gesagt, den Gedanken mit der ›Sonne‹ soll er sich vergehen lassen, da seien viel Leute drin und viel Leute in der Nachbarschaft, und an großen, starken Hunden sei auch kein Mangel – ich hab noch ein paar dazugemacht. Der scheele Christianus, so heißt man ihn, hat's in seiner Art gut mit mir gemeint und hat mich mit Gewalt mitnehmen wollen, hat mir auch das beste Leben versprochen und hat's nicht begreifen können, daß ich nach Ebersbach wolle, wo ich ja vogelfrei sei; aber ich bin fest dabei blieben, und so hat er mich zuletzt, ich muß sagen, recht ungern ziehen lassen, hat mir auch guten Rat und Anleitung geben zum Fortkommen, was ohne einen Zehrpfennig keine Kleinigkeit ist, und endlich hat er mir noch seinen Zinken, das heißt, sein Wappen oder Wahrzeichen, dergleichen jeder von ihnen sein eigenes führt, anvertraut. Es könnte ja doch sein, daß wir einmal einander brauchten, hat er gemeint, hat mir auch [] gesagt, wo ich ihn und die Seinen am leichtesten finden könne; und daran hab ich gesehen, daß er's treulich mit mir meint und auch mir von ganzer Seele traut, denn mit dem Zinken, wenn er ihn nicht ändert, hab ich ihn in der Hand und könnt ihn jeden Augenblick verraten. Das werd ich aber nie tun, obgleich seine Wege nicht meine Wege sind. Interessieren soll's mich aber doch, einmal sein Wahrzeichen zu sehen. Sie schneiden's in Bäume, selbst in Balken an den Häusern, wo sie vorbeiziehen, zeichnen's auch in den Staub oder in den Schnee; mit einem Strich dahinter zeigen sie ihren nachkommenden Kameraden den Weg an, den sie nehmen wollen, und mit kleineren Strichlein über oder unter dem großen bezeichnen sie, wieviel ihrer sind, Männer, Weiber und Kinder.«
»Das ist sinnreich«, sagte sie, »aber lieber ist mir's doch, du guckst nicht nach den Wahrzeichen.«
»Sei ruhig«, erwiderte er, »er wird nicht so leicht wieder ins Land kommen, der Geschmack an Ludwigsburg und Hohentwiel ist ihm vergangen. Nachdem wir auseinander waren, hab ich mich nach und nach Ebersbach zu geschlagen, um zu hören, wie es um dich steht. Vom scheelen Christianus hatte ich Unterweisung, daß ich, soviel möglich, bloß in einsamen Höfen und Häusern einkehren solle, denn dort seien sie gutwillig gegen fahrende Leute, fürchten den roten Hahn von ihnen aufs Dach gepflanzt. Ich hab aber nicht nötig gehabt, ihnen sonderlich zuzusetzen, denn sie haben mir überall gern gegeben, und nur mit dem Nachtlager haben sie sich [] ein wenig in acht genommen; aber es ist nirgends besser schlafen als im Wald zur Frühlingszeit.«
»Weiß nicht«, sagte sie.
»Hab nur noch ein wenig Geduld«, versetzte er, »wir sind bald am Ziel. Daß ich auf Lebenszeit verurteilt und von der Festung entsprungen sei, hab ich den Leuten natürlich nicht sagen können, hab auch gedacht, sie werden's nicht grad wissen wollen. Ich hab ihnen gesagt, ich sei am See in Arbeit gestanden, hab wieder heim gewollt, sei von Spitzbuben ausgeraubt worden und müsse jetzt eben sehen, wie ich nach Weilerstadt zurückkomme, wo ich bürgerlich sei; dort sind sie nämlich auch katholisch. Das hat gezogen, und bis ich ins Ländle kommen bin – das Hohentwiel liegt nämlich in fremdem Gebiet, was auch sehr bequem zum Entkommen ist – da hab ich so viel Geld und Lebensmittel im Tuch gehabt, daß es gereicht hat bis Ebersbach. Dort bin ich vierzehn Tag in der ›Sonne‹ gelegen und hab leider gehört, jetzt seiest du in Numero Sieben.«
»Was?« rief sie. »In der ›Sonne‹? Hat man dir denn dort Unterschlupf geben?«
»Ich hab mit dem Herrn Sonnenwirt Deutsch gesprochen und Fraktur mit der Frau Sonnenwirtin; denn solches ist nötig bei einem Weib, das kein Kind hat und nicht weiß, wie man sich gegen seine Kinder verhalten soll. Mitten in der Nacht bin ich ihnen vorm Bett gestanden, daß sie vor Schrecken schier gestorben sind, und hab ihnen gesagt, wo sie ein Geräusch machen oder mich verraten würden, [] so sollten sie meinen Ernst kennenlernen. Das hat denn auch gefruchtet, denn du kannst dir gar nicht vorstellen, wie mir das Herz übergegangen war, zuerst aus Freude, daß ich wieder in Ebersbach bin, und dann vor Zorn. Daß mir vollends Hohentwiel nicht zu hoch gewesen ist, wo sie mich so sicher verwahrt glaubten, wie das Kind in der Wiege, das hat sie ganz mürb und demütig gemacht. In der ersten Nacht haben sie sich in eine kleine Kammer verkrochen, und ich hab mich dann gutsmuts an ihrer Statt ins warme Bett gelegt, das mir, offen gestanden, doch ein wenig besser geschmeckt hat als das Moos im Wald, und hab dem Teufel ein Ohr weggeschlafen bis in den lichten Morgen hinein. Wie ich aufwach, ist mein Vater ganz schüchtern in die Kammer hereinkommen und hat sich zu allem Guten offeriert: er wolle mich in einem mir anständigen Versteck behalten, bis ich ausgeruht sei, denn ich war fast hin vor Mühseligkeit und jahrelanger Entbehrung, und meine Hände waren übel zugerichtet; daß ich in die Länge nicht bleiben könne, werde ich selber einsehen, weil's für mich nicht sicher sei; aber er wolle mir Geld geben zur Auswanderung nach Pennsylvanien, er hab's nur just nicht parat – du weißt, er hat's nie parat, wenn's ans Blechen gehen soll, mir hat's aber auch nicht pressiert, weil ich ohne dich doch nicht gangen wär; ich solle inzwischen nach Sachsenhausen zu seinem Bruder gehen, der mich schon einmal gut aufgenommen habe und gern behalten hätte; unter der Zeit könne man ja weiter sehen. Dabei ließ er einfließen, [] wenn er mit besserem Bedacht gehandelt hätte, so wäre manches anders ausgefallen. Du kennst mich: wenn man mir gute Wort gibt, so bin ich wie Butter. Zwei Wochen, wie ich dir sag, bin ich zu Haus still gelegen und ist mir nichts abgangen. Dann hab ich aber selber dem Landfrieden und der Frau Stiefmutter nicht mehr recht getraut, hab auch gedacht: und wenn ein Mensch das Fliegen lernte, so würd anfangs alles vor ihm niederknien und ihn anbeten, aber in vierzehn Tag wär's ihnen allen ein gemeines Wunder, um das sie nicht mehr viel gäben; hab mich also auf den Schrecken über meine Hohentwieler Flucht nicht zu sehr verlassen mögen. Mein Vater hat mir etwas Geld geben nach Frankfurt, und so bin ich fort, ohne daß meines Wissens der Amtmann nach mir gefragt hat. Wie ich bei deiner Mutter und den Kindern gewesen bin, das hast du nachher zu Haus selbst gehört. In Sachsenhausen ist mir's über die Maßen wohl gegangen, ich bin bei meinem Vetter wie das Kind im Haus gewesen, hab ihm geschafft, halb als Hausknecht, halb als Metzgerknecht, halb als Kellner, wie und wo man mich hat brauchen wollen, und wenn kein Ebersbach in der Welt wär, so hätt ich mir gar keine bessere Heimat wünschen mögen. Aber es hat mir fort und fort am Herzen genagt: daß mein Vater von seinen Anerbietungen gar nichts mehr hören ließ, hat mich verdrossen, und endlich hab ich von einem Landsmann erfahren, daß deine unfreiwillige Badreise jetzt zu Ende sei. Über das fügt sich's einmal, daß ich Gäste bedienen muß, und [] wie ich ihrem Gespräch aus der Ecke zuhöre, so braucht einer zufällig das Sprichwort: Ein Mann, ein Wort, oder ein Hundsfott! Sieh, Christine, wie ich das gehört hab, bin ich eigentlich schon so gut wie fort gewesen. Mein Vetter hat sich ein wenig vor den Kopf gestoßen gezeigt, daß ich nicht gut tun wolle; ich hab ihm aber gesagt, es reiße mich wie mit eisernen Haken nach Ebersbach, er solle mich in gutem Andenken behalten und mir den Platz nur ein Tag acht offen lassen, denn ich möchte gern wiederkommen. In Ebersbach aber war der Wind gänzlich umgeschlagen. Mein Vater hat mich gar nicht vor sein Angesicht kommen, sondern durch seine Frau bedeuten lassen, ich solle mich fortmachen, ich würde ihn nur um Hab und Gut bringen. Was ich mit ihm für ein Abkommen treffen will, darüber muß ich mich noch besinnen. Bei deiner Mutter hab ich dann erfahren, du seiest wirklich frei und im Schulhaus zu Neckardenzlingen im Dienst. Darauf hab ich gleich den Stab weiter gesetzt. Wie ich gestern abend über die Brücke gehe, seh ich Kinder da, spielen. Ich will freundlich auf sie zugehen. Sie aber mich erblicken und mit dem Geschrei: Der Sonnenwirtle! der Sonnenwirtle! wie das Mutisheer an mir vorüberstäuben, das war eins. Es hat mir weh getan, ich kann's nicht leugnen, zu sehen, wie mein Name den Weg vor mir fegt; aber ich hab's wieder abgeschüttelt. Meine Lagerstatt hab ich im Wald genommen, bin heut im Zickzack durch die Wälder herübergewandert, und da bin ich jetzt bei dir. Und hier ist auch [] unser Nachtlager, sieh, da tauchen die paar Häuser im Halblicht auf. Es regt sich nichts mehr, nicht einmal ein Hund, die Leut sind arm und haben nichts zu bewachen. Jetzt fallen wir still und säuberlich in die Scheuer ein, und da sollst du im Heu ganz fein gebettet schlafen. Morgen ist dann das Erzählen an dir, denn für heut ist genug erzählt.«
28
In der ersten Frühe weckte Friedrich Christinen und las ihr das Heu aus den Kleidern und aus den Haaren, wohin es da und dort unter dem Kopftuche eingedrungen war. Nachdem er mit ihrer Hilfe sein Äußeres gleichfalls etwas in Ordnung gebracht hatte, ermunterte er sie zum Fortgehen, ehe die Hausbewohner erwachten; denn, sagte er, wenn man den Leuten nachts in die Scheuer einbricht, und wär's auch nur, um ein wenig Nachtruh zu erbeuten, so hat man gleich den Kredit bei ihnen eingebüßt. Sie verließen den kleinen Weiler, der aus einigen ärmlichen Häuschen bestand, und schlugen einen schmalen Waldsteig ein. Der taufeuchte, frische Herbstmorgen machte Christinen vor Kälte zittern. Friedrich suchte einen freien Platz im Walde und hatte bald aus Reisern und dürrem Holze, das er hin und wieder abbrach, ein behagliches Feuer angemacht, neben welchem er das Weib seines Herzens auf seine Knie zog und so ihr ein hequemes Lager bereitete. »Das Frühstück«, sagte [] er, »müssen wir uns freilich hinzudenken; ich hab vor lauter Eifer und Heimweh nach dir vergessen, für Mundvorrat zu sorgen.« Sie versicherte, sie sei nicht hungrig, und auch er meinte, er habe sich in Sachsenhausen hinlänglich herausgegessen, um jetzt ein wenig fasten zu können.
»Laß dich einmal besehen«, sagte sie, aufschauend und munter werdend. »Siehst ja ganz proper aus, man sollt dich für 'n zünftigen Meister in irgendeinem Handwerk halten, das sein' goldenen Boden hat. Mußt die schönen Kleider schonen und nicht in Scheuern übernachten.«
»Das kommt anders«, versetzte er, »wenn wir einmal zum Land draußen sind.«
»Und recht mannhaft bist worden«, fuhr sie fort. »Hast ein gut's Gestell, so postiert und voll und dabei doch nicht zu breit. Dem Gesicht freilich sieht man an, daß manches drüberhin gangen ist wie ein schwerer Pflug. Man sollt dich für viel älter halten, als du bist. Wenn ich nicht wüßt, daß du kaum über siebenundzwanzig sein kannst, ich tät dich mindestens auf sechsunddreißig schätzen. Schad ist's, daß du oft auf einmal ein bißle wild und bös aussehen kannst, so daß man sich schier fürchten könnt. Aber ich darf freilich gar nichts sagen. Sieh mich an, was ich alt worden bin. Ach, ich muß oft denken, du könnest an meinen Runzeln keinen großen Gefallen mehr haben.«
Er hatte sie bereits betrachtet und in der Stille die Veränderungen wahrgenommen, die Zeit und Schicksal an ihr hervorgebracht hatten. Nicht eben Runzeln,[] aber hart eingegrabene Furchen zogen sich unter dem nicht mehr so weichen und hellgelben Scheitel quer über die Stirne, und eine senkte sich wie ein tiefer Einschnitt zwischen den Augen hinab. Doch lag in diesen Spuren nicht die eigentliche Verwüstung, die in dem einst so freundlichen Gesichte vorgegangen war. Auch sah es an sich selbst nicht auffallend gealtert aus, und in den treugebliebenen Zügen hatte keine häßliche Entstellung, wie sie oft mit den Jahren kommt, ihren Wohnsitz aufgeschlagen; aber die jugendliche Frische, die lieblich malende Zuversicht und Lebenslust war aus ihnen verschwunden und hatte sie verwandelt hinterlassen, wie das Morgenlicht, wenn es von einer Landschaft Abschied nimmt, dieselbe Gegend zwar in unveränderter Gestalt, aber arm, nüchtern und verkümmert hinterläßt.
»Du bist die Mutter meiner Kinder«, sagte er, »kannst nicht ewig jung bleiben. Diese Furchen sind mein Werk, denn du hast viel um mich leiden müssen; aber du siehst nicht so alt aus, wie du meinst, und wenn du einmal eine glückliche Hausmutter bist, so wirst du wieder jünger werden.«
»Gott geb's«, erwiderte sie, »denn so wie ich jetzt bin, bin ich doch zu alt für dich. – Ach, wenn ich dran denk, wie der Friederle auf die Welt kommen ist, 's sind jetzt bald sechs Jahr, wie bin ich damals in einem Umsehen so elend und wieder so reich gewesen! Wie ich gemerkt hab, daß mein Stündle kommen will, hab ich meinem Jammer kein End gewußt, bin allein auf der Bühne gelegen, mein [] Mutter hat gesagt, sie könn vom kranken Vater nicht weg, und mein Jerg hat sich verdingt gehabt nach Faurndau zum Dreschen. Über einmal hör ich auf'm Stiegle 'n Mannstritt, so gibt's bloß ein' auf der Welt, und wer kommt mir vors Bett und nimmt mich in Arm, während ich ihn im Zuchthaus gemeint hab? Und wie du mir die Hebamm hast geholt und die eine Kraftbrüh für mich verlangt hat, weil's hart gehen werd und ich so von Kräften sei, weißt noch? da hat mein arm's Lämmle dran glauben müssen, mit dem unsere Bekanntschaft angefangen hat. Ich hab nicht einmal um das Tierle weinen können, und du hast recht prophezeit gehabt, es werd eine Zeit kommen, wo mir etwas anders mehr am Herzen lieg. Und hart ist's auch gangen, ich will's nicht vergessen, aber wie's geheißen hat: ›Vater, hier ist dein Sohn!‹ ach Frieder, was ist das eine Seligkeit gewesen! Und nachher ist die Kathrine kommen und hat gesagt, sie sei jetzt mit einem wackeren Mann versprochen und mach sich nichts mehr aus der Amtmännin ihrem Zorn, und hat mich treulich gepflegt –«
»Ja«, sagte er, »darum hab ich auch ruhig wieder in mein Ludwigsburger Heimwesen zurückkehren können. Aber heut noch reut's mich, daß ich mich in Göppingen gestellt hab! Berichtet der Vogt nach Ludwigsburg, er habe den mittels Ausbruchs echappierten Gefangenen wiederum gefänglich zur Hand gebracht und schicke ihn hier wieder ein. Ausgebrochen war ich allerdings, das ist wahr, denn man hat mir keine Brücke gebaut; aber daß ich mich [] freiwillig bei ihm gestellt hab, davon hat er kein Wort geschrieben, sondern hat die Ehr allein haben wollen. So ein Vogt! was bild't sich der ein! es gibt auch Bettelvögte. Deswegen hab ich mich nach meinem zweiten Ausflug nicht mehr bei ihm, sondern unmittelbar in Ludwigsburg beim Kammerrat selbst gestellt. Der ist zwar rauhbauzig, wie man's von einem Zuchthausverwalter nicht anders erwarten kann, aber er hat doch gelacht und hat mir nun auch für meine frühere Versicherung Glauben geschenkt, so daß mir weiter nichts geschehen ist, als daß ich eben die paar Tag länger hab sitzen müssen.«
»Dein zweiter Besuch«, versetzte sie, »ach, der ist traurig gewesen.«
»Ja«, sagte er, »schon wie ich das Tal heraufkommen bin, bei Reichenbach, ich weiß nicht, ob du's einmal bemerkt hast, da ist in den Anhöhen eine Lücke, durch die der Staufen hereinschaut, und der hat damals so grau und trüb ausgesehen, daß ich gedenkt hab: ›Alter, bist auch traurig und hast mir eine Trauermär zu verkünden?‹ Wie ich aber nach Ebersbach kommen bin, hab ich deinen Vater wenigstens noch am Leben gefunden, und das wird mir wohltun, so lang ich leb. Christine! Respekt vor dem Mann! Der ist gestorben wie ein Patriarch! Er ist sein Leben lang in Armut und Demut und im Staub dahergegangen und hat selber nicht gewußt, was in ihm steckt, aber in der Todesstunde ist ihm der Geist mächtig auf die Zunge getreten.«
»Weißt noch, wie er uns gesegnet hat«, rief sie,[] »und dich absonderlich, weil dein Will vor Gott gut sei und dein Herz aufrichtig, und wie er dir alles vergeben hat, was ihm Leids durch dich geschehen ist?«
»Und dann seine letzten Worte!« rief er. »Wo hat man vom alten Pfarrer, der zu gleicher Zeit mit ihm gestorben ist, je etwas Ähnliches gehört! Und vollends vom jetzigen? Ja, wenn er nur ein einzigmal aus seinem Mund einen Hauch hätte gehen lassen von jenem Geist, ich hätte ihn und seinen Kelch und seine Hostien ungekränkt gelassen!«
»›Nicht bloß im Sonnenwirtshaus‹« – so versuchte Christine aus der Erinnerung nachzusprechen – »›auch unter der großen Weltsonn ist nicht alles, wie es sein sollt, und Gottes unerforschlicher Ratschluß läßt es zu, daß sein Will auf Erden nicht geschieht. Neid und Stolz regiert die Welt, und das Gericht wird hereinbrechen –‹«
»›Sie nennen sich seine Kinder‹« – unterbrach er sie, um die Erinnerung voller wiederzugeben – »›und sind doch nicht Brüder und Schwestern untereinander. Neid und Gewalt, Stolz und Habsucht regiert die Welt, und Gottes Ebenbild wird in der Armut unterdrückt. Die Welt liegt im argen, und ihr Maß steigt auf bis zum Rand, und unversehens wird ein Gericht hereinbrechen, das den Unschuldigen samt dem Schuldigen trifft, wie zur Zeit der großen Flut, wo der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar‹.«
»›Ich aber‹« – fiel Christine mit den Schlußworten[] ihres Vaters ein – »›ich fahr in meiner Arch, die mir der Schreiner zimmert, nach meinem Berg Ararat zu meinem Vater und zu eurem Vater und will schauen, was jetzt dunkel und verborgen ist, und will ihm sagen: Vater, segne, die hie nach mir bleiben, und führ sie endlich einmal sänfter, wenn dir's möglich ist, und laß sie deinen Frieden schmecken.‹ – Er hat das Wort nicht mehr ganz ausgesagt, fügte sie hinzu, ist zurückgesunken und entschlafen.«
Eine übermächtige Rührung überkam das so vieler Verwilderung preisgegebene Gemüt des Mannes, der sich nicht gescheut hatte, heilig gehaltene Geräte des Gottes, zu dem er betete, anzutasten. Er ließ sein Weib zur Erde gleiten, erhob sich in die Knie und rief, die Arme gegen den blauer werdenden Morgenhimmel ausgebreitet, unter strömenden Tränen: »Himmlischer Vater, gib uns deinen Segen um jenes Gerechten willen! Du bist ja mit den unvernünftigen Geschöpfen, die unter deiner Sonne wimmeln, und gibst ihnen Nahrung und Kleidung auf ihre Zeit. Trag und erhalt auch uns, die wir deine Kinder sind, und gib uns unser Brot, uns und unsern armen Kleinen. Führ uns aus diesem Land, wo Vater und Mutter hart sind, in ein milderes, das du uns verheißen mögest, laß uns vor dir wandeln und behüte uns, daß wir nicht mehr in Anfechtung fallen.«
Christine kniete neben ihm und schluchzte laut. Nachdem er geendet hatte, blieben beide noch lange auf den Knien liegen. Das Feuer sank allmählich in[] Kohlen und Asche zusammen, und durch die Gipfel der Bäume lächelte das Gestirn des Tages, das Wärme und Leben bringend über den Bergen aufgegangen war.
»Jetzt komm, Christine, wollen aufbrechen, die Sonne ist herauf, und die Kälte läßt nach«, sagte Friedrich, ihr Bündel ergreifend. Sie zogen schweigend und voll Gedanken durch die Wälder hin, die vom Fuße der Alb zwischen dem Neckar- und Filstal in das Land hineinlaufen. Hie und da führte der Pfad an einem einsamen Hofe vorüber, schlängelte sich aber gleich wieder dem Walde zu. In einem dieser abgelegenen Gehöfte wagten sie sich mit gestandener (saurer) Milch und etwas Schwarzbrot zu erquicken, hielten sich aber, da sie von den Leuten mißtrauisch angesehen wurden, nicht lange auf. Als sie wieder auf der Wanderschaft waren, sagte er endlich: »Jetzt ist das Erzählen an dir, Christine.«
»Das ist kurz beieinander«, versetzte sie, »mir ist nicht so viel vorkommen wie dir. Nach deiner Gefangennehmung, wo du nach Hohentwiel kommen bist, hat man mich auch ein wenig eintürmt.«
»Aber nichts auf dich bringen können, das weiß ich schon von deiner Mutter.«
»Nachher ist's eben wieder das alt Lied gewesen. Sie haben mich vor Kirchenkonvent zitiert und haben mich gefragt, wer der Vater zu dem Kind sei, mit dem ich geh.«
»Dann hast du gesagt, dein Mann?«
»Durch solche Reden hätt ich sie nur noch mehr[] wider mich in Harnisch bracht, und 's ist mir so schon schlecht g'nug gangen. Mein Jerg, das muß ich ihm nachsagen, hat wie ein Vater an mir gehandelt; er hat immer gegen mein Mutter gesagt, wenn du da wärst, so wär's dein Sach, für mich zu sorgen, aber wenn einer lebendig begraben sei, so könn man ihm nichts mehr zumuten. Das Wasser ist ihm aber selber oft bis an Hals gangen, und dann ist er oft fort gewesen, um sein Brot auswärts zu suchen. Ich hab vor Kirchenkonvent kaum stehen können, so schwach ist mir's gewesen. Der Schütz hat mich nachher mitgenommen, und er und sein Weib haben mir ein bißle zu essen geben; ich hab's auch angenommen, denn ich hab vielmals denkt, ich werd das Kind nicht lebig zur Welt bringen.«
»Er ist ein versoffener Lump«, sagte Friedrich, »aber er ist doch besser als mancher, der in der Tugend und in der Wolle sitzt. Wie's dem Armen zumut ist, das begreift doch nur wieder der Arme, aber eben darum können sie einander nicht viel helfen. Ich glaub, der Schlucker hat ein paar unerzogene Kinder.«
»Viere!« sagte Christine. »Er hat aber gesagt, du habest ihm hie und da einen Schoppen eingeschenkt, und das werd er dir gedenken. Die Herren haben mir nichts geben als böse Wort. Sie haben mir bedeutet, ich dürf mich nicht aus dem Flecken entfernen, weil die Sach ans löbliche Oberamt berichtet werden müss', von wegen deines bösen Lebens. Dort sind sie auch bald mit mir fertig gewesen. Ich hab mein Kind vor dürfen zur Welt bringen und ein [] paar Wochen pflegen, und dann hab ich eben ins Zuchthaus wandern müssen.«
»Auf zwei Jahr!«
»Nein, denk nur, auf unbestimmte Zeit, bis die Aufseherin mir das Zeugnis geben hat, ich sei jetzt so, daß man mich entlassen könn, und das ist bloß daher kommen, daß ich gehört hab, du seiest von Hohentwiel ausgeflogen, denn unartig bin ich zwar nie gegen sie gewesen, aber immer still, bis die Freud über mich reinbrochen ist, und dann hab ich ihr alles getan, was ich ihr an den Augen abgesehen hab, und zuletzt ist sie für mich gut gestanden, daß man mich hat springen lassen, weil ich jetzt ganz bessert sei.«
»Die Art gefällt mir erst noch«, bemerkte er. »Würd im Zuchthaus immer väterlich und mütterlich regiert, so daß das Haus seinen Namen verdiente und die Leute darin zur Zucht gebracht würden, so wär's das beste, sie auf unbestimmte Zeit hineinzutun, bis der Zuchtvater oder die Zuchtmutter sie wieder freisprechen würden, und bekäm das vielleicht manchem gut, der jetzt andere zum Zuchthaus verdammt. Und dann möcht man einen, der nicht gut tut, meinetwegen auf lebenslänglich drin lassen; nur weiß ich keinen Menschen, dem ich ein solches Urteil anvertrauen möchte, als höchstens meinem seligen Waisenpfarrer. Aber die gewöhnliche Art von Zuchthausstrafen – für das und das Vergehen soundsoviel Wochen oder Monate oder Jahre – das kommt mir immer vor wie ein Schneider, der einem soundsoviel Ellen zu seiner leiblichen [] Länge anmißt, oder auch, weil ich grad vom Wirtschaften herkomm, wie ein Speiszettel: Kalbsbraten tut soundsoviel, Hammelsbraten soundsoviel, Schweinsbraten soundsoviel, Wein, Nachtlager, Mittag-, Abendessen und Frühstück, alles zusammen einen Gulden und dreißig Kreuzer. Dann gibt's auch wieder gelindere Richter, die machen's wie ein sanftmütiger Wirt, der den Gast nicht mit einer runden Summe erschrecken will und statt des Guldens bloß neunundfünfzig Kreuzerle sagt. Bei einem Wirt ist das schon recht, und er mag zusehen, wie er eins ins andere rechnet und fertig wird, aber die Rechnung in Jahren, Monaten und Wochen nicht am Beutel, sondern an der lebendigen Seele eines Menschen ausgemessen – das ist eine Vermessenheit, und kann ich weder Sinn noch Verstand drin finden.«
»Wie ich wieder aus'm Zuchthaus kommen bin«, fuhr Christine fort, »hab ich gehört, du seiest dagewesen, aber seiest wieder fort in die weit Welt. In der ›Sonn‹ hat man nicht davon geschnauft, wo du bist Ich hab selber einmal angefragt, da hat mir die Sonnenwirtin ein Stückle Brot hingelegt und hat gesagt, du seiest ganz verschollen, und 's tät für mich und alle das best sein, du bliebest's auch. Ich hab das Brot liegen lassen und bin fort. Mein Jerg ist grad dazumal nicht zu Haus gewesen, und mein Mutter hat mich nicht behalten wollen, weil ich ihr eine unnütze Brotesserin sei, wiewohl sie eigentlich uns ihr Brot verdankt, denn sie ißt's eben mit unseren Kindern, die man ihr in Verpflegung geben hat.«
[] »Aus dem Heiligen?«
»Nein, so spendabel ist der Heilig nicht. Da hat's geheißen: ›Herr Sonnenwirt, Er ist ein reicher Mann, und die Kommun kann da nicht eintreten, also zahlt Er das Kostgeld für Seine Enkel‹.«
»Ist wahr, er hat mir einmal geklagt, die Kinder kosten ihn so viel Geld, und deswegen könne er das Geld zur Auswanderung nicht so geschwind aufbringen.«
»Solang mein Jerg dagewesen ist, hat's den Kindern an nichts gefehlt, seit der aber mehr und mehr fort ist, hat man anders für sie sorgen müssen. Wie nun mein Mutter mir hat zu verstehen geben, daß ich ihr überlästig sei, hab ich meine Kinder mit tausend Schmerzen küßt und hab das Herz in beide Händ genommen und bin nach Denzlingen gangen zur Schulmeisterin. Die ist zum Glück grad in der größten Verlegenheit gewesen und hat gesagt, ich hätt ihr nicht geschickter kommen können, sie hab eben eine Magd aus'm Dienst gejagt, die ihr gestohlen hab. Drauf hat sie zu ihrem Mann gesagt: ›Sieh, mit der äußerlichen Frömmigkeit sind wir angeführt gewesen, jetzt folg mir und hilf mir's auch einmal mit dem Weltkind da probieren; die ist kein Heilige und hat viel durchgemacht, aber vielleicht wird ihr auch viel verziehen, und ehrlich ist sie auf alle Fäll.‹ Er ist's dann zufrieden gewesen. Ob sie ihm alles von mir gesagt hat, weiß ich nicht, es ist nie zwischen uns die Red davon gewesen, aber ich hab in dem Haus gelebt wie im Paradies. Die Leut sind fromm, nicht bloß mit Morgenund [] Abendsegenlesen, sondern reden auch den ganzen Tag von frommen Sachen, wie's eben das Geschäft erlaubt, denn darin versäumen sie nichts; aber – ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll – in ihrem Christentum ist so etwas Gegenwärtig's, das nicht bloß hoch im Himmel droben oder weit fort im jüdischen Land, sondern mitten in Denzlingen drin ist und immer dem heutigen Tag und der jetzigen Stund gilt, ganz anders als man's sonst in der Kirch und im Leben trifft. Und grad so sind des Pfarrers auch, drum halten sie auch zusammen, wie man's selten bei Pfarrer und Schulmeister find't. Dabei sind sie allweil guter Ding und oft sogar recht lustig und zum Lachen aufgelegt, besonders der Pfarrer macht gern allerlei Späßle, und der Schulmeister antwortet ihm drauf, lassen sich auch nichts abgehen, wiewohl sie gar nicht dick tun und ihr Sach reichlich mit der Armut teilen. Aber freilich, sie haben's auch, und wer bei ihnen ist, wird alle Tage satt. Ich hab oft nachts vorm Einschlafen dran denken müssen, wie mir's so gut geht, und wo du jetzt auch umirren werdest, und ob meine arme Kinderle satt ins Bett gangen seien, denn ich sag dir's ungern, aber 's ist hohe Zeit, daß wir nach ihnen sehen: meiner Mutter ist das Tischtuch lieber als das Hungertuch, sie hat zwar nie viel gehabt, aber je ärmer sie wird, desto schleckiger ist sie, sie verschleckt alles, was sie kann.«
»Das muß aufhören«, sagte er. »Heut abend sind die Kinder da, wo sie hingehören: bei uns. Jetzt ist[] nur noch die Frage, wie ich mich mit meinem Vater auseinandersetzen soll. Seine Antwort hat mich wenig kümmert, ich hab vorher mit dir einig sein wollen. Hättest du jetzt eher Lust, aus deinem Paradies heraus mit mir nach Pennsylvanien zu gehen?«
»In den Mond, wenn's nicht anders sein kann«, erwiderte sie. »Die Hauptsach ist, daß wir beieinander sind, wir und die Kinder, drum hat's mir auch kein' Augenblick zweifelt, was ich tun soll. Aber hör, wenn's dein Vetter so gut mit dir meint, wie du sagst, könnten wir denn nicht bei dem ein Plätzle finden, oder tät er uns nicht zu einem verhelfen, daß wir nicht so weit fliegen müssen und unterwegs vielleicht die Flügel verstauchen?«
»Ja sieh«, antwortete er, »der Vetter hat's freilich gut mit mir vor, aber Welt ist überall Welt, er sieht auch aufs Greifbare und fragt nicht danach, ob's Motten und Rost fressen. Darum hätt ich ihm nicht meine ganze Absicht anvertrauen mögen, weil er mir mit einem einzigen Wort dazwischen hätt fahren können. Wenn ich aber mit dir und den Kindern da bin, so kann er auf keinen Fall verlangen, daß ich euch wieder heimschicken soll; und wenn alle Sträng brechen, nun, dann ziehen wir eben weiter, bringen uns im Krieg mit Marketendern fort oder gehen übers Meer.«
Sie sah ihn zweifelhaft an und schwieg, aber der heitere Schimmer von Hoffnung, der ihr Antlitz neu zu beleben begonnen hatte, wich allmählich wieder aus ihm, und jener Zug leidender Geduld und [] Entsagung, der den Frauen aus dem Volke einen so mitleiderregenden Gesichtsausdruck geben kann, nahm seine alte Stelle ein.
Der Wald öffnete sich, und vor den beiden Wanderern lag die Alb, an deren Fuße sich eine schmale Straße hinzog. »Wollen uns dem Bergsträßle da anvertrauen«, sagte er. Sie taten es, indem sie die Ortschaften, die ihnen in den Weg kamen, auf den durch die Felder führenden Fußpfaden umgingen. Die Sonne begann für einen Herbsttag ungewöhnlich heiß zu brennen, und ihre scheitelrechte Stellung zeigte den Mittag an. »Ich wollt, ich hätt was zu trinken«, seufzte Friedrich, »und wär's auch nur ein Schoppen Most oder Äppelwein, wie sie am Main drunten sagen.«
»Und mir tät ein Löffele Warm's noch nöter«, seufzte Christine ebenfalls.
»Gelt, arm's Weible«, sagte er, »dir ist's ungewohnt, mit langem kalten Magen zu wandern? Da hast Geld, geh du in das Ort da hinein und laß dir eine Suppe geben, kannst mir dann etwas zu trinken und ein Brot dazu herausbringen, das genügt für mich. Das Geld, das ich mir in dem halben Jahr zu Sachsenhausen erspart hab, muß für uns und die Kinder reichen. Ich will mich derweil unter den Baum in Schatten legen.«
»Meinst, es hab kein Gefahr«, fragte sie.
»Ich kenn mich so weit in der Gegend aus«, erwiderte er, »daß der Berg da über uns die Teck ist. Da herum sind wir ja ganz unbekannt. Du siehst aus, wie wenn du aus der Nachbarschaft wärst, und [] wenn ich in meiner städtischen Tracht zurückbleibe, so fällst du niemand auf.«
Er gab ihr Geld und seine leere Feldflasche und streckte sich bequem unter dem Baum aus, indem er sein dreieckiges Hütchen neben sich legte. In diesem Augenblicke kam ein Mann vorüber, der den gleichen Weg mit ihnen zu haben schien. Er blickte das fremde Paar mißtrauisch an und mäßigte seinen Gang, so daß er Christinen, die jetzt auf das Dorf vor ihnen zuschritt, immer auf dem Fuße folgte. Friedrich sah nach, und die Begegnung wollte ihm nicht recht gefallen; doch schien sie auch keine ernste Besorgnis einflößen zu können. Seine Augen begleiteten Christinen, bis sie in dem Dorfe verschwunden war: auch ihren Nachfolger verdeckten jetzt die Häuser. Er legte sich auf den Rücken zurück, sah in das falbe Laub und durch dieses zum blauen Himmel empor. Dabei vergegenwärtigte er sich, wie Christine auf ihre Suppe wartete, wie sie dann dieselbe empfing und wie sie sich endlich mit der gefüllten Flasche auf den Weg machte. Jetzt mußte sie wieder an den äußersten Häusern erscheinen: er sah hin, aber er hatte die Zeit zu kurz gemessen und sich verrechnet. Er legte sich wieder zurück und wartete geduldig; er hatte ja das Warten gelernt; aber endlich deuchte es ihm doch ziemlich lang. Er sah wieder hin: sie kam noch nicht. Nun zählte er bis auf eine bestimmte Zahl, die er sich vornahm, und da er zu schnell gezählt zu haben glaubte, so wiederholte er dieses Geduldspiel ein paarmal, jedoch umsonst. Endlich zählte er ununterbrochen [] und langsam, wie er meinte, bis auf hundert fort: Christine kam nicht. Jetzt begann es ihm unheimlich zu werden. Er stand auf und ging sachte auf das Dorf zu. Schon war er in die Nähe desselben gelangt, als er eine beträchtliche Menge bewaffneter Mannschaft, welche bei der Unsicherheit der Zeit in jeder Gemeinde schnell auf den Beinen war, herausdringen sah. Die einen waren mit Flinten, die anderen mit Spießen oder Prügeln versehen, und ihre Blicke ließen ihn nicht im Zweifel, wem dieser Ausfall gelte. Während sie sich rasch gegen ihn in Bewegung setzten, entsprang er in das Feld. Sie verteilten sich und suchten ihn einzukreisen, aber seine Schnellfüßigkeit hatte ihn bald in dem Dickicht des Waldes am Teckberge ihrer Verfolgung entzogen. Er schlug sich die Kreuz und Quere durch das Holz, bis er von einer sicheren Stelle auf den Boden, den er hatte räumen müssen, hinunterspähen konnte. Nicht lange, so sah er jenseits des Dorfes Bewaffnete, die ein Weib in der von ihm und Christinen beabsichtigten Richtung in ihrer Mitte führten. Er konnte nicht zweifeln, daß sie es sei, und konnte sich's ausmalen, wie der Mann, dem sie begegnet, die Anzeige gemacht hatte, sie gehöre zu einem verdächtigen Kerl, der sich nicht ins Dorf hereintraue. Seinen Namen hatte sie gewiß nicht angegeben, aber ohne Zweifel ihre Heimat, und wurde jetzt bis nach Göppingen von einer Streifmannschaft der anderen übergeben.
Er knirschte, biß sich in die Finger, daß seine Zähne blutige Spuren hinterließen, und blickte anklagend [] gen Himmel. »Also keine Ruh, keinen Frieden!« rief er, »wiederum hast du mich in die Wüste geworfen!« Dann machte er in Gedanken auch Christinen Vorwürfe, daß sie so ungeschickt gewesen sei, sich fangen zu lassen. Endlich schüttelte er sich unmutig, als ob er alle Gemütsbewegungen, mit welchen er sich vergebens peinigte, zu Boden werfen wollte. Mit einer gewaltsamen Kraft arbeitete er sich durch die Gebirgswälder hindurch, und das Gestrüpp krachte unter seinen Händen und Füßen, bis er endlich, halb erschöpft, abgelegene Pfade einzuschlagen wagte, die ihn in weiten Krümmungen seinem Ziele näher führten.
Der Tag hatte sich tief geneigt, als er auf diesen verborgenen Umwegen, todmüde vor Hunger und Anstrengung, auf einer vorspringenden Höhe herauskam und unter sich in der Breite des Tales die Stadt liegen sah, von wo aus er so oft in die Gefangenschaft gesendet worden war und wo nun auch Christine abermals ihr Schicksal erwarten sollte. Ihr freundlicher Anblick stimmte schlecht zu der Unglücksbedeutung, die sie für ihn und die Genossin seines irren Lebens angenommen hatte. Seine Blicke, von Erschöpfung verschleiert, schweiften unstät in die dämmernde Landschaft hinaus. Plötzlich taumelte er zurück, von einem Schreck ergriffen, der ihm das Blut in den Adern stocken machte. Was war es, das ihm vor die Augen getreten war? Es sah aus wie der Schatten eines aufgehobenen Riesenfingers. Mit einer wilden Aufraffung kämpfte er den Schrecken nieder, rieb sich die Augen aus und [] sagte laut und zornig, während ihm doch die Stimme bebte, vor sich hin: »Dummes Zeug, es ist ja nichts als der Staufen.«
Der wunderschlanke Berg war ihm einen Augenblick zum Schreckgespenst geworden. Auch mit ihm glaubte er in seinem anklägerischen Wahne rechten zu dürfen. »Was willst du mich warnen?« fragte er; »bin ich denn auf bösen Wegen? Ich will ja nur bei meinem Weib und meinen Kindern sein!«
Er lachte verächtlich. »Ist just die rechte Zeit zum Gespenstersehen«, sagte er. »Gespenster hätten jetzt gute Gelegenheit, mir Gesellschaft zu leisten. Nur herzu, wenn's beliebt.«
Er warf sich zu Boden und rang mit der Empörung seiner Pulse und seiner Gedanken, bis endlich ein später Schlaf sich des gehetzten Wildes erbarmte.
29
Der Amtmann von Ebersbach saß im Armstuhl vor seinem Schreibtisch zurückgelehnt, so daß sein Schlafrock von Damast mit großen Blumen auseinandergefallen war und die lange goldbordierte Weste nebst dem goldenen Uhrgehänge über dem stattlichen Leibe sehen ließ. Er war bis zu den seidenen Strümpfen und den Silberschnallenschuhen herab so vollständig angekleidet, daß er nur den Schlafrock wegzuwerfen und in den Tressenrock zu schlüpfen brauchte, um eine Staatsvisite zu machen [] oder zu empfangen. Dieser Voraussetzung widersprach jedoch sein Haarbeulel, der, entweder nachlässig gebunden, oder infolge unruhiger Bewegungen des Kopfes wieder aufgegangen, in trauriger Unordnung über die Lehne herabhing und seinen Puder auf den Boden verstreut hatte, dabei aber vollkommen zu dem Gesichte seines Trägers stimmte, in dessen Zügen der äußerste Verdruß zu lesen war.
Die Amtmännin trat in der Hausjacke und Morgenhaube herein. »Schauderhaft!« rief sie und beeilte sich, den anarchischen Haarbeutel wieder in die Schranken der Ordnung zurückzubringen. Dann legte sie die Hand auf die Stuhllehne und blickte ihren Gatten aufmerksam an. »Du bist nicht gut bei Laune, mein Schatz«, begann sie endlich.
»Man kann nicht immer bei Laune sein, mein Schatz«, erwiderte der Amtmann, dem die Verbesserung seines Kopfputzes unbequem gewesen sein mochte, obgleich er dabei stillgehalten hatte.
»Und dein Gesicht«, fuhr sie fort, »nimmt neuerdings eine gewisse blaurötliche Färbung an, die mir Besorgnis einflößt. Du solltest dir mehr Bewegung machen, du steckst noch so tief in den Wintergewohnheiten. Der Schnee ist weg, das Wetter macht sich leidlich: soll ich dir nicht deine Jagdstiefeln bringen lassen?«
Der Amtmann wendete sich unmutig ab. »Du könntest mich ebensogut vergiften, Sibylle«, sagte er, »als mir einen solchen Rat geben.«
»Ich kann dich nicht kapieren, Daniel!« erwiderte sie befremdet und scharf, denn sie war dieses Tones[] von ihrem Manne ungewohnt. Als Leute, die mit der Zeit fortgeschritten waren, liebten beide die von ihren altmodischen Eltern ihnen in der Taufe beigelegten Vornamen nicht sonderlich und pflegten sich deshalb nur dann bei diesen Namen zu nennen, wenn sie von einer etwas stechenden Laune gegeneinander befallen waren.
Der Amtmann, der das Nachgeben mehr durch die Leitung als durch das eigene Beispiel seiner Frau gelernt hatte, dämpfte seinen Ton ein wenig und sagte erläuternd: »Du scheinst nicht daran zu denken, daß der vermaledeite Bursche, der Sonnenwirtle, in den Wäldern haust. Sonst sollte mich der Winter nicht von der Jagd abgehalten haben. Mein ganzer Chagrin rührt ja einzig und allein von diesem Lotterbuben her.«
»Er hat noch niemand angefallen«, sagte die Amtmännin. »Er holt sich hie und da Viktualien, wo er sie findet. Das ist alles. Und du kannst ja Mannschaft genug mitnehmen.«
»Du bedenkst gar nicht, daß er auf mich eine spezielle Pike hat«, versetzte der Amtmann.
»Ich halte ihn nicht für so rachsüchtig«, erwiderte sie. »Bei seiner Kühnheit, Stärke und Verschlagenheit hätte er sonst hier, wo er doch manchen haßt, schon das größte Unheil anrichten können.«
»Wer steht dir dafür, daß es nicht noch geschieht?« rief der Amtmann. »Solang seine Konkubine in Göppingen gefangen sitzt, wird er sich hüten, die Strenge des Gesetzes gegen diese Geisel herauszufordern. Wenn sie aber einmal frei ist, und ewig [] behalten kann man sie nicht, weil sie nichts Erweisliches pecciert hat, so wird er schon die Hörner herausstrecken. Ich seh es kommen, daß er das Handwerk, wenn's im kleinen nicht mehr geht, ins große ausdehnt und sich in den Orden der Jauner aufnehmen läßt.«
»Nun, diese gibt's wenigstens in unserer Gegend nicht.«
»Sie sind überall und nirgends: wenn sie heute ausbleiben, so sind sie dafür morgen da. Diese politischen Blutigel, die sich auf mehrere Tausende belaufen mögen, scheinen eine inexstirpable Landeskalamität zu sein. Sie kosten der Gesamtheit der verschiedenen Dominien in Schwaben jährlich Hunderttausende von Gulden, teils an Erbetteltem und Gestohlenem, teils an Unkosten, die gegen sie aufgewendet werden müssen. Ich glaube auch nicht, daß man eher mit ihnen fertig wird, als bis statt der ohnmächtigen General streifen des schwäbischen Kreises einmal das ganze Land in Masse wider sie aufsteht, sie auf einen Punkt zusammentreibt und alles über die Klinge springen läßt. Und ich habe eine Ahnung, dieses Scheusal von einem Menschen wird sie uns noch auf den Hals ziehen, um sein Mütlein an uns zu kühlen.«
»So benutze die Zeit, eh sie kommen, zu einer Erholungsreise, wenn dir kleinere Ausflüge nicht zusagen.«
»Hat sich was zu reisen!« rief er ärgerlich. »Dieser Auswurf der Menschheit hält mich ja wie einen Hund an der Kette fest. Alles zittert vor ihm: [] wenn ich fortginge, so liefe mir der ganze Flecken nach. Und dennoch könnte ich mich bemüßigt sehen, ein wenig nach Stuttgart hinabzufahren und unseren Gönnern in der Regierung aufzuwarten, um den üblen Insinuationen des Vogts zu begegnen, der seine Angst vor diesem Cartouche an mir Unschuldigem auslassen will und mich unaufhörlich mit Vorschriften tormentiert und mit Vorwürfen überhäuft. Fürwahr, der hat den Titel Expeditionsrat nicht umsonst. Er expediert einen Erlaß um den andern daher und wird den Flecken, wenn es so fortgeht, noch an den Bettelstab expedieren, aber der ganze Stoß« – er warf bei diesen Worten den Haufen der vor ihm liegenden Ausschreiben unwillig durcheinander – »hat bis jetzt keinen Hund aus dem Ofen gelockt.«
»Er ist seinerseits in der nämlichen üblen Lage wie du«, bemerkte die Amtmännin, »wenn der Wildfang sich sehen läßt, so schreit der ganze Flecken zusammen, dann bist du genötigt, einen Bericht nach Göppingen zu schicken, und das nötigt dann wiederum den Vogt, sich den Kopf zu zerbrechen, um auf den Bericht mit irgendeiner neuen Maßregel zu dienen. Auf diese Weise macht man sich gegenseitig das Leben sauer.«
»Und wie!« rief der Amtmann, der in seiner Erbitterung über den Vorgesetzten die vorübergehende Aufwallung gegen seine Frau vergaß und wieder zutraulich wurde. »Ich mag von den Wischen aufschlagen, welchen ich will, immer ist ein Stich für mich darin.«
[] Er gab ihr einen der Erlasse, und sie las halb mit Lachen, halb ärgerlich: ›Wohledler, vielgeehrter Herr Amtmann! Ich vernemme, daß die Anstalten, welche der Herr Amtmann bis dahero zur Beifahung des von der Festung echappierten Böswichts Friedrich Schwanen gemachet, nicht die beste gewesen und daß dardurch nur große Kosten gemachet, in der Hauptsach aber nichts gerichtet werde, wie es auch der Effekt selbst gegeben, da es zumalen gut gewesen wäre, wann die Haussuchung unterblieben und dagegen das Müllerische Haus ex improviso überfallen worden wäre.‹
»Sapperment!« rief der Amtmann dazwischen, »wenn der Einfaltspinsel von Fischerhanne ihm hinterbracht hätte, der Schurke stecke drin, so würde er eben auch Haussuchung gehalten haben, bis er ihn gefunden oder – nicht gefunden hätte. Was hilft mich's aber, das Haus zu überfallen, wenn ich ihn nicht drinnen weiß.«
›Es wolle dahero‹ – fuhr sie fort zu lesen – ›der Herr Amtmann die bisherige nächtliche Patrouille abgehen lassen und dagegen ein paar vertraute Mann als Spionen bestellen, die etwan Nachbarn von dem Müllerischen Haus und in der Stille auf des Schwanen Aus- und Eingang Achtung geben, und alsdann in tempore davon Anzeige machen lassen. Da mir auch ferner bekannt, daß sich der Schütz fast täglich berausche‹ – »das ist wahr«, bemerkte sie dazwischen – ›mit versoffenen Leuten aber nichts zu richten, sondern durch deren Ungeschicklichkeit alles, zumal bei einem solchen Böswicht, verraten [] seie, so wolle der Herr Amtmann ihne Schützen zur Nüchternheit ermahnen und ihme dabei bedeuten, daß, wann ich noch ein einigsmal höre, daß er sich voll trinke, ich ihne ohne weiteres abschaffen werde.‹ »Mein Gott!« bemerkte sie, »was schreibt der Mann mesquin! Dein Geschäftsstil atmet zwar auch nicht gerade Rosen und Lilien, aber mit dieser Diktion da verglichen, liest er sich wie ein französischer Roman.«
»Den Schützen habe ich tüchtig abgekapitelt«, sagte der Amtmann. »Bei einem solchen Geschäft könnte übrigens der Solideste aus der Art schlagen lernen, geschweige der alte Zapf von Haus aus. Da er noch von allen am meisten vertragen kann, so wird er dazu gebraucht, in den Wirtshäusern umherzuspionieren, ob man's nicht irgendwo in der Stille mit dem Verbrecher halte. Da muß er nun überall pro forma seinen Schoppen trinken – ich selbst hab ihm schon Geld dazu gegeben – und so kommt er gewöhnlich in einem Sarras und rapportiert, der Spitzbub sei just vor ihm dagewesen, er habe ihn aber nicht mehr angetroffen.«
Die Amtmännin nahm sich die Freiheit, in den Ausschreiben zu kramen und einzelne Stellen halblaut zu lesen. ›Um den Flecken Posten ausstellen‹, las sie, ›sämtliche Metzger mit ihren Knechten dazu beordern, mit Gewehren in Händen, wozu insonderheit des Schwanenwirts zu ziehen.‹
Sie blickte den Amtmann fragend an. »Freilich!« lachte dieser, »weil der Sonnenwirt Schwan heißt, so schreibt er immer: der Schwanenwirt.« – Er [] nahm einen Erlaß aus dem Fache und deutete auf eine Stelle. »Sieh, so schrieb er damals, als der Fleckenschaden nach Hohentwiel verurteilt wurde: ›Es ist dem Schwanenwirt zu bedeuten, daß er cum venia ein paar Schuh und etliche Kleidung schicken, übrigens aber sich getrösten solle, daß sein boshafter Sohn ihme künftighin in seinem Leben keinen Verdruß mehr machen werde.‹«
»Darin ist er kein Prophet gewesen«, sagte die Amtmännin lachend. Sie las weiter: ›Dafern sie etwas Verdächtiges vermerken, die Hunde laufen lassen, und mit Behutsamkeit anhetzen.‹ »Das ist wirklich komisch!« rief sie, und beide brachen in ein schallendes Gelächter aus. ›Verspreche mir übrigens wenigen Effekt‹, las sie weiter und setzte hinzu: »Ich auch.«
»Natürlich«, sagte der Amtmann, »schon deswegen, weil der abgefeimte Schurke mit allen Hunden im Flecken auf dem besten Fuße steht. Ich weiß nicht, was er für Jaunerkünste dabei anwendet.«
Die Amtmännin griff nach einem anderen Schreiben und las: ›Bei der geringsten Spur wiedermalen Sturm schlagen lassen‹ –
»Das ist nonsens!« rief der Amtmann. »Das tu ich nicht. Das brächte mir den Flecken vollends bei der ganzen Umgegend in Mißkredit. Sie kämen ja, weiß Gott, mit Spritzen angefahren, wenn sie die Sturmglocke hören würden, und wenn sie dann erführen, daß es sich um den einzigen Höllenbrand handelt, so wäre des Gelächters kein Ende.«
›Allen Burgern‹, las sie weiter, ›bei hoher und Leibesstraf [] injungieren, sich ohne Widersetzlichkeit dem Streif zu unterziehen, welcher Veranstaltung der Herr Amtmann auch herzhaft vorangehen und zu hoffentlich mehrerer Autorität selbsten beiwohnen solle.‹
»Sehr obligiert!« bemerkte der Amtmann und sah halb spöttisch, halb wehmütig nach dem Fenster, um welches milde Sonnenstrahlen spielten, die nach der Wintergefangenschaft zum Genuß der Freiheit einluden.
»Du solltest ihn auf eine Jagdpartie bitten«, bemerkte die Amtmännin. »Was schreibt er denn da? Das scheint mir lateinisch zu sein: ›more solito negligiret‹.«
»Er wirft mir vor«, sagte der Amtmann im höchsten Unmut, »als hätte ich die Sache in gewohnter Manier gehen und liegen lassen. Das ist nicht nur eine Unwahrheit, das ist eine hämische Kalumnie. Er hat's nötig, dergleichen Reprimanden einfließen zu lassen. Wer die Sache auf eine negligeante Art behandelt, das ist er. Das eine Mal hat mir der Postillon geklagt, er sei abends vor sechs Uhr in Göppingen eingetroffen, habe aber zwei Stunden warten müssen, bis er vorgelassen worden sei. Ein andermal hab ich den Expressen um zwei Uhr von hier abgefertigt und den Bescheid erst nachts nach neun Uhr erhalten. Ich habe mir aber alle diese more-solito-Negligenzien in margine notiert, damit ich mich gegen ihn rechtfertigen kann, wenn er mich zu Stuttgart ins schwarze Register bringen will.«
»Da haben sie jetzt an andere Dinge zu denken«,[] sagte sie. »Wie ich höre, beginnt der landschaftliche Ausschuß sehr schwierig zu werden und wird ihnen wenig Zeit lassen, sich mit kleineren Händeln abzugeben.«
»Nein, nein!« rief der Amtmann. »Das verstehst du nicht, so spitzfindig du bist. Gerade dann sind sie am aufgelegtesten, einen einzelnen Beamten als Sündenbock zu massakrieren, um zu beweisen, daß die Schreier unrecht haben.«
»Da würd ich doch zuerst trachten, mich mit dem Vogt in eine bessere entente zu setzen«, sagte sie. »Ein Vorgesetzter behält gar zu leicht das letzte Wort. Ich kann ihn durchschauen und gebe dir völlig recht: hinter dem ganzen bruit von Regieren und Ordonnieren steckt nichts als die Angst vor diesem Teufelsbraten, dem Sonnenwirtle. Es ist ihm nicht wohl, solange er seine Chloe in Verwahrung hat.«
»So soll er sie ins Henkers Namen laufen lassen!« polterte der Amtmann, der in seinem Ärger sich nicht bewußt war, wie sehr dieser Rat seiner kaum zuvor ausgesprochenen Besorgnis widersprach. »Wenn ich vorausgesehen hätte«, seufzte er dann, »daß mir die Vereitelung dieser einfältigen Heirat solch maß- und zahllose Inkommoditäten zuziehen würde, ich hätte selbst den Brautführer oder wenigstens den Vermittler beim Sonnenwirt gemacht. Vielleicht wäre der Bursche doch noch eingeschlagen.«
»Sie würden nie füreinander gepaßt haben«, versetzte die Amtmännin mit entschiedenem Tone. »Sie ist zu schwerfällig für ihn, und hoch hinaus hätt er jedenfalls immer gewollt.«
[] »Wenn er's nur schon so hoch gebracht hätte, wie ich's ihm wünsche!« seufzte der Amtmann.
»Bei alledem«, fuhr die Amtmännin fort, »hat die unüberwindliche Anhänglichkeit an diese Person, die eigentlich das Unglück seines Lebens ist, etwas Chevalereskes. Ich muß oft denken: Schade um den Menschen! Unter anderen Umständen würde vielleicht etwas Importantes aus ihm geworden sein. Gestehen wir uns nur: ein Bursche, der einen ganzen Flecken samt Amtmann und Vogt im Schach hält, der sich nicht bloß in der Nacht, sondern am hellen Tag, wenn's ihm konveniert, im feindlichen Lager blicken läßt, in die Wirtshäuser sitzt und allen aufgewendeten Maßregeln zum Hohne in keine Schlinge geht, der ist kein gewöhnlicher Mensch, der hat etwas von einem coeur de lion an sich.«
»Wenn meine Frau Gemahlin jünger wäre«, bemerkte der Amtmann beißend, »so könnte mich nahezu der Argwohn befallen, sie wünschte seine Christine zu werden, damit dann zwei hochstrebende Geister beieinander wären. Falls du übrigens Lust hast, den Löwen in seiner Höhle zu besuchen, so will ich nicht eifersüchtig sein, andererseits aber auch keine Verantwortung übernehmen.«
»Es fragt sich, ob die Gefahr so groß wäre«, erwiderte sie scherzend.
Man hörte einen Hufschlag, und bald darauf trat der Amtsknecht in das Zimmer und übergab ein Schreiben mit den Worten: »Von Göppingen durch Expressen.«
»Schon wieder!« seufzte der Amtmann verzweiflungsvoll. [] Er erbrach das Siegel und las seiner Frau, nachdem der Diener sich entfernt hatte, das amtliche Schreiben vor: ›Wohledler, insonders‹ »et caetera«. ›Da ich vernemme, daß der Erzböswicht Schwan immerhin um Ebersbach herumschwärme und den Flecken in Sorgen und Ängsten setze, als wolle der Herr Amtmann, um einen Versuch zu machen, ob er nicht durch Finessen wiederum zur Hand zu bringen, dessen Vater, den Sonnenwirt‹ – »endlich schreibt er doch einmal den richtigen Titel« – ›auf den Abend zu sich berufen und ihm in der Stille die Anleitung geben, daß er des Nachts die alte Müllerin zu sich in ein besonderes Zimmer kommen lassen und simulieren solle, als wann er aus großer Angst sich resolviert, seinem Sohn die versprochene vierhundert Gulden, und zwar zweihundert Gulden bar, zweihundert aber, wenn er in Pennsylvanien wirklich angekommen, zu geben, ihro auch wirklich, um es ihm zu bringen, etlich Gulden behändigen, und täglich heimlich vor die Kinder essende Waren zu schicken, und mit dem Geld guldenweis zu geben, um ihn sicher und in die Wirtshäuser der Nachbarschaft schwärmend und ihne vollsaufend zu machen, kontinuieren solle, was sich aber so ein als andernfalls von Zeit zu Zeit darauf ergebe, um die Messures‹ – beide lachten – ›darnach nemmen zu können, dem Herrn Amtmann zu hinterbringen. Sollte durch diesen Modum der Böswicht nicht zur Hand gebracht werden können, werde ich inzwischen auf etwas anderes raffinieren‹ – »raffinier du und der Teufel!« bemerkte der [] Amtmann – ›und nicht nachlassen, bis ich dessen habhaft geworden. Unterdessen ist alles möglichst geheimzuhalten. Mit göttlichen Schutzes Erlassung verharrend‹ »et caetera«.
»Das Raffinement ist übrigens doch nicht so gänzlich aus der Luft gegriffen«, bemerkte die Amtmännin, welche aufmerksam zugehört hatte. »Und zwar könnten wir vielleicht noch einen Schritt weiter gehen. Daß er seine Kinder bei der Großmutter fleißig besucht, obgleich es bis jetzt nicht gelungen ist, ihn daselbst aufzuheben, darüber kann nach seinem ganzen Temperament und Charakter kein Zweifel sein. Nun käme es nur darauf an, ob man nicht das alte Muster, statt sie durch einen zweifelhaften Versuch mißtrauisch zu machen, ins Komplott ziehen sollte.«
»Meinst du?« fragte der Amtmann überrascht.
»Natürlich müßte man da sehr reserviert zu Werke gehen. Wenn es aber gelänge, so dürften der Herr Vogt und Expeditionsrat alle ihre erlassenen Nasen wieder einziehen, und sollte ihnen dero hohes Haupt darüber zu einem Gebirg anschwellen. Über die Hauptfrage kann vielleicht am besten der Schwanenwirt, wie der gestrenge Herr sich sonst auszudrücken beliebt, Auskunft geben.«
»So sende nach ihm.«
»Auf den Abend.«
Während sie sprach, klopfte es schüchtern an die Türe. »Herein!« rief der Amtmann gebieterisch im Gefühl seiner Amtswürde und der erlittenen Störung. »Ah!« sagte er, als die Türe aufging, »wenn [] man den Teufel an die Wand malt, so erscheint er auch sofort.«
Der Eintretende sah aber keinem Teufel, oder wenigstens, wenn das Bild auf ihn passen sollte, einem armen Teufel ähnlich, nicht nach seiner äußeren Erscheinung, denn diese zeigte den wohlhabenden Bürger und Meister, wohl aber nach seinem niedergeschlagenen, sorgen- und kummervollen Aussehen. Es war niemand anders als der Sonnenwirt selbst. Er war alt, grau, dünnhaarig und gegen seine Oberen womöglich noch demütiger geworden. »Wenn's der Herr Amtmann nicht ungütig nehmen«, begann er nach einer tiefen Verbeugung und angelegentlicher Erkundigung nach dem beiderseitigen Wohlbefinden, »so hätte ich eine Beschwerde wider den Kreuzwirt anzubringen. Es ist doch arg, wenn sich ein rechtschaffener Burgersmann von seinem Mitbürger und Mitmeister so unrechte und ungebührliche Sachen sagen lassen soll, wie der Kreuzwirt in dem Brief da schreibt.«
Der Amtmann überflog den Brief, den ihm der Sonnenwirt reichte, und las halblaut murmelnd einzelne Stellen ab: »›Es will hiermit Unterzogener gegen den Sonnenwirt Schwanen nicht allein seine Grausamkeit erinnern, die er vor etlichen Jahren durch seinen eigenen Sohn an meiner Person ausüben lassen.‹ – Das alte Lied!« bemerkte der Amtmann dazwischen.
»Er behauptet immer, er sei damals zum Krüppel geschlagen worden«, sagte der Sonnenwirt, »und es ist doch alles nicht wahr.«
[] »›Solch gottloses Anstiften‹«, las der Amtmann weiter, »›legt sich desto glaublicher wirklich an Tag, da der Vater aus einer sonderbaren Rachgier mich noch obligieren will, Post zu reiten, da ihme doch bekannt, daß ich weder mir noch den Meinigen etwas zum Nutzen schaffen kann, so sucht er dannoch mir aufzubürden, was er zu tun schuldig. Es ist bekannt, daß nicht allein die Metzger wegen seines übel erzogenen Sohnes viele Posten prästieren müssen, sondern auch neben diesem mußte die ganze Burgerschaft wegen einer solchen schönen Frucht nicht allein fatigieret werden, sondern auch noch großen Schaden leiden. Der Schwan hat immerdar nach einer Post getrachtet – – – jetzt hat er das Postreiten, aber nicht nach seinem Sinn – – – eigennützige Konzessionen im Metzgerhandwerk – – – durch Geld und Arglist seinen Mitmeistern das Brot aus dem Mund genommen‹ –. Ein unverschämter Kalumniant!« unterbrach sich der Amtmann, »was die Obrigkeit anordnet, das soll ihr durch Geld und Arglist abgedrungen worden sein?«
»Das murmelt er beständig an alle Nachbarn hin, wie mir erzählt worden ist«, sagte der Sonnenwirt.
»›Dieses Postrittprästieren‹«, las der Amtmann weiter, »›zeugt von seines Herzens heimlicher Bosheit; der Sohn zeugt vom Vater; da dieser damals im Beisein meiner sagen dörfen, sein Sohn habe mir recht getan, so möchte ich nun wissen, ob er auch recht getan, da er vor etlich Jahren seines Vaters Haus bestiegen, sich noch rühmte, wie künstlich und [] geschickt er wäre, jedoch ein schlechtes Jubiläum von den Zuschauern erhielte, sondern von männiglich als ein erschreckliches Exempel angesehen wurde‹ – und so weiter. Dummes Zeug! Ich werde den Briefschreiber für seine unverständigen Lästerworte um einen kleinen Frevel strafen. Ist Er damit zufrieden?«
»Aufzuwarten, Herr Amtmann, ich sag meinen gehorsamen Dank«, antwortete der Sonnenwirt und verbeugte sich.
