Gar sehr, mein Werthester, bin ich Ihnen dankbar, daß Sie durch Ihr freundliches und ausführliches Schreiben die Entfernung, die uns trennt, so glücklich aufheben wollen. Ich kann dasselbe nur theilweise erwidern und beruhige Sie daher vor allem[154]über die Frage: ob jemand Ihre Abhandlung gesehen? und ich kann aufrichtig sagen: niemand! Doctor Seebeck besuchte mich auf dem Lande, wo ich Ihre Arbeit nicht bey mir hatte, ich dachte wohl daran, allein traute mir nicht genug Sammlung zu, um aus dem Gedächtnisse den gehörigen Vortrag zu machen; sodann auch, weil uns nur kurze Zeit verliehen war, wollte ich Seebeck in seiner Darstellung der Phänomene und deren Erläuterung nicht unterbrechen, welche sämmtlich zu der Abtheilung der physischen Farben gehören. Ferner hinderte mich der Zweifel, ob es Ihnen auch angenehm seyn könnte?
Wenn ich nun aber den Wunsch äußerte, Sie mit Seebeck in Rapport zu setzen, so gründete er sich darauf, daß ich meinen Freund auch für die physiologische Abtheilung und für das Allgemeine, Theoretische zu interessiren hoffte. Nun, da Sie es ablehnen, werde ich nicht weiter darauf bestehen.
So weit für dießmal, damit wenigstens meine Ansicht des Violetten diesen Brief begleiten könne. Zunächst habe sodann mich zu erklären über meine unüberwindliche Abneigung, auch nur den mindesten öffentlichen Antheil an dem Streite über die Farbenlehre gegenwärtig zu nehmen, sodann aber glaube ich Ihnen schuldig zu seyn, über Ihre Arbeit selbst, welche ich wieder mit Aufmerksamkeit betrachtet, meine Ansichten zu eröffnen. Wer selbst geneigt ist, die Welt aus dem Subject zu erbauen, wird die Be-[155]trachtung nicht ablehnen, daß das Subject, in der Erscheinung, immer nur Individuum ist, und daher eines gewissen Antheils von Wahrheit und Irrtum bedarf, um seine Eigentümlichkeit zu erhalten. Nichts aber trennt die Menschen mehr als daß die Portionen dieser beyden Ingredienzien nach verschiedenen Proportionen gemischt sind.
(Beilage.)
In meiner Vorstellung vom Violetten bestärken mich folgende Gründe.
1) Auf Saussures Kyanometer wird das allerdunkelste Blau Königsblau genannt, welches ohne ein Oeil de rouge nicht denkbar ist. Diesen röthlichen Schein möchte ich nun für das Violette halten, welches sich in der feinsten Trübe auf dem entschiedensten Dunklen zeigt. Auf so hohe Berge, um das Phänomen selbst zu beobachten, bin ich nie gekommen.
2) Man bereite ein ganz finsteres Zimmer, in dessen Thüre eine weiße Blechtafel mit scharfgeränderter Öffnung angebracht ist, man betrachte diese von außen und der leere Raum wird als ein schwarzer Gegenstand auf weißem Grund erscheinen. Diesen sehe man durchs Prisma an und das schönste Violett wird sichtbar werden, ohne daß denkbar sei, das finstere Zimmer werfe irgend Licht zurück.
3) Besitze ich unter meinem Apparat eine gemahlte Fensterscheibe, auf welche, an gewissen Stellen, die[156]feinste Trübe leicht aufgetragen ist, die bey durchfallendem Lichte ein vollkommenes Hellgelb, bey durchwirkender Finsternis aber das herrlichste Violett sehen läßt. Man mag diesen Versuch vor einem schwarzen Hute oder vor jener finstern Öffnung des bemeldeten Zimmers anstellen.
Was die Herstellung des Weißen aus verschiedenen Farben betrifft, so kann ich mir sie auch nicht zueignen. Das gewaltsam wirkende Sonnenlicht hebt das Skieron der Farbe für unsere Sinne auf. Dieses Finstere mag nun einfach als gelb und blau oder gesteigert, verbunden und zusammengesetzt, oder auch durcheinander gemischt seyn.
Ich trat in eine nachgeahmte gothische Capelle, die Fensterscheiben waren sämmtlich von buntem böhmischen Glas, und ich konnte bemerken, daß die Sonne, sie mochte durch eine Scheibe, durch welche sie wollte, in mein Auge kommen, mir immer farblos, nur etwas weniges gedämpft erschien.
Man bilde aus den reinsten drey Pigmenten, Gelb, Blau und Roth, eine kleine Portion Schwarz, und mische diese in eine große Wanne Wasser, man wird dieser nichts anmerken, aber doch auch nicht behaupten, daß es dadurch klarer geworden sei.
Bey sinnlichen Dingen gibt es eine Gränze, wo sie uns verschwinden, und sowohl bey Erfahrung als bey Urtheil sind wir hier an der gefährlichsten Stelle.
[157]Was die Herstellung des Weißen aus der Herstellung der getheilten Augesthätigkeit betrifft, nächstens
- Holder of rights
- Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek
- Citation Suggestion for this Object
- TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 16. November 1815. Goethe an Schopenhauer. Z_1815-11-16_c.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-0CF4-2