1. Die grüne Fichtau

Hanns von Scharnast hatte ein lächerliches Fideikommiß gestiftet. Seine Burg Rothenstein samt Zugehör an Untertanen, an Jagd-, Fisch- und Berggerechtigkeit solle sich in gerader Linie immer auf den ältesten Sohn forterben; ist kein Sohn da, auf Töchter, und in Ermanglung dieser auf die älteste Seitenlinie und so fort, bis etwa einmal der Fall eintritt, daß weder ein Kognat, noch ein Agnat von benanntem Hause übrig ist, wo sodann die Burg samt Zugehör an den Fiskus fällt. Bis hieher wäre alles richtig; aber eine Bedingung fügte er dem Fideikommisse bei, welche der ganzen Sache eine andere Wen dung gibt. Jeder nämlich, dem die Burg als Erbschaft zufiel, mußte, ehe sie ihm ausgeantwortet würde, zweierlei Dinge leisten: erstens mußte er schwören, daß er getreu und ohne geringsten Abbruch der Wahrheit seine Lebensgeschichte aufschreiben wolle, und zwar von der Zeit seiner ersten Erinnerung an bis zu jener, da er nur noch die Feder zu halten im Stande war. Diese Lebensbeschreibung solle er dann Heft für Heft, wie sie fertig wird, in dem feuerfesten Gemache hinterlegen, das zu diesem Zwecke in den roten Marmorfels gehauen war, der sich innerhalb der Burg erhebt; – zweitens mußte er schwören, daß er sämtliche bereits in dem roten Steine befindlichen Lebensbeschreibungen lesen wolle, wobei es ihm aber nicht gestattet ist, irgendeine von dem Gemache ihrer Aufbewahrung wegzutragen. Wer eine von [] diesen Bedingungen nicht erfüllen könne oder wolle, der wird betrachtet, als sei er im Augenblicke des Anfalles des Fideikommisses gestorben, und dasselbe geht auf seinen fideikommissarischen Nachfolger über. Für jeden minderjährigen Fideikommissar müsse das Erbe so lange vormundschaftlich verwaltet werden, bis er großjährig geworden und sich erklären könne, ob er schwören wolle, ob nicht. Bei wessen Tode sich der Fall ereigne, daß man von ihm gar keine Lebensbeschreibung in dem roten Steine finden könne, der wird als gar nicht geboren betrachtet, also ist auch seine ganze Nachkommenschaft nicht geboren, und das Fideikommiß geht an ihnen vorüber den Weg Rechtens weiter.

Der Grund, der Hannsen leitete, eine so seltsame Klausel an sein Fideikommiß zu hängen, war ein zweifacher. Erstens, obwohl er ein sehr frommer und tugendhafter Mann war, so hatte er doch in seinem Leben so viele Narrheiten und Übereilungen begangen, und es war ihm daraus so viel Beschämung und Verdruß zugewachsen, daß er beschloß, alles haarklein aufzuschreiben, ja auch seinen Nachfolgern die Pflicht aufzulegen, daß sie ihr Leben beschreiben, damit sich jeder, der nach ihnen käme, daran zu spiegeln und zu hüten vermöge.

Der zweite Grund war: daß sich jeder, der nur die entfernteste Anwartschaft auf Rothenstein hätte, gar wohl von Laster und Unsitte fern halten würde, damit er nicht dereinst in die Lage käme, sie beschreiben zu müssen, oder sie doch halbswegs einzugestehen, wenn er den Eid von sich schiebe.

Was nun den ersten Punkt anlangt, so hatte Hanns das Unglück, das schnurgerade Gegenteil von dem zu erreichen, was er erzielen wollte. Es mußte nämlich von ihrem Ahnherrn her so viel tolles Blut und so viel Ansatz zur Narrheit in den Scharnasts gelegen haben, daß sie, statt durch die Lebensbeschreibungen abgeschreckt zu [] werden, sich ordentlich daran ein Exempel nahmen und so viel verrücktes Zeugs taten, als nur immer in eine Lebensbeschreibung hineingeht – ja selbst die, welche bisher ein stilles und manierliches Leben geführt hatten, schlugen in dem Augenblicke um, als sie in den Besitz der verwetterten Burg kamen, und die Sache wurde immer ärger, je mehr Besitzer bereits gewesen waren, und mit je mehr Wust sich der neue den Kopf anfüllen mußte. Der Stifter würde sich im Grabe umgekehrt haben, wenn er durch die dicken Felsenwände in seine Gruft hineingehört hätte, was die Leute sagten; nicht anders nämlich, als die ›Narrenburg‹ nannten sie den von ihm gerade in dieser Hinsicht so wohl verklausulierten Rothenstein.

In Bezug des zweiten Punktes, der Tugend nämlich, war es nicht recht klar, in wie weit der Gründer seinen Zweck erreicht habe; man sagte wohl den Scharnasts verschiedenes Böse nach, allein es kroch immer nur so im Dunkel herum: andrerseits stand aber auch die Tatsache fest, daß man sich nie einer Zeit erinnern konnte, wo einer von ihnen als ausnahmsweises Muster der Tugend wäre aufgestellt worden.

Heutzutage liegt die Burg beinahe in Trümmern, und seit der letzte Scharnast in Afrika erschossen worden ist, konnte man auch gar keinen Anwärter mehr auf den Rothenstein auftreiben, und ein Schalk warf bereits die lächerliche Rechtsfrage auf, ob nun auch der Fiskus seine Lebensbeschreibung werde schreiben müssen.

So standen aktengemäß die Sachen, als sich das zutrug, was wir in den folgenden Blättern erzählen wollen.

Eines schönen Sommertages gegen Abend im Jahre 1836 schritt ein junger, leidlich schmucker Bursche das romantische Waldtal der Fichtau an dem Flusse Pernitz entlang. Dieser Mann war trotz des jungen freundlichen Gesichtes lächerlich anzusehen; denn er war verworren angezogen und mit den seltsamsten Dingen bepackt. An einem [] um die Schulter gehenden Lederriemen hing eine große, flache Seitentasche, wie ein Ofenschirm, der ihn am Gehen hinderte; längs der Kante dieser Tasche war ein Holzfuß geschnallt, der, auseinandergelegt, das Gerüste zu einem Feldsessel abgab. Auf dem Rücken trug der Mann ein Ränzlein, das ebenfalls wieder so breit war, daß es rechts und links an seiner Person hervorstand; davon hing ein langstieliger Hammer und eine abenteuerliche Hacke herab; oben war ein großer grauer Regen- und Sonnenschirm und eine lange Blechbüchse daran geschnallt, welche beide wagrecht so sehr über seine Schultern hinausragten, daß er von fern anzusehen war wie ein wandelndes Kreuz. Die Hand hielt einen Alpenstock mit mächtiger Eisenspitze – des Übrigen hatte er einen breiten Strohhut auf, eisenbeschlagene Stiefel an, und sein Rock schlug bei jedem Schritte so pendelmäßig gegen seine Füße, als trüge er beide Säcke voll Eisen oder Gestein. So hatte man ihn schon mehrere Wochen in den Bergen der Fichtauherumgehen und herumsitzen gesehen. Die Fichtau aber ist ein schönes Bergrevier, voll sanftblickendem, rotbrüchigem Marmor, frischem Waldesgrün und eiskalten, abschießenden Quellen. Die Pernitz läuft unten voll Lärmen und Gepränge durch, bis sie draußen ein zahmer Fluß wird, Wiesen wässert und Walkmühlen treibt. Die Fichtau ist ein paar Tagreisen östlich von dem freundlichen Pfarrdorfe Grünberg und dem schönen Markte Pirling, welche beide an demselben Flusse Pernitz liegen. In der ganzen Fichtau ist kein einziger Ort, aber dafür ist sie gleichsam besäet mit einzeln liegenden Häusern und Gehöften, und mancher Landmann, wenn er seiner Arbeit nachging, sah obbesagten Wanderer, wie er samt seiner Bepackung entweder an einer Felsenwand kletterte und Steine herabschlug, mit denen er sich dann belastete und sie seines Weges mit fortschleppte – oder man sah ihn auf seinem Feldsessel [] sitzen; den eisenspitzigen Stock hatte er in die Erde gebohrt, den Stiel seines Sonnenschirmes darauf geschraubt und im Schatten desselben zeichnete er Wälder oder Blöcke ab, auf die sonst keiner geachtet hatte, ob sie auch schon sein Lebtage in dem Tale gelegen waren – oder man sah ihn gehen, wie er einen schweren Strauß von Blumen und Kräutern in der einen Hand vor sich her trug, während er in der andern nebst dem Alpenstocke noch einige Ruten und anders Zeugs hinter sich herschleifte.

Des Abends nun an jenem schönen Tage, dessen wir oben erwähnten, ging er schleuniger als gewöhnlich neben der Pernitz hin, und machte mit Händen und Armen allerlei Bewegungen, wie einer, der ungeduldig und hastig ist, oder mit sich selbst redet. – Freilich war der Mann schon in seiner Jugend mit diesem Übel der lauten Selbstgespräche behaftet, und was noch ärger ist, er deutete auch immer mit den Händen dazu, besonders, wenn er von Eifer oder Ungeduld gestachelt war, in welche beide er übrigens sehr leicht geriet.

Er hatte eine Gruppe Häuser vor sich, auf die er zusteuerte. An einer Stelle nämlich, wo sich das Tal am meisten erweiterte und der Fahrweg ordentlich in eine breite Straße auseinanderging, stand das Wirtshaus der Fichtau, zur grünen Fichtau geheißen, zwar nur aus Holz gezimmert, aber mit einer glänzenden Fensterreihe auf den Straßenplatz heraussehend, der so groß und eben war, daß hundert Wagen hätten darauf stehen können. – Mit Scheunen und Schoppen und einem großen Garten ging das Haus in den geräumigen Winkel eines Seitentales zurück, aus dem ein starker Bach hervorsprudelte. Jenseits des Baches steht eine Sägemühle, dann ist noch eine Schmiede, und weiter zurück hinter dem Wirtsgarten sind vier oder fünf Häuser mit blanken Fenstern und dem schönen flachen Gebirgsdache.

[] Dieser Häusergruppe eilte unser Wanderer zu, als hätte er noch so Wichtiges auf dem Herzen, und immer schleuniger ging er, je näher er kam, so daß das Gehen fast in ein halbes Laufen ausartete, da er vor dem Wirtshause anlangte.

»Gott grüß Euch, Vater Erasmus«, sagte er eilig zu dem Wirte, der mit seinem großen Hunde auf der Gasse stand und mit dem Schmiede und einem Fuhrmann plauderte, welcher Fuhrmann eine Art Wochenbote war und alle Sonnabende bei dem Wirte zur grünen Fichtau anzukommen pflegte, wo er alles abgab, was immer für die Fichtauer aus dem Flachlande eingelaufen sein mochte. Sein Schecke stand im Stalle, sein Wagen im Schoppen, und er saß in der Abendsonne auf der langen Gassenbank des Wirtshauses, seine Gebirgspfeife rauchend und Neuigkeiten aus dem Lande draußen auskramend. »Gott grüß Euch, Vater Erasmus«, sagte also der angekommene Wanderer; »ich werde nur schleunig diese Sachen auf mein Zimmer hinauftragen, und sogleich wieder herabkommen und Euch eine Menge ausfragen. Ich habe heute die wundervollsten Ruinen entdeckt, und sie sogar gezeichnet.« Und somit ging er die Treppe hinan.

»Nun das geht dem noch ab, daß er das verrückte Schloß gefunden hat«, sagte der Wirt zu den zwei andern, aber der hinauflaufende Mann hatte diese Worte mit seinem scharfen Gehöre vernommen, und wurde dadurch nur noch mehr gespannt. Nachdem er das Gepäcke abgelegt und einen gehörigen Hausrock angetan hatte, kam er in dem Augenblicke wieder herunter, ein Papier in der Hand tragend, auf dem ein weitläufiges auf Felsen herumgruppiertes Mauerwerk mit Bleistift sauber skizziert war.

»Das ist doch ein höchst merkwürdiges Gebäude,« sagte er, »ich bin vollständige vier Stunden selbst mit Anlegung meiner Steigeisen rings um dasselbe herumgeklettert, [] und habe durchaus keinen Eingang entdecken können.«

»Ei so«, sagte der Wirt, und sah die andern zwei pfiffig an.

»Was denn, ei so? die Sache ist haarscharf, wie ich sage, und ich begreife nicht, was da ein solches ›ei so‹ sagen will.«

»Ich meine nur,« antwortete der Wirt, »daß das jeder Mensch in der Fichtau weiß, und daß es wunderbar ist, daß Ihr allein es nicht wisset.«

»Ich sehe nicht ein, woher ich es wissen sollte; ich sage Euch ja, ich habe heute das Schloß gerade erst so frisch gefunden, als hätte ich vor dritthalbhundert Jahren Amerika entdeckt. In Eurem Lande unterstützt man Forschungen so wenig, daß sie den schönsten Marmor unbeachtet liegen lassen, oder höchstens Schweintröge daraus machen. Ihr selbst habt Eure Mistjauche hinten mit Stücken des feinsten Kornes eingedämmt.«

»Hab ich das? ei, ei, Oheim, wenn Ihr weiter forschen werdet, so werdet Ihr auch Türstöcke und Wasserkufen davon finden, und wenn Ihr dort überhaupt forschen dürftet, so fändet Ihr in Annens Schlafkammer die feinsten Fenstersimse davon gemeißelt, und einen Waschtisch und Weihbrunnenkessel und ich weiß nicht, was noch, und in der Pernitz liegen noch unzählige Stocke und Blöcke, auf die niemand achtet als die Forellen, die darunter aus- und einschlüpfen.«

»Hab alles außer dem Waschtisch und Weihbrunnenkessel schon gesehen und beobachtet«, entgegnete der Wanderer; »aber da habt ihr wohl Türpfosten, das ist gut; allein eines Eurer Herdecken ist auch von rotem Marmor, während das andere von Ziegeln ist; – aber das ist Nebensache. – Ihr sagt da von Forellen – haben wir morgen einige? Ihr habt sie uns auf Sonntag versprochen.«

»Eine Million ist unten im Fischtroge, – eine Million.«

[] »Ich möchte wohl auch ein Dutzend«, sagte der Schmied. »Es kommt morgen mein Schwiegersohn, der Stadtschreiber.«

»Sollst haben, schwarzer Ohm,« sagte der Wirt, »sende nur herüber – also der Stadtschreiber kommt, und also auch die schneeweiße Thrine mit – schau, schau, –«

Und mit diesen Worten wiegte er den Kopf hin und her, gleichsam als dächte er nach, und sein unmäßig großer, graugetigerter Hund saß mit dem Rücken gegen die untergehende Sonne, daß seine Rückenhaare wie feurige Spieße glänzten, und schaute seinem Herrn altklug ins Gesicht. Aber auch der junge Wandersmann stand noch immer trotzig mit seiner Schloßzeichnung da, und schaute ihm auch ins Gesicht und sagte: »Das mit den Forellen ist nun gut, Vater Erasmus, – den Stadtschreiber und die schneeweiße Thrine werden wir morgen begrüßen. Ich will selber einen schönen Rock antun und mit in die Kirche hinausfahren; aber nun gebt mir auch ein klein Gehör. – Der Abend ist so schön als einer. Wir haben uns alle bei Tage geplagt; morgen ist Sonntag, und da dürfen wir heute schon noch ein wenig in der Dämmerung plaudern. Lasset mir den Wein auf den Gassentisch stellen, ich setze mich zu Boten-Simon auf die Bank, und wenn er Euch alle Getreidepreise von draußen gesagt und die Pferde- und Wein- und Kriminal-und Unglücksgeschichten erzählt hat: dann schaut aber auch auf mein Papier her, und sagt, was es mit diesem Schlosse ist, das da so, ohne daß jemand etwas davon weiß, mitten in der Fichtau steht, mit Abenteuerlichkeit geziert, und so gut als in gar keinem Stile gebaut ist.«

»Das ist recht schön, Oheim, daß die Thrine herauskommt,« sagte der Wirt, »aber wenn sie nur nicht wieder eine Fracht Bücher bringt und bei Annen abladet – und da müssen wir ja doch noch vor Sonnenaufgang sehen, daß wir einige Salblinge fangen und nachmittags ein [] Scheibenschießen machen – oder so etwas – damit sich alles recht gut unterhalte, – es freut mich – – und was Euer Schloß anlangt, junger Ohm, so würdet Ihr Stile genug sehen, wenn Euch Ruprecht einmal hineinließe, Ihr würdet Schlösser genug drinnen sehen, eine Sammlung von Schlössern, eine halbe Stadt von Schlössern, ie sie da herum auf allerlei rote Steine angeklebt sind.«

»Wer ist denn dieser Ruprecht, und wie macht man es denn, daß er einen hineinläßt?«

»Das wäre sehr leicht,« antwortete Vater Erasmus, »wenn nur selber einmal herauskäme.«

»War gleichwohl gestern in Priglitz«, sagte der Schmied »und redete mit meinem Schwiegersohne, dem Stadtschreiber; ich stand selber dabei, als ihm der sagte, daß noch immer niemand aufgetrieben sei.«

»Ich habe ihn auch gesehen,« redete jetzt der Boten-Simon darein, »es ist wirklich so, und ein erstaunlicher all ist es, daß ein so herrisches, verbreitetes Geschlecht ganz und gar ausgestorben sein soll – keine Maus hat sich gemeldet. Das Schloß, lieber junger Herr, das Euch so anliegt, daß Ihr es gar auf Papier abgerissen habt, das Schloß ist jetzt zu haben, und Einkünfte genug dazu; es kommt nur darauf an, daß Ihr von einer recht närrischen Familie abstammet.«

»Ich gehöre selber unter den Rothenstein,« sagte der Wirt, »und das ganze rechte Pernitzer Viertel samt Zehent und Gebühren, dann das linke Viertel bis in die Hatzleser Gräben, und ich glaube auch noch die Waldhäuser bis zum Ottostift hinauf, und bis an den Asang.«

»Der Asang gehört auch noch dazu«, sagte der Schmied; »der ist nur seit dem alten Julian an die Priglitzer verpfändet; mir hat es mein Schwiegersohn, der Stadtschreiber, erzählt.«

»Das ist nicht wahr«, rief der Boten-Simon; »ich bin [] von Asang, und ich und mein Vater und Großvater und wieder dessen Vater haben immer an die Priglitzer gesteuert, und keinen Hut vor dem Rothensteine gerückt.«

»Das ist,« entgegnete der Schmied, »weil der alte Julian älter ist als ihr alle, dein Scheck dazu gerechnet, und weil ihr eher an Priglitz verpfändet waret, als ihr geboren wurdet. Mein Schwiegersohn, der Stadtschreiber, hat mir einmal die Urkunde auf dem Stadthause gezeigt, und gestern hat er gesagt, daß jetzt alles kaiserlich wird, und dann wird der Pfandschilling hindangezahlt und der Asang wieder an das alte Eisen angeschweißt. Der Julian war sonst ein entsetzlicher Herr; er hat seinen leibeigenen Bruder erschlagen.«

»Nicht erschlagen,« sagte der Wirt, »sondern nur um das, Erbe der Mutter hat er ihn gebracht, weil er nie genug hatte, obwohl ihm auch der Rothenstein zugefallen war. In unsrem eigenen Hause war es, wo sie die Zusammenkunft hatten – mein Großvater war damals noch ein Bube, und er hat es uns wohl hundertmal erzählt – es war das letzte Mal, daß sich die Brüder gesehen hatten. Sie hießen Julius und Julianus. Julianus war der ältere, und da ihr Vater starb, war Julius in weiten Ländern, und kam auch gar nicht auf den Rothenstein, sondern auf unsrer Gasse sahen sie sich zum ersten Male seit Jahren wieder, und da hatten sie sich zum Willkomm umarmt, daß die Schwerter an ihnen rasselten, und dann sind sie in die grüne Oberstube hinaufgegangen, und die Pferde blieben auf der Gasse stehen. Die Kinder, nämlich mein Großvater und seine Schwester, dann auch ihre Mutter saßen beängstigt herunten in der Schenkstube, weil ihnen gleich nichts Gutes ahnte. Anfangs hörten sie nichts über sich als den ruhigen Schritt der beiden Männer, wie sie oben taktgemäß auf und nieder gingen; dann war es stille, als ständen sie und als ob einer spräche. – Mein Urgroßvater, der damalige Schenke, kam kreideweiß zu [] den Kindern in die Stube und sagte, als er oben nur zur Tür hineingeblickt, ob sie nichts brauchten, so hätten sie ihn gleich angefahren, und der Julius stehe an dem Tische und schütte entsetzlich viel Wein hinunter. Der Urgroßvater blieb nun auch bei den Kindern herunten, und man horchte lange, lange hinauf, aber es blieb oben alles stille – immer stille – doch einmal geschah ein Fußtritt, daß man meinte, alle Tragbalken müßten knacken, und im Augenblicke, aber nur einige Sekunden, rasselten wieder die Schwerter – dann wards todstille. – Sogleich aber rannte Julius die Treppe herunter, schwang sich mit glühenden Augen auf seinen schwarzen Hengst, warf ihn herum und jagte so schnell dort an der Steinwand hinab, daß mein Großvater meinte, er sehe ordentlich ohne Unterbrechung die Hintereisen blitzen, als wolle sie der Rappe rücklings in die Luft schleudern, und Stücke roter Straßensteine flogen in die Pernitz. – Alle aber liefen ungesäumt in die Oberstube, um dem gemordeten Julianus beizuspringen – dieser aber stand lebendig am Tische und strich sich furchtbar mit der Hand den großen, roten Schnurrbart, den er immer trug – dann aber goß er einen ganzen Krug Wein in sich hinein, warf ein Stück Geld auf den Tisch, ging hinab und ritt gelassen auf den Rothenstein zu. Er war von nun an Herr des Schlosses, wie es dem Erstgebornen auch gebührt; allein er war und blieb auch Herr der Schätze und Einkünfte seitens der früher verstorbenen Mutter, was von Rechts wegen dem jüngeren Julius gehört hätte. Von diesem aber ist seit jener Zeit kein Faden seines Gewandes mehr in der Fichtau sichtbar geworden.«

»Weil ihn doch der Julianus irgendwo erschlagen hat«, versetzte der Schmied.

»Dann müßte er ihn tiefer begraben haben, als Regen und Tau dringen können,« versetzte der Wirt, »daß ihn nicht die Pernitz oder unsere Bergwässer zu Tage gewaschen [] hätten – geht, geht, Ohm, das steht nur so in den Ritterbüchern Eurer Thrine.«

»Mein Schwiegersohn, der Stadtschreiber,« sagte der Schmied, »meint selber – seit der letzte Abkömmling des Julian tot ist, und nun bereits das Schloß mit Lieg- und Fahrnissen in die Jahre lang allwärts ausgeschrieben ist, sei es seltsam, daß sich keine Klaue und kein Hufnagel gefunden, der Anspruch machen könne – also ist der Julius damals erschlagen worden.«

»Das ist nur so, Kinder,« sagte der Boten-Simon, indem er die Pfeife ausklopfte, und wieder anstopfte, und alles umständlich tat, und seine Rede beim Wiederanzünden durch kräftiges ›Paff, Paff‹ häufig unterbrach – »das ist nur so: im Lande draußen erzählte mir vor langen Jahren ein Krämer, daß der Julius in Kriegsdienste des französischen Königs gegangen sei – aber da widerredete es ein alter Stelzfuß und sagte: der Julius habe nicht gar so weit von der Fichtau gelebt, eine Bauerndirne geheiratet, und seine Tochter wieder an einen niedrigen Mann gegeben, und so sei nach und nach das Geschlecht im Volke verronnen, wie es ja auch einst daraus entstanden war.«

»So mag es sein,« sagte der Wirt, »oder es mag auch anders sein, aber daß er ihn erschlagen, glaube ich nicht; so schlecht waren sie nicht, sondern bloß alle närrisch.«

Der Wandersmann hatte bisher mit steigendem Interesse zugehört; nun stellte er seinen Krug zurück und sagte: »Ja, wie weiß man denn, daß sie närrisch waren?«

»Nun Gott sei Dank,« antwortete der Wirt, »närrisch genug, junger Oheim, habt Ihr denn das nicht schon an dem Schlosse erkennen mögen, da es weder Tor noch Eingang hat und in keinem Stile gebaut ist, wie Ihr selber sagt. Oder ist es etwa vernünftig, wie der letzte Zweig aus dem Stamme des Julian tat, oder wie sein Vater, der vorletzte, tat? Mit unsrem letzten Herrn [] war es so: Da haben die Franzosen, um die Unbill gut zu machen, die sie vordem an unsern Ländern verübt, Kriegsvölker in das Mohrenland geschickt, um alles in Bausch und Bogen christlich zu machen, und da ließ Graf Christoph eines schönen Tages das Schloß zumauern, und ritt dann den Berg hinab gerade in das Mohrenland, um die Heiden gegen Christum zu unterstützen, und da aben sie ihn denn auch glücklich niedergeschossen; man weiß nicht, die Christen oder die Heiden. Sein Vater, Graf Jodok, war noch ärger. Ich habe ihn noch recht gut gekannt; er hat sich im Alter den Bart wachsen lassen, wie einer der heiligen drei Könige – und da sah ich ihn oft, nachdem er das Schloß angezündet hatte, vor seinem kleinen Häuschen unten am Berge sitzen.«

»Das Schloß hat er angezündet?«

»Ja, er selber hatte es an einem Pfingstsonntage angezündet, und wehrte allen denjenigen, die da zu löschen kamen, weil er sagte, daß hundert Zentner Pulver in den Gewölben seien und losgehen würden, aber es ging nichts los, und das Gebäude brannte friedlich und fast lieblich nieder. Er hatte die vielen Jahre vorher ganz ruhig und ordentlich darinnen gewirtschaftet, nur daß über dem Tore die Aufschrift stand: ›Hier wird keinem Bettler etwas gegeben‹.«

»Ist denn nicht die Herrschaft ein Fideikommiß? wie durfte er denn das Schloß zerstören?«

»Freilich ist sie eines, aber da hat er innerhalb der Schloßfriedigung abseits den andern Gebäuden einen seltsamen Tempel aufgeführt, mit vielen Säulen, wie man sie oft als Lusthaus in hochherrschaftlichen Gärten sieht, und in diesem Tempel hat er gewohnt, wie man sagt, in ungewöhnlicher Pracht und Üppigkeit, mit seiner Frau, einer wunderschönen Zigeunerin, die er einmal brachte und dieses Bauwerk hat er dann angezündet. Es war freilich sein Eigentum, aber man erzählt, er habe für diese [] Tat viel Geld in dem Lehenhofe niederlegen müssen. Unten am Berge hatte er sich schon vorher ein kleines, steinernes Haus mit zwei Zimmern gebaut, und daselbst verlebte er die ferneren Tage seines Alters, bis er starb. Sein Sohn Christoph war bei Lebzeiten des Vaters nie anwesend; nach seinem Tode ist er gekommen, und hat sich wieder an einer andern Stelle innerhalb der Schloßmauer ein anderes Gebäude aufgeführt, den Christophbau, aber ein Teil davon ist bereits vor drei Jahren wieder eingestürzt. Und so hatten alle einen Sporn im Haupte. Mein Großvater hat uns erzählt, daß der Vater des Julius und Julianus, Graf Prokopus, oft ganze Nächte auf einem hohen Turme saß – der Turm steht noch – dort habe er lange Röhre auf die Sterne gerichtet, oder auf einem Instrumente musiziert, das lange, furchtbare Töne gab, die man nachts weit im Gebirge hörte, als stöhnten alle Wälder.«

»Und Grafen waren die Besitzer des Rothensteines?« fragte der Wandersmann.

»Grafen Scharnast seit dem Hussitenkriege, früher waren sie bloß Barone und Ritter; aber es war ein reiches Geschlecht, und wäre es noch, wenn der Julian nicht so viel verschleudert hätte.«

»Da muß ich gleich einen Brief in dieser Geschichte schreiben,« sagte der Wandersmann, »und Ihr müßt ihn heute noch durch einen eigenen Boten nach Priglitz hinausschicken.«

Alle, selbst der Boten-Simon, der neben ihm auf der Bank saß, schauten bei diesen Worten dem Wanderer ins Gesicht und hoben an zu lachen – der Wirt aber sagte: »Wenn Ihr das Schloß und die Grafen beschreiben wollt, so ist es freilich mehr der Mühe wert, als wenn Ihr unsre Feldsteine und die Pernitz oder gar das Heu beschreibt, wie bisher; aber da kann Euch nur der uralte Ruprecht die beste Auskunft geben – – –.«

[] »Ich werde gar nichts davon beschreiben; aber indessen geht doch und besorgt mir noch heute einen Boten nach Priglitz.«

»Nichts leichter als das«, sagte der Wirt; »es ist heute Samstag, und da müssen abends die Holzknechte aus den Bergen kommen; ich erwarte sie jeden Augenblick, und um Geld und gute Worte geht wohl einer hinaus.«

»Das ist wahr« entgegnete der Wanderer, »ich habe im Drange der heutigen Dinge auf die Holzknechte gar nicht gedacht; es geht ja ohnedies mancher des Weges, nicht wahr? oder nicht weit daneben?«

»Allerdings, allerdings«, sagte der Wirt schmunzelnd, und gleichsam, als könne er den aufkeimenden Gedanken nicht unterdrücken, hob er nach einer Weile lauernd an: »Wenn Ihr also die Burg nicht beschreiben wollt, so meint Ihr etwa gar...?«

»Ich meine gar?....«

»Ein Nachkomme des Julius zu sein«, endete der Wirt den Satz, und sah sehr verschmitzt aus.

Ohne aber eine Miene zu verziehen, versetzte sein Gegenmann: »Das könnte weit eher der Fall sein, Vater Erasmus.«

Der Wirt, an die ungeheuersten Aussprüche seines Mietmannes gewöhnt, war gleichwohl durch die trockene Art ein wenig beirrt; allein um sich im Wortkampfe nicht übertreffen zu lassen, nahm er sich gleich die noch größere Freiheit und sagte: »Wenn das ist, dann ist es freilich nicht mehr wahr, was ich mir eben dachte.«

»Nun und was dachtet Ihr Euch denn eben?«

»Ich dachte mir, wenn der Julius eine Bauerndirne geheiratet hat, so könnte uns, weil die Art gewechselt wurde, wie man es mit dem Samenkorn der Felder tut, daß es wieder frisch anschlägt – es könnte uns so, was man sagt... ein gesetzterer Herr kommen.«

Aber wie früher, ohne sich im geringsten aus der Fassung [] bringen zu lassen, antwortete der Wandersmann, indem er seinen Blick auf den Wirt heftete: »Was werdet Ihr aber sagen, Erasmus, wenn ich mich hinsetze, und zu Eurem eignen Erstaunen eines lichten Tages gescheiter bin, als ihr alle und die ganze Fichtau zusammen – die ausgenommen« fügte er lustig hinzu, »die dort kommen; denn das sind die herrlichsten Bursche der Welt.«

Er hatte noch das Wort im Munde, als eben zwei jener malerischen Gestalten, wie wir sie so gerne als Staffage auf Gebirgslandschaften sehen, um die Ecke bogen, und fröhlich ihre Siebensachen, als da sind: Äxte, Sägen, Alpenstöcke, Steigeisen, Kochgeschirre usw. auf die Gasse oder auf die lange Bank niederwarfen, und sich anschickten, ebenfalls Platz zu neh men. Die abendliche Szene auf der Gasse vor der grünen Fichtau begann sich nun zu ändern und jener Lebhaftigkeit zuzuschreiten, die unser Wanderer an jedem Samstage zu erleben gewohnt war, und die er so liebte. Er achtete des Wirtes nicht mehr weiter, sondern saß bereits bei den zwei Knechten und war schon im lebhaften Gespräche mit ihnen begriffen. Sie hatten den grünen Hut mit Federn und Gemsbart abgelegt, den grauen Gebirgsrock zurückgeschlagen, und zwei verbrannte, lustige Gesichter sahen mit dem gesundesten Durste dem Wirte entgegen, der ihnen eben zwei Gläser voll jenes unerbittlichen Gebirgsweines brachte, den nur ihre harte Arbeit bezwinglich, ja sogar zum erquickenden Labsale macht.