»Hat Er ihn denn zum Reiten beordert?«
»Da der Herr Amtmann befohlen haben, daß ein für allemal auf jeden Tag in der Woche ein berittener Mann als Expreßpostillon parat sein solle, so hab ich als Obermeister dem Kreuzwirt den nächsten Ritt auferlegt.«
»Da er eine wenig erbauliche Figur zu Pferd machen wird, so ist er dieser Prästation zu entlassen«, verfügte der Amtmann.
»Wenn's der Herr Amtmann nicht ungnädig nehmen wollten«, wagte der Sonnenwirt einzuwenden, »es ist auch das eine von meinen vielen Sorgen und Verlegenheiten. Die ganze Metzgerzunft wird mir aufsässig wegen des beständigen Reitenmüssens, so daß ich nächstens nicht mehr weiß, wem ich den Tag ansetzen soll. Sie klagen, es koste sie so gar viele Zeit und bringe sie im Verdienst zurück. Ein mancher kommt gar nicht mehr zu mir zur Zech, und das ist mir ein empfindlicher Verlust.«
»Es ist aber auch keine geringe Last für die Leute«, sagte der Amtmann. »Darin hat der Kreuzwirt[] recht, daß Sein entarteter Sohn dem Flecken einen horrenden Schaden zufügt. Wenn alle leiden müssen, so darf Er am wenigsten zurückstehen. Es wäre vielleicht doch gescheiter gewesen, Er hätte fünfe grade sein lassen und die Mariage zugegeben.«
Der Sonnenwirt fühlte sich wie zu Boden geschmettert. Derselbe Mann der Autorität, der sich so durchgreifend gegen diese Heirat erklärt und seinen Arm zu ihrer Hintertreibung hergeliehen hatte, machte ihm jetzt Vorwürfe, daß er seinem Sohne nicht den Willen gelassen habe. Er sah den Amtmann mit einer flehenden Jammermiene an, verstummte aber unter der Bürde, die ihn niederdrückte.
Die Amtmännin kam ihm zu Hilfe und erinnerte ihren Mann, daß, wenn sein Vorwurf begründet wäre, er ihn nach seinem eigenen Geständnis ebensogut und noch stärker treffen würde als den Sonnenwirt.
»Ach Gott!« sagte dieser, dankbar für den Beistand, »wenn Sie erlauben, Herr Amtmann und Frau Amtmännin, ich hab überhaupt schon lange Zeit keine gute Stunde mehr in meiner Familie. Seit mein Sohn amtlich für einen Erzböswicht erklärt worden ist und jetzt natürlich nichts mehr an mir erben kann, wenn ich ihn auch einsetzen wollt, seitdem ist der Hader zwischen meinem Weib und meinen Tochtermännern los. Sie liegt mir immer an, ich soll ein Testament zu ihren Gunsten machen, und das müssen die beiden anderen, der Chirurgus voran, gemerkt haben.«
»Sie hat ja keine Kinder«, bemerkte der Amtmann.
[] »Wohl 'geben, aber sie hat Verwandtschaft, die sie auf die ›Sonne‹ bringen möcht.«
»Da würde ich vor allen den Chirurgus bedenken«, riet der Amtmann. »Der Mann hat savoir vivre, gibt einen gewandten Wirt und wäre wohl am meisten geeignet, die ›Sonne‹ im Flor zu erhalten.«
Der Sonnenwirt versprach, diesen guten Rat in Erwägung zu ziehen, gegen welchen die Amtmännin keine Einsprache tat. Als er sich empfehlen wollte, hieß ihn der Amtmann noch bleiben und unterredete sich mit ihm über den Hauptzweck, wegen dessen er ihn hatte rufen lassen wollen. Er teilte ihm den Inhalt des oberamtlichen Schreibens mit und forderte ihn auf, sich zuvörderst darüber auszusprechen, ob die Hirschbäuerin wohl dazu zu bringen wäre, einen Verrat an ihrem Schwiegersohne zu begehen.
»Die ist eine Schmotzampel an Leib und Seel«, antwortete der Sonnenwirt, »die verkauft ihren Herrgott, wenn sie nur Geld sieht. Das ist auch ein Grund gewesen, warum ich meinen Sohn nicht hab in die Familie heiraten lassen wollen.«
»Mir kommt da ein guter Einfall«, sagte der Amtmann. »Ich hatte neulich in alten Akten und Urkunden zu stöbern und machte dabei zufällig die Entdeckung, wie es mit dem Leibeigenschaftsverhältnis der Hirschbauernfamilie bewandt ist. Der erste des Namens hat das Haus als eine Art Wildhüter zu Lehen erhalten mit der ausdrücklichen Bedingung, Jagd auf die Wilderer zu machen. Da nun gar kein Zweifel sein kann, daß Sein Sohn neben [] anderen ähnlichen Beschäftigungen auch diesem ehrsamen Gewerbe obliegt, so könnte man es ihr als eine Servitut auferlegen, daß sie die Hand zu seiner Beifahung zu bieten habe, widrigenfalls die Herrschaft berechtigt wäre, sie von Haus und Hof zu jagen.«
»Für den Notfall«, erwiderte der Sonnenwirt, »kann diese Drohung nichts schaden, aber sie wird kaum vonnöten sein. Auf den Abend will ich das alt Weib zu mir kommen lassen und hoff, in kurzem dem Herrn Amtmann erwünschte Antwort zu bringen.«
Er wünschte einen glückseligen Tag und ging, ohne sich zu fragen, ob das Vorhaben, das er der Hirschbäuerin gegen ihren Schwiegersohn zutraute und um dessenwillen er sie verurteilte, ein anderes sei als das Vorhaben, das er gegen seinen eigenen Sohn bereits auszuführen im Begriffe war.
Auch der Amtmann und seine Frau dachten an eine solche Vergleichung nicht. »Wenn der Sonnenwirt die ›Sonne‹ dem Chirurgus zuwendet«, sagte der erstere lachend, »so stirbt die Sonnenwirtin, sobald sie etwas vom Testament erfährt, am Gallenfieber.«
»Das wäre dem Mann je eher je lieber zu gönnen«, versetzte die Amtmännin. »Er hat nicht zum besten mit ihr gelebt, und sie ist auch in der Tat, so wie man sie näher kennenlernt, eine herzlose, neidische, maliziöse Kreatur.«
Der Himmel weiß, womit die sonst so kluge Sonnenwirtin es bei der gestrengen Frau verschüttet haben mochte.
Schon am nächsten Morgen ritt eine Staffette nach[] Göppingen mit der Meldung des Amtmanns an den Vogt, daß alles sich nach Wunsch anlasse, und mittags hatte der Amtmann vom Vogt die Weisung, er solle, da die alte Müllerin versprochen habe, den Bösewicht in ihr Haus zu locken, genügsame Mannschaft mit Gewehr und Prügeln dahin verstecken und denselben achtzehn Gulden, der Müllerin aber, wenn der Fang mit ihrer Beihilfe gelungen sein werde, – zwei Gulden als Belohnung ausbezahlen.
[]Dritter Teil
30
»Gesegnete Mahlzeit beieinander! Das ist ja schön, daß man die Ahne und die Kinder bei der Gottesgabe findet, die Leib und Seel zusammenhält.«
Mit diesen Worten trat der Geächtete durch die Türe ein, deren Schwelle er so manchmal in Glück und Leid überschritten hatte. »Was speist man denn?« fragte er heiter.
»Rübelessupp und Grundbirn!« antwortete der Knabe, der mit der Großmutter und seinem kleinen Schwesterlein zu Tische saß und mit seinem Löffel der gemeinsamen Schüssel wacker zusprach.
»Will Er's nicht mithalten?« fragte die Hirschbäuerin, ohne sich in ihrer eifrigen Beschäftigung stören zu lassen.
»Danke! was für drei gekocht ist, ist nicht für vier; man muß keine Deichsel an die Suppenschüssel machen. Im Gegenteil bring ich hier ein paar Brätlein. Wenn Ihr's nicht essen wollt, so könnt Ihr's unter der Hand zu Geld machen.« Er hielt ihr ein paar Hasen hin. Bei diesem Anblick legte sie schnell den Löffel auf den Tisch, ergriff das Geschenk und trug es in eine Ecke der Stube, wo sie einen leeren Korb darüberdeckte.
Der Ankömmling setzte sich an den Tisch, holte einen hölzernen Löffel aus der Schublade und fütterte das Kleine, das erwartungsvoll nach der Großmutter[] hinstarrte, aus der Schüssel, ohne sich selbst einen Bissen zu gönnen. Bei dem trüben Schein der armseligen Ampel blickte er abwechselnd seine Kinder an und freute sich, daß es ihnen so gut schmeckte.
»Wo ist denn der Lobele blieben?« fragte die Alte, sich wieder an den Tisch setzend.
»Mein weißköpfigs Schwägerle«, erwiderte er, »hab ich in Rechberghausen beim Christle gelassen. Ich hab einen weiten Umweg machen müssen« – er warf einen Blick nach der Ecke, wo die Hasen lagen – »wo ich ihn nicht hab mitnehmen wollen, und ihn allein heruntergehen zu lassen, dazu ist mir's zu spät gewesen. Morgen früh ist er wieder da. Ist's richtig, was er mir ausgerichtet hat? Mein Vater will sich also zu einem gütlichen Abkommen mit mir verstehen?«
»Ja«, sagte sie, »er hat mich kommen lassen und hat so mit mir geredt, daß ich glauben muß, es sei sein Ernst. Vierhundert Gulden will er Ihm geben, wenn Er mit der Christine und den Kindern nach Pennsylvanien geht, die Hälfte bar und die Hälfte drüben, aber das Bare nicht eher, als bis mit der Abreis alles im reinen sei. Bis dahin will er sorgen, daß den Kindern nichts abgeht.«
»Wenn nur die Christine frei wär, dann ging ich gleich«, versetzte er. »Wißt Ihr nichts von ihr?«
»Nein.«
»Einundzwanzig Wochen sind es jetzt, daß ich ihr Gefängnis umschwärme«, sagte er. »Was ich in dieser Zeit durchgemacht hab, wird nicht bald einem [] Zigeuner vorgekommen sein, denn der hat doch noch die Wahl, in welcher Gegend er sein Nachtquartier nehmen will, und wenn's auch nur in einer Höhle wär. Ich aber bin wie ein böser Geist immer in das Revier da gebannt gewesen.«
Die Alte lächelte schlau. »Beim Krämerchristle«, sagte sie, »hat's doch gewiß nicht an Loschement gefehlt.«
»Beim Christle«, sagte er, »kann ich meinen kleinen Schwager unterbringen, wenn er mir eine Botschaft tut und ich ihn nicht in der Nacht heimlassen will, und vom Christle nehm ich's an, wenn er, wie ein paarmal geschehen ist, in meiner Abwesenheit meinem Weib oder meinen Kindern etwas schickt, zumal wenn das« – er sah die Alte scharf an – »nicht für die Schleckerei, sondern für die bittere Notdurft ist. Beim Christle und sonst da und dort bin ich selber auch ein paarmal über Nacht gewesen, wenn man ein gemeinsames Geschäft vorgehabt hat, bei dem der Nutzen zum kleinsten Teil auf meiner Seite gewesen ist. Aber wenn gleich Rechberghausen nicht dem Herzog von Württemberg, sondern dem Grafen von Preysing gehört, so hätt ich doch dem Christle nicht zumuten mögen, einem vogelfreien Menschen, wie ich bin, nach dem man über jede Grenze streifen darf, einen beständigen Aufenthalt zu geben. Nein, Schwieger, ich bin in diesen einundzwanzig Wochen das wenigste Mal unter Dach und Fach gekommen, und wenn ich nur in einer Scheuer hab unterkriechen können, so ist das ein Festtag für mich gewesen. Die meiste Zeit aber hab [] ich tief im Wald, oft auch im freien Feld, auf dem Schnee geschlafen, ein paar harte Felle von geschossenem Wild zur Decke und den kalten, sternglitzernden Himmel über mir. Wenn mir früher jemand behauptet hätte, das sei ein Mensch auszuhalten imstand, ich hätt ihm nichts davon geglaubt. Aber seht nur meine Kleider an: die zeugen am besten von meiner Lebensart; im Herbst sind sie noch ganz neu gewesen, und jetzt hängen sie halb in Fetzen an mir herum. Und wenn mir nicht der große Bart gewachsen wär, so könntet Ihr sehen, wie ich abgemagert bin – nichts als Haut und Knochen. Und fasten hab ich gelernt, wie kein katholischer Heiliger; ich bin ordentlich mit dem Hunger auf du und du zu stehen kommen.«
Der Knabe warf seinen Löffel auf den Tisch und aß nicht weiter, während sein Vater unter dem Reden den Löffel fleißig nach dem Munde des kleineren Kindes führte.
»Da wär's in Pennsylvanien doch besser«, bemerkte die Alte.
»Meint Ihr nicht, der Jerg ging mit?« fragte er und setzte schnell hinzu: »daß wir Euch nicht allein zurückließen, versteht sich von selbst.«
»O du mein Heiland, Er hat's gut mit mir vor«, sagte sie. »Sollt ich auf meine alte Tag noch so weit übers Meer? Und der Jerg, der ist jetzt zu Stuttgart im Dienst als Packer bei einem Kaufmann und meint, er könn's sein Leben lang nicht besser kriegen. Nächstens will er mir all Woch ein Geldle schicken.«
[] »Das Land da drüben ist so groß, wie ich mir habsagen lassen, daß wir ein halbes Fürstentum in Besitznehmen könnten. Das wär doch ein ander Leben.«
»Mein letzte Stütz sollt ich hergeben oder gar selber mitgehen und vielleicht unterwegs, wie der Jonas, von einem Fisch gefressen werden?«
»Ahne, der Fisch hat ihn ja wieder ausgespien«, bemerkte der Knabe dazwischen.
»Und das Reis'geld«, fuhr sie fort, ohne auf die Bemerkung zu achten, »wär für uns alle zusammen nicht gnug.«
»Ob mein Vater die vierhundert Gulden auf einmal hergibt oder auf zweimal, kann ihm gleichgültig sein, wenn's ihm überhaupt mit dem Anerbieten Ernst ist. Glaubt Ihr wirklich, Schwieger, daß er's ehrlich meint?«
»Daß er's anders tut, als er gesagt hat, glaub ich nicht, dagegen das glaub ich, daß ihm zu trauen ist, denn warum? er möcht Ihn eben fort han, weil er sich vor Ihm fürchtet und weil der ganz Fleck in Ängsten vor Ihm ist.«
Der Geächtete lachte stolz.
»Ich glaub ferner auch«, fuhr sie zutraulich fort, »daß der Amtmann mit unter der Sach steckt; denn dem wär's ebenmäßig wohl, wenn er nichts mehr mit Ihm zu tun hätt.«
»Der Amtmann?« sagte er. »Wenn das der Fall ist, so muß man sich vor Finten hüten. Der arbeitet an einem doppelten Plan. Mag leicht sein, daß er fürlieb nimmt, wenn er mich über alle Berg weiß, aber noch lieber ist's ihm, wenn er mich wieder [] unter seine Klauen kriegen und einliefern und eine Belobung davontragen kann. Nein, Schwieger, wenn ich gewußt hätt, daß der Amtmann im Spiel ist – seht ja zu, daß Ihr die Hand nicht zu einem falschen Spiel bietet!«
»Ich vermut's ja nur«, sagte sie. »Mein Herz denkt an nichts Args. Wer wird denn auch gleich so ängstlich sein?«
»Ängstlich!« rief der Geächtete, und sein ganzer Stolz flammte auf: »wer kann mir nachsagen, daß ich jemals Angst hab blicken lassen?«
»Nu, nu, man redt ja nur. Eins ist so wenig nutz wie das ander. Wer alle Stauden will fliehen, kommt nie in Wald, und hinwiederum, dem Trauwohl hat man den Gaul weggeritten. Für heut hat's jedenfalls kein Gefahr, denn kein Mensch weiß, daß Er da ist.«
»Doch will ich nicht über Nacht bleiben.«
»Ja, und wenn sie dann wieder mitten in der Nacht Haussuchung halten wollen, so läßt Er ihnen wieder das Nachsehen. Denn besser in der Acht als in der Hacht, besser der Nam als der Leib am Galgen.«
»Wenn man durch meinen Vater mit dem Amtmann unterhandeln könnt, daß die Christine frei würd, unter der Bedingung, mit mir nach Pennsylvanien zu gehen, so könntet Ihr mir ja an einen sichern Ort Meldung tun. Aber ohne den Jerg ist's nur halb gelebt. Ein Mann wie mein Schwager wär mir mehr wert als ein Kapital in dem großen wüsten Land, wo man Wälder ausstocken und mit den Wilden kämpfen muß.«
[] »Wenn die Kinder im Bett sind, so wollen wir weiter reden«, sagte sie und trug das Eßgeschirr hinaus.
»Vater«, sagte der Knabe jetzt, der lange auf einen Augeinblick, wo er auch etwas reden durfte, gewartet hatte, »Vater, ich hab mich so lang drauf gefreut, bis Er auch einmal wiederkommt.«
Die helle Stimme des Knaben tat dem Geächteten tief im Herzen wohl. »So, Friederle«, sagte er, »hast dich auf den Vater gefreut? Sieh, ich hab euch auch was mitgebracht.« Mit diesen Worten zog er aus der Tasche allerlei Spielzeug, das er in müßigen Stunden künstlich geschnitzt hatte. »Die Docken gehören deinem Christinele, die gibst ihr morgen früh, wenn sie aufwacht.« Er legte das Kind, das in seinem Arme eingeschlafen war, auf das Bett und brachte aus seinen anderen Taschen noch mehr der Herrlichkeiten hervor. »Da sind für dich Soldaten, Fußvolk und Reiter, auch etliche Kanonen dabei, weil's jetzt Krieg ist, und damit deine Schulkameraden nicht sagen können, du habest nicht so schöne oder nicht schönere Spielsachen als sie. Lernst auch brav? Erzähl mir einmal, was heut in der Schule vorgekommen ist.«
»Die Geschicht vom Simson ist gelesen worden«, antwortete der Knabe.
»Hast du mitlesen dürfen?« fragte der Vater. »Kannst lesen?«
»Noch nicht ganz gut«, sagte der Knabe, »'s kommt nur hie und da ein kleiner Vers zum Lesen an mich. Aber die Geschicht hat mir mächtig gut gefallen, [] wie der Simson den Löwen zerrissen hat und wie er mit dem Eselskinnbacken tausend Philister geschlagen hat und hat ihnen das Stadttor in der Nacht fortgetragen und Füchs in ihre Felder trieben mit brennende Schwänz, und wie er zuletzt das Haus eingerissen hat, daß es auf ihn und alle Philister zusammengefallen ist.«
»Du gibst ja recht acht«, sagte der Vater freundlich. »Möchtest vielleicht auch ein Simson werden?«
Der Knabe sah ihn verwundert an.
»Gelt, das verstehst du nicht? Was möchtest denn werden?«
»Ich möcht werden, was mein Vater ist.«
»Was ist denn dein Vater?«
Der Knabe sah ihn starr an und antwortete auf wiederholtes Fragen: »Ich weiß nicht.«
»Warum sagst du denn, du möchtest werden, was dein Vater ist, und weißt es nicht?«
»Ha, so sagt jeder Bub, wenn man ihn fragt, was er werden wöll.«
»So! Wie heißen sie denn deinen Vater?«
»Er sei söllig stark, so daß alles Angst vor ihm haben müß.«
»So? und was sagen sie sonst von ihm?«
Der Knabe schwieg.
»Wie gehen denn deine Kameraden in der Schule mit dir um? Sag's, ich will's wissen.«
»Sie lassen mich nicht ins Buch neingucken, so daß mir der Schulmeister schon oft eine besondere Bibel geben hat, und einmal, wo sie wüst gegen mich gewesen sind, hat der Schulmeister zu ihnen [] gesagt, sie sollen mich gehen lassen, ich sei ein unglücklich's Kind, ich könn nichts dafür.«
»Für was?«
Der Knabe schwieg.
»Ich befehl dir's, ich will wissen, was sie von deinem Vater gesagt haben.«
Er mußte seinen Willen im gebietendsten Tone geltend machen, bis der Knabe endlich schüchtern und zögernd antwortete: »Sie sagen – Er hab – gestohlen.«
»Und wenn das wahr ist, so willst du dennoch werden, was dein Vater ist?«
»Ja.«
»Was ist einer, der stiehlt?«
Er bedurfte abermals der größten Anstrengung, um aus dem Knaben die Antwort herauszubringen: »Ein Dieb.«
»Ein Dieb also willst werden?«
»Ja.«
»Wart, ich will dir einen Denkzettel geben! Ahne, wo ist die Rute?«
Er gewahrte nicht, daß die Alte nach langer Abwesenheit erst in diesem Augenblick wieder in die Stube trat und die Türe ein wenig hinter sich offen ließ. Sie bat für den Knaben, als sie hörte, um was es sich handle, und suchte dem unglücklichen Vater bemerklich zu machen, daß das Kind sich nicht auszudrücken vermöge und daß er ihm noch keine Unterscheidung zumuten dürfe. »Nein«, sagte er unerbittlich, »man soll mir nicht nachsagen, daß ich den Buben zu solchen Gedanken angeleitet oder [] ihm's auch nur zugelassen hab, und wenn ich keine Rute haben kann, so tut's auch die Hand.«
Er zog den Knaben zwischen die Knie und patschte ihn mit seiner kräftigen Hand so nachdrücklich, daß derselbe mit offenem Mund schnaubte und schnappte; doch gab er keinen Laut des Schmerzes von sich.
»Was heulst nicht, du Krott?« fragte der Vater, in seinem wenig überlegten Besserungsgeschäfte innehaltend.
»Ich hab immer gehört, mein Vater hab nie geheult, wenn man ihn auch noch so arg geschlagen hab«, antwortete der Knabe, nicht trotzig, aber mit entschiedenem Tone und seinem Vater ruhig ins Auge sehend.
Dieser ließ die Hand sinken und zog den Knaben in seine Arme. »Ach, Friederle, mein Kind, mein lieb's Kind«, rief er, »ich hätt dich ja gewiß nicht geschlagen, wenn ich allezeit bei dir wär und dich im Guten unterweisen könnt. Aber ein Dieb sollst und darfst du mir nicht werden, das verbiet ich dir hoch und teuer. Glaubst du, daß ich's gut mit dir mein?«
»Ja«, sagte der Knabe, indem er ihn mit seinen blauen Augen aufrichtig ansah.
»Willst mir's nachtragen, daß ich dich geschlagen hab?«
»Nein.«
»Willst mir versprechen« – er drückte ihn immer heftiger an sich und schrie ihm die Worte ins Ohr: »Werd brav! werd rechtschaffen! Du mußt nicht [] meinen, es müsse dir auch gehen wie deinem Vater! Es geht nicht jedem so, es darf dir nicht auch so gehen! Wenn du älter bist und mehr weißt als jetzt, dann wirst du einsehen, daß du kein Dieb zu werden brauchst, wenn du deinem Vater anhänglich sein willst. Dann wirst du aber auch verstehen, daß dein Vater nicht so schlecht gewesen ist, wie die Leut von ihm gesagt haben. Und deine Mutter, die du so wenig gesehen hast, ist eine gute Mutter, Kind, und kann nichts dafür, daß sie nicht öfter nach dir sieht, und wenn sie wieder bei dir sein kann – –«
Die Stimme brach ihm, er schlug die Hände vor die Augen und legte den Kopf auf den Tisch. Es wurde ganz still, nur daß man tief aus seiner Brust herauf ein unterdrücktes Schluchzen hörte. Die Alte sah sich einen Augenblick um, setzte sich dann so, daß sie dem Tische und der Türe den Rücken zukehrte, und begann hierauf mit einer Stimme, die abscheulich lautete, das geistliche Lied zu singen: »Valet will ich dir geben, du arge falsche Welt.«
Der Geächtete hatte seinen Empfindungen eine kurze Zeit freien Lauf gelassen, da weckte ihn ein durchdringendes Geschrei seines kleinen Sohnes: »Vater! Vater! Philister über dir, Simson.«
Er fuhr auf und starrte, die Augen voll Tränen, in die Stube, aber die Bewegung hatte nur dazu gedient, seinen Kopf einer Schlinge preiszugeben, die im gleichen Augenblicke fest um seinen Hals zugezogen wurde. Die Stube war voll bewaffneter [] Männer. Er fuhr mit der Hand nach dem Halse, um sich von der Schlinge freizumachen. Da schrie der Fischer, der unter den vordersten war: »Hand weg, oder du mußt verworgen!« Zugleich wurde die Schlinge noch fester angezogen, so daß er taumelte. Er ließ ab vom Widerstande und war nach kurzer Zeit an Armen und Beinen so fest geschnürt, daß man ihn ohne Gefahr fortschaffen konnte. Die Alte schickte sich heulend und schreiend an, mit ihrer trüben Ampel zum Haus hinauszuleuchten, und beteuerte ihm fortwährend, daß sie an dem Unglück unschuldig sei. »Mag sein«, erwiderte er, sie mit ungewissen Blicken messend, »aber dir, Fischerhanne, ist's geschworen – und wenn ihr mir auch die Arm fesselt, die Schwurfinger kann ich doch noch bewegen – der nächste Streich, den du mir spielst, ist dein Tod.« – »Verhoffentlich wird kein weiterer nötig sein«, sagte der Fischer, und alle lachten zusammen. Während ein Teil der Wachmannschaft den Gefangenen so eilig fortschleppte, daß er nur noch mit den Augen seinem Knaben ein Lebewohl zuwinken konnte, stöberte ein anderer, den Fischer an der Spitze, in der Stube herum. Die Alte, als sie dies bemerkte, überließ den Fortgehenden die Sorge, wie sie sich ohne Licht zurechtfinden wollten, und eilte in die Stube zurück, konnte es aber nicht verhindern, daß die Hasen, als offenbares Herrschaftseigentum, in Beschlag genommen wurden.
Der Knabe war außer sich, und die Nachbarn, welche halb teilnehmend, halb neugierig hinter den Häschern in die Stube gedrungen waren, versuchten [] ihn umsonst zu trösten. Nachdem die Alte sich über den Verlust ihres soeben zum Geschenk erhaltenen Wildbrets einigermaßen beruhigt hatte, schwatzte sie ihm vor, sein Vater werde nur ein wenig zur Mutter nach Göppingen gebracht und werde bald wiederkommen. Er ließ sich nach und nach beschwichtigen; über eines aber konnte er sich nicht zufrieden geben: »Mein Vater«, sagte er, »hat sonst nie geheult, und jetzt haben sie ihn grad geholt, wo er geheult hat.«
In diesem Augenblicke kam der Schütz, zu spät, um an der Gefangennehmung, zu welcher er beordert war, teilzunehmen, aber früh genug, um der Alten eine Nachricht zu bringen, die sie ganz darniederschmetterte. »Wisset Ihr auch, Hirschbäurin«, sagte er, »daß Euer zweiter Sohn in Stuttgart hat Soldat werden müssen? Er hat einem Soldaten zur Desertion geholfen, und der Oberst Rieger, der dem Herzog sein Kriegsvolk zusammenwirbt, hat darauf gemeint, er sei ihm als Stellvertreter ebensogut oder noch lieber.«
Sie warf sich zu Boden und raufte ihre Haare. Diesmal war ihr Schreien und Heulen ernstlich gemeint. »Jetzt hab ich mein Stecken und Stab verloren!« jammerte sie.
31
»Paß auf, Beck!« sagte der obere Müller, mit seinem Knecht eintretend, im Hausgang zu dem Bäcker, [] der mit einem großen Kruge Weins gelaufen kam: »Paß auf, heut kriegst das Haus voll Leut! Der halb Fleck ist auf'm Marsch zu dir und will's probieren, ob dein Kesselfleisch so gut ist, wie's dein Weib selig hat machen können. Wir sind die ersten und wollen gleich ein gut's Plätzle besetzen.«
Der Bäcker lachte und stieß statt der Antwort die Türe auf, durch die man die Stube bereits überfüllt von Gästen sah. »Der Müller meint, er sei der erst zur Metzelsupp!« rief er diesen zu. Ein allgemeines Gelächter empfing den verspäteten Gast. »Mach nur, daß du hersitzst!« riefen einige, indem sie zusammenrückten und ihm und dem Knechte Platz machten: »'s ist eine Staatssau gewesen, aber kannst froh sein, wenn du nur noch das Schwänzle von ihr triffst!«
Ungeachtet dieser Drohung, die nicht so ernstlich gemeint war, ließen sich's der Müller und sein Knecht trefflich schmecken, während die Gäste den Bäcker lobten, der seit dem schon lange erfolgten Tode seiner Frau keine Metzelsuppe gegeben hatte, und sich zugleich darüber freuten, daß man bei den guten Aussichten auf das heurige Jahr auch einmal wieder einen billigen Wein trinken könne.
Nachdem der Müller seinen Magen gefüllt, sah er sich im Kreise der Gäste um. »Was, der Profos ist auch da?« rief er. »Ich hab gemeint, Ihr lieget am Gliederweh darnieder und könnet kein' Fuß und nächstens kein' Zahn mehr regen.«
»Die alten Knochen sind's Leben gewohnt«, erwiderte der Invalide. »Ich hab auch glaubt, ich [] werd der Beckin Quartier machen, und jetzt ist sie mir lang vorangegangen. Ich hab eigentlich kein Gliederweh, 's sind eben Flüß, die mir im Leib rumziehen, bald da, bald dort, ich mein manchmal, sie fahren mir bis in die Krücken hinein, und oft werfen sie mich so bösartig ins Bett, daß ich schier nimmer aufstehen kann.«
»Lasset nur den Wein tapfer durch die Gurgel laufen, alter Kriegsknecht, der wird Euch die Flüß schon 'naustreiben. Daß dich! aber jetzt muß ich mich verwundern, daß der Fischerhanne auch so viel Courage hat und ins Wirtshaus geht! Nun, du darfst dir heut schon was gönnen: hast gewiß bei dem gestrigen Fang etwas Schön's verdient, gelt?«
Der Fischer schmunzelte. »Wenn man sich für den Flecken in Gefahr begibt«, sagte er, »so könnt man, denk ich, mehr ansprechen, als die paar Gulden, aber doch ist's immer besser als gar nichts.«
»Die Gefahr muß nicht so groß gewesen sein«, bemerkte der Müller: »wie ich hör, habt Ihr ihn mit der Schling gefangen?«
»Ja!« rief ein anderer. »Die Schling ist ein Einfall vom Fischerhanne gewesen. Das ist das sicherste Mittel: wenn einer nicht weich geben will, so zieht man eben zu, dann vergeht ihm die Kraft, und er wird zahm wie ein Lamm.«
»Ich hätt zugezogen, bis er hingewesen wär«, versicherte der Fischer, »denn wenn der loskommen wär, so möcht ich doch auch sehen, wer mir behaupten könnt, es hab kein Gefahr gehabt.«
»Gottlob«, sagte der Müller, »daß der Kerl aufgehoben [] ist. Jetzt kann man doch wieder ruhig schlafen und ungeängstigt leben. Ich hoff, dasmal werden sie ihn fester verwahren, daß man endlich sicher vor ihm ist. Warum schüttelt Ihr den Kopf, Profos? Meint Ihr, er werd doch wieder auskommen, oder wär's Euch lieb?«
»Nein«, erwiderte dieser, »für ihn selber wär's das best, er blieb gefangen, wie er ist. Was kann ihm die Freiheit wert sein, wenn die ganz Welt immer mit Stecken und Stangen auf ihn aus ist, um ihn zu fangen? Ich mein nur, 's ist halt doch kurios, daß ein ganzer Flecken mit so viel starken Männern vor dem einzigen Menschen zittert. Und was hat er eigentlich getan?«
»Was er getan hat?« schrie alles zusammen. »Ist er nicht von Hohentwiel ausbrochen?«
»Nun ja«, sagte der Invalide, »das tät jeder von uns auch, wenn ihm das Gefängnis entleidet wär, und er wär so geschickt wie er, um eine halbe Unmöglichkeit zu vollbringen.«
»Und zweimal aus dem Zuchthaus!« sagte der Müller.
»Und hat sich beidemal freiwillig wieder gestellt«, entgegnete der Invalide. »Dazu gehört doch ein gutes Gewissen.«
Ein unwilliges, höhnisches Gelächter war die Antwort auf diese Bemerkung.
»Der Profos hat immer ein wenig zu ihm gehalten«, bemerkte der Fischer.
»Er hat auch immer eine gute Seit gehabt«, versetzte der Invalide. »Wenn man übrigens kein' anderen[] Grund hat, ihn zu fürchten, so müßt man eigentlich jeden, der stark und verschlagen ist, umbringen, damit er einem nicht schaden kann, wenn's ihm etwa einfallen sollt.«
»Hat er denn sonst nichts getan?« schrie der Müller. »Ich will die Diebstähl, die er bei seinem Vater begangen hat, nicht so hoch anschlagen: aber ist er nicht erst kurz verwichen dem Lammwirt in Metzig und Keller einbrachen und hat ihm Fleisch, Brot und Wein genommen?«
»Requiriert«, sagte der Invalide.
»Was?« schrien die andern.
»Requirieren heißt man das bei den Soldaten«, erläuterte der Invalide ruhig. »In der Kampagne, wenn's nichts zu beißen und zu brechen gibt, kommt man zum Bauern in die Visit und holt sich Fleisch, Brot, Wein, Hühner, Gäns, Eier, kurz, was man finden kann, und wenn das ein Verbrechen wär, so müßt vom General bis zum Gemeinen runter alles gehenkt werden. Der fürnehmst Offizier schämt sich nicht dran. Und da geht's oft zu, daß mir's in der bloßen Erinnerung weh tut. Der Frieder ist noch bescheiden, nimmt nicht mehr, als er für den Hunger und Durst braucht, und hat dem Lammwirt doch nicht das übrig Fleisch zu Fetzen verhauen und den Wein in Keller laufen lassen, wie's der Soldat oft und viel tut. Es ist jetzt ohnehin Krieg in der Welt; denket euch, der Feind komm in den Flecken, oder auch der Freund, denn 's macht's einer wie der ander, dann tätet ihr die Hundert oder Tausend gern gegen den einzigen Marodeur [] eintauschen und tätet sagen: der hat's doch noch gnädig gemacht.«
»Das ist was anders«, sagte der Müller. »Der Krieg verlangt's eben einmal so, er muß die Leut ernähren.«
»Wenn man mich lebenslang auf die Festung setzt und mich nach meinem Entkommen überall verfolgt und mein Weib einsperrt, das ist auch eine Art Krieg. Sag jeder von euch, was er tät, wenn er so 'nausgestoßen wär wie ein wild's Tier. Man kann doch nicht immer Rüben fressen, und im Winter wachsen nicht einmal Rüben. Und wenn er auch gar nichts nähm als eure Rüben, so tätet ihr doch auch sagen, es sei gestohlen.«
Seine Worte hatten, wenigstens vorübergehend, einen unverkennbaren Eindruck gemacht. Der Invalide fuhr, auf denselben bauend, fort: »Es ist, wie wenn die Leut ein bös Gewissen hätten, das sie an dem Menschen auslassen müßten. Er raubt nicht, er mordet nicht, und doch hat der Fleck eine Angst vor ihm, daß es eine wahre Schand ist. Noch eh er jemand außer seinem Vater ein Stückle Brot genommen hat, ist ein Schreck von ihm ausgangen, und wenn's geheißen hat: der Sonnenwirtle kommt, oder er ist da, so ist alles auf und davon, wie man sich vor einem wütenden Tier salviert. Und der Nam ist vor ihm hergangen wie ein schwarzer Schatten, und mich sollt's nicht wundern, wenn er dem Schatten endlich folgt und in seine Fußstapfen tritt.«
»In was für Fußstapfen«, fragte der Fischer, »ist er denn gangen, wie er beim Pfarrer einbrechen [] ist und hat ihm den Kelch samt den Hostien gestohlen?«
»Für selbiges Stückle hätt ich ihm das Fell recht brav vergerben mögen«, sagte der Invalide, »und dennoch hat sich's anders damit verhalten als man's nennt. Ich frag jeden, der das Ding mit seinen fünf Sinnen ansieht, ob etwas Abgefeimt's dran ist, wie man's dafür ausgeben hat. Der Pfarrer verweigert ihm die Kopulation, weil er sie nicht zahlen kann. Darüber kann jeder andächtige, in Jesu Christo geliebte Zuhörer, wie man uns von der Kanzel anredet, denken, wie er will; ich find in der Bibel nichts davon, daß das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit bloß gegen Bezahlung zu haben sei und anders nicht; aber, wie gesagt, das geht mich nichts an, das kann jeder mit sich selbst ausmachen. Der Bub drauf – denn ein Bub ist er gewesen, wie mancher sonst, der im dreiundzwanzigsten Jahr heiratet, ebenmäßig ein Bub ist und erst von seinem Weib gezogen wird – der Bub, sag ich, bricht in der nächsten Nacht dem Pfarrer ein, ohne allen Schlachtplan, rafft zusammen, was er erwischt, natürlich Kleinigkeiten, läßt auch noch den Kelch samt Hostien mitlaufen und steckt die Sachen in seines Vaters Stroh, damit sie gleich am andern Morgen dem Knecht ganz gewiß in die Hand fallen müssen. Daß er Grütz im Kopf hat, das leugnet ihm sein ärgster Feind nicht ab. Heißt aber das Grütz, wenn man eine Tat tut, von der am andern Tag jedes Kind sagen muß: das hat niemand anders getan, als des Sonnenwirts Frieder! Heißt das Grütz, wenn man[] den Raub so versteckt, daß in der nächsten Stund alles rauskommen muß? Entweder hat er's absichtlich getan, weil er lieber wieder im Zuchthaus gewesen wär als in der Welt haußen, oder er ist ganz rappelköpfisch gewesen und hat gar nimmer gewußt, was er tut. Ein wüster Streich ist's gewesen, ja, das streit ich nicht, aber noch viel dümmer als wüst. Wo wird ein Dieb von Profession so wüst und dumm und bubenmäßig sein' Mutwillen ausüben? Und doch hat man ihn zu einem Dieb und Räuber von Profession gestempelt und hat ihn lebenslänglich auf die Festung geschickt. Hätt man ihn mir geben, ich hätt ein paar Stecken an ihm verschlagen, und dann noch ein' drüber, weil ich immer auf den Bursch was gehalten hab.«
»Auf die Art«, bemerkte der Fischer mürrisch, »kann man alles Lumpenpack in Schutz nehmen, bis man zuletzt selber ihresgleichen wird. Grad so hat der Sonnenwirtle auch angefangen: der hat zuerst sein'm Vater 'n Zigeuner ins Haus schleifen wollen, und nachher hat er sich mit dem Hirschbauren und seiner Tochter gemein gemacht, und so ist er von einem bösen Trappen auf den andern kommen.«
»Mir wird's ganz übel«, rief der Invalide, »wenn ich's mit anhören muß, wie einer, der selber arm ist, arme Leut verwirft. Wenn ein paar Arme beieinander sind, so klagen sie, man laß die Armut nicht gelten, und in der Kirch singen Arm und Reich miteinander, die Menschen seien alle gleich; sowie einer aber einmal darnach leben will, so fallen [] arm und reich über ihn her. Die Liebschaft hätt er unangefangen lassen können, ich hab's ihm mehr als einmal gesagt, wiewohl das Mensch auch nicht so übel gewesen wär; aber daß er sich zur Armut gehalten hat, grad das muß ihm einmal 'n Stuhl im Himmel erwerben, mag's in der schnöden Welt noch mit ihm gehen wie's will.«
Während der Invalide so die einzelnen Einwendungen, die ihm gemacht wurden, niederschlug, hörte er nicht, wie das Murmeln und Murren um ihn her immer stärker wurde. »Von was für einem Ausbund ist denn da die Red?« rief der Müllerknecht erbittert, »man sollt meinen, das wär ein Muster, nach dem sich ein jedes richten müßt, und wenn man nach dem Namen fragt, so ist's ein Mörder, der seinem Nebenmenschen ohne weiteres das Messer in Arm sticht!«
»Das ist auch ein wüster Streich gewesen«, sagte der Invalide, der sich nicht irre machen ließ: »aber mit'm Zuchthaus ist er doch, mein ich, hart genug abbüßt worden. Zum Messer greifen freilich nicht alle, denn da gehört schon ein wenig mehr Mut dazu, aber mit'm Prügel oder mit'm Stuhlfuß ist jeder gleich bei der Hand, wenn der Wortwechsel hitzig wird, und es fällt ihm nichts Gescheit's mehr ein, und da schlagen sie einander so über die Köpf, daß man sich nicht wundern darf, daß es so viel dumme Leut gibt. Streit und Certat muß sein in der Welt, sonst ist's langweilig, aber wohl wär's besser, die Menschen täten witzig miteinander fertig werden statt spitzig, einander tupfen statt stechen, [] striegeln statt prügeln, mit dem Kamm lausen statt mit dem Kolben. Wenn aber einer tut, was alle tun, und tut's meinthalb ein wenig ärger, so sollt man ihn doch nicht um 'n ganzen Stock höher henken, wie wenn er was ganz Besonders getan hätt.«
»Es scheint, da muß sich die Obrigkeit verantworten!« warf der Fischer bissig dazwischen.
»Ich hab mein jährlichs Gratial vom Haus Östreich«, sagte der Invalide stolz: »die Obrigkeit kann mir nichts geben und nichts nehmen. Ich sag nichts wider sie, aber ich red, wie mir der Schnabel gewachsen ist.«
»Ja, für'n wild's Tier, das dem Flecken täglich mit Mord und Brand droht hat!« schrie der Müller, der den Wein zu spüren begann.
»Um dieser Reden willen hätt ich auch wieder 'n Stecken für ihn in Bereitschaft«, sagte der Invalide, der nach langer Krankheit wieder einmal ausgegangen war und sich hinter dem Glase so behaglich fühlte, daß er aufgelegt war, seine Meinung standhaft gegen Feind und Freund durchzufechten. »Und zwar tät ich ihn darum züchtigen, weil er mit solchen Reden sich selber am meisten schad't. Aber er hat sich nicht schlecht dagegen verantwortet schon vor sechs Jahr, wie der Schütz einmal aus'm Verhör erzählt hat. ›Reden denn die andern französisch?‹ hat er gesagt. Und das ist die Wahrheit. Wo man hinhört, wie die Leut voneinander reden, so hört man: ›Den Kerl mach ich kalt, ich hau ihm 'n Flügel vom Leib, hin muß er sein, nicht lebendig soll er mir vom Platz kommen‹, oder: ›die ganz [] Familie muß mir ausgerottet sein, es soll keiner übrigbleiben, der an die Wand pißt, mit Respekt zu melden, wie's in der Bibel heißt. Ist's denn viel ärger, wenn einer droht, er zünd den Flecken an, daß den Leuten die Häuser über'm Kopf abbrennen, und das Kind im Mutterleib dürf ihm nicht davonkommen? Ist nicht ein Geschwätz so dumm wie das ander, und ist aus'm einen mehr worden als aus'm andern? Was hat er denn getan, frag ich.‹«
Das Murren war allmählich zum Geschrei gestiegen, und einige Stimmen riefen bereits: »Schmeißet ihn 'naus!«
»Redet ihr feiner?« fuhr der Invalide mit erhobener Stimme fort. »Ihr seid auch grob wie ungespalten Holz, aber ihr wisset's nicht, weil ihr euch selber vor eurem eigenen Schreien nicht höret. Ihn aber höret ihr, weil er mit seiner Bärenstimm Manns genug ist, euch alle ins Stroh zu schreien, und weil er noch trotziger und wilder und wüster als ihr reden kann, wenn er verzürnt ist. Das nehmet ihr dann als bare Münz, wiewohl er euch den Flecken noch lang nicht anzünd't hat, aber was Guts an ihm ist, das wollet ihr nicht für bar gelten lassen.«
Der Invalide blickte ruhig in den jetzt ausbrechenden Sturm, auf nichts als seine Gebrechlichkeit vertrauend, obgleich wenig darauf zu wetten war, ob er mit heiler Haut davonkommen würde: denn nicht nur war das Geschrei gegen ihn zum tobenden Gebrüll geworden, sondern es hatten sich auch Fäuste gegen ihn erhoben, und darunter die beiden [] derben Schlagwerkzeuge des Müllerknechts, der es durchaus nicht in seinen Kopf bringen konnte, daß man einen Menschen in Schutz nehme, der ihm, seinem Freund und Guttäter, das Messer in den Arm gestoßen hatte.
»Mir scheint's, man muß den Flecken noch besser säubern«, schrie der Fischer, dessen Stimme nur noch in der nächsten Umgebung zu verstehen war. »Wenn ein Fleckenräuber so Freund im Ort selber hat, so ist's kein Wunder, daß er sich bei Tag und Nacht ohne Gefahr hier aufhalten kann.«
»Er ist in der ganzen Zeit nicht ein einigsmal bei mir gewesen«, entgegnete der Invalide, der sich gleichfalls nur noch seinem Gegner und den Zunächstsitzenden vernehmlich machen konnte. »Er weiß wohl, daß ich ein alter hilfloser Mann bin und daß er mich nicht in Verlegenheit bringen will, wiewohl er weiß, daß ich ihm nicht feind bin, das ist auch noch nobel von ihm.«
»Nobel!« schrie der Fischer giftig. »B'hüt uns Gott vor Gabelstich, dreimal gibt neun Löcher!«
Der Aufruhr in der Gesellschaft hatte den höchsten Gipfel erreicht, als der Schütz eintrat und durch sein Erscheinen wie ein Wetterableiter wirkte. Nicht der Anblick des Stückes Obrigkeit, sondern sein Aussehen war es, was den Sturm beschwor. Die listig zusammengekniffenen Augen, die blinzelnd auf der rotglühenden Nase hafteten, und die schalkhaft herausgepreßten Lippen verrieten es, daß ihn ein Geheimnis drückte, das neben einem Teil Verlegenheit viel Spaßhaftes enthalten mußte. Die Blicke der [] Anwesenden richteten sich erwartungsvoll auf ihn, während er, zufällig neben dem Invaliden noch ein wenig Platz findend, sich einen Stuhl zu diesem rückte und ihm ein paar Worte ins Ohr sagte. Der Invalide schlug mit der Faust auf den Tisch und stieß ein herzliches Gelächter aus, das er zwei-, dreimal rasch nacheinander die Tonleiter herabrollen ließ.
»Was ist's? Was gibt's?« schrien die andern.
»Im Amthaus hat man's seit heut vormittag schon gewußt«, fuhr der Schütz halblaut, doch so, daß die andern es hören konnten, gegen den Invaliden fort. »Dort ist ein Jubeln und Lachen drüber, daß dem gestrengen Herren so eine Eul aufgesessen ist. Wer Nasen wachsen sehen will, der muß jetzt nach Göppingen gehen, da ist eine ganze Kultur davon, wie ein junger Wald, alle so lang. Dasmal hat man's durch kein' Expressen runter vermelden lassen, sondern durch eine stille Gelegenheit.«
»Was ist denn geschehen?« fragte der Müller, dem Schützen sein Glas anbietend, da er dies für das geeignetste Mittel hielt, ihn zum Reden zu bringen.
Der Schütz trank es vergnüglich aus und antwortete dann: »Man darf's eigentlich noch gar nicht sagen, das Oberamt hat's bei Kopfabhauen verboten, denn dort schämen sie sich schwarz.«
Andere folgten dem Beispiel des Müllers, da der Schütz entschlossen schien, seine Neuigkeit so gut als möglich zu verwerten.
»Was ist denn los?« fragte endlich der Fischer den Invaliden.
[] »Ein Vogel«, antwortete dieser lachend.
Der Schütz sah den Fischer, der seinen Wein an ihm gespart hatte, eine Weile stillschweigend an, gleichsam um die Wirkung seiner Worte vorzubereiten. »Er ist durch!« sagte er dann geheimnisvoll.
Das blasse Gesicht des Fischers, der die Wahrheit bereits geahnt haben mochte, wurde einen Augenblick kreideweiß. Die andern begriffen noch nicht recht, um was es sich handelte, und starrten den Schützen mit aufgerissenen Augen an. »Wer ist durch?« fragte der Müllerknecht.
»Wer?« rief der Schütz. »Gibt's denn zwei so? Der von Hohentwiel über alle Mauern und Felsen fortgeflogen ist, hat dem Göppinger Käfig die Ehr auch nicht lassen wollen. Wie er gestern eingeliefert wor den ist, schon spät in der Nacht, hat man ihn auf die Hauptwacht gesetzt, hat ihm ein eisern Halsband und den Hosenträger angelegt und hat ihn mit einer Kette an die Wand angefesselt, so daß er drei, vier Schritt hat in der Stub rumgehen können. Auch hat man ihm zween Mann beigegeben, die ihn die ganz Nacht hätten verwachen sollen. In der Nachmittnacht ist der ein Wächter fort und hat eins geschrien; wie er aber zurückkommt, find't er sein Kameraden eingeschlafen – der behauptet, es müß ihm angetan worden sein – und kein Sonnenwirtle ist nimmer dagewesen. Er hat den Göppingern ihren Geschmuck mit fort, Halsband und Hosenträger, wahrscheinlich hat er's zum Andenken behalten wollen. Und sein Christine wird jetzt auch[] wieder bei ihm sein. Ich glaub, er hat sich extra deswegen fangen und nach Göppingen liefern lassen, um sie dort abzuholen, aber er ist zu spät kommen, denn gestern abend, noch vor seiner Ankunft, hat man sie losgelassen, weil man nicht gewußt hat, was man eigentlich mit ihr tun soll; und da wird er wohl denkt haben, er sei jetzt überflüssig, und ist also auch gleich wieder fort.«
»Wie's Teufels ist er denn aber von der Kette kommen?« fragte der Müller.
»Du hast schon den rechten Namen genannt«, schrien ihm mehrere zu. »Kannst dir wohl denken, wer ihm allemal forthilft.«
»Jetzt muß wieder der Teufel im Spiel sein!« sagte der Invalide lachend.
»Wisset ihr nicht mehr«, rief einer der Gäste, »wie er in der Stub da – an dem Platz, wo jetzt der Peter sitzt, ist er gesessen« – der Knecht rückte bei diesen Worten etwas betreten den Stuhl – »wie er da gesagt hat, er glaub an gar nichts? Ich hab gleich bei mir denkt, es werd sein' guten Grund han, daß er nichts zugeben will. Denn sich aus Ketten und Banden nur so rausschälen und über Mauern und Felsen runterkommen – Mannen! das sind Ding, die nicht natürlich zugehen.«
Der Redner sah sich unwillkürlich um, ob nichts Unheimliches hinter ihm sei. Die andern murmelten: »Gott sei bei uns!«
Der Invalide hatte inzwischen dem Schützen zugehört, der ihm erzählte: »Man hat auf seiner Britsch 'n Nagel gefunden, den er draus rausgezogen [] haben muß, und an der Kette ein schadhaftes Glaich, das er wahrscheinlich mit dem Nagel vollends aufdruckt hat; denn dem ist ein Nagel mehr als einem andern ein ganzes Handwerkszeug. So gibt's bloß ein'.«
»Wer hätt' sich's auch träumen lassen«, begann einer, »daß die Metzelsupp so ausging! Sie hat so lustig angefangen.«
»Es kann noch Blutwurst regnen«, fiel ein anderer ein. »Jetzt kann's der Fleck büßen müssen, daß man ihm so nachgestellt hat und erst noch vergeblich.«
»Es ist auch nicht recht«, sagte ein dritter, »daß man einen Menschen zu seinen Kindern lockt und bei ihnen überfällt. So was sollt man ja dem unvernünftigen Tier nicht zuleid tun.«
»Ja, 's ist wider die Natur«, sagte ein vierter. »Ich will nichts davon, und wenn ich auch drunter mitleiden muß, so weiß ich doch wenigstens, daß mich's unschuldig trifft.«
Er sagte dies so laut, daß man es in jeder Ecke der Stube hören konnte. »Nun, wenn er etwa unsichtbar zugegen ist«, bemerkte der Invalide lachend, »so hat er's sicherlich gehört und wird sich darnach richten.«
Der Fischer, der bei der veränderten Lage der Dinge die öffentliche Meinung von sich abfallen sah, sagte ingrimmig: »Die Göppinger können warten, bis ich ihnen wieder einen fang und mir für sie die Finger verbrenn.«
»Ja«, versetzte der Müller, »und meinen sie denn,[] ihr Unschick sei dadurch ungeschehen gemacht, daß man nicht davon reden soll?«
»Auf die Länge läßt's sich natürlich nicht verbieten«, sagte der Schütz. »Der Befehl ist aber, man solle vorderhand kein unzeitig Geschrei machen, wenn er aber so verwegen sei, daß er sich abermals in die hiesige Gegend ziehe, so solle man unverweilt und mit der größten Öffentlichkeit einen Preis von hundert Gulden auf seinen Kopf setzen.«
»Hundert Gulden?« rief der Fischer. »Auf sein' Kopf?« rief der Müller.
»Hundert Gulden, wer ihn bringt, lebendig oder tot«, antwortete der Schütz.
Der Fischer schlug die flachen Hände auf den Tisch. »Den Preis will ich verdienen«, sagte er.
»Ich auch!« rief der Müller.
»Und ich!« rief der Knecht, dem die Gespensterfurcht zu vergehen schien, seinem Meister nach.
Die anderen Gäste tranken schweigend aus, und ihre langen Gesichter verrieten, daß das Gelübde der drei sie nicht sonderlich im Glauben an die Sicherheit des Fleckens befestigt habe. Bei dem allgemeinen Aufbruch waren der Invalide und der Schütz die letzten. »Gelt, Beck, hast auf eine größere Zech abgehoben?« sagte dieser zum Bäcker, »und jetzt ist auf einmal ein Haar in dein' Wein gefallen. Ich will dich wenigstens einigermaßen schadlos halten. Gib mir ein paar Schoppen mit, das Amt soll's zahlen. Es muß heut nacht etliche Mannschaft auf'm Rathaus wachen, für alle Fäll. Der Herr will ruhig schlafen können, denn 's ist ihm doch nicht ganz [] wohl bei der Sach. Aber trotzdem bricht er einmal über's ander in ein Lachen aus, daß ihm der Bauch wackelt, und sagt vor sich hin: ›Ich vernemme, daß die Anstalten des Herrn Vogts nicht die besten sind.‹«
Er empfing den verlangten Wein und ging mit dem Invaliden fort. Der Bäcker, der jetzt allein war, zündete eine Küchenampel an, löschte die Lichter aus und setzte sich in den hinterlassenen Lehnstuhl seiner verstorbenen Frau, um hier die nahe Backstunde abzuwarten, vielleicht auch in der Hoffnung, an die Wachmannschaft auf dem Rathause noch etwas von seinem Wein abzusetzen. Er schlief ein, glaubte aber noch nicht lange geschlafen zu haben, als er, durch ein Geräusch oder eine innere Beunruhigung erweckt, die Augen aufschlug. Mit offenen Augen glaubte er zu träumen, denn am Wirtstische saß in dieser späten Stunde eine Gestalt, die den großen Krug vor sich aufgepflanzt, eine Flasche daraus gespeist hatte und den Wein aus dem gefüllten Glase bedächtig kostete. Der Bäcker schloß die Augen und öffnete sie wieder, aber die Erscheinung war noch immer da und schien greifbare Wirklichkeit zu sein. Durch den Wald von Kopf- und Barthaaren, die das trotzige Gesicht beinahe ganz bedeckten und ihm für einen unter lauter glatten Gesichtern aufgewachsenen Menschen ein fürchterliches Aussehen gaben, erkannte er ihn bei dem armseligen Schein der Ampel, den Gefürchteten, den Schrecken der Gemeinde, des Amtmanns und des Vogts. Sein Blick ruhte mit spöttischem Ausdruck [] auf dem Wirt. »Hast wieder einmal geduselt, Beck?« begann er. »Dein Wein ist nicht besonders. Wie dein Weib noch gelebt hat, hast du einen besseren geführt. Gott hab sie selig, sie war ein braves Weib, schlecht und recht, betete wenig Sprüche, hatte aber Christentum im Herzen und hätte es für eine Sünde gehalten, einen guten Wein zu verderben. Ich will nicht hoffen, daß du ihn schmierst.«
»Er steht schon den ganzen Abend im Krug«, sagte der Bäcker schüchtern. »Ich will frischen holen.«
»Tu das und komm bald wieder, denn ich hab eine Erquickung nötig.«
Der Bäcker ging. Sowie die Türe sich hinter ihm geschlossen hatte, eilte der seltsame Gast hinzu und horchte. Bald hörte er, wie die Haustüre ging und der Schlüssel langsam und leise darin umgedreht wurde. »Ich hab's von dem Schubjack nicht anders erwartet, als daß er mich verraten werde«, sagte er und sah sich in der Stube um. Der große tiefe Wandschrank schien ihm zu gefallen: er schloß ihn auf, leuchtete einen Augenblick hinein und stellte dann die Ampel wieder genau dahin, wo sie gestanden war. »Schlechte Maus, die nur ein Loch weiß, aber es wird genügen«, sagte er, schlüpfte in den Schrank und zog die Türe desselben hinter sich zu. Er war noch nicht lange darin, als die Haustüre mit dem Geräusch aufgeschlossen wurde und die Wachmannschaft, den Bäcker an der Spitze, in die Stube stürzte. Sie sahen sich um. »Wo ist er denn?« schrien alle wie aus einem Munde. »Da ist [] er gesessen«, sagte der Bäcker bestürzt. »Geschwind, das Haus durchsucht!« schrien sie und verteilten sich nach allen Richtungen. Die Stube, die angrenzende Kammer und Küche wurden sorgfältig durchgesucht, aber an den Schrank dachte niemand. Nachdem sie hier und in den anderen Räumen des Hauses mit den wieder angezündeten Lichtern in jeden Winkel geleuchtet und nichts gefunden hatten, kamen sie zurück. Die einen schalten, die anderen höhnten den Bäcker, daß er sie um eines leeren Traumes willen in Alarm gebracht habe. Derselbe schwur hoch und teuer, der Sonnenwirtle sei in seinem Haus gewesen, auf diesem Stuhle sei er gesessen und aus dieser Flasche habe er getrunken. »Jetzt glaub ich's auch«, sagte er, »daß er mit dem Teufel im Bund ist, denn sonst könnt ich nicht begreifen, wie er 'nauskommen ist, denn ich hab die Haustür zugeschlossen, wie ihr selber wisset, und einen anderen Ausgang gibt's nicht. Daß er reinkommen ist, wundert mich weniger, denn es wär möglich, daß ich vorher nicht zugemacht hätt', weil ich mir fürgestellt hab, ihr werdet doch noch mehr Wein wollen.«
»Das ist noch das Vernünftigst, was dir den ganzen Abend durch den Schädel gangen ist«, sagte der Schütz. »Und da wir einmal da sind, so wollen wir eben so frei sein und des Sonnenwirtles sein Wein versuchen. Sein Wohl! Ich wünsch ihm, daß er weit von hier sein guts Brot finden und uns nichts mehr zu schaffen machen möcht.«
Er trank und ließ die Flasche weitergehen. »Du [] bist gut laden, wie langs Heu«, sagte ein anderer zu ihm.
»Ja, du hast deine beste Züg im Hals«, bemerkte ein dritter.
Nachdem die Flasche geleert war, sprachen sie auch noch dem Kruge zu, scherzten über die Geisterseherei des Bäckers und begaben sich endlich wieder auf ihren Posten zurück. Der Bäcker begleitete sie, schloß die Haustüre hinter ihnen sorgfältiger als jemals ab und ging wieder in seine Stube. Aber wer vermag sein Entsetzen zu beschreiben, als er seinen furchtbaren Gast an derselben Stelle und in der gleichen Haltung wie vorhin am Tische sitzen sah. Langsam und ruhig, aber mit dem strengen Blicke eines Richters, wendete dieser sein Gesicht nach ihm hin. »Elender Hund«, sagte er, »hab ich dir je in meinem Leben etwas zuleid getan? Kannst du's vor deinem Weib verantworten, daß du den Verräter an mir gemacht hast? Sie würde dich nicht mehr ansehen, wenn sie noch lebte. Geh, du bist nicht wert, in dem Stuhl zu sitzen, der so oft ihr Schmerzenslager gewesen ist.«
Der Bäcker zitterte und hatte alle Fassung verloren.
Der Gast schlug ein Gelächter auf, das dem Wirt durch Mark und Bein ging. »Was seid ihr doch für er bärmliche Dummköpfe!« rief er. »Ihr habt mich gesehen, angerührt und in der Hand gehalten und habt mich doch mit allen euren Lichtern nicht gefunden.«
Der Bäcker starrte ihn mit irren Blicken an. Der[] Schreckliche erzählte ihm haarklein alles, was vorgegangen, und wiederholte ihm jedes Wort, das gesprochen worden war. Dem Bäcker wirbelte der Kopf.
»Dummer Tropf! da, in der Bouteille bin ich gesteckt!« rief jener endlich höhnisch.
Der Bäcker fiel auf die Knie, streckte die Hände, wie um Gnade flehend, nach ihm aus und war feig genug, zur Verminderung seines eigenen Kerbholzes, ihm zu verraten, welches Gelübde der Fischer, der Müller und dessen Knecht getan.
»Jetzt hol mir frischen Wein, hast mich lang genug warten lassen. Ich will dich noch einmal auf die Probe stellen, aber ich folge dir unsichtbar. Wenn du mir einen falschen Tritt tust, so sitz ich dir im Nacken und will dich reiten, daß du nach Gott schreien sollst. Und misch mir den Wein nicht, Schuft, oder du sollst mir keines natürlichen Todes sterben.«
Diesmal brauchte er nicht an der Türe zu lauschen, denn der Bäcker hatte sie weit offengelassen. Er hörte ihn den richtigen Weg nach dem Keller einschlagen, aus welchem er bald wieder zurückkam, fast wahnsinnig vor Angst, die sich erst etwas legte, als er das Gespenst nicht mehr hinter sich vermuten mußte, sondern leibhaftig vor sich am Tische sitzen sah. Der Unhold stellte ihm die mißliche Aufgabe, sich zu besinnen, welche Strafe er durch seinen Verrat verdient habe, und trank, während der Bäcker alle Qualen der Todesangst ausstand, seinen Wein langsam und behaglich aus. Dann erhob er sich mit [] den Worten: »Wenn ich wiederkomme, so laß dir keinen solchen Spaß mehr einfallen, ich könnt ein andermal ernsthafter aufgelegt sein. Was schaust denn so nach meinem Fuß?« fuhr er ihn an, »ja so, du bist neugierig, ob kein Pferdefuß zum Vorschein komme. Nein, dummer Kerl, das Ding sitzt nicht im Fuß. Sieh, da sitzt's!« Er klopfte ihm mit dem Knöchel des Fingers an den Kopf, wie man an ein Faß klopft, aber so stark, daß der Bäcker beinahe zu Boden fiel. Dann verließ er das Haus, und der Bäcker schloß abermals die Türe, aber ohne den beruhigenden Glauben, daß diese Maßregel ihm irgendeine Sicherheit zu gewähren vermöge. Er dachte nicht mehr an das Backen, sondern löschte schnell die Lichter und schlüpfte angekleidet, von Angst und Fieber geschüttelt, in sein Witwersbett.
Der Geächtete ging nach der einzigen Heimat, die er noch in seinem Vaterorte hatte, obwohl auch diese für ihn unzuverlässig geworden war. Er drückte den Riegel der Hintertüre, den Finger durch die Türspalte drängend, leise zurück, und nach wenigen Augenblicken stand er vor dem Bette seiner Schwiegermutter. Auch dieser drang ein eisiger Schreck durch die Gebeine, als sie, plötzlich erwachend, in ungewissem Sternenlichte eine geisterhafte Gestalt mit aufgehobenem Finger vor sich stehen sah und alsbald ihren verratenen Schwiegersohn erkannte.
»Welchen Judaslohn habt Ihr für die Auslieferung gekriegt?« fragte er.
Sie vermaß sich mit den höchsten Schwüren, daß sie weder etwas bekommen noch etwas verdient [] habe und daß der Überfall ihr selbst ganz unversehens gekommen sei. Er ließ den Verdacht, der mehr in seinem Gemüt als an bestimmten Beweisen haftete, auf sich beruhen und weckte seinen Knaben. Der Kleine lächelte ihn mit halboffenen Augen wie im Traume an.
»Da siehst, Friederle, daß dein Vater frei ist. Brauchst dich nicht zu grämen. Willst mit?«
»Er wird doch nicht das Kind durch die Wälder rumschleifen wollen!« rief die Alte lebhaft. »Ein Vater kann sein' Buben in dem Alter noch nicht pflegen.«
»Er hat ja seine Mutter«, antwortete er. »Sie ist frei und wohl aufgehoben.«
»Gott sei Lob und Dank!« rief die Alte, sei es, daß eine menschliche Regung sie erfaßt hatte oder daß sie ihn in guter Laune zu erhalten trachtete. »Aber wenn auch!« fuhr sie fort, »das ist kein Leben für ein Kind, und mein Hühneraug sagt mir, daß noch einmal Schnee fällt. Laß Er mir nur den Buben da, ich geb ihn nicht her.«
Sie kannte ihn wohl und hatte die rechte Saite getroffen. »Wenn Ihr eine gute Ahne seid«, sagte er, »so will ich fünfe grad sein lassen. Aber fahret mir säuberlich mit den Kindern, das sag ich Euch. Wo ich auch bin, mein Aug zielt immer daher, und ich weiß immer, wie's bei Euch steht, so gut als wenn ich gegenwärtig wär.«
Er küßte die Kinder, von welchen das kleinere ruhig fortschlief, und wandte sich zum Gehen.
