[22r]
Hochwohlgeborener Herr,
Hochzuverehrender, Hochgebietender Herr Staatsminister,
Gnädiger Herr!

Als ich vor fast einem Jahre
Euer Excellenz meine anatomisch-
physiologischen Arbeiten über die
Entwicklungsgeschichte der Insecten,
welche den Acten der Akademie der
[22v]Naturforscher einverleibt sind, zu überreichen
die Ehre hatte, war ich im Stande,
Hochdenselben Etwas in seiner Ausführung
und Vollendung vorzulegen, was in seiner
Anlage und in unvollkommner Gestalt,
mit Zeichnungen begleitet, zu Ihrer
gnädigen Prüfung kommen durfte.

Zum zweitenmale erscheine ich in
gehorsamer und ergebener Gesinnung vor
Euer Excellenz, um Hochdenselben ein
grösseres und umfassenderes Werk vor-
zulegen, welches ebenfalls schon einmal
in seinen Entwürfen und theilweisen
fragmentarischen Ausführungen Ihrer
Theilnahme gewürdigt worden, und dessen
naturwissenschaftlicher Gegenstand Euer
Excellenz ganz besonderer Aufmerksamkeit
immer sich zu erfreuen hatte. Ich bin
stolz darauf, daß ich so glücklich gewesen
bin, mit Ihrer gnädigen Zustimmung
diesen Untersuchungen Ihren Namen
vorsetzen zu dürfen. Sie waren ihrem
hohen Förderer von allem Anfang an
zugeeignet, sie sind in einem schönen
[23r]Bewußtsein höherer Theilnahme vollendet
worden. Nicht kann ich in diesem
Schritte die Absicht haben, diese Theilnahme
eines mir noch unbekannten hohen
Förderers der Naturwissenschaft wie
aller wissenschaftlichen Bestrebung erst
erregen zu wollen. Ich bin mir einer
schönern und würdigern, mir selbst
heiligen Verknüpfung bewußt. Was
Euer Excellenz selbst huldreich zu
fördern geruht haben, das sollte nur
Ihnen geweiht seyn, in einer vielleicht
nur mir selbst ganz verständlichen
Devotion. Mögen denn auch diese
Arbeiten, die ich in tiefster, huldigender
Ehrfurcht vor Ihnen niederlege, von einem
andern Theile meiner Studien Rechenschaft
geben, zu denen Euer Excellenz zunächst
auf eine gnadenvolle Art die Ursache
gewesen sind. Dabei möge mir
vergönnt seyn, zu wiederhohlen, was ich
am Anfange des verflossenen Jahres
[23v]geloben durfte. Muß es unser aller,
die wir unserm Berufe gemäß auf ver-
schiedene Weise nach Wahrheit streben,
höchster reinster Wunsch seyn, daß die
Wissenschaft und ihre Ausübung in der
Kunst in freier Entwicklung ihrer Fortschritte
sich des höchsten Schutzes erfreue, so ist
ja auch mein Gelobniß nicht zu klein,
wenn ich in besserm Bewußtseyn und
in der Erhebung, welche die Abhängigkeit
von dem ewigen Willen erkennt und
fühlt, die aufrichtigsten und frommsten
Wünsche für Euer Excellenz segenreiche
Erhaltung hege und jene mit dem
allgemeinen Wunsche, dass es in unsern
Bestrebungen licht werde, und daß wir
eindringen mögen in das offenbare
Geheimniß der Natur, demüthig vereinige.
Wie innig Euer Excellenz gnädige Auf-
munterung mit allen meinen Bestrebungen
verknüpft ist,1 und verknüpft seyn wird, mögen
Sie nicht das Bedürfniß haben, das wieder-
hohlt von mir zu hören, es ist mir
[24r]zum wohlthätigen Bedürfniß und zur
Pflicht geworden, es Ihnen wiederhohlt
zu sagen. An dem Schlusse eines
abermals in einem neuen Wirkungskreise
zurückgelegten Jahres hatte ich dazu
besonderen Grund. Ich glaubte schon
damals Ihnen diese Votivtafeln
gehorsamst überreichen zu können; allein
die Vollendung der zweiten Kupferplatte,
die nur bei ganz besonderer Aufmerk-
samkeit und unter meinen Augen fort-
schreitend der Zeichnung entsprechend
und befriedigend werden konnte, hatte
die Erfüllung dieses Wunsches verspätet.