»Laßt Klöße durch Eure Weiber richten,« rief einer, »aber viele; denn der Melchior und die andern kommen nach – und fett genug laßt sie machen, daß sie Euren Wein bändigen. – Auch die aus den Laubgräben kommen, und aus der Grahnswiese; ich sah sie droben den Hochkegel niedersteigen, als wir gegen die Pernitz herausgingen, und hörte ihr Jauchzen. – Dem Gregor ist ein [] Lamm gestürzt, hinten beim schwarzen Stock; er hat darum fast geweint, und trägt es jetzt auf seinen Schultern die Riese herab.«

»Drum kommt er wieder so langsam hervor«, sagte der Wirt; »ich höre das Herdeläuten schon eine halbe Stunde.«

»Das wirft nur die Kaiserwand und der Grahns so herüber; er ist noch weit hinten. Wir gingen im Fichtauergraben bei ihm vorbei, wie eben die Böcke das Gerölle niederstiegen und die Rinderglocken noch weit oben längs dem Gesteine läuteten«

Wieder kam eine Gruppe, während er noch redete, jodelnd und singend die Straße an der Pernitz heraus, und sammelte sich an dem Gassentische der grünen Fichtau, um einen Labetrunk zu tun und fröhlichen Wochenschluß zu feiern, da ihnen der Holzmeister Geld gegeben und sie sechs Tage lang nur grüne Bäume und graue oder rote Steine gesehen hatten.

»Gott zum Gruß! – Gott zum Dank!« scholl es hin und wider.

»Habt viel Arbeit getan: die Kaiserwiese liegt wie überschwemmt von Scheitern.«

»Geht an, geht an, über die Hochkogelwand warfen wir noch einige Klafter mehr herunter.«

»Schöne Tage! Wir waren auf dem Grat des Kogels, ich habe seit fünfzehn Jahren nicht so weit gesehen; die Ebene lag wie ein Bild da, und in der Stadt hätte ich fast die Fenster zählen können; Euren Rauch sahen wir aus den Laubgräben steigen.«

»Ja wir waren in den Laubgräben, und sind es nun schon sechs Wochen. Der alte tote Prokopus geht auch wieder um; ich weiß es gewiß; er hat in der Nacht musiziert, ich hörte es selber, und auch heute nachmittags hörte ich es; denn da so um vier Uhr herum ein schwacher Wind aufstand und durch die Föhren ging, da trug er deutlich [] den schweren Ton von dem zerfallenen Schlosse herüber.«

»Hab auch schon davon reden gehört, aber glaub es nicht.«

»Der Wein ist wie Enzian«, rief wieder einer.

»Trink ihn nur, Gevatter Melchior,« sagte der Wirt, »du trinkst Gesundheit hinein, wie Stahl und Eisen.«

So scherzten und lachten sie. Mehrere neue waren gekommen, darunter auch zwei Gebirgsjäger. Ihre Sachen lagen herum und füllten die Gasse: ganze Haufen und Bündel von Steigeisen, eine Garbe Alpenstöcke, lodene Überröcke, Gebirgshüte, eiserne Kochschüssel und anderes, und wieder anderes – Krüge und Gläser mußten herbei; die Klöße kamen und wurden verzehrt, und da abgeräumt war, erschienen zwei Zithern auf dem Tische, die zusammen spielten, und die braunen Gesellen mit dem Blicke des Gebirges saßen herum und taten sich gütlich – und erzählten von ihren Fahrten und Tageserlebnissen. Und ein prachtvoll herrlicher Abend war mittlerweile über das Gebirge gekommen. Die Sonne war über die Waldwand hinunter und warf kühle Schatten auf die Pernitz; im Rücken der Häuser glühten die Felsen, und wie flüssiges Gold schwamm die Luft über all den grünen Waldhäuptern weg. Alles schien sich zur Wochenruhe und zur Feier des Sonntags zu rüsten.

Die Jäger waren aus dem Gebirge gekommen, die Bergarbeiter waren auf dem Heimwege, und mancher sprach in der grünen Fichtau ein wenig vor. – Weiber und Mägde und Töchter wuschen am Bache Fenster, Schemel und jede Gattung hölzerner Geschirre; – das Rauschen der Sägemühle hatte aufgehört, und die Herde, deren Geläute man schon lange einzeln oder harmonisch aus dem Gebirge herab gehört hatte, war nun endlich auch angekommen; – aus dem Seitentale ging sie manierlich hervor, eine Sammlung der unterschiedlichsten Haustiere, fast das gesamte Eigentum der Fichtau. Vorerst [] kam das leichtfüßige und leichtfertige Geschlecht der Ziegen und Böcke von allen Flecken und Farben, fast jede eine Glocke um den Hals, so daß nun ein mißtönig Geklingel war, was von ferne so wunderschön läutete dann kamen Schafe, schwarz und weiß, und mitten unter ihnen der so schöne glänzende, ernsthaft kluge Schlag der Gebirgsrinder. Mägde, Knechte, Buben, wie es eben kam, empfingen die Tiere, die hieher gehörten, und ihren Ställen zuschritten; die andern [Tiere] gingen ihres Weges weiter, oder blieben gelegentlich stehen, oder traten gar zu der zechenden Gesellschaft, sahen traulich herum und ließen sich schmeicheln, daß die Halsglocke erklang. – Zuletzt erschien auf der Wirtsgasse auch der verwitterte, gebirgsgraue Hirtenbund und sein Herr, der Hirte Gregor, mit einem Bündel Steigeisen beladen und einem jungen, toten Lamme, das er auf den Armen trug, gefolgt von dem Mutterschafe, das wedelnd und blökend zu ihm aufsah. In seiner Person war der letzte Gast gekommen, der Samstags in der grünen Fichtau zu sein und sein bescheiden Glas Wein zu trinken pflegte – aber heute war er traurig; denn das gestürzte Lamm war das seinige; er hatte es auf die Bank gelegt, und sah unverwandt darauf, wie dessen Mutter davor stand, es beleckte und beroch.

»Vertrinkt den Ärger, Gregor,« sagte der Wirt, »heute kostet Euer Wein nichts, und das Lamm kaufe ich Euch morgen um gutes Geld ab.«

»Es ist nicht wegen dem,« antwortete Gregor, »aber es war ein gar so schönes, munteres Tier.« Und er setzte sich doch nieder und führte das Glas Wein langsam zum Munde. Und immer feierlicher floß die Abenddämmerung um die dunklen Häupter der Gebirge, immer abendlicher rauschten die Wasser der Pernitz, und immer reizender klangen die Zithern.

Der Wanderer saß mitten unter diesen Gebirgssöhnen. [] Er hatte sein Abendmahl verzehrt, und sprach und scherzte bald mit diesem, bald mit jenem. Er freute sich immer auf die Samstagabende, und ob man gleich sein Tun und Treiben für nutzlos und lächerlich hielt, so hatten ihn doch alle lieb, weil er so sehr in ihr Wesen einging und zu Zeiten recht vernünftig sprach. Vater Erasmus war bald hier, bald da, sprach zu allen, und trank gemessen sein abgesondertes Glas guten, alten Gebirgswein. Seine Leute und Mägde hatten das Haus für den Sonntag gescheuert und geputzt, frische Fenstervorhänge eingehangen und die Feiertagskleider für morgen herausgelegt. So ging es lustig fort, ein gut Stück in die Nacht hinein. Aber nach und nach ward es wieder stiller, und die Gesellschaft lichtete sich. Die Arbeit dieser Bergsöhne macht sie heiter und mäßig, versüßet ihnen die Nahrung und dann die Ruhe. Der erste, der aufbrach, war der Boten-Simon; er ging in den Stall zu seinem schnaufenden Schecken, und suchte sein Heulager – gleich darauf ging der Schmied über den Steg – und so bald der eine, bald der andere, sein Geräte aufraffend und den oft langen Weg antretend, den er noch zurückzulegen hatte, ehe er zu den Seinen gelangte – und ehe der Mond, dessen Silberschein schon lange an den gegenüberliegenden Felsen glitzerte, auch auf die Häuser hereinschien, war nur mehr einer da, der bloß auf den Brief wartete, den der Wanderer in der Oberstube schrieb, daß er noch heute in der Nacht nach Priglitz getragen würde. Aber auch der Brief erschien, sein Träger verschwand in den Schatten der Steinwand, an der der wütende Julius fortgeritten war, und die vorher so belebte Gasse der grünen Fichtau war leer und finster; nur in der Schenkstube brannte noch ein trübselig Nachtlicht, bei dem der Wanderer dem Wirte seine Wochenrechnung auszahlte, die dem Vertrage nach nie auf den Sonntag stehen bleiben durfte. »Und nun gute Nacht, Vater Erasmus!«

[] »Gute Nacht, Ohm, und rechnet ein andermal besser nach, daß Ihr mir nicht wieder zu viel gebt; es ist frevelhaft, mit dem Gelde und dem Feuer nicht vorsichtig umzugehn – gute Nacht! – Geht Ihr morgen in die Kirche hinaus?«

»Ja freilich, ich fahre sogar mit dem einen Eurer Füchse, um die Thrine abzuholen, falls Ihr nichts dagegen habt.« »Gar nichts, und somit schlaft wohl.«

»Gute Nacht.«

Und nach einer halben Stunde war es finster und still im ganzen Hause der grünen Fichtau, als wär es im Tode begraben. Gleichwohl entfaltete sich noch ein anderes Bild in dieser Nacht, das wir beschreiben müssen.

Die Stunden der ersten süßen Nachtruhe begannen zu fließen. – Die Nacht rückte immer weiter auf ihrem Wege gen Westen, und ward immer stiller; nur daß die Wässer, wo sie hinter die Felsen rannen, unaufhörlich plätscherten und rieselten – aber ihr eintönig Geräusche war zuletzt auch wie eine andere Stille, und so war jene Einfachheit und Pracht der Nacht gekommen, die unsrem Gemüte so feierlich und ruhend ist.

Der Mond stand senkrecht über der Häusergruppe und legte einen fahlgrauen Schimmer über die Bretterdächer und blitzende Demanten auf den Staubbach. – In dem Garten stand jedes Gräschen und jedes Laubblatt stille und hielt eine Lichtperle, als horchten sie dem in der Nacht weithin vernehmlichen Rauschen der Pernitz: da ging den Gartenweg entlang eine weiße Mädchengestalt, und hinter ihr der riesig große Wirtshund, ruhig und fromm, wie ein Lamm, und an beiden floß das volle, stille, klare Mondlicht nieder. Das Mädchen schien unschlüssig und zaghaft; sie ging zusehends langsamer, je weiter sie kam, und einmal blieb sie gar stehen und legte die weiche Hand auf das struppige Genick ihres Begleiters, als horche sie oder zage – – dicht neben ihr in [] der Laube hielt sich ein Atem an – aus Seligkeit oder Bangen; – der Hund schoß mit einem Satze hinein und sprang freundlich wedelnd an dem Erwartenden empor.

»Anna!« flüsterte eine gedrückte Stimme.

»Um Gottes willen, ich bin ein schlechtes, unfolgsames Kind!«

»Nein, du bist das süßeste, geliebteste Wesen auf der ganzen weiten Erde Gottes – Anna! fürchte dich nicht vor mir.«

»Ich fürchte mich auch nicht vor Euch. Das weiß ich ja, daß Ihr gut seid, aber schon, daß ich gekommen bin, ist schlecht, und macht mich fürchten.«

»Es ist nicht schlecht, weil es so selig ist, es ist nur anders gut, als dein Vater und deine Mutter meinen.«

»Gut ist es wohl nicht, allein ich kam, weil Ihr so sehr darum batet, und weil Ihr so seid, daß Ihr jemanden brauchet, der Euch gut ist.«

»Und also darum bist du mir gut? – – bist du, Anna?«

»Ich bin es freilich, obwohl es mir zu Zeiten recht Angst macht, daß es so heimlich ist- – und sagt nur, warum muß ich denn jetzt in später Nacht bei Euch in dem Garten sein?«

»Frage nicht, Anna; siehe, daß du frägst, könnte mich fast schon kränken. Ich habe dir sehr Wichtiges zu sagen; aber ich bin aufrichtig, und bekenne es – nicht was ich sagen werde, scheint mir die Seligkeit, sondern eben daß du da bist; – es ist so lieb, daß ich dich bei der Hand fasse und fühle, wie du sie mir nicht gerne lässest, und sie mir doch gerne lassest, daß ich dein Kleid streife, daß du neben mir niedersitzest – – siehe, schon daß ich deinen Atem empfinde, dünkt mir lieblich – ist es dir denn nicht auch so? – – ist es nicht so?«

Sie antwortete nicht, aber die Hand, die er ergriffen hatte, ließ sie ihm; zu dem Sitze ließ sie sich niederziehen[] – und wie das Luftsilber des Mondes durch das Zweiggitter auf ihre beiden Angesichter hereinsank, so sagte ihm ihr Auge, das nachgebend und zärtlich gegen seines blickte, daß es so ist.

Er zog sie gegen den Sitz nieder, und sie folgte widerstrebend, weil fast kein Raum war; denn Anna hatte ihn einst so klein machen lassen, da sie noch nicht wußte, wie selig es zu zweien ist. Jetzt aber wußte sie es, und bebend, mehr schwankend als sitzend, stützte sie sich auf das zu kleine Bänkchen – auch der Mann war beklommen; denn in beiden wallte und zitterte das Gefühl, wodurch der Schöpfer seine Menschheit hält – das seltsam unergründliche Gefühl, im Anfange so zaghaft, daß es sich in jede Falte der Seele verkriechen will, und dann so riesenhaft, daß es Vater und Mutter und alles besiegt und verläßt um dem Gatten anzuhangen – es ist ein Gefühl, das Gott nur an dem Menschen, an seinem vernünftigen Freunde, so schön gemacht hat, weil er seiner zermalmenden Urgewalt ein zartes Gegengewicht angehängt ein zartes, aber unzerreißbares – die Scham. Darum, was das Tier erst recht tierisch macht, das hebt den Menschen zum Engel des Himmels und der Sitte, und die rechten Liebenden sind heilig im menschenvollen Saale, und in der Laube, wo bloß die Nachtluft um sie zittert ja gerade da sind sie es noch mehr, und bei ihnen fällt kein Blättchen zu frühe oder unreif aus der großen Glücksblume, die der Schöpfer ihnen zugemessen hatte; es fällt nicht, eben weil es nicht fallen kann. Und so saßen die zwei, und hatten noch nicht die Macht gewonnen, die Rede zu beginnen. Er sann auf einen Anfang, und konnte ihn nicht finden; sie fühlte es ihm an, und dennoch konnte auch sie das Wort nicht vorbringen, das ihm das seine erleichtert hätte. Ihr dritter Gesellschafter blickte zu ihnen auf, als begriffe er alles, und es war fast lächerlich, wie er, obwohl er beide liebte, doch auf beide [] eifersüchtig war und sich stets bemühte, sein ungeschlachtes Haupt zwischen sie zu drängen.

Anna in der Güte ihres Herzens sah freundlich auf ihn nieder, ja sie legte ihre Hand auf seine Stirne, weil er sie dauerte, daß sie ihm nun – ja nicht nur ihm, sondern auch dem Vater und der Mutter fast alle Liebe entzog und einem fremden Manne zuwende.

Dieser fremde Mann aber sagte mit gedämpfter Stimme: »Damit du weißt, Anna, warum ich dir das Briefchen zustellte und dich gar so dringend bat, heute in die Laube zu kommen, so wisse, es hat sich etwas sehr Wichtiges zugetragen, was auf mein und auf dein Schicksal großen Einfluß haben kann; aber vorher muß ich etwas anderes wissen, und ich frage sich darum, ob es denn wirklich, ob es denn möglich ist, daß du mich so sehr lieben kannst, wie ich dich? – – Du schweigst? – Anna, so sage doch –« »Wäre ich denn sonst gekommen?«

»Du liebe Blüte – wie bin ich in der Welt schon so viele Tage unnütz herumgegangen, und da kam ich in dieses Tal, um Steine und Pflanzen zu suchen, und fand dich, die liebliche, die seltene Blume der Erde.«

»Redet nicht so,« antwortete Anna, »denn es ist nicht so jetzt sagt Euch bloß Eure Empfindung dieses vor, aber in der Tat ist es doch anders. Draußen in den Städten werden viele herrliche Jungfrauen sein, gegen die ich nur arm bin, wie ein Grashalm, den Ihr in unserm Tale pflücket, um Euch etwa einige Stunden daran zu erfreuen, wie an den andern, die Ihr sammelt.«

»Du ahnest nicht,« entgegnete er eifrig – »du Alpenblume, – o wenn du nur wüßtest, wie hoch du über ihnen stehst, – aber wenn du es wüßtest, so ständest du ja schon nicht mehr so hoch – – aber lasse dieses, – nur das eine wisse: daß ich dich mehr liebe als alles in dieser Welt, und daß ich dich in alle Ewigkeit lieben werde; – doch das alles ist natürlich und kein Wunder. Du wirst es selbst [] begreifen, wenn du die Welt einst wirst kennen lernen, aber eines ist ein Wunder, und erkläre es mir du, wie kam es denn, daß du mir gut wurdest, mir, den sie hier alle mißachten, und an dem auch wirklich nichts ist als ein unauslöschlich gutes Herz?«

»Wie ich Euch gut wurde? – – –«

»Höre, Anna, nenne mich auch du.«

»Nein, laßt mir das, ich kann nicht du sagen, es ist mir, als schicke es sich nicht; und ich könnte dann nicht so frei und freundlich reden.«

»Nun so rede frei und freundlich.«

»Wie ich Euch gut wurde? – seht! ich weiß nicht, wie es kam; als ich es merkte, war es eben da. Ich will Euch etwas von meiner Kindheit erzählen, vielleicht, daß Ihr es dann herausfindet. Mein Vater sagte immer, ich sei ein sehr schönes Kind gewesen, und da ich sein einziges bin, so tat er mir immer viel Liebes und Gutes, und ich und Schmieds Katharina bekamen schönere Kleider als die Nachbarskinder und die der ganzen Fichtau; deshalb wurden sie uns gram, und wir mußten immer allein gehen, und dies taten wir auch gerne, und da saßen wir oben auf der grünen Haide jenseits des Baches, über den der Vater den gedeckten Steg bauen ließ, daß wir nicht hineinfielen – da saßen wir und machten Grübchen in die Erde, oder pflückten Gras und Blumen, redeten mit den Käfern oder horchten den Erzählungen der alten Plumi....«

»Wer ist die Plumi?«

»Ei, Appolonia, die alte schwäbische Amme Thrinens, die sie bekommen hat, weil ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben ist, und die nach ihrer Heirat mit in die Stadt gezogen ist. Sie erzählte uns von Goldfischchen, die gefangen war, und Prinz Heuschreck, der klein und grasgrün war, und sieben Jahre durch fremde Länder hüpfen mußte, bis er beide erlöste, wo er dann ein schöner Prinz [] ward und die schöne Prinzessin Goldfischchen heiratete und von andern Prinzen in Samt und Seide, in Samt und rotem Gold, so schön wie Milch und Blut – dann von klingenden Wäldern, redenden Karfunkeln – von den sieben klugen Hähnen – von dem armen Huhn, das auf dem hohen Nußberge erdurstete – und von tausend und tausend andern Dingen, täglich etwas Neues und täglich das Alte. – – Denkt nur, als Ihr vor dreizehn Wochen zum ersten Male in unser Haus tratet, hielt ich Euch im ersten Schreck selber für einen solchen Prinzen – weil Ihr so jung und mit so närrischem Zeuge beladen waret – und wie wir größer wurden, bekam ich vom Vater schöne Fabelbücher, und oben eine eigene Kammer mit schneeweißen Vorhängen und Simsen, und Tischen von schönem rotem Steine. Er verbot mir, in die Schenkstube zu kommen, und von der Stadt erschien eine Frau, die uns die Fabelbücher lesen und selber schöne Dinge schreiben lehrte – nur leider ist diese Frau zu früh gestorben, und ließ uns nur einige Bücher zurück, die wir dann immer lasen, – ach, da standen Euch Dinge darinnen, daß mir oft das Herz zerspringen mochte vor lauter Schmerz und Sehnsucht – und die alte Plumi kroch auch wieder aus ihrer Hinterstube hervor, in die sie sich seit det Ankunft der fremden Frau versteckt hatte, und erzählte wieder, und ging mit uns ins Gebirge, die einsamen, heißen Steinriesen empor, Erdheeren oder Haselnüsse suchend, oder Blumen, deren oft eine bei diesem oder jenem Steine stand, so prachtvoll und wildfremd, daß Ihr erschrocken wäret – Ihr habt vielleicht gar keine solche in Euren großen Blumenbüchern – und wenn wir tief genug in der Grahnswiese zurückgingen, daß wir weder den Bach noch die Schmiede und Sägemühle hören konnten, und bei dem wilden Schlehenbusche kauerten, und sie nun erzählte und immer tiefer hineinkam und unter den grauen Haaren hervor die pechschwarzen Augen in unsre Gesichter [] bohrte: da fuhr ich Euch oft entsetzt zusammen, wenn sich von der Wand daneben ein Steinchen löste und zu dem andern Gerölle niederfiel – und es hätte mich gar nicht gewundert, wenn die Krüppelföhren zu reden begonnen hätten und der Fels sich zu neigen, namentlich wenn gar zuweilen der schwache weinende Ton durch die Luft herüberschnitt, da der alte, tote Graf Prokopus auf dem Sternenturme musizierte – – aber was wollte ich Euch denn eigentlich erzählen?«

»Wie es kam, daß du mir so gut geworden bist.«

»Ach, die arme Thrine mußte den Stadtschreiber heiraten – sie tat es wohl gerne, und ging gerne mit, und die Plumi auch; aber ich war dann so arm, daß ich es Euch gar nicht beschreiben kann – – – und da kamet Ihr und habt mich mit so guten Augen angeschaut, und mit so schönen, und seid dann wieder so traurig geworden, daß es ordentlich ein Schmerz und eine Seligkeit war – – höret, wenn Ihr falsch sein könntet, das wäre nun recht abscheulich....«

»Nein, Anna, du unschuldsvoller Engel, sei mir gut, so lange mir dieses Leben währt; ich kann mir kein größeres Glück und keine größere Freude denken und wünschen als dich. Du bist viel besser als ich – und wenn du mein Weib bist, und wenn wir immer und immer beisammen sein werden, dann will ich ihnen in der Stadt zeigen – – nein, wir gehen gar nicht in eine Stadt, – unter Blumen und Bäumen will ich dich hüten, daß du bleibst, wie du bist, du holde, liebe Dichtung....«

»Laßt diese Dinge, und hört nur« – fiel sie ihm in die Rede. »Es war fast närrisch, wie sehr ich Euch gut ward die Hühner, und die Blumen, und die Tauben halfen doch alles nichts, ich konnte die Thrine nicht vergessen, und sie kam kaum jeden Sonntag heraus. – Der Vater ließ mich fast nichts arbeiten, und ich tat auch nichts im Hause als unnützes Zeug, höchstens die Küchlein füttern, [] weil sie meinten, ich sei ihre zweite Mutter, und die Blumen begießen, und diese Laube zimmern lassen. – – Und wenn ich dann in meiner Kammer das Abendgebet verrichtet hatte und der Wind in die Fenstervorhänge blies, da war ich recht traurig. – Die Bücher, welche mir Thrine immer schickte – – sagt, habt Ihr auch schon einmal bei einem Buche geweint?«

»Wohl, Anna, wohl.«

»Seht, ich hab es gleich gedacht, daß Ihr das getan habt – – wie Ihr so die allerlei Steine in unser Haus truget und mit ihnen lateinisch redetet, und wie Ihr die Blumen, wie Augen so schön, in die großen Bücher legen konntet und sie oft recht lange ansahet, so dachte ich: sie können ihn doch nicht wieder lieben, weil sie trotz ihrer Schönheit nur unvernünftige Dinge sind – und wer weiß, wie weit seine Mutter entfernt ist – und Ihr sahet aus, als müßtet Ihr gar so unendlich gut sein, noch besser als Thrine selber – und wenn sie Euch schalten, daß Ihr so unnütze Dinge treibt, so dachte ich: ich weiß es schon, weshalb er dieses tut; denn die Leute hier, wisset Ihr, kennen die Blumen und Steine nicht – und wenn mein Vater auf die Bücher Thrinens schmälte und sagte, es sei lauter Narrheit in ihnen, und wenn ich es auch schon selber zu glauben anhob, so war mir doch dazumal – – aber das ist zu lächerlich. – –«

»Nun, Anna, nun?«

»Es war mir öfters, als seid Ihr in einem solchen Buche gestanden und daraus in unsern Garten getreten – und wenn Ihr hinten saßet und das Antlitz so wie nachdenkend in Eure beiden Hände drücktet, so dachte ich, dies sei meinetwegen.«

»Es war auch deinetwegen – es war auch deinetwegen.«

»Seht Ihr? – und darum wars auch so da ich mir dachte, ich will ihm recht gut werden, war ich es schon, mehr war ich es, als es nur ein Mensch aussprechen kann, und [] ich dachte, Ihr müßtet mich ja auch unaussprechlich lieben, es könne ja gar nicht anders sein, es sei so gewiß, als wenn Ihr es schon selber gesagt hättet.«

»Und wenn es nun nicht gewesen wäre?«

»Es mußte ja, weil sonst alles ein Unding gewesen wäre, las nicht sein kann – ich weiß nicht, warum der Bach in die Pernitz fließen muß, aber ich weiß, das er es muß.«

»O, du ahnungsreiches Herz! er muß es, und er ist selig, daß er es muß. Das Ziel und Ende seiner Wanderung findet er dort – was weiter sein wird, ist ungewiß; nur ins ist sicher, das Beisammensein, und dieses eine ist alles, ob nun gezählte Jahre fließen, oder die ungezählte Ewigkeit, ob die Körper sich berühren, ob nicht, es bleibt so – – Die Leute nennens sonst auch Treue – – Aber siehe, der häßliche Fliederschatten deckt dir deine Stirne, und das süße Auge – neige das Haupt – so – noch ein wenig, mehr gegen mich – so –. Ich möchte den Mond dort an jenes blaue Fleckchen fest bannen, daß er immer herschiene und immer deine reine Stirne und das rührend schöne Auge beleuchtete – –.«

Und er nahm ihre Hand, drückte sie gegen sein pochendes Herz, gegen seine Lippen, gegen seine Augen – ihren Mund zu küssen, wagte er nicht. – Ihr Auge aber voll scheuer, unbewußter, heißer Zärtlichkeit blickte auf ihn, und sie sagte mit vor Rührung zitternder Stimme: »Da ich Euch nun so schnell und so sehr liebgewonnen und es Euch gesagt habe, da ich gar in der Nacht herausgekommen bin, weil Ihr so sehr batet, so dürft Ihr nun nicht falsch sein, Ihr dürft es durchaus nicht.«

»Gegen die Natur, geliebtes Herz, kann man nicht falsch sein, man ist es nur gegen Wiederfalsches – man verläßt nur den, der uns verließ, noch ehe er uns fand, weil er in uns nur seine Freude suchte. Du liebst, wie die Sonne scheint; du siehst mich an, wie sich das grenzenlose Himmelblau der Luft ergießt; du kommst, wie der Bach zum [] Flusse hüpft, und wandelst, wie der Falter flattert: und gegen den schönen Falter, gegen den Bach, die Luft und gegen das goldne Sonnenlicht bin Ich nie falsch gewesen, und gegen dich vermöcht ichs nicht zu sein um alle Reiche dieser Erde – siehe, Anna, es ist so; – – aber, Anna, sage, liebst du mich denn auch wirklich so, so unaussprechlich, so über alles Maß, wie ich dich liebe? – – so sag es doch, Anna – – nicht?!«

Aber sie sagte nichts, nicht eine Silbe; das naturrohe Herz, das nie gelernt hatte, mit seinen Gefühlen zu spielen und sie zu lenken, war bereits von ihrer Allmacht iiberwältigt, und sie konnte nichts tun, als das unsäglich gute Antlitz gegen ihn emporheben und den Mund empfangen, der sich gegen ihren drückte – und so süß war dieser Kuß daß sie mit der einen Hand den sich ungestüm empordrängenden Hund wegstemmte, während sie hinübergebeugt emporgehobenen Hauptes die Seligkeit von den Lippen des teuren Mannes saugte. Er hielt sie mit beiden Armen fest umschlungen und fühlte ihren Busen an seinem klopfenden Herzen wallen.

