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Ewr Excellenz gütiges Schreiben habe ich erhalten und statte Ihnen meinen Dank ab für die vorläufige Beruhigung welche Sie mir dadurch ertheilt haben. Mit gesteigerter Erwartung sehe ich nunmehr den Bemerkungen über meinen Versuch entgegen, welche Sie aus Weimar mir mitzutheilen gütigst verheißen.

Ich kann es mir inzwischen nicht versagen Ewr Excellenz noch einen Experimentalbeweis der Herstellung des Weißen aus jeglichem Farbenpaar mitzutheilen, auf den ich, so sehr leicht er auch zu finden war, doch erst kürzlich gerathen bin. Er setzt jene Herstellung vollends außer Zweifel, und da dieselbe für meine Theorie doch gewissermaßen die Rechnungsprobe ist, so ist auch jenes Experiment für dieselbe wichtig.

Wenn man zwei prismatische Farbenspektra dergestalt über einander führt, daß das Violette des ersten das Gelbe des zweiten, und das Blaue des ersten das Gelbrothe des zweiten deckt; so entsteht aus der Vereinigung eines jeden dieser zwei Farbenpaare Weiß: da beide Farbenpaare neben einander liegen, so ist die weiße Stelle beträchtlich: zudem ist diese Vereinigung sehr viel leichter zu bewerkstelligen als die von mir bereits angeführte des Purpurs und Grünen mittelst drei Prismen, vor welcher jene auch noch das voraus hat, daß der Einwurf welchen Ewr Excellenz gegen diese erhoben hatten, und der erst zu beseitigen war, die hier angeführte gar nicht trifft. Durch Hinzufügung dieses Experiments wäre dann die Herstellung des Weißen durch alle drei Hauptfarbenpaare durchgeführt und wohl evident genug gemacht. Auch kann man dabei zugleich hierauf aufmerksam machen, daß die Vereinigung prismatischer Farben, in irgend einer andern als der verlangten Ordnung, nie Weiß, sondern immer eine neue Farbe giebt.

Obgleich die ewig Absurden schon jetzt von Ihrem vortrefflichen Werke über die Farben nur noch wie von einem besiegten und erlegten Feinde reden und wieder einmal den Triumph der Abgeschmacktheit begehn (z. B. neuerlich in der Leipziger Literaturzeitung vom 1t August und etwas früher in den Heidelberger Annalen) so wird Ihr Werk doch wohl noch Manchen, auch selbst aus der Zahl jener, zu Beobachtungen über die Farben veranlassen, und da wird wahrscheinlich auch die von mir hier aufgestellte Erscheinung bald ausgefunden werden: aber man wird nicht wissen was man daraus machen soll, da sie eigentlich weder in die Newtonische Theorie noch in Ihre Farbenlehre paßt: nicht so schnell vermuthlich wird man, auf das Auge zurückgehend, die wahre Bedeutung derselben entziffern, welche ist:

ἐπειδὴ ἡ φύσις δίχα ἐτµήθη, ποθοῦν ἕκαστον τὸ ἥµισυ τὸ αὑτοῦ, ξυνῄει.

(Platon:)Platonis (Conviv:)Convivium p. 204. (ed:)editionis (Bip:)Bipontinae

Diese Worte sind zugleich der Ausdruck für alle Polarität, wiewohl Platon allein die bedeutungsvollste von Allen damit gemeint hat. - Durch welche Hieroglyphen mögen vielleicht die Aegypter bezeichnet haben was 3/4 und 1/4, 2/3 und 1/3, 1/2 und 1/2 der vollen Thätigkeit des Auges ist? -

Da die Mitteilung des besagten Experimentalbeweises es eigentlich war, was mich bewog Ewr Excellenz abermals mit einem Briefe beschwerlich zu fallen, so bleibt mir für heute nichts übrig als deshalb um Entschuldigung zu bitten. ...

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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 16. September 1815. Schopenhauer an Goethe. Z_1815-09-16_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-0CDF-B