»Ich will noch einmal mit dem Sonnenwirt wegen[] der Auswanderung reden«, rief ihm die Alte nach. »Wo Er sich mit der Christine aufhält, will ich nicht fragen, damit Er nicht wieder mißtrauisch wird. Er kann sich ja von Zeit zu Zeit erkundigen oder durch vertraute Leut anfragen lassen. Und halt Er sich nicht hier auf, das Klima ist nicht gesund für Ihn.«
»Schon recht, aber erst tu ich noch einen Tuck«, antwortete er und war verschwunden. Die Alte fuhr unter die Decke und murmelte ein langes Dankgebet für ihr glückliches Entrinnen.
Am anderen Tage geriet der Flecken in eine unaussprechliche Aufregung, als man die Begebenheiten der verflossenen Nacht erfuhr. Außer dem Besuche bei dem Bäcker, der infolge der erlittenen Schrecknisse krank darniederlag, hatte der Sonnenwirtle noch ein weit tolleres Stück verübt. Er war auf unerklärliche Weise in das Haus seines Todfeindes, des Fischers, eingedrungen, hatte diesen nebst dessen Frau aus ihrem zweischläfrigen Bette aufgescheucht, sich's auf demselben bequem gemacht und das Ehepaar mit vorgehaltenem Gewehr gezwungen, ihm die ganze Nacht Gesellschaft zu leisten. Kochend vor Wut, hatte der Fischer es gleichwohl nicht wagen dürfen, einen Fuß zu rühren oder einen Laut von sich zu geben, und war der Gewehrmündung des schwergereizten Feindes, so wie einem bitter höhnenden Witze eine endlose Nacht hindurch preisgegeben gewesen, während nicht weit davon auf dem Rathause für die allgemeine Sicherheit gewacht wurde. Vor Tagesanbruch hatte der [] Eindringling das Haus unter den gräßlichsten Drohungen und mit feierlicher Wiederholung des Schwures, daß er den nächsten Angriff unnachsichtlich mit einer Kugel bestrafen werde, verlassen, ohne jedoch dem Fischer ein Haar gekrümmt zu haben, und zufrieden mit der Angst, die er ihn hatte ausstehen lassen. Im Fortgehen aus dem Flecken hatte er sich sodann noch dem oberen Müller ins Andenken geschrieben, indem er ihn mit einem Schuß durch das Fenster begrüßte, der aber, da er von unten nach oben ging und in die Decke schlug, nicht in gefährlicher Absicht versendet sein konnte.
Von diesem Tage an wurde der ausgestoßene Sohn des Sonnenwirts von dem im Banne des tiefsten Aberglaubens befangenen Volk zum Helden einer Sage erhoben, welche sein wunderbares Entkommen aus Mauern und Banden dem Bunde mit der Hölle zuschrieb. Der Amtmann war in Verzweiflung, da dieser Hexenglaube vollends alle Tatkraft lähmte und den zur Rache entflammten Flüchtling, dessen hellem Geiste sich hier ein neues Schreckmittel darbot, zum unumschränkten Herrn des Fleckens zu machen drohte. Der Fischer und der Müller, dem sein Knecht blindlings folgte, erholten sich zuerst von den Schrecken jener Nacht, indem bei ihnen die Wut über den Aberglauben siegte. Besonders wurde der Fischer durch die Spöttereien des von ihm herausgeforderten Invaliden aufgestachelt, welcher keine Gelegenheit vorüberließ, auf die heimlichen Gastfreunde, die der Sonnenwirtle im Flecken habe, anzuspielen; und er beteuerte [] sich zu wiederholten Malen, daß er einen Schuß an die ausgesetzten hundert Gulden rücken wolle, verschwor sich auch förmlich mit den beiden anderen Teilhabern seiner Rache, dem Verhaßten aufzupassen und ihn lieber tot als lebendig dem Amte zu überliefern. Die übrigen Bürger aber fühlten wenig Lust, es mit einem Zauberer aufzunehmen, der vor seinen Verfolgern sich in eine Halbmaßflasche verkriechen oder in Pudelgestalt davonrennen konnte. So geschah es einst, daß zehn mit Schaufeln bewaffnete Männer, die ihm nahe bei dem Flecken begegneten, ungeachtet des auf seinen Kopf gesetzten Preises ihn nicht anzugreifen wagten. Sogar im Schlaf erweckte er Furcht, da man glaubte, daß er mit geschlossenen Augen zu sehen vermöge. Zwei Postknechte fanden ihn neben der Landstraße an einem Raine sorglos eingeschlafen; einer hatte nicht das Herz, sich ihm zu nähern, und ritt davon; der andere aber wagte, ihn zu wecken und ihm bemerklich zu machen, daß er hier nicht sicher sei. Ob jedoch bei solchen Vorgängen nur die Furcht und nicht auch eine menschliche Teilnahme an dem Lose des Unglücklichen mitgewirkt habe, das ist eine Frage, über welche das menschliche Herz wohl kaum einen Zweifel haben wird.
Aber auch dem Geächteten konnten selbst seine erbittertsten Feinde mildere Herzensregungen nicht absprechen. Es war eben um jene Zeit, daß ein Eßlinger Metzgerbursche, der auf den Einkauf von Schlachtvieh in die Dörfer der Umgegend ausgesandt war, abends spät noch halb tot vor Schrecken nach [] Ebersbach kam und ein im Walde erlebtes Abenteuer erzählte. Er hatte in einer Dorfschenke einen Unbekannten getroffen, dessen offenes Gesicht ihm gefiel und dem er beim Wein vertraute, daß es ihm nicht wohl zumute sei, mit seinem vielen Gelde abends allein durch die Wälder gehen zu müssen, wo der Sonnenwirtle hause. Sogleich erbot sich der Unbekannte, ihm das Geleite zu geben. Sie tranken noch ein Glas und machten sich auf den Weg. Als sie im dichtesten Walde ganz allein gingen und traulich miteinander redeten, blieb der Führer auf einem öden Platze am Saume eines finstern Dickichts plötzlich stehen und hob an: »So, jetzt will ich auch sagen, wer ich bin – ich bin der Sonnenwirtle.« Der Wanderer fuhr zusammen, wie vom Donner gerührt. Nachdem sich der Geächtete eine Weile an seiner Furcht geweidet hatte, sagte er: »Ich bin nicht so schlimm, wie die Leut sagen, ich hab Euch mein Wort gegeben, und das halt ich Euch als Mann von Ehre, ob ich auch noch so reich werden könnt durch Euer Geld; damit Ihr Euch aber nicht unnötig ängstiget, so will ich den ganzen Weg vollends vor Euch hergehen; folgt mir nur, Ihr kommt mit einer ganzen Streifmannschaft nicht sicherer durch den Wald.« Er ging voraus, und der Metzger folgte ihm heimlich zagend; aber nach einer Stunde sah er sich wohlbehalten an der Filsbrücke bei Ebersbach. Dort kehrten beide in einem einsamen Wirtshause noch einmal miteinander ein; der Metzger wollte seinem redlichen Führer ein Trinkgeld aufdrängen, dieser aber wies es mit Stolz zurück.
[] Neben dieser verbürgten Tatsache erzählt die Volkssage aus der gleichen Zeit einen minder sanften Zug von ihm. Auf der Landstraße, die er ungescheut zu betreten wagte, begegnete ihm einst eine arme Frau – die Sage behauptet, es sei seine eigene Schwiegermutter gewesen – und klagte ihm ihre Not, daß sie nicht einmal imstande sei, für ihre Kinder ein Spruchbuch zu kaufen. Er gab ihr sogleich das nötige Geld, und sie entfernte sich unter tausend Danksagungen. Als sie aber später den Weg zurückkam, sah sie ihn, als ob er der Wächter der Gegend wäre, an der alten Stelle ihrer warten und erschrak nicht wenig, als er nach ihrem Korbe griff, in welchem er statt des Spruchbuchs Eier fand, die sie um das Geld gekauft hatte. Ergrimmt über den Mißbrauch seines Geschenkes, schalt er sie eine Fresserin und machte sie zur Zielscheibe für die Eier, indem er mit sicherem Wurfe eines um das andere an ihr zerschellte, so daß sie über und über triefend nach Hause kam.
Wie ein böser Geist schweifte er um seinen heimatlichen Flecken umher, und wenn er Leute traf, so verhörte er sie, was man in Ebersbach von ihm sage, wobei er niemals unterließ, die grausamsten Drohungen auszustoßen, so daß ihm die Sage bereits eine Menge Greueltaten andichtete, ehe er eine einzige begangen hatte. Sein von Groll und Rache umhergetriebenes Gemüt sann die wildesten Taten aus; aber das angeborene bessere Gefühl hielt seine Hand zurück.
[] Auch der Vogt ermüdete in seiner Verfolgung und schrieb an den Amtmann, da mit Streifen auf dieses carcinoma doch nichts getan sei, so solle man nur noch in der Stille Posten ausstellen und die Eingänge der Häuser, denen etwa sein Besuch bevorstehe, hinlänglich besetzen.
32
Der letzte Schnee des Winters war gefallen und wieder gegangen. Der Frühling hatte den Wald mit dem Jauchzen der Vögel erfüllt und das Feld mit dem lichten Meere seiner Blüten überflutet; die Blüten waren gefallen, und der Waldgesang war immer dünner geworden. Die Sonne brannte stärker, und der anbrechende Sommer verhieß der harrenden Welt die Fülle seines Segens, so daß es unmöglich schien, daß inmitten des überall aufschießenden Reichtums Armut, Not, Hunger und Gier nach der Habe des Glücklicheren in der Welt vorhanden sein sollte.
Auf einem abgelegenen Hofe, der zwischen dem Hohenstaufen und dem Filstal mitten in den Wäldern von einem spärlichen Stück Feldes umgeben lag, saß eines Tages der Erbe der ›Sonne‹ von Ebersbach bei dem Weibe, um dessen Besitz er so lange mit der Welt gestritten hatte, bis ihm selbst jeder Anspruch auf ein Eigentum und eine Heimat in der Welt verlorengegangen war. Mit Hilfe des Krämerchristle, der nach seinem Vornamen und einem kleinen [] Kramhandel so genannt wurde, hatte er sie bei einer hier verheirateten Schwester desselben untergebracht, zahlte ein kleines Kostgeld für ihren armseligen Unterhalt und kehrte von seinen Streifereien in der Gegend immer wieder zu ihr zurück. Die Hofbewohner waren ihren Feldarbeiten nachgegangen, und das Paar befand sich allein. Christine saß am Tische, wo sie ein paar rohe Lappen zusammengenäht hatte, und stützte den Kopf auf den aufgelegten Arm. Friedrich hatte sich in die Fensterecke gedrückt, wo er mit gekreuzten Armen düster vor sich hinbrütete. Die ärmliche Wohnung gewährte ihnen einen vorübergehenden Schein von Haus und Heimat, der aber freilich schnell wieder verschwand, sobald jemand von den wirklichen Insassen in die Stube trat.
Nach einem langen trüben Stillschweigen warf sie einen Blick auf seinen abgenutzten Rock, sah aufmerksam hin und rief: »Daß Gott erbarm! Du hast ja Blut am Ärmel.«
»Kann sein«, erwiderte er, »es hat dich schon einmal unnötig erschreckt.«
»Das ist aber im Winter gewesen. Frieder, Frieder, sag mir's, hast du jemand erschossen?«
»Just wie damals, wo du mich das erstemal gefragt hast. Damals hab ich gesagt: ›Dumme Seel, freilich hab ich einen erschossen, draußen im Wald liegt er, hat ein ledern Röcklein an und einen zackigen Hut auf'm Kopf‹; und dasselbe sag ich dir heut wieder.«
»Ja, ist denn schon wieder die Zeit, daß man einen Hirsch schießen kann?«
[] »Not bricht Eisen«, sagte er. »Sie sind noch erbärmlich dürr, und es gehört ein guter Hunger dazu, um das Fleisch genießbar zu finden, aber im schlimmsten Fall ist wenigstens die Haut zu brauchen. Das Handwerk hat überhaupt stark nachgelassen, und ich seh kaum hinaus, wie's weiter werden soll. Ich hab den Winter über das groß und kleine Gewild rudelweis geschossen und die ganze Umgegend von Boll bis Gmünd damit versorgt; und da führt mir der Teufel noch den Hof daher, der mir nicht bloß die Jagd, sondern noch vielmehr den Handel verdorben hat, denn die machen dir in ein paar Tagen ein Schlachtfeld, daß man's schier verwesen lassen muß. Wildbret ist so wohlfeil und so unwert geworden, daß man mir einmal in einem Pfarrhaus ein übergelassenes Stück Hirsch vorgesetzt hat von meiner eigenen Hand. Ich hatt's den Tag zuvor geschossen und durch den Christle dahin verkaufen lassen, der's ihnen mit Müh und Not aufgeschwätzt hat um ein Bettelgeld. Wie ich den Tag drauf vorüberkomme, ruft mir die Pfarrerin vom Fenster, ob ich nicht ums Warme ein wenig Holz spalten wolle. Ich hab's gern getan, weil mich's gefroren und gehungert hat; und wie ich dann mit Hirschbraten bin abgefüttert worden, hab ich doch denken müssen: ›die War muß tief im Preis stehen, wenn man sie dem billigsten Taglöhner nachwirft.‹ Hab auch bald meine Rechnung richtig gefunden, denn beim Gretmeister in Gmünd, im dortigen Barfüßerkloster, wo sonst immer ein gutes Geschäft zu machen war, und in allen Pfarrhäusern weit und [] breit – nirgends ist mehr was anzubringen gewesen. Drüber ist dann die Jagdzeit ohnehin vollends zu End gangen, aber ich besorg mich, wenn sie auch wieder anhebt, so werden die Leut noch satt und voll vom Wildbret sein und werden Rindfleisch vorziehen, das ich ihnen nicht schießen kann. Froh ist freilich alles in den Dörfern und auf den Höfen, wenn ich das Wild wegschieße, aber niemand zahlt mir ein Schußgeld dafür.«
»Schlechte Aussicht!« sagte sie. »Und ich spür's hier wohl, daß du nicht viel ins Haus bringst.«
»Sind sie wüst gegen dich?«
»Das grad nicht, sie sind freundlicher als auf den andern Höfen, wo du mich hinbracht hast. Deine Verbindung mit dem Christle tut mir gut bei ihnen, aber doch lassen sie mich's merken, daß du das Kostgeld die Zeit her schuldig blieben bist.«
»Mach dich jetzt auf, Christine, mußt mir die Hirschhaut den Wald hinuntertragen, abgezogen hab ich sie schon, und in der Teufelskling verstecken, damit sie der Christle mitnehmen kann. Er kommt morgen von Rechberghausen aus dort hinab, und von da mußt du mit ihm den Waldsteig nach Gmünd gehen.«
»Das geschieht mir sauer«, wendete sie weinerlich ein.
»Du kannst mir nicht vorwerfen, daß ich dich plage«, entgegnete er. »Ich hab dich ein einzigsmal diesen Winter zur Jagd mitgenommen und hab gemeint, du könntest mir am Wald vorstehen und das Wild zurücktreiben. Wie du aber wehleidig getan hast, hab ich dich gleich gehen lassen und nie wieder mitgenommen. Diesmal aber muß es sein, die [] Haut wird dich nicht zu Boden drücken, und in Gmünd mußt mit beim Erlös sein, damit mich der Christle, der abgeführte Spitzbub, nicht betrügt, denn sonst kann ich deine Schuld hier nicht bezahlen. Die Haut trägt dir morgen der Christle, heut aber mußt sie selber tragen, denn ich will derweil sehen, ob ich nicht noch einen schießen kann. Komm!«
Sie seufzte. »Du mußt dich aber vor rasieren«, sagte sie verdrossen. »Jetzt hast schon wieder ein achttägiges Stoppelfeld, und ich leid's nicht, daß du dir den Bart wachsen läßt, denn du siehst so arg wild drin aus, und wenn dir jemand begegnet, so muß er wunder was von dir denken.«
»Meinetwegen!« brummte er, griff ohne Umstände nach dem Rasierzeug des Hofbesitzers und kam ihrem Begehren nach, worauf sie den Hof verließen und den Weg nach dem Walde einschlugen.
»Ist denn gar keine Möglichkeit, aus dem Leben da fortzukommen?« fragte sie im Gehen mit kummervoller Miene. »Du hast mir versprochen, du wollest mich nach Frankfurt mitnehmen, oder in den Krieg, hast auch von Amerika gesagt. Ich ging überall mit dir hin, wenn ich nur aus dem Leben draußen wär und die Kinder bei mir hätt'.«
»Warum hast dich in Dettingen fangen lassen!« versetzte er unwirsch. »Während deiner Gefangenschaft ist mein Erspartes von Sachsenhausen draufgangen, mein Vater tut keinen Zug, um sein Versprechen zu halten, und wie kann ich denn als ein vogelfreier Mensch etwas erwerben, damit wir zu [] Reisgeld kommen? Sag, ich soll in Ebersbach einen höflichen Besuch machen, oder mit einem Roßjuden, beschnitten oder unbeschnitten, nach dem Markt ein Wort in Güte reden, dann sollst du Geld genug haben.«
»Um Gotts willen nur nichts so!« rief sie.
»So sagst du immer, aber dabei willst in einem fort Geld und Lebensmittel und bekümmerst dich nicht drum, wo ich's hernehmen soll. So hast du mich auch gequält, bis ich meinem Vater die Frucht geholt hab, und dann wieder, bis ich dem Pfarrer ins Haus gestiegen bin, und hintennach ist dir's dann doch wieder nicht recht gewesen.«
»Es ist auch nicht recht«, sagte sie.
»Gelt, weil's zu bösen Häusern führen kann? Wenn du das nicht willst, so schick dich eben in die Zeit, nur mach mir nicht den Kopf mit deinem Lamento warm.«
»Ach!« seufzte sie, »ich hab mir eben ein ganz anderes Leben fürgestellt, wie wir von Neckardenzlingen miteinander fort sind. Da hab ich schon gemeint, ich werd wieder jung, und hab alles gern dahinten gelassen.«
»Machst mir das zum Vorwurf? Bin ich nicht auch im Rohr gesessen und hätt' mir Pfeifen schneiden können, und hab ich nicht um deinetwillen auf alles verzichtet?«
»Wärst lieber blieben, bis sich etwas für uns gemacht hätt'. Hätt'st mir ja derweil schreiben können.«
»Man kriegt ja keine Antwort von dir. Und hab [] ich gewußt, wo ich hinschreiben soll? Nach Ebersbach, wenn du nicht dort bist? Hätt ich mir etwa selber einen Paß von Sachsenhausen nach Hohentwiel schreiben sollen?«
»Ich will nichts mehr sagen«, versetzte sie, »du wirst gleich so wild.«
Sie gingen lange Zeit stillschweigend hin. »Was siehst du denn immer auf den Boden?« fragte sie, da ihr sein Benehmen auffiel.
»Da ist wieder einer!« rief er, sich bückend und etwas aufhebend. Es war ein frisch abgebrochener gabelförmiger Zweig. Er betrachtete ihn von allen Seiten, schüttelte den Kopf, da er nichts weiter daran fand, und legte ihn sorgfältig wieder auf den Boden. Dann sah er sich an den Bäumen um, blickte scharf von Stamm zu Stamm, schüttelte den Kopf abermals, als fände er nicht, was er erwartete, und setzte den Weg wieder fort. Sie waren eine weitere Strecke gegangen, da lag ein neuer Zweig von gleicher Form, den er aufmerksam betrachtete, worauf er den eingeschlagenen Weg verließ und einen schmalen Seitenpfad zur Rechten betrat. Christine folgte. Mit zufriedenem Kopfnicken fand er dort bald wieder einen Zweig von der vorigen Art und weiterhin noch mehrere. Sie waren einer wie der andere an der Seite des Weges schief hingelegt, so daß von den beiden Spitzen der Gabel, deren eine geknickt war, die andere unversehrte in gleicher Richtung mit dem Wege vorwärts deutete.
»Das sind Zeichen«, bemerkte Christine, welche den Zweigen und seiner Beobachtung derselben eine gespannte [] Aufmerksamkeit zugewendet hatte. »Gelt, gesteh's nur, da sind deine Kocher, oder wie sie heißen, um den Weg, und dein scheeler Christianus will dir was zu wissen tun.«
»Wenn er da wär, so hätt' er mir seinen Zinken irgendwo hinterlassen«, versetzte er, »es ist aber nirgends nichts zu sehen.«
Nachdem sie noch ein wenig fortgegangen, kamen sie auf einen freien Platz, welcher sich nach einem Waldabhang senkte und einen weiten Blick über endlose Waldung tun ließ, die in reicher Abwechslung von Höhen und Tiefen sich um den Hohenstaufen lagerte, gegen das Remstal abwärts und nach den jenseitigen Hügeln strich. Die Zeichen, wenn es solche waren, schienen hier aufzuhören. Christine setzte sich müde auf den Boden. Friedrich schaute achtsam in die Waldgegend hinein, als ob er in der Ferne hinter jedem Busch ein Wild oder etwas anderes aufspüren müßte. Auf einmal blieb sein Auge an einer Waldecke unter dem Hohenstaufen hängen. Ein leichter, bläulicher Rauch ging dort kräuselnd aus den Spitzen der Bäume hervor und schien sich hinter einigen höheren Wipfeln zu verlieren. Er blickte unverwandt hin; der Rauch verschwand, kam wieder zum Vorschein und verschwand wieder. Sein Entschluß war gefaßt. Er rief Christinen vom Boden auf. »Siehst dort den Waldspitzen herwärts von Wäschenbeuren?« sagte er, »dort kannst mich nachher treffen oder auf mich warten, dort will ich anstehen, ob ich vielleicht noch einen glücklichen Fang tue.«
[] Er führte sie herauf zu der Stelle, wo er den erlegten Hirsch gelassen hatte, packte ihr die Haut samt dem Geweih auf den Kopf, gab ihr genaue Anleitung, wo sie ihre Last zu verstecken habe, und ging.
Christine machte sich schwer seufzend auf ihren Weg. »Wie anders hätt' ich's, wenn ich bei meiner Schulmeisterin blieben wär!« sagte sie zu sich, »und meine Kinder wären nicht schlechter versorgt als jetzt auch.«
Unterdessen hatte er sich der erspähten Stelle wieder zugewendet und bald fand er, daß seine Vermutung richtig sein müsse. Der eingeschlagene Pfad führte ihn über einen rauhen Fahrweg, auf welchem wieder ein Zweig von der beschriebenen Gattung lag. Das Gabelende, das den Wegzeiger bildete, wies scharf über die Straße nach einer Waldfurche hin. Er folgte der Richtung und gewahrte nach wenigen Schritten bei einem Durchblick, daß sie gerade auf jene Waldecke zu führte, wo jetzt ein stärkerer Rauch aus den Bäumen emporwirbelte. Nun suchte er nach keinem weitern Zeichen am Boden mehr, sondern schritt rüstig waldein, waldaus nach der Stelle, zu der es ihn zog. »Wenn er selbst nicht da ist«, sagte er zu sich, »so treffe ich seinesgleichen, die mir sagen können, wo er ist; denn solche Zeichen hat weder ein Bauer noch ein Jäger ausgestreut. Ich bin fertig mit der Welt, eine Staffel um die andere haben sie mich herabgestoßen, jetzt bin ich auf der letzten. Er hat mir richtig prophezeit: ›Wenn du keinen Aus- und Eingang mehr weißt, [] so kommen wir schon von selber wieder zusammen. Was bleibt mir sonst übrig?‹«
Die Sonne brannte glühend über den öden Gipfel des schlanken Berges herab, als er an dessen Fuß auf die Waldecke zuschritt. Er eilte in ihren Schatten. Das geladene Gewehr mit gespanntem Hahn für alle Fälle zum Anschlagen fertig haltend, sei es gegen ein Tier, sei es gegen einen Angriff von Menschenhand, schlug er sich langsam durch die Bäume vorwärts. Bald hörte er Stimmen und Gelächter und ging dem Schalle nach. »Steck mir vom Balo!« hörte er sagen, als er näher kam, und zu gleicher Zeit drang der Geruch eines gebratenen Schweines zu ihm, um ihm den Ausdruck, wofern dies nötig gewesen wäre, zu verdolmetschen. Er hatte keinen Zweifel mehr: wo jenische Laute sich vernehmlich machten, war weniger Gefahr für ihn, als wo deutsch oder gar das römisch-deutsche Rotwelsch des Gesetzes gesprochen wurde. Wer auch die Schmausenden sein mochten, in seiner verzweifelten Lage brauchte er weder ihre Feindschaft noch ihre Freundschaft zu fürchten. Er brachte den Hahn in Ruh, behielt aber die Büchse in der Hand und ging entschlossen vorwärts. Auf einmal stand er, zwischen den Bäumen hervortretend, auf einer kleinen Waldwiese, wo eine lustige Gesellschaft um ein Feuer lagerte. Sie bestand aus drei Männern und drei Frauen, welche sämtlich so anständig gekleidet waren, daß er, ein Mißverständnis besorgend, zurücktreten wollte. Aber schon war er bemerkt worden und sah ein paar Gewehrläufe auf sich gerichtet, [] als plötzlich ihm selbst und einem von der Gesellschaft der gegenseitige Ausruf entfuhr: »Da ist er ja!« Zugleich sprang einer der Männer auf und lachend auf ihn zu. Das Gesicht des Zigeuners, mit welchem sich sein Lebensweg heute zum drittenmal kreuzte, hatte seit der ersten Ludwigsburger Bekanntschaft Veränderungen erlitten, die seinem Festungsgenossen nicht unbekannt waren: die gelbe welke Haut war in unzählige Runzeln und Falten zerschnitten, die besonders an Mund und Augen das Gepräge einer lächelnden Verschlagenheit und großen Übung in der Kunst, die Leidenschaften zu verbergen, ausdrückten. Neu aber war ihm eine weitere Veränderung: ein Auge, in dessen Besitz er ihn auf Hohentwiel noch gesehen, war ihm in der Zwischenzeit abhanden gekommen; doch gereichte ihm dieser Verlust nicht eben zum Nachteil, da die Laune des Zufalls das scheele Auge betroffen hatte, dessen Blick äußerst abschreckend gewesen war, so daß er jetzt als Einäugiger mit dem geschlossenen, von lustigen Fältchen umspielten Augenlide nicht mehr so widrig aussah wie früher, da er geschielt hatte.
»Willkommen!« rief er und streckte ihm die Hand entgegen. »Hab ich's nicht gesagt, wir sehen unswieder?«
»Grüß dich Gott, Christianus!« erwiderte Friedrich und schüttelte ihm die Hand. »Hab da auf einen Hirsch anstehen wollen, und jetzt treff ich noch ein ganz anderes Stück Hochwild. Du wärst aber schwer zu finden gewesen, wenn ich dich hätte suchen wollen, denn deinen Zinken hab ich nirgends gesehen.«
[] Der Zigeuner lächelte verschmitzt. »Ich bin nicht allein mit den Meinigen«, sagte er, »es haben sich Freunde zu uns gesellt, die auch wieder Nachzügler erwarten, und da hätten wir ja eine ganze Wappensammlung in die Bäume schneiden müssen.«
»Was ist denn mit deinem Aug passiert?« fragte Friedrich weiter.
»Ich hab eine kleine Ungelegenheit gehabt«, antwortete der Zigeuner ausweichend, »und da hab ich den queren Scheinling eingebüßt.« »Aber komm«, unterbrach er sich, »ich muß dich der Gesellschaft vorstellen.«
Er nahm ihn bei der Hand und führte ihn gegen das Feuer, an welchem ein ganzes Schwein briet und einen Duft ausströmte, der einen Hungrigen wohl in Versuchung führen konnte. »Merkt auf, ihr Männer, und spitzt die Ohren, ihr Weiber!« rief er, »hier bring ich euch einen Freund, nach dessen Bekanntschaft ihr euch schon lang gesehnt habt. Das ist«, fuhr er mit erhobener, beinahe feierlicher Stimme fort, »das ist der Mann, dessen Name in jedem Walde zwischen Rhein und Donau mit Hutabziehen genannt wird, obgleich er seinen eigenen Wert nicht kennt, der Mann, vor dem ein ganzes Amt zittert, der Mann, dessen Genie die Festungswerke von Hohentwiel zu einem Kinderkartenhäuschen gemacht hat –«
»Ah!« riefen die drei weiblichen Mitglieder der Gesellschaft, die im Begreifen den Männern vorauseilten.
»Mit einem Wort«, vollendete der Zigeuner, indem[] er seinem Tone noch stärkeren Nachdruck gab, »es ist der berühmte Sonnenwirt.«
Mit einem Schrei der freudigsten Überraschung sprangen alle auf und umringten den Ankömmling, der kaum wußte, wie ihm geschah. Er glaubte zu träumen. Ausgestoßen, gehaßt und verachtet, wie er war, hatte er bis jetzt höchstens die traurige Befriedigung genossen, sich gefürchtet zu sehen, und durch seine Geschicklichkeit im Wildern hatte er sich bei den Hofbesitzern und Bauern eine gewisse eigennützige Teilnahme erworben; aber die Freundschaft, Achtung, Bewunderung, ja Ehrerbietung, die ihm hier als einem jungen Manne, der schon so Großes geleistet, erwiesen wurden, und zwar von Leuten, durch deren, wie es ihm schien, ungewöhnliche Bildung und Redeweise er sich zugleich gehoben und gedemütigt fühlte, diese Erzeigungen waren ihm unbekannt, und während seine Bescheidenheit sich gegen das Übermaß des Lobes und Preisens sträubte, tat doch die ungeheuchelte Anerkennung, die sich darin äußerte, nicht bloß seiner Eitelkeit, sondern auch seinem Herzen wohl.
»Nun will ich dir die Gesellschaft vorstellen«, fuhr der Zigeuner fort. Er deutete auf einen großen Mann, dessen freundliches Gesicht, unterstützt durch einen feinen, weißblauen Rock, einen günstigen Eindruck machte, nur daß um den lächelnden Mund ein spöttischer Zug lauerte und die etwas gemeine Barchentweste weder zu den silbernen Knöpfen, mit welchen sie besetzt war, noch zu dem feinen Rock recht passen wollte. »Das ist mein Freund Bettelmelcher«, [] sagte er, »ein sehr versierter Kopf, dessen glattem Gesicht man es nicht ansehen würde, wie viel Raffinement dahinter steckt.«
Der Mann mit dem abstoßenden Namen reichte dem Gaste die Hand und bewillkommte ihn mit so zierlich gesetzten Worten, daß der widersprechende Eindruck, den sowohl sein Gesicht als seine Kleidung hervorbrachten, bei einem Neuling schnell ausgeglichen wurde.
»Und dieser«, sagte der Zigeuner, indem er den andern am Arme nahm, »ist mein Freund Schwamenjackel, ein sehr ernsthafter Kerl, wenn er anfängt, denn da heißt's bei ihm: ›Nix Pardon!‹ aber seinen Freunden treu und anhänglich; wenn er einen einmal zum Freunde angenommen hat, so geht er durch's Feuer für ihn – ein grundehrlicher Kerl!«
Der also Geschilderte zerdrückte dem Ankömmling die breite, starke Hand, daß dieser das Blut in den Fingerspitzen fühlte, und sagte mit heiserer Stimme: »Wollen gut Freund sein.« Dann räusperte er sich, als ob die paar Worte ihm die Kehle angegriffen hätten, und nickte stumm dazu.
Er war eine kurze Gestalt, noch etwas unter Friedrichs Größe, aber dicker. Sein Gesicht war leserlicher als das seines Gefährten, aber es bedurfte einiger Überwindung, um darin zu lesen. Ein starker schwarzer Bart, an den unteren Haaren ins Gräuliche streifend, gab den groben Zügen den Ausdruck einer ungeschlachten Verwogenheit; hinter den buschigen Augenbrauen lagen ein paar bösblickende Augen wie in tiefen Höhlen; die niedrige Stirne [] deutete auf eine harte Entschlossenheit, die wenig nach Überlegung fragte, und das gleichfalls ins Graue spielende schwarze Haar verriet, mit dem noch nicht alten Gesichte verglichen, ein Leben voll Mühsal und wilder Leidenschaft. Trotz dieser Härte der Erscheinung hatte der Mann nichts Bäurisches in seinem Auftreten; seine Bewegungen waren kurz und sicher, und sein Anstand blieb wenig hinter dem seiner gewandteren Genossen zurück. Seine Tracht aber war noch ungleichartiger als die des Bettelmelchers. Er trug ein graues Kamisol und gelbe hirschlederne Beinkleider, die vollkommen zu seinem Gesichte, desto weniger aber zu einer höchst stattlichen braunseidenen Kamelotweste paßten. Eine bessere Übereinstimmung zeigte der Anzug des Zigeuners: sein grüner geschlossener Jagdrock schickte sich trefflich zu den weißen Beinkleidern und zu einem Hirschfänger, den er an der Seite trug; aber ein schärferes Auge konnte auch an ihm eine Unvollkommenheit entdecken, denn der Schnitt der Kleider wollte nicht ganz genau zu seinem Leibe passen. Der Gast aber nahm es mit seiner Musterung nicht so streng, er dachte vielmehr nur an den Gegensatz, den er selbst unter diesen wohlgekleideten Leuten bildete, und verglich beschämt seinen abgeschabten Rock, der keine bestimmte Farbe mehr hatte, seine nußfarbigen, einst gelbledernen Beinkleider, seine schwarzen Strümpfe, die noch die gute Eigenschaft hatten, daß sie nicht so oft der Wäsche bedurften, und seine zerrissenen schmutzigen Schuhe mit den wohlhäbigen Kleidern, den frischen weißen[] Strümpfen und den blankgewichsten Schnallenschuhen der andern.
Hierauf stellte ihm der Zigeuner den weiblichen Teil der Gesellschaft mit den Worten vor: »Das ist meine Mutter Anna Maria, eine betagte Witwe, die viel erlebt und erlitten hat, und das sind meine Schwestern Margareta und Katharina, die sich dir schon selbst zu empfehlen wissen werden.«
Der Gast machte einen verlegenen Kratzfuß; es war ihm in seinem Leben noch nicht begegnet, daß er so förmlich einer weiblichen Gesellschaft vorgestellt wurde. Aber die Anwesenheit der beiden bildhübschen Mädchen, die er vom ersten Augenblick an unwillkürlich immer wieder hatte ansehen müssen, erhöhte den anziehenden Eindruck des Empfanges nicht wenig für ihn. Sie waren, wie ihre Mutter, von Kopf bis zu Fuß schwarz gekleidet und trugen, während jene ein buntes Tuch um den Kopf geschlungen hatte, breitrandige Strohhüte von geschmackvoller Form, die ihnen ein freies, kühnes Aussehen gaben. Die ältere sah gar nicht wie eine Zigeunerin aus, sie hatte hellbraune Haare und ein Gesicht wie Milch und Blut, aus welchem ein Paar hellgraue Augen keck und lustig hervorblitzten; über ihrer vollen Brust wogte eine silberne Kette auf und ab, und ihre Finger strotzten von Ringen. Die jüngere, die ihr Bruder Katharina geheißen, war ohne allen Schmuck, bis auf ein brennend rotes Halstuch, das der Farbe ihres Gesichts und Halses verführerisch zu Hilfe kam; denn wenn sie auch so wenig wie ihre Schwester einer Zigeunerin gleich sah, so [] ließ doch ihre Färbung den zigeunerischen Ursprung verraten; sie hatte dunkelbraune Haare, und ihre Haut stach von dem hellen Aussehen ihrer Schwester mächtig ab, war aber ebensoweit entfernt von jener schmutzigen Hautfarbe, die ihre Mutter und ihren Bruder unverkennbar zu Zigeunern stempelte, sondern näherte sich dem reinen Braun des Erzes, so daß das Blut lebenswarm, gleichsam von der Farbe des Halstuches angelockt, durch die Haut hindurchschimmerte. Beide Schwestern waren von Gestalt untadelhaft. Auf den ersten Blick schien die ältere, solange sie durch ihr entgegenkommendes Lächeln bezaubern konnte, die schönere zu sein; bald aber mußten einem unverdorbenen Blicke ihre Augen, die sie unnötig zu erweitern suchte, zu grell erscheinen, und das ewige Lächeln, das ihren Mund ins Breite zog, fand ebenfalls bald seine Erklärung: er war von Natur etwas zu groß, und um dies zu verbergen, liebte sie die Zähne zu zeigen, die freilich so blendend weiß waren, daß man ihr das Auskunftsmittel nicht verargen konnte. Die Mutter war eine alte häßliche Zigeunerin mit unheimlich blitzenden Augen, einer vorspringenden Nase, die das ganze Gesicht aufwog, und einem zahnlosen, von tiefen Furchen umgebenen Munde darunter. Die drei ungleichen Kinder, die sie ihre Mutter nannten, ein echter Zigeuner, eine völlige deutsche und eine Halbzigeunerin, konnten unmöglich von einem und demselben Vater stammen.
»Es ist uns eine große Ehre, den Herrn Sonnenwirt bei uns zu sehen«, sagte die Alte, indem sie die Vorstellungsfeierlichkeit [] erwiderte, »wir haben so mächtige Dinge von Ihnen gehört, daß wir uns über Ihren Besuch sehr glücklich schätzen müssen; und ich wünsche nur, daß es dem Herrn Sonnenwirt bei uns recht lang gefallen möchte.«
»Bitt Ihnen!« stammelte der Gast verlegen und bescheidentlich. »Ich bin nicht Sonnenwirt. Mein Vater ist immer noch auf der Wirtschaft. Man hat mich in meinem Ort eben den Sonnenwirtle geheißen, wie man des Anwalts Sohn den Anwältle heißt, und wie man des Amtmanns seinen, wenn der nämlich einen hätt, den Amtmändle heißen würde. Weiter ist's nichts.«
Alle lächelten, und selbst der rauhe Schwamenjackel verzog den Mund ein wenig.
»Nun sitz dich endlich, Bruder Sonnenwirt!« sagte der Zigeuner lachend. »Wir sind freie Leute; was kümmern uns Rang und Titel in dieser einfältigen Welt! Wenn's dir aber nicht genehm ist, deines Vaters Titel zu führen, nach dem du freilich kein großes Verlangen verspüren wirst, so wollen wir dir seinen Namen geben. Reicht dem Friedrich Schwan die Hände, Mädels, und das mit Respekt, und nun wieder zu unserm Geschäft!«
Die beiden Mädchen nebst der Mutter gaben dem Gast die Hände, wobei die ältere Schwester ein warmes Fingerspiel mit unterlaufen ließ, die jüngere aber sich auf einen kurzen Handschlag ohne irgendeinen Druck beschränkte. Er wurde zwischen die beiden Schönen gesetzt, und die Mahlzeit nahm ihren Fortgang, wobei ein köstlicher Wein aus einem Fäßchen,[] dessen Handhabung Bettelmelcher übernommen hatte, fleißig die Runde machte. Friedrich konnte dem Reiz der Speise und des Getränkes nicht widerstehen und entschuldigte seine durch lange Entbehrung gesteigerte Begierde mit einer auf dem Anstande durchwachten Nacht. Man sprach ihm eifrig zu, und die beiden Mädchen wetteiferten, ihn zu bedienen, wobei die ältere ihn durch Schnelligkeit zu gewinnen suchte, die jüngere aber ihm seltener, jedoch ausgewähltere Bissen vorlegte. Mit Wein versah ihn die ältere aufs reichlichste, und bald kreiste das Blut rascher durch seine Adern; die jüngere reichte ihm nur dann das Glas, wenn es längere Zeit nicht an ihn gekommen war und die ältere ihren Dienst im Schwatzen vergessen hatte. Die Mahlzeit ging in munteren Gesprächen hin, die sich großenteils auf ihn selbst bezogen und in welchen er bald mit gröberen, bald mit feineren Schmeicheleien überhäuft wurde. Selbst seine Büchse wurde gelobt, und er glaubte zum erstenmal in einer Welt zu sein, die alles an ihm vortrefflich fand. In diesem behaglichen Zustande störte ihn nichts als das Benehmen der älteren Schwester Margareta, das er auf die Länge auffallend zudringlich fand: sie setzte ihm mit mehr als herausfordernden Blicken und Reden zu und wußte sich dabei auf eine Weise an ihn anzuschmiegen, die ihn zugleich abstieß und doch entzündete. Dies hatte zur Folge, daß er das Feuer, das sie in ihm anfachte, mehr und mehr ihrer jüngeren Schwester zuwendete, die nicht bloß durch ihre Zurückhaltung gewann, sondern bei längerem Anschauen [] nach und nach eine Schönheit entfaltete, welche das Auge zu immer häufiger wiederholten Besuchen einlud. Diese Schönheit bot weit mehr ein Ganzes dar als die zusammengesetzten Reize ihrer buhlerischen Schwester. Auch konnte der strenge Ernst, der in dem dunklen Gesichte mit der geraden wohlgebauten Nase vorzuherrschen schien, einem warmen Lächeln weichen, die festgeschlossenen Lippen konnten zu einem Scherzwort auftauen, das den freien Ton der Unterhaltung überbot, und wenn ihr schwarzbraunes Auge einmal flüchtig über den Gast hinstreifte, so war es ihm, als ob sie hinter diesem stillen Blick eine Glut verberge, die sie plötzlich verzehrend auflodern lassen könnte. Er sagte sich vor, er wolle sie nur ein wenig auf die Probe stellen, indem er, durch Margaretens freches Strohfeuer erhitzt, sein Knie an das ihrige drückte; sie rückte aber leise weg, und er beschloß, den Versuch nicht so bald zu wiederholen.
Der »Balo« war unter Scherzen und Erzählungen verspeist, wobei die Geschichte des Ausbruchs von Hohentwiel, der einem der drei Kühnen das Leben gekostet hatte, den Hauptgegenstand bildete, und das auf einem Baumstumpf aufgelegte Fäßchen war schon geneigt, als der Zigeuner zum Beweise für die Schlechtigkeit der Welt die Lebensgeschichte des neuen Freundes zu erzählen begann und ihn dadurch zu Berichtigungen und Ergänzungen nötigte. Die Mitteilung wurde mit der lebhaftesten Teilnahme aufgenommen, und selbst Schwamenjackel bemerkte, es sei scheußlich, so mit einem Menschen umzugehen. [] »Wie könnte es mir einfallen«, sagte die alte Anna Maria, »meine Kinder im Heiraten beschränken zu wollen! Ich hab ihnen stets ihren Willen darin gelassen, es ist ja ganz ihre eigene Sache.« Am stärksten aber verurteilte die Gesellschaft das Benehmen der Obrigkeit, die sich in Dinge gemischt habe, welche sie gar nichts angehen. Dabei wurde Friedrichs Standhaftigkeit mit Bewunderung hervorgehoben, und das Gefühl des erlittenen Unrechts, das schon zuvor an ihm zehrte, immer heftiger in ihm angefacht, bis es zuletzt ihm wie den andern feststand, daß die Welt aus lauter Spitzbuben bestehe, die man mit allen Waffen zu bekämpfen berechtigt sei. Die Weigerung des Pfarrers endlich, eine Trauung ohne Trinkgeld, wie es Schwamenjackel nannte, vorzunehmen, rief eine Empörung hervor, welche, von Leuten dieses Schlages ausgesprochen, einen besonderen Nachdruck erhielt und sie selbst wiederum in den Augen des Neulings, besonders wenn er ihre gesellschaftliche Stellung mit der Amtswürde des habsüchtigen Geistlichen verglich, bedeutend heben mußte. Sie bekannten sich sämtlich für gute katholische Christen und versicherten mit nicht geringem Stolze, daß ihre Konfession an solchen abschreckenden Beispielen weit ärmer sei.
»Wißt ihr das Stückchen vom Leutnant Löw und seinem Louisd'or?« fragte die jüngere der beiden Zigeunermädchen, und auf Verneinen der anderen erzählte sie: »Eine arme Frau mit einem Kind steht weinend an der Kirche. Begegnet ihr ein Jud und [] fragt, warum sie weine. ›Der Pfarrer will mein Kind nicht taufen‹, sagt sie, ›weil ich die Taufgebühr nicht zahlen kann.‹ ›Ei‹, sagt er, ›da ist bald geholfen‹, und gibt ihr einen Sonnenlouisd'or, sie solle ihn dem Pfarrer bringen und sagen, eine Christenseele habe ihr aus der Not geholfen. Darauf geht sie in die Sakristei, und wie die Kirche aus ist, kommt sie ganz vergnügt heraus. ›Nun! wie hat's gegangen?‹ fragte der Jude, der auf sie gewartet hat. Das Kind sei glücklich getauft, sagte sie, sie hätte freilich geglaubt, der Pfarrer solle ihr auf das Gold herausgeben, was ihm nicht eingefallen sei; aber dennoch hat sie dem Juden tausendmal gedankt. ›Gott's Wunder‹, sagt der Leutnant Löw, ›wenn der Pf äff herausgegeben hält, so war der Spaß freilich noch größer, aber Dank's wert ist's auf keinen Fall, denn der Luckedor war falsch.‹«
Die Gesellschaft brach in ein unbändiges Gelächter aus, in welchem sich Schwamenjackels Stimme durch ein eigentümliches Grunzen unterschied. Bettelmelcher lachte, daß ihm die Tränen in den Augen standen.
»Leutnant Löw?« fragte der Gast, als man sich müde gelacht hatte. »Unter welchem Militär gibt's denn jüdische Offiziere?«
Das Gelächter brach von neuem so heftig aus, daß er, in der Überzeugung, ungeschickt gefragt zu haben, mitlachen mußte.
»Diese Art Militär«, belehrte ihn der Zigeuner, »ist bei Mergental zu Hause, steht aber nicht im Dienste des deutschen Ordens, obwohl unter allen Ländern dort am besten zu leben ist, denn der Deutschmeister[] hat gelobt, nie einen mit einer Todesstrafe zu belegen und nie die Auslieferung eines Flüchtigen zu verlangen, und alle seine Untertanen vom Schultheißen bis zum Nachtwächter halten's mit uns; dort ist kein Bub und kein Mägdlein, das nicht Jenisch versteht. Darum wird auch kein vernünftiger Koch um in jenem Gebiet etwas anstellen, aber es ist ein sehr günstiges Terrain, um von da aus in der Umgegend mit Unternehmungen aufzutreten. Drei Leutnants haben dort Gesellschaften gegründet mit einer Einrichtung, die man sonst nirgends trifft. Jeder hat ungefähr dreißig Mann unter sich, meist Juden, auch Zigeuner, und im Notfall werben sie auch sonst taugliche Leute dazu. Wenn ein Koch unternommen werden soll, so wird zuerst der Waldoberer ausgeschickt, der die Gelegenheit auskundschaftet und dafür seine besondere Belohnung erhält. Der kauft dann etwa einem Bauern ein paar Ochsen ab und sieht, wo er das Geld hintut, damit man's wieder holen kann und weiteres dazu. Dann schickt der Leutnant seine Knechte aus und läßt seine Leute von Ort zu Ort – bei den Judenschulen trifft man sie am sichersten – auf einen Sammelplatz zusammenbieten, reicht ihnen auch, bis die Sache ausgeführt ist, was oft acht Tage und darüber ansteht, allen ihr regelmäßiges Taggeld nebst Unterhalt, und wenn das Unternehmen gut ausfällt, noch obendrein jedem seine Portion. Nach der Verteilung der Beute stellt er sie in einen Kreis, liest die Namen ab und heißt sie dann einzeln auf verschiedenen Wegen sich fortmachen, nicht trinken, nicht spielen, bloß bei den Juden über Nacht bleiben und still zu Hause [] warten, bis er sie auf einen anderen Koch zusammenberufen werde. Bei dem Unternehmen müssen sie streng Order parieren, und es wird nicht jeder angenommen, sondern scharfe Auswahl gehalten. Der Jägerkasperle – du wirst ihn kennenlernen, wir erwarten ihn täglich hier – der hat einmal mitgehen wollen, aber der Leutnant Löw hat ihn bei der Musterung von oben herab angesehen und gesagt, was man denn mit dem kleinen schlechten Kerl tun wolle, es seien ohnehin Leute genug da, man solle ihm etwas geben und ihn fortweisen. Darauf hat ihm ein Unterbefehlshaber einen Gulden geschenkt; der Kleine ist heut noch wild darüber.«
»Das war auch nicht recht«, bemerkte Bettelmelcher, »denn der Jägerkasperle ist zwar nicht groß, aber ein solch rahner, flüchtiger, gewandter Bursch, daß er's mit dem Teufel aufnimmt, freilich mehr in List als Gewalt. Er lobt besonders den Welzheimer Markt. Ich freue mich sehr auf den lustigen Bürsten-und Kehrwischhändler, der sich die Leute durch so hohe Preise vom Leib zu halten versteht, daß ihm gewiß niemand seinen nötigen Vorrat abnehmen wird. Auch auf sein kleines sauberes Frauele freu ich mich: sie ist eine treffliche Bemutter und wird nicht leicht eine so geschickt einen Beutel wegzustibitzen wissen.«
»Jawohl«, sagte der Zigeuner. »Diese Juden«, fuhr er in seiner unterbrochenen Rede fort, »sind ganz verfluchte Kerls. Sie haben ein Regiment und Staat errichtet, dergleichen zwischen Rhein und Donau nirgends ein ähnliches existiert, und die Sache wär wohl der Nachahmung wert. Sie müssen einen unbegreiflichen [] Profit davon haben, denn sie zahlen nicht bloß nobel aus, sondern wenn ein Unternehmen mißglückt, so fallen alle Kosten auf sie allein. Und doch haben sie immer Geld genug, tragen goldene Uhren, gehen im feinsten Tuch proper gekleidet, und die vornehmsten Juden halten es mit ihnen. Wollen wir's nicht auch einmal probieren?« setzte er lächelnd gegen den Gast hinzu.
»Da wird's für einen Anfänger nötig sein, sich ein hebräisches Wörterbuch anzuschaffen«, bemerkte die alte Zigeunerin mit wohlmeinendem Tone gegen denselben, »denn das Jenische reicht bei ihnen nicht ganz aus, sie mischen mehr hebräische Wörter darunter. Übrigens«, wendete sie sich gegen ihren Sohn, »sehe ich nicht ein, warum man den Juden in ihren Sack arbeiten soll. Und wie lang werden sie's noch mit ihren Gewalttaten treiben? Ich bin überhaupt nicht für diese Art von Arbeit. Diese Einbrüche machen einen großen Lärm weit umher, verderben das Terrain, mißlingen oft und tragen im besten Fall nicht viel ein, weil der Gewinn in zu viele Teile geht. Ich lobe mir die stillen sichern Marktunternehmungen, wie sie in unserer Familie bisher gebräuchlich gewesen sind. Kennt unser Gast die Fuhre? Ich denke, wir dürfen ihn als einen Kochum, das heißt, wenigstens als einen vertrauten Mann betrachten?«
»Ich bürge für ihn«, rief der Sohn, während der Gast erwiderte, daß die Fuhre ihm bis jetzt ein unbekanntes Wesen sei.
»Die Fuhre«, belehrte ihn die alte Zigeunerin, »ist eine zweckmäßige Kleidung für den Marktgang –«[] »Ja, sie gehört eigentlich ins Gebiet der Moden«, unterbrach Bettelmelcher lachend.
»Richtig, und ist. eine sehr sinnreiche Mode –«
»Für die Weiber«, sagte Schwamenjackel. Die jungen Leute lachten zusammen.
»Für die Weiber«, fuhr die Alte geduldig fort, indem sie jedoch zugleich einen stechenden Blick nach dem Unterbrecher sendete. »Ober- und Unterkleid, welche sehr weit und faltig sind, werden am unteren Saum rings mit einem Faden zusammengezogen, der innen auf beiden Seiten bis zu den hohlen Taschenöffnungen heraufgeht. Auf diese Weise bildet das Kleid einen großen Sack, in den eine tüchtige Schottenfellerin zwei, drei Ballen von je zwanzig Ellen und mehr nacheinander hineinpraktizieren kann, ohne daß jemand eine Spur davon sieht. Ist das Gepolster zu groß, so deckt man's mit dem breiten Strohhut zu. Der Krämer muß sich's gefallen lassen, daß man vor seine Bude tritt und seine Waren prüft. In der Regel hütet er nur die kleineren Stücke und denkt nicht daran, daß ihm so ein großer Pack verschwinden kann. Wenn er aber etwas merkt, so zieht man nur den Faden auf, daß die Ware durch die Säume auf den Boden fällt, hebt sie auf, als ob man sie zufällig vom Tische gestreift hätte, und überreicht sie mit dem größten Anstände von der Welt, so daß er noch höflich danken muß.«
»Das Schottenfellen«, bemerkte der Gast, »scheint mir also bloß ein Geschäft für die Frauenzimmer zu sein. Da haben ja die Männer das Zusehen.«
»Ein rechtes Frauenzimmer wird sich's stets als ein[] Glück anrechnen, für ihren Geliebten arbeiten zu dürfen«, sagte die ältere der beiden Schwestern zärtlich zu ihm.
»Die Weiber sind flinker und gescheiter als die Männer«, bemerkte die jüngere stolz. »Was die mit ihren plumpen Fingern bei einem Einbruch davontragen, reicht oft nicht, um einen Tag zu leben, während ich auf einem guten Markt, wie sie am Rhein drüben sind, ein paar hundert Gulden an einem einzigen Tag verdienen will.«
»Vom Weibsverdienst zu leben, das war nicht nach meinem Geschmack«, versetzte der Gast.
»Und ich«, erwiderte sie, »möcht mich nicht von einem Mann erhalten lassen. Lieber will ich ihn erhalten, wenn mir einer gefällt.«
»Die Männer sind nicht so müßig dabei, wie man meint«, sagte die Alte. »Sie haben auf dem Markt einen wichtigen Dienst zu versehen. Einmal müssen sie ihren Schottenfellerinnen die Waren in Sicherheit bringen, damit diese, wenn gerade ein guter Tag ist, wieder ihrer Arbeit nachgehen können. Dann müssen sie den Markt bewachen, nicht bloß gegen die Fleischmänner, die dort Aufsicht halten, sondern oft auch gegen Bekannte, die sich einen Anteil vom Ertrag nehmen wollen und vorgeben, man habe ihnen den Markt verderbt. Ein Mann hat also oft alle Hände voll zu tun, wenn der Markt glücklich ausfallen soll, und einer allein ist nicht immer Manns genug, denn wenn's Lärmen gibt, die Fleischmänner über die Weiber herfallen und sie gefangen nehmen wollen, so müssen die Männer sie oft mit Gefahr ihres Lebens befreien.«
[] »Das läßt sich eher hören«, sagte der Gast.
»Ja«, fiel der Zigeuner ein, »da ist im Pfälzischen drüben so ein vermaledeiter Kerl, der Kastor, der's mit der Kostenbärbel und ihrer Tochter hält. Der führt eine schöne Polizei auf den pfälzischen Märkten, läßt die beide Canaillen unter seiner Aufsicht stehlen, soviel sie wollen; aber andern ehrlichen Leuten, die ein Geschäft machen wollen, paßt er um so schärfer auf und jagt ihnen alles wieder ab, nicht für das Amt, sondern für seinen eigenen Sack. Auf dem Bruchsaler Markt, weißt, Margarete, wie wir einmal miteinander dort gewesen sind, da hat er mich auf einmal mit meinem Namen angeredet und hat mir mit Verhaftung gedroht, wenn ich ihm nicht sechs Karolin gebe. Unser ganzes Vermögen bestand damals in einem Schwerttaler und einem Stückchen Wollendamast. Das hat er uns alles abgejagt und der Margarete noch obendrein ihre Haube mit feinen Spitzen, die nicht einmal vom Markt und wenigstens fünf Guldenwert war, und hat uns versprochen, daß er's uns auf dem Germersheimer Markt wiedergeben wolle, wenn wir uns gut halten und ihm die Hälfte unseres dortigen Ertrages abtreten wollen. Hätt ich einen einzigen entschlossenen Mann bei mir gehabt, wie ihr drei seid, da hätten dem infamen Kerl die Ohren sausen sollen.«
»Bei einem Nachtgang«, bemerkte Schwamenjackel, »ist doch mehr Mannhaftigkeit und auch mehr Spaß.«
»Die Mutter meint ja nicht, daß man die Branche ganz aufgeben soll. Zur Abwechslung kannst du dir immer wieder einen Spaß machen. Aber recht hat sie: es kommt nicht viel dabei heraus und macht ein [] Aufsehen, daß gleich eine ganze Gegend davon voll ist und daß man viel Berg und Täler zwischen sich und den Ort schieben muß. Warum haben wir Geld? Warum können wir herrlich und in Freuden leben, heut und alle Tage? Weil wir auf den rheinischen Märkten gute Geschäfte gemacht haben. Es ist nur schade, daß man nicht immerfort in der einen Gegend bleiben kann. Wenn aber vier zuverlässige Männer, wie wir, mit unsern Weibern zusammenstehen, dann können wir alle Märkte im schwäbischen und fränkischen Kreis beherrschen. Keiner darf uns ins Handwerk pfuschen, weil die andern nicht zusammenhalten, und gehen wir nach einem festen Plan zu Werke, so daß immer eine gute Zeit verstreicht, bis wir auf den nämlichen Markt zurückkommen, dann können wir ungestört fortarbeiten bis an unser seliges –«
»hänfenes Ende!« ergänzte Bettelmelcher.
»Das hat keine Gefahr, beim Schottenfellen am allerwenigsten«, entgegnete der Zigeuner.
»Nein, nein, das Projekt ist gut«, versetzte Bettelmelcher.
»Wo aber die Kunden herbekommen, an die man die Waren absetzen müßte?« fragte der Neuling. »Den Kattun oder Damast kann man doch nicht essen oder trinken.«
»Das laß deine geringste Sorge sein«, erwiderte der Zigeuner lachend.
»In ganz Franken und Schwaben«, sagte seine jüngere Schwester, »gibt's Pfarrer, Schultheißen, Wirte und sonst honette Leute genug, die bei einem wohlfeilen Einkauf ein Auge zudrücken. Alle Welt verwünscht [] die Krämer, die auf ihre Zunftrechte pochen, mit dem hundertfachen Profit nicht zufrieden sind und das Publikum mit ihren Sündenpreisen betrügen. Wer diesen Schelmen ihren Raub abjagt, ist den Käufern so lieb, wie den Bauern der Wildschütz, der ihre Felder bewahrt. Und da wir einmal von einer festen Ordnung reden, so meine ich, man könnte ebensogut einen planmäßigen Handel einrichten, feste Preise machen und vertraute Leute zum Wiederverkauf aufstellen, damit man nicht christlichen und hebräischen Juden preisgegeben und genötigt wäre, jedes Stück gleich wieder zu verschleudern.«
»Davon hab ich eben reden wollen«, versetzte die Zigeunermutter, »aber meine Christ – meine Katharine« – verbesserte sie sich, »kommt mir mit ihrem schnellen Geist zuvor. Dieser Handel müßte jedoch großenteils in Person betrieben werden, da man von den meisten Unterkäufern, wie wir aus Erfahrung wissen, doch nur betrogen wird und sich nicht hinlänglich gegen sie schützen kann. Ihr könnt euch jetzt schon denken, wo ich hinaus will. Wir müßten mit unsern Reisen zugleich einen wandernden Kramhandel für gemeinschaftliche Rechnung verbinden, der sich ganz offen in die Karten sehen lassen und viel ehrlicher betrieben werden müßte, als es bei den honettesten Krämern der Fall ist: überall Patente gelöst, jedes Stückchen Ware aufs pünktlichste verzollt, gegen das Gesetz und das kaufende Publikum durch und durch reell und dabei Preise, die jede Konkurrenz schlagen müssen! Das können wir. Es fehlt gar nichts, als daß wir in der Gesellschaft ein Mitglied haben –«[] »Und dazu ist unser Freund Schwan wie gemacht!« rief ihr Sohn dazwischen.
»Das will ich ja gerade sagen!« rief die Alte eifrig. »Man darf unsern Freund nur ansehen. Wenn er Sonnenwirt wäre an seines Vaters Statt oder sonst ein offenes Geschäft hätte, oder mit einer Kramkiste umherreiste, wie ja fürnehme Krämer mit den kostbarsten Waren hausieren – wer würde einem Mann von solch aufrichtiger Physiognomie, von solch leutseligem und bescheidenem Betragen nicht sein Vertrauen schenken?«
»Schönes Kompliment!« rief Bettelmelcher lachend. »Das heißt mit andern Worten: wir sehen aus wie Spitzbuben und er wie ein Biedermann.«
»Alles in seiner Art«, sagte die Alte, »und jeder an seinem Platz! Was kann unser Freund für sein Gesicht? Er sagt, er sei um sein Mütterliches gebracht worden. Oh, das ist ein großer Irrtum! Sein Mütterliches guckt ihm aus dem Gesicht heraus. Die meisten Menschen sehen bloß ihrem Vater ähnlich, und die Männer verhärten sich im Leben, das kann nicht anders sein. Wenn aber einer etwas von seiner Mutter hat, so braucht man die Frau gar nicht gekannt zu haben, man sieht's auf den ersten Blick, und wenn er noch so finster und grimmig dreinschaut. Ich verstehe mich auf Physiognomien. Das ist ein Gesicht, mit dem es alle, die sich ehrliche Leute nennen, gern zu tun haben, denn man merkt ihm gleich den Deutschen und, was noch mehr sagen will, den Schwaben an.«
Die Augen der Alten ruhten bei diesen Worten mit[] einer brennenden Wärme auf ihm, als ob ihr altes Herz sich noch von jugendlichem Liebesfeuer durchglüht fühlte. Es belästigte ihn, es lächerte ihn, und dennoch tat es ihm wohl. Erst als ihre ältere Tochter den Ausspruch der Mutter mit tätlichen Beweisen der Zustimmung begleiten wollte, fühlte er einen wirklichen Widerwillen und rückte von ihr weg, wie die jüngere vorhin sich von ihm entfernt hatte.
»Die Mutter hat zwei Deutsche zu Männern gehabt«, sagte der Zigeuner lächelnd zu seinen Gesellen. »Das verbirgt sich nicht. Aber ihr Vorschlag scheint mir gut.«
»Très bon«, sagte Bettelmelcher, »das Projekt ist insidiös.«
Schwamenjackel sagte nichts, sondern schaute gedankenvoll durch die leere Flasche, die er sich vor die Augen hielt. Die stumme Kundgebung bewog seinen Genossen, dem versäumten Schenkendienste gewissenhaft wieder obzuliegen.
»Was sagst du zu dem Antrag, Bruder Schwan?« wendete sich der Zigeuner an den Gast.
»Ich rechne mir euer Zutrauen zur Ehre«, antwortete dieser, »aber ich weiß nicht, ob ich auf den Posten tauge.«
»Zweifel und Bedenken über deine Fähigkeit lassen wir nicht gelten, da gib dir nur gar keine Mühe«, erwiderte der Zigeuner. »Es fragt sich bloß, ob du Lust und Liebe hast, dich zu einem gemeinsamen Geschäftsbetrieb mit uns zu verbinden, und ich denke, die Antwort sollte dir nicht schwer werden. Du weißt, ich hab dich schon von Hohentwiel aus mitnehmen[] wollen, und es hat mir nicht gefallen, daß du durchaus nach Ebersbach gewollt hast. Jetzt seh ich's noch viel deutlicher ein, daß dein Herumhocken in dieser Gegend zu nichts Gutem führen kann. Deine Hartnäckigkeit bringt dich gewiß noch an den Göppinger Galgen. Mach, daß du in eine andere Luft kommst; es ist allenthalben etwas zu verdienen. Und was ist das für eine Existenz, für Leben und Sterben hier und da ein Stück Fleisch oder Brot aus einem Haus zu holen und den Hals dabei zu riskieren, oder einem Brenner aus Malice, weil er einen elenden Fusel hergegeben hat, den Brennhafen fortzuschleppen, den man unterwegs liegen lassen muß! Das mag, wie gesagt, zur Abwechslung dann und wann recht sein, wenn nicht viel dabei auf dem Spiel steht, aber für einen Mann von deinen Gaben – nimm mir's nicht übel, Schwan, du weißt, ich pflege offen zu reden, und als dein Freund und Kriegskamerad brauch ich kein Blatt vor den Mund zu nehmen –, für einen Mann, der, wie du, zu etwas Besserem bestimmt ist, ist es ein erbärmliches Handwerk. Ich sag dir, es ist unter deiner Würde, und wieviel du Seide dabei gesponnen hast, wirst du selbst am besten wissen.«
Der Gast warf einen unwillkürlichen Blick auf seine abgetragenen Kleider, der dem Redner gestand, daß er ihm recht geben müsse.