»Heinrich,« flüsterte sie, »ich möchte dich doch du nennen.«

»So nenne, mein Herz, nenne.«

»Und eine Bitte habe ich – –.«

»So rede.«

»Die Bitte, daß du nie, nie mehr auf dieser Erde ein anderes Mädchen so liebst, wie mich – – und daß ich- –..«

»Was, Engel, daß du....?«

»Nicht wahr, Heinrich, du nimmst kein anderes Weib, ich müßte mich dann recht schämen.«

»Und ich, bei dem lebendigen Gotte, mich noch mehr. Anna, höre mich: jetzt lieben wir uns bloß, das ist leicht und süß, aber es muß mehr werden. Ich werde dich von hier fortführen; du mußt meine Gattin werden, ich dein Gatte – das ist schwer, aber unendlich süßer: immer an [] demselben Herzen, losgetrennt von Vater und Mutter und von der ganzen Welt. Du mußt lieben, was ich liebe, du mußt teilen, was ich teile, du mußt sein, wo ich bin, ja außer mir muß dir nichts sein: ich aber werde dich ehren bis ins höchste Alter, werde dich schützen, wie den Schlag meines Herzens, werde dein Geliebtes lieben, werde außer dir nichts haben – – und wenn eines stirbt, muß das andere Trauer hegen bis zum Grabe. Anna, willst du das?«

»Ja, sagt einmal, kann es denn anders sein?«

»Freilich, wo es recht ist, kann es ja nicht anders sein; das andere ist eben keine Ehe.«

»Und wohin werdet Ihr mich denn führen? – – aber ach Gott? wie wird es denn sein können? Der Vater wird in Ewigkeit nicht einwilligen und die Mutter auch nicht. – Ihr seid so gut, ganz lieb und gut – aber Ihr tut ja nicht wie alle andern Männer, die ein Weib nehmen. Sie haben Haus und Hof, oder sind wie Thrinens Stadtschreiber; aber Ihr geht in den Bergen herum, schlagt Steine herab, bringt Blumen ins Haus. – – –«

»Siehe, das ist so: wie du in deinen Büchern liesest, so bin ich bestimmt, im Buche Gottes zu lesen, und die Steine und die Blumen und die Lüfte und die Sterne sind seine Buchstaben – wenn du einmal mein Weib bist, wirst du es begreifen, und ich werde es dich lehren.«

»O, ich begreif es schon, und begriff es immer; das muß wunderbar sein!«

»O, du unbewußtes Juwel! freilich ist es wunderbar!! unausstaunlich wunderbar!! O, ich werde dir noch vieles, vieles davon erzählen, wann wir erst unveränderlich beisammen sind – da wirst du staunen über die Pracht und Schönheit der Dinge, die da auf der ganzen Erde sind. Jetzt aber, Anna, werde ich dir etwas anderes sagen, merke auf und behalte es in deinem klugen Haupte. Es ist das, weshalb ich dich in den Garten bat, und was deinen [] Vater und deine Mutter betrifft. Da ich vorgestern nachmittags wohl drei Meilen von hier im Schatten schöner Ahornen saß und nachdachte, wie nun alles werden solle: da fiel mir ein, daß ich nun hinausgehen und mir Stand und Amt erwerben müsse – ich habe Freunde, die mir helfen werden – dann werde ich kommen und deinem Vater das rechte Wort sagen, daß er es über sich vermöge, dich mit mir zu lassen. Es ist wohl, aber weit von hier, ein Gärtchen und ein Haus, und kleine Felder – das ist alles mein; es nähret mich und die Meinen, die zu Hause sind, die liebe Mutter, und eine Schwester, die fast so gut ist wie du selber; aber das alles würde in den Augen deines Vaters zu geringe sein – darum, Anna, bat ich dich, daß du in den Garten kommest, damit ich dir sage, daß ich nun fortgehe, aber wieder komme, dich zu holen, – daß du an mich glaubest und freundlich auf mich wartest – – und daß ich dich noch einmal vorher frage, ob du mich denn auch so sehr, wie ich dich, liebst und in alle Ewigkeit lieben willst – das alles wollte ich tun – – aber siehe, da geschah indessen etwas – nein es ist zu fabelhaft; ich getraue mir es selber nicht zu glauben – – erschrecke nicht, es ist nichts Böses – ich kann es keinem Menschen anvertrauen, doch dir will ich es sagen – du, liebe Unschuld – aber du darfst es nicht verraten –.«

»Nein, sagt es lieber nicht, ich verriete es vielleicht doch, und ich glaube ja ohnedies an Euch – und sagt es nur einst dem Vater, daß es gewiß wird, daß ich Euer Weib werde – es ist ohnedies schon hart genug, daß ich es verschweigen muß, daß ich Euch so gut bin. – – Denkt nur, neulich hab ich es sogar dem Philax ins Ohr gesagt: ich lieb ihn von Herzen, von Herzen, von Herzen – – aber der Thrine darf ich es doch morgen sagen?«

»Wann du mich liebst....«

»Nein, ich sage ihr auch nichts. – – Wenn Ihr nur nicht zu lange ausbleibt, werd ich es schon überdauern.«

[] »O, du schönes, naturgetreues Herz, wie werd ich dich verdienen können?« sagte er nach einer Weile, in der er sich gesammelt hatte. Seine Stimme war gerührt, und wenn seine Augen nicht im Schatten gewesen wären, so hätte sie sehen können, wie zwei Tränen in dieselben getreten waren. Sie aber sah es nicht, und da sie wegen seines Schweigens meinte, es sei ein Schmerz in ihm, so nahm sie seine Hand in ihre beiden, und hielt sie fest und herzlich.

Und wie sie so saßen und schwiegen, und wie um sie auch die ganze glänzende Nacht schwieg – und Minute nach Minute verging, ohne daß das Herz es wußte: da krähte hell und klar der Hahn, die Trompete des Morgens, der Herold, der da sagt, daß Mitternacht vorüber und ein neuer Tag anbricht. – – Anna sprang auf: »Um Gottes willen, seht, der Mond steht so tief, daß er in den Laubeneingang scheint, und die Luft wird heller – ich muß zurück ins Haus – haltet mich nicht auf – und lebt recht wohl.«

Er stand auch auf: »Nur noch eine Minute, Anna, noch eine Sekunde – nur diesen Kuß – – so – – aber du sagst ja schon wieder: Ihr.«

»Nun, du – so lebe wohl, lieber, teurer Mann, und komme doch recht bald und sage das Wort zum Vater.«

»Und die Tage, die ich bleibe – kommst du noch einmal zur Laube, Anna?«

»Nein, Heinrich, es ist nicht recht; ich will Euch unter Tags in dieser Zeit recht freundlich anblicken, wenn auch der Vater scheel sieht, aber kommen kann ich nicht mehr, es ist doch nicht recht. – – Sagt nur bald das Wort, dann bin ich ja immer bei Euch, Tag und Nacht.«

Noch einmal, auf die Spitzen ihrer Zehen gestellt, empfing sie seinen Kuß.

»Lebe wohl,« sagte er, »du innig süßes Herz – gute Nacht.«

[] »Gute Nacht«, sagte sie, und verschwand im Schatten des Laubes.

Er war allein.

Frischer, gleichsam dem Morgen zu, rauschten die Wasser der Pernitz, und die Blätter der Zweige begannen sich in einem kurzen Nachmitternachtlüftchen zu rühren. Der Wanderer ging aber tiefer in den Garten zurück, schwang sich über die Einfriedigung und schritt über den mondhellen Wiesenhügel dem Walde zu, als sei es ihm nicht möglich, in diesem Augenblicke seine Schlafstelle zu suchen. Die glänzende Nachtstille blieb von nun an ungestört, und nichts rührte sich, als unten die emsig rieselnden Wasser, und oben die Spitzen der flimmernden Sterne.

2. Das graue Schloß

Es war ein Klingeln und Läuten und ein freudiges Brüllen und Meckern durcheinander, als am andern Tage die Morgensonne aufging, die Bergtäler rauchten und die Herde wieder zu den Triften hinanstieg. Aber der Hirt Gregor ging nicht mit, sondern er stand in steifem Sonntagsputze auf der Gasse und sonnte sich; nur der graue Hund in seinem ewigen Werktagswamse und der Hirtensohn auch in dem seinigen begleiteten die Herde – der eine freudig sein Halsband schüttelnd, der andere rüstig den Bündel Steigeisen und das Griesbeil schulternd, die einzigen zwei Wesen, welche heute arbeiten mußten; denn alles andere ging der Feier und Ruhe nach. Auch der alte Boten-Simon stand schon mit einem glänzenden Gesichte, von dem er den zollangen Wochenbart geschoren, und mit noch glänzenderer Jacke auf der Gasse da, und schaute herum, recht behaglich die Wonne des einzigen Ruhetages der Woche fühlend, an dem er sonst nirgends [] hin mußte als in die Kirche, was er sehr gerne und immer mit vieler Salbung tat. Die Pfeife dampfte bereits, und auf dem Hute hatte er ein ganzes Gebüsche von Gebirgsfedern stecken, nebst dem riesenhaften Fächer eines Gemsbartes. Die warme Sonntagssonne stand bereits am Himmel und warf eine freudenreiche Strahlenmenge in das Tal. An den Bergen blitzte der Tau, und die Pernitz rollte lauter Gold und Silber durch die Felsen. In allen Häusern rührte und rüstete es sich sonntäglich, und die Waldhöhen standen in einem wahren Lauffeuer von Singen und Schreien der Vögel.

Oben im Stockwerke der grünen Fichtau öffnete sich ein Fenster, und das Antlitz des Wanderers blickte heraus, die Haare von der freundlichen Stirne zurückstreifend und die Augen nach Himmel und Wetter richtend. Beides ward genügend befunden, und er wollte eben wieder zurücktreten, als auch Vater Erasmus aus dem Hause schritt, zunächst an seinem Leibe schon die schimmernde Sonntagswäsche und die Sonntagskleider tragend, darüber aber noch die Werktagsjacke geworfen, und die Alltagskappe auf.

»Guten Morgen, Simon,« rief er, »guten Morgen! Ein schöner Tag das – das sind Tage zur Flachsblüte.«

»Blüht bereits, wie ein blaues Meer, im Asang draußen«, sagte Simon.

»Ich habe ihm den handigen Fuchs in die Gabel zu spannen befohlen«, redete hierauf der Wirt durch die Türe des Gassengärtchens hinein; »denn er ist gelassener als der andere – aber ich sage dir, Anna, daß du dich nicht etwa verleiten lässest, wenn er dich einladet, mit ihm zu fahren; der Fabelhans würfe dich samt sich in einen Graben. Fahre mit mir, wer weiß, wie bald ohnehin einer kommt, der dich auf immer und ewig davonführt.«

Anna, die im Gärtchen Rosen und anderes zum Sonntagsputze schnitt, wurde in diesem Augenblicke unter [] der Gartentür sichtbar, und die braunen Augen gegen den Vater hebend, sagte sie: »Ei, er wird mich nicht einladen, und der andere wird auch nicht kommen, lieber Vater.«

Sie war in ihrem Morgenkleide wieder gar so schön. Wenn sie auch öffentlich immer im Landesschnitte ging, so trug sie doch zu Hause Kleider nach eigener phantastischer Erfindung, und Vater Erasmus, einst ein Kenner weiblicher Schönheit, und nicht der letzte, der sie an seiner Tochter anerkannte, wurde nun vollends schalkhaft, indem er sagte: »Nun – nun, du Narre, er wird nicht ausbleiben, aber wenn er kommt – ein ganz auserlesener Bräutigam muß es sein, sonst lasse ich dich nicht von hinnen – ein ganz ungeheurer Prinz von einem Bräutigame muß es sein.«

»Wenn ich aber nicht gerne, nicht recht gerne fortgehe,« erwiderte sie treuherzig, – »nicht wahr, Vater, so soll mich keiner aus der schönen Fichtau fortbringen?«

Und wie sie hiebei so die bewußtlos schönen Augen gegen den Vater richtete, so rieselte es ihm, der ohnedies närrisch über sie war, wie von lächerlichem Stolze und von lächerlicher Freude durch die Glieder, und er platzte los: »Das soll er auch nicht – ja ich sage dir, wenn du nicht ein Glück machst, daß du ordentlich darnach zitterst, so darfst du nicht aus dem Hause – ein Glück mußt du machen, daß die ganze Fichtau die Hände zusammenschlägt.«

Über Annas Angesicht floß bei diesen Worten ein Purpur, so tief und schön, wie der der Rosen in ihrer Hand; zwei reine zentnerschwere Augenlider lagen tief herab gesenkt, und sie ging augenblicklich in den Garten zurück. Dort trat sie vor einen Fliederstrauch, schnitt aber nichts ab, sondern stand davor, und blickte ihn bloß an oben im Gemache stand einer, und drückte sich die Hand an seine Stirne – – nur die zwei arglosen alten Männer standen auf der Gasse, und plauderten fort.

[] »Ihr habt da eine gottlose hoffärtige Rede getan, Erasmus«, sagte der Boten-Simon; »wenn Ihr Eurer Tochter ein so vermessenes Glück erzwingen wolltet, daß es über Menschlichkeit hinausgeht, so seht zu, daß Euch Gott nicht mit ihrem Unglücke strafe.«

»Nun es ist nicht so arg gemeint,« fiel ihm der Fichtauer Wirt in die Rede, »wenn es nur ein tüchtiger Mann ist, in so Haselant wie der Stadtschreiber, mit dem der Schmied prahlt, sondern ein franker Biedermann, der seine Geschäfte rasch weg tut, schön und jung und freundlich ist und die Anna ein wenig hätschelt, weil sie's gewohnt ist. Ein paar Pfennige muß er haben, und dann legt sie das Ihrige dazu; denn mein einziges Kind geht nicht leer aus der grünen Fichtau – und verdient sie es denn nichts? sagt, Simon, ist sie nicht ein Ding, daß es ordentlich eine Schande ist, daß ich ihr Vater bin? – Nur meinen Kopf hat sie nicht; sie geht zu viel auf Faselei und Zeugs – das hat sie von der Mutter.«

»Ja, ja,« sagte Simon, »sie ist absonderlich geworden; ich duze sie schon seit einem Jahre nicht mehr, aber ich glaube immer, Ihr habt sie vermessen über ihren Stand erzogen.«

»Das soll sie auch,« erwiderte der Wirt, »sie soll über ihren Stand, darum tat sie noch keinen Schritt in die Schenkstube, und darf in der Wirtschaft nichts anrühren – und damit ists gut. Ich muß jetzt zu dem Wagen schauen. Lebt wohl.«

»Der ist nunmehro auch ein Narr«, sagte der Boten-Simon, indem er dem Abtretenden nachsah, und seine Pfeife fortrauchte.

Es hatten sich mittlerweile mehrere jener Gebirgswagen auf der Gasse der grünen Fichtau eingefunden, in denen die wohlhabendere Klasse an Sonn- und Feiertagen zur Kirche zu fahren pflegt. Auch von Fußgängern hatte sich einiges hinzugesellt.

[] Da die Gebirgsbewohner zerstreut mit ihren Gehöften in den Bergen sitzen, da die Gebirgskirchwege oft meilenlang sind, so hatte sich die Sitte gebildet, ein wenig bei der grünen Fichtau anzuhalten, um sich zu sehen, zu besprechen und etwa ein kleines zweites Frühstück zu halten.

So war es auch heute. Sowohl auf der Gasse als auch in der Stube waren Gespräche, und Boten-Simon war bald von mehreren Gruppen umstanden, wo er bald mit diesem, bald mit jenem ein weniges redete.

Das Zimmer des Naturforschers im oberen Stockwerke erglänzte indes freundlich von den Strahlen des Morgens, und sein Schimmer fiel auf die allerlei Stufen und Steine, die umherlagen und traurig funkelten, oder auf Kräuterleichen, deren dürre und spröde Gerippe die wohltuende Helle und Wärme nicht mehr empfanden, die durch die Fenster herein wallte, und die ihnen einst auf ihren freien Bergen so herrlich war; der Mann aber ging zwischen diesen Sachen auf und nieder, und sann nach.

Da war er vor wenig Wochen in ein schönes Tal voll grüner Pflanzen und freundlichen Gesteins gekommen auch ein schmuckes Mädchen hatte er gefunden – – und wie war denn nun alles? Die Tage waren so linde, so schmeichlerisch und so unschuldig über seinem Haupte weggegangen. Keiner brachte etwas Neues, in keinem ist etwas geworden – sie heischte nicht, sie forderte nicht, sie hoffte nicht – – und wenn er sie nun so stille, so sinnend, so brütend stehen sah: da war in ihm ein solches Übermaß von Neigung und Erbarmen, daß er sich nicht zu helfen wußte. Er hätte sich alle Adern öffnen lassen, wenn es nur ihr, nur ihr Linderung und Glück zu bringen vermocht hätte. Er wäre gerne an das Fenster getreten, um hinabzusehen, aber er getraute sich nicht; denn er fürchtete sich, daß sie noch immer am Flieder stehen und sinnen möchte.

[] Nachdenklich blieb er vor seinen Pflanzen und Steinen stille stehen und dachte: ›O du süßes, unerforschtes Märchen der Natur, wie habe ich dich immer und so lange in Steinen und Blumen gesucht, und zuletzt in einem Menschenherzen gefunden! O du schönes, dunkles, unbewußtes Herz, wie will ich dich lieben! Und ihr Blüten dieses Herzens, ihr unschuldigen, beschämten, hülflosen Blicke, mit welcher Freude drück ich euch in meine Seele!‹

So dachte er oben; unten aber rief die Stimme des wieder auf die Gasse gekommenen Vaters: »Ei, da hast du ja einen gewaltigen Pack von Blumen und Kraut aus dem Garten geplündert, und trägst dich damit, wie unser Pflanzenmann, wenn er das Gras von unsern Bergen schleppt.«

Der Wanderer trat ans Fenster.

»Es ist nur, Vater,« sagte Anna, »weil ich Thrinen einen recht vollen Strauß mit in die Stadt bringen will, weil sie in dem großen, widerwärtigen steinernen Hause keine Blumen haben. Und wie man sie in einen Strauß ordnet, daß es schön sei, habe ich von unserm Gaste gelernt, der mehr von Blumen versteht, als wir alle zusammen im ganzen Fichtauer Tale. Es ist auch ein wunderbares Leben in ihnen, hat er gesagt, und ich glaube es – und gewiß haben sie noch recht liebe, kleine Seelen dazu. Er weiß schon, warum er sich so mit ihnen abgibt.«

»Ja, ja, ja, ja, Leben und Seelen und Katzen,« erwiderte der Wirt, »sieh nur zu, daß du einmal mit deinem Kirchenanzuge fertig wirst; pünktlich nach einer halben Stunde wird abgefahren.«

Anna ging ins Haus, und nur dem feinen Ohre Heinrichs war ihr leichter Tritt auf der Treppe vernehmlich, wie sie die Blumen auf ihr Zimmer trug.

Nach einer halben Stunde waren wirklich, wie vorausgesagt, die schlanken glänzenden Füchse des Fichtauer Wirtes jeder an seinen Wagen gespannt, aber auch die Weiber, [] wie voraus zu sehen, nicht fertig. Erasmus ging in einem feinen, fast städtischen Sonntagsrocke unruhig hin und her. Boten-Simon hatte nach einem riesenlangen Stocke gegriffen, um seine Kirchenwanderung zu beginnen; denn der Schecke mußte an Sonntagen die herkömmliche Ruhe haben. Auch andere Wagen warteten noch ein wenig, um sich dem Zuge anzuschließen. Der Schmied saß im lächerlichen Putze da, und hatte eine flammend rote Decke auf den Wagensitz gebreitet und auf das Geschirre des Pferdes gesteckt, um den Stadtschreiber würdig zu empfangen. Auch der Wandererstand schon in seinem schönen Gewande da, daß er ordentlich, wie der vernünftigste Mensch aussah – – siehe, da erschien endlich auch Anna und die Mutter auf der Gartentreppe herabschreitend.

Die Mutter, eine sehr schöne Frau mittlerer Jahre, mit Gesichtszügen, deren Ausdruck weit über ihrem Stande zu sein schien, war in dem gewöhnlichen Sonntagsanzuge der wohlhabenden Gebirgsbewohner, obwohl alles an ihr von besserem Stoffe und feinerem Schnitte war; denn Erasmus liebte es, die Früchte seiner guten Wirtschaft an den Seinigen zu zeigen. Anna war gekleidet wie die Mädchen des Tales, aber wie man sie so über die Gasse sittsam dem Wagen zuschreiten sah, so hätte man geschworen, sie sei aus einem ganz anderen Lande, und trage einen Anzug, den sie sich erfunden, weil sie in demselben am schönsten sei. Ohnedies sind die Fichtauer Trachten die malerischsten im ganzen Gebirge. Da sie an Heinrich vorüberkam, überzog ein feines tiefes Rot ihre Wangen, und ihres Versprechens eingedenk richtete sie ihre schönen Augen voll treuherziger Liebe auf ihn, so daß jeder, nur ihr Vater nicht, hatte erkennen müssen, was hier walte, wenn sie überhaupt Augen dafür gehabt hätten.

Der Naturforscher nötigte aus Gutherzigkeit den Boten-Simon [] zu sich auf den Wagen, welcher aber nur sehr zögernd und mißtrauisch folgte und sichtbar mit dem Plane umging, sich der Zügel zu bemächtigen, sobald sich irgend etwas Verdächtiges ereigne – aber zum Erstaunen des Wirtes und der andern fuhr der Wanderer vor ihren Augen so geschickt von der Gasse weg, und so rasch der Steinwand entlang, daß dem Vater Erasmus das Herz im Leibe lachte, wie er seinen Fuchs so taktsicher dahin tanzen sah, und daß er ordentlich eine Hochachtung für seinen Gast zu fassen begann. Zunächst folgte er selber mit Annen und der Mutter, dann der Schmied und dann die andern.

Als man den langen, schmalen, romantischen Gebirgsweg neben der Pernitz zurückgelegt hatte und eben um den letzten Hügelkamm der Fichtau herumbog, wo dem Reisenden plötzlich ein breites Tal und der schlanke spitze Turm von Priglitz entgegensteigt, fahr ein rascher Wagen an sie heran, in welchem der Stadtschreiber mit seiner jungen Gattin saß, um die Kirchfahrer zu bewillkommen.

»Sei gegrüßt, Heinrich,« hatte er gesagt, »du teuerster aller Vagabunden, sei gegrüßt!«

»Gott grüße dich, Robert,« antwortete der andere, »das ist ein köstliches Tal, diese Fichtau!«

»Habe ich es dir nicht gesagt,« entgegnete Robert, »habe ich es dir nicht gesagt, als du immer nicht kommen wolltest?«

Sie hatten sich aus den Wagen hinüber die Hände gereicht. Indessen war aber Thrine von ihrem Sitze hinabgesprungen und Anna auch von dem ihrigen, und sie herzten sich auf offener Straße, als wollten sie sich tot drücken. Thrine war in der Tat eine ›schneeweiße‹ Thrine; denn ihr Kleid trug ganz und gar untadelig diese Farbe, und das Frauenhäubchen um das junge schöne Angesicht war dem schneeigsten glänzendsten Mittagswölkchen des [] Hochsommers vergleichbar. Sie drückte Annen von sich, sah sie an, und konnte sich nicht satt an ihr sehen, daß sie denn in so kurzer Zeit gar so schön geworden sei freilich konnte sie nicht ahnen, aus welch süßem, knospendem Boden diese Schönheit so schnell aufgesproßt war. Anna langte den mächtigen Blumenknäuel, den sie im ersten Schreck weggeworfen hatte, aus dem Wagen und drang ihn Thrinen auf. »Du mußt ihn zu Hause auflösen«, sagte sie; »denn die armen Stengel sind von den Fäden fast wund gedrückt, was ihnen sehr schadet; dann mußt du alles geordnet in deine Blumenbecher stellen.«

»Gott zum Gruße, Herr Schwiegervater«, hatte Robert dem Schmiede zugerufen; »nach dem Gottesdienste fahren wir alle zusammen in die lustige Fichtau.«

»Schön Dank, Herr Sohn, schön Dank«, entgegnete der Schmied, und indessen hatte sich wieder alles zur Weiterfahrt eingerichtet. Anna saß wieder bei Vater und Mutter, Thrine bei dem Gatten, und Heinrich fuhr bereits mit Boten-Simon so rasch den talführenden Weg gegen Priglitz ab, daß dessen Hutfedern flatterten und der Gemsbart sauste.

Man kam vor Roberts Hause an, wo immer die Wagen des Schmiedes und Wirtes warten mußten; man ordnete sich die Kleider, wechselte einige Worte und ging dann in die Kirche.

Nach dem Gottesdienste war, wie gewöhnlich, bei Robert ein Glas Wein. Thrine und Anna liefen durch alle Zimmer und verweilten hauptsächlich in der hintern Stube bei Thrinens kleinem Kinde. »Wie es gar so lieb und schön und unvernünftig ist«, sagte Anna, indem sie die kleinen unbewußten Züge des Kindes streichelte. Der Schmied saß indessen vorne in der Prunkstube im Ehrenstuhle, Annas Mutter bekam süßes Gebäcke, Erasmus machte beim Priglitzer Wirte droben ein Geschäft ab, und die Freunde Heinrich und Robert beredeten sich angelegentlich [] einige Minuten in einer Fenstervertiefung, als ob sie einen Plan ins Reine brächten. Dann traten sie zu den andern. Vater Erasmus kam auch. Thrine hatte sich angekleidet, von dem Kinde Abschied genommen und nun fahr alles der grünen Fichtau zu.

Wir aber müssen hier von derselben scheiden, so gerne unsre Feder noch bei dem klaren, freien, heiteren Fichtauer Leben verweilen möchte. Allein der Zweck der vorliegenden Blätter führt uns aus dieser harmlosen Gegenwart, die wir mit Vorliebe beschrieben haben, einer dunklen schwermütigen Vergangenheit entgegen, die uns hie und da von einer zerrissenen Sage oder einem stummen Mauerstücke erzählet wird, denen wir es wieder nur eben so dunkel und mangelhaft nacherzählen können. Zu Ende versprechen wir wieder in die Gegenwart einzulenken, und so ein dämmerndes, düsteres Bild in einen heitern freundlichen Rahmen gestellt zur Ansicht zu bringen.

Heinrich hatte nämlich von Robert das Versprechen erhalten, daß er sich bemühen wolle, ihm den Eintritt in den verfallenden Rothenstein zu verschaffen, und daß er ihm den Erfolg seiner Bemühungen in einem Briefe mitteilen werde, der zugleich Ort und Zeit der Zusammenkunft feststelle.

Ehe wir sie nun auf den alten Berg und in das alte Schloß geleiten, ist es uns noch vergönnt, den letzten Rückblick in das Fichtauer Tal zu tun, und zu sagen, daß die Forellen des Vater Erasmus ganz vortrefflich waren, daß Thrine, Anna, Robert und der Wanderer beim Schmiede im Garten speisten, daß nach Tisch ein ergötzliches Scheibenschießen war, daß sich manche heitere und lustige Gäste in der grünen Fichtau vorfanden, daß Anna im Laufe des Abends einmal der schneeweißen Thrine ohne allen Grund um den Hals fiel, und endlich, daß die Stadtleute erst nach Hause fuhren, da schon alle Sterne am Himmel standen. Gleich darauf, da schon auch alle Lichter [] der grünen Fichtau ausgelöscht waren, trat der Mond heimlich über den Berg herüber und schaute in den Garten, ob er wieder das süße, flüsternde, verstohlene Glück erblicke, wie gestern – allein es war nicht da; Gebüsch und Garten standen leer, und die ganze Nacht erblickte er nichts anderes als die glänzenden Lichttropfen der Gräser und das silberne Rieseln der Wasser.

Dem bewegten Sonntage folgte die arbeitsvolle Schleppe der Woche: Simon und der Schecke fuhren landaus, landein, die Sägemühle kreischte, die Schmiede tosete; Erasmus handierte und wirtschaftete, Anna ging hier und dort, oder stand und dichtete. Freilich hielt sie treu ihr Wort in Hinsicht des freundlichen Anschauens, aber auch in Hinsicht der Weigerung, je wieder mit Heinrich allein beisammen zu sein. Er sah sie nur von ferne, er sah sie gehen und kommen, oder ihr liebes Kleid sanft schimmern zwischen den Büschen des Gartens.

So verging die Zeit. Der Flachs blühte im Asang draußen immer blauer und blauer, die Tage wurden einer schöner als der andere, und so kam endlich auch wieder der Samstag, und mit ihm der Schecke, und Simon, und auch der Brief von Robert. Nachdem ihn der Wanderer gelesen, zahlte er an Vater Erasmus die Wochenrechnung, sagte, daß er heute nicht die Knechte aus den Gebirgen, die Jäger und andere Samstagsgäste der grünen Fichtau abwarten könne, sondern daß er noch heute nach Priglitz gehen und bei Robert übernachten wolle – etwa nach ein paar Tagen komme er wieder zurück; seine Sachen sollen indes auf seinem Zimmer verschlossen bleiben.

Und somit war dies unser letzter Blick in die Fichtau. Heinrich ging erst spät abends fort, und wie er der Steinwand entlang ging und um sie herumbog, so versank hinter ihm und auch hinter uns die ganze liebe grüne Fichtau mit allen ihren bereits angezündeten Lichtern, mit ihren fröhlichen Samstagsgästen und dem abendlichen Klingen [] der Zithern. Nur die rauschende Pernitz ging mit ihm und erzählte und plauderte ihm in der Finsternis vor, bis sie beide hinauskamen in das breitere Tal und an die Mauern von Priglitz.

Des andern Tags war wieder ein Sonntag, der nächste seit jenem, wo wir die Gesellschaft auf ihrer Kirchenfahrt begleitet hatten; aber heute finden wir die zwei Freunde, Robert und Heinrich, allein, wie sie, ehe noch die Strahlen des ganz heitern Tages heiß zu werden begannen, den verhängnisvollen Berg zu dem Schlosse Rothenstein hinanstiegen. Den ebenen Weg hatten sie mit einem Wagen zurückgelegt. Am Fuße des Berges nahm sie eine Allee uralter, dichtbehaarter Fichten auf und leitete sie empor. Die laue Vormittagsluft seufzte schwermütig in den Zweigen, und je höher sie kamen, wurde es immer einsamer, und das sonntägliche Schweigen der Fluren wurde immer noch tiefer und noch schweigender. Endlich gelangten sie zu einer grauen, von dichten Fichtenzweigen gestreichelten, eisenglatten Mauer von ungewöhnlicher Höhe. Dem Fahrwege der Allee gegenüber stand der weiße Fleck des zugemauerten Tores, und darüber starrten mißstimmige Trümmer eines Wappens.

Robert duckte sich unter das zwischen den Fichtenstämmen wuchernde Haselgesträuch, ging etwas neben der Mauer fort, und dann drückte er gegen einen hervorstehenden eisernen Knopf, worauf im Innern eine grelle Glockenstimme antwortete. Allein nachdem die unaufhörlich wackelnden Töne des Metalles geendet hatten, war es wieder stille wie zuvor, nur daß sich in der beginnenden Tageswärme ein vielstimmiges Grillenzirpen auf dem Berge erhob.

Vergeblich rief Robert: »He, holla! ich bin es, der Syndikus, den du einzulassen versprochen.« Es erfolgte keine Antwort. Nur sah Heinrich, da er zufällig emporblickte, am Mauerrande ein Haupt: Gesicht und Haare so grau, [] wie daneben die uralte Steinmetzarbeit, und die Augen starr auf die beiden Männer geheftet. Nach einer Weile verschwand es, und kurz dar auf hörte man ein seltsames Ächzen und Knarren in der Mauer, und zum Erstaunen des Wanderers schob sich ein Stück derselben gleichsam in einander, und es wurde die dunkle Mündung eines Pförtchens sichtbar, darinnen wie in einem Rahmen eine große Gestalt stand, dieselben steingrauen Gesichtszüge tragend, die Heinrich auf der Mauer gesehen hatte, nur ein Lächeln war jetzt auf ihnen, so seltsam, wie wenn im Spätherbste ein einsamer Lichtstrahl über Felsen gleitet. – »Geht nur gleich in den grünen Saal«, sagte die Gestalt.

»Sei gegrüßt, Ruprecht,« sagte Robert, »zeig uns den grünen Saal, und alles andere auch, wenn es dir genehm ist.«

Ohne alle Antwort wich der Mann zurück. Sie traten ein, und in demselben Augenblicke ging ein fürchterlicher, ein zärtlich gewaltiger Ton über ihren Häuptern durch die Luft.