Sollten Euer Excellenz diese
Arbeiten Ihrer genauern Durchsicht
und Prüfung gnädigst würdigen, so
möchten Hochdieselben wohl allseits
erkennen, daß jene unter einem sehr
glücklichen Einflusse und unter Benutzung
sehr reichlicher Mittel allein haben
entstehen und gefördert werden können.
[24v]Sie werden den Einfluß der wissen-
schaftlichen Institute und Sammlungen
wiedererkennen, in denen ich {wahrend} meines
Aufenthaltes in Berlin auf eine freie
Weise thätig seyn konnte. Ganz besondern
Dank bin ich in dieser Beziehung den Directoren
der naturwissenschaftlichen und anatomischen
Museen, so wie auch den Lehrern der
Thierarzeneyschule schuldig, welche immer
auf die bereitwilligste Weise meinen
Bedürfnissen entgegen gekommen sind.

Sehr leid thut es mir, daß die
Untersuchungen über den Einfluß des
gefärbten Lichtes auf die Vegetation
und auf die Lebenserscheinungen der Pflanzen
und Thiere nicht auch schon in diesen
Cyclus von Abhandlungen haben auf-
genommen werden können.
1 Schon in
Berlin gieng ich mit mancherley Versuchen
dieser Art um, ich lernte die Schwierigkeiten,
mit welchen besonders diese Untersuchungen
verknüpft sind, kennen, verließ schon damals
[25r]{vergebene} Wege und entwarf endlich
einen Plan zu neuen grösseren für die
Wissenschaft, wie ich hoffte, sehr ersprieß-
lichen Untersuchungen, dessen Ausführung
auch die Rücksprache mit einem in diesem
Felde sehr vertrauten Gelehrten, Herrn
Dr. Seebeck und dadurch gewonnene
Kenntniß sowohl neuer Schwierigkeiten
als neuer Mittel, sie zu heben, hoffen
ließ. Durch freundschaftliche Verbindung
mit dem Herrn Präsidenten Dr. Nees
v. Esenbeck sollte das Unternehmen
unterstützt und gefördert werden; der
botanische Gärtner hatte alle Hülfsleistung
von seiner Seite bereitwillig versichert.
Wenn der Ausführung dieses in meinen
Augen für die Wissenschaft gewiß frucht-
reichen und wichtigen Unternehmens
bisher Manches im Wege stand, so war
2
es, um das erste Motiv zu nennen,
der Mangel an Mitteln. Ich hatte,
so viel ich auslegen konnte, gefärbte Gläser
angekauft. Aber mannigfache Versuche haben
mich belehrt, daß, wenn etwas Entscheidendes
3
[25v]mit Eifer und nach ernster Vorbereitung
geleistet werden soll, die Organismen
und besonders die Pflanzen in grösseren
allseitig aus ganz reinen gefärbtem Glase
bestehenden Behältern aufbewahrt werden
müssen. Auch war die Gleichzeitigkeit
aller Versuche mit einer Pflanzenart und
einer Infusion und verschiedenem gefärbtem
Lichte durchaus nothwendig. Dieß Alles
forderte grössern Aufwand. Es mangelte
ferner durchaus an reinem rothem und
grünem Glase; ich habe die nöthige Quantität
desselben aus Böhmen verschrieben,
wenn ich gleich noch nicht weiß, wie ich
diese Kosten decken will, und wie manche
andere optische Instrumente beizubringen
sind. Sollten die Umstände günstiger
werden, so gedachte ich,2 den Anfang des
kommenden Frühlings nicht zu versäumen
4
und rasch ans Werk zu gehen.