»Hanf aber«, fuhr dieser fort, »kannst du dabei gerade so viel spinnen, wie bei den schönsten Unternehmungen, die sich der Mühe und Gefahr wenigstens verlohnen. Meinst du, wenn sie dich kriegen, so werden sie mit ihren lateinischen Ausdrücken, die auf[] alles passen müssen, große Unterscheidung machen? Mich wundert's nur, daß sie dich nicht schon längst am Fittich haben, und es geschähe dir recht; denn wie du ihnen unter der Nase herumvagierst, das ist kein Mut, das ist Wahnsinn! Bei uns ist ganz anders für deine Sicherheit gesorgt. Wir wissen in aller Herren Ländern jedes Plätzchen, wo man sich ruhig niederlassen kann.«
»Ist denn das zum Beispiel hier der Fall?« unterbrach ihn der Gast.
»Freilich!« rief der Zigeuner. »Die Frage beweist, wie wenig du die Welt noch kennst. Hier sitzen wir auf edelmännischem Boden und sind so sicher, wie das Kind im Mutterleib, während du in deiner Unkenntnis mit ein paar Schritten ins Württembergische taumelst, wo die Leute dumm sind und die Beamten, wie du selbst erzählst, sich kein Gewissen daraus machen, einem seine eigenen Kinder als Lockwürmer an die Angel zu stecken, um den Fisch damit zu fangen. Auch haben wir überall unsere vertrauten Leute, die uns Nachricht geben, wenn etwas gegen uns los ist. Und wenn je einmal eins von uns den Fuß übertritt und in die unrechten Hände gerät, so gibt es auch Mittel und Wege, ihm wieder aus der Falle zu helfen. Das alles geht dir ab, solang du wie ein Irrlicht allein und auf eigene Faust umherflackerst Und was für Ehre hast du davon, dein kümmerliches Leben immer und ewig um dein einfältiges Ebersbach herum zu fristen, wo alles schreit: ›Der Dieb, der schlechte Kerl, der Sonnenwirtle ist wieder einmal dagewesen und hat dies und das gestohlen!‹ Wenn du in unsere Gesellschaft [] eintrittst, so hörst du ganz andere Titel, da bist du allen ein lieber werter Freund, wirst wegen deines Mutes, wegen deines Verstandes, wegen deiner Treue geliebt, geachtet, bewundert, auf den Händen getragen. Du hast einmal auf einen wunderlichen Adjutanten zu Hohentwiel das Bibelwort angewendet: ›Es ist dem Menschen nicht gut, daß er alleine sei.‹ Das paßt nicht bloß darauf, daß er eine Gehilfin haben sollte, es paßt auch auf das Handwerk, das er treibt, er muß auch darin seinesgleichen um sich haben, bei denen er Beifall und Aufmunterung findet, denn sonst ist's ein Hundeleben.«
»Das ist sehr wahr!« rief der Gast, von dieser Bemerkung ergriffen.
»Bei uns findest du keinen Brotneid, keine Unterdrückung, wie in der honetten Welt draußen. Du bist uns mit deinem Kopf und Arm willkommen, und wir bedürfen deiner, wie du unserer bedarfst. Unsern Ertrag teilen wir ehrlich und redlich, und wenn einer vor den andern eine besondere Mühe auf sich genommen hat, so wird ihm ein verhältnismäßig größerer Anteil zuerkannt. Einen Leutnant, der das Beste an sich reißt und die andern als seine Untergebenen behandelt, gibt es nicht bei uns. Wer die beste Meinung geltend machen kann, dessen Anschlag wird befolgt, und was gemeinsam beschlossen ist, wird in strenger Ordnung ausgeführt. Außerdem aber leben wir als freie Leute auf gleichem Fuß miteinander.«
»Und immer in Floribus!« fiel Bettelmelcher ein, indem er die Flasche schwang und dem Gaste reichte.
»Leuchtet dir aber die Wahrheit deines Sprüchleins [] auch im anderen Punkte ein«, hob der Zigeuner wieder an, »und möchtest du eine Gefährtin haben, die in deinen neuen Lebenslauf paßt, so hast du, ohne Ziererei gesprochen, zwischen meinen Schwestern die Wahl. Du wirst sie, denk ich, beide nicht übel gefunden haben. Eine abschlägige Antwort hast du nicht zu befürchten; ich bürge dir nicht bloß für die Freundliche, sondern auch für die Trutzige, die mir ein herbes Gesicht für meine Rede macht. Auch findest du nicht einmal einen Nebenbuhler, denn beide sind frei, Freund Bettelmelcher aber ist versehen und schwört nicht höher als auf seine Marianna, die zärtliche Taube, die auch mit uns fliegen wird, und Freund Schwamenjackel macht dir nicht die mindeste Konkurrenz. Der hat statt des Herzens eine zweite Leber, oder wenn's je ein Herz ist, so ist es für die Weiber unzugänglich: keine Schottenfellerin wird es einsacken, keine Schrendefegerin wird hineinsteigen.«
Schwamenjackel grunzte, und die andern brachen in ein Gelächter aus.
»Sollten jedoch beide keine Gnade vor deinen Augen finden«, setzte der Zigeuner hinzu, »so dürfen sie dir kein saures Gesicht machen, wenn du eine andere wählst. Ich hab dir's ja schon früher gesagt: in Bickesheim bei Rastatt, am großen Wallfahrts- und Jahrmarktstage, da kannst du alles beisammen finden, was zu unserer Verwandtschaft gehört, und noch viel andere mehr, den Hannobel, den Josephle, den Tonele, den Frischholz, die Bebe, das Suphile, die Lisa, den Leopold, den Baron Stihl, den Buchdrucker und seine Hammelschwänzin, den Peter Paul, den Jägerkasperle, [] fast alle mit Familie und Mädels genug. Da hast du eine große Auswahl, und welche dir gefällt, die muß uns recht sein. Ich kann dir aber voraussagen, daß dir außer meinen beiden Schwestern höchstens noch die Lisa gefallen wird; denn diese drei gelten bei Freund und Feind für die drei größten Schönheiten zwischen Rhein und Donau. Die Marianna ist die vierte und sticht vielleicht alle drei aus, aber die läßt von ihrem Herzblatt nicht. Die Lisa hat zwar einen Mann, dem sie aber längst wegen seiner Schneidercourage den Laufpaß gegeben hat. Er ist ein Landsmann von dir, aus dem Maulbronner Oberamt gebürtig und bei uns unter dem Namen Schneidermichel bekannt.«
»Den kenn ich von Ludwigsburg her«, sagte der Gast.
»Ja, sie haben ihn um etlicher Kalamitäten willen ins Zuchthaus gesteckt und seitdem, wie ich höre, unter ein Grenadierbataillon gestoßen.«
Die Mädchen lachten.
»Der wird eine schöne Figur machen«, sagte die jüngere.
»Er hat freilich weder das Pulver erfunden, noch wird er's gern riechen«, bemerkte der Gast. »Übrigens ist er sonst ein guter Kerl.«
Die ältere begann über die abwesende Lisa, in der sie eine Mitbewerberin fürchten mochte, hämische Äußerungen auszustoßen, die aber von der jüngeren kräftig abgewehrt wurden. Dieser trat auch die Mutter bei und erklärte mit Lebhaftigkeit, die Geschmähte sei ihre Schwestertochter, sie habe sie so lieb wie ihre eigenen Kinder und wünsche sie so gut wie diese mit einem wackeren Manne, wie Herr Schwan, versorgt zu wissen.
[] »Das ist brav, sich der Abwesenden anzunehmen!« sagte dieser, indem er seiner jüngeren Nachbarin auf den Nacken klopfte, wobei er sich beredete, daß er die viele Freundlichkeit, die ihm in Worten und Werken erzeigt werde, doch auch in irgendeiner Weise erwidern müsse. Die Zigeunerin aber schien nicht mit dieser Art der Erwiderung einverstanden zu sein, sondern stieß ihn heftig zurück, wozu sie sich wohl noch mehr durch das zudringliche Betragen ihrer Schwester als durch seine Kühnheit herausgefordert fühlen mochte.
»Hoho!« rief ihr Bruder, »auf einen Puff gehört ein Kuß, das ist in den Wäldern so gut wie in Städten und Dörfern Sitte, und damit der Feuerteufel von einem Weibsbild keinen Ausweg hat, so schlage ich vor, daß wir jungen Leute mit diesem Gaste Bruder- und Schwesterschaft trinken.«
Der Vorschlag fand allgemeinen Beifall, die Flasche ging in die Runde, und der Freundschaftsbund wurde von den Männern mit einem Handschlag, von den beiden Mädchen je mit einem Kusse besiegelt. So feurig aber die ältere diese Gelegenheit benutzte, um ihre Wünsche kundzutun, so deuchte den Gast der rasche Kuß, mit welchem die jüngere einen Augenblick seine Lippen zusammenpreßte, weit inniger zu sein, und ein heißer Strahl aus ihren dunkeln Augen sagte ihm, daß sie der Bezeichnung, die ihr Bruder ihr soeben gegeben, zu entsprechen vermöge. Doch riß sie sich gleich wieder von ihm los und setzte sich ruhig auf ihren Platz.
»Eine solche Buße«, sagte er, »kann ich mir für die [] Sprödigkeit wohl gefallen lassen. Weil mir's aber doch scheint, daß es der Jungfer schwer fallen will, dieselbe gegen mich abzulegen, und weil ihr mich alle vorhin wegen meiner Standhaftigkeit gelobt habt, so will ich nur gestehen, daß mein Weib zu dieser Stunde vor dem Wald, wo ich sie hinbestellt habe, auf mich warten wird. Mein Weib heiß ich sie, obgleich wir's mit aller Mühe nicht dahin gebracht haben, miteinander vor den Altar zu kommen. Somit weiß ich auf das liebreiche Anerbieten weiter nichts zu antworten, als dieses: wenn's in eurer Gesellschaft nicht vielleicht Sitte ist, daß einer zwei und mehr Weiber hat, wie die alten Erzväter in der Bibel, so muß ich eben danken, weil ich schon versehen bin.«
Er konnte es nicht unterlassen, diese Eröffnung mit einem spähenden Blick auf seine Nachbarin zu begleiten, und hatte die Genugtuung, zu sehen, daß sie ihr Gesicht nicht so völlig in der Gewalt hatte, um die unwillkommene Überraschung ganz verbergen zu können.
»Das ist freilich was anderes«, versetzte der Zigeuner. »Bis jetzt ist die Vielweiberei bei uns nicht im Schwang gewesen. Die Männer würden sich vielleicht gar nicht ungern dazu verstehen, aber die Weiber finden sie nicht nach ihrem Geschmack. Übrigens ist es schade, daß du uns nichts von der Ankunft deiner Frau gesagt hast: wir haben ja beinahe nichts mehr übrig, was man ihr anbieten könnte. Da du unser Gast bist, so darfst du dich nicht bemühen. Freund Bettelmelcher ist gewiß gern so galant, sie abzuholen und in unsre Mitte einzuführen.«
[] »Wie sieht sie denn aus, damit ich nicht die Unrechte bringe?« fragte dieser neugierig lächelnd, indem er sich zum Fortgehen anschickte.
Christinens Freund empfand eine seltsame Verlegenheit. »Sie sieht aus, wie die Leute aus der Umgegend«, sagte er, nachdem er einen Augenblick vergebens nach einer passenderen Beschreibung gerungen hatte.
»Geh nur, Schelm!« rief der Zigeuner lachend. »Meinst du denn, du werdest einen Markt voll Weiber vor dem Walde finden? – Wir müssen eben einmal die Probe mit ihr machen, wie sie sich bei uns gefällt«, fuhr er fort, nachdem jener sich entfernt hatte. »Wir beweisen dir eine große Rücksicht, Bruder, und gehen weit von unseren gewohnten Grundsätzen ab, wenn wir deine Frau in unsere Gesellschaft aufnehmen. Was die Männer betrifft, so halten wir's nicht gar streng mit den Deutschen, selbst wir Zigeuner nicht, die wir uns noch am meisten abzuschließen pflegen. Meine Mutter ist, wie du weißt, mit Deutschen verheiratet gewesen. Unsre beiden Freunde hier sind gleichfalls Deutsche, wenigstens dem Aussehen nach, denn ihr Stammbaum ist ihnen selbst nicht recht bekannt. Welche Aufnahme du bei uns gefunden hast, das weißt du selbst. Gegen die deutschen Weiber aber besinnen wir uns dreimal, bis wir eine zulassen.«
»Aber nicht, weil wir eifersüchtig sind!« rief seine jüngere Schwester trotzig dazwischen.
»Nein, das sind wir nicht!« stimmte die ältere mit einem spöttischen Gelächter ein.
»Die deutschen Weiber«, sagte die Alte, »sind nicht zu unserem Leben erzogen und taugen deshalb selten dazu.«
[] »Sie sind«, ergänzte ihr Sohn, einen Augenblick aus dem Tone guter Lebensart fallend – »sie sind in der Regel dumme Hunde, die zu nichts zu gebrauchen sind.«
Es rauschte im Walde, und man hörte das Zirpen einer Grille, das der Zigeuner mit dem gleichen Laut beantwortete. Gleich darauf erschien Bettelmelcher, eine Frau am Arme führend oder vielmehr nach sich ziehend. Es war Christine, die ihm ängstlich und mit sichtbarem Mißtrauen folgte. Sie machte große Augen, als sie ihren Frieder zwischen den beiden Schönheiten sitzen sah, von welchen ihr Begleiter vermutlich nichts gesagt hatte. Dieser rechtfertigte das Lob, das der Zigeuner ihm zuerkannt hatte: er führte seine Anbefohlene mit fratzenhafter Galanterie herbei und sagte kratzfußend, indem ein leises, aber unbeschreiblich boshaftes Lächeln in seinen Mundwinkeln stand: »Habe die Ehre, Madame Schwan der Gesellschaft zu präsentieren.«
Christine zog ihren Arm aus dem seinigen und trat zu ihrem Manne. »Wo steckst denn so lang?« fragte sie weinerlich. »Läßt mich eine geschlagene Stund vor'm Wald da warten, daß ich schier am Umsinken bin,«
»Nun, so setz dich«, erwiderte er etwas unmutig, »bist ja jetzt bei mir.«
Die jüngere Zigeunerin rückte zuvorkommend und zog Christinen zu sich nieder, so daß sie zu ihrem Manne zu sitzen kam. Freilich war der Platz nach der anderen Seite hin nicht sehr vorteilhaft für sie, sofern sie die Vergleichung mit ihrer jüngeren, schöneren und reizend gekleideten Nachbarin aushalten [] mußte. Friedrich wußte, daß die Gesellschaft stille Blicke unter sich wechselte, die das Ergebnis dieser Vergleichung aussprachen. Er sah die Blicke nicht, aber er fühlte sie.
Aus Rücksicht auf den neuen Gast wurde die Unterhaltung, zu welcher man sich bisher der jenischen Mischsprache, untermengt mit modischen Brocken, bedient hatte, nun ganz deutsch geführt, wollte aber nicht recht in Gang kommen. Man bot Christinen, deren schlaffe Züge Müdigkeit und Hunger verrieten, von den Überbleibseln des Essens an; sie genoß einige Bissen, stieß aber bald die Speise zurück und klagte über Übelkeit. Der dienstfertige Mundschenk bot ihr die Flasche; sie trank gierig, fand aber den Wein zu stark, lehnte sich an ihren Mann und klagte, der Kopf schwindle ihr. Der Zigeuner suchte ihr eine bequeme Lagerstelle aus, breitete ein Tuch zur Unterlage für den Kopf auf den Boden und redete ihr zu, sich zur Ruhe zu legen. Sie betrachtete den Pfühl mit kaum verhehltem Widerwillen, entschloß sich aber doch, sich seiner zu bedienen, legte sich hin und war oder schien bald eingeschlafen.
»Du hast's also nicht zur Kopulation bringen können, Bruder?« fragte Bettelmelcher, als die Gesellschaft wieder vertraulich, wie nach einer überstandenen Störung, beisammen saß.
»Nein«, antwortete der Gast und erzählte ausführlicher als vorhin die Geschichte seiner vergeblichen Bemühungen um den kirchlichen und hiemit zugleich bürgerlichen Segen für sein eheliches Band.
»Dafür weiß ich Rat«, sagte sein neuer Freund;[] »wenn's dir immer noch darum zu tun ist, so kann ich dir einen Pfarrer angeben, der dich um Geld und gute Worte ohne Anstand kopuliert. Er ist ein Schulkamerad von mir, du brauchst ihm nur einen Gruß von mir zu sagen.«
»Wo ist er?« rief der Gast voll Feuer und Flamme. Das Wort hatte bei ihm eingeschlagen wie ein Blitz, und über der Aussicht auf ein Ziel, dem er so lange umsonst nachgejagt, auf die Möglichkeit, dem ganzen Flecken Ebersbach nebst Pfarrer und Amtmann zum Trotz den Eid zu halten, wegen dessen er einst vom Kirchenkonvent gestraft worden war, und seine Heirat zu vollziehen, über dieser Aussicht vergaß er alle Reize, die ihn zum Eintritt in eine neue Welt lockten und die unscheinbar gewordene erste Liebe verdunkelten. »Wo ist der Pfarrer, Bruder?« fragte er wiederholt den Freund, der durch ein so nahes Verhältnis zu einem Manne von ehrwürdiger Stellung in seinen Augen nicht wenig gestiegen war.
»Wurst wider Wurst!« antwortete Bettelmelcher, den der Zigeuner still angesehen hatte, mit schlauem Lächeln. »Wenn du einmal der unsrige bist, so hab ich kein Geheimnis mehr vor dir.«
»Nein!« rief der Zigeuner mit dem Tone der Billigkeit, »man muß einem Menschen nicht Hände und Füße binden. Wir sind freie Leute, und wenn er zu uns treten will, so soll es sein eigener freier Wille sein. Du mußt deinen Preis annehmlicher stellen.«
»Wohlan also«, sagte Bettelmelcher nach einem verstohlenen Blick auf Christinen, die wirklich schlief, »wenn du uns zu der ersten größeren Unternehmung, [] die wir ausführen, deinen Kopf und deinen Arm versprichst, so kannst du über meine Zunge verfügen. Mehr verlang ich nicht.«
»Es gilt!« rief der Gast aufspringend, »hier ist mein Wort und meine Hand!«
Die drei andern Männer sprangen ebenfalls auf die Beine, und einer nach dem andern empfing seine dargereichte Hand zu einem kräftigen Druck.
»Und ich«, rief der Zigeuner, »leiste hiemit Bürgschaft für ihn, daß er sein Wort halten wird. Wenn das geschehen ist«, wandte er sich zu ihm, »so bist du nicht weiter gebunden, und es steht ganz in deinem Belieben, ob du bei uns bleiben willst oder nicht. Auch sollst du dich zu keinem Unternehmen verpflichtet haben, das nicht nach deinem Sinn wäre.«
Sie setzten sich wieder, und zur Besiegelung des Gelübdes kreiste noch einmal die Flasche mit der Neige aus dem Fäßchen, das nun völlig auf dem Kopfe stand.
»Den Pfarrer, von dem ich dir gesagt habe«, vertraute nun Bettelmelcher dem Gaste, als er bemerkte, daß dieser ihn erwartungsvoll ansah, »den triffst du in Dinkeltheim bei Schwäbisch Hall.«
»Gut! Ich habe mit meinem Weib morgen einen Handel in Gmünd zu machen, und von da wollen wir gleich den Stab weiter setzen. Sowie ich zurückkomme, steh ich euch zu Diensten. Ob's ein Marktgang ist oder ein Unternehmen, wo man das Fell einsetzt und die Haar davonfliegen, gilt mir gleich. Nur eins beding ich mir aus: einem Unschuldigen will ich nichts zuleid tun, aber gebt mir eine Gelegenheit, daß ich dieser [] schnöden, falschen Welt mit ihrem Geiz und Hochmut, mit ihrer Unterdrückung und verlogenen Ehrbarkeit das Herz aus ihrem eigennützigen Leib herausreißen kann – und wenn's den Kopf kostet, ihr sollt mich kennenlernen.«
»Bravo, Bruder Schwan!« rief der Zigeuner. »So denken wir auch!«
»Die Gelegenheit sollst du haben!« rief Bettelmelcher. »Meinst du, du seiest allein unterdrückt? Ich könnte jetzt so gut Pfarrer sein, wie der Pfaff, der dir die Kopulation abgeschlagen hat, ich hatte schon ein wenig zu studieren angefangen, da hat mich ein betrügerischer Vormund um all mein Hab und Gut gebracht.«
»Ich hab auch noch mit einem solchen abzurechnen!« rief das halbgeworbene Mitglied der Bande.
»Was sind Bedrückungen des einzelnen gegen die Verfolgungen, die mein ganzer Stamm erfahren hat!« hob die alte Zigeunerin an. »Vor ein paar hundert Jahren sind unsere Vorfahren aus fernen Landen weit im Osten durch Krieg und Not in dieses Land gekommen, wo eine blässere Sonne scheint. Sie haben sich friedlich in den Wäldern aufgehalten, haben von den Leuten geheischen, was sie zu ihrer Notdurft brauchten, und haben in guter Freundschaft mit ihnen gelebt. Dann haben böse Menschen Mißtrauen und Hader gesät, und seit mehr als hundert Jahren wird unser Stamm verfolgt, so daß keins von uns sein Haupt ruhig auf den Boden legen kann. Jedes friedliche Fortkommen ist uns abgeschnitten, als ob wir nicht auch Christen und Kinder Gottes wären, die gelebt [] haben müssen, und wir mögen unsere Nahrung suchen, wie wir wollen, so sind wir dafür von Mutterleib an zum Tod verurteilt. Drei Männer hab ich nacheinander gehabt, keinen lang: alle drei sind am Galgen gestorben. Zwei Schwestern und ein Bruder sind den gleichen Todesweg gegangen; die dritte Schwester hat sich zu Karlsruhe im Gefängnis erhenkt, denn Freiheit ist unsere Lebensluft. Von zwei Männern meiner Schwestern ist einer durch das Schwert, einer durch den Strang gestorben. Ein Sohn, zwei Schwiegersöhne, eine Schwieger- und eine Schwestertochter sind gehenkt, zehn Männer, mit mir verschwägert oder verwandt, desgleichen gehenkt, geköpft, gerädert, auf hundertundein Jahr auf die Galeere angeschmiedet. Einen Mann, einen Bruder, einen Sohn und einen Tochtermann hab ich mit eigener Hand vom Galgen geholt und unter heißen Tränen und Gebeten begraben. Bei den andern hat's nicht sein mögen. Und nun betrachtet mein Los und wagt noch über euer eigenes zu klagen.«
Mit niedergebeugtem Kopfe und gramdurchfurchtem Antlitz saß sie da, die Hekuba eines geächteten Stammes. Der Gast konnte kein Auge von ihr wenden, wie sie die Blicke vor sich in den Boden bohrte. Weit entfernt, in ihren Erlebnissen ein abschreckendes Beispiel zu sehen, fühlte er eine tiefe Teilnahme für sie und die verwaisten Mädchen, die schon so früh den versengenden Frost des Lebens kennengelernt. Freilich verschwieg sie weislich, daß ihr Volk keineswegs ohne eigene Schuld in den deutschen Landen Schutz und Gastfreundschaft verwirkt hatte; daß zwei ihrer [] Männer diesem Volke nicht angehört, überging sie gleichfalls mit Stillschweigen; und durch welche Taten so viele der Ihrigen von einer freilich rohen, aber zum Kampfe auf Leben und Tod genötigten Staatsgesellschaft sich ein schauerliches Ende zugezogen, das schien sie gegen ihre Erlebnisse nicht in die Waagschale zu legen.
»Laßt mich reden!« rief Schwamenjackel, seine Worte mit heiserer Stimme kurz hervorstoßend. »Mein Vater, der mich erzogen und geboren hat –«
Ungeachtet des furchtbaren Ernstes, den die Unterredung angenommen, kämpfte ein unterdrücktes Lachen in der Brust der Mädchen, die das Gesicht abwandten, und die Männer bissen sich auf die Lippen, um ihren Gefährten nicht durch einen unzeitigen Ausbruch zu stören.
»Mein Vater«, fuhr Schwamenjackel fort, »ist zu Alpirsbach auf dem Schwarzwald gerädert worden, und ich hab als ein zwölfjähriger Bube hart dabei zusehen müssen und bin nachher ins Zuchthaus gesteckt worden. In meinem ganzen Leben vergeß ich's nicht und will's auch nie vergessen. Ich übe mein Gedächtnis mit Fleiß, daß es mir die Stöße des schweren, mit Blei ausgefüllten Rades und das Krachen der Glieder immer wieder als gegenwärtig vorstellen muß: erst den rechten Fuß und den linken Vorderarm, dann den linken Fuß und den rechten Vorderarm, dann den rechten Schenkel und den linken Oberarm, dann den linken Schenkel und den rechten Oberarm, und endlich, wenn sie's leidlich machen, den Gnadenstoß auf die Brust. Meinem Vater ist's aber nicht so gut [] geworden: lebendig haben sie ihn aufs Rad geflochten, stundenlang ächzen und stöhnen lassen in der greulichen Marter, bis sie ihm endlich den Kopf abgeschnitten und auf den Pfahl gesteckt haben. Und dabei haben die Pfaffen immerfort in ihn hineingeschrien und ihm ihre Kreuze unter die Nase gestoßen. Das halt ich mir tagtäglich vor, damit mich kein dummes Mitleid übermannt –«
Ein entsetzlicher Schrei unterbrach ihn. Alle sprangen auf und sahen sich um. Es war Christine, die unruhig geschlafen und, von der rauhen Stimme Schwamenjackels erweckt, seine Worte noch halb gehört hatte. »Mein Herz!« rief sie, ihre Hände auf der Brust zusammendrückend, »mein Herz! Das ist ja zu gräßlich! Es bringt mich um.«
»Sei ruhig, Christine!« rief Friedrich, der selbst etwas bleich geworden war, und eilte zu ihr. Sie sah ihn wild an und erholte sich erst allmählich. »Es ist ja nur von vergangenen Dingen die Rede«, sprach er ihr zu. »Sieh, ich bin bei dir, und meine Freunde haben mir einen Pfarrer genannt, der uns trauen will. Sei munter, jetzt geht's endlich zur Hochzeit!«
»Hochzeit?« sagte sie, »ich hab gemeint, es sei – von etwas anderem die Rede. Hab ich denn so schrecklich träumt?«
Er wiederholte ihr, daß er gleich am nächsten Tage mit ihr zur Trauung wandern werde. Ihr Angesicht belebte und erheiterte sich nach und nach. »Ist's denn wirklich wahr?« sagte sie, »soll ich endlich einmal mit dir vor den Altar kommen?«
»Sieben Jahre so lang wird's jetzt sein, daß wir das[] erstemal miteinander vor Kirchenkonvent gewesen sind – sieben Jahre hab ich mir's um dich sauer werden lassen müssen, wie der Erzvater Jakob um die Rahel, und jetzt ist's endlich gewonnen.«
»Gelt, und darüber bin ich zur Lea worden?« sagte sie, einen scheuen Blick um sich werfend. Sie starrte die Gesellschaft an, wie wenn sie sie noch nie gesehen hätte, und drängte ängstlich fort. Er erklärte sich bereit, mit ihr zu gehen.
»Wir wollen jetzt auch zur Ruhe«, versetzte die Alte.
»Der Hitzling ist hinab«, sagte ihr Sohn, gen Himmel deutend, »die Glanzer sind aufgegangen.«
»Und der Jaim ist geschwächt«, setzte Bettelmelcher hinzu, indem er das Fäßchen mit einem Fußtritt auf den Boden schleuderte.
Beim Abschied wurde der Gast in jenischer Sprache aufgefordert, sich bald wieder auf dieser Stelle einzufinden, wo er die Gesellschaft noch eine Zeitlang gelagert finden werde. Er gab sein Wort. Der Zigeuner bot ihm Kleider an, da ihre Garderobe reich versehen sei und er den kleinen Vorschuß bei Gelegenheit wieder erstatten könne. Er nahm das Anerbieten an und wurde alsbald mit einer vollständigen Kleidung versehen, die ihm für die Hochzeitsreise sehr zustatten kam. Christinen wurde nichts angeboten, und er scheute sich, etwas für sie anzusprechen. Bettelmelcher gab ihm noch genauere Anweisung über den Pfarrer, der ihn trauen sollte; er nannte ihm seinen Namen und beschrieb ihm seine Wohnung so genau, daß er nicht fehlen konnte.
Als das Paar sich miteinander entfernt hatte, blickte [] sich die Bande eine Zeitlang stillschweigend an; dann sagte der scheele Christianus: »Er ist reif, und dir, Frau Schwester, gratulier ich zu der Eroberung. Laß du ihn zur Hochzeit und Kopulation gehen, er hält's bei dem Bauernmensch keine acht Tage mehr aus.«
»Woher weißt du denn, daß ich ihn will?« fragte seine jüngere Schwester.
Er lachte.
»Was er für einen großen Kopf hat!« sagte sie.
»Das Bild der Tatkraft!« rief er. »Verstelle dich nur nicht, ich hab in deine Augen gesehen und auch in die seinigen. Du mußt das Band werden, das ihn an uns fesselt.«
»Eine Messe laß ich lesen, wenn's gelingt und du wieder einmal versorgt bist«, sagte die Alte.
»Amen«, erwiderte ihr Sohn und bekreuzte sich andächtig.
»Die Altmutter hat recht«, bemerkte Bettelmelcher, »er hat etwas Solides in seinem Aussehen und könnte treffliche Geschäfte für uns machen.«
»Ich bin ihm nicht feind«, versetzte der Schwamenjackel, »und doch ist in seinem Gesicht etwas, das mir nicht ganz gefällt. Ich weiß nicht, was in dem Mütterlichen für ein Vorzug liegen soll. Was die Deutschen von ihren Müttern haben, das ist in der Regel eine butterherzige Dummheit, und ich will deshalb nur wünschen, die Altmutter möge diesmal fehlgeschossen haben. Habt ihr's nicht gesehen, wie er über der Beschreibung des Räderns erblaßt ist?«
»Ich kenne ihn«, erklärte der Zigeuner mit entschiedenem Tone. »Er steht am Graben und besinnt sich.[] Wenn er nicht mehr rückwärts kann, so springt er und fragt nicht, wie breit oder wie tief. Aber aus den Augen dürfen wir ihn nicht mehr lassen. An seinem Mut ist nicht zu zweifeln, er hat Mut wie der Teufel; aber auch der Mut will geübt sein.«
»Und ein tüchtiges Probestück«, versetzte Bettelmelcher, »müssen wir ihm vorlegen, daß die Haar davon fliegen, wie er selber sagt. Ich weiß nicht mehr, welcher König es war, der über Meer in ein fremdes Land einfiel: als er gelandet hatte, verbrannte er seine Schiffe hinter sich, damit seinen Leuten das Heimweh verging.«
»Ja, auf diese Weise bringen wir ihn am besten aus der Gegend fort, dann wird er lustiger anbeißen.«
»Um den Preis will ich mich zu einer Ausnahme von meiner Regel verstehen«, sagte die Alte. »Hier herum werfen die Märkte ohnehin nicht so viel ab, daß ich Lust hätte, bald wiederzukommen und Sohn und Tochter zu riskieren, für die hier keine gesunde Luft ist.«
Während sie so miteinander redeten, führte der Gegenstand ihrer Gespräche Christinen nach dem Hofe, wo er ihr einen Aufenthalt verschafft hatte. Er wußte sie unterwegs notdürftig über die Gesellschaft, in der sie ihn getroffen, zu beruhigen, was ihm diesmal leichter gelang, wie die Aussicht, endlich sein rechtmäßiges Weib zu werden, in ihr alles andere überwog. Auch ihm gab dieser Gedanke neue Schwungkraft: er konnte endlich sein Wort halten, seinen Willen durchsetzen. Aber freilich, um welchen Preis!
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Querfeldein über Berg und Tal schweifend, pilgerte gleich am nächsten Tage das schon so lange verbundene und immer noch nach dem Segen der Kirche dürstende Paar dem Kochertale zu, in dessen Umgebung ihm sein Wunsch erfüllt werden sollte. Wem man aber gesagt hätte, daß die beiden auf einem Brautgang begriffen seien, der würde sie verwundert angeschaut haben: der Hochzeiter war, wenn auch sein Gesicht von den Mühseligkeiten des Lebens zeugte, in der Blüte der Mannesjahre und schritt im blauen Rock, im rot-, blau- und grüngestreiften kalaminkenen Brusttuch (Weste), in den schwarzen Lederbeinkleidern, weißen Strümpfen und neuen Schuhen mit blanken, stählernen Schnallen gar stattlich einher, während aus der verschossenen, von Hause aus farblosen und ärmlichen Bauerntracht der Hochzeiterin ein verblühtes, müdes Gesicht hervorsah. Bald waren sie wieder auf dem Rückwege von Thüngenthal, denn so schreibt sich der Name des Ortes, den der eigensinnige Volksmund in Dinkeltheim verwandelt hat, gleichwie ihm umgekehrt die Residenz des deutschen Ordens, welche Mergentheim geschrieben wird, zu einem Mergenthal geworden ist. Am Abend des ersten Tages, da sie wieder in der Richtung nach der Rems wanderten, kehrten sie in einem Dorfwirtshause ein, um daselbst über Nacht zu bleiben. Sie waren die einzigen Gäste in der Wirtsstube, wo der Wirt ab- und zuging; im Kabinett saßen drei geistliche Herren, die miteinander tranken und redeten, ohne ihnen Aufmerksamkeit [] zu schenken. Kaum hatten sie das Fleisch, das ihnen der Wirt vorgesetzt, gegessen, so trat ein anständiger Mann in einem braunen Anzug ein, desgleichen die Gerber trugen, grüßte sie freundlich, setzte sich an ihren Tisch und verlangte gleichfalls ein Nachtquartier. Christine erwiderte den Gruß gleichgültig; Friedrich aber, nachdem er ihn angesehen, mußte den Mund zum Lachen verziehen. Der andere gab ihm einen Wink, zu warten, bis der Wirt die Stube verlassen; dann fragte er lachend: »Nun, wie ist die Kopulation abgelaufen?«
Erst jetzt blickte ihn Christine näher an und erkannte mit Staunen einen der Männer aus dem Walde von Wäschenbeuren. Es war in der Tat Bettelmelcher.
»Ganz gut«, antwortete Friedrich, »aber sehr einfach. Es war eine Hauskopulation, die dein Pfaff in seiner Stube vorgenommen hat, er wird wohl wissen warum, und der ganze Akt bestand darin, daß er uns geheißen hat, wir sollen einander die Hände darauf geben, daß wir einander in Lieb und Leid nicht verlassen wollen.«
»Nun, ist das nicht genug?« versetzte Bettelmelcher mit gerührter Stimme und spitzbübischem Augenzwinkern.
»Dann hat er uns einen Kopulationsschein ausgestellt und hat ihn auf mein Verlangen noch um ein Jahr weiter zurückdatiert, so daß unsere Ehe jetzt schier für achtjährig gilt. Der tut alles, was man haben will. Deinen Gruß hab ich ihm ausgerichtet. Drauf hat er gelacht und gesagt: ›So ist der Spitzbub immer noch ungehenkt?‹«
Bettelmelcher lachte.
[] »Aber du!« fuhr Friedrich fort, »das ist mir ein sauberer Pfarrer, den du mir rekommandiert hast, und mir kommen Bedenken, ob die Handlung und der Trauschein nur auch etwas wert sind. Wir haben zuerst nach dem Pfarrhaus gefragt, aber da sind wir schön angekommen.«
»Ich hab dir ja seine Wohnung angegeben«, unterbrach ihn Bettelmelcher, immer noch lachend.
»Ja freilich, dann hat sich's herausgestellt, daß er nicht der rechte Pfarrer ist, sondern ein abgedankter. Er hat mir selber erzählt, er hab nur ein klein's Späßle gemacht und sei deswegen gleich weggeschmissen worden. Nun möcht ich doch wissen, ob ein abgedankter Pfarrer auch noch kopulieren kann.«
»Willst du dich denn in Ebersbach häuslich niederlassen und dem Amt deinen Trauschein vorzeigen?« fragte Bettelmelcher spöttisch.
»Nein, das just nicht.«
»Nun, so gib dich zufrieden und sei froh, daß du's schwarz auf weiß hast. Das Papier kann dir unter Umständen viel nutzen, es kann dir statt eines Passes dienen, und wenn du dich mit deiner Frau einmal in einem fremden Lande irgendwo setzen willst, so kannst du dich damit legitimieren. Meinst du denn, man frage überall so genau darnach?«
»Ja, wenn's nur ein bißle etwas ist«, bemerkte Christine, die es als eine große Genugtuung empfand, endlich einmal urkundlich, wie auch die Urkunde beschaffen sein mochte, verheiratet zu sein.
Friedrich beruhigte sich. Sie zahlten ihre Zeche und gingen bald darauf zu Bette.
[] Morgens fanden sie sich beim Frühstück wieder zusammen, wie Gäste, die sich zufällig in der gemeinsamen Herberge kennengelernt haben. Der hinzugekommene Genosse machte dem Ehepaar keine Schande: er sah jetzt beim Tageslicht in seinem braun- und blaumelierten Rocke sehr ehrbar und wohlhabend aus und benahm sich äußerst gesetzt. Man speiste eine Milchsuppe, zu welcher der Wirt silberne Löffel auflegte. Christine schien sich bei dieser vornehmen Bewirtung behaglich zu fühlen; sie trat ihrem Manne auf den Fuß und flüsterte ihm zu: »Das ist ein kostbarer Wirt!«
Beim Fortgehen schlug Bettelmelcher den entgegengesetzten Weg ein, gesellte sich aber bald auf der Straße wieder zu ihnen. »Nun muß man doch auch auf ein Hochzeitsgeschenk für die junge Frau mit dem achtjährigen Kopulationsschein denken«, sagte er lächelnd. »Was wär denn etwa nach ihrem Gusto?«
Christine lachte, nicht ungeschmeichelt, und erwiderte, man dürfe sich ihretwegen nicht in Unkosten stürzen. Als er aber freundlich in sie drang, zu sagen, ob sie in ihrem neuen Stande nicht irgend etwas wünsche, versetzte sie, weniger gegen ihn als ihren Mann gewendet: »E Bißle erquickt en Äderle; ich brauch nicht viel; wenn ich nur ein klein's Pfännle hätt, daß ich mir hier und da etwas Warm's machen könnt.«
»Das ist ein bescheidener Wunsch!« erwiderte Bettelmelcher lachend, »und doch muß man, wenn man sich auch nur bescheidentlich fortbringen will, die Augen offen haben und in viele Sättel gerecht sein.[] Wer träumt und dröselt, kommt nicht weit. Mit silbernen Löffeln speisen, ist wohl angenehm, nicht wahr? Aber das kann jeder, dessen Eltern so gescheit gewesen sind, ihm eine gute Erbschaft zu hinterlassen. Wer keine so gescheiten Eltern gehabt hat, der muß selbst den Verstand brauchen. Ich möchte wohl wissen, ob die junge Frau in dem Wirtshaus da die Hälfte von dem bemerkt hat, was zu sehen und zu beobachten gewesen ist. So ein Wirt meint wunder, wie klug er seine Sachen einrichte, und vergißt alles drüber, wenn er drei Pfaffen im Kabinett sitzen hat.«
»Oh, ich hab auch meine Augen«, sagte Christine, die sich durch den Zweifel an ihrer Beobachtungsgabe verletzt fühlte; »ich habe wohl gesehen, wie der Wirt seine Löffel in ein Schublädle getan hat, nachdem sie ausbraucht gewesen sind, und wie er das Geld von uns und von den drei Herren in ein Glas in dem nämlichen Schublädle getan hat, hab auch gesehen, daß ein Goldstück in dem Glas gewesen ist.«
Bettelmelcher sah sie erstaunt mit einem gewissen Ausdruck von Achtung an. »Wahrhaftig, die Frau ist nicht so – träumerisch, wie sie aussieht«, sagte er, »sie kann noch brauchbar werden.« Er schlug bald nachher einen anderen Weg ein, um, wie er sagte, seinen Geschäften nachzugehen.
Das Paar setzte seine Wanderung bis in den Nachmittag fort, da stand ein alter Bettler mit weißem Bart und lang herabhängenden weißen Haaren am Wege und bat um ein Almosen. »Wir haben ja selber nichts!« fuhr ihn Christine verdrießlich an, während ihr Mann nach einer Kupfermünze suchte. »Wenn [] das der Fall ist«, sagte der Bettler, »so soll mir's auf eine kleine Beisteuer nicht ankommen.« Mit diesen Worten zog er unter dem Wams eine kleine Pfanne hervor und überreichte sie ihr. »Sie ist zwar nicht mehr ganz neu«, sagte er, »aber ein Schelm gibt's besser, als er's hat.«
»Du Spitzbub!« rief Friedrich lachend, »diesmal hast du mich selbst getäuscht; ich hätte dich an keinem Zug erkannt, nicht einmal an deinen nichtsnutzigen Augen.«
Bettelmelcher stieß ein lustiges Gelächter aus und sprach dann eine Weile jenisch mit ihm, wobei Christine verwundert auf die fremden, seltsamen Ausdrücke hörte. Hierauf entfernte sich Bettelmelcher, und die beiden gingen weiter, bis sie ein einsames Wirtshaus am Saume eines Waldes erreichten, wo Friedrich etwas Essen und Trinken kommen ließ. Christine hatte sich schon mehrmals über Ermüdung beklagt. Nachdem er einige jenische Worte mit dem Wirt gewechselt, eröffnete er ihr, sie könne hier der Ruhe pflegen, er werde die Nacht über auf dem Anstande sein und sie den andern Morgen wieder abholen.
»Ach, Frieder!« sagte sie erschreckend, »du gehst auf kein' Hirsch aus. Ich seh's wohl, du bist nicht in den besten Händen, du hast dich mit dem Spitzbuben, dem Bettelmelcher, in etwas eingelassen.«
»Wenn ich dir sage, ich geh auf den Anstand, so hast du nichts weiter zu fragen«, entgegnete er streng. »Ich werd am besten wissen, was ich zu tun hab.«
»Mein Herz sagt mir, du hast nichts Gut's vor!«
[] »Und wenn es auch so wär – hast du eine Glückshenne, die mir goldne Eier legt? Oder kannst du mir ein Haus oder Geschäft in Ebersbach kaufen? Glaubst du, der Wirt da, obwohl du sicher bei ihm aufgehoben bist, werde dich umsonst beherbergen? Halt mich nicht unnötig auf, ich kann die Zeit nicht mit Streiten verlieren. Bleib ruhig hier, bis ich wiederkomme.«
Er trank sein Glas aus und ging rasch fort.
»Frieder! Frieder!« rief sie, ihm auf die Straße nachlaufend.
Er blieb unwillig stehen.
»Frieder«, sagte sie ihm ins Ohr, »wenn du etwas tun willst, was dir Gott verzeihen mög, so tu doch wenigstens schwarze Strümpf an, deine weiße Strümpf machen dich sichtbar in der Nacht!«
Er lachte, hieß sie ohne Sorge sein und entfernte sich auf dem Wege, den sie hergekommen waren.
Den andern Vormittag erschien er versprochenermaßen wieder in dem Wirtshause, zahlte die Zeche und führte Christinen weiter. »Meine Freunde haben mir ein Hochzeitsgeschenk für dich verehrt«, sagte er unterwegs und überreichte ihr ein paar silberne Löffel nebst einem silbernen Besteck.
Sie besah die Löffel aufmerksam. »Die kenn ich!« rief sie, »das sind die Löffel, mit denen wir gestern früh die Milchsupp gessen haben. Du, für das Geschenk dank ich, das ist nicht auf richtige Art in deine Händ kommen. Oh, Frieder, du bist bei dem Wirt zu Heseltal einbrochen!«
»Ich hab ihm das Haus mit keinem Fuß betreten«, erwiderte er.
[] »Dann haben's deine Kameraden getan«, sagte sie, »und die werden ihm die Löffel nicht abkauft haben.«
»Heb mir die Sachen auf«, entgegnete er mit einem Tone, der jede fernere Erörterung abschnitt. »Wenn du sie nicht willst, so gehören sie mir. Du meinst gleich, der Teufel hole dich darüber; wenn du in Ebersbach wärest, so sprängest du schon dem Amtmann zu.«
Sie nahm die Löffel und das Besteck in Verwahrung und sagte nichts mehr. Nachdem sie stillschweigend bis gegen Mittag gewandert waren, sah Christine einen Berg vor ihnen, auf dessen Gipfel eine Kirche stand, und nun fand sie sich wieder in bekannter Gegend. Es war der Rechberg. Friedrich wandte sich demselben zu und schlug den Weg nach der Höhe ein. Sie folgte ihrem Manne ohne zu fragen. Als sie den Gipfel erstiegen hatten, begaben sie sich in das der Kirche gegenüber gelegene Pfarrhaus, mit welchem von jeher zum Besten der frommen Wanderer eine Wirtschaft verbunden war. Beim Eintritt rief Christine überrascht: »Ei, da sind ja –« Er stieß sie in die Seite und bedeutete sie, zu schweigen. Um den runden Tisch am Fenster saßen drei Mitglieder der Gesellschaft vom Walde, Bettelmelcher, Schwamenjackel und die jüngere Zigeunerin, welche in aller Ruhe miteinander zehrten. Der Wanderer begrüßte sie, wie man Fremde grüßt, mit welchen man sich an einem einsamen Orte zusammengeführt sieht, und entschuldigte sein Weib, die sich von irgendeiner Ähnlichkeit habe hinreißen lassen, einen Augenblick Bekannte in ihnen zu sehen. [] Sie nahmen die Entschuldigung mit gleichmütiger Höflichkeit auf, erwiderten, dergleichen Irrtümer kommen häufig vor, und boten den Ankommenden Platz an ihrem Tische an. Dann fragte man sich gegenseitig, woher und wohin, und tischte einander beliebige Auskunft darüber auf. Christine hörte sehr verdutzt auf diese Reden und konnte nicht begreifen, wie ihr Mann sich so schnell in das angenommene Betragen finden konnte. Nach und nach wurde man immer bekannter, indem der Wein die fremden Herzen gegeneinander aufzuschließen schien; und als die Gesellschaft zusammen aufbrach, um den zufällig gemeinsamen Weg miteinander fortzusetzen, hätte die Hauserin des Pfarrers, welche die Wirtschaft führte, darauf schwören können, daß hier Leute, die sich in ihrem Leben zum erstenmal gesehen, auf dem freundlichen Berge recht heiter und vertraulich miteinander geworden seien.
Sie nahmen ihren Weg über den schmalen Grat, der, einem Messerrücken ähnlich, vom Hohenrechberg nach dem Hohenstaufen führt. Friedrich und Christine waren die vordersten in der wandernden Gesellschaft. Er zankte sie tüchtig aus, daß sie in dem Pfarrhause so unvorsichtig herausgefahren sei, und gebot ihr, in Zukunft ihre Zunge besser zu hüten.
»Wie hab ich denn wissen können, daß ich die Leut gar nicht kennen darf!« maulte sie. »Da weiß man ja gar nicht mehr, wie man sich betragen soll.«
»So sei künftig ganz still und wart, bis man dich reden heißt!« sagte er zornig.
Sie verschluckte die Antwort, die sie im Unmute geben [] wollte, und schritt immer stärker zu, während er sich mit verdrossenem Gleichmut im bisherigen Gange hielt. Auf diese Weise geriet sie, ohne sich umzusehen, ziemlich weit voraus. Als sie eine Strecke von ihm entfernt war, sah er sich von Bettelmelcher und Schwamenjackel eingeholt.
»Was?« rief Bettelmelcher, »ich will nicht hoffen, daß es gleich nach der Hochzeit zu Ehedissidien kommt.«
»Das ist sehr oft der Fall«, erwiderte er lachend, »wenn der Pfaff einmal die Garantie übernommen hat, so meinen die Leute gewöhnlich, sie brauchen für sich selbst nichts mehr dazu zu tun. Übrigens ist's bei uns nicht so gefährlich: ich hab meiner Frau bloß ein wenig Behutsamkeit im Weltleben eingeschärft, und jetzt scheint sie ihren Katechismus ungestört lernen zu wollen.«
»Das wird sehr gut sein«, versetzte Bettelmelcher. »Soll ich ihr nicht ein wenig dabei helfen?«
»Kann nichts schaden.«
»Dir fehlt's indessen nicht an Gesellschaft«, setzte jener hinzu, auf die herankommende Zigeunerin deutend, welche ganz allein die Nachhut bildete. Mit diesen Worten ging er rasch seines Weges, und Schwamenjackel folgte ihm, so daß Friedrich nur die Wahl hatte, auf seine schöne Freundin vom Walde, die den Fingerzeig gesehen hatte, zu warten, oder mit sichtbarer Geflissenheit ihre Gesellschaft zu meiden. Er fand keinen Grund, ihr diese Beleidigung zuzufügen, wohl aber hundert Gründe, das Gegenteil zu tun.
»Komm, Katharina«, sagte er, am Wege stehen bleibend.
[] »Ich heiße nicht Katharina«, erwiderte sie. »Christina ist mein Name.«
»Du heißt also wie meine Frau?« rief er erstaunt. »Warum haben dir denn die Deinigen einen falschen Namen gegeben?«
»Um meiner Sicherheit willen«, antwortete sie. »Ich bin aller Länder, außer Frankreich, Sachsen und Ungarn, verbannt, hab überall Urfehde schwören müssen, und wenn ich mich betreten ließe, so ging mir's um den Hals.«
»Noch so jung und schon so viel erlebt!« sagte er.
»Von Kindesbeinen an bin ich in der Welt herumgehetzt und hab früh lernen müssen auf eigenen Füßen stehen, denn meine Mutter kann mir raten, aber nicht helfen, sie ist eben eine uralte Frau.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Sie betet ein Pater und Ave Maria ums andere, damit unser nächstes Vorhaben gelingen möge.«
»Das kommt mir sonderbar vor«, bemerkte er. »So gut stehen wir Lutheraner nicht mit dem Himmel, daß wir so frei wären, ihm zuzumuten, er solle uns bei – solchen Dingen noch behilflich sein.«
»Warum denn nicht?« versetzte sie ruhig. »Deine honetten Spießbürger, die Ketzer wie die katholischen Christen, beten auch täglich zu Gott, daß er sie in ihrer Hantierung segnen möge, und was ist ihre Hantierung? Einander bestehlen, betrügen, unterdrücken, den guten Namen morden. Geh in den Landen umher und zähle die Leute, die im wahren Sinn des Wortes ehrlich sind und also allein zu beten berechtigt wären. Du wirst keine große Tafel zum Aufschreiben brauchen.«
[] »Du hast recht«, erwiderte er.
Sie gingen einige Zeit stumm nebeneinander, während welcher er es nicht unterlassen konnte, wiederholt ihre Augen zu suchen.
»Du scheinst mir nicht recht aufgeräumt zu sein«, begann sie nach einer Weile. »Es gefällt dir nicht bei uns.«
»Was das betrifft«, erwiderte er mit einem mehr als freundschaftlichen Blicke, »so glaubst du wohl selbst nicht, was du sagst. Aber wahr ist's, es hat mich verdrossen, daß ich nur als Schmarotzer mitlaufen und außen Wache stehen soll, während die anderen die Gefahr auf sich nehmen. Das halbe Sündigen ist mir in Tod zuwider: entweder ganz oder gar nicht! Auch liegt ein Mißtrauen drin: ich merk's wohl, man will mich nur probieren.«
Sie lächelte freundlich und zutraulich mit einem Ausdruck von Achtung, den er tief empfand. »Du irrst dich«, versetzte sie. »Es hätte sich nicht geschickt dich stärker in Anspruch zu nehmen, wo es sich darum handelte, ein Geschenk für dich aufzutreiben. Auch hast du dich ja nur zu einem einzigen Unternehmen anheischig gemacht, brauchst also das von heute nacht nicht zu rechnen. Wenn du so ehrenhaft denkst, selbst Hand anlegen zu wollen, statt andere für dich arbeiten zu lassen, so soll's dir nicht lang an Gelegenheit fehlen.«
»Nur zu!« rief er, mit finsterer Entschlossenheit die Stirne faltend.
»Du scheinst mir aber doch nur mit halber Seele dabei zu sein«, setzte sie hinzu, »denn du sprichst von [] sündigen und nimmst die Sache schrecklich ernsthaft. Ich merke wohl, an was du klebst. Tor! Die Menschen sind alle von einem Schlag, nur mit dem Unterschied, daß die einen den Galgen andiktieren und die anderen ihm davonlaufen. Wenn aber Stehlen todeswürdig ist, so gehört den einen so gut wie den anderen der Strang. Daß die Spitzbuben mit Haus und Hof über die heimatlosen Spitzbuben herfallen und ihnen von jeher nichts haben gönnen wollen, das ist eben eine ungerechte Verfolgung.«
Der überlegene Ton, der ihn von einem Manne abgestoßen haben würde, machte aus diesem Munde einen mächtigen Eindruck auf ihn. Er fühlte sich gedemütigt und angezogen zugleich.
»Wenn du aber der Sünde, wie du's heißt, ganz absagen willst«, fuhr sie lachend fort, »so kann ich dir in meiner eigenen Familie ein Musterbild von Tugend und Ehrbarkeit aufstellen. Lache nicht, es ist buchstäblich wahr. Ich habe noch eine zweite Schwester, die sich am Tode so vieler Verwandten ein Exempel genommen hat und sich mit ihrem Manne, einem Scherenschleifer, ehrlich und redlich fortbringt. Sie ist nicht besonders schön, dabei etwas schmierig und schlampig, wie es auch bei ihrer armseligen Lebensart nicht anders sein kann. Wir haben zwar keinen großen Geschmack aneinander, aber wenn du eine Empfehlung willst, um das Scherenschleifen zu lernen, so steh ich zu Diensten.«
»Es hat wohl eine Zeit gegeben«, sagte er, »wo mir dieses verachtete Handwerk gut genug gewesen wäre; aber jetzt bin ich freilich dazu verdorben. Du hast [] keinen Begriff, von was ich mich losreißen muß. Du sagst selbst, du seiest von Kindesbeinen an hinausgestoßen gewesen und habest dich gegen die Welt wehren müssen. Aber denk dir einmal, du seiest der Sohn des vermöglichen Sonnenwirts in Ebersbach, der nicht zu rauben braucht, weil er Geld genug hat, und seiest von einer liebevollen, sorgsamen Mutter, die alle Tage zu dir sagt: ›Mein Kind, fliehe die Sünde!‹ zur Frömmigkeit und Rechtschaffenheit erzogen – dann wird's dir nicht so leicht werden, den Rock völlig zu wenden, und wenn du auch schon lang eingesehen hättest, daß Frömmigkeit und Rechtschaffenheit in dieser Welt nur Lug und Trug sind. Ihr unterscheidet ja selbst zwischen den Deutschen und den – anderen.«
»Ich bin auch zur Hälfte deutsch«, erwiderte sie. »Mein Vater Schettinger, den die deutschen Mordhunde vor zwanzig Jahren in Weingarten umgebracht haben, ist so gut ein Deutscher gewesen wie sie und wie du.«
»Nun, vielleicht ist's auch eine Zeitlang nachgegangen«, versetzte er.
»Du kennst deine eigenen Landsleute nicht«, sagte sie. »Komm, ich will dir sie zeigen. Wir haben noch Zeit genug, zu den anderen zu stoßen.«
Sie winkte ihm und flog zur Linken den Berg hinunter. Er eilte ihr nach. Als sie im raschen Laufe unten angekommen waren, sagte sie, weiter eilend: »Du mußt dir's aber gefallen lassen, daß ich dich für meinen Mann ausgebe, sonst findest du da, wo ich dich hinführe, keinen Kredit.«
»Das will ich gern annehmen!« rief er lustig, ihr[] nacheilend. »Du und keine andere müßtest mein Weib sein, wenn ich nicht schon eins hätte. Aber flieg nicht so, damit ich mein Recht auch ausüben kann.«
»Laß das!« sagte sie, da er den Arm um sie zu schlingen suchte, »dazu ist jetzt keine Zeit. Den Arm kannst du mir geben, so, damit wir wie ein Ehepaar aussehen. Verheiratete Leute sind bekanntlich nicht so zärtlich miteinander, du scheinst mir das bereits aus eigener Erfahrung zu wissen.«
Nachdem sie eine Strecke im Walde zugeschritten, erreichten sie einen der vielen dort hin und her zerstreuten Höfe. Derselbe war ihm nicht unbekannt, denn er hatte ihm bei seinem Wilderersberufe mehr als einmal günstige Aufnahme gewährt. Wie erstaunte er aber über die Freudenbezeugungen, mit welchen seine Begleiterin von der ganzen Familie aufgenommen wurde! Wie horchte er hoch auf, als er hier, weit unverblümter, denn in ihrem eigenen Kreise, von dem Gewerbe seiner neuen Freunde reden hörte! Die Leute drückten ihre Freude aus, seine Begleiterin wieder verheiratet zu sehen, und bestürmten sie mit Fragen, ob ihr neuer Mann auch so viel Geschick zeige als der vorige. Sie prangte mit ihm und seinen Taten und bezeigte sich so glücklich in seinem Besitz, daß ihm das Herz flammte, während zugleich die letzten Reste bürgerlicher Ehrbarkeit sich in ihm empörten, ohne in dem verwandten bürgerlichen Kreise, der ihn umgab, eine gleichartige Stimme zu finden. Im Gegenteil sah er bald ein, daß er, was er früher nie geahnt, hier erst in die rechte Gaunergegend gekommen sei, denn die Frau des Hauses zählte ihm geläufig eine [] Menge berüchtigter Namen her, die zu verschiedenen Zeiten das Jahr über in dieser von vielen Herrschaften und Kondominaten zerschnittenen Landschaft ihre Heimat fanden. Solange er ein bloßer Wilddieb gewesen, hatte er hier kein Vertrauen gefunden; jetzt erst sprach sich der Haß gegen die Obrigkeit und gegen die von Glück und Gunst getragene Minderzahl der Mitbürger offen vor ihm aus, und seiner unbelehrten Seele drängte sich mehr oder minder klar die Wahrnehmung auf, daß das Volk so weit gekommen sei, den Druck der Herrschaften und der höheren Bürgerklassen durch Raub, Diebstahl und Diebeshehlerei zu bekämpfen! Das angebliche Ehepaar verließ den Hof, ungestüm von den Leuten aufgefordert, ihnen auch wieder einmal für billiges Essen und billige Kleidung zu sorgen.
»Nun?« fragte sie auf dem Rückwege.
»Es ist mir, als ob neben der Welt, die ich bisher gekannt habe, noch eine andere Welt herginge und als ob diese Welt die wahre wäre«, antwortete er.
»Du kannst in dem Tal da«, erwiderte sie, »von Hof zu Hof, von Ort zu Ort hinuntergehen, du triffst vertraute Leute genug, lauter Deutsche und keine Vagabunden, lauter seßhafte Leute.«
Er sprach lange kein Wort. Was er gehört und gesehen, hatte sich ihm offenbar tief eingeprägt, und sie hütete sich wohl, die stille Arbeit dieses Eindrucks zu stören.
»Du hast also schon einen Mann gehabt?« fragte er nach einem langen Stillschweigen.
»Ich hab ihm den Laufpaß gegeben«, antwortete sie, [] »weil's ihm an Kopf und Herz gefehlt hat; nachher hat er sich in ungeschickte Diebereien eingelassen, die ihn an den Galgen gebracht haben. Wenn mir je wieder einer gefiele, so würd ich ihn vor einem solchen Schicksal zu bewahren wissen.«
Er schwieg. Die Entdeckung, daß sie Witwe sei, war ihm nicht sehr nach seinem Sinn, und doch mußte er sich gestehen, daß dieses Weib durch Schönheit und Geisteskraft einen mächtigen Zauber auf ihn auszuüben beginne.
»So, jetzt bist du aus dem Ehejoch entlassen!« sagte sie, als sie den Fuß des Berges wieder erreicht hatten, und flog lachend hinan, da sie sah, daß er sich Mühe gab, sie einzuholen.
»Mir ist's nicht so eilig mit der Scheidung!« rief er hinter ihr drein und gab sich alle Mühe, an ihre Seite zu kommen, aber sie war immer einige Schritte voraus.
»Und mir pressiert's nicht mit dem Heiraten!« rief sie, als sie die Höhe erreicht hatte, lustig gegen ihn hinab, und ihre Stimme spielte dabei so leicht und ruhig, als ob die Anstrengung ihren Atem gar nicht bewegt hätte; aber ein sprühender Blick aus ihren schwarzbraunen Augen strafte ihre Worte Lügen.
Mit einem heftigen Ansatz hatte er die letzte Höhe vollends erstiegen und wurde dort von einem derben Gelächter männlicher Stimmen empfangen. Bettelmelcher und Schwamenjackel lagen auf dem Boden und erwachten soeben aus einem Schlafe, den sie sich zur Erholung von der überstandenen Nachtwache gegönnt hatten.
[] »Es scheint, Freund Schwan hat eine neue Hochzeitsreise gemacht!« rief Bettelmelcher.
»Und gleichfalls mit einer Christine«, antwortete er lachend, »aber mit einer schwarzen.«
»So, sie hat dir ihren Namen gestanden?« rief Schwamenjackel. »Da muß es mit der Vertraulichkeit schon ziemlich weit gekommen sein.«
»In der Tat«, sagte die Zigeunerin Christine, »wir sind Mann und Weib miteinander gewesen, aber nur vor den Leuten.«
»Wo ist denn mein Weib«, fragte Schwan.
»Auf und davon!« antwortete Bettelmelcher. »Der Eifersuchtsteufel hat sie ergriffen. Obgleich ich mein Äußerstes aufgeboten habe, sie zu unterhalten, hat sie sich doch nicht fesseln lassen. Sie hat mir nicht einmal bekannt, wo sie zu finden sei. Ich geh dahin, wo ich herkommen bin, hat sie gesagt, und weg war sie. Vermutlich denkt sie, du werdest wissen, wo du sie suchen müssest.«
»Dummes Zeug!« sagte er ärgerlich.
»Neuigkeiten!« rief eine bekannte Stimme von weitem, und der scheele Christianus kam, den anderen wohl nicht unerwartet, von der entgegengesetzten Seite herbeigeeilt. »Es hat eine Soldatenmeuterei gegeben im Lager bei Geislingen, der Herzog von Württemberg ist heut früh selbst hinaufgefahren und hat achtzehn erschießen lassen.«
»Eine Meuterei!« rief der Bürgerssohn von Ebersbach, »das ist ja was Unerhörtes im württembergischen Militär.«
»Du hast eben in den letzten Wochen nicht viel erfahren, [] was im Land vorgeht«, sagte der Zigeuner. »Es ist ja schon neulich ein Aufruhr in der Kaserne zu Stuttgart ausgebrochen und mit Mühe gedämpft worden.«
»Was Teufels!«
»Dein Herzog«, sagte die Zigeunerin, »hat seine Soldaten an die Krone Frankreich verkauft, gegen den König von Preußen, und nun wollen sie nicht ziehen.«
»Ja«, setzte ihr Bruder hinzu, »man ist den Leuten nachts in die Häuser eingebrochen und hat sie aus dem Bett gerissen, um die Regimenter vollzumachen, aber in Stuttgart sind sie alle wieder auseinandergelaufen. Darauf hat ein General, ich weiß nicht, wie er heißt, einen Generalpardon ausgeschrieben, und auf diesen haben sich eine Menge Ausreißer gestellt; aber der Herzog ist auf die Nachricht aus dem Feld zurückgeeilt, hat den Pardon nicht gehalten und viele von ihnen henken lassen. Jetzt ist der Teufel bei Geislingen wieder losgegangen, und da hat er heut vor den Toren anderthalb Dutzend erschießen lassen. Es ist ein Schrei der Wut im Lande.«
»So hält man Wort! So geht man mit den Leuten um!« rief Schwamenjackel.
»Das geschieht in deinem gepriesenen Württemberg«, sagte seine Führerin.
»Und uns heißt man Spitzbuben!« setzte Bettelmelcher hinzu.
»Ich besorge nur, die Gegend könnte für uns unsicher werden«, bemerkte Christianus. »Gewiß haben sich viele Deserteurs in die Waldungen da herum geworfen, [] und nach diesen wird jetzt vom Militär gestreift werden.«
»Ich glaube nicht, daß uns das in Verlegenheit bringen wird«, versetzte Christine. »Der Herzog muß eilen, sein Volk außer Lands zu bringen, denn wenn er mit ihnen liegen bleibt, so laufen sie ihm wie Quecksilber davon. Auf alle Fälle ist es aber gut, wenn wir auch nicht lange mehr dableiben; es sind ohnehin bloß noch ein paar Tage bis zum Schorndorfer Markt!«
»Also nur nichts aufgeschoben!« sagte der Zigeuner.
»Ja, ich möchte gleich über das nächste Nest da herfallen und ihnen die Hundeseelen austreiben!« rief Schwamenjackel, seinen kurzen dicken Stock gegen das an dem Bergkegel vor ihnen liegende Dorf schwingend.