»Es ist nur die Geige des Prokopus,« sagte der alte Mann, »schreitet herein, Erlaucht, in die Stadt des alten Geschlechtes.«

Bei diesen Worten verbeugte er sich gegen Stellen, wo niemand stand –; und dann richtete er den Mechanismus der Mauer. Es hob wie eine ablaufende Turmuhr zu schnarren an, schwenkte herum und schloß sich, so daß der Ort kaum zu erkennen war, durch den sie hereingekommen.

Die Freunde standen aber nun innerhalb der Mauer nicht etwa auf einem Schloßplatze oder dergleichen, sondern wieder im Freien, und vor ihnen stieg der Berg sachte weiter hinan, nur war seiner Senkung ein breites, weites, rätselhaftes Vieleck abgewonnen, auf dem sie sich eben befanden; es war mit Quadersteinen gepflastert, aber aus den Fugen trieb üppiges Gras hervor, und die heiße Sommersonne [] schien darauf nieder. Mitten auf dem Platze lagen zwei schwarze Sphinxe, mit den ungeheuren steinernen Augenkugeln glotzend und zwischen sich das ausgetrocknete Becken eines Springbrunnens hütend, aber aus dem aufwärtszeigenden Stifte sprang kein Wasser mehr; der Wind hatte das Becken halb mit feinem Sande angefüllt; aus den Randsimsen quollen Halme und dürre Blümchen; und um die Busen der Sphinxe liefen glänzende Eidechsen.

Weiter hinter dieser Gruppe stand ein Obelisk, jedoch seine Spitze lag ihm zu Füßen.

»Der Graf Johannes ist schon vor dreihundert oder vierhundert Jahren gestorben«, sagte Ruprecht.

Seitwärts diesem Platze sahen die Freunde ein kleines Häuschen stehen, wahrscheinlich die Wohnung des Pförtners; von dem eigentlichen Schlosse aber war nichts zu erblicken als graues Dachwerk, über das Grün des Berges hineinschauend und von kreisenden Mauerschwalben umflogen. Sie stiegen sofort den verwahrlosten, ausgewaschenen Weg hinan. Hie und da war auf der Abdachung des Berges ein Geschlecht zerstreuten Mauerwerkes und grünen Wuchergebüsches, worunter ganze Wuchten des verwilderten Weinstockes, der seiner Zucht entronnen, sich längs des Bodens hinwarf und sein junges, frühlingsgrünes Blatt gegen das uralte Rot der Marmorblöcke legte, die hie und da hervorstanden. Mancher kreischende Vogel schwang sich aus dieser grünen Wirrnis empor, wie die Freunde weiter schritten, und verschwand im lächelnden Blau des Himmels.

Auf dem ganzen Wege erblickten sie kein einziges menschliches Wesen. Die Seite des Berges, auf der sie stiegen, schien ein verkommender Park zu sein. Es hüpften Hasen empor und flohen seitwärts, alle Arten von Schmetterlingen und Insekten flogen und summten, und eine Lindengruppe, an der die Freunde vorüberkamen, hing voll [] wimmelnder Bienen. Aber nirgends war ein Mensch. Als sie auf der Hälfte des Weges waren, kam ihnen ein Hund nach, ein Bulle der größten Art, und ging ruhig hinter Ruprecht her.

»Wir haben alle Dinge bewacht,« sagte der alte Mann, »und der Hund ist mir sehr beigestanden, weil sie ihn fürchten weit und breit. Im Sixtusbaue, wo die Nonnenzellen sind, fließt alles von Honig; denn ich nahm ihnen nie einen, und der Wein muß in seiner eigenen Haut liegen. Ich habe dem Gerichte, da es alles anschauen wollte, den Weg nicht gezeigt, der von der Nonnenklausur hinabführt, darum wissen sie von dem Weine nichts. Gehet aber in den grünen Saal, Erlaucht, da werdet Ihr sehen, wie gut der Mann konterfeit hat.«

Heinrich sah verwundert auf Robert, dieser aber sagte: »Du hast wieder einen deiner bösesten Tage, altes Rüstzeug.« Dabei heftete er die Augen auf den Mann.

Dieser aber schwieg augenblicklich, sah den Syndikus betroffen an, und durch die versteinerten Züge ging ein feines Erröten, wie wenn er sich schämte. Fortan schwieg er.

Man hatte endlich die Kante des Berges erreicht, und Heinrich sah nun, wie erst eigentlich gegen die andere Seite hinab in einem sanftgeschwungenen Tale die Sammlung der Bauwerke lag. Es war alles viel großartiger, weiter und auch verworrener, als er gedacht hatte. Ein ganzes Geschlecht mußte durch Jahrhunderte hindurch auf diesem Berge gehauset, gegraben und gebaut haben. Abgesonderte Bauwerke, gleichsam selber wieder Schlösser, standen auf verschiedenen Punkten, niedere Mauern liefen hin und her, Brüstungen bauschten sich, die Anmut griechischer Säulen blickte sanft herüber, ein spitzer Turm zeigte von einem roten Felsgiebel empor, eine Ruine stand in einem Eichenwalde, und weit draußen auf einer Landzunge, deren Ränder steil abfielen, schimmerte [] das Weiß neuester Gebäude. Und diese ganze weitläufige Mischung von Bauten, Gärten und Wäldern war umfangen durch dieselbe klafterdicke, hohe, graue Eisenmauer, durch welche sie hereingelassen worden waren, und an welcher Heinrich bei seiner Entdeckung des Schlosses, wovon er nur einen Teil gesehen, herumgekrochen war, um einen Eingang zu finden. Wie ein dunkles Stirnband umzirkelte sie den weiten Berg und schnitt seinen Gipfel von der übrigen Welt heraus.

Da standen sie nun, und Robert suchte zu erklären, was er erklären konnte; denn auch er war mit dem Schlosse und mit Ruprecht nur äußerst oberflächlich bekannt, in wiefern es nämlich seit dem Tode des letzten Besitzers seine amtlichen Verhältnisse mit sich gebracht hatten.

Der griechische Bau war der des Grafen Jodok, dessen der Vater Erasmus erwähnt hatte. Er sah aus dem Schoße dichten Gebüsches herüber: ein edles Geschlecht weißer, schlanker Säulen. – Und um sie herum war es so grün, als zöge sich ein jonischer Garten sanft von ihnen gegen die andern barbarischen Werke hinan. Weit davon weg stand der Turm des Prokopus, ein seltsamer Gegensatz zu dem vorigen; denn wie ein verdichteter, zusammengebundener Blitz sprang er zackig und gotisch von seinem Felsen empor; der Felsen selbst ragte aus einem Fichtenwalde, der, durch den Borkenkäfer abgestorben, wie ein weißes Gegitter da stand. Hinten auf einer breiten glatten Wiese lag der sogenannte Sixtusbau: breit, bleifarben, massiv, ohne die geringste Verzierung, mit noch vollständig erhaltenem grünem Kupferdache. Die Fenster, ohne Simse und flach, standen so glatt in der Quadermauer wie Glimmertafeln, die im Granite kleben. Die neuesten Gebäude auf der auslaufenden Bergzunge waren die Wohnung Graf Christophs, des letzten Besitzers, gewesen. Lange Terrassen und Gartenbauten trennten sie von den oben genannten, und ein Gartenhaus, [] allerlei Ruhesitze und Lustbäuschen umgaben es, mit und ohne Geschmack erbaut und bereits wieder im Verfalle begriffen. Von hier aus sah man auch deutlich die Ruine um den Eichenbestand herüber blicken, einen Bau voll Balkonen, Giebel und Erker, aber gräßlich zerfallen – es war das Haus des alten Julian gewesen. Ein Gedränge uralter, riesenarmiger Eichen schritt von dem Neubau gegen die Ruine hinüber, und man sah zwischen den Stämmen Damhirsche wandeln und grasen.

»Das ist ja ganz herrlich und närrisch,« rief Heinrich, »wer hätte gedacht, daß eine solche Menge von Gebäuden auf diesem Berge Platz haben sollte, und daß noch die schönste Landschaftsdichtung zwischen ihnen und um sie liege. Mir ist es, wie in einem uralten Märchen, alles so wunderlich, als läge die Fichtau gar nicht unten, in der ich doch gestern noch war. Komm, laß uns auf die äußerste Spitze dieser Zunge vorgehen, dort muß die schönste Umsicht sein, und ehe wir in all das Mauerwerk kriechen, wollen wir hinuntersehen auf das Land, ob es denn auch wirklich noch ist wie gestern.«

Und sie gingen vorwärts auf der Zunge, deren Spitze zugleich der höchste Punkt des Berges war. Hier stürzt die Wand schwindelsteil ab, und man sieht über die Ringmauer wohl hundert Klafter senkrecht nieder. Auch auf dieser äußersten Spitze war ein Bauwerk, aber nur ein länglich rundes Dach von Säulen getragen, zwischen welche man im Winter Glasfenster schieben kann. Im Innern sind an den Säulen herumlaufende Sitze, von dem roten Landesmarmor gehauen.

Wohl war das Land noch wie gestern: grün und weich und ruhig lag die ganze Fichtau in der Sommervormittagsluft unten, ein sanftes Hinausschwellen von Hügeln und Bergen, bis wo der blaue Hauch der Ferne weht, und mitten drinnen der glänzende Faden der Pernitz – alles bekannt und vertraut, eine holde Gegenwart, herumliegend [] um die unklare Vergangenheit, auf der sie standen. Von der Häusergruppe der grünen Fichtau war nichts ersichtlich, nur der Felsengipfel des Grahns blickte rötlich blau und schwach durch die dicke Luft herüber, und Heinrichs Auge haftete gerne und mit Rührung auf ihm, als einem Denkzeichen des lieben, sanften Herzens, das an seinem Fuße schlägt und vielleicht in dieser Minute an den fernen teuern Freund denkt.

Die Männer sprachen nur wenige Worte, indem sie ihr Vergnügen ausdrückten und sich die verschiedenen Berggestalten zeigten und erklärten, während der Alte noch immer stumm und unbeweglich hinter ihnen stand – nur die auf dieser Höhe ziehende Mittagsluft regte die dünne, graue Locke seiner Schläfe; denn er hatte sein Barett, von beiden unbemerkt, noch immer in den Händen.

Sie hätten wohl zu andern Zeiten länger das heitere Bild zu ihren Füßen betrachtet, aber heute zog sie ihre nächste Umgebung unmittelbar an. Heinrich schlug vor, gleich die neuen Gebäude aufschließen zu lassen, da sie einmal in der Nähe seien, aber Robert zeigte ihm, daß dies unmöglich sei; denn Graf Christoph hatte, da er in den afrikanischen Krieg geritten, vorher alle Tore versiegelt, mit dem Befehle, daß vor seiner Zurückkunft nichts berührt werden dürfe, im Falle seines Todes aber der neue Besitzer erst am Tage seines Antrittes die Gebäude öffnen möge. Da hingen nun hinter allen den großen Spiegelfenstern des Hauses ruhig und schwer die grünseidnen Vorhänge nieder und regten keine Falte hinter dem glatten, glänzenden Glase. An Türen und Toren waren die Siegel, ebenfalls grün, sehr groß und mit dem Scharnastschen Wappen versehen. Von dem Dache hatte der Wind den einen und andern Ziegel heraus genommen, worauf bald mehrere oder wenigere Nachbarn folgten, so daß an manchen Stellen die nackten Sparren und Latten ungastlich und lächerlich in die Luft hinausstarrten. [] Der alte Mann sah das alles mit ruhigen und heitern Blicken an, als wäre es in der schönsten Ordnung. Der Kiesplatz vor dem großen Tore war von altem Regen zerwaschen, keine Spur von Rädern oder Hufen, und überall zwischen den Quarzkörnern sproßte zartes Gras hervor.

»Und wie lange ist dein letzter Herr schon weg?« fragte Robert.

»Nach der großen Krankheit – – –« begann langsam, schüchtern und mißtrauisch der alte Mann, indem er sich näherte – – aber Robert unterbrach ihn und sagte: »So setze doch dein Barett auf.«

»Ja, die Sonne ist heiß,« erwiderte Ruprecht, »sie ist heiß, ich habe es vergessen – und eine Pelzhaube ist gegen sie so gut, wie gegen den Winter.«

Und wirklich sahen die Freunde, daß sein Barett, das er bisher immer in den Händen gehalten hatte, trotz des heißen Sommertages eine Pelzhaube war.

»Nun wie lange«, sagte Robert wieder, »ist dies Haus da herrenlos?«

»Nach der großen Krankheit,« fuhr der Greis fort, »die draußen im Lande war – – nein, es war ja vor der Krankheit, und Narcissa starb an ihr, weil sie sich so kränkte; aber eigentlich hieß sie gar nicht Narcissa, sondern Tiburtia, aber weil sie so hoch gewachsen war, weil sie so zart und schön war, und weil sie den Kopf stets ein klein wenig gesenkt trug, so hat er sie immer Narcissa genannt – – Der Herr vergebe ihm, er war sehr stürmischen Gemütes, aber er war auch wieder so fromm wie ein Kind; denn ich selber habe ihn einmal weinen gesehen, daß man meinte, das Herz werde ihm aus dem Leibe springen – und dann ließ er die grünen Vorhänge nieder, siegelte alle Tore zu und ritt davon; denn seht, er war auch trotzig, wie Graf Julius, der ebenfalls fortging und nicht wieder gekommen ist. Er hatte die Tage vorher das [] Drehtor machen und das große daneben zumauern lassen – und alle Diener und Jäger, und die Hunde und die Pferde – alles flog desselben Tages davon, und er sagte: ›Hüte das Werk, wie den Stern deiner Augen, und halte die Brut ferne, bis ich komme und sie als mein Weib erkenne.‹ Dann habe ich das Werk gehütet, daß nur die Vögel des Himmels herein zu fliegen vermochten. Eine Stille war Euch, Graf Sixtus, eine Stille im Sonnen- und Mondenscheine – und immer fort still, nur daß die Totengeige des Prokopus, die er wieder hatte aufziehen lassen, zuweilen nachts oder tags tönte oder läutete. Dann waren fünf, sechs, acht Jahre, bis die vielen Herren mit dem Pergamente kamen, alles untersuchten und zusiegelten – dieser Syndikus, der mit Euch ist, war auch dabei und sie erzählten, daß man ihn in der heidnischen Stadt so schön begraben habe. Die Narcissa liegt in der Schloßkapelle; der Dechant war selbst herübergekommen und hatte gesagt: ›Ich will sie gesegnen.‹ Sie konnte nicht mehr warten, weil ihr das Herz stehen geblieben war.«

Er hatte diese Rede größtenteils an Heinrich gerichtet, Dieser hörte ihm schweigend und mit Schonung zu. Man war indessen durch den Eichenhag bis nahe an die Ruinen des Grafen Julian gekommen, und wie man auf den glänzenden Rasenplatz hinausgetreten war, auf dem die Trümmer liegen, so sprang der große Hund Ruprechts plötzlich gegen den Anger vor, und wedelte und scharrte, und bellte gegen die Luft empor – Ruprecht aber schrie: »Daß du stürzest, Pia, fürchterliches Kind, Pia! Pia! – – siehe, mein Herz, komme eilig herunter – ich habe dir ja gesagt, du sollest bei den Ringelblumen sitzen bleiben und sollest zählen, wie oft die Schwalbe zugeflogen kommt – –.«

Und ein feines klingendes Silberstimmchen ertönte in der Luft: »Sie flog fünfmal und zwanzigmal, und immer und von den Ringelblumen ist die erste gelb, und die [] zweite gelb – und sie waren alle gelb. Ich falle nicht, siehe nur, ich falle nicht.«

Die Freunde blickten empor, und auf dem höchsten der vielen Balkone des zerfallenden Schlosses, auf einem Balkone, der so in der Luft draußen hing, als klebe er nur an einem einzigen Steine, war ein Kind – ja sogar nicht einmal auf dem Balkone, sondern auf dem Steingeländer desselben war es, halb sitzend, halb reitend, es schien ein Mädchen; denn eine Fülle der schönsten gelben Ringellocken wallte um den Nacken und das glühende Gesichtchen, sie mochte zehn bis elf Jahre alt sein, oder auch noch jünger – am äußersten Geländer saß sie und jauchzte, und so wie ihr Ruprecht zugerufen hatte, und wie ihr eignes Stimmchen erklungen, wurde sie noch fröhlicher, daß er sie gesehen; sie stand auf, und schwebte nun stehend auf dem unsichtbar schmalen Stege des Geländers, und ging vorwärts und ging rückwärts, und neigte sich und beugte sich über, daß den Männern unten ein Schwindel und Grauen ankam, und daß ihnen die Augen vergingen.

Und sie rief dem Hunde zu: »Hüon, Hüon: komm herauf.« Und da dieser sich wälzte und plump in die Luft sprang und ungeschickte Freudentöne gab, so wußte sie sich vor Lachen nicht zu helfen.

»Ich werde mir die Haare ausraufen, wenn mir einmal der Hund ihre zerschmetterten Glieder nach Hause schleppen wird; denn er hat sie lieb, und sie folgt ihm auch am meisten.« Diese Worte hatte der Greis heimlich zu sich gesagt, aber die zwei Männer hatten sie gehört.

Indes warf oben das Kind die Arme empor und rief: »Ich sehe hierhin und dorthin, ich sehe alle Mauern, alle Bäume und die ganze Welt.«

Es schien, als hänge ihr lichtes Kleid wie eine weiße Sommerwolke im Himmelsblau draußen – die Männer standen regungslos, um sie nicht zu erschrecken und zu [] stören – endlich verschwand sie plötzlich oben, man hatte kaum gesehen, wie sie von dem Geländer gestiegen und durch die Mauer hineingekommen war – und fast in dem nämlichen Augenblicke wurde sie unten auf dem Rasen sichtbar, wie sie durch eine kleine Bresche neben Himbeergesträuche heraustrat. Sie blieb stehen, als bemerke sie die Fremden erst jetzt, zögerte, sah sie eine Zeit lang mit wilden, schwarzen Augen an, dann aber ging sie zuerst langsam um die Mauerecke, scheu und wild, wie eine junge, schlanke Pantherkatze, dann fing sie an, den jenseitigen Rasenhang hinab zu laufen – der Hund hinter ihr, und die Freunde sahen noch, wie sie weiter unten das mächtige Tier mit beiden Armen umschlang und sich mit ihm durch Gras und Gebüsche hinabschleifte, bis sie beide nicht mehr sichtbar waren und nur die Büsche wogten.

»Wir werden jenes Loch zumauern, Erlaucht,« sagte Ruprecht flüsternd, indem er hinzeigte und in seinen Gesichtsfalten Zorn und Todesblässe schlotterten, »im Parthenon liegen noch Ziegel, sie werden ohnedies nicht gebraucht.«

Dann fuhr er fort, als hätte er seine Begleiter vergessen: »Die Raben des Grahns werden kommen, über meine Hütte fliegen und mir Botschaft bringen, wenn sie schon tagelang nicht nach Hause gekommen ist – weil sie auf einem roten Steine liegt; die gierige Kohlmeise wird ihre Äuglein ausgehackt haben – oder die Wasser der Pernitz werden um ihre zarten Glieder waschen, und die Fische werden heimlich herumschießen, wie stumme Pfeile, hastig zupfen und sich um das Stückchen balgen, das einer erwischte – – ich werde indes suchen, und suchen, immer, immer – – und werde dann zum fürchterlichen Himmel heulen, daß die Sterne daran zittern; denn sie ist das Allerschönste auf der Erde, das Schönste zwischen Sonnen und Sternen, wie Narcissa war.«

[] Einen tiefen furchtsamen Blick warf er gegen Heinrich und sagte: »Ich werde öffnen; denn ich halte immer gesperrt.«

Und er drehte große Schlüssel in dem knarrenden Schlosse – aber es war lächerlich, zu schließen, wo nichts zu verschließen war; denn alle Mauern klafften, eine breite, sanfte Treppe führte zu Schutt, durch die Fenster wehte die Luft, kein Getäfel und Holz war mehr zu schauen, der Marmor der Gänge und Säle war erblindet, steinerne Stiegen hingen in der Luft, Mörtel rollte und rieselte allseits, ein buntes Lichterspiel flimmerte, und hellgrüne Pflanzen taumelten, wo ein Lüftchen zog oder ein Strahl hinküßte. Über eine jener hängenden, schief gesunknen Stiegen mußte das Mädchen zu dem hohen Balkone gelangt sein.

Nachdem sie über Kalkhügel und Steinhaufen gegangen, durch Breschen und Türlöcher gekrochen, ohne das mindeste Merkwürdige getroffen zu haben, verlangten sie hinaus, und der Greis führte sie durch ein anderes Tor, das er ebenfalls sorgsam hinter sich verschloß, in den Garten des Hauses. Es war ein langes Viereck, zu dessen beiden Seiten Mauerwerk lief, nicht hoch über dem Boden zwei lichte, freundliche Säulengänge führend. Von hinten war das Viereck durch einen mächtig großen Marmorfels geschlossen.

Wenn ein Wald oder Garten auch eine Ruine sein könnte, so wäre es dieser gewesen. Eingesunkne Gartenbeete, blecherne Blumentäfelchen mitten im Grase, eine fröhliche Wildnis von Unkraut, ein verdorrter Obstbaum, ein anderer ein bloßer Pflock mit zwei grünen Wasserschößlingen, ein dritter mit herrlicher Frucht, eine zwecklose späte Gabe – die Pfirsichzweige an der Wand, einst die Liebe und der Stolz des Herrn, hingen seitwärts, unangebunden, unfruchtbar, wie schlechte Weidenruten eine Ulme war emporgeschossen und streckte ihre Zweige [] lustig in den Säulengang hinein. Tausend Bienen und Käfer summten und arbeiteten in den üppigen Blüten des Unkrautes.

Mitten hindurch aber ging ein breiter, schöner Weg, als wäre täglich jemand darauf gewandelt, oder als wäre er gestern erst gemacht worden. Heinrich hatte auch bemerkt, daß in der Ruine von dem einen Tore bis zum andern über die Schutthügel ordentlich ein getretener Weg laufe. Sie gingen den Garten entlang. Wie sie immer näher kamen, so stieg ihnen der rote Fels stets größer entgegen, und Heinrich bemerkte endlich, daß in denselben eine hohe Pforte gehauen war, mit einem eisernen Tore verschlossen, daran eiserne Schlösser hingen, mit dem gräflichen und den Gerichtssiegeln versiegelt. Es war dieser Felsen der sogenannte rote Stein, in dem die Lebenserzählungen aufbewahrt waren, und dessen Bedeutung Heinrich von Robert aus den Gerichtspapieren erfahren hatte.

Seitwärts dem roten Steine war der Kirchhof des Schlosses. Ein anderes Tor, nicht massiv, nicht versiegelt, sondern ein hohes, breites Eisengitter, führte hinein. Es war auch ein Garten, aber statt der Blümlein war nur ein dunkler hingehender Rasen, statt des Obeliskes ein weißes Kruzifix in Mitte von vier Linden, und statt des Gartenhauses eine Kapelle, von den Eichen überschattet, die draußen in dem Walde des Julian standen.

»Die Bücher, so in dem Gewölbe dieses roten Steines sind,« sagte Ruprecht, »reden nur zu den Leuten, die aus dem Blute unsrer Grafen stammen, und jeder Tropfen ist aufgeschrieben, der seit siebenhundert Jahren aus einem ihrer Herzen rann, und keiner darf die Schrift lesen, der nicht ein Kind desselben Geschlechtes ist. Ihr seht, daß die Tore des Steines versiegelt sind, Ihr könnt nicht hinein, aber zu dem andern habe ich die Schlüssel.«

Und er schloß das Gitter auf und führte sie durch eine [] heitere Allee von Linden auf den Kirchhof. Es war der stillste Ort, den Heinrich noch auf dem Berge gesehen hatte, fast zum Frieden und Schlummer ladend; denn von drei Seiten war er durch den Eichenwald des Julian umgeben, so daß beinahe kein Lüftchen, ja kein Ton von außen zu dieser Insel dringen konnte: von der vierten Seite stand das alte Schloß und die Lindenallee, grau und grün gemischt – und von oben war die tiefe Bläue des Himmels und das niederfließende Gold der Sonne. Auch war jene wimmelnde Bevölkerung von Kreuzen und Zeichen nicht da, womit sonst so gerne die Erhabenheit eines Totengartens zerstört wird, und womit der Mensch seine armen Flitter auch in dieses ernste Reich hinüber trägt, sondern auf dem gleichen Rasen waren nur einige unbedeutende Merkmale, die Ruhestelle treuer Diener des Hauses bezeichnend, und in der Mitte stand ein hohes Kreuz von weißem Marmor, als Zeichen des allgemeinen Friedens und der allgemeinen Gleichheit. Viele Mitglieder des Geschlechtes ruhten ohne Grabmerkmal, wie sie es verordnet, unter der allgemeinen einfachen Decke des Rasens; andere aber lagen mit Wappen, Zeichen, Zierden und Prunk in der weitläufigen Gruft unter der Kapelle. Heinrich und Robert stiegen in diese Gruft hinunter; Ruprecht, der sie ihnen aufgeschlossen hatte, blieb oben auf einem Marmorwürfel sitzen, der aussah wie ein unfertiger Grabstein. Die Gruft hatte nichts anderes, als eben Grüfte zu haben pflegen: Sarge, Wappen, Vergänglichkeit – alles bedeckt mit Pomp und Moder, nur ein einziger Sarg stand da, ganz einfach von Eichenholz gezimmert ohne das geringste Zeichen, ja sogar ohne Namen. Sie stiegen nach einiger Betrachtung wieder hinauf, und wie sie aus dem dunklen Tore der Kapelle ins Freie traten, hörten sie ein plötzliches Rauschen, und sahen noch das Wegflattern des Gewandes und den Sprung des Hundes. Das wilde, scheue Kind, Pia, war in ihrer [] Abwesenheit bei Ruprecht gewesen und hatte bei ihrer Ankunft die Flucht ergriffen; sie sahen nur noch, wie sie hinter einen Holunderbusch, der an der Kirchhofmauer stand, verschwand, aber dort stehen blieb, und durch eine Öffnung ihr schönes Gesichtchen herausbog und halb dreist und halb geschreckt mit den übernatürlich glänzenden, schwarzen Augen die Fremden anstarrte er wie sich Robert nur regte, so zuckte sie weg, und wurde erst viel später wieder gesehen, wie sie mit Hüon auf einer roten Felskuppe stand. Von da an sah man sie bis gegen Abend nicht wieder. Heinrich konnte sich eines unheimlichen Gedankens nicht erwehren, wenn er sich diese zwei Wesen als die einzigen Bewohner des Berges dachte; den märchenhaft alten, blödsinnigen Mann und das verwahrloste, zartgliedrige Wesen, das in seiner Gesellschaft zu einem Wüstenvogel aufwachsen muß, der entsetzt aufflattert, wenn ihm die schöne Bildung eines Menschenantlitzes sichtbar wird.

»Sie ist stille und gut,« sagte Ruprecht, nachdem er die Kirchtüre gesperrt und den Schlüssel wieder zu den andern genestelt hatte, »sie saß die ganze Zeit, als Ihr in dem Gewölbe unten waret, hier auf dem weißen Steine und atmete ihr Laufen aus, und von dem Händchen quoll in Blutstropfen, weil Ihr sie an den alten Mauern so erschreckt habt, und sie fragte, wer Ihr seid, und warum ich Euch denn nicht erschlüge, wie den Wolf, der auch im Winter in die Fichtenallee gekommen ist und mit Hüon spielen wollte. – – Sie wußte nicht, auf welchem traurigen Steine sie saß und die Worte von den Menschen und Wölfen redete. – – Sehet, dieses Ding da sollte, als er ihren Tod erfuhr, nach dem Vorbilde gemeißelt werden, worunter Chelion liegt; aber als Ihr das große Pergament brachtet, Herr Syndikus, und von seinem Begräbnisse erzähltet, da raffte der Werkmeister den Hammer und Meißel zusammen und ging fort, daß nun der eichene [] Sarg ohne Namen unten stehen muß, und der Grabstein ohne Bedeutung hier oben liegen. Auch der Konterfeier ging fort und ließ die schönen, grünen, seidnen Vorhänge hängen – und sie hängen noch dort; denn das Grüne hat er sehr geliebt – – und Ihr müsset sie beide züchtigen, Erlaucht, die ungetreuen Knechte. Ach alles, alles ist nicht fertig geworden.«

»Lasse uns um Gottes willen das andere schnell abtun, mir wird es unheimlich in der Gegenwart dieses alten Mannes«, flüsterte Heinrich seinem Begleiter zu.

»Lasse ihn nur,« versetzte dieser, »er ist ja übrigens ganz harmlos.«

»Ich werde Euch nun zum glatten Hause führen«, sagte Ruprecht, »und die Klausur der Frau Hermenegild aufschließen; aber es sind jetzt die Bienen drin – sie tun nichts und sind nicht wild; denn ich habe ihnen nie Honig genommen, sie tragen viel aus den Linden der Gräber herüber, und der ist süß und duftig – – ich werde Euch auch den Wein zeigen – folgt mir nur«

Und er führte sie durch den Eichenwald dem sogenannten Sixtusbaue entgegen. Sie betraten ihn von der Hinterseite, und fanden wirklich hier den seltsamsten Haushalt: es lief ein langer, schmaler Glasgang mit erblindeten regenbogigen Scheiben längs des Gebäudes, und aus einigen zerbrochenen Scheiben desselben wogte es von Bienen aus und ein, und so viel man durch das trübe Glas erkennen machte, war der Gang, insbesondere die Nischen, abenteuerlich mit riesenhaften Waben bebaut, und die allergrößte Tätigkeit herrschte fort, daß es einem ordentlich im Kopfe wirrte und schwirrte, je länger man dem Treiben dieses Knäuels von Republiken zusah, an einem zu solchem Haushalte so unpassenden und ungewöhnlichen Orte.

»Die Nonnen hatten sonst den Gang zum Lustwandeln gehabt« sagte Ruprecht, »aber das ist nun nicht mehr [] möglich, weil sie tot sind, und wir können auch nicht dort gehen, wegen der Bienen; ich werde aber öffnen, wo wir durch die Zellen der heiligen Frauen kommen. – Im Winter gebe ich dem kleinen Geflügel immer Stroh; Graf Christoph nahm ihnen noch Honig, denn er war ihr Herr; aber ich lasse sie fortbauen, und es sind schon manche Schwärme in die Fichtau hinausgeflogen, weil sie meinten, es sei hier zu enge, oder weil sie taten, wie die Jugend überhaupt zu tun pflegt. Da die Frau Gräfin Hermenegild, als ihr Herr, Ubaldus, im heiligen Kriege gefallen war, die Zellen eingerichtet und die heiligen Frauen zur Anbetung Gottes berufen hat, dachte sie nicht, daß in den schönen Glasgang diese Bewohner kommen würden – – ja damals sind sie gewandelt und haben kunstreiche Arbeiten gemacht, die noch alle im roten Saale aufbewahrt sind; aber weil die Zellen nicht von dem Heiligen Vater geweiht waren, so wurde es nach dem Tode der Frau Gräfin untersagt, daß sie weiter bestehen; und die letzte der Nonnen starb, da mein Urgroßvater ein Kind war. Er ist auch Kastellan gewesen.«

Und bei diesen Worten hatte er ein Tor am Ende des Glasganges geöffnet, und führte sie nun durch Zellen und Gemächer, durch Refektorium und Sprechsaal – und sie sahen all das dumpfe, bestaubte Geräte, die schwarzen Bilder, die blinden Fenster und die zerfetzten Tapeten der Nonnen.

