[96] [...]
Sehr glücklicherweise war in England Baco aufgetreten und hatte zur Erforschung der Natur den rechten Weg gewiesen, nämlich den der reinen Erfahrung, frei sowohl von willkürlich angenommene[n] Qual[itates] occult[ae] als von willkürlich ersonnenen Hypothesen, und Beschränkungen der Natur auf gewisse wenige Kräfte. Mon sollte untersuchen, experimentiren, und dann von der Erfahrung sollte man durch Induktion aufsteigen zu allgemeinen Grundgesetzen der Natur und ersten Eigenschaften der Dinge. Dem Aristoteles war Baco eben so sehr entgegen und feind als Cartes[ius]. Seine Methode war das Gegentheil der Aristotelischen hierin: daß er alle Erkenntniß begründet wissen wollte durch Induktion, also durch Auf-[97]steigen vom Besonder[en] zum Allgemeinen, von den Fällen zur Regel, das Allgemeine sollte durch das Besondre begründet werden: statt daß der Aristotelische und Scholastische Weg der des Syllogismus ist, das Herabsteigen von dem Allgemeinen zum Besondern, Bestimmen des Einzelnen aus allgemeinen Regeln: was nur dann mit Recht geschehn kann wenn man schon eine vollständige Wissenschaft der Natur hat; nicht wenn sie erst gefunden werden soll.
Baco erkannte die Fehler der Aristotelischen Scholastik eben so gut als Cartes[ius] und stellte sie eben so gut ab: verleitete aber nicht zu neuen Fehler wie Cartes[ius]: - freilich hat Baco auch nur die Methode des Philosophirens und des Erforschens der Natur angegeben, nicht selbst specimina und Versuche darin gemacht, wie Cartes[ius], der selbst mit zugriff: - die Anwendung der von Baco angegebnen Methode sehn wir besonders in Newtons Entdeckungen: freilich nicht in der Farbenlehre.
[130] [...]
Daher Analogie des Typus der Organismen.
Diese nun offenbart sich auf den höhern Stufen seiner Objektivität, wo die ganze Erscheinung deutlicher ist, also im Pflanzen- und Thierreich, durch die allgemein durchgreifende Analogie aller Formen, den Grundtypus, der in allen Erscheinungen sich wiederfindet: dieser ist auch eben das leitende Princip der vortrefflichen, in unsern Tagen von den Franzosen ausgegangenen, zoologischen Systeme: er wird am vollständigsten nachgewiesen in der vergleichenden Anatomie: ferner auch unsre Teutschen sogenannten Naturphilo-[131]sophen, sind bemüht ihn überall nachzuweisen und dies ist ganz gewiß ihre löblichste Bestrebung; auch haben sie darin einiges Verdienst, wenn gleich in vielen Fällen ihre Jagd nach Analogien in der Natur zur bloßen Witzelei ausartet. Das Beste in der Art hat aber bei weitem Kielmaier gethan, von dem es ausgieng, von dem es Schelling lernte, und dann von diesem seine Schule. Sie alle haben mit Recht jene allgemeine Verwandschaft und Familienähnlichkeit nicht nur in der organischen Natur, sondern auch in den Ideen der unorganischen Natur nachgewiesen, z. B. zwischen Elektricität und Magnetismus, chemischer Anziehung und Schwere, u. dgl. m.
Durchgängige Form der Polarität.
Sie haben besonders aufmerksam gemacht auf die Polarität als eine durchgänge Form in der Natur: die Polarität ist eigentlich jedes Auseinandertreten der Erscheinung einer ursprünglichen Kraft in zwei qualitativ verschiedene, zwar in genere identische aber in specie entgegengesetzte Erscheinungen, in zwei Thätigkeiten, die sich entgegengesetzt sind, aber zur Wiedervereinigung streben (qualit[ativ] illustr.): dieses Auseinandertreten stellt sich in den meisten Fällen auch räumlich dar, als ein Streben nach entgegengesetzten Richtungen: immer aber bedingen beide qualitativ entgegengesetzte Thätigkeiten sich wechselseitig, dergestalt, daß keine ohne die andre weder gesetzt noch aufgehoben werden kann, jedoch so, daß sie nur in der Trennung und im Gegensaze bestehn und die Wiedervereinigung, nach der sie streben, eben das Ende und Verschwinden beider ist. (Wir können daher das Wesen der Polarität ausdrücke durch eine Phrase des Platon im Symposion: επειδη ουν ἡ φυσις διχα ετµηθη, ποθουν ἑκαστον το ἡµισυ το αὑτου, ξυνῃει. - Am deutlichsten zeigt sich die Polarität[132]im Magnetismus, in [der] Elektricität, i[m] Galvanismus. - Aber wenn man den Begriff derselben nur allgemein genug gefaßt hat und das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden weiß, wird man finden, daß sie in der That ein Grundtypus fast aller Erscheinungen in der Natur ist, vom Magnetismus - bis zum Menschen. Im Krystall; - im Baum, Krone und Wurzel, Streben nach unten und Oben, nach Dunkelheit und Feuchtigkeit, nach Licht und Wärme; - im Thier Kopf und Genitalien: - auch Mann und Weib; - Ueberall eine {Gewisse} Potioritas und Minoritas; auszudrücken durch + und -. (Ich habe sie im Auge entdeckt.) -
[...]
Aeußere Zweckmäßigkeit.
Die zweite Art der Zweckmäßigkeit war die äußere. Diese zeigt sich nicht in der inner[n] Oekonomie der Organismen, sondern darin daß jeder Organismus viel Unterstützung und Hülfe von Außen erhält; sowohl von der unorganischen Natur als auch von ande[rn] Organismen. So z. B. ist ein genau angemessenes Verhältniß zwischen der Schwere jedes Thiers, die es an den Erdboden befestigt, und seiner Muskelkraft, vermöge deren es die Schwere überwältigt um sich von seinem Ort zu bewegen: ohne dies Verhältniß wären die Thiere unbeweglich. So z. B. ist die Luft, mit dieser bestimmten Mischung ihrer zwei Theile, ein ganz nothwendiges Hülfsmittel alles thierischen Lebens, und es sind Quellen in der Natur die, bei dem steten Verbrauch, beide Bestandtheile genau in dem Verhältniß (21, 79)[161]stets wiederherstellen; eben so die Wärme innerhalb engbestimmter Gränzen; eine kleine Aenderung in beiden, und die jetzt vorhand[ne] Thierwelt könnte nicht leben. Was wären alle Augen, ohne das Licht? - ja es ist ein bestimmtes Verhältniß zwischen der Intensität des Lichts und der Reizbarkeit jeder Retina: wäre diese reizbarer, so könnte sie vor Blendung nicht sehn; wäre sie stumpfer, so wäre ihr die Welt finster: - aber noch bewundrungswürdiger ist, daß das Auge ein zusammengesetzter optischer Apparat ist, berechnet auf den Grad der Brechbarkeit des Lichts, oder dieser auf jenen. (Illustr.) - [...]
- Holder of rights
- Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. [20. April -] 20. August 1820. Schopenhauer: Vorlesung über Die gesammte Philosophie, II. Z_1820-08-20_za.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-1298-2