»Das laß du bleiben!« lachte Bettelmelcher. »Das ist das Dorf Hohenstaufen, wo sie seit alter Zeit große Freiheiten haben und wie Männer zusammenstehen. Wenn du einen angreifst, so hast du gleich den ganzen Schwarm auf dem Hals. Das ist in den edelmännischen Ortschaften anders: dort wohnt meist Bettelvolk, das sich die Haut voll lacht, wenn einem vermöglichen Nachbar ein Malheur passiert.«
»In den alten Schlössern mag man doch sicherer gewohnt haben«, bemerkte der Zigeuner, nachdenklich auf die Steintrümmer blickend, die den naheliegenden Gipfel des Berges bedeckten und die Abendsonne durch ihre Risse und Lücken scheinen ließen. »Das mag wohl auch schon lang her sein. Wer hat wohl vorzeiten hier gehauset?«
[] Diese Frage war jedoch selbst dem gelehrten Bettelmelcher zu hoch. »Ich weiß es nicht«, sagte er, »vermutlich Räuber, die, wie es in den alten Zeiten Mode war, von ihrem Berg ins Tal hinunterspähten und die vorbeiziehenden Kaufleute überfielen.«
»Blitz! das war kein übles Geschäft!« rief Schwamenjackel: »da kann man auf einen Zug einen guten Fang tun. Möcht wohl auch einmal dabei sein.«
»Gelt, wenn die reichen Augsburger und Ulmer auf die Frankfurter Messe ziehen?« fragte Bettelmelcher.
»Oho!« lachte der Ebersbacher Bürgerssohn. »Da laß dir nur die Lust vergehen. Ich hab's oft mit angesehen, wie die mit ihrem Geleite das Filstal herunterziehen. Von Ulm werden sie an Württemberg überliefert und von einer stattlichen wohlbewaffneten Mannschaft in die Mitte genommen. Da könntest du dir die Zähne ausbeißen.«
»Ja, ja, so ist es immer!« bemerkte der Zigeuner. »Den großen Dieben ist nicht beizukommen.«
»Es gibt auch mittlere«, versetzte Bettelmelcher. »Komm«, sagte er, den neuen Freund bei der Hand nehmend, und führte ihn auf die andere Seite des Berges. Die übrigen folgten und sammelten sich um sie. »Du siehst das Dorf da drunten, links über Wäschenbeuren hinaus?«
»Wohl, das ist Börtlingen.«
»Dort«, fuhr Bettelmelcher fort, »wohnt ein Schultheiß, den du in dein Gebet einschließest, sooft du über die Falschheit der Welt fluchst. Er ist ein Heuchler, ein Kopfhänger, ein Wucherer, und das ist die beste Seite an ihm, denn er hat brav Geld. Von seiner[] Lieblosigkeit gegen seine Nebenmenschen kann ich selbst Zeugnis ablegen, denn ich hab einmal bei ihm gebettelt, was die beste Gelegenheit zum Auskundschaften ist, und bin von ihm mit dem Bescheid weggewiesen worden, ich sei ein fauler Tagdieb, solle sehen, daß ich was zu arbeiten bekomme. Bist du dabei, wenn wir ihm heut nacht einen Besuch machen?«
»Ich halte mein Wort«, erklärte Friedrich mit entschiedenem Ton, die Stirn zusammenziehend.
»Das Haus steht in den Gärten, es sind nur drei Personen drin, er, seine Frau und seine Magd. Wenn man alert drauf losgeht, so ist wohl beizukommen. An Händen fehlt es nicht, für den Fall, daß im Dorf Lärm entstehen sollte. Wir sind unsrer sieben Genossen, und einige Vornehme darunter, die du noch nicht kennst. Ich darf dir nur einen verraten, das ist der Amtmann von Adelberg –«
»Was?« rief der Angeworbene lustig lachend. »Den Börtlingern bricht ihr eigener Amtmann ein? Das geht ja noch über den Pfarrer von Dinkeltheim. Geh, es wird auch wieder ein abgedankter sein.«
»Es ist der abgekommene Amtmann Hallwachs von Adelberg, den man wegen eines Rests oder so was abgesetzt hat. Du wirst ihn mit eigenen Augen sehen.«
»Gleichviel, ich hab's einmal versprochen und bin dabei, wenn auch der Amtmann von Ebersbach selber dazu käme.«
»Um zehn Uhr heut nacht wollen wir im Walde beim Wäschenschlößchen zusammenkommen und von dort den Zug antreten«, sagte Bettelmelcher zu den anderen. »Ist's euch recht?«
[] Alle drei riefen: Ja! Der scheele Christianus zog den Hut über das blinde Auge herab und machte sich zum Aufbruch fertig. »Ich will vorher noch ein wenig schlafen«, sagte er. Bettelmelcher und Schwamenjackel sprachen die gleiche Absicht aus und redeten ihrem dritten Genossen zu, der Ruhe mit ihnen zu pflegen. Dieser aber erwiderte, er habe noch einen Gang zu tun.
»Denk doch dran, daß du die ganze Nacht aufgewesen bist«, sagte die schwarze Christine zu ihm. »Gönn dir doch ein wenig Schlaf.«
Bettelmelcher witzelte über diesen Zuspruch.
»Oh, ich weiß wohl, wo er hingeht!« rief sie.
»Die Liebe brennt heiß«, sagte Bettelmelcher, »aber das Feuer der Eifersucht ist noch weit größer.«
»Ich eifersüchtig?« rief sie und war mit einem Sprung verschwunden. Man hörte sie den Berg hinunter lachen.
»Um zehn Uhr stoß ich zu euch«, sagte er zu den drei Männern, welche hierauf gleichfalls den Berg hinabstiegen.
Er wählte einen Fußweg, der, ohne das unter dem Gipfel liegende Dorf zu berühren, am Hohenstaufen hinführte und nach dem Walde hinablief. Unterwegs mußte er von Zeit zu Zeit unwillkürlich stehenbleiben und nach dem Orte hinblicken, der diese Nacht der Schauplatz einer Tat sein sollte, welche sich, das fühlte er wohl, von allen seinen bisherigen Übertretungen stark unterschied. Das bedrohte Dorf lag, von Obstbäumen umgeben, wie im Schoße des Friedens zwischen waldigen Anhöhen, und der Rauch aus den[] Schornsteinen stieg nach dem blauen Abendhimmel empor. Es war ein Bild vertrauensvoller Ruhe, die nicht ahnte, daß ein Ungewitter der grausamsten Art, von Menschen gegen Menschen entladen, im Anzuge war.
Er eilte am Berge hinab, durchmaß rasch den Wald und befand sich mit Anbruch der Nacht auf dem Hofe, wo er die blonde Christine, jetzt nicht mehr die einzige Christine, wußte. An dem langen Wege, den er heute ohne der Rast zu bedürfen, gemacht, konnte er am besten die innere Unruhe ermessen, die ihn trieb.
Man war eben im Begriff, zu Bett zu gehen, als er eintrat. Christine war da, wie er vorausgesetzt hatte. Er zahlte das schuldige Kostgeld, welches mit freundlichen Augen angenommen wurde. Die Gegenwart der Familie ließ keine vertrauliche Unterredung aufkommen. Christine war heiter, aber ihre Laune schien ihmerzwungen zu sein.
»Komm mit mir«, sagte er, »ich bin da, um dich zuholen.«
Sie entschuldigte sich mit Müdigkeit.
»Dann muß ich allein wieder fort«, entgegnete er.
»Gehst zu deiner Zigeunerin?« fragte sie.
»Versteht sich«, antwortete er.
»Bist ein Kerle wie ein Pfund Lumpen!« rief sie inihrer volkstümlichen Scherzweise und bemühte sichzu lachen.
Die Frau vom Hofe ging gleichfalls in diesen Ton ein und neckte sie, daß sie als neuverheiratete Frau schon mit ihrem Manne eifere.
[] »Wenn's so steht«, sagte er endlich, »so muß ich mich deiner doch versichern.« Unversehens hatte er ihre Mütze, Halstuch und Schürze weggenommen, die sie neben sich auf die Bank gelegt. Sie schrie und griff danach, aber er war schon entsprungen. »Gute Nacht!« rief er unter der Türe: »wenn du deine Sachen wieder willst, so weißt du, wo du sie finden kannst und mich dazu.«
34
»Schwan, kleb an!« sagte Bettelmelcher pfiffig lächelnd zu Christianus, als jener mit der schwarzen Christine den Waldversteck verließ, wo die sogenannte Gesellschaft lagerte. Die Bande hatte das Lager im Walde unter dem Hohenstaufen nicht mehr sicher gefunden und sich tiefer in die Wälder zurückgezogen.
Christianus nickte und lächelte ebenfalls.
Die beiden gingen zusammen fort, während jedes gegen das andere tat, als ob es nur zufällig um diese Zeit und nach dieser Richtung aufgebrochen wäre. Auch sprachen sie lange nichts miteinander, bis endlich Friedrich, als es ihm schien, die Zigeunerin trachte nach einem anderen Wege abzubiegen, das Stillschweigen brach. »Gelt«, sagte er, »dich hat's erzürnt, daß ich deine Schwester brav zerpeitscht habe?«
»Bewahre«, antwortete sie lachend, »daran hast du ganz recht getan. Du mußt's ihr aber nicht nachtragen, daß sie dich bei der Verteilung betrogen hat. [] Weißt, zuerst hat sie dich ganz haben wollen, und nun ihr dies mißglückt ist, hat sie sich auf andere Weise an dir schadlos zu halten gesucht. Übrigens tust du gut, die Augen immer offen zu haben, denn es ist nicht alles Gold, was glänzt.«
»Du auch?«
»Ich glänze ja nicht, ich bin dunkel. Meine Schwester glänzt, aber ich bin ihr nicht gram drum. Doch muß ich immer denken, daß sie gut zu dir passen würde, denn du hast ein feines weißes Gesicht, wie sie.«
»Sehr verbunden! Aber sie kommt mir vor wie die liebe Sonne, die offenbaret ihr Feuer bald und scheinet über Gerechte und Ungerechte.«
Sie lachte. »Darin sind doch die deutschen Männer alle einander gleich«, sagte sie, »daß sie von einem Weib verlangen, sie solle immer zu Boden schauen, wie wenn sie nicht auch von Fleisch und Blut wäre. Freie Augen wollen sie keinem Weib verstatten, die wollen sie für sich allein behalten. Du Narr, ich kann auch frech sein, frecher vielleicht als meine Schwester« – sie gab ihm eine Probe, indem sie die Augen wie zwei Feuerströme, die aus dunklem Schlunde hervorbrechen, so bohrend auf ihn warf, daß es ihn fieberheiß durchzuckte –, »aber«, fuhr sie fort, »ich bin es nur gegen den einen, der mir gefällt, und besinne mich lang, bis ich so ein nichtsnutziges Mannsbild in mein Herz kommen lasse.«
»Würdest du einem trauen, der ein paar Tage nach der Hochzeit sein Weib verläßt, dir zu Gefallen?«
»Warum nicht, wenn ich sehe, daß sie nicht zusammen taugen, und besonders wenn die Bekanntschaft[] vorher sieben, acht Jahr gedauert hat. Länger will ich auch nicht, daß mir einer Wort halten soll, denn in sieben Jahren, sagt man, werde der Mensch mit Haut und Haaren neu, dann ist er also ein anderer als der, der das Wort gegeben hat.«
Er lachte laut. »Du wärst imstande, einen bis in die Hölle zu führen«, sagte er.
»Warum nicht, wenn ich ihn der Müh wert halte«, erwiderte sie.
Er blieb lange stumm. »Wo willst du denn eigentlich hin?« fragte sie. »Es sieht ja aus, als ob du wieder einmal nach Ebersbach wolltest.«
»Ich hätte wohl Lust dazu und zu fragen, was die Ebersbacher von mir sagen.«
»Da würdest du viel Schönes hören. Mein Weg führt übrigens nicht dorthin, ich muß dich allein ziehen lassen.«
»Nein, bleib bei mir, wir wollen nur ein wenig umherschweifen, ich muß Gesellschaft haben.«
»Hast ja dein Gewehr«, sagte sie, blieb ihm übrigens zur Seite, während er hastig längs einer Schlucht hinanstieg.
Sie waren auf einem kleinen, tief im Dickicht fortlaufenden Pfade lange gegangen, als Christine in einer Vertiefung, durch die derselbe führte, den Schritt anhielt und sich über die schwüle Luft beklagte. Sie bog die Zweige auseinander und ging einem Plätschern nach, das sich seitwärts hören ließ. Er folgte ihr. Ein Bächlein rieselte durch den Wald und bildete, etwa mannshoch über Felsen springend, wenige Schritte vom Wege, aber tief verborgen, einen kleinen Wasserfall, [] aus dessen moosigem Flecken es leise weiterfloß. An dieser kühlen, dunklen, heimlichen Stelle ließ sich die Zigeunerin nieder und wühlte in dem Moose, unter welchem Tropfsteine hervorblinkten. Er setzte sich ihr gegenüber auf einen umgefallenen Baumstamm.
»Du bist müd, deine Augen brennen vor Schlaflosigkeit«, sagte sie. »Zwei Nacht hast du jetzt nicht geschlafen und den ganzen Tag nicht geruht.«
»Woher weißt du das?«
»Ich hab auf dich acht gehabt. Leg dich hier schlafen, hier ist Schatten und Frische! Ich will bei dir wachen, daß dich niemand stört.«
»Ich kann nicht schlafen«, sagte er.
Sie spritzte ihm von dem Schaume des Wassers ins Gesicht.
»Das Wasser tut mir wohl«, sagte er und tauchte gleichfalls die Hand ein, um sich die Augen zu kühlen.
»In dir geht etwas vor«, sagte sie.
»Wenn sich der Mensch umkehren soll wie ein Handschuh«, erwiderte er, »so ist das nicht auf einmal geschehen.« Er stützte den Kopf in die Hand und brütete vor sich hin.
»Wie meinst du das?« fragte sie.
Er richtete sich wieder auf. »Die Habsucht von ihrem Überfluß erleichtern«, hob er nach einer Weile an, »gegen harte Menschen streng auftreten, dazu kann sich der Mensch mit Leichtigkeit entschließen. Aber die Leute quälen und martern, wie die Henker, das geht mir wider die Natur. Es sind diese Nacht bei dem Schultheißen Dinge geschehen, die mir am Herzen [] nagen und die ich nicht aus dem Gedächtnis bringen kann.«
»Du redest recht schultheißenmäßig«, sagte sie. »Möchtest du jetzt vielleicht noch Schultheiß von Ebersbach werden?«
»Nein, ich rede keinem Schultheißen das Wort, aber foltern soll man ihn nicht.«
»Hast du nicht selbst gesagt, daß diese deutschen Henker das den Unsrigen tun?«
»Ich will's ihnen lassen.«
»Was? Und man soll's ihnen nicht vergelten, den Ungeheuern? Weißt du nicht mehr, welche Reden du gegen deine Ebersbacher geführt hast? Hast du nicht gesagt, dein Herz werde keine Ruhe finden, bis du den ganzen Flecken zusammenbrennen sähest, den Magistrat mit Pfarrer und Amtmann an der Spitze möchtest du hinschlachten, deinen eigenen Vater nicht verschonen und den schwangeren Weibern den Leib aufschneiden? Nun, die ungeborenen Kinder sind doch gewiß unschuldiger als der Schultheiß von Börtlingen.«
Er starrte unmutig vor sich hin.
»Prahlst du mit Worten«, fuhr sie fort, »und schrickst recht deutsch und feig vor einem bißchen Gequiek und Geschrei zurück? Du Maulheld, geh zu deiner Ebersbacherin und laß dich mit ihr ins Zuchthaus sperren.«
Er sprang auf wie ein gereizter Tiger, und seine rotumsäumten Augen funkelten. »Weibsbild!« schrie er, »ändere deine Zunge, oder du sollst den Maulhelden spüren, bis du mürb wirst.«
[] Sie war ebenfalls aufgesprungen und blickte ihm fest und keck ins Gesicht. »Glaubst du, daß ich dich fürchte?« rief sie. »Du kannst bloß drohen, du bist ein Weib.«
Mit einem Schrei der Wut stürzte er sich auf sie und suchte sie zu ergreifen, aber mit Erstaunen mußte er sich bekennen, daß ihm dieses Weib gewachsen sei. Sie zeigte ihm eine unerhörte Muskelkraft und dabei eine Behendigkeit, mit der sie ihm wie eine Flamme unter den Händen durchschlüpfte; dann hielt sie ihm wieder beide Hände fest, daß er der äußersten Anstrengung bedurfte, um sich loszureißen und den Kampf von neuem zu beginnen, wozu sie ihn durch ein fortwährendes Hohnlachen reizte. Lange hatten sie miteinander gerungen, bis er sie endlich bemeisterte und zu Boden warf, daß ihr die Glieder knackten.
»Willst du degenmäßig werden?« schrie er.
»Nein!« antwortete sie und suchte sich wieder emporzuringen.
»Willst du mich für deinen Herrn erkennen?«
»Nein!«
»Parieren mußt du!« schrie er, drückte sie zwischen seine Knie, daß sie nach Luft schnappte, und zog das Messer. Sie stöhnte, aber nicht vor Angst. Ihre Augen spien Feuer, ihr heißer Atem durchglühte ihm die Wange, und ihre braune Haut brannte von dem Blute, das ihr die Anstrengung in Gesicht und Hals hervorgetrieben hatte. Er kämpfte bebend mit der Gewalt ihrer Schönheit, aber entschlossen setzte er ihr das Messer auf die Brust und rief: »Willst du dich unterwerfen?«
[] Sie sah ihn mit großen Augen ruhig an. »Vor einer Minute noch wär ich freiwillig dein gewesen«, sagte sie, »aber eher will ich sterben, als gezwungen einem Mann zu Willen sein.«
»Was fällt dir ein?« rief er stolz sich zurückbeugend. »Du traust mir zu, an was mein Herz nicht denkt.«
»Was willst du denn?« fragte sie.
»Respekt, sonst gar nichts!« antwortete er mit seltsam strengem Tone. »Du mußt versprechen, daß du nie in deinem Leben mehr solche Ausdrücke wider mich brauchen willst.«
»Wenn's nichts weiter als das ist!« rief sie lachend. »Der Respekt ist schon von selbst da, und ich will tun, was du haben willst. Aber erst steck dein Messer ein, denn damit bringst du mich zu nichts, ich hab im Gefängnis schon den ersten Grad der Tortur überstanden, und sie haben nichts aus mir herausgebracht.«
Er stand auf und steckte sein Messer ein. Mit wunderbarer Schnellkraft schoß sie vom Boden auf: »Ich habe meinen Meister gefunden«, rief sie, »so hätte keiner von den anderen gehandelt! Dafür will ich dich auch achten und ehren und will dir leibeigen sein und mit meiner Hand dich ernähren mein Leben lang.« Sie ließ sich zu Boden, umfaßte seine Knie und sah zärtlich zu ihm empor.
»Horch!« sagte er. Ein Donnerschlag ging über ihre Häupter und rollte langhin durch den Wald. Ein zweiter folgte, und schwere Tropfen klatschten über ihnen auf die Blätter. Das schattige Plätzchen war dunkel geworden; das Stück Himmel, das man sehen konnte, zeigte sich mit schweren schwarzen Wolken[] behängt. Die Stelle gab guten Schutz gegen das ausbrechende Gewitter; denn dem jungen Holzschlag drohte keine Gefahr vom Blitze, der Hochwald war fern, und unter einem Felsen am Wasserfall befand sich eine leichte Vertiefung, wo man vor dem Regen geborgen sitzen konnte.
»Das musiziert drauf los!« sagte er behaglich, während das Gewitter mit heftigen Schlägen sich entlud und der Regen auf den Wald niederrauschte. »Hast du Angst?« fragte er, als Christine sich beim grellen Lichte eines Blitzes unwillkürlich bekreuzte.
»Nein!« sagte sie. »Überhaupt hab ich in meinem Leben keine Angst mehr als vor dir und um dich.«
Sie schmiegte sich an ihn wie ein Lamm. Ihre Augen suchten die seinigen und kehrten scheu in sich zurück; denn er sah unverwandt in die Höhe und seine Seele schien sich an dem Aufruhr in der Welt umher zu laben.
Das Gewitter hatte endlich ausgetobt, und der Regen hörte auf. Er erhob sich und kehrte auf den verlassenen Pfad zurück. Christine schlich mit gesenktem Kopfe traurig neben ihm her; noch gestern hatte er ihr leicht zu erkennende Beweise seiner wachsenden Zuneigung gegeben, und heute war er still und kalt gegen sie. Da sie seinen Jähzorn kennengelernt hatte, so wagte sie es nicht, ihn durch neuen Trotz zu reizen.
Sie waren lange nebeneinander hergegangen, da getraute sie sich endlich zu fragen: »Wo gehst du denn eigentlich hin?«
»Nach meinem Weibe sehen«, war die Antwort.
[] »Glaubst du, daß sie mit dir zu uns gehen wird?« fragte sie weiter.
»Ich zweifle«, antwortete er, »aber ich muß doch zuerst wissen, wie ich mit ihr dran bin. Das muß alles ganz offen abgemacht werden.«
Sie atmete auf, und es fiel ihr wie ein Stein vom Herzen; denn jetzt begriff sie sein Betragen.
»Wenn sie sich drein fügt und mitgeht«, setzte er hinzu, »so muß es jedermann recht sein, und ich werd's nicht leiden, daß man ihr etwas zuwider tut oder sagt.«
»Ich tu ihr gewißlich nichts zuleid«, versetzte sie schüchtern. »Wenn sie aber nicht will, und du wirst doch auch nicht mit ihr nach Ebersbach zurück wollen, so darfst du sie nicht nackt und bloß von dir lassen.«
»Wenn sie von mir geht«, sagte er, »so hat sie mit ihren Kindern nichts zu beißen und zu brechen.«
»Ich will dir für alle Fälle was sagen«, wendete sie sich zutraulich zu ihm. »Ich hab ein paar hundert Gulden im Zins stehen bei einem sicheren Mann im Fränkischen. Nun will ich dir weder zu- noch abreden: ob sie zu uns taugt, das ist deine und ihre Sache. Wenn's aber, wie du jetzt selbst für möglich hältst, zwischen euch zur Trennung kommt, so kannst du Geld von mir haben, soviel du willst, damit du sie nicht entblößt ziehen lassen mußt und damit deine Kinder nicht in Not verlassen sind.«
Sein Gesicht verwandelte sich, und er blickte sie so freundlich an, daß es ihr durch das Herz ging. Mit der Teilnahme an seinen Kindern, welchen er nicht [] Vater sein konnte, hatte sie, mehr als mit dem übrigen Anerbieten, das auf eine Abfindung seines Weibes hinauslief, eine Saite in seinem Herzen berührt, die alsbald klang. Doch sagte er nur: »Davon können wir noch reden.«
Sie kamen aus dem Walde heraus und hatten freies Feld vor sich, durch welches mehrere Wege führten. Da er ohne Aufenthalt vorwärts ging, so legte sie ihre Hand auf seinen Arm und fragte: »Getraust du dir den Weg zu machen? Ein kleiner Bogen durch den Wald wäre besser. Die Gegend ist nicht sicher, und für dich am wenigsten.«
»Bleib du zurück«, sagte er. »Ich gehe grad auf dem Weg hier fort nach dem Waldsaum da drüben.«
»Wo du dich hintraust«, versetzte sie, »da geh ich mit. Ich begleite dich bis an den Hof und überlasse dich dort deinem Stern oder deinem Unstern.«
Sie gingen zusammen weiter. Er befand sich allerdings in einer Gegend, die für ihn nicht sicher war, die er sehr gut kannte. Eine kurze Wanderung auf der sich gegen den Talrand senkenden Anhöhe würde ihm sein Heimattal gezeigt haben. Er erkannte es an dem jenseitigen Höhenzuge, von welchem der obere bewaldete Teil zu sehen war. Er warf einen finsteren Blick nach der Stelle, wo unsichtbar für das Auge sein Vaterort drunten lag, und wandte sich zum Weitergehen, als er bemerkte, daß Christine, jeder Besorgnis Trotz bietend, auf einer steinernen Ruhebank Platz genommen hatte. Ihre Augen flogen wie trunken ins Weite. Er folgte mit seinem Blick und sah jetzt erst den wundervollen Anblick, der sich ihnen [] bot. Der Albgebirg in seiner ganzen Ausdehnung stieg über die niedrigeren Höhen empor, die sich vor ihm lagerten. Das fliehende Gewitter hatte seine letzten Wolken im Westen gesammelt, wo die Sonne unterging. Man sah sie nicht, aber durch die Wolken sendete sie nach dem Gebirge ein zauberhaftes Licht, das nach und nach die ganze Kette heimzusuchen kam. Im äußersten Westen begann das Schauspiel, und Achalm und Neuffen mit ihren Mauern und Felsen glänzten auf. Dann lief das Licht am Gebirg herüber und in die tiefsten Taleinschnitte hinein, die sonst ununterscheidbar im Ganzen verschwammen, so daß jetzt in ihrem Hintergrunde die fernsten Felsen wie Diamanten blitzten und das Grün der Wälder wie in einem warmen Rauche leuchtete. Nach einigen Augenblicken sank die beleuchtete Stelle in eine graue Masse mit dem übrigen Gebirge zurück, während der wunderbare Strahl immer weiter wanderte, bis er endlich im letzten Osten der Bergkette erlosch. Nun aber spiegelte sich hinter dem Staufen und Rechberg das Dunstbild der unsichtbaren Leuchte, von welcher der Zauberschein herkam, so daß dort in einem dichten Purpurrauche eine zweite Sonne auf- und unterzugehen schien.
Er wußte nicht, ob er wachte oder träumte; die Welt war ihm neu, und er glaubte, sie, obgleich kaum eine Stunde von seinem Geburtsorte entfernt, zum erstenmal zu sehen. Er heftete den Blick wieder auf seine Genossin, durch deren Augen er dieses Liebesspiel der Sonne mit einem Fleck der Erde, den er seine Heimat nannte, erschaut hatte, und siehe, auch sie hatte der [] Lichtstrahl in seinen blendenden Bereich gezogen. Er hing bewundernd an ihrem Anblick, da kehrte sie ihm das braune, in rötlichem Schimmer strahlende Antlitz zu und rief: »Du bist ja ganz von Glanz umflossen!«
»Auch ich?« fragte er verwundert.
»Wir sind bei der Frau Sonne zu Gaste«, sagte sie, »wir Kinder des Waldes haben darin viel vor den anderen Menschen voraus. Aber komm, es muß nun einmal sein.«
Sie gingen dem gegenüberliegenden Walde zu und verfolgten einen durch denselben gehenden Weg, bis sie in der Nähe des Hofes angelangt waren, wo er die blonde Christine untergebracht hatte.
»Hier scheiden sich unsere Wege«, sagte die schwarze Christine. »Und nun hör noch eins. Ich weiß, daß du mich lieb hast und dein Herz schwer von mir losreißen wirst; deshalb will ich dich nicht an mich locken, wie ich wohl könnte. Aber dein Herz wird dir selbst sagen, wie es um uns steht. In ihr hast du nur dich selbst geliebt, deinen eigenen Willen, in ihr hast du nur dir selbst Wort gehalten. In mir liebst du etwas anderes.«
»Ja, den Teufel!« murmelte er. »Und doch bist du mir soeben wie ein Engel des Lichtes erschienen.«
»Nenn's, wie du willst. Wenn du sie zu uns mitbringst, so wirst du bald sehen, daß du auf mich vor allen bauen kannst. Folgt sie dir nicht in das neue Leben, dessen Türe du, wie dir selbst bewußt sein wird, unwiderruflich aufgestoßen hast, folgt sie dir nicht, wie das Weib dem Manne folgen soll, und du gibst deinem [] Herzen Gehör – wohlan, du weißt genug und ich habe mich schon zu viel angeboten. Unsere Tage hier sind gezählt. Wenn du willst, kannst du uns finden.«
Sie grüßte leicht mit der Hand und war im Wald verschwunden.
35
Christine war nicht da. Sie sei diesen Nachmittag fortgegangen, hörte er von ihrer Wirtin, und habe gesagt, sie müsse nach ihrem Manne sehen und ihre Kleidungsstücke holen. Sie habe vorher eine Zeitlang in der Bibel gelesen, und sei dann auf einmal aufgebrochen. Er setzte sich verdrossen vor das noch aufgeschlagene Buch und las mühselig in der Dämmerung: »Ich suchte des Nachts in meinem Bette, den meine Seele liebt; ich suchte, aber ich fand ihn nicht.« Es war das hohe Lied, das in dunkler, aber zündender Sprache von zwei verbundenen Herzen, die sich suchen und wiederfinden, erzählt. Obgleich die von der Kirche hinzugefügten Überschriften diesem berauschenden Klag- und Jubelliede eine ganz andere Auslegung gaben, so schienen doch seine Flammenworte Christinens Herz in der Einsamkeit ergriffen und mit jenem Weh angefüllt zu haben, von welchem das Lied selbst sagt: »Liebe ist stark wie der Tod, und Eifer ist fest wie die Hölle; ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, daß auch viel Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen, noch die Ströme sie ersäufen.« Er[] schlug unruhig die wohlbekannten zwei Blätter hin und her, die auch für ihn so manches Wort enthielten, und das Herz klopfte ihm, als die Stelle vor seine Augen trat, wo es heißt: »Ich bin schwarz, aber gar lieblich, ihr Töchter Jerusalems, sehet mich nicht an, daß ich so schwarz bin, denn die Sonne hat mich so verbrannt.«
Er legte das Buch wieder hin und ging, um sein Weib aufzusuchen. Er war in dem schon nächtlich dunklen Walde noch nicht weit gegangen, als er eine weibliche Gestalt gegen sich kommen sah, die bei seinem Anblick zaudernd stehenblieb. Er erkannte sie erst, als er sich ihr bis auf wenige Schritte genähert hatte. Es war die blonde Christine, die ihn vergebens im Walde gesucht hatte und nun auf der Rückkehr begriffen war. Sie befand sich aber in einer Laune, die nicht nach den Würzgärten Salomos schmeckte. »Deine Zigeunerin hat mir schon gesagt, wo du seiest«, warf sie mürrisch hin, »sie ist mir begegnet.«
»Sie wird dir gesagt haben, daß ich dich hab besuchen wollen.«
»Läßt mich den halben Tag um dich 'rumlaufen.«
»Nun, jetzt hast mich ja.«
»Bist mit deiner Zigeunerin 'rumzogen?«
»Ja.«
»Gib mir nur mein Halstüchle, mein Müffle und mein' Schurz wieder. Ich brauch's.«
Gereizt durch ihren zänkischen Ton, öffnete er den Büchsenranzen und gab ihr die gepfändeten Gegenstände zurück. »Ich hab dir auch einen getüpfelten Schurz mitgebracht«, setzte er verdrießlich hinzu,[] »wenn du aber so widerwärtig bist, ist nichts mit dir anzufangen. Da!«
»Ich brauch ihn nicht«, sagte sie trutzig.
»Nein, du mußt ihn nehmen«, rief er. »Man kann ja nirgends mit dir hin in deinem schwarzen leinenen Schurz; wo du hinkommst, sehen dich die Leut für ein Baurenmensch an.«
»Ich bin dir in meinen Kleidern lang gut gnug gewesen«, sagte sie und zog die Hand zurück.
Er warf ihr das Geschenk über die Schulter.
»Ich will nichts von deinen gestohlenen Sachen haben!« rief sie und warf es zu Boden.
»Wart, ich will dir so unartig sein!« rief er zornig und hob die Hand gegen sie auf. »Ich sollt dich nur –«
»Schlag mich nur in dem Zustand, in dem ich bin!« rief sie, in Weinen ausbrechend. »Die Liebe ist dir ja doch vergangen. Laß du mich heim, ich kann schaffen und dienen, ich hab nicht nötig, gestohlen Brot zu essen. Geh du, wo dich dein Herz hinzieht, zu deinem Zigeunermensch.«
»Wenn du mir's so machst«, erwiderte er, »so kann mir die Wahl nicht weh tun. Aber bis jetzt hast du keinen Grund zur Eifersucht, das kann ich dir schwören. Übrigens ist die Zigeunerin christlicher gesinnt als du. Sie sagt, wenn du mit mir zu ihnen übertretest, so wolle sie dich wie eine Schwester halten, und nur, wenn du durchaus nicht mit mir gehen wollest und nach Haus begehrest, wolle sie mir Geld für dich geben, damit du nicht Not leiden müssest.«
»Ich will kein Geld von ihr, um mich abfinden zu[] lassen«, sagte sie heftig, »ich will mich und meine Kinder von meiner Hände Arbeit ernähren.«
»So schimpf wenigstens nicht über sie, denn sie tut nichts, um dich zu verdrängen, und meint's ehrlich mit dir. Daß es aber zwischen uns endlich zu einer Entscheidung kommen muß, das wirst du selbst einsehen.«
Während dieses unfreundlichen Wortwechsels ging Christine ohne Aufenthalt immer vorwärts, und er folgte ihr.
»Bist du heut nacht mit dabei gewesen in Börtlingen?« fragte sie nach einer Weile.
»Woher weißt du was von Börtlingen?«
»Heut früh schon hat man's auf dem Hof gehört, es sind Leut dort vorbeikommen, und heut nachmittag sind mir Leut im Wald begegnet, denn wenn ich allein bin, so brauch ich mich nicht zu fürchten und kann die Straß gehen. In der ganzen Gegend ist ein Geschrei: eine Räuberbande sei bei lichtem hellem Mondschein zu Börtlingen eingefallen und der Sonnenwirtle sei ihr Hauptmann gewesen und hab die Leut schwer mißhandelt und den Schultheißen am Feuer geröstet.«
»Und gefressen wie einen Schöps!« setzte er lachend hinzu. »So arg ist's nicht.«
»Also in der Hauptsach ist's wahr?«
»Dir leugn' ich's nicht«, antwortete er.
Sie waren bei diesen Worten wieder in der Nähe des Hofes angekommen. »Wart ein wenig«, sagte sie, »ich will nur geschwind meine Sachen holen, denn ich muß eilen, wenn ich noch nach Ebersbach kommen[] will, vor's ganz Nacht wird. Begleiten wirst mich wenigstens zu guter Letzt noch ein bißle.«
»Ist dir's Ernst?« fragte er düster.
»Ich weiß mir kein' andern Weg.«
»Ich laß dich nicht!« rief er, und seine Stimme verriet, daß es in ihm zu kochen begann.
»Wir können ja unterwegs streiten, wenn du streiten willst«, erwiderte sie und ging hinein. Nach kurzer Frist kam sie mit ihrem kleinen Bündel zurück und sagte: »Da drinnen meinen sie auch, es sei das best für mich, ich geh wieder heim. Sie sind arg betrübt, daß der Christle heut abend ins Ottenbacher Tal 'nüber ist, um deine Kameraden aufzusuchen.«
»Das ist das rechte Klima!« versetzte er. »Wenn er sie nicht antrifft, so kann er sie dort jedenfalls erfragen. Was willst du aber machen, wenn dich deine Mutter nicht behält, wie sie schon einmal getan hat?«
»Dann probier ich's wieder mit der Schulmeisterin zu Denzlingen, oder auch, wenn alle Sträng brechen, mit meiner Zuchthausaufseherin. Es ist hohe Zeit für mich, daß ich wieder in ein anders Leben komm.«
Sie schritt unaufhaltsam dahin, so daß er wohl oder übel mitgehen mußte. »Wie ist's denn in Börtlingen gangen?« fragte sie.
»Wir sind sieben Mann stark mit der Margarete dem Schultheißen ins Haus gedrungen. Einer, der eine dunkle Kappe mit Augenöffnungen über das Gesicht gezogen hatte, ist unser Anführer gewesen; sie sagen, es sei der abgedankte Amtmann von Adelberg. Es war noch ein zweiter Unbekannter dabei, in einem schwarzen Kamisol und weißen Zwilchkittel, mit ganz[] schwarzgefärbtem Gesicht. Der mit der Kappe ist dem Melcher auf die Achsel und durch einen Laden eingestiegen und hat uns die Haustür aufgemacht und davor Wache gehalten. Wir sind hinein, haben bei fünfzehn Wachslichter teils unten und oben an die Wand geklebt, teils in der Hand gehalten.«
»Und mit den Lichtern habt ihr den Schultheißen brennt?«
»Ich hab ihm weiter nichts getan als ihn binden helfen, hab ihn am Hals und um den Leib hart gehalten, einen alten Heuchler geheißen und angeschrien, er solle gestehen, wo er sein Geld habe, oder er müsse sterben. Zugleich ist die Magd in ihrem Schrecken nackend die Stege herunterkommen; der Christianus hat ihr die Zöpfe abgeschnitten, die Hände und Füße damit zusammengebunden und sie in der Frau Bett geworfen, weil sie geklagt hat, es friere sie so. Denn die Frau ist auf dem Boden gelegen, der Melcher hat ein Deckbett über sie geworfen. Die Magd hat gewimmert: hier stehe der Kupferhafs, sie sei ein armer Wais, man solle ihr nichts tun. Zugleich hat der Schultheiß gesagt, es sei Geld genug in der Kammer drin. Die anderen aber haben aus der Kammer gerufen: Wir haben das Möges schon, nämlich das Geld. Auf einmal hat die Margarete, die vielleicht Leute auf der Gasse gehört, Gaif! Gaif! gerufen und hat mir zugeschrien, ich solle hinunter und Feuer auf sie geben. Darauf hab ich unter dem Haus mit dem in der Kappe Wache gehalten und mich an nichts mehr beteiligt.«
»Dann haben die anderen den Schultheißen mißhandelt?«
[] »Ja«, erzählte er zögernd, »sie haben noch mehr Geld gewollt und deshalb Torturen angewendet. Der Jägerkasperle, der dabei war, hat die Frau an den Augenbrauen geritzt, und der Schwamenjackel, der wüste Kerl, hat den Schultheißen geschlagen und mit einer am Licht glühend gemachten Nadel unter dem Nagel in den Daumen gestochen.«
»Jesus! Jesus!« schrie Christine. »Das ist ja schrecklich.«
»Sie haben aber nichts mehr von ihm bekommen als den Nachtmahlskelch nebst Zubehör. Er hat alles andere richtig angegeben und nur diese Sachen hat er verheimlichen wollen, weil sie seiner Gemeinde gehören.«
»Wie ist's denn bekannt worden, daß du dabei gewesen bist?« fragte sie. »Hättest du dich nicht auch vermummen können?«
»Der Bettelmelcher«, erwiderte er, »hat immerfort geschrien: Kennt ihr mich? Ich bin der Sonnenwirtle.«
»Die Spitzbuben!« rief sie empört: »damit haben sie dich absichtlich 'neinreiten wollen! Und ich steh dafür, den gefährlichsten Teil vom Raub, den Kelch, haben sie sicherlich dir geben.«
»Daß sie alle Mittel anwenden, um mich völlig in ihre Gesellschaft zu ziehen, ist natürlich«, erwiderte er. »Ich kann ihnen das nicht einmal übelnehmen. Und was bleibt mir sonst übrig?«
In diesem Augenblicke kamen sie aus dem Walde auf das freie Feld heraus, das noch vom letzten Tageslicht erhellt war. Sie sah ihm schmerzlich und schüchtern [] in das Gesicht, dessen starre Züge eine finstere Ergebung verkündigten. »Mir gräuselt's vor dir!« sagte sie.
»Du hast's nötig, so zu reden!« rief er wild. »Wer hat sich denn Essen und Trinken und Kleider von mir bringen und das Kostgeld für sich bezahlen lassen? Wer hat vom Melcher ein Pfännle verlangt? Hast du geglaubt, der Bettelmelcher werde es kaufen? Und wer hat diesem Dieb und Räuber von Profession die Gelegenheit in Heseltal beschrieben und ihm angegeben, wo der Wirt sein Geld hingetan hat?«
»Ach Gott!« rief sie weinend, »du hast freilich recht! Ich sag ja, es sei hohe Zeit für mich, in ein anders Leben zu kommen. Da siehst, wie man in der Gesellschaft wird. Sie lachen ein' so spöttisch aus und stellen ein' so miserabel hin, daß man's nicht aushält und ihnen vor lauter Ärger zeigen muß, daß man auch Augen im Kopf hat, so gut wie sie. Ich glaub, wenn ich bei ihnen wär, ich tät bald mit ihnen wetteifern, nur nicht in Börtlinger Geschichten, denn so viel wird dir dein eigenes Herz sagen, daß das etwas ganz anders ist, als alles, was du früher getan hast. Die Leut sagen schon lang von dir, du habest einen Bund mit dem Teufel. Ich hab's nie glaubt; auch müßt er nicht besonders spendabel sein, wenn's wahr wär. Aber bei so Unmenschen mußt du dem Teufel verfallen.«
»Ich hab nur mitgetan, weil mich ein gegebenes Wort gebunden hat«, erwiderte er. »Ich tu's nicht mehr. Es gibt andere Mittel und Wege.«
Sie waren an der Ruhebank angekommen. Sosehr[] Christine eilte, so erklärte sie doch, sie müsse ein wenig sitzen, denn die Knie zittern ihr vor Müdigkeit und Bekümmernis. Nun saß sie an derselben Stelle, wo kurz zuvor ihre Namensschwester gesessen. Welch ein ganz anderes Bild bot sich ihm jetzt in den grauen Schatten des Abends dar! Die Waage mußte zuungunsten des armen, bleichen, vor der Zeit alternden Weibes hoch emporsteigen, wenn er sie mit jenem von Schönheit und Jugend strahlenden Geschöpfe der Wüste verglich.
Er fühlte dies und kämpfte dagegen an. Er wollte dem Weibe seiner Jugend Wort halten, und wenn er die Unmöglichkeit selbst überwinden müßte. Leidenschaftlich rang er mit ihrem Entschlusse, bat, drohte, tobte, fluchte. Sie blieb fest. »Du kannst mich erschießen«, sagte sie, »aber ich tu's meinem rechtschaffenen Vater unter dem Boden nicht zuleid, daß ich zu dem Gesindel ging.«
»Du weißt«, sagte er grollend, »daß mir die Welt nach allen anderen Seiten hin verbaut ist, und jetzt auf dem einzigen Wege, den ich noch gehen kann, willst du mich verlassen! Ist das deine Liebe zu mir?«
Sie fiel ihm laut weinend um den Hals und zog ihn auf die Steinbank zu sich nieder. »O Frieder!« rief sie, »ich hab dich liebgehabt wie kein' Menschen sonst in der Welt und hab dich heut noch lieb. Sieh, ich weiß wohl, ich bin dein Unglück gewesen von Anfang an. Wenn ich nicht gewesen wär, so wärst nie auf die Weg kommen. Aber deine Liebe und Treue zu mir hat dich ins Verderben geführt, immer tiefer [] und tiefer. Wenn ich dir's damit lohnen könnt, daß ich für dich stürb, o wie gern! Aber mut mir nicht zu, daß ich mit dir in die Welt gehen soll, tu's um deinetwillen nicht. Du kannst mich nicht brauchen, ich wär auch da eine Sperrkette für dich, wie ich's immer gewesen bin, und da noch weit mehr. Da wär's bald so weit, daß du mich verstoßen müßtest und die andere nehmen, die zu so Sachen mehr Schick hat als ich.«
»Nie!« rief er. »Wenn du bei mir bleibst, so sollst du sehen, daß mir keine andere an die Seite kommt. Aber das erklär ich dir offen: wenn du von mir abfällst, so schlag ich mich zu der anderen Christine, denn sie heißt wie du und hat mich lieber als du.«
»Tu's nicht, Frieder, tu's nicht!« rief sie ihn umklammernd. »Ich säh dich ebensogut in der Hand deiner Stiefmutter. Ich will nicht sagen, sie mein's nicht in ihrer Art gut mit dir, aber wohin wirst du an ihrer Hand geraten? Sieh, wenn du ein Schritt hundert oder zweihundert von der Bank da vorgehst, so siehst so weit ins Tal, daß du den Ebersbacher Galgen ins Aug fassen kannst. Wie lang meinst du denn, daß du's auf die Art treiben könnest? Eins, zwei, drei Jahr, wenn's hoch kommt, und dann nimmt's ein schrecklich's End. Oh, Frieder! Frieder! daß ich das voraussehen muß! Gibt's denn gar sonst kein' Ausweg mehr für dich?«
Sie faßte seinen Kopf mit beiden Händen und küßte ihn unter fortwährendem Schluchzen, das ihr die Brust zu zersprengen drohte, so inbrünstig, wie er nie einen Kuß von ihr empfangen zu haben glaubte, und [] ihre Tränen brannten auf seinen Wangen. Er war erschüttert. »Könnt ich einen finden«, sagte er, »ich tät's dir zulieb.« Er starrte gegen das Gebirge hin, das jetzt nur noch als eine graue Linie zu erkennen war. »Versuch's einmal«, sagte er endlich, den Büchsenranzen neben sie auf die Bank legend, »ob du nicht die Sachen da drin verkaufen und mir einen Lehrbrief dafür anschaffen kannst, mit dem ich mich ausweisen könnte. Wenn ich unter eine Armee ginge, so wäre vielleicht in etlichen Jahren manches vergessen –«
»Drauf! Drauf!« schrie es hinter ihnen. Sie fuhren auf und sahen sich von Streifmannschaft umringt, welche aus dem Walde hervorgebrochen war, und rechts und links auf sie eindrang. »Halt dich fest zu mir!« rief er, hatte im Nu die schwächste Seite der Angreifer, die ihm nach dem Walde zu entkommen erlaubte, ausgespäht und warf sich mit angeschlagenem Gewehr ihnen entgegen. Sie wichen erschrocken auseinander, und er stürzte mitten hindurch. Ein paar Schüsse knallten hinter ihm, die er verlachte. Als er aber den Schutz des Waldes erreicht hatte und sich umsah, war keine Christine hinter ihm. Er brach tollkühn wieder hervor und sah sie als leichte Beute in den Händen der Streifer. »Laßt sie los«, schrie er, »oder –!« Ein Teil eilte mit ihr geradeaus den Berg hinab, so daß sie bald mit ihr verschwunden waren, ein anderer Teil stellte sich gegen ihn auf. »Und wenn der Teufel selber bei ihm wär«, rief die Stimme des Fischers, den er jetzt erkannte, »so wird man doch mit ihm fertig werden können.« Abermals blitzte ein[] Schuß gegen ihn durch die einbrechende Nacht. Er schlug auf den Haufen an und drückte ab. Das Gewehr versagte. Nun hatte er keine andere Wahl, als wiederum sein Heil in der Flucht zu suchen, die ihm schon so manchesmal gelungen war. Sie gelang auch diesmal wieder, und nach wenigen Augenblicken befand er sich, von keinem der nachgesandten Schüsse berührt, in dichter Waldesnacht geborgen. Aber Christine war in den Händen der Verfolger geblieben und wurde nun mit Zwang dahin geführt, wohin sie freiwillig gewollt hatte. Mit ihr war auch sein Büchsenranzen in Gefangenschaft geraten und hiemit nicht nur der Ertrag der Untat, die sein Gewissen drückte, verloren, nicht nur die Möglichkeit einer Rückkehr in die Schranken einer rechtmäßigen oder doch wenigstens den Vorurteilen der Zeit entsprechenden Ordnung vernichtet, sondern auch die schwerste Inzicht gegen Christinen in die Hände ihres Richters geliefert.
36
Als er sich in Sicherheit wußte, ließ er es seine erste Sorge sein, die treulose Begleiterin, die ihm den Dienst verweigert hatte, wieder instand zu setzen. Zu diesem Behufe ging er nach dem Hofe zurück, von wo er mit Christinen gekommen war, weckte die Leute, die schon zu Bette lagen, forderte Licht und erzählte mit verbissenem Grimme, was sich zugetragen. Man war ihm schweigsam zu Willen, wie man eben in abgelegenen [] Wohnungen solche Besuche zu ertragen pflegte. Nachdem sein Gewehr ausgebessert war, schlug er in seinem trotzigen Mute den Weg ein, den die Streifer mit ihrer Gefangenen genommen hatten, nicht eben denselben Weg, aber den Weg nach seiner für ihn verschlossenen Heimat, wohin sie geführt worden war. In sinkender Nacht kam er im Tale unten an, durchschnitt es und wählte sich geradezu den gangbarsten Weg, die Göppinger Straße, weil er dachte, daß man ihn von dieser Seite am wenigsten erwarten würde. Er wollte mitten in den Flecken eindringen – er wußte selbst nicht recht, was er wollte. Der Mond ging auf und machte sein Wagestück um so gefährlicher. Eben kam er an der Ziegelhütte vorüber, als plötzlich hinter einem dort liegenden Scheiterhaufen hervor drei Schüsse auf ihn fielen. Keiner hatte getroffen, doch war ihm auf der rechten Seite ein Fetzen vom Rocke weggeschossen. »Auf ihn! Auf ihn!« schrien mehrere Stimmen, und drei Männer sprangen hervor. »Ich hab ihn bezahlt, ich hab ihm einen Flügel abgeschossen!« rief der eine. Es war abermals der hartnäckige Fischer, der durchaus den ausgesetzten Preis verdienen zu wollen schien. »Faßt ihn, den Fleckendieb, den Börtlinger Räuber!« schrien die beiden andern, in welchen er den ihm feindlichen Müller und dessen Knecht erkannte. »Oho!« schrie er und schlug an, »so weit ist's noch nicht.« Bei dem Anblicke seiner aufgehobenen Büchse flüchteten sie sich zurück, er schoß, hörte aber die Kugel in das Holz einschlagen. »Wenn ihr mir so ernstlich nach dem Leben trachtet, ihr Wegelagerer!« rief er, »so könnt [] ihr euch auf mich verlassen, daß ich den ersten, der mir von euch begegnet, über den Haufen schieße, und du, Fischerhanne, weißt ohnehin, was dir geschworen ist!« – Da er sie jedoch hinter ihrer Brustwehr wieder laden hörte, so zog er sich zurück, um der Überzahl auszuweichen und gleichfalls ungestört laden zu können.
Nach kurzer Zeit versuchte er von anderer Seite her eine Annäherung an den Flecken. Nicht weit vom Hochgerichte, vor welchem Christine ihn gewarnt hatte, ging er zu der Hütte eines Feldhüters und gebot diesem herauszukommen. Es war ein Schulkamerad von ihm, der als ein armer Mann das Amt übernommen hatte, bei Nacht die Frucht zu hüten. »Erschrickst du vor mir?« fuhr er ihn an.
»Nein«, antwortete der Hüter, »ich hab nur so spät niemand erwartet, es ist schon zehn Uhr vorbei.«
»Wie steht's?«
»Nicht zum besten. Der Hagel hat heut stark auf der Markung geschlagen. Wenn's so fortgeht, wird bald nichts mehr zum Hüten da sein.«
»Weißt du nichts von meiner Christine?«
»Ja, eh ich heraus bin, hab ich gehört, daß sie gefänglich eingebracht worden sei. Sie sitzt auf'm Rathaus und wird morgen mit dem frühsten nach Göppingen geliefert. Alles sagt, sie werd ins Zuchthaus kommen.«
Er knirschte mit den Zähnen.
»Die alt Müllerin hat doch recht Unglück mit ihren Kindern. Weißt du's mit dem Jerg?«
»Was?«
[] »Weißt du nicht, daß bei Geislingen ein Aufruhr gewesen ist und daß man achtzehn Soldaten erschossen hat?«
»Freilich weiß ich's.«
»Nun, und da ist deiner Christine Bruder auch darunter gewesen.«
Er stieß einen Schrei des schmerzlichsten Zornes aus und wütete gegen die ganze Welt, den Herzog an der Spitze.
»Nimm dich doch in acht!« sagte der Hüter, »du kannst dich mit solchen Reden um den Kopf bringen.«
»Was liegt daran!« erwiderte er.
Man hörte Schritte, und im Mondlicht kamen Soldaten zum Vorschein.
»Wer da?« rief er mit wilder Stimme, hervortretend und das Gewehr anlegend.
»Die tun dir nichts«, sagte der Hüter, »die sind in Urlaub und lassen sich's wohl sein, weil man wegen der unruhigen Zeit dem Soldaten ein wenig durch die Finger sieht, haben den ganzen Tag viel getrunken und wollen den Geist verluften; wenn sie vielleicht auch gesagt haben, daß sie auf dich streifen wollen, so ist's ihnen nicht Ernst damit.«
»Ist des Jergs Bruder, der Hannes, unter ihnen?«
»Nein«, sagte der Hüter und nannte ihm ihre Namen.
Er trat den drei bewaffneten und mit Gewehren versehenen Reichskriegern entgegen; mit der einen Hand hielt er sein Gewehr, mit der anderen klopfte er auf die Lederhosen und rief: »Nur her da, ich hab schon lang auf euch gewartet, ich bin der Sonnenwirtle!«
[] Diese Worte und Töne schlugen wie ein Kartätschenhagel in die Schar der Helden ein, die vielleicht in nächster Zeit gegen den rebellischen König von Preußen in das Feld rücken sollten. Sie machten Kehrt und liefen so schnell davon, als ihre steifen Stiefeletten, die doch recht eigentlich ein Mittel gegen das Fluchtfieber abzugeben geeignet waren, es gestatten wollten.
Er lachte unbändig hinter ihnen her. Über dem spaßhaften Anblick und über der Befriedigung seines Stolzes hatte er, für einen Augenblick wenigstens, alles vergessen, was ihn drückte.
»Hab ich's nicht gesagt, die tun dir nichts?« sagte der Feldhüter. »Die könnt man mit keinem Pferd mehr einholen.«
»Hol mir Wein.«
»Gern, aber weißt, damit ich vor Amt schwören kann, du habest mich gezwungen, so mußt mir's anders befehlen.«
»Gut.« Er klopfte an sein Gewehr. »Du mußt mit mir da hinein und zu trinken holen, und wenn du nicht willst, so mußt du.«
»Sehr wohl.«
Sie gingen zusammen bis nahe an den Flecken. Dort gab er ihm Geld und wartete mit angezogenem Gewehre auf seine Zurückkunft.
Der Hüter kam allein, denn er wußte wohl, daß eine Verräterei ihn außer stand setzen würde, je wieder seinen Dienst bei Nacht zu tun. Hierauf gingen sie in das Feld zurück.
Der Hüter mußte den Wein tragen und durfte dafür nachher mit ihm trinken.
[] »Was reden sie in Ebersbach von mir?« fragte er, sich bequem auf den Boden streckend.
»Sie haben gottsträflich Angst vor dir.«
Er lachte und ließ nicht ab mit Fragen, bis ihm der Hüter die gleiche Antwort wohl sechsmal in verschiedenen Wendungen wiederholt gegeben hatte.
»Aber die Börtlinger Geschicht macht bös Blut, es wird allenthalben nach dir gestreift, und es ist da herum nicht mehr gut wohnen für dich.«
Er lachte noch lauter und fing nun mit diesem Einbruch, den er vor wenigen Stunden mit manchem Gewissensbiß erzählt, heillos zu prahlen an. Dabei machte er sich mit dem Amtmann von Adelberg und anderen vornehmen Personen groß, indem er so das Märchen, das vielleicht seine Genossen zu seiner eigenen Aufmunterung ersonnen hatten, weiter verbreitete. Indessen erreichte er seine Absicht, denn der Hüter bemerkte, wenn solche Leute mit in der Verschwörung seien, so werde der Schrecken in der ganzen Gegend um so größer werden. Hierauf befahl er ihm, den Amtmann von ihm zu grüßen, er habe eine schöne Flinte, die dem Herrn Amtmann gewiß anständig wäre, sie sei recht leicht; warum er denn gar nicht mehr auf die Jagd komme? Zu diesen Hohnreden fügte er Drohungen gegen seine Verfolger, seinen Vormund und den ganzen Flecken. Nach der Ernte, wenn die Scheuern voll seien, sagte er, sei es besser, die Häuser anzuzünden, es brenne leichter und gebe eine größere Freude. Der Hüter wagte bescheidentlich einzuwenden, er gehe ja selbst nach Brot und werde doch der Gottesgabe nicht so mitspielen wollen. »Ei[] was!« erwiderte er kindisch, »ob ich's verbrenne oder ob's der Hagel erschlägt, das ist alles eins.«
Zuletzt kam er wieder auf den Schultheißen von Börtlingen zu sprechen und sich zu rühmen, wie er diesen für seine Heuchelei und Ungerechtigkeit bestraft habe. »So muß man's machen«, sagte er, »ist's nicht recht so?«
»Unser Pfarrer«, sagte der Hüter ausweichend, »schimpft auch auf ihn und sagt, jetzt habe er's, daß er nicht mehr Vorsicht anwende und alles dem Himmel überlassen wolle; er verderbe dem geistlichen und weltlichen Amt das Spiel, verschmähe allen erlaubten Profit, hänge sein Geld an die Armen, die dadurch nur immer begehrlicher werden, und opfere sich auf eine einfältige Art für seine Gemeinde auf, so daß ihm's kein Pfarrer und niemand nachmachen könnte, der sich nicht zugrunde richten wollte.«
»So?« sagte der Räuber und versank in stummes Nachdenken. So verwandelt und entstellt sein ursprünglich gutes Gemüt war, so konnte er sich doch dem Eindringen der Wahrheit nicht entziehen, die aus diesen Worten hervorleuchtete: die erste größere Rachetat, womit er die von der bürgerlichen Gesellschaft erlittenen Unbilden zu vergelten meinte, hatte einen Gerechten getroffen.
Er sprach wenig mehr und überließ den Hüter bald der ohne Zweifel willkommenen Einsamkeit, indem er sich wieder in den Wald aufwärts zog.
[] 37
Ruhig lag die Welt, wie ein eingewiegtes Kind. Das Gewitter hatte den schwülen Druck des Sommers hinweggenommen, und in der freundlichen Kühle atmete alles Wesen auf. Die Felder ruhten von des Tages Hitze, und durch die Blätter des Waldes ging ein frischer, sanfter Hauch, daß sie nur leise wie im Traume zitterten. Die Menschen schlürften in bewußtloser Wonne den Segen dieser milden Nacht, die selbst dem Fieberkranken wieder einmal Ruhe und Frieden schenken konnte.
Einer aber schlief nicht. Er bettete sich unter dem dichtesten Gesträuch, wo nicht einmal ein Wild hinkam, legte den Arm über eine Baumwurzel und bereitete sich so sein Kopfkissen; aber der Schlaf, den er hundertmal auf rauherem Lager gefunden hatte, wollte ihn nicht besuchen. Er drückte die brennenden Augen in das feuchte Moos, aber sein von langer Schlaflosigkeit gequälter Kopf hörte nicht zu summen und zu dröhnen auf. Das Flüstern der Blätter störte ihn; es war ihm, als ob sie sich etwas von ihm erzählten. Er brach wie ein gescheuchtes Wild durch die Zweige, floh aus dem Walde heraus und irrte durch die Äcker und Wiesen, die am Abhang der Anhöhe lagen. An einer Stelle setzte er sich auf den Markstein, an einer anderen legte er sich in das kühle Gras, wo es noch nicht von der Sense berührt war, denn seine Glieder waren von Ermattung wie zerschlagen; aber sein Körper fand die Ruhe nicht, die seiner Seele fehlte. Er hörte vom Tale herauf den [] Schlag der Glocke und den Ruf des Wächters in regelmäßigen Absätzen, die den unerbittlichen Gang der Zeit verkündigten. Er sah den Mond über den Himmel wandeln und seinem Ziele näher und näher sinken; an seinem weiten Wege konnte er sehen, wie lange schon die Welt der Ruhe pflegte, die ihn floh. Die Sterne glänzten in der herrlichen Sommernacht wie eine goldene Schrift auf dunkelblauem Grunde; aber mit seinem stumpfen Blick konnte er sie nicht lesen, und kopfschüttelnd ging er nach dem Walde zurück.
Sein ganzes Schicksal zog in dieser Nacht an seiner Seele vorüber; die Vergangenheit schmerzte, stachelte ihn, und die Zukunft hing wie eine wetterschwangere Wolke vor seinem Auge. Es sah wüst und wild in seinem Innern aus. Vermöge seiner Anlagen und seiner Erziehung wußte er recht wohl zu unterscheiden, was gut und böse sei, und diese Erkenntnis redete zu ihm in der Sprache der überlieferten Religion, die er mit der Muttermilch eingesogen hatte. Obwohl er mit der Kirche oder vielmehr mit dem Pfarrer haderte und das Maulchristentum der meisten um ihn her verachtete, so war er doch kein Freigeist; woher hätte er auch, der ungeschulte Denker, das Zeug dazu nehmen sollen? Er glaubte fest an seinen Heiland, wie alles um ihn her, und seine von Not und Schuld gepeinigte Seele schrie oft gen Himmel auf; aber er war das Kind eines aus hartem Stoffe geschaffenen Volkes, das oft das zarteste Gebet und den rohesten Fluch beinahe in einem Atem auf die Lippen bringt. Ein beißender Witz, ein Anreiz zur Lebenslust oder eine Wallung des Zornes konnte die erschütterndste Wirkung [] des Heiligen im Nu verwischen, und seine Anklage gegen die Welt, daß sie nicht nach den Geboten des Glaubens lebe, lieh auch ihm die Entschuldigung, daß ein echtes Christentum die Kräfte des Menschen übersteige. Dennoch brannten ihn jene frommen Lehren, welche ihm am eindringlichsten von seiner Mutter eingeprägt waren, wie mit Flammenschrift in seine Seele, die verzagend ihr Verdammungsurteil in ihnen las. Er konnte es sich nicht bergen, daß er von einer verworfenen Tat herkam und einem verworfenen Leben entgegenging, in welchem nicht mehr bloß augenblickliche Not oder Leidenschaft vorübergehend das Schiffchen mit einem mißfarbigen Einschlag durch das Gewebe trieb, nein, in welchem das Verbrechen als alltägliches Handwerk in seiner kalten Gemeinheit waltete.
In dieser schweren Nacht gedachte er an jene biblische Erzählung von dem Erzvater, der im Traume eine Leiter auf der Erde stehen sah, die mit der Spitze bis an den Himmel reichte; die Engel stiegen daran auf und nieder, und Gott selbst stand oben darauf. Ihm nahm das Traumgesicht die entgegengesetzte Richtung: er sah endlose Stufen in die Tiefe führen; der Weg hinab war leicht, aber die Rückkehr abgeschnitten; schon war er weit hinuntergestiegen, und jetzt reichten ihm seine Genossen die Hände und tanzten lustig lachend immer tiefer mit ihm hinab. Die verführerische Gestalt der Gefährtin seines Verderbens winkte ihm, die Tochter einer gesetzlosen Welt erschien ihm wie eine schöne Tigerin, die mit heißer Zunge an seinem Herzen leckte. Mitten im Grausen der Verworfenheit [] empfand er den Reiz, der ihn zu ihr hinzog, und seine Sinne riefen ihm zu, die Lust des Lehens noch recht zu kosten, wenn er denn doch rettungslos verloren sein solle.
Er schweifte in weiten Kreisen vom Felde in den Wald und vom Walde in das Feld zurück; aber weder im Feld noch Wald wuchs das Kraut, das den fieberischen Aufruhr seines Blutes heilen konnte.
Der Morgen kam, und endlich ging auch die Sonne über den Bergen auf. Höher steigend schien sie in das breite Tal hinein und trocknete den Tau von dem gemähten Heu, das in großen Haufen auf dem Felde lag, so daß bald ein süßer Duft sich mit den Morgenlüften mischte, jener Duft, der vor allen anderen den Men schen mit heimatlichen Empfindungen erfüllt. Der Geächtete sog ihn gierig ein, und Tränen traten in seine müden Augen. Wie oft hatte er da unten als Knabe mit anderen Knaben, die jetzt sich verabscheuend von ihm wandten oder mit der Mordwaffe seine Spur verfolgten, in dem aufgeschichteten Heu sich gewälzt und vor Freude gejauchzt! Von dem Vorsprung, auf dem er stand, konnte er in seinen Flecken hineinsehen und die Giebel der Häuser erkennen, an welchen seine Erinnerungen hafteten. Dort, von den Erlen des Flüßchens überragt, stand das Haus, das ihn geboren, das nach dem rechten Laufe der Dinge ihn als Erben hätte behalten sollen. Hier, am Ende des Fleckens, stand das Haus der Armut, wo seine Kinder waren, wo er den schwarzen Faden angeknüpft hatte, der sich auf seinem Lebenswege immer fester um seine Füße wand. Und dort weiterhin sah er den [] Giebel des Rathauses, wo ihm aus diesem Faden die Stricke gedreht wurden, die ihn immer weiter von der bürgerlichen Gesellschaft losrissen. Dort war seine erste Christine diese Nacht im Gefängnis gelegen und befand sich jetzt wohl schon auf dem Wege, zu stark verwahrt, als daß er sie hätte befreien können. Und wenn ihm auch ein kühner Streich gelänge, er konnte ja doch den Kindern nicht die Mutter wiedergeben, und der Vater war auf lange, vielleicht auf immer, von ihrer Schwelle verbannt.
Doch war es nicht dies allein, was seinen Blick an die grauen Giebel fesselte: es war der wunderbare Zug nach der Heimat, den seine heimatlosen Gesellen nicht verstanden. Seltsamer Drang des Herzens! Keine heimische Geschichte, vom Mund des Großvaters auf den Enkel fortgepflanzt, keine alte Volkssitte lebte in diesem nüchternen Orte, woraus das Gemüt des Knaben Nahrung und dankbare Anhänglichkeit hätte schöpfen können, und doch zog es den reifenden Mann aus der Öde der Verbannung immer wieder nach der kargen Heimat zurück. Sie hatte ihn ausgestoßen und von sich gespien, sie fürchtete sich vor ihm wie vor dem wilden Tiere, das aus den Wäldern hervorbricht; er fluchte ihr und drohte ihr mit Mord und Brand: und doch kam er immer wieder nach ihr zu schauen, und in seiner kindisch unverdauten Weise war er mehr als auf jede Kriegs- oder Friedensneuigkeit darauf erpicht, zu wissen, was man in Ebersbach von ihm sage, obgleich er sich die Antwort selbst geben konnte, die ihn immer wieder mit Wut und Haß gegen die Menschheit erfüllte.