Gegen Ende dieser Dinge, wo wieder die andern Gemächer des Hauses beginnen, war einiges in Schutt, und allerlei Gänge öffneten ihre Höhlen. Hier sagte Ruprecht heimlich zu Heinrich, er sollte mit ihm gehen; denn er müsse ihm allein etwas zeigen. Heinrich zauderte anfangs ein wenig, aber durch Robert ermutigt folgte er dem Alten. Dieser gab in Miene und Bewegung alle Zeichen der höchsten Freude zu erkennen, führte ihn Trepp auf, Trepp ab, sperrte Türen auf und zu, machte endlich [] am Ende eines verfallenen Ganges Licht, und stieg mit ihm eine Wendelstiege hinab. Dort öffnete er ein äußerst kleines Türlein und führte Heinrich hinein: und siehe, da lag weithin Faß an Faß, der Greis in höchster Freude und Befriedigung zeigte darauf und sagte: »Ich habe das alles bewahrt; der große Eingang ist verschüttet, und diese Treppe wußten sie nicht, da sie kamen, alles zu beschauen. – Ich allein habe den Wein gepflegt, und pflege ihn noch; ich trinke keinen Tropfen – gebt mir nur ein wenig, wenn ich alt und krank werde – ich zeige dem andern, der mit Euch ist, nichts, denn sie wollen unser Eigentum verzetteln, und ich hätte ihn auch gar nicht in das Schloß gelassen, wenn nicht Ihr mit ihm gewesen wäret«, und bei diesen Worten brach er in ein kindisches Schluchzen aus, und ehe es Heinrich hindern konnte, hatte er sich niedergebückt und dessen rechte Hand geküßt, indem er lallend und bittend sprach: »Seid nur nicht mehr zornig, nun ist ja Bertha längst gestorben und sehet, ich habe für alles und alles gesorgt und es gehütet wie mein eigenes Herz. O, ich habe unsäglich viel ausgestanden.«

Heinrich konnte seine äußerste Erschütterung nicht bergen, und der Gedanke, der in seinem tiefsten Innern saß, die fast unglaubliche Ahnung, die ihn hieher geführt, die Ahnung, die er nicht einmal seinem Freunde zu offenbaren gewagt, schien sich hier an dem Wahnwitze eines alten Mannes zu verkörpern und zu offenbaren.

›Wenns ist‹, dachte er, ›wenns ist- –!‹

Er zitterte fast, nur um ein Haar breit in der verdunkelten Seele des andern weiter zu forschen, um sie nicht noch tiefer zu zerrütten. Die Verrückung jener Gesetze, auf deren Dasein im Haupte jedes andern man mit Zuversicht baut, als des einzigen, was er untrüglich mit uns gemein hat, trägt etwas so Grauenhaftes an sich, daß man sich nicht getraut, das fremdartige Uhrwerk zu berühren, [] daß es nicht noch grellere Töne gebe und uns an dem eigenen irre mache. Auch verlangte der Alte kein Zeichen, weil er sich selbst Rede und Antwort gab. Mit haushälterischer Geschäftigkeit führte er ihn von Faß zu Faß, zeigte die Neunziger, die Eilfer, den vom Rhein, die Ausländer, die Spanier, die Portugiesen – er zeigte ihm die Vorrichtungen, mit denen er nachfülle, die Fässer rein halte, die Luft wechsle – – in allem diesen zeigte sich die bewundernswerteste Zweckmäßigkeit. Er wurde immer vergnügter, und da er die wirklich erstaunliche Reihe von Fässern gezeigt hatte, näherte er sich vertraulich dem Ohre Heinrichs und sagte heimlich: »Das ist der neue Syndikus der schwarzen Stadt; sagt ihm kein Wort von dem vielen mächtigen Weine; denn sie versiegeln alles, bis Graf Christoph kommt; aber der kommt nicht mehr, und ist tot und im Mohrenlande begraben auch Steuer und Abgaben gehen immer ein und werden im Rathause der schwarzen Stadt aufgehoben. Geht nur gleich, wie ich schon gesagt, in die grüne Stabe, wo sie schon alle warten.«

»Wird aber nicht Pia Schaden nehmen, wenn wir so lange weg bleiben«, sagte Heinrich versuchsweise.

»Wer!?« entgegnete der Alte mit allen Zeichen des höchsten Erstaunens, indem er seinem jungen Begleiter mit der Laterne ins Gesicht leuchtete. Sein Geist hatte in Jahren geschwebt, wo Pia nicht war, und der Geier, der an seinem Gehirne fraß, das Mißtrauen an sich selbst, stand auf und schlug ihm die düstern Flügel um das Haupt. Er ging hastig und verstummt den Gang zurück, löschte das Licht aus, verbarg mit größtem Scharfsinne die Laterne, führte Heinrich in tiefster Dunkelheit wieder Trepp auf, Trepp ab, Gang aus, Gang ein, und sie standen endlich plötzlich bei Robert, der an einem Fenster ihrer geharrt hatte. Ruprecht war jetzt wieder ohne ein einziges Wort. Er schritt über einen Vorsaal, schloß [] auf und öffnete, sich anstemmend, die eingerosteten Türflügel zu den Gemächern. Eine Reihe von Zimmern empfing sie mit schwerer, verblichener Pracht; altertümliche, geschnitzte Geräte, wunderliche Tapeten, teils noch ganz, teils durch Moder und eigene Schwere zerrissen, Zeltbetten, Putztische, Sesselreihen, alles von altväterischem Prunke, kunstreich und doch fest gearbeitet, alles bedeckt mit Massen von Staub und Spinnenweben, und ein trübes Licht fiel durch die blinden Scheiben von dem einsamen, funkelnden Tage draußen herein.

Mit den schwermütigen Gefühlen menschlicher Nichtigkeit und Vergänglichkeit wandelten die Freunde durch diese Stätten versunkenen Glückes und Elendes, und Heinrichs Herz war tief und ahnungsvoll erregt. Er mußte sich einige Male die Hand über seine Augen legen, um sich zu sagen, wo er sei, und um dem andern sein Inneres zu verbergen.

So hatten sie mehrere Zimmerreihen durchwandelt, einst zu dem verschiedensten Gebrauche bestimmt, von der Öde des Prunksaales an bis zur Heimlichkeit des einstigen Schlafgemaches. Der Alte war ohne viele Teilnahme hinter ihnen gewandelt, aber da die Zimmer zu Ende waren und sie wieder in einen Vorsaal gelangten, bog er plötzlich um eine Ecke, riß mit sichtlicher Hast und Freude zwei riesengroße Flügel auf – und ein zauberischer Anblick schlug den Freunden entgegen: es war der grüne Saal; mit dem feinsten, dunkelsten Serpentine waren die Wände bekleidet, riesengroße Fenster, von unten gegen oben zum Teile mit grauer Seide gedeckt, rissen sich gegen den glänzenden Himmel auf, und ihr Glas war glatt und spiegelhaft, als hätte man es in diesem Augenblicke gesetzt – der Grund aber war, weil es der Alte immer putzte. – – Und in der Lichtflut dieser Fenster stand, in die dunkle Ebene des Serpentins gerahmt, eine ganze Reihe der herrlichsten Bilder: es waren sämtliche [] Scharnast, Männer, Frauen und Kinder, von Haupt-und Seitenlinien – und wie der erste Blick zeigte, von den besten Meistern gemalt. Man sah selbst Rubens' und van Dycks Pinsel, die besten Deutschen und sogar den Spanier Murillo. Heinrich war erstaunt, ja er war betäubt über diese Herrlichkeit. – Da funkelte die Sonne in wundervollem Schmelze auf jener Rüstung, jenem Goldgehänge, jenen Vasen und Geschirren schwer und massenhaft, als müßte ihre Wucht von dem Bilde niederbrechen, – auf dem weichen Goldhaare der Frauen, auf jenem Antlitze, in dem lieblichen Auge, auf dem Munde, der eben nur gesprochen haben muß, auf der Hand, die auf dem Marmortische ruhte oder den schweren Samt emporhielt – auf den Gesichtern der Männer, über die, obwohl in tausend Gedanken und Leidenschaften zersplittert, doch dieselbe Familienähnlichkeit hinlief, alles glänzte und funkelte da, von der furchtbaren Körnigkeit jener Menschen in Stahl und Eisen angefangen bis zu der Pedanterie und Weichheit derer, die in Tressen und im schwarzen Fracke sind.

Robert, der auch den Saal noch nicht gesehen hatte, war eben so bezaubert wie Heinrich; – Ruprecht im Übermaße der Befriedigung und des Stolzes stand da und drückte sein Gefühl dadurch aus, daß er abenteuerlich und ungeschickt mit seinen Fingern in dem großen Bunde Schlüsseln, den er trug, suchte und arbeitete und nestelte. Er hatte sein Barett abgenommen, als wäre er in der Kirche.

Nachdem der erste Eindruck dieser Einfachheit und Größe [denn selbst die Bilder waren weitaus über Lebensgröße] in etwas vorüber war, ging man zur Betrachtung der Einzelheiten über. Da hing gleich zu Anfang der alte Hans, ein frommer Herr und Ritter, daneben sein Eheweib Adelgund, ein echt deutsches Gesicht, wie sie uns so gerne aus den Bildern Albrecht Dürers ansehen.[] – Von ihm aus folgte die Reihe eiserner Männer und sittiger Frauen: Bruno und Brigitta – Benno und Irmengard dann Abaldus, dann Hermenegild, die Nonne – Johannes, der Kreuzfahrer – – und andere und wieder andere eine ganze Reihe. Vorzügliche Gemälde waren alle, obwohl sie augenscheinlich viel später gemalt wurden, als die Urbilder lebten, aber wahrscheinlich nach vorhandenen, wenn auch schlechten Originalen, denn dafür sprach der in allen Gesichtern der Männer fortgehende Familienzug. Die Namen standen in großen Goldbuchstaben unter jedem Bilde auf dem dunklen Serpentine. Was Heinrich ganz besonders wohl tat, war, daß die Bilder ziemlich tief herabgingen und von oben beleuchtet wurden, wie es denn überhaupt hervorging, daß der Gründer dieser Anstalt nicht die Bilder des Saales wegen aufgestellt, sondern daß dieser in seiner ungeheuren Größe und einfachen Pracht nur zur Verherrlichung jener dienen sollte. So war auch im ganzen wüsten Zimmer nicht ein einziges Gerätstück; bloß an Fenstervorhängen waren die mannigfaltigsten, behutsamsten Vorrichtungen, um teils die verschiedensten Lichterspiele auf die Gemälde wirken lassen zu können, teils dieselben vor unmittelbarer Sonne zu schützen. Und wie sehr Ruprecht mit der Sache vertraut war und sie liebte, zeigte der Umstand, daß er oft durch unbedeutende, gelegentliche Züge an Schnüren oder Federn ganze entfernte Bilderreihen plötzlich in das zarteste Licht legte, da sie vorher in ungünstiger Dämmerung geschwebt hatten.

Von den Frauen war keine einzige unschön, manche voll herrlicher Anmut, und einige Jungfrauen blendend und untadelig. – Von den Männern war keiner unbedeutend, viele schön, einige voll Schwärmerei oder Gewalt des Geistes; alle mit einem sonderbaren Zuge von Überschwenglichkeit, wie mit einem Familienzeichen behaftet; – da war Johannes, der Erbauer der Sphinxe und des [] Obeliskus – dann Sixtus, der Gründer dieses Baues und wahrscheinlich auch des grünen Saales, dann Ubaldus, der strenge Krieger – und andere. – – Weit unten von denen saß ein alter Mann mit einem Blicke, als glühte Dichtkunst oder Wahnsinn drinnen: es war Prokopus, der Sterndeuter. – Jungfrauen in sanfter Schönheit prangten neben ihm, seine Töchter, und hart daran ein seltsames Paar, zwei Männer: der eine in reichem Goldkleide, widrigen Antlitzes mit furchtbarem, rotem Barte, der andere im armen grünen Jagdkleide, ein sanftes Bild der größten Jugendschönheit; es waren die Brüder Julianus und Julius, Söhne des Prokopus – – Heinrich erschrak; denn wenn es wahr ist, was ihm ein gesendeter Zufall erst kürzlich geoffenbaret, wenn er ein später Sprosse all dieser Männer ist, so war es dieser Jüngling Julius, durch den der Strom in sein fernes, abgelegenes Heimattal geleitet wurde, daß er selbst nun heute, nach mehr als anderthalb Jahrhunderten, ein verschlagner, unbeachteter, letzter Tropfen desselben, vor der reichen Quelle stehe, aus der er kam. – Wie seltsam die Schicksale der Menschen und der Geschlechter sind! Was mußte nicht geschehen, daß er heute hier stehe und auf die zarte Stirne und die großen, freundlich lodernden Augen eines Knaben schaue, der vielleicht sein Ur-Ur-Großvater ist, jener Mann, von dem er so viel reden gehört, der gekommen sei, man wußte nicht, woher, der gewaltet, gewirtschaftet und gelebt habe, so herrlich wie kein Mensch, und den er sich nie anders denn als schwachen, verkommenen Greis vorstellen konnte, weil der Großvater erzählt hatte, wie er so schön im weißen Barte und schwarzen Samtkleide auf dem Paradebette gelegen sei, als man gekommen, um ihn mit Gepränge zu begraben, weil er heimlich ein vornehmer Herr und Graf gewesen.

Robert stand neben dem Freunde – und ahnte nicht, was in demselben vorgehen mochte. Auch der Greis Ruprecht [] schaute so gleichgültig und blöde auf alles, als verstände er nichts.

Indessen blickte dasselbe Schwärmerauge des Prokopus aus dem Bilde, dieselben guten, sanften Blicke der Jungfrauen und dieselben ungleichen Mienen der feindlichen Brüder.

Man ging endlich weiter.

Julianus war der letzte im Harnisch gewesen, aber auch dieser, ein leichtes, vergoldetes Ding, war mehr Spielzeug als Waffe. Nach ihm begannen die kleinen Degen und die Bordenkleider und Reifröcke, und – merkwürdig – war es nun Zufall oder war es Zeichen jener Zeit, die, sittenloser als eine, auch ihren fahlen Fittig. Über diesen entlegenen Berg geschattet hatte – die bisherige Reihe bedeutungsvoller Köpfe brach hier ab, und es folgten einige von vollendeter Nichtigkeit, ein Gebäude von Borden und Locken und Angesichter voll Zeremonie und Leerheit. Erst gegen das Ende, bevor der ganze Bilderreigen Überhaupt abbrach, gleichsam wie der letzte Glanzblitz einer erlöschenden Flamme, saß noch eine Gruppe, welche Auge und Ahnungsvermögen jedes Beschauers an sich riß; für unsere Freunde aber durch die aberwitzige Vermittelung des alten Mannes wahrhaft erschütternd wurde.

Die Zeit der Borden und Zöpfe nämlich hörte plötzlich bei einem Manne auf, der in ganz fremder Kleidung da saß, die gar keinem Jahrhunderte der Geschichte angehörte; einer Gattung weitfaltigen, rabenschwarzen Mantels mit roter Seide ausgeschlagen. Ein Kopf voll Schönheit und Bedeutung sah ernst und doch sanft schwärmend daraus nieder: ›Jodokus‹ stand unter dem Bilde. Die Männer sahen ihn neugierig an, den Menschen, von dem so abersinnige Gerüchte umgingen, und der doch so ruhig und gelassen-tatfähig aus dem Bilde sah, wie man es etwa von einem Epaminondas erwartet haben würde.

[] Auf einmal, da sie so hinsahen, ertönte hinter ihnen schüchtern, da er seit langem wieder zum ersten Male das Wort nahm, die Stimme Ruprechts, welcher sagte: »Er hat selbst den himmelblauen Vorhang im Testamente so verordnet, wie er ist, und daß er nur gehoben werde, wenn dringender Grund ist, das Bild zu sehen.«

Die Freunde blickten auf, und wirklich bemerkten sie, was sie im Augenblicke vorher nicht beachtet hatten, daß das Gemälde neben Jodokus mit blauer Seide verhängt war.

»Nun, es ist dringender Grund,« sagte Robert lächelnd, »enthülle das Ding.«

Aber der Alte achtete nicht auf die Rede dieses, sondern mit einem düstern, verzagten Seitenblicke Heinrich streifend, sagte er: »Ja, ja, es ist dringender Grund – ein dringenderer kann gar nicht sein; aber ich warne Euch Ihr werdet Euch entsetzen.«

Einen Augenblick zauderte er noch, dann aber tat er einen kurzen Zug an einer seidnen Schnur, der Vorhang rollte sich von selber empor, klappte in eine Feder, blieb stehen – und der alte Mann trat weit in den Saal zurück, als wäre er von tiefster Erschütterung ergriffen – aber, was sie sahen, war nicht zum Entsetzen, es war eher lieblich und schön: eine kleine weibliche Figur war auf dem Bilde gemalt, wie ein Kind in sanfter Trauer, und doch wie ein vermähltes glühendes Weib. Über dem schwarzen Seidenkleide hielt sie ein lichtes Antlitz, so seltsam und schön, wie eine Blume über dunklen Blättern. Die kleine, weiße Hand lag auf Marmor und spiegelte sich drinnen. Die Augen sahen fremd und erschreckt. Zu ihren Füßen, als friere er, schmiegte sich ein Goldfasan.

Unten im Serpentine stand: ›Chelion‹.

Die zwei Männer hatten lange und mit größtem Wohlgefallen den Schmelz dieses Bildes betrachtet, aber wie sie sich endlich zum Gehen wegwandten, sahen sie zu [] ihrem Erstaunen den greisen Kastellan mit äußerster Verzückung nach dem Gemälde starren. Er hatte sich nicht im geringsten geregt, und war weit hinten im Saale gestanden. Die Freunde richteten bei dieser Erscheinung, gleichsam wie durch Verabredung, noch einmal ihren Blick auf das Bild, und als nach einer Weile Heinrich sagte: »Sie ist aber eigentlich auch wundervoll schön und seltsam«, hörte man den Alten schleichenden Trittes herzugehen, und wie er in die Nähe Heinrichs gekommen, streckte er tastend seine Hand gegen ihn, daß der dürre Arm weit aus dem Ärmel des alten Rockes vorstand, und rief mit leiser, heiserer Stimme: »Ja, das ist auch entsetzlich, das ist das Unglück, wie sie schön ist, wie sie über alle Beschreibung schön ist – – ich bitt Euch, wahrt Eure Seele, Graf Sixtus! auf den Knieen bitt ich Euch, wahret Euch vor Versuchung; denn die Hölle hängt nur an einem Haare – – alles ist gut abgegangen; er hat sie lieb gehabt, fort und fort, wie der Adler sein Junges, aber da war sie weiß, ehe sie gestorben ist, so weiß war sie wie die Lilien, die unten im Sumpfe wachsen und die Häupter auf das schwarze Wasser legen – und mich hat er oft angeschaut mit den glänzenden Augen – und da er schon den langen, weißen Bart hatte, hat er mich angeschaut mit den schwarzen Augen, wie nachts die Eule blicket; – aber ich habe die Zähne meines Mundes zusammengeschlossen wie Eisen und kein Wort durch sie herausgelassen, – und dann hat er mich auch wieder lieb gehabt, und da er unten am Häuschen saß und die Sonne schien, da hat er meine Hand genommen und sie gestreichelt und gesagt: ›Lieber Ruprecht, lieber Ruprecht!‹ denn seht« – hiebei neigte sich der Greis gegen Heinrichs Ohr und flüsterte mit bedeutsamem Lächeln »er war seine letzten Tage blöde und wahnsinnig.«

Die zwei Männer schauderte es ins tiefste Mark der Seele, und Heinrich trat einige Schritte weg, aber der[] wahnwitzige Kastellan folgte ihm sachte mit glänzenden Augen: »Er hätte Euch über den Stein hinabgestürzt – Ihr seid aber auch viel schöner, als er es je gewesen – ich habe ihn recht gut gesehen, wie er bei Prokopus' Turme and, es war Nacht, und sein schwarzer Mantel war so finster wie die Wolken, die draußen wehten und Blitze zogen – der Seidenmantel knisterte – und es war eine so heiße Nacht, wißt Ihr? und sie dauerte so lange, als wie sonst drei, aber endlich wurde es Morgen und klar, Ihr waret fort – – es ist sehr gut, daß Ihr fort waret – – und es kamen so schwere, so schwere Zeiten – ich habe Euch gesagt, daß sie wie eine Lilie weiß war und noch kleiner als sonst immer, und alle sind gestorben, die arme Chelion starb, mein Weib Bertha starb, Ihr starbet, und wie er das Schloß angezündet hatte und unten im Häuschen auch tot lag, lange gestreckt, den weißen Bart wie ein zerfetztes Banner haltend, da kam ihr Sohn, der arme Christoph – seht Ihr ihn daneben – aber er ist auch tot und Narcissa – und alle sind sie tot – –...«

Unwillkürlich sahen die Freunde auf das Nebenbild der Chelion, und wirklich stand ein junger Mann dar auf, ihr vollendetes Abbild – wie sie so seltsam und schön, aber mit trüben, schwermutsvollen Blicken. Dieser war also der letzte Besitzer des Berges gewesen.

Zu einer andern Zeit und in anderer Lage würden sie lange vor diesen merkwürdigen Bildern und Naturspielen gestanden sein, aber in diesem Augenblicke war es ihnen nicht möglich; denn der alte Mann neben ihnen war von einer so furchtbaren Erregung gefaßt, daß er bei seinen letzten Worten in ein krampfhaftes Weinen ausbrach, die Hände vor das Gesicht schlug und die überreichlichen Tropfen zwischen den dürren, faltigen Fingern hervorquellen ließ, so daß sein ganzer Riesenbau vor Schmerz zitterte, wie der See schwankt, wenn ein ferner Sturm tobt. Das Herz der Freunde tat einen Blick [] in die Schlucht einer verworrenen, vielleicht grausenhaften Tat – sie konnten nicht forschen, und wollten es nicht; denn bereits funkelte der Wahnsinn, wie ein düstres Nordlicht, an allen Punkten des unglücklichen Wesens vor ihnen, und sie mochten ihn nicht steigern, daß er nicht etwa überschlage und dem, wenn auch uralten, Körper Riesenkräfte gebe und zu Entsetzlichem treibe – auch hat das Menschenherz eine natürliche Scheu, den dunklen Spuren eines andern nachzugehen, auf denen es zu Schuld und Unglück wandelte. Deshalb schwiegen sie beide tief und ernst, selbst gegen einander, und blickten nur noch trübe auf die beiden Bilder: Mutter und Sohn. Chelion war schön wie ein reiner Engel, und Christoph war es wie ein gefallener. Neben ihm war kein Bild mehr, sondern die lange Reihe leerer Nischen für alle noch Ungebornen, als hätte der Gründer auf eine Ewigkeit seines Geschlechtes gerechnet.

Die Freunde wandten sich nun zum Fortgehen. Ohnehin war ihnen die Luft dieses Saales drückend geworden. Sie wollten unbeachtet an Ruprecht vorübergehen, überzeugt, daß er ihnen, sich sänftigend, stille folgen würde. Aber wie er ihre Absicht erriet, ließ er plötzlich die Hände von seinem Gesichte fallen, und statt der vorigen Erregung sahen sie nun das äußerste Erstaunen darinnen, so, daß ihm sogar vor Schreck die Tränen stocken geblieben und wie gefrorne Tropfen in dem weißen Reife seines Bartes standen: »Aber wie seid Ihr denn?« rief er mit heftiger Stimme, »wozu habe ich Euch denn hergeführt? wozu seid Ihr denn zurückgekehrt? Ich habe den ganzen Tag die Geduld mit Euch gehabt, ich habe ja die höchste Geduld gehabt, als Ihr immer und immer die andern Dinge des Berges anschautet und nicht ginget, wohin ich Euch führen wollte, ich habe die Geduld gehabt, um Euch endlich auch zu zeigen, was ich getan habe – warum wollt Ihr denn nun fortgehen?!«

[] »So zeige uns nur, alter Mann, was du getan hast,« sagte Heinrich freundlich, »zeige es nur, wir freuen uns ja darauf.«

»Sehet,« rief der Greis besänftigter, »alle sind sie da, alle, die je lebten und atmeten auf dem roten Steine – sie sind versammelt in dem grünen Saale; nur einer war verworfen, – ich habe ihn immer sehr geliebt, und dachte, es soll nicht so sein – seht nun: ich war es, der es machte, daß Ihr schon im Saale standet, als er noch lebte, aber er wußte es nicht, er ging hinüber, und wußte es nicht. – – Wartet nur, ich will zuerst den blauen Vorhang herablassen, weil er nicht offen stehen bleiben darf«

Diese letzten Worte hatte er beschwichtigend und vertraulich gesagt, und dann lief er gegen Chelions Bild:

»Hüll dich ein,« sagte er murmelnd, »du schöne Sünde, hüll dich ein, du Apfel des Paradieses« – – und er zog wieder an der Schnur, und freiwillig, wie hinauf, rollte sich nun der Vorhang herunter, Stück um Stück den Schimmer des Bildes deckend, bis nichts mehr sichtbar war als die unschuldige Seide, straff gespannt und matt erglänzend. Dann zu heller, unheimlicher Freude über gehend, sprang der Greis zu der leeren Nische neben Christoph, drückte gegen eine Feder, und zum Erstaunen der Männer sprang der Serpentin los – und in das Krachen mischte sich das triumphierende Kichern und Lachen des Greises. Sie sahen nun, daß der Stein bloß auf eine Kupfertafel gemalt war, daß sich diese völlig umlege und noch ein Bild entblöße, das sie vorher ge deckt hatte. Es war ein Männerbild, und im Serpentine unten stand: ›Sixtus II‹

Allein das Bild war das Heinrichs Zug für Zug, nur in fremden Kleidern.

Der Alte rieb frohlockend und herausfordernd die Hände, als wollte er sagen: ›Nun?! nun?!‹

Robert war zum äußersten betroffen. Er hatte bisher die [] zwei andern begleitet, wie einer, der bloß Merkwürdigkeiten anschaut, nun aber wußte er plötzlich nicht mehr, woran er sei – – zwar ein Gedanke, blitzschnell und abenteuerlich, schoß durch sein Gehirn, aber er war zu lächerlich, als daß er ihn nicht sogleich hätte verwerfen sollen – nur fragend blickte er gegen den Freund. Dieser aber, der ebenfalls die Sache zu fassen begann, war anfangs totenblaß, dann allmählich flammend rot geworden; – der stummen Frage des andern aber konnte er eben so wenig eine Antwort geben. Bloß der wahnwitzige Greis war der einzige, der völlig klar war; mit einer Freude und Geschäftigkeit, die man an ihm gar nicht zu ahnen vermocht hätte, ging er sofort an das Werk der Erklärung, und in dem listigen Lächeln seines Angesichtes schwamm die gänzliche Beruhigung, die er über seine Anstalten empfand.

»Ich habe Euch bloß«, begann er, »nach dem kleinen, runden Bilde machen lassen, das im Deckel Eures feinen Reisekästchens war – wißt Ihr? – ich habe es nach jener Nacht herausgestohlen und aufbewahret. Ein alter, alter Mann hat Euch konterfeit, Ihr müsset ihn erst belohnen; denn er hat Euch sehr geliebt. Des ganzen lieben Tages Länge saß er oben im Julianusschlosse, über die sinkende Stiege hinauf, wo ich ihn versteckt hielt, und wohin ich ihm Essen und Trinken brachte. Dort malte er, und viele Tage und Wochen vergingen, ehe Ihr so herrlich wurdet, wie Ihr jetzt seid. Der arme Mann! weil er so alt war, mußte ich ihn immer beinahe die Treppe hinauftragen, daß sie unter uns knitterte und einzustürzen drohte. ›Gott lohne es Euch, Ruprecht‹, hatte er gesagt, ›Gott lohne es Euch, wenn Ihr alt werdet.‹ Er hat noch keinen Heller für das Bild, Ihr müßt ihm einen Lohn geben; denn sein Alter ist darbend und verachtet.«

»Ach, der ist wohl schon jenseits aller Heller und Millionen«, sagte Heinrich trübsinnig.

[] »Und nun,« fuhr der Kastellan begeistert fort, »nun muß das falsche Kupfer weg; wir werden Euch neben Jodok und Chelion setzen, weil Ihr früher seid als Christoph, und dieser muß auf Euren Platz herunter. – Fürchtet Euch nicht, Graf Sixtus, der andere ist schon gestorben er ist alt, sehr alt gewesen, und hat einen langen, weißen Bart gehabt; und ›lieber Ruprecht‹ hat er gesagt, wenn er auf der Bank des kleinen Häuschens saß – und Christoph ist auch tot. – Narcissa darf nicht in den grünen Saal, weil sie noch nicht angetraut war, ihr Bild ist auch nicht fertig, und es war ein barscher Mann, der sie konterfeite, und ging fort, als Christoph tot war – und Ihr aber, Erlaucht, kommt nun, und bringet Diener und Leute auf den Berg, daß es wieder lebe und wimmle, und eine Nachkommenschaft werde, den ganzen Saal zu bemalen und die ganze Zukunft zu erfüllen bis zum Jüngsten Tage.«

»Lasse ihn in seiner Ahnung,« sagte Robert, »es dürfte eher sein Gehirn zersprengen, ehe wir ihm begreiflich machen, daß du nicht Sixtus seiest.«

»Bin ich auch nicht Sixtus,« antwortete Heinrich, »so bin ich doch einer von diesen da – – ich bitte dich, frage jetzt nicht, mir ist alles sonnenklar, nur zittert jeder Nerv in mir. Ich werde dir alles – alles enthüllen, frage nur jetzt nicht.«

Und in der ungeheuren Aufregung, in der er war, ging er gegen Ruprecht, und als glaube er es selber, sagte er zu ihm: »Sei gepriesen, alter Mann, für das, was du getan hast – ich danke dir dafür, ich danke dir, und ich werde redlich sorgen für alle deine künftigen Tage.«

Dem Greise war in seiner Schwäche ein kindisches Weinen über diesen Dank angekommen, aber es äußerte sich nur darin, daß ein Zucken und allerlei Bewegungen und Regungen emsig durch die Falten des verfallenen Angesichtes liefen. Er beugte sich mehrmal, und beugte sich [] tief und vornehm, wie ein belohnter Diener – es wäre lächerlich gewesen, wäre es nicht schauerlich erschienen. »Ich tat nur meine Schuldigkeit,« sagte er, »ich tat nur meine Schuldigkeit!« Dann ging er mit allen Zeichen der Befriedigung und mit einer gewissen Würde in seiner Gestalt gegen das Bild und sagte: »Zum letzten Male wollen wir es schließen, Erlaucht, daß es nach kurzem offen strahle vor den Augen aller Menschen, und auf ewige Zeiten. O, ich habe Euch gleich gekannt,« fügte er zufrieden lächelnd hinzu, »da Ihr heute Einlaß verlangtet!« – Mit diesen letzten, fast heimlich gesagten Worten drehte er den Kupferdeckel wieder herum und fügte ihn ein, so daß keine Spur blieb, wo er sich früher geöffnet.