Daß Euer Excellenz mit meinen
bisherigen Verhältnissen wohlbekannt
sind, erkenne ich in dankbarer treu-
[26r]ergebener Gesinnung, wie Hochdieselben
meine bisherige sorgenvolle Bedrängniß
gnädig zu erleichtern gesucht haben.
Es ist nunmehr schon im siebenten
Jahre, daß ich mein sparsames Ver-
mögen für den Zweck, dem ich endlich
entgegen geführt worden, verzehrend, auch
auf dem eben so sparsamen Vermögen
meiner Geschwister ein Schuldner geworden
bin. Diese Mittel sind ein für allemal
erschöpft; ich kann von dieser Seite keine
Ansprüche mehr machen; nur die fremden
zu befriedigen, blieb. So lange ich in
Berlin lebte und wenn gleich nicht grösserer
Gnade und Huld, als mich jetzt beglücken,
5
doch einer reichlichern Unterstützung mich
zu erfreuen hatte, konnte ich meine
Bedürfnisse so einrichten und beschränken,
wie es für mich passend war. Diesen
Vortheil hatte eine private Stellung
in einer grossen Stadt. Ich kann dieß
nicht mehr in meiner jetzigen Stellung,
so sehr ich mich zum Vortheil meiner
wissenschaftlichen Unternehmungen
[26v]und für die Bestreitung ihres Aufwandes
einzuschränken versuchen möchte.
Ich kann es daher Euer Excellenz wohl
gestehen, um so mehr Hochdieselben
selbst den Wunsch, diesen Sorgen abzuhelfen,
zu äussern gnädigst geruht haben, ich
darf wohl gestehen, daß ich in meiner nun-
mehr anderthalbjährigen Stellung als
Privatdocent, wenn gleich durch die Huld
einer hohen Staatsbehörde fortdauernd
unterstützt, doch oft in einer Bedrängniß
gelebt habe, wie ich sie bisher nicht gekannt,
und deren Besorgniß auch lähmend auf mich
hätte wirken müssen, wenn ich von dieser
Seite je ganz ohne Sorgen gewesen wäre.
In solchen Tagen und Stunden war es
denn wohl, wo mich endlich gerade eine
ungewöhnliche Lust zu neuen Unternehmungen
und Bestrebungen hinriß; ich redigirte,
worauf ich zunächst beschränkt war, die
mannigfachen Entwürfe früherer Zeit.
Dieß Mittel versagte nicht, es erhob mich
heiter über meinen bedenklichen Zustand,
bis auch für den Fortschritt dieser wissenschaft-
[27r]lichen Bestrebungen neue Bedürfnisse
eintraten und meine Beschränkung auch
lähmend für meine Unternehmungen
werden musste. Ich darf mir wohl auch wohl
gestehen, daß ich nur in der letztern
Beziehung am meisten und lebhaftesten
ein freieres Bewegungsvermögen ersehne.
Es ist deshalb unendliche Freude und
Beruhigung über mich gekommen, als
Euer Excellenz in Ihrem gnädigen
Schreiben vom 5ten November 1825 mir
haben eröffnen wollen, wie Hochdieselben
mich in den Stand setzen wollen, daß ich
fern von fremden das äussere Leben betreffenden
Sorgen ganz und ungetheilt meinem Berufe
als Lehrer und meinen wissenschaftlichen
Forschungen mich widmen könnte.