[] Wut and Haß traten auch jetzt wieder an die Stelle der Wehmut; ohnmächtige Racheblicke sendete er hinab, und sein abgehetztes Hirn begann zu wirbeln, so daß er sich dem Wahnsinn nahe fühlte und es geraten fand, sich mit der Jagd nach Wild eine Beschäftigung aufzuerlegen, um der Hetzjagd seiner Gedanken zu entgehen. Auch war es Zeit für ihn, das Feld zu räumen, denn die Mäher kamen da und dort aus dem Flecken gezogen, und ihre Sensen blitzten in der Sonne. Bald gehörte die Welt, mit Ausnahme der Waldwinkel und Diebsherbergen, wieder den Menschen, die in den Schranken des Lebens blieben und sich unter das Gesetz beugten. Sein Platz war nicht mehr hier, und wenn er dem Lichte des Tages zu trotzen wagte, so durfte er sich bald wieder auf das wilde Geschrei der Menschenjagd gefaßt halten.
Er ging in den Wald und zog aufmerksam spürend einen großen Bogen, der ihn zuletzt wieder, eine gute Strecke unterhalb seines Vaterortes, gegen das Tal herausführte. Er befand sich hier an einer steilen Bergseite über einem ganz engen Seitentälchen, das in der Urzeit nur eine Schlucht gewesen war. Ein dünnes Bächlein rieselte durch den Grund nach dem größeren Tale hinaus, und neben dem Bächlein lief ein schmaler Weg hin, kaum für kleine Fuhrwerke befahrbar. Das Bächlein und der Weg füllten den Grund des kleinen Einschnittes völlig aus; über dem Bächlein hing der steile Bergwald, wie eine beinahe gerade Wand, und von dem Rande des schmalen Weges an stieg die entgegengesetzte Wand, sich sanfter zurücklehnend, nach der Anhöhe empor, die das [] größere Tal begrenzte. Auf dieser nicht so steil geneigten Seite zogen sich Wiesenstücke vom Tal herein und von der Höhe herab bis an den Rand des Weges, aber von Wald unterbrochen, der sich an einzelnen Stellen von der steilen Bergwand her über das Bächlein auch auf die andere Seite verbreitet hatte, so daß der schmale Weg sich oft im Walde zu verlieren schien. Das Tälchen war so still, daß das Wild hier oft bis an den Weg herunterkam, um aus dem Bächlein zu trinken.
Er zog sich an der steilen Bergseite hin und geriet in eine Vertiefung, die von oben nach dem Tälchen herablief, wie sie, vom Volke Klingen genannt, in den vielfach eingeschnittenen Bergwäldern sich häufig finden. Ein Erdaufwurf, mit Moos und Waldgras bewachsen, hinderte seinen Schritt. Er blieb stehen und besann sich. »Richtig!« sagte er, »hier am Kirnberg, weit ab von ihrer Gemeinschaft, haben sie dich eingescharrt, armer Küblerfritz! Wenn einer des Wegs daherkommt, so geht er gewiß scheu vorüber und denkt in seinem Herzen: Herr, ich danke dir, daß ich kein, solcher bin. Bei Nacht wird sich vollends gar keiner herwagen, und doch bleibst du sicherlich auf deinen trotzigen Ellbogen ruhig liegen, denn der Kirnbach da drunten ist viel zu klein für deinen Durst. Schlaf du ruhig fort im kühlen grünen Wald. Hier ist dir's wohler, als auf dem Kirchhof neben den anderen mit ihrem ›Wahren Christentum‹. Hätt ich dran gedacht, so war ich heut nacht bei dir eingekehrt, alter Kamerad. Dafür will ich dir jetzt ein wenig Gesellschaft leisten.«
[] Er setzte sich auf den verrufenen Hügel und pflog mit seinen Gedanken Verkehr. Da sie ihm aber zu wild wurden, stand er wieder auf und ging weiter vorwärts, bis er zu einer alten Buche kam, die ihm bequem zum Anstand schien. Das Gewehr in den herabhängenden Händen haltend, lehnte er sich an den Baum und starrte in den blauen Himmel empor. Es war so still, daß der Ton des Mähens von draußen, wie er glaubte, in diese Einsamkeit zu ihm drang. Da weckte ihn ein Geräusch in der Nähe. Er blickte hin und erhob leise das Gewehr. Auf einer kleinen Lichtung, unter der Stelle, wo er seinen Stand genommen, war ein Hirsch herausgetreten, der lauschend stehen blieb. Er legte an, zielte und wollte abdrücken, zog aber in diesem Augenblicke das Gewehr zurück, da er die Ursache entdeckte, die den Hirsch zurückgehalten und ihm so schußgerecht gebracht hatte. In der Richtung des Schusses, auf einer Wiese an der Bergseite gegenüber sah er zwei Männer mähen; das Rauschen der Sensen hatte das scheue Tier stutzig gemacht, ohne daß es vor dem zu dieser Zeit gewohnten Tone floh. Diese Wiese war so nahe, daß ein Fehlschuß den Männern Gefahr bringen konnte. Er hielt das Gewehr unschlüssig in den Händen und blickte hinüber – da spannten sich auf einmal alle seine Muskeln und seine Augen traten hervor: der eine der beiden Mäher war der Fischer! Er dachte nicht daran, welche jämmerliche Armut diesen Menschen getrieben haben mußte, um eines elenden Taglohnes willen sich in dieses abgelegene Tälchen zu wagen, während er in jedem Winkel der Gegend seinen schwergereizten [] Feind, nach dem er soeben noch geschossen, zu vermuten hatte – er dachte nur an seinen wiederholten Schwur, den ersten der drei gedungenen Verfolger, der ihm vor die Mündung kommen würde, zu bezahlen. »Hab ich dich, Mordhund!« sagte er, die Lippen lautlos bewegend. Er legte das Gewehr wieder an und richtete es seitwärts von dem Hirsche, der noch immer gegen die Wiese hinab lauschte, gegen das in seinen Schuß gekommene Menschenwild. Es bedurfte eines leichten Drucks, und seine Rache war gekühlt, der Eid, zu dessen Sklaven er sich machen wollte, war eingelöst. Was hielt ihn zurück?
Er zog das Gewehr wieder an sich und blickte lange auf den Menschen, der so oft das feindliche Werkzeug gegen ihn abgegeben, der vor wenigen Stunden noch aus Haß und Geldgier seine Kugel auf ihn abgeschossen hatte. In diesem unbedeutenden Menschen sah er alle versammelt, die ihn gedrückt, die ihn aus dem Geleise gedrängt und endlich von der Bahn seiner rechtmäßigen Ansprüche hinabgestoßen hatten. Er sah die feige Unredlichkeit an der Tafel des Lebens schmausen und sich selbst in die Wildnis hinausgestoßen. Und waren die Unschuldigen, welche seiner rettungslosen Verzweiflung noch zum Opfer fallen sollten, von welchen einer bereits den Reigen begonnen hatte, waren sie nicht eines Schuldopfers wert? Hier stand einer seiner Kugel preisgegeben, der sich über und über mit Schuld an ihm bedeckt hatte. Wenn der Weg des Verbrechens, wie auch der rohe und verworren denkende Mensch sich wünscht, durch den Gedanken der Rache an der ungerechten Gesellschaft [] eine gewisse Weihe erhalten sollte, so winkte ihm hier an der Pforte der Hölle eine Rachetat, bei welcher er sich, um Recht und Gerechtigkeit betrogen, so hoch berechtigt fühlte, Richter in eigener Sache zu sein, daß er sein neues Leben nicht besser einweihen zu können meinte. Warum zögerte sein Finger am Drücker?
Viermal zielte er, und viermal setzte er wieder ab.
Der Mensch, wer er auch sei, trifft Stunden in seinem Leben, wo er tief in sich blicken kann und gewahr wird, daß eine Stimme des Wahnsinns in ihm schlummert, die zuzeiten erwacht. Es steht einer im Gebirge an einer jähen, schwindelnden Felsenwand, da taucht plötzlich die Stimme in ihm auf und sagt ihm: Spring da hinab. Oder er hat einen Freund bei sich, der ihm nie etwas zuleid getan, der sich ihm als feuerfest erwiesen hat; die Stimme sagt: Gib ihm einen Stoß, daß er hinunter fliegt. Die menschliche Gesellschaft, die für ihren Bestand zu sorgen hat, macht mit Recht den Menschen verantwortlich, damit er dieser Stimme nicht gehorcht. Wer in seiner gesunden Kraft wandelt, der kämpft sie leicht nieder und lächelt über sie, wie der Mensch über die Sprünge seines tierischen Zerrbildes lächelt. Wo aber Leidenschaft, wo Haß und Rache die Stimme beflügeln, da wird der Kampf schwerer. Und doch wird jeder, der in den dunkelsten Stunden seines Lebens sein menschlich Teil gerettet oder verloren hat, Zeugnis geben, daß eine innere Bewegung mit der Gewalt einer unsichtbaren Macht eingegriffen und seiner Hand ein Halt geboten hat. Selbst im Kriege, besonders wenn[] der einzelne dem einzelnen gegenüber steht, wird es oft der mordgewohnten Hand schwer, einen neuen Mord zu begehen. Nur die Henker sind von jener inneren Macht so fürchterlich verlassen, daß sie mit kaltem Blute die Rache der Gesellschaft an einem rohen Verletzer einer rohen Ordnung vollziehen können. Und oft selbst diese nicht!
Kampf und Wut und Schrecken umnebelten den Geist des ausgestoßenen Sohnes der Gesellschaft, der sich vergebens beredete, daß er mit kaltem Blute in dem Kriege, welcher gegen ihn geführt wurde, seinen Feind niederschießen könne. Seine Rachegedanken waren ihm wüst und unklar durch die Seele gegangen; sie schwanden hin, und gänzliche Verwirrung seiner Sinne blieb zurück, in welcher nichts von Haß und Rache, nichts von Bewußtsein mehr war, in welcher nur jene dunkle Stimme fort und fort flüsterte: »Tu's! Tu's! Du mußt es tun!«
Der Schuß krachte über das Tal hinüber, der Hirsch war mit einem Satze verschwunden, und der Rauch, der von dem Gewehr aufstieg, verhüllte den friedlich blauen Himmel einen Augenblick. Obgleich von oben nach unten versendet, hatte der Schuß nicht gefehlt. Der Mörder hörte und sah, während der Rauch sich verzog, wie sein Opfer aus der gebückten Stellung sich aufrichtete, die Hand auf den Unterleib drückte und ausrief: »Oh, du verfluchter Hund – er hat mich getroffen!« Der Gefährte des Fischers eilte hinzu und riß ihn, noch erschrockener als der Getroffene, mit sich an den Weg hinab, auf welchem er, beständig den Kopf geduckt haltend, mit ihm fortrannte. Der Mörder [] schritt an seiner Bergseite weiter vor gegen das Tal hinaus und sah mit stumpfer Teilnahme, mit einer seltsamen Art von Neugier aus der Höhe zu, wie die beiden gegen das offene Tal hinausliefen, wie der Fischer, den seine Eingeweide zu brennen schienen, von seinem Genossen unterstützt aus dem Bache trank und wie den Zusammensinkenden ein draußen vorbeikommender Wagen aufnahm. Die Leute liefen im Tale von den Feldern zusammen, und er hörte in seiner waldigen Höhe das Geschrei: »Meuchelmord!«
Es wurde still in dem engen Tal des Todes, so still, daß alle Hirsche des Waldes sich darin hätten versammeln können. Nach einiger Zeit kam eine Kuh langsam aus dem Walde den Weg daher. Sie mochte sich von einer nahen, im Walde gelegenen Weide hierher verloren haben. Sie lief auf die Wiese, wo der Fischer den Todesschuß erhalten hatte, und begann sich an dem von der Sense verlassenen Grase zu ergötzen.
Wieder verging einige Zeit, da kam ein Mann aus der Tiefe des Tälchens den schmalen Weg dahergegangen, eine vom Alter gebeugte und gebrochene Gestalt. Es war der Sonnenwirt, der in dieser frühen Stunde auf einem benachbarten Hofe einen Viehhandel abgeschlossen hatte und jetzt dem Tale zuging, um auf den Wiesen im Vorübergehen nach seinen Mähern zu sehen. Sein bleiches, mit tiefen Furchen gezeichnetes Gesicht verriet, daß seine guten Tage gezählt waren.
Er schritt, kummervoll zu Boden blickend, seinen Weg dahin. Da rief eine Stimme über ihm, wie mit Donnerton: »Sonnenwirt von Ebersbach!«
[] Er fuhr zusammen und blickte in die Höhe. War das sein Sohn an dem steilen Waldabhange über ihm? Er stand auf einer Lichtung, so daß die Bäume unter ihm nur bis an seine Brust reichten und ihn als eine Gestalt von übermenschlicher Größe erscheinen ließen.
»Sonnenwirt von Ebersbach!« rief er, auf sein Gewehr gestützt, »wo hast du deinen Sohn?«
Dem Alten ging ein Schauer durch Mark und Bein.
»Sieh her«, fuhr die Erscheinung fort, auf ein junges Bäumchen deutend, das ohne Stütze überhing, und dann auf einen knorrig verkrüppelten Baum daneben: »sieh, wenn ich den jungen Schößling in die Höhe ziehe und ihm eine Stütze gebe, so wächst er aufrecht und lustig fort, aber an dem alten Knorren, der in seiner Jugend versäumt worden ist, ist alle Kunst verloren. Du hast deinem Sohn gesagt, du wollest ihm die Äst abhauen, wenn er zu krattelig werde. An dem alten, verwachsenen Knorren kannst du sehen, wie weit du es gebracht hast. Du hast deinen Schößling üppig aufwachsen lassen, da ihm strenge Zucht nötig war, und zur Zeit des freien Wachstums hast du ihn zu Schanden geschnitten. Dein Bub ist jetzt ein Mann geworden, ein Räuber und ein Mörder. – Laß dein Weib nicht für mich beten, wie sie einmal gesagt hat: ihr Gebet hat keine Kraft. Wenn du aber glaubst, alter Mann, daß du dir mit deinem Handel und Wandel eine Ansprache im Himmel eröffnet habest, dann bete du für mich. – Meine Zeit ist um, Vater, Ihr braucht keine Angst mehr vor mir zu haben, denn es riecht hier nach Blut. Der Abgrund hat sich aufgetan, [] und ich fühl's, wie ich zusehends tiefer and tiefer hineinsinke. Ich höre rufen: Komm! Und ich komme. Lebt wohl, Vater, mög Euch Gott verzeihen – ich verzeihe Euch!«
Die Knie zitterten dem alten Manne, und er mußte sich an dem Rande des Weges zu Boden setzen. Erst nach langer Zeit wagte er in die Höhe zu blicken. Die furchtbare Erscheinung war verschwunden. »Ist das mein Sohn gewesen oder –? Was er predigen kann! Hätt ich ihn denn vielleicht einen Pfarrer werden lassen sollen? Dummes Geschwätz! Wenn er ein Räuber und Mörder ist, wie er sagt, so ist er ein schlechter Prediger. Aber ich hab's ja immer gesagt: er ist im Kopf nicht recht.«
Mit diesen Worten hatte er sich wieder zurechtgefunden. Er erhob sich, schüttelte den Schrecken aus den Gliedern und schickte sich an, das Tälchen, in welchem er von demselben überfallen worden war, eilig zu verlassen, als er die Kuh bemerkte, die sich auf dem Eigentum eines Mitbürgers gütlich tat. Er jagte sie aus dem Grase heraus und trieb das unvernünftige Tier sorgfältig auf dem Wege vor sich her, während sein verlorener Sohn sich den Berg hinaufzog, um unwiderruflich einem Leben zu verfallen, das ihm selbst als die Hölle erschien.
38
Obwohl frei ohne jedes andere Maß und Ziel, als das sie selbst sich setzt, folgt doch die Dichtung gern dem [] Gefangenen in die Kerkerzelle und zum Schafott, aber sie verstummt unter dem Geräusche der christlich-deutschen Justiz. Wie sie es verschmäht, ihm in die schmutzigen Höhlen des gewerbsmäßigen Verbrechens zu folgen, so bleibt sie auch vor jenen verschlossenen Türen stehen, hinter welchen das Leben des Menschen stückweise an die Paragraphen eines fremden, toten Rechts gehalten wird. Sie läßt an ihrer Statt ihre Schwester mit dem stillen, unbewegten Auge, die Geschichtschreibung, eintreten und in dem Aktenstaube wühlen.
Drei Jahre waren seit dem Tode des Fischers verflossen, der den Amtmann von Ebersbach und den Vogt von Göppingen gegen den Meuchelmörder in Bewegung gesetzt hatte. Es gab keine Vögte mehr im Lande, der Herzog hatte ihnen den Oberamtmannstitel erteilt, weil man, wie er sich in seinem Reskripte ausdrückte, den vorgesetzten Stabsbeamten zu ihrer Amtsführung, Erhaltung der fürstlichen Rechte und Vollziehung der Regierungsbefehle niemals zu viel amtliche Autorität und zu solcher niemals zu viel Mittel an die Hand geben könne, die bisherige Benennung Vogt aber die wahre Dignität und den großen Umfang ihres Amtes zu wenig ausdrücke, dieses vielmehr in seinem Wert, besonders gegen Fremde, um ein Großes herabsetze.
So war auch der Vogt von Vaihingen an der Enz seit einem Jahre Oberamtmann geworden, als er eine Reihe von Protokollen mit dem folgenden begann:
»Vayhingen. Actum den 7. Martii 1760, vor dasigem Oberamt, in Gegenwart der beeden Gerichtsverwandten [] Mattheus Brechten und Joseph Luipoldten, als Urkunds-Persohnen. Gestern Abends, um ungefähr 5 Uhr, geschähe es, daß von dem Brucken-Thorwart, Christian Freppe, ein unbekannter Kerl, nachdeme ihm jener vorher die Pässe abgefordert, auf dem Pferdt sitzend, vor die Oberamtey geführt, und als er anfänglich von dem Oberamtsscribenten Heermann, und bald darauf auch von mir, dem Oberamtmann selbsten, unter dem Hauß gefragt wurde, wer er seye? wo er herkomme? und wohin er wolle? darauff zur Antwort gab: daß er ein Crämer: von Pforzheim komme: bey dasigem Schwerdtwirth ein krankes Weib liegen habe, und nun, um einen Doktor zu consuliren, nacher Schozach oder Höfen reutten wolle! da aber Oberamtmann, seiner ganz unverdächtig geschienenen Pässe ohngeachtet, (deren 2 unter dem großen Stadtsigill von Straßburg, under dem 10. April und 14. Sept. 1759, der dritte aber von Comburg und unterm 16. Januarii 1760 datirt und ausgefertiget waren) eine gewieße Alteration an ihm wahrgenommen zu haben glaubte, und ihm deßwegen in faciem befahl, daß er absteigen und mit ihm in die Amtsstube heraufgehen solle, alsogleich das Pferdt umwandte und in vollem Galopp gegen dem Enzweihinger Thor zuritt, unter diesem Thor aber, auf das Rufen gedachten Scribentens, der ihn durch einen nähern Weg coupirt und mit ihm vor das Thor kam, von dem Pferdt abstieg, gegen den Schlosser Mathäus Brechten auf sein Zurufen: daß er ihm den Schmidhammer in Kopf werfe, wann er nicht halten würde! eines seiner 2 unter dem Rock-Futher versteckt-gehabt-scharffgeladenen Pistöhlen [] hervorzog, solches, nachdem ihm Brecht hierauf auf den Leib sprang, und von hinten her umfasset, demselbigen an den untern Leib drückete, auch, nach seiner ungezweifelten Absicht, auf ihn abgefeuert haben würde, wo er nicht den Hahnen zu spannen vergessen, und durch Hülffe des bald darauff dazu gesprungenen Mezgersjungen, Schemels, und dessen Meisters, Leonhardt Arlets, überwältiget worden wäre. Nach diesem Vorgang wurde er in die Oberamtey geführet, stellte sich daselbst ganz betrunken, beklagte sich über das harte Tractament der Leuthe, die ihn beygefangen, und ließ weiter keine verständliche Antwortt von sich kommen, als daß er sagte, er sei ein kaiserlicher Deserteur, heiße Johannes Klein, die Pässe und das Pferdt gehören einem Mann, der ihm letzteres geliehen, etliche Stund vorausgegangen und heute früh bey Heilbronn Seiner erwartten werde; Weil man nun über alles dieses nichts als: Kugeln, Pulver, Schwefelhölzlen, Feuerstahl, Stein, Zundel, ein Fingerlanges Wax-Kerzlen und ein hebräisches Wörterbuch bey ihm gefunden; So wurde selbiger die Nacht über in dem Blockhaus auf das schärf feste geschlossen und angefesselt, anheute aber vorgeführet, und ihm oberamtlich zu erkennen gegeben, Daß er, allen Umständen nach, ein Räuber, Mörder, und einer der größesten Spitzbuben seye, der den Händen der Obrigkeit nimmer entgehen, und weiter nichts übrig haben werde, dann daß er, durch eine wahre Er- und Bekanntnuß seiner begangenen grosen Missethaten, seine Seele noch zu erretten suche, hisce praemissis aber befraget: Q. 1. Wie er heiße, woher und wie alt [] er seye? – R. Er sehe nun schon, daß er in die Hände der Obrigkeit gefallen, wolle, durch Verläugnung seiner Persohn und begangenen Missethaten, seine Verschuldung vor Gott und der weltlichen Obrigkeit nicht noch gröser machen, seine Sünden unsrem Herrgott demüthiglich abbitten, den Landesfürsten um eine gnädige Strafe anflehen, und hiemit frei bekennen, daß er der sogenannte Sonnenwirthle seye, eigentlich aber Friedrich Sehwahn heiße, von Eberspach, Göppinger Amts, gebürtig, 31 Jahre alt und von Profession ein Mezger seye, auch nicht nur an dem sogenannten Fischerhanne zu Eberspach einen Mord begangen, sondern auch sich sonsten hie und da auff vielerlei Arth schwehrlich versündiget habe; welches er alles gewissenhaft bekennen und darunter weder Seiner selbsten, noch derjenigen im Geringsten verschonen wolle, welche an seinen Verbrechen Theil gehabt, und zum Theil in Garlsruhe und Stein, Durlachischer Herrschaft, wirklich in Verhaft genommen seyen, und das um so mehr, als ihm sein so sündliches als elendes Lehen (bei dem er unterdessen wenig gute Tage gehabt, auch von Hunger, Kälte, und seinen sich dabei gemachten Strapazen entsetzlich viel erlitten) schon lange entlaidet, wie er dann aus diesem Grund nicht nur an den Durlachischen Beamten zu Stain, erst vor 8 Wochen, mit aigner Hand, unter dem Namen Gillch, ein weitläufiges Schreiben, so ihm auch vermuthlich richtig werde belüfert worden seyn, des Inhalts habe ergehen lassen, daß wann man ihm Gnade versprechen und erteilen wolle, er ihme, dem Herrn Beamten, auf etlichen Jahrmärkten eine damals in [] der Nähe geweßte Partie von sechzig Mann, so lauter Juden geweßt, und dann wiederum eine andere Partie Spitzbuben von eben so gros- oder noch gröserer Anzahl, welche sich dieß-und jenseits dem Rhein, bei Gannßheim, Moßhardt und Oberacherach, in den Wäldern auffhalten, und ihre besondere Hüttinen darinn haben, ohne allen Anstand in die Hände lüffern, und dadurch die ganze Gegend von diesem Gesindel reinigen wolle, sondern auch, da er gehöret, daß seine Herzogliche Durchlaucht in der Retour aus der letzten Campagne durch Mergenthal passiren werden, er sich zu dem Ende in dem Orth begeben habe, um sich Höchstdemeselben zu Füßen zu werffen, sich zu erkennen zu geben und um Gnade zu bitten; Weil aber Seine Durchlaucht die Stadt nicht passiret, so seye ihm die Gelegenheit dazu abgeschnitten worden. – Q. 2. Ob seine beede Eltern noch im Leben? R. Sein Vatter sey noch im Leben, und ohngefähr 75 Jahr alt, seine rechte Mutter aber schon vor 15 Jahren gestorben; Nach ihrem Tod habe sich sein Vatter wiederum an eine Frau verheurathet, die wenig Liebe vor ihne und seine Geschwistrigte bezeugt, sehr böß und vortheilhaftig, und eben deßwegen viel daran schuld gewesen seye, daß, da er sich in ihren Kopf nicht schicken können, ein Excess aus dem andern bei ihm darüber entstanden, und er zuletzt auf die unglückseligste Abwege gerathen. – Daß vorstehende Aussage auf beschehenes Vorleßen von dem Inquisiten nochmalen bestätiget worden, Ein solches bezeugen die Urkunds-Persohnen: Matheus Brecht, Joseph Luypoldt.« Der wichtige Fang wurde von dem Oberamtmann sogleich [] untertänigst einberichtet und, da nach wenigen Tagen die Resolution einlief, daß die Untersuchung in Vaihingen, als in foro deprehensionis, geführt werden solle, mit derselben fortgefahren.
So war denn der Verbrecher aus verlorener gesellschaftlicher Stellung nach kaum dreijähriger Laufbahn ein lebensmüder Gefangener und Verräter seiner Mitschuldigen geworden. Dieser letztere Zug darf am wenigsten übergangen werden, denn es handelt sich hier nicht darum, durch den Aufputz eines Helden der Vorstellung des Lesers zu schmeicheln, sondern die innere Welt eines Menschen aus dem Volke darzulegen, damit, wer da will, sich daran spiegeln möge.
Zum Glück ist das Protokoll des Oberamtmanns von Vaihingen nicht die einzige Quelle hiefür. Er war, im Geiste seiner Zeit, ein gewissenhafter Beamter, persönlich ein Menschenfreund und Ehrenmann, dessen Nachkommen noch heute stolz darauf sind, daß er nicht wie fast alle Regierungsdiener um ihn her, seine Stelle vom Herzog erkauft habe, sondern eher den Dienst aufgegeben als sich zum »Schatullieren« erniedrigt haben würde; aber eine innerliche Auffassung des Lebensbildes, das die Untersuchung vor ihm entrollte, in den Akten niederzulegen, war nicht seines Amtes, und gleich das erste Protokoll zeigt, daß er Inquirent genug war, sich das überraschend freiwillige Entgegenkommen seines Gefangenen – dem er nicht so leicht beigekommen wäre, wenn dieser nicht selbst, gebrochenen Gemüts, ihm seine Seele in die Hände gelegt hätte – nach den Quadrangeln des Inquisitionsprozesses [] zurecht zu machen; ein Verfahren freilich, das ihm weniger als seiner Zeit und seinem Amte angehört.
Der Oberamtmann hatte einen Sohn, der den Verbrecher täglich, wenn er ins Verhör geführt wurde, sah, die allgemeine Teilnahme der Stadt an den vielen freundlichen Seiten im Wesen des Unglücklichen mitempfand und sich häufig mit ihm unterhielt. Die Familiensage erzählt von ihm, daß er schon als Knabe, wie später noch im Mannesalter, für Cato und Brutus, als die größten Männer, geschwärmt habe. Aus dem Munde dieses Knaben erfuhr der gefallene Sohn des Volkes ohne Zweifel zum erstenmal in seinem Leben, daß es in der Geschichte Bürger gegeben habe, welche die Retter oder Verderber ihres Vaterlandes wurden. Als der Knabe ein Mann geworden war und an der hohen Schule seines Herzogs junge Männer bilden half, erinnerte er sich des armen Friedrich Schwan und zeichnete nach der Erinnerung seine Geschichte auf, wie er sie aus seinem Munde und aus der Nacherzählung erwachsener Männer vernommen hatte. Seine römischen Helden schwebten ihm auch bei dieser Aufzeichnung vor, und er beginnt die ersten Zeilen derselben mit den Worten, der junge Friedrich sei mit außerordentlichen Anlagen des Geistes ausgestattet gewesen, habe den Keim jeder großen Tugend und jedes großen Lasters in sich getragen, und nur von der äußerlichen Lage habe es abgehangen, ob er Brutus oder Catilina werden sollte. Ach, die äußerliche Lage war, wie auch die Umstände beschaffen sein mochten, jedenfalls von der Art, daß er [] das eine wie das andere nur in sehr beschränktem Sinne werden konnte. Auch in anderen Dingen ist diese Geschichte nach dem mangelhaften Geist und Geschmack der Zeit geschrieben; doch verhält sie sich zu den Akten wie ein farbiges Gemälde zu einem grauen Umriß; und nur aus beiden zusammen ist es möglich, ein Bild von den letzten Lebensjahren des verlorenen Sohnes von Ebersbach zu geben.
Der scharfsinnige Plan, der an der Waldecke bei Wäschenbeuren gefaßt wurde, war nur sehr unvollkommen ausgeführt worden. Das Sprichwort, daß nicht alles Gold ist, was glänzt, hatte sich auch bei dem Eintritte Schwans in die Genossenschaft der Gauner bewährt. Es ist nicht wahr, daß die Spitzbuben ehrlich gegeneinander sind und daß sich auf diese Eigenschaft eine feste gesellige Ordnung unter ihnen gründen ließe. Neid, gegenseitiger Betrug und nie ruhender Verdacht, selbst unter Verwandten, verbitterten ihm das von Hause aus arglose Gemüt gegen diese neue Welt bald noch stärker als gegen die alte, die ihn ausgestoßen hatte. Er zog meist mit der schwarzen Christine, die er sich beigesellte, allein in den Landen umher. Dieses ungewöhnliche Weib, von welcher der Geschichtschreiber »eines Räubers« und »einer Räuberin« sagt, sie habe alle Gaben der Natur in reichem Maße besessen und mit einer sehr schönen Körperbildung eine große Tätigkeit und Anlage des Geistes verbunden, hing an ihm mit einer Leidenschaft, wie sie die alten Sagen jenen Hünenweibern beilegen; aber sie quälte ihn durch eine unbändige Eifersucht, und als die blonde Christine, trotzdem daß [] es ihr geglückt war, in einem Dienste unterzukommen, dem Zuge ihres Herzens folgend, ihn einst besuchte, so duldete die Zigeunerin sie nicht, sondern trieb sie gegen seinen Willen nach kurzem Zusammensein wieder fort. Dem Scharfsinn und der Gewandtheit dieses Weibes verdankte er seine glücklichsten Tage, wenn man es ein Glück heißen kann, von gestohlenem Gute zu leben. Aber man trifft nicht jeden Tag einen Markt, um die Taschen zu füllen, auch gelang nicht jeder Marktbesuch. Christine wurde mehrmals gefangen; auch die Ehehändel trennten das Paar oft wochenlang. Wenn es gut ging, so zog er als Krämer mit Paß und Kramkiste durch das Land, verkaufte seine Waren um billige Preise von Haus zu Haus, mied jede verrufene Gesellschaft, herbergte in den besten Gasthäusern und war, wie er in der Untersuchung sagte, auf der ganzen Straße von Mergentheim bis Straßburg als der ehrlichste Kerl bekannt, so daß die Wirte, wie er hinzu fügte, sich entsetzlich verwundern würden, wenn sie erführen, daß sie unter dem Namen des ehrsamen Krämers Johann Sigmund oder auch Hermann den Sonnenwirtle aufgenommen haben. Daß seine äußere Erscheinung ihn hiebei aufs beste unterstützte, gestand ihm nicht bloß der Spiegel, sondern sogar ein gedruckter Steckbrief, den zwei Schultheißen einst in der Schenke miteinander lasen, während er selbst ihnen, an ihrem Gespräche über den Sonnenwirtle teilnehmend, gemütlich über die Schulter in das Papier blickte: »Und ist vorgemeldter Erz-Gauner«, hieß es darin, »fünf Fuß, sieben Zoll groß, gedrungener Gestalt, hat gelbliches [] Haar, dicken Kopf, feines weißes Gesicht, dicke, runde Backen, volle Waden.« Im Bewußtsein dieses ehrbaren Aussehens wagte er einst einem pfälzischen Schultheißen und zwei Jägern, die ihn im Spiel betrogen und ihm seine Pistolen nehmen wollten, mit gerichtlicher Klage zu drohen und dem Schultheißen, als er sich hiedurch nicht schrecken ließ, den Hund, den dieser an ihn hetzte, niederzuschießen. Aber nicht immer liefen die Abenteuer so lustig ab. Oft versiegten alle Erwerbsquellen, oder er wurde von Diebshehlern, welchen er auf seinen Irrfahrten um die gefangene Christine seine Kramkiste anvertrauen mußte, um den Inhalt derselben bestohlen. In solchen Zeiten mußte er Hunger und Kummer leiden und, wie jeder, der sich dem Teufel ergibt, die Erfahrung machen, daß dieser ein Filz ist und daß man mit der Ehrlichkeit auch im schlimmsten Fall so weit kommt als mit dem Gegenteil. Dann griff er zu gefährlicheren Unternehmungen: er ließ sich von den Judenbanden im Gebiete des deutschen Ordens anwerben oder sammelte vorüberziehende Genossen zu Einbrüchen unter seiner eigenen Hauptmannschaft, welche aber nie länger dauerte als das einzelne Unternehmen selbst. Auf der Straße hat er nie geraubt. Sein Geschichtschreiber sagt, er habe sich gegen das Ende seiner Laufbahn Grausamkeiten aus Raubsucht erlaubt; doch habe er auch in seinen schwersten Verbrechen Spuren übriggebliebener Menschlichkeit, Mitleiden gegen Arme und Unterdrückte gezeigt, den Grundsatz, nie einen Dürftigen zu berauben, durchgeführt, sehr große Almosen gegeben, und den Armen geschenkt, was er den Reichen [] gestohlen habe. Von wirklichen Grausamkeiten findet sich aber nichts in den Akten, die sehr genau in seine Verbrechen eingehen. Wohl sind Grausamkeiten von den Genossen seiner Taten angeführt, nicht aber von ihm. Auch verdient hervorgehoben zu werden, daß Einbrüche, die seine Genossen ohne ihn unternahmen, mehrmals von scheußlichen Mordtaten begleitet waren, wogegen bei Überfällen, die er leitete oder unterstützte, nie ein Mord begangen worden ist, mit einer einzigen Ausnahme, an welcher er unschuldig war, welche aber seine Heimat noch einmal in Furcht und Schrecken setzen sollte.
Ein Jahr nach dem Tode des Fischers, um Ostern, wagte er sich wieder in die Gegend von Ebersbach, schickte die schwarze Christine in die ›Sonne‹ und trug ihr auf, seinem Vater zu sagen, sie habe einen Unbekannten auf der Straße getroffen, der ihn grüßen lasse. Als er in den folgenden Tagen wieder mit ihr zusammentraf, erfuhr er von ihr, daß sein Vater seine Kinder zu sich genommen habe. Inzwischen aber hatte er sich selbst in Ebersbach zu Gaste geladen und hiedurch den Tod eines Menschen veranlaßt, dem er nichts weniger als übel wollte. In der Gegend umherschweifend, war er am Rechberg hinter einer Hecke hervor, unvermutet von einem Kameraden, dem sogenannten Jägerkasperle, angeschrien worden, der ihm klagte, er habe keinen Kreuzer hinter sich und vor sich, und ihn fragte, ob er keine Gelegenheit wisse. Da fiel ihm sein Vormund ein, mit dem er noch ein Hühnchen zu pflücken hatte. Schon die nächste Nacht fand die beiden Spießgesellen in dessen Laden. Während [] aber Schwan die erste Beute in einem benachbarten Gäßchen absetzte, kam der Fleckenschütz zu seinem Unstern des Weges daher. Er hatte mit einem Bekannten bis über Mitternacht im Branntweinhause gezecht, sah den Laden offen und taumelte hinein, um zu sehen, was es gebe. Der Räuber schrie ihn an, er solle sich packen. Da aber der Schütz ihn anstarrte und noch näher auf ihn zuging, so gab der Räuber, der seinen Stock für eine Flinte hielt, ohne weiteres Feuer und sprang seinem Genossen zu. Ein Nachbar, der von dem Schuß erwachte, sah zum Fenster heraus und rief, da er jemand im Gäßchen erblickte: »Was ist das für ein Schuß? Hat man nach des Sonnenwirts Frieder geschossen?« »Ja, ja!« antwortete dieser und machte sich mit dem andern davon. Daß der Getroffene der Schütz war und daß die Kugel ihm das Leben gekostet, erfuhr er erst später und prügelte seinen ungeschickten Kameraden dafür und für einen Einbruch bei einem Kaufmann in Winnenden, den er als einen ehrlichen Mann nicht bestohlen wissen wollte, tüchtig durch. Dieser, der die Schläge als verdient anerkannte, ließ den Verdruß darüber an einem Dritten aus, der ihn zu dem Einbruch in Winnenden verleitet hatte, und hieraus entstand eine Feindschaft, welche so tödlich wurde, daß man einander mit Schüssen zu Leibe ging und daß der Verführer des kleinen Kaspars, als geschworener Gegner des »Sonnenwirts«, von den rheinischen Gaunern den Namen »Konterwirt« erhielt. Der Tod des Schützen aber wurde in Ebersbach als eine neue Meucheltat der schädlichen bösen Wurzel angesehen, und der [] Vogt ließ Sturm schlagen und alle Bürger unter das Gewehr rufen, als ob eine ganze Armee von Gaunern im Anmarsch wäre. Der Kirchenkonvent von Ebersbach, unter dem Vorsitze des Pfarrers und Amtmanns, beschloß, dem jüngsten Kinde des verunglückten Schützen eine kleine Unterstützung auszusetzen und zugunsten der übrigen Hinterbliebenen desselben ein untertäniges Memorial bei der Herrschaft einzureichen, strafte aber zugleich den Zechbruder des Erschossenen um ein Pfund Heller, weil er demselben beim Schnaps Gesellschaft geleistet und dadurch mittelbar Gelegenheit zu dem Unfall gegeben habe.
Dennoch sollte der Räuber, so sehr er seine Hand rein von Blut zu erhalten strebte, noch einen dritten Mord, den zweiten und letzten, den er selbst beging, auf seine Seele laden.
Im Löwen zu Jöhlingen, einem Dorfe in der unteren badischen Markgrafschaft, hatte er einst mit der schwarzen Christine nebst einem Knecht und einer Magd, die das Paar bei sich im Dienste hatte, Herberge genommen. Sooft er seinen Stern mit Christinens Stern verband, konnte er im Wohlstande leben. Der Knecht war ein gelernter Gauner und in die Unternehmungen seiner Herrschaft eingeweiht; die Magd aber, die anfänglich als Wärterin für ein inzwischen wieder gestorbenes Kind Christinens angenommen war, hatte bloß häusliche Dienste zu verrichten und alles eigenmächtige Stehlen war ihr von ihrem Herrn strengstens untersagt worden, weil sie, wie er sich ausdrückte, als ein Mensch von schlechter Kleidung und Person leicht darüber ins Unglück kommen [] könnte. Herrschaft und Gesinde speisten ruhig miteinander und achteten nicht darauf, daß zwei Männer in die Stube traten, sie eine kleine Zeit aufmerksam beobachteten und sich dann einer nach dem andern wieder entfernten. Die Gesellschaft war aufgefallen, sei es, daß ihre jenische Sprache Verdacht erregt, oder daß man sie auf einem benachbarten Markte gesehen hatte. Plötzlich fiel auf der Straße ein Schuß. Sie fuhren auf, aber zu gleicher Zeit drangen die beiden Männer wieder in die Stube und auf sie ein. Schwan machte sich von ihnen los und stürzte hinaus, sah aber die Treppe mit Bewaffneten besetzt, unter welchen er den Ratsschreiber des Orts mit angelegtem Gewehr erblickte. Die Not gab ihm Kraft, eine Türe auf dem Gange einzudrücken und sich in eine andere Stube zu werfen, die aber keinen Ausweg hatte. Einer seiner Verfolger kam herein und faßte ihn an den Haaren. Er drohte ihn niederzuschießen, wenn er nicht gehe, und da jener nicht abließ, so zog er die im Rockfutter versteckte Pistole, die er stets vermittelst einer Schnur am Arm hängen hatte, und jagte dem Angreifer die tätliche Kugel in die Seite. Hierauf griff er nach der anderen Pistole und erschien an der Treppe mit dem Ruf, wer ihn anrühre, den schieße er über den Haufen. Der Schuß und die drohende Haltung des kühnen Räubers schüchterten die Bürgerwachen völlig ein. Sie drückten sich an die Wand und an das Treppengeländer, so daß er mitten durch sie hinunterkam. Erst als er aus dem Hause hinausstürzte, sendeten sie ihm einige verlorene Schüsse nach. Er war frei, aber Christine blieb mit[] der reichgefüllten Kramkiste und mit Knecht und Magd in den Händen der Gerichte zurück, und diesmal war sie unter Umständen gefangen worden, die ihn nicht zweifeln ließen, daß sie einer schwereren Haft als gewöhnlich entgegengehe. Auch sah er sie nicht eher wieder als in der Vaihinger Gefangenschaft, die er schon ein halbes Jahr nach dieser Verhaftung seiner Gefährtin betrat.
Arm an Hoffnung und bald auch an Barschaft schleppte er sich den Winter über hin und wagte während dieser Zeit nur einige wenige Unternehmungen, die ihm mehr Gefahr als Beute brachten. Er war überall und nirgends, aber von seinen hastigen Streifzügen kehrte er immer wieder nach einem vertrauten Hofe in der Nähe des Amtsfleckens zurück, wohin Christine abgeliefert worden war. Auf und bei diesem Hofe, der zugleich ein Vergnügungsort für die Honoratioren der Umgegend war, hielt er sich wochenlang auf und erlauschte eines Tages von der Küche aus die Kunde, die der Amtsschreiber den anderen Gästen im Wirtszimmer mitteilte, der Knecht und die Magd werden bald loskommen, das Weib aber scheine ein tüchtiger Fang zu sein; neulich sei ihr das Spiel von den Fleischmännern garstig versalzen worden, sie habe ausbrechen wollen und dann dem Amtmann auf seinen Vorhalt hierüber zur Antwort gegeben, ein grüner Wald sei ihr lieber als ein gemalter Turm.
In dieser Zeit wurde einst zu Steinbach bei Baden in einer Scheune eine nächtliche Gaunerversammlung gehalten, zu welcher sich die Zigeuner, die in den [] niederelsässischen Wäldern in Hütten hausten, von dem Sohne eines Fergen über den Rhein herüberführen ließen und zu welcher auch Schwan geladen war. Der Leutnant der überrheinischen Zigeuner, Mockel, trat hier mit einem Vorschlag auf, wobei es sich um nichts Geringeres handelte, als an dem Markgrafen Karl Friedrich von Baden-Durlach ein Exempel zu statuieren. Dieser pflichteifrige Fürst, dessen Land den Angriffen der Gauner am meisten ausgesetzt und der durch einen empörenden Einbruch des Konterwirts in Mühlburg (an dem nämlichen Orte, wo ein früherer badischer Fürst, der regierende Markgraf Eduard Fortunat von Baden-Baden, als gemeiner Straßenräuber an einen westfälischen Roßkamm Hand gelegt hatte) zu nachdrücklichen Maßregeln gegen das Gesindel herausgefordert war, hatte, sehr im Gegensatze gegen den Deutschmeister und andere Nachbarn, den Grundsatz gefaßt, nicht nur gegen alle, die auf seinem Boden betreten würden, aufs schärfste zu verfahren, sondern auch die Gefangenen von anderen Herrschaften, welche lässiger verfuhren, um Geld an sich zu kaufen. Infolge dieser Maßregel waren die Gefängnisse von Karlsruhe mit selbstgefangenen und eingehandelten Gaunern überfüllt. Die Versammlung, Männer und Weiber, brach in die entsetzlichsten Drohungen gegen den Markgrafen aus und wollte auf Mockels Antrag den Beschluß fassen, das ganze Land anzuzünden und einen Schrecken zu erregen, der dem Fürsten die Lust zur Ausrottung der Kochemer vertreiben sollte. Sein Gestüt bei Reichenbach sollte nebst den Orten Grötzingen und Wilfertingen den Anfang [] machen, dann ein Einfall in das Frauenalbische folgen, und über den geeignetsten Zündstoff war man ebenfalls einig, als Schwan in diesem furchtbaren Parlament als Hauptsprecher gegen den Antrag auftrat und es durch seine Beredsamkeit und durch sein Ansehen unter den Räubern wenigstens dahin brachte, daß die Ausführung desselben verschoben wurde. Er bediente sich eines Verwerfungsgrundes, der seine Wirkung bei der Versammlung nicht verfehlte, denn er machte geltend, daß die Gefangenen zu Karlsruhe und seine in Stein liegende Frau selbst darunter leiden müßten und nur eine desto härtere Todesstrafe zu gewarten haben würden. Aber er glaubte nicht, daß der Plan aufgegeben sei, und in seinem Verhör zu Vaihingen sagte er, es werde gewiß noch geschehen, und man werde vielleicht deshalb an ihn gedenken, wenn er schon tot sei. Es geschah jedoch nicht, denn sein Verrat verbreitete unter den Räubern denselben Schrecken, den sie dem badischen Lande zugedacht hatten, und die vielen Randzeichen des Vaihinger Untersuchungsprotokolls zeugen von den ebensovielen Mitteilungen, welche der tätige Oberamtmann an die benachbarten Ämter und Gerichte ausgehen ließ, um ihre Arme gegen die noch auf freiem Fuß befindlichen Genossen seines Gefangenen in Bewegung zu setzen.
Der Verbrecher, der seinen Vaterort täglich durch Drohungen mit Mord und Brand geängstigt hatte, verließ mit Abscheu die Versammlung, die der Ausführung solcher Taten fähig war, und enthüllte in dem Briefe, den wir bereits kennen, dem Amtmann von[] Stein den verruchten Mordbrennerplan. Freilich war die gute Regung, die man nach seiner ganzen Beschaffenheit nicht an ihm bezweifeln kann, mit sehr menschlichen Absichten vermischt: er wollte Gnade für sich und hatte unter den badischen Beamten den von Stein ausgewählt, weil er durch seine Unterhandlung mit diesem günstig auf Christinens Schicksal einzuwirken hoffte. Dennoch würde selbst im Falle ausschließlicher Eigensucht seiner Enthüllung ein Verdienst nicht ermangeln; denn wenn jene politischen Blutegel, wie ein zeitgenössischer Beamter und Schriftsteller die zu Tausenden umherstreifenden Gauner nannte, Raum gefunden hätten, als geschlossene Macht aufzutreten, so wäre bei dem Zustande des Reiches und der von Preußen geschlagenen Reichsarmee mehr als viel auf dem Spiele gestanden.
Er erhielt jedoch von dem Amtmann keine Antwort, merkte aber bald, daß derselbe ihm auf der Spur sei, denn als er nach dem Hofe bei Stein zurückkehrte, vernahm er, daß das Gerücht von seiner Anwesenheit verbreitet sei, und hatte Not, sich durch die aufgebotenen Streif wachen durchzuschleichen. Unstet und flüchtig irrte er nach anderen Gegenden.
Nach dem vergeblichen Schritte bei dem Amtmann von Stein faßte er den noch abenteuerlicheren Gedanken, in der Residenz des Deutschmeisters, auf neutralem Boden also, wie er meinte, vor seinem aus dem Felde heimkehrenden Herzog zu erscheinen und zu versuchen, ob er nicht sein Herz rühren könne. Dieser Einfall verrät eine Treuherzigkeit, die man einem Gauner und Räuber fürwahr nicht zutrauen sollte. [] Serenissimus kam aus der bekannten Schlacht von Fulda, die ein Laufen, kein Schlachten zu nennen war und in der er seinem auf preußischer Seite fechtenden Bruder nicht bloß das Feld, sondern auch eine reichbesetzte Tafel nebst einem Teile seiner Armee, während er mit dem Rest entrann, hinterlassen hatte. In der Laune, die er mit diesen Lorbeeren heimbrachte, wollte ihn der gefürchtetste Bösewicht seines Landes um den außerordentlichsten Sonnenschein oberherrlicher Gnade ansprechen! Der Zufall ersparte ihm eine Enttäuschung, führte aber dafür einen Sendling der jüdischen Leutnants in seinen Weg, der ihn zu einer neuen Unternehmung anwarb und eine halbe Zusage von ihm erhielt.
Zuerst aber drängte es ihn wieder nach dem Hofe bei Stein. Die Gegend schien sicherer geworden zu sein, und er blieb wieder einige Zeit dort stille liegen, bis die Not ihn aufscheuchte, um das Anerbieten der Juden bei herannahender Frist anzunehmen. Von Christinen, nach welcher er sich in Gestalt eines Hanfhändlers erkundigte, war nichts Tröstliches zu vernehmen; vielmehr schien das Gericht Verdacht gefaßt zu haben, daß sie sein Weib sei, und in diesem Falle mußte er eine ewige Trennung von ihr gewärtigen. Seine geistige Kraft war noch früher als die körperliche gebrochen, obgleich auch diese durch Entbehrungen jeder Art auf eine harte Probe gesetzt war. Daß er sich der nahen württembergischen Grenze zuwandte, einer Gegend seines Vaterlandes, die ihm unbekannt war und wo er sicher zu sein hoffte, beweist, daß der trotzige Mut, mit dem er allen Gefahren seines [] Bekanntseins in der Markgrafschaft die Stirne geboten hatte, von ihm gewichen war.
Im großen Hagenschießwalde, der sich von Pforzheim in das Württembergische erstreckt, traf er unversehens auf einem abgelegenen Holzwege, wo ein einzelner Soldat nicht leicht zu marschieren pflegt, einen herzoglichen Grenadier, der noch überdies, um das Sonderbare der Erscheinung zu vermehren, zu Pferde saß und seine weiße Grenadiermütze tief über das Gesicht gezogen hatte. Beide erkannten sich sogleich. Der Grenadier war sein Landsmann durch Abstammung und sein Verwandter durch Wahl, der sogenannte Schneidermichel, der eine Base Christinens sich beigelegt hatte, von ihr aber wegen seines zu friedliebenden Gemütes verlassen worden war. Dasselbe hatte ihn unter dem zweiten Grenadierbataillon, in das man ihn aus dem Zuchthause »gestoßen« hatte – der Ausdruck ist amtlich – in die sogenannte Fuldaer Schlacht begleitet, in welcher er keinen Vorwurf auf sich lud, da er das Schlachtfeld gleichzeitig mit der ganzen Armee, soweit sie nicht gefangen war, und mit dem Kriegsherrn verließ. Nur hatte der Soldat der Reichsarmee, während seine Kameraden in den Wintergarnisonen unterkamen, bis zu diesem Tage die Flucht nicht eingestellt. Er bekannte seinem Freunde, daß er herzoglich württembergischer Deserteur sei, zu seinem besseren Fortkommen das Pferd, das er reite, dem Adlerwirt in Flehingen aus dem Stall genommen habe, und sich nach Hechingen zu wenden willens sei. Dies redete ihm der Sonnenwirtle aus und sagte, er sei zu Hechingen nicht sicher, er solle lieber[] mit ihm in das Deutschherrische gehen. Der andere willigte ein; da er aber als württembergischer Deserteur sich auf württembergischen Boden so wenig sicher fühlte als sein Freund auf badischem, so beredete er diesen, das Pferd zu nehmen, mit welchem er sich gleichfalls nicht mehr durch das Badische getraute, weil er es dort gestohlen hatte, in einem kleinen Orte oder auf einem einzelnen Hofe bei Enzweihingen über Nacht zu bleiben und den anderen Tag in Heilbronn mit ihm zusammenzutreffen. Mit dieser Verabredung trennten sie sich. Eine Aufmunterung, in Kriegsdienste zu gehen, woran er manchmal in seinem Leben gedacht, konnten die Erzählungen dieses der Fuchtel entlaufenen Soldaten für ihn nicht enthalten. Wenn dagegen der Grenadier den Räuber, wie ohne Zweifel geschehen ist, nach dem Befinden der Bekannten fragte, so konnte dieser ihm eine lange Unglücksliste eröffnen. In der kurzen Zeit dieser drei Jahre hatte der Tod eine reiche Ernte gehalten. Von der Gesellschaft, die er im Walde von Wäschenbeuren getroffen und mit der er sich noch am besten vertragen hatte, lebten nur noch die weiblichen Mitglieder; der scheele Christianus war gehängt, Schwamenjackel geköpft, Bettelmelcher von den Streif Wächtern erschossen; und von den Weibern war nur noch eine einzige frei, seine freche Schwägerin, denn Christine saß in Stein und die alte Anna Maria in Steinbach gefangen. Er selbst hatte die Alte in Gestalt des wandernden Krämers, der oft von solchen Marktdiebinnen betrogen worden, in ihrem Gefängnis aufgesucht und die Gelegenheit benützt, ihr verstohlen [] einen Teil seiner Barschaft in die Hand gleiten zu lassen.
Der Verfolg beweist, daß er das Pferd, das er offenbar aus Gutmütigkeit angenommen, um dem andern aus der Verlegenheit zu helfen, gar nicht angesehen hatte, denn sonst würde er es wohl schwerlich bestiegen haben. Seine sonst so schnellen Augen wachten nicht für ihn, und er muß an diesem verhängnisvollen Tage ganz in schwere, tiefe Gedanken versunken gewesen sein.
In einem Dorfe auf der Höhe hielt er an und trank ein Glas Wein. Als er weiter ritt, neigte sich die Hochebene und der Weg teilte sich in drei Pfade, die von keinem Wegweiser bezeichnet waren. Er wählte den mittleren geraden, der ihn steil ins Tal hinunterführte. Eine Stadt mit Mauern und Toren, von einem Schlosse überragt, lag vor seinen Augen, als das Ziel des Weges, den er ritt. Er kann sie unmöglich gesehen haben, denn der erste Blick hätte ihm gezeigt, daß es vernünftiger sei, sie zu umgehen. Eine Brücke trug ihn über die Enz – er befand sich vor dem Tore. Nun stutzte er freilich einen Augenblick, aber der Torwächter, dem die Langeweile an diesem selten betretenen Tore den Blick geschärft haben mochte, hatte vom kleinen Fenster aus sein Stutzen bemerkt. Wäre er zu Fuße gewesen, so würde er jetzt noch unwillkürlich den Fuß angehalten und den Schritt gewendet haben. Des Reitens seit langer Zeit ungewohnt, ließ er das Pferd gehen, und so wurde dieses zum Werkzeug seines Schicksals, dessen Hand lähmend auf seinem Geiste lag. Seine Uhr war abgelaufen, das Pferd [] trug ihn blindlings durch das Tor, hinter welchem sich ein Gewirre von engen Gäßchen auftat, das Gitter fiel hinter ihm und der Mann mit dem spürenden Blicke trat aus dem Torhäuschen heraus.
Die Geschichte der Verhaftung selbst hat der Oberamtmann bereits erzählt; aber sein Sohn berichtet noch einige weitere Züge, die in Verbindung mit dem, was aus sonstigen Stellen der Akten hervorgeht, aufbewahrt zu werden verdienen. Derselbe erzählt, sein Vater habe die Pässe des Fremden, an welchen der Torwächter gezweifelt, ganz richtig befunden, und Schwan sei nun schon so gut wie frei gewesen, aber ein kleiner Umstand habe ihm Freiheit und Leben gekostet: er sei nämlich auf einem sehr elenden Pf erde gesessen, das mit seinem eigenen trotzigen und kühnen Anstände – und, wie aus den andern Quellen hervorgeht, mit seiner durchaus ehrbaren Kleidung – einen höchst lächerlichen Widerspruch gebildet habe, und dieser Umstand, sowie das auffallende Gesicht des Mannes, habe gemacht, daß der Oberamtmann mit Aufmerksamkeit bald auf dem Pferde, bald auf ihm verweilt sei. Diese Aufmerksamkeit sei dem Reiter nicht entgangen, der nun habe annehmen müssen, das gestohlene Pferd sei bereits steckbrieflich geschildert, und deshalb, da der Oberamtmann eine Veränderung in seinem Gesichte zu erblicken glaubte und ihm abzusteigen befahl, die Flucht zu ergreifen gesucht habe.
Gleichwohl würden nach seiner Vergewaltigung durch einige mutige Vaihinger Bürger, die, wie der Vorgang von Jöhlingen beweist, ihr Leben dabei wagten, die [] Inzichten, die in seinem Benehmen und den bei ihm gefundenen allerdings verdächtigen Gegenständen lagen, noch nicht zu einem zuversichtlichen Verfahren gegen ihn ausgereicht haben. Er hatte sich schon mehr in solchen Verlegenheiten befunden und wußte, wieviel man der Obrigkeit, selbst auf halbem Augenschein von ihr ertappt, durch hartnäckiges Leugnen abtrotzen konnte. Aber die erste Gefängnisnacht in Vaihingen vollendete die Umwandlung, die schon lange in seinem Innern begonnen hatte und durch die Stürme des Lebens, die Foltern des Gewissens so vorbereitet war, daß sie nur noch eines äußeren Anstoßes bedurfte.
Wer seinen Mutterwitz und seine offenherzige Leutseligkeit für die einzigen von seiner Mutter ererbten Eigenschaften hielt, hatte sich garstig in ihm verrechnet, und teuer mußten die Genossen seiner Übeltaten diesen Rechnungsfehler büßen. Das hauptsächlichste Erbe, das er von seiner Mutter überkommen, das heißt, vermittelst ihres Einflusses sich in sein Herz eingeprägt hatte, war die Religion, wie sie in den Liedern seiner Landeskirche, in den Sprüchen der Lutherschen Bibel und in den Fragen und Antworten des protestantischen Katechismus niedergelegt war. Die Art, wie er diese Religion in der Welt ausüben sah, hatte ihn oft über sie spotten machen, und der Beifall, den seine Witze fanden, hatte ihn in seinen Spöttereien bestärkt. Aber was sein Geschichtschreiber aus seinem Mund erzählt, beweist, daß sie dennoch die Heimat seines innersten Gemüts geblieben war, und der nämliche Erzähler, dem es gar nicht [] einmal einfiel, an der Wahrheit jener Mitteilung zu zweifeln, sagt bei einer andern Gelegenheit von ihm, Aufrichtigkeit sei, selbst in seinen ruchlosesten Jahren, ein Hauptzug in ihm gewesen. Oft, erzählt derselbe bei der Darstellung seines inneren Zustandes während seines Aufenthaltes unter den Gaunern, oft sei er nachts im Traume aufgewacht, nachdem er vergebens durch Berauschung sein Gewissen einzuschläfern gesucht, habe geschrien, geweint, gebetet, bis sein Weib an seiner Seite ihn durch Spöttereien über seine Feigheit wieder zum Schweigen gebracht habe. Oft sei er auf die Knie gefallen und habe den Himmel um Gnade zu seiner Besserung angefleht. Oft sogar sei er unter dem Galgen niedergekniet und habe Gott gebeten, ihn aus diesem Leben herauszuführen. Dann habe er wieder sein Weib genötigt, auf die Knie zu fallen und mit ihm zu beten, in der Hoffnung, daß ihre, wie er gedacht, noch weniger befleckte Seele eher Erhörung finden würde. Oft sei er mit Schrecken aus dem Schlummer aufgefahren, habe geseufzt und gebetet, und wenn sein Weib gefragt, was ihm fehle, ihr allemal geantwortet, er denke an den Waisenpfarrer zu Ludwigsburg. »O Weib«, habe er weinend und seufzend gesagt, »wenn du wüßtest, was das für ein Mann war, was er mich gelehrt, wie er mich ermahnt hat – o Gott, wenn er recht hat, so sind wir beide verloren, und ach, gewiß, er hat recht!« Als er einst zu Offenburg gefangen gelegen, habe er mit einem von der Wand abgebrochenen Stückchen Speiß ein Kruzifix gemalt, dasselbe, um sich stets an den Gekreuzigten zu erinnern, beständig angeschaut, geküßt [] und mit Tränen benetzt. »Damals« – dies sind, sagt sein Geschieh tschreiber, seine eigenen Worte – »versprach ich vor dem Bilde meines Heilandes Besserung und nahm mir fest vor, eher mein Brot zu betteln, als ihn weiter zu beleidigen. Ich netzte dieses Bild mit Tränen, ich küßte ihm die Hände und bat um meine Befreiung. Sie erfolgte, ich war so glücklich, daß ich entrann, oder vielmehr so unglücklich, daß ich Gelegenheit bekam, meine vorigen Sünden mit neuen zu vermehren. Einige Tage tat ich gut. Aber ich konnte keine bösen Tage leiden. Nur allzubald war der vorige gute Vorsatz verschwunden, und ich war zu meinem Schaden klug genug, Entschuldigung für meine Sünden zu finden und mich manchmal gar zu bereden, daß alles Torheit sei, was man vielleicht bloß um der Einkünfte willen in den Kirchen predige. Das ging nun freilich nicht ohne innerliches Widersprechen meines Gewissens ab, und überhaupt hatte ich beständig quälende Gewissensbisse.« Nichts aber, setzt sein Geschichtschreiber hinzu, habe seine Besserung so sehr gehindert, als sein Weib, die seine Begierde nach derselben als Zuckungen eines Feigen belacht und, wenn Spotten nichts mehr half, seine Frömmigkeit bloß als einen Vorwand, sie zu verlassen und zu seiner lutherischen Christine zurückzukehren, angesehen habe.
Die schwarze Christine bekannte sich zu der katholischen Kirche. Sie hatte mit ihrem Geliebten gleich nach ihrer Verbindung eine Wallfahrt zu der schwarzen Maria von Einsiedeln gemacht, um sich trauen zu lassen, daselbst auch Bereitwilligkeit gefunden, die[] jedoch, nicht zur Tat werden konnte, da keines von beiden Brautleuten daran gedacht hatte, seinen Taufschein mitzubringen. Ihr erstes Kind war in einem badischen Orte, dessen gaunerfreundlicher Schultheiß dabei zu Gevatter stand, von einem Jesuiten getauft worden. Über den Tod dieses Kindes, das sie frühe wieder verlor, betrübte sie sich so übermäßig, daß sie in Verzweiflung verfiel und dem Wahnsinn nahe kam; sie wollte sich, durchaus nicht von dem Kinde trennen und trug die verwesende Leiche in einem Kästchen mit der größten Beschwerde acht Tage lang herum. Über ihr Verhältnis zu ihrer Religion sagt der akademische Geschichtschreiber dieses Räubers und dieser Räuberin: »Niemand betete pflichtlicher das Paternoster. Niemand besuchte die Wallfahrten so fleißig oder wohnte den Prozessionen so häufig bei. Schwan hat versichert, daß sie auf eine einzige solche heilige Feierlichkeit mehr als dreißig Gulden aufgewandt, daß sie aber auch öfters das Geld dazu vorher gestohlen habe.« Übereinstimmend hiermit sagt ein Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts, der über die Gauner schrieb und sich durch seine Sprache als Protestanten zu erkennen gibt, die Religion, zu der sich diese Menschenklasse bekenne, sei in der Regel die katholische, man dürfe immer hundert Katholiken auf einen oder zweien Lutheraner, Reformierte oder Juden rechnen; diese Minderheiten bilden die Ausnahme und seien allemal Überläufer aus dem Bürgerstande; die Religionswissenschaft der Mehrheit bestehe in einigen auswendig gelernten Formeln, in Legenden, in ungestalteten Ideen von Wallfahrten, Messelesen, [] Rosenkranzbeten u. dgl., und mehr, fügt er mit protestantischer Härte hinzu, brauchen sie als Gauner auch nicht zu wissen, denn die Religion würde ihnen, wenn sie sie dem Wesen nach kenneten, nur beschwerlich sein.