»So, jetzt ist alles geschehen und gesehen«, sagte er und trat zurück. Wirklich waren nun alle folgenden Nischen in langer Reihe leer, und die Freunde wanderten noch den Rest entlang, dem Tore zu, das sie in die andern Gemächer des Baues führte.

Daß sie dem, was nun folgte, wenig Aufmerksamkeit schenkten, begreift sich. Sie gingen noch durch mehrere Abteilungen des Sixtusbaues. An den grünen Saal stieß ein roter, gefüllt mit den tausenderlei Arbeiten der Frauen des Rothensteines, namentlich mit einer Unzahl Spielereien der Nonnen. Sonst möchte es nicht ohne Annehmlichkeit sein, diese Zeugen einer vergangenen Abgeschiedenheit zu betrachten, wie sie für den einen ein Glück, für den andern eine Trauer war, – aber die zwei Männer eilten vorüber, um nur so schnell als möglich Raum und Luft zu gewinnen und ihre Herzen gegenseitig ausschütten zu können. Nur ein Gemach, als sie all die Räume und Zimmer durchwandelt hatten, nahm noch ihre Aufmerksamkeit in Anspruch – es war das letzte, nahe an dem großen Tore gegen die Vorderseite des Baues gelegen, aus dem sie nun hinaustreten sollten. Das Gemach [] war der im Sechseck gebaute Malersaal, in welchem die Bilder zum grünen Saale verfertigt zu werden pflegten. Und auf eine schaurige Weise legte er jetzt den späten Besuchern diese seine einstige Bestimmung vor Augen; denn alles lag und stand noch so, als wäre der Künstler vor einem Augenblicke hinweggegangen; aber ausgedorrte Farben, Staub und Spinneweben zeigten, daß hier jahrelang keine menschliche Hand tätig gewesen sei. Dennoch waren noch alle Fenstervorhänge niedergelassen, bis auf einen, um das Licht auf die Leinwand zu sammeln. Eine lebensgroße Gliederpuppe saß da, und schwere, schön geordnete, grünseidne Draperie hing an ihr nieder, um auf das Bild gemalt zu werden; aber die scharfen Seidenfalten derselben lagen voll dichten, alten Staubes, und der Glanz des Stoffes war erblindet. Der rote Samtsessel, auf dem die saßen, die abgebildet werden sollten, stand leer; aber daneben auf der Staffelei war auch das unvollendete Bild von der, die zuletzt auf dem Stuhle gesessen. Um das Bild war schon im voraus ein breiter Rahmen von künstlichem Serpentine gemalt, um die Wirkung auf den künftigen Platz berechnen zu können; aber es kam nie auf diesen künftigen Platz. – Das Haupt war zwar vollendet, die Figur und der Grund aber bloß umrissen und untermalt, und die Hände waren weiße, verwischte Flecken. Heinrich jagte mit seinem Tuche den größten Teil des Staubes von dem Bilde, und getrübt durch den noch gebliebenen, sah ein schönes, schlankes Weib, wie eine Narzisse, demütig und selig aus der Fülle der schönsten, blonden Locken heraus.

»Geht vorüber, geht nur eilends vorüber,« sagte angstvoll dringend der Greis, »ich bitt Euch inständig, geht vorüber – es ist nur mein armes Kind – was soll ich denn hier stehen bleiben? – ich habe ja ohnedies schon um sie geweint. – – Sie sollte in den grünen Saal kommen, aber er wurde in dem Lande der Heiden erschlagen – der [] Maler ging fort – sie starb. – – Seht, der Konterfeier ist hinterlistig wieder erschienen und wollte das Bild und die Sachen fortnehmen, aber ich sagte zu ihm, daß ich ihn erstechen werde, wenn er es täte – da ging er, und kam nimmermehr wieder. Ich bitte Euch, laßt stehen und gehen – – alles ist nicht zu Ende; alles ist falsch, ihre Ehre und ihre Erhebung ist falsch, wie der Stein, den sie um ihr Bildnis gemalt haben. – – O, vieles, vieles ist fürchterlich geworden, seit Ihr fort waret: Graf Jodok hat seinen Sohn Christoph verflucht, und dieser ist nicht gekommen, bis der Vater tot war, und dann kam er, und war wie eine scheue Amsel auf dem Berge und gesellte sich zur schlanken Ammer, die immer erschrocken das Köpfchen warf. – – Aber sie beide waren so schön, wie gar nichts auf Erden, und lauter Friede und Heimlichkeit war auf dem Berge. – – Laßt sie ruhen – laßt sie ruhen! – Hier ist das Tor; Ihr könnt ja gleich in den indischen Garten des bösen Jodok kommen. Seht, der Garten ist so schön – geht nur hinaus, geht hinaus, ich bitt Euch.«

Und hastig hatte er bei diesen Worten das Tor der ganzen Breite nach aufgerissen. Feines, liebes Grün sah einladend herein. Er zeigte hinaus; er war sichtlich erleichtert, als die Freunde das Gemach verlassen hatten. Dann mit Kraft und Schnelle jagte er die Flügel zu, drehte dreimal den Schlüssel im großen Schlosse um und schlug noch mit der Faust auf das eiserne Tor, recht freudig, daß es einmal zu sei. – Aber auch die Männer waren erleichtert, als der düstre, schwarze Bau gleichsam hinter ihrem Rücken zurückwich, und die helle, grüne Landschaft glänzend in der Nachmittagssonne vor ihnen lag und sich die Flut des lieben, vertrauten Sonnenlichtes wieder um sie ergoß. Es war ein reicher Garten, durch den sie gingen, voll der sanftesten Sträuche und Bäume nebst Resten verkommener ausländischer Gewächse.

[] Mitten in dem Garten stand ein großer, weißer Würfel aus dem feinsten Marmor gehauen, mit der Inschrift: ›Jodokus und Chelion.‹ Sie gingen vorüber, dann gelangten sie in den griechischen Säulenbau des Jodok, das sogenannte Parthenon. Die Säulen standen hoch und prächtig in die Lüfte, und Gemächer und Korridore liefen; aber alle die Keuschheit des Marmors war häßlich von Rauch und Flamme geschwärzt und verödet – eine Schicht unreiner Ziegel lag zwischen den beschmutzten Säulen und schändete die edle Leiche des Gebäudes.

Sie weilten auch hier nicht lange – und es war auch nichts zu sehen als die leere, hohle Hülse einstiger Wohnlichkeit, in der nun die Trauer brütete. – Sie gingen hinter dem Gebäude durch einen weitläufigen Obstgarten nach und nach um die Bergkuppe herum und stiegen dann durch den erstorbenen Fichtenhain zu dem Turme des Sterndeuters Prokopus hinan. Der Turm selber war leer, nur daß noch Trümmer von astronomischen Geräten, Mappen und Büchern herumlagen.

Aber an der Außenseite desselben war gegen Süden eine riesenhafte Äolsharfe gespannt. Ihre Saiten gingen von dem gepflasterten Steinboden, der rings um den Turm lief, bis auf die Spitze desselben empor, und sie wogten leise, tief und zart im Hauche der leichten Luft, als die Freunde eben davor standen, gleichsam als rede sie jetzt freundlich zu ihnen, während sie öfter unter Tags einen lauten, langen Ruf über die Berge getan.

Mit dem Turme des Prokopus war die andere Seite des Schloßberges gewonnen, und sie begannen nun den Rückweg. Der alte Pfad, der von dem Turme abwärts lief, wand sich wieder sachte um die Wölbung des Berges dem Tore zu, durch das sie hereingekommen waren, weil es das einzige in der ganzen Ringmauer war. Ehe sie zu dem Platze der Sphinxe und des Obeliskus gelangten, trafen sie auf die Wohnung des Kastellans – es war ein [] niederes, breites Haus, an einer heißen Sandlehne gelegen – und hier sahen sie noch einmal das Kind Pia, wie es mitten unter Ringelblumen in verwahrloster Gartenwildnis schlief. Ein steinaltes Mütterchen, wahrscheinlich die Magd Ruprechts, saß bei ihr und wehrte ihr die Fliegen. Auch der Hund saß nebenan und betrachtete klug die Gruppe.

Ruprecht war auf dem Wege von dem Berge herab wie ein Lamm hinter den Männern gegangen. Jetzt, wie sie ein wenig anhielten, um die Gruppe im Garten zu betrachten, und er an ihnen vorbeikam, sahen sie, daß seine blaßblauen Augen ganz leer standen, daß er auf die Seinen keinen Blick tat und geradeswegs gegen die Ringmauer zuschritt. Dort angekommen, öffnete er die Pforte und wies die Männer unter denselben Verbeugungen hinaus, wie er sie hereingewiesen hatte. Sie traten durch das schmale Drehtor und hörten hinter sich die Vorrichtung knarren und den Schlüssel rasseln. Nach einigen Schritten, die sie gebeugt durch das verwachsene Haselgebüsche getan hatten, standen sie wieder in der Fichtenallee vor dem weißen Mauerflecke, wie sie vor einigen Stunden gestanden waren, ehe man sie hineingelassen hatte.

Die Nachmittagsluft seufzte wieder eintönig in den langen, haarigen Zweigen, wie es die am Vormittage getan, und die Stille und die Harzdüfte sanken wieder von den Wipfeln. Das Rätsel des Berges, das Heinrich gesucht, lag nun hinter ihm, und die graue, hohe, stumme Mauer stand wieder davor.

Da sie nun allein waren, und da sie die unbetretene, unbefahrne Straße der düstern Allee abwärts zu schreiten begannen, sagte Robert zu Heinrich: »Nun aber um Gottes willen erkläre, was soll alles das bedeuten?«

»Ich will es dir sagen,« antwortete Heinrich, »aber zuvor erkläre du mir, wie es denn kam, daß du nie von diesem [] außerordentlichen Schlosse und seinem wunderlichen Testamente zu mir gesprochen hast, da ich doch schon so viele Wochen in der grünen Fichtau wohne und so oft mit dir zusammengekommen bin?«

»Deine Frage ist noch wunderlicher als die Sache selbst«, erwiderte Robert. »Wie konnte mir beikommen, eben weil du schon viele Wochen in der Fichtau warest, daß du von einem Dinge nichts wissest, das doch in aller Leute Munde war? und wie sollte ich freiwillig wieder von etwas beginnen, von dem man eben erst aufgehört hatte zu reden?«

»Nun, so hat mich denn ein Wunder in dieser Angelegenheit geführt,« sagte Heinrich, »sonst wäre sie gerade für den verloren gewesen, den sie doch am meisten anging, der mitten im Gespräche darüber saß und nicht einen Laut davon vernommen hat! – Höre mich an. Du weißt, wie ich dir sagte, daß ich wunderbare Ruinen gefunden, und daß ich den närrischen Fichtauer Wirt darüber zu Rede gestellt; – du weißt, daß du mir dann selber das sonderbare Testament dieser Scharnasts auseinandergesetzt hast; aber das weißt du nicht, daß ein furchtbarer Blitz auf mich von heiterem Himmel gefallen war daß ein solcher Scharnast mein Ahnherr gewesen – und daß ich es doch keinem Menschen dieser Erde zu entdecken wagte, weil es dennoch unwahr sein konnte – ach, es schwebte mir ja kaum wie ein dunstiger, duftiger Nebelstreifen vor, der dahin sein konnte, ehe man ihn erfaßt. – Ich schrieb desselben Abends, als ich mit dem Wirte und deinem Schwiegervater gesprochen hatte, noch an meine Mutter, und befragte sie, wie unser Ahn geheißen, und welche seine Verhältnisse gewesen – und ich schickte den Brief noch in der Nacht nach Priglitz auf die Post. Darum, Freund, war es auch nicht Neugierde allein, was mich auf diesen Berg trieb, sondern ein Instinkt, der auf seinen Gegenstand weist, wenn er ihn[] auch noch nicht kennt. Siehe, dir muß der Kastellan, dir muß meine Ähnlichkeit mit jenem Bilde aberwitzig gewesen sein, und mir wurde es klar, wie die Sonne des Firmamentes. Ich will dir jetzt auch alles erzählen, merke wohl auf. Vor hundertundzwanzig Jahren kam ein Mann in unser Tal, das damals fester, dichter Wald war, kaum von einigen Hütten und Feldern unterbrochen. Der Mann hatte niemand als ein wunderschönes Mädchen mitgebracht, war sehr alt, trug einen weißen Bart und dunkle Kleider. Mit Werkleuten und Knechten, die er aufnahm, baute er ein schönes, weißes Haus auf dem Waldabhange und erweiterte um dasselbe den Raum in Gärten und Feldern. Sodann soll er allen, die um ihn wohnten, Gutes getan haben; er soll sie angeleitet, in tausend Dingen unterrichtet und überhaupt weise und ruhig gelebt haben. In jener Zeit geschah es auch, daß mein Urgroßvater, ein wohlhabender, gelehrter Mann und Pflanzenkenner, angezogen durch die wilde Schönheit des Waldtales, sich ebenfalls darin ansiedelte und ein ähnliches Haus baute wie der eingewanderte Alte. Da nun aber der Urgroßvater noch sehr jung war und, wie die Familiensage spricht, sehr schön, so geschah es wieder, daß sich er und die Tochter des fremden Mannes sehr gefielen und endlich heirateten. Der weise Greis hat noch lange gelebt, und ist an die hundert Jahre alt geworden. Erst bei seinem Tode kam es zu Tage, daß er ein Graf gewesen und Scharnast und Julius geheißen. Es sollen – waren es nun Verwandte oder sonst nur Freunde – vornehme Leute zum Begräbnisse in den Wald gekommen sein; aber wo sie hingeraten, oder ob man noch etwas von ihnen gehört, davon wußte man später nichts mehr. Auch verlor sich die ganze Sage der Abstammung in unserer Familie, wie eine Dämmerung, die vergeht, so, daß kaum einer davon sprach, die andern es nicht glaubten. Denke dir nun, wie mir ward, da der Wirt die Namen nannte, die mir in den [] Ohren klangen, und die ich kaum heraufbeschwören konnte – denke dir, wie ich in dieses Schloß trete und mich der irre Kastellan als Herrn begrüßt – wie ich auf jenem Bilde in längst verschollenen Kleidern stehe – wie ich als Genosse in den Jugendgeschichten eines uralten Mannes spiele. – – Wenn es nun ist, denke dir, wenn es ist: dann ist jener schöne, sanfte Knabe Julius in Jagdkleidern der weise Greis aus unserm Walde, dann bin ich in die Fichtau gegangen, um Blumen und Steine zu sammeln, und habe das tote Geschlecht meiner Väter gefunden. Wie wunderbar! Warum ich aber jenem andern Bilde einer andern Linie, jenem zweiten Sixtus so ähnlich sehe, weiß ich nicht, wenn es nicht eines jener Familienwunder ist, die sich zuweilen ereignen, daß nämlich in einem Gliede plötzlich wieder dieselbe Bildung hervorspringt, die schon einmal da gewesen, um dann wieder in vielleicht ewige Unterbrechung auseinanderzulaufen oder wenn es nicht ein Fingerzeig des Himmels ist, daß noch ein entfernter Sprößling dieses Geschlechtes lebe, auf den man sonst nie gekommen wäre.«

Robert schüttelte bei diesen letzten Worten seines Freundes fast traurig den Kopf und sagte: »Das ist ja eine erstaunliche, überaus merkwürdige Geschichte, die du da so erzählst, als wäre sie vollkommen einleuchtend – ich erstaune fast vor den Folgen – ich weiß es noch gar nicht, wie sehr ich mich darüber freuen werde – aber vorerst bin ich noch beinahe betrübt darüber; denn siehe, Heinrich, deine Erinnerungen zählen vor Gericht nicht, der Name ist dir dunkel, die Erkennung des Kastellans folgte bloß aus deiner Ähnlichkeit mit jenem Bilde, die selber zufällig ist – ich sehe einer endlosen Sache entgegen. Wird man nicht sagen, du selber habest das Bild malen und dort verstecken lassen, da die Ähnlichkeit zu lächerlich ist? oder was beweist sie am Ende? Sage, hast du außer den Dingen, die du mir erzähltest, weiter nichts, [] nicht irgendeine kleinste Kleinigkeit, woraus Hoffnung entstände, daß man würde einen Beweis herstellen können?«

»Ich weiß in der Tat sonst nichts,« entgegnete Heinrich, »als daß jener alte Mann Julius Graf Scharnast geheißen, das heißt ich meine, daß er so geheißen, aber ich habe meiner Mutter geschrieben, ob er so geheißen, und ob nicht Schriften von ihm übrig wären. Ich bin nur darum nicht gleich selbst nach Hause gereiset, damit ich noch eher dieses Schloß besuchen und dann mit dir reden könnte, daß du mir als Rechtserfahrner einen Rat gebest. Sobald die Antwort der Mutter da ist, werde ich sie dir mitteilen und dich fragen, was ferner zu tun ist.«

»Es ist gut so,« antwortete Robert, »sage nur keinem Menschen etwas von der Sache, damit nicht entgegengearbeitet werde. Wenn die Lage so ist, wie sie scheint, dann müssen bestimmt und gewiß Dokumente von jenem Julius Scharnast irgendwo liegen; die Kunst ist dann nur, sie klug zu finden und klug zu heben, ehe sich eine Hand darein mischt. Sie müssen vorhanden sein, wenn er nicht ganz und gar leichtsinnig und sorglos um seine Nachkommenschaft gewesen ist. Wenn der Brief deiner Mutter Winke gibt, so will ich selber mit dir reisen und jeden kleinsten Faden selber lenken und leiten, damit du nicht zu Schaden und Irrtum kommst.«

»Ich danke dir,« sagte Heinrich, »ich wußte, daß du gut und hülfreich bist, darum habe ich mich dir allein anvertraut.«

»Gut und hülfreich?« erwiderte Robert; »die Sache ist ja so ungeheuer und merkwürdig, daß ich ein wahrer Tiger sein müßte, wenn ich dir nicht mit Händen und Füßen beispränge – und ich begreife nicht, wie du so ruhig davon reden kannst, wie etwa von einem Pachtvertrag, oder einem Pferdekaufe.«

»Siehe, das ist so: ich trage die Sache schon acht Tage [] mit mir herum, wurde sie gewohnt, und sie ist mir indessen völlig einleuchtend geworden.«

»Ich wollte nur, sie wäre dem Lehenhofe auch einleuchtend«, sagte Robert, und dann fuhr er so wie aufzählend fort: »Es muß ein Taufschein da sein, ein Trauschein, etwa ein Testament jenes Greises, Korrespondenzen, ein Offizierspatent oder so etwas, – wenn Ihr nur die Dinge nicht zerrissen habt. – – Es dürften, ja es müssen sogar im Gewölbe des roten Steines Schriften sein, die über jenen Julius Auskunft geben – – dann der Vertrag über den Waldkauf und Häuserbau deines Greises – der muß in einem Archive sein. Euer Tal ist ja landesherrlich, nicht wahr?«

»Ich bitte dich, schone mich jetzt mit diesen Dingen«, sagte Heinrich; »denn ich weiß sie nicht; aber wenn wir reisen, werde ich dich überall hinführen, wo du hin verlangst, und dir Auskunft verschaffen, worüber du nur willst.«

»Nun ich hoffe und wünsche und will alles Beste für dich«, antwortete Robert; »aber ich habe eine wahre Angst , eine peinigende Angst habe ich, wie wir das Ding durchsetzen werden.«

»Ich wieder gar keine«, sagte Heinrich; »entweder rollt alles schön und klar wie Perlen heraus, oder ich bin ganz und gar keiner von jenen. – Nur leid täte mirs dann, sehr leid um das schöne Schloß, daß ich nicht auf seinem Berge arbeiten und schaffen dürfte, und daß ich es nicht mit all seinen Schätzen und Mälern von dem Heimfalle an Verderbnis und Unheimlichkeit retten könnte.«

»Freilich wäre es auch mir sehr angenehm«, erwiderte Robert; »es wäre eine wahre Freude für mich, es wäre die größte meines ganzen Lebens, Thrine und mein Kind ausgenommen, wenn ich dich hier oben wüßte als Herrn und Besitzer, ein klares und freundliches Leben führend über den Trümmern dieser verworrenen, vielleicht sündhaften [] Vergangenheit. – Du würdest alles ordnen, daß es heiter würde; du wärest uns so nahe, deine Mutter und Schwester wären bei dir – – und vielleicht ein gar so liebes Weibchen auch? – – Hab ich dich?«

»Erwähne das nicht,« sagte Heinrich errötend, »erwähne das jetzt nicht.«

»Nun, nun, du brauchst dich nicht zu schämen«, entgegnete Robert; »sie ist schon recht, sie ist herrlich und mehr wert als alle Fürstinnen und Grazien der Welt.«

»Freilich ist sie mehr wert, freilich«, – sagte Heinrich.

»Nun so handle rasch zu,« erwiderte Robert, »und lasse alles andre gehen, wie es gehen mag.«

Unter diesen und ähnlichen Gesprächen waren die Freunde endlich vollends den Berg hinabgelangt, und sahen unten im dichten Gebüsche das Häuschen des Grafen Jodok stehen, und das steinerne Bänkchen davor, auf dem er in den letzten Tagen seines Lebens gesessen war. Dann gingen sie durch heitere Obstbaumgruppen dem Dorfe zu, wo sie ein Mahl bestellt hatten, und wo ihr Wagen wartete. Es ist begreiflich, daß sie während des Essens und noch nachher über die Dinge redeten, die sie gesehen, und über die Zukunft, wie sie einzurichten ist. Als es schon gegen die Kühle des Abends ging, saßen sie ein und fuhren den Rückweg gegen Priglitz zu. Öfter, wenn es die Berge zuließen, sahen sie noch auf die alte Burg zurück, und ganz spät, als schon längst die Sonne untergegangen und sie eben um einen Winkel in das Haupttal der Pernitz einbogen, rissen noch einmal die grünen Hügel auseinander und ließen den verlassenen Zauberberg durchblicken, wie er fahl, gleich einem Luftbilde, in der Dämmerung draußen hing – sie dachten sich noch einmal die Bewohner auf ihm, den blöden Greis, das Kind, das alte Mütterchen und den Hund; sie dachten sich die ragenden Bauwerke desselben, und die Reihe der starren [] schweigenden Bilder – dann schob sich ein schwarzer Wald vor, sie flogen um die Ecke, und das weitere Pernitztal nahm sie auf. Fröhlich rollten sie nun in der Nacht dem bekannten rauschenden Wasser entgegen, in die Enge des Tales zurückdringend, um Heinrich an der grünen Fichtau abzusetzen. Es rückten die alten, wohlbekannten Berghäupter immer finsterer und immer größer an dem Wagen vorbei, und die Freunde kamen erst an der Häusergruppe an, da wieder der Mond, aber nun ein abnehmender, über derselben stand und den fahlgrauen Schimmer auf die Dächer legte, da der Staubbach wieder Diamanten warf und die Gräser Perlen hielten. Auch in der Pernitz rührte sich das zerflossene Silber, und auf dem Waldlaube stand der ruhige, feste Glanz; aber alle Fenster des ganzen Hauses waren schwarz, die Ruhe der Bewohner zeigend. Zwei davon, die allein in einem matten Glimmer des Mondes schillerten, deckten das Gemach, in welchem der schlummernde Atem Annas ging. Heinrich stieg ab und pochte leise mit dem hölzernen Hammer an das Tor, Robert aber ließ seinen Wagen umwenden, um noch in der Nacht seine Heimat zu gewinnen und die harrende Thrine zu beruhigen.

Der Wagen war an der Steinwand des Julius verschwunden; auch vernahm man sein fernes Rollen nicht mehr. Der Knecht der grünen Fichtau, der das leise Pochen gehört und auf Befragen die Stimme Heinrichs erkannt hatte, hatte ihn eingelassen, – und so war wieder alles, was der heutige Tag gesehen, die lustigen Sonntagsgäste der grünen Fichtau, der närrische Erasmus, die zwei Wanderer, die Bewohner jenes Berges, und das in seiner Liebe befangene Herz, in denselben weiten, lichtdämmernden, schlummerbringenden Mantel der Nacht gehüllt und seinen Träumen überliefert.

Wir aber lassen sie schlummern und träumen, und schwingen uns indessen in die glänzende Luft hinauf, um aus [] ihr auf das ganze Bauwerk der Gebirge niederzuschauen. Tot liegt es unten weit hinaus und zeigt die schwarzen Spitzen gegen den Glanz hinauf, an denen sich nicht ein einziges Atom rührt, nur daß an den Wänden glitzernde Fäden niederrinnen und auf den nassen Bergen hie und da ein blitzender Mondfunke harrt. Der Orion ist schon tief geneigt und löscht bereits seine ersten Sterne an dem schwarzen Gebirgsrande aus – ein anderer Stern, ehe er völlig untergeht, blitzt noch so lebhaft, als sollte man in der Stille sein Knistern hören können – der halbe Mond aber steht noch hoch am Himmel und übergießt ihn mit dem Flore seines milchigen Lichtes, jedes Sternlein in seiner Nähe vertilgend. Alles, was unser Blick überschauen kann, von der Kette angefangen, die unter dem blitzenden Sterne ihren Schattenriß gegen den Himmel legt, über alle Höhen und Hügel herüber, auf denen jetzt die mattfärbigen Felsen ragen oder die feuchten Wälder stehen, alles dieses bis zu den schweigenden Zacken draußen, die die letzten das Licht des Mondes auffangen, alles, was wir so übersehen, steht unter den Fittigen jenes Schlosses, das wir heute mit den zwei Freunden besucht haben, und alle Wesen, die jetzt da unten schlummern und träumen, erwarten von ihm ihr Wohl oder Wehe. Wir aber wünschen von Herzen, daß sie sämtlich unter die Obhut des sanften, freundlichen Mannes gelangen mögen, der heute in jenem Mauerwerke gewesen und schon so lange mit Bewunderung zwischen diesen grünen Bergen herumgegangen ist. Er ist einfach und milde, und wird eine leichte und hülfreiche Hand über ihre Häupter strecken. Wir aber verlassen nun auch unsere Höhe und lassen den Rest der Nacht ungesehen und unempfunden über die stummen Berge hinweggehen, bis ihr letzter Silberschein weit draußen im Westen erblasset und die goldene Flamme des Morgens über ihre Häupter hereinschlägt, alle Stimmen, die jetzt schweigen, zu neuen [] Freudenrufen erweckend, und alle Leben, die jetzt tot sind, zu neuem Wogen und Wallen geleitend.

Als nun dieser Morgen angebrochen war, finden wir Heinrich in seinem Zimmer bereits aufgestanden und angezogen. – Er beschäftigte sich, indessen draußen die feurigen Goldströme um alle Hütten spielten, damit, daß er Pflanzen und Mineralien in flache Kisten packte, und wie eine fertig war, den Deckel anschraubte und ihn mit einer Aufschrift versah. So tat er fast den ganzen Tag. Und wie oft er indessen an das Fenster gegangen, ja selbst den Garten durchstreift hatte, so hatte er doch Anna nicht zu sehen bekommen; es war fast, als wiche ihm das Mädchen aus. Nur gegen Abend, als man ihn über den Steg und dann die Grahnswiese emporgehen sah, lauschte ihr Angesicht zwischen den weißen Vorhängen ihres Fensters heraus und sah ihm nach, so lange er zu erblicken war. In der Dämmerung kam er wieder zurück, und der große Wirtshund ging mit ihm, weil er ihn oben am Hage gefunden hatte und ihm überhaupt sehr zugetan war. Die Tiere kennen gute Menschen und gesellen sich zu denen, die ihnen wohlwollen.

So verging auch der andere Tag und der nächste wieder. Mittwochs aber, da er eben über seine Gassenstiege herabgegangen war, um später sein Mittagsmahl zu nehmen, lief Anna hochrot aus dem Gassengärtchen herbei und sagte zu ihm: »Seit Morgen liegt schon ein Brief an Euch in des Vaters Stabe; Thrinens Syndikus hat ihn mit einem eigenen Boten gesendet.«

Heinrich entfärbte sich bei dieser Nachricht, und beide, ohne sonst ein einzig Wort zu sagen, gingen wieder auseinander.

Der Brief aber war von Heinrichs Mutter. Zitternd entfaltete er ihn und las, wie folgt: ›Lieber Sohn! Du schreibst ohnedem so selten, und dann wieder so kurz, daß wir nicht wissen, wie es Dir geht, oder was Dir fehlt, [] damit wir es Dir schicken. Und vonwegen Du geschrieben, so läßt Dich der Herr Pfarrer grüßen und Dir sagen, daß es wirklich in der Traumartikel der Kirche zu Grünberg steht, daß Dein Urgroßvater Melchior im Jahre Christi 1719 mit der tugendhaften Jungfrau Angelika Scharnast ehelich kopuliert worden ist, welche die Tochter des Obristen Julius Scharnast gewesen ist. Der Obrist aber war gar ein Graf gewesen, ehe er gekommen ist, aber das steht nicht darinnen, sondern wenn Du es wissen willst, wie sich alles begeben hat, so meint der Herr Pfarrer, dieses werde im Amte zu Grünberg aufgeschrieben sein, und daß Du es Dir sollst aufschlagen lassen. Oder wenn es nicht aufgeschrieben ist, so hat schon der vorvorige Syndikus zu Deinem Vater gesagt, daß verschlossene Schriften von dem Obrist im Amtsgewölbe liegen, aber es ist wieder alles beim alten geblieben. Wenn es zu Deinem Fortkommen dienlich ist, so komme lieber selber und sehe alles an. Deine Schwester ist wieder sehr krank gewesen, nun aber schon besser. Die Kiste mit den Kräutern haben wir an den Boten abgegeben, aber es wäre uns lieber, wenn Du doch etwas anderes tätest und Dich zu etwas anderm wendetest, allein Du wirst es schon selbst am besten verstehen. Ich grüße Dich mit meinem ganzen Mutterherzen, die Schwester grüßt Dich auch, und so behüte Dich Gott, und ich bleibe Deine treue Mutter, Magdalena.‹

Heinrich legte den Brief wieder zusammen, und war er bei dessen Entfaltung blaß gewesen, so wurde er nun nach dessen Lesung flammend rot. Es wären fast Tränen der Rührung über die guten, einfältigen Worte der Mutter hervorgebrochen – aber er hatte jetzt nicht Zeit, sondern mit äußerster Hast lief er wieder in seine Stube, packte noch in Eile alles zusammen, was herum lag, und versah es mit Aufschriften, daß es der Boten-Simon am künftigen Montage mit sich fortnehme; den Koffer mit [] seinen Kleidern gab er einem Schubkarrenführer aus der Fichtau, daß er ihn sogleich zu Robert nach Priglitz bringe, dann verzehrte er einige Bissen von seinem Mittagsessen, ohne daß sie ihm sonderlich schmecken wollten. Da alles dieses geschehen, ging er zu Erasmus, der mit den Seinigen am Gartentische noch beim Mittagsmahle saß, um seine Rechnung zu berichtigen und Abschied zu nehmen. – Erasmus brachte bald auf einem Täfelchen die Rechnung, strich das erlegte Geld ein und versprach, daß jede Kiste mit dem Boten-Simon pünktlich und am rechten Orte eintreffen solle. Heinrich reichte dem Vater und der Mutter die Hand; zu Anna sagte er bloß die Worte: »Lebt recht wohl, Jungfrau!« – sie sagte auch kein einziges Wort als: »Lebt recht wohl!« – dann wendete er sich um und ging fort.