Rastlose Thätigkeit ist mir Bedürfniß, und
kann ich wohl bekennen, daß ich nichts eifriger
für die Zukunft wünsche, als einen recht
grossen Wirkungskreis, der meine Kräfte
allseitig in Anspruch nimmt. Indessen
freut es mich sehr, daß schon jetzt meine
Wirksamkeit in den gesammten medicinischen
Unterricht mit Erfolg eingreifen kann.
[27v]An thätigem innerem Verkehr fehlt es eben-
sowenig. Was mir jetzt besonders am
Herzen liegt, ist eine anatomische Unter-
suchung über den Nervus sympathicus
der Wirbelthiere. Es muß im Gebiete der
vergleichenden Anatomie des Nervensystems
viel geschehen, wenn wir nicht hinter den
französischen Naturforschern bleiben wollen.
Ein freundliches Vernehmen mit dem Herrn
Professor Mayer, der bis jetzt mit grosser
Bereitwilligkeit meinen Wünschen, so viel
an ihm lag, entgegengekommen, wird mich
in diesem neuen Vorwurfe sehr fördern. Mit der Theilnahme an meiner Wirksamkeit
als Lehrer in der medicinischen Facultät habe
ich allen Grund zufrieden zu seyn. In
meinen Privatvorlesungen über die allgemeine
Pathologie, welche sich zunächst an meine
physiologischen Vorträge anschliessen und diese
zu Grunde legen, zähle ich 25 Zuhörer.
Die allgemeine Pathologie, als theoretische
Grundlage für das gesammte spätere
medicinische Studium, war bisher, wie
die verehrten Mitglieder der medicinischen
Facultät auf den Grund der Inauguralprüfungen
[28r]einstimmig zu ihrem Leidwesen anerkennen
mussten, der Gegenstand, worin die Bildung
der Candidaten fast durchgängig mangelhaft
und unbefriedigend war3. Diese Grundlage kann
nicht mehr nachgehohlt werden, sie kann
ihren Einfluß nicht mehr auf ein beendigtes
Studium aller andern Zweige der Medicin
ausüben. Es ist daher eine grosse Anregung
für meine Thätigkeit, wenn ich in dem
gegenwärtigen Cursus, in welchem ich
allein über die allgemeine Pathologie lese,
auch allein für diesen so sehr wichtigen Zweig
der medicinischen Bildung verantwortlich
bin, und die verehrten Mitglieder der medicini-
schen Facultät selbst ihr Vertrauen auf
meine Bemühungen gesetzt haben. In
meinen öffentlichen Vorlesungen über die
Physiologie der Zeugung und des Embryo,
welche die im verflossenen Sommer von
mir privatim vorgetragene specielle
Physiologie schliessen und zweimal wöchentlich
gehalten werden, zähle ich nicht weniger als
80 Zuhörer. Die nunmehr in 3 Semestern
fortgesetzten Lateinischen Disputirübungen
über medicinische Gegenstände haben auch
[28v]eine grössere Theilnahme gefunden.

Die Aufgabe, welche Euer Excellenz mir
bei meinem Abgange zur Rheinuniversität
im Herbste 1824 gnädigst vorzuzeichnen
geruht haben, bin ich demnach so glücklich,
in so weit erfüllen zu können, daß ich
in Verbindung mit den verehrten Mitgliedern
der hiesigen medicinischen Facultät und in
der freundschaftlichsten Beziehung zu allen einzel-
nen zur Vervollständigung des Unterrichtes
in dieser Facultät wesentlich beitragen kann
und sogar die Aussicht habe, in meinen
vergleichend anatomischen, physiologischen und
pathologischen Vorträgen in der Folge fortdauernd
ein organisches Ganze zu bilden. Es wird
mein höchstes eifrigstes Bemühen seyn,
in gewissenhafter Treue diesen Beruf zu
erfüllen, den mir mein nunmehriges Verhält-
niß zum gesammten medicinischen Unterricht
auf der Universität bestimmt und deutlich
genug vorzeichnet. In allen meinen
wissenschaftlichen Bestrebungen wird die
Gnade und Huld, die Euer Excellenz mir
[29r]zugewendet und fürder zuwenden mögen,
mir ein heilbringend Zeichen der Erhebung
und Aufmunterung seyn. Und so gedenke
ich, immer der in treuergebener Gesinnung,
bittend, wünschend, hoffend, für Euer
Excellenz hochtheures Leben und dessen segenreiche
Erhaltung zu verharren.

In tiefster Ehrfurcht,
mit innigster Hochachtung und unwandelbarer
treuer und dankbarer Gesinnung,
Ew Excellenz
ganz gehorsamster Diener
Dr. J. Müller

Privatdozent auf der Universität
Bonn.
Notes
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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 2. Februar 1826. Johannes Müller an Altenstein. Z_1826-02-02_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-1DA6-7