Die katholische Kirche, die sich die allgemeine nennt und es zu werden strebt, macht dem Menschen den Eintritt in ihre allezeit offenen Tempel leichter und legt ihm kein so schweres Opfer auf wie ihre Schwesterkirche. Da sie alles unter ihre Flügel versammeln will, so muß sie wie eine gütige nachsichtige Mutter verfahren, die dem Kinde je nach dem Maße seiner Gaben nicht das Schwerste zumutet, sondern sich mit der Andeutung des guten Willens begnügt. Daher erklärt es sich, daß ihre opferfreudigen Sendboten unter den kindlichen Völkern einer jüngeren Welt, wie bei den aus Indien nach Europa eingewanderten Zigeunern, welche großenteils den Grundstock der Heimatlosen des vorigen Jahrhunderts abgegeben haben, im Pflanzen und Ernten glücklicher gewesen sind als ihre Nebenbuhler von der anderen Kirche. Diese strengere Mutter weist die bloß äußerliche Andeutung zurück, sie duldet es nicht, daß der Mensch an seiner Statt Gott einen guten Mann sein lasse, sondern legt ihm selbst, unter Verheißung des göttlichen Beistandes zwar, die Riesenarbeit auf, sich die Geheimnisse des Glaubens anzueignen und das eigene Ich zu überwinden. Da sie selbst die Größe die ser Forderung sich nicht verbergen kann, so sagt sie, es sei nur Auserwählten möglich, dieselbe zu erfüllen, während sie zugleich, da sie so wenig wie die andere Kirche [] ihren Kreis zu beschränken gemeint ist, hiedurch in den Widerspruch gerät, auch Nichtauserwählten ihr Joch auferlegen zu wollen. Hiezu kommt noch, daß ihr seit mehr als hundert Jahren gerade unter ihren begabtesten Söhnen Gegner aufgestanden sind, die, statt sich als Auserwählte zu zeigen, den Grund des Glaubens mit der Schneide der Prüfung und Verneinung aufgewühlt und ihre unbegabteren Brüder beunruhigt haben, so daß die Kirche selbst, im Kampf mit ihnen, so wie andererseits mit ihrer älteren Schwester genötigt worden ist, um den Glauben zu streiten, das heißt, die Breite, Höhe und Tiefe der Gottheit auszumessen, was zwar den Weltkindern freistehen mag, der Kirche aber durch ihre heiligen Urkunden nicht empfohlen ist. So weisen denn beide Kirchen an ihren Bekennern Schattenseiten auf, welche die Gefahren der einen wie der anderen anzeigen: dort Leichtsinn, hier Verwirrung. Beide aber, die nachsichtige wie die strenge Mutter, geben dem Menschen für das Leben die gleiche Vorschrift: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; und wenn diese Lehre befolgt würde, wenn mit diesem Beispiel die Lehrenden selbst und unter ihnen die heißesten Eiferer für ihre Kirche und ihren Glauben zuerst vorangingen, so wäre unter den Flügeln der einen wie der anderen dem Menschen eine gute Wohnstätte bereitet. Daß auf der einen wie auf der anderen Seite von dieser Liebe nicht gar viel zu spüren ist, das ist wohl zunächst die Schuld des einzelnen Menschen, noch weit mehr aber die Schuld und Not des ganzen Kreises, aus dem er stammt und in dem er lebt. Die Liebe, ob sie schmeicheln [] oder züchtigen mag, ist ein Weib und kann nicht dem Haushalte vorstehen, der neben der Mutter des Mannes, des Vaters bedarf; und wenn das Volk, das in so vielen stolzen Söhnen sich rühmt, das zweite auserwählte der Weltgeschichte zu sein, wenn dieses Volk am Ziele seiner harten Arbeit und Mühsal die Gesetzestafeln findet, welche den zerrütteten Haushalt der Völkerwelt von neuem ordnen, jedem einzelnen Kinde des Hauses sein Lebensrecht und seine Lebenspflicht in ungezwungenem menschlichen Maße zuwägen, dann ist der Vater zu der Mutter gefunden, dann werden Recht und Liebe nebeneinander, eins das andere beschränkend, beschirmend, verklärend, in dem neuerbauten Hause walten.
Die schwarze Christine tat sich auf ihre pflichtmäßigen Religionsübungen nicht weniger zu gut als die ehrbare Protestantin, welche sonntäglich zur Kirche geht, um die Predigt zu hören, vielleicht auch in der andächtigen Gemeinde gesehen zu werden, und das mit einem gewissen Recht: denn unter den Leuten, welche nicht durch die Schulen der Philosophen, sondern bloß durch ihre Konfessionsschule, unmittelbar oder mittelbar, gegangen sind, gilt es für eine Brandmarkung, keine Religion zu haben, weil diese eben das unverstandene, aber eben darum desto mehr mit der Ahnung festgehaltene Wahrzeichen ist, daß man einem Menschen im Verkehr mit seinesgleichen trauen könne. Sooft sie auch sich selbst und andere schon mit diesem Wahrzeichen getäuscht haben, sie halten immer wieder daran fest, nicht mit dem Verstande, der die geheimnisvolle Kammer der Glaubensschätze [] als Prunkgemach für hohe Feste das ganze Jahr verschlossen läßt und vorsichtig seinen Geschäften nachgeht, sondern mit dem Herzen, welches dunkel fühlt, daß die Religion mit der dem Leben zugekehrten Vorschrift der Liebe die Menschen aneinander bindet oder binden sollte. Daß sie nach vollbrachter Religionsübung sich mit ihrer Religion abfinden und dieselbe in den menschlichen Verkehr nicht mitbringen, können sie einander von beiden Seiten mit gleichem Recht vorwerfen; nur wird, die gleiche Innigkeit des Bekenntnisses bei den einzelnen vorausgesetzt, die Abfindung bei dem strengeren Bekenntnisse schwerer sein. Und doch finden sich hüben wie drüben bis zu einer gewissen Grenze alle ab: denn wer befolgt die Vorschrift des Evangeliums, alles zu verkaufen, was er hat, und es den Armen zu geben, oder nie für den kommenden Tag zu sorgen? Wer Rechtsverbindlichkeiten eingegangen hat, wer Weib und Kind ernähren muß, wird, wenn er auch noch so kirchlich religiös gesinnt ist, sich mehr oder minder deutlich gestehen, daß er solche Vorschriften als unerfüllbar betrachte. Dann bleibt zwar allerdings noch immer ein sehr großer Unterschied zwischen ihm und einer Gaunerin, die das Geld zu einer Wallfahrt stiehlt, oder, wie eine andere ihres Ordens, ein berühmtes Marienbild von gestohlenem Zeuge kleiden, oder gar, wie gleichfalls vorgekommen ist, für das Gelingen eines Einbruches eine Messe lesen läßt; aber die Nichtanwendung wie die nichtswürdige Anwendung von Religionsvorschriften auf das Leben ist immer eine Abfindung, mit welcher man bekennt, daß die Religion das Leben nicht [] ganz zu leiten vermöge. Woher soll ihm aber eine ganze Leitung kommen, solang es an einem Rechte fehlt, das jedem seinen Platz am Tische des Lehens sichert? Die Religion hat noch selten einen christlichen Staat oder Fürsten abgehalten, um eines wirklichen oder vermeintlichen Rechtes willen einem anderen Menschen- oder Christenreiche den Krieg zu erklären und selbst mit Grausamkeit zu führen, ja nach erfochtenem Sieg über blutigen Leichen und rauchenden Wohnstätten dem Herrn der Heerscharen, den dieselbe Religion auch den Vater der Liebe nennt, einen schrecklichen Lobgesang anzustimmen. Auf ein Recht aber glaubte auch die Tochter eines heimatlosen Stammes sich berufen zu können, die über den Gräbern ihrer geschlachteten Verwandten im Kriege mit der Gesellschaft aufgewachsen war und diesen Krieg mit dem gleichen Hasse führte, mit welchem ein Naturvolk seine Wälder und Gebirge unter Raub und Mord gegen die Waffen und Gesetze des eingeborenen oder eingedrungenen Beherrschers zu behaupten sucht. Gerade hierin aber lag zwischen ihr und dem nicht von Kindesbeinen an, sondern erst in späteren Jahren ausgestoßenen Sohne des herrschenden Volkes ein Gegensatz, der immer eine Kluft zwischen ihnen offen erhalten mußte. Zehnmal mochte er ihr in den Stunden der Leidenschaft beistimmen, daß die Gesellschaft, die er verlassen, aus lauter Spitzbuben, Heuchlern oder Tröpfen bestehe: immer wieder sagte ihm seine unbestechliche Erinnerung, daß er auch ehrliche, gradsinnige und verständige Leute darin gefunden habe und daß das nächste Opfer ihrer Raubzüge [] zu diesen gehören könne. Und diese lichten Erinnerungen und Eindrücke verbanden sich bei ihm mit einer Religion, die ihn in dem friedlich-frommen Kreise seiner Mutter mit dem unvertilgbaren Bewußtsein erfüllt hatte, daß, wenn auch in der Bibel und von ihren besten Helden gestohlen, geraubt und gemordet werde, daß, wenn auch eine christliche Obrigkeit sich für die Führung ihres Racheschwertes auf die Bibel berufe, doch der wahrhaft gute Mensch einen Abscheu davor haben müsse, das Eigentum seines Nächsten anzutasten oder, unter welchem Vorwande es auch sei, sein Blut zu vergießen.
Aber die innere Erkenntnis des Menschen hat ohne eine Unterstützung von außen nicht so leicht die Gewalt, sein äußeres Leben augenblicklich umzugestalten, schon deshalb nicht, weil seinen schönsten und edelsten Empfindungen immer wieder die menschliche Schwachheit sich anhängt und weil er die besten Vorsätze sehr oft in Stunden äußerer Not und Bedrängnis faßt, so daß, wenn diese vorüber sind, das frohe Gefühl des Glückswechsels ihm auch den guten Vorsatz nur als ein Erzeugnis der schwachen Stunde erscheinen läßt. Hiefür liefert gerade die Geschichte der Offenburger Verhaftung, wie sie Schwan ohne den religiösen Zwischenvorgang zu den Akten gegeben hat, einen so deutlichen Beleg, daß dieselbe, die auch sonst merkwürdige Züge darbietet, hier nicht übergangen werden darf. Nach verschiedenen Abenteuern mit eigennützigen Polizeimännern und nachlässigen Obrigkeiten, welche sich den Schutz der ihnen anvertrauten bürgerlichen Gesellschaft so schlecht angelegen [] sein ließen, daß diejenigen, die dem Markgrafen von Baden ihre etwaigen Gefangenen um Geld verkauften, noch weitaus zu den besseren gehörten, hatte das Paar den Unstern, auf dem Jahrmarkte zu Offenburg in seinen Geschäften durch die Wachsamkeit dortiger Bürger gestört zu werden, wie denn überhaupt in allen ähnlichen Geschichten jener Zeit die Gaunerherrlichkeit immer erst da ein Ende hat, wo mutige und aufopfernde Bürger, oft schmählich im Stich gelassen, der Obrigkeit zu Hilfe kommen. Dem Räuber gelang es in eine Kapelle zu entspringen, seine beiden Terzrohre, wie der Sprachgebrauch der Zeit sie nannte, unter dem Hochaltar zu verbergen und seine Barschaft von drei Karolins dem Chorrektor, der mit mehreren Geistlichen sogleich herbeieilte, in die Hand zu drücken. Der Chorrektor versprach, ihn nicht eher auszuliefern, als bis er vom Magistrat einen Salvuskondukt in so bündiger Form ausgewirkt habe, daß man ihm weder an das Leben gehen, noch ein Glied verletzen, sondern, wenn er je eine Todesstrafe verwirkt, ihn wieder hierher in die Kirche stellen müsse; für Schläge könne er ihm freilich nicht stehen. Der Stadtmeister der katholischen Reichsstadt lag nebst einigen anderen Personen soeben in der gleichen Kirche seiner Andacht ob und sah die Unterhandlung zwischen dem Geistlichen und dem verdächtigen Flüchtling mit an. Als nun die Kirche denselben mit dem weiteren Versprechen, daß er das anvertraute Geld nach seiner Freigebung bei dem Pfarrer eines benachbarten Ortes wieder abholen könne, der weltlichen Obrigkeit übergeben hatte, so wollte diese mit[] aller Gewalt wissen, was er dem Geistlichen zugestellt habe. Drei Tage hintereinander erhielt er jedesmal vierzig Streiche, bekannte aber nichts, ungeachtet er nach seiner Erzählung unleidliche Schmerzen auszustehen hatte, und in der Nacht des vierten Tages gelang es ihm, die Riegelwand von Backstein durchzubrechen und sich am Leintuche herabzulassen, worauf er bei dem bezeichneten Pfarrer seine drei Karolins wieder abholte. Die Kirche hatte im Kampfe mit dem Staat ihr Recht um jeden Preis behauptet und eher einem Räuber, dessen Eigenschaft sie kaum bezweifeln konnte, durchgeholfen, als sich ihr Asylrecht verletzen lassen. Nach diesem Hergang darf man sich jedoch nicht wundern, wenn Christine über die Geschichte der dreitägigen Buße vor einem mit Speiß gemalten Kruzifix, welche ihm jeden Tag durch die Aussicht, morgen wieder vierzig Schläge zu erhalten, geschärft worden war, den vierten Tag aber mit einem Ausbruch geendigt hatte, in ein höhnisches Gelächter ausbrach und die lutherischen Anwandlungen um so unpassender fand, als ihre eigene Kirche ihn soeben zu nicht geringem Danke verpflichtet hatte.
Dennoch ließen diese Anwandlungen nicht von ihm ab, und jetzt wird es begreiflich, wie sie in Vaihingen so plötzlich zum Durchbruch kommen konnten. Zugleich aber lernt man auch deutlicher zwischen den Zeilen des Vaihinger Protokolls lesen, wenn man sich den Auftritt von dem Sohne des Oberamtmannes erzählen läßt.
»Den zweiten Tag«, sagte er, »erschien Schwan wieder. Der Beamte schlug nun den entgegengesetzten [] Weg ein. Er wiederholte ihm zwar noch einmal, daß er ihn für einen ausgemachten Bösewicht halte; aber nun forderte er ihn nicht mehr durch Drohungen, sondern durch Darstellung der schrecklichen Folgen des Lasters, durch Schilderung des Glücks eines ruhigen Gewissens, durch Bezeugung seiner herzlichen Teilnehmung an seinem Schicksal und durch Verspruch, ihm dasselbe durch alles, was nur in seiner Gewalt stehe, zu mildern, auf; kurz, er versuchte nun durch Religion und teilnehmende Güte sein Herz zu rühren. Der Versuch gelang. Der trotzige Blick milderte sich sichtbarlich, Traurigkeit trat an die Stelle der Wut, eine Träne floß in dem wilden Auge. ›Ich habe meinen Mann gefunden‹, rief er gerührt, ›ich bitte Sie, lassen Sie diese Leute hinausgehen, und ich will Ihnen alles gestehen.‹ Der Oberamtmann, um diese Rührung nicht zu stören, ließ alle nicht ganz notwendigen Personen hinausgehen, und in diesem Augenblick stammelte Schwan mit bebendem Munde: ›Hören Sie in einem Wort alle meine Verbrechen: ich bin der Sonnenwirtle.‹ «
Hisce praemissis ist das Bekenntnis des Räubers nicht mehr so sehr überraschend, wie es in dem Protokoll des Oberamtmanns überrascht und wie dieser selbst, der freilich im Protokoll dies wenig merken läßt, nebst Stadt und Land davon überrascht gewesen ist. Hätte er sein Inquisitionsschema, wie er es in das Protokoll schrieb, angewendet, so würde er wohl lange auf diese überfließende Offenheit haben warten dürfen; denn dieses Schema, das auch den redlichsten Beamten ohne seine Schuld zu einer gewissen Unwahrheit [] zwingt, ist dem Volke so fremd wie die römische Advokatur es seinen zungenausreißenden Vorfahren war. Dem Manne, der den Menschen und den Oberamtmann mit so gutem Erfolge für sein Protokoll zu vereinigen wußte, soll hieraus kein Vorwurf gemacht werden: er hat seinerzeit einen wichtigen Dienst geleistet, und sein Gefangener selbst hat ihm die Abkürzung einer Laufbahn voll Schmach und innerer Verachtung, deren Maß immer voller geworden wäre, in der ganzen Aufrichtigkeit seines Herzens gedankt.
Mit diesem Bekenntnis nun, das gleich in den ersten Worten den Stab über sein verwüstetes Leben brach, halte er sich nicht bloß in die Hand der Obrigkeit, sondern auch in die Hand seiner Kirche ergeben, welche ihre Diener sandte, um dieses Leben zu einem bußfertigen und seligen Ende zuzubereiten. Ohne Zweifel haben dieselben nach der Sitte der Zeit ausführliche Beschreibungen dieses geistlichen Prozesses veröffentlicht; aber unter den vielen Schwarten von hochfürstlichen Geburts-, Hochzeits- und Leichenfeierlichkeiten in dem öffentlichen Bücherschatze, den der Herzog später anlegte, als er für ein gleichfalls verfehltes Leben Ersatz in der Erziehung der Jugend suchte, haben jene Schriften keinen Platz gefunden, und das Lebensbild, aus welchem nicht ein Zug hätte verlorengehen sollen, muß auch auf dieser Seite halbvollendet bleiben. Doch hat einer der beiden Geistlichen dem Sohne des Oberamtmanns einzelne Züge aus jenem Bekehrungsgange mitgeteilt, welche uns in der Erzählung desselben aufbehalten sind. Bei seinem [] ersten Besuche begann dieser Geistliche von dem Zorne Gottes zu reden, der diejenigen verfolge, welche die Mittel der Gnade zu lange verschmäht, von einer traurigen Ewigkeit und von den Schwierigkeiten einer aufrichtigen Besserung nach einem so ruchlosen Leben. Hiemit hatte er zwar untadelhaft nach seinem Schema gearbeitet, wie der Oberamtmann nach dem seinigen ein regelrechtes Protokoll zuschreiben wußte; aber seine Bemühung fand den entgegengesetzten Erfolg. Der Räuber rief ihm aufgebracht entgegen, ob er nur gekommen sei, ihn zu quälen? Der Geistliche bequemte sich, in die Schule des Oberamtmanns, der diesen harten Stoff besser zu kneten verstand, zu gehen, und stellte sich nun dem stolzen Verbrecher als ein Bote des Friedens dar, der dem reuigen Sünder im Namen Gottes – welcher ihm geboten habe, ihn in seinem Namen sogar darum zu bitten – Gnade antrug; dann ging er zum Gebet über, flehte Gott um Vergebung ihrer beiden Sünden an und dankte ihm für die Langmut, die er diesem seinem verirrten Schafe bewiesen habe. Jetzt war die rechte Saite angeschlagen: der Verbrecher war bewegt von dem Gedanken an die Langmut Gottes, sah den Geistlichen während seines Vortrags mit unverwandten Augen an und zerfloß in Tränen; auch gestand er, daß ihn diese Langmut Gottes während seines ruchlosen Lebens oft zu Tränen gerührt habe. Von dieser Zeit an schlug der Geistliche bloß diesen Weg ein und führte seine Aufgabe siegreich durch. Der stolze Wildling wollte auch von seinem Gott und dessen Dienern um die schwere Arbeit, die er auf sich nehmen sollte, manierlich angesprochen [] sein. Es läßt sich jedoch denken, und wird auch ausdrücklich erzählt, daß dieselbe nicht ohne Unterbrechung vonstatten ging, wobei besonders sein Stolz immer wieder den schwer zu brechenden Kopf erhob. Einst besuchten ihn, nach der Art der Zeit, welche äußerst neugierig auf Verbrecher war, zwei Fremde in seinem Gefängnis. Der eine betrachtete die berüchtigte Gestalt und fragte, ob er der Unglückliche sei, der so viele unglücklich gemacht habe? »Meine Herren«, antwortete er, den mächtigen Kopf in den breiten Nacken werfend, »wer ist unglücklicher, Sie oder ich? Sie, die vielleicht mitten in Ihren Sünden durch einen einzigen Schlag dahingerissen werden, oder ich, der ich durch das Blut Jesu mit Gott versöhnet bin?« Indessen tat er gleich wieder Buße und sagte zu seinem Beichtvater: »Mein Gott, was bin ich für ein elender Mensch, daß ich nicht einmal diese einzige Rede habe erdulden können!« Aber auch die lustigen Farben des Lebens störten ihm das ernste Gewebe, an dem er wirkte. Die unanständigen Witze und die Religionsspöttereien, die so oft den Beifall seiner Gesellen erregt hatten, kehrten manchmal wieder zu ihm zurück und verdarben ihm durch irgendeine unwillkürliche Gedankenverbindung das Gebet oder das Bibelwort, durch welches er den glimmenden Docht seiner Leuchte anzufachen, das zerstoßene Rohr seines Lebens aufzurichten suchte. »Ebensowenig«, sagt sein Geschichtschreiber, »verließ ihn seine rohe Lustigkeit. Ein Glas Wein und ein gutes Essen machte ihn auch in den letzten Tagen seines Lebens so lustig, daß er die ganze Gesellschaft, die bei ihm war, mit [] Scherzen unterhielt und Henker, Tod, Bekehrung, alles vergaß.« Desto größer aber war nachher immer wieder seine Zerknirschung, »so daß er einst, als er bei ziemlichem Durste mehr Verlangen nach einem Glase Wein als nach geistlichen Gesängen empfunden, aus Reue hierüber und aus Zorn über sich selbst das Gesangbuch auf den Boden warf, was ihm dann einen neuen ebenso großen Kummer verursachte.« Da im Menschenleben zwischen dem Kleinsten und Größten Gleichungspunkte sind, so drängt sich bei diesem Zuge von selbst die Erinnerung an die Kämpfe des großen Reformators auf, in dessen Geistesbande dieser schwierige Zögling sich gegeben hatte und dessen riesige Gestalt die Nachwelt oft mit lächelndem Munde bewundert. Gleichwie seine Kirchenänderung die leichtfertige Welt seiner Tage mit Umsturz und Zerstörung bedrohte, so geht auch der Lehrbegriff, den er von einem verwandten Geiste erbte, dem natürlichen Menschen revolutionär und terroristisch zu Leib. Die Lehre eines alten Kirchenvaters, der nach einem weltlich durchstürmten Leben durchgreifende Buße und Selbstentäußerung predigte, muß den Menschen erst an allen Gliedern brechen, um ihn neu aufbauen zu können. Hieraus ergibt sich von selbst, daß sie bei der Jugend und bei allen jenen weichen, freundlichen Gemütern, die in Übereinstimmung mit sich durch das Leben gehen, seine Widersprüche nicht empfinden oder beiseite zu schieben wissen, nur oberflächlich wirken kann. Wer aber durch Schuld und Not hindurchgegangen ist, wer sich in den Netzen des Lebens verstrickt und sich selbst darin verloren hat, [] bei wem jener Entäußerung die grenzenlose Selbstverachtung vorgearbeitet hat, die sich nicht mehr mit dem Splitter im Auge des Nebenmenschen zu entschuldigen vermag, und wer auf allen seinen Irrwegen zugleich, wenn auch nicht ein geistesstolzes Denken, doch ein geistiges Leben sich bewahrt hat, der ist reif, um jene Lehre mit ihrer ganzen übermenschlichen Gewalt in sich aufzunehmen. Auf diesem Wege sind vornehme und gemeine Sünder, deren Lebensgeschichten unentbehrliche Blätter in den Jahrbüchern des menschlichen Geistes bilden, zu einer Umwälzung gekommen, welche die Welt, die nach menschlichem Maße leben will, ja oft selbst die Kirchenwelt, mit Staunen, wie ein verzehrendes Feuer aufflammen sah. Sie haben Heil gestiftet, wo sie auf verwandten Boden säeten; viele haben ihnen mit zerstörtem Lebensglück geflucht: denn ihr Werk war, sich selbst und alles, was sie vorher liebten, zu zerschmettern.
An den Genossen eines verbundenen Lebens, wie es auch zugebracht worden sein mag, zum Verräter zu werden, ist ein Malzeichen, vor welchem selbst der Leichtfertigste ein wenig stutzt. Die Rechtfertigung dieser Tat wäre in dem Falle, der uns vorliegt, selbst für die natürliche Betrachtung gar nicht schwer; denn einer Bande, die arglosen Menschen nachts in die Häuser bricht, die Bewohner aus den Betten reißt, mit glühenden Nadeln peinigt oder den Schlaf mordet, ist niemand die Treue schuldig, die sie der Menschheit und sich selbst nicht hält. Aber es handelt sich ja hier nicht darum, eine Art Vorbild in so günstiger Beleuchtung aufzustellen, daß der geschmeichelte Leser[] darin seine eigene Menschenvortrefflichkeit erkennt. Vielmehr soll dieses Menschenleben mit seinen Lichtern und Schatten, mit seinen Ehrenzeichen und Schandmalen ein Gleichnis sein, in welchem jeder sich als gut und bös erkennen mag. Denn fremd kann dem Menschen nichts bleiben, was menschlich ist. Die wilden Tiere, welche seine Mitwelt in diesem Menschen sah, sie hausen alle in unserer Brust, und alle haben wir am Bache des Ebers getrunken. Wir verabscheuen das Stehlen, Rauben und Morden, aber auch er hat es verabscheut, und nicht erst nach der Tat; und, sei es in den Bußliedern frommer Zerknirschung oder in der Alltagssprache, müssen wir uns schuldig bekennen, daß wir oft unserm Nächsten das volle Lot, das ihm gebührte, nicht zugewogen, daß wir sein Menschenrecht gekränkt, sein Menschenherz verletzt haben. Wer die Buße dieses Verbrechers als einen Ausfluß der Geistesgröße bewundert, wird sich doch auch daraus die Wahrheit entnehmen, daß es besser ist, einen Lebensweg zu meiden, der mit Abfall oder gar Verrat an den Genossen enden muß; und wer sie als die Schwäche eines in der Bildung verwahrlosten Geistes, den seine Zeit keinen Lessing werden ließ, ansieht, der mag sich sagen, daß auch der unabhängigste Denker im Vollgefühle seiner Freiheit über Begriffe straucheln kann, die er mit der Muttermilch eingesogen hat. Keiner steht so hoch, daß er nicht fallen kann, und das einfältige Wort der Menschenliebe und Menschenwürde in jenem Buche, worin sich die Sehnsucht des Morgenlandes mit dem Geiste unserer alten Sprache und Dichtung vermählt hat, ist höher als alle.
[] Der Kampf des Sünders, von welchem seine Kirche eine werktätige Reue forderte, die sich nicht einmal um den Preis des eigenen Lebens abfinden durfte, war groß und schwer. Dieses zertrümmerte Lebensschiff hatte er mit raschem Entschlüsse preisgegeben, und doch kam ihn auch bei dieser Auslieferung das Aufzählen des Inhalts im einzelnen sauer an. Die großen Verbrechen, welche den Kopf kosteten, gingen ihm ohne Widerstreben über die Zunge; aber die kleineren Vergehen suchte er solange als möglich zurückzuhalten, aus Furcht vor einer schwereren Todesstrafe, wie er nachher behaupten wollte, in Wahrheit aber aus Stolz und Scham, weil die Gemeinheit dieser kleinen Diebstähle und Einbrüche ihm unauslöschlich auf der Seele brannte. Doch warf er endlich auch diesen Stolz als ein verwerfliches Überbleibsel seines alten Herzens weg. Der Oberamtmann, der die weiche Seite dieses Herzens kennengelernt hatte, unterstützte ihn mit gutem Bedacht; »er ehrte ihn durch den offen kundgegebenen Glauben an seine Aufrichtigkeit und Besserung, drückte ihm seine Freude aus, ihn nicht durch Drohungen, Schimpf und gewaltsame Mittel zwingen zu müssen, sprach auch mitunter von anderen Gegenständen mit ihm, hörte seine Meinung und ließ die Inquisition den Ton einer vertraulichen Unterredung annehmen«, wovon freilich das Protokoll nichts enthält. Zugleich schickte er ihm Essen und Trinken ins Gefängnis, und daß er für diese freundliche Gabe in mehr als einem Sinne empfänglich war, wissen wir bereits. Die Stadt ahmte das Beispiel ihres Oberbeamten nach. Die Wächter ließen sich's gleichfalls [] gesagt sein, ihn menschlich zu behandeln; »sie gingen ganz vertraulich mit ihm um und lachten und beteten abwechselnd mit ihm.« Wieviel diese guten Tage dazu beigetragen, ihn auf dem eingeschlagenen Wege zu erhalten, läßt sich nicht unterscheiden; wohl aber ist nicht zu leugnen, daß den reinsten Gesinnungen immer menschliche Schwäche anklebt. Indessen hatte die Güte ihr strenges Maß. Er war gleich anfangs so hart geschlossen worden, daß er gar keine Bewegung machen konnte, und vier Männer mußten beständig in seinem Zimmer, vier außerhalb desselben wachen. Allein die Handlungsweise des Oberamtmanns, der das Menschliche mit dem Amtlichen zu verbinden wußte, gewann den Räuber völlig. »Mit Tränen erklärte er« – und der Gewährsmann fügt ausdrücklich hinzu, daß dies seine eigenen Worte seien – »der Oberamtmann habe durch seine Güte mehr aus ihm herausgebracht, als tausend Foltern nicht hätten erpressen können. Er erklärte, er danke der Vorsehung, daß sie ihm gerade in dieser Stadt seinen Tod bestimmt, und er möchte um keinen Preis, auch wenn er könnte, mehr entwischen. Weil er sich aber selbst nicht traute, so wünschte er, bat sogar, man möchte ihn wie den ärgsten Bösewicht bewachen. Er nannte die Arten des Schließens, die allein mit Sicherheit bei ihm angewendet werden könnten, und zeigte andere, deren Nutzlosigkeit er bewies. Besonders erinnerte er, daß man an Markttagen wachsam sein solle, weil da gewiß einige seiner Kameraden sich einschleichen würden, um ihn zu retten.« Infolge dieser Angaben mußte die standhafte Erwartung des [] Volkes, daß der Schützling des Teufels, wie in Hohentwiel und anderen festen Orten, eines Tages durch Rauchfang oder Schlüsselloch verschwinden werde, unerfüllt bleiben. Dagegen rief der Tod des Amtsdieners, der plötzlich während der Untersuchung starb, die noch jetzt im Munde des Volkes lebende Sage hervor, die verzweifelten Spießgesellen des Gefangenen haben, um seine gefährlichen Geständnisse, die sich wie ein Lauffeuer in alle Lande verbreiteten, abzuschneiden, ihm heimlich vergiftetes Backwerk zuzustecken versucht, und die Konfiskation desselben sei dem Diener des Gesetzes übel bekommen. Während aber im Volke sich geschäftig eine Art Heldensage über ihn bildete, stand er demütig vor seinem Richter und bekannte sich für den »Verworfensten aller Sterblichen«.
Die strenge Folgerichtigkeit der Buße verlangte aber mehr von ihm. Die schon in der Freiheit versuchten Enthüllungen über die mordbrennerischen Pläne der überrheinischen Zigeuner konnten ihm nicht besonders schwer werden, denn dieses Gesindel ging ihn nicht näher an. Aber wenn seine Beichte vollständig sein sollte, so mußte er nähere Genossen, mußte er seine Nächsten in das Verderben, wenigstens in das zeitliche, mit hineinreißen. Nach seiner ganzen Beschaffenheit mußte ihn dies einen Kampf kosten, über dessen Schwere man sich durch die bei dem Naturmenschen in jeder Lage des Lebens möglichen Augenblicke der Lustigkeit nicht täuschen lassen darf. Die beiden Haupttriebräder seiner ganzen Lebensentwickelung, Liebe und Stolz, mußten in diesem Kampfe [] überwunden werden. Er war sein Leben lang seinen Freunden ein treuer Freund nicht bloß gewesen, sondern zur vollsten Befriedigung seines Selbstgefühls, als solcher auch stets von ihnen anerkannt worden: und nun sollte er diesen einzigen, letzten Ruhm, an dem er sich im Eisgange der Selbstverachtung noch aufrecht gehalten, von sich werfen, sollte auch noch den Seinen verächtlich werden, wie er der übrigen Welt verächtlich war. Aber er war dem Buß- und Besserungsplan, welchen das weltliche und geistliche Amt zusammen entwarfen, schon in seinem ersten Verhör vorausgeeilt, in welchem er erklärt hatte, er wolle seiner Mitschuldigen so wenig wie seiner selbst verschonen, und hatte damals schon auf die Gefangenen in Stein, unter welchen seine zweite Christine war, hingewiesen. Nur fand er bald, daß die Ausführung eines Entschlusses nicht so leicht ist wie der Entschluß selbst, und in den nächsten Verhören begann er zugunsten seiner beiden Weiber zu lügen, so sehr, daß er in der Erzählung von der Zusammenkunft im Walde bei Wäschenbeuren eine Katharina statt der schwarzen Christine nannte. Er hatte beide mit der ganzen Kraft seines Herzens geliebt. Wenn er sie aber liebte, so mußte er ihnen ja die gleiche bittersüße Arznei reichen, der er seine Genesung zu verdanken bekannte. Er entschloß sich dazu, und daß dieser Entschluß der äußersten Selbstüberwindung aus redlicher Überzeugung floß, das haben ihm nicht bloß seine weltlichen Richter und geistlichen Tröster bezeugt, das bezeugt ihm nicht bloß sein Geschichtschreiber, welcher versichert, daß er mit der unabänderlich [] gleichen Gesinnung auf der Lippe gestorben sei, sondern die menschliche Natur selbst bezeugt es ihm, welche weiß, daß ein Mensch wie dieser nicht mit einer Lüge aus dem Leben gehen kann.
Die Folge seiner Geständnisse war, daß beide Christinen an den Sitz des Gerichts geholt wurden, die eine aus ihrer Gefangenschaft, die andere aus der Dunkelheit ihres Dienstes, in welchem sie sich, wie ihr Geschichtschreiber sagt, ordentlich aufgeführt hatte.
Die schwarze Christine, die ihn durch und durch kannte und sich ohne Zweifel sagte, daß sie verloren sei, wenn es der Oberamtmann verstanden habe, ihn an seiner schwachen Seite zu fassen, leugnete hartnäckig, schalt über Ungerechtigkeit und drohte – aber der Oberamtmann hatte sein gezähmtes Wild bei der Hand und wußte es zum Fang des ungezähmten zu gebrauchen. Er hatte seinen Gefangenen hinter einer spanischen Wand verborgen und ließ ihn, da sie einen Sonnenwirtle jemals gesehen zu haben leugnete, plötzlich auf ein gegebenes Zeichen hervortreten. »Seine ganze Seele«, erzählt der Geschichtschreiber, »ward bei ihrem Anblick bewegt, er zerfloß in Tränen der Liebe und des Schmerzes. Auch sie war bei seinem unerwarteten Anblick erschüttert, doch faßte sie sich plötzlich wieder und nahm die gleichgültigste Miene, wie gegen einen unbekannten oder kaum einmal gesehenen Menschen an. Schwan ließ sich nicht abschrecken. Er näherte sich ihr mit den zärtlichsten Liebkosungen, die um so rührender waren, da sie sich zum erstenmal in einer so traurigen Lage und unter noch traurigeren Aussichten wiedersahen. Aber sie[] verschmähte mit Unwillen seine Zärtlichkeit und beschwerte sich über die Vertraulichkeiten eines Unbekannten, da er noch überdies allem Anschein nach ein großer Bösewicht sei und sie selbst in diesen Verdacht bringen wolle. Noch ließ er nicht nach. Er erklärte ihr, daß das Leugnen ihrer Verbrechen nun zu spät sei, daß er längst alles gestanden und daß sie selbst auch durch viele Umstände sich schon verraten habe. Er versicherte sie, daß nun das Ende ihrer Freveltaten gewiß gekommen, daß er aber seinen gegenwärtigen Zustand, wo er in Ketten und Banden schmachte und keine weitere Aussicht als den Tod habe, dennoch für viel glücklicher halte als jenen, da er in der höchsten Freiheit Gottes und der Menschen gespottet. Nichts rührte das boshafte und verhärtete Weib; sie antwortete ihm nur mit Unwillen und Verachtung. Nun konnte sich Schwan nimmer halten. Seine beiden großen Leidenschaften, Zorn und Rachsucht, brachen plötzlich hervor, er tobte, raste, fluchte und wünschte nichts mehr als die Verruchte mit eigener Hand ermorden zu können. Doch auf diesen Ausbruch erfolgte sogleich wieder Ergießung sanfter Liebe und Zärtlichkeit; er bat, flehte, weinte; aber auch seiner Bitten und seiner Tränen spottete sie, bis er aufs neue in Wut ausbrach und so wechselweise jetzt der Wut, jetzt der Zärtlichkeit sich überließ.«
So erzählt der Sohn des Oberamtmanns, der jenen Vorgängen nahestand. Der spätere Sammler der Vaihinger Überlieferungen fügt aus unbekannter Quelle hinzu, die württembergische Behörde habe es für zweckdienlich gefunden, ihr den neunwöchigen Säugling [] wegzunehmen, den sie im badischen Gefängnisse geboren und gestillt, worüber sie in eine solche Raserei geraten sei, daß sie sich das Gesicht zerfleischt, das Holz des Fußbodens mit den Nägeln aufgerissen und tage- und nächtelang mit gräßlichem Geheul nach ihrem Kinde verlangt habe, bis ihre Stimme in einem heisern Stöhnen untergegangen sei; hierauf sei sie in eine bedenkliche Krankheit verfallen, von der sie sich erst nach fünf Wochen wieder erholt habe.
Freilich hatte ihr Mitschuldiger seinem Richter vorausgesagt, daß er einen schweren Stand mit ihrem verstockten Herzen haben werde, da sie oft erklärt habe, daß sie sich lieber auf den Tod foltern, als zum Spektakel der Welt durch den Henker hinrichten lassen wolle. Auch ließ er sie durch die Wächter bitten, zu gestehen und nicht sich und ihm nutzlos die Leiden der Gefangenschaft zu verlängern. Sie ließ sich endlich zum Geständnis der leichteren Fälle herbei, die sie ihrer Jugend und der Verführung ihres Mannes zuschrieb; aber als sie zu gestehen begann, war sie bereits längst überwiesen, und die Waagschale ihrer Verbrechen sank unter dem Druck der gebrochenen Urfehde, welche das christliche Gesetz seinem heimatlosen Feinde bei dessen erster Betretung und Ausweisung aufzuerlegen pflegte, um ihn bei der Wiederbetretung, die ihn ja dann des Meineides schuldig zeigte, desto fester fassen und nötigenfalls am Leben strafen zu können.
Auch die blonde Christine ergab sich nicht gutwillig in das Schicksal, das ihr umgewandelter Geliebter ihr bereitete. Der Sohn des Oberamtmanns beschreibt das [] verhängnisvolle gerichtliche Wiedersehen dieser beiden in seiner Weise so: »Müllerin war seine erste Liebe, lange war er bis zur Raserei in sie verliebt, und auch sie hing mit einem solchen Feuer an ihm, daß sie Ehre, Freiheit und alles ihm aufopferte, und was für ihn vielleicht das wichtigste war, sie war die Mutter seiner Kinder. Seit zwei Jahren waren sie gänzlich getrennt. Sie war die erste Ursache seines Schicksals, und er des ihrigen. Alle diese Empfindungen wachten in dem Augenblick des ersten Wiedersehens auf. Er zerfloß in Tränen, sobald er sie sah, und erst lange stumm, fragte er sie endlich aufs zärtlichste nach ihrem Schicksal, nach ihren Kindern und Verwandten, bat sie um Verzeihung, daß er sie unglücklich gemacht, und versicherte sie seiner heftigsten Reue. Müllerin ward durch seinen Anblick und seine Rede in die sonderbarsten Empfindungen gesetzt: innigste Rührung und Begierde ungerührt zu scheinen, kämpften in ihr, sie ließ jetzt, wie man aus ihrer Miene schloß, ihren Empfindungen freien Lauf, jetzt zwang sie sich, eingedenk der Folgen, sie zurückzuhalten.«
Lange hatte er sich gegen das Bekenntnis der Vergehen gesträubt, an welchen die Genossin seines fruchtlosen Kampfes mit der Gesellschaft in der Halbheit ihres Umher seh Wankens zwischen Rat und Tat Anteil genommen; aber seiner wachsenden Aufrichtigkeit kam der natürliche Verlauf der Dinge zu Hilfe: denn nachdem das Gericht einmal seinen Namen wußte, kannte es auch einen guten Teil seiner Geschichte und wurde durch Mitteilungen aus seiner Heimat in den Stand gesetzt, die einschlagenden Fragen [] an ihn zu stellen, welchen er in der Gemütsverfassung, die wir kennen, nicht länger auszuweichen vermochte. Nun begann er unumwunden und rücksichtlos zu gestehen, und die Arbeit der Überwindung, die er auf seine Weiber ausdehnte, wiederholte sich in jedem gemeinschaftlichen Verhör. »Er redete ihnen zuerst sehr sanft und freundlich zu, geriet dann in Wut, tobte und drohte, klagte, daß er nie ein Wort um seinet-, sondern nur um ihretwillen gelogen und daß die Verruchten es ihm so vergelten, bat sie dann wieder um Verzeihung und flehte sie liebreich an, ihre und seine Schuld vor Gott und den Menschen nicht noch schwerer zu machen.« Die blonde Christine ließ sich endlich erweichen, erklärte aber gleich nachher wieder, daß sie, durch sein schmeichelhaftes Zureden, wie sie sich ausdrückte, bewogen, viel zu viel eingestanden habe. Auch sagte sie, nicht aus Bußfertigkeit, sondern aus kleinlicher Rache auf ihn aus, er habe einmal, wie sie wisse, ein paar Sägen gestohlen. Bei dieser Gelegenheit konnte der Inquirent das Wesen seines Inquisiten an einem neuen Zuge kennenlernen. Derselbe Mann, der seine todbringenden Geständnisse so willig und todesfreudig gemacht hatte, leugnete den kleinen Diebstahl aufs hartnäckigste, so daß der Richter an ihm irre wurde. Als er endlich überwiesen war und keinen Ausweg mehr finden konnte, so gestand er das Vergehen und zugleich die Ursache seines Leugnens: er habe, sagte er, die Sägen an einen ehrlichen, gewissenhaften Mann verkauft, der sich lange nicht dazu bequemen wollte, bis er ihn versichert, sie seien nicht gestohlen, und sich auf Seel [] und Seligkeit vermessen habe, daß ihm sein Lebtag nichts über den Handel aus seinem Munde kommen solle, weswegen er auch so gewiß als etwas von der Welt wisse, daß er seiner Christine nichts davon gesagt habe. Nun fand sich der Richter wieder in ihm zurecht und schenkte ihm nach und nach so vollen Glauben, daß, wie sich aus dem Protokoll ergibt, der Unschuldsbeweis hinsichtlich des an dem Schützen zu Ebersbach begangenen Mordes lediglich auf seine eigene Aussage gegründet ist. Das Urteil wurde hierdurch freilich in nichts abgeändert, doch blieb dieser angebliche Meuchelmord, den ihm die Ebersbacher aufbürdeten, aus der im Urteil aufgestellten Reihe seiner Verbrechen weg. Der kleinliche Groll, dem die blonde Christine in ihrem der Schwachheit ausgesetzten Gemüte Zugang verstauet hatte, schwand wieder, denn sie kannte sein Herz und glaubte an die Aufrichtigkeit seiner Zerknirschung, die ihm nicht anders zu handeln erlaubte, obgleich sie sich die Rechnung machen konnte, daß sie dieselbe, nachdem es ihr geglückt war, aus dem Zuchthaus in einem Dienst unterzukommen, mit einer abermaligen Zuchthausstrafe zu bezahlen haben werde.
Allerdings ein harter Lohn für so viel Liebe und Aufopferung, die in dem Protokoll mit dem amtlichen Kunstausdruck praematurus concubitus abgefertigt wird! In zwei brandmarkenden Worten die Geschichte eines siebenjährigen Kampfes voll Weh und Treue erschöpft! Und dabei war der Oberamtmann noch billiger als das Gesetz, das ein ohne elterliche Einwilligung geschlossenes Liebesband mit einem noch härteren [] Ausdrucke brandmarkte. Sein Angeklagter muß ihm in jenen Stunden, wo die Inquisition »einen vertraulichen Ton annahm«, ergreifende Eröffnungen gemacht haben, die freilich nicht im Protokoll zu lesen sind, auf die man aber daraus schließen darf, daß das Protokoll, daß ja nicht die Geschichte seines Schicksalsganges, sondern nur die Geschichte seiner Verbrechen enthalten sollte, die Anklage gegen Stiefmutter, Vater, Pfarrer und Amtmann, zwar kurz und dürr, aber doch in wenigen Worten vollständig aufgenommen hat, die Anklage: »nachdem er sich ehlich mit seiner Geliebten versprochen und seine Minderjährigkeit bei der Regierung wegsuppliziert, habe sein Vater, weil sie ihm nicht reich genug gewesen, durchaus nicht darein willigen wollen, und es bei dem Pfarrer und Amtmann dahin zu bringen gewußt, daß ihm aller Umgang mit derselben verboten worden, ob man sie schon zum drittenmal miteinander ausgerufen gehabt, und daß hieraus die Exzesse entstanden seien, die ihn nach und nach auf den Weg des Verderbens geführt.« Auch die Weigerung des geistlichen Hirten, seinen Schafen einen unentgeltlichen Dienst zu leisten, hat der Oberamtmann, ohne Zweifel von dem stummen Gefühl des Ehrenmannes geleitet, gewissenhaft in sein Protokoll eingetragen.
Aber die Rachsucht, mit welcher der Unglückliche so oft über diesen Erinnerungen gebrütet hatte, war mit seinem Stolze gebrochen. »Er selbst«, erzählt der Sohn des Oberamtmanns, »hielt die abgeschlagene Heirat mit Müllerin für die Ursache seines Unglücks, und brannte daher während seines ganzen Lebens von Wut [] und Rache gegen seinen Vater. Dennoch redete er zuletzt mit großer Mäßigung von ihm. ›Er hätte können anders mit mir verfahren‹, sagte er einst: ›doch es ist auch wahr, daß mein Eigenwille allzu groß war; ich selbst habe das Gute verworfen und das Böse erwählet. Ich will dahero gern alle Schuld auf mich allein nehmen. Aber wenn er ja auch schuld sein sollte, so gedenke doch Gott seiner Sünden nicht. Er hat auf dieser Welt Trübsal genug an mir erlebt. Der arme Mann‹, fuhr er ein andermal fort, ›mein Vater dauert mich. Ich will ihm keine Vorwürfe machen. Ich wünschte mir noch seinen Segen. Der Eltern Segen baut der Kinder Häuser. Das schickt sich nun freilich nimmer auf mich. Aber sein Segen würde mir doch erquickend sein. Oh, daß Gott seine Sünden vergeben wollte, wie er mir die meinigen vergeben hat!‹«
Diesem Hauche des Friedens entsprechend malt der Geschichtschreiber seine ganze übrige Gemütsstimmung. »Nichts aber«, sagt er, an das Vorige anknüpfend, »war jetzt so lebhaft, als die niemals ganz verbannten Empfindungen der Liebe. Sein ganzes Herz hing an seinen beiden Frauen, und vorzüglich an seinem Kind. Man schickte ihm nichts zu essen, von dem er nicht diesen mitteilte. Besonders aber war er für ihren Seelenzustand so bekümmert, daß er ihnen, wo er nur konnte, auf das nachdrücklichste zusprach, daß er stets sich nach ihren Gesinnungen erkundigte und sowohl dem Oberamtmann als den Geistlichen die Methode anzugeben suchte, wie man ihren Herzen am besten beikommen könnte. Eine solche Gemütsverfassung gab ihm Mut in Augenblicken und unter Umständen, [] in denen sich sonst Verzweiflung auch der Stärksten bemächtigt; ja er erhob sich durch dieselbe bis zu einem solchen Grad der Freudigkeit, die ihm selbst bewunderungswürdig vorkam und die bisweilen so weit ging, daß er selbst befürchtete, ob sie nicht bloßer Leichtsinn sein möchte.«
Unter allen diesen Stimmungen aber ging die Arbeit ununterbrochen fort, nicht bloß jene Arbeit der Buße, sondern die geistige Arbeit einer treuen Zeichnung der Welt, in der er gelebt hatte. Diese Zeichnung ist in den Untersuchungsakten niedergelegt. Wohl selten ist ein so dickes Protokoll in der Zeit von so wenigen Monaten vollendet worden. So hohe Anerkennung man dem Fleiße und der Berufstreue des Beamten schuldet, der der Verwaltung und Rechtspflege seines Bezirks zugleich vorzustehen hatte, mit der Person seines Gefangenen eine in halb Süddeutschland verzweigte Untersuchung in die Hände bekam, und neben den fortdauernden Verhören einen durch diese veranlaß ten sehr ausgebreiteten Verkehr mit einheimischen und auswärtigen Behörden führen mußte – so enthüllt sich doch zugleich aus diesen Akten das Bild eines Angeklagten, der ungezwungen und in rasch fließendem Vortrage, gleichsam als die leitende Seele der Untersuchung, seine Angaben diktiert, so daß der Richter sich zusammennehmen muß, um mit dem Geiste und mit der Feder zu folgen.
Für den prüfenden Leser zerfällt das Protokoll somit in zwei Bestandteile von nicht ganz gleichem Gehalte: der eine gehört – sagen wir nicht dem Oberamtmann, sondern dem Lebenskreise, dem er angehörte, und der [] Urheber des anderen ist der begabte Verbrecher selbst. Besonders verdient die lebendige Kraft hervorgehoben zu werden, mit welcher er die Masse von Personen, um die sich seine Aussagen drehen, zu schildern wußte: mit wenigen Worten, die wie breite Pinselstriche wirkten, entwirft er ein Bild nach Gestalt und Tracht, daß die geschilderte Person in anschaulicher Leibhaftigkeit aus dem Protokoll vor das Auge springt und ebensogut dem Richter zu einem Steckbrief, als dem Dichter, soweit dieser Lust hat unter die Räuber zu gehen, zu einem Gemälde in Lebensgröße dient. Und damit man nicht glaube, daß einem ungebildeten Menschen aus dem Volke hiermit des Guten gar zu viel geschehe, so möge an dieser Stelle in andern Worten und anderer Auffassung die Bürgschaft des jüngsten Bearbeiters der Geschichte des »Sonnenwirts« eintreten, der ihn nur aus dem Vaihinger Inquisitionsprotokoll, also von seiner schwärzesten Seite kennt, und gleichwohl den Eindruck, den ihm die Persönlichkeit des Inquisiten in den Akten machte, so wiedergibt: »Die Bekenntnisse des Verbrechers drängten sich völlig frei und ungezwungen und in solcher Masse dem Verhörrichter entgegen, daß der Bedarf inquisitorischen Scharfsinns zu ihrer Erhebung sich ungleich geringer herausstellte, als der Aufwand an Zeit und Mühe für die juristische Digestion des reichen Materials. Die Sprache, die er vor Gericht führte, war gewogen, anständig, zuweilen edel, und zeugte im allgemeinen von einem nicht geringen Maße natürlichen Verstandes, namentlich aber wenn es galt, dem untersuchenden Beamten das Unlogische mancher Unterstellungen [] verweisend unter die Augen zu halten; ja in Fällen, wo sich der Richter dahin vergaß, ungerechte Beschuldigungen mit Hartnäckigkeit aufrechterhalten zu wollen, hatte die besonnen kalte Rechtfertigung des Angeklagten etwas von der Ruhe eines Gerechten an sich und glich in keiner Weise jenem hündischen Trotze verhärteter Bösewichte, die, niedergedrückt vom Gewicht gegründeter Beschuldigungen, den kleinsten Bezieht, der sie unverschuldet trifft, willkommen heißen, um darüber in die Klagen beleidigter Unschuld aufzubrausen.«
Er hat aber außer diesen mündlichen Angaben noch ein schriftliches Denkmal hinterlassen, wozu er selbst die Feder oder vielmehr den Bleistift in die Hand nahm und, unabhängig von dem Stil des Oberamtmanns, sich in seiner eigenen Weise gehen ließ. Er hatte schonungslos die Genossen seiner Übeltaten ans Messer geliefert, als es ihm in der Einsamkeit seines Gefängnisses einfiel, daß das Werk nur halb getan sei, wenn er nicht auch die Hehler angebe, die das Bestehen einer so weithin gegliederten Kette von Feinden der Gesellschaft möglich machten und immer wieder ergänzten.
»Es treiben mich die Bewegungen meines Herzens« – mit diesen Worten begann er in carcere, wie der Oberamtmann in seinem Protokoll bemerkt, mit dem ihm vergönnten Schreibmaterialien einen mehrere Bogen langen Aufsatz, mit kräftiger, klarer Handschrift, nach der Schreibweise seiner Zeit, in welcher sich die Ungebildeten von den Gebildeten darin unterschieden, daß jene den ererbten Sprachschatz der [] Lutherschen Bibelübersetzung mit mehrerem oder minderem Geschick handhabten, während diese ihrer nicht bei Luther erlernten Satzbildung mit lateinischen Einschwärzungen je nach dem dritten deutschen Worte auf die Beine zu helfen suchten. Diese Enthüllungen eines Gauners und Gaunergenossen aus der Zeit, die man als die gute, alte, sittliche, fromme rühmen hört, stellen alle angenommenen Vorstellungen von jener Zeit auf den Kopf, lassen es höchstens begreiflich erscheinen, daß einzelne Enkel einzelner Familien, die inmitten der allgemeinen Verderbnis sich unter günstigen Lebensumständen rein erhielten, auf ihre Vorfahren stolz sein können, zeigen aber die große Mehrheit des Volkes, trotzdem, daß es sehr fleißig in die Kirche ging, in einer Fäulnis, die einen Leutnant Mockel, wenn er sich mit seinesgleichen zu dem Streiche, der ihm aufgedämmert war, erhoben hätte, auf einige Wochen oder Monate – schwerlich viel länger – zum Herrn von Süddeutschland hätte machen können. Diese Enthüllungen sagen nicht bloß von Wirten, Bauern, Hofbesitzern, ja von ganzen Dörfern weit und breit umher: »hier ist ein Aufenthalt für alle Räuber« – nein, sie nennen eine Masse von Ortsbehörden selbst, die mit den Gaunern im engsten Verständnis waren. Nicht von Husaren, Hatschieren, und wie sonst die niederen Beamten der öffentlichen Sicherheit hießen, zu reden, die Schultheißen selbst, und in unglaublicher Anzahl, waren mit den Feinden der öffentlichen Sicherheit förmlich verschworen. Da heißt es auf jeder Seite dieser Denkwürdigkeiten, wo von diesem oder jenem Orte die [] Rede ist: »Vom Herrn Schultheißen ist mir sehr und wohl bekannt, daß er ein guter Mann gegen die Räuber und Diebe ist«, »und soviel weiß ich, wenn einer verwahrt ist, er sei ein Räuber so groß als er will, so wird Herr Schultheiß ihm durchhelfen«, »und die Frau des Sohnes ist wohl zu brauchen auf den Märkten, wie ich selber aus ihrem Munde gehöret, sie wolle mit meiner Frau gehen, denn sie halte man nicht für verdächtig; sie könne besser bei den Krämerständen brav zugreifen; wenn man ein Bekanntes dabei habe, so sei man nicht so im Verdacht.« Wieder gibt er in einem anderen Orte den Schwager des Schultheißen an, als einen Mann, »der beständig derlei Leute im Hause liegen und auch mit ihnen zu schaffen hat.« »Dieser Mann«, sagt er, »ist aber anzusehen für einen frommen Mann, weil er fleißig in die Kirche gehet; aber doch hat er und seine Frau schon lange und vieles mit den Räubern zu tun; der Schultheiß tut ihm alles zu wissen, wann eine Streife ergehen soll, denn er erhält zuerst das Schreiben des Oberamts, und wann eine ergehen soll, so tut man es den Räubern gleich zu wissen, daß sie fliehen sollen. Dieser Schulze«, setzt er sofort in seiner ganzen Gewissenhaftigkeit hinzu, als ob er sich nicht das Recht zugestände, demselben gerade zu Leibe zu gehen, »kommt mir auch sehr verdächtig vor: ich habe öfters mit demselben getrunken in seines Schwagers Wohnbehausung, und er hat alles von mir gesehen, Pulver, Blei und Pistolen, hat mir auch selber ein Terzerol« – im Inquisitionsprotokoll sagt er immer Terzrohr – »an Krämerwaren verhandeln wollen, was aber meine [] Frau nicht geschehen ließ. Der Schultheiß läßt es nur nicht so öffentlich an den Tag kommen, weil er ein sehr vermöglicher Mann ist, aber nach seinen eigenen Reden, die er getan, ist ihm« – von den Spitzbuben nämlich – »wohl zu trauen. Was aber seinen Schwager und Schwester anbelangt, so hat es seine Richtigkeit. Das Ort ist edelmännisch.« Wiederum heißt es von einem dergleichen Orte: »Ich habe gesehen und aus ihrem Munde vernommen, daß ihnen sehr wohl gedient mit solchem Räubergesind ist; sie haben auch viele mit Namen genannt, die mir selbiges Mal noch nicht bekannt waren. Ferner haben sie gesagt, man solle doch nur zu ihnen kommen, man dürfe ja hier nichts fürchten, die Räuber gehen viel mit den Leuten in die Kirche aus und ein, man lege keinem etwas in den Weg, wenn man nur das Gestohlene wohlfeil von denselben bekomme, so sei alles recht.« Wieder in einem anderen Ort »hat mich der Wirt auch zu dem Burgermeister hingeführet und! da geredet so offenbarlich vom Stehlen und Rauben, als wenn lauter Räuber und Zigeuner beieinander wären, so daß ich mich selber sehr verwundern mußt, weil mir solche Orte und Gelegenheiten noch nicht bekannt waren; habe auch gleich, einen besseren Mut zum Stehlen bekommen, und da sie auch selbst die jenische Sprache reden, so gut wie die Räuber selbst, so gedachte ich gleich: den Leuten ist zu trauen, und müssen schon dergleichen Leute gehabt haben, sonst kennten sie die Sprache nicht. Es ist aber auch wahr, denn die Sprache ist nicht leicht zu lernen, und in den Schulen hat man sie nicht dazu angehalten – so [] kann ich ja leicht vernehmen, daß dergleichen Leute öfters dagewesen seien und es wohl zu trauen war. Wo mich meine Frau hingeführet, in den Häusern reden die Leute die Sprache besser als ich, und sie haben mich öfters sehr ausgelacht und gesagt, wann ich die Christine so lang hab als sie sie kennen, so werde ich schon besser mit der Sprache fortkommen können.« Ferner in einem Ort: »Beim Kreuzwirt und seiner Tochter, der Straußwirtin, sind die Räuber bekannt, und man weiß auch alles von denselben, und sie machen sich nichts daraus, da der Herr Stabsschultheiß ein sehr naher Freund zu ihnen ist, und sie verlassen sich darauf.« In einem anderen Ort: »Der Schulz hat auch vieles mit den Räubern zu schaffen und ich bin dem Schultheißen wohlbekannt, er hat auch alles von mir gesehen und gewußt, woher und wer ich bin, und ist mein ganzer Lebenslauf demselben bekannt; aber er war ein Liebhaber solcher Leute und sehr verschwiegen, sonderbarlich seine Frau, die mit der alten Anna Maria vieles zu schaffen gehabt, sich auch hat brauchen lassen und sich unterstanden, da damals der Anna Maria ihr Sohn in Verhaft gekommen, und sich die Schultheißin viel Mühe gegeben, wie möchte zu helfen sein, aber dabei gemeldet, um wenig Geld helfe sie nicht dazu, aber wenn man ihr gebe was recht sei, so wolle sie es in Stand bringen, daß sie gewiß hindurchkommen.« Daß die Weiber, wenn sie einmal die Scheu überwunden haben, viel entschiedener als die Männer auf das Ziel losgehen, zeigen auch sonst noch manche Stellen dieser Denkwürdigkeiten, wie er denn von einer andern dieser Gelegenheitsmacherinnen[] sagt, sie sei eine solche schlimme Frau, daß er es selbst nicht genug beschreiben könne, und habe ihm manchen Seufzer ausgepreßt, weil sie einem keine Ruhe gelassen habe, bis man zum Stehlen fortgegangen sei. Bemerkenswert und ein Zeugnis für die schlechten Nahrungsverhältnisse ist, daß die Leute den Räubern beständig in den Ohren liegen, sie sollen ihnen doch Fleisch verschaffen; selbst in das Wirtshaus müssen sie, wenn sie dort nicht Mangel daran leiden wollen, gestohlene Hammel mitbringen. Die Enthüllungen umfassen einen beträchtlichen Teil von Süddeutschland, und beinahe in jedem der genannten Orte ist die Ortsbehörde in das Getriebe des Gaunerwesens mitverwickelt. »Was den Herrn Schultheißen anbelangt«, heißt es bei solchen Gelegenheiten, »so werden seine Umstände bald am Tag sein, wann man ihm sein Zollbuch abfordert, denn er hat mir ein Zollzeichen gegeben, damit ich soll richtig mit der gestohlenen Ware durchkommen, und in dem Zollbuch wird stehen der Name Joseph Klein oder Sigmund Hermann.« Andere Gemeindebehörden verhelfen den Räubern zu Pässen, mit welchen sie die Lande unangefochten durchziehen können. Da ist gar ein Bürgermeister »ein solch schlimmer Mann: wenn eine Streife ergangen, hat er die Räuber selbst in sein eigenes Bett hineingelegt, wie ich und meine Frau selbst einmal darinnen in der Verwahrung gewesen.« Es ergibt sich aus diesem allem, daß die Zeit für das Schwurgericht noch nicht reif war, weil auf der Anklagebank die Stehler und auf der Geschwornenbank die Hehler gesessen wären. Aber nicht bloß das Bürgertum [] bis zu seinen Vorstehern hinauf, sondern auch der Adel, der einen so großen Teil von Land und Leuten in unbedingter Abhängigkeit hielt, hat in einzelnen Mitgliedern, aus Furcht oder Vorteil, an der Begünstigung dieses Raubwesens teilgenommen. Will man aber vollends mit ganzem Maße messen, so muß man ferner nicht bloß das Gehenlassen der Regierungen, sondern auch den Zeitgeist selbst mit zur Anklage ziehen, dessen sonderbare Vorliebe für Erzählungen von Räuberabenteuern, dessen krankhaft zärtliche Teilnahme an den Helden derselben beweist, wie verkehrt und widerspruchsvoll der Geist des Menschen werden kann, wenn er dunkel spürt, daß seine Zeit in Haushalt und Menschenrecht nicht wohl bestellt ist. Diese Bildung schwelgte aasvogelartig in Lebensbeschreibungen berüchtigter Räuber und bald auch, da der Bedarf nicht zureichte, in erdichteten Räubergeschichten, deren wirkliches Erleben sie jeden Augenblick in Haus und Hof ernstlich zu befürchten hatte, und all dieser Angst zum Trotze stellte sie sich dennoch, sooft sie in ihren Romanen von einem Kampfe der Räuber mit den Dienern des Gesetzes las, auf die Seite der ersteren und bekannte hierdurch den Zwiespalt zwischen ihr und dem Gesetz; ja als endlich ein zum Höchsten berufener Dichtergeist seine Jugendkraft und seinen Jugendzorn über die Zeit, die er so erbärmlich fand, in die Gestalten jener Räuberwelt einkleidete, da jauchzte fast die ganze gebildete Welt auf und ging mit ihm unter die Räuber und Mörder, obwohl ein kurzes Nachdenken sie belehren konnte, daß nicht jeden Tag ein verbrecherischer Reichsgraf[] durch die böhmischen Wälder reist, um einen edlen Räuber als den Vollstrecker einer höheren Justiz zu ernähren, sondern daß dieser gar bald bei ehrlichen und unschuldigen Menschen mit List oder Gewalt sein tägliches Brot holen muß.