»Es ist im Grunde doch ein recht kerngutherziger Mensch«, sagte Vater Erasmus, und alle drei aßen sie fast traurig an ihrem Mittagsmahle weiter.

Am andern Tage kam durch einen Holzknecht die Nachricht von Priglitz, daß Heinrich und Robert abgereiset wären, man weiß nicht wohin. Die Sache bestätigte sich auch, indem noch desselben Tages Thrine samt ihrem Kinde zu ihrem Vater, dem Schmiede, in die Fichtau auf Besuch kam und über eine Woche blieb. Auch sie wußte nichts über das Ziel der Reise. Endlich fuhr sie wieder nach Hause.

Ein Tag um den andern verging, ohne daß die Männer zurückkehrten, eine Woche nach der andern verging. Als aber endlich Robert allein zurückkam, so kam mit ihm zugleich eine Nachricht mit, die wie ein Lauffeuer von Land zu Land lief, von einem Berge der Fichtau zum andern, und die in Annas verborgenem Herzen einen ganzen Sturm von Freude und einen fürchterlichen Schreck emporjagte.

[]

3. Der rote Stein

Während nicht nur in der Fichtau, sondern im ganzen Lande noch ein außerordentliches Geschrei über das Wunder war, so sich begeben; während Arbeitsleute aller Art auf dem Rothensteine beschäftigt waren, so daß es schien, als rühre sich nun der ganze Berg, der früher so vereinsamt gewesen; während das vermauerte Tor nun wieder gastlich seine Wölbung offen hielt und auf einem Gerüste Steinmetzen oder Steinhauer an seiner Verzierung arbeiteten; während kein Weg auf dem Berge war, auf dem nicht ein Karren quiekte, kein Busch, hinter dem es sich nicht rührte, kein Dach, auf dem es nicht ging, kein Zimmer, in dem es nicht scheuerte – – während dieses alles geschah, ging Heinrich langsam bei dem großen verfallenen Tore des Julianschlosses hinein, in das einzige Bauwerk, in welchem keine Hand sich regte; er ging den betretenen Pfad über den Schutthügel; er ging bei der ent gegengesetzten Öffnung wieder hinaus, durchwandelte den verfallenen Garten auch auf dem wohlbetretenen Pfade, und hielt vor dem hohen roten Felsen stille, zu dem die Pfade führten. Hier zog er einen Schlüssel aus seinem Busen hervor, – denn die Siegel waren schon alle nicht mehr da – drehte ihn dreimal in dem Schlosse und öffnete sanft die hohen, glatten, eisernen Torflügel. Da sah ein weiter, matt dämmernder Gang heraus; weit ge schweifte, flache, halbkreisartige Stufen von blutigrotem Marmor wiesen zu einem zweiten Eisentore von wunder schöner Arbeit, die zwei Schlüsselmündungen mit gediegenem Golde umlegt. Er trat ein. Hinter sich schloß er die äußern Tore und schritt über das Lichtgezitter, das eine Spiegelvorrichtung von oben herab auf den Estrich des Ganges warf und ihn schwach beleuchtete. Nachdem er die Stufen emporgegangen war, nahm er die zwei kleinen stählernen Schlüssel aus einem Samtfache, das er mit [] sich trug, und öffnete die eiserne, goldbelegte Pforte. Ein großer, ruhiger Felsensaal tat sich auseinander, auf seinem Fußboden dasselbe Spiegellichterspiel zeigend wie der Gang und damit die im Sechseck gestellten Wände matt beleuchtend, an denen es wie von Metallen glänzte. Heinrich ging ebenfalls hinein und schloß hinter sich zu. Dann aber ging er den Wänden entlang, drückte an verschiedenen Stellen, worauf sich die eisernen Lehnen von den Fenstern der Kuppel zurückschlugen und sanfte Lichtbäche von oben herabfallen ließen, die alles klar machten, aber die spielenden Lichtwunder des Fußbodens auslöschten. Bevor nun Heinrich irgend etwas anderes tat, schritt er gegen eine Stelle der Marmorwand, öffnete dort ein kleines stählernes Türchen, auf dem mit goldenen Buchstaben das Wort: ›Henricus II‹ stand, und legte ein beschriebenes Heft, das er aus seinem Busen zog, hinein. Dann schloß er langsam das Wandkästchen wieder und trat zurück. Es standen aber noch viele andere solche Türchen herum, und jedes trug in goldenen Buchstaben einen Namen. Sonst war aber weder Geräte noch irgend etwas im Saale, außer einem marmornen Tische, der vor einer Art Altar stand, und einem hochlehnigen Stuhle aus Erz. Heinrich ging an den vielen Türchen vorüber; erst eines der letzten, bevor die unbeschriebenen kamen, öffnete er und zog die Schriften aus dem Eisenschranke hervor, die drinnen waren. Auf dem hohen Stuhle sitzend, die Papiere vor sich auf dem Tische, schlug er die ersten Blätter um, bis er zu einem eingelegten Zeichen kam, dann sein Haupt sachte vorwärts neigend, las er weiter, wie folgt:

»Und darum kann ich euch keinen Dank haben, Ubaldus und Johannes, und Prokopus und Julianus – und wie ihr heißet; denn der Dämon der Taten steht jederzeit in einer neuen Gestalt vor uns, und wir erkennen ihn nicht, daß er einer sei, der auch schon euch erschienen war – und eure Schriften sind mir unnütz. Jedes Leben ist ein neues, [] und was der Jüngling fühlt und tut, ist ihm zum ersten Male auf der Welt: ein entzückend Wunderwerk, das nie war und nie mehr sein wird – aber wenn es vorüber ist, legen es die Söhne zu dem andern Trödel der Jahrtausende, und es ist eben nichts als Trödel; denn jeder wirkt sich das Wunder seines Lebens aufs neue.

Was ich hier schreibe, bin nicht ich – mich kann ich nicht schreiben, sondern nur, was es durch mich tat. Ich habe die Erde und die Sterne verlangt, die Liebe aller Menschen, auch der vergangenen und der künftigen, die Liebe Gottes und aller Engel – ich war der Schlußstein des millionenjährig bisher Geschehenen und der Mittelpunkt des All, wie es auch du einst sein wirst; – – aber da rollt alles fort – wohin? das wissen wir nicht. – Millionenmal Millionen haben mitgearbeitet, daß es rolle, aber sie wurden weggelöscht und ausgetilgt, und neue Millionen werden mitarbeiten, und ausgelöscht werden. Es muß auch so sein: was Bilder, was Denkmale, was Geschichte, was Kleid und Wohnung des Geschiedenen – wenn das Ich dahin ist, das süße, schöne Wunder, das nicht wieder kommt! Helft das Gräschen tilgen, das sein Fuß betrat, die Sandspur verwehen, auf der er ging, und die Schwelle umwandeln, auf der er saß, daß die Welt wieder jungfräulich sei, und nicht getrabt von dem nachziehenden Afterleben eines Gestorbenen. Sein Herz konntet ihr nicht retten, und was er übrig gelassen, wird durch die Gleichgültigkeit der Kommenden geschändet. Gebt es lieber dem reinen, dem goldnen, verzehrenden Feuer, daß nichts bleibe, als die blaue Luft, die er geatmet, die wir atmen, die Billionen vor uns geatmet, und die noch so unverwundet und glänzend über dir steht, als wäre sie eben gemacht und du tätest den ersten, frischen, erquickenden Zug daraus. Wenn du seinen Schein vernichtet, dann schlage die Hände vor die Augen, weine bitterlich um hn, soviel du willst- aber dann springe auf, und [] greife wieder zu an der Speiche, und hilf, daß es rolle – bis auch du nicht mehr bist, andere dich vergaßen, und wieder andere und wieder andere an der Speiche sind.

Wundere dich nicht über diesen meinen Schmerz, da doch alles, was ich in den vielen Blättern oben geschrieben habe, so heiter und so freundlich war, wundere dich nicht; denn ich gehe dem Engel meiner schwersten Tat entgegen, und aus den Pergamenten des roten Felsensaales kam dieser Engel zu mir. Dort liegen die Schläfer, von ihrem Ahnherrn verurteilt, daß sie nicht sterben können; eine schauderhaft durcheinanderredende Gesellschaft liegt dort, vor jedem Ankömmling müssen sie ihre Taten wieder neu tun, sie seien groß oder klein; – diese Taten, genug, sie waren ihr Leben und verzehrten dieses Leben. Wenn es dein Gewissen zuläßt, später Enkel, so verbrenne die Rollen und sprenge den Saal in die Luft. Ich täte es selber, aber mir schaudert vor meinem Eide. Kannst es aber auch du nicht tun, so vergiß doch augenblicklich das Gelesene, daß sich die Gespenster all ihres Tuns nicht in dein Leben mischen und es trüben, sondern daß du es lieber rein und anfangsfähig aus der Hand deines Schöpfers trinkest.

Ich fahre fort.

Als ich aus Frankreich zurückkehrte, und das Bild des treuen Alfred doch schon zu erblassen begann – als ich fast alle Welt durchreiste – als ich jeden Brief der Marquise unerbrochen zurücksandte, bis keiner mehr kam da fiel es mir ein – – – lese nun das Folgende, weil du es zu lesen geschworen, so wie ich es schrieb, weil ich es zu schreiben geschworen –; aber wenn du das Eisentor des Gewölbes zuschlägst, so lasse alles hinter dir zurück und streue die Erinnerung in die Winde, damit du keinen Hauch davon, kein trübes Atom zu den Deinen nach Hause trägst, zu deinen armen Kindern, zu deinem schönen, unschuldigen Weibe.

[] Das Land Indien war es, wo mir der Engel meinerschwersten Tat erschien; – unter dunklem Schatten fremder Bäume war es, an einem Flusse, der so klar floß, als walle nur dichtere Luft längs der glänzenden Kiesel – das Schlechteste und Verachtetste, was die Menschheit hat, war dieser Engel, die Tochter eines Paria; aber schön war sie, schön über jeden Ausdruck, den eine Sprache ersinnen mag, und über jedes Bild, das in Jahrtausenden einmal in eine wallende Phantasie kommt. –

In den Pergamentrollen hatte ich gelernt, wie alles nichtig und eitel sei, worauf Menschen ihr Glück setzen; denn es war Torheit, was alle meine Vorfahren taten. Ich wollte Neues tun. Den Kriegsruhm hatte ich schon genossen, dies ekle, blutige Getränke; die Kunst hatte ich gefragt, aber sie sagt nichts, wenn das Herz nichts sagt; die Wissenschaften waren Rechenpfennige, und die Liebe Sinnlichkeit, und die Freundschaft Eigennutz. – – Da fiel mir ein, wie ich oben sagte, ich wolle nach dem Himalaja gehen. Ich wollte die riesenhaften und unschuldigen Pflanzen Gottes sehen, und eher noch wollte ich das große, einfache Meer versuchen.

Ich kam nach dem Himalaja. Dort lernte ich die Hindusprache, dort sah ich das Bramanenleben, ein anderes als unseres, das heißt anders töricht – und dort ging auch die Paria zwischen Riesenpalmen nach dem Flusse, um Wasser für den Vater zu schöpfen. Sie hat, seit sie lebte, sonst nichts getan, als daß sie durch die Palmen ging, um Wasser zu holen und für den Vater Datteln zu lesen und Kräuter zu pflücken.

›Rühre mich nicht an und rede nicht mit mir‹, hatte sie zu dem fremden Manne gesagt, ›daß du nicht unrein werdest‹, – und dann stellte sie den Wasserkrug auf ihre Schulter neben den glänzenden, unsäglich reinen Nacken, und ging zwischen den schlanken Stämmen davon.

Und so ging sie Tage und Monden – kein Mensch war [] in dem Walde als ich; denn sie würden unheilig durch Rede und Berührung mit ihr geworden sein. Der Vater saß unter Feigenbäumen und sah blöde und leer gegen die Welt – und als er eines Tages tot war und sie nicht zu dem Flusse kam, so ging ich zu ihr und berührte sie doch; denn ich nahm ihre Hand, um sie zu trösten – ich redete mit ihr, daß sie erschrak und zitterte und mich ansah wie ein Reh.

›Du mußt dich nun waschen‹, sagte sie, ›daß du wieder rein seiest.‹

›Ich werde mich nicht waschen‹, sagte ich; ›ich will ein Paria sein wie du. Ich werde zu dir kommen, ich werde dir Früchte und Speise bringen, und du reichest mir den Krug mit Wasser.‹

Und ich kam auch, und kam wieder und oft. Ich redete mit ihr, ich erzählte ihr von unserm Brama, wie er sanft und gut sei gegen die Kinder seines Volkes, und wie er nicht den Tod des Weibes begehre, wenn der Mann starb, sondern daß sie lebe und sich des Lichtes wieder freue.

›Wenn sie aber freiwillig geht, so nimmt er sie doch mit Wohlgefallen auf?‹ fragte sie und heftete die Augen der Gazelle auf mich.

›Er nimmt sie auf‹, sagte ich, ›weil sie es gut gemeint hat; aber er bedauert sie, daß sie sich ihr schönes Erdenleben geraubt hat, und nicht lieber gewartet, bis der Tod selber komme und sie zu ihrem Manne führe, der auch schon ihrer harrte.‹

›Siehst du, wie du selber sagst, daß er schon harrte‹, antwortete sie rasch. ›Du bist also im Irrtume, und man muß ja zu ihm kommen.‹

›Wenn du wieder in dein Land gehst‹, setzte sie langsamer hinzu, ›in deine Heimat, die etwa gar jenseits dieser hohen, weißen Berge ist, so werde ich traurig sein und auch meinen, daß ich dir folgen solle.‹

›Und willst du mein Weib werden?‹ setzte ich plötzlich hinzu.

[] Und hier war es, wo ich zum ersten Male gegen sie schlecht war. Ihr Wort hatte mich entzückt, ich beredete sie, mein zu werden und mir zu folgen. Sie kannte kein anderes Glück, als im Walde zu leben, Früchte zu genießen, Blumen zu pflücken und die Pflanzenspeisen zu bereiten, die ihr sanfter, reinlicher Glaube vorschrieb; ich aber kannte ein anderes Glück, unser europäisches, und hielt es damals für eins. – Das weiche Blumenblatt nahm ich mit mir fort, unter einen fremden Himmel, unter eine fremde Sonne. Sie folgte mir willig und gerne – nur sehr blaß war sie, als wir über das breite, endlose Salzwasser fuhren, und es machte ihr Kummer, wenn sie sich mit dem schmutzigen Schiffwasser waschen oder es trinken mußte. Ihre Seele war in mir, und sie wußte es nicht, darum liebte ich sie mehr, als eine Zunge sagen kann. Ich tat ihrer Meinung und ihrem Willen nie Gewalt an, sondern ließ sie vor mir spielen und sah zu, wie sie mein Herz und ihr Herz, meinen Unterricht und ihren Hinduglauben kindisch durcheinandermischte und in Betörung lächelte.

Als sie nach den Gesetzen unsres Landes mein Weib geworden war, führte ich sie auf meinen Berg. Ich hatte schon vor meiner Abreise ein Gebäude nach griechischer Art angefangen, und dieses stand nun, als wir ankamen, bereits fertig da. Ich taufte es ›Parthenon‹ und richtete es zu unserer Wohnung ein. Es war sehr schön, und sein Inneres mußte von jeder Pracht und Herrlichkeit strotzen, damit ich ihr ihr Vaterland vergessen machen könne. Auch einen Garten legte ich rund herum an, und hundert Hände mußten täglich arbeiten, daß er bald fertig würde. Ich zog schwarze Mauern und Terrassen, um die Sonnenhitze zu sammeln; ich warf Wälle auf, um den Winden zu wehren; ich baute ganze Gassen von gläsernen Häusern, um darin Pflanzen zu hegen, dann ließ ich kommen, was ihr teuer und vertraut war: die schönsten Blumen [] ihres Vaterlandes, die weichsten Gesträuche, die lieblichsten Vögel und Tiere – aber ach, den dunkelblauen Himmel und die weißen Häupter des Himalaja konnte ich nicht kommen lassen, und der Glanz meiner Wohnung war nicht der Glanz ihrer indischen Sonne.

So lebte sie nun fort. Sie aß kein Fleisch; an mir duldete sie bloß, daß ich es tue und mich mit dem Blute der armen Tiere beflecke. Aber höher hätte sie mich gewiß geachtet, wenn ich es ebenfalls vermocht hätte, nur ihre Pflanzengerichte, ihre Früchte und ihr Obst zu genießen. Oft in jenen Tagen, die in den ersten Jahren so gleichförmig dahin flossen – oft, wenn ihr Mund an meinem hing, wenn ihre weichen, kleinen Arme mich umschlangen, und wenn ich in ihr großes, fremdes Auge blickte und darinnen ein langsam Schmachten sah – sie wußte selbst nicht, an welcher tiefen, schweren Krankheit sie leide oft sagte mir eine Stimme ganz deutlich in das Ohr: ›Gehe wieder mit ihr nach Indien, sie stirbt vor Heimweh‹; – aber mein hartes Herz war in seinem Europa befangen, und ahnete nicht, daß es anders sein sollte, daß ich, der Stärkere, hätte opfern sollen und können, was sie, die Schwächere, wirklich opferte, aber nicht konnte. Ich hörte die Stimme nicht, bis es zu spät war, und eine Tat geschah, die alles, alles endete. – – Siehst du, damals rollte auch der Wagen des Geschickes, nur daß er über zarte Glieder ging und sie zerquetschte.

Ich hatte einen Bruder, Sixtus mit Namen – einen schöneren Jüngling kann man sich kaum denken – und dabei war er gut und herrlich, und ich liebte ihn wie ein Teil meines eigenen Herzens. Dieser Bruder kam von seinen weiten Reisen zurück und wollte einige Monate bei uns wohnen. Das sah ich gleich, daß er vor der Schönheit meines Weibes erschrak und zurückfuhr, und daß in sein armes Herz das Fieber der Leidenschaft gleichsam wie geflogen kam; aber ich kannte ihn als gut und mißtraute [] nicht, ja er dauerte mich, und ich sagte ihr, daß sie ihm gut sein möge, wie man einen Bruder liebt. – Ich kam seinem Herzen zu Hülfe, ich war noch freundlicher, noch liebreicher als je, daß es ihn erschüttere und er sich leichter besiege. Ich mißtraute nicht – und dennoch schwirrte es oft mit dunkeln Fittigen um mein Haupt, als laure irgendwo ein Ungeheuer, welches zum Entsetzen hereinbrechen würde. Ich wußte bisher nicht, ob sie damals von dem eine Ahnung hatte, was wir Treubruch in der Ehe nennen; denn ich war nicht darauf verfallen, ihr dies zu erklären: jetzt erzählte ich ihr davon, sie aber sah mich mit nichtssagenden Augen an, als verstände sie das Ding nicht, oder hielte es eben für unmöglich.

Noch war nichts geschehen.

Er schwärmte wild in den Bergen herum, oder saß halbe Nächte an der Äolsharfe des Prokopus. Seine Abreise näherte sich immer mehr. Ich aber war gedrückt, wie ein Tropenwald, auf dem schon die Wucht unsichtbarer Gewittermaterie liegt, wenn die Regenzeit kommen soll und die Sonne doch noch in dem heitern, aber dicken Blau des Himmels steht.

So war es, als ich einmal in der Nacht von einer Reise zurück, die ich in einem Streite wegen schnöden Mammons tun mußte, gegen den Rothenstein angeritten kam. Es war eine heiße Julinacht; um den ganzen Berg hing ein düsteres, elektrisches Geheimnis, und seine Zinnen trennten sich an manchen Stellen gar nicht von den schwarzen Wolken. Die weißen tröstlichen Säulen des Parthenon konnte ich gar nicht sehen, aber um den dunklen Hügelkamm, der sie mir deckte, ging zuweilen ein sanftes, blauliches Leuchten der Gewitter. Mir war, wenn ich nur einmal dort wäre, dann wäre alles gut, – aber je mehr ich ritt, desto mehr war es, als würde der ganze Berg von den Wolken eingetrunken, und ich konnte ihn nicht erreichen, ach ich konnte ihn nicht erreichen! Auch mein [] Rappe, schien es, teile meine Angst; denn er war nicht wie gewöhnlich, wenn er die Heimat witterte, freudig und ungestüm, sondern er stöhnte leise, und sein Nacken war feucht. Einmal war mirs, als höre ich auch meinen Diener nicht mehr hinter mir reiten, aber wie ich anhielt und umblickte, so stand doch seine dunkle Gestalt dicht hinter mir.

Nicht Eifersucht war es, die mich trieb – nein, nicht Eifersucht – – aber es war mir immer, Chelion würde in dieser Nacht ermordet, wenn ich nicht zeitig genug käme.

Endlich, da wieder ein stummer Blitz durch den Himmel zog, stand ganz deutlich der Prokopusturm darinnen, und mein Weg führte mich auch schon bergan. Die Fichtenallee nahm mich auf, und stand regungslos, wie eine schwarze Doppelmauer. Ruprecht, der junge Sohn meines unlängst verstorbenen Kastellans, öffnete das Tor der Ringmauer, ohne daß ich ein Zeichen zu geben brauchte; es war, als hätte er schon meiner geharrt.

›Nichts Neues?‹ fragte ich ihn.

›Nichts‹, sagte er.

Ich ritt den weiteren Berg hinan. Kein einziger Gegenstand desselben rührte sich, als wäre alles in Finsternis eingemauert. Hinter den Trümmern des Julianhauses waren die Stallungen; ich warf meinem Knechte die Zügel des Rappens zu, empfahl ihm das treue Tier und ging durch die Eichen gegen das Parthenon, aber da ich an dem Flügel des alten Sixtusbaues vorbeikam, in dem mein Bruder wohnte, und da ich Licht sah, ging ich hinein, um ihn zu grüßen. Das Tor des Gebäudes stand offen, die Tür zu seinen Gemächern war nicht gesperrt, sein Diener schlief auf einem Stuhle im Vorsaale, aber Sixtus war nicht zu Hause. Ich ging wieder weiter – durch die schönen Gesträuche Chelions ging ich. – – An den weißen, langen Säulen meines Hauses leckten die immer häufiger[] werdenden Blitze hinan – da wars, als gleite eine Gestalt schattenhaft längs dem Korridor: ›Sixtus‹, schrie ich, aber das Wesen sprang mit einem furchtbaren Satze herab und seitwärts ins Gebüsche. – Mir war, als klapperten mir die Zähne, und ich eilte weiter. Die Lawine hing nun – der feinste Hauch konnte sie stürzen machen – und er blieb auch nicht aus, dieser Hauch: von der allzeit fertigen Zunge eines Weibes kam er; Bertha war es, die Braut Ruprechts, die Dienerin meiner Gattin. Sie stand unbegreiflicher Weise in tiefer Nacht vor dem Tore des Parthenon, und da sie meiner ansichtig wurde, stieß sie im Todesschreck heraus, was sie wahrscheinlich um den Preis ihres Lebens gerne verschwiegen hätte: ›Graf Sixtus ist bei Eurem Weibe.‹

Ich ergriff das Gespenst bei dem Arme, um zu sehen, ob es Leben habe. ›Es ist nicht wahr, Satan,‹ schrie ich und schleuderte das unselige Geschöpf mit meiner Hand rücklings in das Gesträuch, daß sie kreischte; ich aber ging durch das bloß eingeklinkte Tor hinein und schloß es hinter mir ab. Das Tor aber sollte nach meinem Befehle jedesmal bei Einbruch der Nacht geschlossen sein – heute war es offen gestanden. Sachte, daß kein Fußtritt schalle, ging ich durch den Gang längs der Gemächer meiner Diener zu dem zweiten Tore des Gebäudes, um mich zu versichern, ob es gesperrt sei, – es war zu. Ich zog den innen steckenden Schlüssel ab und ging dann eben so leise auf mein Zimmer. Dort stand ich mitten auf der Diele des Bodens – und stand eine Weile. Dann tat ich leere Gänge im Zimmer und unnütze Dinge. – – Es lebte ein alter, weiser Mann, bei dem ich einmal gelernt hatte, als ich noch mein Heil im Wissen suchte; er war in der Scheidekunst weiter als alle seine Genossen. – Möge nie wieder erfunden werden, was er erfand und geheim hielt: ein klares, schönes, helles Wasser ist es. Er erhielt es aus dem Blute der Tiere – aber nur ein Zehnteil eines Tropfens [] auf die Zunge eines lebenden Wesens gebracht, ja nur sanft damit die Lippen befeuchtet, macht, daß augenblicklicher, süßer, seliger Tod die Sinne umnebelt und das Wesen rettungslos verloren ist. Wir hatten es einmal an einem Kaninchen versucht – ich erinnerte mich, wie es damals, als sein Zünglein damit befeuchtet ward, das Haupt mit allen Zeichen des Wohlbehagens seitwärts lehnte und verschied. In einem silbernen Schreine hatte ich ein Teil. Ich nahm das Kristallfläschchen hervor – und hell und klar, wie von einem Bergquelle, und prächtig, wie hundert Diamanten, funkelte das Naß im Lichte meiner Lampe.

Um den innerlichen Frost zu vertreiben, ging ich einige Male in der Stube auf und ab.

Dann trat ich zu der stummen, mit Tuch überzogenen Tür meiner Seitenwand, öffnete sie und ging in den Gang, der zu Chelions Zimmern führte. Aus dem letzten Gemache, worin sie schlief, floß mir ein sanftes Lampenlicht entgegen – alle Türen standen offen, und durch die hohen Glaswände, die den Gang von dem indischen Garten trennten, schimmerten zeitweise die lautlosen Blitze des Himmels.

Schläft sie?

Ich ging weiter – durch alle Zimmer ging ich, bis in das letzte. Ich trat näher – ein schwaches Rauschen schreckte mich – es war aber nur einer ihrer Goldfasane, der sich entweder bei ihr verspätet hatte und entschlummerte, oder der bei der ein wenig offenen Gartentüre hereingekommen war. – Warum blieb sie offen? warum gerade heute? – Fast ein Mitleid wollte mich beschleichen: Also so unerfahren seid ihr beide im Verbrechen, daß euch nicht beikam, selbst die geringste Spur desselben zu vertilgen?! Der Fasan scheute mich und schlüpfte sachte bei der Spalte hinaus, – – Und da er fort war, wünschte ich ihn wieder zurück, das schöne, heimliche, goldglänzende [] Tier; denn ich fürchtete mich allein im Zimmer, weil so viele Schatten waren. Ich drehte ein wenig den Schirm, daß das Licht gegen das Bett fiel – sie schlief wirklich; mit sanftem Schimmer lag das Lampenlicht auf ihrer Gestalt – wie ein furchtsam Kind in die Kissen gedrückt, schlief sie. Ihre Hand, wie ein Blatt der Lotosblume, lag auf der reinen Decke ihres Lagers. Der Mund war leicht geschlossen – ich sah lange die rosenfarbenen Lippen an und dachte sie mir bereits feucht – – – also darum hast du das unwissende Geschöpf nach Europa gebracht, darum mußtest du so nach Hause eilen, daß du selber – – – ich erschrak bei dem Gedanken, als hätte ihn ein Fremder gesagt; in der Tat sah ich auch um, aber es war nichts da als die gezogenen Schatten, und wie ich wieder gegen sie sah, so flirrte ihr weißes, scharf beleuchtetes Bettzeug worin sie lag – – – nein, dachte ich, du schönes, du armes, du teures, teures Weib! – Ich stand vor ihr, und ein Tröpflein Mitleid träufelte sich so milde in mein Herz und dann wieder eines, und auch der süße Zweifel, ob sie schuldig sei. Ihren Atem konnte ich nicht hören, aber ich sah ihn gehen – und lange sah ich hin, wie er ging. Da knisterte es wiederholt ganz leise hinter mir, wie wenn Brosamen fielen – ich blickte um – der Fasan war es, der durch die Stille im Zimmer getäuscht wieder herein gekommen war und nickenden Hauptes vorwärts schritt. Ich trat nun näher an das Bett und berührte sanft ihre Hand – sie regte sich, öffnete die Augenlider und sah mich mit den schönen, heimatlosen Augen an, aber es war kein Bewußtsein darinnen, und sie ließ die Wimpern gleich wieder schlaftrunken darüber sinken.

›Chelion‹, sagte ich sanft.

Der Ton ist dem Herzen näher als das Bild – sie fahr empor: ›Jodok, bist dus?‹

›Ich bins, Chelion‹, sagte ich; sie aber wandte sich ab und vergrub ihr Haupt in die Kissen.

[]

›Mein Weib, mein Kind‹, sagte ich noch einmal sanft; sie aber kehrte sich gegen mich, sah mich verzagt an und sagte: ›Jodok, du willst mich töten.‹

›Ich dich töten, Chelion?‹ ›Ja, du bist so furchtbar.‹ ›Nein, nein, ich will nicht furchtbar sein‹, rief ich – ›siehe, sage mir nur du, Chelion, daß du unschuldig bist – ich will dir glauben und wieder glücklich sein; denn du hast ja nie gelogen, – – du schweigst? – – Chelion, so sag es doch.‹

›Nein, Jodok, ich bin nicht unschuldig,‹ sagte sie furchtsam; ›wie du es meinst, bin ich nicht unschuldig – – aber ich liebe doch nur dich, nur dich allein – – – ach, ihr Götter in den Wolken meines Landes, ich liebe ja nur ihn allein!‹

Und sie brach in ein Schluchzen aus, als wollte sie ihre ganze Seele herausweinen. Dann aber, als sich dieses milderte, sagte sie: ›Siehe, er ist spät abends herein gekommen, ich weiß nicht wie – er war nie hier, aber ich hielt es nicht für Sünde, und da sagte er, er wolle Abschied nehmen, er werde mich nun nie mehr sehen, und dich auch nicht mehr – und er liebe uns beide doch so unaussprechlich – – und sein Angesicht war so unglücklich, daß es mich im Herzen dauerte und ich ihn recht heiß liebte; denn er ist ja dein armer, vertriebener Bruder. Ich streichelte ihm die Locken aus der Stirne – er weinte wie ein Kind, wollte aufstehen – denn er war bisher auf dem Teppiche gekniet – er wollte gehen – – er weinte nicht mehr, aber seine Lippen zitterten noch vor Schmerz – er kam mir vor Augen, als wäre er noch ein Knabe, der keine Mutter habe – ich hielt noch einmal meine Hand auf seine Locken, wie er sich gegen mich neigte und seinen Mund reichte, küßte ich ihn – er hielt meine Hand und wir küßten uns wieder. – – Ach, Jodok, dann küßte ich ihn – nicht mehr wie deinen Bruder – es wehte so [] heiß im Zimmer, das Fühlen seines Mundes war süß, das Drücken seines Armes süß wie deines – – mir war, als seiest du's – – ach, deine arme, arme Chelion! – Und dann war er fort. Die Lampe brannte im Zimmer, draußen blitzte es, und mein Fasan saß auf dem Teppiche und blickte mich mit den schwarzen Äuglein an – – und wie ich schlief, träumte ich, du ständest vor mir, und es sei schwere Sünde, was ich getan – – und es ist auch Sünde; denn siehe, dein Auge, dein gutes Auge ist so krank, es ist so krank. – Du wirst mich töten, Jodok; ich bitte dich aber, töte mich sanft, daß ich nicht leide und dir etwa zürne.‹

Da fiel mir ein, es ist ja süßer, seliger Tod, und ein furchtbarer Schauer lief durch meine Nerven, aber ich sagte gebrochenen Herzens zu ihr: ›Chelion, stehe auf und folge mir nur hinweg aus diesem schwülen Zimmer – ich tue dir kein Leid.‹

›Nein, du mußt mir eins tun‹, antwortete sie, ›ich werde nicht aus diesem Bette gehen, sondern auf den weißen Kissen liegen bleiben, bis das rote Blut darüber wegfließt und sie purpurrot färbt; dann werden sie rot sein, und ich weiß – aber ich werde dann ruhig sein, nicht gequält, nicht fehlend, sondern ich werde sein wie einer der weißen, marmornen Engel in deiner Kirche.‹

Dabei suchte ihr Auge furchtsam im Zimmer, wie nach einem Schwerte; das Fläschchen, das ich auf den Tisch gestellt, beachtete sie nicht.

