[26r]

Lieb süß Nannychen, ich bin herzlich froh, dass unsere Sitzungen
jetzt aus sind, [...] denn bisher in den 8 verflossenen Tagen war ich freilich von
7 Uhr bis 10 und 11 wie1 und einen Tag wie den andern, von einem zum
andern getrieben. Den frühen Morgen kamen die Leute unserer verwandten
Wissenschaften schon auf das Museum. Da wird nun Alles, was man
Interessantes erlebt hat, in Präparaten und Zeichnung vorgezeigt. Um
10 Uhr ging es in die öffentlichen allgem[einen] Sitzungen, wo wir 4 Stunden
lang viel langweiliges und unpassendes und nur zuweilen etwas höchst interessantes
vernahmen. Um 2 oder 3 Uhr fährt die ganze Caravane bis fast an
das entgegengesetzte Ende der Stadt, zum gemeinschaftlichen Essen oder Liedertafel
im grossen Exercierhaus, Einladungen werden nicht angenommen,
dass wir2 damit wir immer unsere Bestimmung erfüllen. Um 8 Uhr
Abends beginnen die Privatversammlungen jeder3 einzelner Abtheilungen
der Naturforscher in besondern Zimmern. Hier finden allein
Discussionen statt und diese besondern Versammlungen sind eigentlich die
Hauptsache. Ich habe hier auch einen Vortrag gehalten und die meisten
meiner Zeichnungen über Drüsen vorgelegt. Buchhändler Voss war auch
die ganze Zeit hier und habe ich den Contract wegen des neuen
grossen Werkes, das mir unter den Händen hier immer grösser
wird, abgeschlossen. Ich kriege nur 150 Thaler. Gestern Morgen
sind die allgem[einen] Versammlungen geschlossen worden. Die Privatsectionen
dauern noch eine Zeit lang fort. Im Allgem[einen] macht das Ganze
einen sehr frischen heitern Eindruck und hat sich Herr Lemm1 in all
den Tagen sehr heiter und mit dem lebhaftesten Freudengefühl des Daseyns
unter so manchen hoffnungsreichen und berühmten aber auch unbefangenen
jungen Männern bewegt. Purkinje, Weber aus Leipzig und Retzius
aus Stockholm sind mir die liebsten geworden. Ich bin nun[?]4
wieder frisch an meine Arb5 Durchaus war doch im Allgem[einen] der
Eindruck frischer strebender Jugend vorherrschend. Daneben die
alten Herren, auch in grosser Zahl. Das ist recht bedeutungsvoll.
Seit gestern haben nun meine Arbeiten auf dem anatomischen
Museum wieder angefangen, wo ich {ich} allerdings noch vieles
zu untersuchen und zu zeichnen habe. [...] [26v] [...] Hier hat sich doch
vieles verändert, besonders in den höhren Verhältnissen, wovon wir in
Bonn keine Ahndung haben, und das hat seinen großen Vortheil, wenn man
das kennt. Nun mein wackerer und fast enthusiastischer Freund Schulz[e]
hat sich in seinem bedeutenden und einflußreichen Wirkungskreis beh6 fesst ja7
fest, ja sicherer behauptet. Der Minister ist gar hier8 nicht hier, was
mir ganz recht war. Wenn ich die schlüpfrigen Wege und mühseligen
Bewegungen, durch die man sich hier behauptet, wieder sehe, so bin
ich doch herzlichst mit unserm Loos zufrieden. [...]

Notes
1
D. i. Johannes Müller.
wie]
dass wir]
jeder]
Ich bin nun[?]]
wieder frisch an meine Arb]
beh]
fesst ja]
hier]
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Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek

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TextGrid Repository (2022). Goethes Farbenlehre in Berlin. Repositorium. 27. September 1828. Johannes Müller an seine Frau Nanny (Auszug). Z_1828-09-27_k.xml. Wirkungsgeschichte von Goethes Werk „Zur Farbenlehre“ in Berlin 1810-1832. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001C-2010-B