In diese Zeit, deren Sitte, Geist und Bildung sich so gänzlich vom Bestehenden nicht nur, sondern auch vom Rechten abgewendet hatte, daß nur eine große Völkerumwälzung die Welt wieder in das verlorene Geleise zurückbringen konnte, fielen die Enthüllungen des Ebersbacher Bürgersohnes wie ein Wetterschlag – nicht in die Lesewelt, denn sie blieben bei den Akten des Gerichts begraben und würden den modischen Lesehunger schlecht befriedigt haben, sondern in die »alerte« Welt des Verbrechens und in die schlaffe Welt des Gesetzes. Sie haben nicht von Grund aus die Gaunerei ausrotten, nicht von Grund aus die Redlichkeit im bürgerlichen Leben zu Kräften bringen können, aber sie haben ein Großes zur Herstellung der öffentlichen Sicherheit getan, und beinahe ein Menschen alter ist vergangen, bis wieder eine stärkere Bande zwischen dem Rhein und der Donau sich zu sammeln wagte. Die Geständnisse des Räubers gaben den Behörden nicht bloß die Mittel an die Hand, den ersten jener planmäßigen Schläge zu führen, welchen die von der Hehlerei unterstützte Gaunerei, wenigstens in der hochgefährlichen Gestalt, die sie um die Mitte des Jahrhunderts angenommen hatte, nach und nach erlag, sondern sie entdeckten ihnen auch gewisse Fachgeheimnisse des Räuberhandwerks, die sie instand setzten, ihre Angehörigen künftig[] zweckmäßiger zu schützen. Denn auch dieses Gewerbe hatte seinen Fortschritt und seine Erfindungen, und die Akten bewahren hievon Züge menschlichen Scharfsinns auf, an dem man sich ergötzen könnte, wenn er besser angewendet worden wäre. Es ist ein hartes Urteil, das man der Zeit nicht ersparen kann: dieser Mensch hat ihr dadurch, daß er schuldig geworden ist, unendlich mehr genützt, als wenn er in den Schranken des Gesetzes geblieben wäre. Die eigentümliche Art seines Verdienstes mahnt zur Vergleichung mit einem ähnlichen Verdienste, das sich ein Höhergestellter um die Zeit erwarb, der Graf Schenk von Castell, der, vom Eifer des Markgrafen von Durlach beseelt, auf eigene Hand in Süddeutschland umher und bis nach Graubünden und Italien hinabzog, um das Raubgesindel einzufangen, und den die Gauner um seiner Kühnheit und Strenge willen fürchteten, als ob er vom Teufel gefeit und gefestet wäre, so daß einst, als er allein im Walde ritt, ein Räuber einem anderen, der auf ihn angeschlagen hatte, zurief: »Laß, es ist der Graf von Castell!« und es nur eines Wortes von ihm bedurfte, um die beiden als Spürhunde in seinen Dienst zu ziehen. Es ist die Frage, wer mehr getan hat, die Wälder zu säubern und die Diebesherbergen auszufegen, der hohe Reichsgraf zu Dischingen oder der in den Staub getretene Metzgerknecht von Ebersbach. Ihm selbst wenigstens scheint sein unbesiegbares Selbstgefühl zugeflüstert zu haben, daß er in seinem Gefängnis eine nicht unwichtige Person geworden sei, und er braucht in seiner Aufzeichnung mitunter Ausdrücke gegen die [] Obrigkeit, wie sie ein Vorgesetzter sich gegen seine Untergebenen erlaubt. »Wiewohl ich weiß«, sagt er an einer Stelle, »daß viele Räuber gefangen zu Karlsruhe liegen, will ich nur desto eher zeigen, daß die Herren von Durlach oder Karlsruhe eine sehr liederliche Kenntnis Yon denselben haben, und es ihnen gewiß nicht geoffenbaret worden, wie ich es melden werde.« Dann nimmt er oft einen ganz befehlshaberischen Ton an. »Nur diese in Yerhaft genommen!« ruft er, wo von einer Frau die Rede ist, die er erschrocken und weichherzig im Gegensatze gegen ihre hartgesottene Familie nennt: »von ihr kann man alles herausbringen, wenn man derselben nur mit guten Worten begegnet.« »Nur gefragt, wo er den blauen Mantel hergenommen, den er habe!« kommandiert er gegen einen Hehler, der sich wahrscheinlich mit der Furcht vor den Räubern entschuldigen werde, was man ja nicht gelten lassen solle. Ein andermal schreibt er genau das Verfahren vor, durch welches man einen gaunerfreundlichen Wirt zum Geständnis zu bringen habe: »Man frage ihn auf Pflicht und Eid – wofern er etwas ableugne, so solle er gewißlich auf die Galeeren kondemniert werden – er solle redlich sagen, wie es mit dem Raub zugegangen, er solle sagen, woher er den Kattun, den er über sein Bett gezogen, genommen habe, er solle sagen, was für Sachen der Jude, der im Ort wohnt, in seinem Hause gekauft habe« u. dgl. mehr. Auch darf nicht verschwiegen werden, daß ihn an einigen Stellen die Liebe zum Leben mit vielleicht nicht ganz unbestimmten Hoffnungen beschlichen zu haben scheint. »Wann ich in [] das Amt komme, will ich die Dörfer schon melden«, sagt er an einer Stelle. Die Auslegung steht jedem frei. Gewiß aber schickt sich Verrat um höherer Zwecke willen am besten für den Sterbenden, der keinen Lohn mehr nehmen kann, und zum begnadigten Diebsfänger war wohl ein Konstanzer Hans, eine leichter angelegte lustige Haut, gut genug. – Die Volkssage behauptet, der »Karl Herzog«, wie sie ihn nennt, habe auf der Durchreise durch Vaihingen den vielbesprochenen Räuber sich und seinem Gefolge vorstellen lassen, wie sie auch versichert, daß dieser seinem Fürsten einst das Leben gerettet habe. Aber der alte Fürstenbrauch, wonach ein verfemter Mann, den sein Oberlehnsherr über Leben und Tod vor sich gelassen, das fürstliche Antlitz nicht unbegnadigt schauen durfte, war längst abgekommen, und der Herzog konnte damals auch nicht gnädiger gestimmt sein als zur Zeit der Schlacht von Fulda, denn er war mit seiner Landschaft in jenen verdrießlichen Streit geraten, der ihn als Beklagten vor den Richterstuhl des Kaisers stellte, und schon seit einem Jahre saß ihr ehrwürdiger Konsulent, in dem er den Verfasser ihrer mißliebigen Schriftsätze vermutete, ohne Urtel und Recht in summo squalore carceris, wie die landschaftliche Klagschrift sich ausdrückt, auf derselben Festung, wohin einst eine in verfassungsmäßiger Form ergangene hochfürstliche Resolution den nächtlichen Besucher des Ebersbacher Pfarrhauses »puncto furti tertia vice reiterati ad dies vitae gerechtest condemniret« hatte.
Daß bei der Aufzählung jener schmutzigen Biedermänner, [] die den Räuber seinen Hals wagen ließen und sich an ihm bereicherten, hie und da weltliche Anwandlungen den geistlichen Frieden seiner Seele trübten, geht aus manchen Stellen unleugbar hervor. »Wann eine christlich gesinnte Obrigkeit«, klagt er an einer dieser Stellen, »das Böse begehret abzustrafen und darinnen Ruhe zu schaffen, wann das Böse soll gedämpft werden, so muß man solche Leute zuerst angreifen. Denn ihr Zweck ist: stehlen, so daß ein mancher in solchen Orten noch zum Stehlen angetrieben wird. Denn der Räuber hat manchmal den wenigsten Nutzen vom Stehlen, weil er es solchen Leuten um einen wohlfeilen Preis geben muß und nichts daraus löset, und dieser, der es kauft, hat den besten Nutzen. Der Räuber kommt darauf in Verhaft, man nimmt ihm das Leben, er hat kaum die Hälfte genossen; der Käufer bleibt ein ehrlicher Mann und hat den besten Nutzen, und gedenket: ob der eine tot ist – ich habe noch viele an mir, die mir gestohlene Waren bringen. Solche Leute machen sich gar nichts daraus, ob sie schon die größte Anleitung dazu geben, wenn sie nur allezeit sicher stehenbleiben. Aber Gott der Allmächtige soll mein Zeuge sein, daß ich, soviel ich weiß, solche Leute nicht zu verschonen gedenke; denn von meinen jungen Jahren an bin ich in solche Häuser verleitet worden und zum Stehlen angetrieben, daß mein Verstand noch nicht so weit gereicht hätte, wenn man mich nicht dazu verleitet und angetrieben, und man mich nicht gleich in meiner blühenden Jugend in die verruchten Häuser eingezogen hätte. Mein ganzer Lebenslauf rührt davon [] her, bis in meinen Tod; ich kann nicht mit Ruhe absterben, bis ich mein Herz vor der Obrigkeit von solchen Leuten genugsam ausgeleert habe, damit doch das Böse recht gestraft wird. Man wird sich verwundern, wie lang daß solche Leute mit den Räubern zu tun gehabt, und wie viel Erhenkte ihnen bekannt, und wie viele dermalen noch am Leben, mit denen sie noch zu tun haben. Mit der Hilfe Gottes werde ich dieselben so überzeugen, daß sie sich nicht mehr verantworten können.«
Man wird dieser Klage, welche auch auf der Nachtseite der alten Gesellschaft – nach heutiger Weise gesprochen – die Arbeit vom Kapital unterdrückt zeigt, und aus welcher man die Verwünschungen der Verfasser jener Räuberromane über ihre Verleger widerklingen zu hören meint, ihre menschliche Berechtigung um so weniger absprechen, wenn man bedenkt, daß der Unglückliche aus seinem eigenen Beispiel sich die Aufforderung entnehmen mußte, so manchen andern, der auf Irrwegen wandelte, durch die Zerstörung dieser Diebsnester vor ähnlichem Verderben zu bewahren. Man wird zwar, seinen eigenen Worten zufolge, nicht ganz unbedingt gelten lassen, was er bei seinem Geschichtschreiber, dem Sohne des Oberamtmanns, über diese Angaben sagt: »Gott weiß, daß nicht der geringste Groll darunter verborgen liegt, wenn ich jemand entdecke; ich habe im Gegenteil viele von meinen Freunden, manche, die aus ihren Betten aufgestanden sind, um mich darin liegen zu lassen –, nur um das Böse zu verhindern, verraten; ich gestehe es, daß mir dieses selbst sehr wehe tut.«
[] Es kann kein Zweifel sein, daß diese Stimmung vor und nach dem Schreiben aufrichtig war; unter dem Schreiben selbst aber, haben wir gesehen, überkam ihn das Gefühl des leiblichen und geistigen Schadens, den ihm diese Leute getan, und war stärker als er. Ohne Rückhalt wird man jedoch glauben, was er hinzusetzt: »Wenn ich gedenke, daß dadurch ihre Kinder abgehalten werden, den bösen Exempeln ihrer Eltern zu folgen, daß so viele Unschuldige gerettet, daß manches Kind im Mutterleibe werde erhalten werden, so bin ich überzeugt, daß ich hieran recht getan habe.« – Um die Zeitbestimmung nicht mißzuverstehen, wenn er klagt, daß er von seinen jungen Jahren an in solche Häuser verleitet, in seiner blühenden Jugend in die verruchten Häuser eingezogen worden sei, muß man sich sagen, daß diese Jugend zu der Stunde, da er schrieb, noch blühte oder wenigstens nach menschlicher Berechnung hätte blühen sollen: denn er feierte seinen einunddreißigsten Geburtstag in dem Gefängnis zu Vaihingen. Die eigentlichen Diebsherbergen aber hat er nach seiner eigenen Angabe, wie sogleich die folgende Stelle zeigen wird, erst durch seine Verbindung mit der schwarzen Christine kennengelernt; und daß diese nicht früher als drei Jahre vor seiner Vaihinger Verhaftung angefangen hat, geht unwiderleglich aus den Akten hervor. Diese nicht einmal vollen drei Jahre müssen ihm somit, als er die Klage niederschrieb, in welcher er seine Jugend fern und längst vergangen sah, wie eine Ewigkeit erschienen sein. Wohl mag ihm auch eine Erinnerung an jenen Krämer in Rechberghausen vorgeschwebt haben, dessen [] Bekanntschaft für ihn jedoch nur eine Vorstufe zu der Leiter in den Abgrund war. Auch hat er diesen sowohl, als den Hof, auf welchen er der schwarzen Christine folgte, in seinen Enthüllungen genannt, ohne jedoch einen großen Verrat an der Freundschaft zu begehen, denn der gute Freund arbeitete bereits seit zwei Jahren, wie aus dem Amtsblatt vom 28. Februar 1758 hervorgeht, puncto furti, receptationis et celationis facinorosorum mit angehängter Kugel im Zuchthause. Bei diesem Anlasse muß noch hervorgehoben werden, daß durch die Enthüllungen des Verbrechers kein eigentlicher Landsmann desselben betroffen worden ist: denn die zuletzt Genannten gehörten ritterschaftlichem Gebiete an. Aus seiner Heimat hat er niemand verraten, als die Genossin seines Unglücks von Anfang an, die blonde Christine. Wenn hienach das damalige Herzogtum Württemberg, obgleich sein Zuchthaus stets gefüllt war, doch im Vergleiche mit den umliegenden Herrschaften und adeligen Besitzungen als der einzige gesunde Kern von Süddeutschland erscheint, so kann man dies, da die Nachbarn mit ihm das Christentum gemein hatten, nur dem Vorzuge zuschreiben, daß dieser Bruchteil des schwäbischen Volkes, wenn auch in sehr verkümmerter Gestalt, allein noch einen kleinen Rest von Freiheit und Selbstherrlichkeit besaß.
»Dermalen« – so schließt die merkwürdige Aufzeichnung – »soll nun die Obrigkeit betrachten, was ich in den kurzen etlichen Jahren schon an Aufenthalten gemeldet habe, und das wird unter den tausend Aufenthalten kaum ein Teil sein, was nämlich die, welche [] zeit- und taglebens schon mitlaufen, sagen könnten, wenn sie eine beständige Erkenntnis ablegen wollten. Ich sage an: wie es denn möglich sei, Schelmen oder Diebe zu fangen, wenn man nicht solche Aufenthalte zuerst ausrottet? Es gehet etwa ein Schreiben aus von den gnädigsten Herrschaften – so sind solche Leute da und machen es den Räubern zu wissen, oder verbergen sie selbst gar. Wie will man dieselben dann bekommen? Es ist keine Möglichkeit, wenn man solche Orte nicht verderbt; es entspringt der ganze Ursprung von Stehlen und Rauben aus solchen Häusern.
Nur um eine kleine Andeutung zu machen, wie mir's in denen Häusern selbst gepassieret ist: als meine erste Frau, die Christina Müllerin, in Verhaft gekommen, und mich diese Christina Schettingerin durch ihre liebliche Redensarten zu sich gezogen und mir die Gelegenheit und solche Aufenthalte gewiesen, die mir nicht bekannt waren, und wie ich nun von einem Haus in das andere gegangen, und zum ersten kam, sprach er:
›Hat Christina wieder geheiratet?‹ – Sie sprach: ›ja!‹
›Ist er aber auch ein so guter Räuber wie euer erster?‹ – Sie antwortete: ›ja!‹
Hätte sie gesagt: nein, so war ich schon nicht wohl daran gewesen. Sie sprach im Haus herum: er hat bald eine Sau geholet, bald ein Schaf, bald dies bald das.
›Er hat uns sehr viel Gutes getan, wenn ihr nur auch so gut werdet.‹ – Das eine sprach: ›ich bin heut über Feld gewesen, ich habe da und dort was von Tierfleisch gesehen; ich habe auch die Schäferpferche auf der Brache gesehen – holet das Fleisch oder holt ein [] Schaf, daß wir auch wieder Fleisch essen dürfen!‹ – ferner: ›habt ihr nichts Gestohlenes bei euch? Ich brauche was von Kleidern, mein Mann hat nichts und meine Kinder haben auch nichts; wir müssen gekleidet sein – machet, daß ihr was zu stehlen bekommet, und schaffet uns was an! Ich bin nicht weit über Feld hinausgekommen, sonst wollte ich euch etwas ausersehen haben, wo ihr was erwischen könntet, aber bis ihr wiederkommet, will ich was ausersehen!‹
Und so sind alle diese Aufenthalte. Eine manche Weibsperson, die auf dem Lande gehet, hat schon bis drei oder vier am Galgen; sie führet noch einen aus einem Dorf heraus, der nur ein Liebhaber des schönen Frauenzimmers ist; sie bringt ihn an solche Örter hin; er höret solche Reden; was dieses Mensch nicht Böses genug an ihm vollbringen könnte, das wird ihm da vollends eingepflanzt und er mit Gewalt zum Stehlen gereizet und gelocket.
Bei mir aber, da war schon ein kleines Fünklein zum Stehlen aufgegangen gewesen; aber bei einem solchen Menschen, die zeit- und taglebens nichts anderes getan, und in solchen Häusern, wo nichts als von Rauben und Stehlen geredet und täglich an einem gepflanzt und geschüret wird, da muß ein großes Feuer daraus werden, und nicht mehr nachlassen, bis er dem Henker unter die Hände fällt. Und so geht es mit einem manchen. Das sind die ärgsten Schelmen, die Aufenthalt geben, und sie bleiben doch ehrliche Leute, haben auch den größten Nutzen und Genuß, und der Kleine wird gehenkt und die Großen läßt man laufen – man fürchtet, sie möchten ausgerottet werden. [] Wann man aber einem Vogel das Nest nimmt, so kann er keine Junge mehr liegen oder ziehen.
29. Juli 1760.
Arrestant in Vaihingen:
Joh. Friedr. Schwan.«
Das gerichtliche Verfahren nahm unter dieser Zeit beständig seinen Gang, ja es wurde sehr beschleunigt, da man in Stuttgart fürchtete, der Seelenzustand des Gefangenen möchte nicht für die Dauer haltbar sein. Nach geschlossener Untersuchung trat jetzt eine andere Rechtsform ein, welche, in der Verfassung und im Tübinger Vertrage begründet, bei peinlichen oder sehr schweren Fällen, deren sich ein Landesangehöriger schuldig gemacht, angewendet wurde, und einen Schatten der alten selbstherrlichen Volksgerichtsbarkeit enthielt. Der in Stadt und Amt allmächtige Beamte, nachdem er an die Regierung berichtet und von ihr die nötigen Weisungen erhalten, verwandelte sich jetzt in einen bescheidenen Ankläger, der bei der Stadtgemeinde, die er sonst regierte, als Fiskal im Namen des Staates oder vielmehr des Herzogs gegen seinen Inquisiten Recht suchte. Als solcher mußte er den gewohnten Vorsitz in der obersten Gemeindebehörde, dem Gerichtskollegium, abtreten und mit der Gemeinde, an die jetzt der Gerichtsstab vorübergehend zurückgekommen war, erhielt auch ihr ursprünglicher Vorsteher, der Bürgermeister, ebenso vorübergehend seine alte Bedeutung wieder, indem er als Stabhalter den Vorsitz im Stadtgerichte übernahm. Dieses lud nun die beiden ungleichen Parteien vor und beraumte ihnen die Tagfahrt an. Da jedoch die[] »Dignität« des Beamten durch diese Stellung etwas gefährdet erscheinen mochte und er als Regent, Richter und oft auch Kellereibeamter des Bezirks, dazu als Hauptvorsteher der Bezirksstadt sich mit Recht auf seine vielen Amtsgeschäfte berufen konnte, so war es ihm gestattet, sein Klägeramt einem Rechtsanwalt aus der Zahl der beeidigten Hofgerichtsadvokaten zu übertragen. Dem gleichen verpflichteten und vorrechtlich befähigten Stande mußte auch der Verteidiger oder vielmehr Defensor angehören, den sich der Angeklagte wählen durfte, oder der ihm, wenn er von dieser Freiheit keinen Gebrauch machte, ex officio ernannt wurde. Am Rechts tage versammelte sich das peinliche Gericht im Gerichtssaale des Rathauses. Ein in der Gerichtstafel befestigtes bloßes Schwert, das aufrecht mit der Spitze nach oben stand, verkündigte, daß hier der Stab und seine Gewalt sich befinde. Oben an der Tafel saß der Stabhalter und neben ihm, in der Person des Stadtschreibers, der Gerichtsaktuarius, der das Protokoll führte, beide schwarz gekleidet. Die Gerichtsbeisitzer (aus deren Zahl der Oberamtmann bei der Untersuchung seine zwei Skabinen genommen) saßen innerhalb der Schranken auf ihren Sitzen, alle in schwarzen Mänteln. Vor den Schranken rechts hatte der Akkusator, links der Defensor seinen Platz. In der Mitte, vor dem Eingang der Schranken, war eine schwarz angestrichene Schranne aufgestellt. Der übrige Raum des Saales außerhalb der Schranken war den Zuschauern und Zuhörern überlassen. Der Stabhalter befahl dem Gerichtsdiener, den Angeklagten aus dem Gefängnis vorzuführen, was sofort unter[] guter polizeilicher Bedeckung geschah. Während dieses Ganges wurde auf dem Rathause das Malefiz-oder Armesünderglöcklein geläutet. Bei seiner Ankunft im Gerichtssaale wurde der Angeklagte in Fesseln auf die schwarze Schranne gesetzt. Der Stabhalter eröffnete die Verhandlung des akkusatorischen Prozesses mit einer kurzen Rede und forderte dann den Fiskal auf, die Anklage samt dem Petitum vorzutragen. Dieser verlas die Akkusationsschrift mit der hinsichtlich der Straferkennung an das Gericht gestellten Bitte. Dann wurde dem Defensor das Wort erteilt. Dieser bat zuvörderst das Gericht, den peinlich Beklagten seiner Fesseln zu entlassen, damit er auf freiem Fuße verteidigt werden könne. Der Stabhalter entsprach der Bitte und befahl dem Gerichtsdiener, dem Angeklagten die Fesseln abzunehmen, was außerhalb des Saales geschah. Dann wurde er wieder eingeführt und fesselfrei auf seine schwarze Schranne gesetzt. Er befand sich nun als Freier vor seinem eigentlichen Richter, aber alles dies nur scheinbar, denn der Angeklagte war mundtot und sein Urteil wurde ihm nicht von dem Richter geschöpft. Der Defensor las seine Defensionsschrift ab, welche ebenfalls vorher, auf Grund der Anklageschrift und etwaiger mit dem Gefangenen in Gegenwart zweier Skabinen gehaltenen gütlichen Verhöre, schriftlich gefertigt worden war. Nach Verlesung derselben gab der Akkusator seine mündliche Replik, und der Defensor duplizierte gleichfalls mündlich. Waren es, wie im vorliegenden Falle, mehrere Angeklagte, so traten auch mehrere Defensoren auf, um die Verhandlung noch schleppender zu machen [] Nach beendigter Akkusation und Defension eröffnete der Stabhalter namens des peinlichen Gerichts das ebenfalls im voraus fertige Interlokutorium, daß der Richter sich der Urtel Bedacht nehme und daß die sämtlichen Akten ad consulendum an die Juristenfakultät in Tübingen versendet werden sollen. Mit diesem Zwischenbescheide war die ganze leere Förmlichkeit der öffentlichen Rechtsverhandlung geschlossen, und der oder die Angeklagten wurden aus dem Saal entlassen, außen wieder gefesselt und in das Gefängnis zurückgeführt. Nunmehr wurden die Untersuchungsakten nebst den vom Ankläger und Verteidiger gewechselten Schriften und dem stadtgerichtlichen Protokoll über den kurzen mündlichen Rest der Verhandlung an die Juristenfakultät in Tübingen zur Erteilung eines rechtlichen Gutachtens eingesandt. Diese war somit, da es in der Regel bei ihrem Gutachten sein Verbleiben hatte, der eigentliche Richter, der die peinlichen Prozesse entschied. Sie sandte ihr Gutachten unter Wiederanschluß der Akten an das Stadtgericht zurück; aber auch jetzt waren diesem immer noch die Hände gebunden, und es mußte das gutachtliche Erkenntnis nebst den Akten der Regierung einschicken, welche es, mit ihrer Ansicht, dem Herzog zur Bestätigung oder begnadigenden Abänderung vorlegte. Wenn letztere eintrat oder der Spruch überhaupt nicht an das Leben ging, so hatte das peinliche Gericht mit dem Prozesse nichts mehr zu tun, sondern das Erkenntnis ging unmittelbar dem Oberamtmann zur Vollziehung zu. Erfolgte aber ein Todesurteil, so wurde dasselbe dem peinlichen Gerichte zugesendet [] und zugleich vorläufig dem Verurteilten im Gefängnis durch den Regierungsbeamten einige Tage vor der Exekution bei feierlicher Versammlung angekündigt. Zur Einführung in die christliche Heilsordnung war ihm gleich im Beginne seiner Gefangenschaft das zu diesem Behufe von einem Stuttgarter Stiftsoberhelfer verfertigte und laut allerhöchster Vorschrift vom 14. November 1753 durch den Buchbinder stark geleimte und dauerhaft gebundene Malefikantengebetbuch in die Hand gegeben worden. Am Tage der Hinrichtung wurde der zweite Rechtstag gehalten, bei welchem wieder die Gemeinde als Richter in ihr Amt eintrat. Die Mitglieder des peinlichen Gerichts erschienen schwarz gekleidet mit Degen an der Seite im Gerichtssaale, das Schwert war aufgepflanzt, der Verurteilte wurde unter dem Läuten des Malefizglöckleins vorgeführt, der Stabhalter, mit dem ganzen Gerichte sich erhebend, trat vor und eröffnete ihm das Todesurteil mit dem Beifügen, daß der Herzog die Bestätigung erteilt habe, brach den Stab mit den Worten: »Gott sei deiner armen Seele gnädig!« und übergab sodann den armen Sünder dem Regierungsbeamten, der die Vollstreckung zu leiten hatte.
Das Urteil, das die Juristenfakultät gefunden und der Herzog bestätigt hatte, verhängte über Friedrich Schwan die Todesstrafe in der schwersten Form, welche die Zeit kannte, und ohne alle Milderung. Christine Schettinger wurde zum Strang verurteilt. Die Magd, ein bitterarmes Geschöpf auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Rangordnung, dessen eigenmächtige Diebstähle sich auf zwei Hemden, [] einige Tischmesser und Zinnlöffel und eine Semmel beschränkten, und das dem Richter auf die Frage nach Stand und Beschäftigung geantwortet hatte: »Schwefelhölzlen und Tragbäusche machen, und bei Gott und guten Leuten mein Brot ehrlich suchen« – teilte das Schicksal der Frau. Den Knecht erreichte der Arm des Richters nicht: er war aus dem Vaihinger Gefängnis entflohen. Christine Müller wurde für ihre Teilnahme an einigen Diebstählen, noch mehr aber wegen ihrer Verbindung mit dem Erzbösewicht überhaupt, zur Ausstellung am Hochgerichte und hierauf zu erstehender vierjähriger Zuchthausstrafe verurteilt. Das Verhältnis beider Weiber zu dem Hauptangeklagten wurde im Urteil ausdrücklich als Unzucht bezeichnet. Über das Kind endlich, das Christine Schettinger im Gefängnis geboren, wurde verfügt, daß dasselbe bis zum zuchthausfähigen Alter von neun Jahren, das heißt, wie man es nicht anders deuten kann, bis zur Aufnahme unter die sogenannten freiwilligen Armen, auf öffentliche Kosten untergebracht werden solle.
»Schwan«, sagt sein Geschichtschreiber über die Verkündigung im Gefängnis, »hörte mit unveränderter Miene die schrecklichen Worte, keine Träne entfloß seinen Augen, kein unwilliger Seufzer seinem Munde. ›Wenn sie meine Beine in tausend Stücke zerstoßen‹, sagte er, ›so können sie mich doch nicht von meinem Heiland reißen.‹ Allein diese Ermannung, fügte er hinzu, habe ihn die ganze Anstrengung seiner Kräfte, den ganzen Schwung seiner Seele gekostet, und sobald diese nachließen, sei Furcht an die Stelle des Mutes getreten und er habe sich einige Stunden hernach beklagt, [] daß sein Tod doch immer sehr hart sei. Man wird ihm nicht zu nahe treten, wenn man vermutet, er habe von seiner so wirksam ausgedrückten Reue wo nicht Begnadigung, doch wenigstens Milderung der Todesart gehofft. Ob und was er über die Verurteilung seiner Mitangeklagten bemerkte, ist nicht aufgezeichnet; wenn er aber das Urteil über die Magd ins Auge faßte, so konnte er sich sagen, daß er aus einer Zeit von hinnen gehe, die des Christentums und Rechtsbewußtseins, dessen Mangel sie an ihren armen Sündern bestrafte, sich selbst nicht hoch berühmen durfte.«
Indessen fuhr er mit unveränderter Gesinnung in seinen Denkwürdigkeiten fort, die er an jenem Tage noch nicht beendigt hatte. Bald auch, sagt sein Geschichtschreiber, habe er sich selbst wegen seiner Zaghaftigkeit bestraft und seine vorige Stärke wieder erlangt, und den folgenden Tag habe er dem ihn gleich morgens besuchenden Geistlichen zugerufen: »Nur noch einen einzigen Tag bis zur Ewigkeit, und gottlob zur frohen Ewigkeit! Lange habe ich nicht so sanft geschlafen als in dieser Nacht.«
An diesem Tage erfolgte zwischen ihm und der schwarzen Christine ein Versöhnungsauftritt, den ihr gemeinschaftlicher Geschichtschreiber sehr rührend nennt. »Lange schon«, erzählt er in seiner Geschichte des Räubers, »waren Schwan und sein zweites Weib sehr gegeneinander erbittert, lange schon hatte die letztere ihn der Lieblosigkeit, der Lügen und der Verräterei beschuldigt, jetzt brannten sie beide vor Begierde, sich zu versöhnen und dann auf ewig voneinander [] Abschied zu nehmen. Es ward gestattet und sie wurden zusammengeführt. Voll innigster Bewegung fielen sie sich nun in die Arme, gaben sich dann die Hände mit gegenseitigem Versprechen, alle Mißhelligkeiten, die bisher unter ihnen entstanden, wechselsweise zu vergessen, und trösteten sich, daß sie morgen in dem Ort der Seligkeit wieder zusammenkommen würden. So freudig sich Schwan bezeugte, so versicherte doch sein Weib, daß sie ihn an Freudigkeit im Sterben noch übertreffen wolle, und so schieden, sie, sich Glück wünschend zum Kampf und Sieg, vergnügt voneinander.«
Aber die Wahrheit des Sprichworts, daß nicht alles Gold ist, was glänzt, bewährte sich auch hier wieder an der Frage, ob Christine ihm in seinen Himmel folgen würde, wie er mit ihr in die Hölle gegangen war. Denn in seiner »Geschichte einer Räuberin« beschreibt der Sohn des Oberamtmanns das Verhalten der Zigeunerin vollständig so: »Schrecken und Wut durchdrang sie, da sie ihr Todesurteil anhörte; sie stand eine Zeitlang starr vor Entsetzen, dann brach sie in die fürchterlichsten Flüche aus und wütete so lange, bis sich ihre Kräfte gänzlich erschöpft hatten. Man wird ohne Zweifel begierig sein, wie das boshafte Weib nun, da sie ihrer Laster überwiesen war und nichts als gewissen Tod zu erwarten hatte, sich betrug. Die katholischen sowohl, als die lutherischen Geistlichen suchten, jeder auf seine Art, Reue über ihre Verbrechen ihr beizubringen und sie auf bessere Wege zu führen. Schwan selbst gab sich die äußerste Mühe, und versuchte bald durch die zärtlichste Liebe, bald [] durch die heftigsten Drohungen sie zu bekehren; sie blieb gänzlich ungerührt. Auf alle Ermahnungen antwortete sie mit Vorwürfen, und verwünschte sich selbst und alle Menschen. Oft, wenn ihr der Geistliche vorhielt, daß sie mit diesen Gesinnungen gewiß zur Hölle verdammt würde, antwortete sie, daß es ihr gleichgültig sei, in den Himmel oder in die Hölle zu kommen, sie werde in beiden Kameraden finden. Oft freute sie sich sogar darauf, einst in der Hölle gequält zu werden, weil sie sich selbst Hoffnung mache, daß auch ihre Richter mit ihr gequält würden. Als man ihr das Beispiel ihrer Magd vorhielt, die sich sehr aufrichtig bekehrt hätte, so spottete sie darüber und schrieb ihre Bekehrung ihrer Dummheit zu, und als man ihr auch Schwans Beispiel vorstellte, so antwortete sie, daß Schwan das Leben besser genossen als sie, und also sie sich nicht mit ihm vergleichen lassen könne. Nur sie allein, fuhr sie fort, sei die unglücklichste aller Menschen, da sie, noch so fähig die Freuden der Welt zu genießen, ihnen schon entrissen werde. So verhielt sie sich mehrere Tage, aber auf einmal schien ihre ganze Seele verändert. Sie gestand, daß sie jene verzweiflungsvolle Sprache bloß angenommen, weil sie geglaubt, daß man sie nicht in ihren Sünden dahin sterben lassen werde. Sie bekannte alle ihre Fehler, bezeugte die herzlichste Reue und versprach, Schwan in der Freudigkeit beim Tode zu übertreffen. Auffallend war es dabei, daß sie sich gegen die lutherischen Geistlichen viel aufmerksamer als gegen die katholischen bezeugte, mit jenen viel williger und herzlicher betete und diesen sogar [] drohte, bei den lutherischen das Nachtmahl zu nehmen. Kurz, auch diese schnelle Bekehrung sollte bloß zum Mittel dienen, Mitleiden zu erwecken und ihr vielleicht das Leben zu retten. Aber auch dieser Kunstgriff half nichts, der Tag ihres Todes erschien, und nun zeigte sich bald, daß ihr letztes Betragen nur Verstellung gewesen. Sie fiel in plötzliche Ohnmacht, und erholte sich aus derselben nur, um in Wut gegen alle Menschen, und selbst gegen Schwan, der ihr Mut einzusprechen suchte, auszubrechen.« Dieses ihr wahres Gesicht behielt die Unglückliche, starr und wild, wie eine dem Volk der Ebene fremde Gebirgswelt, von nun an unverändert bis zum letzten Augenblick bei.
Ihr glücklicherer Genosse, der sein altes Kindesherz wiedergefunden hatte, um sich in diesen schweren Tagen daran aufzurichten, fühlte sich durch das Verlieren der kaum wiedergefundenen Geliebten in seinem Glücke schmerzlich gestört; allein ihm winkte nun der Pfad, den jeder Mensch für sich allein antreten muß, und er klammerte sich mit ganzer Kraft an den Stab, den er erwählt hatte, den ihm seine Kirche reichte. Er nahm das Abendmahl, von dem er einst, wie seine Heimatsbehörde von ihm aufgezeichnet, gesagt hatte, es solle ihm das Herz abstoßen, wenn er nicht Wort halte. Er war dabei aufs innigste gerührt und erklärte überhaupt diesen Vormittag, wie sein Geschichtschreiber erzählt, für einen der glücklichsten seines Lebens. »Ich kann nicht aussprechen«, so drückte er sich selbst hierüber aus, »welch einen glücklichen Vormittag ich heute gehabt habe. Mein Herz wallete vor Liebe zu meinem Heilande. Zu dem[] komme ich morgen, schon morgen. Morgen um zwölf Uhr aufs längste- bin ich bei ihm. Oh, wenn es doch nur schon morgen wäre!« Der Geistliche Krippendorff, der zugegen und durch die Äußerungen innigst bewegt worden war, rief voll Freude aus: »O Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?« »Gott sei Dank«, fiel Schwan ein, »der mir den Sieg geben wird, und schon gegeben hat.«
An diesem christlichen Heldentum, das die Geschichte in unschuldigen Märtyrern wie in reuigen Verbrechern tausendfach als unverfälschte Gesinnung aufgewiesen hat, soll niemand mäkeln. Wohl aber hat jedes Heldentum, nicht bloß für die gemeine Anschauung, die es niedriggesinnt in den Staub zu ziehen sucht, sondern auch für eine würdigere Betrachtung, die aber nicht anders als mit menschlichem Maße messen mag, seine menschliche Seite, und es kann der Menschenwürde des Bekehrten, den wir hier durch seine letzten Stunden begleiten, keinen Eintrag tun, wenn wir aus den Worten, die seinen Beichtvater beseligten, doch auch den menschlichen Seufzer heraushören, daß die scheußliche, auch ein frommes Herz mit den Krallen der Verzweiflung und der Hölle zerfleischende Marter, die in den ersten Frühstunden beginnen sollte, um die Zeit, wo glücklichere Menschen ihrem Schöpfer danken und seine Gaben genießen, doch hoffentlich überstanden sein werde.
Man fühlt sich unwillkürlich von seinem verwahrlosten, aber darum nicht minder lebendig grübelnden Verstande die Frage vorgelegt, warum denn die Menschen einem Mitmenschen, der eine solche Höhe geistlicher [] Vollkommenheit erreicht hat, daß sein Beichtvater darüber ein frommes Entzücken fühlt, in sein Leben einbrechen, eben jetzt, da er reif wäre, der so bedürftigen Menschenwelt die schönsten Früchte zu bringen. Und wenn man aus dem Munde dieses Beichtvaters antwortet, es stehe im Evangelium, daß, wer das Schwert ziehe, durch das Schwert umkommen müsse, so hört man ihn im Triumphe seiner Bibelfestigkeit entgegenhalten, das Evangelium spreche dies nicht als Vorschrift aus, sondern habe nur die jähzornigen Gemüter jener Zeit warnend darauf aufmerksam machen wollen, daß dies die bestehende jüdische Rechts- und Kirchenordnung sei. Oder wenn der Geistliche erwiderte, es geschehe, damit der bereuende Sünder in diesem Leben nicht mehr rückfällig werde, sondern drüben gleich zu noch höherer Vollkommenheit fortschreiten könne, so muß es dem grübelnden Verstande, den wir kennen und den das Evangelium nicht einschläfern konnte, weil es vielmehr die Geister weckt, schwer geworden sein, die Folgerung zu unterdrücken, daß man aus dem gleichen Grunde jeden Gerechten zeitig vom Leben zum Tode bringen müsse, damit er nicht, als ein Mensch, aus dem Stande der Gerechtigkeit falle. Da jedoch über die Äußerungen oder Gespräche dieser Art sich nichts angemerkt findet, so kann man auch schließen, er habe das Abscheiden aus einem solchen Leben und einer solchen Zeit, nicht bloß im geistlichen, sondern selbst im weltlichen Sinne des Wortes, für einen so großen Gewinn gehalten, daß er über den weltlichen Preis desselben kein Wort verloren habe.
[] »Den Nachmittag«, erzählt sein Geschichtschreiber nach dem Auftritte zwischen ihm und dem Geistlichen weiter, »verlor sich zwar diese Freudigkeit ziemlich, weil ihn, wie er selbst sagte, die zu große Menge von geistlichen Zusprächen betrübt und zerstreut hatte; doch kehrte sie abends wieder zurück. Endlich erschien der letzte Tag. Morgens früh um fünf Uhr kam Krippendorff zu ihm und traf ihn im Gebet an. Er sah frisch und munter aus; dennoch hielt er, weil seine Seele nicht so hochgeschwungen und furchtlos wie gestern war, sich selbst für verstockt, ein Gefühl, welches jedoch durch Hilfe des Gebets sich bald wieder verlor.«
So erfuhr auch dieser Geist, was jeder Geist in seinem Ringen nach Klarheit erfährt, daß die Seele den gewaltsam ergriffenen Besitz nicht ungestört festzuhalten vermag, daß ihr die Stunden räuberisch in das Gut einbrechen, das sie schon sicher geborgen zu haben glaubte. Denn die Seele des Menschen rollt beweglich mit seiner großen Mutter dahin, die, wie uns die Himmelskundigen in ihrer Sprache gelehrt haben, in beständiger Revolution begriffen ist. Sie faßt, im Gebiet des Geistes umherspürend, einen Gedanken, eine Wahrheit, eine Erkenntnis, die ihr plötzlich in blendendem Licht auftaucht, und will in alle Welt hineinjubeln, jetzt sei die Wurzel gefunden, die alles Verschlossene aufsprengen, alles Kranke heilen müsse. Aber die Stunden bringen und nehmen. Andere Erkenntnisse, andere Wahrheiten oder Irrtümer drängen sich in die Seele ein und verdunkeln das erste Licht, und was die Seele festzuhalten [] glaubte, das wird ihr so blaß und farblos, daß sie sich ermattet, bangend, zweifelnd davon abwendet. Wieder erscheint jene geistige Gestalt vom Lichte der Erleuchtung begleitet, sie zeigt sich der Seele von einer neuen Seite, und die Hoffnung, der Glaube an die Sicherheit des Besitzes wächst. Aber Licht und Schatten wechseln, die Sehnsucht wird zur wilden Glut, die das reine Licht der wahrheitsuchenden Seele mit Qualm umdüstert, und so, zwischen Licht und Schatten, zwischen Glauben und Zweifel, zwischen Höhe und Tiefe dahinschwebend, gelangt die Seele unter immer neuen Erleuchtungen zu der Überzeugung, daß das erste Licht das richtige gewesen sei, zur Gewißheit, daß die reine Wahrheit darin wohne. Aber die Überzeugung des Menschen, besonders wenn er sie mit Heftigkeit ergriffen hat, wäre für ihn selbst nicht echt, wenn er sie seinen Brüdern vorenthielte; denn weit leichter als seine Herzens- oder Vorratskammer tut er ihnen die Schatzkammer seines Wissens oder Glaubens auf. Aber seine Brüder haben dasselbe erlebt wie er, auch ihnen sind Lichter aufgegangen, auch sie sind zu Gewißheiten und Überzeugungen gekommen. Dann geraten die Geister aneinander: der Mann des Wissens stößt den Glauben des Frommen zurück, und der Mann des Glaubens erschrickt vor der Überzeugung des Denkers; ja, unter den Gläubigen selbst, und bis in ihre engsten Kreise hinein, ist Unterschied und Zwiespalt, weil keiner die gemeinsame Wahrheit, zu der sie sich bekennen, ganz im Lichte des anderen schauen kann. Dieser Kampf der Geister verwundet das Herz, das die ganze Welt [] in Frieden wissen möchte, aber das Herz kann den Menschen nicht allein leiten, denn es würde ihn jeder herben Schule, die ihm nötig ist, entziehen. Der Kampf der Geister ist gut, auch wenn er schmerzt: denn der Geist der Menschheit, nicht ihrer bevorzugten Kinder nur, ist zur Erkenntnis berufen, und die Arbeit der Geister wird der Welt eine Erkenntnis bringen, so hoch und tief, daß der stolzeste Geist sie nicht durchfliegen, so reich, daß der mannigfaltigste Geist nicht an ihr erlahmen, so klar, daß der nüchternste Verstand sie nicht antasten, so einfach, daß die kindlichste Seele sie erfassen, und so rein, daß das fromme Herz in ihr seine Wohnstätte finden kann. In der Schule dieser Erkenntnis wird Friede und Kampf, Ruhe und Bewegung vereinigt sein. Darum meiden wir den Kampf der Geister nicht, wenn er auch die Lebenden durch Nacht und Wunden zu diesem Ziele führt! Aber den Sterbenden wird kein guter oder weiser Mensch durch die Menge seines Zuspruchs betrüben und zerstreuen, weder der Denker den Gläubigen, noch der Fromme den, der nicht in der Form des Glaubens denkt: denn der Sterbende muß mit seinem Herzen Zwiesprache halten, dessen Schläge ihn im Laufe der Stunden beseligt und verwundet haben, bis der letzte die fliehende Zeit für ihn stille stehen heißt. Tragt ihn sanft aus der Schlacht, fernab vom Staube und Gewühl der Kämpfenden, daß er am Rande des Hügels durch die Abendröte der Gegenwart hinausschaue in das Morgenrot der Zukunft, für die wir kämpfen. Für ihn verstummt der Zank der Meinungen und der Vorwurf der Einseitigkeit: er [] fällt ab von dem unvollkommenen Leben seiner Zeit und geht über zu dem großen Heere der Vollendeten, die im Frieden ruhen.
Am Tage vor dem letzten hatte der Sterbende sein weltliches Vermächtnis für die Obrigkeit zu Ende geschrieben. Kein Lohn, nicht einmal mehr der arme Trost einer Linderung winkte ihm, als er es hinterließ, und hierin liegt die Bürgschaft, daß ihn, wenn auch unter menschlichen Schwächen, die reine Absicht leitete, die Jugend künftiger Tage vor seinem Lose zu bewahren. Seine Blätter enthalten nichts von seiner inneren Lebensführung, nichts von dem Gange seiner Seele durch die Stürme des Lebens, aus Tag in Nacht; denn dies war kein Gegenstand für seine Obrigkeit. Wohl aber darf die Nachwelt, die sich an der Geschichte eines rohen Mannes aus dem Volke oft besser belehren könnte als an verwickelten Staats- und Fürstengeschichten, wohl darf sie den Pfarrer seiner Heimat anklagen, daß er, dem die Pflege der Geister vertraut war, keine Chronik seiner Gemeinde, keine Aufzeichnung über den Lebensgang des Jünglings hinterlassen hat, der nach dem Zeugnis befähigter Zeitgenossen außerordentliche Gaben des Geistes und Herzens besaß, keine Rechtfertigung der mit mehr als väterlicher Gewalt ausgerüsteten geistlichen und weltlichen Behörde, wie es kommen konnte, daß ein solcher Mensch aus dem Schöße der Gesellschaft heraus, so tief in Elend, Verbrechen, Schmach und jede Erniedrigung der Seele stürzte. Und doch hat jener Pfarrer sein ganzes Lebensschicksal mit angesehen und hat ihn lange überlebt. Er fand nichts aufzuzeichnen[] nötig als die karge, schauerliche Randbemerkung, die er auf einem Blatte des Taufbuches, wo der Name des am 4. Juni 1729 geborenen Kindes Friedrich Schwan nebst den Namen seiner Eltern und Taufpaten eingetragen ist, mit roter Tinte hinzugeschrieben hat: »Wurde den 30. Juli 1760 zu Vaihingen lebendig auf das Rad gelegt. Gott sei seiner armen Seele gnädig!«
Das war die Todesstrafe, die ein christlicher Staat unter dem Beistande einer christlichen Kirche an einem Menschenbilde, das sie Gottes Ebenbild nannten, vollzog, indem er sich für so arm an leiblichen und geistigen Mitteln bekannte, daß er mit einem, wenn auch noch so tief gefallenen Menschen nichts Menschlicheres, nichts Christlicheres zu tun wußte, als ihm das Leben zu rauben, und für so beschränkt in Menschenkenntnis, daß er meinte, durch eine recht ausgesuchte grausame Strafe werde er andere vom Wege des Verbrechens abschrecken. Und doch hätte gerade dieser ihn vor tausend anderen belehren können, wie irrig eine solche Voraussetzung ist. Er war vor anderen mit Verstand begabt, um sich zu sagen, wohin sein Leben zuletzt führen müsse, und wenn er es je vergessen hätte, so sagten es ihm seine schrecklichen Genossen, die sich täglich auf den Gedanken an ein solches Ende einübten, verkleidet den Hinrichtungen beiwohnten, einander den Hergang bei denselben beschrieben und bei ihren Gelagen sich gegenseitig einen leichten Tod zutranken. Nicht einmal sein Mut machte ihn zu einer Ausnahme, an der die Abschreckung verloren war, denn sein Geschichtschreiber [] sagt ausdrücklich von ihm, bei aller natürlichen Herzhaftigkeit habe er sich durch diese abschreckenden Gewohnheiten so erschüttert gefühlt, daß er gänzlich unfähig gewesen sei, dieselben mitzumachen; und man kann überhaupt sagen, daß auch die Feigheit nicht hinlänglich abschreckend wirkt, denn die Gerichtsverhandlungen zeigen feige Verbrecher genug. So hat also weder sein Verstand noch die Abschreckung selbst, die bei ihm nicht verloren war, ihn von dem finsteren Pfade abgeschreckt, hat weder seine zwar rohe, aber zur Erkenntnis von Gut und Böse, von Wohl und Übel, völlig genügende Bildung, noch die vorsorgende Liebe der Gesellschaft ihn vor diesem fürchterlichen Ende bewahrt. Es gibt keine andere Milderung für seine Todesart, keine andere Beschwichtigung für das empörte Gemüt, als sich zu sagen, daß das Jahrhundert seitdem seine Speichen beinahe völlig umgewälzt hat, daß jene Mittagsstunde, um die er vollendet zu haben hoffte, längst vorüber ist, daß jene arme kranke Zeit ein besseres Jahrhundert, reicher an Geist und Herz und Erkenntnissen, geboren hat. Ja, so vieles wir an unserer Zeit mit Recht verwerfen, wir können ihr das Zeugnis nicht versagen, daß ein Mensch wie dieser besser von ihr durch das Leben getragen worden wäre, daß er keinen Pfarrer, Amtmann und Vogt getroffen hätte, die seine blühende Jugend fast gewaltsam unter die Räuber stießen, daß, wenn ihm auch der Lieblingswunsch seines jungen Herzens versagt geblieben wäre, das Leben ihm Befriedigung für sein Gemüt, für seinen Geist, für seine Fähigkeiten nicht so ganz versagt [] haben würde, wie die dürre Wüste, mit der ihn seine Zeit umgab. Wohl ist noch eine schwere Arbeit zu vollbringen, bis unsere Zeit aus dem dunklen Mutterschoße jenes Jahrhunderts, worin sie mit ihren Tugenden und Fehlern, mit ihren Wahrheiten und Irrtümern wurzelt, losgerungen ist, und darum kämpfen wir. Aber die Sonne, wie sie von Osten nach Westen wandelt, sieht das Volk in der Mitte zwischen Ost und West täglich mehr im stillen Ringen nach Licht und Recht begriffen, und sie wird die Mühe seiner Geister nicht verloren finden, wenn sie oft auch tief wie Grubenmänner in die Schachte unsrer Geschichte, unsrer Sprache, unsrer Dichtung sich zu verlieren scheinen, von wo dieses Licht und Recht am reinsten zu holen und nach dem Maße des heutigen Tages zu verteilen ist. Denn jetzt gilt es sich selbst zu verstehen in der allgemeinen Bewegung, die schon mit wachsendem Getöse an die Pforten noch immer so vieler Schläfer pocht. Die Bewegung, die aus einem Teil des Westens kam, hat uns verwirren müssen, denn sie bot uns Eigenes mit Fremdem gemischt. Die Bewegung, die sich aus einem Teil des Ostens ankündigt, wird uns aufklären helfen, denn man lernt sich besser selbst erkennen in einem Spiegel, der uns gar keine Ähnlichkeit zeigt, sondern ein wildfremdes Gesicht. Dann wird der Kampf auch nicht mehr verwandte Geister trennen, nicht mehr durch das einzelne Menschenherz selbst hindurchgehen: die Scheidung zwischen dem Wahren und dem Falschen, zwischen dem Guten und dem Bösen wird leichter sein. Wer aus der allgemeinen Betrachtung, zu welcher [] jeder Tag so vielen Anlaß gibt, zu der hier erzählten Volksgeschichte zurückkehrt und vielleicht einmal, zufällig das freundliche Filstal hinaufwandernd, nach ihren Spuren fragt, der kann sich die Mühe und den Staub der Akten ersparen, denn er findet in der Erzählung jeden Zug, der aufbewahrt geblieben ist. Und dennoch möge er nicht eine buchstäblich wahre Geschichte in ihr suchen. Denn der geschichtliche Buchstabe ist unwahr, solange nicht der Geist ihn lebendig macht und in das gebrochene rückstrahlende Licht des Gleichnisses stellt. Selbst das alte Wirtshaus zur Sonne wird der Wanderer vergebens suchen, und da ein solches Haus mit stattlichem Giebel nicht so leicht aus der Reihe der Gegenstände verschwindet, so mag er vermuten, daß er das Ebersbach dieser Volksgeschichte anderswo zu suchen habe. Darin hat er auch gewissermaßen recht: der Flecken, der eine begabte Jugendkraft nicht zu ihrer Entfaltung kommen ließ, erstreckte sich noch vor weit kürzerer Zeit als vor hundert Jahren über ganz Deutschland und besonders über den Süden desselben, und der Berg unseres alten Reiches mit seinem öden Gipfel wurde viel weiter im Umkreise gesehen als er zwischen der Rems und Fils in die Landschaft ragt. Der Erzähler, der aus Erfahrung weiß, daß alte Häuser nicht so schnell verschwinden und daß alte Wahrzeichen von einer neuen Zeit nicht so leicht auszurotten sind, hat in einem freundlichen Gasthause eines ansehnlichen Fleckens in jener Gegend, wo man die alte ›Sonne‹ mit vielen Laternen nicht finden würde, ein übriggebliebenes Wahrzeichen von ihr entdeckt. Aber er wird [] seinen Fund hier nicht verraten; denn der Beobachter ist nicht überall angenehm, und der Knabe, der nicht weit davon im Zimmer an einem Tische, worauf eine Rute lag, seine Aufgabe lernte, behauptete, das Rütlein sei nicht für ihn. Angelegenheiten eines einzelnen Hauses, die das öffentliche Recht und Wohl nichts angehen, muß man beruhen lassen. Der Besitzer des Hauses, der nicht Schwan heißt, sondern einen anderen guten Namen führt, ohne sich jedoch des armen Friedrich Schwan zu schämen, mag dem Wanderer von der alten ›Sonne‹ selbst erzählen, soviel ihm beliebt. Daß der Schild des Hauses geändert wurde, ist schon lange her, wohl fünfzig Jahre, und fällt dem damaligen Besitzer nicht einmal zur Last. Denke man sich, er habe vielleicht einen Sohn gehabt, den der Volkswitz – man weiß, wie die Leute sind und wie sie gar in früherer Zeit waren – nach jenem berüchtigt gewordenen Namen den »Sonnenwirtle« hieß: bei dem besten Bewußtsein des Sohnes und der Eltern konnte die Bezeichnung, wie sie nun einmal für den Flecken klang, der keine Ehrenkrone darin zu sehen gewohnt war, auf die Länge so unleidlich werden, daß man lieber den Namen des Hauses änderte. Eine beschränkte Umgebung hindert ja auch den Unbefangensten, das Leben frei anzuschauen und frisch hineinzugreifen. In kleinen Verhältnissen ist dies nicht so leicht zu ändern. Ein Volk aber soll seine Wahrzeichen nicht wegwerfen, und ein Wahrzeichen ist ihm nicht bloß sein Liebling, auf den es stolz ist, ein Wahrzeichen ist ihm auch der Verbrecher, dessen es sich schämt. Wir mögen ihn verwünschen und verfluchen, [] wir mögen ihn aus der Gesellschaft und aus dem Lande stoßen, wir mögen ihn in der Gruft des lebenslangen Kerkers begraben oder mit der Maschine töten, die uns ein wenig von der Bildung und noch, mehr von der selbsttätigeren Kraft unserer Vorfahren unterscheidet – eines können wir ihm nicht nehmen, ein Gepräge können wir nicht an ihm vernichten. Wir müssen bekennen:
Er war unser.
Noch einmal den Vorhang auf und nun das letzte Bild.
39
Rein und tiefblau, wie er nur in den Mittsommertagen ist, wölbte sich der Morgenhimmel über der alten winkeligen Stadt. Die Sonne brannte schon in den ersten Morgenstunden und verkündigte einen heißen Tag. Auf dem Marktplatz vor dem Rathause stand die Menge dicht gedrängt, in gedankenloser Neugier ein trauriges Schauspiel erwartend, das ihr Ersatz für die geistigen Bedürfnisse bieten sollte, die sie durch die sonntägliche Predigt und durch die spärlichen bürgerlichen Vorkommnisse nicht zureichend befriedigt fühlte. Sie konnte nicht nach ihrer Weise hin und her wogen, denn es waren ihrer zu viele, die in festgekeilter Masse geduldig ausharren mußten und nach den Rathausfenstern emporsahen. Endlich glaubte man an den Fenstern eine Bewegung wahrzunehmen, und die Bewegung teilte sich alsbald der Menge mit, [] die nach der Türe des Rathauses drängte. Ein Bürger, der den Zuschauern im Saale droben vorausgeeilt war, stürzte heraus. »Es wird gleich angehen«, antwortete er auf die Fragen der vordersten, die ihn bestürmten: »aber das ist ein Mensch! Ihr hättet ihn sehen sollen, wie man ihm das Urteil vorgelesen hat. Alles hat gezittert, das ganze Gericht ist erblaßt, nur er ist allein ruhig und unerschrocken dagestanden, und wie's im Urteil geheißen hat: der Erzböswicht! hat er mit lauter Stimme und lächelnd gesagt: ›Der bin ich gewesen.‹«
Eine noch stärkere Bewegung kam unter die Menge, welche das Geräusch der Kommenden aus dem Innern des Rathauses vernahm. Sie wich zurück, denn die ersten, die herauskamen, waren Gerichtsdiener, die sie barsch und grob auf die Seite trieben. Auf diese folgte, von Wachen umgeben, gefesselt und gebunden, der arme Sünder, der aber nicht wie ein solcher aussah. Sein Gang war ruhig, wie der eines Bürgers, der seinen Geschäften nachgeht, seine Haltung aufrecht, aber nicht gezwungen, und nur die Blässe seines Angesichts und der eigentümliche Glanz seiner Augen verriet, daß etwas in ihm vorging, wovon die Menschenmenge, die ihn neugierig betrachtete, nach ihrer Art kaum eine Ahnung haben mochte. Fest und kühn blickte er in die Augen der Kopf an Kopf geschichteten Menschen, durch deren Reihen er den letzten düstern Weg zur Freiheit gehen sollte. Er blieb stehen, um seine Schicksalsgenossen zu erwarten.
Wiederum machte sich ein Geräusch von der inneren Rathaustreppe vernehmlich, und die Blicke der Menschen ließen von ihm ab, um über die neue Beute, die [] für die Schaulust kommen sollte, herzufallen. Es dauerte lange, und die Ungeduld wuchs immer stärker an. Endlich drängte es sich heraus, und zugleich gab sich die Ursache zu erkennen, die das Schauspiel so lange verzögert hatte. Es war die Zigeunerin, die um ihr Leben kämpfte. Obgleich ihre Hände gebunden waren, so stieß sie doch die Schergen einmal über das andere zurück, suchte in das Rathaus zurückzukommen, als ob dieses ihr Schutz gewähren könnte, und noch unter der Türe stemmte sie sich mit den Ellenbogen an den Pfosten an. Sie wurde aber immer wieder ergriffen und endlich herausgebracht.
»Christine!« rief Friedrich, dem bei dem jammerwürdigen Anblick das Herz blutete, obgleich er Anlaß genug hatte, jetzt nur noch an sich selbst zu denken: »Christine, klammere dich nicht so fest an diese schnöde Welt! Wende dein Herz dem Himmel zu, der dir allein noch helfen kann!«
Sie fuhr zurück und sah ihn mit einem Blicke an, für den es nur dann eine Vergleichung gäbe, wenn irgendwo in der Welt, wie im menschlichen Herzen, wo die unmittelbarsten Gegensätze nebeneinander wohnen, glühendes Eis zu finden wäre. »Verräter!« sagte sie, »finde du dich mit deinem Himmel ab, wie du dich mit der Welt abgefunden hast. Ich hab dich geliebt und alles für dich getan, und das ist nun mein Lohn! Wenn ich's nur gewiß wüßte, ob du in den Himmel oder in die Hölle kommst! Sieh mich nicht so an mit deinen Augen – ich wär schwach genug, dir zu folgen, aber ich kann es nicht! Meine Mutter hat sich im Gefängnis erhängt aus Verzweiflung über das[] Schicksal, das du mir bereitet hast, mir, der Mutter deines Kindes! Mein armes, armes Kindl Aber es wird mich nicht lang überleben, ich weiß, es hat den Tod in sich, es wird dieser dürren lutherischen Welt nicht in die Hände fallen. Schweig still! ich kann nicht mit dir gehen. Die Unsrigen speien deinen Namen an, jede ehrliche Seele zwischen dem Rhein und der Donau verflucht dich, dein Name wird der sprichwörtliche Name eines Verräters werden –«
Auf einen Wink des Oberamtmannes, der indessen aus dem Rathause getreten war, rissen sie die Henker herum.
Sie wehrte sich. »Ist denn kein Pardon da?« rief sie.
Der Oberamtmann gab keine Antwort. »Nein!« rief ein Henker.
»Wer hat denn nun recht?« rief sie. »Der eine sagt so, der andere anders.« Ihr Auge bohrte in die Menge hinein, ob dort nicht befreundete Hände bereit seien, sie zu retten. »Ist denn kein katholischer Christ da?« rief sie unter das Volk. »Wenn einer da ist, so gebe er mir doch ein Zeichen.«
Niemand gab ein Zeichen. Sie sank halb zusammen, und die braune Farbe ihres Gesichtes wurde immer gelber. Noch einmal raffte sie sich empor, um mit der Wut einer Tigerin, die ihre Freiheit und ihr Leben nicht freiwillig hergibt, eine Kraftanstrengung zumachen.
»Fort!« befahl der Oberamtmann, während man ihm sein Pferd vorführte, hinter welchem die städtischen Richter in ihren schwarzen Mänteln, vom Zwange ihrer Amtswürde befreit, geschwind vorüberschlüpften, [] um auf dem Hauptschauplatze vor der Stadt noch zu rechter Zeit den ihnen vorbehaltenen Standort einzunehmen.
Die Henker griffen kräftig zu und eröffneten den Zug mit ihr. Sie warf noch einen Blick auf ihren Todesgefährten und wurde mehr geschleppt und getragen als davongeführt.
»Bitterer Kelch, geh vorüber!« sagte er, in den Boden starrend.
»Frieder!« rief eine sanfte Stimme neben ihm.
Er blickte auf und sah die blonde Christine, die den Zug beschließen sollte.
Die ganze Liebe seiner Jugend wallte in seinem Herzen auf. »Meine Christine!« rief er: »hast du mir auch gewiß verziehen?«
»Von ganzem Herzen und von ganzer Seel«, antwortete sie, »und ich hoff gewiß, daß wir einmal in einer schöneren Welt wieder zusammenkommen, wo uns nichts mehr trennen wird. Sag mir auch noch einmal, daß du mir verzeihst.«
»Soll ich dir verzeihen, daß du mich lieb gehabt hast? Was hab ich dir denn außer Kleinigkeiten zu verzeihen? Die sind alle längst vergeben.«
»Kannst noch etwas von der Welt hören?«
»Von unseren Kindern?«
»Ja. Die beiden jüngsten nimmt die Magdalene, die deinem Vater Haus gehalten hat, in ihren neuen Ehstand mit. Sie heiratet den Müller, weißt, den Georg. Sie haben ja beide früher ein Aug aufeinander gehabt, aber es hat nicht sein mögen, und keinem von beiden ist's gut gangen in der Eh. Jetzt sind sie beide [] frei. Den Friederle haben sie auch nehmen wollen, aber dein Vater gibt ihn nicht her. Er sagt, er sei so einsam in seinem Alter, und es sei so ein aufgeweckter Bub.«
»Und du?«
»Wenn ich's überleb, so soll ich deinem Vater Haus halten, und wenn's der alt Mann nimmer so lang macht, so will mich die Magdalene auch zu sich nehmen.«
»Nun sterb ich gern!« rief er, »nun weiß ich doch dich und die Kinder versorgt. Sag meinem Vater oder tu ihm's zu wissen, ich laß ihn viel tausendmal grüßen und um Gottes willen bitten, er solle dem Buben doch streng sein. Auch den Georg und die Magdalene laß ich grüßen, aber sie sollen darüber wachen, daß der Großvater nicht zu viel in den Buben hineinsieht. Siehst du die vielen Ebersbacher, Christine?« unterbrach er sich. »Sie sind heut herbeigeströmt, wie da mals zu unserer Proklamation.«
»Und auch ich, auch ich soll zusehen!« rief sie. Sie schlug die freigelassenen Hände vor das Gesicht und begann krampfhaft zu schluchzen.
»Brich mir das Herz nicht vor der Zeit!« gebot er ihr. »Sei stark, Christine, und denke daran, daß die Trübsal zeitlich und die Freude ewig ist.«
Sie nahm die Hände von dem Gesicht und machte eine Bewegung, ihm um den Hals zu fallen. Die Stadtknechte traten dazwischen.
Friedrich suchte das Auge des Oberamtmanns, der sich an dem Zeuge seines Pferdes zu schaffen machte, um die flüchtige Zeitspanne dieser letzten Unterredung [] zu verlängern. Der Oberamtmann verstand den Blick: »Gebt einander die Hände«, sagte er und wendete die Augen, in welchen verräterische Tränen blinkten, nach einer andern Seite.
»Und nun vorwärts in Gottes Namen!« rief Friedrich, als es geschehen war.
Auch er sollte den Weg nicht gehend zurücklegen, denn für ihn als einen Hauptverbrecher stand die Schleife bereit. Er legte sich, und der Henker band ihn an. »Nun, der ist barmherzig«, sagte er. »Er hätte mich härter binden können – er erspart mir doch einige Schmerzen. Selig sind die Barmherzigen.«
Der Zug setzte sich in Bewegung über den Marktplatz. Das Opfer des Verbrechens und des Gesetzes blickte mit seinen hellen Augen in die Menge, welche der Zug durchschnitt, und lächelte da und dort einem bekannten Gesichte zu. Dann erhob er die Augen und blickte still in den blauen Himmel hinein, bis die zusammentretenden Häuser und die mit Menschen besetzten Fenster der schmalen Straße, in welche der Zug einlenkte, ihn daran verhinderten. Ein menschliches Geschrei, oder vielmehr ein Geheul, schlug an sein Ohr. Er wußte, was es bedeutete, und sein Auge ward düster. Als er die Stelle erreichte, von wo der Ton zu vernehmen gewesen war, blickte er an einem Hause empor, wo die Leute mit einem in das Tragkissen gehüllten Kinde am Fenster standen. Es war sein Kind, das hier untergebracht war, und der Schrei von vorhin war der letzte Schrei des Mutterherzens gewesen, das der verkümmernden kleinen Menschenpflanze jetzt entrissen werden sollte. Er blickte mit [] inniger Rührung zu dem Kinde empor, rief ihm tausend Liebkosungen zu und segnete es.
Die Fahrt ging langsam weiter durch die endlos lange Straße, die er in vergeblichem Jagen durchritten hatte, und immer durch Massen von Menschen hindurch, die sich zu beiden Seiten drängten oder aus den Fenstern sahen. Endlich, wie nach Verfluß einer Ewigkeit, war das Tor erreicht, wo er gefangengenommen worden war. Er lächelte, da er es sah, und pries es gegen seine Begleiter als den glücklichsten Ort, den er in seinem Leben betreten, da hier seine Rettung aus Nacht und Grausen begonnen habe.
Der Zug ging durch das Tor, und jetzt sah man die außerhalb im Freien wogenden Menschen, eine zahllose Menge, wie wenn das ganze Herzogtum versammelt wäre, um eine Landesangelegenheit von höchstem Gewichte zu beraten und beraten zu sehen.
Vor dem Tore stand ein alter Mann, auf seinen Krücken lehnend. Die Tränen flossen ihm in den Stoppelbart, und er sah dem Verurteilten, der eben gegen ihn herankam, in das Gesicht. Auch dieser erblickte ihn jetzt und winkte freundlich mit den Augen. Er hatte seinen Invaliden erkannt, von dem er sich wohl sagen konnte, daß er nicht aus bloßer Neugierde den weiten und für seinen gebrechlichen Körper auch im Fahren beschwerlichen Weg hieher gekommen sei.
»Oh, wo 'naus, Frieder, wo 'naus?« rief der Alte traurig.
»Dem Himmel zu!« antwortete er mit der hellen Kommandostimme, die bei so manchem Einbruch erschollen war.
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- TextGrid Repository (2023). German ELTeC Novel Corpus (ELTeC-deu). Der Sonnenwirt : ELTeC ausgabe. Der Sonnenwirt : ELTeC ausgabe. . ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-EDD2-A