›Nicht wahr, Jodok‹, fuhr sie fort, ›du lässest mich noch ein wenig diese Luft atmen – das Atmen ist so gut; mir deucht es ängstlich, nicht mehr zu atmen.‹

›Atme, atme‹, rief ich, ›atme bis an das Ende aller Tage.‹

Und in Hast griff ich das Fläschchen von dem Tische und eilte zur Tür hinaus in die Glashäuser ihres indischen Gartens. Sie waren größtenteils offen, und eine [] heißere Luft, als sonst immer in ihnen war, strömte heute von außen herein. Die Pflanzen ihres Vaterlandes standen in schwarzen Klumpen und sahen mich vorwurfsvoll an. Ich gewann das Freie. Im Sixtushause standen alle Fenster schwarz und stumm, auf dem Berge war Todesschweigen, nur unten schien es, als würden Tore zugeschlagen, und als tönte es von davonjagenden Hufen – – ich betete inbrünstig, daß er möchte geflohen sein; denn mein Herz knirschte gegen ihn. Ich stieg aus dem Tale des Parthenon empor, und ein zerrissener Himmel starrte um mich. Es waren schwarze Fahnen droben, aus denen feurige Zungen griffen. Ich eilte gegen den Turm des Prokopus. Dort stand ich einen Augenblick, daß die heiße Sommerluft in meinem Mantel stockte, den ich abzulegen vergessen. Dann aber stieg ich noch höher und hastig fort, bis die äußerste Zinne erreicht war. Dort hob ich meinen Arm, als müßte ich Lasten brechen, und schleuderte das Fläschchen in den Abgrund – – es ist dort unsäglich tief, wo die Bergzunge gegen die Fichtau auslauft – und wie ich nachhorchte, kam ein zarter Klang herauf, da es an den hervorragenden Steinen zerbrach – – und nun erst war mir leichter. Ich blieb noch auf dem Gipfel stehen und atmete aus dem Meere von Luft, das um mich stand und finster war. In diesem Augenblicke schien es auch, als höbe sich ein Lüftchen und rausche freundlich in den Sträuchen. Und es war auch so. Der harte Himmel lösete sich und floß in weiche Schleier ineinander, und einzelne Tropfen schlugen gegen die Baumblätter.

Ich lief nun wieder hinab, ging in ihr Zimmer, trat zu dem Bette – sie lag noch immer darinnen und richtete die trockenen, brennenden Augen harrend gegen mich ich aber nahm sie in die Arme, küßte sie auf den heißen Mund und sagte: ›Schlafe nun ruhig und schlafe süß; ich krümme dir kein Haar; ich werde dich auch lieben [] fort und fort, wie mein Weib, wie mein eignes einzig Kind – ich will dich noch zarter pflegen als sonst, daß du diese Nacht vergessen mögest. Gute Nacht, liebe Chelion, gute Nacht.‹

Sie hatte dies alles geduldet, aber nicht erwidert. Ich mochte sie nicht weiter quälen, sondern ging zum Zimmer hinaus, und hörte noch, wie mir ein leises, auflösendes Schluchzen nachfloß.

Des andern Tages kam ein kühler, heiterer Morgen. Ich erfuhr, daß Graf Sixtus in der Nacht abgereiset war. – Ruprecht, sein junger Freund, sein Jagd- und Abenteuergenosse, hatte ihn befördert; ich wußte es wohl, denn sie hatten sich immer sehr geliebt – aber ich sagte nichts, obleich mich Ruprecht mit der Angst des bösen Gewissens anblickte – mir war es wohl, daß er fort war, mir war es sehr wohl, daß er geflohen.

Als ich zu Chelion kam, kauerte sie eben auf dem Boden und drückte eine Taube an ihr Herz. Ich tat mir noch einmal den Schwur, ihr die Qual dieser Nacht durch lebenslange Liebe vergessen zu machen, wenn ja das Schrecknis auszutilgen ist aus dem weißen, unbeschmutzten Blatte ihres Herzens. –

Aber es war nicht mehr auszutilgen.

Sie hatte mich einmal mit dem Mörderauge an dem Bette stehen gesehen, und dies war nicht mehr aus ihrer Seele zu nehmen. Einst war ich ihr die sichtbare Gottheit auf Erden gewesen, nun zitterte sie vor mir. – Wie kann es auch anders sein? Wer einmal den Arm erhob zum Totschlage eines seiner Mitgeschöpfe, wenn er ihn auch wieder zurückzog, dem kann man nicht mehr trauen; er steht jenseits des Gesetzes, dem wir Unverletzlichkeit zutrauen, und er kann das frevle Spiel jeden Augenblick wiederholen.

Ich habe jahrelang das Übermenschliche versucht, daß alles wieder sei wie früher, allein es war vergebens: das [] Einfältige ist am leichtesten zerstört, und bleibt aber am festesten zerstört. Sie war hinfüro bloß die Demut mehr, die Ergebung und Aufopferung bis zum Herzblute, aber nur das eine nicht mehr, was statt allem gewesen wäre, nicht die Zuversicht. Sie klagte nie; aber sie hing in meinen Armen wie die Taube in denen des Geiers, gefaßt auf alles – – die kalte Sonne des Nordens schien auf sie wie mein Auge, beides kein Leben mehr spendend. Nie mehr seit jener Nacht ist die Röte der Gesundheit wieder in ihr Angesicht gekommen – und so starb sie auch an einem Nachmittage; die brechenden Augen noch auf mich gerichtet, wie das arme Tier den Mörder anschaut, der ihm die Kugel in das furchtsame Herz gejagt hatte.

Ich wurde vor Schmerz wahnsinnig, wie sie als kalte Leiche lag, und wie sie begraben war. Ich wußte nicht, sollte ich Bertha morden, die Beschützerin, oder Ruprecht, ihren Mann, oder soll ich Sixtus suchen und ihm Faser für Faser aus dem Leibe reißen – – aber ich tat endlich alles nicht, weil ich die Macht gewann, nicht den Frevel durch einen neuen sühnen zu wollen. Er, da er ihren Tod vernommen, hatte sich mit einer Kugel das Gehirn zerschmettert – in das Haus der andern kam Wut und Unfriede; Ruprecht warf seinem Weibe den Tod des Sixtus vor; sie war düster gegen ihren Mann, und starb auch bald an innerem Siechtum. Ich aber schloß das Parthenon mit Schlössern zu, bis auf ein Gemach, in dem ich wohnte – die Diener dankte ich ab – die Pflanzen ließ ich verkommen – die Tiere nährte ich, bis sie eines nach dem andern starben, und dann begrub ich sie jedes einzeln. – Was von Chelion übrig war, jedes Stückchen Kleid, ihr Spielzeug, den Fußboden und den Teppich, auf dem sie wandelte, das Tischchen, an dem sie saß, das Bett, in welchem sie in jener Nacht gelegen – – alles hütete ich, daß es blieb, wie es an dem Tage ihres Todes [] war. Auf Erden hatte ich keinen Menschen mehr; – mein Sohn Christoph, das Ebenbild Chelions – hatte er nun erkannt oder geahnt, was ich seiner Mutter getan – war fort und nicht wieder gekommen – – und als ich alt geworden war, erbarmte es mich der Überreste in dem Parthenon; ich nahm viel Geld, das ich zusammengespart, hinterlegte es als Ersatz für meine Erben, und zündete das Parthenon an, daß alles und alles durch das Feuer verzehret würde, was übrig wäre von ihr und mir. – Es war eine schöne, schmerzensvolle Lohe! – Ich hatte nie den Berg verlassen, habe keine Taten mehr verrichtet keine guten und keine bösen. Jetzt wohne ich in dem steinernen Häuschen, das ich am Fuße des Berges erbaut, nicht weil ich ein Einsiedler bin und in Schmerzen lebe nein, weil es lieblich ist, daß ein Mensch nicht mehr brauche, als was einem not tut. – In den Büschen neben mir sind die Vögel, die es auch so halten, und weiterhin die Strohdächer, die es so halten müssen, es aber töricht für ein Unglück wähnen – der Berg steht hinter mir mit seinen Denkmalen und widersinnigen Vorkehrungen, daß die Besitzer sich zerstören müssen – – in meinem Testamente, Artikel 13, steht geschrieben: ›Ein blauseiden Vorhang über Chelions Bild, der sich selber rolle; dann ein weiß einfach Würfel aus Marmel über unser gemeinschaftlich Grab im indischen Garten, mit nichts als den zwei Namen‹ – – befolget mir nur genau den Artikel, damit es ja so geschieht. Ich habe jetzt schon einen Stoß Papiere wie ein Tisch hoch gesammelt, und werde die Geschichte beginnen von den Verkehrtheiten des menschlichen Geschlechtes, und die von den Großtaten desselben – es ist aber seltsam: oft weiß ich nicht, ob eins in diese Geschichte gehöre, oder in jene – – ich muß wohl noch älter werden – – ach, ich sehne mich nach meinem Sohne.....«

Bei diesen Worten brach das Manuskript ab, und keine [] Zeile stand weiter auf dem Pergamente. Nur unten am Rande des letzten Blattes stand von fremder Hand: ›? [gestorben] einundzwanzig Tage nach dem Worte: Sohne.‹

Ach – und so muß ja jede dieser Rollen enden, die in den eisernen Kästen noch liegen mögen. Wenn der Mann dachte: morgen oder übermorgen schreibe ich wieder, -so war er morgen oder übermorgen krank, und die andern Tage darauf tot!

Heinrich stand auf und wischte sich mit der Hand über Stirne. Eine Schrift hatte er nun gelesen. Er sah deutlich nun auch schon das Kreuz von fremder Hand auf seinem letzten Blatte stehen und dabei: ›gestorben nach dem Worte....‹ – welches Wort mag es wohl sein? etwa Gattin? oder ein anderes, oder eins im Wörterbuche, auf das man jetzt gar nicht denkt?! Er legte das Pergamentheft wieder in seinen Kasten und schloß ihn zu. Dann ließ er alle Fensterlehnen niederfallen, daß wieder nichts als das geheimnisvolle Spiegellicht auf dem Estrich wankte, – dann ging er ins Freie, beide Tore hinter sich auf die Art und Weise schließend, wie es vorgeschrieben ist.

›Das ist keine gute Einrichtung unserer Vorfahren‹, dachte er, als er den von so vielen Lesern und Schreibern betretenen Pfad durch den alten Garten zurückging und im Schutte die Fußstapfen drückte, die so viele vor ihm drückt. Er konnte dem Rate des Jodok nicht folgen und das Gelesene in die Winde streuen, sondern mit beschwertem Herzen überall die Gestalt des Jodokus sehend, er vor kurzem hier gewandelt, dachte er: ›Wie viele Gestalten mögen sich noch hinzugesellen, bis der Garten voll Gespenster ist? – Und wenn alle ähnlich diesem Jodok sind, wie wenig verdient ihr Haus den Namen, den ihm die Leute draußen geben – ihre Narrheit ist ihr Unglück, und ihr Herz. – – Wie fürchte ich schon die [] Geschichte jenes Prokopus mit dem düsteren, funkelnd dürstenden Auge, das vielleicht zuletzt aus Verzweiflung nach den Sternen geschaut – – oder was wird in der von Julianus stehen – oder von dem ersten Sixtus – oder von dem verwahrlosten Christoph mit Narcissa und Pia? – – Was wird von mir selber noch stehen müssen?‹

Unter diesen und ähnlichen Gedanken gelangte er durch den dunklen Eichenhag gegen die freieren Teile des Berges, und hier war alles heiterer. Der verständige Baumeister trat ihm mit einer Zeichnung entgegen und bemerkte, welche Veränderungen er für gut hielte, nachdem er die Plätze noch einmal untersucht und vermessen habe. Die Werkleute blieben ehrbar stehen und lüfteten die Mützen, als die Männer vorbeikamen. Die Grundfesten der alten Glashäuser des Jodokus waren bei Wegräumungen wieder entdeckt worden, und man hatte darauf weiter gebaut. Da sie zur Besichtigung an den Platz gelangten, standen schon die luftigen Gerüste da, nur das Glas mangelte und der Maueranwurf. Oben blickte der grüne Fichtenwipfel und die lustigen Bänder. Nicht weit davon, im Parthenon, gingen die Schubkarren, um den Schutt und die Ziegel wegzuführen, und die gereinigten Säulen blickten wieder weiß und ruhig gegen die grüne Wiege ihres Tales. Im Christophhause hing der Schieferdecker auf dem Dache und pfiff ein Liedlein, indes er Lücke nach Lücke verstopfte und verstrich. Die Leitern an der Vordermauer ließ man eben niedersinken, da die Mauer bereits nachgebessert und herausgeputzt war. Die Fenster standen nun spiegelnd daran; alle grünen Seidenvorhänge waren aufgezogen, und wo die Flügel offen standen, wehte die Sommerluft freundlich und allgegenwärtig aus und ein. Der Werkmeister des Innern kam, als Heinrich und der Baumeister eintraten, ihnen aus dem hintersten Zimmer entgegen und zeigte, was er in der letzten Zeit gefördert. In manchen Zimmern wurde noch [] gehämmert und genagelt, und die Gesellen mußten inne halten, während er mit den Herren sprach; andere waren schon ganz fertig; der Werkmeister schloß sie auf, indem er sich vorher sorgfältig die Schuhe abwischte, führte sie hinein und zeigte, wie alles spiegele und schimmere und nichts mehr fehle als die kostbaren Kleiderstoffe, die auf den Tischen herum liegen, und die Diamanten, die in ihren geöffneten Fächern wie Lichttropfen blicken sollen. Heinrich ging wieder heraus und besuchte noch den großen Saal, der verziert wurde. Den Berghang hinab gegen das große Tor zu scharrte die Schaufel, daß die Wege ausgebessert wurden, und klang die Axt, daß die dürren Stämme und Äste niederfielen. Alles sollte vorerst schön sein und sich sittig erweisen, wenn etwa in Bälde Augen kämen, es zu sehen; das Nützliche und Nachhaltende war schon vielfach besprochen und entworfen, mußte aber seiner Zeit harren, daß es sich allmählich und dauernd entwickle.

Indessen wurde auch in einem andern, viel kleineren Hause unten an der Pernitz gearbeitet, daß ganze Schneeberge von Linnen da lagen und sich überall Kleider und Stoffe bauschten – das andere, der Schmuck, der da glänzen und funkeln sollte, lag schon als Kränzlein von leuchtenden Steinen oben in einem reinen, dämmernden Stübchen, dessen Fenster marmorrote Simse hatten und von schneeweißen Vorhängen verhüllt waren.

Im Lande aber draußen dauerte noch das Geschrei fort über Heinrich und sein Glück. Man neidete es ihm, und gönnte es ihm. Man sagte, er eile jetzt und könne keine Zeit abwarten, sondern überwühle bereits den ganzen Berg, um seine Macht nur recht zu genießen. Man wählte ihm Heiraten aus den Familien des Landes, zankte darüber und stellte Vermutungen an, welche ihn nehmen, und welche ihn ausschlagen würde. Ja es wurde sogar gemunkelt, er werde, ganz nach Art seiner Väter, niemand [] mehr, und niemand minder, als eben nur eine Wirtstochter heiraten.

Aber die Zeit ging fort und fort und klärte nichts auf. Heinrich, gerade der Meinung entgegen, die man von ihm hatte, war schamhaft in allem seinem Tun, und übereilte nichts, bis es war, wie er es wollte, und wie es seinem Herzen wohl tat – dann aber kam auch der Augenblick, der es allen offen darlegen sollte, wie es sei. In der Kirche zu Priglitz war es Sonntags verkündet worden, nach der Art, wie es alle Pfarrkinder halten, Hohe und Geringe: »Der ehr- und tugendsame Junggeselle: Heinrich, unser erlauchter Herr und Graf zu Rothenstein, und die ehr- und tugendsame Jungfrau Anna, eheleibliche Tochter Erasmus' und Margarethas, Besitzerin der Wirtschaft Nr. 21, zur grünen Fichtau....« Erasmus hatte an allen Gliedern gezittert und im Angesichte geglänzt, – und draußen vor der Kirche prahlte er unverhohlen von seinem Kinde und dessen Glücke, als sich die Männer um ihn scharten und ihn mit Fragen bestürmten. Er erlebte die Freude, die er einst im Übermute vorausgesagt, daß die ganze Fichtau die Hände zusammenschlug über dieses Ereignis. Er allein von den Seinen war in die Kirche hinausgefahren, um es recht in seine Ohren hinein zu genießen, wenn es gelesen würde. Den Boten-Simon, der mit verwirrten Sinnen da stand, lud er zu sich auf den Wagen und sagte beim Einsteigen: »Gelt? Gelt?«

»Aber wir müssen es in Demut aufnehmen, Vater Erasmus, und ohne Hoffart genießen!« sagte der andere.

»Ich nehme es ja in Demut auf«, entgegnete Erasmus, »aber daß ich voll Freude bin, ist ja meine väterliche Schuldigkeit, damit es Gott nicht verdrießt, der es so gemacht hat.«

Von dem Tage der Verkündigung an bis zu dem der Hochzeit war ein groß Gerede, wie sie sich nun überheben werde, wie sie hochmütig fahren, und wie sie übermütig [] tun werde. Anna aber war nicht so: sie konnte vor Scham kein Auge aufschlagen. Die ganze Gasse der grünen Fichtau stand gedrängt voll Menschen, da die Stunde gekommen, wo er sie zum Wagen führte, um in die Kirche zu fahren. Ihre Wangen, da sie an den Leuten vorbeiging, waren so purpurrot, daß man meinte, sie müßten sie brennen; die Augenlider schatteten darüber, und sie getraute sich keines zu rühren, weil sonst Tränen fielen. Alle ihre Mitschwestern aus der ganzen Fichtau waren gekommen, um zu sehen, wie sie gekleidet und geschmückt sei. Aber nur ein einfach weißes Seidenkleid floß um ihre Gestalt, und in den Haaren war ein sehr kleines, grünes Kränzlein und eine weiße Rose aus ihrem Garten. Sie hatte die Steine doch wieder in der Kammer gelassen, weil es ihr als Sünde vorkam, sie an dem heutigen Tage zu tragen. So ging sie vorüber, und als er mit ihr bis zu dem Wagen gekommen war, sah man, daß von der Hand, bei der er sie führte, kaum zwei Finger die seine berührten, und daß diese Finger zitterten. Auch der Schleier, der zunächst ihrer linken Wange und dem Nacken hinabging, bebte an ihren schlagenden Pulsen, und man sah es, da sie vor dem Wagen ein wenig anhielt, um

hineinzusteigen.

»Das ist eine demütige Braut«, sagte ein Weib aus dem Volke.

»Das ist die schönste, demütigste Braut, die ich je gesehen«, sagte eine andere.

Und aus dem Flüstern und aus dem Gemurmel der Zuschauer gingen die deutlichsten Zeichen des Beifalles hervor. Anna wurde dadurch nur noch verwirrter, wie er sie einhob und sie sich zurechtsetzte. Er stieg nun auch in denselben Wagen, in dem bereits eine schöne alte Frau saß, die niemand kannte. Es war Heinrichs Mutter. Dann besetzten sich auch die andern Wagen mit Erasmus, dem Schmiede, mehreren Fichtauern und Fremden. Annas [] Mutter mußte eingehoben werden, weil sie mit ihrem Fuße vor Verwirrung den Wagentritt nicht finden konnte.

Endlich fahr die ganze Wagenreihe gegen Priglitz ab, wobei sich viele mit ihren Gebirgswägelchen anschlossen. Erst, da alle der Steinwand des Julius entlang flogen, löste sich die Volks- und Gebirgslust, die vorher gefesselt war, los, und manche Rufe und das klingendste Jauchzen des Gebirges flogen ihnen nach – es flog doppelt freudig, weil einer ihrer Herren eine aus ihrer Mitte gewählet. Auch aus mancher Waldhöhe längs dem Wege krachte ein Böller empor, der aus einem Holzstocke gebohrt war, oder es löste sich das Scheibengewehr oder die Jagdbüchse manches lustigen Fichtauers.

Auch Anna schien von Ehrfurcht überkommen zu sein; denn dieselben Augen, die ihn sonst, wie er noch mit Pflanzen und Steinen nach Hause gekommen, so freundlich angeblickt hatten, schlugen sich auch während des Fahrens nicht ein einziges Mal zu ihm auf – sondern sie weinten nun fast unablässig fort.

Er redete ihr nicht zu, sondern er dachte an Chelion, wie sie kaum so rein, so schön, so schuldlos gewesen sei als wie die an seiner Seite, und er bezähmte sein Herz, daß es nur nicht breche vor Freude und vor Glück.

Als die Trauung vorüber war und die Wagen wieder zurückkehrten, zeigte sich ein Bild, das fast rührend erschien. Auf der Gasse der grünen Fichtau, wo hundert Wagen Platz gehabt hätten, standen nun hundert Tische. Der neue Graf hatte keine große Familie und keine hohen Verbindungen. Seine Gäste waren daher alle Fichtauer. Sie waren seine Untertanen, also seine Verwandten. Dieselben Holzschläger, mit denen er sich sonst an Samstags Abenden unterredet hatte, dieselben Jäger, die gerne eingesprochen, und alle andern saßen herum und tranken heute den besten Wein aus Erasmus' Keller und den noch bessern aus den Fässern des uralten Ruprecht. Daneben [] saß der verständige, heitere Schlag der Gebirgshauern, und Heinrich mit Anna mitten unter ihnen. Den Ehrenplatz nahm Erasmus ein, und neben ihm Annas und Heinrichs Mutter; man sah seinen Stuhl aber häufig leer; denn nach alter Gewohnheit ging er unter den Gästen herum, als müßte er sie auch heute bedienen, und fragte und redete, und ordnete an. Sein großer Hund folgte ihm hiebei, und manchmal legte er sein Haupt vertraulich auf Heinrichs Knie und schaute mit dummen Augen zu seiner Herrin, Anna, hinauf. Neben den Brautleuten saßen Robert und Thrine und Heinrichs Schwester. Der Boten-Simon konnte nicht da sein, weil es sein Amt nicht zuließ, aber geladen war er, und er erhielt als Entschädigung einen Zinsnachlaß seines Grundstückes im Asang. Aber der Hirt Gregor war da, und sein Sohn und sein Hund durften heute die Herde noch lange vor Sonnenuntergang nach Hause geleiten, damit sie den Abend mit genießen könnten. Alle Nachbarsleute des Erasmus saßen zunächst an ihm, und jeder Wanderer, der des Weges kam, war freundlich geladen. An den Grenzen der Gesellschaft, und hie und da selbst zwischen den Tischen balgte sich die Knabenschaft der Fichtau, und hinter dem Garten gegen den Grahns zu krachten schon die Vorübungsschüsse zu dem großen Scheibenschießen, das auf morgen und die folgenden Tage angeordnet war. Und so entstand vor der grünen Fichtau ein Gebirgsfest, dessen man denken wird, so lange ein Berg steht.

Heinrich redete mit so vielen, als er nur konnte; er ließ sich von den Holzknechten noch einmal von ihren Arbeiten und Abenteuern erzählen. Er hörte den kühnen Fahrten der Jäger zu und fragte manchen Bauer um die Lage seines Gutes, dessen Bewirtschaftung und Erträgnis. Und ehe noch von den Bergen das kleinste Stückchen Schatten auf die Gesellschaft hereinfiel, hatte er schon alle Gemüter gewonnen, und jeder, etwa die ganz Rohen und Mißgünstigen [] ausgenommen, gönnte Anna von Herzen ihr Glück.

Ein Abend, wie wir ihn am Eingange dieser Geschichte erzählt haben, kam auch heute prachtvoll und herrlich: die Sonne war über die Waldwand hinunter und warf kühle Schatten auf die Pernitz – im Rücken der Häuser glühten die Felsen, und wie flüssiges Gold schwamm die Luft über all den grünen Waldhäuptern weg.

Und immer feierlicher floß die Abenddämmerung, immer abendlicher rauschten die Wasser der Pernitz, und immer reizender klangen die Zithern.

Nur daß heute auch noch die Bursche mit den kühnen Gebirgsaugen die sanftblickenden, aber gleichwohl feueraugigen Mädchen an manchen Stellen zu den Zithern im Tanze herumdrehten, und daß der Mond schon viel länger als damals auf die Häuser hereinschien, ehe es auf der Gasse der grünen Fichtau verstummte.

Da aber endlich fast gegen Morgen die letzte Gruppe Abschied genommen hatte, und es stille war, folgte keine Szene im Garten, wie damals, sondern Heinrich schlief schon lange auf seiner einstigen Stube neben Robert, seinem Gaste, und Anna war mit Thrinen in ihrem einstigen Stübchen; aber sie schliefen nicht, sondern sie konnten sich nicht sättigen von Plaudern und Erzählen.

Des andern Tages, da das Scheibenschießen begann, führte Heinrich sein junges Weib in Begleitung der vornehmsten Gäste mit Prunk auf seinen Berg, und geleitete sie dort in die für sie eingerichteten fürstlichen Gemächer des Christophhauses, so wie Jodok einst die unschuldige Chelion in das Parthenon geführt hat. Erasmus war stolz darauf, daß desselben Tages noch vor Anbruch des Morgens fünf beladene Wagen mit Annas Gütern und betrunkenen Fuhrleuten auf den Rothenstein vorausgefahren waren. Er konnte sagen, daß sein Kind die reichste Braut der Fichtau sei; denn selbst der Hasenmüller im [] Asang vermag seiner einzigen Tochter nicht fünf schwere Wagen zu beladen.

Wir enthalten uns, die Empfangsfeierlichkeiten auf dem Rothensteine zu beschreiben, sondern beschließen unsere Erzählung mit diesem heitern Ausgange der trüben Geschichten des Rothensteins, und wünschen dem Paare, daß es so glücklich fortlebe, wie ihre Ehe glücklich begonnen.

Ein Anfang dazu ist schon gemacht; denn die einigen Jahre, die seit dem, was wir eben erzählten, bis auf heute verflossen, sind ganz glücklich gewesen. Eine Reihe Glashäuser mit den Pflanzen aller Länder steht neben dem Parthenon, dann sind Säle mit den Herden ausgestopfter Tiere, und dann die mit allen Erzen und Steinen der Welt. Diese Leidenschaft ihres Herrn, meinen die Fichtauer, sei doch auch eine Narrheit, wie sie alle seine Ahnen hatten, aber daß er sonst auch rastlos schaffe und wirke, geben sie zu. In der hohen Frau, die mit zwei blühenden Knaben wandelt, würde niemand mehr die einstige Anna aus der grünen Fichtau erkennen; denn sie wird in Heinrichs Schule fast ein halbes Wunderwerk aber ein anderes vollendetes Wunder steht neben ihr, ein Mädchen, namenlos schön wie ein Engel, und rein und sanft blickend wie ein Engel; es ist Pia, die Tochter Narcissas und des unglücklichen Grafen Christophs, der eher gestorben, ehe er seine Sünde gut machen konnte. Heinrich hatte sie an Kindes Statt angenommen, nachdem er sie und den alten Ruprecht, die sich bei seiner Ankunft in dem Kastellanhäuschen verkrochen hatten, an sich gelockt und an sein Wesen und Tun gewöhnt hatte. Durch ein seltsames Naturspiel ist sie ihrer Großmutter Chelion ähnlich geworden, und zugleich ihrem Großvater Jodok, so daß man sie den Bildern nach für ein Kind dieser beiden halten mußte; aber sie ist minder dunkel als Chelion, und noch um vieles schöner als das Bild derselben, [] was aber vielleicht nur der Jugend zuzuschreiben ist. Das Bild des zweiten Sixtus steht nun im grünen Saale auch offen, daneben Heinrichs und Annas, und jeder, der den Rothenstein besucht, kann sich von der vollendeten Ähnlichkeit Heinrichs und Sixtus' überzeugen.

Der alte Ruprecht lebt noch. Er sitzt ewig hinten an der Sandlehne in der Sonne, dreht lächelnd seinen Stab in den Fingern und erzählt Geschichten, die niemand versteht; er erzählt sie auch niemanden, und meint, er sei noch immer Kastellan, obgleich schon ein anderer ein neues Häuschen neben dem Tore der Ringmauer hat.

Viel Besuch kommt auf den Berg, und viele Augen fallen schon auf Pia; aber sie scheut noch jeden Mann so, wie sie einst die zwei Freunde scheute, als sie dieselben zum ersten Male in den Juliantrümmern gesehen, wo sie auf dem Geländer des Balkons geritten war. Der häufigste und liebste Besuch aber ist der von Robert und Thrine. Heinrichs Mutter und Schwester leben auf dem Schlosse.

Draußen in der Fichtau ist es, wie es immer gewesen, und wie es noch Hunderte von Jahren sein wird.

Während der Schmied sagt: ›Mein Schwiegersohn, der Herr Stadtschreiber‹, sagt Erasmus nie anders als: ›Mein Herr Schwiegersohn, unser gnädigster Herr Graf.‹

Boten-Simon und der Schecke fahren Land aus, Land ein, und beide gewannen bei den letzten Ereignissen, da der Asang sogleich bei der Übernahme eingelöset und Simons Grundzins alldort erniedrigt worden ist.

Und so, du glückliches Paar, lebe wohl! Gott der Herr segne dich und führe noch unzählige glückliche Tage über deinen Berg und die Herzen der Deinen empor.

Wenn von den andern Schriften des roten Felsensaales von Julian, Christoph, Prokop etwas bekannt wird, so wird es dereinst vorgelegt werden.

[]

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TextGrid Repository (2022). German Novel Corpus (ELTeC-deu). Die Narrenburg : ELTeC ausgabe. Die Narrenburg : ELTeC ausgabe. European Literary Text Collection (ELTeC). ELTeC conversion. https://hdl.handle.net/21.T11991/0000-001B-D4FA-A